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German Pages 636 [637] Year 2017
Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament · 2. Reihe Herausgeber / Editor Jörg Frey (Zürich) Mitherausgeber / Associate Editors Markus Bockmuehl (Oxford) · James A. Kelhoffer (Uppsala) Hans-Josef Klauck (Chicago, IL) · Tobias Nicklas (Regensburg) J. Ross Wagner (Durham, NC)
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Jan Rüggemeier
Poetik der markinischen Christologie Eine kognitiv-narratologische Exegese
Mohr Siebeck
Jan Rüggemeier, geboren 1981; Studium der Ev. Theologie in Heidelberg, Oxford und Tübingen; 2011 Ordination; 2011–2016 Wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neues Testament (Schwerpunkt Evangelienforschung) der Eberhard Karls Universität Tübingen; 2017 Promotion; derzeit Projektmitarbeiter am Institut für Neues Testament in Bern.
ISBN 978-3-16-155750-7 ISSN 0340-9570 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 2. Reihe) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2017 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Laupp & Göbel in Gomaringen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden.
Für Anne, Amos, Micha und Martine
Vorwort Figuren einer Erzählung wandeln sich. Am Ende der Geschichte sind sie nicht mehr die gleichen wie am Anfang. Manche Figuren werden gescheiter, andere scheinen – wie die Jünger im Markusevangelium – immer unverständiger zu werden. Die Meinungen einer Figur werden nicht selten durch die Standpunkte anderer Personen bereichert oder in Frage gestellt und korrigiert. Figuren können über den Erzählverlauf ihre Wünsche Schritt für Schritt erfüllen oder werden durch ihre Pflichten und durch das Verhalten anderer Figuren zeitweise aufgehalten. Auch das Äußere einer Figur oder die Beziehung zu anderen Personen verändern sich zuweilen im Verlauf der Erzählung. Manche Figuren gehen eine lange Wegstrecke gemeinsam. Bei anderen Figuren bleibt es bei einem episodenhaften Aufeinandertreffen. Dies alles sind Dynamiken, denen eine literarische Figur unterworfen sein kann. Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2015/16 von der Evangelisch-theologischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen unter dem gleichnamigen Titel als Dissertation angenommen und für den Druck leicht überarbeitet. Denke ich an die Anfänge dieser Arbeit zurück, so werde ich mir der Dynamik meines eigenen Lebens bewusst. Auch ich habe mich als Theologe, Pfarrer, Dozent, Ehemann, Familienvater und Mensch verändert. Gott sei Dank hatte ich nur selten den Eindruck, durch das Studium und die Gespräche mit anderen unverständiger zu werden. Vielmehr haben mich die zahlreichen Beziehungen und Freundschaften bei meiner Arbeit und in meiner persönlichen Entwicklung bereichert und mir die Lebenslust und den Halt gegeben, die es bei allen Orts- und Berufswechseln sowie inneren und äußeren Konflikten braucht, um solch eine Arbeit Schritt für Schritt zu Ende zu bringen. An erster Stelle möchte ich hier meinem Doktorvater Prof. Dr. HansJoachim Eckstein danken. Seine Lehrveranstaltungen und die Gespräche mit ihm haben mich nachhaltig geprägt und mich zu der vorliegenden Arbeit überhaupt erst motiviert. Ich bin ihm in besonderer Weise dankbar für seine weisen und zielführenden Ratschläge, seine Ermutigung, immer wieder der eigenen Intuition zu folgen, und vor allem für seine Freundschaft, die nicht an den Ort und die gemeinsame Zeit am Tübinger Lehrstuhl gebunden ist. Dank gebührt auch Prof. Dr. Christof Landmesser, der im Zuge des Promotionsverfahrens das Zweitgutachten erstellte. Mein herzlicher Dank gilt Prof. Dr. Jörg Frey, der die Aufnahme meiner Arbeit in die WUNT-Reihe ermöglicht hat. Vielen Dank
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Vorwort
auch Frau Rebekka Zech, Herrn Dr. Henning Ziebritzki und Herrn Klaus Hermannstädter für die professionelle Begleitung im Zuge der Drucklegung. Eng mit den Anfängen meiner Arbeit verknüpft, ist die Freundschaft zu Dr. Simon Schäfer. Ihm bin ich dankbar für seinen präzisen Blick auf das Leben und auf Texte, für seinen Humor, seine direkte Art und sein Versprechen, dass ich bei ihm sogar spät in der Nacht noch anklopfen darf, wenn es nötig wird. Mein Dank gilt zudem Katharina Blondzik, die unser Lehrstuhlteam mit ihrer charmanten, unkonventionellen, anpackenden Art bereichert hat. Wissenschaftlich bereichert hat mich die Zusammenarbeit mit Dr. Sönke Finnern, wobei sich die gemeinsame Arbeit am Methodenbuch und der anhaltende Dialog über die Erzählwissenschaft als überaus fruchtbar erwiesen haben. Dankbar bin ich auch für den Freiraum und das inspirierende Klima, das am Berner Lehrstuhl von Prof. Dr. Benjamin Schließer herrscht und für alle ermutigenden und offenen Worte, die ich von ihm in den letzten Monaten mit ‚auf den Weg‘ bekommen habe (nichtzuletzt auf der gemeinsamen Pendelstrecke zwischen Bern und Zürich). Die Vorgeschichte meiner Dissertation reicht aber noch viel weiter zurück. Der bedingungslose Zuspruch, den ich als Kind und Erwachsener durch meine Eltern erfahren durfte, ihre Fantasie, Neugier und Lebensfreude, ihre Stärken und Schwächen haben mich zu dem Menschen werden lassen, der ich heute bin. Und spannender und abwechslungsreicher als meine Mutter können auch die Evangelisten nicht erzählen. Kein anderer Mensch hat die Dynamiken meines Lebens so nah miterlebt (und manchmal miterleben müssen) wie meine Frau Dr. Anne Rüggemeier. Ihr pragmatischer Blick auf das Leben, ihre Weisheit, ihr Lebenswitz, ihre eigenen Berufsentscheidungen und die vielen alltäglichen Situationen, Szenen und Episoden haben mein Leben unendlich reich gemacht. Viel Dynamik haben auch unsere drei Kinder, Amos, Micha und Martine, in mein und unser Leben gebracht. Die Arbeit wäre ohne die häufigen Fußballunterbrechungen, die unzähligen Niederlagen bei Mensch-ärgere-Dich-nicht, die schlafarmen Nächte und die scharfsinnigen Lebensbeobachtungen und Kommentare unserer Kinder nicht dieselbe geworden. Ihnen und meiner Frau ist diese Arbeit in Liebe und Dankbarkeit gewidmet. Tübingen, am Reformationsfest 2017
Jan Rüggemeier
Inhaltsverzeichnis Vorwort .................................................................................................... VII Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen ............................................ XIII
Kapitel 1: Einleitung ........................................................................... 1 Kapitel 2: Narratologische Zugänge zur markinischen Christologie........................................................................ 7 2.1 Grundprinzipien einer kognitiven Narratologie .................................. 7 2.1.1 Vorwissen: Schemata, Frames und Scripts ............................. 11 2.1.2 Inferenz und Lesegedächtnis .................................................. 14 2.1.3 Emergenz ................................................................................ 17 2.2 Perspektivenanalyse: Was heißt „markinische“ Christologie? ........ 25 2.2.1 Markinische Christologie im Kommunikationsgeschehen ...... 26 2.2.2 Erzählerische Perspektivenvermittlung .................................. 32 a. Beteiligung ........................................................................ 32 b. Modus (Distanz und Fokalisierung) .................................. 33 2.2.3 Perspektivische Interaktion (Inhalt, Struktur, Rezeption) ....... 40 2.3 Figurenanalyse: Der markinische Jesus als mentales Modell ........... 49 2.3.1 Was ist eine Figur? ................................................................. 52 2.3.2 Figurenmerkmale und Identität ............................................... 54 2.3.3 Figurenkonstellation ............................................................... 75 a. Ähnlichkeiten und Unterschiede der Figurenmerkmale .... 75 b. Figurenkonfiguration ........................................................ 76 c. Handlungsrollen ................................................................ 77
Inhaltsverzeichnis
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2.4 Handlungsanalyse: Erzählte Christologie ......................................... 78 2.4.1 Strukturalistische Handlungsschemata ................................... 79 a. Gattungsspezifisches Handlungsschema ........................... 80 b. Triadisches Handlungsschema .......................................... 81 c. Thematisches Handlungsschema ....................................... 83 2.4.2 Handlungsverläufe ...................................................... 85 a. Possible Worlds Theory (Marie-Laure Ryan) ................... 86 b. Handlungsstränge .............................................................. 90 c. Handlungsenden ................................................................ 94 2.4.3 Zeitliche Aspekte der Handlungsdarstellung .......................... 96 a. Ordnung ............................................................................ 96 b. Geschwindigkeit ............................................................. 100 c. Frequenz.......................................................................... 101
Kapitel 3: Methodische Zugänge zur markinischen Christologie – Forschungsgeschichte ..................... 103 3.1 Wie ist dieser? – Methodische Zugänge .......................................... 103 3.2 Religionsgeschichtliche Zugänge zur markinischen Christologie.... 106 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4
Jesus als hellenistischer qei`o~ ajnhvr ..................................... 109 Jesus und die römische Herrscherideologie .......................... 119 Jesus und Elia ....................................................................... 130 Religionsgeschichtlicher Zugang: Auswertung & Methodenvergleich ....................................... 136
3.3 Redaktionsanalytische Zugänge zur markinischen Christologie ..... 155 3.3.1 Das sog. Messiasgeheimnis im Markusevangelium .............. 157 3.3.2 Titulare Christologie(n) im Markusevangelium .................... 162 a. Sohn-Gottes-Christologie ................................................ 163 b. Menschensohn-Christologie ............................................ 168 3.3.3 Redaktionsgeschichtlicher Zugang: Auswertung & Methodenvergleich ....................................... 173 3.4 Literatur- und erzählwissenschaftliche Zugänge zur markinischen Christologie ......................................................... 177 3.4.1 Strukturalistische Anfänge und Narrative Criticism ............. 179 3.4.2 Deutsche Erzähltextanalyse und Rezeptionsästhetik ............ 185 3.4.3 Linguistische und semiotische Ansätze ................................ 191
Inhaltsverzeichnis
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3.4.4 Literatur- und erzählwissenschaftliche Zugänge: Auswertung & Methodenvergleich ....................................... 194
Kapitel 4: Poetik der markinischen Christologie ..................... 199 4.1 Grundzüge einer Poetik der markinischen Christologie .................. 199 4.2 Perspektivische Vermittlung als Inszenierung einer ratio cognoscendi und ratio essendi ....................................... 206 4.2.1 Die geringe Explizität des Erzählerstandpunktes .................. 209 4.2.2 Einzelne Figurenperspektiven .............................................. 222 a. Die Perspektive Gottes .................................................... 223 b. Die Perspektive der Dämonen ......................................... 241 c. Die Perspektive der religiösen und politischen Autoritäten ...................................................................... 248 d. Die Perspektive der Jünger .............................................. 259 e. Die Perspektive wichtiger Episodenfiguren .................... 270 f. Die Perspektive Jesu ....................................................... 289 4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesus und seiner Einheit mit Gott ............................................................................... 307 4.3.1 Figurenmerkmale und Konzeption des markinischen Jesus .. 312 a. Standpunkt ...................................................................... 313 b. Wahrnehmung ................................................................. 321 c. Gefühle ........................................................................... 326 d. Verhalten ......................................................................... 330 e. Äußeres ........................................................................... 337 f. Raum ............................................................................... 340 g. Wissen ............................................................................. 344 h. Pflichten .......................................................................... 354 i. Wünsche .......................................................................... 356 j. Motivation ....................................................................... 363 k. Charakter ......................................................................... 373 4.3.2 Figurenvergleiche und emergente Bedeutungen der markinischen Christologie .................................................... 379 a. Johannes-Elia als endzeitlich-prophetischer Vorläufer des Kyrios Jesus .............................................................. 379 b. Der markinische Jesus als Kyrios .................................... 405
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Inhaltsverzeichnis
4.4 Funktion der markinischen Erzählung ............................................. 454 4.4.1 Aktuelle Funktionsbestimmungen: Kritische Rückfragen aus der Perspektive einer kognitiv-narratologischen Exegese ....................................... 458 4.4.2 Perspektivische Interaktionen: Verwicklung des intendierten Rezipienten in den christologischen Erkenntnisprozess ........................... 468 4.4.3 Die Identität Jesu als emergente Bedeutungsstruktur der markinischen Erzählung ................................................. 493 4.4.4 Die Involviertheit des Rezipienten in das Handlungsgeschehen ............................................................ 499 a. Jüngerunverständnis ........................................................ 500 b. Messiasgeheimnis ........................................................... 505 c. Mk 16,8 und das Erzählende des Markusevangeliums .... 507 4.4.5 Auswertung: Funktionen der markinischen Erzählung ......... 513
Kapitel 5: Grundzüge einer Poetik der markinischen Christologie.................................................................... 517
Literaturverzeichnis ................................................................................. 535 Stellenregister (in Auswahl) .................................................................... 585 Autorenregister ........................................................................................ 604 Sachregister ............................................................................................. 612
Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen Kapitel 2 Abb. 2.1 Abb. 2.2 Abb. 2.3 Abb. 2.4 Abb. 2.5 Tab. 2.6 Abb. 2.7 Abb. 2.8 Abb. 2.9 Abb. 2.10 Abb. 2.11 Abb. 2.12 Abb. 2.13 Tab. 2.14 Tab. 2.15
Grundmodell des Blending Netzwerks nach Fauconnier/Turner .......................................................... 21 Kommunikationsmodell nach Chatman .................................. 27 Kognitives Modell der Erzählebenen nach Finnern ................ 30 Beteiligung des Erzählers am Geschehen ............................... 32 Formen der Figurenrede im Markusevangelium ..................... 34 Analyse der Perspektivenstruktur nach Nünning/Nünning ..... 44 Faktoren der Figurenmotivierung nach Finnern ..................... 66 Triadisches Handlungsschema nach Bremond ........................ 81 Das semiotische Quadrat nach Greimas.................................. 84 Greimas’ Konzeption des Handlungsverlaufs ......................... 84 Ryans plot map nach Finnern ................................................. 93 Kohärenz und Kohäsion nach Finnern/Rüggemeier ............... 92 Konfiguration von Handlungssträngen nach Finnern ............. 93 Arten der Erzählgeschwindigkeit nach Finnern .................... 100 Frequenz ............................................................................... 102
Kapitel 3 Abb. 3.1
Zeitliche Erinnerungsnähe .................................................... 146
Kapitel 4 Tab. 4.1 Tab. 4.2 Abb. 4.3 Tab. 4.4 Abb. 4.5
Intertextuelle Bezüge zu Mk 1,11 ......................................... 229 Hierarchisierung mehrerer Episodenfiguren nach ihrer Wichtigkeit .......................................................... 272 Figurenkonstellation in Mk 10,46–52 ................................... 281 Figurenvergleich Elia – Johannes (Input Spaces und Parallelität) .............................................. 392 Skalierung der markinischen Perspektivenstruktur ............... 491
1. Kapitel
Einleitung „It may seem that another book on Mark is the last thing we need in the field of biblical studies.“ (ELLIOT, Mark’s Jesus, 3)
In den letzten beiden Jahrzehnten hat sich innerhalb der internationalen Markusforschung eine Art selbstreflexives Metanarrativ etabliert. So ist es durchaus zur Gepflogenheit geworden, dass in zahlreichende Vorreden und Einleitungen auf die große Anzahl aktueller Publikationen hingewiesen und diese zugleich problematisiert wird.1 Nun ist an der schieren Anzahl neuerer Forschungsbeiträge an sich nichts auszusetzen. Im Gegenteil: Die Vielzahl neuerer Artikel und Monografien ist eher ein positives Anzeichen dafür, dass es sich bei der Markusforschung um einen überaus lebendigen Forschungszweig innerhalb der neutestamentlichen Wissenschaft handelt. Und die hilfreichen Forschungsüberblicke2 vergangener Jahre und Jahrzehnte verdeutlichen zugleich, dass zwar kein Wissenschaftler sämtliche Neupublikationen intensiv zu studieren vermag, dass sich aber gleichwohl wesentliche Leitlinien und Hauptthemen weiterhin erkennen und beschreiben lassen. Hierbei ist – bereits bei der Betrachtung neuerer Monografien – auszumachen, dass neben die Frage der Christologie weitere Themen und Schwerpunkte getreten sind. Von Interesse sind nun beispielsweise auch die Gottesvorstellung bzw. Gott als Figur,3 die Eschatologie,4 die Soteriologie,5 das Geschichtsverständnis6 sowie einzelne Nebenfiguren – insbesondere die Jünger und weiblichen Charaktere
1 So spricht Sandra Hübenthal ironisch von einer nahezu eigenen „Literaturgattung“ (HÜBENTHAL, Markusevangelium, 11). Ähnlich DEWEY, Historical Jesus, 1845. 2 Zu nennen sind hier insbesondere BREYTENBACH, Current Research (2000–2009; auf Monografien beschränkt); LINDEMANN, Literatur 1992–2000. Vgl. zur Frage der Identität Jesu die spezifischeren Forschungsüberblicke bei NALUPARAYIL, Present State; JOHANSSON, Identity. Für die ältere Forschungsgeschichte sind ferner hilfreich LINDEMANN, Literaturbericht; LINDEMANN, Literatur 1984–1991. Eine Darstellung methodologischer Fragestellungen für den Zeitraum zwischen 1960 und 1990 findet sich bei DORMEYER, Markusevangelium, 82–134, wobei auf die (deutsche) Erzähltextanalyse, den (amerikanischen) Narrative Criticism und den Reader Oriented Criticism eingegangen wird. Ansätze der älteren und neueren Figurenanalyse werden zusammengestellt und skizziert bei SKINNER, Study (1901–2014). 3 Vgl. BLUMENTHAL, Gott (Figurenanalyse); GUTTENBERGER, Gottesvorstellung. 4 Vgl. etwa DU TOIT, Der abwesende Herr. 5 Vgl. etwa WEIHS, Deutung; BOLT, Defeat. 6 Vgl. v.a. BECKER, Markus-Evangelium.
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1. Kapitel: Einleitung
(Henderson, Fischer)7 – oder der erzählte Raum (Bosenius, Malbon)8. Dennoch bleibt die christologische Fragestellung weiterhin der Kristallisationspunkt vergangener und aktueller Forschungsbemühungen. Diese stellt sich mal als Frage nach den religions- und traditionsgeschichtlichen Haftpunkten (vgl. Kap. 3.1), mal als Frage nach der Relation unterschiedlicher Hoheitstitel (vgl. Kap. 3.2), mal als Frage nach der erzählerischen Vermittlung des markinischen Jesusbildes (vgl. Kap. 3.3) oder nach den soziologischen und kulturellen Implikationen des vermittelten Jesusbildes (vgl. Kap. 4.4). Die methodische Vielfalt, die sich in den letzten dreißig Jahren der Markusforschung zunehmend erkennen lässt, ist ebenfalls kaum als problematisch zu bewerten. 9 Vielmehr ist auch diese Auslegungsvielfalt zunächst nichts anderes als ein positiver Ausdruck dafür, dass sich die Markusexegese dem interdisziplinären Forschungsdiskurs seit langem geöffnet hat und verpflichtet sieht. Das Hauptinteresse liegt weiterhin auf dem Dialog mit den Literatur- und Sprachwissenschaften, wenngleich sich auch an dieser Stelle eine gewisse Ausdifferenzierung erkennen lässt und in neueren Publikationen beispielsweise ein Trend zur Einbeziehung kulturwissenschaftlicher und soziologischer Konzepte auszumachen ist (z.B. Hübenthal, JochumBortfeld).10 Damit einhergehend kann der Fokus zugleich von der eigentlichen Texterklärung auf die Textwirkung, (mögliche) Wirkungsgeschichte(n) oder heutige Applikationspotenziale verschoben werden (z.B. Fritzen11). Diesem Trend entspricht das Interesse an einer Rezeption des Markusevangeliums im Kontext des Jüdischen Krieges bzw. vor dem Hintergrund einer römischen Herrscherideologie (u.a. Bedenbender, Roskam, Winn).12 Wenngleich die Publikations- und Auslegungsvielfalt innerhalb der heutigen Markusforschung prinzipiell zu begrüßen ist, bleibt diese Diversifizierung dort unbefriedigend, wo es zu einem bloßen Nebeneinander einzelner Forschungsbemühungen kommt. Deshalb ist gerade in der heutigen For-
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Vgl. HENDERSON, Discipleship; FISCHER, Les Disciples. Vgl. BOSENIUS, Raum; MALBON, Space. 9 Ähnlich das Urteil von Geert Van Oyen, der in seinem Eröffnungsvortrag zum Colloquium Biblicum Lovaniense LXVI (26.–28. Juli 2017) betont: „A fast look at the titles of the papers and short papers tell us that since 1971 [the year of the 22nd Colloquium Biblicum Lovaniense] a plethora of ‚other critical methods‘ came into being. One can only be happy about the wealth of these approaches, which by their varying readings reveal complementary dimensions of the oldest canonical gospel“ (VAN OYEN, Makes Sense). 10 Vgl. HÜBENTHAL, Markusevangelium; JOCHUM-BORTFELD, Die Verachteten; vgl. zudem HORSLEY, Politics of Plot; MALONEY, Urgent Message; TRAINOR, Mark’s Community. 11 Vgl. FRITZEN, Gott. 12 Vgl. BEDENBENDER, Frohe Botschaft; ROSKAM, Purpose; WINN, The purpose. Zur Bedeutung der römischen Herrscherideologie und zur methodischen Kritik vgl. Kap. 3.2.2. Zu bemängeln ist u.a., dass die Differenz zwischen einer tatsächlichen Texterklärung und der Beschreibung einer späteren (hypothetischen) Rezeptionsgeschichte nicht selten verschwimmen. 8
1. Kapitel: Einleitung
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schungslandschaft wieder die Frage nach einem übergeordneten Gesamtsystem des Textverstehens und der Textanalyse zu stellen. Dort, wo der beobachtete Auslegungspluralismus mit einer prinzipiellen Unvereinbarkeit methodischer Ansätze begründet wird oder wo im Sinne eines radikalen Konstruktivismus das Diktum einer rein individualistischen Interpretation propagiert wird, muss dies kritisch hinterfragt werden. Es ist unverzichtbar, innerhalb des Wissenschaftssystems an einer intersubjektiven Kommunikabilität der eigenen Prämissen, Analyseinstrumentarien und inhaltlichen Auslegungen festzuhalten.13 Wo die Exegese auf eine solche Transparenz und Rechenschaftspflicht verzichtet und die Voraussetzungen der eigenen Textarbeit nicht mehr hinreichend hinterfragt und überprüft werden, da steht letztlich das Wissensschaftssystem an sich bzw. die Wissenschaftlichkeit der Exegese in Frage. Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es deshalb, die historischen und philologischen Methoden der Exegese, die ihrerseits immer schon dem Einfluss anderer Wissenschaftserkenntnisse und -strömungen unterlagen, und neuere Ansätze, insbesondere aus dem Bereich der Literatur- und Erzählwissenschaften, in ein gemeinsames System der Textbetrachtung zu überführen. Zugleich sollen die Möglichkeiten einer solchen Textbetrachtung am Beispiel des markinischen Jesusbildes demonstriert werden, um letztlich die inhaltliche Frage nach der Christologie des ersten Evangeliums neu und möglichst differenziert zu beantworten. Gerade die neueren Entwicklungen innerhalb der heutigen Erzählwissenschaften, die zumeist unter dem Stichwort der Kognitiven Wende bzw. des cognitive turn zusammengefasst werden (vgl. Kap. 2.1),14 bergen dabei ein hohes Integrationspotenzial in sich und können zu einer Überwindung der
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Der Begriff der intersubjektiven Kommunikabilität lehnt sich hier an, an die Definition von FREY, Überlegungen, 28. Zu Recht betont Frey, dass „gerade angesichts der Positionalität der Auslegung die eigenen Sichtweisen intersubjektiv kommunikabel zu formulieren und an die Grundlage, den zur Interpretation vorgegebenen Text, kritisch (und vor allem selbstkritisch) zurückzubinden [ist]“ (FREY, Überlegungen, 28; Hervorhebung J.R.). In dieser Arbeit werden Hervorhebungen im Original nicht eigens als solche ausgewiesen. Nur dort, wo ich selber diese Hervorhebungen vorgenommen habe, findet sich ein entsprechender Hinweis. 14 Den großen Wert dieser Entwicklungen hat bereits Sönke Finnern erkannt und in methodischer Hinsicht ausführlich beschrieben. Vgl. FINNERN, Narratologie, 1–22 (Einführung).78–246 (Methodik). Finnerns umfassende Darstellung des narratologischen Forschungsdiskurses sowie seine Überlegungen zum Verhältnis von exegetischer und narratologischer Methodik liegen dieser Arbeit in vielfältiger Weise zu Grunde. Zugleich besteht das Ziel der vorliegenden Studie darin, die aktuellsten Entwicklungen der neueren Erzählwissenschaft einzuarbeiten, die Praktikabilität einer kognitiv-narratologischen Exegese an einem anderen Textkorpus aufzuzeigen und die Interpretation des markinischen Jesusbildes – und damit den Inhalt – in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken.
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1. Kapitel: Einleitung
bisher unbefriedigenden und alles andere als präzisen bzw. einheitlichen15 Differenzierung zwischen sogenannten synchronen und diachronen Methodenschritten führen. Weil v.a. durch die erzählwissenschaftliche „Wiederentdeckung“ des Rezipienten das Textverstehen als ein interaktiver Prozess begriffen wird, bei dem es immer zu einem wechselseitigen Abgleich zwischen textextern vorgegebenen Wissensbeständen und textintern angelegten Steuerungsmechanismen kommt, sind historische Quellenarbeit und erzählwissenschaftliche Interpretation aufeinander angewiesen. So können bei antiken Erzählungen die textexternen Wissensbestände eines intendierten Rezipienten gar nicht anders als mit den Mitteln und Möglichkeiten einer historischen Quellenarbeit erhoben werden. Und umgekehrt bliebe ein rein historisches Quellenstudium im Zusammenhang der Texterklärung defizitär, weil erst unter Berücksichtigung der spezifischen Inferenzprozesse sowie der kognitionspsychologischen Propositionen des Rezipienten hinreichend nachgezeichnet werden kann, wie es bedingt durch eine Auswahl einzelner Verstehensmöglichkeiten bei der Lektüre zu einem tatsächlichen bzw. intendierten Textverstehen kommt. Wenn dem klassischen Methodenkanon der Exegese der Methodenschritt der Textinterpretation fehlt, und alle bisherigen Versuche von der Redaktionskritik bzw. Kompositionskritik unmittelbar in die Texterklärung hinüberzuwechseln, nahezu zwangsläufig zu inhaltlichen Verkürzungen führen mussten, so wird durch die vielfältigen Analysekategorien der neueren Erzählwissenschaft ein überaus differenziertes und zugleich praktikables Instrumentarium der Interpretation zur Verfügung gestellt. Weil ich in der kognitiven Wende der Narratologie eine wesentliche Voraussetzung für die Ausformulierung einer einheitlichen Methodik der Texterklärung und der umfassenderen Textanalyse sehe, soll das nachfolgende Kapitel (Kap. 2) zunächst dem Ziel dienen, die Grundprinzipien einer ebensolchen kognitiven Narratologie vorzustellen (2.1). Zentrale Begriffe – wie der des textexternen Vorwissens (2.1.1), der Inferenz und des Lesegedächtnisses (2.1.2) – sowie die Frage nach der Entstehung emergenter Textbedeutungen (2.1.3) sollen in diesem Abschnitt geklärt werden. Ausgehend von diesen allgemeinen Bestimmungen werden dann die Beschreibungsmöglichkeiten und konkreten Analyseinstrumentarien einer erzählwissenschaftlichen Perspektiven- (2.2), Figuren- (2.3) und Handlungsanalyse (2.4) präsentiert. Bereits hier soll immer wieder die Praktikabilität der beschrie-
15 So kann der Begriff „synchron“ gleichermaßen zur Bezeichnung für a) eine linguistische Analyse; b) für die Analyse der Textkohärenz; c) eine textimmanente Interpretation oder auch d) die Interpretation im Allgemeinen dienen. Auch der Begriff der „Diachronie“ wird uneinheitlich gebraucht: er bezeichnet a) die Analyse der Textgenese; b) die Traditions- und Motivgeschichte oder auch c) die Bezüge zwischen einem Text und seinem historischem Kontext. Vgl. zur Kritik an diesem Begriffschaos bereits FINNERN, Narratologie, 9–12 (mit weiterführenden Literaturangaben).
1. Kapitel: Einleitung
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benen Methodik vor Augen geführt werden, indem die diversen Analysemittel auf Textbeispiele und Forschungsfragen zum Markusevangelium angewandt werden. Der Abschnitt zur bisherigen Forschungsgeschichte (Kap. 3) orientiert sich sodann an den methodischen Schwerpunktsetzungen der einzelnen Studien, wobei insbesondere zwischen religionsgeschichtlichen (3.2), redaktionsgeschichtlichen (3.3) und literatur- und erzählwissenschaftlichen Zugängen (3.4) zur markinischen Christologie differenziert wird. Ziel dieses Forschungsüberblicks ist es nicht allein, die inhaltlichen Ergebnisse früherer Forschungsbemühungen zu bündeln, sondern das Augenmerk auf die Vereinbarkeit unterschiedlicher Methodiken zu richten und so schrittweise ein Gesamtsystem des Textverstehens und des Textumgangs zu formulieren. Dieses Anliegen wird dadurch unterstrichen, dass die einzelnen Unterkapitel jeweils durch eine methodische Auswertung und einen Methodenvergleich beschlossen werden (3.2.4; 3.3.3; 3.4.4). Hierbei wird darauf geachtet, dass die unterschiedlichen Zugänge so aufeinander bezogen werden, dass sich ein möglichst präziser Methodenweg – im Sinne konkreter und voneinander abgrenzbarer Methodenschritte – erkennen lässt. Kap. 4 bildet das Kernstück der vorliegenden Arbeit, in dem das markinische Jesusbild, das über den Erzählverlauf im Bewusstsein des intendierten Rezipienten evoziert wird und das dieser zum Ende der Erzählung in seinem Lesegedächtnis abspeichert, nachgezeichnet wird. Die Analyse orientiert sich an den in Kap. 2 beschriebenen Kategorien einer Perspektiven- (4.2) und Figurenanalyse (4.3). Dieser Analyse vorangestellt sind allgemeinere Überlegungen zur Poetik einer markinischen Christologie, die aus einem Dialog zwischen dem aristotelischen Poetikbegriff und heutigen erzählwissenschaftlichen Erkenntnissen gewonnen werden (4.1). Kap. 4.4 kommt bereits die Aufgabe eines vorweggenommenen Fazits zu, wobei unter dem Oberbegriff der Funktion die erzählerische Intention hinter der Perspektivischen Interaktion (4.4.2) und der Charakterisierung Jesu (4.4.3) in den Blick gerät und mit anderen, aktuellen Funktionsbestimmungen innerhalb der Markusforschung kontrastiert wird (4.4.1). In Kapitel 4.4.4 kommen noch einmal ausführlicher die Analysekategorien einer kognitivnarratologischen Handlungsanalyse zur Anwendung, die zuvor lediglich implizit in die Analyse integriert wurden. Am Ende der Analyse sollen sie helfen, die Involviertheit des Rezipienten über den Erzählverlauf nachzuzeichnen und so aufzuzeigen, dass die markinische Christologie als Bestätigung einer textextern vorgegebenen Kyrios-Christologie zu verstehen ist und der erste Evangelist an vielen Stellen auf das nachösterliche Wissen seiner Rezipienten zurückgreift und dies bestätigt. Kap. 5 dient der abschließenden Bündelung und Sicherung der wichtigsten Ergebnisse, wobei sowohl methodische als auch inhaltliche Aspekte zur Sprache gebracht werden.
2. Kapitel
Narratologische Zugänge zur markinischen Christologie 2.1 Grundprinzipien einer kognitiven Narratologie Und als Philippus hinlief, hörte er, dass der Kämmerer den Propheten Jesaja las und sagte: „Verstehst Du denn auch, was Du liest?“ Der aber sprach: „Wie kann ich, wenn mich keiner anleitet?“ (Apg 8,30f.)
Texte sind nie selbstverständlich. Ihre Interpretation ist sowohl von der textbasierten Darstellung und den vermittelten Inhalten als auch vom Kommunikationskontext und dem Vorwissen der Rezipienten abhängig. Die kurze Episode vom Kämmerer aus Äthiopien (Apg 8,26–35) vermag auf eindrückliche Weise die rezipientenabhängige Seite des Verstehensprozesses vor Augen zu stellen. Dem Hofbeamten aus einem anderen Kulturkreis bleibt bei der Privatlektüre des Jesajabuches Wesentliches unklar. Er vermag die Textaussagen nicht mit seinem Vorwissen zu verknüpfen. Bereits die grundlegende Frage, von wem Jesaja überhaupt spricht, lässt sich für ihn nicht hinreichend klären: „Ich bitte Dich, von wem redet der Prophet das? Von sich selber oder von jemand anderem?“ (Apg 8,34). Ganz anders Philippus, er interpretiert den Text des Jesajabuches vor dem Hintergrund seines christologischen Vorverständnisses. Eine Interpretation, die sich durchaus von der historisch intendierten Bedeutung des Jesajawortes abheben dürfte, sich aber zugleich in eine beachtliche Disparität frühjüdischer Auslegungen einreiht.1 Für Philippus ist es der neue Christusglaube, der seine Interpretation lenkt und ihn ausgehend
1 Die Auslegung des Gottesknechtsliedes erweist sich über die Jahrhunderte als sehr disparat und kontextabhängig, wie sich für die vorchristliche Zeit ebenso rekonstruieren lässt (vgl. HENGEL, Wirkungsgeschichte), wie für die ersten Jahrhunderte n. Chr. So kommt SCHREINER, Jes 53, 159, zu dem Ergebnis, dass „wohl kaum eine Perikope [...] im Laufe ihrer Auslegungsgeschichte so unterschiedliche, ja gegensätzliche Interpretationen erfahren hat wie eben diese [...] auch innerhalb der jüdischen Auslegung(sgechichte) gehen die Meinungen über die ‚richtige Deutung‘ der Perikope zum Teil ebenso weit auseinander, wie dies innerhalb der christlichen Auslegung(sgeschichte) der Fall ist.“ Vgl. auch die Studie von ÅDNA, Gottesknecht.
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2. Kapitel: Narratologische Zugänge zur markinischen Christologie
vom Gottesknechtslied das Evangelium von Jesus Christus verkündigen lässt (Apg 8,35).2 Im Gegensatz zur älteren, auf textimmanente Aspekte ausgerichteten Literaturwissenschaft rücken in der heutigen, kognitiven Narratologie3 – auf deren Erkenntnissen die vorliegende Arbeit aufbaut – gerade die kontextuellen Bezüge in den Mittelpunkt des Interesses. Erzählungen werden als historisch kontingente Ausdrucksformen kollektiver Wirklichkeitserfahrung verstanden, denen zugleich eine wichtige kulturelle Funktion4 zugeschrieben wird. Sie lassen sich als Kommunikationsgeschehen zwischen Autor und intendierten Rezipienten 5 begreifen, bei deren Analyse eine Berücksichtigung des kulturellen bzw. zeitgeschichtlichen Kontextes sowie des Lektüre- und Rezeptionsprozesses notwendig wird. 2
Freilich ist mit der Formulierung in Apg 8,35 nicht zwangsläufig an eine einfache Identifikation zwischen Jesus und dem Gottesknecht gedacht. Mit ZENGER, Testament, 128 kann diese Predigt eher als „Fortsetzung des Jesajabuches“ verstanden werden (hieran anknüpfend auch JANOWSKI, Sünden, 47f.). 3 Vgl. einführend BORTOLUSSI/DIXON, Psychonarratology; BRÔNE/VANDAELE (Hg.), Cognitive Poetics; CHRISTMANN/SCHREIER, Kognitionspsychologie; FLUDERNIK, Natural Narratology; FLUDERNIK, Natural Narratology (JLS); GAVINS/STEEN, Cognitive Poetics; HERMAN, Cognitive Narratology; HUBER/WINKO (Hg.), Literatur und Kognition; IBSCH, Cognitive Turn; JAHN, Art. Cognitive Narratology; KÖPPE/WINKO, Theorien und Methoden, 332–336; KÖPPE/WINKO, Neuere Literaturtheorien, 300–312; NÜNNING, Renaissance; NÜNNING/NÜNNING, Von der strukturalistischen Narratologie; SEMINO/CULPEPER (Hg.), Cognitive Stylistics; STOCKWELL, Cognitive Poetics; WEGE, Literaturwissenschaft; WINKO, Verstehen. Vgl. außerdem die umfassende Darstellung bei FINNERN, Narratologie, 36– 46 (dort auch weiterführende Literatur) und nun FINNERN/RÜGGEMEIER, Methoden, bes. 129–172 (Texterklärung allgemein) und 173–235 (Perspektiven-, Figuren-, Handlungsund Raumanalyse). 4 Vgl. u.a. GYMNICH/NÜNNING, Funktionen von Literatur, bes. 3–27; NÜNNING, Wie Erzählungen Kultur erzeugen; NÜNNING, Towards; SOMMER, Kulturwissenschaft; ZAPF, Funktionsmodelle. 5 Mit FINNERN, Narratologie, 53f., verstehe ich unter dem intendierten Rezipienten das mentale Modell, das sich ein Autor von seinem Idealleser macht und das sich aufgrund des vorausgesetzten Vorwissens ableiten lässt (vgl. ausführlich Kap. 2.2.1 und dort Abb. 2.3). Ganz ähnlich ist Katrin Dennerleins Definition eines Modell-Lesers, „dem die Kenntnis aller einschlägigen Codes und aller notwendigen Kompetenzen zugeschrieben werden, um die vom Text geforderten Operationen erfolgreich durchzuführen“ (DENNERLEIN, Narratologie, 196). Von diesem kognitiven Rezipientenverständnis zu unterscheiden sind sowohl Isers rein textimmanent verstandener „impliziter Leser“ (s.u.) als auch der historische Rezipient bzw. mögliche historische Rezipientengruppen. BEDENBENDER, Frohe Botschaft, 75–115, differenziert nach dem Informationsstand der Rezipienten (ähnlich nun WHITENTON, Hearing, 26–29). Aber auch wenn jede reale Leserschaft heterogen ist, kann der Autor beim Schreiben nicht alle möglichen Gruppen im Blick haben. Zudem bleibt auch Bedenbenders Auswahl an Lesergruppen selektiv, weil sich zur Differenzierung möglicher Leser zahlreiche weitere Kriterien nennen ließen (z.B. Alter, Geschlecht, soziale Stellung, Herkunft, religiöse Einstellung, sprachliche Kenntnisse uvm.).
2.1 Grundprinzipien einer kognitiven Narratologie
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In methodischer Hinsicht ist seit Mitte der 1990-er Jahre zu beobachten, dass die Erzählwissenschaft zu diesem Ziel verstärkt Ergebnisse aus der Kognitionspsychologie6 reflektiert und aufgegriffen hat. Mit Hilfe kognitionswissenschaftlicher Erkenntnisse sollen die diversen Prozesse der Informationsaufnahme, -verarbeitung und -speicherung präziser erfasst werden. Im Vergleich zur strukturalistischen Literaturtheorie der 1970er und 1980er Jahre kann diesbezüglich von einer grundlegenden Neuorientierung, einer kognitiven Wende (cognitive turn) gesprochen werden. „Für die zuvor ‚textimmanente‘ strukturalistische Narratologie war es eine wichtige Erkenntnis, dass reale Leser nicht einfach nur mit den Informationen einer Erzählung ‚gefüllt‘ werden. Ein Leser ist zu Beginn der Lektüre kein unbeschriebenes Blatt – genau das hatten die Konstruktionen vom textinternen ‚impliziten Autor‘ und ‚impliziten Leser‘ aber vorausgesetzt. Nein: Reale Leser haben immer ein bestimmtes Vorwissen und kognitive Verstehensschemata. [...] Diese Grunderkenntnis hat sich in der heutigen Narratologie wietestgehend durchgesetzt.“7
Die kognitive Narratologie wendet sich aber nicht nur vom ehemals weit verbreiteten strukturalistischen Textverständnis und damit einer einseitigen Textfokussierung ab,8 sondern sie versucht zugleich die Arbeiten und Einsichten der Rezeptions- (Jauß) und Wirkungsästhetik (Iser) sowie der Semiotik und linguistischen Pragmatik, die ihrerseits bereits auf die konstruktive Beteiligung des Lesers am Rezeptionsprozess hingewiesen hatten, fortzuführen und methodisch weiter zu verfeinern. Während bei Iser der implizite Leser noch als textimmanente Struktur gedacht wird (vgl. ausführlich 2.2.1) und Eco mit dem Hinweis auf die „enzyklopädische Kompetenz“9 des Rezi6 Vgl. zur Geschichte der kognitiven Wissenschaften EYSENCK/KEANE, Cognitive Psychology; GARDNER, The Mind; DELLAROSA, History of Thinking; SIMON/KAPLAN, Cognitive Science. 7 FINNERN, Narratologie, 36f. Finnerns umfassende Darstellung des narratologischen Forschungsdiskurses sowie seine Überlegungen zum Verhältnis von exegetischer und narratologischer Methodik liegen diesem Kapitel in vielfältiger Weise zu Grunde. 8 Der starke Einfluss strukturalistischer Ansätze auf den exegetischen Diskurs ist weiterhin ungebrochen. Während in einzelnen Forschungsbeiträgen durchaus neuere Ansätze zum Zuge kommen, weist insbesondere der Großteil aktueller Methodenbücher weiterhin eine strukturalistische Prägung auf; vgl. v.a. EGGER/WICK, Methodenlehre; EBNER/ HEININGER, Exegese. Grundlage sind hier die beiden Einführungswerke von GENETTE, Erzählung (1972!) und CHATMAN, Story (1978!). 9 Vgl. ECO, Lector, 15–30.94–106, hier 94: „Um die diskursiven Strukturen zu aktualisieren, stellt der Leser die lineare Manifestation dem Regelsystem gegenüber, wie es von der Sprache, in der der Text geschrieben ist, und von der enzyklopädischen Kompetenz, auf die die Sprache aufgrund der kulturellen Traditionen verweist, vorgesehen ist.“ Iser redet hingegen vom „Textrepertoire“ (ISER, Akt, 87–143) und Jauß verwendet diesbezüglich den Begriff des „Erwartungshorizonts“ (JAUSS, Ästhetische Erfahrung, 660–671. Vgl. weiterführend MAYORDOMO MARÍN, Anfang, 46–51 (zu Eco). 62–65 (zu Jauß) u. 69f.79 (zu Iser) und FINNERN, Narratolgie, 40.
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2. Kapitel: Narratologische Zugänge zur markinischen Christologie
pienten noch eine sehr allgemeine Kategorie zur Beschreibung des textexternen Vorwissens verwendet, zeichnet sich die kognitive Erzählwissenschaft gerade durch eine starke Ausdifferenzierung und Konkretisierung des rezeptionsleitenden Vorwissens sowie eine Beachtung weiterer kognitiver Prozesse aus. Unter Berücksichtigung kognitionspsychologischer Erkenntnisse wird betont, dass der Leser a) ein kulturelles, soziales und literarisches Vorwissen10 habe (vgl. 2.1.1); b) über ein Lesegedächtnis verfüge und so über den Textverlauf hinweg Schlussfolgerungen ziehe (vgl. 2.1.2);11 und c) aus den Textinformationen sowie seinem Vorwissen emergente Bedeutungen konstruiere12 (vgl. 2.1.3).13 Aus der Konzentration auf die konkreten Faktoren und Prozesse, die dem rezipientenabhängigen Verstehen einer Erzählung zu Grunde liegen, sowie der damit einhergehenden Öffnung für empirische Forschungen, werden die Ansätze einer radikal konstruktivistischen Erzähltheorie bzw. einer poststrukturalistischen Dekonstruktion zurückgewiesen.14 Die innerhalb dieser Theorien anzutreffende Pluralisierung möglicher Lektüren wird heute zunehmend problematisiert und als unbefriedigend empfunden. Je nach Kon10 Vgl. SCHNEIDER, Grundriß, 82–87 (kulturelle und soziale Wissensbestände), 88–90 (literarische Wissensbestände). In der Exegese wurde dies auch erkannt von DARR, Character Building, 21 mit 176 Anm. 8 (Iser und Chatman hätten beide nicht genügend die kulturelle Bedingtheit des Lesers gesehen); DARR, Narrator, 47f.; MAYORDOMO MARÍN, Anfang, 140 (Lit.). DARR, Character Building, 22 beschreibt das nötige Vorwissen als „Extratext“: „The extratext is made up of all the skills and knowledge that readers of a particular culture are expected to possess in order to read competently: (1) language; (2) social norms and cultural scripts; (3) classical or canonical literature; (4) literary conventions (e.g., genres, type scenes, standard plots, stock characters) and reading rules (e.g., how to categorize, rank, and process various kinds of textual data); and (5) commonlyknown historical and geographical facts.“ Vgl. auch NICKLAS, Leitfragen, 53–61; LANG, Kunst, 80–86. 11 Vgl. ERLL, Gedächtniskonzepte; HUMPHREY, Gedächtnis. 12 Vgl. SCHNEIDER/HARTNER, Blending; FLUDERNIK, Blending Theory. 13 Außerdem nehmen Erzählungen Einfluss auf die Meinung und das Verhalten ihrer Rezipienten und wirken sich auf die Emotionalität aus. Vgl. zu diesen Rezeptionswirkungen und ihrer Analyse FINNERN/RÜGGEMEIER, Methoden, 236–258. 14 Zur poststrukturalistischen Erzähltheorie und ihren Prämissen vgl. HEINEN, Postmoderne sowie LÜDEKE, Methoden, 155–175 („Methode der Dekonstruktion“). Obwohl eine dekonstruktive Lektüre neutestamentlicher Texte mit der hier zugrunde gelegten Methodik nicht vereinbar ist, kann dieser Zugang für die Exegese durchaus ein hilfreiches Korrektiv darstellen und zwar deshalb, weil das Differenz-Denken des Dekonstruktivismus jeden endgültigen Sinnabschluss auf inspirierende Weise hinterfragt; vgl. exemplarisch zu den „Wir-Stücken“ der Apg HUPE, Dekonstruktive Relektüren, 14: „Während verschiedene Forschungsüberblicke zu unterschiedlichen Aspekten der ‚Wir-Stellen-Diskussion‘ [...] wiederholt sichtbar machen, wo sich die aktuelle Forschung im Kreise dreht, können dekonstruktive Lektüren übersehene und unterdrückte Aspekte des Phänomens ‚Wir-Stücke‘ wichtig machen.“
2.1 Grundprinzipien einer kognitiven Narratologie
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text und aufgrund wandelnder Vorverständnisse kann sich zwar die Deutung eines Textes erheblich verändern bzw. weiterentwickeln, wofür letztlich auch die Auslegung von Jes 53 im Kontext der Apostelgeschichte ein eindrückliches Beispiel darstellt. Aber das Vorwissen und die kognitiven Dispositionen auf denen diese Neuinterpretationen ruhen, sind keineswegs beliebig bzw. rein individuell, sondern unterliegen benennbaren kulturellen und zeitgeschichtlichen Einflüssen. Die Auslegung des Einzelnen ist nie autonom, sondern sie stützt sich auf zeitgeschichtlich vorgeprägte und innerhalb eines Kulturkreises konstante Vorverständnisse (vgl. 2.1.1). Aufgabe der Interpretation und Analyse ist es, diese Einflüsse historisch zu rekonstruieren und zu beschreiben. Im Folgenden sollen die Faktoren und Mechanismen, die es bei einer solchen Analyse zu berücksichtigen gilt, vorgestellt und in den methodischen Unterkapiteln zur Perspektiven-, Figuren- und Handlungsanalyse ausgeführt werden. 2.1.1 Vorwissen: Schemata, Frames und Scripts Mit der kognitiven Wende hat sich in den Erzählwissenschaften die Erkenntnis durchgesetzt, dass Rezipienten einer Erzählung immer auf ein umfassendes und vielfältiges Vorwissen zurückgreifen müssen, um einen Text zu verstehen. Dies gilt bereits für die einfache Entschlüsselung der Wort- und Satzsemantik,15 aber auch für das Erkennen und die Verarbeitung komplexerer Modelle (z.B. Stereotypen16) oder die Gattungszuordnung17. Der Wissensbestand eines Rezipienten ist hierbei als kulturell und zeitgeschichtlich variabel anzusehen, wie es bereits ansatzweise von der feministischen18 und postkolonialen19 Narratologie in den 1980-er bzw. 1990-er Jahren betont wurde. Eine Einsicht, die sich in der heutigen kognitiven Narratologie weitgehend durchgesetzt hat.20 15
Eine Übertragung der Schematheorie auf den Bereich der Linguistik findet sich bereits bei FILLMORE, Topics, 81; FILLMORE, Frame Semantics. 16 Vgl. hierzu 2.3.2 Figurenmerkmale und Identität. 17 Vgl. etwa HALLET, Gattungen, 53–71, bes. 56: „Aus der Perspektive des Lese- und Verstehensprozesses betrachtet sind ‚Gattungen‘ also kognitive Abstraktionen, die aufgrund einer bottom up-Verarbeitung von textuellen Daten und Signalen durch einen ständigen Vergleich mit bereits vorliegenden Kategorien (top down) gebildet werden.“ 18 In dieser Hinsicht ist die feministische Literaturwissenschaft durchaus als Vorläufer einer heutigen, kognitiven Narratologie zu begreifen (vgl. LANSER, Feminist Narratology; NÜNNING/NÜNNING, Erzähltextanalyse und Gender Studies; NÜNNING, Feministische Narratologie). 19 Vgl. ASHCROFT/GRIFFITHS/TIFFIN, Key Concepts; ASHCROFT/GRIFFITHS/TIFFIN, Empire Writes Back (grundlegend); REHBERGER/STILZ, Postkoloniale Literaturtheorie (guter Überblick). 20 In der Exegese scheint eine derartige Betonung des Kontextes ohnehin kaum mehr als ein Allgemeinplatz zu sein. Schließlich wird hier bereits seit dem 19. Jhdt. mit der Adapti-
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2. Kapitel: Narratologische Zugänge zur markinischen Christologie
Ein Konsens besteht innerhalb der Kognitionspsychologie und der kognitiven Narratologie auch darüber, dass das Vorwissen der Rezipienten nicht in Form loser Einzelinformationen vorliegt, sondern in hierarchisch strukturierte Wissensblöcke unterteilt ist. Diese Schemata21 sind allgemein genug, um eine schnelle Zuordnung von Textinformationen zu gewährleisten. So haben Rezipienten aufgrund ihrer bisherigen Erfahrung meist konkrete Standardeigenschaften (default values22) eines Gebäudes, einer Personengruppe, eines Gegenstandes etc. im Kopf. Einer Kirche schreiben wir beispielsweise bestimmte architektonische Merkmale zu und einem Schwaben bestimmte stereotype Charaktermerkmale. Solche Standardvorstellungen wirken im Lektüreprozess „entlastend“, weil sich Autor und Rezipienten nicht über sämtliche Details verständigen müssen. Bereits innerhalb einer strukturalistischen – und damit weitgehend textimmanent ausgerichteten – Erzähltheorie konnte Gerard Genette diesen Sachverhalt auf den Punkt bringen, indem er schrieb: „Die Erzählung sagt immer weniger, als sie weiß, aber sie läßt einen oft mehr wissen, als sie sagt.“23Andererseits bieten die Schemata ausreichend Leerstellen (slots), die je spezifisch aktualisiert bzw. gerade über den Lektüreprozess hinweg durch neue Informationen ersetzt oder ergänzt werden können. So kann eine literarische Figur gegenüber stereotypen Vorstellungen an Individualität gewinnen, indem sie abweichend zur vorgegebenen Norm agiert. Die tatsächlichen Aktualisierungen werden in den Kognitionswissenschaften als filler bezeichnet. Neben dem Oberbegriff des Schemas haben sich weitere Termini zur Beschreibung der menschlichen Wissensbestände etabliert: Häufig unterscheidet man noch einmal zwischen eher statischen frames und prozessualen scripts.24 Mit dem Begriff des frames wird dabei das semantische Vorwissen beschrieben. Die Rezipienten des Markusevangeliums hatten eine mehr oder weniger konkrete Vorstellung von den Orten Tyrus oder Dalmanutha. Die on von Lessings Rede vom „garstigen, breiten Graben“ (LESSING, Beweis, 443) auf die unüberbrückbare Diskrepanz moderner und antiker Vorstellungswelten verwiesen. Dass ein Leser des 1. Jhdts. eine andere Vorstellung von einer Synagoge oder einem Pharisäer hatte als ein heutiger Leser oder über andere Textkenntnisse verfügte, lässt sich schnell einsehen. 21 Vgl. zum Schemabegriff BARTLETT, Remembering (1932!); RUMELHART, Notes; RUMELHART, Schemata; MANDLER, Stories. Zur hierarchischen Strukturierung vgl. etwa RUMELHART, Schemata, 33–58, bes. 36f. und DE BEAUGRANDE, Text, 77, der bildhaft von einer Skelettstruktur (skeleton) spricht (so auch MINSKY, Society of Mind, 245). 22 COULSON, Semantic leaps, 55–56; Minsky spricht diesbezüglich von default assignments (MINSKY, Framework, 212f.). 23 GENETTE, Erzählung, 140. Ähnlich MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Einführung, 165f., und ALEXANDER/EMMOTT, Schemata, 1: „[I]t is rare and often unnecessary for texts to contain all the detail required for them to be fully understood. Usually, many or even most of the details are omitted, and readers’ schemata compensate for any gaps in the text.“ 24 Vgl. HERMAN, Scripts, 1047.
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Vorstellungen eines heutigen Lesers weichen hiervon deutlich ab. Sie können weniger detailliert oder – aufgrund wissenschaftlicher Forschung – gerade wesentlich präziser sein.25 Bei der Lektüre werden die kulturell und zeitgeschichtlich geprägten Vorstellungen aktiviert und zugleich modifiziert, fortgeschrieben, ergänzt, verfremdet, intensiviert etc. Gerade für die Analyse von Figuren ist die Berücksichtigung textexterner Vorstellungen wichtig. Über die expliziten Informationen des Textes hinaus gilt es bei der Interpretation immer zugleich jene Informationen zu berücksichtigen, auf die ein Autor durch seinen Text indirekt rekurriert. Der Begriff script bezeichnet im Vergleich zum frame ein prozessuales Vorwissen der Rezipienten. So erwarten Leser in einer bestimmten Situation und einem bestimmten Setting gewisse Ereignisse (situational script),26 z.B. dass im Zuge des frühjüdischen Synagogengottesdienstes eine Schriftlesung erfolgt.27 Zudem verfügen Leser über instrumental scripts, d.h. eine Vorstellung davon, wie man etwas tut, z.B. wie man im 1. Jhdt. von Jericho nach Jerusalem gelangte.28 Für die Figuren- und Handlungsanalyse bedeutsam sind letztlich auch sogenannte personal scripts. Sie geben den Rezipienten eine Vorahnung davon, wie sich eine Person (bzw. im literarischen Kontext eine Figur) mit bestimmten Merkmalen oder aufgrund bestimmter Genrevorgaben29 in einer Situation verhalten wird. Diese scripts ermöglichen eine Anti25 Tatsächlich ist bei der exegetischen Analyse darauf zu achten, dass die Ergebnisse einer heutigen Archäologie zu einer Überinterpretation neutestamentlicher Textaussagen führen können (z.B. bei Statistiken zu Bevölkerungsstruktur, präzisen Lokalisierungen, detaillierten Baubeschreibungen). Es ist hier immer zu reflektieren, welchen Wissensstand die intendierten Rezipienten haben konnten. 26 Zu den drei Arten von Scripts (situational script, instrumental script, personal script) vgl. SCHANK/ABELSON, Scripts, 61–66. Eng verwandt mit dem situational script sind der Begriff des Szenario (vgl. SANFORD/GARROD, Understanding; ALEXANDER/EMMOT, Schemata, 2) und der „Szenographie“ (ECO, Lector, 119f.). Bei Iser trifft man auf die abstraktere Vorstellung eines „Textrepertoires“ (ISER, Akt, 87–143) und Jauß spricht ebenfalls recht allgemein vom „Erwartungshorizont“ (JAUSS, Ästhetische Erfahrung, 660– 671). 27 Vgl. zum konstitutiven Element der Schriftlesung STEMBERGER, Art. Schriftlesung, 558–563; vgl. dazu Neh 8,1–12; Phil. somn. 2,127; Jos. c. Ap. 175; Lk 4,17; Apg 13,15; 15,21. 28 Auch wenn sich die Begriffe instrumental und situational script in der Exegese noch nicht etabliert haben, werden solche scripts in der Praxis unbewusst vorausgesetzt. Ein Beispiel hierfür ist die geografische Inkohärenz, die Peter Dschulnigg in 6,53 feststellt. Wenn er die Ankunft in Genezareth (statt Betsaida) als bewusste Inszenierung versteht und davon ausgeht, dass die Fallwinde „die Jünger mit dem Boot zurück auf die Westseite getrieben haben“ (DSCHULNIGG, Markusevangelium, 196), so setzt er bei den Rezipienten ein konkretes nautisches, meteorologisches und geografisches Wissen voraus, das ihnen überhaupt erst ermöglicht, auf diese Inszenierung aufmerksam zu werden. 29 Der genaue Zusammenhang zwischen personal scripts und narrativen Schemata bzw. narrative scripts ließe sich noch stärker ausdifferenzieren (vgl. zum Einfluss narrativer
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2. Kapitel: Narratologische Zugänge zur markinischen Christologie
zipation der Handlung und können dazu beitragen, dass die Leser durch die tatsächliche Handlung bestätigt oder gerade überrascht werden. Gegenüber einer strukturalistischen Erzähltheorie, die sich ausschließlich auf tatsächliche Handlungsschemata konzentriert hat, lassen sich auf der Grundlage rekonstruierter Leseerwartungen nun auch virtuelle Handlungsverläufe in die Analyse einbeziehen (vgl. hierzu 2.4.2a). Damit gerät in besonderer Weise das kommunikative Spiel zwischen Autor und Rezipienten in den Blick und Phänomene, wie das der Spannung oder des Humors, werden überhaupt erst nachvollziehbar und beschreibbar.30 2.1.2 Inferenz und Lesegedächtnis Mit dem allgemeinen Verweis auf das Vorwissen der Rezipienten sowie eine Aufschlüsselung des Vorwissens in statische frames und eher prozesshafte scripts, ist noch nicht hinreichend beschrieben worden, wie dieses Vorwissen im konkreten Lektüreprozess aktiviert, mit unterschiedlichen Textinformationen in Verbindung gebracht und im Lesegedächtnis gespeichert wird. Die Interaktion zwischen textbasierten Informationen und textexternem Vorwissen werden in der Textverstehensforschung als Schlussfolgerungsbzw. Inferenzprozess31 bezeichnet. Ohne hier auf alle Details solcher Prozesse eingehen zu können, lässt sich das Verstehen bei der Lektüre als ein Ineinanderwirken von schemagestützten top-down-Prozessen und datengestützten bottom-up-Prozessen begreifen.32 Bereits auf der (prä)lexikalischen Ebene soScripts MANDLER, Stories; SCHMIDT, Grundriß, 307). Sicher scheint, dass die Wahrnehmung literarischer Figuren zahlreiche Analogien zur Wahrnehmung realer Personen aufweist (vgl. 2.3.2). 30 Vgl. STRASEN, Beams falling (Spannung); WENZEL, Struktur des Witzes; ATTARDO, Humorous Texts; KINDT, Zwei Kulturen (Humor). Innerhalb der Exegese lässt sich ein ausgeprägtes Interesse an diesen beiden Textphänomenen erkennen, aber die Analyse erfolgt noch weitgehend intuitiv und bezieht die Erkenntnisse aus der kognitiven Erzählwissenschaft noch nicht ein. Vgl. zum Humor: JÓNSSON, Humour; LANDY, Humour; ZWICK, Strukturen; vgl. zur Spannung BERGER, Exegese, 98; POPLUTZ, Erzählte Welt, 27– 31. FINNERN, Narratologie, 199–201, knüpft an die neueren Entwicklungen innerhalb der Narratologie an und formuliert eine entsprechende Methodik aus. 31 Vgl. hierzu RICKHEIT/STROHNER, Inferences; LEVINSON, Presumptive Meaning; MCKOON/RATCLIFF, Inferences. 32 Vgl. zu diesen top-down- und bottom-up-Prozessen STERNBERG, Cognitiv Psychology, 318–322; SCHWARZ, Kognitive Linguistik, 190–196; SCHADE/BARATELLI, Beiträge, 84–88; DAMBACHER, Bottom-up (Worterkennung); SCHNEIDER, Grundriß, 37–39 (Figurenrezeption). Die Beschreibung dieses wechselseitigen Verstehensprozesses präzisiert letztlich die eher metaphorische Rede Gadamers von der Horizontverschmelzung (GADAMER, Wahrheit, 311) oder die hierdurch beeinflusste Rede Isers von der „Dialektik von Protention und Retention“ (ISER, Akt, 182 ). Auf die prinzipielle Vereinbarkeit zwischen der klassischen Hermeneutik und kognitionspsychologischer Verstehensforschung weisen bereits WINKO, Verstehen, 1–27, und FINNERN, Narratologie, 40, hin.
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wie auf der Satzebene, aber auch bei der Rezeption größerer Texteinheiten, gleicht unser Gedächtnis permanent Textinformationen mit dem jeweiligen kulturell und zeitgeschichtlich gegebenen Vorwissen ab.33 Umgekehrt erkennt das Gedächtnis Textmerkmale erst auf der Grundlage existierender Vorverständnisse. So wird beim Hören oder Lesen eines Textes das Verstehen erst durch die Kenntnis bekannter Phoneme oder Grapheme ermöglicht. Auch komplexere Vorstellungen, wie das mentale Modell eines erzählten Raums oder einer Figur setzen sich sukzessiv und durch wechselseitige top-down und bottom-up-Prozesse zusammen. „Für den Aufbau eines mentalen Modells wird das (Welt-)Wissen, über das ein Hörer verfügt, herangezogen, sodass sich das entstehende Modell qualitativ deutlich von der propositionalen Struktur des Textes unterscheidet.“34 Die christologischen Titel des Markusevangeliums, wie etwa der SohnGottes- oder Menschensohntitel, lassen sich demzufolge nicht allein auf der Grundlage des Evangelientextes verstehen,35 sondern erst unter Einbeziehung rekonstruierter historischer Vorverständnisse. Umgekehrt gilt es aber auch die Wechselwirkungen zu berücksichtigen, die sich über den Lektüreverlauf hinweg zwischen textexternen und textbasierten Informationen ergeben und die unter Umständen zu einer erheblichen Modifizierung des textexternen Wissens führen können. Die Vorstellungen, die sich für die intendierten Rezipienten des Markusevangeliums mit bestimmten Hoheitstiteln verbunden haben, werden möglicherweise über den Verlauf der Erzählung – insbesondere durch den Bezug zu anderen Titeln sowie die umfassende Charakterisierung Jesu – ergänzt, erweitert, intensiviert oder auch hinterfragt. Die Fülle und Komplexität synchron ablaufender kognitiver Einzeloperationen – auf lexikalischer, semantischer und propositionaler Ebene – lässt bereits erkennen, dass das Textverstehen ganz wesentlich auf unbewusst36 ablaufenden Prozessen beruht. Einzelne Worte, Sätze oder komplexere Inhalte werden von den Rezipienten ohne weitreichende Reflexion entschlüsselt und meist intuitiv verstanden. Ansonsten wären wir bei der Lektüre eines Textes 33
„Das Lesegedächtnis ist die Gesamtmenge an Aufmerksamkeit, die der Leser aufbringt, um Erinnerungsbogen, -radius, -netz und -akteuren gerecht zu werden. Es fluktuiert von Sekunden beim Aphorismus bis hin zu Monaten beim roman fleuve“ (HUMPHREY, Gedächtnis, 73–92, hier 8). Vgl. zu der hier vorgenommenen Einteilung unterschiedlicher Rezeptionsebenen SCHADE/BARATELLI, Beiträge, 84–88. 34 SCHADE/BARATELLI, Beiträge, 87. 35 So gerade der Ansatz des angloamerikanischen Narrative Criticism, der sich durch ein starke Textfokussierung und eine regelrechte Polemik gegenüber textexternen Referenzen auszeichnet (vgl. hierzu ausführlich Kap. 3.3). 36 Eine hochgradig automatisierte Verarbeitung lässt sich v.a. für die Buchstabenerkennung und Wortverarbeitung behaupten (MASSON, Memory). Vgl. demgegenüber Richard Gerrig, der darüber hinaus für eine teilweise bewusste Verarbeitung von Inhalten plädiert (GERRIG, Processes).
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schlichtweg überfordert. Gleichzeitig ist das Textverstehen als ein dynamischer Prozess zu begreifen, „bei dem ständig neue Wissensbereiche in den Vordergrund treten und damit andere verdrängen.“37 Für die Interpretation ist es daher wichtig zu wissen, welche Faktoren eine Speicherung von Textinformationen begünstigen, so dass auf diese zu einem späteren Zeitpunkt rekurriert werden kann. Nur so lässt sich eine qualifizierte Auskunft darüber geben, ob die intendierten Rezipienten Wortverbindungen herstellen, einzelne Ereignisse zu Handlungssträngen verknüpfen oder Figuren miteinander vergleichen konnten und sollten. In den nachfolgenden Unterkapiteln zur Perspektiven-, Figuren- und Handlungsanalyse wird im Detail darzustellen sein, welche Faktoren jeweils eine Bezugnahme zwischen entsprechenden Einzelinformationen bzw. den textbasierten und textexternen Informationen begünstigen. Im Zuge der exegetischen Analyse gilt es m.E. stärker als bisher zu beachten, dass das menschliche Lesegedächtnis zahlreiche Informationen über den Lektüreprozess hinweg ausblendet und viele Details wieder verdrängt werden. Kritisch zu überprüfen ist daher das umfassende Aufspüren lexikalischer Verknüpfungen, wie es sich innerhalb der Exegese nicht zuletzt durch den Einsatz elektronischer Wörterbücher längst etabliert hat. Ohne den prinzipiellen Nutzen computergestützter Hilfsmittel bestreiten zu wollen, gilt es zu berücksichtigen, dass nicht jede Wortverbindung, die sich aus heutiger Sicht nachweisen lässt, auch für die Textinterpretation von Relevanz ist.38 Vielmehr ist stets danach zu fragen, ob die intendierten Rezipienten diese Verbindungen erkennen konnten und sollten. Auch hierfür sind Kriterien zu formulieren. Ein Beispiel für diese Problematik stellt etwa die Vokabel scivzw im Markusevangelium dar. Soll der Rezipient im Zusammenhang der Kreuzigungsepisode durch das Zerreißen des Tempelvorhangs (15,38) an das Zerreißen des Himmels bei der Taufe Jesu (1,9–11) erinnert werden? Wenngleich das Verb nur an diesen beiden Stellen vorkommt,39 ist es schwerlich vorstellbar, dass die Rezipienten solch einen Begriff über den Gesamtverlauf der Erzählung im Gedächtnis behalten konnten. Eine Bezugnahme zwischen Tauf- und Kreuzigungsepisode ergibt sich, wenn überhaupt, erst durch weitere Faktoren. Etwa dadurch, dass die Episoden am Anfang und Ende des Wirkens Jesu platziert sind und damit an zwei Stellen, denen die Rezipienten große Aufmerksamkeit schenken.
37
SCHNEIDER, Grundriß, 53. Dies gilt in vergleichbarer Weise für den Bereich intertextueller Bezüge (vgl. hierzu KRAUSE, Eisodus, 47). 39 Vgl. darüber hinaus die Verwendung des Substantivs scivzma in 2,21. 38
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So weisen kognitionspsychologische Untersuchungen darauf hin,40 dass anfängliche Informationen besser im Lesegedächtnis verankert werden als solche Informationen, die zu einem späteren Zeitpunkt der Erzählung vermittelt werden. Rezipienten tendieren zudem aufgrund von Kategorisierungseffekten dazu, spätere Informationen vor dem Hintergrund ihres Ersteindrucks zu interpretieren. Um einen Ersteindruck vollständig oder teilweise zu revidieren, müssen Rezipienten meist mehrfach mit widersprüchlichen oder ergänzenden Informationen konfrontiert werden. Auch das Ende einer Erzählung sowie das letzte Auftreten einer Figur bleiben besonders gut im Gedächtnis der Rezipienten. Der Schlusseindruck prägt ganz entscheidend das Gesamtbild, das ein Rezipient von einer Figur, einem Raum oder einer anderen Entität im Gedächtnis behält. In Analogie zum Primäreffekt kann hier von einem Rezenzeffekt bzw. recency effect gesprochen werden. 2.1.3 Emergenz Über einfache Schlussfolgerungen hinaus, bei denen der Rezipient über wechselseitige top-down und bottom-up Prozesse eine Verknüpfung zwischen textuellen Informationen und seinem Vorwissen herstellt, kann es über den Lektüreprozess hinweg zur Entstehung emergenter Bedeutungen kommen. Das Gedächtnis „entschlüsselt“ in diesem Fall nicht nur vorgegebene Inhalte, sondern konstruiert auf der Grundlage textbasierter und textexterner Informationen neue und zugleich vom Autor intendierte Sinngehalte. Neben dem Bereich der uneigentlichen Rede – also bei Metaphern, Ironie, Hyperbel usw. – können emergente Bedeutungen besonders häufig beim Figurenvergleich (v.a. bei der Typologie) sowie bei der Verknüpfung einzelner Episoden auftreten. Ein Beispiel41 für solch eine emergente Bedeutung stellt das bereits erwähnte Zerreißen des Tempelvorhangs in 15,38 dar, weil der Rezipient diese Aussage nicht ausschließlich als historische Sachinformation abtut, sondern ihr einen übertragenen Sinn zuzuschreiben versucht. So kann 15,38 entweder als Hinweis auf die Offenbarung der Majestät Gottes42 oder aber als Anfang vom Ende, d.h. als Vorwegnahme der späteren Tempelzerstörung und Kritik
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Vgl. grundlegend BOWER, Story Comprehension; STERNBERG, Expositional Modes, 93–97; PERRY, Literary Dynamics; SCHNEIDER, Grunriß, 28.72 sowie aus psychologischer Perspektive CASTRO, Art. Primacy and Recency Effects, EYSENCK, Psychology. Auch innerhalb der Exegese werden diese Effekte bereits diskutiert: vgl. POPLUTZ, Erzählte Welt; 32f. und FINNERN, Narratologie, 118. 41 Vgl. zu diesem Beispiel und zur Analyse emergenter Bedeutungen FINNERN/ RÜGGEMEIER, Methoden, 166f. 42 So z.B. LINNEMANN, Studien, 158–163.
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2. Kapitel: Narratologische Zugänge zur markinischen Christologie
am Tempelkult43 verstanden werden. Doch welche Kriterien lassen sich bei der Interpretation solcher Textstellen geltend machen? Wie lässt sich angesichts divergierender Interpretationsmöglichkeiten eine begründete Entscheidung treffen? Um an dieser Stelle gleich einem potentiellen Missverständnis entgegenzuwirken: Der hier angesprochene Sachverhalt der Emergenz ist nicht mit Formen der Allegorese44, d.h. einer subjektiven und nachträglichen Überformung nichtallegorischer Texte bzw. mit dem bereits frühkirchlich und frühjüdisch bezeugten und in der scholastischen Theologie ausformulierten sensus spiritualis zu verwechseln. Die mittelalterliche Theologie ging von einer prinzipiellen Applikabilität biblischer Aussagen aus und befragte einen Text zugleich nach seinem Literalsinn, seinem allegorischen, tropologischen und anagogischen Sinn.45 Bei der Analyse emergenter Bedeutungsgehalte ist vorab zu klären, ob eine konkrete Textstelle die Rezipienten auf eine zweite, hintergründige Bedeutungsebene verweisen soll oder nicht.46 Die Kritik an einer weitgehend ahistorischen und individuellen Allegorese, die sich bereits in der Reformation abzeichnete und die durch die historisch-kritische Methode in zugespitzter Weise erfolgte,47 bleibt berechtigt. „[Es geht] nicht darum, was bei ahistorischer Betrachtung qua Allegorese alles in das MkEv hineingeheimnist werden kann (oder auch schon hineingeheimnist wurde), sondern
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So z.B. PESCH, Markusevangelium II/2, 499; eine Auslegung, die sich bereits in den Pseudoclementinen findet (Ps.-Clem. Rec. 1,41,3). GNILKA, Evangelium II/2, 324, formuliert hingegen vermittelnd: „Beide Interpretationen sind zusammenzunehmen und bilden keinen Gegensatz.“ 44 Mit dem Begriff der Allegorese folge ich hier der Definition von KLAUCK, Allegorie, 354–357, der darunter ausschließlich solche Auslegungen versteht, die einen Text erst im Nachhinein allegorisch deuten. Anders z.B. HARNISCH, Gleichniserzählungen, 43. 45 Gleichwohl findet sich auch hier – v.a. in der Schule von St. Victor – die Auffassung, dass eine allegorische Lesweise nur an solchen Textstellen zu erfolgen habe, wo der wörtliche Sinn unverständlich bleibe (vgl. SMALLEY, Bible, 113–185). 46 Ähnlich TILLY, Allegorisch lesen, 42, der zu Recht hervorhebt, dass „durchgehend danach zu fragen [ist], welche kognitiven, expressiven und textkonstitutiven Funktionen den verschiedenen Sprachbildern und Allegorien innerhalb ihres literarischen Zusammenhangs zukamen und welche Haltungen gegenüber dem jeweiligen Bildspender bzw. welche Teilmenge seiner Eigenschaften die impliziten Adressaten jeweils auf den Bildempfänger übertragen sollten.“ 47 Luther knüpft die allegorische Auslegung bereits an die Analogia fidei – was für ihn gleichbedeutend ist mit einer Bezugnahme auf die sicheren Glaubensaussagen der Schrift – und versucht sie gerade hierdurch einzuschränken (vgl. WA 42,367f. sowie WA 14,561 u. 18,700). Die ablehnende Haltung innerhalb der historisch-kritischen Exegese gipfelt in Jülichers Gleichnistheorie, insofern hier nicht nur eine spätere Allegorese neutestamentlicher Aussagen kritisiert wird, sondern auch den Evangelisten eine nachträgliche Allegorisierung der ursprünglich nicht-allegorischen Gleichnisse Jesu vorgeworfen wird (vgl. JÜLICHER, Gleichnisreden; dagegen KLAUCK, Allegorie, 358).
2.1 Grundprinzipien einer kognitiven Narratologie
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einzig um jene allegorischen Bedeutungen, die sich dem Text bei strikt historischer Betrachtung zutrauen lassen.“48
Umgekehrt darf diese Kritik an einer nachträglichen Allegorese aber nicht zur prinzipiellen Skepsis gegenüber emergenten Sinngehalten führen, um deren Analyse die Exegese auch gar nicht umhin kommt.49 Die lebhafte Diskussion um 15,38 und vergleichbare Textstellen verdeutlicht ja gerade, dass im Zuge der Interpretation wissenschaftlich reflektierte Kriterien notwendig sind und expliziert werden müssen. Um das Phänomen der Emergenz auf der Grundlage eines explizierten Methodenwissens zu analysieren, könnte sich die Theorie des Conceptual Blending als weiterführend erweisen, die von den Kognitionswissenschaftlern und Linguisten Mark Turner und Gilles Fauconnier entwickelt wurde. Nachdem die Theorie des Blending bereits früh Einzug in die Linguistik und Metaphernforschung erhalten hat,50 wird ihr analytisches Potential mittlerweile auch in der Narratologie verstärkt diskutiert.51 Während Monika Fludernik noch 2010 trotz einiger Einzelstudien52 von einem grundsätzlichen Desiderat sprechen konnte,53 ist mit dem 34. Band der Narratologia – „Blending and the Study of Narrative“ (2013) – nun eine erste umfassende Monografie zur Methode des Blending erschienen. Bemerkenswert ist v.a. die große Band-
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BEDENBENDER, Frohe Botschaft, 17–31, hier 24. Gegen MAJOROS-DANOWSKI, Elija, 47, der in seiner Arbeit versucht, „die Aussagen des Verfassers bzw. der in seinem Buch handelnden Personen so zu nehmen, wie sie da stehen. D.h., es wird nicht versucht, einen metaphorischen, versteckten Sinn hinter dem Geschriebenen zu finden.“ 50 Vgl. FLUDERNIK/FREEMAN/FREEMAN, Metaphor and Beyond; FREEMAN, Cognitive Mapping; FREEMAN, Poem; HIRAGA, Blending; ORTON, Cognitive Metaphor; CRISP, Allegory. Für die Exegese ergeben sich hier durchaus relevante Bezüge zur Allegorie- und Gleichnisinterpretation. 51 Das Phänomen emergenter Bedeutungen ist in den Erzählwissenschaften bisher häufig unter dem Überbegriff der Inferenz (mit)verhandelt worden. Tatsächlich fußt auch die Konstruktion neuer, emergenter Sinngehalte letztlich auf der Grundlage der eingangs beschriebenen bottom-up und top-down-Prozesse. Allerdings sorgt es für eine gewisse Begriffsverwirrung, wenn das (einfache) Textverstehen, die Bezüge zwischen Aussagen eines Textes und die Konstruktion emergenter Bedeutungen unter demselben Oberbegriff verhandelt werden. Zugleich bietet die Blending-Theory einen größeren Differenzierungsgrad, weil hier die kognitiven Einzelprozesse klarer unterschieden und in eine nachvollziehbare Abfolge überführt werden. 52 OAKLEY, Conceptual Blending (discourse-Analyse); SINDING, Mixed Genres (Gattungsanalyse); SEMINO, Blending and Characters (Figurenanalyse); FLUDERNIK, Naturalizing (Fiktionalität). 53 „Macro-textual structures in particular, such as plot, narrative levels and narrative time and space have not been dealt with under the auspices of Blending theory in any detail. Although there are some notable exceptions, many aspects of narrative still await their blending-oriented analysis“ (FLUDERNIK, Naturalizing, 14). 49
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2. Kapitel: Narratologische Zugänge zur markinischen Christologie
breite an narrativen Phänomenen, auf die die Blending Theory angewandt werden kann.54 M.E. bahnt sich hier durchaus ein neuer Trend innerhalb der Narratologie an. Weitere Einzelstudien belegen dies.55 Zugleich erscheint es so, dass die Übertragung der Blending Theory auf narratologische Fragestellungen durch einen unnötig technischen Sprachgebrauch erschwert wird und weitere Kritikpunkte zu berücksichtigen sind.56 Anhand des visualisierten Basismodells (vgl. Abb. 2.1) will ich das Conceptual Blending im Folgenden etwas ausführlicher vorstellen und anhand von Mk 1,6 veranschaulichen. Hierbei bietet sich zugleich die Gelegenheit, auf die spezifischen Erfordernisse einer historischen Adaption hinzuweisen. Das Grundmodell des Conceptual Blending basiert zunächst auf zwei sogenannten input spaces, bei denen es sich im Falle von Erzählungen konkret um die mentalen Modelle zweier Figuren bzw. Personen, um Handlungsereignisse, divergierende Genreerwartungen, zwei Figurenperspektiven uvm. handeln kann.57 Das Beispiel 1,6 verdeutlicht, dass diese mentalen Modelle nicht ausschließlich auf textinterner Ebene angesiedelt sein müssen, sondern dass es auch zu einem Vergleich zwischen einem (primär) textinternen Figurenmodell (hier: Johannes der Täufer) und einer textexternen Personenvorstellung (hier: Elia58) kommen kann. Bei dem Aufeinandertreffen zweier oder mehrerer input spaces findet im Rezeptionsprozess zunächst ein Abgleich der jeweiligen Entitäten statt. Mit
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So finden sich in dem Sammelband ausführliche Beiträge zur Zeit-, Raum-, Figuren-, Perspektiven-, Gattungs- und Spannungsanalyse. Außerdem werden auf der Grundlage der Blending Theory die Erzählebenen, die prinzipielle Kontrafaktualität von Erzählungen oder die Rezeption intertextueller und intermedialer Elemente untersucht. 55 Vgl. v.a. HARTNER, Interaktion (2012). Auch im Bereich der Exegese finden sich bereits erste Anwendungsversuche: vgl. LUNDHAUG, Images, 21–49; LUNDHAUG, Canon. 56 Neben einer fehlenden empirischen Fundierung des Konzepts (vgl. HARDER, Mental Spaces; HOUGAARD, Compression) ist die mangelnde Anschlussfähigkeit an historische bzw. kommunikative Kontexte eines der wichtigsten Kritikpunkte gegenüber dem Konzept (vgl. hierzu SCHRÖDER, Fragestellungen, 79). 57 Der Begriff des „input space“ ist nicht ganz glücklich gewählt, weil er suggeriert, dass die Rezipienten lediglich mit Textinformationen gefüllt werden. Tatsächlich beruhen diese input spaces auf der Grundlage wechselseitiger Inferenzprozesse, wie sie im vorherigen Abschnitt (2.1.2) beschrieben wurden. Ein Tatbestand auf den Turner/Fauconnier hinweisen: „In our model, the input structures, generic structures, and blend structures in the network are mental spaces“ (FAUCONNIER/TURNER, Conceptual Integration, 6). 58 Ich konzentriere mich im Folgenden ausschließlich auf den Vergleich zwischen der Figur des Johannes und der Person des Elia, um an dieser Stelle die Darstellung nachvollziehbar zu gestalten. Die berechtigte Anfrage, ob mit 1,6 nicht viel eher eine allgemeine Anspielung auf (alttestamentliche) Prophetengestalten vorliegt, werde ich erst weiter unten aufgreifen (vgl. zum Diskussionsstand MAJOROS-DANOWSKI, Elija, 144–147; LÜHRMANN, Markusevangelium, 34; EDWARDS, Gospel, 32).
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2.1 Grundprinzipien einer kognitiven Narratologie
dem Stichwort des Cross-Space-Mapping bezeichnen Turner und Fauconnier das Erkennen bleibender Differenzen.
Generic Space
additiv – kontradiktorisch Input Space A
Cross-Space Mapping
Input Space B
Selective Projection Backward Projection
Composition Completion
Backward Projection
Blended Space
Elaboration „Running the Blend“
Abb. 2.1: Grundmodell des Blending Netzwerks nach Fauconnier/Turner Ohne diese Differenzen wären zwei Entitäten schlechterdings nicht zu unterscheiden. Parallel zu diesem Feststellen von Differenzen speichern die Rezipienten die gemeinsamen Merkmale der beiden input spaces in einem Generic Space. Bei Elia und Johannes wären dies z.B. die Kleidung, der Aufenthaltsort in der Wüste, die Umkehrpredigt, aber auch implizite Merkmale wie das Geschlecht.59 Dieser Generic Space ist jedoch noch nicht mit dem eigentlichen Blend zu verwechseln. Vielmehr bildet dieser lediglich eine Art Merkmalsreservoir, auf das der Rezipient dann im Prozess des eigentlichen Blends unbewusst zurückgreift. Im Zuge des eigentlichen Blends kommt es dann – beeinflusst durch weitere textexterne Faktoren – zu einer Auswahl (selective projection) und Neukomposition (composition) dieser Merkmale. Konkret wird die Auswahl und 59 Bei diesem Merkmalvergleich gilt es gerade nicht nur die im Text explizierten Eigenschaften und Attribute zu berücksichtigen, sondern auch jene, die die Rezipienten aufgrund ihres Vorwissens zur Verfügung haben und die sie über den Lektüreprozess im Sinne eines mentalen Modells entwickelt haben.
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2. Kapitel: Narratologische Zugänge zur markinischen Christologie
Komposition der ursprünglich separaten Einzelmerkmale nach Turner/Fauconnier durch die Prozesse der Vervollständigung (completion) und der kognitiven Verarbeitung (elaboration) beeinflusst.60 Bei der completion werden v.a. existierende Lücken, logische Brüche oder Inkohärenzen, die dem Vergleich zweier Entitäten entgegen stehen, durch den Rückgriff auf textexterne frames und scripts überbrückt. An dieser Stelle fällt allerdings auf, dass der Begriff der completion bei Turner/Fauconnier allzu vage bleibt und auch in narratologischen Studien sehr unterschiedlich gefüllt wird. Letztlich können es sehr spezifische Kenntnisse der intendierten Rezipienten oder auch der Kommunikationskontext61 sein, die zur Überwindung einer logischen Inkohärenz beitragen und zur Entstehung eines emergenten Sinngehalts führen. Im gewählten Markusbeispiel stellt sich zunächst das logische Problem, dass eine Person A nicht zugleich eine Person B sein kann, mithin Johannes und Elia nicht identisch sein können. Obwohl Johannes zahlreiche Merkmale mit dem Propheten Elia teilt und der Rezipient diese feststellt, ergibt sich allein aufgrund dieser Übereinstimmungen noch keine Identifikation beider Figuren. Der intendierte Rezipient muss auf weitere textexterne Kenntnisse zurückgreifen (vgl. hierzu im Detail Kap. 4.3.2). Der Prozess der elaboration ähnelt im Vergleich zur completion eher dem Durchspielen möglicher Szenarien und unterliegt nach Turner/Fauconnier den individuellen Ausgestaltungsmöglichkeiten der Rezipienten. Mit Hilfe der elaboration erklären die beiden Kognitionswissenschaftler die empirisch nachweisbare Bandbreite möglicher Interpretationen. So führt die Identifikation zwischen Johannes und Elia durchaus zu divergierenden Figurenvorstellungen und es werden unterschiedliche Erwartungen geweckt, wie Johannes die ihm zugeschriebene Rolle im Weiteren füllen könnte. Im Zuge der Analyse kann es durchaus nützlich sein, derartige Variationsmöglichkeiten zu berücksichtigen und darauf zu achten, inwieweit der weitere Textverlauf auf solche Vorstellungen rekurriert und diese bestätigt (vgl. 6,14–29; 9,11–13) oder enttäuscht. Zugleich lässt sich mit Hilfe der elaboration aber keineswegs eine grenzenlose Offenheit oder gar Beliebigkeit der Interpretationen rechtfertigen.62 Die möglichen Ausschmückungen führen nicht zu einer prinzipiell anderen Identifikation, d.h. Johannes kann nicht ohne Weiteres mit anderen 60
Vgl. FAUCONNIER/TURNER, Conceptual Integration, 14. Hier ließe sich das Modell des Conceptual Blending ins Gespräch mit linguistischen Kommunikationstheorien bringen, wie z.B. dem „Inferential Model“ (vgl. AKMAJIAN/ DEMERS u.a., Linguistics, 370–387) oder Grices Konversationsmaximen (GRICE, Logik, 249f.; vgl. PRECHTL, Sprachphilosophie, 191–193; STROHNER/BROSE, Kommunikation, 37f.). 62 Durchaus irritierend ist in dieser Hinsicht, dass Turner/Fauconnier im Hinblick auf die elaboration zuweilen durchaus von einer „unendlichen“ Anzahl möglicher Szenarien sprechen (vgl. TURNER/FAUCONNIER, Conceptual Integration, 14f.; FAUCONNIER/ TURNER, Conceptual Blending, 49; ähnlich HARTNER, Interaktion, 141). 61
2.1 Grundprinzipien einer kognitiven Narratologie
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Figuren identifiziert werden. Vielmehr schränken die beiden input spaces, der Merkmalsvergleich (cross-space-mapping) und der Prozess der completion und elaboration die Interpretationsmöglichkeiten ein. Das Ergebnis des Blends ist letztlich immer ein neues bzw. emergentes mentales Modell, das sich von den beiden Ausgangsentitäten unterscheidet. In unserem Fall werden nicht nur Ähnlichkeiten zwischen Johannes und Elia erkannt, der Rezipient versteht die Hinweise auf das Äußere des Johannes auch nicht nur als historische Sachinformation, sondern er identifiziert Johannes mit dem Elia redivivus. Gleichzeitig kann ein Blend auf die ursprünglichen Vorstellungen der beiden input spaces zurückwirken (backward projection), d.h. der Rezipient integriert die neue emergente Bedeutung in seine ursprüngliche Vorstellung von Johannes und Elia und aktiviert diese Vorstellung auch bei weiteren Nennungen im Text.63 Obwohl sich die Grundmechanismen der Blending Theory scheinbar problemlos auf ein neutestamentliches Textbeispiel übertragen lassen, ist m.E. auf zwei Problemfelder bzw. notwendige Modifikationen hinzuweisen. Innerhalb der Metaphernforschung oder der Narratologie ist die Blending Theory zumeist ein probates Mittel, um das Entstehen emergenter Bedeutungen zu veranschaulichen. Es handelt sich dann jedoch um emergente Bedeutungen, die von heutigen Rezipienten bereits intuitiv verstanden werden.64 Bereits Turner/Fauconnier veranschaulichen die Grundmechanismen des Blending anhand bekannter Redewendungen. Bei neutestamentlichen bzw. historischen Erzählungen besteht demgegenüber die Herausforderung, emergente Sinngehalte überhaupt erst aufzuspüren. Es wäre an dieser Stelle also wünschenswert, eindeutige Signale benennen zu können. Andreas Bedenbender hat in seinen Überlegungen zum allegorischen Sprachgebrauch bei Markus die Stilmittel der Doppelung und der Emphase ins Gespräch gebracht und verweist außerdem auf solche „Textelemente, die im Erzählfluß sperrig oder unwahrscheinlich wirken.“65 Tatsächlich können gerade Inkohärenzen in der Darstellung ein Hinweis auf eine zweite Bedeutungsebene sein. So wirken sowohl die Beschreibung des Täufers in 1,6 als auch die Erwähnung des Tempelvorhangs in 15,38 unvermittelt. Allerdings wecken alle genannten Signale zunächst nur die Aufmerksamkeit der Rezipienten, sind für sich genommen aber noch kein eindeutiger Hinweis auf einen 63 Selbstverständlich ist bei Texten des Neuen Testaments, die ein längere Überlieferungsgeschichte durchlaufen haben und redaktionelle Bearbeitungen aufweisen, mit stärkeren Inkohärenzen zu rechnen. Im Sinne einer Textbeurteilung lässt sich bestimmen, wie der Autor solche und ähnliche Prozesse berücksichtigt und ob ihm eine weitgehend widerspruchsarme Figurenkonzeption gelingt. 64 Anders HARTNER, Interaktion, 55, der sich von der Blending Theory gerade „eine Erweiterung assoziativer Interpretationsräume“ verspricht, „die zu neuen und erhellenden Lesarten literarischer Werke führen können.“ 65 BEDENBENDER, Frohe Botschaft, 30.
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2. Kapitel: Narratologische Zugänge zur markinischen Christologie
emergenten Sprachgebrauch. Umgekehrt können die Rezipienten auch dort, wo vergleichbare Signale im Texte fehlen, zur Konstruktion emergenter Bedeutungen angeregt werden. Dies gilt vor allem dort, wo die Rezipienten nicht innerhalb einer Episode, sondern erst im weiteren Lektüreprozess zu einem Vergleich zweier Figuren, Ereignisse oder Perspektiven angeregt werden. Die Benennung möglicher Signale ist an dieser Stelle also nicht bzw. nur in sehr geringem Maß hilfreich.66 Eine zweite Herausforderung besteht darin, dass die Blending Theory zwar die Inferenzprozesse veranschaulicht, auf deren Grundlage es zur Entstehung emergenter Bedeutungen kommt, dass damit aber noch nicht der eigentliche Inhalt der input spaces oder die konkreten Verstehensvoraussetzungen (completion, elaboration) beschrieben sind. Diese bleiben kulturell variabel und müssen mit den Möglichkeiten historischer Arbeit rekonstruiert werden. Auch hier ist die narratologische Analyse also auf die Ergebnisse der Exegese angewiesen. In unserem Beispiel Mk 1,6 wäre in historischer Hinsicht erst einmal zu klären, ob die Attribute des Kamelhaarmantels, der Speisegewohnheiten und des Auftretens in der Wüste ausreichende Anhaltspunkte für einen Figurenvergleich mit der Person des Elia bereithalten. Die Indizien können an dieser Stelle ebenso gut als eine allgemeine Anspielung auf den prophetischen Lebenswandel des Johannes verstanden werden.67 Aufgrund der Fragmentarität antiker Quellen und des selektiven Zugriffs, den heutige Forscher auf dieses bruchstückhafte Quellenmaterial haben, können die Ergebnisse der Exegese immer nur unter Vorbehalt formuliert werden.68 In der Analyse sollten deshalb alternative Interpretationsmöglichkeiten thematisiert und der eigene Abwägungsprozess transparent und anhand nachvollziehbarer Kriterien dargelegt werden. Die kognitiven Prozesse der completion und der elaboration dürfen nicht zu einer voreiligen Eintragung heutiger Vorverständnisse und Interpretationen führen. Mit der Einbeziehung eines kulturell und zeitgeschichtlich variablen Vorwissens, das sich nochmals in frames und scripts ausdifferenzieren lässt, der detaillierten Beschreibung von Inferenzprozessen sowie der Berücksichtigung emergenter Bedeutungen, sind wesentliche Aspekte einer heutigen, erzähl66
Beruht die Analyse dadurch immer auf einer vorläufigen Hypothese, so droht freilich die Gefahr eines Zirkelschlusses oder um es mit Monika Fludernik auszudrücken: „[O]ne starts out from the blend and works one’s way up to generic frame, venturing on the thin ice of speculation“ (FLUDERNIK, Naturalizing, 20). 67 Freilich handelt es sich auch hierbei nicht zwangsläufig um einander ausschließende Alternativen. Bereits Clemens von Alexandria (Clem. Al. Paid. 2,10,112,1–113,1) führt das Äußere und den Lebensort auf die Einfachheit des prophetischen Lebensstils zurück und kann hierfür zugleich mit Elia, Jesaja und Jeremia konkrete Vorbilder nennen. 68 Vgl. zu der hier verwendeten Terminologie der „Fragmentarität“ und „Selektivität“ LAMPE, Wirklichkeit, 180–189.
2.1 Grundprinzipien einer kognitiven Narratologie
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wissenschaftlichen Analyse benannt. In den folgenden Unterkapiteln soll nun dargestellt werden, wie sich diese Grundprinzipien im Einzelnen auf die Perspektiven- (2.2.), Figuren- (2.3) und Handlungsanalyse (2.4) übertragen lassen. Obwohl in dieser Arbeit der Schwerpunkt auf aktuellen Tendenzen innerhalb des narratologischen Fachdiskurses liegt, sollen ältere und v.a. vom Strukturalismus geprägte Ansätze keineswegs ausgespart werden. Ihre Darstellung erscheint dort angemessen bzw. sogar unverzichtbar, wo ihnen ein bleibender analytischer Wert innerhalb einer heutigen Narratologie zuzusprechen ist oder wo sie für das Verständnis des innerexegetischen Diskurses (vgl. Kap. 3.4.1) notwendig sind.
2.2 Perspektivenanalyse: Was heißt „markinische“ Christologie? „Was sagen die Menschen, wer ich bin?“ Sie aber sagten zu ihm: „Johannes der Täufer. Und andere [meinen, Du bist] Elia. Andere wiederum [denken, Du bist] einer der Propheten. Da fragte er sie: „Ihr aber, was sagt ihr, wer ich bin?“ – Da antwortete ihm Petrus: „Du bist der Christus.“ (Mk 8,27b–29)
Gegenstand dieser Arbeit ist die markinische Christologie. Damit steht nicht die Genese des Markustextes im Mittelpunkt des Interesses, auch nicht die Gesamtheit aller Einzelperspektiven oder der Text in seiner Endgestalt, sondern es gilt primär, den christologischen Standpunkt des Autors zu bestimmen, den dieser in seiner Kommunikation mit den Rezipienten einnimmt. Welche Meinung hat der ursprünglich anonyme und in der späteren Überlieferung als „Markus“69 bezeichnete Autor von Jesus, der Hauptfigur seiner Erzählung, und wie gelingt es ihm, diese Meinung seinem intendierten Zielpublikum erzählerisch zu vermitteln? In methodischer Hinsicht sind durch 69 Der Autor wird ab dem 2. Jhdt. mit Johannes Markus dem Begleiter des Paulus (Apg 12,12; 13,5.13; Kol 4,10; Phlm 24) und dem Schüler des Petrus (1Petr 5,13) in Verbindung gebracht (Eus. hist. eccl. 3,39,15). In der neutestamentlichen Exegese wurde zudem verschiedentlich versucht, die Entstehung der Evangelienüberschrift und damit die Zuschreibung zu einem – nicht zwangsläufig mit Johannes Markus identischen – Autor namens Markus ins 1. Jhdt. zu datieren (so v.a. HENGEL, Evangelienüberschriften, 51; LÜHRMANN, Markusevangelium, 3f.). Sowohl der Bezug zu Johannes Markus als auch ein möglicher Rückbezug auf einen ursprünglichen Autor namens Markus erscheinen jedoch fragwürdig und wenig belastbar (vgl. zu den wesentlichen Übersetzungsproblemen sowie zur Interpretation des Papias-Zitats MULLINS, Papias, 216–224; KÜRZINGER, Aussage, 245–264). Trotzdem verzichte ich in dieser Arbeit bei der Nennung des Autors auf Anführungszeichen und verwende die in der Exegese übliche Bezeichnung Markus.
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2. Kapitel: Narratologische Zugänge zur markinischen Christologie
diese Ausrichtung der Untersuchung bereits mehrere narratologische Analyseaspekte berührt: Zunächst gilt es zu klären, wie sich ganz allgemein eine Kommunikation durch Erzählungen (2.2.1) ereignet und wie innerhalb eines entsprechenden Kommunikationsmodells die Größen des Autors, des Erzählers und der Rezipienten zu bestimmen sind. Vertiefend ist dann zu fragen, welche konkreten Möglichkeiten der Beteiligung und der Distanzierung der Autor bei der erzählerischen Vermittlung wahrnehmen kann (2.2.2). Über die Frage der erzählerischen Vermittlung hinaus gilt es aus dem Blickwinkel einer kognitiven Narratologie außerdem zu klären (2.2.3), wie die Rezipienten den eigentlichen Inhalt der einzelnen Perspektiven erfassen, in welchen vielfältigen Relationen die Figuren- und Erzählerperspektiven stehen und wie es im Rezeptionsprozess zur Sinnkonstituierung und ggf. zur Entstehung emergenter Bedeutungen kommt. 2.2.1 Markinische Christologie im Kommunikationsgeschehen Erzählungen sind Gegenstand menschlicher Kommunikation. Wie bei jedem anderen Verständigungsprozess wird in einer Erzählung eine Nachricht zwischen einem Sender und einem Empfänger ausgetauscht. Im Unterschied zu anderen Kommunikationsformen zeichnen sich Erzählungen jedoch durch eine gesteigerte Komplexität aus, da zu der einfachen Kommunikationsebene zwischen Sender und Empfänger weitere Ebenen hinzutreten. So wird die Erzählung häufig von einem – nicht mit dem Autor identischen – Erzähler erzählt und innerhalb der Erzählung treten Figuren auf, die ihrerseits miteinander kommunizieren oder sogar als intradiegetische, d.h. erzählinterne Erzähler auftreten. Eine solch gesteigerte Komplexität weist etwa das Gleichnis von den bösen Weingärtnern in 12,1–8 auf. Zum Autor (Erzählebene1 = E1) und Erzähler (E2)70 tritt hier mit Jesus eine Figur hinzu, die ihrerseits als intradiegetischer Erzähler ein Gleichnis erzählt (E3), in dem wiederum Figuren miteinander (Weingärtner) oder mit sich selbst (Weinbergbesitzer) reden und hierbei jeweils Meinungen übereinander äußern. Letztere treten allerdings nicht mehr als Erzähler i.e.S. auf. Zur Veranschaulichung der verschiedenen Kommunikationsebenen wurde lange Zeit das viel zitierte „Kommunikationsmodell“ von SEYMOUR CHAT71 MAN (1978) herangezogen, das in der Exegese und speziell der Markusforschung bis in die Gegenwart hinein wirksam ist (vgl. Abb. 2.2).72 70
Vgl. zur Differenzierung zwischen Autor und Erzähler Abb. 2.3 sowie die entsprechenden Ausführungen dort. 71 CHATMAN, Story, 147–151. 72 Das Kommunikationsmodell wird bereits 1983 von KINGSBURY, Christology, 1, aufgegriffen und vorausgesetzt. Vgl. aber z.B. auch MALBON, Mark’s Jesus, 7.16.233f.; ROSE, Theologie, 53f.; OKO, Who, 41–56.
2.2 Perspektivenanalyse: Was heißt „markinische“ Christologie
Real author
Implied author
N a r r a t i v e t e x t (Narrator) (Narratee)
Implied reader
27
Real Reader
Abb. 2.2: Kommunikationsmodell nach Chatman Chatman, der sich stark an die Vorarbeiten von Wayne C. Booth anlehnt, unterscheidet – ohne Einbeziehung der Figuren – drei Ebenen der Kommunikation: (1) Die Ebene des realen Autors und realen Lesers, (2) die Ebene des impliziten Autors und impliziten Lesers und (3) die Ebene des Erzählers und der Erzähladressaten, wobei die letzte Ebene nicht in allen Erzählungen realisiert werde. Chatmans Kommunikationsmodell, das bereits früh kritisch beurteilt wurde, weil es mehrere Kategorien73 miteinander vermischt, wird heute innerhalb der Narratologie mehrheitlich verworfen.74 Problematisch erscheinen v.a. die zwischen Autor und Erzähler bzw. Erzähladressat und Leser eingefügten Instanzen des a) impliziten Autors und b) impliziten Lesers. Da der vorliegenden Studie ein kognitives Autoren- und Rezipientenverständnis zu Grunde gelegt wird, soll auf diese Probleme etwas ausführlicher eingegangen werden: a) Der implizite Autor:75 Das von Chatman aufgegriffene und ursprünglich auf Wayne C. Booth zurückgehende Konzept des implied author76 besagt, dass der Autor bei der Niederschrift seiner Erzählung eine Art Fingerabdruck im Text hinterlässt. Hierbei handelt es sich nach Booth um eine rein textimmanente Größe, die sich seines Erachtens ohne textexternes Wissen erfassen und beschreiben lasse.77 Durch die Instanz des implied author möchte Booth letztlich ältere Termini, die in den Textwissenschaften zur erzählerischen Vermittlung von Inhalten gebraucht wurden – wie „Thema“ oder „Sinn“ – ersetzen. Dass der implied author hierbei vom realen Autor zu unterscheiden sei, versucht Booth exemplarisch an Fieldings Romanen zu de73
Vgl. RIMMON-KENAN, Narrative Fiction, 89. Während Autor und Leser einerseits und Erzähler und Erzähladressaten anderseits auf je unterschiedlichen Erzählebenen in ein Kommunikationsverhältnis zu setzen sind, so gilt dies für den impliziten Autor und Leser gerade nicht. Chatman selber betont: „Unlike the narrator, the implied author can tell us nothing. He, or better, it, has no voice, no direct means of communicating.“ (CHATMAN, Story, 148). 74 Vgl. zu dieser Kritik HEMPFER, Fundierung, 1–26; BAL, Laughing Mice, 203–209; NÜNNING, Nachruf, 1–25. 75 Vgl. zu dieser Kritik am impliziten Leser bereits ausführlich FINNERN, Narratologie, 49f., dessen Argumentationspunkte ich im Folgenden aufgreife. 76 BOOTH, Rhetoric, bes. 70–77.151.156–158.395f.478–480.511f.; CHATMAN, Story, 28, 148–151; CHATMAN, Terms, 74–89.90–108. 77 Booth ist dabei maßgeblich vom New Literary Criticism, konkret der Chicago school of criticism beeinflusst worden (vgl. hierzu KINDT/MÜLLER, The implied author, 17).
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2. Kapitel: Narratologische Zugänge zur markinischen Christologie
monstrieren, auf deren Grundlage er ganz unterschiedliche Autorenbilder herausarbeitet.78 Ob bzw. wie der implied author und der reale Autor aufeinander zu beziehen sind, lässt Booth jedoch offen.79 Die heutige Narratologie plädiert mehrheitlich dafür, auf das Modell des implied author zu verzichten und es durch Alternativkonzepte zu ersetzen. Als reine Textstruktur verstanden, erweist sich der implied author als „terminologisch unpräzise und theoretisch inadäquat.“80 Es fehlt dem Konzept bis heute an einer ausformulierten Methodik, mit deren Hilfe sich der implied author auf der Basis des Textes greifen ließe. Ohne die Einbeziehung textexterner Referenzpunkte (Entstehungskontext, Kommunikationssituation, Weltwissen der Rezipienten) bleiben realer Autor und das Abbild dieses Autors zwei unverbundene Größen.81 Vielversprechender erscheint es bei der Analyse den Autor als kognitives Modell zu verstehen. Hierbei ist der Autor jenes Modell, das sich der Rezipient auf der Grundlage seines Vorwissens und des Erzählten vom Autor macht.82 Als mentales Modell ist dieser Autor nicht einfach mit dem realen Autor gleichzusetzen. Das Wissen, das die Rezipienten vom realen Autor haben, fließt aber in ihre Vorstellung ein. Zum Vorwissen des Rezipienten zählen neben den direkten Informationen (Geschlecht, soziale Herkunft etc.) alle Kenntnisse, mit deren Hilfe er den Autor beurteilen kann. Somit gehört hierher auch die in der Markusforschung vielfach diskutierte Frage nach dem geographischen Kenntnisstand des Autors, wobei in der Exegese bisher nicht immer hinreichend zwischen einer heutigen, auf den Maßstäben moderner Geografie basierenden Beurteilung und einer Beurteilung aus der Sicht der antiken bzw. intendierten Rezipienten, unterschieden wird. Konnten die geographischen Ungereimtheiten des Textes antiken Rezipienten auffallen und sollten sie dies womöglich sogar oder erscheinen diese Angaben lediglich auf der Grundlage eines heutigen Wissenstandes als ungenau? Maßstabsgetreue Karten, präzise Kilometerangaben und archäologische Fakten können durchaus zum Irrweg werden, wenn das Ziel darin besteht, die geographischen Kenntnisse des historischen Autors und das Weltbild antiker Rezipienten zu beurteilen.83 Ein probateres Mittel ist es, zum Vergleich zeitgenössische Quellen heranzuziehen und mit deren Hilfe das potenzielle Weltwissen des Autors und der intendierten Rezipienten zu klären. Versteht man den Autor als kognitive Größe (und letztlich lässt sich nur dieser und nicht der „reale“ 78 Faktisch untersucht Booth allerdings jeweils nur die unterschiedlichen Erzählerfiguren (vgl. hierzu bereits CHATMAN, Terms, 84f.; NELLES, Implied Authors, 25f.). 79 „At no point did he explain exactly where they [sc. the implied author and the historical author] stood in relation to one another“ (KINDT/MÜLLER, Implied Author, 58). 80 NÜNNING, Nachruf, 1. 81 Vgl. KINDT/MÜLLER, Implied Author, 167f. 82 So HEINEN, Bild des Autors, 334–340; HEINEN, Literarische Inszenierung; ganz ähnlich JANNIDIS, Autor, 546–548; vgl. hierzu FINNERN, Narratologie, 49 mit Anm. 114. 83 Ähnlich KLUMBIES, Raumverständnis, 127–144, hier 128f.
2.2 Perspektivenanalyse: Was heißt „markinische“ Christologie
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Autor analysieren), so ist es zur Erhebung des Autorenstandpunktes unerlässlich auch die Instanz des Rezipienten zu bestimmen. b) Der implizite Leser:84 Insofern Wolfgang Iser das von Chatman aufgegriffene Konzept des impliziten Lesers in Analogie zum impliziten Autor erstellt hat, gelten hierfür sinngemäß dieselben Anfragen wie für den impliziten Autor. Obwohl durch Isers Sprachgebrauch immer wieder der Eindruck entsteht, dass eine enge Verbindung zwischen dem impliziten Leser und dem realen Leser existiere und Iser innerhalb der Markusexegese nicht selten derart interpretiert wird,85 versteht auch dieser den impliziten Leser eindeutig als ein vom realen Leser unterschiedenes, rein textimmanentes Konstrukt. So weist der Literaturwissenschaftler immer wieder die Möglichkeit zur empirischen Fundierung zurück86 und definiert den impliziten Leser als „im Text vorgezeichneten Aktcharakter des Lesens und nicht [als] eine Typologie möglicher Leser.“87 Wie Booth lässt auch Iser dabei offen, nach welchen Maßstäben er das Leseverhalten des impliziten Lesers modelliert. Auch dieser Instanz mangelt es also letztlich an einer anwendbaren Methodik. Wie sich der Leser ohne empirisches und erzählexternes Wissen ermitteln lässt, bleibt ungeklärt. Im Sinne der kognitiven Wende muss das Konzept des impliziten Lesers ebenfalls neuverhandelt bzw. ersetzt werden. Auch der Rezipient lässt sich besser als mentales Modell begreifen. Und zwar jenes Modell, das sich der Autor von seinen intendierten Rezipienten macht. Mit diesem Verständnis des Rezipienten rückt zugleich in den Blick, dass der Autor seine Inhalte nicht abstrakt formuliert, sondern mehr oder weniger so zu erzählen versucht, dass seine Erzählung an das vermutete Vorverständnis des Rezipienten anknüpft und verstanden wird. Die Autorintention lässt sich daher erst hinreichend aus der Beziehung zwischen Autor und Rezipient bestimmen. Ob die Erzählung letztlich ihre beabsichtigte Wirkung erfüllt oder zu Missverständnissen führt, hängt wiederum maßgeblich davon ab, inwie84 Vgl. zur folgenden Kritik an der Kategorie des impliziten Lesers bereits ausführlich FINNERN, Narratologie, 50f. 85 Diesem Missverständnis unterliegt etwa HERMANN, Versuchung, 16–21, der am Modell des impliziten Lesers festhält und den Leser sowohl als realen (!) Leser als auch als Textstrategie versteht. Ähnlich FRITZEN, Gott, 97–99, der in Bezug auf Umberto Ecos „Modell-Leser“ bemerkt, dass dieser „kein Leser aus Fleisch und Blut, sondern eine Textstrategie ist,“ sich aber letztlich „nicht völlig ungeschichtlich konstruieren [lässt].“ Die Notwendigkeit, das Modell des impliziten Lesers bzw. ähnlicher rezeptionsästhetischer Äquivalente aufzugeben und durch analytisch präzisere Modelle zu ersetzen, wird in der Markusexegese bisher nicht in ausreichendem Maß erkannt. 86 „He repeatedly and explicitly distances his approach [...] from empirical studies of reading“ (KINDT/MÜLLER, Implied author, 143). 87 ISER, Der implizite Leser, 9 (Hervorhebung J.R.). In dieser Arbeit werden Hervorhebungen im Original nicht eigens als solche ausgewiesen. Nur dort, wo ich selber diese Hervorhebungen vorgenommen habe, findet sich ein entsprechender Hinweis.
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2. Kapitel: Narratologische Zugänge zur markinischen Christologie
fern der Autor seine Rezipienten kennt und korrekt einschätzt.88 Die berechtigten Anfragen an das Konzept des impliziten Lesers und des impliziten Autors und die Tatsache, dass sich im Zuge der kognitiven Wende bessere Analysemöglichkeiten ergeben, sollten innerhalb der Exegese dazu führen, Chatmans Kommunikationsmodell weder in seiner ursprünglichen noch in einer modifizierten Variante fortzuführen.89 Zur zukünftigen Analyse der erzählerischen Kommunikation erscheint mir ein von Sönke Finnern vorgeschlagenes Modell weiterführend zu sein (Abb. 2.3),90 das einerseits die Anfragen und Einsichten der kognitiven Wende aufgreift und zugleich die Einbeziehung sämtlicher Erzählebenen ermöglicht. Ebene
Sender
1
„ich“ (Selbstbild aus Sicht des Autors) Bild des Autors91 (= Erzähler1)
Nachricht Erzählung1
Empfänger Bild des intendierten Rezipienten „ich“ (Selbstbild aus Sicht des Rezipienten)
2
Bild des Erzählers2
Erzählung2
Bild des Rezipienten2
3
Bild des Erzählers3
Erzählung3
Bild des Rezipienten3
Abb. 2.3: Kognitives Modell der Erzählebenen nach Finnern
88
Die heutige empirische Rezeptionsforschung kann dazu beitragen, das Gelingen und Misslingen einer Kommunikation durch Erzählungen qualifiziert zu beurteilen und abzuschätzen. Ziel der vorliegenden Studie ist es jedoch nicht, die tatsächliche Wirkung oder gar Wirkungsgeschichte nachzuzeichnen und zu beurteilen, sondern die Intention mit der Markus seinen christologischen Standpunkt erzählerisch vermittelt. 89 Insofern verwundert es, dass Christian Rose noch 2007 in seiner Arbeit zur Theologie des Markusevangeliums betont, dass „das für die heutige Diskussion grundlegende Schema von Chatman, [...] in den wesentlichen Zügen erneut bestätigt [sei].“ (ROSE, Theologie, 53 Anm. 28); ähnlich OKO, Who, 41–56; Anders EISEN, Poetik, 68, die vorschlägt, die fraglichen Größen einfach auszulassen (so in der Narratologie bereits RIMMON-KENAN, Narrative Fiction, 89; NÜNNING, Funktionen, 325). Ein auf die Grundkomponenten der Kommunikation reduziertes Modell (Autor, Erzähler, Adressat, Rezipient) ist jedoch für die Analyse kaum ausreichend und sollte durch präzisere Modelle ersetzt werden. 90 Die hier verwendete Graphik entstammt FINNERN, Narratologie, 53. 91 Im Unterschied zu Finnern halte ich hier an der Bezeichnung „Autor“ fest. Alles andere sorgt eher für ein Begriffschaos. So müsste man bei einem Vergleich zwischen Autoren- und Erzählerstandpunkt vom „Erzähler1-Standpunkt“ und „Erzähler2-Standpunkt“ bzw. vom primären und sekundären Erzählerstandpunkt sprechen.
2.2 Perspektivenanalyse: Was heißt „markinische“ Christologie
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In diesem Modell werden die Instanzen des Autors und des Rezipienten jeweils – in dem oben beschriebenen Sinne – als mentales Modell verstanden. Auf der Grundlage der Erzählung (bottom-up) und ihres Weltwissens (topdown) konstruieren die Rezipienten ein Modell bzw. „Bild“ (Heinen) des Autors.92 Dieses Bild ist nicht deckungsgleich mit dem Selbstbild, das der reale Autor von sich (momentan) hat, besitzt aber durchaus einen Bezug zur realen Person des Autors. Der Autor wiederum hat ein Bild von seinen Rezipienten und versucht auf der Grundlage des vermuteten Wissenstandes seine Erzählung so zu erzählen, dass die „Nachricht“ verstanden und möglichst überzeugend und wirksam vermittelt wird.93 Hierher gehört u.a. die Beobachtung, dass der Erzähler des Markusevangeliums aramäische Formulierungen aufgreift und zugleich für seine intendierten Rezipienten, die seine Sprachkenntnisse nicht teilen, übersetzt (vgl. 5,41; 7,34; 14,36; 15,34 u.ö.). Um aus heutiger Sicht zu erkennen, welchen christologischen Standpunkt Markus einnimmt und wie er diesen vermittelt, ist es notwendig das Vorwissen der ursprünglich intendierten Rezipienten möglichst umfassend und zugleich präzise zu bestimmen. Die narratologische Analyse ist damit auf die historischen Erkenntnisse der Exegese angewiesen und lässt sich keineswegs von diesen trennen. Hierbei sind für die Interpretation der markinischen Christologie dann jedoch nicht nur religions- und traditionsgeschichtliche Parallelen heranzuziehen, die etwa die Verwendung einzelner Hoheitstitel erklären können, sondern es gilt in umfassender Weise das kulturelle, literarische, soziale, religiöse und alltägliche Vorwissen in den Blick zu nehmen, insofern dieses zur Klärung relevanter Verstehensfragen einen Beitrag leistet: Welche Erwartungen knüpft der intendierte Rezipient etwa an eine Figur, die wie in 6,56 beschrieben, Quasten am Gewand trägt? Und welche Erwartungen werden an den markinischen Jesus geknüpft, wenn dessen Herkunft aus Nazareth betont wird oder dieser Sturm und Wellen gebietet? Finnerns Kommunikationsmodell hilft zudem, das Verhältnis von „Autor“ und „Erzähler“ präzise zu erfassen. So versteht Finnern den Autor selbst als Erzähler (Erzähler1), der wahlweise einen von seiner Person unterscheidbaren Erzähler konstruiert oder selber als Erzähler auftritt. Hiermit weist Finnern zurecht darauf hin, dass Autor und Erzähler lediglich verschiedene Erzählinstanzen darstellen können, dass eine solche Differenzierung aber nicht – wie z.B. bei Genette – a priori vorausgesetzt werden darf.94 Der Autor sollte
92
Vgl. zum Begriff des „Bildes“ HEINEN, Bild des Autors, 334–340. Im Sinne einer kritischen Textbeurteilung könnte untersucht werden, ob biblische Autoren einem weitgehend kohärenten Rezipientenbild folgen. Aufgrund der teils langen Entstehungsgeschichte biblischer Erzählungen – insbesondere bei alttestamentlichen Texten – ist mit größeren Inkohärenzen zu rechnen als bei modernen Erzählungen. 94 Gegen Genettes strikte Differenzierung zwischen Autor und Erzähler argumentieren bereits WALSH, Who is the Narrator; BAREIS, Fiktionales Erzählens, 107–109. 93
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2. Kapitel: Narratologische Zugänge zur markinischen Christologie
also „in allen Fällen selbst als Erzähler und die Konstruktion einer eigenen Erzählfigur als Schaffung einer neuen narrativen Ebene angesehen werden.“95 Im exegetischen Teil dieser Arbeit wird sich zeigen, dass im Falle des Markusevangeliums der Autor als Erzähler auftritt, Autor und Erzähler also nicht zu unterscheiden sind.96 Das kognitive Kommunikationsmodell von Finnern macht drittens dafür sensibel, dass die artikulierten Standpunkte auf den Erzählebenen nicht völlig losgelöst voneinander zu betrachten sind, sondern der Standpunkt des Erzählers und der Standpunkt der Figuren aufeinander bezogen werden müssen. Dieses Verhältnis der Standpunkte kann dabei nicht auf ein binäres Schema von Kontrast- und Korrespondenzaussagen reduziert werden, sondern stellt sich als komplexeres Phänomen dar, wie im Folgenden dargelegt wird. 2.2.2 Erzählerische Perspektivenvermittlung
Beteiligung
Mit dem beschriebenen Kommunikationsmodell ist erst sehr allgemein ausgesagt, dass sich der Autor mehr oder weniger stark an der Erzählung beteiligt und dass es eine Abhängigkeit zwischen dem Standpunkt einer Figur, eines Erzählers und eines Autors gibt. Tatsächlich lassen sich (a.) die Art der Beteiligung sowie (b.) der Modus, in dem ein Erzähler seine Figuren darstellt, aber methodisch viel genauer beschreiben. 1. Hauptfigur/en 2. eine der Hauptfiguren
autodiegetisch
3. Nebenfigur/en
homodiegetisch
Ich/Wir-Erzähler
4. beteiligte/r Beobachter 5. unbeteiligte/r Beobachter ------------------------------------------------------------------------------------------------6. unbeteiligte/r Erzähler heterodiegetisch Er-Erzähler
Abb. 2.4: Beteiligung des Erzählers am Geschehen a. Beteiligung: Der Erzähler kann selbst Teil der Erzählung sein – etwa als Hauptfigur, Nebenfigur oder Beobachter – oder gänzlich unbeteiligt bleiben. Die in der älteren Erzählwissenschaft zur Beschreibung der Beteiligung gebräuchliche aber zu statische Differenzierung zwischen „Ich-“ und „Er-Erzähler“ bzw. homo- und heterodiegetischer Erzählung wird heute in Anknüpfung an ein Modell von Susan Lanser durch eine Skala der Beteiligung 95
FINNERN, Narratologie, 54f. Ähnlich bereits SCHENKE, Markusevangelium (1988), 31; KMIECIK, Menschensohn, 16. Für eine Differenzierung zwischen Autor und Erzähler spricht sich demgegenüber MALBON, Mark’s Jesus, 54.216–217.233–234.258 und passim aus. Die Amerikanerin stützt sich hierzu weiterhin auf das Konzept eines impliziten Autors. 96
2.2 Perspektivenanalyse: Was heißt „markinische“ Christologie
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ersetzt (vgl. Abb. 2.4).97 Beim Erzähler des Markusevangeliums handelt es sich eindeutig um einen unbeteiligten Er-Erzähler (6. Möglichkeit), der weder mit einer der Figuren identisch ist noch als beteiligter oder unbeteiligter Beobachter in der Erzählung auftaucht.98 Dieser Erzähler lässt seinerseits die Hauptfigur Jesus – wenn auch nur punktuell – als intradiegetischen Erzähler auftreten. So erzählt Jesus mehrere Gleichnisse (Mk 4; 12), sticht durch längere monologartige Redebeiträge hervor (z.B. Mk 13) und nimmt durch seine Ankündigungen entscheidende Ereignisse der späteren Handlung vorweg. Der Redeanteil der übrigen Figuren ist zu gering, als dass man sinnvoll von weiteren Erzählern sprechen könnte.99 Hier ist es präziser, diesen Redeanteil als Figurenrede und damit unter dem Aspekt des Erzählmodus zu analysieren. b. Modus (Distanz und Fokalisierung): Mit dem Schlagwort Modus wird in dieser Arbeit die Untersuchung der sprachlich-stilistischen Mittel bezeichnet, mit deren Hilfe ein Erzähler die Figuren seiner Erzählung beschreibt und nachahmt (Distanz) und durch die er unterschiedliche Einblicke in das Innenleben seiner Figuren gewährt und diese zum Wahrnehmungszentrum seiner Erzählung macht (Fokalisierung). – Distanz100: Während bereits Platon zwischen einem berichtenden Erzählen (dihvghsi~) und einer Nachahmung (mivmhsi~) von Gesprächen unterschied101 und die ältere Erzähltheorie weithin an dieser binären Differenzierung festhielt,102 gilt es, weitere Zwischenformen in den Blick zu nehmen (vgl. Abb. 97
Vgl. LANSER, Narrative Act, 160. Innerhalb der Exegese ist diese graduelle Abstufung v.a. für die Analyse der Apostelgeschichte hilfreich, da hier alle denkbaren Beteiligungsgrade vorkommen (vgl. EISEN, Poetik, 80). 98 So bereits RHOADS/DEWEY/MICHIE, Mark (1999), 40–43. Anders PETERSEN, Perspektive, 79–90, nach dessen Auffassung der markinische Erzähler „sowohl außerhalb der erzählten Ereignisse steht als auch immanent in den Ereignissen existiert“ (80). Petersen differenziert allerdings nicht hinreichend zwischen Beteiligung und Fokalisierung. Dass ein Erzähler aus der Perspektive einer Figur erzählt (hier: Wahrnehmungszentrum), bedeutet nicht, dass er mit dieser identisch ist (s.u.). 99 Gegen ROSE, Theologie, 257–259, der zu dem Ergebnis kommt, dass die „Zahl der Erzählfiguren im MkEv unüberschaubar [sei]“ (257). Im Fall der Apostelgeschichte ist es hingegen zutreffend, von weiteren Erzählern zu sprechen, weil hier z.B. Paulus und Petrus als intradiegetische Erzähler auftreten (so zu Recht EISEN, Poetik, 76f.). 100 Vgl. hierzu GENETTE, Erzählung, 116–132.221–234; Der hier verhandelte Sachverhalt wird innerhalb der Narratologie z.T. auch als „(Erzähl)Modus“ (so QUINKERTZ, Erzählmodus; STANZEL, Theorie, 247–255.268–271.279–290) bezeichnet. Vgl. zur Einführung v.a. CHATMAN, Story, 161–195; RIMMON-KENAN, Narrative Fiction, 106–116; MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Einführung, 49–66, und in der Exegese EISEN, Poetik, 110–121. 101 Vgl. Plat. rep. 392c-394b. 102 Vgl. RIMMON-KENAN, Narrative Fiction, 106–108; MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Einführung, 49f.; RABINOWITZ, Showing. Kritisch wird diese einfache Differenzierung beurteilt bei GENETTE, Erzählung, 116f. Abgerückt ist die Narratologie auch von einer Wertung der
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2. Kapitel: Narratologische Zugänge zur markinischen Christologie
2.5). Der Erzähler kann nicht nur direkte Rede nachahmen oder auf distanzierte Weise einen in die Erzählung eingebetteten Redebericht bieten, sondern auch Formen der transponierten Rede verwenden. Darstellung von Rede Redebericht103 erzählte sumbouvlion ejdivdoun kat’ Rede aujtou` o{pw~ aujto;n ajpolevswsin (3,6)
Darstellung von Gedanken Bewusstseinsbericht104 oJ de; stugnavsa~ ejpi; tw/` lovgw/ ajph`lqen lupouvmeno (10,22)
Erzählerdominanz (dihvghsi~)
indirekte Rede indirektes Gedankenzitat kai; polla; ejpetivma aujtoi`~ kai; proshuvceto i{na eij dunatovn ejstin parevlqh ajpÆ auvtou` hJ w{ra trans- i{na mh; aujto;n fanero;n poihv s wsin (3,12) (14,35) ponierte Rede freie/r indirekte/r Rede/Gedankenbericht (= erlebte Rede105 ) h\n ga;r didavskwn aujtou;~ wJ~ ejxousivan e[cwn kai; oujc wJ~ oiJ grammatei`~ (1,22)
zitierte Rede
direkte Rede oJ de; ÆIhsou`~ ei\pen ejgwv eijmi (14,62)
direktes Gedankenzitat dialogizovmenoi ejn tai`~ kardivai~ aujtw`n tiv ou|to~ ou{tw~ lalei` [...] (2,6f.)
autonome direkte Rede, Bewusstseinsstrom [nicht im Neuen Testament]107
Figurendominanz106
Abb. 2.5 Formen der Figurenrede im Markusevangelium
unterschiedlichen Erzählformen. Die einst für objektiver gehaltene Darstellungsweise der Mimesis wird bereits von Booth kritisiert (vgl. BOOTH, Rhetoric, 24–28). 103 Vgl. LÄMMERT, Bauformen, 235. 104 Der Terminus „Bewusstseinsbericht“ (psycho-narration) weist im Unterschied zu dem Begriff „Gedankenbericht“ (vgl. STANZEL, Erzählsituation, 146ff.) darauf hin, dass auch Gefühle, Emotionen und Wahrnehmungen berichtet werden können. Vgl. hierzu COHN, Transparent Minds, 21–57; QUINKERTZ, Analyse des Erzählmodus, 159. 105 Vgl. STANZEL, Erlebte Rede; STEINBERG, Erlebte Rede; KULLMANN (Hg.), Erlebte Rede; COHN, Transparent Minds, 99–140, bes. 109f. („erzählter Monolog“). 106 Eine Figurendominanz i.e.S. kann es bei der Vermittlung nicht geben. Es kann aber im Rezeptionsprozess zur weitgehenden Ausblendung der vermittelnden Instanz kommen. 107 Vgl. MÜLLER, Art. Bewusstseinsstrom; LÄMMERT, Bauformen, 236f.; HUMPHREY, Stream; FRIEDMAN, Stream; CHATMAN, Story, 186–194. Mit dem Begriff, der auf den Psychologen James zurückgeht, wird eine Extremform des (inneren) Monologs bezeichnet. Aus der antiken Literatur werden mehrere Klagemonologe mit der modernen Form des stream of consciousness verglichen (vgl. LEFEVRE, L’unità, 25–29.50f.). Im Neuen Testament kommt diese Form der Figurenrede m.E. nicht vor (anders EISEN, Poetik, 117f., die z.B. Apg 2,38; 5,9; 9,11 u. 26,27 als autonome direkte Rede interpretiert).
2.2 Perspektivenanalyse: Was heißt „markinische“ Christologie
35
Das Markusevangelium erweist sich im Hinblick auf die Figurenrede als äußerst vielfältig, wenngleich keineswegs alle möglichen Submodi vorzufinden sind und die verschiedenen Formen der Figurenrede zum Teil ineinander übergehen.108 Die direkte Rede, bei der der Erzähler die Figurenrede nachahmt und damit gegenüber den Figuren zurücktritt, dominiert bei Markus wie in allen Evangelien.109 Eine Besonderheit innerhalb des frühesten Evangeliums stellen jedoch die häufigen „Zitatreihungen“ dar (vgl. z.B. 1,27; 2,7; 6,2f.14–16; 8,26-29; 11,31f.; 15,29–32). Durch diese Aneinanderreihung von Zitaten, die meist keiner Einzelfigur zugeordnet werden, sondern die das Stimmenwirrwarr innerhalb einer Figurengruppe wiedergeben, gelingt es Markus, widersprüchliche Auffassungen über die Person Jesu sowie den dahinterstehenden Abwägungsprozess der Menschen einzufangen oder die massive Ablehnung, die der Protagonist erfährt, eindrücklich darzustellen: „Viele, die zuhörten, erstaunten und sagten: ‚Woher hat der das?‘ und ‚Was ist das für eine Weisheit, die dem gegeben ist?‘ und ‚Solche Wunderwerke geschehen durch seine Hände?‘ ‚Ist dieser nicht der Zimmermann, der Sohn der Maria und ein Bruder des Jakobus und Joses und Judas und Simon?‚ ‚Und sind nicht seine Schwestern hier bei uns?‘ Und sie nahmen Anstoß an ihm.“ (Mk 6,2f.)
Neben der direkten Rede und solchen Zitatreihungen findet sich bei Markus zudem eine ganze Fülle an direkten und indirekten Gedankenzitaten. Durch diese erhält der Rezipient Einblicke in einzelne Figuren, wodurch deren Verhalten über den Erzählverlauf hinweg transparenter und für den Rezipienten antizipierbar wird. Insbesondere werden hierdurch von Markus Konflikte betont, was etwa für den Parteienkonflikt zwischen dem Protagonisten und den Autoritäten (z.B. 2,6f.), aber auch für den in der Gethsemane-Episode (14,35) beschriebenen Wunschkonflikt innerhalb der Figur Jesu gilt. Auch die erzählte Rede, die sich formal durch eine hohe Erzählerdominanz bzw. eine Distanz zu den unmittelbaren Worten und Gedanken der Figuren auszeichnet, findet sich bei Markus häufig. Hierbei verwendet der erste Evangelist diese Form der Figurenrede insbesondere dort, wo er pauschal bzw. summarisch von der Lehrtätigkeit Jesu berichtet (vgl. 1,21.39; 2,2.13; 4,1f.; 6,2a.6b u.ö.) und Jesu Verkündigung und sein Handeln Erstaunen, Unverständnis oder gar Ablehnung erzeugen (z.B. 1,22a; 2,12a; 3,6.31; 4,10; 6,51b; 8,32; 11,18; 12,12.13; 14,11). Die erzählte Rede kann aber nicht selten in ein direktes Zitat münden (vgl. 14,55–57.58). 108 So lässt sich bereits im Griechischen bei der Verwendung des o{ti recitativum (HOFFMANN/VON SIEBENTHAL, Grammatik, §274b) nicht immer eindeutig zwischen direkter und indirekter Rede unterscheiden (vgl. z.B. 6,15: a[lloi de; e[legon o{ti ÆHleiva~ ejstivn). Zudem finden sich zahlreiche Wechsel von der indirekten Rede in die direkte Rede (vgl. HOFFMANN/VON SIEBENTHAL, Grammatik, §247c). 109 Vgl. hierzu bereits AUERBACH, Mimesis, 48f.88f.; REISER, Sprache, 100; REISER, Stellung, 9; REISER, Alexanderroman, 148; FRITZEN, Gott, 69.
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2. Kapitel: Narratologische Zugänge zur markinischen Christologie
Innerhalb der Narratologie, aber auch in der Exegese,110 zeichnet sich in den letzten Jahrzehnten ein gesteigertes Interesse an den zwischen direkter und erzählter Rede angesiedelten Formen der transponierten Rede ab. Sowohl die indirekte Rede als auch die freie indirekte Rede (= erlebte Rede) stellen hierbei eine Erzählweise dar, bei der der Erzähler den Wortlaut einzelner Figuren nahezu wörtlich wiedergibt und die Figurenrede zugleich transponiert, d.h. an die personale Erzählsituation (meist 3. Person) und das jeweils aktuelle Erzähltempus (meist Imperfekt) anpasst. Insofern bei der erlebten Rede auf ein einleitendes verbum dicendi bzw. verbum credendi und damit auf eine eindeutige Markierung der Figurenrede verzichtet wird, können Erzähler- und Figurenstimme regelrecht oszillieren. Franz Karl Stanzel hat diesbezüglich von einer „‚Ansteckung‘ der Erzählersprache durch Figurensprache“111 gesprochen. Allerdings lässt sich eine derartige Überlagerung von Erzähler- und Figurenstimme nicht rein textimmanent, sondern erst im Rezeptionsprozess feststellen. In eben dieser Hinsicht präzisiert Fotis Jannidis Stanzels Aussage und bemerkt zutreffend: „Der intendierte Leser konstruiert im Laufe der Lektüre eine Erzählerstimme. Phänomene wie [...] erlebte Rede werden erst wahrnehmbar durch Abweichungen von dieser Erzählerstimme.“112 Ein Beispiel für solch eine Überlagerung von Figuren- und Erzählerstimme findet sich in 1,22.113 Die Aussage „Er [sc. Jesus] lehrte sie nämlich wie einer der Vollmacht hat und nicht wie die Schriftgelehrten“ bettet sich durch die personale Erzählsituation (3. Pers. Sg.) sowie das Erzähltempus (Imperfekt) und die Begründungspartikel gavr zunächst ganz in den erzählerischen Rahmen ein und erscheint dabei als Erzählerkommentar. Als eben solcher Kommentar bliebe 1,22 allerdings hinter dem bisherigen Informationsstand des Erzählers zurück, da der Rezipient Jesu vollmächtiges Auftreten längst aus der vom Erzähler explizit erwähnten Messianität (1,1), der berichteten Gottessohnschaft (1,11) sowie dem zitierten Verkündigungsauftrag Jesu (1,15) abzuleiten vermag. Der Erzähler schlüpft hier gewissermaßen in das Erstau110
Vgl. zur erlebten Rede bei Markus PAX, Spuren, 347 und HAACKER, Fälle, 71f. Beide geben jedoch irrtümlicherweise Belege an, die sich gerade eindeutig als zitierte Rede (3,22; 15,9.39) ausweisen lassen. Dass eine Figur wie Pilatus das Vokabular anderer Figuren aufgreift (ähnlich 16,7), stellt einen anders gelagerten Sachverhalt dar und sollte nicht mit der Analyse des Erzählmodus verwechselt werden. Vgl. zur erlebten Rede im Corpus Lucanum EISEN, Poetik, 115f. und zur Analyse der transponierten Rede insgesamt nun FINNERN/RÜGGEMEIER, Methoden, 183. 111 STANZEL, Theorie, 247f. 112 JANNIDIS, Wer sagt das?, 159. 113 Weitere Stellen, die sich hier diskutieren ließen, wären 14,51 und 16,5, weil der Erzähler auch hier aus der Wahrnehmung der Zeugen von einem „Jüngling“ spricht. Zumindest in 16,5 dürfte er selber davon überzeugt sein, dass es sich bei der Person um einen Engel handelt. Noch deutlicher Lk 24,4 (vgl. dazu EISEN, Poetik, 116f.).
2.2 Perspektivenanalyse: Was heißt „markinische“ Christologie
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nen der Menge hinein. Dem Rezipienten legt sich die Vermutung nahe, dass der Erzähler hier nicht mit eigenen Worten kommentiert, sondern zugleich die Redeweise der umstehenden Menge aufgreift, die sich durchaus noch über Jesu Vollmacht zu wundern vermag. Eine Vermutung, die sich im weiteren Erzählverlauf bestätigt: So folgt in 1,27 auf das Entsetzen der Menge erneut die Frage nach der Lehre und ejxousiva Jesu (1,27: hier als zitierte Rede; vgl. auch 2,10f.) und noch in Jerusalem suchen die Autoritäten nach einer Begründung für das vollmächtige Auftreten Jesu (11,28).114 In antiken Erzählungen lässt sich über die fünf dargestellten Submodi hinaus noch eine, überaus verbreitete Form der Redewiedergabe erkennen, die gewissermaßen als Umkehrung der erlebten Rede zu begreifen ist. Bereits Erich Auerbach hatte in seinem Werk Mimesis (1946) auf diese – von ihm als Stiltrennung bezeichnete – Darstellungsform hingewiesen. Insofern in der Antike115 eine „realistische Ausmalung des Alltäglichen unvereinbar sei mit dem Erhabenen und nur im Komischen ihren Platz habe,“116 neigten antike Autoren dazu, ihren Figuren stilistisch geschliffene Reden in den Mund zu legen. Man könnte hier – auf Stanzel rekurrierend – von einer Ansteckung der Figurensprache durch Erzählersprache reden: „Zum Stil der großen Geschichtsschreibung gehören die großen Reden, die meist fingiert sind; sie dienen der anschaulichen Dramatisierung (illustratio) des Vorgangs, zuweilen auch der Darlegung großer politischer und moralischer Gedanken: in jedem Fall sollen sie die rhetorischen Glanzstücke der Darstellung sein.“117
Während Auerbach im Markusevangelium v.a. eine Durchbrechung dieser Stiltrennungsregel erkannte und hierin letztlich eine für die europäische Literaturgeschichte wegweisende Hinwendung zur Alltäglichkeit und Geschichtlichkeit erblickte, lässt sich m.E. durchaus auch der umgekehrte Fall feststellen: Insbesondere das „Bekenntnis“ des Hauptmanns unterm Kreuz (15,39) wirkt aus dem Lektüreprozess heraus überraschend bzw. „aufge-
114
Zum Vergleich sei auf den Wahrnehmungsbericht der Frau Stuth und damit den „klassische[n] Beleg“ (STANZEL, Theorie, 248) für die erlebte Rede aus Thomas Manns Buddenbrooks verwiesen. Heisst es hier: „[...] sie hatte, strafe sie Gott, niemals eine schönere Braut gesehen“ (MANN, Buddenbrooks, 164; Hervorhebung J.R.), so weicht auch hier die kursiv gesetzte Formulierung vom erwarteten Sprachgebrauch des Erzählers ab und spiegelt vielmehr den Idiolekt der Frau Stuth wider: „Strafe mich Gott, ich habe niemals eine schönere Braut gesehen.“ 115 Der Romanist stützt sich v.a. auf Petronius’ Satyricon und die Annalen des Tacitus (AUERBACH, Mimesis, 28–36 und 37–43). 116 AUERBACH, Mimesis, 25. Dass Aristophanes in seiner Komödie „Die Frösche“ durch Aischylos den Vorwurf macht, er habe das Gerede niederer Leute „in die Kunst eingeführt“, unterstreicht diese Haltung, lässt aber zugleich erkennen, dass das Neue Testament keineswegs derart innovativ ist, wie es Auerbach behauptet. 117 AUERBACH, Mimesis, 42.
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2. Kapitel: Narratologische Zugänge zur markinischen Christologie
setzt“.118 Es steht in einem erkennbaren Widerspruch zum sonstigen Unverständnis der Zeitzeugen und greift die zuverlässige Perspektive Gottes auf (1,11; 9,7). Zugleich – und hierin mag man durchaus die erzählerische Fertigkeit des ersten Evangelisten erkennen – wird die Aussage des Hauptmanns wiederum in eine geradezu desillusionierende Vergangenheitsform gehüllt („Dieser war119 Sohn Gottes“), durch die letztlich Erkenntnis und Unverständnis zu oszillieren scheinen und der Rezipient zum Protest bzw. eigenen Bekenntnis herausgefordert wird: „Dieser ist Sohn Gottes“. – Fokalisierung:120 Über die Wiedergabe von Figurenrede hinaus kann der Erzähler mehr oder weniger detaillierte Einblicke in seine Figuren ermöglichen und zwar, indem er Auskunft über deren Motivation, deren Wissensstand uvm. gibt (Innenperspektive) und indem er aus deren Perspektive heraus berichtet (Wahrnehmungszentrum). Bei der Innenperspektive kann methodisch beschrieben werden, in welcher Detailliertheit der Erzähler Einblick in das Innenleben einer Figur gewährt, d.h. wie viele Informationen (Gedanken, Gefühle, Erleben etc.) er mitteilt. So lässt der Erzähler des Markusevangeliums seine Rezipienten z.B. wissen, dass die Dämonen Jesus kennen und daher zum Schweigen aufgefordert werden (vgl. 1,34), oder dass die blutflüssige Frau aufgrund ihrer Heilung Furcht überkommt (5,33). Sind die mitgeteilten Informationen über eine Figur besonders detailliert, so kann man von einer starken Innenperspektive oder einer internen Fokalisierung sprechen. Sind diese Informationen eher spärlich, so kann dies als eine starke Außenperspektive oder eine externe Fokalisierung bezeichnet werden – der Rezipient schaut der Figur sozusagen vor den Kopf. Ersteres kann zu einer stärkeren Empathie und Identifikation mit der Figur beitragen.121 Letzteres fordert den Rezipienten stärker heraus, über die Hintergründe eines Verhaltens nachzudenken. 118 Ein weiteres Beispiel stellt 7,37 dar, weil man einer heidnischen Menge kaum ein derartiges, von alttestamentlicher Sprache (vgl. LXX Gen 1,31; Jes 35,5f.) durchzogenes Bekenntnis zutrauen kann. Markus wird diese Inkohärenz aber kum reflektiert haben und auch der Rezipient wird hierüber eher hinweg gelesen haben. Auch außerhalb des Markusevangeliums finden sich Beispiele für die Stiltrennungsregel (z.B. Joh 1,29–34). 119 Dass die Wahl des Imperfekts die Angemessenheit der Aussage relativiert und mithin nicht von einem vollgültigen Bekenntnis zu sprechen ist, bemerken GUTTENBERGER, Gottesvorstellung, 207; HEININGER, Inkulturation, 199; MÜLLER, Wer ist dieser, 133–138. Auch das anschließende Verhalten des Hauptmanns vor Pilatus (15,44f.) lässt nicht erkennen, dass sich bei ihm ein nachhaltiger Meinungs- und Sinneswandel vollzogen habe (mit KAMPLING, Henker, 19). 120 Vgl. zum nachfolgenden Abschnitt und der verwendeten Terminologie FINNERN/ RÜGGEMEIER, Methoden, 181. 121 Vgl. zu den Faktoren, die Empathie und Identifikation begünstigen KEEN, Theory, 214–220; KEEN, Empathy, 92–99; EDER, Figur im Film, 630–644.676–681; FINNERN,
2.2 Perspektivenanalyse: Was heißt „markinische“ Christologie
39
So kann der Leser des Markusevangeliums zunächst nur mutmaßen, warum Jesus den Dämonen zu Schweigen gebietet und nicht will, dass seine Identität bekannt wird. Über den Verlauf der Erzählung versucht er dieses Verhalten Jesu zu ergründen und schenkt ihm verstärkt Aufmerksamkeit. Im Hinblick auf die Innenperspektive gilt es des Weiteren zu beachten, dass sich diese immer nur in Relation bemessen lässt. So kann etwa die Detailliertheit, mit der ein Erzähler eine Figur beschreibt, mit der Beschreibung anderer Figuren verglichen werden. Ist die Innenperspektive bei allen Figuren gleich, wird im Folgenden von Nullfokalisierung gesprochen.122 Ansonsten ist die Erzählung mehr oder weniger stark auf eine Figur fokalisiert. Ein Beispiel für eine starke Fokalisierung liegt in 5,21–34 vor: Während die Schilderung des Jaïrus eher spärlich ausfällt, erhält der Rezipient detaillierte Einblicke in die Gedanken der blutflüssigen Frau und wird – in Form einer (externen) Analepse123 – über deren 12-jährigen Krankheitsverlauf informiert. Als Wahrnehmungszentrum (auch: Fokalisator)124 wird in dieser Arbeit die Figur einer Erzählung verstanden, aus deren Blickwinkel heraus ein Erzähler erzählt. So wird die Taufe Jesu (1,9–11) aus der Wahrnehmung des Täuflings (Vision, Audition) geschildert und nicht aus der Perspektive des Täufers oder aus der Perspektive Gottes.125
Narratologie, 193–195. Folgender Kriterienkatalog lässt sich festhalten: (1) hohe Innensicht in die Figur; (2) Figur ist häufiger Wahrnehmungszentrum der Erzählung; (3) dramatischer Darstellungsmodus; (4) häufige Erzählerkommentare und/oder Kommentare durch andere Figuren; (5) häufige Präsenz; (6) große Bedeutung der Figur für den Handlungsfortschritt; (7) Komplexität und Offenheit der Figuren; (8) Ähnlichkeit zu Merkmalen der Rezipienten (Standpunkt, Situation, soziale Verortung etc.). 122 Hier nach GENETTE, Erzählung, 134; vgl. auch FINNERN/RÜGGEMEIER, Methoden, 181 sowie FINNERN, Narratologie, 174. Üblicher ist es in der Narratologie, unter Nullfokalisierung jene Darstellung zu verstehen, bei der der Erzähler mehr weiß als seine Figur und die Wahrnehmung an keine Figur gebunden ist. Diesem Verständnis nach wäre die Nullfokalisation also eine dritte Möglichkeit zwischen externer und interner Fokalisation. M.E. ist eine solche Verwendung der Terminologie allerdings überaus verwirrend. 123 Vgl. hierzu ausführlich Kap. 2.4.3. 124 Für dieses Phänomen finden sich in der Narratologie eine ganze Reihe unterschiedlicher Termini: vgl. BAL, Narratology, 148 (focalizer); KOCH, Literarische Menschendarstellung, 184f. (Fokalisator); NIEDERHOFF, Fokalisation, 17 (Fokalisierer); STOCKER, Art. Perspektive, 56 (Fokalfigur); STANZEL, Theorie, 16 u.ö. (Reflektorfigur) oder WOLF, Art. Fokalisierung, 211 (Perspektivzentrum). Zum Begriff des Wahrnehmungszentrums, der für die größte Eindeutigkeit sorgt, vgl. DENNERLEIN, Nutzen, 196 und FINNERN, Narratologie, 175. 125 Ein Vergleich mit der Tauferzählung des Johannesevangeliums verdeutlicht, dass dies keineswegs selbstverständlich ist. So stellt in Joh 1,29–34 der Täufer das Wahrnehmungszentrum dar und die Erzählung ist zugleich auf seine Figur fokalisiert.
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2. Kapitel: Narratologische Zugänge zur markinischen Christologie
Wahrnehmungszentrum und interne Fokalisierung können in zahlreichen Fällen zusammenfallen, tun dies aber längst nicht immer. So wird die Taufe zwar aus der Wahrnehmung Jesu geschildert, aber es liegt zugleich eine externe Fokalisierung vor, weil der Rezipient nichts über die Gefühle und Gedanken Jesu erfährt. Er muss über dieses Erleben spekulieren: Was motiviert Jesus dazu, sich von Johannes taufen zu lassen? Weiß Jesus bereits vorher um seine Sohnschaft oder ist die Zusage Gottes für ihn überraschend?126 Das Wahrnehmungszentrum muss nicht immer auf einer einzelnen Figur ruhen, sondern kann innerhalb einer einzigen Episode mehrmals wechseln, etwa wenn in einem Dialog das Gespräch jeweils aus der Sichtweise der Gesprächspartners geschildert wird. Im Markusevangelium werden zahlreiche Heilungsberichte nicht allein von außen oder aus der Sicht Jesu, sondern auch aus der Sicht des Kranken bzw. Hilfesuchenden beschrieben (vgl. z.B. 1,31b; 1,40.42.45; 2,3f.12; 7,25f.28.30; 10,47f.). Im Hinblick auf die Christologie bedeutet dies, dass der Rezipient Jesus zwangsläufig immer wieder aus der Perspektive derer wahrnimmt, die sich hilfesuchend und glaubend an ihn wenden und zu diesen Figuren Empathie aufbaut. 2.2.3 Perspektivische Interaktion (Inhalt, Struktur und Rezeption) Der Akzent des vorherigen Abschnitts lag auf den Aspekten der erzählerischen Vermittlung, d.h. dem „wie“ der Erzählung (discourse). Es wurde dargestellt, welche prinzipiellen Beteiligungsmöglichkeiten ein Erzähler besitzt und welcher perspektivischen Mittel er sich bedienen kann. Dies sind wesentliche Aspekte, die zur Konstituierung des Erzählerstandpunktes beitragen. Hiermit ist aber noch nicht hinreichend beschrieben, wie die Erschließung des Erzählerstandpunktes im Rezeptionsprozess verläuft. So ist bisher noch nicht dargestellt worden, wie sich der eigentliche Inhalt einer Perspektive, d.h. das „Was“ der Erzählung (story), bestimmen lässt (Perspektiveninhalt), in welcher Relation die einzelnen Figuren- und Erzählerperspektiven stehen können (Perspektivenstruktur) und wie sich dies auf die kognitive Aufnahme, Speicherung und Verarbeitung der Perspektiven im Rezeptionsprozess auswirkt (Perspektivenrezeption). Während sich die Narratologie bei der Perspektivenanalyse lange Zeit auf die formale Ebene der erzählerischen Vermittlung beschränkt hat, ist eine Konzentration auf die einzelnen Perspektiveninhalte eng mit dem Narratolo-
126
Auf eben diese offenen Fragen versucht die Exegese häufig zu antworten. Vgl. zur Frage der Motivation: DEHN, Gottessohn, 32; OEPKE, Art. bavptw, 536 (Solidarität mit Sündern); ERNST, Markus, 39; SCHNIEWIND, Markus, 26 und bereits Iust. Mart. dial. 87f. Vgl. zur Frage des Wissens HAHN, Hoheitstitel, 343 (Einsetzung); SCHENKE, Literarische Eigenart, 54 (Bestätigung und Identifikation).
2.2 Perspektivenanalyse: Was heißt „markinische“ Christologie
41
gen Ansgar Nünning verknüpft.127 Ähnlich wie in der Dramentheorie von Manfred Pfister, dessen Ansatz Nünning für die Erzählforschung adaptiert, knüpft der Giessener Anglist den Begriff der Perspektive erstmals an die subjektive Wirklichkeitserfahrung literarischer Figuren. Ähnlich wie bei realen Menschen, so Nünning, ist auch bei literarischen Figuren oder der Figur des Erzählers die Wahrnehmung an individuelle Vorbedingungen geknüpft und kann nicht rein abstrakt bestimmt werden. Nünning versteht die Perspektive umfassend als „das System aller Voraussetzungen,“128 auf deren Grundlage eine Figur oder ein Erzähler das eigene Wirklichkeitsverständnis erstellt. Hierdurch erhält sein Perspektivenbegriff in analytischer Hinsicht einen erheblichen Differenzierungsgrad. Um den Inhalt einer Perspektive hinreichend zu bestimmen, sind nicht nur explizite Äußerungen und Gedanken einer Figur bzw. explizite Kommentare eines Erzählers zu berücksichtigen, sondern ebenso der Informationsstand, die psychische Disposition sowie die „internalisierten Werte, Normen und Konventionen, sprachliche und enzyklopädische Kenntnisse ebenso wie Handlungsbeschränkungen politischer, ökonomischer, sozialer und kultureller Natur.“129 Diese Zusammenstellung an Faktoren lässt sich sogar, wie bereits von Carola Surkamp130 dargelegt, ergänzen und präzisieren. Letztlich können bei der inhaltlichen Bestimmung einer Perspektive alle Merkmale von Relevanz sein, die auch zur Konstituierung eines mentalen Figurenmodells beitragen (vgl. hierzu 2.3.2 Figurenmerkmale). Der Mehrgewinn gegenüber vorherigen, eher vagen und metaphorischen Perspektivenverständnissen – wie Bakhtins Konzept einer erzählerischen „Polyphonie“ – liegt zum einen in einer Ausweitung des Perspektivenbegriffs und zugleich in dessen analytischer Präzisierung.131 So gerät einerseits in den Blick, dass neben ausdrücklichen Aussagen – etwa über die Person Jesu (z.B. „Du bist der Christus“) – auch jene Perspektiven bei der Analyse zu berücksichtigen sind, die sich lediglich implizit aus den Aktionen einer Figur oder ausschließlich aus einzelnen Merkmalen der Figur ableiten lassen.132 Zum 127
Einzelne Ansätze zu einer solch inhaltlichen Bestimmung finden sich freilich bereits früher: vgl. FÜGER, Tiefenstruktur, 272 (Perspektive als Informationsstand des Erzählers); USPENSKIJ, Poetik, 17–25 (Perspektive als Ideologie des Erzählers und der Figuren). 128 NÜNNING, Grundzüge, 71 (Hervorhebung J.R.). Nünning ergänzt und differenziert hierbei Pfisters „Drei-Faktoren-Modell“, das lediglich den Informationsstand, die psychische Disposition und die Ideologie (Nünning: Werte und Normen) einer Figur berücksichtigte (vgl. PFISTER, Drama, 90–92). 129 HAUPTMEIER/SCHMIDT, Einführung, 63. 130 Vgl. SURKAMP, Perspektivenstruktur, 41. 131 BAKHTIN, Discourse; BAKHTIN, Problems. 132 Vgl. hierzu bereits SURKAMP, Perspektivenstruktur, 75f. „Als weitere Informationsquellen, aus denen etwa die psychische Disposition oder die Wertvorstellung einer Figur zu erschließen sind, können die Reflexionen, Gefühle, Phantasien und Intentionen der
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2. Kapitel: Narratologische Zugänge zur markinischen Christologie
vollständigen Perspektiveninventar von 2,1–12 gehören nicht nur die expliziten Äußerungen der Schriftgelehrten, der umstehenden Menschenmenge sowie des Protagonisten, sondern ganz essentiell auch die Perspektive des Gelähmten und jene seiner Freunde (2,3–4), die sich auf Jesu Verkündigung (1,14–15.22.39; 2,2) und auf die Kunde von seinen Wundern (1,21–27.32– 34.40–44) verlassen und in der Folge glaubend an ihn wenden.133 Zum anderen ermöglicht die Einbeziehung individueller Figurenmerkmale eine präzisere Beschreibung aller expliziten und impliziten Perspektiven. So kann eine Aussage oder Sichtweise durch bestimmte Faktoren – wie z.B. Konflikte, Pflichten oder Wünsche – beeinträchtigt sein und dieser Umstand kann von den intendierten Rezipienten auch verstanden oder zumindest in Erwägung gezogen werden. Besonders evident ist dieser Sachverhalt innerhalb der Verleugnungsszene (14,66–72), weil hier dem Rezipienten überaus deutlich wird, dass die Aussagen und das Verhalten des Petrus durch die gegebene Konfliktsituation beeinflusst sind und deshalb im Widerspruch zum Bekenntnis des Petrus in 8,29 stehen. Durch die Bindung des Perspektivenbegriffs an die individuelle Beschaffenheit von Figuren und Erzählfiguren wird zudem offensichtlich, dass der Perspektiveninhalt immer eine räumlich, zeitlich und kulturell gebundene Größe darstellt. So wie Figuren und Erzähler jeweils Teil einer bestimmten (und historisch bestimmbaren) Lebenswelt sind, bleiben ihre Ansichten von den komplexen Bedingtheiten dieses konkreten Kontextes sowie den jeweiligen literarischen Vorgaben abhängig.134 Dass die Schriftgelehrten Jesu Sündenvergebung in 2,5–7 als Blasphemie empfinden, ergibt sich letztlich aus dem ihnen zugedachten kulturellen bzw. religiösen Werte- und Normensystem sowie aus der stereotypen Rolle, die ihnen Markus zugewiesen hat. Neben der Frage nach der inhaltlichen Bestimmung einzelner Perspektiven gilt es bei der Analyse nach dem Verhältnis der Perspektiven zueinander zu fragen. So wird der Inhalt einer einzelnen Figurenperspektive immer durch weitere Perspektiven profiliert, in Frage gestellt, relativiert, ergänzt usw. Gerade der Erzählerstandpunkt lässt sich oftmals erst aus dem komplexen Zusammenspiel der übrigen Perspektiven ableiten. Hierzu zählen vor allem Figur, ihr verbales und non-verbales Verhalten, ihr Mentalstil, ihre Erzählweise (falls sie als erzählende Figur auftritt) sowie ihre Handlungen genannt werden.“ Selbst das Alter (z.B. Kind vs. Erwachsener), das Geschlecht oder der Beruf können die Sicht einer Figur aufgrund historisch-kultureller Vorverständnisse erahnen lassen. 133 Dass der Rezipient dieses Wissen auf Seiten des Gelähmten sowie seiner Freunde voraussetzt (Nünning: Informationsstand), ergibt sich aus dem unmittelbaren Erzählverlauf. Gleichzeitig sind sich die Rezipienten aufgrund ihres Alltagswissens der physischen und sozialen Handlungsbeschränkungen bewusst, denen der Gelähmte unterworfen ist und die in der Erzählung kreativ überwunden und in der Konfrontation mit den Wertvorstellungen der Schriftgelehrten in Frage gestellt werden. 134 Vgl. hierzu SURKAMP, Perspektivenstruktur, 39–41.
2.2 Perspektivenanalyse: Was heißt „markinische“ Christologie
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die Möglichkeiten der Hierarchisierung sowie jene der direkten und indirekten Beurteilung. In dem bereits oben angeführten Beispiel 2,1–12 wird die Perspektive des Gelähmten im Nachhinein durch den Erzähler135 als Glauben (vgl. 2,5: kai; ijdw;n oJ ÆIhsou`~ th;n pivstin aujtw`n) beurteilt, was Aufschluss über dessen eigenen Standpunkt gibt. Der Erzähler kann aber auch andere Figuren zu Wort kommen lassen, die in den Augen der Rezipienten zuverlässig erscheinen und so Standpunkte und Verhaltensweisen bestätigen, relativieren oder in Frage stellen. Nicht selten vermag auch das geschilderte Schicksal einer Figur darüber Auskunft zu geben, ob der Erzähler deren Ansichten und deren Verhalten gutheißt oder nicht. Eine Figur kann etwa für ihr Verhalten bestraft werden oder in ihrem Scheitern dargestellt werden. Selbst in Erzählungen, die sich auf historische Personen und Ereignisse beziehen, besitzt der Autor diesbezüglich große literarische Freiheiten. Ein Beispiel hierfür ist die Figur des Petrus, die im Markusevangelium letztmals im Rahmen der Verleugnung auftritt. Im Johannesevangelium wird demgegenüber noch einmal von einer versöhnenden Begegnung mit dem Auferstandenen in Galiläa berichtet (Joh 21,15–17).136 Um die Perspektivenstruktur einer Erzählung möglichst vollständig zu erschließen, haben Ansgar und Vera Nünning dreizehn Analysekategorien137 (vgl. Tab. 2.6) benannt. Wenngleich diese Kategorien noch auf einer Dichotomie von Kongruenz- und Kontrastaussagen beruhen und somit einer strukturalistischen Systematik unterworfen bleiben, lassen sie sich durchaus in kognitiver Hinsicht präzisieren und stellen – für die weitere Analyse der Perspektivenrezeption – ein nützliches Instrumentarium dar. Während sich einige dieser Analysekategorien, wie die reine Anzahl der Perspektiven und die (soziale, kulturelle, altersmäßige etc.) Heterogenität der Perspektiventräger aber auch die Quantität, Erzählordnung sowie räumliche und zeitliche Distanz noch überwiegend138 auf einer innertextuellen Ebene bestimmen lassen, 135
Diese Sicht wird dadurch bekräftigt, dass der Erzähler zugleich Einblick in die Innenperspektive Jesu gewährt (ijdw;n oJ ÆIhsou`~) und sich die Wahrnehmung des Protagonisten und des Erzählers als homogen erweisen. 136 Dass eine solche Versöhnung im Markusevangelium immerhin durch die Rückkehr Jesu nach Galiläa angedeutet wird (16,7: kai; tw`æ Pevtrwæ), löst diesen Unterschied keineswegs auf, lässt aber die Nuancen der beiden Darstellungsweisen erkennen. 137 NÜNNING/NÜNNING, Multiperspektivität I, 383–388. 138 Gleichwohl müssen auch bei der Näherbestimmung dieser Kategorien immer erzählexterne Informationen und rezipientenseitige Propositionen herangezogen bzw. berücksichtigt werden. So lässt sich etwa die soziale Stellung einer Figur immer nur zeitgeschichtlich und nie abstrakt bestimmen und selbst die räumliche (z.B. Galiläa vs. Jerusalem) oder zeitliche (z.B. Auftreten des Täufers – nachösterliche Zeit) Distanz zwischen unterschiedlichen Perspektiventrägern setzt die Kenntnis spezifischer (hier: geografischer
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2. Kapitel: Narratologische Zugänge zur markinischen Christologie
stellen insbesondere die Frage nach der Explizität der Figuren- und Erzählerperspektive, nach der Zuverlässigkeit einzelner Perspektiventräger sowie nach der inhaltlichen Relation komplexere Sachverhalte dar, die sich letztlich nur durch textexterne Vorverständnisse sowie die Konstruktionsleistung der Rezipienten hinreichend analysieren lassen und bereits auf die notwendige Analyse der Perspektivenrezeption (s.u.) vorverweisen.139 Trotzdem seien diese Kategorien bereits hier ausführlicher vorgestellt. Analysekategorien
Skalierung
Anzahl
monoperspektivisch
⎯⎯⎯⎯
polyperspektivisch
Heterogenität
homogen
⎯⎯⎯⎯
heterogen
Explizität140
wenig konkretisiert
⎯⎯⎯⎯
stark konkretisiert
Zuverlässigkeit
zuverlässig
⎯⎯⎯⎯
unzuverlässig
Hierarchie
bei-/gleichgeordnet
⎯⎯⎯⎯
über-/untergeordnet
Quantität
ausgewogen
⎯⎯⎯⎯
unausgewogen
Erzählordnung
sukzessiv
alternierend
simultan
Raum
monolokal
⎯⎯⎯⎯
polylokal
Zeit
synchron
⎯⎯⎯⎯
diachron
Informiertheit
beschränkt
⎯⎯⎯⎯
privilegiert
Normativität
äquivalent
⎯⎯⎯⎯
nichtäquivalent
Inhalt
additiv
korrelativ
kontradiktorisch
Tab. 2.6: Analyse der Perspektivenstruktur nach Nünning/Nünning Dem Grad an Explizität der Perspektiven kommt im eigentlichen Verstehensprozess eine wichtige Funktion zu. So bleiben weniger konkretisierte Figurenperspektiven nicht so stark im Bewusstsein der Rezipienten verhaftet, wie explizite Kommentare und Beurteilungen. Indem der Erzähler des Markusevangeliums beispielsweise den Dämonen zugesteht, dass sie Jesus kennen
und geschichtlicher) Gegebenheiten voraus. Insofern der Rezipient einzelne Figuren häufig zu größeren Figurengruppen zusammenfasst, ist auch die Anzahl an Perspektiventrägern nicht einfach identisch mit der Anzahl der Figuren (vgl. zu den Perspektiventrägern der markinischen Erzählung 4.2.1 und 4.2.2). 139 Vgl. zu den übrigen Kategorien die kompakten und präzisen Beschreibungen bei NÜNNING/NÜNNING, Multiperspektivität I, 383–388. 140 Nünning/Nünning differenzieren an dieser Stelle noch einmal zwischen der Explizität der Figuren- und Erzählerperspektive. Wenngleich diese Differenzierung sicherlich dem forschungsgeschichtlichen Interesse an der Erzählerfigur gerecht wird, ist eine Unterscheidung in analytischer Hinsicht irritierend. Konsequenterweise müsste man dann auch die übrigen Kategorien jeweils ausdifferenzieren.
2.2 Perspektivenanalyse: Was heißt „markinische“ Christologie
45
oder indem er umgekehrt betont, dass die Jünger trotz des erlebten Brotwunders „nicht zur Einsicht gekommen [sind]“ (6,52), trägt er seine eigene Wertung ein. Um die Ausgestaltung der Erzählerperspektive zu gewichten, wird in der Narratologie häufig das Begriffspaar „verborgener Erzähler“ (covert narrator) und „expliziter Erzähler“ (overt narrator) verwendet.141 Bei diesen beiden Begriffen handelt es sich jedoch keineswegs um starre Alternativen, sondern – wie die obige Graphik veranschaulicht – um Extrempunkte einer Skala. Der Grad an Explizität ist davon abhängig, in welchem Maß der Rezipient direkte Informationen (Geschlecht, Alter, soziale Herkunft, Charakter, Wissen etc.) zur Person des Erzählers erhält142 und wie sehr sich explizite Erzählerkommentare und Wertungen häufen. Zudem kann die Erzählerperspektive ausgestaltet werden, indem der Erzähler den eigentlichen Erzählvorgang thematisiert (vgl. Lk 1,1–4; Vita Aureliani 1,1–2) oder die Adressaten – wie in Mk 13,14 – unmittelbar anredet. Die genannten Kriterien verdeutlichen, dass der Erzähler des Markusevangeliums weder als ausgesprochen expliziter noch als verborgener Erzähler143 im engeren Sinne bezeichnet werden kann. Er ist eher in der Mitte der Skala anzusiedeln, denn obwohl er keinerlei direkte Informationen über seine Person preisgibt, spart er keineswegs mit Kommentaren sowie Bewertungen und richtet sich, an exponierter Stelle, direkt an seine Adressaten.144 Beim Erzähler des Lukasevangelium, der seine Erzählung mit einer Selbstvorstellung einleitet (Lk 1,1–4), handelt es sich um einen noch expliziteren Erzähler. Ein ausgesprochen expliziter Erzähler findet sich in Gal 1,15–2,14a, also im autobiografischen Selbstzeugnis des Paulus. Nicht nur der Standpunkt des Erzählers kann mehr oder weniger explizit gemacht werden, sondern auch der Standpunkt einzelner Figuren und Figu141 Einen verborgenen Erzähler im eigentlichen Sinne bzw. eine neutrale Erzählinstanz kann es dabei nie geben. Selbst dort, wo der Rezipient keine expliziten Informationen erhält, zieht er immer indirekte Rückschlüsse aus der Anordnung des Erzählstoffes, dem Inhalt der Erzählung, der Sprache und dem Wissensstand des Erzählers. Insofern ist es unangemessen, von neutralen Erzählinstanzen zu sprechen (anders z.B. NÜNNING/NÜNNING, Multiperspektivität, 384f.). 142 Grundlage müssen hierbei wiederum die epochenspezifischen und kulturellen Konventionen sein. So lässt sich der Erzähler in Herodots Historien erst im Vergleich zu den Erzählungen des Thukydides als ein besonders expliziter Erzähler erweisen (vgl. DE JONG, Narrators, 101–106). 143 Gegen FENDLER, Studien, 45.78f.; ZWICK, Montage, 577.584; HENGEL, Probleme, 220; REISER, Stellung, 8, die den markinischen Erzähler als verdeckten bzw. „anonymen“ Erzähler bezeichnen. 144 Bereits Rhoads und Michie weisen auf die häufigen Erzählerkommentare im Markusevangelium hin, wobei sie diese als „asides“ bezeichnen (RHOADS/MICHIE, Mark, 38f.). Ähnlich MÜLLER, Wer ist dieser, 16f., der mit Verweis auf 5,41; 12,18 und 13,14 von „Nebenbemerkungen“ spricht.
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2. Kapitel: Narratologische Zugänge zur markinischen Christologie
rengruppen. Im Markusevangelium erhält der Standpunkt Gottes eine hohe Explizität (1,11; 9,7). Auch der Standpunkt des Herodes ist als explizit zu bezeichnen, während sich der Standpunkt der religiösen Autoritäten oder der Standpunkt der meisten Bedürftigen nur indirekt erschließen lässt (vgl. ausführlich 4.2.2). Auch der Grad an Zuverlässigkeit ist für die Perspektivenrezeption und insbesondere deren Beurteilung von großer Bedeutung, denn „[je] mehr die Verläßlichkeit einer Figuren- oder Erzählperspektive in Zweifel gezogen wird, desto mehr verliert sie an Gewicht (...).“145 Ob ein Rezipient eine literarische Figur für zuverlässig hält, hängt nicht nur von der Erzählung und dem Erzählverlauf, sondern auch vom Vorwissen der Rezipienten ab.146 Auf der Textebene können zunächst logische Inkonsistenzen oder die autoreferentielle Reflexion eines Perspektiventrägers über sein (unzureichendes) Wissen bzw. seine Erinnerung dazu führen, dass der Rezipient dessen Zuverlässigkeit in Zweifel zieht.147 Ähnlich wie bei der Wahrnehmung realer Personen schätzt der Rezipient die Figuren und den Erzähler dabei auf der Grundlage seiner Alltagspsychologie ein und überprüft über den Rezeptionsprozess hinweg seine Meinung.148 Bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit sind zudem das Weltwissen sowie die kulturellen Vorprägungen eines Rezipienten von Bedeutung. So wird der Rezipient beispielsweise skeptisch, wenn ein Sachverhalt anders dargestellt wird, als es seinem bisherigen Weltwissen bzw. seiner Weltanschauung entspricht.149 Umgekehrt kann eine Figur von den Rezipienten als zuverlässig eingestuft werden, weil es sich hierbei um einen kulturell bzw. religiös akzeptierten Normträger handelt (z.B. Gott oder Jesus). Schließlich besitzt auch das Kriterium der inhaltlichen Relationierung ein besonderes interpretatorisches Gewicht. Im Mittelpunkt steht hier die Frage nach der Übereinstimmung bzw. Nichtübereinstimmung der einzelnen Perspektiven, wobei Nünning/Nünning formal zwischen additiven, korrelativen
145
NÜNNING/NÜNNING, Multiperspektivität I, 384 Vgl. NÜNNING/SURKAMP/ZERWECK (Hg.), Unreliable Narration; NÜNNING, Reconceptualizing (1999); NÜNNING, Unreliable, compared to what; ZERWECK, Historicizing; NÜNNING, Reconceptualizing (2005). 147 Der umgekehrte Fall liegt in Lk 1,1–4 vor, wo die autoreferentielle Reflexion des Erzählers die Zuverlässigkeit der folgenden Darstellung betonen soll. 148 Vgl. hierzu EDER, Cognitive Reception, 293–294: „When anthropomorphic characters are involved, [the] process of (re)construction [...] follows a path that is in many ways similar to how we perceive real people in society“. 149 Grundlage ist hier tatsächlich die jeweils kulturell variable und intersubjektiv anerkannte Weltanschauung des Rezipientenkreises und nicht eine wie auch immer verstandene ontologische Realität. So ist für die Rezipienten des Markusevangeliums die Auferstehung Jesu durchaus Teil ihrer Wirklichkeitsvorstellung. Religiöse Erzählungen stellen diesbezüglich keine Besonderheit dar, sondern legen vielmehr offen, was für Erzählung im Allgemeinen gilt. 146
2.2 Perspektivenanalyse: Was heißt „markinische“ Christologie
47
und kontradiktorischen Inhalten unterscheiden. Beim additiven Erzählen fügen sich selbst unterschiedlich wirkende Wahrnehmungen einzelner Perspektiventräger letztlich zu einem einheitlichen Gesamtbild zusammen. Bei korrelativen und kontradiktorischen Erzählungen ist eine solche Überschneidung hingegen nur partiell oder gar nicht gegeben. Um die inhaltliche Relationierung der Einzelperspektiven hinreichend zu beschreiben, reicht jedoch eine formale Verhältnisbestimmung der Perspektiveninhalte meistens nicht aus. Insbesondere vermag „die starre Beziehungsmatrix von Kongruenz und Differenz zur Beschreibung inhaltlicher Bezugsverhältnisse nicht (...) das Phänomen emergenter Bedeutung, d.h. das Entstehen ‚neuer‘ semantischer Gehalte [zu erfassen].“150 Zur Untersuchung solch emergenter Bedeutungen gilt es stärker als in der bisherigen Forschung, den Einfluss der Perspektivenrezeption und damit die konstruktive Leistung der Rezipienten zu berücksichtigen. Hatten bereits Ansgar und Vera Nünning auf die grundlegende Bedeutung des Rezeptionsprozesses bei der Konstitution und Erschließung von Perspektiven und Perspektiveninhalten hingewiesen, und lassen sich die von ihnen vorgeschlagenen Analysekategorien auch in dieser Hinsicht weiterentwickeln, so zeichnet sich in den letzten Jahren ein verstärktes Bemühen um eben diese Prozesse der Perspektivenverarbeitung ab.151 Offensichtlich ist, dass die intendierten Rezipienten einer Erzählung nicht primär Einzelperspektiven im Gedächtnis behalten – diese werden sogar vielfach vergessen –, sondern die Perspektiven aufeinander beziehen, bündeln, hierarchisieren und auf deren Grundlage neue Sinngehalte konstruieren. Carola Surkamp versucht unter Einbeziehung des semantischen Konzepts der Possible Worlds Theory (vgl. 2.4.2) die spezifischen Rezeptionsleistungen zu bestimmen, die die Rezipienten bei der Gewichtung und Integration unterschiedlicher Perspektiven erbringen. Insofern sich die Figuren als Bewohner der erzählten Welt in mehreren und teils miteinander widerstreitenden Subwelten bewegen, können ihre Sichtweisen auf den jeweiligen Kenntnisstand (knowledge-world) oder kulturelle Normensysteme (obligationworld) zurückgeführt und konfligierende Sichtweise ggf. erklärt werden. Außerdem betont Surkamp, dass neben den textuellen Informationen auch diverse außertextuelle Bezugsgrößen auf die Konstituierung von Perspektiven einwirken. Der Rezipient folgt in Analogie zu seiner sonstigen Wirklichkeitswahrnehmung gewohnten „real-world strategies of sense-making“152. So vergleicht er nicht nur die Perspektiveninhalte miteinander, sondern versucht – im Sinne einer Lesestrategie –, bestehende Divergenzen durch implizite Per150
HARTNER, Interaktion, 170. Vgl. SURKAMP, Perspektivenstruktur, 65–83; HARTNER, Interaktion, 69–70 und 75– 194; MENHARD, Reports, 102–115. 152 FLUDERNIK, ‚Natural‘ Narratology, 51. 151
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2. Kapitel: Narratologische Zugänge zur markinischen Christologie
sönlichkeitstheorien aufzulösen. Auch gattungsspezifisches Vorwissen, gewohnte Figurenkonstellationen oder der Aufbau von Empathie und Antipathie wirken sich nach Surkamp auf die Verhältnisbestimmung von Perspektiven im Sinne einer Hierarchisierung aus. Obwohl Surkamp ihrerseits nicht den Begriff der Emergenz verwendet, lassen sich einige dieser textexternen Bewältigungsstrategien durchaus mit dem von Turner/Fauconnier als completion bezeichneten Vorgang innerhalb des Conceptual Blending ins Gespräch bringen (vgl. 2.1.3). Marcus Hartner wendet sich dem Applikationspotential der Blending Theory zu und versucht auf deren Grundlage zu zeigen, „dass die Herausbildung einzelner Figurenperspektiven sich meist nicht in Isolation vollzieht, sondern von den mentalen Repräsentationen anderer Figuren und deren Gedankenwelt beeinflusst wird, wodurch die involvierten mentalen Modelle im Rezeptionsakt untereinander in Beziehung treten.“153 Hartner konzeptualisiert die diversen Figurenperspektiven einer Erzählung als input spaces eines Blending-Netzwerkes und zeigt, dass sich diese in der Form des oben beschriebenen cross-space-mapping in Bezug setzen lassen. Letztlich unternimmt er den Versuch, über das Festhalten einfacher Differenzen und Gemeinsamkeiten hinaus, jene Perspektivische Interaktionen zu veranschaulichen, die zur Entstehung neuer (emergenter) Bedeutung beitragen. Während Hartners Interesse jedoch gerade darin besteht, über die textexternen Faktoren der completion und elaboration eine Vielzahl neuer Lesarten zu plausibilisieren,154 ist bei einer Anwendung auf den exegetischen Bereich zu fragen, wie sich die kognitiven Prozesse des Conceptual Blending historisch-kulturell fundieren lassen. Um die input spaces hinreichend zu erschließen, sind etwa die Inferenzen zwischen den gegebenen, textbasierten Informationen und den textexternen Kenntnissen zu beschreiben. Eine hohe Relevanz gewinnen in diesem Kontext die urchristlichen Bekenntnisse sowie frühjüdische Messiasvorstellungen, insofern sie sich anhand des Quellenmaterials rekonstruieren lassen. Außerdem ist zu fragen, durch welches konkrete kulturelle Hintergrundwissen die Rezipienten eine konzeptuelle Integration einzelner Merkmale vornehmen konnten und welche textexternen Vorstellungen in den Prozess der elaboration, d.h. eine szenische Ausschmückung der emergenten Vorstellung, einfließen konnten.
153 154
HARTNER, Interaktion, 151. HARTNER, Interaktion, 55.
2.3 Figurenanalyse: Der markinische Jesus als mentales Modell
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2.3 Figurenanalyse: Der markinische Jesus als mentales Modell „Es sind aber noch viele andere Dinge, die Jesus getan hat. Wenn diese alle nacheinander aufgeschrieben würden, so könnte – wie ich meine – die Welt die Bücher nicht fassen, die zu schreiben wären.“ (Joh 21,25)
Am Ende seines Evangeliums kommt der Erzähler des Johannesevangeliums zu der Einsicht, dass er den Jesus seiner Erzählung nie abschließend beschreiben kann. Keine Erzählung der Welt und nicht einmal ein endloser Fortsetzungsroman, so seine Erkenntnis, könnten den „realen“ Jesus hinreichend erfassen. Diese unüberbrückbare Differenz zwischen Realität und literarischer Darstellung ist jedoch keineswegs eine Diskrepanz, die allein auf den Protagonisten der johanneischen Erzählung zuträfe. Vielmehr lässt sich aus narratologischer Perspektive ganz allgemein festhalten, dass zwischen realen Personen und den Figuren155 einer Erzählung immer ein kategorialer Unterschied bestehen bleibt. Ein Unterschied, den es also auch im Hinblick auf die markinische Erzählung zu berücksichtigen gilt. Figuren jedweder Erzählung sind nämlich grundsätzlich „abgeschlossen“ (Martínez/Scheffel),156 d.h. der Rezipient erhält über sie immer nur jene Informationen, die durch ebendiese Erzählung vermittelt werden. Ob Jesus einmal in Sepphoris arbeitete oder nicht und ob Fisch seine Lieblingsspeise war oder nicht, lässt sich auf der Grundlage der markinischen Erzählung schlechterdings nicht aussagen. Figuren bleiben Teil einer Erzählung und sind in dieser Hinsicht nie mit realen Personen identisch. Andererseits bedeutet das Feststellen dieser Diskrepanz nicht (wie es im Strukturalismus oder dem New Literary Criticism pointiert vertreten wurde), dass die Figuren einer Erzählung als reine Textstrukturen zu betrachten wären.157 Spätestens mit der kognitiven Wende setzt sich in der Narratologie die Erkenntnis durch, dass Figuren als mentale Modelle des Rezeptionsprozesses, 155
In der Forschung finden sich diverse Begrifflichkeiten für die Beschreibung von Figuren, wobei der jeweiligen Terminologie bereits bestimmte Vorverständnisse unterliegen: Dort, wo die Handlungsfunktion betont wird, redet man häufig von Aktanten oder dramatis personae (engl.: actors, agents). Dort, wo der Bezug zu wirklichen Personen hervorgehoben wird, ist meist von Charakteren und Personen (engl.: characters; franz.: personnage) die Rede. Der Begriff Figur ist demgegenüber neutraler und setzt sich völlig zu Recht in der deutschen Erzählforschung durch. 156 MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Einführung, 144–150, hier 145. 157 Innerhalb des Strukturalismus wurde die Einbeziehung textexterner Informationen häufig als „unkontrollierbare Spekulation“ (PFISTER, Drama, 221) zurückgewiesen. Vgl. hierzu EDER, Figur im Film, 48–49; FINNERN, Narratologie, 126–127.
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2. Kapitel: Narratologische Zugänge zur markinischen Christologie
und damit als Teil der erzählten Welt, zu verstehen sind. Sie sind weder mit wirklichen Personen identisch noch allein Teil des Textes, sondern Bewohner jener Welt, die über den Verlauf einer Erzählung hinweg im Bewusstsein der Rezipienten evoziert wird und mehr oder weniger starke Anknüpfungspunkte zur realen (bzw. jeweils für real gehaltenen oder geglaubten)158 Wirklichkeit besitzt. Im Rezeptionsprozess ergänzen die Rezipienten die Figureninformationen einer Erzählung immer durch ihr Wissen über die erzählte Welt (= Textwissen) sowie ihr textexternes Weltwissen. Wenngleich in 6,45–52 nicht explizit erwähnt wird, ob Jesus barfuß oder mit Sandalen bekleidet den See überquerte, so vermag sich der intendierte Rezipient (wenn es ihn denn interessiert) eine recht genaue Vorstellung hiervon zu machen. Insofern damals das Tragen von Sandalen insbesondere auf längeren Wanderungen üblich war (= Weltwissen),159 Jesus in 1,7 explizit als Sandalenträger (uJpovdhma) beschrieben wird und er in 6,9.11 seinen Jüngern das Tragen von Sandalen (sandavlia) gestattet (= Wissen über erzählte Welt), besitzt der Rezipient durchaus hinreichend Informationen, um diesbezüglich zu einem Urteil zu kommen. Neben dieser – zugegebenermaßen vernachlässigenswerten – Fragestellung nach dem Schuhwerk160 gibt es in Erzählungen zahlreiche Leerstellen, die der intendierte Rezipient füllen muss, um die Handlung überhaupt verstehen bzw. sinnvoll deuten zu können. So spekuliert der Rezipient des Markusevangeliums etwa darüber, welche Motivation hinter Jesu Schweigegebot an Dämonen und Kranke steht oder welche Verpflichtung (dei`) seiner wiederholten Leidensankündigung (8,31; 9,31; 10,33–34) zu Grunde liegt. Die Tatsache, dass die Erzählung hierauf keine explizite Antwort gibt, bedeutet nicht, dass diese Frage für das Verständnis des markinischen Protagonisten irrelevant wäre oder der Autor sich schlichtweg keine Gedanken hierzu gemacht hätte. Die Schlussfolgerungsprozesse der intendierten Rezipienten sind notwendigerweise in die Interpretation einzubeziehen. Erst wo trotz Berücksichtigung 158
Tatsächlich lässt sich die in Erzählungen evozierte Wirklichkeit nie auf eine – wie auch immer verstandene – ontologische Realität beziehen, sondern steht immer schon in Relation zu vorher artikulierten Wirklichkeitsverständnissen und damit zu konstruierten sowie intersubjektiv akzeptierten Vorstellungen der Wirklichkeit. Aufgabe der Exegese ist es deshalb, „zu begreifen, wie sich für damalige Menschen die von ihnen konstruierte Wirklichkeit darstellte“ (LAMPE, Wirklichkeit, 180; Hervorhebung J.R.). 159 Barfüßiges Wandern wird nahezu immer als Ausnahme, z.B. als Hinweis auf Armut (vgl. Am 2,6; 8,6; Lk 15,22) oder gar als prophetisches Zeichen verstanden: vgl. Jes 20,2, Lk 9,3; 10,14; 22,35; Mt 10,10. In bTaan 13a wird der Verzicht auf das Schuhwerk bei bestimmten Anlässen ausdrücklich auf den innerörtlichen Bereich beschränkt. Vgl. dazu SAND, Art. sandavlion, 544. 160 Vgl. zu diesem „Schuhbeispiel“ MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Einführung, 145, die die Frage nach dem Schuhwerk einer Figur in Manns Novelle Aschenbach durchspielen – dort freilich aus der Wahrnehmung eines heutigen Rezipienten.
2.3 Figurenanalyse: Der markinische Jesus als mentales Modell
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solcher Prozesse sowie des weiteren Erzählverlaufs keine plausible Erklärung einzelner Leerstellen möglich ist, ist vom Vorliegen eines produktionsästhetischen Fehlers auszugehen oder davon, dass sich der Autor hierzu keine Gedanken gemacht hat. Die Wahrnehmung einer literarischen Figur, z.B. die Frage nach der Motivation hinter einer Handlung, verläuft im Rezeptionsprozess nun – so jedenfalls das mehrheitliche Votum innerhalb der heutige Narratologie161 – in Analogie zur Wahrnehmung realer Personen. So wie auch reale Personen immer nur partiell wahrgenommen werden und diese Wahrnehmungen ebenfalls durch das Vorwissen und die Alltagspsychologie der Wahrnehmenden ergänzt und erklärt werden, konstruieren die Rezipienten einer Erzählung mentale Modelle von den Figuren: „Readers by default assume that they will encounter real-life characters and make a concerted effort to fill in the schematic gaps to produce human-like constructs.“162 Wenngleich also, wie zu Beginn festgehalten, zwischen literarischen Figuren und realen Personen ein kategorialer Unterschied besteht, so verläuft die Wahrnehmung dieser Figuren trotzdem weitgehend analog. Ein Unterschied ist freilich dadurch gegeben, dass literarische Figuren nicht selten literarischen Konventionen unterliegen und den Rezipienten diese auch oftmals bewusst sind. So kann es sein, dass eine Figur auf eine bestimmte Art und Weise handelt, weil sie den Genrevorgaben, einem gewissen Stereotyp oder anderen literarischen Figurenvorlagen entspricht. Solche Vorgaben, die ihrerseits kulturell wandelbar sind, können sogar gegenüber dem allgemeinen Weltwissen der Rezipientinnen Vorrang haben: „Dass die junge Königstochter Chariklea in Heliodors Aithiopika (3.–4. Jh.) trotz jahrelanger Unglücksfälle und Strapazen beim schließlichen happy ending so schön und unberührt ist wie zu Beginn der Geschichte, entspricht nicht den Realitäten der Biologie und des Reiselebens, sondern gehorcht den Regeln des griechischen Liebes- und Abenteuerromans.“163
Für die markinische Christologie ist zudem bedeutsam, dass Figuren Bezüge zu historischen Personen besitzen können. In diesem Fall werden Figuren nicht nur durch die Erzählung konstituiert, sondern zugleich durch das Bild, das die Rezipienten bereits von der wirklichen (bzw. für wirklich gehaltenen oder geglaubten) Person haben. Zwischen der erzählten Welt und der „wirklichen“ Welt kann es dabei zu intendierten oder unbeabsichtigten Inkohärenzen kommen. Sind diese Inkohärenzen vom Autor nicht beabsichtigt, so ist es 161
BORTOLUSSI/DIXON, Psychonarratology, 152–153; GRABES, Personen, 405–428; MARTÍNEZ/ SCHEFFEL, Einführung, 147–148. Ähnlich RYAN, Possible Worlds, 21, die von einer „Pseudorealität“ spricht. 162 BORTOLUSSI/DIXON, Psychonarratology, 152–153. Dieser kognitive Prozess lässt sich als „Figurensynthese“ (EDER, Figur im Film, 165) bezeichnen. 163 MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Einführung, 146.
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2. Kapitel: Narratologische Zugänge zur markinischen Christologie
möglich, dass die Rezipienten seine Zuverlässigkeit in Frage stellen. Umgekehrt kann der Autor das Bild seiner Rezipienten aber auch bewusst und spielerisch aufbrechen. So stellt der Autor des Markusevangeliums die Jünger als unverständig dar, obwohl diese in der frühen Gemeinde zweifelsohne als Autoritäten galten. Um im Hinblick auf biblische Erzählungen die vielfältigen Vorstellungen zu rekonstruieren, die die intendierten Rezipienten vom markinischen Jesus und anderen Figuren haben konnten bzw. haben sollten, ist es aufgrund der skizzierten textexternen Bezüge unabdingbar, das a) kulturelle, b) alltagspraktische, c) alltagspsychologische, d) literarische und e) historische Vorwissen der Rezipienten möglichst umfassend zu ergründen. Die narratologische Untersuchung ist auch hier auf die historische Arbeit der Exegese angewiesen. Umgekehrt machen die Überlegungen innerhalb der Narratologie dafür sensibel, dass die Faktoren, die die Wahrnehmung einer Figur steuern, wesentlich vielfältiger sind, als es die klassischen exegetischen Methodenschritte abzubilden vermögen.164 Mit der Feststellung, dass Figuren als Teil der erzählten Welt und somit als mentale Modelle im Bewusstsein der Rezipienten zu begreifen sind, ist der methodische Zugang umrissen, der in dieser Arbeit beschritten werden soll. Im Folgenden wird in dieser kognitiv-narratologischen Hinsicht darzustellen sein, wie sich literarische Figuren definieren lassen (vgl. 2.3.1), durch welche vielfältigen Merkmale sie gekennzeichnet sind (vgl. 2.3.2) und in welcher Relation sie zu anderen Figuren bzw. historischen Personen stehen (vgl. 2.3.3). 2.3.1 Was ist eine Figur? Bisher war im einleitenden Abschnitt zur Figurenanalyse ausschließlich von menschlichen Figuren die Rede. Die Tatsache, dass die Figurenrezeption in Analogie zur Wahrnehmung realer Personen erfolgt, sollte jedoch nicht dazu verleiten, den Figurenbegriff unnötig eng zu fassen und auf menschliche Personen zu reduzieren. Als Figur lassen sich vielmehr alle Entitäten einer Er-
164
Die stetige Weiterentwicklung und Ausdifferenzierung der exegetischen Methodik lässt erkennen, das dieses Defizit innerhalb der Exegese durchaus bemerkt wurde. So versuchen der Sozial- oder Motivgeschichtliche Ansatz gerade jene Aspekte „abzudecken“, die über eine Religionsgeschichtliche Betrachtung i.e.S. hinausreichen. M.E. wäre das Vorgehen aber gerade umzukehren. Es sollte zuerst auf systematischem Wege gefragt werden, über welche Wissensbestände die Rezipienten eines Textes verfügen müssen – hierauf geben kognitionswissenschaftliche Arbeiten eine Antwort – und erst dann, wie sich diese Wissensbestände historisch erschließen lassen. Vgl. zu dieser Kritik und zur Methode der Texterklärung ausführlich FINNERN/RÜGGEMEIER, Methoden, 132–134 (Exkurs: Texterklärung innerhalb der klassischen Exegese), 135–150 (Fragen stellen und Quellen finden) und 151–172 (Quellenauswahl und Interpretation).
2.3 Figurenanalyse: Der markinische Jesus als mentales Modell
53
zählung begreifen, denen die Rezipienten die Möglichkeit intentionalen Handelns zuschreiben können. Es reicht aus, „daß die Figur aufgrund ihrer Merkmale einer Klasse von Wesen zugeordnet wird, die im kulturellen Wissen als prinzipiell handlungsfähig angesehen wird.“ 165 Diese Definition des Figurenbegriffs umschließt Tiere und Fabelwesen ebenso wie transzendente Entitäten (Gott, Heiliger Geist, Engel, Satan usw.) oder auch personifizierte Gegenstände, Naturgewalten oder Ideen. So ist in der kurzen Versuchungserzählung 1,12–13 Jesus keineswegs die einzige Figur, sondern die markinische Versuchungserzählung lebt gerade von der Erwähnung des Heiligen Geistes, des Satans und der (wilden) Tiere sowie der dadurch gegebenen konfliktreichen Figurenkonstellation. Und auch in der Erzählung von der Sturmstillung (4,35–41) sind das Meer und der Sturm, die von Jesus bedroht und zum Schweigen gebracht werden, als Figuren zu betrachten und dies umso mehr als Menschen in der Antike hinter schädigenden Naturgewalten Chaosmächte am Werk sahen.166 Neben Einzelfiguren können zudem Figurengruppen auftreten, die ganz ähnlich wie einzelne Figuren – gewissermaßen als Kollektivfigur – agieren und als solche von den Rezipienten wahrgenommen werden.167 Aus der Mitte solcher Figurengruppen können dann freilich punktuell einzelne Figuren hervortreten und durch den Erzähler besonders profiliert werden. Umgekehrt ist häufig zu beobachten, dass im Rezeptionsprozess einzelne Figuren aufgrund gleicher Figurenmerkmale, einer stereotypen Darstellung und/oder ihrer gemeinsamen Relation zu anderen Figuren von den Rezipientinnen zu Figurengruppen zusammengefasst werden. In dieser Hinsicht ist es durchaus berechtigt in Bezug auf die markinische Gesamterzählung verallgemeinernd von den Autoritäten oder den Dämonen zu reden, obwohl beispielsweise für letztere ganz unterschiedliche Begrifflichkeiten (v.a. daimovnion, pneu`ma ajkavqarton, pneu`ma ajsqeneiva~) oder sogar Eigennamen (z.B. legiwvn) verwendet werden.168 Entscheidend ist hierbei aber wiederum, welche Bezüge die intendierten Rezipienten zwischen einzel165
JANNIDIS, Figur und Person, 120; vgl. auch EDER, Figur im Film, 63f. Vgl. hierzu äthHen 69,22; 60,16; 4Esr 6,41f.; Jub 2,2; Ps 74,13f.; 89,10ff.; Hi 26,12f.; Jes 27,1; 51,9. In der LXX steht das Scheltwort ejpitimavw (vgl. Mk 4,39) für die Übermacht Gottes über Feinde und unheilvolle Kräfte (Ps 9,6; 68,31; 106,9; 119,21). Mit SCHENKE, Literarische Eigenart, 137; SCHENKE, Wundererzählung, 55; GNILKA, Evangelium II/1, 195 u.a. 167 Vgl. POPLUTZ, Erzählte Welt, 131–135. 168 Dass diese divergierenden Termini auf unterschiedliche Traditionsstücke zurückzuführen sind, kann als unstrittig gelten. Für die eigentliche Interpretation ist dieser Sachverhalt jedoch nur dann von Relevanz, wenn den intendierten Rezipienten die Existenz älterer Traditionsstücke bewusst war, d.h. wenn diese z.B. eine Bekräftigung, Verfremdung, Ausschmückung oder Transponierung älterer Vorlagen erkennen konnten und sollten. 166
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2. Kapitel: Narratologische Zugänge zur markinischen Christologie
nen Figuren herstellen konnten und sollten und nicht, welche Zusammenfassungen sich im Zuge einer heutigen Darstellung anbieten bzw. schlichtweg etabliert haben. Die analytische Frage lautet an dieser Stelle: Welche Signale und Indizien finden sich im Text, die die Rezipienten aufgrund ihres Vorwissens dazu veranlassten, eine Referenz zwischen einer Figur und einer – bereits genannten oder dem eigenen Weltwissen entstammenden – Gruppe zuzuordnen?169 2.3.2 Figurenmerkmale und Identität Werden Figuren, wie einleitend beschrieben, als mentale Modelle verstanden, die von den Rezipienten einer Erzählung in Analogie zur Wahrnehmung realer Personen konstruiert werden, so ist in analytischer Hinsicht zu klären, welche unterschiedlichen Merkmale bei der Wahrnehmung von Figuren relevant sein können. Auf welche Merkmale achtet der Rezipient bei der Lektüre und welche Inferenzen zwischen Text und textexternem Vorwissen werden dabei jeweils wirksam? Und wie setzt sich aus den einzelnen Merkmalen das Gesamtbild bzw. die Identität einer Figur zusammen? Innerhalb der Erzählwissenschaft hat man sich lange Zeit einseitig auf die Charakterzüge, d.h. die psychischen Merkmale von Figuren (character traits) sowie das Verhalten, konzentriert.170 Tatsächlich lassen sich aber weitaus mehr Arten von Merkmalen nennen, die bei der Wahrnehmung von Figuren eine wichtige Funktion besitzen. Sönke Finnern, der im Zuge seiner Figurenanalyse das neuere Figurenmodell von Jens Eder sowie einige Figurenmerkmale, die von Marie-Laure Ryan im Zuge ihrer Possible Worlds Theory thematisiert werden (Wissen, Pflichten, Wünsche, Intentionen), zusammenführt und systematisiert, vermag im Ganzen zwölf Analysekategorien zu benennen. Ich möchte diese Zusammenstellung für die hier vorliegende Arbeit übernehmen, modifiziere sie allerdings an zwei Stellen: So erscheint es angemessener, die Identität nicht als ein Figurenmerkmal unter anderen zu begreifen, sondern umfassender als jenes mentale Modell, das sich im Rezeptionsprozess aus der Präsentation der diversen Merkmale, deren Kombination
169
Ähnlich bereits POPLUTZ, Erzählte Welt, 135, bei der allerdings die Bedeutung des textexternen Wissens unterbestimmt bleibt: „Welche Signale und Indizien weist der Text auf, die die Leserin und den Leser dazu veranlassen, eine Benennung als Referenz auf eine bereits genannte Figurengruppe zu identifizieren [...]“ (Hervorhebung J.R.). 170 Einflussreich war hier v.a. CHATMAN, Story, 120–123, dessen Figurenanalyse gerade in der Markusforschung vielfach aufgegriffen wurde: vgl. z.B. NALUPARAYIL, Identity, 518–521. Zur Kritik an dieser einseitigen Konzentration vgl. JANNIDIS, Figur und Person, 160–163; FINNERN, Narratologie, 133.
2.3 Figurenanalyse: Der markinische Jesus als mentales Modell
55
sowie dem Vorwissen der Rezipienten ergibt.171 Daher werden an dieser Stelle zunächst die elf übrigen Merkmale vorgestellt und der Aspekt der Identität, der für die markinische Christologie zweifelsohne von zentraler Bedeutung ist, im Anschluss daran thematisiert. Zweitens sind Figuren nicht nur in einem sozialen Kontext eingebettet, wie es die Auflistung Finnerns suggerieren könnte,172 sondern umfassender in einen politischen, topografischen, architektonischen, zeitlichen und soziokulturellen Raum. All diese Faktoren wirken sich auf die Wahrnehmung der Figur aus, sodass der Zusammenhang von Raum und Figur an dieser Stelle etwas ausführlicher dargestellt werden soll. Aufgrund dieser beiden Modifizierungen ergibt sich folgende Liste an Figurenmerkmalen: (1) Charakter:
Welche Charaktereigenschaften soll der Rezipient der Figur zuschreiben? (2) Standpunkt: Welche Werte, Normen und Meinungen soll der Rezipient bei der Figur annehmen? (3) Wahrnehmung: Welche sinnlichen Wahrnehmungen soll der Rezipient der Figur zuschreiben? (4) Gefühle: Welche Gefühle soll der Rezipient der Figur zuschreiben? (5) Verhalten: Welches Verhalten soll der Rezipient erschließen und von der Figur erwarten? (6) Äußeres: Welche äußerlich sichtbaren Attribute soll der Rezipient der Figur zuschreiben? (7) Raum: In welchem räumlichen, zeitlichen, religiösen und soziokulturellen Umfeld soll der Rezipient die Figur verorten und was soll er aus dieser Verortung indirekt erschließen? (8) Wissen: Welches Wissen soll der Rezipient bei der Figur voraussetzen? (9) Pflichten: Welche eigenen Pflichten oder äußeren Verpflichtungen soll der Rezipient bei der Figur annehmen? (10) Wünsche: Welche grundlegenden Wünsche soll der Rezipient bei der Figur vermuten? (11) Motivation: Auf welche Motivationen soll der Rezipient bei einer konkreten Handlung der Figur schließen?
(1) Charakter: Der Blick in das Innere von Figuren und die Auseinandersetzung mit ihrer Persönlichkeit machen einen wesentlichen Reiz des Lesens, Zuhörens und Erzählens aus. Allerdings werden in Erzählungen nur selten
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Finnern weist bereits darauf hin, dass die sozialen Rollen, der Name, die Charakterzüge und Verhaltensweisen zur Identität „beitragen“ (FINNERN, Narratologie, 134). Vgl. zu den hier genannten elf Merkmalen nun auch FINNERN/RÜGGEMEIER, Methoden, 198–203. 172 Finnern geht auf das Verhältnis von Raum und Figur in seinem Kapitel zur Raumanalyse ein (FINNERN, Narratologie, 78–86), wo er etwa auf die handlungsbeschränkende Funktion des Raums und auf den Zusammenhang zwischen der Gestimmtheit und den Charakterzügen hinweist. Umso mehr verwundert es, dass er diese Aspekte im Zuge der Figurenanalyse unberücksichtigt lässt.
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2. Kapitel: Narratologische Zugänge zur markinischen Christologie
direkte Hinweise auf die Charaktermerkmale einer Figur gegeben.173 Vielmehr muss sich der Rezipient diese Charakterzüge oft über den Rezeptionsprozess hinweg erschließen und dabei auf sein kulturell geprägtes Vorwissen zurückgreifen. Die Erschließung des Charakters verläuft dabei – wie bereits geschildert – in Analogie zur Wahrnehmung realer Personen. Die Auslegungspraxis sieht jedoch nicht selten so aus, dass Interpreten lediglich alle explizit geäußerten Charaktermerkmale zusammentragen, d.h. in der Exegese durch Bibelstellen belegen, oder aber den Charakter durch ihre jeweils eigene intuitive Alltagspsychologie erschließen. Gerade bei der Analyse historischer Erzählungen ist eine intuitive Zuschreibung jedoch problematisch und sogar irreführend, da hierdurch heutige Verständnisse in den Text eingetragen bzw. den intendierten Rezipienten unterstellt werden.174 Aus demselben Grund sind auch jene Ansätze kritisch zu hinterfragen, die sich bei der Erklärung von Charaktereigenschaften auf heutige psychologische Theorien (z.B. die Psychoanalyse) oder eine reflektierte Alltagspsychologie stützen. Der bisherige methodische Zugang lässt sich verfeinern, wenn jene Merkmale benannt und in der Analyse berücksichtigt werden, über die sich der Charakter indirekt erschließen lässt. Hier zeigt sich, dass es v.a. das Verhalten175 und die Figurenrede (Themen, Sprachstil) aber auch äußerliche Attribute (z.B. verwahrloste Kleidung) sind, die solche Rückschlüsse auf Charakterzüge erlauben. In antiken Erzählungen kann darüber hinaus die soziokultu-
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Nicht zuletzt deshalb gehört die Analyse der Figurenpsyche zu einem der „kontroversesten Felder“ innerhalb der Narratologie (vgl. EDER, Figur im Film, 282). 174 EDER, Figur im Film, 282–297, nennt und beschreibt neben der intuitiven Analyse drei prinzipielle Analyseansätze bzw. -möglichkeiten: (1) Wissenschaftliche Rekonstruktionen der gegenwärtigen Alltagspsychologie; (2) Zeit- und kulturspezifische Konzepte (sowohl alltagspsychologischer als auch theoretischer Art); (3) Anwendung heutiger psychologischer Theorien. Für die Exegese sollte die Rekonstruktion der zeitgeschichtlichen und kulturellen Verständnisse Priorität besitzen. Optionen (1) und (3) können helfen, die historisch rekonstruierten Charaktermerkmale sowie deren Beurteilung durch die Rezipienten zu klassifizieren. Ähnlich bereits FINNERN, Narratologie, 135f. (hier der Verweis auf Eder). 175 Jens Eder weist darauf hin, dass Rückschlüsse auf einzelne Charakterzüge dann durch Handlungen stimuliert werden, „wenn sie ohne Zwang stattfinden, eindeutig interpretierbar sind und von Standarderwartungen abweichen [...]. Eigenschaftszuschreibungen [legen] sich dann nahe, wenn ähnliches Verhalten bei verschiedenen Auslösern auftritt (niedrige Distinktheit), sich in verschiedenen Umständen wiederholt (hohe Konsistenz) und wenn Andere sich in vergleichbaren Situationen anders verhalten (niedriger Konsens)“ (EDER, Figur im Film, 217). Hier ist bereits vorausgesetzt, dass die Zuschreibung von Charaktereigenschaften (1) weniger situativ und eher prozesshaft, d.h. über den Rezeptionsprozess hinweg erfolgt und (2) auf das Vorwissen der Rezipienten zurückgreift (z.B. „Standarderwartung“).
2.3 Figurenanalyse: Der markinische Jesus als mentales Modell
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relle oder räumliche Verortung einen wichtigen Anhaltspunkt bieten, weil hier ethnische Stereotypen weit verbreitet waren (s.u.). Sowohl bei der Erklärung expliziter Charaktermerkmale als auch bei der Erschließung indirekter Charakterzuschreibungen ist man dann zwangsläufig auf die Rekonstruktion des historischen Vorwissens der Rezipienten angewiesen.176 Auch hier ist die narratologische Analyse von den Ergebnissen der Exegese abhängig. Eine reflektierte Alltagspsychologie sowie psychologische Theorien und Beschreibungskategorien haben ausschließlich dort ihre Berechtigung, wo sie historisch rekonstruierte Charaktermerkmale heutigen Lesern verständlich machen und in dieser Hinsicht eine hilfreiche Klassifikation ermöglichen. Es muss also hinreichend zwischen der inhaltlichen Erschließung einer Charaktereigenschaft, die durch historische Rekonstruktion erfolgt, und einer nachträglichen Systematisierung unterschieden werden.177 (2) Standpunkt178: Auch der Standpunkt einer Figur lässt sich nicht allein auf der Grundlage expliziter Äußerungen oder eines Erzählerkommentars erheben. Häufig ist es das Verhalten einer Figur, das indirekt Aufschluss über deren Meinung und deren Einstellung gibt. Vielfach fußen die Meinungen und Einstellungen neutestamentlicher Figuren auf Weltanschauungen, die den Rezipienten bereits bekannt sind. Dieses Wissen der Rezipienten sowie ihr eigener textextern begründeter Standpunkt sorgen dafür, dass sie sich gegenüber einzelnen Figuren positionieren und eine Sympathie oder Antipathie entwickeln. Die Rezipienten stehen den Ansichten einer Figur nie neutral gegenüber, sondern ihr Standpunkt ist letztlich in die Analyse mit einzubeziehen. (3) Wahrnehmung: Die Frage, was Figuren in einer Erzählung mit ihren Sinnen wahrnehmen (oder auch nicht), wird in den exegetischen Kommentaren bereits überraschend häufig diskutiert. Hierbei sind scheinbar gerade jene Textstellen von Interesse, an denen das Erleben lediglich indirekt zu erschließen ist: Sieht Johannes bei der Taufe, wie sich vor Jesu Augen die
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Ähnlich bereits BERGER, Historische Psychologie, 17; BERGER, Exegese und Philosophie, 187: „Eine Kontinuität anthropologischen Selbstverständnisses sehe ich als nicht gegeben an.“ So auch JANOWSKI, Der Mensch, 145. 177 So bereits FINNERN, Narratologie, 136: „Wenn eine Persönlichkeitstheorie auf verschiedene Erzählungen anwendbar sein soll, ist es wichtig, dass die Charakterzüge nur nach Kategorien geordnet, die konkreten Beschreibungsbegriffe und Erklärungsmuster aber nicht von der Theorie vorgegeben werden.“ 178 Die Analyse des Standpunkts überschneidet sich in vielerlei Hinsicht mit der oben ausführlich dargestellten Bestimmung des Perspektiveninhalts (vgl. 2.2.3) und kann deshalb hier etwas kürzer vorgestellt werden.
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2. Kapitel: Narratologische Zugänge zur markinischen Christologie
Himmel spalten und der Geist herab kommt (1,11a)?179 Hört er ebenfalls die Stimme Gottes (1,11b)? Hören die Jünger in 8,14–16 den Zwischenruf ihres Herrn?180 Verrät Jesu Frage in 10,51, dass er die vorherigen Bitten des Bettlers überhört hat (10,47b.48b) oder ihm dessen Blindheit gar entgangen ist?181 Solche und ähnliche Textstellen werden in den Kommentaren häufig – und nicht selten kontrovers – diskutiert. Auch durch eine methodische Klärung werden solch disparate Auslegungen nicht zu vermeiden sein, aber eine solche Klärung kann einen Beitrag dazu leisten, dass die Urteile nicht weitgehend intuitiv, sondern auf der Grundlage einer expliziten Methodik erfolgen. M.E. bietet sich zur Erschließung der Figurenwahrnehmung folgendes Vorgehen an: Oftmals ist im Vorfeld zu überprüfen, ob der Autor überhaupt beabsichtigt hat, dass die intendierten Rezipientinnen das Erleben einer bestimmten Figur erschließen sollen. So ist das Figurenerleben für einen Rezipienten meist nur dann von Interesse, wenn er zu einer Figur zuvor Empathie aufbauen konnte oder die Erlebnisse einer Figur ihn existentiell betreffen.182 Durch diese Einschränkung rückt in den Blick, dass unter den oben skizzierten Fragestellungen die ersten beiden schlichtweg irrelevant sind und vom Autor vermutlich gar nicht bedacht wurden. Der Autor des Markusevangeliums hatte höchstwahrscheinlich kein Interesse am Erleben des Täufers sondern will vielmehr, dass sich der Rezipient ganz auf das Erleben Jesu und das Verhältnis zwischen Gott und Jesus konzentriert.183 Diese wichtige Einschränkung bedeutet freilich nicht, dass jeder indirekte Rückschluss auf das Erleben einer Figur irrelevant wäre. Tatsächlich gibt es 179
Vgl. SCHENKE, Literarische Eigenart, 53: „Ausdrücklich sagt hier der Erzähler, dass Jesus – gemeint ist: nur Jesus! – die folgenden Geschehnisse sah. Nicht einmal Johannes war ihr Zeuge!“ Ähnlich ROSE, Theologie, 147f.; VAN IERSEL, Markus, 90. 180 Vgl. DSCHULNIGG, Markusevangelium, 223: „Die Jünger scheinen die eindringliche Warnung Jesu zu überhören oder falsch zu verstehen.“ 181 Vgl. PESCH, Markusevangelium II/2, 173, der die Frage auf das mangelnde Wissen Jesu zurückführt. Anders ECKSTEIN, Glaube und Sehen, 90f., der V.51 als stilgemäßes Element einer herrschaftlichen Audienz (vgl. dazu BERGER, Formgeschichte, 313–315 u. BERGER, Einführung, 76–84.149f.224) begreift und damit – narratologisch betrachtet – eine extradiegetische Motivation erkennt. 182 Folgende Faktoren ermöglichen einen Aufbau von Empathie: (1) Hohe Innensicht in die Figur; (2) die Figur ist Wahrnehmungszentrum; (3) geringe sprachliche Distanz (z.B. überwiegend Wiedergabe wörtlicher Rede); (4) häufige Erzählerkommentare bzw. Kommentare durch andere Figuren; (5) häufige Präsenz der Figur bzw. der Figurengruppe (z.B. Kranke); (6) große Bedeutung der Figur für die Handlung; (7) Komplexität der Figurenmerkmale; (8) Erlebnisse der Figur betreffen Rezipienten existentiell. Vgl. zu den Voraussetzungen und zur Entstehung von Empathie v.a. KEEN, Empathy; BARTHEL, Empathie, und FINNERN, Narratologie, 193–195. 183 Das Interesse der meisten Kommentatoren an der Wahrnehmung des Täufers entsteht vermutlich erst aus dem Vergleich mit den synoptischen Parallelen. Allerdings sollte eine solche Eintragung möglichst vermieden werden.
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in Erzählungen nicht selten Textstellen, an denen der Rezipient die Wahrnehmung einzelner Figuren erschließen kann und sogar muss, um die weitere Erzählung zu verstehen. Soll der Rezipient Rückschlüsse auf das Figurenerleben ziehen, so gilt es in einem zweiten Schritt auf a) die Situationsschilderung (z.B. Ist die Sinneswahrnehmung aufgrund äußerer Faktoren eingeschränkt?) und b) den im bisherigen Erzählverlauf entstandenen und/oder auf textexternem Wissen basierenden Charaktereindruck von einer Figur zu achten, z.B. wurde die Figur bisher als besonders aufmerksam beschrieben? Nicht selten kann das Thema der Wahrnehmung eine wichtige Nebenhandlung in Erzählungen darstellen und etwa der Spannungssteigerung dienen. Im Markusevangelium müssen sich die intendierten Rezipienten über den Verlauf der Erzählung hinweg immer wieder fragen, ob die Jünger einen Sachverhalt erlebt haben oder nicht. Allerdings liegt hier ein gewisser Sonderfall des Figurenerlebens vor, insofern die Jünger nicht nur vordergründig Dinge überhören und übersehen, sondern v.a. für die Gegenwart Gottes und die angebrochene basileiva tou` qeou` „blind“ und „taub“ sind. Auch für sie gilt letztlich, so der sich stetig verstärkende Eindruck im Rezeptionsprozess, dass sie „mit sehenden Augen sehen und doch nicht erkennen, und mit hörenden Ohren hören und doch nicht verstehen“ (4,12). Im starken Kontrast hierzu steht das Erleben Jesu, der weit über die Möglichkeiten menschlicher Sinneswahrnehmung hinaus sogar Gedanken hören (z.B. 2,8), inmitten der Nacht sehen (6,48) oder eigene Heilungskräfte fühlen kann (5,30). (4) Gefühle:184 Ähnlich wie bei der Zuschreibung langfristiger Charaktereigenschaften verläuft auch die Analyse situationsbezogener Gefühle innerhalb der Exegese noch meist intuitiv oder konzentriert sich ausschließlich auf die wenigen expliziten Nennungen.185 Das Verstehen von Gefühlen lässt sich jedoch präziser als eine „emotionale Perspektivenübernahme“186 begreifen, bei der sich der Rezipient in die Lage der Figur hineinversetzt und aufgrund eigener Wirklichkeitserfahrungen das Ergehen einer Figur nachempfindet. Rückschlüsse auf die Gefühle vermag der Rezipient vor allem aus den geäußerten Meinungen, dem Verhalten, der räumlichen Verortung und den Pflichten, Wünschen und Bedürfnissen sowie deren Erfüllung/Nicht-Erfüllung zu ziehen. Auch Aussagen zur Mimik, Gestik und Körperhaltung sowie weiteren 184
Vgl. hierzu WINKO, Codierte Gefühle; VON GEMÜNDEN, Affekt und Glaube; VON GEMÜNDEN., Methodische Überlegungen, 41–68; INSELMANN, Freude sowie FINNERN, Narratologie, 137f. 185 Vgl. geradezu paradigmatisch VOORWINDE, Jesus’ Emotions, 3: „When it comes to the emotions of Jesus we will need to restrict the discussion to the Gospel writer’s explicit and clear references to his feelings. Otherwise we run the very real risk of reading our own emotions into the text.“ 186 SILBEREISEN/AHNERT, Soziale Kognition, 598.
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2. Kapitel: Narratologische Zugänge zur markinischen Christologie
Aspekten des Äußeren, sofern diese in Erzählungen expliziert werden oder indirekt zu erschließen sind (z.B. Lk 24,13–28a; explizit: V.17b), können beim Nachvollziehen von Gefühlen hilfreich sein.187 (5) Verhalten: Figuren werden durch ihr jeweiliges Verhalten innerhalb einer Szene oder einer Episode (einmaliges Verhalten) sowie ihre Verhaltensweisen (habitualisiertes Verhalten) in bedeutender Weise charakterisiert.188 Der Rezipient achtet jedoch nicht allein auf das eigentliche Verhalten, sondern er versucht dieses zugleich auf der Grundlage der beschriebenen Situation (Kausalgeschichte, Ursachen) sowie diverser figurenbezogener Faktoren (Pflichten, Bedürfnisse, Intentionen) zu ergründen. Zudem wird das Verhalten einer Figur vom Rezipienten auf der Grundlage seiner eigenen Weltanschauung sowie seines Werte- und Normensystems beurteilt. Diese Beurteilung kann bereits durch einzelne Faktoren – wie das Geschlecht oder das Alter einer Figur – beeinflusst werden.189 So erscheint die Flucht der Jünger in Gethsemane (14,50) an sich schon feige und unmännlich,190 wirkt aber durch den Tatbestand, dass die Frauen ihrem Herrn bis zum Kreuz nachfolgen, umso intensiver. Auch räumliche, zeitliche oder soziokulturelle Aspekte können in die Verhaltensbeurteilung einfließen. So macht es aus der Perspektive der Rezipienten ganz offensichtlich einen Unterschied, ob Jesus in einer Synagoge am Sabbat Dämonen austreibt oder an einem anderen Ort oder sogar zu einem anderen Zeitpunkt. Und es macht auch einen Unterschied, ob der Synagogenvorsteher Jaïrus (5,21ff.) oder der am Wegesrand sitzende Bartimäus (10,46–52) Jesus um Hilfe bitten. Dass Ersterer von der umstehende Menge zur Seite geschoben würde, ist völlig undenkbar. Letztlich versucht der Rezipient anhand von Charakterzügen, habitualisierten Verhaltensweisen usw. das weitere Verhalten einer Figur zu antizipieren 187
Vgl. VON GEMÜNDEN, Affekt und Glaube, 14, die darauf hinweist, dass auch solche äußeren Ausdrucksweisen kulturell variabel sind. EDER, Figur im Film, 259 differenziert hingegen zwischen interkulturell konstanten „Basis- oder Primäremotionen“ – wie Freude, Trauer oder Wut – und kultur- bzw. zeitspezifischen Ausdrucksformen. Wichtig ist auch der Hinweis von Dyer, dass solche Ausdrucksweisen ihrerseits literarischen Konventionen unterliegen können (vgl. DYER, Stars, 15). Ein Beispiel hierfür wäre der in heutigen Filmen und Erzählungen vielfach beschriebene Griff zum Alkohol als Ausdruck innerer Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Problematisch ist dies, insofern hierdurch eine stereotype Verhaltensweise vermittelt und damit indirekt legitimiert wird; eine nicht-intendierte ethische Wirkung. 188 Vgl. RIMMON-KENAN, Narrative Fiction, 61; EDER, Figur im Film, 270. 189 Vgl. EDER, Figur im Film, 270. 190 Die Flucht und in besonderer Weise das Im-Stich-Lassen eines Freundes in der Not galten in der Antike häufig als Ausdruck von Unmännlichkeit und Feigheit. Vgl. in diesem Kontext den expliziten Schwur des Petrus und der Jünger (14,31): eja;n devhæ me sunapoqanei`n soi [...] wJsauvtw~ de; kai; pavnte~ e[legon.
2.3 Figurenanalyse: Der markinische Jesus als mentales Modell
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und die Konsequenzen eines Verhaltens abzuschätzen. Der Autor des Markusevangeliums spielt gelegentlich mit solchen Erwartungen seiner intendierten Rezipienten und vermag diese mit überraschenden Verhaltensweisen zu konfrontieren: Hierher gehört z.B. der völlig singuläre Hinweis auf die Nachfolge eines Geheilten in 10,52.191 (6) äußere Attribute: Bei der Analyse des Figurenäußeren ist nicht nur nach dem Aussehen einer Figur oder ihrer Bekleidung zu fragen, sondern ebenso nach dem Geschlecht, dem Alter und weiteren Attributen, die äußerlich sichtbar sind. Über die expliziten Schilderungen im Text (vgl. z.B. Mk 6,56) hinaus erschließt sich der Rezipient – häufig intuitiv – zahlreiche Äußerlichkeiten über sein Vorwissen (z.B. historisches Personenwissen, allgemeines Weltwissen). Er vermag zudem über die äußeren Attribute und deren kulturelle Konnotationen Rückschlüsse auf den sozialen Status,192 den Charakter oder die Gefühle einer Figur zu ziehen. Die Untersuchung des Äußeren ist letztlich auch hilfreich, um bei der Analyse Stereotypen oder transfigurelle Bezüge zu erkennen. (7) Raum:193 Die Figuren werden auch in vielfältiger Weise durch den Raum einer Erzählung charakterisiert und geprägt. So ermöglichen die einzelnen Räume einer Erzählung überhaupt erst, dass Figuren handeln können (Aktionsraum). Räume stellen beispielsweise Gegenstände zur Verfügung oder ermöglichen durch ihre bloße Existenz eine Bewegung von einem Raum bzw. Unterraum in den nächsten. Gleichzeitig stellen die Räume einer Erzählung immer auch eine Handlungsgrenze dar. So werden die Bewegungen der Figuren auf bestimmte Wegstrukturen bzw. durch topografische und architektonische Begebenheiten gelenkt und ihr Handeln ist an die Bedingungen des zeitlichen Settings sowie an eine zeitliche Abfolge gebunden. Der See von Galiläa grenzt die jüdischen Gebiete auf der westlichen Seite von den eher heidnischen Gebieten auf der östlichen Seite ab. 191 Vgl. dagegen das ausdrückliche Verwehren in 5,18f. sowie die exklusive Beauftragung des Zwölferkreises (3,14). An dieser Stelle wird zudem ersichtlich, dass bei einer weitgehend episodischen Erzählweise solche Überraschungsmomente nur dadurch möglich sind, dass der Rezipient im oben beschriebenen Sinne Einzelfiguren zu Figurengruppen (hier: die Geheilten) zusammenfasst. 192 Der soziale Status ist selber hingegen kein äußeres Attribut, sondern ergibt sich aus der soziokulturellen Verortung. Anders EISEN, Poetik, 135, die den sozialen Status unter den äußeren Attributen einer Figur auflistet. 193 Vgl. zum Zusammenhang von Raum und Subjektkonstitution auch HALLET/ NEUMANN, Raum und Bewegung, 11–32, hier v.a. 24–26; BOCK, Geographies of Identity, 281–298, sowie MALBON, Narrative Space; VAN ECK, Galilee and Jerusalem; RICHES, Identity Formation; MOXNES, Putting Jesus.
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2. Kapitel: Narratologische Zugänge zur markinischen Christologie
Nach Jurij Lotman lässt sich das Ereignis einer Handlung gerade als Überschreitung solcher Grenzen begreifen, wobei Lotman in einem sehr weiten Sinne von der „Versetzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes“194 spricht. Auch die Überschreitung soziokultureller, politischer oder familiärer Grenzen ist dieser Definition nach also ein Ereignis. Solche Ereignisse lassen sich nach Lotman dann wiederum danach klassifizieren, ob die Überwindung einer Grenze erfolgreich ist und eine bleibende Wirkung hat (revolutionäre Grenzüberschreitung) oder ob diese Überschreitung wieder rückgängig gemacht wird bzw. von vornherein scheitert (restitutive Grenzüberschreitung).195 Karl Nikolaus Renner hat Lotmans Raumsemantik noch einmal durch die sog. Extrempunktregel präzisiert. Er hebt dabei hervor, dass Räume auch über eine Binnenstruktur verfügen. So bewegen sich Figuren häufig auf die Extrempunkte zu (z.B. den Gipfel eines Berges). Solche Extrempunkte sind allerdings nicht immer durch die Topografie bzw. Architektur eines Raumes vorgegeben, sondern können ihrerseits durch kulturelle Gewohnheiten (z.B. alltägliche oder religiöse Nutzung eines Raums) geprägt sein oder werden sogar erst im Rezeptionsprozess durch die Anwesenheit handlungsrelevanter Figuren erzeugt. So bilden in 6,19–29 die ranghohen Gäste an der Tafel des Königs den Extrempunkt, auf den sich die Tochter der Herodias hinzubewegt. In 16,1–8 ist die Grabstelle Jesu der Extrempunkt, weil diesem – und nicht etwa der linken Seite des Grabes – die besondere Aufmerksamkeit der Figuren (und indirekt der Rezipienten) gilt. Über ihr Handeln hinaus werden die Figuren in vielfacher Weise durch das soziokulturelle Setting geprägt. So lassen sie sich meist einem explizit erwähnten oder implizit vorausgesetzten Umfeld zuordnen, das politischer, religiöser, ethnischer oder ökonomischer Natur sein kann. Besondere Bedeutung besitzt in der Antike die Herkunft einer Figur, aus der nicht selten bestimmte Verhaltensweisen bzw. feste Charakterzüge abgeleitet wurden.196 Dass Petrus in 14,70 als Galiläer identifiziert wird, sagt zweifelsohne mehr über ihn aus, als es die geografische Zuordnung aus heutiger Sicht vermuten
194
LOTMAN, Struktur, 332. Vgl. dazu MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Einführung, 156–160; HAUSCHILD, Lotmans Ereignisbegriff, 141–186; EISEN, Boundary Transgression, 155– 158; EISEN, Poetik, 127–131. 195 Vgl. zum Begriffspaar der revolutionären und restitutiven Grenzüberschreitung MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Einführung, 156–160. Bei Lotman selber finden sich diese Begriffe noch nicht. 196 Der Altertumswissenschaftler Greg Woolf spricht bildhaft von einer „ethnographycum-geography“ (WOOLF, G., „Saving the Barbarian“, 255–271, hier: 256). Prominente Beispiele für solche Charakterzuschreibungen finden sich etwa bei Strabo geogr. 1,2,28; Pomponius Mela De chorographia 1,1; Caes. Gall. 1,1,2–1,7.
2.3 Figurenanalyse: Der markinische Jesus als mentales Modell
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lässt.197 Auch eine explizite oder implizite Berufsbezeichnung (z.B. Handwerker), ein Titel, die Erwähnung eines Verwandtschaftsverhältnisses (z.B. Sohn der Maria) oder der Name einer Figur (z.B. Bar-Timäus) können Auskunft über dessen soziokulturelle Verortung geben. Letztlich tragen auch die Gestimmtheit oder Symbolik eines Raums, die wiederum durch das kulturelle Verständnis einer Epoche vorgeprägt sind, zur Wahrnehmung einer Figur bei. Möglich ist etwa, dass eine Landschaft gewissermaßen das Spiegelbild eines inneren Gemütszustands darstellt oder sich eine Figur gerade im Kontrast zur äußeren Szenerie verhält. In 1,12f. korrespondiert die Erwähnung der Wüste mit dem Ereignis der Versuchung und der Erfahrung der Gottesferne. Im folgenden Erzählverlauf kann sich Jesus aber gerade in die Einöde zurückziehen, um vor den Menschen zu fliehen und Gott im Gebet zu begegnen (1,35). Zudem fällt auf, dass im Markusevangelium Situationen der Bedrohung oft auf den Abend oder in die Nacht fallen (z.B. 4,35–41; 6,30–44; 6,45–52; 13,24; 14,32–42; 14,53–62; 14,66–72).198 In der Markusexegese lässt sich bisweilen geradezu eine Überstrapazierung solch symbolischer Sinngehalte feststellen.199 Über die einzelnen Räume hinaus ist für die Analyse zudem bedeutsam, in welches Verhältnis sich eine Figur zur erzählten Welt setzen lässt oder wie durch die Bewegungen einzelner Figuren das Bild dieser erzählten Welt erzeugt wird. In 3,7 geraten durch den dort erwähnten Pilgerstrom erstmals zahlreiche Gebiete in den Blick, die den bisherigen Schauplatz am See von Galiläa überschreiten. Zugleich führt die beschriebene Bewegung dazu, dass Galiläa als Grenzland wahrgenommen und Jesu überregionale Prominenz unterstrichen wird: Die Kunde von ihm hat mittlerweile Kapernaum (1,33), ganz Galiläa (1,39) und auch die angrenzenden Gebiete erreicht. Jesus wiederum wird sich als der erweisen, der nicht nur am jüdischen Westufer, sondern auch in der heidnischen Dekapolis sowie in Tyros Wunder wirkt und dort jeweils auf einen beispielhaften Glauben stößt. 197
Vgl. zu gesellschaftlichen Vorurteilen gegenüber Galiläern Joh 1,46; 7,52 sowie die Belege aus der späteren rabbinischen Literatur: z.B. jSchab 15d (Thoraverachtung); jKet 29b (Freiheitsliebe; ähnlich Jos. Bell. 3,4); bEr 53b (Sprache). Umstritten ist hingegen, ob die Episode von der Verleugnung (vgl. Mt 26,73: „denn Deine Sprache verrät Dich“) auf sprachliche Differenzen zwischen einem galiläischen und einem südpalästinischjudäischem Aramäisch anspielt (so JEREMIAS, Theologie, 15f.; dagegen FITZMYER, Jesus’ Sayings, 86). 198 Ähnlich bereits FRITZEN, Gott, 77–81. 199 Eine Extremposition bezieht BEDENBENDER, Orte, der – zumeist auf der Grundlage hebräischer und aramäischer Rückübersetzungen – ein symbolisches Verständnis sämtlicher Ortsbezeichnungen im Markusevangelium behauptet und dies vor dem Hintergrund eines Exilerlebens plausibel machen will: „Die Namen der Orte im M[ar]k[us]Ev[angelium] dienen als Refugien für die Fragmente des Sinns, der zerbrach, als der Ort des NAMENS verschwand“ (BENDENBENDER, Orte, 54).
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2. Kapitel: Narratologische Zugänge zur markinischen Christologie
Umgekehrt erschließt sich den Rezipienten der erzählte Raum nicht nur durch ihr Vorwissen oder die Hinweise des Erzählers (auktorial-erzählter Raum), sondern vor allem durch die Raumwahrnehmung der Figuren (figural fokalisierter Raum200), durch die Bewegungen, die diese im erzählten Raum vornehmen oder durch ihre bloße Nennung. So wird in 6,14–29 allein durch die Anwesenheit des Herodes und der tanzenden Tochter sowie das Bankett mit den Großen (megista`ne~), Obersten (cilivarcoi) und Ersten (prw`toi) Galiläas (V.21) der umfassende Schauplatz eines repräsentativen Palastes evoziert, ohne dass dieser innerhalb der Episode ein einziges Mal explizit erwähnt würde. (8) Wissen: Was eine Figur weiß oder nicht weiß, erschließt sich der Rezipient einer Erzählung nicht allein auf der Grundlage der Figurenrede und der expliziten Erzählerkommentare. Vielmehr ziehen die Leser bzw. Hörer auch aus dem Verhalten einer Figur sowie dem bisherigen Erzählverlauf ihre Rückschlüsse. Wird in 3,7 davon berichtet, dass Jesus mit seinen Jüngern an das Galiläische Meer „entwich“ (ajnacwrevw), so erschließt sich der Rezipient, dass Jesus von den Mordabsichten der Pharisäer und Herodianer weiß (3,6). Nicht nur der kausale Zusammenhang des Erzählverlaufs, sondern auch die zuvor berichtete Fähigkeit Jesu, die Gedanken seiner Gegner zu kennen, machen dies wahrscheinlich. Im weiteren Verlauf der Erzählung wird dieses Wissen um die Mordpläne dann expliziert und zugleich theologisch gedeutet: Jesus weiß, dass seine Gegner – ohne es ihrerseits zu wissen – Unterstützer eines göttlichen Heilsplans sind, der sich erfüllen muss (vgl. 8,31; 9,31; 10,33). Zudem rechnet der Rezipient damit, dass er bei Figuren das allgemeine Weltwissen seiner Zeit und Kultur voraussetzen kann. In dieser Hinsicht überrascht es, dass die Jünger mit ihrer Frage in 9,10 („Was ist das: ‚Von den Toten auferstehen‘?“) ein Unverständnis gegenüber der Auferstehung offenbaren.201 Die allgemeine Auferstehung der Toten stellt im zeitgenössischen Judentum zweifelsohne einen weithin bekannten Topos dar202 – ein Tatbestand, der im Markusevangelium sogar explizit aufgegriffen wird (12,18–27) und der erkennen lässt, dass die Frage der Jünger spezifischer auf Jesu Auferstehung zu beziehen ist. (9) Pflichten: Die Figuren einer Erzählung unterliegen vielschichtigen Pflichten oder sogar einer komplexen Pflichtenkonstellation. Solche Obliegenheiten können sich aus der sozialen Herkunft der Figur ableiten oder aufgrund von Werten und Normen der erzählten Welt bestehen. Außerdem kann eine Figur 200 201 202
NEUMANN/NÜNNING, Introduction, 61. Vgl. hierzu ausführlich Kap. 4.2.2 d) Die Perspektive der Jünger. Vgl. die Belege in Kap. 4.2.2 d).
2.3 Figurenanalyse: Der markinische Jesus als mentales Modell
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eigenen Selbstverpflichtungen bzw. eigenen Idealen folgen oder auch in einem individuellen Abhängigkeitsverhältnis zu anderen Figuren stehen. In 6,21–29 verpflichtet sich Herodes gegenüber der Tochter der Herodias und fühlt sich zugleich aus einem Ehrgefühl heraus seinen Tischgenossen verpflichtet. Er will sein Wort halten. Dieses Pflichtgefühl beeinflusst Herodes und führt zur Hinrichtung des Täufers. Damit verstößt Herodes gleichzeitig gegen die Werte und Normen der Gesellschaft sowie der erzählten Welt. Er lässt Johannes, ungerechtfertigter Weise und obwohl er ihm persönlich gerne zuhört (V.20), hinrichten. Der Umgang mit verschiedenen Verpflichtungen beeinflusst wiederum ganz wesentlich die Beurteilung einer Figur durch die Rezipienten. So erscheint Herodes als schwacher Herrscher, der nicht seinem eigenen Willen und Rechtsempfinden folgt, sondern sich in einem Abhängigkeitsverhältnis zu Herodias befindet. (10) Wünsche/Bedürfnisse: Figuren unterliegen aber nicht nur Pflichten, sondern sie haben auch Wünsche und Bedürfnisse. Hierzu zählen allgemeine menschliche Bedürfnisse (z.B. Hunger), die nicht explizit erwähnt werden müssen und individuelle Wünsche einer Figur.203 Solche Wünsche und Bedürfnisse können zu einer konkreten Motivation werden und ein bestimmtes Verhalten beeinflussen, müssen dies aber nicht zwangsläufig tun. So kann eine Figur Wünsche und Bedürfnisse durchaus situativ zurückstellen. Es ist also in jedem Fall zwischen der konkreten Motivation (s. 11) und den allgemeinen Wünschen und Bedürfnissen zu differenzieren. In vielen Heilungsberichten des Markusevangeliums wird das Bedürfnis der Menschen nach Heilung und körperlicher Unversehrtheit vorausgesetzt und muss nicht eigens thematisiert werden. In 10,17–27 ist der reiche Jüngling nicht bereit seinen persönlichen Wunsch nach materiellem Wohlstand der Nachfolge Jesu unterzuordnen, während Josef von Arimathäa es trotz seiner angesehenen Position wagt, bei Pilatus vorzusprechen und um den Leichnam Jesu zu bitten (15,42–47). (11) Motivationen: Während Bedürfnisse von Figuren zurückgestellt werden können, geht es bei der Analyse der Motivationen darum, die konkreten Motive hinter einer Handlung zu erschließen. Was treibt die Figuren zu einer Aktion an? Um dies zu ergründen, kann der Rezipient sowohl auf seine Alltagspsychologie (Ursachen einer Handlung) als auch auf weitere Alltags203
Im Hinblick auf neutestamentliche Erzählungen wäre wiederum zu rekonstruieren, welche Bedürfnisse und Wünsche aus Sicht antiker Menschen dringlich erschienen und in Erzählungen artikuliert bzw. in bildlichen Darstellungen festgehalten werden. Finnern schlägt vor, die menschlichen Bedürfnisse nach der Maslowschen Bedürfnispyramide zu klassifizieren (FINNERN, Narratologie, 139f.). Auch hier kann es freilich nur darum gehen, die zuvor historisch rekonstruierten Bedürfnisse nachträglich zu systematisieren.
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2. Kapitel: Narratologische Zugänge zur markinischen Christologie
theorien, wie eine Alltagsphysik, Alltagsgeografie oder Alltagsbiologie (ermöglichende Faktoren einer Handlung), zurückgreifen.204 Zudem bezieht der Rezipient die Informationen des bisherigen Erzählverlaufs bzw. der kausal zusammenhängenden Ereignisse (Kausalgeschichte205) in seinen Überlegungen ein. Durch eine Adaption von Bertram Malles206 Modell alltagspsychologischer Motivationen lässt sich das konkrete Zusammenspiel dieser Faktoren wie folgt veranschaulichen (Abb. 2.7). Ursachen
Vorgeschichte
Intention
Verhalten
Ermöglichungsfaktoren
Abb. 2.7: Faktoren der Figurenmotivierung Für die Figurenanalyse ist dieses Modell hilfreich, weil es die verschiedenen Faktoren aufzeigt, auf deren Grundlage sich der Rezipient das Verhalten einer Figur erklären kann und diese zugleich in eine eindeutige Abfolge setzt. Auf der Grundlage dieser Faktoren lässt sich im Zuge der Analyse angeben, wie gut sich eine vermutete Motivation begründen lässt bzw. welche Interpretationsspielräume eine Erzählung hinterlässt. Solche Mehrdeutigkeiten gilt es dabei keineswegs aufzulösen, sondern diese bieten vielmehr die Möglichkeit, den weiteren Erzählverlauf daraufhin zu untersuchen, ob sich eine der vermuteten Möglichkeiten bestätigt oder ob der Autor ggf. mit den Erwartungen des Rezipienten spielt. Der beschriebene Sachverhalt und die Analysemöglichkeiten lassen sich beispielhaft an 5,18 demonstrieren.207 An dieser Stelle des Markusevangeliums stellt sich die Frage, wie man die Bitte des geheilten Geraseners, Jesus fortan begleiten zu dürfen, verstehen kann. Joachim Gnilka vermutet, dass der Geheilte aus Furcht agiere, weil „die Bevölkerung nicht bereit sein 204
Vgl. EDER, Figur im Film, 194: „Die mentalen Dispositionen, mit denen wir die Welt und andere Menschen erfassen, fügen sich zu impliziten ‚Alltagstheorien‘, die sich in Aussagen und Verhaltensweisen manifestieren und die man daraus rekonstruieren kann. […] Solche naiven ‚Theorien‘ betreffen den gesamten Bereich physischer, psychischer und sozialer Eigenschaften, man könnte also von einer Alltagsphysik, Alltagsbiologie, Alltagssoziologie und Alltagspsychologie sprechen.“ Hierzu bereits FINNERN, Narratologie, 130. 205 Unter Kausalgeschichte lassen sich – nach MALLE, Behavior, 23–48 – jene kausal zusammenhängenden Ereignisse verstehen, die die Situation, aus der eine Figur heraus handelt, erklären. 206 MALLE, Behavior, 36; Vgl. JANNIDIS, Figur und Person, 191 und FINNERN, Narratologie, 141 (dort noch erweitert). 207 Vgl. zu dem hier verwendeten Beispiel bereits FINNERN/RÜGGEMEIER, Methoden, 202.
2.3 Figurenanalyse: Der markinische Jesus als mentales Modell
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wird, ihn zu integrieren.“208 Diese Interpretation ist durchaus möglich, aber keineswegs wahrscheinlich. Zunächst gewinnt Gnilkas These v.a. durch die Vorgeschichte an Plausibilität, weil der zuvor geschilderte Schauplatz der entlegenen Grabeshöhle und die expliziten Hinweise auf die mehrmalige Verbannung (V. 2–5) den gesellschaftlichen Ausschluss des Dämonisierten vor Augen stellen. Mit der anstehenden Überfahrt ergibt sich für den Mann sodann ein Ermöglichungsfaktor, das Land zu verlassen. Allerdings lautet die Bitte des Geraseners (V.18) gerade nicht, dass er seine Heimat verlassen will, sondern dass er bei Jesus bleiben möchte (parekavlei aujto;n oJ daimonisqei;~ i{na metÆ aujtou` h\æ). Auch für die Furcht des Mannes, d.h. für einen psychischen Grund bietet die Erzählung keinen eindeutigen Anhaltspunkt. So bedrängen die Menschen nicht ihn, sondern Jesus, weil dieser die Säue ins Meer getrieben hat und damit einen erheblichen wirtschaftlichen Schaden209 verursacht hat. Die Aufforderung Jesu, der Geheilte möge in sein Haus gehen und die erfahrene Wohltat verkündigen, impliziert zugleich, dass er von seiner Familie wieder aufgenommen wird. M.E. ist es an dieser Stelle deshalb naheliegender, dass der Mann aus der erfahrenen Zuwendung und Glaubensbeziehung heraus handelt. Der einst Verstoßene erfährt Zuwendung und nicht mehr zu erwartende Heilung (= Vorgeschichte), die er selber als Wohltat begreift und später auch verkündigt (V. 20). Dieser Glaube und die positiven Gefühle gegenüber dem Heiler motivieren ihn zu seiner Bitte. Mit der Überfahrt ergibt sich die Möglichkeit, Jesus zu folgen. Die Bitte des Geheilten derart zu begründen, fügt sich außerdem gut in das Gesamtbild des Markusevangeliums ein, weil die Nachfolge immer wieder mit dem Glauben assoziiert wird (vgl. 1,17f.; 2,14; 3,7; als Leidensnachfolge: 8,34–38; 10,21; 10,28– 31; 10,52210). Die bisherigen Ausführungen zu den Figurenmerkmalen dürften verdeutlicht haben, dass sich die Figurenanalyse auf der Grundlage bestimmter (und bestimmbarer) Faktoren vollziehen sollte. Hierbei gilt es zu beachten, dass die Rückschlüsse auf einzelne Figurenmerkmale im Rezeptionsprozess immer
208
GNILKA, Evangelium II/1, 206. Auch dieses Verhalten lässt sich nach den beschriebenen Faktoren auf eine zugrundeliegende Motivation untersuchen: Jesus richtet Schaden an (Vorgeschichte) und die Menschen fürchten sich deshalb und empfinden Ärger (psychischer Grund). Jesus ist ein Hinzugekommener, der jederzeit das (heidnische) Land wieder verlassen kann (Ermöglichungsgrund). Die Leute verfolgen das Ziel, weiteren Schaden zu vermeiden und für Ruhe zu sorgen (Intention). 210 Diese Schlussfolgerung ergibt sich implizit durch die Erwähnung des Weges, der zuvor eindeutig als Leidensweg vorgestellt wurde, sowie den unmittelbar im Anschluss berichteten Weiterzug „in die Nähe von Jerusalem“ (11,1) als zuvor erwähnten Ort der Passion (vgl. v.a. 10,33). 209
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2. Kapitel: Narratologische Zugänge zur markinischen Christologie
nur „vorläufig, kontextabhängig, ambivalent und probabilistisch“211 erfolgen können. Keines der beschriebenen Figurenmerkmale lässt sich ohne Rückgriff auf weitere Merkmale hinreichend beschreiben.212 Selbst bei der expliziten Erwähnung einzelner Merkmale kommt man meist nicht umhin, weitere Figurenmerkmale in die Analyse einzubeziehen, um zu einem umfassenderen Figurenverständnis zu gelangen. Letztlich besitzt jede Erzählung Leerstellen, die sich nie ganz eindeutig füllen lassen, sondern die einen größeren oder kleineren (allerdings nie unbegrenzten!) Interpretationsspielraum eröffnen. Aus analytischer Sicht mag diese Offenheit einer Erzählung zunächst ein Ärgernis darstellen. Tatsächlich leben Erzählungen aber gerade von solchen Leerstellen und sie sind nicht selten Teil der Kommunikation zwischen Autor und Rezipienten.213 So kann der Autor seine Rezipienten bewusst im Unklaren lassen oder diese aufgrund mehrerer Interpretationsmöglichkeiten im Lektüreprozess überraschen; etwa dann, wenn eine Figur plötzlich eine Eigenschaft zeigt, die der Rezipient ihr aufgrund der vorherigen Erzählung nicht zugetraut hätte. In eben dieser Hinsicht überrascht es, dass die markinische Figur Jesu, die lange im Voraus um ihr bevorstehendes Leiden weiß, in der Gethsemaneepisode plötzlich um Verschonung bittet (14,32–42), sich am Kreuz von Gott verlassen fühlt und dies öffentlich herausschreit (15,34: ejbovhsen oJ ÆIhsou`~ fwnhæ` megavlh|). Solch überraschende Figurenmerkmale ziehen im Rezeptionsprozess die besondere Aufmerksamkeit der Rezipienten auf sich und verlangen nach einer diegetischen oder außerdiegetischen Erklärung. Handelt Jesus in 15,34 so, weil der Autor des Markusevangeliums von der Historizität dieser Worte überzeugt ist? Oder soll vielmehr ein intertextueller Bezug zu Ps 22 hergestellt und damit eine hintergründige Interpretation des Kreuzigungsgeschehens angeboten werden (= Emergenz)? Weil sich Figuren über den Erzählverlauf hinweg entwickeln können, ist bei der Analyse des Weiteren zu differenzieren, ob man das situative Modell
211
EDER, Figur im Film, 179. Nach Eder lässt sich immerhin eine Hierarchie formulieren, anhand welcher die Figurenmerkmale erschlossen werden, nämlich „vom Körper auf die Psyche, von äußeren Aktionen auf innere Beweggründe, von flüchtigen mentalen Vorgängen auf Persönlichkeitsdispositionen und von äußeren Interaktionen auf soziale Positionen“ (EDER, Figur im Film, 179). 213 FINNERN, Narratologie, 159, weist zu Recht darauf hin, dass sich die Transparenz bzw. Offenheit der Figuren näher bestimmen lässt, d.h. man kann untersuchen, wie gut ein Rezipient einzelne Merkmale einer Figur an einer bestimmten Stelle der Erzählung erschließen kann (ähnlich EDER, Figur im Film, 394f.). Eine transparente Figur vermittelt dem Rezipienten eher „ein angenehmes Gefühl der Orientierungsfähigkeit und Situationsmächtigkeit“ (EDER, Figur im Film, 395). 212
2.3 Figurenanalyse: Der markinische Jesus als mentales Modell
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einer Figur oder das abschließende Modell, das der Rezipient am Ende einer Erzählung von einer Figur hat, untersucht.214 Unter der Identität215 wird in dieser Arbeit das mentale Gesamtmodell einer Figur verstanden. Dieses mentale Modell basiert auf zahlreichen Inferenzund Rekurrenzprozessen, die es dem Rezipienten ermöglichen, eine Figur über den Erzählverlauf hinweg wiederzuerkennen (Reidentifikation) und deren individuelle Distinktheit bzw. Selbigkeit (lat.: idem) zu erfassen. Die Identität einer Figur lässt sich dabei weder auf textexterne Vorgaben (z.B. die „tatsächliche“ Identität einer historischen Person) reduzieren, noch lässt sie sich als ausschließlich werkimmanente216 Größe begreifen: „‚Identität der Figur‘ ist nicht ontologisch oder semantisch zu verstehen, sondern lediglich kommunikationsabhängig.“217 Prinzipiell tragen alle Merkmale bzw. deren individuelle Kombination zur Konstituierung der jeweiligen Figurenidentität bei. Unzureichend ist es hingegen, die Identität auf jene Merkmale zu reduzieren, die eine Figur lediglich von anderen Figuren unterscheidet. Eine solche Beschränkung auf Individualkennzeichen verengt den Identitätsbegriff auf unnötige Weise und verkennt zudem, dass derartige Kennzeichen für sich genommen meist noch gar nicht ausreichen, um eine Figur zweifelsfrei zu identifizieren.218 Wenngleich man die Identität einer Figur also nicht auf ihre Individualkennzeichen reduzieren sollte, lässt sich umgekehrt feststellen, dass abweichende Merkmale im Rezeptionsprozess durchaus für eine gesteigerte Aufmerksamkeit sorgen – ein Effekt, der durch die bewusste Ausgestaltung von Parallel- oder Kontrastfiguren noch verstärkt werden kann (vgl. 2.3.3) und im Falle des Markusevangeliums ausgestaltet wird (vgl. 4.3.2). Der Autor hat aber darüber hinaus weitere Möglichkeiten, einzelne Figurenmerkmale hervorzuheben und durch eine Gewichtung der Merkmale das Bild der Figur maßgeblich zu prägen. Eine besondere Aufmerksamkeit wird v.a. den Merkmalen einer Figur zuteil, 214
EDER, Figur im Film, 234: „Bei der Analyse kann man sowohl das abschließende Figurenmodell als auch den Prozess seiner schrittweisen Entwicklung untersuchen, die Figurensynthese.“ 215 Im Hinblick auf die bisherige Forschung fällt auf, dass der Begriff der Identität häufig unreflektiert gebraucht wird. Dies gilt überraschenderweise sogar für Untersuchungen, in denen der Begriff der Identität im Fokus des Interesses steht: vgl. etwa NALUPARAYIL, Identity und SWETNAM, Identity of Jesus; RICHES, Identity Formation, WINN, Purpose, 100–107. 216 So die verkürzte Sichtweise des Narrative Criticism (vgl. hierzu Kap. 3.4.1 u. 3.4.4). 217 JANNIDIS, Figur und Person, 147. 218 JANNIDIS, Figur und Person, 144–147 demonstriert dies auf eindrückliche Weise am Beispiel des „Thomas Buddenbrook“, dessen Eigenname eine Variationsbreite aufweist (z.B. „Senator“, „Tom“, „Herr Buddenbrook“ etc.) und der gleichwohl von den Rezipienten jeweils zweifelsfrei identifiziert werden kann.
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2. Kapitel: Narratologische Zugänge zur markinischen Christologie
– die im Zuge der Erzählung häufig219 wiederholt werden, – die zu Beginn und am Ende erwähnt werden bzw. von den Rezipienten zu erschließen sind (Primär-/ Rezenzeffekt220 ) – die der Erschließung weiterer Eigenschaften dienen, d.h. die innerhalb eines hierarchisch strukturierten Merkmalssystems eine Art Persönlichkeitskern221 bilden – die durch perspektivische Mittel in den Vordergrund gerückt werden (z.B. durch „Strategien der Informationsverdoppelung“222 ), – denen eine wesentliche Funktion bei der Erschließung der Handlung zukommt, – die aus Sicht der Rezipienten mit starken Emotionen und Werten belegt sind, – die aufgrund vorheriger Attribuierung und Kategorisierungseffekte überraschend wirken bzw. zu einer differenzierteren223 Betrachtung der Figur herausfordern
Wird die Identität einer Figur, im gerade beschriebenen Sinne, mit dem mentalen Gesamtmodell einer Figur gleichgesetzt, so hat dies für die Frage nach der markinischen Christologie sowie den analytischen Teil dieser Arbeit weitreichende Folgen: Die Christologie lässt sich nicht durch eine Untersuchung einzelner, ausgewählter Episoden bestimmen, sondern die Analyse hat immer zugleich mit zu berücksichtigen, wie die expliziten und impliziten Figurenzuschreibungen einer Episode zur vorherigen Entwicklung der Gesamterzählung und zum textexternen Vorverständnis der Rezipienten stehen und welche Modifizierungen diese Zuschreibungen bis zum Ende der Erzählung erfahren. Die Figurenanalyse ist zwangsläufig an die Handlungsanalyse gekoppelt. Ein Verständnis des markinischen Textes, welches diesen ausschließlich als statische Komposition begreift und die Prozesshaftigkeit sowie Rezeptionsbezogenheit der Erzählung weitgehend ausblendet, vermag die markinische Christologie hingegen immer nur bruchstückhaft zu erfassen. 219 Die Länge einer Charakterisierung, durch die eine Figur beschrieben wird, trägt hingegen v.a. zur Individualität einer Figur bei. Die Ausführlichkeit einer Charakterisierung muss aber nicht zwangsläufig die Aufmerksamkeit der Rezipientinnen fördern (vgl. etwa die verhältnismäßig (!) ausführliche Charakterisierung in 5,25f.). 220 Die sog. „Blockcharakterisierung“ (EISEN, Poetik, 136; FINNERN, Narratologie, 154) ist oft ein Sonderfall der Primäreffekts, weil beim ersten Auftreten einer Figur (z.B. 1,9– 15) oftmals Informationen gebündelt werden, die im weiteren Erzählverlauf eine wichtige Bedeutung besitzen. 221 Vgl. EDER, Figur im Film, 210f., der das Persönlichkeitszentrum allerdings vorschnell mit der Identität gleichsetzt: „In Philosophie, Psychoanalyse und Soziologie geht man ebenfalls davon aus, dass bestimmte Merkmale einen Persönlichkeitskern, eine Identität [...] definieren“ (210). 222 VETTE, Samuel, 33–37. Bei dieser Strategie wird eine Information über die Figur durch mehrere Perspektiventräger artikuliert, z.B. durch den Erzähler (auktorial) und eine der Figuren (figural) oder durch verschiedene Figuren. 223 Zweifelsohne lässt sich erst „[i]n einigen Texten vor allem des 20. Jahrhunderts [erkennen, dass] Regeln zur Konstruktion von Identität systematisch unterlaufen [werden]“ (JANNIDIS, Figur und Person, 138). Dass sich neutestamentliche und biblische Figuren in dieser Hinsicht durch eine stabile Identität auszeichnen, schließt freilich nicht aus, dass einzelne Merkmale eine Modifizierung des vorherigen Figurenbildes erforderlich machen.
2.3 Figurenanalyse: Der markinische Jesus als mentales Modell
71
Mit einer Terminologie von Ralf Schneider lässt sich an dieser Stelle eine hilfreiche Differenzierung einführen: Während zu Beginn einer Erzählung eine erste Kategorisierung der Figuren erfolgt und bei den Rezipienten hierbei v.a. literarische, kulturelle, religiöse und d.h. außertextuelle Wissensbestände aktiviert werden, können in der weiteren Erzählung Prozesse der Bestätigung aber auch der Individualisierung, Personalisierung und Entkategorisierung stattfinden.224 Als Individualisierung bezeichnet Schneider einen Prozess, bei dem es lediglich zu einer graduellen Erweiterung der anfänglichen Kategorie kommt, wobei die entsprechenden Merkmale der Figur jedoch in das Gesamtkonzept integriert werden können. Als Personalisierung definiert er demgegenüber jenen Prozess, bei dem eine Figur von anderen Figuren sowie dem Erzähler so different wahrgenommen und beschrieben wird, dass sie sich letztlich einer eindeutigen Zuordnung entzieht. Von Entkategorisierung ist zu sprechen, wenn das mentale Modell des Anfangs grundsätzlich in Frage gestellt oder sogar falsifiziert wird. Letzteres wird etwa von Vertretern einer Corrective Christology (vgl. 3.2.1) behauptet, die im Markusevangelium v.a. eine Abwehr verbreiteter Wundertätervorstellungen erkennen. Im analytischen Teil dieser Arbeit wird sich hingegen zeigen, dass die markinische Christologie zugleich dem Prozess einer Bestätigung und Entkategorisierung unterliegt, indem Jesus zunehmend als Kyrios erscheint und zugleich endzeitlichen Prophetenvorstellungen widersprochen wird. Allerdings dürfte die zu erkennende Überbietung und Verfremdung endzeitlicher Prophetenvorstellugen für den Rezipienten gerade nicht überraschend wirken, sondern legt sich aufgrund der anfänglichen Bestimmung nahe (1,2f.; 1,8). Von einer Personalisierung kann insofern geredet werden, als sich im Markusevangelium eine deutliche Differenz zwischen der Wahrnehmung wichtiger Figuren(gruppen) und dem Selbstverständnis Jesu sowie dem artikulierten Standpunkt Gottes ergibt und diese Differenz nicht einfach zugunsten eines Standpunktes aufgehoben wird. Vielmehr zeichnet sich die markinische Christologie durch eine emergente Bedeutungsstruktur aus. So soll der Rezipient über die explizit kommunizierten Verstehensschemata und Figurenmodelle hinaus Jesu Einzigkeit und Einheit mit Gott erkennen und anerkennen (vgl. Kap. 4.3), was sich zugleich als wesentliche Funktion der Erzählung erfassen lässt (vgl. Kap. 4.4). Von der Identität einer Figur und den Prozessen einer Individualisierung, Personalisierung und Entkategorisierung zu unterscheiden ist die Figurenkonzeption225. Während es sich bei der Identität und den beschriebenen Veränderungsprozessen primär um inhaltliche Beschreibungskategorien handelt, steht bei der Konzeption der Aspekt der erzählerischen Vermittlung im Vordergrund. Wie werden die einzelnen Merkmale einer Figur zu einem mentalen 224 225
SCHNEIDER, Grundriß, 166f. Vgl. zu dieser Terminologie PFISTER, Drama, 240–250.
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2. Kapitel: Narratologische Zugänge zur markinischen Christologie
Gesamtmodell zusammengefügt? Einen hohen Bekanntheitsgrad besitzt hier die auf Edward Morgan Forster zurückzuführende Unterscheidung zwischen einem flat und round character. Nun hat allerdings bereits Sönke Finnern226 zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass es bei dieser Einteilung letztlich zur Vermischung mehrerer Analysekategorien kommt und im Anschluss an Pfister, Jannidis und Eder acht Analysekategorien vorgeschlagen, die im Folgenden kurz vorgestellt und im analytischen Teil dieser Arbeit zur Anwendung kommen sollen: (1) Veränderung:227 In einer Erzählung kann es eher statische Figuren geben, die sich über den Erzählverlauf hinweg kaum verändern bzw. deren Merkmale weitgehend konstant bleiben. Dynamische Figuren zeichnen sich demgegenüber durch zahlreiche Entwicklungen aus. Eine Figur kann sich aber auch nur im Hinblick auf ein Merkmal als statisch oder dynamisch erweisen. Im Markusevangelium lassen sich die Jünger als eher statische Figuren bezeichnen, weil sie sich über den gesamten Erzählverlauf als unverständig erweisen. Der johanneische Nikodemus ist im Unterschied hierzu eine dynamische Figur, deren Verhältnis zu Jesus sich sukzessiv wandelt. (2) Detailliertheit: Die Zahl der Merkmale, die ein Rezipient einer Figur zuschreiben kann und soll, kann beträchtlich variieren. Eine detaillierte Figur ist eine Figur, bei der der Leser zu nahezu allen oben beschriebenen Merkmalen direkte oder indirekte Informationen erhält. Eine vage Figur228 ist eine Figur, bei der der Leser zu fast keinem Merkmal explizite Informationen erhält und diese auch kaum erschließen kann und soll. Im Markusevangelium erweisen sich zahlreiche Bedürftige als vage Figuren, so z.B. der Mann mit der verdorrten Hand in 3,1–6. Der markinische Jesus ist hingegen eine detaillierte Figur. (3) Dimensionalität: Nicht gänzlich deckungsgleich mit dem Kriterium der Detailliertheit ist die Dimensionalität einer Figur. Mehrdimensional ist eine Figur, der der Rezipient viele Merkmale zuschreiben kann und bei der nahezu alle Merkmale zugleich große Aufmerksamkeit erhalten. Eine eindimensionale Figur ist hingegen eine Figur, die wenige Merkmale besitzt oder bei der die Aufmerksamkeit des Rezipienten – trotz zahlreicher Merkmale und
226
Vgl. hierzu FINNERN, Narratologie, 156–164; FINNERN/RÜGGEMEIER, Methoden,
203f.
227
Diese Unterscheidung findet sich bereits bei EDER, Figur im Film, 393f. Innerhalb der Exegese vgl. RESSEGUIE, Narrative Criticism, 125f. 228 Eigene Bezeichnung. FINNERN, Narratologie, 157 spricht von „knapper Figur“.
2.3 Figurenanalyse: Der markinische Jesus als mentales Modell
73
Informationen – nur auf einem Merkmal beruht.229 Beim markinischen Jesus ruht die Aufmerksamkeit des Rezipient nicht auf allen Merkmalen, sondern es lässt sich zwischen wichtigeren und unwichtigeren bzw. subtileren Eigenschaften unterscheiden. Trotzdem ist der Protagonist als eher mehrdimensionale Figur zu bezeichnen. Für die Darstellung der Analyseergebnisse ist es m.E. hilfreich, die Wichtigkeit einzelner Merkmale präzise anzugeben. (4) Konventionalität:230 Eine Figur kann einem – textextern vorgegebenen – Typus entsprechen oder als weitgehend eigenständiges Individuum wahrgenommen werden und folglich als typische oder individuelle Figur bezeichnet werden. Die Hoheitstitel im Markusevangelium sowie die Parallelisierung zwischen Jesus und dem endzeitlich kommenden Kyrios lassen erkennen, dass der markinische Protagonist in mancher Hinsicht als typische Figur zu bezeichnen ist. Andererseits lassen das Nebeneinander solcher Erwartungen und andere Merkmale Jesu erkennen, dass sich die markinische Hauptfigur durch individuelle Züge auszeichnet und in seiner Einzigkeit inszeniert wird. Für die markinische Christologie ist gerade dieses Wechselspiel zwischen typischer und individueller Figurendarstellung wichtig. (5) Transparenz: In der Wahrnehmung des Rezipienten kann eine Figur transparent handeln, indem sich ihr Verhalten gut erklären lässt und von einer offensichtlichen und nachvollziehbaren Motivation geleitet ist. Eine mysteriöse Figur stellt den Rezipienten hingegen vor ein Rätsel. Er wird dazu angeregt, ein nicht (unmittelbar) ergründbares Verhalten mit Hilfe eigener real-world-strategies of sense-making zu erschließen.231 Der markinische Jesus bleibt mit seinen Schweigegeboten an Geheilte und Dämonen zunächst eher mysteriös, und der Rezipient vermag das Messiasgeheimnis erst über den weiteren Erzählverlauf zu lüften, indem er unterschiedliche Erklärungsmöglichkeiten nach und nach verwerfen muss (vgl. Kap. 4.3.1j). (6) Realismus: Die Darstellung einer Figur kann den Alltagserfahrungen und dem Alltagswissen der intendierten Rezipienten entsprechen und ist dann als 229
So auch EDER, Figur im Film, 183: „Besonders auffällige Eigenschaften können die Aufmerksamkeit von subtileren Details abziehen. Selbst wenn eine Figur mit einer Vielfalt von Merkmalen ausgestattet ist, kann sie dann eindimensional wirken.“ 230 Vgl. EDER, Figur im Film, 229; JANNIDIS, Figur und Person, 102f. Ein ähnliches Phänomen beschreibt die Rede vom stock character (vgl. ABRAMS, Glossary, 306f.), der ebenfalls über kulturell determinierte Merkmale verfügt (z.B. der Weihnachtsmann). 231 Eine Figur, bei der das Verhalten gänzlich unbegründet bleibt, kann es m.E. nicht geben. Der (reale) Rezipient wird immer eine Vermutung bezüglich der Motivation haben und an einer solchen trotz unbefriedigender Inkohärenzen festhalten. Allerdings handelt es sich dann um individuelle Erklärungsmodelle, und es lässt sich gerade kein eindeutiger, vom Autor intendierter Schlussfolgerungsprozess nachzeichnen.
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2. Kapitel: Narratologische Zugänge zur markinischen Christologie
realistische Figur anzusprechen. Eine unrealistische Figur verfügt hingegen über Eigenschaften, die in der Erfahrungswelt des Rezipienten nicht (in dieser Weise) vorkommt. Obwohl der markinische Jesus im Verlauf der Erzählung zahlreiche Wunder wirkt, die aus heutiger Sicht im Widerspruch zu einem naturwissenschaftlichen Weltbild stehen, werden Jesu Verhalten und seine übrigen Eigenschaften von den intendierten Rezipienten des Markusevangeliums als realistisch beurteilt worden sein. Eigenschaften sind also nie „an sich“ realistisch oder unrealistisch, sondern die Frage, was ein Rezipient für realistisch hält, ist zeitlich und kulturell variabel. (7) Kohärenz: Für die Frage nach dem erzählerischen Reflexionsgrad ist der Aspekt der Kohärenz von großer Bedeutung. Sind die diversen Merkmale, die der Rezipient einer Figur zuschreiben soll, miteinander vereinbar? Lässt sich ein logischer Zusammenhang zwischen diesen Merkmalen erkennen, so dass von einer bestimmten Profilierung einer Figur gesprochen werden kann? Bei der Analyse kann auf unterschiedliche Inkohärenzen geachtet werden. So gibt es z.B. logische, physische, psychologische, soziale, zeitliche oder räumliche Widersprüche. Die Genese neutestamentlicher Erzähltexte führt oftmals zu stärkeren Inkohärenzen, wobei diese zuweilen bereits innerhalb einer Episode zu erkennen sind und in der größeren Erzählsequenz noch deutlicher hervortreten. Im Hinblick auf die Figur des Bartimäus lässt sich eine räumliche Inkohärenz feststellen. Obwohl der blinde Bettler nach seiner Heilung Jesus nachfolgt, ist von ihm in den nachfolgenden Episoden nicht mehr die Rede. Er bleibt eine Episodenfigur. Das Figurenmodell des markinischen Jesus zeichnet sich demgegenüber durch eine erstaunliche Kohärenz aus, so dass von einer reflektierten Christologie im Markusevangelium zu sprechen ist. (8) Applikabilität: Letztlich kann untersucht werden, wie sehr eine Figur vom Rezipienten auf eine Entität seiner Wirklichkeit bezogen werden soll. Besitzt eine Figur spezifische und als solche erkennbare Eigenschaften, die der Rezipient bestimmten Personen oder Personengruppen seiner Erfahrungswelt zuschreiben kann (typische Darstellung)? Bestehen bestimmte Inkohärenzen in der Figurenkonzeption, die sich aus der Absicht eines textexternen Bezugs erklären lassen und mithin nicht als produktionsästhetischer Fehler, sondern als bewusste Durchbrechung zu verstehen sind? Im Rezeptionsprozess kommt es auch vor, dass sich der Rezipient selbst mit einer Figur identifizieren kann. Allerdings sollte nur dort von Identifikation gesprochen werden, wo sich aufzeigen lässt, dass a) der Rezipient zuvor die Möglichkeit hatte ein ausreichendes Maß an Empathie zu einer Figur aufzubauen und b) die Merkmalsparallelen durch erzählerische Mittel so in den Fokus gerückt wurden, dass der Rezipient ihnen Aufmerksamkeit schenkt. Zu differenzieren ist weiterhin zwischen einer partiellen und totalen Identifikation, wobei sich der Leser in einzelnen Merkmalen einer Figur wiedererkennen kann oder eine Überein-
2.3 Figurenanalyse: Der markinische Jesus als mentales Modell
75
stimmung bei zahlreichen Eigenschaften festzustellen ist. Außerdem gibt es nicht nur eine positive Identifikation, sondern der Rezipient kann in einer Figur auch ein negatives Vorbild erkennen, so dass von einer negativen Identifikation gesprochen werden kann.232 2.3.3 Figurenkonstellation233 Im vorherigen Abschnitt standen weitestgehend die Merkmale einzelner Figuren im Mittelpunkt des Interesses. Figuren stehen darüber hinaus aber immer zugleich in einem Verhältnis zu Anderen. Vielfach treten die Merkmale einer Figur sogar erst im Vergleich mit einer anderen hervor. Unter dem Begriff der Figurenkonstellation sollen hier die Abhängigkeiten zwischen Figuren beschrieben werden, wobei sich der Vergleich sowohl auf Figuren innerhalb einer Erzählung beziehen kann (interner Vergleich), als auch auf das Verhältnis zwischen einer Figur und einem literarischen bzw. „realen“234 Pendant (externer Vergleich). Folgende Vergleichskategorien lassen sich unterscheiden: a. Ähnlichkeiten und Unterschiede der Figurenmerkmale b. Figurenkonfiguration c. Handlungsrollen
a. Ähnlichkeiten und Unterschiede der Figurenmerkmale: Werden Figuren durch die Rezipienten im Hinblick auf ihre Merkmale verglichen, so kann es sowohl Parallel- als auch Kontrastfiguren geben. Als Parallelfigur werden hier jene Figuren bezeichnet, die sich in vielen bzw. besonders prägnanten Eigenschaften ähneln. Unter Kontrastfigur (foil character)235 werden hingegen Figuren verstanden, bei denen besonders viele oder prägnante Gegensätze hervortreten, z.B. äußere Merkmale (groß/klein; schön/hässlich), Statuspositionen (reich/arm; gelehrt/ungebildet), Herkunft (jüdisch/heidnisch; Galiläa/ Jerusalem), Charakterzüge (mutig/feige), Moral (gut/böse), Fähigkeiten (fähig/unfähig), Verhaltensweisen etc.236 Bei biblischen Erzählungen lassen sich die Parallelen und Unterschiede oftmals erst durch einen Rückgriff auf historisch-philologisch rekonstruiertes 232
Vgl. EDER, Figur im Film, 566–582 und 599–604; HALLET, Literary Figures, bes. 208–214; NEUMANN/NÜNNING/PETTERSSON, Narrative and Identity; FINNERN, Narratologie, 210f. (mit Hinweisen auf den Diskussionsstand in der Pädagogik, Psychologie, Philosophie und Exempelforschung). 233 Vgl. FINNERN/RÜGGEMEIER, Methoden, 204f. 234 Eine Differenzierung zwischen literarischem und „realem“ Pendant ist in der Praxis jedoch kaum möglich. So liegt das Wissen über eine Person meist schon in einer narrativ vermittelten Form vor, z.B. als mündliche Alltagsnarration. 235 ABRAMS, Glossary, 234; RESSEQUIE, Narrative Criticism, 124f.; vgl. auch SKA, Fathers, 85, der von contrast-figures spricht. 236 Diese Auflistung ist angelehnt an EDER, Figur im Film, 475.
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2. Kapitel: Narratologische Zugänge zur markinischen Christologie
Wissen erkennen. Zudem setzt jeder Kontrast zwischen zwei Figuren immer schon eine Gemeinsamkeit bzw. einen Vergleichspunkt voraus,237 z.B. dass Figuren in einer ähnlichen oder sogar identischen Situation unterschiedlich reagieren, ein und dieselbe Figur unterschiedlich wahrnehmen oder mit einer Sache unterschiedlich umgehen. Dass der Rezipient Figuren überhaupt miteinander vergleichen kann, dass er dabei einzelnen Merkmalen besondere Aufmerksamkeit schenkt und Rückschlüsse auf weitere Eigenschaften einer Figur oder auch die Zuverlässigkeit einer Aussage zieht, lässt sich letztlich auch mit dem Modell des Conceptual Blending begründen: „To speak of contrast characters or foil characters in a narrative ultimately means to speak of the necessity to compare and contrast character models, so that the particularity of each is highlighted. Authors frequently offer the reader the opportunity to perform such acts of conceptual integration when they place two (or more) characters in comparable situations but having them act differently. In other cases, characters may be outwardly comparable but differ in their inner dispositions, or they are comparable by only one feature but differ in all or most others – a standard case for a network of conceptual integration.“238
b. Figurenkonfiguration: Zu untersuchen ist im Zuge der Figurenanalyse auch, mit welchen anderen Figuren eine Figur in den einzelnen Szenen sowie über den Verlauf der Gesamterzählung auftritt (oder nicht auftritt). Bereits Pfister unterscheidet in dieser Hinsicht konkomitante, alternative und szenisch dominante Figuren:239 Der markinische Jesus ist eine szenisch dominante Figur, weil er in nahezu allen Szenen des Evangeliums auftritt und dabei auf eine Vielzahl unterschiedlichster Charaktere trifft. Als konkomitante Figuren sind am ehesten Jesus und die Jünger zu bezeichnen, weil diese – abgesehen vom Anfang und Ende der Erzählung – meist gemeinsam auftreten. Durch diese Beobachtung tritt jedoch zugleich die Tatsache hervor, dass Jesus seine Reise über Tyros und Sidon ins Zehnstädtegebiet (7,24–37) ohne Begleitung antritt oder bei den Ereignissen der Versuchung und Passion auf sich allein gestellt ist. Dadurch stechen diese Ereignisse im Rezeptionsprozess hervor. Auch alternative Figuren finden sich im Markusevangelium: z.B. treffen nirgendwo Jesus und Herodes aufeinander oder die jüdischen Autoritäten tauchen lediglich auf der Westseite des Sees auf,240 d.h. sie kommen nicht mit den (heidnischen) Bewohnern des Ostufers und der Dekapolis in Kontakt. Umgekehrt wird der geheilte Gerasener in 5,18ff. aufgefordert, im Gebiet der 237
So bereits Lotman: „Die Voraussetzung für die Gegensätzlichkeit von Charakteren ist ihre Vergleichbarkeit“ (LOTMAN, Struktur, 359; zitiert nach EDER, Figur im Film, 476). 238 SCHNEIDER, Introduction, 16. 239 Vgl. PFISTER, Drama, 235–240. 240 Dieser Tatbestand verweist zugleich darauf, dass räumliche Gegebenheiten auch die Relation zwischen Figuren bestimmen können.
2.3 Figurenanalyse: Der markinische Jesus als mentales Modell
77
Dekapolis zu bleiben. Dadurch verstärkt sich im Rezeptionsprozess der Eindruck zweier weitgehend voneinander isolierter Teilräume – jenem des jüdischen Westufers und jenem des heidnischen Ostufers. c. Handlungsrollen: Einen Sonderfall der Figurenkonstellation stellen literarisch vorgegebene und kulturell wandelbare Handlungsrollen dar.241 Vielfach wird hier in der Exegese nach wie vor auf das sogenannte Aktantenmodell von Algirdas J. Greimas zurückgegriffen.242 Dieses Modell ist jedoch mit mehreren Problemen behaftet: – Insofern es eine Abstraktion zu Propps Morphologie russischer Zaubermärchen darstellt, wird gerade die kulturelle und historische Bedingtheit der Handlungsrollen zu wenig berücksichtigt. – Der hohe Abstraktionsgrad, durch den Greimas einst eine universelle Übertragbarkeit des Modells gewährleisten wollte, führt dazu, dass gerade die Spezifika eines Einzeltextes verloren gehen. Die verwendeten Figurenlabel (Sender, Empfänger, Helfer etc.) tragen nur bei sehr wenigen Erzählungen zu einer besseren Erschließung bei, v.a. wenn „ein Parteienkonflikt [...] im Mittelpunkt der Handlung steht, wo es also Protagonisten und Antagonisten gibt.“243 – Das Aktantenmodell erweist sich als zu statisch, weil die Figuren einer Erzählung häufig mehrere Handlungsrollen einnehmen und es nicht immer genau einen Protagonisten, einen Widersacher und ein Objekt etc. gibt.244 In vielen Erzählungen können sich die Handlungsrollen über den Erzählverlauf hinweg ändern. Dies trifft gerade auch auf die Heilungsberichte des Markusevangeliums und die Rolle der „Bedürftigen“ zu (vgl. 4.2.2e). – Letztlich wird von Greimas noch nicht hinreichend bedacht, dass es in Erzählungen meist auch implizite Handlungsrollen gibt. Gerade bei neutestamentlichen Erzählungen kommt es häufig vor, dass der Figur Gottes oder anderen transzendenten Wesen eine entscheidende Handlungsrolle zuzuschreiben ist, ohne dass diese explizit erwähnt werden.
241
So bereits FINNERN, Narratologie, 357: „Aktantenmodell und Handlungsrollenmodell haben gewisse Ähnlichkeiten mit der Figurenkonstellation und können vielleicht als deren Spezialfall angesehen werden.“ 242 Vgl. GREIMAS, Strukturale Semantik, 165 und zur Rezeption in der Exegese EGGER/ WICK, Methodenlehre, 181; EBNER/HEININGER, Exegese, 75–78; DAVIDSEN, Narrative Jesus. 243 FINNERN, Narratologie, 357. 244 Vgl. FINNERN, Narratologie, 150: „In einer neutestamentlichen Heilungsszene wie in Mk 2,1–12 kann man die Handlungsfunktionen so verteilen: Der Gichtbrüchige (‚Subjekt‘) sucht Heilung (‚Objekt‘). Jesus ‚sendet‘ dem Gichtbrüchigen (‚Empfänger‘) Heilung. Der Gichtbrüchige hat ‚Helfer‘ und ‚Widersacher‘, wobei es eigentlich Jesu Widersacher sind. Jesus und der Kranke kommen also tatsächlich jeweils an zwei Stellen im Aktantenmodell vor. Schon das Beispiel zeigt, dass das Aktantenmodell nicht schematisch angewendet werden kann und nur eine begrenzte Aussagekraft hat.“
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2. Kapitel: Narratologische Zugänge zur markinischen Christologie
2.4 Handlungsanalyse: Erzählte Christologie Und sie gingen hinaus und flohen vom Grab. Furcht und Zittern hatte sie ergriffen. Und sie sagten niemandem etwas. Sie fürchten sich nämlich. (Mk 16,8)
„Offen“, „unerwartet“, „abrupt“245, „dissonant“246, „unbefriedigend“247: Mit diesen und ähnlichen Adjektiven wird zumeist der Schluss des Markusevangeliums beschrieben. Strenggenommen wird durch diese Begriffe jedoch nicht die Erzählung an sich charakterisiert. Vielmehr handelt es sich bereits um Aussagen über die Rezeption der Erzählung (und z.T. über deren Rezeptionswirkung und Beurteilung248). So kann das Ende einer Erzählung nur dann als „unerwartet“ gelten, wenn die intendierten Rezipienten aufgrund des bisherigen Handlungsverlaufs und/oder ihres textexternen Vorwissens auf ein anderes Ende spekuliert haben. Als „offen“ lässt sich ein Erzählende nur dann bezeichnen, wenn bestimmte Themen oder Fragestellungen durch die vorherige Handlung angeregt wurden, aber aus Sicht der intendierten Rezipienten nicht bzw. nur unzureichend beantwortet wurden. Innerhalb der strukturalistischen Erzähltheorie ist die Abhängigkeit zwischen der Handlung und ihrer Rezeption weitgehend unterbewertet worden. Sie konnte aufgrund einer Fokussierung auf textimmanente Strukturen auch gar nicht in den Blick geraten. Nicht zuletzt deshalb spielen die klassischen Handlungsschemata des Strukturalismus (Propp, Bremond, Lévi-Strauss, Greimas) in der heutigen Narratologie nur noch eine untergeordnete Rolle. Wenn diese Modelle im Folgenden dennoch vorgestellt und den übrigen Untersuchungsaspekten der Handlungsanalyse vorangestellt werden (vgl. 2.4.1), so ist dies vor allem dem innerexegetischen Diskussionsstand geschuldet. Die Forschungsgeschichte zur markinischen Christologie, die im folgenden Kapitel dargestellt wird, ließe sich ohne eine Kenntnis strukturalistischer Handlungsmodelle nur unzureichend beschreiben und verstehen. Bis heute ist der 245
Vgl. etwa SCHMITHALS, Markusschluß, 380. Vgl. etwa ALKIER, Realität, 87. 247 Vgl. etwa FRITZEN, Gott, 126. 248 Die Begriffe „dissonant“ und „unbefriedigend“ setzen implizit ein bestimmtes Ideal voraus, nämlich dass sich eine Erzählung durch Kohärenz und einen stabilen Endzustand auszeichnen sollte. Tatsächlich lässt sich bei einer Textbeurteilung so verfahren, dass man einen Kriterienkatalog für eine „Idealerzählung“ aufstellt und die untersuchte Erzählung daran „misst“ (vgl. GELFERT, Was ist gute Literatur). Bisher lässt sich innerhalb der Exegese erkennen, dass Bewertungen zumeist nur beiläufig und anhand von Einzelaspekten erfolgen, z.B. indem ein Ausleger in einem Nebensatz die scharfsinnige Argumentation des Paulus lobt oder gerade umgekehrt den holprigen Sprachstil des Markus bemängelt. Das jeweils vorausgesetzte Ideal wird aber zumeist nicht expliziert. Zur Methodik der Kritik vgl. FINNERN/RÜGGEMEIER, Methoden, 284–293. 246
2.4 Handlungsanalyse: Erzählte Christologie
79
innerexegetische Diskurs weitgehend auf dem Stand des späten Strukturalismus stehen geblieben (vgl. 3.4.1 und 3.4.2) Erst mit der kognitiven Wende hat sich innerhalb der Narratologie die Erkenntnis durchgesetzt, dass auch die Handlung eine rezeptionsabhängige Größe darstellt. Gerade die dynamischen Verläufe einer Erzählung werden nun verstärkt analysiert und es ist in den Blick geraten, dass die Rezipienten maßgeblich am Verstehensprozess beteiligt sind. Leser stehen einer Handlung nie neutral gegenüber, sondern sie verfügen über ein Lesegedächtnis und antizipieren die Handlung. Sie spekulieren auf kommende Ereignisse und rechnen mit alternativen Handlungsentwicklungen (2.4.2.a). Sie schenken bestimmten Ereignissen mehr Aufmerksamkeit als anderen und verknüpfen so einzelne Ereignisse zu Haupt- und Nebenhandlungen (2.4.2.b). Aufgrund der sequentiellen Informationsvergabe schenken Rezipienten dem Anfang und dem Schluss einer Erzählung eine besondere Aufmerksamkeit, was eine gesonderte Untersuchung der Handlungsenden rechtfertigt (vgl. 2.4.2.c). Bleibende Bedeutung besitzen die von Gérard Genette formulierten Kriterien zur Untersuchung zeitlicher Handlungsaspekte. Diese sollen in einem eigenen Abschnitt dargestellt und zugleich auf die Möglichkeiten einer kognitiven Präzisierung befragt werden (vgl. 2.4.3). 2.4.1 Strukturalistische Handlungsschemata Nicht erst in der Erzählforschung des 20. Jhdts., sondern bereits in der Antike hat man die grundlegende Bedeutung der Handlung für eine Erzählung hervorgehoben. So bezeichnet Aristoteles die Handlung (muvqo~) gar als Seele (yuchv) und Primat (ajrchv) der Tragödie und räumt ihr einen deutlichen Vorrang gegenüber den Figuren bzw. Charakteren einer Erzählung ein.249 Die strukturalistische Erzählforschung ist Aristoteles in dieser Beurteilung gefolgt und hat sich weitgehend auf die Möglichkeiten der Handlungsanalyse konzentriert, während andere Analysebereiche lediglich ansatzweise reflektiert wurden. Der Strukturalismus zeigt zugleich ein besonderes Interesse an abstrakten Handlungsschemata,250 d.h. den vermeintlichen Tiefenstrukturen, die den Texten einer Gattung oder Erzählungen im Allgemeinen zugrunde liegen. Den meisten Modellen des Strukturalismus ist also zunächst „gemeinsam, dass sie die Existenz eines abstrakten Bedeutungskerns in Form eines Handlungsschemas annehmen, das als latente Tiefenstruktur der konkreten Handlung zugrunde liege. Um diesen Bedeutungskern freizulegen, reduzieren sie
249
Vgl. Aristot. poet. 1450a 25. Solche Handlungsschemata sind freilich bereits in früheren Zeiten von Interesse gewesen. Vgl. etwa FREYTAG, Technik, 102–121. 250
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2. Kapitel: Narratologische Zugänge zur markinischen Christologie
die Handlung auf abstrakte Tiefenstrukturen, aus denen die gesuchte Bedeutung bestehe.“251 Unterscheiden lassen sich die Ansätze des Strukturalismus jedoch im Hinblick auf ihren Abstraktionsgrad: Während sich die Arbeiten von Claude Bremond, Claude Lévi-Strauss oder Algirdas J. Greimas den universalen und genreübergreifenden Tiefenstrukturen von Erzählungen zuwenden, beruht das Werk von Vladimir Propp noch auf einem ausgeprägtem Interesse an einer einzelnen Gattung. a. Gattungsspezifisches Handlungsschema (Vladimir Propp): Nachdem bereits die großen Editionsarbeiten des 18. bis 20. Jhdts.252 ein volkskundliches Interesse an nationalen Textgruppen und deren gemeinsamen Themen sowie deren Textgenese geweckt hatten, stellte Propps „Morphologie des Märchens“, die 1927 verfasste wurde,253 die erste systematische Analyse eines gattungsspezifischen Handlungsschemas dar. Propp verglich hierin hundert russische Zaubermärchen auf ihre gemeinsamen Ereignisse hin. Durch eine Zusammenfassung und Abstraktion dieser Ereignisse sowie der verwendeten Namen, Objekte und Orte gelang es ihm, aus diesem Schriftkorpus 31 gemeinsame Handlungsfunktionen herauszuarbeiten254 und deren unumkehrbare Reihenfolge darzulegen. Propps Ergebnisse verlieren jedoch deutlich an Erklärungspotential, wenn sie auf andere Textkorpora angewandt werden. Trotzdem sind ebensolche Versuche in der weiteren literaturwissenschaftlichen Forschungsgeschichte sowie in der Exegese255 anzutreffen.
251
MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Einführung, 127. Vgl. hierzu ausführlich MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Einführung, 128, die auf die „Sammlungen alter Märchen, Mythen, Balladen und Sagen durch Charles Perrault, Thomas Percy, Johann Gottfried Herder, Jacob und Wilhelm Grimm“ verweisen. 253 Zu Propp und dessen Einfluss auf den Strukturalismus vgl. BREMOND, Logique, 11– 47; CHATMAN, Story, 89–91; RIMMON-KENAN, Narrative Fiction, 20–22; MARTÍNEZ/ SCHEFFEL, Einführung, 130–132. 254 Propp betont explizit, dass nicht alle Funktionen in jedem Märchen vorkämen und Doppellungen einzelner Funktionen möglich seien. Die Reihenfolge bleibe jedoch immer konstant (PROPP, Morphologie, 31–66). 255 Beispielhaft lässt sich dies an Erhardt Güttgemanns’ Versuch einer Übertragung auf biblische Erzählungen verdeutlichen. Man kann zwar Güttgemanns „Grammatik“ folgend den Weinberg in 12,1–9 mit dem Label „object of value“ versehen, die Verpachtung als Vertragsabschluss bezeichnen und die folgende Erzählung unter dem Blickwinkel der Prüfung betrachten (GÜTTGEMANNS, Narrative Analysis, 133–136), aber diese Terminologie hilft eben kaum, das Besondere dieses Gleichnisses zu erschließen, und berücksichtigt v.a. die Bezüge zwischen dieser Perikope und dem Gesamtevangelium in viel zu geringem Maße. 252
2.4 Handlungsanalyse: Erzählte Christologie
81
b. Triadisches Handlungsschema (Claude Bremond): Claude Bremond versucht mit seinem triadischen Handlungsschema den Ansatz Propps nicht nur weiterzuentwickeln, sondern diesen zugleich auf narrative Texte im Allgemeinen auszuweiten. Dazu fasst Bremond die Handlungsfunktionen in drei Elementarsequenzen zusammen, nämlich i) die Anfangssituation, durch die eine Möglichkeit eröffnet wird (éventualité), ii) die Sequenz der Aktualisierung (passage à l’acte) und iii) die Schlusssequenz, die das erfolgreiche oder erfolglose Ergebnis präsentiere (achèvement/inachèvement). In kritischer Auseinandersetzung mit Propp betont Bremond zudem, dass sich die Funktionen einer Erzählung keineswegs als einsträngige Abfolge begreifen lassen, sondern als „Serie dichotomisch verlaufender Optionen“256. Jedem Ereignis bzw. jeder Funktion wohne immer zugleich die Möglichkeit einer Alternative inne. Es ergibt sich demnach folgendes triadisches Handlungsschema (Abb. 2.8)257: Erfolg Aktualisierung Mißerfolg
Möglichkeit
Erfolg Nicht-Aktualisierung Mißerfolg
Abb. 2.8: Triadisches Handlungsschema nach Bremond Die Handlungstriaden einer Erzählung können Bremond zu Folge wiederum auf unterschiedliche Weise verknüpft sein. Die einfachste Form der Verknüpfung stellt die „Hand-in-Hand-Relation“ dar, bei der das Ergebnis einer Elementarsequenz zugleich den Anfangspunkt der nächsten markiert. Es sind aber auch weitere Formen der Verknüpfung, wie etwa die „Enklave“, denkbar, bei der in eine Elementarsequenz eine oder mehrere vermittelnde Sequenzen eingeschaltet werden. Bremonds triadisches Handlungsschema stellt einen wichtigen Übergang zu heutigen kognitiven Modellen dar. Bei Bremond ist bereits angelegt, dass sich durch Handlungen immer Alternativen ergeben. Diese Alternativen wer256 257
BREMOND, Erzählnachricht, 201. Vgl. zur hier verwendeten Graphik FINNERN, Narratologie, 105.
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2. Kapitel: Narratologische Zugänge zur markinischen Christologie
den jedoch noch nicht rezipientenabhängig gedacht. Darüber hinaus sind es im Wesentlichen drei Probleme, mit denen Bremonds Modell behaftet ist: Erstens ist nicht ersichtlich, warum jedes Ereignis bzw. jede Funktion einer Erzählung immer nur auf zwei Handlungsalternativen begrenzt sein soll.258 Diese Reduktion auf eine binäre Struktur wird der Komplexität vieler Erzählungen kaum gerecht bzw. führt unweigerlich zu einer methodisch bedingten Vereinfachung. Im Folgenden wird sich zeigen, dass die neuere Possible Worlds Theory von Marie- Laure Ryan die Handlungsalternativen in Erzählungen besser und umfassender abzubilden vermag.259 Indem Bremond die strukturellen Aspekte einer Erzählung durch inhaltliche ergänzt, namentlich die Thematik des Erfolgs/Misserfolgs, ergibt sich zweitens das Problem, dass das Handlungsschema keineswegs einen universellen Anspruch zu erheben vermag. Es entspricht lediglich „einer kleineren Zahl von wesentlichen Situationen im Leben“260, wie z.B. Erzählungen mit einer expliziten Beauftragung oder einem Vertragsschluss. Wird dieses Schema auf andere Erzählungen übertragen, kommt es nahezu zwangsläufig zu einer Pauschalisierung individueller Erzählzüge oder gar zu Fehldeklarationen.261 Drittens vermag Bremond nicht mit ausreichender Präzision zu zeigen, nach welchen Kriterien sich der Erfolg und Misserfolg einer Handlung bestimmen lässt. Ist der Erfolg von den Intentionen und Motivationen der einzelnen Figuren abhängig oder vom ideologischen Standpunkt des Erzählers bzw. der Rezipienten? Im ersten Fall müsste der Komplexität der Figurenmerkmale stärker Rechnung getragen werden. Jedenfalls vermag Bremonds Modell noch nicht in ausreichendem Maß „mögliche Diskrepanzen zwischen Intentionen oder Motivationen der Figuren und der Wirksamkeit ihres Handelns“262 zu berücksichtigen. Im zweiten Fall müssten die impliziten Beurteilungen durch den Erzähler sowie die (textexternen) Normen, Werte und Vorstellungen der intendierten Rezipienten stärker berücksichtig werden. Am Ende des Markusevangeliums ergibt sich der „Erfolg“ Jesu – sofern man diesen als solchen bezeichnen will – nur indirekt aus dem positiven Schicksal Jesu, nämlich seiner Auferstehung, sowie aus der Rehabilitationsvorstellung, die der Auferstehungsbotschaft inhärent ist. Dass Jesus als „erfolgreich“ zu 258
So bereits RENNER, Erzähltextanalyse, 50. Hierauf weist bereits FINNERN, Narratologie, 106 u. 112 hin. Zugleich fällt aber auf, dass auch Finnern bei der Erstellung eines Handlungsplans zu Mt 28 weitgehend auf eine bipolare Struktur zurückgreift (vgl. FINNERN, Narratologie, 310). 260 TODOROV, Kategorien, 263–294, hier 268. 261 Dies lässt sich auch an jenen Arbeiten erkennen, die bei der Analyse des Markusevangeliums – explizit oder implizit – auf Bremonds Handlungsschema zurückgreifen, so z.B. TANNEHILL, Narrative Christology; DAVIDSEN, Narrative Jesus, 335.338f. (vgl. hierzu im Detail Kap. 3.3). 262 GUTENBERG, Mögliche Welten, 32. 259
2.4 Handlungsanalyse: Erzählte Christologie
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bezeichnen ist, ergibt sich also, wenn überhaupt, erst aus der emergenten Bedeutung, die der intendierte Rezipient den geschilderten Ereignissen zuschreibt bzw. aus dem implizit vermittelten Handeln Gottes ableitet. c. Thematisches Handlungsschema (Lévi-Strauss, Greimas): Einen großen Bekanntheitsgrad – über die Narratologie hinaus – besitzen neben Propp und Bremond auch die Ansätze von Claude Lévi-Strauss und Algirdas J. Greimas.263 Beiden Ansätzen ist gemeinsam, dass sie ein vorrangiges Interesse an den Themen der Erzählung haben und diese Themen dann im Sinne von Gegensatzpaaren in Relation zueinander setzen. Lévi-Strauss, der in „The Structural Study of Myth“ (1955) eine Analyse des Ödipus-Mythos vornimmt und das herausgearbeitete Schema zugleich auf die mythische Erzählweise insgesamt überträgt, benennt zunächst vier inhaltliche „Mytheme“. Im Falle des Ödipus-Mythos sind dies die „überbewertete“ (A) und „entwertete Verwandtschaftsbeziehung“ (B) sowie die „Autochthonie“ (C) und die „Verneinung dieser Autochthonie“ (D). Die Relation dieser vier Mytheme entspricht nach Lévi-Strauss der Struktur zweier miteinander korrelierbarer Gegensatzpaare. Es ergibt sich also die Relation: A:B :: C:D. Die Funktion der mythischen Erzählung besteht nach Lévi-Strauss nun gerade darin, dass derartige Oppositionen bewusst gemacht und überwunden bzw. vermittelt werden. Die jeweiligen kulturellen Ausprägungen änderten nichts an dieser Strukturiertheit. Die inhaltliche Opposition lasse sich letztlich sogar auf kulturübergreifende, anthropologische Grundkonstanten zurückführen. Variabel sind nach Lévi-Strauss jeweils nur die Sinnträger (z.B. stereotype oder symbolhafte Figuren), durch die die Vermittlung der Gegensätze geschieht. Unklar bleibt auch bei Lévi-Strauss, warum sich Mythen immer auf eine binäre Oppositionsstruktur reduzieren lassen sollen. Die Behauptung solcher Binaritäten gehört zu den offensichtlichen Kennzeichen des Strukturalismus und ist vermutlich dem Streben nach einem möglichst großen Abstraktionsgrad geschuldet. Die Behauptung einer solchen als überkulturell verstandenen Grundstruktur kann jedoch durchaus mit guten Gründen bestritten werden und erweist sich vor allem bei der Einzelanalyse als unzureichend. Greimas hat im Vergleich zu Lévi-Strauss ein etwas ausdifferenzierteres Handlungsschema formuliert. Dieses beruht auf den Relationen des sog. se-
263 Zum Einfluss von Greimas, Lévi-Strauss und anderen Strukturalisten auf die (Markus)Exegese vgl. den Überblick bei DRONSCH, Bedeutung, 66f. und dazu MALBON, Narrative Space; Malbon Mark’s Jesus; DAVIDSEN, Narrative Jesus; DANOVE, End; COOK, Structure; PALMER, Matrix.
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2. Kapitel: Narratologische Zugänge zur markinischen Christologie
miotischen Quadrats (carré sémiotique).264 Auch hier werden die Themen zunächst in Form von Gegensatzpaaren abgebildet. Allerdings erweitert Greimas die binäre Opposition zugleich durch die Kriterien der Kontrarität, Kontradiktion und Komplementarität (Abb. 2.9).265 s1
s2
Konträrität: z.B. Leben/ Tod Kontradiktion: z.B. Leben/ Nicht-Leben Komplementarität (z.B. Leben/ Nicht-Tod)
s2
s1
Abb. 2.9: Das semiotische Quadrat nach Greimas Mit Hilfe des semiotischen Quadrats lassen sich nicht allein Themen einer Erzählung abbilden, sondern diese Relation liegt Greimas zu Folge auch jedem Handlungsverlauf zu Grunde. Dieser lasse sich im Sinne zahlreicher Transformationen begreifen. Greimas setzt hierbei die bereits bei Propp auftauchenden Handlungsfunktionen des Verbots, der Übertretung, der Aufforderung und der Annahme in eine entsprechende Relation (Abb. 2.10) und versteht dabei das Verbot als negative Transformation der Aufforderung und diese wiederum als Kontradiktion zur Übertretung. Aufforderung
Vertrag vs.
Annahme
Übertretung
Abb. 2.10: Greimas’ Konzeption des Handlungsverlaufs Letztlich unterteilt Greimas den Handlungsverlauf in vier entsprechende Phasen und verknüpft diese Konzeption wiederum mit seinem Aktantenmodell: In einer ersten Phase (Manipulation) kommt es nach Greimas stets zu einem Vertragsabschluss bzw. der Beauftragung des Helden durch einen Sender. In der zweiten Phase (Kompetenz) komme es dann zur Prüfung des Helden, in dem sich dieser dem Auftrag gemäß oder widersprechend verhalten könne. Hierbei könne der Held Unterstützung durch einen Helfer erhalten oder durch einen Antagonisten und dessen Helfer beeinträchtigt werden. In der dritten Phase der Erzählung (Performanz) werde dann von der (Nicht)Erfüllung des Auftrags bzw. dem Sieg (oder auch der Niederlage) des Helden berichtet. Das 264 GREIMAS, Du sens, 135–183. Im Hintergrund steht hier das logische Quadrat, das häufig Aristoteles zugeschrieben wird (vgl. MEISTER, Computing Action, 174f.). Greimas greift das Konzept jedoch von Chabrol auf (vgl. OHNO, Pariser Schule, 162). 265 Vgl. zu dieser Abbildung GREIMAS, Du sens, 137.
2.4 Handlungsanalyse: Erzählte Christologie
85
Ende der Erzählung (Sanktion) diene der Veranschaulichung des Erfolgs bzw. Misserfolgs. Wenngleich sich durchaus in einzelnen Kulturkreisen bestimmte Erzählmuster etablieren und zu strukturellen Analogien führen können, irritiert auch bei Greimas die Selbstverständlichkeit, mit der Erzählungen auf überkulturelle Handlungsrollen und vorgegebene Erzählstrukturen fixiert werden. Zudem gilt es an dieser Stelle, an die bereits im vorherigen Unterkapitel formulierten Anfragen an das Aktantenmodell zu erinnern (vgl. 2.3.3). Insgesamt ist der analytische Gewinn der strukturalistischen Handlungsschemata gering. Der hohe Abstraktionsgrad führt unweigerlich dazu, dass die individuellen bzw. kulturspezifischen Aspekte einer Erzählung vernachlässigt werden. So können die Schemata meist nur auf eine sehr begrenzte Anzahl – thematisch korrelierender – Erzähltexte angewandt werden. Ansonsten erweisen sie sich als zu statisch und führen in der Analyse häufig zu ungenauen Klassifizierungen, Vereinfachungen oder gar Fehlbezeichnungen. Eine Problematik, die sich durch die Rezeption strukturalistischer Ansätze auch in der Markusexegese widerspiegelt. Außerdem geraten durch die strukturalistischen Handlungsschemata immer nur explizite Handlungsrollen ins Blickfeld. Für das Verständnis einer Erzählung können aber, je nach Kulturkreis, auch implizite Handlungsrollen, wie z.B. das Wirken Gottes, eine große Relevanz besitzen. Ein Sachverhalt, der gerade für die Analyse neutestamentlicher Texte von hoher Relevanz ist. Letztlich wird von den Strukturalisten die Involviertheit der Rezipienten noch weitgehend ausgeblendet. Dass sich Aspekte wie die Kontrarität, Komplementarität und Kontradiktion (Greimas) oder mögliche Handlungsalternativen (Bremond) letztlich nur durch das kulturell-zeitliche Vorwissen der Rezipienten, die Schlussfolgerungsprozesse der Leser oder deren Fähigkeit zur Konstruktion emergenter Bedeutungen analysieren lassen, bleibt noch unberücksichtigt. 2.4.2 Handlungsverläufe Während in der klassischen Handlungsanalyse Erzählungen eher als statische Strukturgebilde erschienen und weitgehend unter formalistischen, abstraktionsfähigen Gesichtspunkten untersucht wurden, zeichnet sich mit der kognitiven Wende ein echter Paradigmenwechsel ab. Im Mittelpunkt des Interesses stehen nun drei Arten von Rezeptionsprozessen. Einerseits wird versucht jene frames und scripts zu eruieren, die zum inhaltlichen Verstehen einer Handlung notwendig sind. Andererseits zeichnet sich ein dezidiertes Interesse an den Schlussfolgerungsprozessen der Rezipienten ab. Wie stellt der Rezipient über den Verlauf einer Erzählung Zusammenhänge zwischen einzelnen Ereignissen oder Episoden her? Neuerdings wird zudem auf der Grundlage des Conceptual Blending danach gefragt, wie die Bezüge und der Vergleich zwi-
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2. Kapitel: Narratologische Zugänge zur markinischen Christologie
schen mehreren Episoden zur Konstruktion emergenter Bedeutungen beitragen. a. Possible Worlds Theory (Marie-Laure Ryan): Die Erzählwissenschaftlerin und ehemalige Softwareentwicklerin Marie-Laure Ryan präsentierte – nach einigen Vorarbeiten266 – im Jahr 1991 ein eigenes, innovatives Modell der Handlungsanalyse, das m.E. vor allem durch sein inhaltliches Erschließungspotential sowie die Einbeziehung textexterner Referenzpunkte zu überzeugen vermag und innerhalb der neueren Narratologie auf ein breites Echo stößt: „Sie [sc. die Possible-Worlds Theory (=PWT)] ermöglicht die Abkehr von rein textimmanenten, strukturalistischen Textanalysen, indem sie Kategorien zur semantischen Beschreibung narrativer Modalitäten bereitstellt. Durch die Einbeziehung des Wirklichkeitsbezugs und des Inhaltsaspekts literar[ischer] Texte legt die PWT darüber hinaus die Grundlage für die lit[eratur]theoretische Neuorientierung bezüglich Fragen der Referenz, Ontologie und Repräsentation und stellt somit auch einen wichtigen Schritt in Richtung einer interdisziplinär ausgerichteten Lit[eratur]theorie dar.“ 267
Nachdem die philosophische268 Theorie möglicher Welten bereits durch Lewis, Doležel, Pavel und Eco Einzug in die Literaturwissenschaft gefunden hatte269 (und in dieser Form durchaus in der Exegese rezipiert wird),270 konnte Marie-Laure Ryan den Ansatz in analytischer und methodischer Hinsicht noch einmal präzisieren. Grundlegend für Ryans Konzeption ist zunächst, dass jede Erzählung – unabhängig von ihrem jeweiligen Fiktionalitätsgrad – immer Anklänge an die wirkliche Welt (AW: actual world)271 besitzt. Ohne diese Bezüge könnte eine Erzählung schlechterdings gar nicht verstanden werden. Von der AW unterscheidet Ryan sodann eine TRW (textual reference world), d.h. eine quasi-autonome Referenzwelt, die durch die jeweilige Erzählung evoziert wird, und zudem eine TAW (textual actual world), die als
266
RYAN, Modal Structure; RYAN, Embedded Narratives and Structure; RYAN, Embedded Narratives and Tellability. 267 SURKAMP, Art. Possible-Worlds theory, 538. 268 Vgl. v.a. HINTIKKA, Possible Worlds; KRIPKE, Naming; LEWIS, Counterfactuals und LEWIS, Plurality. 269 Vgl. DOLEŽEL, Heterocosmica; ECO, Role, 217–260; ECO, Lector, 140–219, PAVEL, Possible Worlds; PAVEL, Fictional Worlds. 270 Vgl. z.B. DRONSCH, Bedeutung, 226–230. 271 Der Begriff der AW ist missverständlich, weil er das Vorhandensein einer ontologisch gegebenen, objektivierbaren Wirklichkeit suggeriert. Ryan ist sich jedoch durchaus der kulturellen Variabilität und der Konstruktivität dieser AW bewusst (RYAN, Possible Worlds, 41). FINNERN, Narratologie, 110, verweist – durchaus zu Recht – darauf, dass die Terminologie Ryans (AW, TRW, TAW usw.) „unnötig kompliziert und technisch“ sei. Allerdings haben sich diese Begriffe innerhalb der Narratologie mittlerweile fest etabliert.
2.4 Handlungsanalyse: Erzählte Christologie
87
mentales Bild dieser TRW zu begreifen ist.272 Um das genaue Verhältnis zwischen der TAW und AW zu beschreiben und zu klären, ob eine Welt von der anderen Welt aus betrachtet möglich ist, benennt Ryan neun Kompatibilitätskriterien,273 wie z.B. – physikalische Kompatibilität: „TAW is accessible from AW if they share natural laws“ – taxonomische Kompatibilität: „TAW is accessible from AW if both worlds contain the same species, and the species are characterized by the same properties“ – logische Kompatibilität: „TAW is accessible from AW if both worlds respect the principles of noncontradiction and of excluded middle“ – linguistische Kompatibilität: „TAW is accessible from AW if the language in which TAW is described can be understood in AW“
Zu diesen Kompatibilitätskriterien ließen sich noch weitere, wie v.a. eine ethisch-religiöse Kompatibilität274, ergänzen. Im Unterschied zur strukturalistischen Handlungsanalyse fällt bei Ryan zugleich eine starke Aufwertung der Figurenperspektive auf. So betont Ryan, dass zur TAW, die durch den Erzähler vermittelt wird, immer weitere Figurenwelten bzw. Figurendomänen hinzutreten können, die ihrerseits untereinander oder mit der T/AW kompatibel sein können. Diese Figurenwelten entspringen entweder dem Wissen (KWelt/knowlege world), den Pflichten (O-Welt/obligation world), den Wünschen (W-Welt/wish world) oder Intentionen (I-Welt/intentional world) der einzelnen Figur und können sich im Lektüreprozess als zuverlässig bzw. „authentisch“ (authentic) erweisen oder als unzuverlässig bzw. „vorgetäuscht“ (pretended). Diese Differenzierung der Figurenwelten lässt sich anhand von Mk 8,31– 33 veranschaulichen: Hier, in der Mitte des Markusevangeliums, treffen einerseits die Wunschwelt des Petrus und die Pflichtwelt Jesu aufeinander: Während in der Pflichtwelt des Protagonisten das Sterben des Menschensohns vorgesehen ist, soll in der Wunschwelt des Jüngers ebendieses Leiden des Christus vermieden werden. Zugleich lässt sich in diesem spezifischen Fall Jesu Vorhersage im Sinne einer Wissenswelt erfassen, da Jesus um sein bevorstehendes Schicksal weiß. Aufgrund ihres textexternen Weltwissens sowie der textinternen Informationen (3,6) erscheint den Rezipienten Jesu Weltsicht als zuverlässig. Die Wunschwelt des Petrus wird demgegenüber von den Rezipienten aufgrund des vorherigen Verhaltens der Jünger, insbesondere ihres Unglaubens und Unverständnisses, sowie der unmittelbaren 272 Die Differenzierung zwischen TAW und TRW erscheint künstlich und ist in analytischer Hinsicht zudem vernachlässigenswert (vgl. hierzu GUTENBERG, Mögliche Welten, 54f.). 273 Vgl. RYAN, Possible Worlds, 32f. 274 In Analogie zu den vorherigen Definitionen ließe sich diese ethisch-religiöse Kompatibilität wie folgt beschreiben: „TAW is accessible from AW if the religious and moral ideas and thoughts of the TAW can be understood in the AW“.
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2. Kapitel: Narratologische Zugänge zur markinischen Christologie
Gesprächssituation (8,33) als unzuverlässig eingestuft. Aus Sicht der Rezipienten sind die beiden Figurenwelten also keineswegs gleichwertig, sondern schließen sich vielmehr aus. Ausgehend von dieser Feststellung lässt sich ein ganz bestimmter (und bestimmbarer) Handlungsverlauf erwarten: Jesus wird leiden. Jede andere Entwicklung der Handlung wäre eine Überraschung. Eine letzte Differenzierung der Erzählwelten ergibt sich bei Ryan durch die Berücksichtigung und Einbeziehung weiterer Erzählebenen. Tritt in einer Erzählung – wie dem Markusevangelium – ein intradiegetischer Erzähler auf oder wird vom Traum bzw. der Phantasievorstellung einer Figur berichtet, so können diese Textphänomene wiederum eine eigenständige Welt evozieren. Ryan spricht hier von der F-Welt bzw. dem F-Universum (F-Universum/ fantasy-universe). Diese Welt kann wiederum in Relation zur TAW und zur AW gesetzt und analysiert werden. Die Gleichnisse Jesu in Mk 4 und Mk 12 sind hier – so wie sämtliche Gleichnisse des Neuen Testaments – ein interessantes Beispiel. In ihnen wird jeweils eine erzählte Welt evoziert (z.B. die Welt des Weinbergbesitzers), die sich aber gerade über ein explizites oder implizites tertium comparationis oder auch mehrere tertia auf die TAW und die AW der Rezipienten beziehen lässt und bezogen werden soll. Für die Analyse des Markusevangeliums ist von Relevanz, dass die Figuren diese Vergleichspunkte gerade nicht zu erkennen vermögen oder aber falsche bzw. lediglich unzureichende Rückschlüsse ziehen. Nachdem die verschiedenen Welten – inklusive Erzähler- und Figurendomänen – bestimmt sind, lässt sich nach Ryan eine Handlungskarte (plot map) anfertigen. Durch diese gerät zweierlei in den Blick: Zum einen sind die Welten einer Erzählung keine statischen Gebilde. Sie sind vielmehr einem stetigen Wandel unterzogen, den es bei der Analyse zu berücksichtigen gilt: „A narrative, however, cannot be reduced to a static snapshot of a certain state of a modal system. During the course of the story, the distance between the various worlds of the system undergoes constant fluctuations.“ 275
Zum anderen führt die Tatsache, dass die Rezipienten bestimmte Wünsche, Pflichten, Intentionen oder das Wissen der Figuren kennen und die vorhandenen Weltvorstellungen hierarchisieren, dazu, dass diese die weitere Erzählung antizipieren. Sie rechnen aufgrund dieser Figurenmerkmale mit dem Eintreten bestimmter Ereignisse, halten manche Handlungsverläufe für wahrscheinlich und werden durch andere Ereignisse überrascht (Abb.
275
RYAN, „Possible Worlds“, 27.
89
2.4 Handlungsanalyse: Erzählte Christologie
2.11276). Bildlich gesprochen werden die Leser in die Erzählung „verwickelt“ und bleiben nicht einfach außen vor.277 B
7a A
1
2
B
6a A
5a A
3
5b
B
tatsächliche Ereignisse
6b
B
virtuelle Ereignisse 5
4 A
5c A
6 6c
Figurenmerkmal 1 (z.B. Wissen) Figurenmerkmal 2 (z.B. Pflichten)
Abb. 2.11: Ryans plot map nach Finnern Ryans Handlungsplan ist m.E. für die markinische Erzählung insgesamt, vor allem aber für die zahlreichen sandwich arrangements278 von großer Relevanz. Während die Exegese diese sandwich stories bisher primär unter strukturellen bzw. kompositorischen Gesichtspunkten berücksichtigt hat und lediglich allgemeine Rezeptionseffekte benennt,279 vermag Ryans Ansatz die genauen Prozesse nachzuzeichnen, die auf Seiten der Rezipienten ablaufen. Durch a) die Einbeziehung des textexternen Weltwissens, b) die Differenzierung zwischen Erzähl- und Figurendomänen sowie c) eine stärkere Berücksichtigung der rezeptionsseitigen Schlussfolgerungsprozesse werden klare Anhaltspunkte für die Analyse eines Textes geliefert. So lässt sich auf der Grundlage der gerade beschriebenen drei Kategorien aufzeigen, ob eine bestimmte Handlungsalternative im Erwartungshorizont der intendierten Rezipienten liegen konnte – Ryan spricht diesbezüglich vom principle of minimal departure.280 276
Abbildung nach FINNERN, Narratologie, 112. Vgl. zur Anfertigung einer solchen plot map ferner FINNERN/RÜGGEMEIER, Methoden, 219–222. 277 „Plot is traditionally – and superficially – conceived as a sequence of physical events that take place in a certain world. The concept of PW expands this vision by regarding plot as a complex network of relations between the factual and the non-factual, the actual and the virtual“ (RYAN, „Possible Worlds“, 29). 278 Zu diesen sandwiches zählen 3,20–21.22–30.31–35; 5,21–24.25–34.35–43; 6,7–13. 14–29.30–44; 11,12–14.15–19.20–25; 14,1–2.3–9.10–11; 14,53–65.66–72.15,1–15; 15,6– 15.16–20.21–32. Vgl. dazu FOWLER, Reader, 143f.; SHEPHERD, Sandwich; NEIRYICK, Duality, 133. 279 Vgl. etwa folgende Feststellung bei WITHERINGTON, Commentary, 37: „The purpose of this technique in each case seems to be to encourage the reader to read the two stories in light of each other, with the one interpreting the other.“ Witherington lässt hier gerade offen, welche Deutung sich aus dieser wechselseitigen Interpretation der Episoden ergeben könnte. In 11,12–25 dient die „sandwich“-Struktur laut Witherington der Spannungssteigerung (WITHERINGTON, Commentary, 312). 280 RYAN, Possible Worlds, 48–60, bes. 51f.; vgl. auch RYAN, Art. Possible-worlds theory, 447.
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2. Kapitel: Narratologische Zugänge zur markinischen Christologie
b. Handlungsstränge: Nur in seltenen Fällen bestehen heutige Erzählungen aus einer einzigen, d.h. einsträngigen Handlung oder aus lose aneinandergereihten Episoden (episodische Handlung). Weitaus häufiger kommt es vor, dass sich in einer Erzählung mehrere Handlungsstränge voneinander unterscheiden lassen (multiple plot), d.h. bestimmte Episoden, Szenen oder Ereignisse eine stärkere Verknüpfung aufweisen als andere. Die erzählenden Werke des Neuen Testaments zeichnen sich hingegen stärker durch einen episodenhaften Stil aus. Dies schließt allerdings keineswegs Bezüge zwischen den einzelnen Episoden aus. Die im vorherigen Abschnitt bereits angesprochenen sandwich arrangements im Markusevangelium sind ein Beispiel für eine Verknüpfung von Episoden:281 So werden im ersten Evangelium immer wieder Episoden in eine bereits begonnene Handlung eingeschoben. Weitere Beispiele für inhaltliche Verknüpfungen im Markusevangelium sind das Messiasgeheimnis282 oder das Jüngerunverständnismotiv, wobei der Begriff des Motivs hier gerade irreführend ist, da damit die Vorstellung einer statischen Handlungsstruktur befördert wird. Tatsächlich lassen sich zwischen den einzelnen Ereignissen eines Handlungsstrangs jedoch meist Entwicklungen erkennen. So auch beim Jüngerunverständnis: Einerseits erscheint das Unverständnis der Jünger angesichts der erlebten Wunder immer bizarrer – selbst im Anschluss an die zweite Brotvermehrung sorgen sie sich um ihr eigenes Brot (8,14–21) –, andererseits reagiert auch Jesus auf das Verhalten seiner Nachfolger immer ungehaltener: „Versteht ihr denn noch immer nicht? Und begreift ihr noch immer nicht? Habt ihr noch ein verhärtetes Herz in euch? Habt Augen und seht nicht, und habt Ohren und hört nicht“ (Mk 8,17b; vgl. V. 21)?283
Da sich im Markusevangelium durchaus mehrere Handlungsstränge erkennen und unterscheiden lassen, ist an dieser Stelle zu fragen, wie sich die Bezüge zwischen diesen Handlungssträngen (Kohärenz), deren inhaltliche Bedeutung 281
Für antike Erzählungen gilt tendenziell, dass sie sich im Vergleich zur modernen Literatur durch eine geringere Komplexität auszeichnen. Eine einsträngige Handlung oder eine episodische Struktur i.e.S. sind aber auch hier eher die Ausnahme. 282 Anders das kritische Urteil Wredes: „Betrachtet man die verschiedenen Stücke des Berichtes zusammen, so ergibt sich, dass im Allgemeinen keine innere Folge zwischen ihnen hergestellt ist. Mehrere Geschichten werden zwar öfter durch dieselbe Situation, durch eine chronologische oder sonstige Bemerkung zusammen gehalten. [...] [I]m Ganzen aber steht ein Stück neben dem Anderen“ (WREDE, Messiasgeheimnis, 131f.). Gleichzeitig meint Wrede jedoch, dass der „unbefangene Leser“ die einzelnen Motive aufeinander bezieht und zu einem Erzählzug verbindet (vgl. WREDE, Messiasgeheimnis, 36). Die kognitive Narratologie kann hier zu einem vertieften Verständnis beitragen und aufzeigen, welche Kriterien zu einer Verknüpfung einzelner Episoden beitragen (s.u.). 283 Vgl. hierzu die nahezu parallele Formulierung in 4,12 – dort freilich in Hinblick auf die Außenstehenden (ejkeivnoi~ de; toi`~ e[xw).
2.4 Handlungsanalyse: Erzählte Christologie
91
für die Gesamterzählung (Haupt-/Nebenhandlungen) sowie die genaue Art ihrer Verknüpfung (Verknüpfungstechnik) methodisch angemessen analysieren lassen. Um die Bezüge bzw. die genaue „Verknüpfungsstärke“ (Finnern) zwischen Episoden, Szenen und Ereignissen zu beschreiben, lassen sich formale Kriterien benennen:284 – – – – – – –
Metakommunikative Hinweise (z.B. „Am Abend desselben Tages“) Kausaler Handlungszusammenhang, Übereinstimmung bei Figurenbestand/-konstellation (z.B. Jesus – Jünger) Übereinstimmung bei Ort, Zeit oder Gegenständen (z.B. Boot, Weg 285) Thematische Parallelen (z.B. Auseinandersetzung mit Autoritäten in Mk 2), Semantische Übereinstimmung (Figurenrede, Erzählerkommentar) Identische Erzählperspektive und -technik
Diese Kriterien bieten in der Tat einen wichtigen Anhaltspunkt, um die Verknüpfung zwischen zwei Episoden zu erkennen und die Verknüpfungsstärke abzuschätzen. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass sich die Übereinstimmung zwischen zwei Textelementen nicht allein auf explizite Wiederaufnahmen reduzieren lässt. Die Herstellung von Kohärenz ist außerdem kein ausschließlich textimmanentes Phänomen. Vielmehr sind es immer die Rezipienten, die über den Textverlauf hinweg Bezüge zwischen einzelnen Elementen (z.B. über ein einzelnes Figurenmerkmal) herstellen, indem sie einerseits kohäsionsstiftende Elemente im Text erkennen und zugleich auf textexternes Wissen zurückgreifen (Abb. 2.12).286 Der Rezipient erkennt nicht nur wortwörtliche Übereinstimmungen (totale Rekurrenz), sondern auch Substitutionen (Synonyme, Antonyme, Hyponyme, Hyperonyme) oder sogar Begriffe, die sich einem sehr gruppenspezifischen semantischen Netz287 zuordnen lassen. Häufig reicht in der Erzählung zudem die Verwendung des Personal-, Demonstrativ- oder Possessivpronomens aus, damit die Rezipienten eine Entität des Textes mit einer zuvor eingeführten Figur bzw. Figurengruppe identifizieren können. So wird der Rezipient das 284
Vgl. FINNERN/RÜGGEMEIER, Methoden, 223f. Vgl. zu diesen beiden „szenischen Kohärenzsignalen“ im Markusevangelium ECKSTEIN, Markusevangelium, 231. 286 An dieser Stelle ist es weiterführend, die Ergebnisse der Textlinguistik – insbesondere der Kohärenzforschung – in die Handlungsanalyse einzubeziehen; vgl. RICKHEIT/ SCHADE, Kohärenz und Kohäsion, 275–283; LINKE, Studienbuch, 215–222; HALLIDAY/ RUQAIYA, Cohesion; und im exegetischen Bereich: BECKER, Kohärenz, 97–121 sowie UTZSCHNEIDER/BECKER/GANSEL, Art. Kohärenz/Inkohärenz, 328–330. Die hier verwendeten Graphik entstammt FINNERN/RÜGGEMEIER, Methoden, 36. 287 Vgl. hierzu bereits QUILLIAN, Word Concepts, 410–430. Seit einigen Jahren beschäftigt sich neben der Psychologie und Linguistik auch die Informatik mit solchen Wissensnetzwerken, weil diese u.a. bei der Schlagwortsuche von großer Relevanz sind (vgl. etwa DENGEL, Semantische Technologien, 33–38). 285
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2. Kapitel: Narratologische Zugänge zur markinischen Christologie
angeredete Du in 1,2 automatisch mit dem im Eröffnungsvers erwähnten Jesus Christus verknüpfen und kaum mit einer anderen Personenvorstellung.288 Ähnliches gilt für die Verwendung von Pronominaladverbien bei Zeit- und Ortsangaben. Über die einzelnen Räume einer Erzählung hinaus bilden die Rezipienten zudem ein mentales Modell des jeweiligen Settings oder einer Figur, das ihnen eine Orientierung und Bezugnahme zwischen verschiedenen Episoden ermöglicht. Auf diese Weise scheinen im Markusevangelium etwa die Episoden auf heidnischem Gebiet verknüpft zu sein (5,1–20; 7,24–7,37; 8,1–9; 8,22–8,33). kohäsionsstiftende Elemente
Textwissen (Kohäsion)
Weltwissen (Kohärenz)
Textverlauf
textexterne Referenzobjekte
Abb. 2.12: Kohärenz und Kohäsion nach Finnern/Rüggemeier Auch die Bedeutung, die einem Handlungsstrang zukommt, d.h. ob dieser als Haupt- oder Nebenhandlung289 bewertet wird, ist von der Beurteilung der Rezipienten abhängig. Faktoren, die zu einer solchen Qualifizierung eines Handlungsstrangs beitragen, sind:290 – – – – –
Die Dauer, die dieser im Verhältnis zur gesamten Erzählzeitdauer einnimmt Der Zeitpunkt, zu dem ein Strang im Handlungsverlauf beginnt und endet Die Häufigkeit, mit der ein bestimmter Strang auftaucht Die kausale Funktion, die der Strang für die Gesamterzählung besitzt Die Bedeutung der Figuren, die innerhalb dieses Handlungsstrangs auftreten
Hat man die Verknüpfungsstärke und die Bedeutung der Handlungsstränge bestimmt, so lässt sich abschließend beschreiben, wie diese miteinander ver288
Anders MAJOROS-DANOWSKI, Elija, 122f.; PELLEGRINI, Elija, 194, die sich aufgrund des Prätextes (Ex 23,20) für eine Identifizierung mit dem Volk Israel aussprechen. 289 Auch diese binäre Klassifizierung bleibt letztlich unterkomplex. Präziser wäre es auch hier mehrere Bedeutungsebenen zu unterscheiden und bei der Analyse konsequenterweise von einem Handlungsverlauf der 1., 2., 3., 4. Bedeutungsebene usw. zu sprechen. 290 Ähnlich bereits EDER, Dramaturgie, 43f.
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2.4 Handlungsanalyse: Erzählte Christologie
woben sind und ob die Handlung dabei einem bestimmten Schema folgt. Neben der einfachen Verkettung (enchainment) kann ein Handlungsstrang in einen anderen eingebettet sein (embedding) oder aber es liegt eine alternierende Verknüpfung (A-B-A-B) vor. Über eine solche Beschreibung hinaus kann es hilfreich sein, die Verknüpfung einer Erzählung zu visualisieren (Abb. 2.13).291 Hierdurch lassen sich u.a. die für die Analyse wichtigen Knotenpunkte einer Handlung erkennen, an denen die Nebenhandlung in die Haupthandlung mündet und neue bzw. thematisch gewandelte Nebenhandlungen einsetzen können. Im Markusevangelium stellt die Episode 8,27–29 einen solchen Knotenpunkt dar: Bezieht sich das Unverständnis der Jünger ab Mk 4 vor allem auf die Person Jesu und seine Wundermacht, so sind es im Folgen v.a. der Aspekt des Leidens sowie die Ankündigung der Auferstehung, die bei den engsten Nachfolgern Jesu auf Unverständnis stoßen. Ein weiterer wichtiger Knotenpunkt ist die Gethsemane-Episode (vgl. Kap. 4.3). Wichtigkeit des Handlungsstrangs A B C
3
8 4
5 6
7
10 9 8
Kerne der Haupthandlung A Kerne der Nebenhandlungen B,C Knotenpunkt
Handlungsverlauf
Abb. 2.13: Konfiguration von Handlungssträngen nach Finnern Über die Techniken der Verknüpfung hinaus ist es für die Interpretation wichtig, nach der Bedeutung zu fragen, die sich aus solchen Bezügen ableiten lässt. Die Rezipienten stellen über den Handlungsverlauf nicht nur formale Gemeinsamkeiten und Unterschiede fest, sondern sie versuchen solche Verknüpfungen – ähnlich wie beim Perspektiven- oder Figurenvergleich – zu erklären und zwar unter Einbeziehung ihres textexternen Wissens sowie gewohnter Erklärungsmuster. So führen die Leser des Markusevangeliums das Unverständnis des Petrus (8,33) und der Jünger auf eine ihnen bekannte hoheitliche Vorstellung von „Christus“ zurück.292 291
Vgl. zu dieser Abbildung FINNERN, Narratologie, 117; hier in leicht modifizierter Weise. So kann ein Knotenpunkt nicht nur zur Verknüpfung einer Haupt- und Nebenhandlung führen, sondern zugleich Anfangspunkt einer weiteren Nebenhandlung werden. In 8,29 findet das Jüngerunverständnis einerseits ein Ende: Die Frage nach der Person Jesu scheint geklärt. Im Folgenden findet sich jedoch eine modifizierte Nebenhandlung: Nun bezieht sich das Unverständnis der Jünger primär auf das Leiden Jesu. 292 Ähnlich SCHENKE, Literarische Eigenart, 208: „Der Weg des Gottessohnes auf Erden führt entgegen der dem Titel ‚Messias/Christos‘ anhaftenden Erwartung der Menschen
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2. Kapitel: Narratologische Zugänge zur markinischen Christologie
Eine systematische Untersuchung inhaltlicher Verknüpfungen ist in neuerer Zeit auf der Grundlage des Conceptual Blending versucht worden. Hierbei lassen sich die Ereignisse und Episoden einer Erzählung, die vom Autor miteinander verknüpft werden, wiederum als input spaces eines Blending-Netzwerkes konzeptualisieren. „Understanding what a particular development of plot means, requires a realization of potential alternatives, and the meaning that results is more than a mere comparison of differences in events. Conceptual Integration elegantly accounts for this type of meaning construction in narrative.“293
Über die Verknüpfung tatsächlicher Handlungsereignisse hinaus können die Rezipienten zur Konstruktion einer – lediglich angedeuteten, aber nicht weiter ausgeführten – Hintergrunderzählung angeregt werden. Eine solche kann zu gleichen Teilen durch textinterne Signale (Dancygier: „narrative anchors“294) wie durch das textexterne und kulturell determinierte Wissen der Rezipienten angeregt werden. Die intendierten Rezipienten des Markusevangeliums sollen nicht nur erkennen, dass Jesus seinem Leidensschicksal bewusst entgegen geht, sondern dass die Ereignisse zugleich einem hintergründigen Heilsplan Gottes folgen. Hierauf lässt nicht nur die wiederholte Rede vom Leidenmüssen oder die Tatsache, dass Jesus auch sonst zukünftige Ereignisse adäquat vorhersagen kann, rückschließen. Vielmehr erwarten die Rezipienten bereits aufgrund ihres kulturellen Wissens, dass Gott die irdischen Geschicke lenkt und bestimmt (vgl. Kap. 4.3.1a)295 und werden hierin durch das Erzählte bestätigt. c. Handlungsenden: In Entsprechung zum eingangs (vgl. 2.1.2) beschriebenen Primär- und Rezenzeffekt kommt dem Anfang und Schluss einer Erzählung eine besonders starke Wirkung auf die Rezipienten zu. So lässt sich empirisch nachweisen, dass der Anfang einer Erzählung besonders gut im Benicht unmittelbar zum Triumph und zur Herrlichkeit, sondern schließt das Scheitern mit ein.“ 293 SCHNEIDER, Introduction, 12. 294 Vgl. DANCYGIER, Language of Stories, 42–44: „I defined narrative anchors as expressions which set up or suggest the availability of narrative spaces, but do not elaborate them right away. Such ‚place-holders‘ may activate new narrative spaces and allow them to remain active, but the spaces are elaborated gradually as the text unfolds, and often contribute to the topology of other spaces constituting the story“ (42). Vgl. zur Anwendung DANCYGIER, The text, 51–78 (Analyse zu The Great Gatsby und The blind assassin). 295 Ein ähnliches Phänomen beschreibt Elizabeth Struthers Malbon, wenn sie im Hinblick auf die markinische Erzählung von einem background conflict zwischen Gott und Satan spricht (vgl. MALBON, Mark’s Jesus, 80–83). Allerdings ist fraglich, ob der Rezipient tatsächlich einen solch anhaltenden Konflikt erkennen soll. Die Vollmacht, mit der Jesus auftritt und insbesondere Dämonen gebietet, lässt eher auf einen bereits entschiedenen Konflikt rückschließen (vgl. hierzu Kap. 4.3.1b).
2.4 Handlungsanalyse: Erzählte Christologie
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wusstsein erhalten bleibt, während nachfolgende Ereignisse schneller vergessen bzw. nicht in derselben Detailliertheit erinnert werden. Ähnliches gilt für die erste Beschreibung eines Ortes, eines Gegenstandes oder das erste Auftreten einer Figur.296 Umgekehrt, und hier liegt durchaus eine Gefahr innerhalb des exegetischen Diskurses, darf der Primäreffekt nicht zur völligen Relativierung des folgenden Erzählverlaufs führen. Der erste Eindruck beeinflusst die weitere Wahrnehmung der Rezipienten maßgeblich, ist aber noch nicht mit dem ideologischen Standpunkt des Autors gleichzusetzen. Es ist vielmehr zu analysieren, wie diese Erstbeschreibung modifiziert, erweitert, relativiert usw. wird.297 Der Schluss einer Erzählung lässt sich auch im Hinblick auf seine Geschlossenheit und seine Erwartbarkeit analysieren.298 So wird das Ende des Markusevangeliums häufig als offen bezeichnet (s.o.). Allerdings sollten die Kategorien „offen“ und „geschlossen“ nicht als zwei Alternativen verstanden werden, sondern als Extrempunkte einer Skala. Als eher geschlossen lässt sich eine Erzählung bezeichnen, bei der der Endzustand stabil ist. Dies gilt etwa für Erzählungen mit einem happy ending oder für zahlreiche Märchen („Darauf ward die Hochzeit gefeiert, und sie lebten vergnügt bis zu ihrem Tod.“). Das Ende des Markusevangeliums kann in dieser Hinsicht kaum als besonders instabil bezeichnet werden: Unklar bleibt zwar, wann die Frauen die Botschaft weitersagen, aber aufgrund des Vorwissens der Rezipienten (z.B. 1Kor 15,3ff. als frühchristliches Bekenntnis) und des vorherigen Erzählverlaufs (Mk 13,10; 14,9) ist kaum von einem dauerhaften Schweigen der Frauen auszugehen. Die Geschlossenheit einer Erzählung lässt sich auch daran bemessen, ob die aufgeworfenen Konflikte gelöst und die zentralen Ereignisse eingetreten sind. In dieser Hinsicht wird durch das Ende des Markusevangeliums ein Triumph Jesu angedeutet. Die Ereignisse des Leidens sowie der Auferstehung, die im Mittelpunkt der Vorhersagen Jesu stehen, gehen in Erfüllung. Auch der Konflikt zwischen Jesus und den Jüngern wird aufgrund des angekündigten Wiedersehens in Galiläa einer Lösung zugeführt. Von der Geschlossenheit einer Erzählung zu unterscheiden ist der Aspekt der Erwartbarkeit. Die Rezipienten spekulieren über den Erzählverlauf hinweg sowie aufgrund einer gattungsspezifischen Erwartungshaltung auf ein bestimmtes Ende. Bei Erzählungen mit einem historischen Bezug gilt es dies-
296 Ähnlich bereits MALBON, Beginning, 178–181; zum Primäreffekt bei Figuren vgl. EDER, Figur im Film, 213.238. 297 Hier ergibt sich im Zuge der Handlungsanalyse also eine Parallele zu den in 2.3.2 beschriebenen Kategorisierungseffekten, die die Wahrnehmung von Figuren beeinflussen. 298 FINNERN, Narratologie, 121 führt als weitere Analyseaspekte den Inhalt und die Form an. Es ergeben sich hierbei jedoch keine für das Erzählende spezifischen Analysemöglichkeiten.
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2. Kapitel: Narratologische Zugänge zur markinischen Christologie
bezüglich auch das textexterne Wissen der Rezipienten zu berücksichtigen. Tod und Auferstehung sind für die Rezipienten des ersten Evangeliums erwartbare Ereignisse. 2.4.3 Zeitliche Aspekte der Handlungsdarstellung 299 Im Hinblick auf die zeitlichen Aspekte der Handlungsdarstellung differenziert die Narratologie gewöhnlich zwischen zwei Zeiten. Diese werden seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts als „erzählte Zeit“ und „Erzählzeit“ (engl.: discourse time) bezeichnet.300 Unter der erzählten Zeit versteht man jene Zeit, die ein Ereignis innerhalb der Geschichte einnimmt. Unter der Erzählzeit wird jene Zeit gefasst, die der eigentliche Akt des Erzählens benötigt. In 1,12–13 umfasst die erzählte Zeit einen Zeitraum von 40 Tagen. Die Erzählzeit lässt sich hingegen mit zwei Versen oder noch präziser 30 Wörtern angeben.301 Anknüpfend an diese Terminologie sowie im Anschluss an weitere Vorarbeiten – v.a. von Eberhard Lämmert302 – formulierte der französische Strukturalist Gérard Genette mehrere Analysekriterien, die der präzisen Verhältnisbestimmung dieser beiden Zeitformen dienen sollen. Obwohl sich Genettes Konzept an zahlreichen Stellen kognitiv vertiefen lässt, stellt es bis heute zweifelsohne „das differenzierteste System narrativer Zeitanalyse“303 dar.304 Die folgende Darstellung orientiert sich an den drei Kategorien, die Genette zur Analyse der Zeitbestimmung vorschlägt: a) der Ordnung, b) der Geschwindigkeit und c) der Frequenz. Unter diesen besitzt die Ordnung zweifelsohne die größte Relevanz für die Analyse des Markusevangeliums. a. Ordnung: Bei der Ordnung der Ereignisse gibt es nach Genette drei Möglichkeiten: Die Ereignisse einer Erzählung können entweder von jeglicher zeitlichen Bestimmung losgelöst sein (Achronie), in der „normalen“ Reihen-
299
Vgl. zur Analyse zeitlicher Aspekte auch FINNERN/RÜGGEMEIER, Methoden, 215–
219.
300
Diese Terminologie geht bereits auf den deutschen Literaturwissenschaftler Günther Müller zurück (vgl. MÜLLER, Bedeutung der Zeit; MÜLLER, Erzählzeit). 301 Bereits GENETTE, Erzählung, 213 erkennt das Problem, dass die Lektüredauer bei verschiedenen Lesern unterschiedlich ausfallen kann. Neben einer optimalen Lektüredauer schlägt er seinerseits vor, die Erzählzeit in Seiten zu messen. Bei neutestamentlichen Erzählungen, die sich durch kurze Szenen auszeichnen, bietet sich hingegen eine Angabe in Versen oder in Worten an. 302 Vgl. LÄMMERT, Bauformen, 82–94 (Raffung) und 95–194 (Rückwendungen, Vorausdeutungen). 303 VOGT, Grundlagen, 298. 304 Vgl. zur Rezeption innerhalb der Exegese CULPEPPER, Anatomy, 53–75; POWELL, Narrative Criticism, 36–40; MARGUERAT/BOURQUIN, Bible Stories, 85–100; EISEN, Poetik, 100–110.
2.4 Handlungsanalyse: Erzählte Christologie
97
folge berichtet werden (Synchronie) oder von dieser Reihenfolge abweichen (Anachronie). Formen der Achronie kommen im Markusevangelium nicht vor und lassen sich an dieser Stelle vernachlässigen. Die synchrone Darstellungsweise stellt innerhalb des ersten Evangeliums den Regelfall dar. An mehreren Stellen kommen aber auch Formen der Anachronie vor, wobei sich mit Genette noch einmal differenzieren lässt, zwischen zurückliegenden Ereignissen, die nachträglich erzählt werden (Analepse) und späteren Ereignissen, die bereits im Vorhinein berichtet werden (Prolepse).305 Diese Zeitverhältnisse sowie weitere Differenzierungsmöglichkeiten lassen sich an zwei Beispielen aus dem Markusevangelium demonstrieren: (1) „Und es war da eine Frau, die [hatte] seit zwölf Jahren den Blutfluss, hatte viel erlitten durch viele Ärzte und [dabei] ihren ganzen Besitz aufgewendet – allerdings ohne Nutzen, denn es war vielmehr noch schlimmer geworden“ (Mk 5,25f.). (2) „Und er (sc. Jesus) nahm wieder die Zwölf zu sich und fing an, ihnen zu sagen, was ihm widerfahren sollte: ‚Seht, wir gehen jetzt nach Jerusalem hinauf und der Sohn des Menschen wird überliefert werden an die Hohenpriester und Schriftgelehrten. Und sie werden ihn zum Tode verurteilen und sie werden ihn an die Heiden ausliefern und die werden ihn verspotten und ihn anspucken und ihn geißeln und töten; aber nach drei Tagen wird er auferstehen‘“ (Mk 10,32b–34).
Im ersten Beispiel (1) handelt es sich um eine Analepse, während Jesu Leidensankündigung (2) eine Prolepse ist. Vergleicht man die beiden Texte, so lassen sich noch andere Differenzen erkennen. Hierbei geraten Aspekte in den Blick, die zur Beschreibung von Anachronien allgemein relevant sind: Ein erster Unterschied betrifft den Modus, d.h. die Art der erzählerischen Vermittlung: Während es in Beispiel 1 der Erzähler ist, der über die zurückliegende Krankheitsgeschichte der Frau berichtet, ist die Prolepse aus Beispiel 2 an die Perspektive Jesu gebunden. Sie wird in der Form der direkten Rede wiedergegeben. Im Markusevangelium kommt die Prolepse auch in Form der indirekten Rede vor (z.B. 8,31; 9,31). Um das Verhältnis zwischen Anachronie und erzählerischer Vermittlung zu beschreiben, wählt Genette die Begriffe der objektiven und subjektiven Anachronie.306 Diese Terminologie ist insofern missverständlich, als der Begriff des Objektiven bereits ein ganz bestimmtes Erzählerverständnis – nämlich das eines zuverlässigen Erzählers – implizieren könnte. Angemessener und präziser ist es deshalb eher „technisch“ von diegetischen und metadiegetischen Anachronien zu sprechen.307 Die beiden Beispiele unterscheiden sich zweitens im Hinblick auf die Reichweite. In Beispiel 1 wird von Ereignissen berichtet, die vor den Beginn 305
Vgl. GENETTE, Erzählung, 25. Vgl. GENETTE, Erzählung, 25. 307 Dies bemerkt Genette selbst (vgl. GENETTE, Erzählung, 163 u. 165 Anm. 44). Vgl. auch DU TOIT, Prolepsis, 170. Z.T. wird die Kategorie der subjektiven bzw. diegetischen Anachronie gänzlich in Frage gestellt (vgl. CI, Alternative; dagegen GENETTE, Reply). 306
98
2. Kapitel: Narratologische Zugänge zur markinischen Christologie
der eigentlichen Erzählung fallen. Während das Markusevangelium mit dem Auftreten des Täufers einsetzt, reicht die Analepse zwölf Jahre zurück. In 10,33 wird hingegen lediglich bis zum Ende der markinischen Erzählung vorausgeschaut. Es geraten die unmittelbar bevorstehenden Passionsereignisse sowie die Auferstehung in den Blick. Im letzten Fall lässt sich mit Genette von einer internen Anachronie sprechen, im ersten Fall von einer externen Anachronie.308 Nicht zwangsläufig mit der Reichweite identisch ist der Umfang einer Anachronie. So kann eine Analepse über den Anfangspunkt der Erzählung hinausreichen und trotzdem nur eine sehr kurze Zeitspanne erzählen. Auch im Hinblick auf den Umfang unterscheiden sich die beiden oben angeführten Beispiele. So umfasst Beispiel 1 trotz der vergleichsweise knappen Darstellungsweise eine erzählte Zeit von 12 Jahren, nämlich von der Erkrankung der Frau bis zur Begegnung mit Jesus.309 10,32b–34 umfasst hingegen eine wesentlich geringere Zeitspanne, nämlich lediglich die Passion Jesu in Jerusalem sowie die drei Tage zwischen Kreuzigung und Auferstehung. Stimmen Reichweite und Umfang überein, so lässt sich dies mit Genette als komplette Anachronie bezeichnen. In diesem Fall schließt die Anachronie unmittelbar an die Rahmenerzählung an. Ansonsten handelt es sich um eine partielle Anachronie.310 Letztlich unterscheiden sich die beiden oben angeführten Anachronien auch noch im Hinblick auf ihren Informationsgehalt. Während die Rezipienten in 5,25f. über den Krankheitsverlauf der Frau aufgeklärt werden und so Informationen erhalten, die für das weitere Verständnis relevant sind und die sich aus der übrigen Erzählung nicht entnehmen lassen, werden in 10,32b–34 die beiden vorherigen Weissagungen in 8,31 und 9,31 weitgehend wiederholt bzw. lediglich durch einige Details ergänzt. Genette unterscheidet diesbezüglich zwischen kompletiven Anachronien, die eine inhaltliche „Lücke“311 in der 308
Vgl. GENETTE, Erzählung 32f.46; DU TOIT, Prolepsis, 172 spricht diesbezüglich von einer intradiegetischen und extradiegetischen Prolepse. Es sind auch gemischte Formen denkbar (vgl. GENETTE, Erzählung, 32f.) 309 Das Beispiel zeigt zugleich, dass der Umfang nicht mit der Detailliertheit einer Erzählung zu verwechseln ist. In 5,25f. bleiben alle Details, die nicht die Krankheitsgeschichte betreffen, unerwähnt. Trotzdem werden hier in knapper Form die Ereignisse der zurückliegenden zwölf Jahre bis in die Gegenwart hinein berichtet. 310 Vgl. GENETTE, Erzählung, 41f. 311 Solche Lücken sind nicht mit den Leerstellen eines Textes zu verwechseln „Bei Lücken sind die fehlenden Informationen wichtig zum richtigen Verständnis einer Erzählung [...]. Leerstellen dagegen bezeichnen grundsätzlich die Aspekte der Erzählung, die vom Leser mittels seiner frames und scripts beim Lektüreprozess ergänzt werden, z.B. das genau Aussehen einer Figur“ (FINNERN, Narratologie 96f., Anm. 296). Aus diesem Grund wäre es präziser, nicht von Leerstellen, sondern von Inferenzstellen zu sprechen und bei der Interpretation genau nachzuzeichnen, welche textexternen Informationen vom intendierten Rezipienten beim Lesen eingetragen werden müssen.
2.4 Handlungsanalyse: Erzählte Christologie
99
Handlung schließen, und repetitiven Anachronien, die zuvor oder später Erzähltes noch einmal berichten. Allerdings sind gerade bei der repetitiven Anachronie zahlreiche Variationen möglich: So kann ein Ereignis nahezu wortwörtlich wiederholt werden oder es wird lediglich indirekt auf dieses angespielt. Mit der zeitlichen Reihenfolge (Analepse/Prolepse), dem Modus (metadiegetische/diegetische Anachronie), der Reichweite (interne/externe Anachronie), dem Umfang (komplette/partielle Anachronie) und dem Informationsgehalt (kompletiv/repetitiv) sind wesentliche Aspekte zur Beschreibung von Anachronien benannt. Es lassen sich jedoch noch zwei Untersuchungsaspekte benennen, die bei Genette fehlen, die aber ebenfalls eine stärkere Berücksichtigung des Rezeptionsprozesses ermöglichen. Diese Aspekte lassen sich als Kriterium der Explizität und der Zuverlässigkeit bezeichnen. Einerseits sind nicht alle Anachronien einer Erzählung gleich deutlich markiert bzw. erfahren nicht die gleiche Aufmerksamkeit der Rezipienten. Es lässt sich vielmehr zwischen expliziten (z.B. 6,17–29) und impliziten Anachronien (z.B. 2,20) differenzieren.312 Anachronien können zudem auf ihre Zuverlässigkeit hin untersucht werden. Da sich in neutestamentlichen Erzählungen noch nicht das Phänomen des unzuverlässigen Erzählens findet, sind Prolepsen und Analepsen wohl immer als zuverlässig einzustufen, wenn sie als Erzählerkommentar eingefügt sind. Zuverlässig sind auch die prophetischen Vorhersagen Jesu, wobei diese Aussagen sowohl durch den Erzählverlauf (z.B. 14,30 u. 14,72; 14,28 u. 16,7) als auch durch das Vorwissen der Rezipienten Bestätigung erfahren, hier vor allem durch die Überzeugung der endzeitlichen Wiederkunft Jesu (14,62).313 Um die Zuverlässigkeit einer Prolepse zu beurteilen, kommt man nicht umhin, das Vorwissen der Rezipienten zu erheben und in die Analyse einzubeziehen. Es ergeben sich zudem enge Berührungspunkte zur Figurenund Perspektivenanalyse. Im Grunde müssten auch die übrigen Analyseaspekte, die Genette im Hinblick auf die Ordnung einer Erzählung formuliert, kognitiv vertieft werden: Um die Synchronie oder Anachronie innerhalb einer Erzählung festzustellen,
312
Ähnlich DU TOIT, Prolepsis, 168f., der den Begriff der obliquen Anachronie bzw. Prolepse einführt. Oblique und implizite Anachronien lassen sich aber nicht auseinander halten. In modernen Erzählungen können Anachronien auftreten, die erst im Nachhinein als solche erkannt werden und den Rezipienten täuschen. Ein eindrückliches Beispiel hierfür ist die Anfangsszene in Quentin Tarantinos Pulp Fiction, durch die bereits das eigentliche Ende der story vorweggenommen wird. Derartige Täuschungen lassen sich im Markusevangelium und in der neutestamentlichen Literatur aber noch nicht finden. Anders Gerd Häfner, der in 4,33f. eine nachträgliche Markierung für die Prolepse in 4,10–12 erkennt (vgl. HÄFNER, Narrative Theologie, §4.3). 313 Eine zusätzliche zeitliche Differenzierung, die den raumzeitlichen Standort der Rezipienten berücksichtigt, sorgt hingegen eher für eine terminologische Verwirrung.
100
2. Kapitel: Narratologische Zugänge zur markinischen Christologie
muss der Rezipient nahezu immer auf kulturell vorgeprägtes Wissen zurückgreifen. So besteht auch die „normale“ Abfolge von Ereignisse nicht an sich, sondern beruht auf kulturell geprägten scripts. Bei repetitiven und kompletiven Anachronien gilt es hingegen, die Schlussfolgerungsprozesse nachzuzeichnen, die von den Rezipienten im Lektüreprozess zu leisten sind. Wie erkennen die Rezipienten die Anspielung auf ein bereits erzähltes Ereignis? b. Geschwindigkeit: Erzählte Zeit und Erzählzeit lassen sich nach Genette auch in Bezug auf die Erzählgeschwindigkeit vergleichen. Ähnlich wie bereits Lämmert unterscheidet Genette fünf Geschwindigkeitsarten (Tab. 2.14314). erzählte Zeit
Verhältnis
Erzählzeit
Beispiele
Ellipse
Geschehen läuft weiter
n zu ø
Erzählung steht still
Mk 16,1
Raffung
Geschehen
>
Erzählung
Mk 1,12f.
Szene
Geschehen
≈
Erzählung
zitierte Rede
Dehnung
Geschehen
t3), sind hingegen weitgehend kritisch zu beurteilen. Hier muss plausibel gemacht werden, dass diese Quellen auf ältere Vorstellungen zurückgreifen oder aufgrund einer besonderen kulturellen Bedeutung über einen längeren Zeitraum in Gebrauch waren, wie z.B. die „Heiligen Schriften“ (grafai; a{giai), die von den neutestamentlichen Autoren häufig und ohne weitere Erklärung zitiert werden bzw. zitiert werden können. Die Erinnerungsnähe eines Textes bemisst sich aber nicht allein anhand zeitlicher Relationen, sondern auch anhand räumlicher, sprachlicher sowie sozialer Bezüge. Aus diesem Grund ist jeweils zu fragen, ob sich zwischen 189
Ähnlich bereits FINNERN, Narratologie, 219f. u. 429f., obwohl hier die Kriterien der Erinnerungsnähe und Parallelität primär vom Aspekt der erzählerischen Markierung und Vermittlung aus betrachtet werden. 190 Aus diesem Grund wird innerhalb der Exegese zu recht darüber gestritten, ob das Markusevangelium vor oder nach der Tempelzerstörung (70 n. Chr.) zu datieren ist und ab welchem Zeitpunkt und mit welchem Detailwissen eine Zerstörung des Tempels bekannt sein konnte. 191 Vgl. hierzu ASSMANN, Gedächtnis, 34–45. 192 Eine noch strikterer Eingrenzung schlägt SCHMIDT, Wege, 3, vor: Seine „Untersuchung behandelt neben literarischen zwar auch historische Zusammenhänge, beschränkt die historische Frage jedoch auf die Zeit der ersten Leser des Textes.“
146
3. Kapitel: Forschungsgeschichte
einer Quelle und einem Auslegungstext hinreichend sprachliche, kulturelle oder auch milieuspezifische Gemeinsamkeiten aufzeigen lassen und welche (über)regionale Verbreitung ein bestimmtes Wissen haben konnte. Das Äußere eines römischen Hauptmanns (vgl. Mk 15,39) konnte man sich an nahezu allen Orten des Mittelmeerraums vorstellen. Der genaue Wert eines Quadrans (vgl. Mk 12,42) war hingegen möglicherweise nur in einem begrenzten Handelsraum bekannt.193
Text > t3
t2
t1
t1
t2
> t3 Zeit
Zeit der Rezipienten
Abb. 3.1 Zeitliche Erinnerungsnähe (6b) Kriterium der Bezeugungsbreite: Soll eine Quelle Auskunft über das Weltwissen eines intendierten Rezipienten geben, so müssen die hierin artikulierten Vorstellungen auch in einer ausreichenden Anzahl weiterer, entstehungsgeschichtlich unabhängiger Quellen zum Ausdruck kommen. Mit der Anzahl der Quellen steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die intendierten Rezipienten eines Textes über dieses Wissen verfügen konnten. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass ein einzelner Text – auch bei zeitlicher und räumlicher Nähe – nur eine begrenzte Aussagefähigkeit besitzt. Eine Ausnahme von dieser Regel stellen Texte dar, bei denen sich starke intertextuelle Bezüge nachweisen lassen, d.h. wo sich der Verdacht eines bewussten Text-zuText-Bezugs nahelegt. Neben der bloßen Anzahl ist zudem die mediale Verbreitung einer Vorstellung ein wichtiges Indiz. Werden bestimmte Wissensbestände nicht nur durch literarische Quellen i.e.S. bezeugt, sondern auch durch Alltagszeugnisse – wie z.B. Münzfunde, Schmuckstücke oder Inschriften – so erscheint eine Kenntnis dieser Vorstellung umso plausibler. Ein solches Wissen konnte
193
Vgl. hierzu EBNER, Einleitung, 71: „Ein Quadrans ist die kleinste römische Münze, die fast ausschließlich in der westlichen Reichshälfte im Umlauf war mit einer auffälligen Zentrierung auf Rom, den Prägeort, und Pompeij, wobei die Häufigkeit gegen Ende des 1. Jhdts. abnimmt (C.E. King).“ Dagegen THEISSEN, Lokalkolorit, 259: „Richtig ist: Der Quadrans ist als Münze nicht bis in den Osten gedrungen, wohl aber als Fremdwort.“
3.2 Religionsgeschichtliche Zugänge
147
Einzug in die verschiedenen Lebensbereiche finden und war Menschen in unterschiedlichen Milieus zugänglich. (6c) Kriterium der Parallelität: Das Kriterium der Parallelität besagt, dass von einer bewussten Parallelisierung nur dort zu sprechen ist, wo der Autor nachweislich erzählerische Mittel einsetzt, mit deren Hilfe er einzelne Informationen des Textes hervorhebt, die sich in ausreichender Anzahl194 und/oder in prägnanter Weise auf eine textexterne Vorstellung beziehen lassen. Zunächst ist es m.E. wichtig, konsequent zwischen intendierten und nicht-intendierten Bezugnahmen zu unterscheiden.195 Eine bewusste Parallelisierung lässt sich erst aufgrund einer erkennbaren erzählerischen Gestaltung des Textes behaupten. Hierzu zählen letztlich alle in Kap. 2 beschriebenen Mittel der Hervorhebung (vgl. 2.3.2; 2.3.3). Werden einzelne Informationen eines Textes durch den Erzähler betont, so ist darüber hinaus zu analysieren, ob sich diese Aussagen in ausreichender Anzahl und/oder in charakteristischer Weise auf eine textexterne Vorstellung beziehen lassen. Können besonders viele Parallelen zwischen einer textinternen und textexternen Personenvorstellung aufgezeigt werden, so ist dies ein wichtiges Indiz für eine bewusste Parallelisierung. Neben der Anzahl ist auf die Prägnanz der Merkmalsparallelen zu achten. Nicht nur bei stereotypen Personenvorstellungen, sondern auch bei kulturell bedeutsamen Persönlichkeiten oder Ereignissen sind es oftmals wenige Einzelmerkmale sowie einzelne Aussagen zur Figurenkonstellation, die bereits eine eindeutige Identifikation ermöglichen.196 Im Vergleich zum innerexegetischen Diskussionsstand ist deshalb darauf zu achten, dass nicht alle Merkmale gleichbedeutend sind, sondern sich hierarchisieren lassen. So kann man mit Hilfe narratologischer Analysekriterien Haupt- und Nebenmerkmale einer Figur und einer textextern vorgegebenen Figurenvorstellung unterscheiden (vgl. 2.3.2). Merkmale, die sich dem Personenkern einer Figur zuschreiben lassen, besitzen beim Figurenvergleich mehr Gewicht als situative oder handlungsirrelevante Nebenmerkmale. Umgekehrt wird durch die narratologische Perspektive ein größeres Bewusstsein dafür geweckt, dass in den Figurenvergleich keineswegs nur explizite, sondern
194
Ähnlich MILLER/MILLER, Mark as Midrash, 25, die allerdings das Kriterium der Anzahl absolut setzen. Tatsächlich müssen die Merkmalparallelen aber dem Rezipienten überhaupt erst auffallen, d.h. ausreichend Aufmerksamkeit auf sich ziehen und so spezifisch sein, dass der Rezipient auf eine bestimmte textexterne Entität rückschließen muss. 195 Bei neutestamentlichen Erzählungen ist eine solche Klärung umso wichtiger, als manche Bezüge der Vorüberlieferung entstammen können und vom Autor oder Rezipienten eines Evangelientextes möglicherweise unbemerkt blieben. 196 So werden wir bei der Erwähnung von „Pfeil und Bogen“ in Kombination mit dem „Sheriff von Nottingham“ unweigerlich an die Figur des Robin Hood erinnert, ohne dass weitere Details genannt werden müssten.
148
3. Kapitel: Forschungsgeschichte
auch implizite Merkmale einzubeziehen sind.197 Entscheidend ist bei der Rezeption nicht bzw. nicht allein die Explizität einer Aussage, sondern allein das Maß an Aufmerksamkeit, das der intendierte Rezipient dieser Information schenken kann und soll. Durch die Indizien der erzählerischen Vermittlung, der Anzahl und der Prägnanz lässt sich eine vermeintliche Parallelisierung recht genau bewerten. Gleichzeitig muss stärker zwischen einer partiellen und kompletten Parallelisierung unterschieden werden. Die vollständige Identifikation zweier Personen ist lediglich eine spezifische Form der Bezugnahme. Ebenso gut kann es jedoch vorkommen, dass Figuren lediglich einige bestimmte Merkmale teilen, sich im Hinblick auf andere Merkmale aber gerade unterscheiden, z.B. nimmt eine Figur in einer ähnlichen Situation die selben Dinge wahr, verhält sich aber anders.198 Die Begriffe der „partiellen“ und „kompletten Parallelisierung“ (= Identifikation) sind im Grunde zwei Extrempunkte einer Skala. Aufgabe der Analyse ist es, anhand der genannten Indizien den genauen Grad der Parallelisierung zu bestimmen. (7) Auf Basis der gerade beschriebenen Kriterien sollen abschließend die in Kap. 3.2 präsentierten Arbeiten und Forschungstheorien beurteilet werden. Hierbei greife ich zugleich auf die Quellenkritik älterer Studien zurück. (7a) Das Kriterium der Erinnerungsnähe lässt bereits wesentliche Mängel der qei`o~ ajnhvr-Typologie hervortreten. Insofern sich das Konstrukt eines gottähnlichen Wundertäters primär auf Belege des 2. Jhdt. – wie die Vita Apollonii und z.T. noch spätere Quellen des Neuplatonismus – stützt, hält es einer quellenkritischen Überprüfung kaum Stand.199 Die Behauptung eines kultur- und zeitübergreifenden Religionsphänomens (Bieler, Betz, Kollmann) löst dieses quellenkundliche Problem keineswegs, weil die historischen Rezipienten nichtsdestotrotz im Lektüreprozess immer auf kulturell vorgegebene Schemata zurückgreifen müssen, um eine Textaussage zu erschließen. Auch zeitübergreifende Religionsphänomene müssen in einem Kulturkreis und innerhalb einer bestimmten Epoche einen bestimmten und bestimmbaren Niederschlag finden. Die Vermutung, dass die Belege des 2./3. Jhdt. auf ältere 197
Faktisch werden auch in der Exegese implizite Figurenmerkmale berücksichtigt, wenn z.B. das übernatürliche Wissen Jesu (= Wissen) oder die Gründe hinter Jesu Schweigegeboten an Dämonen (= Motivation) thematisiert werden. Gleichwohl kommt es nicht selten zu einer vorschnellen Abwertung impliziter Merkmale (so z.B. ÖHLER, Elia, 290). 198 Beim externen Figurenvergleich kann es ebenso wie beim internen Vergleich Parallel- und Kontrastfiguren geben (vgl. 2.3.3). 199 In die Zeitspanne t3 (vgl. 6a) fügen sich allein die Belege bei Phil. Virt. 177, und Jos. Ant. 3,180 ein. Allerdings wird hier die Terminologie – ebenso wie in späteren Quellen – gar nicht als Bezeichnung für einen göttlichen Menschen verwendet, sondern als Bezeichnung für einen Gewährsmann der Tradition (vgl. DU TOIT, Theios Anthropos, 361–399 u. 401–403).
3.2 Religionsgeschichtliche Zugänge
149
mündliche Vorstellungen zurückgreifen (Reitzenstein) oder entsprechende schriftliche Belege von der Kirche beseitigt worden seien (Wetter), bleibt rein hypothetisch. Letztlich läuft auch der Versuch, das Fehlen einer einheitlichen qei`o~ ajnhvr-Terminologie mit der großen Variabilität dieser Vorstellung zu begründen (Betz, Kollmann), ins Leere. Eine Analyse der entsprechenden Semantik (qei`o~, qeov~, daivmwn, h{rw~) verdeutlich, dass sich die qei`o~ ajnhvrTerminologie gerade nicht dem Bereich der Wunder zuschreiben lässt: „In der Antike diente [...] die Terminologie keineswegs regelmäßig als Bezeichnung für Wundertäter bzw. Charismatiker. An den Stellen jedoch, wo es deutliche Anhaltspunkte für Wundertraditionen gibt, fehlt die Terminologie auffälligerweise.“200
Im Unterschied zur qei`o~ ajnhvr-Terminologie verfügen jene Quellen, die eine römische Herrscherideologie belegen, über eine ausreichende Erinnerungsnähe. Eine titulare Verwendung der Sohn-Gottes-Anrede (divus filius) lässt sich für die Zeit des Markusevangeliums und im gesamten Mittelmeerraum nachweisen. Hierbei gibt sich die Bezeichnung qeou` uiJov~ als festgeprägte Übersetzung des lateinischen divus filius zu erkennen (vgl. 3.2.2). Unabhängig von der genauen Lokalisierung der markinischen Gemeinde ist somit eine Vertrautheit der Rezipienten mit dieser Titulatur wahrscheinlich. Wesentlich problematischer ist es jedoch, einen direkten Bezug zum Aufstieg der Flavier bzw. zur Person des Vespasian herzustellen (so Ebner, Schmidt, Dormeyer, Theißen). Wenngleich die genaue Datierung für die Vergottung Vespasians umstritten ist, lässt sich diese frühestens für das Sterbejahr 79 n. Chr. nachweisen.201 Um eine bewusste Parallelisierung zwischen Jesus und Vespasian zu plausibilisieren, wird man deshalb kaum um eine vergleichsweise Spätdatierung des Markusevangeliums umhinkommen. Umso mehr überrascht es, dass in den dargestellten Arbeiten – zumeist ohne weitere Begründung – an einer Datierung um 70 n. Chr. festgehalten wird.202 Zugleich lässt sich erkennen, dass immer wieder die Grenzen zwischen einer ursprünglich intendierten Textbedeutung und möglichen späteren Lesweisen verschwimmen. In dieser Hinsicht schreibt Karl M. Schmidt: „Die Analyse nimmt zunächst nicht ausdrücklich die vom Evangelisten intendierten Leser, soweit sie aus dem Text zu konstruieren sind, in den Blick, sondern Rezipienten des Evan200
DU TOIT, Theios Anthropos, 402. Ähnlich bereits VON MARTITZ u.a., Art. uiJov~, 335– 340; BLACKBURN, Theios Aner, 92–96. 201 Die Lex de imperio Vespasiani, die sich mit Tacitus (Tac. hist. 4,3,3) auf das Jahr 69 n. Chr. datieren lässt, soll dem Bürgerkriegssieger Vespasian lediglich weitgehende Vollmachten sichern und beruft sich deshalb u.a. auf den divus Augustus: „ita uti licuit diuo Aug(usto), Ti. Iulio Caesari Aug(usto), Tiberioque Claudio Caesari Aug(usto) Germanica [...]“ (CIL 6,930). 202 Für eine Datierung um 70 n. Chr., und d.h. im Kontext des Jüdischen Krieges, sprechen sich u.a. Ebner, Schmidt und Bedenbender aus (vgl. EBNER, Einleitung, 170f.; SCHMIDT, Wege, 18 und passim; BEDENBENDER, Frohe Botschaft, 363–387).
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3. Kapitel: Forschungsgeschichte
geliums, die in der zweiten Hälfte der 70er Jahre des ersten Jahrhunderts lebten. Es geht darum, einen spezifischen Rezeptionskontext des Evangeliums vorzustellen, ohne die Analyse im Einzelfall an eine Überprüfung der vermuteten Autorenintention rückzubinden.“203
Ganz ähnlich argumentieren Tae Hun Kim und Adam Winn, wenn sie den Sohn-Gottes-Titel für eine genuin alttestamentliche Königstitulatur halten, die erst unter dem Einfluss der politischen Ereignisse neu interpretiert worden sei. Primäres Ziel der Exegese sollte es aber nicht sein, spätere Lesweisen und mögliche Rezeptionskontexte zu rekonstruieren, sondern auf der Grundlage bekannter Quellen Auskunft darüber zu geben, wie die intendierten Rezipienten einen Text aufgrund ihres Weltwissens verstehen sollten. Dass ein Autor spätere Rezeptionsmöglichkeiten im Voraus bedenkt, halte ich hingegen für gänzlich unwahrscheinlich. In räumlicher Hinsicht fällt auf, dass Schmidt den intendierten Rezipienten sehr regionsspezifische Kenntnisse unterstellt, die sich kaum miteinander vereinbaren lassen. So ist es wenig wahrscheinlich, dass die Rezipienten anhand des Markusevangeliums die Marschroute Vespasians durch Galiläa nachvollziehen konnten und zugleich die städtische Topografie Roms im Gedächtnis hatten, um in Mk 15 Abweichungen vom klassischen Ablauf des Triumphzuges zu bemerken.204 Wenn Schmidt selber vorgibt, an der „konkreten Krisensituation“205 der markinischen Leser interessiert zu sein und für ihn „der Norden Palästinas als möglicher Aufenthaltsort der Gemeinde“206 in Frage kommt, so wäre konsequenter Weise von diesen Grundvoraussetzungen aus der Wissensbestand der Leserschaft zu bestimmen.207 Als vollkommen unstrittig kann letztlich eine allgemeine Kenntnis der Elia-Figur sowie zahlreicher mit dieser Figur verbundener Merkmale gelten. Die breite Wirkungsgeschichte, die bereits im Alten Testament einsetzt (2Chr 203 SCHMIDT, Wege, 7; ähnlich EBNER, Evangelium, 29f.: „Ganz unabhängig davon, ob unser Autor Bezüge bewusst herstellen will oder nicht, wird seine Schrift, die schon von ihren vielen Latinismen her in einem römisch geprägten Milieu verankert werden muss, im Kontext dieses Herrschaftswechsels [sc. dem Aufstieg der Flavier] gelesen.“ 204 Vgl. hierzu SCHMIDT, Wege, 296–302 (Marschroute Vespasians) u. 425f. (Triumphzug). Schmidt bemerkt zur Lokalisierung etwas lapidar: „Autoren konnten reisen, Nachrichten über die Geschicke der jungen Christenheit reisten in jedem Fall, sie waren beweglich, beweglicher als die Gemeindeglieder. So konnte beispielsweise ein römischer Jude, der nie in der Südlevante gelebt hatte, seinen Gemeindegliedern in Rom die Geschichte der Gemeinde in Jerusalem erzählen“ (SCHMIDT, Wege, 8). 205 SCHMIDT, Wege, 2. 206 SCHMIDT, Wege, 18. 207 Letztlich spiegelt sich in dem beobachteten Widerspruch zwischen regionsspezifischen Wissensbeständen Schmidts Unentschiedenheit im Hinblick auf eine Lokalisierung der markinischen Gemeinde wider. So zieht er mit Hinweis auf das Claudius-Edikt eine alternative Verortung in der Umgebung Roms in Betracht (SCHMIDT, Wege, 8 u. 200f. u. 286).
3.2 Religionsgeschichtliche Zugänge
151
21,12–15; Mal 3,23f.)208 und sich über die Weisheitsliteratur (Sir 48,1–11), das Liber Antiquitatum Biblicarum (LibAnt 28,1)209, die Vitae Prophetarum (VitProph),210 die Elia-Apokalyse (ApcEl)211, das 4. Esra-Buch (4Esr 6,26)212, einzelne Fragmente aus Qumran (4Q521; 4Q558)213 und eine ausführliche Auslegung der Elia-Überlieferungen bei Josephus (Jos. Ant. 8,13–15; 9,2f.) fortsetzt, findet auch im Neuen Testament (Lk 4,25f.; 9,54; Röm 11,2–5; Jak 5,17; Offb 11,5f.) und nicht zuletzt im Markusevangelium ihren Niederschlag (explizit: Mk 6,15; 8,28; 15,35). Gleichzeitig führt die umfassende, zumeist erst frühkirchliche Überarbeitung zahlreicher Belege zu einem überaus unsicheren Bild der Eliafigur. Die Frage, welche Motive bzw. festen Figurenmerkmale sich für das 1. Jhdt. voraussetzten lassen, ist in der Forschung überaus umstritten und kann letztlich kaum mit Sicherheit beantwortet werden. Die Bezeugungen innerhalb der rabbinischen Literatur214 sind allesamt zu spät, um aus ihnen eine verlässliche Auskunft abzuleiten. Zugleich lässt sich aus diesen Belegen – ebenso wie aus der ältesten erhalten Bilddarstellung in der Synagoge von Dura Europos215 – ableiten, dass die Elia-Vor208
Auch für die alttestamentlichen Elia-Erzählungen (vgl. 1Kön 17,1–19,18; 1Köm 21; 2Kön 1–2) kann eine ausreichende Erinnerungsnähe vermutet werden, weil diese Erzählungen noch im kulturellen und religiösen Gebrauch waren (vgl. zu Elia im Alten Testament EGO, Elia, 12–22). Schwieriger zu entscheiden ist, welche präzisen Schriftkenntnisse ein intendierter Rezipient haben konnte. Zur Schriftkenntnis im Allgemeinen vgl. HANHART, Bedeutung; KRAFT, Christian Transmission; KARRER/SCHMID, Old Testament quotations (Ergebnisse des Wuppertal Research project). 209 Mit der Mehrheit der Exegeten gehe ich davon aus, dass diese lateinische Schrift des 4. Jhdt. n. Chr., auf einer wesentlich älteren griechischen Übersetzung und einem hebräischen Original aus dem 1. Jhdt. n. Chr. basiert. Ob diese jüdische Grundschrift vor oder nach der Tempelzerstörung entstanden ist, lässt sich kaum erheben (vgl. zu Datierungsfrage und Textgenese JACOBSON, Commentary, 199–210; REINMUTH, Pseudo-Philo, 17–26). 210 Gleichwohl lässt sich der ursprüngliche Inhalt dieser frühjüdischen Sammlung, die ebenfalls aus dem 1. Jhdt. n. Chr. stammen dürfte, kaum mit einiger Sicherheit rekonstruieren. Die zahlreichen Textvarianten lassen den umfassenden Redaktionsprozess erkennen, der nicht zuletzt in der Frühen Kirche seine Fortsetzung gefunden hat (vgl. hierzu ausführlich SCHWEMER, Studien). 211 Auch für den Endtext der Elia-Apokalypse lässt sich eine Abfassungszeit erst um das Ende des 3. Jhdt. n. Chr. annehmen. Vor-christliche Traditionen werden v.a. für die Elia-/ Henoch-Passagen und die Alexander-Legende (ApcEl 25f.) vermutet (vgl. hierzu OEGEMA, Elia-Apokalypse; PIETERSMA, Apocalypse; TILLY, Apokalyptik, 129). 212 Mit TILLY, Apokalyptik, 75f. datiere ich das 4. Buch Esra auf das späte 1. Jhdt. n. Chr. und gehe von einer weiten Verbreitung der jüdischen Grundschrift im christlichen Überlieferungsbereich aus. Indiz hierfür sind u.a. die zahlreichen Übersetzungen. 213 Vgl. zu diesen Belegen ausführlich ÖHLER, Elia, 16–22. 214 Vgl. hierzu im Überblick EGO, Elia, 29–55. 215 Die ursprüngliche Bildsequenz stellte fünf Szenen aus dem Leben des Elia dar, u.a. die Begegnung mit der Witwe aus Sarepta sowie die dortige Totenerweckung (1Kön 17,10–24) und das Aufeinandertreffen mit den Baalspropheten.
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3. Kapitel: Forschungsgeschichte
stellung eine überaus lebendige, facettenreiche und über viele Jahrhunderte anhaltende Erzähltradition darstellte. (7b) Kriterium der Bezeugungsbreite: Nicht nur der qei`o~ ajnhvr-Titel, sondern auch die Figurenmerkmale, die man in der älteren Exegese dem Typus eines göttlichen Wundertäters zuzuschreiben versuchte, erweisen sich in quellenkundlicher Hinsicht als problematisch. Bereits Bielers Topik des hellenistischen Wundertäters, auf die in der weiteren Exegese vielfach rekurriert wurde, stützt sich nahezu ausschließlich auf die Vita Apollonii sowie die neutestamentlichen Erzählungen. „Ohne die Evangelien und die VA hätte Bieler diese Topik nie aufbauen können. Für Bieler selbst ist das alles nicht problematisch, weil entsprechend seiner idealistischen Weltanschauung qei`o~ ajnhvr eine platonische Idee ist, die von einem Text aus oder von den Quellen keineswegs lückenlos gefunden werden muß.“216
Die Bezeugungsbreite für einzelne, konkrete Figurenmerkmale ist damit – nicht zuletzt aufgrund der Abhängigkeit der synoptischen Berichte – viel zu gering, um hieraus ein einheitliches und den Rezipienten des Markusevangeliums bekanntes Schema abzuleiten. Die Merkmale, die einen Seher, Philosophen, Schamanen, Wundertäter, Herrscher oder Dichter der Antike auszeichneten, sind derart disparat, dass sie sich nicht auf ein gemeinsames Figurenschema reduzieren lassen. Durch die heuristische Kategorie des qei`o~ ajnhvr wurde ein reines Forschungskonstrukt erschaffen, wobei die Argumentation letztlich auf einem circulus vitiosus fußt: „Anhand der Terminologie findet man die Texte, auf deren Grundlage dann die Vorstellung des qei`o~ ajnhvr rekonstruiert werden soll. Andererseits dient sie wiederum als hermeneutischer Schlüssel. Aufgrund der Annahme deutet man solche Texte, in denen die Terminologie vorkommt, beinahe ausnahmslos auf dem Hintergrund dieser Vorstellung.“217
Die Belege zur römischen Herrscherideologie zeichnen sich demgegenüber durch eine beachtliche Bezeugungsbreite aus. Neben der Anzahl ist hierbei v.a. auf die Verbreitung in unterschiedlichen Medien zu verweisen. Insofern der Sohnestitel nicht nur in schriftlichen Dekreten oder Urkunden verwendet wird, sondern zugleich durch Inschriften und Münzfunde belegt ist (vgl. 3.2.2), lässt sich eine Kenntnis dieser Vorstellung in zahlreichen Milieus und Regionen vermuten. Im Unterschied hierzu lassen sich sämtliche Parallelen zur Person Vespasians oder zum Aufstieg der Flavier nur schwer belegen. So mögen die Rezipienten des Markusevangeliums zwar von der allgemeinen politischen Bedeutung Cäsareas gewusst haben und auch die Prophezeiung des Josephus 216
KOSKENNIEMI, Apollonios, 76. Zum Einfluss dieser Topik auf die exegetische Diskussion vgl. KOSKENNIEMI, Apollonios, 132. 217 DU TOIT, Theios Anthropos, 39.
3.2 Religionsgeschichtliche Zugänge
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mag, zumindest in späterer Zeit, in einem etwas breiteren Radius bekannt gewesen sein (Jos. Bell. 3,399–402; Suet. Vesp. 5,6; Dio Cass. hist. 66,1,2f.). Dass die Leser aufgrund von Josephus’ Geschichtsschreibung die Marschroute Vespasians nachvollziehen konnten (Schmidt), erscheint mir angesichts der spärlichen Belege jedoch mehr als fraglich. Eindeutige Text-zu-Text-Bezüge lassen sich jedenfalls zwischen Josephus und Markus nicht erkennen und der Bericht eines einzelnen (wenngleich bedeutsamen) Textes sollte an dieser Stelle nicht überstrapaziert werden.218 Auch manche Bezüge zwischen dem Markusevangelium und der EliaTradition sind aufgrund einer allzu geringen Bezeugungsbreite kritisch zu beurteilen. So erscheint es wenig plausibel, dass die Rezipienten aufgrund zweier Jesajabelege (Jes 49,5f.; 53,3.10) bereits einen engen Bezug zwischen Eliavorstellung und Leidensthematik kannten (Wentling). Abgesehen von der geringen Anzahl an Belegen lässt sich keine eindeutige Identifizierung zwischen der Figur des Gottesknechtes und der Person des Elia nachweisen. Rein hypothetisch bleibt auch die Vermutung Öhlers, dass den Lesern des Markusevangeliums eine historische Identifikation zwischen Täufer und Elia bekannt war. Zwar lässt sich erkennen, dass es außerhalb des Markusevangeliums durchaus Volksüberlieferungen über die Person und insbesondere die Todesumstände des Täufers gegeben hat.219 Gleichwohl dürften diese Erzählung, die wohl eher mit der „Hoflegende“220 in Mk 6,14–29 vergleichbar waren, kaum entsprechende historische Informationen bereit gehalten haben. (7c) Kriterium der Parallelität: Die Stärke einer Parallele möglichst präzise zu bestimmen, sollte im Eigeninteresse jeder religionsgeschichtlichen Analyse liegen. Um sich keinem unnötigen Ideologieverdacht auszusetzen, muss die Religionsgeschichte nämlich eine qualifizierte Antwort darauf geben können, ob sich ein vermuteter Textbezug verifizieren lässt oder nicht. Umso erstaunlicher ist es, dass im Zuge der behandelten Studien nur selten explizite Kriterien für die Qualifizierung einzelner Parallelen formuliert werden. Rekonstruiert man das tatsächliche Vorgehen der einzelnen Exegeten, so fällt jedoch auf, dass durchaus ähnliche Indizien vorausgesetzt werden, wie sie in Abschnitt (6c) beschrieben werden. Meist stützt sich die Argumentation jedoch lediglich auf eines dieser Indizien. So setzen sich mehrere Arbeiten 218
Die Rezipienten mögen durchaus auf anderem Wege über dieses militärische Vorgehen informiert gewesen sein, insbesondere wenn man die markinische Gemeinde nicht in Rom, sondern nördlich von Galiläa lokalisiert. Aber unabhängig vom hypothetischen Charakter solcher Überlegungen ist es schwer vorstellbar, dass die Rezipienten diese Informationen mit den eher spärlichen Ortsangaben im Markusevangelium bzw. ihrem umfassenden Bild von der erzählten Welt korrelieren konnten. 219 Vgl. hierzu v.a. die beiden indirekten Hinweise auf solche Erzählungen bei Josephus (Jos. Ant. 18,116.119) und dazu THEISSEN, Lokalkolorit, 90. 220 Mit THEISSEN, Lokalkolorit, 85–102. Vgl. hierzu die historisch verlässlichere Darstellung bei Josephus (Jos. Ant. 18,116–119).
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3. Kapitel: Forschungsgeschichte
mit der Frage auseinander, ob der erste Evangelist bestimmte Informationen seiner Erzählung durch erzählerische Mittel hervorhebe. Hierbei konzentriert sich der exegetische Diskurs jedoch nahezu ausschließlich auf strukturelle Beobachtungen und nimmt noch keine Kenntnis von der neueren Erzählwissenschaft. In der neueren Exegese wird zudem auf Inkompatibilitäten im Text verwiesen (Theißen, Ebner, K. M. Schmidt), die für sich genommen allerdings noch kein Hinweis auf einen textexternen Bezug sein müssen und in der älteren Exegese zumeist mit der Textgenese begründet und als produktionsästhetische Fehler gewertet wurden. Mit Hilfe von Marie Laure-Ryans Possible Worlds Theory ließen sich die beobachteten Inkompatibilitäten weiter ausdifferenzieren und konkreter beschreiben (vgl. 2.4.2). Auch die Anzahl vorhandener Vergleichsmerkmale wird immer wieder als Indiz für eine bewusste Bezugnahme angeführt (Miller/Miller) bzw. wird dort vorausgesetzt, wo Exegeten um eine möglichst vollständige Auflistung an Vergleichspunkten bemüht sind. Allerdings folgt diese Auflistung, wie sich insbesondere am Beispiel von Bielers Topik eines antiken Wundertäters erkennen lässt, nur selten einer nachvollziehbaren Systematik. Völlig unbekannt ist innerhalb der Exegese bisher, dass im Rezeptionsprozess nicht alle Figurenmerkmale (= Haupt-/Nebenmerkmale) gleich bedeutend sind. So bilden manche Figurenmerkmale aus Sicht der Rezipienten eine regelrechten Persönlichkeitskern, während andere als eher situativ oder beiläufig wahrgenommen werden. Auch die Ereignisse werden unterschiedlich wahrgenommen, weil manche Handlungen neue Alternativen eröffnen und andere lediglich der Wiederholung, Ausschmückung oder Veranschaulichung dienen. Für die Analyse kann eine solche Hierarchisierung einzelner Merkmale und Ereignisse hilfreich sein, weil die Eindeutigkeit eines Bezugs mit der Prägnanz der einzelnen Vergleichspunkte steigt. Dass die einfache Erwähnung von Speichel die Rezipienten des Markusevangeliums an die Person Vespasians denken lässt, ist vor diesem Hintergrund mehr als fraglich. Die heilende Wirkung von Speichel ist in der Antike bestens bezeugt und kann mithin nicht als charakteristisches Heilungsmittel des Vespasian gelten. Diese und andere Parallelen lassen „sich am einfachsten so erklären, daß beide Überlieferungsstränge den Geist der ihnen gemeinsamen Epoche atmen, genauer: daß sie aus dem gleichen Reservoir jüdischer (oder vorderorientalischer) Heilserwartungen schöpfen.“221 Anders verhält es sich mit der Figur des Elia und ihrer Beschreibung in 1,7f. Auch hier sollte man die Beschreibung von Speisegewohnheiten und Kleidung nicht überbewerten. Andererseits wird v.a. über die Figurenrelation in V. 8, d.h. das Verhältnis zwischen dem Täufer und dem Kommendem, auf ein charakteristisches Merkmal des endzeitlichen Elia verwiesen. Konkret wird hier die Vorstellung vom Wegbereiter des Herrn (Sir 48,10f.; Mal 3,23) 221
BEDENBENDER, Frohe Botschaft, 293.
3.2 Religionsgeschichtliche Zugänge
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aktiviert und zugleich auf die Geschicke des Jesus von Nazareth und das Verhältnis von Täufer und Jesus übertragen. Eine Assoziation, die durch den unmittelbaren Erzählkontext (Mk 1,2f.) bestätigt wird und über den Erzählverlauf weitere Modifizierungen erfährt (vgl. Kap. 4.3.2).
3.3 Redaktionsanalytische Zugänge zur markinischen Christologie Bis zur Mitte des 20. Jhdt. bestand innerhalb der Exegese eine weitgehend einhellige Meinung darüber, dass sich die redaktionelle Arbeit des ersten Evangelisten weitgehend auf das Sammeln und Zusammenfügen überlieferter Einzeltraditionen beschränkt habe. In den Anfängen der religions- und formgeschichtlichen Methode vermied man es noch, dezidiert von einer markinischen Christologie zu sprechen und unterstrich demgegenüber die Kontinuität zu vorgegebenen Sinngehalten und Formen. Symptomatisch für diese Zeit ist das Urteil von Rudolf Bultmann aus seiner „Geschichte der synoptischen Tradition“: „Es ist deshalb nicht nur verfehlt, aus der Anordnung des Mk irgendwelche Schlüsse auf die Chronologie und Entwicklung des Lebens Jesu zu ziehen, sondern es ist deshalb auch falsch, leitende Gedanken des Mk selbst – mit geringen Ausnahmen – aufzuzeigen. [...] Mk ist eben noch nicht in dem Maße Herr über den Stoff geworden, daß er eine Gliederung 222 wagen könnte.“
Vor dem Hintergrund eines solch negativen Diktums lässt sich das hohe Innovationspotenzial des redaktionsgeschichtlichen bzw. redaktionsanalytischen Ansatzes erkennen,223 der sich dezidiert dem biblischen Endtext sowie der theologischen Aussageabsicht der Evangelisten zuwandte und in der deutschen Nachkriegszeit allmählich etablierte. Die Redaktionsanalyse knüpfte, mit ihrem Grundinteresse an der Endgestalt der Evangelientexte, indirekt an die Forschungsbemühungen des 18. und 19. Jhdts. – insbesondere der „Biblischen Theologie“ und der „Literaturgeschichtlichen Auslegung“ – an. Sie führte diese Ansätze aber insofern weiter, als sie durchaus konstruktiv auf die Erkenntnisse der Traditions- und Überlieferungskritik zurückgriff und zur Betrachtung des Endtextes zugleich 222
BULTMANN, Geschichte, 374f. Die Bezeichnung „Redaktionsanalyse“ ist insofern präziser, als bei der Auslegung zumeist nicht die gesamte Textgenese in den Blick gerät, sondern häufig nur die Bearbeitungen eines Redaktors bzw. einer Redaktorengruppe. Zugleich ist der Begriff der Analyse offener für die im folgenden skizzierten Teilbereiche der redaktionsanalytischen Methoden (Komposition, Autorenpersönlichkeit, Theologie des Autors, Interpretation, Pragmatik). Der Begriff der Redaktionsgeschichte geht seinerseits zurück auf Willi Marxsen (MARXSEN, Evangelist [1956]). 223
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3. Kapitel: Forschungsgeschichte
eine Vielzahl neuer Fragestellungen aufnahm. So haben sich mit der Redaktionsanalyse von Anfang an zahlreiche Aspekte – wie die Kompositionsanalyse, die Textinterpretation und die Pragmatik – verbunden. Auch die Frage nach der Theologie und Persönlichkeit des Autors erhielt eine erneute Aufwertung.224 Sehr häufig lässt sich zudem ein gewisses Interesse an der „zeit und theologiegeschichtlichen Einordnung“225 eines Textes erkennen, wobei die innergemeindliche Kommunikationssituation ebenso in den Blick geraten kann, wie der weitere gesellschaftliche Entstehungskontext. Auch innerhalb der Markusforschung stellt sich der redaktionsanalytische Zugang als überaus variantenreich dar. Anknüpfend an William Wredes Theorie eines markinischen Messiasgeheimnisses bestand gerade in der Anfangsphase der Redaktionsanalyse eine wesentliche Streitfrage darin, inwieweit der erste Evangelist dieses Motiv bewusst aufgegriffen, reflektiert und ausgestaltet habe (vgl. 3.3.1). Während William Wrede das Messiasgeheimnis noch ganz der vormarkinischen Tradition zuschrieb, plädierten Exegeten wie Hans Jürgen Ebeling oder T. Alec Burkill nun plötzlich für einen überwiegend redaktionellen Charakter und begründeten dies v.a. mit kompositorischen Beobachtungen. Zugleich versuchten sie, die Ausgestaltung und redaktionelle Bedeutung des Geheimnismotivs durch den Hinweis auf ein kerygmatisches oder apologetisches Interesse des Autors, d.h. mit der Kommunikationssituation und Pragmatik des Textes, zu belegen. Heikki Räisänen, Rudolf Pesch und Josef Ernst widersprachen einer solchen Auffassung. Die starken Inkohärenzen innerhalb der markinischen Darstellung machten es ihres Erachtens nicht nur unwahrscheinlich, dass Markus ein solches Motiv bewusst aufgegriffen habe, sondern diese Inkohärenzen ließen viel mehr erkennen, dass die einzelnen Motive des sogenannten Messiasgeheimnisses bereits in der vormarkinischen Tradition weitgehend unabhängig voneinander vorgelegen hätten. Auch Eduard Schweizer, Gerd Theißen und Francis Watson verwiesen in der Folge auf solche Inkohärenzen, betonten demgegenüber aber gleichwohl, dass sich bei der Bearbeitung und Zusammenführung der Einzelmotive gleichwohl eine gewisse Intention erkennen lasse. Das Interesse galt hier primär der pragmatischen Funktion, wobei dem Evangelisten wahlweise ein paränetisches (Schweizer) oder soziologisches (Theißen, Watson) Anliegen zugeschrieben wurde. 224 Vgl. hierzu etwa die Einschätzung bei MARXSEN, Evangelist, 9. „[Die redaktionelle Einheit] kann nicht erklärt werden, ohne ein Individuum, eine Schriftstellerpersönlichkeit in Ansatz zu bringen, die mit ihrem Werk ein bestimmtes Ziel verfolgt.“ Interessanterweise geschah diese Hinwendung zum Redaktor bzw. Schriftsteller zeitlich parallel und zugleich völlig unberührt von der literaturwissenschaftlichen Infragestellung des Autors (vgl. BARTHES, Tod des Autors). Auch die Differenzierung zwischen realem Autor, implizitem Autor und Erzähler (vgl. BOOTH, Rhetoric) wird von der Exegese in dieser Phase noch nicht rezipiert. 225 BECKER, Exegese, 77.
3.3 Redaktionsanalytische Zugänge
157
Bereits in den 1970er Jahren lässt sich neben der Frage des Messiasgeheimnisses ein zunehmendes Interesse an der Relation der unterschiedlichen Hoheitstitel erkennen (vgl. 3.3.2). Plötzlich konnte alternierend von einer markinischen „Sohn-Gottes-Christologie“ einer „MenschensohnChristologie“ oder sogar von einer „Lehrer- und Propheten-Christologie“ gesprochen werden. Es setzte sich die Einsicht durch, dass sich die markinische Christologie erst aus der Aufnahme, Anordnung und Verbindung divergierender Titel ableiten lasse. Spätestens seit der Jahrtausendwende ist zu bemerken, dass sich die klassische Redaktionsgeschichte mit ihren einzelnen Betrachtungsweisen in einem Auflösungsprozess befindet.226 Die Redaktionsgeschichte hat sich, nicht zuletzt unter dem zunehmenden Einfluss literaturwissenschaftlicher und linguistischer Ansätze, in mehrere Methodenschritte ausdifferenziert und wurde durch diese ersetzt. Zeitgleich ist das einstige Zutrauen in die eigenen Ergebnisse einem weitgehenden Skeptizismus gewichen. Die Bestimmung von Tradition und Redaktion erfolgt heute mit weitaus größerer Vorsicht und Zurückhaltung. Angesichts dieser Entwicklungen kommt der Frage nach dem Verhältnis der unterschiedlichen Betrachtungsweisen und Zugänge eine immer wichtigere Bedeutung zu. Wie lassen sich die Analyse der Textgenese, der Komposition und der Pragmatik sinnvoll aufeinander beziehen und wie lassen sich an dieser Stelle erzählwissenschaftliche Ansätze integrieren? Was lässt sich unter der Theologie eines Textes bzw. eines Autors begreifen und warum greifen die Möglichkeiten der klassischen Redaktionsgeschichte aus einer heutigen narratologischen Perspektive zu kurz? Wie lässt sich die Kohärenz zwischen einzelnen Erzählsträngen und Episoden bestimmen und damit eine erzählwissenschaftlich fundierte Antwort auf die Zusammengehörigkeit einzelner Erzählstränge geben? Diese Fragen sollen nach der Darstellung der bisherigen Forschungsgeschichte erneut in einem gesonderten Methodenvergleich diskutiert werden (vgl. 3.3.3). 3.3.1 Das sogenannte Messiasgeheimnis im Markusevangelium Unter dem Begriff des Messiasgeheimnisses werden in der Markusforschung – trotz variierender Abgrenzungsversuche oder gar der Bestreitung einer inneren Kohärenz (v.a. Räisänen, Ernst, Pesch) – jene Motive bzw. Handlungselemente des Markusevangeliums zusammengefasst, mit deren Hilfe das Verborgenbleiben der Gottessohnschaft bzw. der umfassenden Identität Jesu inszeniert wird.
226
Eine ausführliche Berücksichtigung redaktionsgeschichtlicher Fragestellungen findet sich zuletzt bei NALUPARAYIL, Identity (2000). Das Gros redaktionsgeschichtlicher Arbeiten konzentriert sich jedoch auf die 70er und 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts.
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3. Kapitel: Forschungsgeschichte
Nach William Wredes ursprünglicher Definition gehören zu diesem Messiasgeheimnis vier Grundmotive, die sich durch die „fortwährende Wiederholung“227 sowie thematischen Bezüge als einheitliche Idee beschreiben lassen. Zu diesen Motiven zählte Wrede zunächst die Parabeltheorie (4,11f.), durch die zu Beginn eine Unterscheidung zwischen dem Unverständnis der Außenstehenden und dem Einsichtsvermögen der Jünger postuliert werde. Die mehrfachen Geheimlehren Jesu knüpften inhaltlich an diese Unterscheidung an.228 So erhielten die Jünger durch ihre Privatunterweisungen im Haus (7,17ff; 9,33ff; 10,10ff.) oder auch im Freien (4,10-20; 13,3ff.) ein besonderes Wissen über die Person Jesu. Dieser besonderen Form der Unterweisung stehe wiederum das Motiv des Jüngerunverständnisses entgegen, weil die Jünger trotz ihres Geheimwissens die Lehre und Hoheit Jesu sowie die Bedeutung seines Leidens letztlich nicht verständen. Viertens ließen sich die Schweigegebote an die Dämonen und Jünger (1,25.34; 3,12; 8,27; 9,9) sowie die Schweigegebote an Geheilte zum Messiasgeheimnis zählen. Durch dieses Wundergeheimnis werde v.a. die supranaturale Identität Jesu hervorgehoben.229 Zum Verständnis von Wredes Theorie ist bedeutend, dass dieser im Messiasgeheimnis „keine historische Anschauung mehr vom wirklichen Leben Jesu“230 erkannte (wenngleich dies die ursprüngliche Absicht seiner Arbeit darstellte). Wrede führte die Einzelmotive sowie die Geheimnistheorie vielmehr auf eine vormarkinische Tradition zurück. Die Idee eines Messiasgeheimnisses sei „dogmengeschichtlich“ notwendig geworden, um die Diskrepanz zwischen dem unmessianischen Leben Jesu und dem nachösterlichen Glauben an den Messias zu überwinden: „[Diese Idee] ist s[o] z[u] s[agen] eine Übergangsvorstellung, und sie lässt sich bezeichnen als die Nachwirkung der Anschauung, dass die Auferstehung der Anfang der Messianität ist, zu einer Zeit, wo man sachlich das Leben Jesu bereits mit messianischem Gehalt erfüllt. Oder sie ist hervorgegangen aus dem Triebe, das irdische Leben Jesu messianisch zu machen, aber aus dem durch die ältere, noch kräftige Anschauung gehemmten Triebe.“231
Wie sich diese vormarkinische Idee zu ihrer literarischen Ausgestaltung bei Markus verhält, in welcher genauen Beziehung vormarkinische Tradition und markinische Redaktion zueinander stehen und welche pragmatische Funktion diesem Erzählzug zu eigen ist, geriet bei Wrede lediglich ansatzweise in den 227
WREDE, Messiasgeheimnis, 36. WREDE, Messiasgeheimnis, 51–65. 229 Vgl. WREDE, Messiasgeheimnis, 65–81. Freilich erkennt bereits Wrede, dass dieses Schweigegebot durchbrochen wird (1,45; 7,24; 7,36f.). Durch die Verkündigung der Wundertaten, die an sich kaum überraschend sei, träten die Schweigebote jedoch umso deutlicher hervor (vgl. WREDE, Messiasgeheimnis, 124–129. 230 WREDE, Messiasgeheimnis, 131; vgl. ferner WREDE, Messiasgeheimnis, 30–32.47– 51.61.90–92.104f.129–131.238f. und passim. 231 WREDE, Messiasgeheimnis, 228. 228
3.3 Redaktionsanalytische Zugänge
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Blick.232 Erst ein halbes Jahrhundert später erfuhren ebendiese Fragestellungen im Zuge redaktionsgeschichtlicher Forschungsbemühungen eine stärkere Berücksichtigung. Die Untersuchungen der Vor- und Nachkriegszeit knüpften nicht nur an Wredes Arbeit und seine Einteilung der Geheimnismotive an, sondern sie verlagerten zugleich den Schwerpunkt von einer theologiegeschichtlichen zu einer pragmatischen Betrachtung des Kommunikationsgeschehens.233 Hierbei konnte dem ersten Evangelisten wahlweise eine polemische (Weeden; vgl. 3.2.1),234 kerygmatische (Ebeling), apologetische (Burkill), paränetische (Schweizer) oder soziologische (Theißen, Watson) Intention zugeschrieben werden.235 Die späteren Entwicklungen der redaktionsgeschichtlichen Wende vorauszeichnend widmete sich Hans Jürgen Ebeling bereits 1939 dem markinischen Messiasgeheimnis und hob in seiner Monografie die kerygmatische Bedeutung der Motive hervor. Ebeling konzentrierte sich dazu auf den Tatbestand, dass das Geheimnis bei Markus mehrfach durchbrochen werde, und versuchte diese Inkohärenz gerade nicht, auf den Prozess der Textgenese zurückführen, sondern aus einem theologischen Anliegen des Evangelisten heraus zu erklären. Sein Interesse galt ganz der Endgestalt des Markustextes und nicht der Textgenese. Auf der Ebene des Endtextes werde durch das Wechselspiel zwischen den einzelnen Geheimnismotiven und der Offenbarung des Messias die Aufmerksamkeit der Leser auf die Identität Jesu als Sohn Gottes gelenkt. Die Rezipienten erhielten durch ihre privilegierte Perspektive ein Gespür für
232 Vgl. z.B. WREDE, Messiasgeheimnis, 145f. Hier räumt Wrede v.a. eine gewisse Variationsbreite des Motivs ein und kommt zu dem Schluss: „Die Motive selbst werden mindestens teilweise nicht das Eigentum des Evangelisten sein, aber wie er sie in concreto verwendet, das ist jedenfalls seine eigene Arbeit, und insofern kann man hier und da von einer Manier des Markus reden“ (WREDE, Messiasgeheimnis, 146). 233 Historisch und psychologisch motiviert waren noch jene Arbeiten in der ersten Hälfte des 20. Jhdt., die im Anschluss an Martin Dibelius (vgl. DIBELIUS, Formgeschichte, 231f.) die markinischen Motive der Geheimhaltung auf den historischen Jesus und dessen Charakter, insbesondere seine Bescheidenheit, zurückzuführen versuchten (vgl. dazu HAENCHEN, Weg, 133f.; JOHNSON, Gospel, 11; HAY, Messianic Secret, 16–27). 234 Auf die Wechselwirkungen zwischen Messiasgeheimnis und einer religionsgeschichtlichen fundierten qei`o~ ajnhvr-Typologie wurde bereits oben hingewiesen. An dieser Stelle kann deshalb auf eine Wiederholung verzichtet werden. 235 Eine ähnliche Klassifizierung der Forschungsgeschichte findet sich bereits bei RÄISÄNEN, Messianic Secret, 56–71, der allerdings den Aufsatz von Gerd Theißen aus dem Jahr 1995 noch nicht einbeziehen konnte. Vgl. auch die Klassifizierung bei THEISSEN, Geheimnismotive, 233.
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3. Kapitel: Forschungsgeschichte
die gewaltige Bedeutung und Kraft der Offenbarung,236 insofern der Gottessohn allem Unverständnis zum Trotz nicht verborgen bleiben könne.237 T. Alec Burkill plädierte in seiner 1963 erschienenen Monografie „Mysterious Revelation“ hingegen dafür, dass Markus seiner Gemeinde – ähnlich wie Paulus in Röm 9–11 – eine Antwort darauf geben wollte, warum Jesus von den Juden zurückgewiesen wurde.238 Der Aufbau sowie die redaktionelle Bearbeitung ließen seines Erachtens erkennen, dass Markus die Geheimnismotive bewusst eingesetzt habe. Der gesamte Evangeliumstext sei auf die Geheimnisthematik ausgerichtet. Zugleich zeige der Evangelist die Neigung, seiner persönlichen Überzeugung von der Messianität Jesu Ausdruck zu verleihen. Hierzu betone er gerade jene Figurenmerkmale, die Jesus als Messias erweisen.239 Durch den permanenten Wechsel zwischen Geheimhaltung einerseits und bekenntnishaftem Porträt andererseits erscheine die markinische Christologie letztlich als eine mysteriöse Offenbarung. Nach Eduard Schweizer zielen die Geheimnismotive primär darauf ab, die Leser in die Leidensnachfolge zu rufen und das Kreuz als eigentlichen Erkenntnisgrund der Person Christi zu proklamieren. Eindrücklich lasse sich dies am Bekenntnis des Petrus ablesen, das zwar formal korrekt sei, aber gerade die Bedeutung des Leidens völlig verkenne.240 Ein besonderes Anliegen des Evangelisten sei es, das Scheitern der Jünger zu betonen und so die Differenzierung zwischen Gemeinde und Außenstehenden, die durch die Markus überlieferte Parabeltheorie vorgegeben sei, aufzuheben. Der Ruf in die Leidensnachfolge solle auf alle Menschen übertragen werden und gelte nicht allein den Jüngern bzw. der Gemeinde: „Für Markus aber sind, wenn man so will, alle zur Blindheit prädestiniert, und alle zur Erkenntnis gerufen.“ 241 Gerade indem Markus eine Lebensschilderung Jesu verfasse, zeige er, dass die wahre Messiaserkenntnis nicht durch die Verkündigung des historischen Jesus oder eines Wundertäters zu Stande komme.242
236
EBELING, Messiasgeheimnis, 167–172.177f. und passim. In einer 1997 erschienenen, zweibändigen Arbeit knüpft Frenschkowski an diese epiphanale Deutung an, kritisiert jedoch zugleich das unzureichende religionsgeschichtliche Reflexionsvermögen Ebelings. Demgegenüber versucht Frenschkowski das Markusevangelium vor dem Hintergrund eines angeblich weitverbreiteten Modells der „verborgenen Epiphanie“ zu deuten (FRENSCHKOWSKI, Offenbarung II, 5). Offenbar werde Jesus nicht allein durch die Durchbrechung der Schweigegebote, sondern ebenso durch seine Wundertaten (FRENSCHKOWSKI, Offenbarung I, 168; FRENSCHKOWSKI, Offenbarung II, 182). 238 BURKILL, Revelation, 210 239 Burkill folgt hier einer älteren These von Martin Dibelius (vgl. DIBELIUS, Formgeschichte, 232). 240 Vgl. SCHWEIZER, Frage, 7f. 241 SCHWEIZER, Frage, 6. 242 Hier knüpft Schweizer unmittelbar an die qei`o~ ajnhvr-Theorie seiner Zeit an und sieht diese einer kreuzestheologischen Kritik unterzogen (vgl. SCHWEIZER, Frage, 8 Anm. 237
3.3 Redaktionsanalytische Zugänge
161
Gerd Theißen führte den paränetischen Ansatz Schweizers in soziologischer Hinsicht weiter.243 Der Heidelberger Neutestamentler verweist dazu auf eine grundsätzliche Schutzfunktion, die jedem Geheimnis innewohne, sowie auf die Gefahr, die sich aus dem Offenbarwerden eines Geheimnisses – v.a. durch die Sanktionsgewalt der Mächtigen – ergäbe. So wie in der Textwelt des Markusevangeliums die Durchbrechung des Messiasgeheimnisses zur Gefährdung Jesu werde, kenne die markinische Gemeinde eine aus der Preisgabe der christlichen Identität erfolgende Lebensgefährdung.244 Während das Personengeheimnis einen konkreten Bezug zwischen dem Offenbarwerden eines Geheimnisses und der äußeren Gefährdung veranschauliche, werde dem Leser durch das Jüngerunverständnismotiv vor Augen gestellt, „daß der Konflikt mit der Umwelt notwendig zum christlichen Leben gehört“245 und christliche Nachfolge immer als Leidensnachfolge zu begreifen sei. Hieran anknüpfend dienten die Geheimlehren Jesu dazu, die Verfolgungssituation der Gemeinde erzählerisch aufzugreifen (4,17.19; 13,9.12) sowie innergemeindliche Streitfragen, die sich einer verfolgten Gemeinde aufdrängten, einer Klärung zuzuführen. Nach Theißen lässt sich auch das Wundergeheimnis in dieses Gesamtverständnis einfügen. Die regelmäßige Durchbrechung der Schweigegebote könne dabei nicht als Inkonsequenz246 gelten, sondern dieser Erzählzug lasse vielmehr erkennen, dass Jesus vom einfachen Volk – anders als von den Eliten – verehrt werde und hier keine Sanktionen zu befürchten habe. Andererseits werde verdeutlicht, dass durch das Bekanntwerden der Wunder noch kein wahrer Glauben geweckte werde. „Erst wer sich in Konflikten mit der Umwelt zu ihm [sc. dem Sohn Gottes] bekennt, hat ihn richtig erkannt.“247 Insgesamt rechnet Theißen damit, dass die Rezipienten an zahlreichen Stellen textliche Aussagen auf ihre Lebenswelt übertragen können und re-konstruiert dazu einen entsprechenden Entstehungskontext. Die Frage, wie die Rezipienten umgekehrt durch den Text bzw.
34: „Zweifellos zeigen die Wundergeschichten der synoptischen Tradition den Einfluß hellenistischer qei`o~ ajnhvr-Vorstellungen.“). 243 „Die hier vorgelegte Interpretation knüpft an die paränetische Deutung an [...]“ (THEISSEN, Geheimnismotive, 234). 244 Vgl. Plin. epist. 10,96; Iust. Mart. apol. 1,2. 245 THEISSEN, Geheimnismotive, 237. 246 Theißen folgt einerseits der Auffassung, dass die Geheimnismotive im Einzelnen bereits der vormarkinischen Tradition zuzuschreiben sind und sich vor diesem Hintergrund einzelne Ungereimtheiten erklären lassen. Er verweist zugleich auf das häufige Auftreten von Inkohärenzen in alltäglichen Schreibprozessen (vgl. THEISSEN, Geheimnismotive, 232). An dieser Stelle könnte sich der Dialog mit der neueren Schreibprozessforschung als gewinnbringend erweisen (vgl. CHANQUOY, Revision; EIGLER, Textproduktionsforschung; HAYES, Revision). 247 THEISSEN, Geheimnismotive, 242.
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3. Kapitel: Forschungsgeschichte
dessen Lektüre zu einer ebensolchen Konstruktion emergenter Sinngehalten angeregt werden, behandelt er nicht. Im Unterschied zu den bisher dargestellten Arbeiten, die trotz variierender Begründungen an einer weitgehenden Kohärenz des Messiasgeheimnisses festhielten, war es das Anliegen von Heikki Räisänen, Josef Ernst oder auch Rudolf Pesch die Uneinheitlichkeit dieser erzählerischen Motive aufzuzeigen und zugleich eine einheitliche christologische Konzeption des ersten Evangeliums zu bestreiten: „Markus hat keine erkennbare eigenständige christologische Konzeption, die Christologie seines Evangeliums ist wesentlich durch die Christologie seiner Traditionen bestimmt, die durch die Zusammenstellung und Mischung in einer Gesamtkonzeption zu einem Gesamt248 bild von Jesus Christus (1,1) verschmelzen.“
Der Finne Heikki Räisänen argumentierte in dieser Hinsicht zwar für eine Zusammengehörigkeit der Schweigegebote an Dämonen und Jünger, trennte diese aber von der Parabeltheorie sowie den Schweigegeboten bei Wundern und den Geheimlehren Jesu.249 Das Jüngerunverständnismotiv steht nach Räisänen in einem partiellen Bezug zum Messiasgeheimnis, insofern es sich v.a. in der ersten Evangelienhälfte auf die Identität Jesu beziehe, weise aber ebenfalls andere thematische Bezüge auf. Josef Ernst will im Unterschied zu Räisänen ausschließlich die Schweigegebote an die Jünger als markinisches Motiv gelten lassen und begründet dies in methodischer Hinsicht ebenfalls auf der Grundlage einer strikten Unterscheidung von redaktionellen und traditionellen Elementen: „Wie schon vorher, hängt die inhaltlich-theologische Deutung des Textes von der literarischen Positionsbestimmung: ‚Tradition-Redaktion‘ ab.“250 3.3.2 Titulare Christologie(n) im Markusevangelium Während sich die Diskussion um das Messiasgeheimnis ebenso wie die religionsgeschichtlichen Betrachtungen (vgl. 3.2) nahezu ausschließlich auf die Funktion und Bedeutung des Sohn-Gottes-Titels im Markusevangelium konzentrierten, lässt sich seit den 1970er Jahren ein verstärktes Interesse an der Relation der christologischen Titel sowie weiterer Figurenbeschreibungen (z.B. Lehrer, Prophet251) erkennen. Mit Hilfe einer Unterscheidung von Re248
PESCH, Markusevangelium II, 41; ähnlich RÄISÄNEN, Messianic Secret, RÄISÄNEN, Messianic Secret, 76–143 (Parabeltheorie) u. 144–168 (Wundergeheimnis) u. 223 (Geheimlehren). „Of the motifs which where closely linked by Wrede, the silencing commands addressed to the demons and those addressed to the disciples belong closely together. One may say that these two motifs constitute the ‚messianic secret‘ proper“ (RÄISÄNEN, Messianic Secret, 242). 250 Vgl. ERNST, Messiasgeheimnis, 42–44, hier 44. 251 Zeitweise ist sogar von einer „Lehrer- und Prophetenchristologie“ des Markusevangeliums gesprochen worden: so v.a. ROBBINS, Teacher (1984), der hierzu auf die häufige 249
3.3 Redaktionsanalytische Zugänge
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daktion und Tradition wurde in diesem Zusammenhang meist versucht, entweder eine Präferenz des Sohn-Gottes-Titels oder des Menschensohn-Titels sowie traditionsgeschichtlich korrelierender Titel zu erweisen. Insofern sich die Sinngehalte sowie Relationen der einzelnen Titel zumeist erst aus der frühjüdischen Rezeption alttestamentlicher Begriffe ableiten lassen, sind die Übergänge zwischen Redaktions- und Religionsgeschichte an dieser Stelle fließend. a. Sohn-Gottes-Christologie: Eine große Mehrheit der Exegeten sieht im Markusevangelium eine redaktionelle Präferenz des Sohn-Gottes-Titels gegeben.252 Argumente hierfür sind die kompositorische Verteilung dieses Titels (1,1.11; 9,7; 15,39), der als zuverlässig eingestufte Figurenstandpunkt Gottes (1,11; 9,7) und der Dämonen (1,24; 5,7) sowie die Tatsache, dass im Zusammenhang des markinischen Messiasgeheimnisses (vgl. 3.3.1) allein die Gottessohn-Akklamationen mit einem Schweigegebot belegt werden. Die so begründete Präferenz des Gottessohntitels schließt jedoch keineswegs disparate Interpretationen aus. So kann der Sohn-Gottes-Titel je nach traditions- bzw. religionsgeschichtlicher Herleitung entweder als Ausdruck einer königlich-messianischen Hoheitschristologie (Juel, Matera), einer Leidens- und Niedrigkeitschristologie mit engen Bezügen zur Figur des Gottesknechts bzw. des leidenden Gerechten (Kazmierski, Ruppert) oder aber als eine bewusste Verschmelzung dieser Vorstellungen (Steichele, Zmijewski, Breytenbach) gelten. Mit Hilfe von 4QFlor sowie mehreren Targumim 253 will Donald H. Juel bereits 1977 die königlich-messianischen Implikationen des markinischen Sohn-Gottes-Titel erweisen und sieht diese Bedeutung durch ein literarische Analyse von 14,53–65 im Kontext des Passionsberichtes bestätigt.254 Neben
Bezeichnung Jesu als Lehrer sowie vermeintliche Gattungsparallelen zu antiken Lehrerbiographien hinweist. Alle übrigen Titel seien lediglich als Konkretion dieses (Handlungs-) Rollenmodells zu begreifen. Ähnlich wenngleich zurückhaltender BORING, Christology, 128–134, und bereits DODD, Teacher and Prophet (1930). Da die These einer markinischen Lehrerchristologie in der aktuellen Diskussion keinerlei Rolle mehr spielt, wird sie an dieser Stelle vernachlässigt. Vgl. zur Verhaltensweise des Lehrens und der Wichtigkeit dieses Figurenmerkmals für das mentale Modell des Protagonisten Kap. 4.3.1d (Verhalten). 252 Vgl. über die im Folgenden dargestellten Forschungsbeiträge hinaus u.a. PESCH, Markusevangelium II/1, 41f.; GNILKA, Evangelium II/1, 60; ZIMMERMANN, Jesus, 259– 263 (zur Komposition). 253 Vgl. JUEL, Messiah, 108–114 (Sohn Gottes als Messiastitel) u. 172–209 (Tempelzerstörung). 254 JUEL, Messiah, 212: „The trial introduces the royal motif in Mark’s passion story. Jesus is formally rejected by the Jewish religious leaders as ‚the Christ, the Son of the Blessed‘ [...] and crucified in the next chapter as ‚the King of the Jews‘ and ‚the Christ, the
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3. Kapitel: Forschungsgeschichte
anderen Motiven erkennt er v.a. in der Rede von der Tempelzerstörung und wiederherstellung einen wichtigen Bezugspunkt zu frühjüdischen Messiasvorstellungen. Aus der literarischen Ausrichtung der Arbeit, die jedoch noch keinerlei Bezüge zum literaturwissenschaftlichen Diskurs jener Zeit aufweist, resultiert letztlich eine deutliche Skepsis gegenüber den Möglichkeiten der redaktionsgeschichtlichen Methode. So betont Juel immer wieder, dass sich die Christologie des ersten Evangelisten gerade nicht aus einer hypothetischen Scheidung zwischen Tradition und Redaktion heraus ableiten lasse und die markinische Christologie nicht auf einzelne Hinzufügungen zu reduzieren sei, sondern sich erst aus der Betrachtung des Endtextes ergäbe: „[I]nterpretation begins with basic literary questions that can be answered without knowing the prior history of tradition or the precise delineation of tradition and redaction, and that 255 must be answered even when such information is attainable.“
Gleichzeitig gibt Juel nicht zu erkennen, nach welchen Kriterien er das Vorwissen des Autors und der Rezipienten rekonstruiert, wie die Rezipienten den von ihm behaupteten ironischen Unterton des Passionsberichtes erkennen oder wie diese auf der Grundlage möglicher Sinngehalte zu konkreten Schlussfolgerungen und Interpretationen gelangen. Hier bleiben seine Aussagen zumeist thetisch.256 Auch Frank J. Matera will den markinischen Sohn-Gottes-Titel im Sinne königlich-messianischer Erwartungen verstanden wissen,257 begründet diese Interpretation aber vorrangig mit der kompositorischen und redaktionellen Aktivität des ersten Evangelisten sowie einem seines Erachtens evidenten Bezug zu Ps 118,22. Bereits in Mk 11 und 12 würden durch das Tempelmotiv sowie das Winzergleichnis implizit Bezüge zu einer königlichen Messiasvorstellung (Ps 2,7) sowie zur Zurückweisung des Königs (Ps 118,22) hergestellt, die dann in Mk 15 durch die explizite Verwendung der Königstitulatur ausgeführt und konkretisiert würden. 258 Der Menschensohn-Titel sei diesen königlichen Implikationen zuzuordnen, insofern Markus ihn in 8,31 und 9,12 King of Israel‘. At a deeper level of the story, however, Mark intends the reader to appreciate the irony of the drama.“ 255 JUEL, Messiah, 214f., hier 215. Vgl. auch JUEL, Messiah, 44 (hier zugleich Kritik an einer psychologischen Analyse). 256 „There can be little doubt that Mark intended the reader to understand the ironic significance of the mockery“ (JUEL, Messiah, 47) – „It seems clear that the taunt in 15,32 is a conscious allusion to the trial“ (JUEL, Messiah, 50) – „Although there were other possibilities for eschatological traditions (Ex 15,17), we have evidence that at least for some, this potential task of the coming Messiah was actualized“ (JUEL, Messiah, 199). 257 MATERA, Kingship, 140: „On the basis of our analysis thus far, we propose that royal messianism is the most fruitful manner in which to interpret the confession [of the Centurion in Mk 15,39].“ 258 MATERA, Kingship, 147: „Thus the royal theme ran through chapters 11–12, but Mark refused to employ the title ‚King‘ until chapter 15 when the passion had begun.“
3.3 Redaktionsanalytische Zugänge
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verwende, um auf ein Erfüllung von Ps 118,22 hinzuweisen:259 „Mark has given us a bridge by which to cross from one side to the other in the allusions of Ps 118,22 that we find in 8,31; 9,12, and the explicit quotations of Ps 118,22 in 12,10–11 [...] That son is the royal Son of 1,11; 9,7.“260 Der von Matera behauptete Schriftbezug stützt sich jedoch ausschließlich auf das in LXX Ps 117,22 und Mk 8,31 verwendete ajpodokimavzw, vermag aber bereits das in 9,12 alternativ gebrauchte ejxoudenevw kaum zu erklären. Auf dasselbe Jahr wie die oben dargestellte Studie von Donald H. Juel geht die 1979 veröffentlichte Dissertation von Carl R. Kazmierski zurück, die sich jedoch inhaltlich und methodisch geradezu als Gegenentwurf bezeichnen lässt. So fusst Kazmierskis Arbeit in methodischer Hinsicht auf einer konsequenten Unterscheidung zwischen Tradition und Redaktion und kommt inhaltlich zu dem Ergebnis, dass der markinische Jesus im Sinne eines geliebten, gehorsamen und leidenden Gottesknechtes (Jes 42,1; Gen 22) porträtiert werde. Kazmierski sieht Markus als konservativen Redaktor an,261 der die überlieferten Traditionen nicht an seine Gemeindesituation angepasst habe, sondern von der Tradition her seine Gemeinde zu formen versuche: „Mark, at any rate, has not been as creative with respect to his traditions as is sometimes supposed [...] [W]e have been able to show that the Son of God theology of the gospel of St. Mark rests firmly on the foundations of the traditions which the evangelist has used.“ 262
Die redaktionelle Arbeit des Evangelisten beschränke sich weitgehend auf die Anordnung und Neuverknüpfung der überlieferten Traditionen, wobei der Tauferzählung (1,9–11) ein besonderes Gewicht zukomme.263 Mit dem Zitat der Himmelsstimme in 1,11 greife der Evangelist eine Tradition auf, die ihrem Ursprung nach auf Jes 42,1 zurückzuführen sei,264 dann jedoch bereits vormarkinisch durch eine – auch sonst im Neuen Testament (Röm 8,32; Mk 12,6) sowie den Targumim vorfindliche265 – Isaaktradition überformt worden sei. Diese Tradition greife Markus bewusst auf, weil er darin die für ihn wichtigen Gedanken der Kindschaft und des Leidens verbunden sähe.266 In 259
Vgl. MATERA, Kingship, 93–119 u. 148 (so bereits TÖDT, Menschensohn). MATERA, Kingship, 119. 261 KAZMIERSKI, Jesus, 221; ähnlich PESCH, Markusevangelium II/1, 33, der von einem „unliterarisch-konservativen Redaktionsverfahren“ spricht. 262 KAZMIERSKI, Jesus, 211. 263 Vgl. KAZMIERSKI, Jesus, 1–26 (1,1) und 27–71 (1,9–11). 264 Kazmierski greift damit die ältere These von BOUSSET auf (s.o.); vgl. daneben die ausführliche Studie von JEREMIAS, Art. pai`~ qeou`, 698–713, sowie die Ausführungen bei HAHN, Hoheitstitel, 340; PESCH Markusevangelium I, 92; GNILKA, Evangelium II/1, 50 und LÜHRMANN, Markusevangelium, 38. 265 Kazmierski verweist hier v.a. auf TPsJ zu Gen 22; Ex 12,42; Lev 22,27. 266 KAZMIERSKI, Jesus, 7: „The theological interest point of Jesus narrative moreover, is centered on the person of Jesus described in terms reminiscent of an anointed Servant of God, one whose mission as Beloved Son is already linked with death.“ 260
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den Schilderungen vom Prozess (14,61f.) sowie der Kreuzigung (15,39) greife der Evangelist diese Vorstellung erneut auf,267 führe sie durch Bezüge zu Sap 2,13.18, d.h. die traditionelle Vorstellung vom unschuldig leidenden Gerechten, weiter268 und stelle so heraus, dass Jesus aus Gehorsam gegenüber Gottes ursprünglichem Auftrag handele: „For Mark, Jesus’ Sonship comes to expression in his faithful fulfilment of the mission God had given him. His aim is to show that the Gospel of God was effectively proclaimed by Jesus, and that this fact in history has now become the Gospel of the Church.“269
Eine vermittelnde Position nehmen die beiden katholischen Exegeten Zmijewski und Steichele sowie Breytenbach ein, insofern sie das integrative Potenzial des Sohn-Gottes-Titels bei Markus hervorheben. So versteht Josef Zmijewski den ersten Evangelisten gerade nicht als einen konservativen Redaktor, sondern betont, dass dieser „den Titel ‚Sohn Gottes‘ in eine bemerkenswerte Dialektik hineingestellt hat: Auf der einen Seite verwendet er ihn (in Anlehnung an die christologischen Vorstellungen seiner Tradition) als ausgesprochenen Hoheitstitel [...]. Auf der anderen Seite verbindet er mit dem Titel den Leidensaspekt.“270 Diese Dialektik spiegele sich bereits in der Taufperikope wider. Die Proklamation Jesu (1,11) lasse sich nicht nur ihrem Ursprung nach auf Jes 42,1 zurückführen, sondern diesen Bezug könne man auch noch im Kontext des Markusevangeliums wiedererkennen, wofür a) der beibehaltene „Zusatz ‚mein Geliebter, den ich erwählt habe‘ aus Jes 42,1“271; b) die Verknüpfung mit der anschließenden Versuchung (1,12f.); sowie c) die kompositorische Platzierung der Taufperikope am Beginn des Leidensweges Jesu sprächen. Gleichzeitig habe Markus aber – wie an allen Stellen mit titularer Verwendung (1,1; 1,11; 3,11; 5,7; 14,61) – den Sohn-Gottes-Begriff bewusst eingefügt, um Hoheits- und Niedrigkeitsaussagen aufeinander zu beziehen. Dieselbe Dialektik komme im redaktionell umgestalteten Bekenntnis vor dem Synedrium oder dem Bekenntnis des Hauptmanns unterm Kreuz zum Vorschein. Inhaltlich und funktional korrespondiere hiermit die Verwendung des Menschensohntitels. Auch für Hans-Jörg Steichele ist die königlich-messianische Würde Jesu die „Klammer“, die die überlieferungsgeschichtlich disparaten Traditionslinien zusammenhalte.272 Der von Markus weitgehend übernommene Kreuzigungsbericht lasse zwar erkennen, dass bereits in vormarkinischer Zeit ein Zusammenhang zur Vorstellung vom leidenden Gerechten (v.a. Ps 22) hergestellt worden sei, aber Markus teile dieses Anliegen durchaus: „Jesus ist 267 268 269 270 271 272
Vgl. KAZMIERSKI, Jesus, 165–189 (14,61f.) u. 191–210 (15,39). KAZMIERSKI, Jesus, 194–200. KAZMIERSKI, Jesus, 212. ZMIJEWSKI, Sohn-Gottes-Prädikation, 34. ZMIJEWSKI, Sohn-Gottes-Prädikation, 27. STEICHELE, Der leidende Sohn, 314.
3.3 Redaktionsanalytische Zugänge
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auch und gerade im Leiden der messianische König. Darauf kommt es Mk an.“273 Der erste Evangelist habe die entsprechenden Bezüge weiter ausgestaltet, etwa indem er dreimal „Jesu ganzes Leiden und Sterben unter das gevgraptai bzw. das i{na plhrwqw`sin aiJ grafaiv [stelle]“ (vgl. 14,21.27.49) und dadurch den Bezug zu Ps 22 und anderen alttestamentlichen Verheißungen betone. Wie für Zmijewski laufen auch für Steichele in dem redaktionell hinzugefügten Bekenntnis des Centurio beide Traditionslinien einer Hoheits- und Niedrigkeitschristologie zusammen. Diese Bezogenheit entspräche dem erkennbaren Nebeneinander von Leidensmotivik und königlicher Motivik innerhalb des Passionsberichtes. Cilliers Breytenbach wehrt sich mit einem Aufsatz aus dem Jahr 1991 gegen den wiederholt vorgetragenen Einwand, das Markusevangelium verfüge über keine einheitliche Christologie.274 Da der Evangelist selber die Frage nach Jesu Identität immer wieder provoziere (1,22.27; 2,7f.; 4,41; 6,2f.14f.; 8,27)275 und sich ein durchgängiger Zusammenhang zwischen den Gottessohnprädikationen und Menschensohnaussagen erkennen lasse,276 ließen sich zumindest einige Grundzüge einer markinischen Christologie benennen. Bei der Analyse dieser Grundzüge gelte es, die traditionsgeschichtliche Entwicklung der Hoheitstitel und christologischen Vorstellungen im Blick zu behalten, aber den Fokus auf die markinische Komposition sowie die Rezeption des Evangeliums zu richten.277 Im Ganzen arbeitet Breytenbach drei Charakteristika der markinischen Christologie heraus: Zuerst sieht er den Gottessohnbegriff aufs Engste mit der Bevollmächtigung Jesu und der Geistverleihung verknüpft, was sich gleichermaßen im Taufbericht, durch Jesu Auftreten in der Tradition der Propheten und schließlich dem Aushauchen des Geistes am Kreuz erkennen lasse. Die Rezipienten des ersten Evangeliums wüssten – im Unterschied zu Jesu Gegnern und seinen Jüngern – um diese Geistbegabung und könnten so sein vollmächtiges Handeln, das zudem durch die Aussagen über den irdischen Menschensohn betont werde, verstehen. Zweitens werde durch die Verwendung des Christustitels das Leiden und Sterben Jesu thematisiert, wobei Breytenbach von einer Nähe des markinischen Christustitels zur vorpaulinischen Tradition (1 Kor 15,3) ausgeht. Indem Markus die „Christusaussage in 8,29 und die Gottessohnprädikation in 9,7 [...] eng mit den Aussagen, daß Jesus als Menschensohn leiden muß, ver-
273
STEICHELE, Der leidende Sohn, 315 Anm. 5. So TROCMÉ, Christology, 3–13; PESCH, Markusevangelium, 36–47; ERNST, Markus, 42–44 u. 240–247 (vgl. hierzu 3.3.1). 275 Ähnlich MÜLLER, Wer ist dieser (vgl. 3.4). 276 BREYTENBACH, Grundzüge, 170. 277 „Darum ist die Frage nach der markinischen Christologie nicht nur eine traditionsgeschichtliche, sondern vor allem eine kompositionsanalytische“ (BREYTENBACH, Grundzüge, 170). 274
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knüpft (8,31; 9,9.12; 14,21),“278 weise er eine falsche Messiaserwartung innerhalb seiner Gemeinde zurück und verdeutliche zugleich, dass Jesus als Messias erst vom Tode her erkannt werden könne (15,39) und nicht mittels eindrücklicher Legitimationszeichen (15,32).279 Drittens werde die Messianität Jesu bei Markus auch nicht durch die davidische Abstammung begründet (12,35–37), sondern durch die zukünftige Machtübernahme des Erhöhten. Es lasse sich hier von einer „Christologie von ‚vorne‘“280 sprechen. Breytenbach erkennt auch diesbezüglich Berührungspunkte mit der paulinischen Tradition (1Kor 15,25–27), insofern jeweils Ps 110,1 und Ps 8,7 auf den Erhöhten übertragen würden (vgl. auch Eph 1,20.22; Heb 1,13; 2,6–8) – bei Markus jedoch zugleich eine Identifikation mit dem eschatologischen Menschensohn erfolge (14,61f.). In ihrer Gesamtheit ließen diese drei Grundzüge der markinischen Christologie erkennen, dass Markus „ein neues Bild mit den Mosaiksteinen der von dem Christentum auf Jesus angewandten christologischen Hoheitstitel“281 entworfen habe. b. Menschensohn-Christologie: Während die Arbeiten von Breytenbach oder auch Zmijewski bereits einen engen inhaltlichen sowie funktionalen Bezug zwischen markinischer Gottessohn- und Menschensohn-Christologie behaupten, diese Abhängigkeit aber vom Gottessohntitel aus entfalten, haben sich in der Markusforschung seit Anfang der 1970er Jahre einige Exegeten dezidiert für ein vorrangige Bedeutung des Menschensohn-Titels innerhalb der markinischen Gesamtkonzeption ausgesprochen. Als Grund hierfür wird angeführt, dass dieser Titel a) ausschließlich von Jesus verwendet werde; b) er keiner Geheimhaltung unterliege; und c) er zugleich das Wirken, die Passion und die Wiederkunft Jesu zusammenfasse. Den Ausgangspunkt zur Etablierung einer markinischen Menschensohnchristologie stellen die beiden Arbeiten von Müller und Donahue dar, die sich zwar noch primär auf die Auslegung einzelner Perikopen konzentrieren, aber von hier aus durchaus die redaktionellen Regelmäßigkeiten des Gesamttextes sowie die christologische Komposition des ersten Evangeliums in den Blick nehmen. Impuls für den 1973 erschienen Aufsatz von Ulrich B. Müller ist nach Auskunft des Autors ausdrücklich der methodische Wandel innerhalb der Exegese gewesen, der das Markusevangelium nicht mehr als bloße Sammlung vorgegebener Traditionen erscheinen lasse, sondern als kritische Inter278
BREYTENBACH, Grundzüge, 179. BREYTENBACH, Grundzüge, 179f.: „Der Gottessohn wird erst als Gekreuzigter erkannt (15,39), der Christus ist der zum Leiden bestimmte Menschensohn.“ 280 Vgl. BREYTENBACH, Grundzüge, 183. Zur Identifikation zwischen dem Erhöhten und dem Kommenden vgl. vertiefend BREYTENBACH, Nachfolge, 257–259. 281 BREYTENBACH, Grundzüge, 184. 279
3.3 Redaktionsanalytische Zugänge
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pretation und Korrektur existierender Einzelüberlieferungen. Um das christologische Anliegen des Markus zu erkennen, sollen der redaktionelle Charakter der beiden schwerpunktmäßig untersuchten Texte (8,27–30.31–33; 9,2–9) sowie ihre kompositorischen Bezüge zueinander und zum Gesamttext herausgearbeitet werden.282 Während Müller 8,27–30 aufgrund der pointierten Verwendung des Christustitel als christliche und aller Voraussicht nach vormarkinische Traditionsbildung ansieht, versteht er 8,31–33 als „redaktionelle Bildung“, die sich dadurch erkläre, dass „das Petrusbekenntnis (8,29) nach Meinung des Evangelisten noch keine erschöpfende Klärung geleistet [habe].“283 Indem Jesus – der markinischen Charakterisierung gemäß284 – als Lehrer auftrete und das Leiden des Menschensohns betone, werde diesem Aspekt ein besonderes Gewicht verliehen. Das Scheltwort „Satan“ (vgl. Röm 16,20; 2Kor 11,13–15; Apg 13,10; Mt 4,10; Ign. Phld. 6,2; Trall. 8,1) lasse Petrus – ebenso wie der Dualismus zwischen „Göttlichem“ und „Menschlichem“ – als Irrlehrer erscheinen und gelte zugleich den Irrlehrern in der markinischen Gemeinde.285 „Die eigentliche Antwort auf die letzte Frage ist anscheinend noch nicht das Petrusbekenntnis: ‚Du bist der Christus‘ (8,29). Denn dieser (christliche) Titel läßt noch viele Deutungsmöglichkeiten offen.“286 Mit den zitierten Meinungen des Volkes (6,14; 8,27) werde zugleich eine Christologie „zurückgelassen“, die Jesus einseitig als Wundertäter verstehe.287 In analoger Weise dienten Jesu Schweigegebot an die Jünger sowie die Leidensweissagung in 9,9 dazu, der vorherigen Darstellung Jesu als göttlicher Gestalt (9,2– 8) ein Korrektiv entgegenzusetzen: „Die Verklärungsgeschichte, die ursprünglich ausschließlich Jesu Herrlichkeit demonstriert, ist durch die Stellung innerhalb des Markusevangeliums der Leidenschristologie dienstbar gemacht.“288 Weder in 9,2–8 noch im übrigen Markusevangelium werde dabei einem Verständnis Jesu als Sohn Gottes gewehrt, aber für Markus müsse über Taufe, Verklärung und Kreuzigung hinweg der leidende Menschensohn im
282
MÜLLER, Absicht, 163. MÜLLER, Absicht, 165. 284 „Markus zeichnet Jesus als Lehrer. Didavskein bzw. didachv wird fast ausschließlich im Hinblick auf Jesus gebraucht, nur einmal in Bezug auf die Jünger (6,30)“ (MÜLLER, Absicht, 161). 285 Wie bereits Weeden beruft sich auch Müller hierbei auf vergleichbare Parteiungen in Korinth (vgl. MÜLLER, Absicht, 174 u. 193; vgl. zu Weeden Kap. 3.2.1). Beide greifen damit auf die Vorarbeiten von GEORGI, Gegner (1964) zurück. 286 MÜLLER, Absicht, 171. 287 Vgl. MÜLLER, Absicht, 171, aber auch die spätere Relativierung MÜLLER, Absicht, 175: „Die Vorstellung vom Wundertäter als solche hat Markus keinesfalls beseitigen wollen – die Wunder sind ja auch Hinweis auf Jesu Hoheit – er will ihr allerdings den rechten Stellenwert im Rahmen einer theologia crucis geben.“ 288 MÜLLER, Absicht, 191. 283
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3. Kapitel: Forschungsgeschichte
Blick bleiben. „Das MkEv als ganzes lehrt also [...] die Inthronisation des leidenden Menschensohnes als Gottessohn.“289 Ebenfalls aus dem Jahr 1973 stammt die Monographie „Are you the Christ?“ von John R. Donahue die sich schwerpunktmäßig auf die Erzählung vom Verhör Jesu vor dem Hohen Rat konzentriert und methodisch an Eta Linnemanns290 Bestreitung eines zusammenhängenden vormarkinischen Passionsberichtes anknüpft. So lasse sich die Theologie des Markus erst aus seinem Umgang mit seinen Traditionen ableiten: „Redaction criticism, however, does build on source and form criticism since one index of the author’s intent is the way in which he alters or adapts traditional material, so it is important to isolate what traditions were available to him.“291
An eine solche Scheidung zwischen Tradition und Redaktion könnten sich dann kompositionsanalytische Überlegungen anschließen, um beobachtete Inkohärenzen zu erklären und die Bezüge zum Gesamttext herauszustellen. Eine religionsgeschichtliche Analyse könne abschließend die Sinngehalte einzelner Motive und Vorstellungen erklären helfen, stünde aber immer in der Gefahr, das Originäre der neutestamentlichen Schriften zu verdunkeln.292 In ebendiesem Dreischritt versucht Donahue die redaktionelle Bearbeitung von 14,53–65 nachzuzeichnen293 und erkennt dabei die Hauptabsicht294 des Evangelisten in der Einfügung des bereits vormarkinisch überlieferten Tempelwortes sowie der redaktionellen Neugestaltung eines christologischen „Kompendiums“ (V. 61f.).295 Durch das Kompendium würden die christologischen Hauptlinien des Evangeliums aufgegriffen und zugleich – aufgrund der Klimax – im Sinne einer Menschensohnchristologie interpretiert.296 „The true meaning of Jesus as Son of God will be known only when he returns in glory as the victorious Son of Man.“297 Markus erweise sich gerade insofern als Theologe von Rang, als er die isolierten Menschensohn-Aussagen seiner
289
MÜLLER, Absicht, 191. Vgl. LINNEMANN, Passionsgeschichte, bes. 174f. (Fazit). 291 DONAHUE, Christ, 32f. 292 Vgl. DONAHUE, Christ, 34. 293 Hierbei nennt DONAHUE, Christ, 101, v.a. die Nennung eines Prozesszieles (V. 55), die Aufzählung der Anschuldigungen (V. 58) oder die formale Verurteilung Jesu (V. 64). 294 Obwohl die hier vorgenommene Gewichtung einzelner redaktioneller Bearbeitungen für den Verlauf der weiteren Argumentation wesentlich ist, nennt Donahue auffälligerweise keine Kriterien, nach denen er ebendiese Differenzierung vornimmt. 295 Ähnlich urteilt im Hinblick auf 14,62 LÜHRMANN, Markusevangelium, 250. Anders GNILKA, Evangelium II/2, 276f.; GNILKA, Prozeß Jesu, 11–40, bes. 18f. (14,61: redaktionell; 14,62b: vormarkinisch). 296 So auch VIELHAUER, Erwägungen, 204f.; PERRIN, Christologie, 360; PESCH, Markusevangelium II, 437; HAHN, Hoheitstitel (1963), 289. 297 DONAHUE, Christ, 180. 290
3.3 Redaktionsanalytische Zugänge
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Tradition298 zu einer einheitlichen christologischen Perspektive zusammengeführt habe und es so schaffe, Jesu Wirken, sein Leiden und seine Wiederkunft konstruktiv aufeinander zu beziehen: „Thus Mark uses Son of Man precisely because it was not a fixed title but rather a symbol or evocative term to which he could give content in terms of his own purpose. [...] Mark is enabled to find one title which applies to Jesus at all phases of his existence, earthly mi299 nistry, present status and future activity.“
Abgesehen von dieser letzten Thesen kommt Gerhard Dautzenberg zu ganz ähnlichen Ergebnissen wie Donahue, wobei er in 14,61f. ebenfalls das Kompendium der markinischen Christologie erkennt und zugleich einer Überbetonung300 von 15,39 aus kompositorischen Gründen widerspricht. Das Bekenntnis des Hauptmanns sei nicht als Schlussakklamation zu interpretieren, weil dies der wiederholten Betonung des Auferstehungsereignisses entgegenstehe (9,9; 8,31; 9,31; 10,34; 16,6) und der Sohn-Gottes-Titel voreilig als hoheitschristologische Prädikation gedeutet werde. Demgegenüber ließen die beschriebenen Ereignisse in 1,11, in 9,7 und in 15,39 gerade erkennen, dass sich der Sohn-Gottes-Titel aus jüdischen Erwählungsvorstellungen ableite und jeweils Jesu irdisches Wirken betont werde.301 Markus füge den eschatologisch-apokalyptisch konnotierten Menschensohntitel in 14,61f. – und an anderen Stellen (8,31; 9,31;10,33f.-9,12; 14,21.41) – ein, um die übrigen Titel im Sinne dieser Konzeption umzuinterpretieren. Die Christologie des Markusevangeliums ergibt sich für Dautzenberg also gleichermaßen aus der traditionsgeschichtlichen Bedeutung der einzelnen Titel sowie den beobachtbaren redaktionellen Bearbeitungen. Dass die markinische Christologie die Erhöhung und Wiederkunft des Menschensohnes hervorhebe, korrespondiere letztlich mit der Betonung der Eschatologie (vgl. Mk 13302; Reich-GottesThematik) und füge sich in die Gesamtkomposition und Theologie des ersten Evangeliums ein: „Insofern erklärt sich die komplexe Christologie des Markusevangeliums nicht aus einer Addition der verschiedenen Christustitel, oder aus deren gegenseitiger Interpretation, sondern aus der Aufnahme der übrigen Christustitel und des gesamten Wirkens Jesu in die
298 Donahue greift hier eine These von PERRIN, Son of Man, 1–12 auf, der in seiner Studie unterschiedliche Menschensohnvorstellung rekonstruiert und im Ergebnis keine einheitliche Gesamtvorstellung vom Menschensohn innerhalb des Frühjudentums erkennt. 299 DONAHUE, Christ, 184. 300 Der Gießener Neutestamentler richtet sich damit gegen THEISSEN, Wundergeschichten, bes. 218; vgl. GNILKA, Evangelium II/1, 63f. 301 DAUTZENBERG, Kompendien, 23 u. 31. 302 Dautzenberg beruft sich hier auf die Überlegungen von BRANDENBURGER, Markus 13,5f., und PERRIN, Christologie, 358.
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3. Kapitel: Forschungsgeschichte
Menschensohnkonzeption, welche dabei ihr ursprüngliches Profil, als eschatologischapokalyptische Ausrichtung nicht verloren hat, s. Mk 14,62.“303
Während die bisher skizzierten Arbeiten den Fokus jeweils auf einzelne Perikopen – nämlich das Petrusbekenntnis, das Bekenntnis Jesu vorm Hohen Rat sowie das Bekenntnis des Hauptmanns – und deren kompositorische Einbettung gerichtet haben, versucht Jacob C. Naluparayil in einer umfassenden Monografie aus dem Jahr 2000 die markinische Menschensohnchristologie auf der Grundlage einer redaktionsgeschichtlichen und erzählwissenschaftlichen Betrachtung des Gesamttextes zu erheben. Methodisch fußt die Untersuchung zunächst auf einer mehr als zweihundertseitigen redaktionsgeschichtlichen Analyse, wobei Naluparayil aus einem Vergleich des Markustextes mit Q304 sowie dem rekonstruierten vormarkinischen Traditionsmaterial (PMT) drei christologische Intentionen ableitet. Aus der vormarkinischen Tradition übernehme die Redaktion den Menschensohntitel, der bereits dort eine exklusive Selbstbezeichnung Jesu darstelle und ausgehend von Dan 7,13f. das göttliche Wesen Jesu bezeichne. Zweitens greife Markus bestehende Bezüge zwischen dem Sohn-Gottes- und Christus-Titel auf, interpretiere aber beide im Sinne des Menschensohntitels um und gestaltete sie zu zentralen Bekenntnisbegriffen aus. Im Unterschied zu Q füge er drittens den mit dem Menschensohntitel eng verknüpften Passions- und Auferstehungsbericht ein. Die anschließende erzählwissenschaftliche Analyse, die ihrerseits auf den methodischen Grundlagen des narrativ criticism fußt (vgl. 3.4.1), dient v.a. der Bestätigung dieser Ergebnisse. Durch die Anordnung des Erzählstoffs gäbe der Erzähler zu erkennen, dass der anfänglich als Sohn Gottes bezeichnete Jesus mit dem Menschensohn identisch sei, insofern dieser in Gehorsam gegenüber dem Vater das Schicksal des Sterbens und der Auferstehung annähme. Eine solche Übereinstimmung lasse sich auch in der Perspektivengestaltung erkennen, weil Jesu Selbstwahrnehmung als Menschensohn mit der Sichtweise Gottes, insbesondere dem von Gott verhängten Schicksal zum Leiden und zur Auferstehung, und der Sichtweise des Erzählers korrespondierten.305 Letztlich führe auch die Charakterdarstellung dazu, dass göttliche 303
DAUTZENBERG, Kompendien, 29f. Naluparayil plädiert hierbei für einen gemeinsamen traditionsgeschichtlichen Hintergrund von Markusevangelium und Q, nicht jedoch für eine direkte textliche Abhängigkeit; vgl. NALUPARAYIL, Identity, 75: „For the ensuing comparison between Mk and Q, we adhere to the latter hypothesis of the literary independence of Mk and Q acknowledging their common elements resulting from their reliance on a common tradition.“ 305 „The analysis of points of views too confirms our thesis on the identity of the protagonist. The correct point of view of the narrative – ‚thinking the things of God‘ –, which is the divinge point of view, consists in the acceptance of Jesus as the Son of Man with the destiny of death-resurrection as designed by God (8,31,33) [...] God, Jesus, and the narrator are the proponents of this divine point of view“ (NALUPARAYIL, Identity, 555). 304
3.3 Redaktionsanalytische Zugänge
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Eigenschaften mit dem Menschensohntitel verknüpft würden. Obwohl sich die Ergebnisse beider Untersuchungsabschnitte inhaltlich stützen, bleibt bei Naluparayil letztlich unklar, wie die redaktionelle und schriftstellerische Arbeit des Evangelisten aufeinander zu beziehen sind. Wird vorausgesetzt, dass der Rezipient die rekonstruierten Vorstufen des Textes kennt und somit aus den redaktionellen Eingriffen die markinische Christologie abzuleiten vermag? Oder erfährt er v.a. durch die Lektüre des Endtextes, wer Jesus Christus nach der Meinung des Erzählers ist? 3.3.3. Redaktionsgeschichtlicher Zugang: Auswertung & Methodenvergleich (1) Auch die redaktionsgeschichtlichen Forschungsbemühungen lassen sich mit der Methodik einer kognitiven Narratologie ins Gespräch bringen und mit Hilfe erzählwissenschaftlicher Analyseverfahren verfeinern. Um die Intention und den christologischen Standpunkt des Autors bzw. Redaktors zu bestimmen, ist in der Forschungsgeschichte immer wieder auf Aspekte zurückgegriffen worden, die auch bei der erzählwissenschaftlichen Perspektiven- und Handlungsanalyse. Mit den Mitteln einer heutigen Handlungsanalyse ließe sich u.a. die Frage nach der inneren Kohärenz des Messiasgeheimnisses präziser beantworten, etwa durch eine genauere Bestimmung der Verknüpfungsstärke der einzelnen Handlungselemente (vgl. 2.4.2). Gerd Theißen hat im Zuge seiner Arbeiten zurecht darauf aufmerksam gemacht, dass bestehende Inkohärenzen zwischen den Motiven des Messiasgeheimnisses nicht voreilig überbewertet werden sollten, sondern möglicherweise (auch) auf die Bedingungen des Schreibprozesses zurückzuführen sind. Über diese produktionsseitige Betrachtung hinaus, bei der sich wohl weitere Erkenntnisse der heutigen Schreibprozessforschung einbeziehen ließen (s.o.), wäre es aber von noch größerem Wert, die „produktive“ Leistung des Rezipienten stärker zu betrachten. So bleibt zu fragen, ob bzw. wie der intendierte Rezipient einzelnen Aussagen aufeinander bezieht und ob bzw. wie er zwischen einzelnen Textinformationen im Lektüreprozess eine Kohärenz herzustellen vermag. Bei der Gewichtung einzelner Hoheitstitel wird in der Exegese – wenngleich eher unsystematisch – auf die Kriterien der Explizität, der Erzählordnung und der Hierarchie zurückgegriffen. Daneben spielt die Frage nach dem Inhalt, d.h. danach, ob sich einzelne Aussagen als additiv, korrelativ oder kontradiktorisch erweisen, eine wichtige Rolle. Allerdings findet sich in nahezu keiner Studie ein expliziter Hinweis auf den erzählwissenschaftlichen Diskurs der jeweiligen Zeit und es lässt sich keine umfassende Anwendung eines reflektierten Kriterienkatalogs erkennen. Die von Nünning/Nünning benannten Kategorien zur Beschreibung der Perspektivenstruktur (vgl. Kap. 2.2.3) bieten hier ein neue, differenzierte Betrachtungsmöglichkeit.
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3. Kapitel: Forschungsgeschichte
Um die innerhalb des Forschungsdiskurses wiederholt festgestellte Bevorzugung einzelner Hoheitstitel zu bestätigen, wäre es zudem wichtig, präziser zwischen dem Standpunkt des Erzählers und dem Standpunkt einzelner Figuren zu differenzieren und – mit den Mitteln einer heutigen Figurenanalyse – das mentale Modell der einzelnen Entitäten zu beschreiben. Erst auf der Grundlage einer solchen Analyse lässt sich dann eine begründete Auskunft darüber geben, ob einzelne Aussagen ironisch zu verstehen sind, welche (textexternen) Vorstellungen durch die Verwendung einzelner Titel oder Personenbeschreibungen beim Rezipienten aktiviert werden und wie diese Vorstellungen beurteilt werden sollen. Unzureichend bleibt es demgegenüber, den Erzählerstandpunkt ausschließlich aus der Anordnung des Erzählstoffes oder der Häufigkeit einzelner Standpunkte zu erheben. Die Mittel der Aufmerksamkeitslenkung sind, wie in Kap. 2 beschrieben (Kap. 2.2.3; 2.3.2; 2.4.2b), wesentlich vielfältiger. Insgesamt lässt sich zeigen, dass die Mittel der Perspektiven-, Handlungsund Figurenanalyse gleichermaßen wertvoll sind, um die Ergebnisse der bisherigen Forschung kritisch zu durchleuchten und einzelnen Thesen und Forschungsergebnisse auf eine konstruktive Weise neu zu begründen bzw. zu präzisieren. (2) Bevor die Frage nach der Integrität oder Vereinbarkeit des redaktionsgeschichtlichen Ansatzes und einer kognitiv-narratologischen Analyse weiter betrachtet wird und ein konkreter Methodenweg beschrieben werden kann, gilt es zunächst auf fünf Probleme (2a–e) hinzuweisen, die die Redaktionsgeschichte an sich betreffen. (2a) Der Gegenstandsbereich der Redaktionsgeschichte ist alles andere als klar umrissen: Die bisherige Redaktionsgeschichte oder Redaktionsanalyse ist faktisch ein „Gemischtwarenladen“. Denn man verbindet mit dem Methodenschritt Aufgaben der Kompositionsanalyse, die Erhellung der Textbedeutung oder die Frage nach der Theologie des Autors. Ebenso geht es bei diesem Zugang häufig um die Intention des Autors sowie um eine zeit- und theologiegeschichtliche Einordnung des Textes. All diese Fragestellungen sind der Redaktionsanalyse im Verlauf der Forschungsgeschichte implizit zugeschrieben worden und nicht immer lässt sich eine entsprechende Reflexion der unterschiedlichen Textaspekte bzw. Betrachtungsweisen erkennen. (2b) Die Arbeitsgrundlage der Redaktionsanalyse ist oft hypothetisch: Sie muss gerade beim zeitlich ersten Evangelium auf eher unsichere Entstehungstheorien zurückgreifen. Faktisch zeigt sich, dass sich an vielen Textstellen unterschiedliche und miteinander jeweils nicht zu vereinende Textentstehungshypothesen etabliert haben. (2c) Versteht man die Redaktionsanalyse primär als ein Instrumentarium zur Analyse der Textgeschichte bzw. Textgenese, so sind ihre Ergebnisse zumeist ohne Relevanz für die (spätere) Textinterpretation bzw. die Beschreibung des
3.3 Redaktionsanalytische Zugänge
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Autorenstandpunktes. Nur dort, wo die Prätexte den intendierten Rezipienten bekannt waren und von diesen erkannt werden sollten, ist die redaktionelle Arbeit für die Textinterpretation relevant. Hier allerdings bietet die Intertextualitätstheorie häufig eine bessere und klarere Methode und kommt wohl auch deshalb in neueren Studien verstärkt zum Einsatz. Die vielfach beschworene „Tiefenschärfe“ der Redaktionsanalyse besteht einzig darin, dass man über die (hypothetische) Textgenese auf die (wandelnde) Kommunikationssituation und sodann auf mögliche Charakterzüge, Meinungen und Gefühle des historischen Autors schließen kann. In der Auslegungspraxis ist diese zusätzliche Tiefenschärfe jedoch nur selten relevant, da diese Aspekte oft genauso am Endtext wahrnehmbar sind und mit den differenzierten Mitteln einer Erzählanalyse sogar weitaus präziser zu beschreiben sind. (2d) Die Ergebnisse der Redaktionsanalyse sind nicht selten reduktionistisch: Der erzählerische Standpunkt eines neutestamentlichen Autors ergibt sich nicht allein aus den einzelnen Hinzufügungen oder Textänderungen und auch nicht aus einzelnen Textinformationen, die aufgrund ihrer Häufigkeit, ihrer Explizität oder der Erzählordnung die Aufmerksamkeit des Rezipienten erhalten. Zum einen ist bei der Bestimmung des Erzählerstandpunktes immer auch das einzubeziehen, was ein Redaktor von seinen Quellen übernommen hat. Zum anderen gilt es, alle Mittel der Aufmerksamkeitslenkung zu berücksichtigen und weitere Analysekriterien, die dem innerexegetischen Diskurs bisher weitgehend fremd sind, einzubeziehen. So hat die Frage nach der Zuverlässigkeit einer Aussage bzw. eines Perspektiventrägers (Gott, Jesus) bereits eine hohe Relevanz, sollte aber durch eine umfassende (Vorab)Analyse des entsprechenden Figurenmodells bestätigt werden. Außerdem ist der Erzählerstandpunkt nicht einfach mit einzelnen Textaussagen gleichzusetzen, – auch nicht mit denen, die im Lektüreprozess hervorstechen – sondern lässt sich erst aus dem Zusammenspiel aller Perspektiven und damit aus der Perspektivischen Interaktion sowie unter Berücksichtigung emergenter Textbedeutungen ableiten. (2e) Die Kompositionsanalyse führt häufig zu einer eher statischen Betrachtung des Endtextes. Weitgehend unberücksichtigt bleibt, dass sich die Bedeutung, die der Rezipient einzelnen Aussagen zuschreibt, oder die Vorstellung, die er von einzelnen Entitäten gewinnt, im Lektüreprozess weiterentwickeln und modifizieren. Es gilt hier, die verschiedenen Inferenzen im Lektüreprozess nachzuzeichnen und die Schlussfolgerungsprozesse zwischen den textlichen Informationen und dem Vorwissen des Rezipienten zu bestimmen. (3) Setzt man die verschiedenen Textzugänge, die unter dem Überbegriff der Redaktionsgeschichte subsummiert werden, und eine erzählwissenschaftliche Analyse in Beziehung zueinander und versucht hierbei, einen konkreten Me-
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3. Kapitel: Forschungsgeschichte
thodenweg zu formulieren, so lassen sich folgende Einzelschritte beschreiben. (3a) Analyse der Vorgeschichte: Mit den (gewohnten) Mitteln der Literarkritik und Überlieferungsgeschichte sind all jene Inkohäsionen und Inkohärenzen eines Textabschnitts zu benennen, die möglicherweise auf die Verarbeitung älterer Prätexte306 hindeuten könnten. Im Anschluss hieran ist nach Ursachen zu suchen, wobei zwischen bewussten Überarbeitungsabsichten eines Redaktor und produktionsseitigen Fehlern im Schreibprozess zu unterscheiden ist. Lässt sich den zu beobachtenden Inkohäsionen und Inkohärenzen keine einheitliche Motivation zuschreiben, ist zu analysieren, ob der Textabschnitt eine längere Textgeschichte durchlaufen hat. Es ist der Versuch zu unternehmen, die verschiedenen Stadien der Textgenese möglichst präzise nachzuzeichnen und zugleich bestehende Unsicherheitsfaktoren zu benennen. (3b) Bekanntheit der Prätexte und der Stadien der Textgenese bestimmen: Legt sich aufgrund der Analyse der Vorgeschichte der Verdacht nahe, dass dem Endtext ein oder mehrere Prätexte zu Grund liegen, so ist anhand nachvollziehbarer Kriterien zu bestimmen, ob den intendierten Rezipienten die Existenz dieser Prätexte bekannt sein konnte und bis zu welchem Grad sie eine Kenntnis der weiteren Textgenese hatten. Eine Kenntnis älterer Prätexte ist da zu vermuten, wo sich Texte identifizieren lassen, die auch außerhalb des analysierten Textabschnitts vorliegen und im kulturellen Bewusstsein der Rezipienten verankert sein mussten . Ein solcher Nachweis kann durch die Mittel einer Intertextualitätsprüfung geschehen, wobei zuweilen mehrere Referenztexte in Frage kommen und zu diskutieren sind (z.B. bei 1,10). Außerdem ist die Kenntnis eines Prätextes dort zu vermuten, wo sich im Text explizite Hinweise (vgl. 1,2) oder indirekte Referenzsignale finden lassen. Wo sich keine Kenntnis der Textgeschichte oder vorausgehender Prätexte nachweisen lässt, muss die Analyse der Textgenese zwangsläufig von der Textinterpretation getrennt werden. Die Rezipienten konnten in diesem Fall die spezifischen Hinzufügungen oder Änderungen eines Endredaktors bzw. Autors gar nicht wahrnehmen. (3c) „Eigentliche“ Redaktionsanalyse als Bestimmung der Autorenmotivation: Lässt sich eine methodisch gesicherte Auskunft über die Textgenese sowie die zugrunde liegenden Prätexte geben und ist zu vermuten, dass die Rezipienten (wesentliche) Unterschiede zwischen Prätext und Posttext erkennen konnten, so ist im Zuge der eigentlichen Redaktionsanalyse nach der konkreten Motivation hinter einzelnen Textänderungen zu fragen. Jede Ände306
Die Begriffe „Prätext“ und „Posttext“ passen oft besser als das Begriffspaar „Quelle“ und „Redaktion“. Denn bei kleineren Überarbeitungen oder auch bei eigenen Textrevisionen wäre es unpassend, die frühere Version als „Quelle“ zu bezeichnen; außerdem ist die „Quelle“ bzw. „Vorlage“ nur schwierig abzugrenzen von „Beeinflussung“, „Anspielung“ oder „Zitat“ (vgl. DICKE, Quelle, 203–205).
3.3 Redaktionsanalytische Zugänge
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rung kann einer theologischen Absicht folgen, aber es sind immer auch andere Motivationen und Erklärungen in Erwägung zu ziehen, z.B. a) eine Anpassung des Textes an den eigenen Stil und Sprachgebrauch; b) eine Korrektur von objektiv vorhandenen inhaltlichen Fehlern; c) eine Erklärung, Präzisierung, Strukturierung, Transponierung, Vereinheitlichung oder Vereinfachung des Prätextes; d) Erinnerungs- und Schreibfehler; oder e) der Einfluss einer parallelen Texttradition/-variante. (3d) Überführung der Analyseergebnisse in die Texterklärung: Ist es aufgrund der bisherigen Analyse wahrscheinlich, dass a) in einem Textabschnitt ältere Texttraditionen und Prätexte verarbeitet und verändert wurden; dass b) den Rezipienten einzelne Aspekte der Textgenese bekannt waren; und lässt sich c) hinter den Texteingriffen eine theologische Absicht vermuten, so sind die Ergebnisse der Redaktionsanalyse und der Analyse der Vorgeschichte innerhalb der Texterklärung zu berücksichtigen. Allerdings ist bei einem erzählenden Text selbst dann noch zwischen der theologischen Absicht eines Texteingriffs und dem inhaltlichen Standpunkt des Autors bzw. Erzählers zu differenzieren. Dass der Rezipient des Markusevangeliums in 1,11 oder 9,7 ältere Prätexte ausmacht und erkennt, dass sich die Figur Gottes diese Schriftzitate zu eigen macht und damit seinen Sohn adressiert, ist das eine. Ein anderes ist es, ob der Erzähler diesen Standpunkt seiner Figur teilt und sich zu eigen macht. Im Zuge der Analyse werden wir sehen, dass der Autor der Markusevangeliums dem in 1,11 und 9,7 artikulierten Standpunkt Gottes zwar durchaus zustimmt, dass er diese Anrede aber weder sich zu eigen macht noch seinem Protagonisten in den Mund legt. Es obliegt allein Gott, seinen Sohn als solchen anzureden und zu offenbaren.
3.4 Literatur- und erzählwissenschaftliche Zugänge zur markinischen Christologie Widmen wir uns im Folgenden den Literatur- und Erzählwissenschaftlichen Zugängen zur markinischen Christologie, so gilt es auch hier, zu Beginn darauf hinzuweisen, dass sich unter diesem Überbegriff letztlich eine ganze Vielzahl unterschiedlicher und z.T. unvereinbarer methodischer Ansätze verbirgt. Die Entwicklungen innerhalb der Exegese spiegeln dabei – jeweils mit einem Zeitverzug von mehreren Jahren oder gar Jahrzehnten – die Entwicklungen innerhalb der Literaturwissenschaften wider. Den Anfangspunkt für eine systematische 307 Erzählanalyse des Markusevangeliums und der markinischen Christologie bilden innerhalb der nord307
Äußerungen zur schriftstellerischen Leistung des ersten Evangelisten oder zur Erzählweise des Markusevangeliums finden sich freilich wesentlich früher: vgl. bereits HERDER, Erlöser (1899), 216f.: „Kein Evangelium hat so wenig Schriftstellerisches und so
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3. Kapitel: Forschungsgeschichte
amerikanischen Exegese die beiden Arbeiten von Robert C. Tannehill und Werner H. Kelber (beide 1979), die mit erkennbaren Bezugspunkten zum frühen Strukturalismus und zugleich in kritischer Distanz hierzu die markinische Gesamterzählung nachzuzeichnen versuchen. Mit dem Grundlagenwerk von David Rhoads und Donald Michie „Mark as Story“ (1982) sowie weiteren Veröffentlichungen von Kingsbury, Broadhead, Malbon konnte sich in den 1980er und 1990er Jahr der Narrative Criticism308 etablieren, der bis heute prägenden Charakter für die nordamerikanische Markusforschung hat. Das literaturwissenschaftliche Referenzwerk des Narrative Criticism ist Seymour Chatmans Lehrbuch „Story and Discourse“ (1978), das seinerseits Ansätze des frühen Strukturalismus aufbereitet und unter Berücksichtigung einiger zusätzlicher Ansätze neu systematisiert. Mit einer starken Betonung textimmanenter Bezüge positioniert sich der Narrative Criticism zumeist in scharfer Abgrenzung zur historischen Arbeit der klassischen Exegese. In Analogie309 zum New Criticism, der bis in die 1960er Jahre die nordamerikanische Literaturwissenschaft prägte, wird vor einer Überbetonung des Kontextes sowie der Erzählwirkung gewarnt, weil dies zu einer Relativierung des Endtextes und einer weitestgehend spekulativen Interpretation führe.310 Beeinflusst durch die Erzähltextanalyse311 zeichnen sich die Ansätze innerhalb des deutschen Forschungskontextes tendenziell durch eine engere Verhältnisbestimmung von „klassischen“ und „neueren“ Methodenschritten aus. In der Folge des Tübinger Neutestamentlers Michael Theobald sprechen sich die meisten Exegeten hierbei für einen „Primat der Synchronie vor der viel lebendigen Ton eines palästinischen Erzählers. (...) Sein Evangelium ist zum lauten Vortrage eingerichtet; er schließt und kürzt die Rede für Herz und Ohr.“ 308 Vgl. zum Ansatz des Narrative Criticism RHOADS/MICHIE, Mark; POWELL, Narrative Criticism; POWELL, Narrative Criticism (1995); RESSEGUIE, Narrative Criticism; MALBON, Narrative Criticism; GUNN, Narrative Criticism; MARGUERAT/BOURQUIN, How to Read. 309 Auf diesen Einfluss des New Criticism weist bereits MOORE, Literary Criticism, 9– 13 hin. So auch FINNERN, Narratologie, 30; MALBON, Narrative Criticism, 24f.; OEMING/ PREGLA, New Literary Criticism, 4f.; POWELL, Narrative Criticism, 4f.; RESSEGUIE, Narrative Criticism, 21–25. 310 Im New Criticsm wird diesbezüglich von einer intentional und affective fallacy gesprochen, wobei sich der intentionale Fehlschluss aus einer Einbeziehung der Autorenpersönlichkeit und des historischen Kontextes ableite und der affektive Fehlschluss aus einer Einbeziehung der Erzählwirkung; vgl. WIMSATT/BEARDSLEY, Fallacy (1946). Anders als in der Exegese ist die Strömung des New Criticism innerhalb der Narratologie kaum mehr bekannt. 311 Vgl. zu diesem Ansatz die gleichnamige Einführung von KAHRMANN/REISS/ SCHLUCHTER, Erzähltextanalyse. Der Ansatz konzentriert sich im Wesentlichen auf Fragen der Erzählebenen. Andere Analyseaspekte werden nur punktuell eingesetzt. Vgl. hierzu FINNERN, Narratologie, 24.
3.4. Literatur- und erzählwissenschaftliche Zugänge
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Diachronie“ aus. Die literaturwissenschaftliche Analyse stützt sich aber auch in diesem Fall methodisch auf die strukturalistische Erzähltheorie. Erst Ende der 1990er Jahre kommt es – ebenfalls primär in Deutschland – zur „Entdeckung“ des rezeptionsästhetischen Ansatzes (v.a. Rose), der noch bis in die aktuelle Diskussion nachwirkt. Parallel zum Narrative Criticism lässt sich bereits in den 1970er Jahren eine gewisse Euphorie gegenüber der linguistischen Methodik erkennen, wobei sich der Schwerpunkt hier von einer Analyse des Erzählten auf den Bereich der Kompositionsanalyse und der Textstruktur verlagert. Die eigentlichen narratologischen Theorieelemente rücken in diesen Arbeiten eher in den Hintergrund (Kmiecik, Danove, Humphrey, Davidsen). Es gibt teils starke Überschneidungen mit dem kompositionsanalytischen Interesse innerhalb der Redaktionsgeschichte. 3.4.1 Strukturalistische Anfänge und Narrative Criticism Robert C. Tannehill hat 1979 mit seinem Aufsatz „The Gospel of Mark as Narrative Christology“312 eine der ersten erzählwissenschaftlich fundierten Untersuchungen zur markinischen Christologie vorgelegt und hierin wichtige Weichenstellungen für die weitere Analyse und Interpretation gesetzt. Mit dem Begriff narrative christology betont Tannehill, dass sich die markinische Christologie erst sukzessiv und dynamisch über den Handlungsverlauf entfalte.313 Um diesen Verlauf zu analysieren, knüpft er methodisch an das Triadische Handlungschema des französischen Strukturalisten Claude Bremond an (vgl. Kap. 2.4.1), betont aber zugleich seine Zurückhaltung gegenüber einer umfassenden Einbeziehung literaturwissenschaftlicher Theorien und einer strukturalistischen „Ideologie“.314 Als Stufen der Haupthandlung identifiziert Tannehill a) die Taufe Jesu (Mk 1,9–11); b) die Berufung der Jünger (1,16–20); und c) den Vernichtungsplan der Gegner (3,6), die sich jeweils als Beauftragungen verstehen ließen. Während sich die ersten beiden Handlungssequenzen zunächst gegenseitig stabilisierten, weil die Jünger als Gehilfen (co-ameliorators) Jesu beauftragt würden, werde mit dem Vernichtungsplan der Gegner ein Konflikt angebahnt.315 Im weiteren Verlauf des Markusevangeliums kippe jedoch diese Abhängigkeit der Handlungen. In dem Moment, wo die Beauftragung des Gottessohnes (1,11) ab 8,31 mit der Leidensthematik verbunden und in dieser Sequenz aktualisiert werde, würden plötzlich die 312 Bereits 1977 legte der Amerikaner eine Studie zur Figurenkonstellation im Markusevangelium vor: vgl. TANNEHILL, Disciples , 386–405. 313 Vgl. TANNEHILL, Narrative Christology, 57. 314 Vgl. TANNEHILL, Narrative Christology, 60.63. 315 In der Untersuchung der Konfliktverhältnisse finden sich deutliche Anklänge an das Aktantenmodell Greimas (GREIMAS, Strukturale Semantik, 165), ohne dass Tannehill dies explizit erwähnt.
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3. Kapitel: Forschungsgeschichte
Gegner zu unfreiwilligen Gehilfen (11,18.27; 12,13; Kap. 14). Die Jünger hingegen, deren Beauftragung bereits durch ihren Unglauben und ihr Unverständnis (v.a. 4,35–41; 6,45–52; 8,14–21) in Frage gestellt werde, scheiterten in ihrer Beauftragung und gerieten ihrerseits in Konflikt mit ihrem Herrn. In deutlicher Spannung zum weitgehend textimmanent ausgerichteten Strukturalismus steht die Arbeit von Werner H. Kelber. In seinem Buch „Mark’s story of Jesus“ (1979), betont auch er, dass man dem markinischen Verständnis von Jesus nur sukzessiv auf die Spur komme, indem man den Reiseweg Jesu lesend miterlebe.316 Methodisch strebt er eine interpretierende Nacherzählung an, die gerade die historische Gemeindesituation, d.h. die Beheimatung der Rezipienten in Galiläa oder Syrien zu beachten habe.317 Wie für Tannehill gewinnt auch für Kelber der markinische Jesus in den konfliktreichen Beziehungen, insbesondere zu den Repräsentationsfiguren der Jerusalemer Gemeinde,318 an Kontur. Diese Jerusalemer Gemeinde hätte – in Analogie zu den Pharisäern und Jüngern der markinischen Erzählung – eine stärkere Einhaltung der Tora eingefordert und Anstoß am Leiden des Messias genommen.319 Durch den jüdischen Krieg habe es innerhalb der frühen Kirche eine Kräfteverschiebung zugunsten der syrischen Gemeinde gegeben, die überhaupt erst Niederschrift des ersten Evangeliums und seiner provokanten Aussagen ermöglicht habe.320 Über den reinen Kommunikationskontext hinaus geraten die Rezipienten noch nicht in den Fokus. Konkrete Wissensbestände bleiben unberücksichtigt. Nach diesen beiden – teilweise strukturalistisch geprägten und zugleich um Abgrenzung bemühten – Arbeiten legten der Neutestamentler David Rhoads und der Literaturwissenschaftler Donald Michie 1982 erstmals eine Studie zum Markusevangelium vor, die dezidiert auf den aktuellen Erkenntnissen und der Methodik der damaligen Literaturwissenschaft – insbesondere dem Einführungswerk von Chatman321 – aufbaut. In Zusammenhang mit nachfolgenden Veröffentlichungen begründete dieses Werk die oben skizzierte Strömung des Narrative Criticsm.322 Bereits im Vorwort wird hierbei offen-
316
KELBER, Mark’s story, 9. KELBER, Mark’s story, 12f. 318 KELBER, Mark’s story, 46–48 u. 49–53 u. 88–96. 319 Vgl. KELBER, Mark’s story, 90. Deutlich steht hier die bereits von Lohmeyer behauptete Polarität zwischen Jerusalem und Galiläa im Hintergrund (LOHMEYER, Galiläa). Bei Kelber, der keinerlei Anmerkungen verwendet, findet sich allerdings kein entsprechender Hinweis. 320 KELBER, Mark’s story, 91. Vgl. demgegenüber die kritische Infragestellung einer nennenswerten galiläischen Gemeinde bei STEMBERGER, Galilee, 409–438, bes. 415–421. 321 CHATMAN, Story. 322 Der Begriff des Narrative Criticism geht auf Rhoads zurück (vgl. RHOADS, Narrative Criticism, 412f.; RHOADS/MICHIE, Mark, 2f.) und sollte die literaturwissenschaftliche 317
3.4. Literatur- und erzählwissenschaftliche Zugänge
181
bar, dass sich die beiden Autoren bewusst auf textimmanente Fragestellungen konzentrieren: „Mark’s narrative contains a closed and self-sufficient world with its integrity, its own set of values, and its own universe of meaning.“323
Obwohl in „Mark as story“ die methodisch Anwendung im Mittelpunkt steht, werden in den Kapiteln zur Figuren-324 und zur Perspektivenanalyse 325 wichtige christologische Fragestellungen behandelt. So streben Rhoads/Michie eine möglichst umfassende Auflistung von Figurenmerkmalen (Gefühle, Wünsche, Intentionen) an. Die überaus detaillierte Figurendarstellung im Markusevangelium führe zu einem Gesamtbild des Protagonisten, das gerade die menschlichen Charakterzüge hervortreten lasse:326 „Jesus is a ‚round‘ character, not in the sense of having conflicting or changing traits, but because those traits are many and varied, creating a rich characterization. The key to Jesus’ character lies in the disclosure that he is the human being given authority by God to establish the new order of God’s rule in the midst of a hostile and uncomprehending world.“327
Der markinische Jesus lasse sich als menschlicher Bote Gottes begreifen, der bei der Taufe beauftragt werde, Gottes Herrschaft aufzurichten und gerade dadurch in Konflikt mit den Autoritäten gerate. Dieser Grundkonflikt spiegele sich auch in der bipolaren Perspektivenstruktur des Gesamtevangeliums
Analyse („literary criticism“) gleichberechtigt neben anderen Analyseschritten der Exegese etablieren. 323 RHOADS/MICHIE, Mark, 4. Mehrfach findet sich bei Rhoads/Michie der Hinweis auf die interpretatorische Bedeutung des impliziten Lesers, wobei die Übergänge zu einem historisches Leserverständnis zugleich fließend erscheinen und die beiden Autoren mitunter sogar mehrere historische Rezeptionsmöglichkeiten nebeneinander stellen (vgl. RHOADS/MICHIE, Mark, 137–142). Allerdings gerät nirgendwo das konkrete Vorwissen der Rezipienten in den Blick, sondern ausschließlich soziologische, ethnische (Sympathisant, Juden, Römer) und politische Zeitbezüge (Tempelzerstörung, Verfolgungssituation). 324 RHOADS/MICHIE, Mark, 101–136. 325 RHOADS/MICHIE, Mark, 35–44. Im Zuge der Handlungsanalyse (RHOADS/MICHIE, Mark, 73–100) werden in Analogie zu Tannehill (s.o.) die beiden Hauptkonfliktverläufe (Jesus – Jünger, Jesus – Autoritäten) herausgearbeitet. Das Interesse gilt sodann der erzählerischen Verknüpfung dieser Handlungsverläufe, die auf der Basis wörtlicher Übereinstimmungen sowie der parallelen Darstellung von Ereignissen erfolge. Welche (emergente) Bedeutung sich aus einer solchen Verknüpfung ableiten lässt, bleibt hingegen ungeklärt. 326 Ähnlich DAVIS, Christological Paradox, 6, der hervorhebt, dass Jesus ärgerlich werde (3,5; 10,14), zuweilen keine Wunder wirken könne (6,5) und für nicht zurechnungsfähig erklärt werde (3,21). 327 RHOADS/MICHIE, Mark, 103–105, hier 104. Diese Aussage besitzt weitgehend thetischen Charakter, da die beiden Autoren nirgendwo die erzählerischen Strategien nachzeichnen, die zur Betonung einzelner Merkmale führen (vgl. zu diesen erzählerischen Mitteln Kap 2.3.2).
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3. Kapitel: Forschungsgeschichte
wider. Hierbei ergäbe sich der evaluative Standpunkt328 nicht allein aus den expliziten Kommentaren des Erzählers, sondern erst aus deren Übereinstimmung mit der Perspektive Gottes sowie anderer zuverlässiger Figuren.329 Ziel dieser Perspektivenstruktur sei es, den impliziten Leser vom Standpunkt Gottes zu überzeugen („thinking the things of God“) und den Standpunkt der Autoritäten als rein menschliches Trachten nach Macht zu entlarven („thinking the things of men“). Insgesamt bleibt das Untersuchungsinteresse bei Rhoads/Michie ein strukturelles, weil weder das Vorwissen der Rezipienten im eigentlichen Sinne noch der Lektüreprozess oder gar die rezipientenseitige Konstruktion emergenter Bedeutungen in den Blick geraten.330 Auch die Behauptung einer bipolaren Perspektivenstruktur entspringt dem strukturalistischen Bedürfnis nach einer größtmöglichen Abstraktion, wird aber wohl kaum der komplexen Perspektivischen Interkation der markinischen Erzählung gerecht (vgl. Kap. 4.2 und 4.4.2) Auf den Grundeinsichten des Narrative Criticism fußt auch die 1983 erschienene Studie von Jack Dean Kingsbury zur markinischen Christologie. So insistiert Kingsbury darauf, dass die Funktion und Bedeutung der markinischen Hoheitstitel nicht über die Einbeziehung eines textexternen Wissens zu erschließen sei: „In principle, however, any thesis that dictates that the interpretive key to Mark’s Christology is to be found outside the Second Gospel may be said to be suspect from the outset.“331
328
Vgl. zum evaluativen Standpunkt USPENSKIJ, Poetik, 17–25; BOOTH, Rhetoric, 67– 86.137–147.155–160 u. 169–209. Dass der evaluative Standpunkt letztlich immer auf textexterne Werte, Normen und Standpunkte bezogen bleibt, gerät bei Rhoads/Michie noch nicht in den Blick. Vgl. RHOADS/MICHIE, Mark, 44: „The narrator’s ideological point of view, or the system of values and beliefs, represents the standards of judgment in the story, the overarching standards by which the reader is led to evaluate and judge all subordinate points of view (those of the characters) in the story.“ 329 Vgl. RHOADS/MICHIE, Mark, 43f. Ähnlich bereits PETERSEN, Point of View, 101f.; PETERSEN, Composition, 209f. Noch nicht beachtet wird hier, dass sich die Zuverlässigkeit einer Figur nicht allein aus der erzählerischen Darstellung ableitet, sondern zugleich abhängig ist vom kulturell vermittelten Figuren- bzw. Personenwissen (vgl. 2.2.3). 330 Gerade dies wird von den Autoren selbstkritisch in der zweiten sowie v.a. in der 2012 erschienenen dritten Auflage von „Mark as Story“ artikuliert. Vgl. RHOADS/DEWEY/ MICHIE, Mark (2012), 160f.: „[T]he first edition had established a definitive paradigm for textoriented interpretation, with some allowance for author-orientation in the concluding speculation as to whom sort of first-century reader [...] The second edition, however, added a new section on ‚reading as a dialogue‘, which invited contemporary readers to compare their own responses to Mark’s story with what the book suggested might be expected of an implied reader. [...] We are now invited to imagine the story being performed and heard within a particular social-cultural context and to imagine the nuances the story would acquire within that setting.“ 331 KINGSBURY, Christology, 41.
3.4. Literatur- und erzählwissenschaftliche Zugänge
183
Schwerpunktmäßig konzentriert sich der Amerikaner auf eine Analyse der Erzählperspektiven und hierbei allein auf die Verwendung der christologischen Titel (Sohn Gottes, Christus, Menschensohn). Ähnlich wie bereits Rhoads/Michie betont Kingsbury eine Übereinstimmung zwischen der Perspektive Gottes, die bereits in den Anfangszitaten (1,2–3; 1,10f.) explizit zur Sprache komme, und dem Standpunkt des Erzählers sowie des Protagonisten. Ziel der Erzählung sei es, dass der Leser letztlich über Jesus so denken solle, wie Gott es tut, und ihn dementsprechend als Sohn Gottes anerkenne.332 Methodisch stützt sich Kingsbury auf die Annahme einer binären Perspektivenstruktur, d.h. die Standpunkte der Figuren und des Erzählers lassen sich auch seines Erachtens ausschließlich in „wahre“ und „unwahre“ Ansichten unterteilen.333 Obwohl Kingsbury ausdrücklich eine textimmanente Auslegung anstrebt, kommt er dort, wo er den evaluativen Standpunkt des Erzählers inhaltlich zu füllen versucht, nicht um eine traditions- bzw. religionsgeschichtliche Herleitung der Titel umhin. Im Unterschied zu Rhoads/Michie plädiert Kingsbury für eine Abhängigkeit des Sohn-Gottes-Titels von einer königlichen Messiasvorstellung (Ps 2,7). Der Menschensohntitel werde im Unterschied hierzu nicht bekenntnishaft verwendet und könne nicht als Hoheitstitel interpretiert werden. Er erscheine durchgängig als Selbstbezeichnung Jesu und sei somit als Synonym für einen Mensch zu verstehen.334 Während die Rede vom irdischen und leidenden Menschensohn dazu diene, den Konflikt mit den Autoritäten zu betonen, deutete der Hinweis auf den apokalyptischen Menschensohn letztlich auf eine Machtbestätigung Jesu hin. Auch hier kommt Kingsbury nicht umhin, bestehende Bezüge zu Dan 7 und Ps 110 geltend zu machen und die markinische Christologie – entgegen seiner eigenen Zielsetzung – vor dem Hintergrund existierender Vorverständnisse zu interpretieren. Ebenfalls dem Ansatz des Narrative Criticism folgt Edwin K. Broadhead. In seinen Arbeiten – „Teaching with Authority“ (1992), „Jesus the Nazarene“ (1993) und „Naming Jesus“ (1999) – versucht er, die Frage nach der markinischen Christologie in eine umfassendere Figurenanalyse einzubetten: „Because the content, the process and the results of the Gospels are all literary in nature, a crucial consequence follows: Christology is characterization.“335 In dieser Hinsicht weitet er – nichtzuletzt gegenüber Kingsbury – den Begriff des christologischen Titels aus und versucht, unter dem Stichwort einer „Ti-
332
KINGSBURY, Christology, 47–49 u. 174. Kingsbury beruft sich dabei auf LOTMAN, Point of view, 341–343 (vgl. KINGSBURY, Christology, 47 Anm. 2). 334 Vgl. KINGSBURY, Christology, 157–173, hier 168: „For purposes of translation, perhaps one way to capture the force of this term in Mark is to render it as ‚this man‘ or ‚the human being‘.“ 335 BROADHEAD, Teaching, 25. 333
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3. Kapitel: Forschungsgeschichte
tular Christology“ sämtliche Selbst- und Fremdbezeichnungen Jesu, die erst durch die Erzählung geprägt würden, in den Blick zu nehmen. „The perception that titles are pre-packaged conceptual units which may be called upon to define the role of Jesus is to be rejected. There are no titles which are inherently and unambiguously christological; they become so only within defined social and literary contexts“336
Am Beispiel des Nazarener-Titels, der in der Forschung zuvor kaum Beachtung gefunden habe,337 meint Broadhead die Abhängigkeit zwischen Erzählverlauf und Titulatur besonders eindrücklich demonstrieren zu können.338 So werde dieser Titel, der zunächst eine leere Chiffre („vacant image“) darstelle, in der Tauferzählung (1,9) und in der Schilderung der ersten vollmächtigen Taten mit dem des Sohnes Gottes parallelisiert und erweise Jesus als vollmächtigen Lehrer und Wundertäter (1,24). Da christologische Hoheitstitel in ihrer textuellen Einbettung jedoch nie „monolithic, but polyvalent and paradoxical“339 seien, könne die Bezeichnung im weiteren Erzählverlauf auch mit der Sohn Davidsvorstellung (10,47) und der Leidensthematik verknüpft werden (14,67; 16,6).340 Letztlich werden die Titel also als eine Art Reservoir verstanden, in dem immer neue Informationen abgespeichert werden.341 Wie genau diese Verarbeitung neuer Informationen abläuft, ob es neben der einfach Addition auch weitere Möglichkeiten der Sinnverknüpfung gibt und an welchen Kriterien sich eine solche Analyse orientieren könnte, bleibt bei Broadhead jedoch noch völlig unklar. Erstaunlicherweise kommt es an dieser Stelle auch zu keiner expliziten Einbeziehung erzählwissenschaftlicher Theorieansätze. Besonders profiliert kommt der Ansatz des narrative criticsm letztlich im Gesamtwerk von Elizabeth Struthers Malbon zur Geltung. 2009 hat die Amerikanerin mit ihrer Monografie „Mark’s Jesus“342 eine Art Zusammenfassung ihrer jahrzehntelangen Forschungsbemühungen vorgelegt. Die Leitfrage der Untersuchung ist dabei bewusst strukturalistisch ausgerichtet: „How does the Gospel of Mark characterize Jesus? Not, What is the Christology of Mark’s Gospel?“343 Im Widerspruch zum Untertitel des Buches – „Characterization 336
BROADHEAD, Titular Christology, 28. Ähnlich bereits der Hinweis bei KINGSBURY, Christology, 51f. 338 Vgl. BROADHEAD, Nazarene; BROADHEAD, Titular Christology, 31–42, bes. 31: „The image of Jesus as a Nazarene may be used to demonstrate the literary impact of titles. Because the Nazarene title has no historical tradition and little redactional value, it provides an ideal test case through which to establish a wider model of analysis.“ 339 BROADHEAD, Nazarene, 14. 340 „In the Gospel of Mark this use of the Nazarene imagery is paradigmatic for a larger strategy of reciprocity and reinterpretation“ (BROADHEAD, Titular Christology, 42). 341 BROADHEAD, Titular Christology, 173f. 342 Vgl. hierzu auch RÜGGEMEIER, Prüfstein. 343 MALBON, Mark’s Jesus, 14. 337
3.4. Literatur- und erzählwissenschaftliche Zugänge
185
as Narrative Christology“ – liegt der Schwerpunkt der Arbeit nicht auf der Figurenanalyse, sondern auf einer Analyse der Perspektivenstruktur. Hierzu untersucht Malbon in fünf Kapiteln nicht nur die expliziten Äußerungen über Jesus („Projected Christology“), sondern ebenso die Handlungen der einzelnen Figuren („Reflected Christology“) und die Handlungen Jesu („Enacted Christology“), insofern diese den Standpunkt indirekt reflektierten. Die Selbstaussagen Jesu unterteilt sie noch einmal in bestätigende Antworten („Deflected Christology“) und Kontrastaussagen („Refracted Christology“). Indem Malbon unter Berufung auf Seymour Chatman344 die narratologische Funktion des impliziten Autors hervorhebt, versucht sie – gerade in Abgrenzung zu Jack Dean Kingsbury – die christologischen Aussagen Jesu und des markinischen Erzählers zu kontrastieren. Der implizite Autor bringe zwar die Perspektive Jesu und des Erzählers durch viele Themenbereiche hindurch in Deckung, gerade im Hinblick auf die Christologie lasse sich aber eine intendierte Polyphonie feststellen. So sei der markinische Jesus nicht nur zurückhaltender im Hinblick auf den Christus- und Sohn-Gottes-Titel, der vom Erzähler durchgängig favorisiert werde, sondern im Unterschied zum Erzähler spreche Jesus auch überwiegend von Gott und von Gottes Herrschaft und wesentlich zurückhaltender von seinen Taten.345 Durch ebendiese Polyphonie, die der implizite Autor bewusst erzeuge und bis zu Jesu Tod aufrecht erhalte,346 werde die implizite Hörerschaft in ihrem eigenen Nachdenken über Jesus angeregt und herausgefordert: „Thus the tension between the narrator and Jesus is not a problem to be resolved, not a gap, to be filled in, but a narrative christological confession offered by the implied author to the implied audience as a challenge and a mystery.“ 347
3.4.2 Deutsche Erzähltextanalyse und Rezeptionsästhetik Im Vergleich zum nordamerikanischen Forschungskontext lässt sich im Bereich der deutschsprachigen Exegese von Anfang an ein großes Bemühen um eine konstruktive Verhältnisbestimmung zwischen historischen und literaturwissenschaftlichen Analyseverfahren erkennen. In dieser Hinsicht hat sich Michael Theobald bereits 1978 für den „Primat der Synchronie vor der Diachronie“ ausgesprochen.348 Insofern eine synchrone Analyse der Textstruktur die Inkohärenzen des Textes aufzeige und als 344
Vgl. CHATMAN, Story. MALBON, Mark’s Jesus, 191. 346 Im Hinblick auf das markinische Ende (16,1–8) erkennt Malbon dann jedoch eine Annäherung zwischen beiden Perspektiven. MALBON, Mark’s Jesus, 194: „At the end, the reticence of the Markan Jesus to proclaim himself even seems echoed by the Markan narrator.“ 347 MALBON, Mark’s Jesus, 258. 348 THEOBALD, Primat, 161–186, hier 164. 345
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3. Kapitel: Forschungsgeschichte
literarische Gestaltungsmittel zu erweisen vermöge, sei sie eine wesentliche Vorbedingung für jede literarkritische Scheidung. In einem 1988 erschienen Aufsatz zur markinischen Christologie versucht Theobald auf dieser methodischen Grundlage die polare Struktur des ersten Evangeliums nachzuzeichnen und erkennt in der spannungsreichen Perspektivenstruktur gerade „den Willen des Autors zur Integration seiner Überlieferungen in ein übergreifendes Konzept.“349 Beeinflusst von der klassischen Theorie des Point of view nach Percy Lubbock350, die Theobald allerdings nur indirekt über Norman R. Petersen351 rezipiert, versucht er zu erweisen, wie die Hoheitstitel von den einzelnen Figuren bzw. Figurengruppen auf je unterschiedliche Weise verwendet und wahrgenommen werden. Während der Sohn-Gottes-Titel, als Ausdruck einer textextern vorgegebenen Tauf- und Geistchristologie,352 stets von außen an Jesus herangetragen werde, besitze der Menschensohntitel ein besonderes Gewicht, weil er der „Innenansicht“ Jesu entspreche und sich hierin zugleich die Sichtweise des Erzählers artikuliere.353 Eine solche Präferenz lasse sich auch anhand der Komposition nachweisen, weil in 8,29–31, 9,7–12 und 14,61f. der Menschensohntitel jeweils die Klimax bilde.354 Anknüpfend an diese allgemeine Betonung werde der Menschensohntitel nun über den Erzählverlauf jedoch von den einzelnen Figurengruppen unterschiedlich wahrgenommen und verstanden. Die Jünger könnten mit dem Titel, der ihnen im Geheimen erklärt werde, gleichermaßen Leid- und Hoheitsaspekte verbinden, während die Gegner diesen Titel immer nur als Umschreibung für die 1. Ps. Sg. verstehen könnten und deshalb Anstoß an Jesu blasphemischem Fehlverhalten nähmen.355 In pragmatischer Hinsicht wirke sich diese literarische Gestaltung bestärkend auf die markinische Leserschaft aus, die durch eine enttäuschte Naherwartung, leidvolle Verfolgungserlebnisse sowie die Konfronta-
349
THEOBALD, Gottessohn, 37. Vgl. LUBBOCK, Fiction, 251, der unter Point of view allgemein das Verhältnis versteht „in which the narrator stands to the story.“ Zur Kritik an diesem Perspektivenbegriff vgl. NÜNNING, Point of view, 249–251. 351 Vgl. THEOBALD, Gottessohn, 37 Anm. 3 und dazu PETERSEN, Perspektive, 67–91. 352 Vgl. THEOBALD, Gottessohn, 57: „Der älteste Evangelist ist kein Vertreter einer Präexistenzchristologie, sondern einer Tauf- und Geistchristologie, eines eigenständigen weisheitlichen Christologie-Typs, der nicht ohne weiteres in die vorpaulinische Traditionslinie eingezeichnet werden darf.“ 353 Hier schlägt sich gerade eine fehlende Differenzierung zwischen Beteiligung und Fokalisierung nieder, die bereits bei Petersen zu beobachten ist (vgl. 2.2.2 und dazu PETERSEN, Perspektive, 80). 354 Ausdrücklich spricht sich Theobald jedoch gegen eine vermeintliche Abwertung des Sohn-Gottes-Titels aus. Dies lasse v.a. dessen Verwendung im Kontext von Proklamationen und Bekenntnissituationen erkennen. 355 Theobald begründet dies in kompositorischer Hinsicht über die thematische inclusio 2,10/14,62. 350
3.4. Literatur- und erzählwissenschaftliche Zugänge
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tion mit konkurrierenden Heilsvorstellungen permanent herausgefordert sei (vgl. Mk 13):356 „Für den Leser/Hörer dürfte [...] klar sein, daß Jesus, wenn er vom ‚Menschensohn‘ und seiner Vollmacht spricht, nicht nur eine Umschreibung in der dritten Person anstelle einer direkten Redeweise gewählt hat, sondern mit dieser Selbstbezeichnung hintergründig auch seine Hoheit und Würde als ‚Menschensohn‘ zum Ausdruck bringt, dessen Kommen auf den Wolken des Himmels in Herrlichkeit die Gemeinde erwartet.“357
Theobalds Arbeit ist insgesamt alles andere als eine einfache „Skizze einiger Strukturlinien der Christologie im MkEv.“358 Gleichzeitig verweist gerade das beobachtete Spiel mit dem Menschensohntitel darauf, dass der Standpunkt einzelner Perspektiventräger nicht aus dem Text allein zu erheben ist, sondern dass die artikulierten Meinungen und Standpunkte eine umfassende Analyse des übergeordneten Figurenmodells erforderlich machen. So gilt es beispielsweise zu klären, auf welche Motivation der intendierte Rezipient aufgrund einer expliziten Äußerung oder eines beschriebenen Verhaltens rückschließen kann und wie er aufgrund dessen den Standpunkt einer Figur erschließt und beurteilt. Hier stößt der textimmanente Ansatz zwangsläufig an seine Grenzen, weil er sich zu einseitig auf explizite Aussagen konzentriert. In direkter Anlehnung an Michael Theobald359 will auch Peter Müller an einem Primat der Synchronie vor der Diachronie festhalten. Sowohl in seiner Monographie „Wer ist dieser? Jesus im Markusevangelium“ (1995) als auch in seinem Forschungsbeitrag zur markinischen Intertextualität (2004) versucht er, die Bezüge der markinischen Erzählkonzeption nachzuzeichnen und im Sinne einer intendierten Leserlenkung plausibel zu machen.360 So lasse sich die Frage „Wer ist dieser?“ (1,27; 4,41; 6,2f.14–16; 8,27; 9,7; 10,47f.; 14,61f.; 15,39) trotz einer „gewissen Variationsbreite“361 als beabsichtigte Leitfrage verstehen, mit deren Hilfe „die verschiedenartigen christologischen Motive gebündelt werden.“362 Die Verschränkung der einzelnen Titel (z.B. 356 Vgl. THEOBALD, Gottessohn, 71–78. Grundlage für Theobalds Argumentation und sein Verständnis von Pragmatik sind hier die Überlegungen bei BRANDENBURGER, Markus, 118. 357 THEOBALD, Gottessohn, 44. 358 THEOBALD, Gottessohn, 37. 359 „Daß sich im Text Spannungen und Brüche zeigen, daß man frühere und spätere Textelemente voneinander abheben kann, ist prinzipiell denkbar (und faktisch der Fall), kann jedoch nicht die Voraussetzung der Analyse sein. [...] Im Sinne der Abfolge von Analyseschritten kann man also von einem Primat der Synchronie vor der Diachronie sprechen“ (MÜLLER, Wer ist dieser, 11). 360 MÜLLER, Wer ist dieser, 16–18, bes. 17: „Der Erzählcharakter des Werkes bezieht sich also nicht nur auf die Textebene, sondern ebenso auf die Ebene der Rezeption, er zielt gleichsam auf den ‚Vollzug‘ des Textes im Lesevorgang.“ 361 MÜLLER, Wer ist dieser, 18. 362 MÜLLER, Wer ist dieser, 18.
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3. Kapitel: Forschungsgeschichte
8,29.31; 9,7; 14,61) diene dazu, die weitere Erzählung jeweils vorzuzeichnen und zugleich durch das Motiv des Schweigegebots die „Vorläufigkeit einzelner Titel [festzuhalten], ohne ihre Wahrheit zu bestreiten.“363 Angesichts eines solch integrativen Modells drängt sich die Frage nach dem mentalen Modell bzw. einem Gesamtbild, das die Rezipienten von der Person Jesu über den Erzählverlauf hinweg gewinnen, geradezu auf. Müllers Interesse gilt allerdings nicht einer solch geschlossen Vorstellung. Seines Erachtens besteht das eigentliche Ziel der markinischen Erzählung gerade darin, die Rezipienten „zum eigenen Sprechen und zur eigenen Antwort auf die Frage nach Jesus [anzuregen]“364 und zu gleichen Teilen „Jesus, den Christus, den Gottessohn, den leidenden und auferstandenen Menschensohn [zu] verkündigen.“365 Eine einheitliche Konzeption werde gerade durch das bleibende Nebeneinander verschiedener Vorstellungen verhindert. In einer Studie aus dem Jahr 2004 widmet sich Peter Müller noch einmal dezidiert den markinischen Menschensohnaussagen und versucht, diese vor ihrem alttestamentlichen Traditionshintergrund zu profilieren. Methodische Grundlage hierfür soll ein moderates Intertextualitätsverständnis sein, das sich auf konkrete Text-zu-Text-Bezüge zu konzentrieren habe und vom poststrukturalistischen Intertextualitätsbegriff Baktins abzugrenzen sei.366 Eher eigenwillig mutet jedoch an, dass Müller den Intertextualitätsbegriff auch auf innermarkinische Bezüge, d.h. Fragen der Komposition und Handlungsanaly363
MÜLLER, Wer ist dieser, 149. MÜLLER, Wer ist dieser, 160. Müller parallelisiert diese Erzählstrategie mit dem aristotelischen Konzept der Anagnorisis (MÜLLER, Wer ist dieser, 32 u. 42 u. 46) und versucht, diese Überlieferungsfunktion dadurch zu plausibilisieren. Allerdings bezieht sich bereits Aristoteles’ Definition von Anagnorisis auf die Erkenntnis von Figuren (Aristot. poet. 1452a–b) und sollte nicht vorschnell mit der Erkenntnis der Rezipienten vertauscht werden. 365 MÜLLER, Wer ist dieser, 160. Auch hier wäre eine Perspektivenanalyse im oben beschriebenen Sinne (Kap. 2.2) weiterführend, weil sich nur so die von Müller behauptete offene Perspektivenstruktur tatsächlich nachzeichnen und differenziert beschreiben ließe. Im Zuge meiner eigenen Analyse werde ich aufzeigen, dass sich die Perspektivenstruktur des Markusevangeliums keinem der genannten Extreme zuordnen lässt, sondern dass sich sowohl integrationsfördernde als auch synthesestörende Strategien nachweisen lassen (vgl. Kap. 4.4.2). Insgesamt wirkt das Perspektivenangebot aber eher orientierend denn desorientierend. 366 Obwohl Müller selber zugesteht, dass sich Intertextualitäten (primär) zwischen verschiedenen Texten ergeben, will er zugleich zeigen, dass auch auf „der Ebene eines literarischen Werkes (...) die Querverbindungen bestimmter Aussagen untereinander von Bedeutung [sind], also die intratextuellen Verweise, die bei der Analyse von Intertextualitäten mit zu berücksichtigen sind“ (MÜLLER, Aspekte, 136). Hier scheint der Intertextualitätsbegriff jedoch deutlich überstrapaziert zu sein und ist daher in analytischer Hinsicht von geringem Wert. Die heutige Handlungsanalyse ermöglicht m.E. eine weitaus präzisere Beschreibung, z.B. durch die Bestimmung der konkreten Verknüpfungsstärke (vgl. Kap. 2.4.2). 364
3.4. Literatur- und erzählwissenschaftliche Zugänge
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se, anwendet und trotz des selbst favorisierten Intertextualitätskonzepts auf eine Ausformulierung klarer Analysekriterien verzichtet. Mit dem lapidaren Verweis auf „ein generelles Schriftwissen“ 367 der Rezipienten, versucht er, inhaltlich zu zeigen, dass die markinische Darstellung an eine eschatologische Menschensohnvorstellung sowie deren Rezeption im Frühjudentum anknüpfe, sich aber zugleich hiervon abhebe, weil über den Erzählverlauf hinweg Jesu Vollmacht zur Sündenvergebung, seine Heilungen sowie sein Leiden, sein Tod und seine Auferstehung pointiert zur Sprache gebracht würden. In Weiterführung zu Müllers Monografie aus dem Jahre 1995 interessiert sich auch der Nigerianer Ohajuobodo I. Oko für die markinische Leitfrage „Who then is this?“ (2004). In der Tradition der deutschen Erzähltextanalyse stehend und mit deutlicher Kritik am Narrative Criticism 368 betont Oko jedoch stärker die Bedeutung, die die „Welt hinter dem Text“369 für die Interpretation habe. Im Mittelpunkt der Studie steht eine Einzelanalyse von insgesamt zwanzig Perikopen des Markusevangeliums, wobei überwiegend Aspekte der Perspektivenanalyse Anwendung finden.370 Ähnlich wie schon Rhoads/ Michie oder auch Kingsbury versteht Oko Gott als „most reliable character“, dessen Perspektive auf Jesus als geliebten Sohn prägenden Charakter habe. Wenngleich Jesus den Sohn-Gottes-Titel nie explizit verwende, werde diese Sohnschaft durch sein Verhalten implizit bestätigt. So spreche Jesus Gott vertrauensvoll und damit in einzigartiger Weise als ajbbav (14,36) oder elwi (15,34) an.371 Bedingt durch Okos zahlreichen Einzelanalysen geraten die erzählerischen Bezüge sowie der Handlungs- und Rezeptionsprozess kaum in den Blick. Die These, dass sich das Markusevangelium letztlich durch Paradoxien auszeichne und diese den Leser zum eigenständigen Nachdenken anregen, scheint weitgehend von Müller übernommen zu sein, wird aber kaum eigenständig begründet.372 Über den weitgehend strukturalistisch geprägten und nichtsdestotrotz an einem Ausgleich zwischen Synchronie und Diachronie interessierten Ansatz der deutschen Forschungstradition hinaus versucht Christian Rose in seiner 2007 erschienenen Monografie erstmals Ansätze der Rezeptionsästhetik fruchtbar zu machen. Während sich die klassische Narratologie als rein textimmanente Wissenschaft begreife, bestehe der Mehrwert der Rezeptionsästhetik darin, dass hier die Rezeption stärker in den Mittelpunkt rücke. An-
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MÜLLER, Aspekte, 142. OKO, Who, 57f. 369 OKO, Who, 58. 370 Vgl. OKO, Who, 424–426. 371 Vgl. OKO, Who, 362 u. 367 u. 390 Anm. 150. 372 Vgl. OKO, Who, 429: „Mark’s story of Jesus is marked by paradoxes that provoke self-searching questions on the part of the reader.“ 368
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gesichts dieses analytischen Gewichts, das Rose der Rezeptionsästhetik zuschreibt und das sich in der Gliederung der einzelnen Analysekapitel widerspiegelt, verwundert es, dass sich Rose in der methodischen Grundlegung ausschließlich auf ältere innerexegetische Darstellungen bezieht und den direkten Diskurs mit der Literaturwissenschaft meidet.373 Das Verhältnis zwischen historischer Exegese und literaturwissenschaftlicher Auslegung beschreibt Rose mit dem Begriff der „diachronen Synchronie“.374 Hiermit meint Rose, dass der Textkritik sowie der Analyse der Textgenese eine vorbereitende Aufgabe zukäme und sich die einzelnen Textstufen erst im Anschluss einer narratologisch-rezeptionsästhetischen Untersuchung unterziehen ließen. Welche konkrete Methodenfolge sich dadurch ergibt und wie die Ergebnisse der diachronen Textbetrachtung ganz konkret in die Erklärung einfließen können, beantwortet Rose jedoch nicht hinreichend, und so bleiben auch die verschiedenen Analyseteile seiner eigenen Arbeit häufig unverbunden. Inhaltlich konzentriert sich Rose primär auf den Prolog des Markusevangeliums (1,1–15) sowie hieran anknüpfend auf die beiden „Säulen“ der Markuserzählung (9,2–13; 15,33–41), die Erzählung des ersten Wunders (1,21–28) und der ersten Streitgespräche (2,1–12).375 Bereits mit dem Schriftzitat 1,2–3 werde Jesu Gottessohnschaft als eine Sohnschaft vor Zeiten376 erwiesen und Jesus in 1,9–11 in Entsprechung hierzu als Sohn inthronisiert: „Weil Jesus der Gottessohn ist, bekommt er im Zuge der Taufe den Geist Gottes.“ 377 Trotz dieser anfänglichen Konturierung plädiert Rose jedoch im Weiteren – und in Analogie zu Müller, Oko u.a. – für eine Polyphonie der markinischen Ge373 In dieser Hinsicht bezieht sich Rose nur auf die Einführung von Genette (vgl. ROSE, Theologie 31–34 und passim). Die eigentlichen Standardwerke der Rezeptionsästhetik werden nicht näher behandelt und reflektiert. 374 ROSE, Theologie, 42f., hier 43. 375 Die Auswahl dieser Texte begründet Rose recht lapidar mit dem Hinweis, dass diese „für die Rezeption der Gesamterzählung von besonderer Bedeutung [seien]“ (ROSE, Theologie, 43). Eine stärkere Begründung für diese Auswahl bieten der in Kap. 2.4 vorgestellte Primäreffekt sowie der im Zuge der Figurenanalyse (2.3) skizzierte Kategorisierungseffekt, weil die erste Darstellung einer Figur bzw. Figurengruppen (hier: Jesus, die Menge, die Gegner Jesu) sich besonders prägend auf den Gesamteindruck auswirken und die anfänglichen Informationen über den gesamten Lektüreprozess hinweg die Wahrnehmung der Rezipienten beeinflussen. Mit dem Begriff der Säule wählt Rose hingegen eine Bezeichnung, die im erzählwissenschaftlichen Diskurs nicht gebräuchlich ist und den Dialog erschwert. 376 Den Begriff der Präexistenz weist Rose bewusst zurück, weil in der jüdischen Tradition weder die Weisheit Gottes (Spr 8,22–31; Sap 9,1–4; 7,12; Sir 24,1–10) noch königliche Messiasvorstellungen (Ps 110,1–3) mit dem Präexistenzgedanken verbunden worden seien, sondern die Präexistenz als Alleinstellungsmerkmal des Schöpfers zu gelten habe (Gen 1–3; Ps 90,2; 93,3). 377 ROSE, Theologie, 146 Anm. 171.
3.4. Literatur- und erzählwissenschaftliche Zugänge
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samterzählung. Der Text halte immer wieder Rezeptionssignale bereit, durch die der implizite Leser im Sinne von „multiperspektivischen Anknüpfungspunkten“378 seine Interpretation eintragen könne. Dem Ansatz der Rezeptionsästhetik entsprechend, bleibt es bei einem Hinweis auf die allgemeine Rezeptionsbezogenheit und Offenheit der markinischen Erzählung.379 Welche konkreten Inferenzen sich zwischen Text und Vorwissen der Rezipienten nachzeichnen lassen, welche Schlussfolgerungsprozesse der intendierte Rezipient über den Erzählverlauf zwischen den Textinformationen zieht oder zu welcher Konstruktion emergenter Bedeutungen er angeregt wird, kann hier methodisch noch nicht in den Blick geraten. Dies erstaunt umso mehr, als Rose selber die kognitive Wende innerhalb der Narratologie wahrzunehmen scheint380 und in seinem Fazit insbesondere auf das Desiderat einer umfassenden Figurenanalyse hinweist.381 3.4.3 Linguistische und semiotische Ansätze Bereits in den 1970er Jahren lässt sich in der deutschsprachigen Exegese, aber auch darüber hinaus, eine teils euphorische Begrüßung linguistischer Theorieansätze erkennen. Euphorisch war diese Entdeckung der Linguistik deshalb, weil sich mancher Exeget durch deren Integration in den exegetischen Methodenkanon eine Zusammenführung disparater Textbetrachtungen erhoffte. Die Analyse der Syntax, Semantik und Pragmatik hat seit dieser „linguistischen Wende“ nicht nur Einzug in mehrere Lehrbücher, sondern auch in die Markusforschung gefunden; zumeist derart, dass einzelne Aspekte in die historische Arbeit integriert werden, z.B. in dem die Bezüge zwischen Text und Kontext bzw. die Kommunikationssituation unter dem Begriff der Pragmatik betrachtet werden. Die teils sehr spezialisierten Verfahrensweisen der Linguistik haben demgegenüber kaum Einzug in die Exegese gefunden. Auf den Grundlagen einer solchen linguistischen Methodik fußt die Arbeit von Ulrich Kmiecik zum „Menschensohn im Markusevangelium“ (1997). In Anknüpfung an den pragmalinguistischen Ansatz mehrerer katholischer Theologen382 schreitet er nach einer Abgrenzung der thematisch relevanten Texte 378
Vgl. ROSE, Theologie, 47 u. 254f. Rose nennt selber die Probleme, die die Kategorien eines impliziten Autors und Lesers besitzen und kennt die entsprechende Kritik, hält aber letztlich an diesen umstrittenen Größen fest (vgl. ROSE, Theologie, 54f.). 380 Mehrfach spricht Rose von einer „rezeptionsorientierten Methode“ (vgl. ROSE, Theologie, 59f. und passim), die eine Präzisierung bzw. Ergänzung des rezeptionsästhetischen Ansatzes ermögliche. Allerdings wird diese Methode nirgendwo erläutert und findet in der Analyse keinerlei Anwendung. 381 ROSE, Theologie, 267. 382 Vgl. EGGER, Methodenlehre; FRANKEMÖLLE, Handlungsanweisungen; LENTZENDEIS, Handlungsmodell. Vgl. STAMMERJOHANN, Handbuch, 327 zum linguistischen Kommunikationsmodell. 379
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3. Kapitel: Forschungsgeschichte
jeweils deren Syntax, Semantik und Pragmatik ab. Die Pragmatik besitzt bei der Analyse ein besonderes Gewicht, da sich hierüber das Kommunikationsgeschehen zwischen Autor und Adressaten differenziert beschreiben lasse. Die Ergebnisse der historisch-kritischen Exegese könnten zwar ebenfalls zur Erhellung dieses Kommunikationsgeschehens beitragen, dürften aber nicht die eigentliche Interpretation bestimmen: „Die Christologie hängt nicht so sehr an den überkommenen Inhalten einzelner Begriffe, sondern ‚sie hängt an ganzen Texten.‘383 Die Person Jesu, wie sie vom Autor des Markusevangeliums in diesen Texten dargestellt ist [...], prägt im entscheidenden Maß die Bedeutung der jeweiligen Titel.“384
Kmieciks Auslegung ist sodann von der Überzeugung geleitet, dass der „Standpunkt des Autors mit dem seiner Hauptperson identisch sei und sich für ebendiesen Protagonisten eine Präferenz des Menschensohntitels nachweisen lasse.385 In Anknüpfung an Theobald weist auch Kmiecik auf den differenzierten Gebrauch des Menschensohntitels im Kreis der Jünger und in der Öffentlichkeit hin. Mithin ist auch hier zu fragen, wie sich dieser in der Lektüre und Analyse behauptete Sprachgebrauch methodisch verifizieren lässt. Auch Kmieciks These ließe sich durch eine eingehende Analyse der Figuren und ihres „individuellen“ Standpunkts überprüfen bzw. verfeinern. In mehreren Einzelbeiträgen sowie einer ausführlicheren Monografie versucht Paul L. Danove386 die „Rhetorik“ der markinischen Charakterisierung herauszuarbeiten, wobei er sich gleichermaßen dem Protagonisten und anderen Figuren zuwendet.387 Im Mittelpunkt seiner Analysen steht der Begriff der Wiederholung („repetition“), mit dem sowohl die semantische Wiederholung als auch die Wiederaufnahme narrativer Frames und Schemata bezeichnet werden kann. Nach Danove erhalten jene Aussagen, die sich im Erzählverlauf wiederholen, die eigentliche Aufmerksamkeit des Rezipienten.388 383
WEBER, Christologie, 118; zitiert nach KMIECIK, Menschensohn, 13. KMIECIK, Menschensohn, 13. 385 Auch Kmiecik ist hier durch das Perspektivenverständnis von PETERSEN, Perspektive, 75 geprägt und unterscheidet nicht hinreichend zwischen Beteiligung und Modus. Aus der Perspektive einer Figur zu berichten, bedeutet nicht – selbst wenn es sich um eine zuverlässige Figur handelt – dass der Erzähler diese Perspektive vollständig teilt! Dies gilt umso mehr, als andere zuverlässige Figuren (z.B. Gott, Dämonen) im Markusevangelium andere Titel bevorzugen. 386 DANOVE, Characterization of God (2001); DANOVE, Jesus (2003); DANOVE, Rhetoric (2005); DANOVE, Narrative Rhetoric (2014); 387 Vgl. zur Person Jesu DANOVE, Rhetoric, 56–89 und DANOVE, Jesus. Zur Figurengruppe der Jünger vgl. DANOVE, Rhetoric, 90–126 u. 127–142 [Frauen am Grab] und DANOVE, Narrative Rethoric [Petrus]. Zur Person Gottes vgl. DANOVE, Rhetoric, 28–55 und DANOVE, Characterization of God. 388 „Of the panoply of potential manifestations of the semantic rhetoric available to the original readers and interpreters, only those discernible in the text remain; and, of these, 384
3.4. Literatur- und erzählwissenschaftliche Zugänge
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Durch ihre Wiederholung würde zugleich eine Transformation und Verschiebung bestehender Sinngehalte ermöglicht, die es in der Analyse nachzuzeichnen gelte. Bei der Bestimmung des Rezipienten greift Danove auf die bekannte Klassifizierung von Rabinowitz zurück, wobei sich v.a. durch die Kategorie der authorial audience durchaus eine Nähe zum Begriff des intendierten Rezipienten ergibt (vgl. Kap. 2.1). So will Danove dem Lesepublikum etwa spezifische Vorverständnisse zuschreiben. Allerdings wird durch die einseitige Konzentration auf das erzählerische Mittel der Wiederholung übersehen, dass der Autor zahlreiche andere Möglichkeiten hat, die Aufmerksamkeit des Rezipienten zu wecken. Außerdem kommt es bei Danove zu einer Vernachlässigung der unterschiedlichen Erzählebenen, und auch er berücksichtigt noch nicht die individuellen Dispositionen der einzelnen Perspektiventräger. Zweifelsohne macht es aber einen Unterschied, ob der Begriff oJdov~ in 1,2 als Teil eines Schriftzitats, in 4,4 durch den intradiegetischen Erzähler Jesus oder in 8,27 durch den heterodiegetischen Erzähler verwendet wird. Fraglich ist zudem, ob der Rezipient überhaupt eine auseichende Sensibilität für derartige Wiederholungen auf semantischer Ebene haben kann. Im Hinblick auf das mutmaßliche christologische Vorverständnis der Rezipienten fällt auf, dass sich Danove ausschließlich auf Aspekte der Figurenrelation konzentriert. So seien die positive Beziehung zwischen Jesus und Gott oder die negative Beziehung zwischen Jesus und den Dämonen bereits textextern vorgegeben. Wenngleich die nachfolgende Analyse ebenfalls verdeutlichen wird, dass die markinische Erzählung die Einheit zwischen Jesus und Gott betont und gerade so Jesu Einzigkeit herausgestellt wird (vgl. Kap. 4.2 und 4.3), fehlt den Studien eine ausreichende traditions- und religionsgeschichtliche Fundierung. Die Frage bleibt, auf Grundlage welcher christologischen Grundüberzeugung diese Beziehungen dem Rezipienten verständlich werden soll. Die Arbeiten Danoves halten trotz ihres hohen methodischen Reflexionspotentials nur wenig neue Einsichten zur Frage der inhaltlichen Charakterisierung Jesu bereit.389 Stärker am Ansatz einer strukturalistischen Semiotik orientiert ist die Monografie von Ole Davidsen, der in der Markusexegse eine einseitige Fixierung auf die christologischen Hoheitstitel bemängelt390 und demgegenüber
repetition constitutes the least contentious, most pervasive, and most directly accessible“ (DANOVE, Rhetoric, 12). 389 Ganz ähnlich bereits MALBON, Mark’s Jesus, 12: „Danove’s work is quite detailed and methodical; however, it offers few insights on the characterization of Jesus in Mark’s Gospel that have not long been presented by both redaction critics and narrative critics, although it does confirm such insights by an alternate method, and that is linguistically based.“ 390 Nach Davidsen werden die Hoheitstitel lediglich als Synonyme für den Namen Jesu verwendet: DAVIDSEN, Jesus, 337: „The christological titles (...) do not refer to christolog-
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3. Kapitel: Forschungsgeschichte
die Handlung stärker gewichten will. Jesus „is not an independently existing personage of whom the narrative tells, but a semiotic entity which exists only by virtue of the story: he is narrative.“391 In Anlehnung an Bremonds Theorie narrativer Aktanten sowie das semiotische Viereck Greimas’ (vgl. Kap. 2.4.1) profiliert er den narrativen Jesus vor dem Hintergrund komplementärer Handlungsrollen. Hierzu arbeitet Davidsen die Rolle des Wundertäters („wonderworker“), des Verkündigers („proclaimer“) und des Erlösers („savior“) heraus, wobei nur der letzten Rolle eine übergeordnete, handlungstragende Funktion („narrative role“) zukomme.392 Im Sinne von Bremonds Triadischem Handlungsschema und damit einer prozessualen Christologie, werde in der Taufe eine göttliche Macht auf den Erlöser Jesus übertragen („Virtuality“), die durch den Kreuzestod in Frage gestellt („Actualization“) und erst durch die Auferstehung bestätigt bzw. realisiert („Realization“) werde.393 Die Arbeit zeichnet sich insgesamt durch einen hohen, der strukturalistischen Methodik inhärenten, Abstraktionsgrad aus und ist kaum an einer inhaltlichen Auslegung interessiert. Zudem wird eine umfassende Figurenanalyse gerade dadurch verhindert, dass sich Davidsen ausschließlich auf das Verhalten Jesu konzentriert. Das Modell einer Figur ist aber, wie in Kap. 2.3.2 dargelegt wurde, weitaus vielfältiger und es können letztlich alle Figurenmerkmale im Rezeptionsprozess Aufmerksamkeit gewinnen und sind deshalb auf ihrer Bedeutung hin zu befragen (vgl. Kap. 4.3.1). 3.4.4 Literatur- und erzählwissenschaftliche Zugänge: Auswertung und Methodenvergleich (1) Die neueren Entwicklungen innerhalb der Narratologie, die sich unter dem Schlagwort der Kognitiven Wende subsummieren lassen und die im Bereich der Interpretation zu einem regelrechten Methoden-Boom geführt haben, sind innerhalb der Markusforschung noch weitgehend unbekannt und konnten – angesichts der zeitlichen Verzögerung jedes Wissenstransfers – noch keinen Niederschlag in den bisher dargestellten Arbeiten und Studien
ical roles. (...) They are generally employed as para-synonyms to describe Jesus as he with whom God has entered into his covenant of salvation.“ 391 DAVIDSEN, Narrative Jesus, 8. 392 Dies gelte, obwohl der Begriff swthvr im Markusevangelium fehle, weil Jesus in der alles bestimmenden Auseinandersetzung zwischen Leben und Tod durchgängig als Beschützer („protector“) auftrete und Menschen rette. 393 DAVIDSEN, Jesus, 335 u. 338f. Irritierend ist jedoch, dass der Begriff der „Realisierung“ uneinheitlich gebraucht wird und von Davidsen ebenso auf Taufe und Kreuzestod bezogen werden kann. Vgl. DAVIDSEN, Jesus, 336: „Whether Jesus is allowed to become Christ by the anointing [...], by the death on the cross [...] or by the resurrection [...] therefore depends on which aspect in the christological schema, i.e. the actantial role, is in fact in focus.“
3.4. Literatur- und erzählwissenschaftliche Zugänge
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zur markinischen Christologie finden. 394 Insofern die kognitive Narratologie als methodische Weiterentwicklung und Präzisierung der Rezeptions- und Wirkungsästhetik sowie der linguistische Pragmatik zu verstehen ist, lässt sie sich jedoch problemlos mit den neueren Arbeiten von Rose, Kmiecik und Danove ins Gespräch bringen. Während bei Iser der implizite Leser noch als textimmanente Struktur gedacht wird (vgl. 2.2.1), Eco mit dem Hinweis auf die „enzyklopädische Kompetenz“395 des Rezipienten eine sehr allgemeine Kategorie zur Beschreibung des textexternen Vorwissens verwendet und sich auch die Kategorisierung von Rabinowitz als kaum praxistauglich erwiesen hat,396 zeichnet sich die kognitive Erzählwissenschaft demgegenüber durch eine stärkere Konkretisierung des rezeptionsleitenden Vorwissens sowie eine Berücksichtig der kognitionswissenschaftlichen Dispositionen aus. Zugleich ist eine weitgehende Unvereinbarkeit zwischen dem Ansatz einer kognitiven Narratologie und dem in Nordamerika dominanten Narrative Criticism festzuhalten. Wenn sich die neueren Arbeiten von Malbon und Broadhead ebenso wie die älteren Studien von Kingsbury, Kelber oder Tannehill am klassischen Strukturalismus orientieren und hier eine dezidiert textimmanent ausgerichtete Exegese angestrebt wird – was zugleich mit einer kritische Distanz zu den Ergebnissen einer historischen Textbetrachtung einhergeht – so lässt sich dieser Ansatz nicht in ein gemeinsames System des Textverstehens überführen. Problematisch bleibt auch, dass in nahezu allen dargestellten Arbeiten, die dem Ansatz des Narrative Criticism folgen, textexterne Vorverständnisse im Zuge der Interpretation eingetragen werden, ohne dass dies hinreichend reflektiert würde. Die konkrete Auslegungspraxis offenbart, dass eine vollständige Entkontextualisierung historischer Texte schlichtweg unmöglich ist. Der Ansatz des Narrative Criticism sollte in der 394
Eine erfreuliche Ausnahme stellt die Arbeit von Sandra Hübenthal dar, die v.a. neuere Ansätze der Perspektivenanalyse (z.B. Ryans Possible-Worlds-Theory) aufgreift und überaus gewinnbringend anwendet. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit Hübenthals Arbeit findet sich in Kap. 4.4.1. Da die Frage nach der Intention bzw. Funktion der markinischen Erzählung gerade in der neuesten Markusforschung besonders stark in den Fokus gerückt wurde (vgl. JOCHUM-BORTFELD, Die Verachteten; FRITZEN, Gott; BEDENBENDER, Frohe Botschaft; DU TOIT, Der abwesende Herr), sich die methodischen Zugänge jedoch als äußerst facettenreich erweisen, habe ich auf eine Darstellung innerhalb der Forschungsgeschichte verzichtet und beziehe mich hierauf ebenfalls ausführlich in Kap. 4.4.1. 395 Vgl. ECO, Lector, 15–30 u. 94–106, hier 94: „Um die diskursiven Strukturen zu aktualisieren, stellt der Leser die lineare Manifestation dem Regelsystem gegenüber, wie es von der Sprache, in der der Text geschrieben ist, und von der enzyklopädischen Kompetenz, auf die die Sprache aufgrund der kulturellen Traditionen verweist, vorgesehen ist.“ Iser redet hingegen vom „Textrepertoire“ (ISER, Akt, 87–143) und Jauß verwendet diesbezüglich den Begriff des „Erwartungshorizonts“ (JAUSS, Ästhetische Erfahrung, 660–671. Vgl. weiterführend MAYORDOMO MARÍN, Anfang, 46–51 (zu Eco).62–65 (zu Jauß).69f. u. 79 (zu Iser) und FINNERN, Narratolgie, 40. 396 Vgl. hierzu ausführlich JANNIDIS, Figur und Person, 31–33.
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3. Kapitel: Forschungsgeschichte
Exegese deshalb aufgegeben werden. Unbeschadet dessen lassen sich freilich einzelne Ergebnisse zur Perspektivenstruktur, zum Aufbau bzw. zur Handlungsstruktur oder zur Charakterisierung aufgreifen und in eine kognitivnarratologische Exegese integrieren. (2) In 3.2.4 wurde bereits ausführlich beschrieben, wie sich die Ergebnisse der Religionsgeschichte – und mithin der Traditions-, Motiv- und Sozialgeschichte etc. – in ein gemeinsames System der Texterklärung integrieren lassen und wie im Sinne eines konkreten Methodenweges die Bestimmung der Leerstellen, eine Rekonstruktion der historischen Wissensbestände und die eigentliche Texterklärung erfolgen können. An dieser Stelle lässt sich nun noch einmal präzisierend beschreiben, wie die Analyse der Perspektiven (2a), der Figuren (2b) und der Handlung (2c) in diesem Kontext erfolgen sollte und wie sich vor diesem Hintergrund der aktuelle Forschungsstand bewerten lässt. (2a) Perspektivenanalyse: Innerhalb der erzählwissenschaftlich orientierten Markusexegese kommt der Beschreibung der Perspektiven bereits eine hohe Bedeutung zu. Hierbei kann wahlweise von einem evaluativen Standpunkt in der markinischen Erzählung (Rhoads/Michie, Kingsbury, Theobald, Kmiecik) oder von einer intendierten Polyphonie (Malbon, Müller) gesprochen werden. Zumeist wird die hervorgehobene Bedeutung einzelner, wichtiger Perspektiven betont. Sodann wird der Versuch unternommen, die inhaltlichen Differenzen zwischen den artikulierten Standpunkten zu beschreiben und zu beurteilen. Dem Selbstverständnis des Narrative Criticism entsprechend, konzentrieren sich Rhoads/Michie, Kingsbury, Broadhead und Malbon hierbei nahezu ausschließlich auf den semantischen Befund und lassen historische Vorverständnisse zu den einzelnen Hoheitstiteln oder anderen Attributen bewusst außer Acht. Da sämtliche Hoheitstitel jedoch mit einer großen Selbstverständlichkeit in die markinische Erzählung eingeführt werden, während sich der Erzähler an anderer Stelle keineswegs scheut, seinen Lesern unbekannte Begriffe zu übersetzen und zu erklären, ist von einer textexternen Vorprägung dieser Titel auszugehen. Zudem lassen sich die inhaltlichen Übereinstimmungen bzw. Differenzen zwischen diesen Titeln letztlich nur unter Einbeziehung solche Vorverständnisse hinreichend beschreiben. Eine strukturalistische Erzählanalyse greift hier zu kurz, zumal sie ihrerseits nicht über die Mittel verfügt, die Inferenzprozesse, die sich über den Verlauf des Markusevangeliums ergeben, nachzuzeichnen. Es reicht hier nicht, etwaige Leerstellen zu benennen, sondern es ist wesentlich konkreter zu fragen, wie der Rezipient solche Leer- bzw. Inferenzstellen aufgrund seines Vorwissens und der Informationen, die er im Lesegedächtnis präsent hält, deutet und inhaltlich füllt. Mit dem Perspektivenbegriff von Lubbock wird in einigen Studien ein überaus umstrittenes Analyseinstrumentarium verwendet. So ist bei Theobald und Kmiecik eine voreilige Gleichsetzung von Erzähler- und Figurenstand-
3.4. Literatur- und erzählwissenschaftliche Zugänge
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punkten zu erkennen. Die geringe Explizität des Erzählerstandpunktes (vgl. Kap. 4.2.1), die inhaltliche Kohärenz einzelner Figurenstandpunkte und die zeitgleiche Disparität zwischen diesen Figurenstandpunkten lassen erkennen, dass die Perspektivenstruktur und Perspektivische Interaktion differenzierter zu betrachten ist. Die in Kap. 2.2 vorgestellten Analysekriterien bieten hierfür ein hilfreiches Instrumentarium. Da die Perspektiven einer Figur in der Wahrnehmung der Rezipienten immer an die Bedingungen der jeweiligen Perspektiventräger und das jeweilige Figurenmodell gebunden bleiben, soll dieses „Eigenleben“ stärker berücksichtigt und die einzelnen Perspektiven ausführlich beschrieben werden (Kap. 4.2). Hierbei wird dann einerseits darauf zu achten sein, dass der inhaltliche Standpunkt einer Figur nicht allein auf explizite Aussagen zu reduzieren ist – hier sind die bisherigen Studien zu sehr textorientiert – und dass andererseits die Aufmerksamkeit des Rezipienten keineswegs gleichermaßen auf allen expliziten und impliziten Textinformationen liegen kann. Bei der Analyse muss daher auf die diversen Mittel der Aufmerksamkeitslenkung, der Hierarchisierung und der indirekten Beurteilung geachtet werden. (2b) Figurenanalyse: Im Zuge der erzählwissenschaftlichen Erforschung des Markusevangeliums ist zu Recht betont worden, dass sich die Vorstellung vom Protagonisten nicht allein auf kulturell vorgeprägte Hoheitstitel reduzieren lässt, sondern dass zahlreiche weitere Eigenschaften zu betrachten sind. Die in Kap. 2.3.2 vorgestellten Merkmale stellen hierfür ein umfassendes Analyseinstrumentarium zur Verfügung, das in seiner Detailliertheit über die bisherigen Betrachtungen hinausgeht. Mithin erübrigt sich hierdurch die alte Frage, welche Bezeichnung im Markusevangelium „titular“ verwendet werden und welche weiteren Eigenschaften es daneben zu beachten gilt. Broadheads Versuch, religionsgeschichtlich vorgeprägte Messiasvorstellungen, Jesu Herkunftsbezeichnung und einzelne Verhaltensweisen (z.B. Jesu Lehre) gleichzusetzen und allesamt als Titel zu verstehen, führt an dieser Stelle letztlich nur zu einer zusätzlichen Konfusion und trägt im Ergebnis wenig zur Beschreibung des tatsächlichen Figurenmodells bei. Demgegenüber empfiehlt es sich, sämtliche Figurenmerkmale im Detail und jeweils für sich zu betrachten. Sodann ist jedoch zu beurteilen, welche Aufmerksamkeit die einzelnen Merkmale im Rezeptionsprozess erhalten, d.h. es ist zwischen wichtigen und eher unwichtigen Merkmalen zu differenzieren. Dass der Rezipient bei der Lektüre auf Personenvorstellungen stößt, die er aufgrund seiner eigenen Bekenntnissprache kennt und denen er eine hohe Relevanz zuschreibt, kann ein Mittel der Aufmerksamkeitslenkung sein. Die Relevanz der sogenannten „Hoheitstitel“ ergibt sich aber weniger aus ihrem titularen Gebrauch, der sich auch gar nicht überall nachweisen lässt, sondern aufgrund des rekonstruierbaren Vorwissens der Rezipienten und der Selbstverständlichkeit, mit der diese Termini in die Erzählung eingeführt werden.
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3. Kapitel: Forschungsgeschichte
Im Zuge einer kognitiv-narratologische Analyse rücken die religionsgeschichtliche Analyse, die Erschließung des weiteren, historischen Vorwissens und die eigentliche Interpretation aufs Engste zusammen. Im Zusammenhang des Figurenvergleichs (4.3.2) können all jene externen Personenvorstellungen analysiert und in ihrer literarischen Funktion über den Erzählverlauf verfolgt werden, auf die der intendierte Rezipient des Markusevangeliums zurückgreifen muss, um die Handlung mitzuverfolgen und indirekte Rückschlüsse auf die Figur Jesu zu ziehen. Konkret wird sich die Analyse in Kap. 4.3.2 auf die Figur des Elia redivivus (4.3.2a) und die Figur des Kyrios (4.3.2b) konzentrieren, die in der markinischen Erzählung die meiste Aufmerksamkeit erhalten. (2c) Handlungsanalyse: Lag ein Schwerpunkt der erzählwissenschaftlich informierten Markusexegese auf der Beschreibung von Handlungsstrukturen oder der Zuschreibung bestimmter Handlungsrollen, so wurde anhand von 2a und 2b bereits deutlich, dass die vorliegende Studie an einer deutlichen Verlagerung des Forschungsschwerpunktes interessiert ist. Der markinsche Jesus soll gerade nicht auf allgemeine Handlungsrollen reduziert werden, die sich letztlich durch einen zu hohen Abstraktionsgrad auszeichnen und nur wenig zur tatsächlichen Beschreibung des konkreten Figurenmodells beitragen. Vielmehr soll Jesu Verhalten in der vorliegenden Studie als ein Figurenmerkmal unter vielen in den Blick geraten und dementsprechend gewichtet werden. Zugleich ist über das Triadische Handlungsschema Bremonds noch nicht nachzuvollziehen, welche potenziellen Handlungsverläufe sich aus Sicht des intendierten Rezipienten an einzelnen Stationen der Erzählung nahelegen bzw. für erwägbar gehalten werden (vgl. zur plot map Kap. 2.4) und welche Interaktionen dadurch zwischen Autor und Lesern in Gang gesetzt werden bzw. welche Wirkung dieses Kommunikationsspiel auf die Rezipienten des Markus hat. Hierauf werde ich insbesondere in Kap. 4.4. eingehen, weil die Involviertheit des Rezipienten in das Handlungsgeschehen ein wichtiger Ausgangspunkt ist, um die Funktion der markinischen Erzählung in den Blick zu nehmen. Zugleich wird die Beschreibung potentieller Handlungsverläufe aber bereits dort thematisiert und beschrieben, wo sie bei der Analyse einzelner Figurenperspektiven oder der Analyse des Figurenmodells Jesu von Bedeutung ist.
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4. Kapitel
Poetik der markinischen Christologie 4.1 Grundzüge einer Poetik der markinischen Christologie Gegenstand dichterischer Nachahmung sind handelnde Menschen (Aristot. poet. 1448a1)
Der Analyseteil dieser Arbeit steht unter der Überschrift der „Poetik“. Das weckt nahezu unweigerlich Assoziationen an die antike, literaturtheoretische Schrift des Aristoteles (um 335 v. Chr.). Tatsächlich möchte ich bei dem, was ich im Folgenden unter Poetik definiere, an einige Grundgedanken der aristotelischen Dichtungslehre anknüpfen, gleichzeitig aber – vor dem Hintergrund der in Kap. 2 formulierten Methodik – auf mögliche und notwendige Differenzierungen hinweisen. 1 Die Auseinandersetzung mit Aristoteles dient allein der Klärung des eigenen Gegenstandbereiches, eben der Frage, was im Folgenden unter einer „Poetik der markinischen Christologie“ verstanden wird. Ich setze demgegenüber keine entsprechenden Kenntnisse beim ersten Evangelisten voraus. Ein solches Wissen um die Grundprinzipien der aristotelischen Dichtungslehre bei Markus halte ich sogar für eher unwahrscheinlich.2 Ein Rückgriff auf Aristoteles scheint weder in der Markusforschung noch in der Exegese insgesamt ungewöhnlich.3 Allerdings fällt auf, dass sich die innerexegetische Diskussion schwerpunktmäßig auf formale Aspekte der Erzählstruktur konzentriert. Im Mittelpunkt stehen primär Ausführungen zur 1 Selbstverständlich kann im Rahmen dieser Arbeit keine umfassende Darstellung der aristotelischen Dichtungslehre erfolgen. Ich orientiere mich in meiner Darstellung deshalb weithin an dem neueren Kommentar sowie der Neuübersetzung von Arbogast Schmitt (SCHMITT, Poetik). 2 Zumeist wird auch in der Markusforschung keine direkte Kenntnis der „Poetik“, sondern ein durch Theaterstücke vermitteltes Wissen bei Markus vermutet (vgl. LANG, Kompositionsanalyse, 22). Ein solch indirekter Einfluss lässt sich aber ohne vorhandenes Quellenmaterial nicht überprüfen und bleibt daher rein spekulativ. 3 Bezüge zur aristotelischen Poetik sowie allgemeine Bezüge zum antiken Drama werden u.a. diskutiert im Hinblick auf die Prophetenliteratur (z.B. UTZSCHNEIDER, Michas Reise), das Weisheitsbuch (SCHMITT, Zur dramatischen Form) oder das Johannesevangelium (HITCHCOCK, Drama).
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
Handlungskomposition, wobei der Aufbau des ersten Evangeliums jeweils mit den Grundformen einer tragischen Handlungsanlage verglichen und eine mehr oder weniger starke Abhängigkeit hiervon behauptet wird.4 Die Poetik des Aristoteles wird dabei nahezu zwangsläufig als Regelpoetik5 rezipiert, die Auskunft über eine systematische und vernünftige Dramengestaltung gibt. Allerdings lässt sich die Poetik des Aristoteles weder als eine solch abstrakte und normative Regelpoetik begreifen – diese Ansicht verdankt sich erst der Polemik, die dem Werk spätestens seit der genieästhetischen Wende des 18. Jhdts. entgegengebracht wurde6 –, noch ist es ihr eigentliches Anliegen, die Dichtung vom Primat der formalen Gestaltung her zu entfalten.7 Wenngleich in der Poetik durchaus Aspekte der erzählerischen Vermittlung und insbesondere der Handlungsdarstellung thematisiert werden – und auch in der vorliegenden Arbeit unter dem Stichwort der Poetik zu erfassen sind – so liegt der Fokus doch gerade auf dem Inhalt, von dem aus die Gestaltung des Erzählten überhaupt erst in den Blick gerät. „Das zentrale Anliegen, das Aristoteles von verschiedenen Ausgangspunkten her in der Poetik verfolgt, ist die Frage, wie das in der Dichtung Dargestellte ein einheitliches Ganzes wird. Diese Frage ist nicht nur formal, sondern auch, ja zuerst inhaltlich.“8
Der konkrete Gegenstand literarischer Nachahmung ist, wie Aristoteles von Anfang an betont, das Handeln eines Menschen (Aristot. poet. 1448a1), das im Kern von dessen Charakter bestimmt wird und das den Rezipienten ermöglicht, über die einzelnen Handlungen einer Person hinweg den Wert allgemeiner charakterlicher Haltungen zu erkennen9 und im Hinblick auf das 4
Vgl. BURCH, Tragic Action; BEACH, Gospel, 48–51; LANG, Kompositionsanalyse, bes. 19–22; VIA, Kerygma, 45f.98–101; BILEZIKIAN, Comparison; STADAERT, L’Evangile, bes. 30–34.82–108; SMITH, Divine Tragedy; LÜCKING, Mimesis, bes.14f.; wesentlich zurückhaltender HENGEL, Probleme, 226–230, bes. 229f.: „Die Dramatik seines Werkes ist bei allen Berührungen mit der poetischen Theorie des Aristoteles doch eine wesentlich andere als die der griechischen Tragödie.“ 5 Vgl. etwa MÜLLER, Wer ist dieser, 171–175, bes. 171, der aufgrund des zusammenhängenden Geschehensverlaufs (Anfang, Mitte, Ende), der zeitlich-räumlichen Ordnung sowie einer gewissen Variation innerhalb des prinzipiell episodenhaften Erzählstils zu folgendem Ergebnis kommt: „Damit ist die Zugehörigkeit des Evangeliums zur Erzählung [...] gegeben. Dies bedeutet, daß einige grundlegende Merkmale des Erzählens für den Text in Anschlag zu bringen sind.“ Ähnlich LÜCKING, Mimesis, 38. 6 Vgl. zu diesen rezeptionsgeschichtlichen Schwierigkeiten SCHMITT, Poetik, 44–71. 7 Hierzu passt auch, dass Aristoteles die Versform als eindeutiges Merkmal der Poesie verwirft (1451b1–6). „Zur Poesie wird etwas nicht durch die Gestaltung des Mediums, z.B. durch die Versform, sondern durch einen poetischen Inhalt, d.h. durch die Nachahmung von Handlung“ (SCHMITT, Poetik, 196). 8 SCHMITT, Poetik, 552. 9 Das Verständnis des Charakters unterscheidet sich dabei grundlegend von einem neuzeitlich, individuellen Charakterbegriff (vgl. HALLIWELL, Poetics, 149–151; 154–156), insofern Aristoteles von einem allgemeinen menschlichen Vermögen ausgeht, das durch
4.1 Grundzüge einer Poetik der markinischen Christologie
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eigene Leben zu reflektieren.10 Damit der Rezipient einen ebensolchen Einblick in den Charakter einer literarischen Figur bzw. Person erhalten kann, sollte deren Handeln gewissen Gestaltungsprinzipien folgen und ein abgeschlossenes Ganzes bilden. Mit den Begriffen Anfang, Mitte und Ende (1450b21–34) bezeichnet Aristoteles dabei nicht, wie allzu oft vereinfacht ausgelegt wird, ein allgemeines Prinzip der Handlungsdarstellung (was eine überaus triviale Feststellung wäre), sondern er gibt damit Orientierungspunkte, wie das Handeln einer literarischen Figur zu gestalten sei. Damit der Rezipient des Markusevangeliums den Charakter der religiösen und politischen Autoritäten ergründen kann, braucht deren Handeln einen erkennbaren Anfangs- (2,1–3,611) und Endpunkt (Mk 15) und es müssen gerade so viele Ereignisse dazwischen geschildert werden, dass der Rezipient die Motivation hinter ihrem Handeln sowie die allmähliche Verwirklichung des Mordplans nachvollziehen kann.12 Und die „Größe“, d.h. der Umfang muss so beschaffen sein, dass das Handeln
den einzelnen Menschen lediglich unterschiedlich ausgebildet wird und sich letztlich zu einem festen Habitus verdichtet (vgl. Aristot. NE 1103a14–25; 1111b5ff.; 1115a6ff.). 10 Diese Zielsetzung verleitet Aristoteles sogar dazu, dass er eine Ähnlichkeit zwischen der literarischen Figur und dem Zuschauer verlangt (Aristot. poet. 1453a4–12). Worin genau diese Ähnlichkeit bestehen muss und inwieweit diese, wie in der Metaphysik definiert, ein „mehr oder weniger“ umfassen darf (Aristot. metaph. 1054b3–11), bleibt hingegen unbeantwortet. 11 Innerhalb der Exegese ist vielfach diskutiert worden, ob es sich bei diesem Abschnitt um eine markinische Zusammenstellung handelt (so KOCH, Bedeutung, 33f.; WEISS, Vollmacht, 20–31 [zugleich Forschungsüberblick]) oder ob die Streitgespräche weitgehend traditionell sind (so bereits ALBERTZ, Streitgespräche; sowie KUHN, Sammlungen; PESCH, Markus-Evangelium II/1, 149–151 [*2,15–3,6]). In unserem Kontext ist primär entscheidend, dass durch die Bündelung und anfängliche Platzierung die Aufmerksamkeit der Rezipienten auf den sich anbahnenden Konflikt gelenkt wird. Die auffällige Zusammenstellung von Streitgesprächen zu Beginn und in Jerusalem (Kap. 11 u. 12) lässt sich wohl kaum als unbedacht bezeichnen. Markus scheint zwar in der Tat auf ältere Sammlungen zurückzugreifen, aber die einzelnen Episoden oder Szenen werden von ihm a) nach thematischen Gesichtspunkten ausgewählt und b) erzählerisch an den eigenen Handlungsverlauf sowie die angestrebte Figurenkonzeption angepasst. Hierfür spricht, dass sich a) zwischen den Streitgesprächen nahezu keine thematische Wiederholung ergibt, dass sich b) eine eindeutige Handlungsinferenz zwischen dem anfänglichen Streit, dem weiteren Konfliktverlauf und der späteren Verurteilung erkennen lässt (v.a. Vorwurf der Blasphemie [2,7– 14,64]) und sich die Charakterisierung der religiösen Autoritäten als weitgehend konstant bzw. statisch erweist (vgl. Kap. 4.2.2c). 12 Demgegenüber bezeichnet Aristoteles eine Erzählung als episodisch, wenn durch sie nicht ersichtlich wird, warum eine Figur auf eine bestimmte Weise handelt oder wenn das Handeln dieser Figur nicht ihrem Charakter entspricht (vgl. Aristot. poet. 1451b34f. und dazu SCHMITT, Poetik, 375). Der Begriff wird bei Aristoteles aber nicht einheitlich verwendet und kann als terminus technicus zugleich den abgeschlossenen Teil zwischen zwei Chorliedern bezeichnen (1452b20–25).
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
überschaubar und „gut memorierbar“ (eujmnhmovneuton) bleibt (1450b35– 1451a15). Gerade aufgrund dieser Zielbestimmung, hinter den einzelnen Ereignissen den Charakter einer Figur zu erblicken, muss die Dichtung nach Aristoteles von der Historiografie und Biografie (1451b1–11; 1459a17–30) unterschieden werden: die Reihenfolge tatsächlicher Ereignisse oder tatsächlicher biografischer Erlebnisse reicht noch nicht aus, um hieraus auf die spezifische Verfasstheit einer Person zu schließen. Dazu muss der Autor Acht darauf geben, dass sich das, was eine Person tut und sagt, wahrscheinlich und notwendig aus ihrem Charakter ableiten lässt (1454a24–36).13 Deshalb ist die Dichtung laut Aristoteles auch etwas „Philosophischeres und Bedeutenderes als die Geschichtsschreibung“ (1451b5f.). „Aristoteles fordert nicht, dass ein Dichter seine Personen nur Wahrscheinliches oder gar Notwendiges tun lassen solle, [...] was Aristoteles fordert, ist vielmehr, dass alles das, was man eine Person sagen oder tun lässt, als Äußerungsformen einer bestimmten Charakterverfassung verstanden werden kann.“14
Die Dichtung bildet also nicht einfach eine äußere Wirklichkeit ab, sondern sie wählt aus dem Geschehenen aus, arrangiert neu, spitzt zu und ergänzt (fiktive) Ereignisse und Sprechakte. Dies geschieht wiederum mit dem Ziel, die Eigentümlichkeit einer Person hervortreten zu lassen.15 Abweichungen sollte der Dichter nur dort in Kauf nehmen, wo ein besonderer Aufmerksamkeitseffekt erzielt, ein Merkmal der Figur betont werden soll (1460b24) oder überraschende Verhaltensweisen gerade den Rückschluss auf einen unreifen Charakter erlauben (1454a26–28). An dieser Stelle können wir die Darstellung der aristotelischen Dichtungslehre beenden. Aus der Zusammenfassung lassen sich bereits drei wesentliche Aspekte einer Poetik ableiten, die im Zuge dieser Arbeit in den Fokus gerückt werden sollen: (1) In Bezug auf die Form fragt eine Poetik der markinischen Christologie nach den erzählerischen Mitteln, mit deren Hilfe die Identität Jesu Christi inszeniert und für die Rezipienten auf nachvollziehbare Weise präsentiert wird. Während im Fokus der aristotelischen Dichtungslehre v.a. Aspekte der Handlungsdarstellung standen, konzentriert sich die folgende Analyse zunächst auf die formale Gestaltung der Perspektiven (Kap. 4.2). Dem umfas13 Zu den Übersetzungsschwierigkeiten und der Interpretation dieser Textstelle vgl. SCHMITT, Poetik, 377–381 sowie dessen verdeutlichende Übersetzung (381): „Auf Grund des Gesagten ist auch klar, dass nicht die wirklichen Taten [eines Handelnden] darzustellen, Aufgabe des Dichters ist, sondern solche Taten, wie sie sein müssen und die [ihm] möglich sind – der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit nach“ (Hinzufügungen i.O.). 14 SCHMITT, Poetik, 379. 15 Ähnlich bereits LÜCKING, Mimesis, 40–42.
4.1 Grundzüge einer Poetik der markinischen Christologie
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senden Perspektivenverständnis einer heutigen Erzählwissenschaft entsprechend müssen hierbei jedoch durchgängig Aspekte der Figuren– und Handlungsdarstellung einbezogen werden, weil der Standpunkt einer Figur an deren „individuelle“ bzw. literarisch beabsichtigte Beschaffenheit gebunden bleibt und sich erst aus der Verknüpfungsstärke zwischen einzelnen Episoden oder der konkreten Ereignisfolge nachzeichnen lässt, wie der Rezipient einzelne Aussagen zu einer komplexeren Perspektivenvorstellung verbindet. Gerade unter Berufung auf Aristoteles muss festgehalten werden, dass die erzählerische Vermittlung immer zugleich die Frage nach dem konkreten Inhalt aufwirft. Die beiden Fragen, wie der Inhalt durch die erzählerische Vermittlung eine konkrete Gestalt gewinnt („story-as-discoursed“16) und welcher Inhalt sich aus der konkreten Gestalt der erzählerischen Vermittlung ableitet, gehören aufs Engste zusammen. Im Zuge der Perspektivenanalyse – die nacheinander (a.) die Perspektive Gottes; (b.) der Dämonen; (c.) der Autoritäten; (d.) der Jünger; sowie (e.) die Perspektive wichtiger Episodenfiguren; und (f.) den Standpunkt Jesu herausarbeitet – soll zugleich das Augenmerk auf die Kohärenz der Darstellung gerichtet werden. Lassen sich in der markinischen Erzählung klar zu unterscheidende und in sich stimmige bzw. zur jeweiligen Figurenkonzeption passende Standpunkte rekonstruieren? Welche Unstimmigkeiten lassen sich ggf. ausmachen und kann auf der Grundlage des gesamten Perspektivenangebots von einer mehr oder weniger reflektierten Christologie gesprochen werden? (2) Auch im zweiten Analyseteil (Kap. 4.3), der sich auf die Darstellung des markinischen Protagonisten konzentriert, sollen Aspekte der erzählerischen Vermittlung und der inhaltlichen Darstellung aufeinander bezogen werden. Ziel dieser Figurenanalyse ist es nicht, sich auf eine Erklärung bzw. Exegese einzelner Handlungen, Ereignisse oder Perikopen zu konzentrieren, als enthalte eine einzelne Textstelle die gesamte Christologie in nuce. Vielmehr gilt es – mit Aristoteles gesprochen – den „Charakter“ darzulegen, von dem aus sich das Handeln Jesu im Einzelnen ableiten lässt. Allerdings ist der Begriff des „Charakters“, der mit unserer heutigen Vorstellung von einem Charakter als der psychologischen Verfasstheit einer Person kollidiert, zu ersetzen und methodisch zu präzisieren. Wenn Aristoteles unter dem Charakter einer Person nicht einzelne Wahrnehmungen, Emotionen, Meinungen und Verhaltensweisen versteht, sondern eine Verstetigung solcher Personenmerkmale zu einem Habitus (e{xi~), so lässt sich dies methodisch am ehesten mit dem bisher in dieser Arbeit verwendeten Begriff des mentalen Modells fassen und beschreiben. Hierbei wird das mentale Modell,
16
Vgl. CHATMAN, Story, 43 in Anknüpfung an Aristot. poet. 1450a.
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
wie in Kap. 2.3 dargelegt, als Bild begriffen, das der intendierte Rezipient über den Lektüreprozess hinweg von der Person Jesu gewinnt. Dieses Bild lässt sich nicht allein – wie Aristoteles betont – aus dem Verhalten ableiten, sondern letztlich erst aufgrund aller Merkmale, die der Rezipient einer literarischen Figur zuschreiben soll und die er im Lesegedächtnis speichert (vgl. 4.3.1 Figurenmerkmale Jesu). Wie im Zuge der Perspektivenanalyse auf eine Kohärenz der inhaltlichen Standpunkte geachtet wird, so ist im Zuge dieses Analyseteils der Fokus auf den Aspekt der Figurenkonzeption gerichtet und es wird zwischen Haupt- und Nebenmerkmalen bzw. wichtigen und weniger wichtigen Merkmalen Jesu unterschieden. In einem weiteren Analyseabschnitt (4.3.2) wird das mentale Bild, das der Rezipient vom markinischen Protagonisten erhält, dann durch die Relation zu anderen Figuren und externen Figurenvorstellungen konturiert, wobei das Interesse auf der Figur des Johannes-Elia (4.3.2a) und der alttestamentlichen Vorstellung des kommenden Kyrios (4.3.2b) liegt. (3) Schließlich fragt eine Poetik der markinischen Christologie nach der Funktion, die dieser Erzählung im Hinblick auf die Rezipienten zukommt. Auch hier lassen sich Anknüpfungspunkte sowie Differenzen zur aristotelischen Dichtungslehre aufzeigen. Aristoteles erkennt zwar bereits, dass die Rezipienten über die einzelnen Handlungen hinaus nach dem Charakter einer Person fragen, d.h. in das Textgeschehen involviert sind. Er verweist sogar darauf, dass die Rezipienten diese charakterliche Haltung auf ihre Allgemeingültigkeit sowie ihre möglichen Anwendungspotenziale befragen und benennt dazu das nicht weiter präzisierte Kriterium der „Ähnlichkeit“ (1452b29–39; 1455a30–3417). Aber er vermag eben noch nicht die zugrundeliegenden Inferenzprozesse dahinter zu beschreiben und differenziert auch die Anwendungspotenziale nicht weiter aus. Vor dem Hintergrund der bisherigen methodischen Ausführungen ist der genaue Grad der Identifikation hingegen anhand klar definierter Kriterien zu bestimmen. 18 Da die Frage nach der Identifikation mit einzelnen Figuren 17
Wenngleich sich diese letzte Textstelle (Kap. 17) auf den Dichter bezieht und Aristoteles hier die Auffassung vertritt, dass dieser die Gefühle seiner Figur besonders gut darstellen könne, wenn er diese selber kenne, so lässt sich dieser Hinweis sicherlich auch auf die Zuschauer bzw. Rezipienten anwenden (mit SCHMITT, Poetik, 479). Wichtig ist freilich, dass Aristoteles ganz offensichtlich eine partielle Identifikation für das Ideal hält und ihm für das Entstehen der Gefühle des Mitleids und der Furcht eine vollständige Identifikation gerade hinderlich erscheint. Auch in dieser Hinsicht erweist es sich als hilfreich, den Grad der Identifikation möglichst präzise und d.h. graduell zu bestimmen, statt vorschnell von einer Identifikation zu sprechen. 18 Diese Kriterien sind (1) eine hohe Innensicht in die Figur, (2) eine gelegentliche Funktion der Figur als Wahrnehmungszentrum, (3) ein dramatischer Darstellungsmodus,
4.1 Grundzüge einer Poetik der markinischen Christologie
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gerade in der neuesten Markusforschung eine hohe Relevanz hat (JochumBortfeld, Fritzen, Bedenbender, Hübenthal), bieten diese Kriterien m.E. ein hilfreiches Instrumentarium zur Überprüfung bzw. kritischen Reflexion aktueller Funktionsbestimmungen (4.4.1). Gleichzeitig soll in diesem Analyseteil – und im Sinne einer Ergebnisbündelung – die Perspektivische Interaktion (4.4.2), die Identität Jesu, die sich aus dem Zusammenspiel der einzelnen Figurenmerkmale, der Figurenkonzeption und dem Figurenvergleich ergibt (4.4.3) und die Involviertheit des Rezipienten in das Handlungsgeschehen untersucht werden (4.4.4). Kap. 4.4 kommt damit bereits die Aufgabe eines Resümees zu. Zugleich möchte ich hierbei aufzeigen, dass die Christologie als zentraler Kommunikationsgegenstand des ersten Evangeliums zu bezeichnen ist. Mit der erzählerischen Vermittlung, dem Inhalt sowie der Funktion sind die wesentlichen Grundaspekte der nachfolgenden Analyse umrissen.19 Liegt der Schwerpunkt der ersten beiden Analyseteile auf den Perspektiven (4.2) und der Hauptfigur (4.3) und wird bei der Bestimmung der Funktion zugleich auf die Involviertheit des Rezipienten in das Handlungsgeschehen geachtet (4.4.4), so findet hierdurch zugleich das gesamte Spektrum der erzählwissenschaftlichen Methodik (vgl. Kap. 2) eine Anwendung und kann indirekt auf seine Relevanz und Dienlichkeit hin überprüft und reflektiert werden.
(4) häufige Erzählerkommentare und/oder Kommentare anderer Figuren, (5) die Relevanz der Figur für den Handlungsfortschritt, (6) die Komplexität und Offenheit der Figur, (7) eine erkennbare Ähnlichkeit zu Merkmalen des intendierten Rezipienten (z.B. Standpunkt, Gefühle, Äußeres, soziale Verortung). Während die soziale Verortung bei Aristoteles ausschließlich als „Ungleichheit“ zwischen Held und Zuschauer in den Blick gerät, könnte sich die Zugehörigkeit der neutestamentlichen Figuren zu einer unteren sozialen Schicht gerade als identifikationsfördernd erweisen. Man sollte dieses Kriterium aber weder verabsolutieren, noch nivellieren. Letzteres ist etwa der Fall bei LESSING, Hamburgische Dramaturgie, Kap. 14. 19 Eine etwas engere Eingrenzung nimmt Ute Eisen bei ihrer Analyse der Apostelgeschichte vor. Sie gewinnt ihr Verständnis von Poetik aus der für die Erzählwissenschaft klassischen Differenzierung zwischen story und discourse (vgl. hierzu EISEN, Poetik). Der wesentliche Unterschied zur vorliegenden Arbeit besteht – neben dem grundsätzlich anderen Untersuchungsgegenstand – in der zusätzlichen Beachtung funktionaler Aspekte sowie in der Tatsache, dass der Inhalt hier konsequent als kognitive Größe – und damit als Inferenzgeschehen zwischen dem textexternen Wissen der Rezipienten und der textinternen Gestaltung – begriffen wird.
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
4.2 Perspektivische Vermittlung als Inszenierung einer ratio cognoscendi und ratio essendi Die innerexegetische Auseinandersetzung mit einzelnen Figurenperspektiven hat innerhalb der letzten Jahrzehnte zunehmend zu der Erkenntnis geführt, dass das Markusevangelium einem dichterischen Gestaltungswillen unterworfen ist. So ist im Anschluss an Rhoads/Michie20 immer wieder auf die bewusste Zuordnung zwischen bestimmten Hoheitstiteln und einzelnen Perspektiventrägern hingewiesen worden. Während Jesus von Gott oder den Dämonen durchgängig als „mein Sohn“ bzw. „Gottes Sohn“ bezeichnet werde, meide die Hauptfigur ihrerseits diesen Titel und rede von sich primär als „Menschensohn“. Auch der Erzähler beziehe – so das Urteil vieler Exegeten – einen deutlichen Standpunkt, den er bereits im Eröffnungsvers propagiere und an wichtigen Wendepunkten seiner Erzählung wiederhole bzw. durch andere Figuren wie Petrus (Mk 8,29) oder den Hauptmann (15,39) zur Sprache bringe.21 Angesichts der Bedeutung, die der perspektivischen Vermittlung bei der Feststellung einer erzählerischen Kohärenz zugeschrieben wird, erstaunt das geringe Maß an erzählwissenschaftlicher Reflexion. Innerhalb des exegetischen Diskurses lassen sich nahezu keine Bezüge zur heutigen Narratologie erkennen. Neuere Ansätze, die in der Erzählwissenschaft zur Analyse des Perspektiveninhalts (Nünning), der Perspektivenstruktur (Nünning/Nünning), des multiperspektivischen Erzählens (Surkamp) und der Perspektivischen Interaktion (Hartner) formuliert wurden oder die die Figurenperspektiven auf der Grundlage einer literarischen Possible Worlds Theory konzeptualisieren (Ryan, Surkamp), finden bisher so gut wie keine Aufmerksamkeit.22 20
RHOADS/MICHIE, Mark, 43f. und passim. Allerdings lässt sich aus der Anordnung des Erzählstoffs noch kein (direkter) Rückschluss auf den inhaltlichen Standpunkt des Erzählers ziehen. Die Äußerung einzelner Figuren ist in analytischer Hinsicht zunächst von der Erzählerstimme und expliziten Erzählerkommentaren zu unterscheiden. In Kap. 4.2.1 wird sich zeigen, dass sich der christologische Standpunkt des Erzählers gerade durch eine geringe Explizität auszeichnet. Gleichzeitig handelt es sich bei Markus nicht um einen verborgenen Erzähler, weil er immer wieder erklärend und kommentierend in die Erzählung eingreift und die Standpunkte der Figuren sowie deren Verhalten explizit und implizit bewertet. Letztlich ergibt sich der Standpunkt des Erzählers erst aus der Perspektivischen Interaktion der Gesamterzählung. 22 Ähnlich HÜBENTHAL, Markusevangelium, 50, die ihrerseits auf gewinnbringende Weise die Possible Worlds Theory zur Anwendung bringt: vgl. HÜBENTHAL, Markusevangelium, 320–325 (Theorie) u. 326–353 (Anwendung auf 6,7–8,26). Gleichzeitig gilt es aber auch die Grenzen der zugrunde gelegten Terminologie zu beachten: Wird das Reich Gottes als Wunsch- und Pflichtwelt Jesu begriffen, so droht damit gerade der für Markus wichtige, präsentische Charakter der basileiva tou` qeou` aus dem Blick zu geraten (vgl. 1,14f.). Werden die Normen und Werte der religiösen Autoritäten unter der Hand zu Normen und Werten der Text Actual World erklärt, so wird zudem übersehen, dass auch in der 21
4.2 Perspektivische Vermittlung
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Im Folgenden möchte ich zeigen, dass die in Kap. 2 erarbeiteten Instrumentarien der Perspektivenanalyse einen wichtigen Beitrag zur umfassenden Beschreibung der markinischen Perspektivenvermittlung leisten können und dass sich auf dieser Grundlage einige Präzisierungen gegenüber dem aktuellen Diskussionsstand ergeben: (1) Mit Ansgar Nünning gilt es die einzelnen Perspektiven konsequent an die subjektive Wirklichkeitserfahrung literarischer Figuren zu knüpfen. Es ist stärker auf das „Eigenleben“23 der einzelnen Figuren zu achten. Die Perspektiveninhalte sollten nicht voreilig dem Redaktor bzw. Autor des Evangeliums zugeschrieben werden, sondern sie bleiben in der Wahrnehmung der Rezipienten zunächst an die Bedingungen der jeweiligen Perspektiventräger, d.h. ihre sozialer Herkunft, ihre Pflichten und Motivationen etc. gebunden (vgl. 2.2.3). Neben der Perspektive Jesu, der Perspektive Gottes oder der Perspektive der Dämonen gilt es weitere Figurenperspektiven, wie die Perspektive der Autoritäten oder der Bedürftigen herauszuarbeiten. Die folgende Analyse versucht, das „Eigenleben“ der einzelnen Perspektiventräger zu berücksichtigen, indem der explizite Standpunkt des Erzählers (4.2.1) sowie die Standpunkte wichtiger Figuren und Figurengruppen (4.2.2) zunächst je einzeln untersucht werden, ohne dass hierbei die analytischen Aspekte des Modus oder der Fokalisierung außer Acht gelassen würden oder erzählerische Mittel der Aufmerksamkeitslenkung – wie die Informationsverdoppelung oder der Primäreffekt – unbenannt blieben. (2) Der in dieser Arbeit verwendete Perspektivenbegriff macht es erforderlich, die Perspektiven einzelner Figuren nicht vorschnell auf bestimmte Inhalte einzugrenzen. Seit den Anfängen einer erzählwissenschaftlichen Analyse ist immer deutlicher geworden, dass sich die markinische Christologie nicht
erzählten Welt durchaus eine Pluralität ethischer Überzeugungen und Meinungen vorausgesetzt wird. So treten unterschiedliche – und aus der Sicht der Rezipienten unterscheidbare – Gelehrtengruppen auf (Sadduzäer, Pharisäer) und es ist explizit davon die Rede, dass sich die Pharisäer auf ihre väterlichen Satzungen (7,1–13) und damit auf eine spezifische Auslegungstradition berufen. Dass die Pharisäer ihrerseits eine breite Durchsetzung dieser Satzungen anstreben, ist ein anderer Sachverhalt. Gerade hier könnte man von einer Wunsch- und Pflichtwelt sprechen, der sich der Protagonist aufgrund seines eigenen Selbstverständnisses und Weltbildes entzieht. 23 Ein „Eigenleben“ i.e.S. kann es bei der erzählerischen Vermittlung selbstverständlich nicht geben. Es kann aber im Rezeptionsprozess und d.h. aus der Sicht der intendierten Rezipienten zur weitgehenden Ausblendung der vermittelnden Instanz kommen. Der Rezipient lässt sich auf die Illusion der Erzählung ein und nimmt die Figuren in Analogie zu realen Personen wahr, ohne permanent den Aspekt der erzählerischen Vermittlung zu bedenken.
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
allein auf die verwendeten Hoheitstitel24 reduzieren lässt. Wenngleich diesen aufgrund ihrer textexternen, kulturellen Bedeutung eine sehr hohe Relevanz im Rezeptionsprozess zukommt. Will man der äußeren Form der markinischen Erzählung gerecht werden, so gilt es aber, alle Meinungen und Standpunkte einzufangen, die die einzelnen Figuren zur Person Jesu haben und die sich der Rezipient über den Lektüreprozess hinweg erschließen kann und soll. Es ist daher erforderlich, die Sichtweisen der einzelnen Figuren möglichst umfassend – und unter Einbeziehung der wichtigsten Figurenmerkmale – zu beschreiben. Zugleich ist zu berücksichtigen, dass sich Perspektiven über den Erzählverlauf dynamisch weiterentwickeln können. Lässt sich im Hinblick auf einzelne Perspektiventräger von einem kohärenten Standpunkt sprechen? Sind nachvollziehbare Entwicklungen eines Standpunkts erkennbar oder wirken die Standpunkte unzusammenhängend und inkohärent? (3) Durch die enge Verbindung von Perspektiven- und Figurenanalyse gerät eine Vielzahl zusätzlicher Textinformationen in den Blick. Gerade deshalb ist andererseits zu betonen, dass aus kognitiver Sicht keineswegs alle Attribute gleichermaßen im Bewusstsein der Rezipienten bleiben. Daher ist bei der Analyse zu beachten, dass die Rezipienten die Standpunkte einzelner Figuren automatisch zur Sichtweise ganzer Figurengruppen zusammenfassen oder die Perspektive einiger Randfiguren, die auf bestimmte Merkmale oder Handlungsrollen reduziert bleiben, weitgehend ausblenden. Es reicht nicht, die verschiedenen Einzelperspektiven im Zuge der Analyse einfach aufzulisten und nach ihrer Häufigkeit sowie Verteilung zu beurteilen. Vielmehr gilt es, die diversen Mittel der Aufmerksamkeitslenkung, der Hierarchisierung und der indirekten Beurteilung – und letztlich die gesamte Perspektivenstruktur und Perspektivische Interaktion (vgl. Kap. 4.4.2) – über den Erzählverlauf hinweg nachzuzeichnen.
24 In analytischer Hinsicht wenig ergiebig ist es hingegen, alternative Bezeichnungen für den Begriff „Hoheitstitel“ zu verwenden (so z.B. KINGSBURY, Christology, x–xi [technical term]) oder den Begriff des Titels auf andere Bezeichnungen und Attribute auszuweiten (so BROADHEAD, Titular Christology). Dass der markinische Jesus aus Nazareth stammt, ist ein individuelles Figurenmerkmal, aber für sich genommen eben noch kein Titel (gegen BROADHEAD, Titular Christology, 31–42). Umgekehrt handelt es sich bei Sohn Gottes, Menschensohn, Christus oder Sohn Davids – trotz einer gewissen Variationsbreite – um kulturell vorgeprägte Schemata bzw. komplexere Figurenmodelle. Für diese bleibt die Bezeichnung „Titel“ durchaus adäquat und sollte weiterhin verwendet werden.
4.2 Perspektivische Vermittlung
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4.2.1 Die geringe Explizität des Erzählerstandpunktes In eigener Person nämlich soll der Dichter so wenig wie möglich sagen. Dieses [Erklären in eigener Person] macht nicht zum Dichter.25 (Aristot. poet. 1460a8)
Anders als in den „Wir Stücken“ der Apostelgeschichte (Apg 16,10–17; 20,5–15; 21,1–18; 27,1–28,16), den autobiografischen Berichten des Paulus (Gal 1,15–2,14a; 2Kor 2,12f.) oder in Josephus’ Geschichte des Jüdischen Krieges ist der Erzähler des Markusevangeliums an den geschilderten Ereignissen seiner Erzählung nicht beteiligt. An keiner Stelle der Erzählung lässt sich aus Sicht des intendierten Rezipienten darauf schließen, dass der Erzähler mit einer der Figuren identisch wäre oder als unbeteiligter Beobachter zu denken sei.26 Es ist im Hinblick auf die Beteiligung von einem extradiegetischen Er-Erzähler zu sprechen. 25
Übersetzung SCHMITT, Poetik, 35 (Hinzufügung i.O.). Die These, Markus habe sich in der Gethsemane-Episode (14,51f.) – einem Maler der Renaissancezeit vergleichbar – eingetragen (so bereits DIBELIUS, Formgeschichte, 183 u.a.), halte ich schlichtweg für anachronistisch. Hierzu fehlen antike Analogien. Dass der Erzähler von der Flucht eines Jünglings weiß, bedeutet noch nicht, dass man ihn mit dieser Figur identifizieren müsste (gegen SCHENKE, Literarische Eigenart, 328). Es handelt sich schlichtweg um eine (fiktive) Ausgestaltung einer historischen Erzählvorlage. Zwei andere Deutungsmöglichkeiten erscheinen mir diskussionswürdig: a. Engelsgestalt: Der Jüngling könnte in Analogie zu 16,5–8 als Engelsgestalt interpretiert und 14,51f. mithin als erlebte Rede begriffen werden. Dass Engel in der menschlichen Wahrnehmung für junge Männer gehalten werden, ist innerhalb der antiken Literatur ein durchaus gut belegtes Motiv (vgl. 2Makk 3,26.33; Jos. Ant. 5,277; Tob 5,9; Apg 1,10; 10,30). Angesichts der turbulenten Fluchtszene und des abendlichen Settings wirkt eine derartige Verwechslung zudem möglich. Dass ein Engel sein Gewand hergeben muss, bliebe gleichwohl ungewöhnlich. Gegebenenfalls fügt sich dieser provokative Erzählzug aber in die markinische Erzähllogik ein: Bei der vierzigtägigen Versuchung hatten Jesus noch Engel zur Seite gestanden (1,13). In der Passion verzweifelt der Gottessohn hingegen an der erfahrenen Gottesferne. Die Gethsemane-Perikope wäre ein logischer Übergang. Nicht nur die menschlichen Anhänger verlassen Jesus, sondern sogar die himmlischen Mächte; b. emergente Bedeutung: Ebenfalls möglich erscheint es mir, die Flucht als inhaltliche Analogie – wenngleich nicht als intertextuelle Referenz (so SCHENK, Passionsbericht, 211; KLOSTERMANN, Markusevangelium, 153) – zu Am 2,16 zu deuten. In diesem Fall würde v.a. das unmannhafte Verhalten der Jünger unterstrichen. Die Nacktheit betont auch sonst die besondere Notlage eines Menschen (Dtn 28,48; Ez 16,8; vgl. auch Mt 25,34–40). Allerdings bleibt bei diesem Erklärungsversuch unklar, warum der Erzähler das Gewand explizit erwähnt und warum er zur Gruppe der Jünger eine zusätzliche Figur hinzudichtet. Wäre es zu provokativ gewesen, einen der Jünger nackt fliehen zu lassen? Dass es sich um eine historische Person handelt und diese aufgrund ihrer anonymen Darstellung geschützt werden soll (so THEISSEN, Lokalkolorit, 198), halte ich für unwahrscheinlich. Denkbar erscheint auch, dass sich die intendierten Rezipienten mit dem Fliehenden identifizieren sollten und ihre eigenen 26
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
Über die Beteiligung hinaus lässt sich der zeitliche Standpunkt, von dem der markinische Erzähler auf die geschilderten Ereignisse zurückblickt, mit der Situation des Jüdischen Krieges identifizieren. Diese konkrete Situierung ergibt sich aus Sicht des intendierten Rezipienten27 mit dem Ruf zur Wachsamkeit in 13,14. Der Erzähler spricht die Leser unmittelbar auf ihre eigene Situation hin an (s.u.). Der Eindruck einer größeren zeitlichen Distanz leitet sich aber auch daraus ab, dass sich im Kontext der Betanien-Episode (14,3–9) ein deutlicher Hinweis auf die Missionstätigkeit der Gemeinde findet. Diese Situation wird auch mit 13,10 indirekt vorausgesetzt. Der Kommentar in 7,19b lässt erkennen, dass der Erzähler die Gemeinde darin bestärken will, dass sie sich nicht mehr an die alttestamentlichen Speisegebote gebunden fühlt. Im Unterschied zur zeitlichen Distanz lässt sich der räumliche Standpunkt des Erzählers aus Sicht des intendierten Rezipienten kaum aus dem Erzählten ergründen. Die zahlreichen Ungereimtheiten in der markinischen Darstellung der galiläischen Geographie sind den antiken Lesern entweder nicht aufgefallen oder bleiben – wie im Falle von 5,1–20 oder 7,24.31 (vgl. Kap. 4.2.2e) – einem thematischen Interesse untergeordnet. Während im Hinblick auf die Beteiligung also von einem unbeteiligten ErErzähler zu sprechen ist und sich zumindest eine größere zeitliche Distanz zu den Ereignissen erkennen lässt, so bedeutet dies nicht, dass der Erzähler deshalb ungreifbar bliebe. Gerade durch die häufigen Erzählerkommentare erhalten die Rezipienten Informationen über die Herkunft und den Wissensstand der Erzählerfigur. So greift Markus regelmäßig in das Erzählte ein, indem er Aramaismen – wie Boanhrgev~ (3,17; aram. benê reĝesch), taliqa koum (5,41; aram. taljetā/telîtā qûmî), korba`n (7,11; aram. qǒrbān 28 ), effaqa (7,34; aram. petah29) oder Golgoqa` (15,22; aram.: gulgǒltā’) – transkribiert
Fluchterfahrungen und Ängste in die Erzählung eintragen sollten (vgl. 13,14). Allerdings lässt die kurze Szene dies kaum zu. 27 Dass es hierbei zu einer Übereinstimmung zwischen dem zeitlichen Standpunkt des Erzählers und dem wahrscheinlichen Abfassungszeitpunkt des Evangeliums und damit dem zeitlichen Standpunkt des Autors kommt, ist keineswegs selbstverständlich. Dieser Sachverhalt unterstreicht vielmehr, dass im Falle des Markusevangeliums eine strikte Unterscheidung zwischen Erzähler und Autor wenig sinnvoll ist. Markus hat gerade keine eigenständige Erzählerfigur mit einem eigenen raumzeitlichen Standpunkt erschaffen, sondern nimmt als Autor die Funktion des Erzählers wahr. Mit SCHENKE, Markusevangelium (1988), 31; KMIECIK, Menschensohn, 16. Gegen MALBON, Mark’s Jesus, 54.216–217.233–234.258, die an der literaturwissenschaftlich umstrittenen Kategorie des impliziten Autors festhält. 28 Vgl. hierzu bereits die analoge Übersetzung der LXX in Lev 2,1.4.12.13 (jeweils dw`ron). 29 „Mk 7,34 als griech. Wiedergabe des vom aram. Stamm petah gebildeten Imp. Itpeel [...] ‚öffne Dich!‘“ (WOLTER, Art. effaqa, 233).
4.2 Perspektivische Vermittlung
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und übersetzt. Er lässt dadurch seine vorhandenen Sprachfähigkeiten30 erkennen.31 In ähnlicher Weise erklärt der erste Evangelist die jüdische Sitte des Händewaschens (7,3f.), präzisiert und erläutert jeweils eine Orts- (15,16) und eine Zeitangabe (15,42), gibt Auskunft über die theologische Position der Sadduzäer (12,18 32) und verdeutlicht die ethische Relevanz des Handelns Jesu (7,19b).33 Gerade die Häufigkeit solcher Kommentare lässt erkennen, dass sich der Erzähler als Orts- und Kulturkundiger inszenieren will.34 Einen besonders markanten Einschnitt stellt letztlich der bereits erwähnte Erzähler30 Vgl. RÜGER, Art. Aramäisch II, 602–610, und RÜGER, Aramaismen, 73–84, bes. 78f.: „Die große Anzahl lexikalischer Aramaismen im Markusevangelium und die relative Einheitlichkeit ihrer Wiedergabe mit Hilfe des griechischen Alphabets lassen vermuten, daß Markus des Aramäischen mächtig war.“ Aus der Sicht der intendierten Rezipienten, die ja gerade kein Aramäisch beherrschten, erscheint Markus so oder so als sprachlich gewandter Erzähler. Ihnen fehlen die Möglichkeiten, seine wahren Sprachfähigkeiten zu überprüfen. 31 M.E. stellen diese Sprachfähigkeiten noch kein hinreichendes Indiz dafür dar, dass der erste Evangelist auch historisch als Übersetzer anzusehen ist (so HENGEL, Evangelien, 143f.). Viel plausibler erscheint es, dass – gerade umgekehrt – die häufigen Übersetzungen das mentale Bild geprägt haben, dass sich spätere Generationen vom Autor machten. Die Papiasnotiz ist also, wenn man so will, ein wirkungsgeschichtlicher Beleg dafür, wie der Text des Markusevangeliums unter Einfluss anderer textexterner Faktoren ein bestimmtes Autorenbild evozierte. 32 Dass Markus hierbei nicht allein eine Art Landeskunde betreibt, sondern die Bemerkung zugleich eine indirekte Diffamierung der Sadduzäer darstellt, ergibt sich aus dem weiteren Erzählverlauf sowie dem textexternen Vorwissen der Rezipienten (vgl. hierzu 4.2.2e). Ansonsten dienen die Erzählerkommentare zumeist nicht der direkten oder indirekten Vermittlung eines ideologischen Standpunkts, sondern haben einen überwiegend informativen Charakter. So auch PRAMANN, Point of View, 224: „Nicht bestätigt hat sich demzufolge die These, die Erzählerin würde mittels der Kommentare versuchen die Adressatinnen von ihrem eigenen ideologischen Standpunkt zu überzeugen (Eisen, Smith, Vorster). Eine Ausnahme bildet Mk 7,19.“ 33 Demgegenüber bleiben nahezu alle Orts- und Personennamen, zentrale Fest- und Feiertage (Sabbat, Passah), die Anrede Rabbuni und einige weitere Begriffe unübersetzt (dies bemerkt auch MAJOROS-DANOWSKI, Elija, 117f.). Hier lässt sich darauf schließen, dass Markus entweder (1) eine entsprechende Kenntnis bei seinen intendierten Rezipienten voraussetzt, d.h. diese durchaus mit zentralen Aspekten der jüdischen Religion vertraut sind, (2) er die Bedeutung dieser Begriffe für weniger wichtig hält oder (3) er gerade dieses Lokalkolorit gebraucht, um seiner Erzählung einen gewissen Realitätseffekt zu verleihen (während er diese Illusion an wenigen ausgewählten Stellen durchbricht). Option (1) scheint mir die wahrscheinlichste zu sein, weil Markus bei seinen Rezipienten auch gute Kenntnisse der Heiligen Schrift voraussetzt (vgl. dazu 4.2.2a) und auch Hoheitstitel wie Christus, Sohn Gottes, Sohn Davids, Menschensohn ohne jegliche Erklärung einführt. 34 Andere Textstellen lassen sich im Lektüreprozess hingegen nicht eindeutig als Erzählerkommentar erkennen. Hier tritt der Akt des Erzählens (Exegesis) aus der Sicht der Rezipienten nicht so deutlich hervor. Hierzu zählt v.a. die Beurteilung oder Attribuierung einzelner Figuren: 1,22 [Verhalten]; 1,34 [Wissen], 6,52 [Wissen]; 9,6 [Wissen/Wahrnehmung]; 10,22.46 [soziale Verortung/Herkunft]; 12,12 [Motivation]; 15,21 [soziale Verortung].
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
kommentar in 13,14 dar,35 durch den Markus seine Rezipienten bzw. Leser unmittelbar anspricht, um die geschilderten Ereignisse der Endzeitrede Jesu auf die Situation der Rezipienten zu übertragen: „Wer es liest, horche auf!“ Häufen sich damit die Indizien, dass der Erzähler des ersten Evangeliums keineswegs als gänzlich verborgener Erzähler zu bezeichnen ist, so überrascht es umso mehr, dass sich der erste Evangelist im Hinblick auf die Frage nach der Identität Jesu auffallend zurückhält. Während unterschiedliche Figurengruppen immer wieder explizit nach Jesu Identität (4,41; 6,3; 14,61f.; 15,2) sowie seiner Vollmacht und Lehre (1,27) fragen, und sich unter den politischen Autoritäten sowie im Volk verschiedene Sichtweisen etablieren (6,14–16; 8,27f.), bietet der Erzähler auf diese Frage keine umfassende Antwort und greift hier gerade nicht kommentierend ein. Dass bedeutet keineswegs, dass Markus keinen eigenen Standpunkt hat, wohl aber, dass sich dieser erst indirekt aus der Vermittlung der Figurenperspektiven ableiten lässt. Markus bevorzugt das showing gegenüber dem telling bzw. die mivmhsi~ gegenüber der dihvghsi~.36 Diese Zurückhaltung des Erzählers lässt sich daran ablesen, dass es im gesamten Evangelium nur einen einzigen expliziten Erzählerkommentar mit christologischem Inhalt gibt. Gleichzeitig erfolgt dieser Kommentar jedoch zu Beginn der Erzählung (1,1) und erhält dadurch Aufmerksamkeit (= Primäreffekt). Um die Relevanz und Bedeutung des markinischen Einleitungsverses hinreichend zu beschreiben, sind einige der exegetischen Probleme zu diskutieren, mit denen dieser Vers behaftet ist. Für die vorliegende Thematik sind folgende Aspekte von Relevanz: (1) Der Hoheitstitel uiJou` qeou` ist textkritisch unsicher. Verwendet der Erzähler hier in seinem Eingangskommentar den Sohn-Gottes-Titel37 oder ist dieser als sekundär38 anzusehen? 35
Anders Ute Eisen (vgl. EISEN, Metalepsis, 323f.), die die Textstelle als Metalepse versteht. Tatsächlich ergibt sich an dieser Stelle eine gewisse Uneindeutigkeit, die gerade dadurch bedingt ist, dass die Stimme einer Figur bzw. eines Erzählers keine rein textimmanente Größe darstellt, sondern vom Rezipienten erst im Lektüreprozess erschlossen wird (vgl. 2.2.2.b). Gerade weil die Rezipienten den Erzähler bereits zuvor als regelmäßigen Kommentator kennen gelernt haben (s.o.), ist es aber naheliegender, auch in 13,14 die Stimme des Erzählers zu hören. Für die Deutung als Metalepse ließe sich hingegen die unmittelbare Kommunikationssituation anführen (Jesus als Redner). Außerdem weiß der markinische Jesus auch sonst um zukünftige Ereignisse, wobei sich sein Wissen nicht allein auf das eigene Schicksal (8,31; 9,31; 10,33 u.ö.) oder die Endzeit (13; 14,62) bezieht, sondern durchaus auch auf die unmittelbare Situation der Gemeinde (14,9). 36 Vgl. zu diesen Begriffspaaren RABINOWITZ, Art. Showing vs. Telling; BOOTH, Rhetoric, 3–20; CHATMAN, Story, 32, und Plat. rep. 392c–394b (hier mit einer deutlichen Abwertung der mivmhsi~). 37 Vgl. neuerdings WASSERMAN, Son of God, sowie bereits GNILKA, Evangelium II/1, 32.
4.2 Perspektivische Vermittlung
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(2) Mk 1,1 lässt sich im Hinblick auf seine Funktion als Initium, als Titel des Prologs oder als Buchtitel bzw. Zusammenfassung interpretieren.39 Zuweilen wird auch eine Kombination aus mehreren dieser Aspekte vorgeschlagen. Die Funktionsbestimmung ist ihrerseits von der Eingrenzung der Eröffnungswendung abhängig (1,1 vs. 1,1–3).40 (3) Lässt sich die Bezeichnung ÆIhsou` Cristou` bereits im Sinne eines vollwertigen christologischen Hoheitstitels begreifen oder ist diese Formulierung lediglich im Sinne eines einfachen Eigennamens zu interpretieren? Wie wirkt sich dieses Verständnis auf die Erschließung des Erzählerstandpunktes aus? (Ad 1) Die textkritisch viel und kontrovers diskutierte 41 Frage, ob es sich beim Sohn-Gottes-Titel um einen späteren Zusatz handelt oder ob uiJou` qeou` gerade umgekehrt als ursprünglicher Bestandteil des Eröffnungsverses anzusehen ist, kann zunächst nicht allein von der äußeren Bezeugung her geklärt werden. Beide Textvarianten sind in etwa gleich gut bezeugt, wobei die kürzere Lesart zwar durch eine etwas geringere Anzahl an Zeugen belegt wird, diese aber eine – ebenfalls geringfügig – bessere Qualität aufweisen. Hierbei ist v.a. auf den höheren textkritischen Wert des ursprünglichen SinaiticusTextes gegenüber der 1. Korrektur zu verweisen. M.E. sind es aber erst die inneren Kriterien, die für eine nachträgliche Erweiterung von 1,1 sprechen. So lässt sich für eine nachträgliche Streichung des Hoheitstitels kein bewusstes Motiv benennen, sondern es müsste mit einem versehentlichen und zugleich wirkmächtigen Abschreibfehler gerechnet werden. Bruce Metzger und neuerdings Tommy Wasserman versuchen einen solchen Fehler dadurch zu begründen, dass nomina sacra in den Handschriften oftmals abgekürzt wurden und so leicht zu übersehen waren bzw. verwechselt wurden. 42 Hiergegen spricht m.E. ganz eindeutig der textkri38
So z.B. GREEVEN/GÜTING, Textkritik, 41–46; MARCUS, Mark 1–8, 141. Alternative Funktionsbestimmungen, die z.T. in der älteren Forschungsgeschichte eine Rolle gespielt haben, scheinen aktuell keine Relevanz mehr zu spielen (vgl. zur älteren Diskussion CRANFIELD, Gospel, 32f., der insgesamt zehn Interpretationsmöglichkeiten auflistet und seinerseits 1,1 als Lektionshinweis versteht). 40 Vgl. BECKER, Markus-Evangelium, 104–111, hier 110: „Für sich betrachtet, hat Mk 1,1 den formelhaften Charakter einer Bucheröffnung. Im Zusammenhang mit V. 2f. gewinnt Mk 1,1 den Charakter einer Themenangabe und der zeitlichen Eröffnung der Ereignisgeschichte.“ 41 Einen guten Überblick über den älteren Forschungsdiskurs bieten GREEVEN/GÜTING, Textkritik, 41–46. Zur neueren Diskussion und Literatur vgl. ergänzend WASSERMAN, Son of God, 20–50, bes. 20 Anm. 1. 42 METZGER, Textual Commentary, 73; WASSERMAN, Son of God, 45f. Wasserman verweist dabei auf Mt 6,33; Apg 28,31; Kol 2,2; Heb 12,2 und Offb 12,14, wo jedoch nicht der Sohn-Gottes-Titel, sondern qeou`, Cristou` oder der Artikel ausgelassen wird. Außerdem fällt hier im Unterschied zu Mk 1,1 gerade auf, dass es jeweils nur einzelne Hand39
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
tische Befund. 43 Umgekehrt lassen sich für eine nachträgliche Ergänzung gleich mehrere Motive vorschlagen und diskutieren.44 Am plausibelsten erscheint es mir, eine Hinzufügung mit der Rezeption bzw. Edition des Evangeliums zu begründen. Ohne die markinische Christologie voreilig auf den Sohn-Gottes-Begriff reduzieren zu müssen, lässt sich die profilierte Verwendung dieses Hoheitstitels kaum von der Hand weisen. Neben dem kompositorischen Aspekt, d.h. der Verwendung am Anfang (1,11), in der Mitte (9,7) und am Ende des Evangeliums (15,39), kann hier v.a. auf die Zuverlässigkeit der Perspektiventräger (Gott, Dämonen) sowie die überraschende und daher Aufmerksamkeit erweckende Verwendung im Munde des römischen Hauptmanns verwiesen werden. Es spricht m.E. einiges dafür, dass ein aus Sicht der Rezipienten zentraler Inhalt gerade im Zuge späterer Editierungsbemühungen in den Einleitungsvers übernommen wurde.45 Ein zu 1,1 analoges editorisches Interesse lässt sich in 8,29 erkennen, wo das Christusbekenntnis des Petrus ebenfalls von einigen Textzeugen durch die Formulierung oJ uiJo;~ tou` qeou` ergänzt wird.46 Des Weiteren ersetzen *אund 579 in 14,61 oJ uiJo;~ tou` eujloghtou` durch oJ uiJo;~ tou` qeou` und sorgen damit ebenfalls für eine Vereinheitlichung der christologischen Titel.47 (Ad 2) Die These, spätere Editoren hätten den Anfangsvers durch einen zentralen Inhalt der markinischen Erzählung ergänzt, wirft unweigerlich die Frage nach der Funktion von 1,1 auf. Warum sollte man gerade hier eine solche Hinzufügung vornehmen? Zur Funktionsbestimmung von 1,1 wird in der schriften sind, die diese Abweichung bezeugen. Es erscheint kaum möglich, dass sich ein einfacher Abschreibfehler derart weit verbreiten konnte. 43 Überblickt man sämtliche Sohn-Gottes-Belege im Neuen Testament, so lassen sich gerade einmal zwei weitere Auslassungen finden (Lk 8,28; Eph 4,13). Und für diese können durchaus sprachliche (Lk 8,28: Doppelung mit tou` uJyivstou) bzw. theologische (Eph 4,13: ejpignwvsew~ [tou` uiJou`] tou` qeou`) Gründe angeführt werden, so dass gerade nicht von einem Schreibfehler auszugehen ist. Analoges gilt für die drei Ersetzungen in Joh 1,34; 11,4 und Gal 2,20. Ohnehin erscheint es unwahrscheinlich, dass einem Abschreiber eine derart gravierende Auslassung ausgerechnet im ersten Vers des Evangeliums unterlaufen konnte (mit EHRMAN, Corruption, 73). 44 Weitere in Betracht zu ziehende Motivationen sind (1) ein Paralleleinfluss durch andere Überschriften wie Mt 1,1 (so BECKER, Markus-Evangelium, 103f. Anm. 139) und (2) eine theologiegeschichtlich bedingte Notwendigkeit zur Verdeutlichung (so EHRMAN, Corruption, 75.201, der die Hinzufügung als Reaktion auf ein adoptianistisches Missverständnis auffasst). 45 Ähnlich bereits ALKIER, Realität, 90. 46 So bezeugt durch אund L. W ergänzt zusätzlich noch tou` zw`nto~, so dass hier wohl zugleich mit einem Paralleleinfluss durch Mt 16,16 zu rechnen ist. 47 Dass die markinische Christologie durch diese und ähnliche textkritische Bearbeitungen ihrer Differenziertheit beraubt wird und zugleich das erzählerische Geschick des Evangelisten, der bei der Figurenrede um eine realistische Nachahmung bemüht ist, verdeckt wird, sei an dieser Stelle zumindest angemerkt.
4.2 Perspektivische Vermittlung
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Markusforschung zumeist auf Bezeichnungen der antiken oder modernen Literaturtheorie zurückgegriffen. So kann je nach Sichtweise von (i) einem „Initium“ bzw. „Proömium“, (ii) einem Titel des „Prologs“ oder (iii) einem „Buchtitel“ bzw. einer inhaltlichen Zusammenfassung des Buches gesprochen werden. Bei all diesen Klassifizierungen ist zunächst eine gewisse Vorsicht geboten, weil hierdurch allzu schnell eine falsche Abhängigkeit zur antiken Literatur(theorie) oder zu modernen Publikationsverfahren suggeriert wird. Es gilt auch hier beim Vergleich mit antiken Referenztexten die Kriterien der Bezeugungsbreite, Erinnerungsnähe und Parallelität zu beachten (vgl. Kap. 3.2.4) und Beschreibungskategorien, die lediglich dazu dienen, einen Sachverhalt heutigen Lesern verständlich machen, als solche zu markieren. (i) Mk 1,1 als Initium: Beeinflusst durch eine kurze Studie von Gerhard Arnold wird die Eröffnungswendung 1,1 nicht selten im Sinne eines Initiums bzw. Proömiums, d.h. einer selbstreflexiven Auskunft des Autors über die unmittelbar nachfolgenden Handlungsereignisse verstanden:48 „Die ajrchv bezieht sich [...] nicht auf das Ganze der Darstellung, sondern auf deren Beginn allein.“49 Um die Verbreitung eines solchen ‚Initiums‘ zu belegen, kann Arnold auf diverse Eröffnungswendungen aus der griechisch-römischen Literatur verweisen. Diese erstrecken sich zeitlich von Isokrates (4 Jhdt. v. Chr.) bis zum griechischen Alexanderroman (3. Jhdt. n. Chr.). Über diese gute Bezeugungsbreite hinaus, lässt sich durch Belege bei Philo, Tacitus und Josephus50 zugleich eine ausreichende Erinnerungsnähe feststellen. Vergleicht man die Texte sprachlich miteinander, so sticht zudem ein hohes Maß an Parallelität ins Auge.51 Hierzu gehört in den meisten Textbelegen die charakteristische Verwendung des Prädikats a[rcomai (1.Pers. Sg./1. Pers. Pl.).52 Diesem folgt jeweils die inhaltliche oder zeitliche Eingrenzung des folgenden Erzählanfangs, wobei eine Person bzw. Familie, eine Ereignisfolge oder ein Thema fokussiert werden kann. Gerade vor dem Hintergrund einer weitgehend einheitlichen Sprachform fallen jedoch die Unterschiede zu 1,1 auf. So zeichnet sich die Eröffnung des Markusevangeliums gerade durch einen prädikatlosen Satzbau aus, und mit der Person Jesu Christi sowie dem Evangeliumsbegriff werden nicht primär Entitäten der ersten Episode, sondern der Protagonist sowie zwei zentrale 48
Vgl. ARNOLD, Eröffnungswendungen. Ähnlich DORMEYER, Evangelium, 1582. ARNOLD, Eröffnungswendungen, 127. 50 Vgl. Phil. sobr. 1; Mos. 1,5; Tac. hist. 1,1,1; Jos. Bell. 1,30. 51 Es verwundert insofern, dass Arnold seinerseits von einer „reichhaltige[n] und vielgestaltige[n] Topik von Eröffnungswendungen“ (ARNOLD, Eröffnungswendungen, 127) sprechen kann. 52 Nur gelegentlich lässt sich eine leicht abgewandelte Verbkonstruktion feststellen: z.B. poihvsomai th;n ajrch;n (Isok. Philippos 1) oder th;n ajrch;n [...] poiouvmenoi (Griech. Alexanderroman 1,2). 49
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
Themen53 der Gesamterzählung erwähnt. Eine Differenz besteht auch durch den deutlich geringeren Umfang der markinischen Eingangsworte.54 Exkurs: Die syntaktischen und inhaltlichen Bezüge zwischen Mk 1,1 und 1,2f. An dieser Stelle ist in aller Kürze das syntaktische und inhaltliche Verhältnis zwischen 1,1 und 1,2f. zu klären. So zeigt sich in der Exegese häufig der Versuch, über eine sprachliche und logische Verknüpfung zwischen 1,1 und dem anschließenden Μischzitat ein Verständnis der Eröffnungswendung als Initium bzw. Proömium zu rechtfertigen. Das in V 2f. wiedergegebene Zitat wird dabei als Erläuterung von V. 1 und insbesondere der ajrchv verstanden. Die Ereignisse der markinischen Erzählung gründen nach dieser Deutung zum einen im prophetischen Reden Gottes. Zum anderen werde durch den angekündigten Boten, der sich aufgrund der folgenden Erzählung (1,4ff.) mit Johannes dem Täufer identifizieren lasse, ein historischer Anfangspunkt gesetzt: „So dienen 1,1–3 als kurze Einleitung in die mit dem Wirken des Täufers in 1,4 beginnende Darstellung der Ereignisgeschichte.“55 Für diese Interpretation und das zugrundeliegende syntaktische Verhältnis zwischen 1,1 und 1,2f. wird zumeist geltend gemacht, dass die Formulierung kaqw;~ gevgraptai sonst immer der nachträglichen Bestätigung eines vorher beschriebenen Sachverhaltes diene.56 Abgesehen davon, dass sich zu diesem Gebrauch von kaqwv~ durchaus einzelne Ausnahmen finden lassen57 und sich die ungewöhnliche Stellung durch ein bewusst gesetztes
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Die Formulierung eujaggelivou ÆIhsou` Cristou` ist primär im Sinne eines Genitivus obiectivus zu verstehen („Das Evangelium, das Jesus Christus zum zentralen Inhalt hat“). Rein grammatikalisch bestünde zwar die Möglichkeit, den Vers im Sinne eines Genitivus subiectivus bzw. Genitivus auctoris zu übersetzen („Das Evangelium, das von Jesus Christus verkündigt wird“), was sich aber weder aufgrund des textexternen Vorwissens der Rezipienten noch aufgrund des weiteren Lektüreprozesses nahelegt (vgl. hierzu meine Ausführungen unter 4.2.2e). 54 Die engste Parallele zum Markusanfang stellt aufgrund des Umfangs, des Satzbaus und der Formulierung Tac. hist. 1,1,1 dar: „Initium mihi operis Servius Galba iterum Titus Vinius consules erunt.“ Dieser Beleg reicht für sich genommen aber kaum aus, um eine Abhängigkeit des Markusevangeliums ernsthaft diskutieren zu können. 55 BECKER, Markus-Evangelium, 110, die Aspekte einer Buchüberschrift und einer Themenangabe über das Gesamtevangelium erkennt: „Mk 1,1 benennt also den Buchanfang, leitet den zeitlichen Anfang der Ereignisgeschichte ein und benennt eine mit der Verkündigung des eujaggevlion verbundene zentrale Thematik des Markus-Evangeliums.“ 56 „Weder bei den Evangelisten noch sonstwo im NT findet sich ein Beleg dafür, daß ein mit kaqw;~ gevgraptai eingeleitetes Zitat syntaktisch mit dem folgenden Satz verbunden ist. Alle so eingeleiteten Zitate beziehen sich auf den unmittelbar vorhergehenden Kontext“ (ARNOLD, Eröffnungswendung, 123). 57 Neben einer kataphorischen Verwendung in Dan 9,13 (kaqw;~ gevgraptai ejn tw`æ novmwæ Mwush` pavnta ta; kaka; tau`ta h\lqen ejfÆ hJma`~), lässt sich in Röm 8,35–37 und Röm 10,15f. beobachten, wie die Formulierung gerade der Überleitung zwischen zwei Aussagen dient. KLUMBIES, Mythos, 149, verweist zudem auf den Anfang der Metrica des Heron von Alexandria: {Hrwno~ ajrch; tw`n gewmetroumevnwn. Kaqw;~ hJma`~ oJ palaio;~ didavskei lovgo~, oiJ plei`stoi toi`~ peri; th;n gh`n mevtroi~ kai; dianomai`~ ajphscolou`nto, o{qen kai; gewmetriva ejklhvqh.
4.2 Perspektivische Vermittlung
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„Motto“58 erklären könnte, darf die grammatikalische Frage gerade nicht die inhaltlichen Bezüge verdecken. M.E. kommt dem Schriftverweis in V. 2a durchaus eine grammatikalische Überleitungsfunktion zu. Zugleich wird durch die beiden folgenden Zitate (Mal 3,1; Jes 40,3) eine Identifikation zwischen dem erwähnten Boten und der Figur des Täufers angebahnt (V. 4). Aber weder V. 1 noch V. 2f. machen den Täufer damit zum eigentlichen Subjekt oder richten den Fokus primär auf ihn.59 Vielmehr ist es gerade das Charakteristikum des abgewandelten Maleachizitats, dass der in V. 1 genannte Jesus Christus nun von Gott unmittelbar angesprochen wird (vgl. 4.2.2a): Siehe, ich sende meinen Boten vor Dir her! „Die christologische Akzentuierung durch dieses Mischzitat ist überdeutlich.“60 Der mit Johannes zu identifizierende Bote bzw. Prediger in der Wüste, wiederholt lediglich den Ruf Gottes, kann aber nicht als Hauptfigur eines Initiums verstanden werden.61
(ii) Mk 1,1 als Titel des Prologs: Durch einen Rückbezug auf die antike Dramentheorie kann im Hinblick auf 1,1 auch von einem Titel des Prologs gesprochen werden.62 Hierbei fällt auf, dass diese Bezeichnung des Erzählanfangs seit ihrer Einführung, aber auch in der neueren Literatur zumeist nicht konsequent in einem literaturtheoretischen Sinn gebraucht wird. Aus diesem Grund hat sich neben den eigentlichen Begriff des Prologs eine ganze Bandbreite an Synonymen gesellt. So ist zuweilen die Rede vom „Vorspann“63, von einer „Ouvertüre“64 oder – bezogen auf 1,1 vom „Prolog im Prolog“65. Die gemeinsame Intention hinter diesen Bezeichnungen ist, 1,1 in den engeren Kontext von 1,1–13 bzw. 1,1–15 zu stellen und damit wiederum von der übrigen Erzählung des Markusevangeliums abzugrenzen. Der Erzählanfang wird damit im Sinne der von Aristoteles getroffenen Minimaldefinition des
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So z.B. SCHENKE, Literarische Eigenart, 45: „Ein Beginn mit kaqwv~ ist aber dann völlig in Ordnung, wenn der Autor Gründe hatte, so anzufangen, wenn er etwa das Schriftwort wie ein Motto an den Anfang stellen wollte.“ Allerdings stellt sich hierbei die Frage, wie die Rezipienten eine solche Abweichung vom gewöhnlichen Sprachgebrauch erkennen konnten. Um einen Text gegen die eigene Sprachgewohnheit zu lesen, bedarf es eines eindeutigeren Signals. 59 Ähnlich bereits WEDER, Evangelium, 47f. 60 WEDER, Evangelium, 48. Unverständlich ist mir hingegen, wie Johannes MajorosDanowski an dieser Stelle zu einer Identifikation zwischen Elia, Johannes und Jesus kommen kann. Vgl. MAJOROS-DANOWSKI., Elija, 141: „Für den Verfasser ‚sind‘ Johannes und Jesus auf bestimmte Art und Weise Elija.“ 61 Gerade hier erscheint es lohnenswert, den Vergleich zwischen antiken Bucheröffnungen nicht allein auf sprachliche Beobachtungen zu reduzieren, sondern erzählwissenschaftliche Aspekte – wie die Figurenkonzeption – einzubeziehen. Ohne an dieser Stelle eine detaillierte Analyse durchführen zu können, erscheinen mir bereits bei oberflächlicher Betrachtung die Unterschiede zwischen der Darstellung des Johannes und einer Figur wie Xerxes (Diod. hist. 11,1,1) eindeutig zu sein. 62 So z.B. DORMEYER, Markusevangelium, 22. 63 HÜBENTHAL, Markusevangelium, 168 [Mk 1,1–13]. 64 FRITZEN, Gott, 13. 65 FENEBERG, Markusprolog, 195.
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
Prologs (vgl. Aristot. poet. 1425b2066) verstanden. Abgesehen davon, dass sich diese aristotelische Definition jedoch auf die historische Form der Tragödie des 5. Jahrhunderts bezieht und man daher kaum eine entsprechende Kenntnis bei Markus voraussetzen darf, müssen erneut die Unterschiede wahrgenommen werden: Zum einen endet die Parallelisierung zwischen Johannes dem Täufer und Jesus nicht mit 1,14, sondern wird über den weiteren Erzählverlauf fortgeführt.67 Johannes bleibt eine wichtige Parallel- bzw. Kontrastfigur. Zum anderen wird auch der Evangeliumsbegriff aus 1,1 und 1,15 aufgegriffen und durch die explizite sowie implizite Schilderung von der Verbreitung der Kunde Jesu fortgesetzt (1,28; 3,7; 3,21; 5,27; 6,14; 6,54f.; 7,25; 10,1; 10,47; 12,37; 15,31f.; 15,43).68 Nimmt man 1,2f. als Bestandteil des Eröffnungsverses wahr (s.o.), so ergibt sich über die Wegmetaphorik ein weiterer Bezugspunkt zum Gesamttext.69 Umgekehrt lässt sich weder im Hinblick auf 1,13 noch 1,15 von einem harten cut sprechen. Mit dem Abtreten des Täufers und dem Raumwechsel von der Wüste nach Galiläa ist zwar ein Einschnitt zu bemerken, gleichzeitig dient die Schilderung des Täuferschicksals sowie der Verweis auf die Evangeliumsverkündigung Jesu jedoch gerade dazu, das Bisherige mit dem Folgenden zu verknüpfen. 1,14f. lässt sich in dieser Hinsicht als Schanierstück bezeichnen. Aus den genannten Gründen greift es zu kurz, 1,1 lediglich als Überschrift des Prologs zu begreifen und diesen vom Rest der Erzählung abzugrenzen. (iii) Mk 1,1 als Buchtitel oder inhaltliche Zusammenfassung: Durch die in (i) und (ii) festgehaltenen inhaltlichen Bezüge zwischen 1,1 und dem Gesamttext legt sich eine weitere Funktionsbestimmung nahe, die die Eröffnung des Markusevangeliums entweder im Sinne eines Buchtitels oder als inhaltliche Zusammenfassung70 begreift. Für einen solchen Bezug zum Gesamttext lässt 66
Vgl. SCHMITT, Poetik, 434: „Den Prolog umgrenzt Aristoteles lediglich dadurch, dass er der párodos (Einzug des Chors) als ein in sich geschlossener Teil vorausgeht.“ 67 Dieser Sachverhalt wird – bei allen Differenzen im Detail – durch die Kap. 3 präsentierten Studien zur Figur des Elia belegt und kann heute als weitgehend unstrittig gelten (vgl. 3.2.3). 68 Hierher gehört auch die Beobachtung, dass Jesu Lehre und Verkündigung an neuen Orten immer wieder mit dem Begriff des „Anfangens“ (h[rxato) konstruiert wird (vgl. 4,1 [am See]; 6,2 [Nazareth]; 6,7 [Aussendung]; 6,34 [einsame Stätte]; 8,31 [nahe Cäsarea Philippi]; 10,32 [Weg nach Jerusalem]; 12,1 [Jerusalem]; 13,5 [Ölberg]). Nicht die historische Erscheinung des Täufers soll als Anfang des Evangeliums betrachtet werden, sondern Jesu Wirken ist als ebendieser Anfang des Evangeliums zu begreifen. 69 Vgl. zum Weg als Kohärenzsignal ECKSTEIN, Glaube und Sehen, 93; ECKSTEIN, Markusevangelium, 231; MAJOROS-DANOWSKI, Elija, 137–139 und dazu 8,27; 9,33f.; 10,17.32.46.52. 70 So z.B. HAENCHEN, Weg, 39 („Inhaltsangabe für das Ganze“); GIBLIN, Beginning, 984f., und besonders pointiert GNILKA, Evangelium II/1, 42f.: „Vers 1 ist darum Zusam-
4.2 Perspektivische Vermittlung
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sich v.a. geltend machen, dass die erzählte Zeit des Markusevangeliums das irdische Wirken Jesu bis hin zu seinem Tod und seiner Auferstehung umfasst und damit präzise der „Anfang“ des Evangeliums Jesu Christi erzählt wird. Die kirchliche Verbreitung des Evangeliums wird demgegenüber zwar erzählerisch vorausgesetzt und angedeutet (13,10; 14,9), aber gerade nicht mehr entfaltet.71 Wenngleich die Eröffnungswendung somit inhaltlich und funktional auf das Textganze zu beziehen ist, bleibt deren Bezeichnung als Buchtitel oder Zusammenfassung problematisch. Anders als ein heutiger Titel auf dem Buchcover oder eine graphisch hervorgehobene Überschrift gibt sich 1,1 gerade nicht als „ein eigenständiger Text über den Text: ein Metatext“72 zu erkennen. Durch eine solche Beschreibung werden die oben skizzierten Schwierigkeiten der Abgrenzung allzu schnell übergangen. Zum anderen ist ein Verständnis von 1,1 als Überschrift auch deshalb schwierig, weil der Vers keine auffälligen Parallelen zu anderen antiken Bucheröffnungen aufweist. Der prädikatlose Satzbau reicht für sich genommen kaum aus,73 um einen intendierten Bezug zu biblischen Buchanfängen (Spr 1,1; Hld 1,1; Pred 1,1) plausibel zu machen. Es spricht zumindest wenig dafür, dass Markus derartige intertextuelle Bezüge reflektiert hat. Die Form scheint relativ frei gewählt zu sein. Als inhaltliche Zusammenfassung wäre 1,1 hingegen überbewertet. Denn ebenso wie der Titel „Die Buddenbrooks“ oder „Der Zauberberg“ umreißen auch die Worte „ajrcη; tou` eujaggelivou ÆIhsou` Cristou`“ nur sehr grob den folgenden Erzählinhalt. Letztlich wird erst vom Erzählende her deutlich werden, welche Ereignisse Markus genau unter dem Begriff der ajρchv zusammenfasst,74 wie das Evangelium inhaltlich zu füllen ist und welche detaillierten Vorstellungen er von seinem Protagonisten Jesus Christus hat. Der erzähmenfassung des gesamten Werkes, nicht Überschrift des Buches, sondern Benennung seines Inhalts.“ 71 Dass man bereits in einem sehr frühen Rezeptionsstadium ajrchv in ebendieser Weise verstanden hat, lässt sich sodann anhand des lukanischen Doppelwerks aufzeigen. So bezieht sich das prw`ton lovgon nach Selbstauskunft (Apg 1,1) des Lukas ebenfalls auf jene Zeitspanne, die das irdische Wirken Jesu umfasst: To;n me;n prw`ton lovgon ejpoihsavmhn peri; pavntwn, w\ Qeovfile, w|n h[rxato oJ ÆIhsou`~ poiei`n te kai; didavskein, a[cri h|~ hJmevra~ ejnteilavmeno~ toi`~ ajpostovloi~ dia; pneuvmato~ aJgivou ou}~ ejxelevxato ajnelhvmfqh. 72 SCHENKE, Literarische Eigenart, 43. 73 Gegen GNILKA, Evangelium II/1, 42; SCHENKE, Literarische Eigenart, 43. 74 Hierbei ist von einer überraschenden Minimalbestimmung der ajρchv zu sprechen, weil Markus jegliche Erscheinungsberichte auslässt und die Erzählung mit 16,8 abrupt endet. Berücksichtigt man, dass der Erscheinungsgedanke zum festen Bestandteil frühchristlicher Bekenntnisformeln und Erzähltraditionen gehört (vgl. Lk 24,34; 1Kor 15,5: kai; o{ti w[fqh Sivmwni/Khfa`æ ei`ta toi`~ dwvdeka), so lässt sich vermuten, dass die Rezipienten nicht mit diesem Erzählende rechnen konnten. Auch die Voraussagen Jesu führen dazu, dass der Rezipient ein anderes Ende erwartet (vgl. v.a. 14,28).
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
lerische Standpunkt des Autors umfasst mithin mehr als ein einziges Schlagwort. Hierauf gilt es insbesondere deshalb hinzuweisen, weil innerhalb der Markusforschung – nicht zuletzt auf Grundlage des ohnehin textkritisch unsicheren Sohnestitels (s.o.) – immer wieder voreilig und reduktionistisch von einer Sohn-Gottes-Christologie gesprochen wird: „Von Anfang an und bereits durch den Buchtitel wird der Leser also darüber informiert, dass Jesus der ‚Sohn Gottes‘ ist. [...] Der Buchtitel gewährleistet, dass der Leser schon weiß, wer Jesus Christus wirklich ist, noch bevor er mit dem Lesen des Textes beginnt.“75
Eine solche Zusammenfassung, wie hier von Ludger Schenke formuliert, würde jegliche Erzählanalyse überflüssig machen. Demgegenüber sollen im Folgenden die Differenziertheit der markinischen Perspektivenvermittlung, die Evokation emergenter Sinngehalte und die Komplexität des markinischen Erzählerstandpunktes herausgearbeitet werden.76 Zuvor muss jedoch noch die Bedeutung des Personennamens „Jesus Christus“ in 1,1 geklärt werden. Welche Rückschlüsse auf den inhaltlichen Standpunkt des Erzählers ermöglicht diese anfängliche Bezeichnung? (Ad 3) Dass der Protagonist der markinischen Erzählung in 1,1 mit dem Eigennamen Jesus Christus präsentiert wird, hat die Exegese immer wieder vor eine gewisse Erklärungsnot gestellt. Wenngleich dieser Name hier mit scheinbar großer Selbstverständlichkeit und ohne weitere Erklärung eingeführt wird, was einen Rückschluss auf entsprechende Kenntnisse der Rezipienten zulässt, taucht die Bezeichnung nur hier in einer onomatischen Verwendungsform auf. Im Unterschied dazu werden Petrus (8,29)77 und der Hohepriester den Begriff titular verwenden. Petrus bekennt sich mit diesem Titel zu Jesus und der Hohepriester greift diese Bezeichnung in seiner „fragenden Anklage“ auf: „Bist Du der Christus, der Sohn des Hochgelobten?“ (14,61) Lässt sich in der Stimme des Erzählers demzufolge eine vergleichsweise stärkere Zurückhaltung erkennen? Verwendet er Jesus Christus lediglich im Sinne eines Eigennamens? Gegen eine solche Unterbestimmung von Jesus Christus spricht m.E. der neutestamentliche und auch frühkirchliche Sprachgebrauch. Denn es zeigt sich, dass selbst dort, wo die Bezeichnung Christus vordergründig als Name verwendet wird, durchaus zugleich eine titulare Bedeutung vorauszusetzen ist. 78 Zum anderen darf die Christusbezeichnung auch deshalb nicht unterschätzt werden, weil ihr eine hohe Relevanz inner75
SCHENKE, Literarische Eigenart, 44. Ähnlich RHOADS/DEWEY/MICHIE, Mark, 104. 77 Anders MÜLLER, Absicht, 171, der betont, dass dieser christliche Titel offen sei. 78 Vgl. hierfür die ausführliche Studie von KARRER, Der Gesalbte, 48–80 und HAHN, Art. Cristov~, 1154: „Nur 1,1 begegnet ÆIhsou`~ Cr., [...] ohne daß die titulare Funktion preisgegeben wäre.“ 76
4.2 Perspektivische Vermittlung
221
halb der frühchristlichen Bekenntnissprache – insbesondere im Kontext kreuzestheologischer Reflexionen79 – zuzuschreiben ist. Gerade über diese spezifisch christliche Begriffsfüllung ergibt sich ein wesentlicher Unterschied zur allgemeinen frühjüdischen Messiasvorstellung. Denn, dass dem Leiden und Sterben des Messias eine Heilsbedeutung zuzuschreiben sei, ist im Judentum des 1. Jhdts. noch nicht belegt und so wohl auch noch nicht zu denken.80 Im Ergebnis sollte man die Formulierung in 1,1 keineswegs unterbewerten. Durch sie wird Jesus nicht nur bezüglich seines Eigennamens vorgestellt. Zugleich werden durch die inhaltliche Variationsbreite und die Differenzen zum frühjüdischen Sprachgebrauch Interpretationsspielräume eröffnet, die durch die nachfolgende Erzählung gefüllt werden können und – wie sich im Zuge der Analyse zeigen wird – von Markus gefüllt werden. Der Autor weckt mit dem Christustitel also Interesse bei seinen Rezipienten. Wie wird die Vorstellung von Jesus als (dem) Christus erzählerisch gefüllt werden? Verweist der Begriff bereits auf das Leiden Jesu oder wird hierdurch – in Analogie zum frühjüdischen Sprachgebrauch – eher auf die königliche Hoheit Jesu verwiesen? Verbinden sich die unterschiedlichen Vorstellungskomplexe miteinander oder bleiben sie getrennt? Welche Perspektiventräger übernehmen welche Sichtweise? Fassen wir die einzelnen Analysen zu 1,1 zusammen, so lässt sich erkennen, dass der einzige explizite Kommentar mit christologischem Inhalt ungeeignet ist, den Standpunkt des Erzählers hinreichend zu bestimmen. Die Bezeichnung Sohn Gottes stammt, so das Ergebnis der Textkritik, nicht von 79
So auch HAHN, Art. Cristov~, 1165: „[Es] läßt sich feststellen, daß die Bezeichnung schon sehr früh in der Bekenntnistradition fest verankert ist. [...] Entscheidend ist, dass der Cr. gestorben ist [...].“ Vgl. hierzu – neben dem hoheitschristologischen Verständnis des Christustitels in 1Kor 8,6, d.h. der binitarischen Entfaltung des Schema Jisrael – den breit bezeugten Gebrauch von „(Jesus) Christus“ innerhalb folgender, vielfältiger Traditionen: Selbsthingabe Christi (Gal 1,3–4; 1Tim 2,5f.; Eph 5,2.25f.), Motiv der Vorbildlichkeit Jesu Christi (Röm 15,1–3.7; 1Kor 8,11; 2Kor 8,9; Gal 6,1f.; Phil 2,5–11; Offb 1,5; vgl. auch Heb 12,2), Sklavenerlösung (Gal 3,13 [ejxagoravzw]); Erlösung gemäß der Erlösung Israels aus der Sklaverei (Röm 3,24; Eph 1,3–7; Heb 9,14f. [ajpoluvtrwsi~]); Christus als Lamm (1Kor 5,7; Apg 8,32.35; 1Petr 1,19; Offb 5,6–14 [Lamm! – nicht Widder]; auch Joh 1,29.36 u.ö.); Christus der „selig, süße Tausch“ (2Kor 5,20f.; 8,9; Gal 3,13); Christi stellvertretendes Leiden und Sterben nach Jes 52,13–53,12 (Röm 4,25; 1Kor 15,3 u.ö.); Christus als Sühnemal (Röm 3,25 u.ö.) und Christus als Hoherpriester (Heb 2,17; 3,1; 4,14; 5,1–10; 6,20; 7,1–10,18; 10,21). Greifbar wird die überaus hohe Bedeutung des Christustitels dann aber auch durch die – wohl erstmals in Antiochien auftauchende – Fremdbezeichnung der Jesusgläubigen als Cristianoiv (vgl. Apg 11,26; 26,28; 1Petr 4,16; und die Belege bei Ign (Eph 11,2; Magn 4; Rom 3,2; Pol 7,3). 80 Im Judentum des 1. Jhdt. kann mit dem Leiden und dem Tod des Messias nur insofern gerechnet werden, als es sich bei ihm um einen irdischen Herrscher handelt. Eine eigentliche Heilsbedeutung wird diesem Tod nicht zugeschrieben (mit HAHN, Art. Cristov~, 1150–1153). Vgl. weiterführend die Analyse zu Mk 8,29ff. in Kap. 4.2.2d.
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
Markus, sondern ist sekundär. Markus benennt durch die Begriffe „Evangelium“ und „Jesus Christus“ die zentralen Inhalte der nachfolgenden Erzählung, wobei 1,1 funktional und inhaltlich am ehesten als „Quasi-Buchtitel“ zu bezeichnen ist. Als solcher bietet er noch keine inhaltliche Zusammenfassung des Erzählten. Vielmehr wird der traditionsgeschichtlich vorgeprägte und im Urchristentum primär kreuzestheologisch gefüllte Christustitel benutzt, um bei den Rezipienten ein Interesse dafür zu wecken, welche Vorstellungen im Folgenden an Jesus herangetragen werden und wie sich der Erzähler zu den verschiedenen Sichtweisen positionieren wird. 4.2.2 Einzelne Figurenperspektiven Da der markinische Erzähler abgesehen von 1,1 keinen einzigen expliziten Kommentar über die Person Jesu verliert und sich auch der Eröffnungsvers keineswegs als zusammenfassende Inhaltsangabe bezeichnen lässt, soll der Fokus im Folgenden auf dem perspektivischen Standpunkt der einzelnen Figuren liegen.81 Wie werden die einzelnen Perspektiven von Markus ausgestaltet und welcher Grad an Kohärenz und damit literarischer Reflexion lässt sich erkennen? Auf der Grundlage einer ersten kursorischen Lektüre scheint der Umfang des gesamten Perspektivenangebots sehr groß zu sein. Dies ist vor allem bedingt durch den überwiegend episodenhaften Erzählstil des Markusevangeliums. In nahezu jeder Episode treten neue Figuren mit je eigener Sichtweise auf. Aus kognitiv-narratologischer Sicht muss dieser Ersteindruck jedoch relativiert werden. Die Rezipienten ordnen die diversen Einzelfiguren sowie deren Standpunkte unweigerlich zur Meinung übergeordneter Figurengruppen zusammen. So verschwimmt die Sichtweise der unreinen und bösen Geister über den Lektüreprozess hinweg ebenso wie die Perspektive der meisten „Bedürftigen“ (s. 4.2.2e). Zahlreiche Figuren übernehmen zudem ausschließlich die Funktion einer Hilfs- (5,17 Schweinebauern) oder Randfigur (z.B. Gäste in 6,21.26), d.h. sie erwecken beim Rezipienten eine viel zu geringe Aufmerksamkeit, als dass ihnen eine individuelle Perspektive zuzuschreiben wäre. Im Folgenden sollen ausschließlich die Perspektiven wichtiger Figuren und Figurengruppen untersucht werden,82 die sich der Rezipient erschließen und merken kann. 81
Gelegentlich wird auch auf die Stimme des Erzählers zurückzuverweisen sein, weil Markus die diversen Perspektiven seiner Erzählung immer wieder auf subtile Weise relationiert, beurteilt und hierarchisiert. Eine ausführliche Analyse der Perspektivischen Interaktion erfolgt sodann in Kap. 4.4.2. 82 Eine weitere Perspektive, die sich als solche klar identifizieren lässt und größere Aufmerksamkeit erhält, ist die Perspektive des Johannes (1,7f.). Da sich der christologische Standpunkt des Johannes allerdings nur aus dieser einzelnen Textstelle erheben lässt, wird er hier nicht eigens analysiert. Vgl. aber Kap. 4.3.2a und dort v.a. den Exkurs zu 1,7f.
4.2 Perspektivische Vermittlung a. b. c. d. e. f.
223
Die Perspektive Gottes Die Perspektive der Dämonen Die Perspektive der religiösen und politischen Autoritäten Die Perspektive der Jünger Die Perspektive wichtiger Episodenfiguren und Figurengruppen Die Perspektive Jesu
a. Die Perspektive Gottes: 83 Im Methodenteil dieser Arbeit wurde auf die enge Bindung zwischen dem Standpunkt einer literarischen Figur und ihrer subjektiven Wirklichkeitserfahrung hingewiesen (vgl. 2.2.3). Die Perspektive einer Figur lässt sich nie abstrakt und textimmanent ermitteln, sondern erschließt sich erst unter Einbeziehung des umfassenden Figurenmodells. Es gilt, neben den explizit geäußerten Meinungen, auch das Verhalten, das Wissen, die Wahrnehmung, den Charakter und andere Merkmale einzubeziehen.84 Doch muss ein derart anthropomorph gefasster Perspektivenbegriff nicht bereits an der Figur Gottes scheitern? Wie sollte der Wissensstand, die Wahrnehmung oder der Charakter Gottes aus der Erzählung erhoben werden? Tatsächlich scheint die Deutung und Analyse der markinischen Gottesfigur zunächst dadurch erschwert zu sein, dass der Erzähler keinen direkten Einblick in die Figur Gottes gewährt. Die Figur Gottes bleibt konsequent extern fokalisiert und fungiert nirgendwo als Wahrnehmungszentrum.85 Allerdings kann diese Art der Perspektivierung, bei der man der Figur gewissermaßen vor den Kopf schaut, auch auf andere Figuren zutreffen. Dass eine Figur extern fokalisiert ist, ist noch nicht gleichbedeutend damit, dass die Rezipienten ihr vollkommen ratlos gegenüberstehen. Vielmehr bleibt den intendierten Lesern trotzdem die Möglichkeit, einzelne Figurenmerkmale über ihr textexternes Wissen sowie die implizite Charakterisierung zu erschließen und auf die geäußerten Meinungen und das Verhalten zu beziehen. Dies trifft auch 83
Vgl. zur Charakterisierung Gottes v.a. DANOVE, God. MALBON, Mark’s Jesus, 75– 79, analysiert allein Gottes Aussagen, aber nicht das Verhalten Gottes oder andere Figurenmerkmale. 84 Gerade hierin liegt der Mehrwert einer kognitiv-narratologischen Exegese und zugleich ein erkennbarer Unterschied zum Ansatz eines rein textimmanent ausgerichteten Narrative Criticism; vgl. beispielhaft MALBON, Mark’s Jesus, 79 Anm. 63: „I am following the verbal cues of Mark’s narrative strictly here.“ Selbstverständlich zeigt sich, dass auch in der älteren Exegese solche Figurenmerkmale berücksichtigt wurden. Allerdings erfolgt die Analyse hier noch nicht systematisch. 85 Dass ein biblischer Autor bzw. Erzähler vorgibt, einen Einblick in die Gemütslage oder den Abwägungsprozess Gottes zu haben oder aus der Perspektive Gottes heraus erzählt, kommt prinzipiell selten vor (vgl. Gen 6,6; 8,21f.; Jer 18,8; 26,19). Einen „allwissenden Erzähler“ im eigentlichen Sinne gibt es in der biblischen Literatur nicht, weil immer nur „von“ Gott, nicht aber „über“ Gott erzählt werden kann. Man kann an dieser Stelle durchaus Bezüge zu Rudolf Bultmanns Rede von Gott als der „alles bestimmenden Wirklichkeit“ ziehen (BULTMANN, Sinn, 26–37, hier 26).
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
auf die markinische Figur Gottes zu, weil ihr die Rezipienten aufgrund ihres kulturellen Wissens sehr wohl Eigenschaften wie Zuverlässigkeit oder Allwissenheit zuschreiben (s.u.). Zugleich können sie das Schicksal Jesu über den Lektüreprozess auf Gottes Verhalten bzw. Wirken zurückführen, weil sie immer wieder durch direkte oder verdeckte Schriftzitate sowie durch implizite (2,20) und explizite Prolepsen auf den scheinbar unabänderlichen Ratschluss Gottes verwiesen werden, der dem Todesbeschluss der Autoritäten vorausgeht und seinerseits die Auferstehung Jesu zum eigentlichen Ziel hat. Betrachten wir die zentralen Stellen, an denen sich Gottes Stimme artikuliert und in denen sich Gottes Standpunkt aus seinem Verhalten ableiten lässt im Detail: In direktem Anschluss an die Eröffnungsworte in 1,1 äußert sich Gott erstmals durch ein Prophetenzitat (1,2f.). Dass der Rezipient in diesem Schriftzitat die Stimme Gottes vernehmen kann und soll,86 leitet sich zunächst aus seinem Schriftverständnis, d.h. aber aus seinem textexternen Wissen ab. Während es aus heutiger Sicht eher verwundern mag, dass das Zitat in 1,2a auf den Propheten Jesaja bezogen wird, obwohl es sich bei näherer Betrachtung als ein Mischzitat aus Mal 3,1, Ex 23,20 und Jes 40,3 erweist, dürfte dieser Sachverhalt die intendierten Rezipienten gerade nicht gestört haben.87 Vielmehr ist die Kombination mehrerer Zitate im Frühjudentum und Urchristentum üblich88 und entspricht bereits einer späteren, innerhalb des Rabbinentums reflektierten Schriftauslegungstechnik.89 So lässt sich die in 1,2f. anzutreffende Zitatkombination mit dem von Hillel als „gleiche Verordnung“ bezeichneten Analogieschluss ins Gespräch bringen.90 Hinter der Kombina86
M.E. ist es keineswegs so, dass die Rezipienten zwangsläufig in jedem Schriftzitat Gottes Stimme (gleichermaßen) vernehmen können und sollen. Wenngleich die Inspiriertheit der Heiligen Schriften im Urchristentum weitgehend anerkannt war – und deshalb im Neuen Testament einzig in zwei späteren, für die griechisch-hellenistische Umwelt zurüstenden Schriften reflektiert wird (vgl. 2Tim 3,16f.; 2Petr 1,20f. und dazu ECKSTEIN, Kanonhermeneutik) –, so besteht trotzdem ein qualitativer Unterschied zwischen bloßen Schriftverweisen und einer Inszenierung solcher Schriftzitate als Äußerungen Gottes. Anders MALBON, Mark’s Jesus, 79 Anm. 63, die eine Untersuchung von 1,2f. explizit unterlässt, weil sonst alle Schriftzitate Gott zuzuschreiben seien. 87 Vgl. allein im Markusevangelium 1,1 [Ps 2,7 u. Jes 42,1a]; 10,6–8 [Gen 1,27 u. 2,24]; 11,17 [Jes 56,7 u. Jer 7,11]; 13,24f. [Jes 13,10 u. Jes 34,4]. 88 Johannes Majoros-Danowski differenziert fünf Arten der Kombination (MAJOROSDANOWSKi, Elija, 97f.), wobei sich die einzelnen Kategorien nicht ganz eindeutig abgrenzen lassen und die gewählte Terminologie modernen Kategorien folgt (Dichtung, BibelNacherzählung, Erläuternde Übersetzung, Reihung, Verschmelzung). Trotzdem sind die bei ihm aufgelisteten Quellenbelege ein eindrücklicher Beweis dafür, dass Mischzitate im 1. Jhdt. keineswegs einen Ausnahmefall darstellten. 89 Hierbei ist weitgehend unstrittig, dass sich diese Reflexion auf frühere Formen des Schriftgebrauchs bezieht (vgl. hierzu STEMBERGER, Einleitung, 25–40). 90 Zugleich lassen sich bei diesem Schriftprinzip – nicht zuletzt wegen seiner Bezeichnung – starke Parallelen zur griechischen Rhetorik und Logik erkennen (so auch STEMBERGER, Einleitung 25–40, bes. 30; KRATZ, Pescharim, 101).
4.2 Perspektivische Vermittlung
225
tion mehrerer Schriftzitate steckte das Bedürfnis, einer möglichen Auslegungswillkür entgegenzuwirken. Um eine Auslegung zu bestätigen, bedurfte es mehrerer Schriftzeugnisse, die sich im Hinblick auf einzelne Aussagen oder Vorstellungen ähnelten und gegenseitig stützten.91 Zugleich fußte diese Zitierweise auf der Überzeugung, dass sich in den Schriftzitaten nicht primär einzelne Schriftsteller bzw. Propheten äußern, sondern Gott selber redet. Gerade das ermöglichte überhaupt erst eine entsprechende Kombination von Schriftstellen: „Für Mk und dessen Leser war Gott der eigentliche Sprecher in der heiligen Schrift [...].“92 Dass die Rezipienten bereits in 1,2f. Gottes Stimme hören sollen, ergibt sich zugleich aus einer intertextuellen Beobachtung. Mit Mal 3,1 wird dem eigentlichen Jesajazitat eine Schriftstelle vorangestellt,93 die bereits der äußeren Form nach als Figurenrede Gottes gestaltet ist (1. Ps. Sg.). Zugleich wird die Gesprächssituation bei Markus angepasst und die Ansage auf die Person Jesu übertragen. „Die Ansagen des ‚Kommens Gottes‘ in Mal 3,1ff. und Jes 40,3ff. werden auf das Kommen Jesu bezogen (Mk 1,2f.). Er selbst ist der kuvrio~, dessen Weg Johannes der Täufer als Bote bereiten soll; in ihm erfüllt sich die angekündigte ‚Freudenbotschaft‘.“94
Die inhaltlichen – d.h. in diesem Fall hoheitschristologischen sowie präexistenztheologischen – Implikationen dieser Neureferenzierung werden im zweiten Analyseteil weiterverfolgt werden. Hier wird sich zeigen, dass die Parallelisierung zwischen Jesus Christus (1,1) und dem kuvrio~ erzählerisch auf-
91
In Mk 1,2f. können als verbindende Vorstellung sowohl die Wegbereitung durch einen Boten als auch das Kommen des kuvrio~ genannt werden. 92 HAENCHEN, Weg, 39. Ähnlich MAJOROS-DANOWSKI, Elija, 96. Besonders pointiert kommt dieses Verhältnis zwischen göttlichem Reden und prophetischem Reden in Heb 1,1f.; 2Petr 1,20f. und Röm 1,2 zum Ausdruck. Eine etwas andere Betonung setzt jPes 6,1,33a, weil hier v.a. die Autorität des Lehrers gegenüber allgemeinen Schriftauslegungsregeln hervorgehoben wird. Allerdings ist auch hier implizit vorausgesetzt, dass die Auslegung des Lehrers im göttlichen Reden gründet. 93 Ich gehe davon aus, dass Markus selber diese Hinzufügung vorgenommen hat und dass auch die Formulierung des Eröffnungskommentars auf sein Konto geht (so auch BECKER, Markus-Evangelium, 108; KLAUCK, Vorspiel, 28). Beides dürfte freilich den Rezipienten nicht bewusst gewesen sein und hat aus diesem Grund keinen weiteren Einfluss auf die Interpretation. 94 ECKSTEIN, Glaube und Sehen, 95. Während Jes 40,3 als zitierte Stelle außer Frage steht, ist ein Bezug zu Mal 3,1 nicht gänzlich unumstritten. Für einen solchen Primärbezug plädieren SCHENKE, Literarische Eigenart, 51; SANKEY, Promise, 6; HURTADO, Mark, 16. Dass zugleich eine (vormarkinische) Durchmischung von Mal 3,1 und Ex 23,30 vorliegt, ist vielfach bemerkt worden (HAHN, Theologie, 132–134; OKO, Who, 75; ROBBINS, Interfaces, 131 [blend]; BORING, Mark, 35 [mélange]).
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
gegriffen und programmatisch entfaltet wird (vgl. Kap. 4.3.2b).95 Bereits hier lässt sich jedoch im Hinblick auf die erzählerische Vermittlung Folgendes festhalten: Nach der eher zurückhaltenden Kommentierung des Erzählers (1,1) ergreift in V. 2f. Gott das Wort und sorgt für eine Identifikation96 zwischen dem Täufer und dem eschatologischen Boten sowie zwischen Jesus und dem kuvrio~.97 Hierbei wird Gottes Reden nicht im Sinne einer üblichen Figurenrede imitiert, sondern was Gott über Jesus – bzw. präziser: zu Jesus – zu sagen hat, wird vom Erzähler in Form alttestamentlicher Prophetenworte wiedergeben. Durch die Kombination mehrerer Schriftzitate, die in Analogie zu frühjüdischen und antiken Schriftauslegungstechniken erfolgt, wird den Aussagen zusätzliche Autorität verliehen und sie erscheinen als Worte Gottes. Die offensichtliche98 Abwandlung der personalen Anrede in 1,2f. verdeutlicht zugleich, dass Gottes Reden zu seinem Sohn nicht nur als Erfüllung und Aktualisierung der prophetischen Vorhersagen zu verstehen ist, sondern zugleich als Überbietung und letztgültige Vollendung. Durch 1,2f. wird die weitere Rezeption gelenkt: Insofern sich Gott direkt und exklusiv an seinen Sohn wendet, lässt dies im Lektüreprozess begreiflich werden, warum die anderen Figuren innerhalb der Erzählung – wie etwa die Jünger – Jesu Identität nicht erfassen und mit einer Übertragung herkömmlicher Messiaserwartungen scheitern (vgl. v.a. 8,29). Den Rezipienten ermöglicht die markinische Eröffnung hingegen einen Einblick in die göttliche
95
So auch ECKSTEIN, Glaube und Sehen, 95, der hierbei kursorisch auf die Hirtenmetaphorik (Mk 1,14f.; 6,34; vgl. Jes 40,10f.) sowie 7,28; 11,3; 12,37 und 5,20 nach V. 19 verweist. 96 Zu Beginn der Erzählung vermag der Rezipient allerdings noch nicht zu erkennen, ob es sich hierbei um eine partielle oder komplette Parallelisierung handelt und wie das Verhältnis zwischen Gott und Jesus genau zu beschreiben ist. Gerade deshalb ist eine Analyse über den weiteren Erzählverlauf notwendig. 97 Anders MAJOROS-DANOWSKI, Elija, 120–123, der meint, einer solchen Identifizierung laufe der Sinn des zugrundeliegenden Jesaja- und Maleachitextes zuwider. Gerade darin liegt aber die Pointe der Zitataufnahme und -abwandlung. Es gilt hier, das qualitative Kriterium der Dialogizität zu beachten. „Dieses Kriterium besagt, daß – wie immer ceteris paribus – ein Verweis auf vorgegebene Texte oder Diskurssysteme von umso höherer intertextueller Intensität ist, je stärker der ursprüngliche und der neue Zusammenhang in semantischer und ideologischer Spannung zueinander stehen“ (PFISTER, Intertextualität, 29). Die von Majoros-Danowski vorgeschlagene Alternative, nach der Jesus und Johannes für den Boten stehen und sich der Leser (bzw. Israel) mit dem von Gott angesprochenen Du identifizieren soll, vermag angesichts des weiteren Erzählverlaufs kaum zu überzeugen. 98 M.E. spricht die Beobachtung, dass die Schriftzitate in 1,2f. mit großer Selbstverständlichkeit eingeführt werden, dafür, dass die intendierten Rezipienten über eine entsprechende Schriftkenntnis verfügten. Ihre Unkenntnis gegenüber bestimmten Aramaismen und jüdischen Sitten (s.o.) darf nicht zu der voreiligen Unterstellung führen, sie hätten keinerlei Kenntnis der jüdischen Religion und insbesondere der Heiligen Schriften gehabt.
4.2 Perspektivische Vermittlung
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Sichtweise.99 Sie erkennen bereits ab V. 4, d.h. mit dem tatsächlichen Auftreten des Täufers, dass die folgenden Ereignisse der markinischen Erzählung gottgewirkt sind und sich entsprechend der Vorhersage erfüllen.100 Die nächste Szene, in der sich Gott äußert, lässt in vielerlei Hinsicht eine große Kontinuität erkennen. Auch in 1,11 kann nur bedingt von einer direkten Figurenrede gesprochen werden, weil die Rezipienten erneut Anklänge an das Alte Testament wahrnehmen. Dabei kombiniert Markus wiederum mehrere Schriftstellen miteinander. Entscheidender als die Frage, welches Zitat dabei die älteste Überlieferungsschicht darstellt, ist hierbei das bleibende Nebeneinander der Aussagen im Endtext. Während die Rezipienten kaum eine Kenntnis von der eigentlichen Textgenese gehabt haben dürften und diese für die Interpretation damit zu vernachlässigen ist (vgl. Kap. 3.3.3), werden sie die Tatsache einer erneuten Zitatkombination durchaus bemerkt haben. Hierfür spricht, dass ihnen der primäre Referenztext – Ps 2,7 – aller Voraussicht nach bekannt war und sie gerade deshalb entsprechende Abweichungen erkennen mussten (s. Exkurs). Durch den unmittelbaren Erzählkontext – und zwar insbesondere das Ereignis der Geistverleihung (1,10) – werden die Rezipienten zudem auf jene Parallelen zu Jes 42,1 aufmerksam geworden sein. Eher unwahrscheinlich ist es hingegen, dass mögliche Bezüge zu Gen 22,2.12.16 erkannt wurden.101
99 Einige Kommentatoren sprechen gar von einer Szene im Himmel oder „im himmlichen Thronsaal“ (so z.B. SCHENKE, Literarische Eigenart, 50f.). M.E. wird aber weder durch die Zitate, noch durch die vorausgesetzte Dialogsituation eine derart konkrete Raumvorstellung evoziert. 100 Dass sich die Vorhersage eines Boten allein auf V. 4–8 beziehen, ändert hieran nichts. Vielmehr wird hier im Sinne eines primacy effects ein Bild Gottes geprägt, das diesen als wesentliche Einflussgröße menschlicher Handlungen und zugleich als zuverlässigen Akteur charakterisiert. Die Erzählung erinnert und bestätigt damit, was den Rezipienten aufgrund ihrer kulturellen Prägung ohnehin vertraut ist. Für einen antiken Rezipienten bestand gerade keine strikte Trennung zwischen der irdischen Welt und dem Himmel als Sphäre des Göttlichen, sondern die irdischen Geschicke waren maßgeblich von den himmlischen Ereignissen und Entscheidungen abhängig: „Diese Offenheit der alltäglichen, irdischen Welt auf die Sphären göttlich-intensiven Lebens und bodenloser, vernichtender Verlorenheit hin ist wohl der Hauptunterschied zu unserer Vorstellung der Welt als eines praktisch geschlossenen mechanischen Systems. [...] Die Welt ist nach biblischer und altorientalischer Vorstellung auf das Über- und Unterirdische hin offen und durchsichtig“ (KEEL, Bildsymbolik, 47). Vgl. ausführlich JANOWSKi, Das biblische Weltbild, 3–26. 101 Diese Auffassung vertreten hingegen KLAUCK, Vorspiel, 51–54, und SCHENKE, Literarische Eigenart, 54f. Majoros-Danowski verweist seinerseits auf eine parallele Hinzufügung in der aramäischen Übersetzung TPs 2,7: „geliebt wie ein Sohn vom Vater“ (MAJOROS-DANOWSKI, Elija, 106.217). Allerdings scheidet dieser Text aufgrund seiner späten Datierung als Parallele im engeren Sinne aus. Die Formulierung im Targum könnte bereits eine Reaktion auf die christliche Deutung von Ps 2 sein (so auch LOHSE, Art. uiJov~, 362).
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
Exkurs: Die Zitatkombination in Mk 1,11 Am deutlichsten und für die intendierten Rezipienten durchaus nachvollziehbar sind die Parallelen zwischen 1,1 und Ps 2,7 (vgl. Tab. 4.1). Dieser Referenztext weist das höchste Maß an sprachlicher Parallelität auf102 und fügt sich als Anrede Gottes nahtlos in den neuen Kontext ein. Zugleich lässt sich vermuten, dass dieser Text aufgrund seiner Rezeptionsgeschichte103 im kulturellen Gedächtnis verankert war (= Erinnerungsnähe). Gerade angesichts der hohen Parallelität springen dann jedoch die Inversion der Wortreihenfolge und die Auslassung von V. 7b ins Auge (= Dialogizität). Bei Markus spricht Gott seinen Sohn mit betonendem su; ei\ persönlich an und der in Ps 2,7b artikulierte Gedanke der Zeugung wird bewusst ausgelassen (vgl. dagegen Apg 13,33). Das lässt sich am einfachsten so interpretieren, dass Gott bei der Taufe auf eine bereits bestehende und der erzählten Zeit vorausgehende Sohnschaft verweist (vgl. 1,2f.).104 Die personale Relation zwischen Gott und Sohn wird dann im Sinne einer liebevollen Vater-Sohn-Beziehung näher qualifiziert.105 Diskutabel ist, ob dies über einen intertextuellen Bezug auf Gen 22 geschieht. Im ersten Buch Mose liegt aber eine andere Erzählsituation vor (3. Ps. Sg.) und der dort Gemeinte ist Abrahams Sohn. Denkbar wäre, dass dem Autor des Markusevangeliums diese Differenzen unwesentlich erschienen und das tertium comparationis an dieser Stelle allein die liebevolle Beziehung zwischen Vater und Sohn ist. Allerdings ließe sich dieses Verständnis auch ohne Kenntnis der konkreten Parallelstelle, allein aufgrund des gegebenen Wortfeldes nachvollziehen. Auch in Jes 42,1 ist die Erzählsituation eine andere und die sprachliche Parallelität vergleichsweise gering. Die im exegetischen Diskurs immer wieder geltend gemachte und auf Jeremias zurückzuführende Verknüpfung, die sich über das griechische pai`~ zwischen den hebräischen Begriffen ( עבדDiener) und ( בןSohn) 106 ergibt, reichte für sich genommen noch nicht aus, um einen eindeutigen Bezug herzu102
So auch ROSE, Theologie, 143. Vgl. zur Rezeptionsgeschichte nun die umfassende Studie von GILLINGHAM, Reception, 10–37. Zur neutestamentlichen Rezeption vgl. v.a. Apg 4,25f. [Ps 2,1f.]; 13,13; Heb 1,5; 5,5 [Ps 2,7] und zur Motivik von Ps in der Offb ausführlich HUBER, Psalm 2. 104 Mithin besitzt der Aorist eujdovkhsa – gemäß seiner häufigsten Gebrauchsweise – eine komplexive Funktion (vgl. HOFFMANN/VON SIEBENTHAL, Grammatik, §194 f–h; BDR § 318). Weder der Verlauf noch das Ergebnis werden in den Fokus gerückt, sondern es wird konstatiert, was aus der Sicht Gottes bereits immer schon galt. Gegen DU TOIT, Gottessohn, 40 (ingressiver Aorist), der die Position vertritt, dass erst durch diese Zusage eine einzigartige Beziehung zwischen Jesus und Gott konstituiert werde. ROSE, Theologie, 145, spricht von einem „perfektiven Aorist“ (vgl. BDR § 318 [4]). Allerdings findet Gottes Wohlgefallen in der Taufe keinen erkennbaren Abschluss. Vielmehr ist Jesu gesamtes Wirken als Sendung zu verstehen und gründet als Ganzes in Gottes Liebe. 105 Für einen bewussten Bezug zu Gen 22 plädieren u.a. LENTZEN-DEIS, Taufe, 192; HURTADO, Mark, 19f. 106 Vgl. JEREMIAS, Theologie, 61: „Da pai`~ doppeldeutig ist (a. Knecht, b. Sohn) und da die Bezeichnung Jesu als oJ pai`~ qeou` auf hellenistischem Gebiet früh gemieden worden ist, liegt die Vermutung nahe, daß das oJ uiJov~ mou der Taufstimme die christologische Überhöhung eines ursprünglichen oJ pai`~ darstellt, die Markus schon vorgefunden hätte.“ Selbst wenn Jeremias Rekonstruktion der Textgenese zutreffend sein sollte, stellt sich im Zuge der Interpretation die Frage anders: Anhand welcher Indizien können die Rezipienten Textbezüge feststellen? Es ist unwahrscheinlich, dass ihnen eine entsprechende Textgenese bewusst war, weil sie gar nicht über entsprechende Sprachkenntnisse verfügten. 103
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4.2 Perspektivische Vermittlung
stellen. Entscheidender ist in diesem Fall – aus Sicht der intendierten Rezipienten – die offensichtliche Parallelität der Ereignisse, d.h. das in beiden Kontexten eine Geistverlei107 hung im Mittelpunkt steht und diese als Einsetzung begriffen wird. Dass sich der markinische Jesus im Fortgang der Erzählung den e[qnh, also Heiden, zuwendet (7,24–30.31–37; 13,10; u.ö.), liegt ebenfalls auf einer Linie mit dem Gottesknechtslied (vgl. Jes 42,1 krivsin toi`~ e[qnesin ejxoivsei). Mk 1,11 su; ei\ oJ uiJov~ mou
Ps 2,7 uiJov~ mou ei\ suv
Jes 42,1 Iakwb oJ pai`~ mou,
Gen 22,2
TgPs 2,7
labe; to;n uiJovn sou
ejgw; shvmeron ajntilhvmyomai gegevnnhkav se: aujtou`:Israhl oJ ejklektov~ mou, oJ ajgaphtov~,
ejn soi; eujdovkhsa.
to;n ajgaphtovn, o}n hjgavphsa~108
חיביב כבר לאבא
prosedevxato aujto;n hJ yuchv mou e[dwka to; pneu`mav mou ejpÆ aujtovn, krivsin toi`~ e[qnesin ejxoivsei.
Intertextualitätsgrad: hoch mittel gering / erzählerische Parallele Auslassung
Tab. 4.1: Intertextuelle Bezüge zu Mk 1,11 Insgesamt konnten die Rezipienten den intertextuellen Bezug zu Ps 2,7 aufgrund sprachlicher und den Bezug zu Jes 42,1 aufgrund erzählerischer Parallelitäten erkennen. Gerade durch die Kombination beider Zitate und die Tatsache, dass die Rezipienten die Auslassung von Ps 2,7b bemerken konnten, wird verhindert, dass das Taufgeschehen im Sinne eines Adoptionsgeschehens interpretiert wird.109
Gerade die Tatsache, dass der Erzähler Ps 2,7 aufgreift und zugleich die Wortstellung invertiert, unterstreicht, dass ihm – wie bereits in Mk 1,2f. beo107
Ähnlich DSCHULNIGG, Markusevangelium, 68, der Jes 42,1 etwas voreilig zum „Grundtext“ des markinischen Zitats erklärt (vgl. V. 10). Hiergegen sprechen die sprachlichen Differenzen und die Tatsache, dass Ps 2,7 auch in Mk 9,7 primärer Referenztext bleibt (s.u.). Demzufolge ist Ps 2,7 eher als Grundtext zu bezeichnen. Jes 42,1 dient der theologischen Korrektur. 108 Vgl. zudem die ähnlich lautende und durch Wiederholung betonte Wendung in V. 12 und V. 16: kai; oujk ejfeivsw tou` uiJou` sou tou` ajgaphtou` diÆ ejmev. 109 Mit ECKSTEIN, Anfänge, 25f.; WHITENTON, Hearing, 138.
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
bachtet – an einer personalen Anrede Jesu durch Gott gelegen ist. Die Sohnesanrede wird erst aus der Relation zwischen Vater und Sohn verständlich. Das Taufgeschehen lässt also zugleich Gott als Vater offenbar werden. Seine Anrede ist nicht einfach übertragbar. Sie kann nicht von Menschen ausgesagt, sondern lediglich anerkannt (vgl. 12,36) und nachgesprochen werden (15,39).110 Es gerät mit ihr ein „Zugehörigkeitsverhältnis“111 in den Blick, das durch die Prädikate eujdokei`n112 und ajgaphtov~113 als einzigartig qualifiziert wird. Hiermit korrespondiert auch die vertikale Annäherung, die durch Jesu Emporsteigen aus dem Wasser und das Herabkommen des Heiligen Geistes erzählerisch versinnbildlich wird (kai; eujqu;~ ajnabaivnwn ejk tou` u{dato~ – kai; to; pneu`ma wJ~ peristera;n katabai``non) und das zugleich in einem bemerkenswerten Kontrast zur nachfolgenden horizontalen Distanzierung in 1,12 steht (to; pneu`ma aujto;n ejkbavllei eij~ th;n e[rhmon).114 Insofern sich Gott bereits beim ersten Auftritt seines Sohnes zu Wort meldet, ist im Hinblick auf den weiteren Lektüreprozess von einem primacy 110
Deshalb greift es zu kurz, wenn Kingsbury die Christologie des Markusevangeliums dahingehend zusammenfasst, dass der Leser über Jesus so wie Gott (und der Erzähler) denken solle (vgl. KINGSBURY, Christology, 57). Er kann gar nicht wie Gott über Jesus denken, sondern lediglich anerkennen, was ihm von Gott über dessen Sohn und über die Beziehung zwischen Vater und Sohn offenbart wird. 111 GRUNDMANN, Evangelium, 45. 112 Hier in 1,11 dominiert bei der Verwendung von eujdokei`n ebenso wie an anderen neutestamentlichen Stellen „der Gedanke der göttlichen Erwählung im Hinblick auf die einzigartige und transzendente Bestimmung des einzigen Sohnes Christus“ (LÉGASSE, Art. eujdokevw, 188); vgl. hierzu Mt 12,18–21; 17,5; 2Petr 1,17 (nach V. 16!); Kol 1,19f. 113 Vgl. neben Gen 22,2.12.16 auch Am 8,10; Jer 6,26, wo ajgaphtov~ zur Übersetzung von יחידverwendet wird. Vor dem Hintergrund dieses Begriffsverständnisses erklärt sich dann auch die Abwandlung in Lk 9,35 (ejklelegmevno~). 114 Auch sonst sind Taufe und Versuchung bei Markus durch ein kontrastives Symbolgeflecht verknüpft. Es zeigt sich eine Korrespondenz zwischen den positiv konnotierten Symbolen und Figuren innerhalb des Taufberichts (Jordan, Wasser, Öffnen der Himmel, [Heiliger] Geist, Taube) und den fast ausschließlich negativen Symbolen und Figuren innerhalb der Versuchungsszene (Wüste [2-mal], vierzig Tage, Satan, wilde Tiere). Ich verstehe hierbei die wilden Tiere in V. 13b nicht als implizite Andeutung eines paradiesischen Tierfriedens (so GNILKA, Evangelium II/1, 57f.), sondern als wesentlich unmittelbareren Ausdruck der Gefährdung (mit HAENCHEN, Weg, 64), der vermeintlichen Gottesferne (vgl. etwa Dtn 8,15f.; Dan 4) und der Verkörperung des Bösen. Die Bedrohung durch wilde Tiere findet an prominenter Stelle, nämlich durch die Anspielungen auf Ps 22 innerhalb des Passionsberichts, eine Entsprechung bzw. Wiederaufnahme. Nicht weit entfernt ist auch Dan 7, wo die Tiere für die Weltreiche und damit im Kontrast zum Reich des Menschensohnes stehen. Die Engel sind wie in Mk 13,27 hingegen dem Dienst des Menschensohnes unterstellt. Im Unterschied hierzu bliebe die Andeutung eines Tierfriedens im Markusevangelium singulär. Die Parallelität zu Jes 11,6–8; 65,25 oder ApcBar syr 73,6 ist ohnehin vergleichsweise gering. Auch von einer bewussten Adam-Typologie ist kaum zu sprechen (vgl. Gen 2,19f.; ApcMos 24; TesLev 18,10–12; bSanh 59b).
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effect zu sprechen. Die Äußerung Gottes bleibt während der weiteren Lektüre im Lesegedächtnis der Rezipienten. Zugleich wird der Standpunkt Gottes aufgrund kultureller Konventionen für zuverlässig gehalten.115 Die Rezipienten schenken der Beschreibung Gottes größtmögliches Vertrauen, und sie verfügen von Beginn an über ein Geheimwissen, dass sie nur mit Jesus, den Dämonen und ab 9,7 mit dem engsten Jüngerkreis teilen. Dass die anderen Figuren der Erzählung hingegen nichts von Jesu Sohnschaft wissen, ja wissen sollen, darauf werden sie im Folgenden häufig und in großer Regelmäßigkeit hingewiesen. In 9,7 wird der Standpunkt Gottes wiederholt und mit ihm erneut die Einzigartigkeit der Vater-Sohn-Beziehung unterstrichen. Zugleich wird jedoch ein stärkerer Bezug zur Leidens- und Auferstehungsthematik hergestellt. Der Blick wendet sich vom Wesen Jesu auf das Ziel seiner Sendung. Die semantische Übereinstimmung (oJ uiJov~ mou oJ ajgaphtov~), der symbolhafte Ort, die Übereinstimmung bei den wichtigsten Personen (Gott, Jesus) sowie die Form der Audition führen zunächst unweigerlich dazu, dass der Rezipient die Szene auf den anfänglichen Taufbericht zurück bezieht. Gerade vor diesem Hintergrund fällt dann jedoch auf, dass die Aussage Gottes in zweifacher Weise abgewandelt wird: Einerseits wird das Zitat aus Ps 2,7116 mit einem neuen Schriftzitat, nämlich Dtn 18,15, kombiniert. Zum anderen sind die drei zuvor genannten Jünger nun die eigentlichen Empfänger. Während in Mk 1,11 Jesus das Wahrnehmungszentrum darstellte, sind es bereits in V. 7a sowie in V. 8 ganz eindeutig die drei Jünger Petrus, Jakobus und Johannes.117 Entsprechend wird auch die Erzählsituation in V. 7b angepasst – ou|to~ ejstin oJ uiJov~ mou oJ ajgaphtov~ (9,7a) – und die ursprüngliche Audition dadurch zur Jüngerunterweisung118 umgestaltet. Die Sohnesanrede steht wie bei der Taufszene im Mittelpunkt der Offenbarung. Durch den unmittelbaren Erzählkontext (9,2–6.8–13) wird erneut die Einzigartigkeit der Vater-Sohn-Beziehung untermauert. Jesu Sohnschaft erhebt diesen sogar über die beiden bedeutenden Propheten des Alten Testaments,
115 In der gesamten biblischen und frühjüdischen Tradition findet sich m.W. kein einziger Beleg dafür, dass Gottes Standpunkt als unzuverlässig erschiene. 116 Gegen GNILKA, Evangelium II/2, 36, für den „eine Abhängigkeit von Ps 2,7 [...] nicht wahrnehmbar [ist].“ 117 V. 7a: kai; ejgevneto nefevlh ejpiskiavzousa aujtoi`~ u. V. 8: peribleyavmenoi oujkevti oujdevna ei\don ajlla; to;n ÆIhsou`n movnon meqÆ eJautw`n. 118 Die Himmelsstimme ist hingegen nicht als Proklamation zu bezeichnen (gegen VIELHAUER, Erwägungen, 165; VIELHAUER, Erlöser, 583), weil weder der begrenzte Empfängerkreis noch Jesu nachträgliches Gebot zur Geheimhaltung dem Charakter einer öffentlichen Ausrufung entsprechen; ganz unabhängig davon, dass sich das von Vielhauer vorausgesetzte Schema eines Thronbesteigungsrituals als unhaltbar erwiesen hat (vgl. hierzu meine Ausführungen in Kap. 3.2.1).
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
Mose und Elia.119 Mit der Verwandlung seiner gesamten Gestalt (V. 2) und der expliziten Nennung der weißen Kleider (V. 3) wird Jesus als himmlische Gestalt ausgewiesen und zugleich der erzählerische Kontext von Ex 34,29–35 wachgerufen. Elia und Mose erscheinen demgegenüber in ihrer Funktion als endzeitliche Vorläufer. Dass sich die Rezipienten durch die gemeinsame Erwähnung von Elia und Mose an Mal 3,22–24 erinnert fühlen, legt sich nicht zuletzt durch die markinische Bucheröffnung nahe (Mk 1,2). Während hier zunächst nur das Kommen eines Boten angekündigt wurde und die Rezipienten Johannes den Täufer mit diesem identifizieren konnten, tritt nun mit Mose eine zweite Gestalt der Endzeit auf.120 Wenngleich man in der Schilderung der Verwandlung und der Beschreibung des Äußeren bereits eine subtile Kontrastierung zwischen Jesus und den beiden anderen Figuren erkennen kann,121 erfolgt erst mit V. 4 und V. 5f. eine explizite Gegenüberstellung. Während in LXX Ex 34,35 Mose mit Gott redet, reden in 9,4 Elia und Mose mit Jesus, wobei die sprachliche Parallelität nicht zu überhören ist.122 Und der Vorschlag des Petrus, allen Anwesenden ein Zelt zu errichten – was erneut eine Anspielung auf Ex 34 und insbesondere das Zelt der Begegnung (Ex 34,34f.) darstellt – wird vom Erzähler auf ungewöhnlich schroffe und direkte Weise zurückgewiesen (V. 5f.). Während sich die besondere Nähe zwischen Gott und Mose in der Begegnung im Zelt ausdrückt und zugleich auf diesen Ort begrenzt bleibt, bedarf Jesus keines solchen Ortes. Vielmehr liegt die Nähe zu Gott in seinem Wesen begründet: „Dieser ist (ou|tov~ ejstin) mein lieber Sohn!“ (9,7). Der Kontrast zwischen 119
Beiden Gestalten kommt sowohl im Alten Testament als auch in der frühjüdischen Überlieferung eine herausragende Rolle zu (vgl. zu Elia: 1Kön 17–2Kön 2; Sir 48,1–13; VitProph 21,1–15; zu Mose v.a.: Ex 1–Dtn 34; Sir 45,1–6; 1Makk 4,46; 2Makk 2,1–13; Jos. Ant. 2–4; Phil. Mos. 1–2; 4Q 377; LibAnt 9–19; Jub 47–50; AssMos 1–11). Unklar bleibt, ob und inwieweit beiden Figuren für die Endzeit unterschiedliche Funktionen zugeschrieben werden (vgl. Mal 3,22 [Mose] u. 3,32f. [Elia]). Insbesondere in 1Makk 4,46 wird Mose die Rolle des Gesetzeslehrers zugesprochen, der halachische Streitfragen autoritativ entscheiden wird. Aber nicht immer lässt sich eine derart klare Aufgabenbeschreibung erkennen. 120 Dass nun von zwei Boten die Rede ist, während in Mk 1,2 lediglich ein Bote angekündigt wurde und bisher auch lediglich die Figur des Elia im Vordergrund stand, könnte zu der auffälligen Formulierung in V. 4a geführt haben: w[fqh aujtoi`~ ÆHliva~ su;n Mwu>sei`. 121 Folgende Kontrastmerkmale sind zu nennen: (1) Bei der Begegnung mit Gott verwandelt sich ausschließlich das Gesicht des Mose (LibAnt 12,1; Sir 45,2). Von Jesus heißt es hingegen, dass sich seine gesamte Gestalt verwandelt habe (so auch PELLEGRINI, Elija, 308; DU TOIT, Der abwesende Herr, 350); (2) Mose muss sein Gesicht während der Gottesbegegnung verschleiern. Jesus ist der unmittelbare Widerschein der göttlichen Herrlichkeit. Seine Kleider leuchten. Beiden gemeinsam ist hingegen, dass der Glanz über die unmittelbare Gottesbegegnung hinaus erhalten bleibt (vgl. Mk 9,15; VitMos 2,70: wJ~ tou;~ oJrw`nta~ teqhpevnai kai; katapeplh`cqai kai; mhdÆ ejpi; plevon ajntevcein toi`~ ojfqalmoi`~ duvnasqai kata; th;n prosbolh;n hJlioeidou`~ fevggou~ ajpastravptonto~). 122 Mit HOFIUS, Allmacht, 5.
4.2 Perspektivische Vermittlung
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Jesus und den beiden anderen Propheten wird dadurch verstärkt, dass die beiden Propheten direkt im Anschluss an die Audition verschwunden sind. Sprachlich wird dieser Kontrast durch die doppelte Verneinung (oujkevti oujdevna) und den positiven Hinweis, Jesus „allein“ sei zurückgeblieben, unterstrichen. Mit der Schilderung der eigentlichen Verklärung sowie der Reaktion des Petrus wurde ein endzeitliches Heilsszenario wachgerufen. Die Gottesstimme und der Dialog während des Abstiegs lassen ihrerseits erkennen, worin der eigentliche Unterschied zwischen Jesus und Elia besteht. Anders als Elia, der in der Gestalt des Johannes ein ungerechtfertigtes Todesschicksal erleiden musste (6,14–29), geht der Sohn seiner Passion und Auferstehung bewusst entgegen und kann diesen Ereignissen einen tieferen Sinn zuschreiben: Mit Ostern wird seine wahre Identität offenbar werden und verkündigt (9,9). In diesem Wissen kann Jesus sein Leiden bejahen und durch sein Schweigegebot zugleich an der Wahrung des Personengeheimnisses mitwirken. Deshalb greift es zu kurz, die Aussage Gottes – „auf diesen hört“ – nur auf den unmittelbaren Kontext oder pauschal auf Jesu Lehre zu beziehen. Vielmehr ergibt sich ein starker Bezug zum vorherigen Erzählverlauf, insbesondere zu Jesu Leidensankündigung (8,31) sowie dem nachfolgenden Unverständnis des Petrus (8,32). So ist die Verleugnung der Leidensnotwendigkeit zuvor explizit als menschliches Denken und als Versuchung des Satans gebrandmarkt worden (8,33). Das Anerkennen des Leidens wurde hingegen als Sichtweise Gottes benannt. Durch die Stimme aus den Wolken wird ebendiese Perspektive Gottes nun bestätigt und somit zugleich die Leidensankündigung Jesu legitimiert.123 Trotzdem richten die Jünger auch im folgenden Gespräch das Augenmerk allein auf die Auferstehung (V. 10) und das Kommen des Elia (V. 11). Jesus hebt seinerseits erneut die Notwendigkeit des Leidens hervor (V. 12). Zugleich betont er (ajlla; levgw uJmi`n), dass Elia bereits gekommen sei und bestätigt mit diesem Hinweis die – zuvor nur über einen externen Figurenvergleich zu erschließende – Identifikation zwischen Johannes und Elia (V. 13; vgl. 6,14–29; 1,14a). „Damit ist das abgeschlossene Wirken des Elia/ Täufers selbst ein Hinweis auf die Unabwendbarkeit des Verwerfungsgeschicks des Messias/Jesus (sic!). Beides ist in der Schrift angekündigt.“124 Auch im implizit zu erschließenden Verhalten Gottes spiegelt sich wider, dass die einzigartige Liebe des Vater durchaus das Leiden des Sohnes einschließt, was v.a. an der wiederholt thematisierten Unabänderlichkeit des Leidensschicksals deutlich wird. Zugleich wird spätestens vom Ende der 123
Ohne der Analyse der Perspektivenstruktur und der Hierarchisierung der Perspektiven vorweg zu greifen, lässt sich bereits hier festhalten, dass die Selbstwahrnehmung Jesu (8,31) und Gottes Perspektive gerade in der Erwartung des kommenden Leidens übereinstimmen. 124 SCHENKE, Literarische Eigenart, 220.
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Erzählung her (16,1–8) erkennbar, dass das Sterben Jesu zwar notwendig und schriftgemäß ist, aber keineswegs das eigentliche Ziel des göttlichen Handelns darstellt. Betrachten wir die relevantesten Textstellen erneut im Detail: Noch vor dem explizit formulierten Tötungsbeschluss der jüdischen Autoritäten (3,6), der seinerseits durch den sich zuspitzenden Konfliktverlauf in Mk 2 allmählich angebahnt wird, erhält der Leser in 2,20 einen ersten, vorsichtigen Hinweis auf das bevorstehende Todesschicksal Jesu. In Form einer impliziten Prolepse 125 wird auf Jesu Sterben vorausgewiesen. Die Ankündigung erscheint dabei aus Sicht der Rezipienten glaubwürdig, da sie durch Jesus als zuverlässigem Perspektiventräger vorgetragen wird (= diegetische Anachronie) und zugleich davon auszugehen ist, dass die Rezipienten bereits aufgrund ihres textexternen Wissens vom Sterben Jesu wissen.126 Doch warum artikuliert sich in dieser Leidensankündigung Jesu zugleich Gottes Standpunkt? Weil hier, wie in allen nachfolgenden Leidensankündigung das bevorstehende Schicksal mit großer Selbstverständlichkeit vorgetragen wird (ejleuvsontai de; hJmevrai) und der Beschluss zum Tod Jesu dem Handeln der Autoritäten vorausgeht (vgl. 3,6). Hiermit scheint der Tod Jesu gerade nicht in der Entscheidungsmacht der Autoritäten begründet zu liegen, sondern im Ratschluss dessen, der von Anfang an (1,2f.) die Geschicke der Handlung in seiner Hand hält.127 Die Vermutung, Jesu Leidensschicksal könne letztlich auf einem göttlichen Ratschluss beruhen, erhält im weiteren Erzählverlauf eine Bestätigung. Hierbei ist besonders auf die expliziten Vorverweise in 8,31; 9,31 und 10,33 hinzuweisen. Schon in 8,31 lässt sich das erstmals 128 verwendete dei` – dem 125
Die Prolepse kann als implizit bezeichnet werden, weil das Sterben Jesu lediglich in einem Bildwort angesprochen wird und die Rezipienten zunächst einmal Jesus und Bräutigam miteinander identifizieren müssen, was einer emergenten Textstruktur gleichkommt. Zugleich wird die Aufmerksamkeit der Rezipienten auf die Aussage des Entreißens gelenkt, weil das damit implizierte Ereignis einer „Bräutigamsentführung“ in einem bewussten Widerspruch zum prozessualen Vorwissen der Rezipienten steht (= Skript). 126 Hierfür spricht v.a. die sehr gute Bezeugung innerhalb des Neuen Testaments. Aber auch in nicht-christlichen Quellen werden gelegentlich das historische Faktum des Todes und sogar nähere Umstände des Sterbens festgehalten: vgl. Tac. ann. 15,44,3: [...] per procuratorem Pontium Pilatum suplicio adfectus erat. Weitgehend umstritten sind hingegen die späteren Belege im Talmud, wie bSanh 43a (kritisch dazu: MAIER, Jesus, 268; optimistisch: KLAUSNER, Jesus, 17–57). Nicht in Anspruch zu nehmen ist an dieser Stelle das Testimonium Flavium (Jos. Ant. 18,63f.), weil sämtliche Rekonstruktionen eines Urtextes hypothetisch bleiben. 127 Als Andeutung des Todes Jesu wird auch die kurze Notiz von der Verhaftung des Täufers verstanden (so z.B. GNILKA, Evangelium II/1, 65). Dies lässt sich v.a. aufgrund der vorherigen Parallelisierung zwischen Täufer und Gottessohn plausibel machen, setzt aber wiederum ein entsprechendes Personenwissen bei den Rezipienten voraus (s.o.). 128 Vgl. in der Folge Mk 9,11; 13,7.10.14; 14,31.
4.2 Perspektivische Vermittlung
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ganz offensichtlich eine apokalyptische Konnotation zu eigen ist129 – auf den vorgegebenen göttlichen Willen zurückführen. Dies wird noch einmal durch Jesu nachträglichen Hinweis auf die entsprechende Perspektive Gottes (8,33: ta; tou` qeou`) bestätigt. Zugleich verweist 8,31 erneut auf das Alte Testament.130 So ist das „Verworfen werden“ (ajpodokimasqh`nai) mit der Mehrheit131 der Exegeten auf LXX Ps 117,22 zu beziehen (vgl. Mk 12,10f.132). Dieses Schriftzitat wird nun so abgewandelt, dass mit der Aufzählung der jüdischen Autoritäten die menschlichen Instanzen der Verwerfung in den Blick geraten.133 Trotz des vorausgehenden göttlichen Ratschlusses sind es Menschen, die Jesus verworfen haben. Der Rezipient kann gerade aufgrund des angedeuteten Psalmbezugs schlussfolgern, dass Jesus, obschon er leiden und sterben muss, letztlich in Gottes heilvollem Handeln aufgehoben bleibt: „Der Stein, den die Bauleute verwarfen, ist zum Eckstein geworden. Durch den Herrn ist dies geschehen (para; kurivou ejgeneto au{th).“ Obwohl die Auferstehungsaussage in 8,31 aktivisch formuliert ist (ajnasth`nai), wird aufgrund des gegebenen Schriftbezugs und des textexternen Vorwissens der Rezipienten durchaus ein Eingreifen Gottes impliziert.134 Auch der vorherige 129 So bereits GRUNDMANN, Evangelium, 218f. Zum einen ist hier auf das häufige Vorkommen von dei` in der Endzeitrede (13,7.10.14) und in apokalyptischen Texten hinzuweisen, wo es der Bezeichnung der letzten Ereignisse dient (vgl. BENNETT, Son, 120–127 u. 129 [Fazit]). Zum anderen lässt sich für dieses Verständnis geltend machen, dass durch die Betonung der Leidensnotwendigkeit ganz offensichtlich einer Erfahrung der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins entgegengewirkt wird. 130 Auch PESCH, Markusevangelium II/2, 49, betont, dass „[m]it dei` [...] das ‚Muß‘ der den Willen Gottes bekundenden Schriftnotwendigkeit ausgedrückt [ist] (vgl. 9,12; 14,21 u. 49)“, hält aber gerade deshalb einen Rückbezug auf apokalyptisches Denken für unnötig. M.E. ist jedoch nicht einsichtig, warum diese Bezugnahme auf die Schrift a priori gegen ein apokalyptisches Denken sprechen sollte. 131 Mit BREYTENBACH, Folgetext, 215; GNILKA, Evangelium II/2, 15; GUNDRY, Mark, 429. 132 Beim Gleichnis von den bösen Weingärtnern handelt es sich aus der Sicht der intendierten Rezipienten um eine implizite Prolepse. Insbesondere durch das abschließend als Interpretament eingefügte Bildwort wird ein Bezug zu Tod und Auferstehung sowie zum heilvollen Handeln Gottes hergestellt: „Auf Christus bezogen, kann das Zitat nur seinen Tod und seine in der Auferstehung erfolgte Erhöhung umschreiben [...]. [Durch Einwirkung von Dan 2,34; 7,14 wird] hier die Restituierung Christi als Handeln Gottes aufgefaßt [...], während seine Tötung bzw. Verwerfung die Schuld der Menschen ist“ (GNILKA, Evangelium II/2, 148). 133 Ähnlich GNILKA, Evangelium II/2, 15: „An die Stelle der Bauleute sind die Jerusalemer Hierarchien, die Ältesten, Hohenpriester und Schriftgelehrten, getreten.“ Während hier als Verantwortliche die Ältesten, Hohenpriester und Schriftgelehrten genannt werden, kann im Folgenden zugleich auf Feindschaft der Menschen (9,3) sowie die Mitverantwortung der Heiden (10,33) hingewiesen werden. 134 Gegen GNILKA, Evangelium II/2, 16: „Der Menschensohn überwindet kraft eigener Macht (sic!) den Tod.“ M.E. wird hierdurch ein unnötiger Kontrast gegenüber dem sonsti-
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Hinweis auf die Auferstehung nach drei Tagen (meta; trei`~ hJmevra~: 8,31; 9,31; 10,34) folgt sicherlich nicht allein einem historiografischen Interesse, sondern soll als festgeprägtes Motiv ebenfalls Gottes heilvolles Eingreifen betonen (s.u.). Unabhängig davon, ob 8,31f. als markinische Komposition zu gelten hat oder erst die Wiederholungen bzw. Variationen in 9,31 und 10,33, lässt sich bei der Lektüre des Endtextes eine Betonung des Leidensschicksals und zugleich des heilvollen Eingreifens Gottes erkennen. Allerdings dienen die repetitiven Prolepsen in 9,31 und 10,33 sowie die große Anzahl impliziter Leidensankündigungen (2,20; 9,12f.; 10,38f.45; 12,8.10; 14,7–8.21.22– 24.27.36) nicht allein dazu, den entsprechenden Themenkomplex wach zu halten. Vielmehr soll gerade durch die inhaltlichen und z.T. sogar sprachlichen Wiederholungen das Leiden als unabänderliches und fest beschlossenes Schicksal dargestellt werden. Es lässt sich diesbezüglich von einer bewusst evozierten Hintergrunderzählung sprechen: Wie bereits in 1,2f. angedeutet, hält Gott über den gesamten Erzählverlauf hinweg das Schicksal Jesu in seinen Händen. Nicht einmal der explizit geäußerte Wunsch des Sohnes kann am vorauszusetzenden Ratschluss Gottes, des Vaters (14,36: abba oJ pathvr), etwas ändern,135 wie der Rezipient zu Beginn der Passionserzählung erfährt. Das Leiden scheint in der Vater-Sohn-Relation und in Jesu Identität als messianischem Menschensohn gleichsam mitgesetzt zu sein.136 So ist es gerade der geliebte Sohn (1,11; 9,7), der – gemäß 9,31 – als Menschensohn von Gott ausgeliefert wird, wobei paradivdotai hier als passivum divinum zu begreifen ist.137 Ein paradoxer Zusammenhang, der sich gerade nicht vor dem Hintergrund bekannter frühjüdischer Messiaserwartungen erschließt, sondern der sich erst aus einer Identifikation von Menschensohn und Gottesknecht
gen neutestamentlichen Sprachgebrauch geschaffen. Es ist nicht ersichtlich, warum das Nebeneinander von aktivischen und passivischen Formulierungen in 8,31 und 16,6 anders zu bewerten ist, als das Verhältnis von christozentrischen Auferstehungs- (z.B. Röm 4,25; 6,49f.; 7,4; 8,34; 14,9) und theozentrischen Auferweckungsaussagen (z.B. Röm 10,9; 1Kor 6,14; 1Kor 15,15; 2Kor 4,14; Gal 1,1) bei Paulus. Vgl. zu den formelhaften Wendungen im Neuen Testament ausführlich ECKSTEIN, Übersicht, 232–235. 135 Zumindest bemerkenswert erscheint mir an dieser Stelle die Interpretation, die Heb 5,7 bezüglich des Gethsemanegebets vorlegt. Dass hier durchaus mit einer Erhörung Jesu gerechnet wird, die sich nicht auf eine Bewahrung vor dem Tod, wohl aber auf die Errettung aus dem Tod bezieht, lässt sich als konsequente Fortführung der markinischen Erzählung begreifen. Vgl. zur Gethsemanebitte Jesu ausführlich Kap. 4.3.1 („Wünsche“). 136 Wenngleich Markus durch zahlreiche Wiederholungen und Variationen das unabänderliche Todesschicksal Jesu zu vermitteln sucht und dieses Schicksal in der einzigartigen Vater-Sohn-Beziehung gründet, so werden Jesu Gegner hierdurch keineswegs entschuldigt. Der Verrat des Judas und die Falschanklage der religiösen Autoritäten werden mit scharfen Gerichtsworten belegt (vgl. 14,18–21; 12,12 nach V. 9). 137 Mit STUHLMACHER, Jes 53, 95.
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(Jes 43,3–5; 53,5–6 u. 11f.) ableitet und bei den Jüngern deshalb nichts als Unverständnis hervorrufen kann (s.u.). Umgekehrt stellt der Kreuzestod Jesu keineswegs das eigentliche Ziel des göttlichen Handelns dar. Dass der Vater den Sohn vielmehr aus dem Tod auferwecken wird und ihn damit zugleich vom zuvor getroffenen Schuldspruch der Blasphemie (14,64) frei spricht, wird – wiederum auf implizite, aber trotzdem nachvollziehbare Weise – durch das Erzählende des Markusevangeliums vermittelt.138 Bei der Lektüre von Mk 16,1–8 können die intendierten Rezipienten bereits mit der Auferweckung Jesu rechnen, weil diese über den vorherigen Erzählverlauf hinweg explizit und implizit vorhergesagt wurde (8,31b; 9,9 u. 33b; 10,33b; 14,18–21; 14,28). Da sich alle anderen Vorhersagen Jesu bereits bewahrheitet haben, wofür die Verleugnung des Petrus ein besonders eindrücklicher Beleg war (14,66–72), ist die Auferstehung aus Sicht der Rezipienten erwartbar und sehr wahrscheinlich. Dass nun der Zeitpunkt für dieses Ereignis gekommen ist, wird durch die einleitende zeitliche Verortung 139 angedeutet. Nachdem Markus die Grablegung zuvor auf den Rüsttag datiert (15,42) und für seine Rezipienten die Erklärung hinzugefügt hatte, dass es sich hierbei um den Tag vor dem Sabbat handele, fährt er nun mit den Ereignissen nach dem Sabbat fort (16,1). Hierdurch wird zum einen ersichtlich, dass der zuvor erwähnte Zeitraum von drei Tagen vorbei ist und Jesu Auferstehung unmittelbar bevorsteht. Die bewusst inszenierte Aussparung des Sabbats (= zeitliche Ellipse) könnte andeuten wollen, dass die nachfolgenden Ereignisse durch kein menschliches Einwirken zu erklären sind. Der Sabbatruhe müssen140 auch die Frauen folgen. Erst jetzt, wo die Geschäf138 Zum selben Ergebnis kommt ECKSTEIN, Verborgenheit, 150f.: „Die Kreuzestheologie des Evangelisten steht und fällt mit dem endgültigen und offensichtlichen Triumph der Auferweckung Jesu durch den Vater (16,1–8). Wollte man eine Kreuzestheologie unter Absehung der endgültigen Bestätigung und Verherrlichung Jesu durch seinen himmlischen Vater entfalten, dann müsste man sich die Kritik des Engels am Grab gegenüber den verzweifelten Frauen gefallen lassen: ‚Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden, er ist nicht hier!‘ (Mk 16,6).“ 139 Für eine zusätzlich Orientierung sorgt zudem, dass die Ereignisse in Jerusalem genau eine Woche umfassen: 11,1–11 (Sonntag) – 11,12–18 (Montag; 11,12: „am nächsten Tag“) – 11,19–13,37 (Dienstag; 11,19f.: „am Morgen“) – 14,1–11 (Mittwoch; 14,1: „noch zwei Tage bis zum Passa“) – 14,12–14,16 (Donnerstag; 14,12 „erster Tag der ungesäuerten Brote“) – 14,17–15,47 (Freitag; 14,17: kai; ojyiva~ genomevnh~) – 16,1 (Samstag; Ellipse) – 16,2–8 (Sonntag; „am ersten Tag der Woche“). 140 Eine implizite Ethik und positive Charakterisierung ist an dieser Stelle nicht zu vermuten. Dass die Frauen die Sabbatruhe einhalten und sich damit als toraobservant erweisen sollen, entspricht nicht der markinischen Erzähllogik. Während diese Interpretation für die matthäische Erzählung durchaus geltend zu machen ist, weil hier das Handeln der Frauen ganz offensichtlich mit dem politischen Agieren der Autoritäten kontrastiert wird (mit FINNERN, Narratologie, 346), scheint die Motivation hinter der markinische Darstellung profaner zu sein. Warum sollte hier das Halten des Sabbats als vorbildliches Verhalten
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te wieder geöffnet haben, können sie Öle kaufen und Jesus salben. Dass sie diese Salbung erst nach drei Tagen vornehmen können, widerspricht ganz offensichtlich der jüdischen Sitte,141 folgt aber gerade deshalb der bisherigen Erzähllogik: Da Jesu Tod unerwartet früh eingetreten war (vgl. 15,44) und die Grablegung zwangsläufig in großer Eile erfolgen musste, war keine Zeit für eine Salbung geblieben. Aber auch im Nachhinein wird sich alle menschliche Eile und Fürsorge als nutzlos erweisen. Der Rezipient schließt dies bereits aus der zuvor erzählten Salbung in Betanien.142 Im Kontrast hierzu deuten die gehäuften Zeitangaben in V. 2 auf symbolische Weise das entscheidende Eingreifen Gottes an. Bereits die Erwähnung der morgendlichen Frühe (kai; livan prwi>v) konnte – vor dem Hintergrund einer verbreiteten alttestamentlichen und jüdischen Vorstellung – als Hinweis auf Gottes Hilfe verstanden werden (Ps 17,15; 46,6; 143,8; Klgl 3,22f.; JosAs 14,1f.143; Flav. Jos. Vit. 3,14–16; LibAnt 42,3144 [Engel]).145 Mit dem ersten präsentiert werden, nachdem sich der Konflikt zwischen Jesus und den Autoritäten u.a. an der Sabbatfrage entzündet hatte (1,21; 2,23–28; 3,1–6)? Welche textexterne Motivation ließe sich hierfür – in einer überwiegend heidenchristlichen Gemeinde – geltend machen? Dass die intendierten Rezipienten hingegen wissen, dass die jüdische Sabbatruhe auch den Warenhandel betrifft, erscheint überaus wahrscheinlich (vgl. Phil. Mos. 2,211; legat. 158; MekhSh zu Ex 35,2; Jes 58,13 [dazu bShab 150a]; Jer 17,19–27; Am 8,5; Neh 10,32; 13,15–22; zur allgemeinen Kenntnis der Sabbatruhe vgl. Tac. hist. 5,4; Pomp. Trog. in Iust. 36,2,14; Jos. c. Ap. 2,23). Einen ambivalenten Befund stellen hingegen die Elephantine-Ostraka dar, weil in CG 152 eine Handelsbeteiligung vorausgesetzt wird, in CG 186 aber die Einhaltung des Handelsverbots impliziert wird („bis zum Tag des Sabbats“). 141 Soweit es sich angesichts der „Fragmentarität“ (LAMPE, Wirklichkeit, 180–189) des Quellenmaterials rekonstruieren lässt, würde eine Salbung im unmittelbaren Kontext der Grablegung wohl dem gewohnten Bestattungs-Schema entsprechen. Dass die Salbung der Toten in den Quellen jeweils nur am Rande erwähnt wird, verdeutlicht wohl die Selbstverständlichkeit dieser Praxis (jShab 23,18a,10; bYev 74a). Eine Salbung nach drei Tagen wird hingegen nirgendwo in den frühjüdischen Quellen erwähnt. Dass die Rezipienten eine Ahnung von der konservierenden Funktion eines Felsengrabes (= architektonisches Wissen) hatten und sich vor diesem Hintergrund eine spätere Salbung erklären ließe, ist denkbar. Wenig wahrscheinlich ist, dass die Rezipienten über die vergleichsweise günstigen klimatischen Bedingungen des Jerusalemer Frühlings Bescheid wussten (= Klimawissen). So oder so bleibt die Salbung eines Begrabenen ein kulturell unüblicher Vorgang, der sich einzig und allein durch die provisorische Bestattung Jesu und damit aus dem vorherigen Erzählverlauf erklären lässt. 142 Hier hatte Jesus die Salbung durch eine Frau bereits als Salbung zum Begräbnis gedeutet (Mk 14,8). Eine Deutung, der die Rezipienten Aufmerksamkeit schenken: (1) die Deutung wird vom Protagonisten als zuverlässigem Perspektiventräger vorgetragen; (2) die Deutung bezieht sich auf ein wichtiges Ereignis der Erzählung; (3) die Deutung bleibt im unmittelbaren Erzählkontext unverständlich bzw. erklärungsbedürftig. Die Rezipienten werden auf eine nachträgliche Erklärung achten. 143 Mit der Mehrheit heutiger Exegeten datiere ich die Schrift auf das 1. Jhdt. n. Chr. (vgl. zur Datierungsfrage ausführlich VOGEL, Einführung, 12–14). 144 Zur Frage der Datierung vgl. Kap. 3.2.4.
4.2 Perspektivische Vermittlung
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Tag der Woche wird aus Sicht der Rezipienten sodann auf den Sonntag verwiesen (vgl. Apg 20,7; 1Kor 16,2), mit dem sich im Urchristentum sehr früh eine gottesdienstliche Feier der Auferstehung146 verbunden hat und der ihnen gerade deshalb als Tag des Herrn (kuriakh; hJmevra; vgl. Offb 1,10) galt.147 Letztlich verweist der Erzähler auch mit dem symbolischen Aufgang der Sonne auf ein göttliches Eingreifen (vgl. Mal 3,20; Ps 59,17; 30,6 u.ö.). Im Fortgang des Auferstehungsberichtes drängt sich dem Rezipienten die Frage auf, wer den Stein von der Grabestür entfernt habe. Dass sich Markus zu dieser Leerstelle des Textes keine Gedanken gemacht hat und seine Rezipienten nicht zum Nachdenken hierüber anregt, widerspricht m.E. dem eindeutig inszenierten Verlauf der Ereignisse. Markus hat sich möglicherweise keine Gedanken darüber gemacht, warum den Frauen erst auf dem Weg einfällt, dass das Grab mit einem großen Stein verschlossen ist. Dass er den entsprechenden Dialog der Frauen zitiert (V. 3), um sofort im Anschluss zu erzählen, dass der Stein bereits weggewälzt wurde, lässt aber sein prinzipielles Interesse an diesem Ereignis erkennen. Die passive Formulierung „der Stein war weggewälzt“ (ajpokekuvlistai oJ livqo~) lässt dabei einen gewissen Deutungsspielraum zu. Vor dem Hintergrund der erzählten Welt und im Kontext der gesamten Episode erscheint es aber wahrscheinlich, dass entweder der in V. 5 eingeführte Engel148 oder Gott149 den Stein entfernt haben.150 Beide Antwortmöglichkeiten sind gleich wahrscheinlich und geben jeweils Gott als Letztverursacher zu erkennen. Dass der Erzähler nicht explizit vom „Engel (des Herrn)“ spricht, ergibt sich allein aus dem Interesse, die eingeschränkte Sicht der Frauen – und damit deren paradoxes Unverständnis – in den Vordergrund zu rücken. Markus schildert die gesamte Begegnung aus der 145
Vgl. ZIEGLER, Hilfe Gottes, 281–288, und ausführlich JANOWSKI, Rettungsgewißheit, bes. 15. 146 In Barn 15,9 hat sich die Bezeichnung „Tag der Auferstehung“ bereits als festes Synonym für den Sonntag etabliert. 147 Vgl. zum „Tag des Herrn“ ECKSTEIN, Gottesdienst, bes. 27f. 148 So z.B. PESCH, Markusevangelium II/2, 532. 149 So z.B. ECKEY, Markusevangelium, 402, der nicht nur auf das Passiv, sondern zugleich auf die Größe des Steins verweist. Die Größe des Steins impliziert jedoch lediglich, dass keine Einzelperson hinter dem Geschehen stecken kann. Auch in 15,46 dürfte nämlich vorausgesetzt sein, dass Josef als Ratsherr keineswegs alleine den Stein vor das Grab gerollt hat, sondern mit Hilfe seiner Diener. Theoretisch denkbar wäre dann aber immer noch die Öffnung durch eine Gruppe von Grabräubern (so GUNDRY, Mark, 990). Doch warum sollte der intendierte Rezipient des Markusevangeliums mit dem Auftreten einer solchen Figurengruppe rechnen? M.E. ergibt sich diese Option erst aus der Kenntnis des Matthäustextes (Mt 27,62–65; 28,4 u. 11–15). Markus scheint sich nicht gegen einen entsprechenden Vorwurf des Leichenraubs verteidigen zu müssen. 150 Dass Jesus aus eigener Kraft auferstanden und den Stein weggewälzt habe, lässt sich aufgrund der nachfolgenden Engelsrede und der passivischen Auferweckungsaussage nahezu ausschließen.
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Wahrnehmung der Frauen und bedient sich in V. 5 dem erzählerischen Mittel der erlebten Rede.151 Das weiße Gewand lässt jedoch eindeutig erkennen, dass sich im Folgenden ein Bote Gottes zu Wort meldet (vgl. 2Makk 5,2; Offb 6,11; 7,9; 7,13152). Gerade deshalb verfügt der „Jüngling“ auch über ein übermenschliches Wissen. Er kennt die Absicht der Frauen („Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten“), weiß das leere Grab zu deuten („Er ist auferstanden, er ist nicht hier“) und ist zudem über die Ereignisse der Vergangenheit (V. 6b u. 7b) sowie der unmittelbaren Zukunft (V. 7a) informiert. In der zitierten Rede des Engels wird die Auferstehung nochmals indirekt als Handeln Gottes gedeutet. Dies ergibt sich aus dem Kontrast zwischen der aktiven Suche der Nachfolgerinnen und der passivisch formulierten Auferweckungsaussage (hjgevrqh). „This passive meaning, in turn, suggests divine action: God raised Jesus.“153 Gerade aufgrund der hohen Indiziendichte ist es m.E. unstrittig, dass die geschilderte Auferstehung als Handeln Gottes erfasst werden sollte. Der intendierte Rezipient muss dabei keineswegs alle beschriebenen Motive sowie Schlussfolgerungsprozesse nachvollziehen. Aber die schiere Anzahl an Hinweisen werden ihm wohl ein entsprechendes Verständnis der Ereignisse vermittelt haben. Damit lässt sich dem Erzählende aber eine hohe Relevanz beim Verständnis der Gesamterzählung zuschreiben: Der von den religiösen Autoritäten wegen Gotteslästerung angeklagte und von Pilatus wegen seiner politischen Herrschaftsansprüche verurteilte und hingerichtete Jesus wird ausgerechnet von Gott rehabilitiert. Eine Rehabilitation, die nicht nur Jesu schmachvollen Tod betrifft (vgl. Gal 3,13), sondern seine gesamte Lehre und sein Wirken einschließt. Denn mit seiner Auferweckung wird Jesus zugleich als zuverlässige Instanz rehabilitiert. So wie sich zuvor alle seine Ankündigungen bewahrheitet haben, so bewahrheitet sich auch die Ankündigung seiner Auferstehung. Er bleibt im Recht. Auch die provokative und für größte Spannung sorgende Frage am Kreuz, ob Gott seinen Sohn verlassen habe (Mk 15,34), wird mit der Auferweckung eindeutig negativ beantwortet. 151
Dass Engel irrtümlicherweise für Jünglinge (2Makk 3,26.33; Jos. Ant. 5,277) oder Männer (Tob 5,9; Apg 1,10; 10,30) gehalten werden, ist dabei ein Motiv, das sich auch außerhalb des Markusevangeliums findet. Es liegt hier also vermutlich keine emergente Bedeutung im eigentlichen Sinn vor, sondern Markus kann sich des literarischen Vorwissens seiner Rezipienten gewiss sein. 152 Weiß gilt ganz allgemein als Farbe des Himmels und himmlischer Gestalten (Tob 5,5–9; 2Makk 3,26 u. 33; Jos. Ant. 5,8,276–284; Herm. Vis. 3,1,6; 3,2; 3,5; 3,4,1; EvPetr 9,36; 13,55). Hierüber ergibt sich auch ein indirekter Bezug zur Verklärung Jesu, ohne dass man deswegen starke Bezüge zwischen beiden Episoden konstruieren oder gar eine Identifikation des Engels mit Jesus behaupten müsste (gegen COLLINS, Mark, 795). 153 GUNDRY, Mark, 992; ähnlich PESCH, Markusevangelium II/2, 533: „Das Passivum umschreibt das Handeln Gottes.“ Vgl. hierzu Apg 2,24; 3,15; 4,10; 5,30; 10,40; Röm 4,24; 8,11; 10,9; 1Kor 6,14; 15,15; 2Kor 4,14; 1Petr 1,21.
4.2 Perspektivische Vermittlung
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Jesus war von Anfang an Gottes geliebter Sohn (1,11) und er bleibt es über den Tod hinaus auch in der Auferstehung. Ja, er wird der frühchristlichen Vorstellungswelt entsprechend durch die Auferstehung von den Toten dauerhaft zum Sohn Gottes eingesetzt (Röm 1,3f.; Apg 13,33).154 Insgesamt erweist sich die Perspektive Gottes als kohärent und konstant. b. Die Perspektive der Dämonen: Von seinem ersten Auftritt in Kapernaum (1,21) bis zu seiner expliziten Rückkehr155 dorthin (9,33) – d.h. im gesamten Gebiet von Galiläa und rund um das Galiläische Meer – begegnen Jesus zahlreiche „böse“ und „unreine“ Geister. Sowohl in den jüdisch charakterisierten156 Siedlungsgebieten als auch auf heidnischem Gebiet stößt der Protagonist auf diese transzendenten Wesen. Wenngleich die Bezeichnung der einzelnen Geister variiert und manchen sogar ein Eigenname zugeschrieben wird, lässt sich vor dem Hintergrund eines kognitiv-narratologischen Figurenverständnisses plausibel machen, dass die Rezipienten die einzelnen Wesen über den Lektüreprozess hinweg zu einer Figurengruppe zusammen-
154
Dass der Sohn-Gottes-Titel im Auferstehungsbericht fehlt, bedeutet dabei keineswegs, dass die Rezipienten das geschilderte Ereignis nicht vor dem Hintergrund der hiermit verbundenen, einzigartigen Gottesbeziehung interpretieren. Während die in ihrer Wahrnehmung eingeschränkten und deshalb in ihrer Zuverlässigkeit disqualifizierten Frauen ausschließlich nach dem „Nazarener“ und dem „Gekreuzigten“ suchen (V. 6), wird der Rezipient das Eingreifen Gottes unweigerlich in Kontinuität zu den vorherigen Äußerungen (1,11; 9,7) sehen. Das Unverständnis der Frauen provoziert geradezu diese Antwort der Rezipienten. Hierzu passt, dass Jesus auch sonst seiner menschlichen Herkunft nach als Nazarener bezeichnet wird (1,24; indirekt: 6,1–3), während seine Gottessohnschaft verborgen bleibt bzw. von Anfang an nur den Dämonen bekannt ist (s.u.). 155 Es ist möglich, dass die intendierten Rezipienten auch andere Episoden und Szenen in der Gegend von Kapernaum verorten konnten. Durchaus plausibel erscheint dies im Hinblick auf 5,21–43 zu sein, wobei Jairus dann als Vorsteher der bereits erwähnten Synagoge (1,21; 3,1) zu begreifen wäre (ei|~ tw`n ajrcisunagwvgwn). Eine derartige Identifizierung würde (besonders) plausibel werden lassen, warum der Mann als jüdische Autorität Jesus Vertrauen schenkt. Da sich die Kunde von Jesus und seinen Taten aber weit über die Grenzen Kapernaums verbreitet hat, ist dies keineswegs zwingend. Explizit wird von einer Rückkehr nach Kapernaum tatsächlich erst in 9,33 berichtet. 156 Markus bietet seinen Rezipienten während der Lektüre eine räumliche Orientierung, indem er die beiden Uferseiten auf stereotype Weise zu einem „jüdischen“ und „heidnischen“ Ufer ausgestaltet. Dies wird primär durch das Auftreten entsprechender Figurengruppen sowie die Erwähnung bestimmter Figurenmerkmale erreicht. Eine solche Charakterisierung des Raums steht im Einklang mit einer antiken Denkweise, die sich mit Greg Woolf als „ethnography-cum-geography“ bezeichnen lässt (vgl. WOOLF, Saving the Barbarian, 255–271, hier 256) und die von einem festen Zusammenhang zwischen der Herkunft einer Person und ihren Persönlichkeitsmerkmalen ausgeht (vgl. z.B. Strab. geogr. 1,2,28; Mela de chorographia 1,1; Caes. Gall. 1,1,1–7).
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fassen.157 Auch bei der so verstandenen Perspektive der Dämonen158 müssen neben den explizit artikulierten Äußerungen sämtliche Figurenmerkmale einbezogen werden, die der Rezipienten sich über den Erzählverlauf hinweg erschließen soll und die ihm ein umfassendes Verständnis des Figurenstandpunkts ermöglichen. Betrachten wir zuerst die expliziten Äußerungen der Dämonen, so zeigt sich, dass diese gerade im Unterschied zu anderen Figuren über ein übernatürliches Wissen verfügen. Ihnen ist – wie sonst nur Gott und dem Protagonisten – bekannt, dass Jesus der „Sohn Gottes“ (3,11: oJ uiJo;~ tou` qeou`) ist. Diese in 3,11 festgehaltene Sichtweise der Dämonen, die der Erzähler in Form einer iterativen Erzählweise und zugleich als direkte Figurenrede wiedergibt, lässt erkennen, in welcher Weise Markus auch die zwei weiteren Äußerungen der Dämonen verstanden wissen will.159 Bereits zuvor in 1,24 wird Jesus in der Synagoge von Kapernaum als „Heiliger Gottes“ (oJ a{gio~ tou` qeou`) angesprochen, wobei die Verlässlichkeit dieses Standpunkts zugleich durch a) die selbstsichere Auskunft der Dämonen (oi\da se tiv~ ei\), b) das schroffe Schweigegebot Jesu (V. 12) sowie c) die Stimme des Erzählers (1,34b: o{ti h[ædeisan aujtovn) garantiert wird.160 Doch wie lässt sich die als zuverlässig dargestellte Zuschreibung des Dämons dann mit der in 3,11 festgehaltenen Sohnschaft Jesu in Einklang bringen? Manche Interpreten versuchen an dieser Stelle, über LXX Ps 105,16 und TestLev 18,2 einen Bezug zur Person Aarons bzw. zum messianischen Hohenpriester herzustellen; nicht nur deshalb, weil an letzterer Stelle von der Bindung Beliars,
157 Die Synonymie der Begrifflichkeiten lässt sich besonders gut in 7,24–30 erkennen, wo im Wechsel vom bösen und unreinen Geist die Rede ist und sogar der Erzähler in seiner Wortwahl variiert (V. 25/V. 29). 158 Während das Hebräische noch keinen Sammelbegriff für derartige transzendente Wesen kennt, zeigt sich bereits in der LXX die Tendenz, dass verschiedene Bezeichnungen durch daimwvn übersetzt werden (vgl. hierzu FREY-ANTHES, Dämonen). 159 Der Autor versucht hierdurch, die aus der Überlieferung übernommenen Traditionsstücke einer vereinheitlichenden Deutung zu unterziehen. Wenngleich die Rezipienten auch diesen Aspekt der Textgenese nicht bemerken konnten, so hat die Textstelle trotzdem eine erzählerische Ordnungsfunktion. Durch die iterative Erzählweise wird der hier artikulierte Standpunkt auf die übrigen Begegnungen übertragbar. Dass der Rezipient die Aussage aus 3,11 auch auf jene Begegnungen projizieren soll, in denen die Dämonen stumm bleiben (so MALBON, Mark’s Jesus, 81), vermag hingegen nicht zu überzeugen. In 7,24–30 und 9,14–29 liegt die Aufmerksamkeit schlichtweg nicht auf dem Dämon, sondern auf dem Verhalten der Syrophönizierin und dem Verhalten des Vaters. Der Dämon fungiert hier jeweils nur als Hilfsfigur, d.h. er wird auf sein Handeln als Gegenspieler reduziert, ohne dass die Rezipienten ihm weitere Merkmale zuschreiben sollen. 160 Letztlich unterstreichen auch der in V. 24a verwendete Eigenname („Jesus“) sowie die Herkunftsbezeichnung („Nazareth“), die mit den Informationen der bisherigen Erzählung korrespondieren (vgl. 1,9), dass das Wissen der Dämonen zuverlässig ist.
4.2 Perspektivische Vermittlung
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also einem der zentralen Repräsentanten des Widergöttlichen161, die Rede ist. Gegen diese These sprechen jedoch zugleich die geringe Bezeugungsbreite und die späte Datierung162 des Testamentum Levi. Naheliegender ist es in jedem Fall, sich der Textstelle von der überaus gut bezeugten Anrede Gottes als dem „Heiligen (Israels)“ zu nähern (vgl. Jes 1,4; 5,19.24; 10,17.20; 40,25; 41,14.16.20; 43,3.14f.; LXX Ps 70,22; 77,41; 88,19). Denn von dieser verbreiteten Gottesanrede leiten sich letztlich alle Übertragungen auf andere Einzelpersonen, wie z.B. auf die Person des Mose (Weish 11,1: „heilig“), Davids (LXX Ps 15,10) oder Elisas (2Kön 4,9: „heiliger Gottesmann“), ab. Als „Heiliger“ wird in diesem Sinne derjenige verstanden, der in einer besonderen Beziehung zu Gott steht. Durch das betonte oJ a{gio~ tou` qeou` wird also erneut das Verhältnis zwischen Jesus und Gott hervorgehoben,163 so dass sich durchaus eine Informationsverdoppelung zur Gottesstimme in Mk 1,11 und der dort offenbarten Sohnschaft Jesu ergibt. Vor diesem Hintergrund wird zugleich die nachträgliche Präzisierung in 3,11 verständlich. Mk 1,24 soll im Sinne des Sohnestitels verstanden werden.164 Ebenfalls auf 1,9–11 bezogen ist die Anrede Jesu als „Nazarener“ (ÆIhsou` Nazarhnev). Diese muss keineswegs als kompliziertes Wortspiel verstanden werden,165 sondern lässt sich am einfachsten als ein Spiel mit den unterschiedlichen Wahrnehmungen der Person Jesu erklären. So ist Nazareth im Markusevangelium v.a. Herkunftsbezeichnung Jesu (1,9). Es ist zugleich ein Ort der Ablehnung, wobei sich der Unglaube der Bewohner darin artikuliert, dass sie nur auf Jesu menschliche Abstammung und seine soziale Verortung
161
Vgl. zu der außerbiblisch bezeugten Gestalt Beliars neben 2Kor 6,15 v.a. TestIss 6,1; TestDan 4,7; 5,1 und CD 5,18. 162 Wenngleich „einige historische Anspielungen (TestXII Naftali 5,8: Syrien als letzte der Weltmächte; TestXII Levi 14: antihellenistische Priesterpolemik) auf das 2. Jahrhundert v. Chr. als Entstehungszeit eines jüdischen Grundbestands der TestXII [hindeuten]“ (TILLY, Testamente), muss die Schrift in ihrer jetzigen Endgestalt als christliche Schrift gelten. Ein Urteil darüber, ob dem messianischen Hohenpriester bereits in vorchristlicher Zeit eine exorzistische Funktion zugeschrieben wurde, bleibt weitgehend Spekulation. 163 Ähnlich ROSE, Theologie, 172; SCHOLTISSEK, Vollmacht, 112. 164 Ähnlich WHITENTON, Hearing, 155f. Insofern sich in der direkten Rede der Dämonen (3,11) zugleich die Stimme des Erzählers artikuliert, könnte man hier von der antiken Stiltrennungsregel reden. Die Rezipienten werden sich dieser „Ansteckung der Figurensprache“ jedoch nicht bewusst und schenken diesem Sachverhalt wohl keine Aufmerksamkeit. Für sie ergibt sich viel eher ein kohärentes Bild. 165 Eine wortspielerische Vermittlung zwischen Herkunftsname (Nazarener) und der Bezeichnung „Heiliger Gottes“ (a{gio~ qeou`) über den Begriff des Naziräers setzt nicht nur eine profunde Textkenntnis von Ri 13,7 voraus, sondern mutet dem Rezipienten auch sonst zu viel zu, weil sich weder im Text noch im weiteren Kontext ein entsprechendes Signal für eine solche Intertextualität bzw. Anspielung finden lässt.
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achten (6,1–3).166 Hiermit korrespondiert auch das Unverständnis der Angehörigen (3,21; 3,31–35).167 In Mk 16,6 ist „Nazarener“ sodann Synonym für den Gekreuzigten, der von den Frauen vergeblich gesucht wird, weil sie nicht an die verheißene Auferstehung glauben (s.o.). In 1,24 weiß der Rezipient noch nichts von diesen Bedeutungsgehalten des Nazarener-Begriffs, aber er wird dieses Attribut zunächst in Analogie zu seiner bisherigen Verwendung (1,9) verstehen. Der Dämon offenbart durch die Anrede Jesu sein übernatürliches Wissen, weil im unmittelbaren Erzählkontext weder der Eigenname noch die Herkunft Jesu erwähnt wurden. Dass der unreine Geist zudem um die einzigartige Beziehung zwischen Jesus und Gott weiß, ist dann als überraschende Steigerung zu verstehen. Damit wird das einzigartige Wissen der Dämonen unterstrichen. Die Menschen in der Synagoge bekommen hingegen von diesem Wissen um Jesu Identität nichts mit. Das Reden der Dämonen entzieht sich ihrer Wahrnehmung. Sie erkennen nur, dass die Geister Jesus gehorchen müssen und entsetzen sich über die neue Lehre in Vollmacht (1,27). Die am ausführlichsten erzählte Begegnung zwischen Jesus und einem Dämon findet sich in 5,1–20. Betrachten wir auch hier zunächst primär die eigentliche Anrede Jesu (5,7): tiv ejmoi; kai; soiv, ÆIhsou` uiJe; tou` qeou` tou` uJyivstou [...]. Wieder verwendet Markus zur Charakterisierung eines Dämons die direkte Rede. In diesem Fall kommt es gar zu einem ausführlicheren Dialog zwischen Jesus und dem Dämon. In Analogie zu 3,11 wird Jesus nicht nur mit seinem Eigennamen, sondern als Sohn Gottes angesprochen. Zur weiteren Steigerung wird Gott als „Höchster“ bezeichnet. Man könnte geneigt sein, diesen Zusatz zugleich mit dem heidnischen Umfeld168 der Erzählung oder gar der heidnischen Vorstellung eines Götterpantheons zu begründen. Allerdings soll die Vokabel „Höchster“ wohl nicht primär auf die Herkunft des Dämons verweisen (als himmlische Wesen entziehen sie sich jeglicher irdischen Verortung), sondern – im Zusammenhang des weiteren Dialogs und der 166 Einige Exegeten wollen in der Formulierung „Sohn der Maria“ sogar eine (implizite) Diffamierung Jesu aufgrund seiner Familiensituation erkennen: vgl. PESCH, Markusevangelium II/1, 319 [Vater verstorben], und WITHERINGTON, Gospel, 193 [uneheliches Kind]. 167 Die Aussage, dass sich die Angehörigen „aufmachten“ (3,21), wird der Rezipient bereits zwangsläufig mit einem Aufbruch in Nazareth assoziieren. In 6,3 wird diese Vermutung bestätigt, weil die Familie noch ausdrücklich in der Vaterstadt wohnt. 168 So z.B. GNILKA, Evangelium II/1, 204; PESCH, Markusevangelium II/1, 287. Vgl. zur Vorgeschichte dieser Anrede HENGEL, Judentum und Hellenismus, 544f. Auch in anderen Quellen wird die Bezeichnung u{yisto~ gelegentlich von heidnischen Personen gebraucht (vgl. Gen 14,18–20; Num 24,16; Dan q 5,18 u. 21; Apg 16,17). Anders hingegen Ex 15,1 [Mose/Israel]; 2Sam 22,14 [David]; Lk 1,32 u. 35 [Engel]; 1,76 [Zacharias]; 6,35 [Jesus]; Apg 7,48 [Stephanus]. Die Anrede ist auch innerjüdisch als Synonym für JHWH bestens bezeugt (vgl. BREYTENBACH, Art. Hypsistos, 440f. und dazu Sir 41,4.8; 42,2.18; Sap 5,15; 6,3; 3Makk 6,2; Sib 3,519 u. 574; JosAs 8,9; TestAbr 15,12; Phil. legat. 278; Flacc. 46).
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beschriebenen Gesten – auf dessen Unterwürfigkeit und Machtlosigkeit hinweisen. Die Begegnung mit dem Dämon von Gerasa kann uns als Einstieg in eine Betrachtung des Figurenverhaltens dienen. Bereits vor der gerade zitierten Anrede Jesu wird vom Dämon berichtet, dass er von Ferne zu Jesus hingelaufen und vor diesem niedergefallen sei. Eine derartige Proskynese, d.h. eine Geste der Anbetung und Unterwerfung, erscheint für einen Dämon ein bemerkenswertes Verhalten darzustellen. Dieses Verhalten macht es fraglich, ob man die Worte tiv ejmoi; kai; soiv hier tatsächlich noch als Abwehrformel begreifen soll. Einen eindeutig parodistischen Charakter besitzt in jedem Fall der weitere Gesprächsgang,169 wenn der Dämon hier den Sohn Gottes des Höchsten bei Gott beschwört, dass er ihn nicht quälen solle. Im Verhalten und den Äußerungen des Dämons schwingt die Verzweiflung angesichts der überragenden Vollmacht Jesu mit. Der Dämon gibt sein Wissen über Jesus nicht freiwillig preis, sondern er muss zähneknirschend eingestehen, dass der Sohn Gottes ihm überlegen ist. Diese Überlegenheit wird auch durch die weitere Handlung demonstriert. Aus Sicht der Rezipienten hat es zunächst den Anschein, Jesus lasse sich auf die Bitte des Dämons, im Lande zu bleiben (V. 10),170 sowie die nachfolgende Präzisierung dieses Anliegens (V. 12) ein. Überraschender Weise gewährt er „Legion“171 ausdrücklich in die Schweine169 So bereits GNILKA, Evangelium II/1, 204: „Die Formel ‚ich beschwöre dich bei Gott‘ ist entsprechend dem Exorzismusritual natürlich dem Exorzisten. Im Mund des Dämons wirkt sie als Parodie.“ 170 Zu einer solchen „Konzessionsbitte“ finden sich einige wenige Parallelen, die außerdem zeitlich und räumlich weit entfernt sind von unserem Markustext (vgl. GRESSMANN, Altorientalische Texte, 78 [Bentresch-Stele]; PESCH, Markusevangelium, 289). 171 In Anlehnung an THEISSEN, Wundergeschichten, 252, wird die Bezeichnung Legion in Zusammenhang mit der beschriebenen Größe der Dämonenschar und der vermeintlich angedeuteten Okkupation des Landes (V. 10) immer wieder als „Anspielung auf die römische Fremdherrschaft“ verstanden, so dass die Erzählung „den aggressiven Wunsch, sie wie die Schweine ins Meer zu schicken [befriedige]“ (252). BEDENBENDER, Frohe Botschaft, 62, treibt diesen Vergleich geradezu auf die Spitze, wenn er auch noch den besessenen Gerasener aufgrund seines Aufenthaltsortes in einer Grabeshöhle (!) für ein „poetisches Miniaturporträt der Zeloten“ hält. Eine solche Interpretation, die auf Seiten der Rezipienten eine derart detaillierte Kenntnis der örtlichen Parteiungen voraussetzt (vgl. dagegen 12,18), muss allerdings zwangsläufig ein inkohärentes Rezipientenbild in Kauf nehmen. In ebendieser Hinsicht betont BEDENBENDER, Frohe Botschaft, 91 dann auch: „Manche Stellen [...] könnten auf eine doppelte Rezeption angelegt sein: Es entspräche dann gleichermaßen der intentio operis (sic!), sie auf eine typisch jüdische (oder judenchristliche) und auf typisch heidnische (oder heidenchristliche) Art zu verstehen.“ Eine derartige Aufspaltung möglicher Rezipientengruppen erscheint mir methodisch problematisch. Es stellt sich dann umso mehr die Frage, warum Markus die Begegnung gerade auf heidnischem Gebiet lokalisiert. Einfacher ist es nach wie vor, den Begriff „Legion“ vor dem Hintergrund einer auch sonst zu beobachtenden „Militarisierung der Dämonologie“ (BÖCHER, Christus exorcista, 68) zu erklären. Vgl. hierzu Hor. carm. 3,30 [febrium cohors]
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herde zu fahren (V. 13). Aber: „Nicht lange müssen die Leser warten, bis ihre Irritation sich auflöst. Jesu Zugeständnis war ein Hinterhalt. Die besessenen Schweine rasen wild gegen sich selbst, stürmen den Berg hinab und ersaufen im Meer.“172 Während die Dämonen die Konsequenzen ihrer Bitte gerade nicht überschauen können und ins Verderben laufen, wird Jesus durch den tödlichen Sturz ins Meer als vorausschauend charakterisiert. Das in 5,1–20 zu erkennende Ungleichgewicht zwischen den beteiligten Mächten ist m.E. für sämtliche Begegnungen zwischen Jesus und den Dämonen charakteristisch. Das Markusevangelium ist weit davon entfernt, einen „cosmic struggle“ 173 (Malbon) zu präsentieren. Ein entsprechend dualistisches Weltbild liegt ihm gerade nicht zu Grunde. Vielmehr sind die Dämonen stets gezwungen, Jesus in seiner Übermacht als Sohn Gottes anzuerkennen. Jedes Aufeinandertreffen zeugt abermals davon, dass der Kampf längst entschieden und der „Starke“, d.h der Satan,174 seines Hausrats und seines Hauses beraubt und gefesselt ist (3,27). Bereits in 1,12f. wird kein gleichwertiger Kampf zwischen Jesus und Satan beschrieben, sondern Jesus wird gerade vom Heiligen Geist in die Wüste geführt, um dort den Versuchungen des Satans ausgeliefert zu werden. Die kurze Szene der Versuchung endet dann zwar mit einem offenen Ende, weil vom eigentlichen Triumph Jesu erstaunlicher Weise nichts berichtet wird – eine Lücke, die Lukas und Matthäus durch weiteres Traditionsgut zu füllen wissen – aber die unmittelbar nachfolgenden Episoden und kürzeren Szenen demonstrieren in völlig eindeutiger Weise sowie in besonders rascher Abfolge (1,21–27; 1,34; 1,39; 3,11) Jesu Vollmacht (ejxousiva). Bereits die Abwehrformel 175 des ersten Dämons (1,24) verfehlt offensichtlich jegliche Wirkung. Zwar räumt der unreine Geist dadurch unfreiwillig ein, dass Jesus in einer einzigartigen Bezieund Mk 3,22 [oJ a[rcwn]. Die eigentliche Ironie besteht darin, dass sich selbst eine Dämonen-Legion Jesus kampflos ergeben muss und ihm keinerlei Gegenwehr entgegenzusetzen hat. 172 SCHENKE, Literarische Eigenart, 142. 173 MALBON, Mark’s Jesus, 80–83, hier 80: „In terms of the cosmic struggle that is foundational for Mark’s Gospel, unclean spirits and demons are aligned with Satan over against God.“ 174 So der Sinn, den die Mehrheit der Exegeten dem Begriff des Starken zuschreibt (vgl. z.B. HAENCHEN, Weg, 146f.; PESCH, Markusevangelium II/1, 215; SCHENKE, Literarische Eigenart, 120f.; GNILKA, Evangelium II/1, 150) und der sich gleichermaßen aus dem vorherigen Erzählverlauf (v.a. 1,12f.), der geschilderten Diskussionssituation (3,22.23.26) und dem textextern gegebenen Begriffspotenzial (vgl. LXX Jes 49,24f.26) ergibt. Anders z.B. BEDENBENDER, Mark’s Jesus, 57–63 u. 128, der den Begriff des Starken auf die Zeloten beziehen will. Dass der Satan in Mk 3,27 als legitimer Hausbesitzer erscheinen soll, was Bedenbenders Haupteinwand gegen die klassische Interpretation ist, stellt jedoch eine Überinterpretation der kurzen Notiz ta; skeuvh aujtou dar. 175 Vgl. hierzu die ähnliche Fragen in Ri 11,12; 2Sam 16,10; 19,23; 1Kön 17,18; 2Kön 3,13; 2Chr 35,21 und dazu BÄCHLI, Frage.
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hung zu Gott steht, aber er hat dem Schweigebefehl und dem Ausfahrbefehl Jesu nichts entgegen zu setzen. Die explizit formulierte Sorge des Dämons, Jesus könne gekommen sein, um ihn176 zu vernichten (V. 24: h\lqe~ ajpolevsai hJma~;), bewahrheitet sich. Mit dem Kommen Jesu nach Galiläa und der nun angebrochenen Königsherrschaft Gottes (vgl. 1,14) beginnt die Vernichtung der Dämonen, wenngleich den einzelnen Exorzismen ein primär zeichenhafter Charakter zu zu sprechen ist (vgl. 9,19). An ihnen könnten die Menschen Jesu wahre Identität erkennen, aber sie verfallen stattdessen immer wieder in ein ambivalentes Entsetzen oder in schieren Unglauben (3,22; 9,19). Gegenüber den anderswo bezeugten Beschwörungen oder den umfassenden Zauberformeln antiker Exorzisten sticht immer wieder die Kürze der Worte Jesu hervor (1,25; 4,39; 5,8; 9,25),177 die an das „machtwirkende Schelten und Drohen Gottes“178 erinnern. Von göttlicher Überlegenheit zeugen dann auch der Schlaf179 Jesu in Mitten des Sturms (4,38) sowie die geschilderte Austreibung aus der Ferne180 (7,29f.), die Jesus insgesamt als Herrn über die Dämonen und Naturgewalten erscheinen lassen (vgl. hierzu ausführlich Kap. 4.3.2b). Trotz wandelnder Begrifflichkeiten lässt sich auch die Perspektive der Dämonen insgesamt als kohärent bezeichnen. Eine gewisse Dynamik ist insofern fest zu stellen, als sich die Dämonen zunächst gegen Jesu Macht zur Wehr setzen, dann aber in der Folge als vollkommen wehrlos und unterlegen erscheinen. Das wird besonders eindrücklich durch den Sturz
176 ROSE, Theologie, 171 will den verwendeten Plural (hJma~) im Sinne einer „internkompletiven Prolepse“ interpretieren, weil sich hierin bereits die Befürchtung aller nachfolgenden Dämonen artikuliere. Auf diese Weise wird der Plural überbewertet, denn dieser lässt sich entweder als produktionsästhetischer Fehler begreifen (vgl. den häufigen Personenwechsel in 5,7.9f.12) oder erlaubt einen Rückschluss darauf, dass der Mann von mehreren Geistern besessen ist. Dass der Begegnung insgesamt eine prototypische Bedeutung zukommt, lässt sich leichter über den kognitiv vorauszusetzenden primacy effect erklären. Die erste Begegnung mit einem Dämon prägt die Erwartungshaltung der Rezipienten und beeinflusst automatisch die Wahrnehmung aller weiteren bösen und unreinen Geister. 177 Ähnlich PESCH, Markusevangelium II/1, 123. 178 STAUFFER, Art. ejpitimavw, 620. 179 Soll die explizite Erwähnung der Schlafstätte (ejn th`æ pruvmnhæ) auf den Ort des Steuermanns verweisen (so PESCH, Markusevangelium II/1, 271), so wirkt Jesu Schlaf umso erstaunlicher und provokativer. So oder so ist es unzureichend, den Schlaf allein mit der nächtlichen Situation zu begründen oder als Hinweis auf die menschliche Natur Jesu abzutun (so wirkungsgeschichtlich Beda, PL 173: Qui ut homo dormit in naui furorem maris uerbo compescit ut Deus). Es besteht ein offensichtlicher Bezug zum Motiv des schlafenden Gottes (vgl. BATTO, Sleeping God, bes.153 [Belege] und dazu z.B. Ps 44,24–27 u. 59,5f.). 180 Eine Unterbestimmung dieser Fernheilung stellt es demgegenüber dar, wenn diese allein als prophetische Vorhersage gedeutet wird (so z.B. PESCH, Markusevangelium II/1, 390). Jesus weiß nicht nur um die erfolgte Heilung, sondern er bewirkt sie auf das Wort der Syrophönizierin hin.
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ins Meer versinnbildlicht, und dadurch, dass sie letztlich gänzlich verstummen und auf die Rolle von Rand- bzw. Hilfsfiguren reduziert werden. c. Die Perspektive der religiösen und politischen Autoritäten: Einen wichtigen Kontrast zur Perspektive Gottes und zum Wissen der Dämonen stellt die Perspektive der religiösen und politischen Führer dar.181 Auch deren Äußerungen und Handlungen werden von den intendierten Rezipienten über den Lektüreprozess hinweg zusammengefasst. So werden die Repräsentanten der Pharisäer (2,16.24; 3,6; 7,1; 8,15; 10,2; 12,13), der Schriftgelehrten (1,22; 2,6.16; 3,22; 7,1; 12,28.35182), der Sadduzäer (12,18) sowie die Mitglieder des Synedriums (11,27–33; 14,1.43.53.55; 15,1) als Figurengruppe der religiösen Autoritäten erfasst. Sie führen mit Jesus ausschließlich Streitgespräche um religiöse und ethische Fragen, wobei sie sich aber keineswegs nur auf die Tora und die Heiligen Schriften zu berufen wissen. Explizit stützen sie sich auch auf ihre paravdosi~ tw`n presbutevrwn (7,3.5.8.13), d.h. auf (mündlich) überlieferte Auslegungstraditionen.183 Die artikulierte Meinung und das Verhalten der religiösen Autoritäten sollte daher nicht vorschnell als Standpunkt
181
Vgl. zur Funktion und Deutung der religiösen Autoritäten v.a. LÜHRMANN, Pharisäer, und COOK, Pharisees. In der Forschungsliteratur findet sich mitunter auch die Differenzierung in „jüdische“ und „römische“ Autoritäten (so z.B. MALBON, Mark’s Jesus, 110– 117 u. 117–124) oder die Bezeichnung „Gegner Jesu“. Letzteres reduziert die Figurengruppe jedoch auf eine bestimmte Handlungsrolle und wird der teils differenzierten Darstellung einzelner Autoritäten nicht gerecht (12,28–34; 15,42–47; vgl. auch 6,14–29; 15,1– 20; 15,39). Ersteres suggeriert hingegen eine ethnische Differenzierbarkeit, die sich – wie man v.a. an der Person des Herodes erkennen kann – ebenfalls nicht durchhalten lässt. Problematisch ist es v.a., wenn eine solch ethnische Differenzierung dazu führt, dass allein die Römer für Jesu Tod verantwortlich gemacht werden. So z.B. MALBON, Mark’s Jesus, 117 u. 126f.: „[T]he resulting conflict with the traditional authorities escalates to a lifethreatening confrontation – only to become death-dealing when expanded to include the Roman authorities.“ Ein derartiges apologetisches Interesse vermag ich bei Markus nicht zu erkennen. 182 Während in 2,16 explizit (und historisch zutreffend) von den Schriftgelehrten der Pharisäer gesprochen wird, sind ab 3,22 Jerusalemer Schriftgelehrte gemeint. In 3,22 und 7,1 werden diese explizit als solche eingeführt. In 12,28.35 ergibt sich dies aufgrund des vorausgesetzten Raums (Jerusalem). In 1,22 und 2,6 werden die Schriftgelehrten nicht näher charakterisiert. Es scheint sich aber aufgrund des erzählten Raums um lokale Autoritäten zu handeln. 183 Nach Josephus haben die Sadduzäer solche „Überlieferungen der Väter“ abgelehnt und zwar u.a. deshalb, weil sie nicht „geschrieben“ waren (Jos. Ant. 13,297f.; 13,408f.). Ob dies auf eine mündliche Tradierung schließen lässt oder ob hier – im Sinn der sadduzäischen Kritik – auf eine mangelnde Verankerung in der Tora hingewiesen wird, bleibt unklar (vgl. dazu MASON, Josephus, 240–243). Vgl. zu den Überlieferungen der Väter als Kennzeichen der Pharisäer auch Jos. Vit. 191; Gal 1,14.
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des antiken Judentums184 bezeichnet werden. So kann es vom jüdischen Volk gerade im Kontrast zu den Autoritäten heißen, dass dieses Jesu Vollmacht bewunderte (2,12; 3,7f.) und ihn gerne hörte (12,37). Eine Sichtweise, durch die auch das Verhalten bei Jesu Einzug in Jerusalem (11,1–11) verständlich wird. Gerade angesichts solcher Sympathien fürchten die Autoritäten die Reaktion des Volkes im Falle einer Verurteilung Jesu (11,18; 14,2), suchen darum nach einer List (14,1) und scheuen sich, offen ihre Meinung zu sagen (11,31f.). Das jüdische Volk und die geistliche Elite zeichnen sich also in der Tat durch unterschiedliche Standpunkte aus, wenngleich die Autoritäten es schaffen, die Menge im Zuge der Verurteilung Jesu auf ihre Seite zu ziehen. Auch mit der Differenzierung einzelner Gelehrtengruppen setzt Markus bereits eine gewisse Vielstimmigkeit voraus, die v.a. im Anschluss an das Streitgespräch mit den Sadduzäern (12,18–27) und die positive Reaktion eines nicht näher charakterisierten Schriftgelehrten thematisiert wird (12,28). Dem Schriftgelehrten gefällt Jesu Zurückweisung der Sadduzäer. Dass Markus keineswegs ein rein negatives Bild der Schriftgelehrten zeichnet, wird auch an der Tatsache deutlich, dass über den Erzählverlauf drei religiöse Amtsträger auftauchen, die sich von Jesus Hilfe (5,21–24a.35–43 [Jairus]) und Antwort erhoffen (12,28–34 [Schriftgelehrter]) oder sich in der Erwartung der Königsherrschaft Gottes sogar in seinen Dienst stellen (15,42–47 [Josef von Arimathäa]). Vordergründig werden beim Streit zwischen Jesus und den geistlichen Autoritäten diverse religiöse und moralische Themen traktiert. Dass diese Themen zum Teil auch noch in der markinischen Gemeinde virulent waren, wird in der Forschung immer wieder zu Recht vermutet und dürfte bei den Rezipienten für eine gesteigerte Aufmerksamkeit gesorgt haben. Das erzählerische Hauptinteresse ist jedoch ein anderes.185 Über die vordergründigen Fragen hinaus sollen die Rezipienten immer wieder auf die eigentliche Motivation der religiösen Autoritäten verwiesen werden. Der Rezipient erkennt, dass die Autoritäten durch ihre Fragen Jesus überführen und damit ihren frühzeitig 184
Eine entsprechende Gefahr sehe ich bei HÜBENTHAL, Markusevangelium, 345, wenn hier im Rekurs auf Marie-Laure Ryans Possible Worlds Theory die „Pharisäer und Schriftgelehrten [...] im Text als Anwälte der Text Actual World vorgestellt [werden]“ und von ihnen „als Normrepräsentanten der Text Actual World“ (345) gesprochen wird. Auch in der erzählten Welt lässt sich erkennen, dass es unter den Gelehrten unterschiedlichen Gruppierungen, Traditionen und Standpunkte gibt. Dass den Rezipienten diese Rivalitäten und Lehrdifferenzen bereits aufgrund ihres textexternen Vorwissens bekannt sind, ist durchaus anzunehmen, wenngleich ihnen einzelne Positionen zu erklären sind (vgl. 12,18). 185 Nur sehr wenige Episoden tragen zur eigentlichen Klärung einer Streitfrage bei. Vielmehr knüpft die Erzählung immer wieder an Normen und Werte an, die in der Urgemeinde bereits akzeptiert sind und sich schon in Form fest geprägter Logien verdichtet haben (z.B. 2,28). Manche Streitfragen wirken regelrecht konstruiert, wie insbesondere an der in 12,20–22 erdachten Familientragödie ersichtlich wird, die die Thematik der Leviratsehe (Dtn 25,5f.) mit der Auferstehungsfrage verknüpfen soll.
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gefassten Mordplan (3,6) umsetzen wollen. Der christologische Standpunkt der Autoritäten lässt sich somit nicht aus ihren expliziten Äußerungen ableiten, sondern wird indirekt über den religiös-ethischen Konflikt mit Jesus vermittelt. Der markinische Erzähler nutzt dabei eine ganze Bandbreite an erzählerischen Mitteln, um einen Einblick in die zugrundeliegenden Motivationen zu gewähren und die Sicht der Autoritäten dadurch zugleich abzuwerten. Indem Markus eine Sammlung186 von fünf Streitgesprächen an den Anfang des Konflikts stellt (Mk 2,1–3,6), sorgt er dafür, dass die Auseinandersetzung bereits zu Beginn eine notwendige Aufmerksamkeit erhält. Durch den anfänglich artikulierten Vorwurf der Blasphemie schafft er zugleich die nötige Plausibilität dafür, dass die Autoritäten einen Mordplan gegen Jesus fassen (3,6). Von nun an fragt sich der intendierte Rezipient unweigerlich, welcher jeweilige Nutzen den weiteren Handlungen und Äußerungen der Schriftgelehrten bei der Umsetzung dieses Planes zuzuschreiben ist. Markus charakterisiert die Autoritäten immer wieder als hinterhältig und intrigant. Obwohl sie von Anfang an Jesu Verhalten als gotteslästerlich empfinden, suchen sie nur selten die direkte Konfrontation (z.B. 2,18.24) und verweigern sogar gelegentlich das Gespräch (3,4: oiJ de; ejsiwvpwn). Der Erzähler gewährt auffallend oft Einblick in die Gedanken der Autoritäten (2,6; 3,2; 11,31f.; 12,12; 14,1; 14,55) oder gibt ihre Pläne als erzählte Rede und damit auf eher distanzierende Weise wieder (3,6; 11,32b; 12,13). Durch diese Vermittlungsformen wird das Verhalten der Autoritäten auf die dahinterliegende Motivation hin transparent und ihre Heuchelei tritt besonders offensichtlich hervor. Ein eindrückliches Beispiel hierfür ist 12,13–17. Hier erfahren die Rezipienten bereits im ersten Vers (V. 13), dass die Autoritäten die Absicht haben, Jesus in Worten zu fangen. Im starken Kontrast hierzu äußeren sie sich dann jedoch überaus wertschätzend (V. 14): „Lehrer (didavskale), wir wissen, dass Du wahrhaftig bist [...] Du lehrst wahrheitsgetreu (ejpÆ ajlhqeiva~) den Weg Gottes.“ Der Eindruck der Heuchelei wird dann noch einmal durch die zuverlässige Wahrnehmung Jesu verstärkt und expliziert: „Er aber bemerkte ihre Heuchelei (uJpovkrisin).“ Eine Wahrnehmung, die Markus im Zuge der Verurteilung Jesu und durch einen weitaus weniger zuverlässigen Perspektiventräger wiederholt. Hier ist es ausgerechnet Pilatus, der erkennt, dass die Hohenpriester lediglich aus Neid heraus agieren (15,10)187 und ihre
186
Vgl. zu dieser Sammlung und den verschiedenen Abgrenzungsvorschlägen LÜHRMarkusevangelium, 56, und SCHOLTISSEK, Vollmacht, 137f. 187 Der Rezipient wird diese Aussage aufgrund des Erzählverlaufs wohl am ehesten auf die zuvor beschriebene Beliebtheit Jesu in der Bevölkerung zurückbeziehen. Dass Jesu Lehre im Volk großen Anklang findet und er aufgrund seiner Taten regelrecht bedrängt wird, wird von Markus auffallend häufig wiederholt. Dass die religiösen Eliten es angesichts dieses Zuspruchs dennoch schaffen, das Volk gegen Jesus aufzuhetzen 15,11) und MANN,
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Anklage damit eine haltlose Intrige darstellt. Erzählwissenschaftlich lässt sich an dieser Stelle erneut von einer Informationsverdoppelung sprechen, weil verschiedene Perspektiventräger das intrigante Verhalten der religiösen Autoritäten bemerken und die Wahrnehmung hierdurch Überzeugungskraft gewinnt. Um einen Kontrast zwischen dem vordergründigen Verhalten der Autoritäten und ihrer tatsächlichen Absicht zu erzielen, kann sich Markus zugleich eigener Erzählerkommentare bedienen. So erfolgt der Hinweis, dass die Sadduzäer nicht an die Auferstehung glauben, keineswegs aus einem reinen informativen Interesse. Die Aussage dürfte allein aufgrund ihres Inhalts bereits im Sinne einer Kritik aufzufassen sein (vgl. Sap 1,16f.; 1Hen 102,6; Sanh 10,1; Apg 4,1f.; 23,6–8). Zum anderen dient dieser Erzählerkommentar dazu, die nachfolgende Frage nach dem Verhältnis von Leviratsehe und ewigem Leben als scheinheilig zu entlarven. Die Sadduzäer haben kein Interesse daran, mit welchem Mann eine siebenfach verheiratete Frau in Ewigkeit verheiratet ist, sondern ihr – zumal konstruiert wirkendes – Beispiel soll den Auferstehungsglauben ins Lächerliche ziehen. Entsprechend harsch fällt die Reaktion Jesu aus, der sich seinerseits als geschickter Schriftgelehrter erweist und – seinen Gesprächspartnern entsprechend – den Auferstehungsglauben aus der Tora ableitet (Ex 3,6f.). Letztlich werden die religiösen Autoritäten diskreditiert, weil sie sich weder gesetzesgemäß verhalten noch allgemein anerkannten Gesellschaftswerten folgen. Sie bezahlen den Verräter (14,11) und legen im Prozess falsches Zeugnis ab (14,53–59). Dass alles lässt ihre Meinung, Jesu handele blasphemisch, wenn er Sünden vergibt (2,6) und sich als Gesalbter und Sohn des Hochgelobten versteht (14,61),188 fragwürdig erscheinen. Dass sich die religiösen Eliten sodann an der Verspottung Jesu als König der Juden beteiligen (15,31f.) und damit in Analogie zu den römischen Soldaten handeln (15,16–20), kann nur noch als Hinweis auf ihre Verstockung begriffen werden: „Im Gericht werden sie den ‚Christos, den König Israels‘ tatsächlich als vom Kreuz herabgestiegenen sehen, wenn er als erhöhter ‚Menschensohn mit den Wolken des Himmels‘ kommt (vgl. 14,62).“189
damit ihre durchaus berechtigte Sorge vor einem Aufruhr (12,12; vgl. auch 11,32) ausräumen, erweist sie als besonders geschickte Intriganten. 188 Dass der Vorwurf der Blasphemie ausgerechnet in der ersten und letzten Auseinandersetzung mit den religiösen Autoritäten erfolgt, dürfte kaum Zufall sein. Im Sinne eines primacy und recency effects wird hierdurch das Verhältnis insgesamt charakterisiert. 189 SCHENKE, Literarische Eigenart, 344. Die von Schenke indirekt vorausgesetzte Inferenz zwischen 15,31f. und 14,62 ist stichhaltig. Hierfür sprechen der kausale Handlungszusammenhang, die Übereinstimmung beim Figurenbestand und die thematische Parallele. Die Forderung Jesus möge jetzt (nu`n) vom Kreuz steigen, steht in kreativer Spannung zur Naherwartung des endzeitlichen Menschensohns.
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Eng mit den Geschicken und den Plänen der religiösen Autoritäten verbunden ist das Verhalten der politischen Autoritäten. So sind die Herodianer, d.h. die Anhänger des Herodes Antipas,190 explizit am frühen Mordplan beteiligt (3,6) und tauchen auch im Kontext der Jerusalemer Streitgespräche auf (12,13). Hier erstaunt jedoch durchaus, dass die politischen Autoritäten von den Hohepriestern, Schriftgelehrten und Ältesten gesandt werden und ihnen damit zu unterstehen scheinen (11,27 ó 12,13191). Äußert sich hierin eine Schwäche der politischen Elite? Werden sie von den jüdischen Autoritäten in den Dienst genommen, obwohl ihnen von der römischen Oberherrschaft die politische Macht übertragen wurde? Dann würden sie in Analogie zu den beiden Hauptvertretern der politischen Macht, Herodes und Pilatus, charakterisiert, die sich ihrerseits als wankelmütige Entscheidungsträger erweisen und sich aufgrund äußerer und innerer Konflikte in ihrem Verhalten abhängig machen. Die Figur des Herodes wird von Markus als schwacher und unzuverlässiger Entscheidungsträger dargestellt.192 Durch das in Mk 6 präsentierte Porträt des Königs193 soll die in ihrer Explizität singuläre Identifikation zwi190 Mit DSCHULNIGG, Markusevangelium, 111; GUNDRY, Mark, 152; PESCH, Markusevangelium II/1, 195; WITHERINGTON, Mark, 136. 191 Rein grammatikalisch bleibt in 12,13 zunächst unbestimmt, wer als Subjekt des Sendens anzusehen ist (kai; ajpostevllousin). Dass es sich bei den Sendenden im Kontext des Markusevangeliums um die in 11,27 erwähnte Personengruppe handelt, ist trotzdem naheliegend: Wenngleich die Abhängigkeit von religiösen Autoritäten prinzipiell ungewöhnlich erscheint, wäre eine Sendung durch die obersten Würdenträger immerhin denkbar. Für die vorgeschlagene Identifikation spricht v. a., dass bereits die in V. 12 erwähnte Figurengruppe mit den Hohepriestern, Ältesten und Schriftgelehrten gleichgesetzt werden muss. Allein sie werden zuvor erwähnt und nur sie können Jesu Wort von der Verwerfung und den Bauleuten sinnvollerweise auf sich beziehen (vgl. 8,31). Zugleich ergibt sich aus der geschilderten Konfrontation (12,1–12) eine notwendige Motivation, den bereits gefassten Mordplan umzusetzen und Jesus nun endgültig zu überführen und anzuklagen. 192 Vgl. zur aktuellen Diskussion um die Figur des Herodes und 6,17–29 SMIT, Geburtstagsfeier; SMITH, Tyranny. 193 Zur Erklärung dieser historisch unzutreffenden Bezeichnung lassen sich drei Optionen diskutieren: (1) Herodes soll bewusst und im Kontrast zum Vorwissen der Rezipienten als König charakterisiert werden, um die Parallelität zur Elia-Erzählung zu verstärken. „Der Verfasser spielt auf die Identifizierung Elijas durch König Ahasja an“ (MAJOROSDANOWSKI, Elija, 178); (2) Herodes soll als Kontrastfigur zum königlichen Messias bzw. zum eigentlichen König der Juden erscheinen. „Given the Gospel’s previous and eventual portrayal of Jesus as a king [...], it seems clear that this Gospel [...] envisioned two types of kingship: one, false and tyrannical; another, true and beneficial toward others. For Mark, the two types were vividly dramatized in Herod Antipas and Jesus, respectively“ (SMITH, Tyranny, 268 Anm. 35); (3) Markus bedient sich unbewusst eines volkstümlichen Sprachgebrauchs. Die Tetrarchen herrschten aus der Sicht des Volkes wie Könige. Der erste Erklärungsversuch ist unwahrscheinlich, weil er zu einem inneren Widerspruch mit V. 16 führt. Jesus wird von Herodes ja gerade nicht mit Elija, sondern (ebenfalls fälschlicher-
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schen Jesus und Johannes in Frage gestellt und disqualifiziert werden. 194 Hierzu bedient sich Markus wiederum zahlreicher erzählerischer Mittel: Herodes, der durch seinen doppelten Ehebruch und die prophetische Kritik des Täufers ohnehin moralisch diskreditiert ist, wird in der Episode 6,17–29 als schwacher Herrscher präsentiert, der seine Entscheidungen nicht bewusst und reflektiert trifft, sondern durch äußere Zwänge getrieben wird und der Cleverness seiner Frau unterlegen bleibt. Obwohl er Johannes – trotz dessen Scheidungskritik – gerne hört, ihn für einen frommen und heiligen Mann hält (V. 20) und ihn letztlich sogar ausdrücklich zum Schutz vor seiner Zweitfrau Herodias in Gewahrsam behält,195 kann er dessen Tod nicht verhindern. Ohne dass man im Tanz der Tochter einen moralischen Affront196 gegen bestehende Sitten erkennen oder das Versprechen des Herodes einseitig auf eine eroweise) mit dem auferstandenen Täufer identifiziert. Im Hinblick auf den zweiten Erklärungsversuch muss gefragt werden, ob sich Herodes und Jesus in einer ausreichenden Anzahl an Charaktermerkmalen ähneln, um von einer bewussten Typologie sprechen zu können. Ich erkenne eine solche Parallelität nicht, zumal wir von Herodes jenseits unserer Perikope in Mk 6 nahezu nichts erfahren. Der dritte Erklärungsversuch muss sich mit dem Einwand auseinandersetzen, dass Herodes offiziell als tetraavrch bezeichnet wurde (vgl. Mt 14,1; Lk 3,1; 9,7; Apg 13,1), was außerhalb des Neuen Testaments v.a. durch zwei Inschriften bezeugt wird (OGIS 416 u. 417). Allerdings spricht auch Philo davon, dass die Herrschaft der Herodessöhne im Volk durchaus mit der von Königen verglichen wurde (vgl. Phil. legat. 299f.). Dass sich Herodes Antipas seinerseits in Rom um die Verleihung des Königstitels bemühte (vgl. Jos. Ant. 18,240–256), dürfte den Rezipienten nicht bekannt gewesen sein, zeigt aber immerhin, dass das Anspruchsdenken des Herodes nicht allzu weit von einer entsprechenden „Volkesmeinung“ entfernt war und eine solche begünstigen konnte. 194 Ähnlich bereits HÜBENTHAL, Markusevangelium, 279. 195 Diese Interpretation leitet sich gleichermaßen aus dem Erzählkontext (V. 19.24f.28) sowie vom eher positiv konnotierten Begriff des Bewahrens (sunthrevw) ab. „Herodes (Antipas) bewahrte Johannes den Täufer (vor den Nachstellungen der Herodias, V. 19), d.h. ‚er schützte ihn sunethvrei aujtovn‘“ (BALZ, Art. sunthrevw, 742). Dass Johannes zugleich auf den Wunsch der Herodias hin „ins Gefängnis geworfen“ (V. 17) wurde, ist nicht als erzähllogischer Widerspruch anzusehen. Während die Herodias mit der Festnahme bereits das Ziel der Hinrichtung verfolgt (und diese im Folgenden konsequent und erfolgreich umsetzt), begnügt sich Herodes damit, Johannes mundtot zu machen. 196 Tatsächlich zeigt sich im Aufeinandertreffen antiker Kulturen immer wieder, dass allein die Anwesenheit von Frauen im Kontext eines Gastmahls zu Konflikten führen konnte. Vgl. Hdt., hist. 5,18: ei\pe pro;~ tau`ta Amuvnthæ~ [der König von Makedonien] w\ Pevrsai, novmo~ me;n hJmi`n ge ejsti; oujk ou|to, ajlla; kecwrivsqai a[ndra~gunaikw`n“; Nep. praef. 1,6–7; Cic. verr. 2,1,66. Eine direkte Abhängigkeit von diesen Texten lässt sich aufgrund der fehlenden Parallelität, der zu geringen Bezeugungsbreite und der ebenfalls zu geringen Erinnerungsnähe ausschließen (anders BAUER, Johannes, bes. 28f., der einen Bezug zu Herodot erkennen möchte). Ob Markus mit der Erwähnung eines Tanzes eine vergleichbare Moralvorstellung unter seinen Rezipienten aufgreift und Herodes auch hierdurch zu diskreditieren versucht, ist aufgrund der Erzählintention denkbar, lässt sich aber aufgrund der Quellenlage nicht verifizieren und bleibt mithin spekulativ.
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tische Begierde zurückführen müsste,197 erscheint sein Verhalten unbedacht und großspurig. Herodes verhält sich tatsächlich dem Gebaren eines Großkönigs entsprechend,198 was angesichts seiner realen Machtposition durchaus ironisch wirken kann. Die übertriebene Zusage an die Tochter der Herodias erhält große Aufmerksamkeit 199 durch a) ihre erzählerische Wiederholung (V. 22.23); b) den Hinweis darauf, dass Herodes sein Versprechen mehrfach gibt (V. 23: pollav); und c) die Charakterisierung des Versprechens als Schwur200. Die Auflistung repräsentativer Tischgäste lässt aus Sicht der intendierten Rezipienten die Schlussfolgerung zu, dass Herodes diese mit seinem Versprechen beeindrucken will. Er begibt sich durch dieses Streben nach Anerkennung jedoch unweigerlich in einen Wunsch- und Pflichtkonflikt, den seine Frau in der Folge auszunutzen weiß und der den Rezipienten zugleich verrät, dass dem König das Ehrenwort und sein Ansehen vor den Mächtigen wichtiger ist, als seine politische Integrität und das Leben des Propheten.201 Um die Motivation hinter dem Handeln nachzuvollziehen, gewährt der Erzähler einen zusätzlichen Einblick in die Gefühle und Gedanken des Herrschers: „Da war der König bestürzt, aber wegen seines Versprechens und der Tischgäste wollte er es ihr nicht abschlagen“ (V. 26). Insgesamt zeichnet sich die als interne Analepse gestaltete Episode von der Hinrichtung des Täufers durch eine im neutestamentlichen Kontext nahezu analogielose Charakterstudie aus. Dass durch diesen Text nicht allein die erzählerische Lücke von 1,14 gefüllt werden soll, sondern vielmehr die Per197
So z.B. SCHENKE, Literarische Eigenart, 163: „In welch erotisierter Stimmung – durch Trunkenheit enthemmt – sich der König befunden haben muss, wird dem Leser auch dadurch bewusst gemacht, dass Herodes unbesonnen dem Mädchen sein halbes Königreich verspricht, was die Römer gewiss zu verhindern gewusst hätten.“ 198 M.E. sollten an dieser Stelle die intertextuellen Bezüge zum Esterbuch (vgl. Est 1,3 mit Mk 6,21; Est 1,19 mit Mk 6,22.25; Est 5,3 mit Mk 6,23) nicht überbewertet werden. Dass ein mächtiger Herrscher einer Frau mit großem Nachdruck eine Bitte gewährt und insbesondere durch Landversprechen seine Macht demonstriert, ist ein weitläufig bezeugtes Motiv in der Antike und dürfte den Rezipienten vertraut gewesen sein (vgl. auch Jos. Ant. 18,8,7). 199 Durch das bereits artikulierte Bedrohungsszenario (6,19) und die von Herodes eröffneten Handlungsmöglichkeiten wird zudem eine hohe Spannung erzeugt. Der Rezipient rechnet bereits an dieser Stelle mit der Hinrichtung des Täufers, wenn er nicht ohnehin über ein entsprechendes textexternes Wissen verfügt, und erkennt so die Unbedachtheit des Herodes. 200 Der Schwur sorgt nach alttestamentlichem Verständnis dafür, dass die Person, die ihn ablegt, im Falle der Nichteinhaltung verflucht ist (vgl. hierzu ausführlich BENOVITZ, Kol Nidre, 127–132). 201 Ähnlich HÜBENTHAL, Markusevangelium, 350: Die Figur des Herodes „möchte König im Stile der alten Könige sein (W-Welt), inszeniert sich entsprechend (I-Welt) und scheitert dennoch, da sie sich weniger an die eigenen Eide als an die Außenwirkung gebunden fühlt (O-Welt).“
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spektive des Herodes diskreditiert und ein möglicher christologischer Standpunkt verworfen wird, ergibt sich letztlich v.a. aus dem weiteren Erzählverlauf.202 Dass in der Replik (8,27) nahezu die selben Ansichten über Jesus wie in 6,14–16 aufgegriffen werden und sich mithin zwischen beiden Szenen eine große Verknüpfungsstärke ergibt, ist keineswegs zufällig, sondern sorgt für eine nachträgliche und erneute Falsifizierung des herodianischen Standpunktes. Durch die betonte und für eine Differenzierung sorgende Rückfrage Jesu (8,29) sowie die entschiedene und bekenntnishafte Antwort des Petrus wird deutlich (s.u.), dass Jesus weder vor dem Hintergrund einer allgemeinen Prophetenvorstellung noch vor dem Hintergrund einer konkreten Prophetengestalt (Elia, Johannes) hinreichend verstanden wird, sondern als (königlicher) Messias anzusehen ist. Die Rezipienten sollen der Sichtweise des Herodes – ebenso wie den parallelen Meinungen im Volk – misstrauen und diese als falsch erkennen. Ähnlich wie Herodes wird auch Pilatus als Vertreter der römischen Oberherrschaft erzählerisch diskreditiert. Er erkennt zwar die eigentliche Motivation hinter der Anklage des Hohen Rates, räumt Jesus die Möglichkeit der Verteidigung ein und fordert ihn sogar regelrecht dazu auf, Einspruch zu erheben. Zu guter Letzt will er Jesus durch die Stimme des Volkes – und unter Berufung auf einen Festbrauch203 – Amnestie gewähren.204 Er schiebt damit aber gerade die Verantwortung und Entscheidungsgewalt von sich, die ihm
202
Redaktions- und kompositionsanalytisch lässt sich anmerken, dass bereits die Platzierung der Täuferepisode hinter der – getrennt überlieferten (so auch GNILKA, Evangelium II/1, 244), – Wiedergabe unterschiedlicher Volksmeinungen (6,14–16) eine erzählerische Absicht erkennen lässt. Den intendierten Rezipienten werden derartige kompositorische Abwägungen nur indirekt bewusst gewesen sein. Immerhin ist für sie aber erkennbar, dass der Autor mit seinem anfänglichen Hinweis auf die Festnahme eine inhaltliche Lücke lässt. 203 Es ist in der Forschung immer wieder darauf verwiesen worden, dass sich ein derartiger Brauch außerbiblisch nicht belegen lässt. Aufgrund fehlender Zeugnisse bleibt die Diskussion im Bereich des Spekulativen. Für das Textverständnis ist die faktische Existenz eines solchen Brauchs ohnehin unerheblich. Maßgeblich ist allein, dass ein solcher Brauch im Kontext der erzählten Welt plausibel erscheint. Dass es innerhalb der römischen Justiz Formen der Begnadigung gab, und diese den Rezipienten bekannt waren, reicht hier vollkommen aus. 204 Da Markus in V. 10 die Motivation zu diesem Verhalten explizit angibt, lässt sich zeigen, dass Pilatus auf einen Freispruch Jesu durch das Volk hofft. Ein Freispruch erscheint aus seiner Sicht erwartbar: Jesus hatte zuvor Zustimmung im Volk. Die Anschuldigungen gegen Barabbas wiegen schwer (V. 7). Es dürfte kaum im Interesse eines römischen Prokurators liegen, einen solchen Aufrührer und Mörder frei zu geben. Den intendierten Rezipienten ist aufgrund des zuvor Erzählten (v.a. 3,6) und ihres textexternen Wissens indes längst klar, wie sich das Volk entscheiden wird. Sie sind nicht über den Verlauf der Ereignisse erstaunt, sondern über die Leichtsinnigkeit des Pilatus.
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als Praefectus Iudaeae205 juristisch zukäme. Pilatus scheut den offenen Konflikt mit den religiösen Autoritäten und dem jüdischen Volk (V. 15: Pila`to~ boulovmeno~ tw`æ o[clwæ to; iJkano;n poih`sai), was ihn als Instanz der römischen Rechtsprechung fragwürdig erscheinen lässt.206 Im Unterschied zu Herodes artikuliert Pilatus nirgendwo explizit, welche Sichtweise er im Hinblick auf Jesus vertritt. Aus seinem gerade skizzierten Verhalten und den Einblicken, die der Erzähler in seine Gedanken gewährt, lässt sich aber ableiten, dass er den Anklagegrund des Hohen Rates nicht teilt207 und in der Person Jesu keineswegs einen jüdischen Königsprätendenten erkennt.208 Jesus ist in seinen Augen vor allem ein Unschuldiger. Aber: wie Herodes den Tod des Täufers aufgrund seines Pflicht-/Wunschkonflikts nicht verhindern kann, so kann auch Jesus von Pilatus nicht vor dem Tod bewahrt werden. Dass über Jesu Kreuz letztlich die politische Anklageschrift „König der Juden“ steht, greift einerseits die hinterhältige Anklage der religiösen Würdenträger auf, verdeutlicht aber zugleich, dass sich Pilatus – entgegen seiner eigenen Meinung und obwohl er die Intrige der Hohenpriester durchschaut – nicht durchzusetzen vermag. Damit macht er sich aber an der Hinrichtung Jesu mitschuldig und wird sich wie die religiösen Autoritäten vor dem wiederkommenden Menschensohn zu rechtfertigen haben.209 205
So die offizielle Amtsbezeichnung der Pilatus-Inschrift (CIIP 2,1277: „[---]s Tiberieum [-Po]ntius Pilatus [praef]ectus Iuda[ea]e“). 206 Im Jahr 70 n. Chr. dürfte ein Verhalten, das eine derartige politische Schwäche offenbart, geradezu grotesk gewirkt haben. 207 Es fällt auf, dass der Anklagegrund im Unterschied zu der Verhandlung vor dem Hohen Rat wechselt. Lautet hier die Anklage noch auf „Blasphemie“, so wird Jesus vor Pilatus nun beschuldigt, König der Juden sein zu wollen. Dies erklärt sich am einfachsten dadurch, dass die religiösen Autoritäten einen Anklagegrund zu konstruieren versuchen, der auch aus römischer Sicht strafbar ist und zugleich das Todesurteil nach sich zieht. Es wird hier also wiederum auf implizite Weise das intrigante Verhalten der Schriftgelehrten demonstriert: Sie „haben [...] nach ihrer Meinung eine Klage genannt, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig läßt und von einem römischen Richter sofort aufgegriffen werden sollte“ (BLINZLER, Prozeß, 277). 208 Die Formulierung in 15,12 ist hier unzweifelhaft. Pilatus will sich die Bezeichnung Jesu als „König der Juden“ gerade nicht zu eigen machen (o}n levgete to;n basileva). Dies ist bereits die Intention hinter seiner Frage in V. 2 und seiner Aussage in V. 9. Sollte es sich bei o}n levgete um eine spätere Hinzufügung handeln (Auslassung bei A D W q ƒ1.13 565. 700. 2542s pc lat sys sa), was angesichts der äußeren Bezeugung und innerer Kriterien eher unwahrscheinlich ist, so bliebe diese Aussage kohärent zur markinischen Charakterisierung des Pilatus und ließe sich als adäquate Verdeutlichung des ohnehin Gemeinten begreifen. 209 Erst vom Ende der Episode lässt sich dann auch Jesu Reaktion auf die Anklage des Pilatus vollständig verstehen. „Und Pilatus fragte ihn: ‚Bist Du der König der Juden?‘ Er [sc. Jesus] aber antwortete: ‚Du sagst es! (su; levgei~)‘“ (15,2). Jesus weist damit nicht allein eine eigene Beanspruchung dieser politischen Königstitulatur zurück, sondern spricht damit Pilatus zugleich schuldig und vertauscht somit die Rollen zwischen Ankläger
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Im Kontrast zu den politischen Autoritäten und insbesondere zu den Soldaten, die Jesus nach der Überlieferung geißeln und verspotten (15,16–20), steht letztlich der Hauptmann unterm Kreuz. Obwohl der Centurio nicht nur in der kurzen Kreuzigungsszene auftritt, sondern eine weitere Erwähnung in der folgenden Episode von der Freigabe des Leichnams erfährt (15,44f.),210 lässt er sich kaum als wichtige Nebenfigur bezeichnen. Es handelt sich bei ihm am ehesten um eine Card (dt.: Schaufigur),211 die aufgrund ihrer soziokulturellen Verortung (Soldat, Heide)212 und ihres Standpunktes (hier: Meinung über Jesus) Interesse weckt, aber deren Handeln keine eigentliche Auswirkung auf die weiteren Ereignisse der Erzählung nimmt. Hätte Markus seine Reaktion unterm Kreuz ausgelassen, wäre die Erzählung trotzdem verständlich geblieben. Bei der Interpretation seiner eigentlichen Äußerung sollte das Auslassen des bestimmten Artikels nicht überbewertet werden. Die Rezipienten werden zunächst versuchen, zwischen der Aussage des Hauptmanns und dem vorherigen Begriffsgebrauch eine Kohärenz herzustellen (= Kategorisierungseffekt). Da der markinische Sprachstil durchaus eine Varianz bei der Verwendung des Artikels erkennen lässt, wird die Aussage des Hauptmanns unweigerlich auf die vorherigen Prädikationen, d.h. die Himmelsstimme (1,11; 9,7), das Wissen der Dämonen (3,11; 5,7; 1,24 [s.o.]) und die in der Verstockung und Angeklagtem. Indem Pilatus den Tod Jesu nicht verhindert, macht er sich den vorgelegten Schuldspruch indirekt zu eigen. Die öffentlich aufgehängten Worte über dem Kreuz zeugen von dieser Mitschuld des Pilatus (vgl. Joh 19,19.21f.). Die nachfolgenden Evangelisten haben die unfreiwillige Verstrickung des Pilatus in den Mordplan der religiösen Eliten auf je eigene Weise und mittels weiterer Erzähltraditionen ausgeschmückt, dabei aber stets die Ambivalenz zwischen eigener Unschuldserkenntnis und Mitverantwortung des Präfekten aufrecht erhalten. 210 Dass es sich hierbei um ein und dieselbe Person handelt, ergibt sich aus der unmittelbaren Abfolge der Episoden, der konstanten Amtsbezeichnung (kenturivwn), der Verwendung des betonenden Artikels (V. 44.45) sowie der geschilderten Bezeugung der Todesumstände (= Handlungsinferenz). Die Identifikation erhält letztlich auch durch das textexterne Wissen der Rezipienten eine Bestätigung. Es ist unwahrscheinlich, dass bei der Kreuzigung Jesu mehrere Führer einer Hundertschaft (centuria) zugegen waren. 211 Vgl. zur hier zugrundeliegenden Klassifizierung EDER, Figur im Film, 468–472, hier 471; JANNIDIS, Figur und Person, 84–90, und FINNERN, Narratologie, 148f., auf den auch der treffende Begriff der „Schaufigur“ zurückgeht (148). Dass alle bisherigen Klassifizierungen immer zugleich auf funktionalen Gesichtspunkten beruhen, erschwert jedoch manchmal den Blick für die individuelle Ausgestaltung einer Figur. 212 Im Vordergrund steht hier v.a., dass mit dem Befehlshaber ein wichtiger Entscheidungsträger zu einem Sinneswandel gelangt. So besteht gerade ein Kontrast zum vorher erwähnten Spott der Soldaten (15,16–20). Dies soll womöglich die Rezipienten hoffnungsvoll stimmen, dass dem Kreuzestod Jesu und der Verkündigung des Evangeliums die Kraft innewohnt, selbst Feinde zu verändern. In diesem Fall ließe sich Joseph von Arimathäa, der seinerseits als Ratsherr und damit als Vertreter der jüdischen Autoritäten vorgestellt wird, als Parallelfigur begreifen.
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gründende Frage des Hohenpriesters (14,61) bezogen und als zuverlässig eingestuft. Auch hier bedient sich Markus also des erzählerischen Mittels der Informationsverdoppelung. Umgekehrt wird man die Aussage des Hauptmanns nicht ohne Weiteres als vollgültiges Bekenntnis bezeichnen können. Dass der Hauptmann zum Glauben kommt,213 lässt sich aus den kurzen Erwähnungen in Kap. 15 jedenfalls nicht eindeutig ableiten. Seine Erkenntnis bleibt vielmehr, wie bei allen vorherigen menschlichen Akteuren der markinischen Erzählung, mit Missverständnissen behaftet.214 Hierher gehört insbesondere die Beobachtung, dass der Hauptmann lediglich in der Vergangenheitsform von Jesus als dem Sohn Gottes zu sprechen vermag: ou|to~ oJ uiJo;~ qeou` h\n.215 Der Rezipient wird sich aber auch so unweigerlich die Frage stellen, wie der Hauptmann zu dieser Meinung über die Person Jesu gelangen konnte. Das einzige Indiz hierfür ist der Hinweis auf die in V. 37 beschriebenen Begleitumstände216 des Todes: „Als aber der Hauptmann, der ihm gegenüber dabeistand, sah, dass er so den Geist aushauchte (o{ti ou{{tw~ ejxevpneusen) sagt er [...].“ Auf die ungewöhnlichen Umstände des Todes wird auch in 15,42–45 erneut rekurriert und zugleich präzisierend erklärt, dass sich Pilatus angesichts des ungewöhnlich frühen Zeitpunkts erstaunt zeigt und den Hauptmann zur Berichterstattung herbeiruft. Weil der Tod am Kreuz gewöhnlich nach langem Ringen sowie durch allmähliches Ersticken eintrat (= Kreuzigungs213
So z.B. GNILKA, Evangelium II/1, 43 und II/2, 324f. Ähnlich bereits RHOADS/MICHIE, Mark, 103: „The centurion is the only human character who calls Jesus a son of God; yet given his limited role, he is not depicted as necessarily grasping the full implications of his words.“ 215 Mit GUTTENBERGER, Gottesvorstellung, 207; HEININGER, Inkulturation, 199; MÜLLER, Wer ist dieser, 133–138. KAMPLING, Henker, 19, stellt zudem heraus, dass das anschließende Verhalten des Hauptmanns vor Pilatus (15,44f.) nicht erkennen lässt, dass sich beim Hauptmann ein nachhaltiger Meinungs- und Sinneswandel vollzogen habe. Zu Recht beschreibt er den Hauptmann als „ambivalente Figur“ (ebd.). 216 Die Rezipienten werden das „Bekenntnis“ des Hauptmanns eher auf V. 37 und nicht auf das in V. 38 geschilderte Zerreißen des Tempelvorhangs beziehen. Gegen einen direkten Bezug auf den vorangehenden Vers sprechen folgende Argumente: (1) Es wird von Markus gerade betont, dass der Hauptmann Jesus gegenüberstand; (2) durch die Vokabel ejkpnevw wird ein enger Bezug zwischen V. 37 und 39 hergestellt; (3) die Rezipienten werden bei der Lektüre zunächst versuchen, auf ihre räumliche Vorstellung von der erzählten Welt und ihr alltagsphysikalisches Wissen zurückzugreifen. Die räumliche Distanz zwischen Golgatha und Tempel (vgl. V. 20.22) erscheint – auch ohne detaillierte Kenntnis der Stadttopographie – als zu groß. Es kann sich bei dem Bericht nicht um ein reales Sehen handeln; (4) Dass der Hauptmann aufgrund eines göttlichen Offenbarungsgeschehens Einblick in entfernte Ereignisse bekommt, ist ebenfalls unwahrscheinlich. Es ist in antiken Quellen wohl bezeugt, dass Offenbarungsempfänger Einblick in den göttlichen Thronrat oder die himmlische Sphäre erhalten (Jes 6; 1Kön 22; Offb 4,1–11). Dass im Zuge einer Offenbarung entfernte irdische Geschehnisse erblickt werden, ist m.W. hingegen nirgendwo belegt. 214
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Skript),217 wird der Tod Jesu als besonders empfunden. Freilich ist auch dies noch kein hinreichender Grund dafür, dass der Hauptmann Jesus gerade als Sohn Gottes erkennt. Letztlich soll das „Bekenntnis“ des Centurio auch gar nicht plausibel erscheinen, sondern geheimnisvoll bleiben. In ihm oszillieren göttliches Wissen und menschliches Unverständnis. Es zeichnet bereits das spätere Bekenntnis der Gemeinde zum auferstandenen Sohn Gottes vor, kann aber im Augenblick des Todes noch nicht als Bekenntnis im eigentlichen Sinne erschallen. Gerade deshalb eröffnet die Textstelle – über ihre ursprüngliche Intention hinaus – vielfältige Anknüpfungspunkte und Interpretationsspielräume, die in der heutigen Exegese diskutiert werden. Man sollte aber weder die hypothetisch noch historisch nachweisbaren Applikationen, die sich in der weiteren Wirkungsgeschichte ergaben, mit der von Markus intendierten Bedeutung des „Bekenntnisses“ gleichstellen. Insgesamt weist die markinische Gestaltung der religiösen und politischen Autoritäten und ihres Standpunktes ein Höchstmaß an erzählerischer Reflexion auf. Beeindruckend bleibt hierbei v.a., wie der erste Evangelist es über den gesamten Erzählverlauf schafft, den zu Beginn explizit geäußerten Standpunkt – dass Jesus nämlich auf illegitime und verurteilenswerte Weise einen göttlichen Anspruch erhebt (2,7; 3,6) – erzählerisch präsent zu halten und zugleich permanent zu unterminieren, indem er die Autoritäten aus ihrem eigenen Denken und Verhalten heraus als intrigant und scheinheilig darstellt. d. Die Perspektive der Jünger: Die Figurengruppe der Jünger hat in der Exegese seit der Beschreibung des sog. Jüngerunverständnismotivs durch William Wrede immer wieder große Aufmerksamkeit gefunden (vgl. Kap. 3.3.1).218 Zugleich begünstigt der analytisch überaus unscharfe Begriff des Unverständnismotivs einige Mißverständnisse. Zum einen wird hierdurch die Tatsache verstellt, dass das Unverständnis der Jünger keineswegs nur ein Motiv der Erzählung darstellt, sondern dass es hierbei v.a. um ein zentrales Figurenmerkmal geht. Die Nachfolger Jesu werden in ihrem Persönlichkeitskern als unverständig dargestellt und zeichnen sich in nahezu jeder Episode durch eine mangelnde Wahrnehmungsfähigkeit aus. Zum anderen weckt der Begriff des Motivs allzu schnell die Vorstellung einer monotonen, statischen Eigenschaft. Tatsächlich lässt sich im Markusevangelium aber ein Konflikt zwischen Jesus und seinen Jüngern erkennen, in dessen Verlauf das Unverständnis der Zwölf immer groteskere Züge annimmt. Außerdem lässt sich bemerken, dass sich der Gegenstand des Unverständnisses wandelt. Bleibt den Jüngern zunächst die Identität Jesu verborgen (4,35–8,29), so ver-
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Vgl. hierzu ausführlich KUHN, Kreuzesstrafe, 648–793, bes. 679. Vgl. zur Darstellung der Jünger FISCHER, Les Disciples, HENDERSON, Discipleship; KLAUCK, Jünger; RHOADS/MICHIE, Mark as Story, 122–129). 218
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stehen sie in der zweiten Evangelienhälfte nicht, warum der Messias leiden muss. Betrachten wir in unserer Detailanalyse zunächst die Figurenrede, so überrascht, dass die Jünger als ständige Begleiter Jesu und damit als konkomitante Figuren erstaunlich selten zu Wort kommen.219 Zugleich wird ihre Sichtweise meist nur indirekt, d.h. mittels erzählter Rede wiedergegeben. In den Konflikten zwischen Jesus und den religiösen Autoritäten kommen sie kein einziges Mal zu Wort. Und zwar nicht einmal dort, wo sie explizit am Streit beteiligt sind (vgl. 2,17 nach 2,16; 9,14). Dort, wo die Jünger unmittelbar zitiert werden, offenbaren ihre Äußerungen hingegen nahezu durchgängig ihr Unwissen. Ein überaus beliebtes Schema des Erzählers ist es, das Unverständnis der Jünger gerade durch kontrastive Aussagen Jesu aufzudecken und so hervorzuheben (1,37.38; 4,38.39f.; 6,36.37; 7,17.18; 8,16.17; 8,32.33; 9,11.12f.; 10,13.14; 10,37.38ff.; 13,1.2; 14,29.30; vgl. auch 6,49.50). Der Erzähler gewährt seinen Lesern zudem immer wieder eine Innensicht in die Gedanken und Gefühle der Jünger, wobei er nahezu ausschließlich deren Angst gegenüber ihrem Herrn hervorhebt. Nach dem Sturmstillungswunder und der überdeutlichen Schelte Jesu (4,40: ou[pw e[cete pivstin;) fragen sich die Zwölf voller Furcht untereinander (e[legon pro;~ ajllhvlou~) nach der Identität Jesu (4,41), statt sich mit ihrer Frage direkt an Jesus zu wenden. Petrus, Jakobus und Johannes wagen es während des Abstiegs vom Berg ebenfalls nicht, Jesus nach der genauen Bedeutung der Auferstehung zu fragen. Auch dieses Thema diskutieren sie lediglich untereinander (9,10). In 9,32 ist sodann explizit davon die Rede, dass die Jünger Jesu Leidensankündigung nicht verstehen und sich sogar ängstigen, ihn zu fragen (kai; ejfobou`nto aujto;n ejperwth`sai). Auch Jesu Umgang mit dem sog. „Reichen Jüngling“ sowie seine Frage nach dem ewigen Leben bringen die Jünger zum Entsetzen (10,24 [ejqambou`nto]; 10,26 [ejxeplhvssonto]; vgl. auch 10,32). Im Rezeptionsprozess wird diesem angstbehafteten Verhalten und paradoxen Unverständnis große Aufmerksamkeit zuteil, wofür – neben dem Aspekt der Wiederholung – folgende Indizien sprechen: 1. Das Unverständnis bezieht sich auf zentrale Themen der Erzählung (Identität Jesu, Auferstehung, ewiges Leben), so dass diesem Figurenmerkmal eine wesentlich Funktion bei der Erschließung der Handlung zuzuschreiben ist; 2. Angst und Unverständnis stehen in einem deutlichen Widerspruch zur positiven Charakterisierung am Anfang;220 3. Angst und Unverständnis stehen in einem er219 Ähnlich HÜBENTHAL, Markusevangelium, 346; anders MALBON, Mark’s Jesus, 101f., die in der englischen Übersetzung (!) der NSRV 32 Belege für direkte Rede zählt. 220 Zu Beginn werden die Jünger positiv porträtiert: Sie folgen dem Ruf Jesu unmittelbar und verlassen ihre wirtschaftliche Absicherung sowie familiäre Bindung (1,18.20: ajfevnte~). Dass sie hierbei aus Glauben handeln und sich zugleich einem hohen Risiko aussetzen, wird von Markus zwar nur andeutungsweise thematisiert und ohne dass der Rezipient eine Innensicht in die Jünger erhielte. Dies lässt sich aber durchaus aus dem
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kennbaren Kontrast zum Willen Jesu (= Parteienkonflikt). Bereits die Berufung der Jünger lässt Jesu Wunsch nach einer besonders vertrauensvollen Beziehung erkennen.221 Dies findet sodann seine Bestätigung darin, dass Jesus seine Jünger immer wieder „allein“, „im Haus“ oder auf dem Boot unterweist (4,10.33f.; 7,17; 8,13–21; 9,28.33; 10,10; 13,3; vgl. auch 5,40–43; 9,1– 13; 9,30f.; 10,32) und ihnen die Gleichnisse im Unterschied zu den Außenstehenden persönlich erklärt (4,11f.). „Euch ist das Geheimnis gegeben, [das Geheimnis] des Reiches Gottes. Jenen aber, die draußen sind, widerfährt es alles in Gleichnissen [ejn parabolai`~], damit ‚sie sehend sehen und trotzdem nicht sehen und hörend hören und doch nicht verstehen, damit sie nicht umkehren und ihnen vergeben werde‘ (Jes 6,9b.10)222 .“
Zwischen diesem Wunsch Jesu und dem tatsächlichen Verhalten der Jünger bahnt sich dann jedoch bereits mit 4,13 jener Konflikt an, der sich über den weiteren Erzählverlauf immer weiter verstärken wird. Die Jünger verstehen bereits Jesu erstes Gleichnis nicht und haben auch in der Folge – trotz persönlicher Unterweisung – Mühe seine Worte mit Sinn zu füllen (vgl. 7,17). In der ersten Evangelienhälfte spiegelt sich dieser Konflikt zwischen Jesus und seinen Jüngern besonders im Zweifel an seiner Vollmacht und Identität wider. Seinen Schlaf inmitten von Wind und Wellen deuten die Jünger als unErzählten erschließen (Vorgeschichte: Evangeliumsverkündigung 1,14f.; Ermöglichungsfaktor: Ruf Jesu) und findet im späteren Erzählverlauf seine Bestätigung. Die Jünger haben tatsächlich „alles“ verlassen (10,28: ajfhvkamen pavnta), was von Jesus positiv bewertet und nun mit dem Evangelium begründet wird (10,29f.: e{neken tou` eujaggelivou). Der positiven Charakterisierung entspricht zugleich, dass Jesus im Haus des Simon und Andreas Unterkunft und Verpflegung findet und im weiteren Erzählverlauf immer wieder in „sein“ Haus (2,15) bzw. in das Haus (2,1–12; 7,17; 9,28.33; 10,10) zurückkehren kann. 221 So wird in 3,13–18 der Ort des Berges und damit symbolisch der Ort der Gottesnähe gewählt. Die Jünger werden wertschätzend als jene beschrieben, die Jesus „wollte“ (V. 13) und die „bei ihm sein sollten“ (V. 14). Auch die Namensliste sowie die Namensgebung einzelner Jünger lassen Rückschlüsse auf ein besonderes Vertrauensverhältnis zu (ähnlich GNILKA, Evangelium II/1, 138f.). Letztlich wird die Berufungsepisode auffälligerweise durch das vorherige Bedrohungsszenario (3,1–6) und den nachfolgenden Streit mit den Angehörigen (3,20f.) sowie den Schriftgelehrten (3,22–30) gerahmt und hebt sich auch insofern positiv ab. In 2,19f. wird bereits das positive Bild vom Bräutigam und den Söhnen des Brautgemachs geprägt. Hierbei wird die Zeit der Anwesenheit Jesu positiv als Zeit des Feierns charakterisiert und mit der Zeit der Gemeinde, die sehr wohl ein Fasten kennt, kontrastiert. Indem die Jünger Jesus erlebt haben, kommt ihnen ein unumstrittener Vorrang gegenüber der nachösterlichen Gemeinde zu. 222 Obwohl 4,11f. lediglich in Ausschnitten Jes 6,9f. aufgreift, kann diese Intertextualität als unumstritten gelten. Der Text hat hierbei die größte Übereinstimmung mit TJes 6,9f., was zumeist auf das Alter des Logions und seine Prägung in der palästinischen Synagogensprache zurückgeführt wird (vgl. JEREMIAS, Gleichnisse, 11f.). Hiermit ist freilich noch nicht geklärt, warum die Reihenfolge von Hören und Sehen bei Markus invertiert wird und ob den Rezipienten diese Abweichung auffallen sollte.
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verantwortliche und lebensbedrohliche Gleichgültigkeit (4,38). Die Macht, die von Jesus bei bloßer Berührung ausströmt (5,30), bleibt ihnen verborgen (5,31).223 Während sie nicht einmal die Kosten für die Speisung von fünftausend Menschen überschlagen können (6,37b)224, vermag Jesus auf wundersame Weise, Speisen zu vermehren. Nun könnte man all diese Begebenheiten noch damit entschuldigen, dass die Jünger Bewohner jener erzählten Welt sind, die von der wahren Identität (Mk 1,2f.10f.) und Vollmacht Jesu eben noch nichts wissen können. Erst im folgenden Erzählverlauf nimmt das Unverständnis der Jünger wahrhaft groteske Züge an. Dies zeigt sich besonders eindrücklich am wiederholten Wunder der Speisung sowie der anschließenden, völlig unverhältnismäßig wirkenden Brotsorge der Jünger (8,14–21). Im Falle der Wunderwiederholung (8,1–9) lässt sich nicht begreifen, wie die Jünger auf den Hunger der Menge erneut mit Unverständnis reagieren können und ihren Lehrer ohne jegliche Erinnerung an die vorangehende Wundertat fragen (8,4): povqen touvtou~ dunhvsetai ti~ w|de cortavsai a[rtwn ejpÆ ejrhmiva~; „Jedes Wort ein Unverständnis! Das tiv~ eine Ungeheuerlichkeit angesichts ihrer Erfahrungen mit Jesus (vgl. 4,41; 6,50); der Zweifel an der Möglichkeit, die Menge zu sättigen, ist ein Unverschämtheit nach 6,43!“225
Dass die Zwölf nahezu im unmittelbaren Anschluss hieran verzagen, weil sie ihrerseits nur ein Brot an Bord haben (8,14.16), lässt sich dann nur noch mit dem Vorwurf der Verstockung bzw. „Herzensverhärtung“ erklären. Ein Urteil, das der Erzähler bereits in 6,52 gefällt hatte und das in 8,17 nun von Jesus als zuverlässiger Instanz mit Nachdruck wiederholt wird (= Informationsverdoppelung). Mehr noch: Indem Jesus aufdeckt, dass den Jüngern das Wunder buchstäblich vor Augen stand und sie die übriggebliebenen Körbe selber gesehen haben, erscheinen sie plötzlich als Außenstehende, die sehend sehen und doch nicht erkennen (4,12) bzw. die Augen haben und trotzdem nicht sehen (8,18). Dass sie zudem hörend hören und doch nicht hören bzw. 223
Die Aussendung der „Apostel“ (6,7–13) sowie der kurze Bericht ihrer Rückkehr (6,30) verdeutlichen erneut das Vertrauen, das Jesus in seine Jünger setzt. Die Zwölf sollen, wie ihr Herr, Macht über Dämonen haben (V. 7) und zur Umkehr rufen (V. 12). Gleichzeitig bleiben die beiden Szenen aber eine sonderbare Randnotiz. Was die Jünger getan und gelehrt haben, wird gerade verschwiegen. Die Erzählung lässt hier eine deutliche Lücke, so dass man das Erzählte kaum zum „Maßstab und Geschick aller künftigen Mission“ (DSCHULNIGG, Sprache, 394) erklären kann. Im späteren Erzählverlauf wird mit der Heilung des besessenen Knaben (9,14–29) ausgerechnet eine Begebenheit überliefert, die die begrenzten Fähigkeiten der Jünger offenlegt (V. 28). 224 Vgl. Joh 6,7. Insofern ein Denar in etwa dem Tagesgehalt eines Arbeiters entsprach (vgl. Mt 20,1–16), kann die Summe nicht reichen, um fünftausend Menschen zu sättigen. Unklar ist zudem, woher die Jünger ihrerseits so viel Geld haben sollen (mit DSCHULNIGG, Markusevangelium, 189; gegen GUNDRY, Mark, 330). 225 SCHENKE, Literarische Eigenart, 192; ähnlich FRITZEN, Gott, 143.
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Ohren haben und trotzdem nicht hören, haben sie mit ihrem Unverständnis gegenüber Jesu Gleichnisreden ohnehin längst bewiesen. Hierzu passt, dass sie auf dem Boot kein Ohr für Jesu Warnung vor den Pharisäern haben, sondern ausschließlich auf ihre eigene Sorge fokussiert bleiben (V. 14.16).226 Parallel zum stetig grotesker werdenden Unglauben der Jünger nimmt auch die Kritik Jesu über den Erzählverlauf hinweg zu. So reagiert Jesus im Kontext des Seewandels und angesichts des vorliegenden Missverständnisses, es handele sich bei der nächtlichen Erscheinung um ein Gespenst (6,49), noch durchaus mit einer trostvollen Offenbarungsformel. In 7,18 kann er seinen Jüngern bereits Unverständigkeit vorwerfen. Und in 8,17–21 geht er mit seinen Nachfolgern dann unmissverständlich ins Gericht. Die sieben Fragen, die er an seine Jünger richtet haben eine überführende Funktion, weil sie anknüpfend an die vorherigen Speisungswunder offenlegen, dass die Jünger Vertrauen haben müssten, aber stattdessen nur auf das Vordergründige achten. Der zentrale Vorwurf der Herzensverhärtung, der seinem traditionsgeschichtlichen Ursprung entsprechend als Gerichtswort zu begreifen ist (vgl. Jer 5,23f.), trifft sonst nur noch Jesu Feinde (vgl. 3,5).227 Dass durch das zweifache ou[pw (V. 17.21) eine prinzipielle Möglichkeit zur Verhaltensänderung impliziert wird,228 erscheint mir im Kontext des Markusevangeliums eher unwahrscheinlich. Weiß Jesus nicht, dass seine Jünger auch im Folgenden unverständig bleiben? Das wäre eine eindeutige Inkohärenz zum sonstigen Figurenmodell.229 Einfacher ist es daher, die Worte schlichtweg als Ausdruck der Verzweiflung zu deuten und entsprechend zu übersetzen: „Versteht ihr denn noch immer nicht? Und begreift ihr noch immer nicht?“ Wie bereits mehrfach im exegetischen Diskurs bemerkt wurde, haben die Fragen Jesu zugleich eine pragmatische Funktion. Sie regen die Rezipienten zum eigenen Nachdenken an. Wenn die Jünger nur das Vordergründige erkennen und hierdurch gerade ihr Unglaube offenbar wird, worin besteht dann die hintergründige Wahrheit (= Emergenz)? Was hätten die Jünger im Kontext der Sturmstillung, des Seewandels oder im Zuge der Speisungswunder erkennen können und müssen? Die Erzählung gibt hierauf keine explizite Antwort, sondern traut dem Rezipienten zu, dies aufgrund der gegebenen Indizien sowie seines textexternen Wissens zu erschließen. Im Kontext der beiden folgenden Kapitel werden wir auf diese Frage zurückkommen. Hierbei wird sich zeigen, dass das Erzeugen von Emergenzen zu einem wesentlichen Charakteristikum der markinischen Jesusdarstellung gehört (vgl. 4.3.2). 226 „Die Jünger scheinen die eindringliche Warnung Jesu zu überhören oder falsch zu verstehen“ (DSCHULNIGG, Markusevangelium, 223). 227 So bereits SCHENKE, Literarisch Eigenart, 194. 228 So z.B. HÜBENTHAL, Markusevangelium, 348f. 229 So wird von Markus sonst durchgängig vermittelt, dass Jesus zukünftige Ereignisse voraussehen kann und dieses Wissen umfasst auch das Verhalten der Jünger (vgl. v.a. 14,18–21 u. 30).
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Mit dem Gerichtswort Jesu hat der Konflikt zwischen Jesus und seinen Jüngern einen vorläufigen Höhepunkt erhalten. Der Konflikt wird sich jedoch im unmittelbaren Anschluss an das Bekenntnis des Petrus (s.u.) fortsetzen und zugleich wandeln. In der zweiten Evangelienhälfte bezieht sich das Unverständnis der Jünger v.a. auf Jesu Leidens- und Auferstehungsankündigungen. Dies wird bereits aus der Handlungsstruktur ersichtlich. Im Anschluss an alle drei Weissagungen Jesu folgt jeweils eine Szene oder Episode, in der das Unverständnis der Jünger thematisiert wird (8,32f.; 9,32.33–37; 10,35–40). Petrus will nicht verstehen, dass sich aus der Messianität Jesu zugleich die Notwendigkeit des Leidens ableitet (8,32f.). Auch den anderen Jünger bleibt diese Erkenntnis verborgen, und sie geraten angesichts der Worte Jesu sogar in Furcht (9,32). Zugleich verschließt sich ihnen, dass in der Nachfolge Jesu hergebrachte Machthierarchien auf den Kopf gestellt werden und in letzter Konsequenz das eigene Martyrium anzunehmen ist (9,33–37; 10,35–40). Jakobus und Johannes setzten ihre Hoffnung ganz auf Jesu irdische Machtfülle (V. 37: dovxa230) und scheinen trotz ihrer anderslautenden Beteuerung und Selbstwahrnehmung nichts von den tatsächlichen Konsequenzen ihres Wunsches zu wissen. Jesu Bildwort von der Taufe und vom Kelch bleibt ihnen, wie alle vorangehenden Bildworte, erneut verborgen. Wie im bisherigen Konfliktverlauf nimmt das Unverständnis der Jünger auch in der zweiten Evangelienhälfte immer wieder groteske Züge an. Weder die persönliche Unterweisung durch Jesus noch die Wiederholung zentraler Vorhersagen führt bei ihnen zu einem Erkenntnisfortschritt. In Mk 9,10 offenbart sich wiederum ein kaum nachzuvollziehendes Unverständnis, diesmal in Bezug auf die Auferstehung Jesu.231 Zwar werden die Rezipienten hier – aufgrund des damaligen Weltwissens232 – davon ausgehen, dass die Jünger durchaus eine allgemeine Vorstellung von der Auferstehung besitzen – eine 230 Mit dem Begriff der dovxa gerät hier noch nicht Jesu himmlische Herrlichkeit in den Blick (so z.B. PESCH, Markusevangelium II/2, 155), sondern es wird an eine hellenistische Hofsprache angeknüpft (vgl. Mt 4,8; 6,29; Offb 21,24.26). Freilich ist auch Markus davon überzeugt, dass Jesus in königlicher und zugleich richterlicher Macht auftreten wird – und zwar im Zuge seiner Wiederkunft als Menschensohn (14,62) –, aber hierin liegt lediglich die hintergründige Botschaft der Episode, die der intendierte Rezipient zu erschließen vermag. Die Jünger wissen darum aber noch nicht, sondern streiten sich um irdische Machtansprüche und so korrigiert Jesus diese Erwartung durch die Ankündigung des irdischen Martyriums. 231 Ähnlich FRITZEN, Von Gott verlassen, 176; SCHENKE, Literarische Eigenart, 218; DSCHULNIGG, Markusevangelium, 249; GNILKA, Evangelium II/2, 41; HEIL, Transfiguration, 175ff.; SJÖBERG, Menschensohn, 129; ERNST, Markus, 262; PESCH, Markusevangelium II/2, 78. 232 Vgl. zu ajnivsthmi als Terminus für die endzeitliche Auferstehung: Jos. Bell. 2,163; Ant. 18,14; 2Makk 7,14; Lk 14,14 (Auferstehung der Gerechten); Jes 26,19; Dan 12,2; 12,43f.; Lk 20,35; Apg 4,2; 23,6; 24,15.21 und Hos 6,2 in der Interpretation von PsSal 3,10.12 (Auferstehung der Toten).
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Vermutung, die sich durch das Streitgespräch in 12,18–27 nachträglich bestätigt. Trotzdem bleibt die Frage unverständlich, weil Jesus bereits in der Umgebung von Cäsarea Philippi (8,31) auf seine Auferstehung hingewiesen hatte. Haben Petrus und die anderen dies abermals überhört, weil sie nur Ohren für Jesu Leidensankündigung hatten? Naheliegender ist, dass die Jünger den Gedanken der Auferstehung ebenso wenig mit Jesu Messianität in Verbindung zu bringen vermögen wie mit dem Gedanken des Leidens, weil „in der jüdischen Messiaserwartung nirgendwo von einer Auferstehung des Messias von den Toten bzw. seiner Einsetzung in die messianische Würde durch die Auferweckung die Rede [ist].“233 Das Unverständnis, das sich somit aus einer Verkennung der Einzigartigkeit Jesu und seiner Einheit mit Gott erklärt, gipfelt schließlich im Kontext der Passion Jesu. Hier werden die Jünger primär durch ihr unmannhaftes Verhalten charakterisiert. In Gethsemane schlafen sie immer wieder ein und erweisen sich dadurch nicht nur als unzureichender Schutz, sondern sie scheinen auch der vorherigen Endzeitrede ihres Herrn keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt zu haben (13,28–37). Entgegen antiker Normen lassen sie schließlich ihren Freund ausgerechnet im Moment der größten Gefährdung im Stich und fliehen zurück nach Galiläa.234 „Da verließen ihn alle und flohen“ (14,50). Das Manko dieses Verhaltens tritt umso deutlicher hervor, als im Zuge der Kreuzigung ausgerechnet Frauen zugegen sind. Sie erscheinen nun als wahre Nachfolgerinnen (V. 41), die Jesus von Galiläa aus bis zur letzten Station seines Lebens gefolgt sind. Sie sind es auch, die die Fürsorge für den Verstorbenen übernehmen.235 Im Zuge der bisherigen Konfliktanalyse stand v.a. das Unverständnis der Jünger im Mittelpunkt. Offen ist damit jedoch nach wie vor, welcher inhaltliche Standpunkt sich den Jüngern aufgrund dieser Darstellung zuschreiben lässt. Welche Meinung und Vorstellung haben sie aufgrund bzw. trotz ihres Unverständnisses von Jesus? Zieht man die expliziten Äußerungen und das Verhalten der Jünger heran und berücksichtigt zugleich die vom Erzähler vermittelten Gedankengänge, so ergibt sich zunächst ein eher konfuses und wenig kohärent erscheinendes Bild: Die häufigste Vokabel im Munde der Jünger ist die – durchaus ehrenhaft zu verstehende – Anrede didavskale (4,38; 9,17.38; 10,17.35; 13,1). Diese lehnt sich an Jesu Auftreten, insbesondere seine Lehre in Vollmacht, seine Gleichnisreden sowie die Streitgespräche mit anderen Schriftgelehrten an und korrespondiert zugleich mit seinem äußeren 233
HENGEL, Begräbnis, 177. Vgl. Sir 6,8.10f.14; 12,8; 37,1.5. 235 Dass die Frauen keineswegs rein positiv charakterisiert werden, sondern durch ihre Verhalten bei der Auferstehung und v.a. ihre falsche Wahrnehmung der Ereignisse sowie ihre unerklärliche Furcht ebenfalls abgewertet werden, ist in der Exegese häufig bemerkt worden und muss hier nicht eigens thematisiert werden (vgl. meine Ausführungen zu 16,1– 6 unter Punkt a. Die Perspektive Gottes). 234
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Erscheinungsbild (6,56236). Als Anrede prägt diese Wendung durchaus das mentale Bild, das die Rezipienten von der Person Jesu gewinnen, aber sie lässt sich kaum als Titel oder christologisch gefüllte Vorstellung begreifen. Über diese Anrede hinaus werden die Jünger vor allem als Fragende und Suchende dargestellt (4,41), die sich angesichts der Machttaten zwar über die Identität Jesu austauschen, aber vorerst zu keinem Ergebnis kommen. Sie missverstehen seine Erscheinung auf dem See und erkennen in dieser konkreten Situation nur ein Gespenst (6,49). Mehrfach tragen sie an ihren Lehrer die Erwartung eines irdischen Machthabers heran (10,35–40; 8,32b nach V. 29b), was von Jesus klar zurückgewiesen, aber von den Jüngern nicht verstanden wird. Im Unterschied zu diesem Befund zeichnen sich die Worte, mit denen sich Petrus in 8,29 zu Jesus als dem Christus bekennt durch eine überraschende Klarheit aus. Sie erhalten so zwangsläufig eine besondere Aufmerksamkeit.237 Ausgerechnet im Anschluss an das oben analysierte Gerichtswort Jesu (8,17– 20), das sich als Höhepunkt des ersten Konfliktverlaufs bezeichnen lässt, vermag sich Petrus als herausgehobener Stellvertreter238 der Jünger zu Jesus als dem Messias zu bekennen. Dass es sich hierbei durchaus um eine zutreffende Bezeichnung handelt, steht m.E. außer Frage. Der Begriff Cristov~ taucht zum ersten Mal seit dem „Quasi-Buchtitel“ in 1,1 auf. Wollte man diesen Titel zur inadäquaten Bezeichnung erklären, so wäre hierdurch letztlich auch die Perspektive des Erzählers disqualifiziert. Dass sich Markus in dieser Weise als unzuverlässiger Erzähler präsentiert, widerspricht aber sowohl der literarischen Erwartungshaltung im 1. Jhdt. als auch dem Erzählerbild, das wir sonst von Markus erhalten.239 Auch der Erzählkontext verdeutlicht, dass Jesus zwar den nachfolgenden Einwand des Petrus zurückweist (V. 32), aber keineswegs die Gültigkeit des Messiastitels in Frage stellt. Im Gegenteil: So wie Jesus zuvor den Dämonen geboten hat, ihn als Sohn Gottes 236
Nicht nachvollziehbar erscheint mir deshalb das folgende Urteil von Ludger Schenke: „Wir müssen hier nicht über die frühjüdische Messiaserwartung reflektieren, denn weder ihre Genese noch ihre Topoi interessieren den Autor und Jesus. [...] Eine religionsgeschichtliche Differenzierung würde daher an der Intention vorbeigehen“ (SCHENKE, Literarisch Eigenart, 207). Ähnlich MALBON, Mark’s Jesus, 106f., die den Christustitel primär aus der vorherigen Erzählung erklären will und mit dem Aspekt der vollmächtigen Lehre sowie den Heilungen verbindet. 237 Dies gilt es insbesondere angesichts der vergleichsweise geringen Anzahl an Christusbelegen zu betonen (1,1; 8,29; 14,61; 15,32). Die Anzahl ist für sich genommen aber gerade noch kein ausreichendes Indiz für die Bedeutung eines Begriffs oder einer Vorstellung. 238 Haben zuvor alle Jünger geantwortet, so tritt nun in V. 29 Petrus hervor und ergreift für die gesamte Gruppe das Wort. Diese Vorrangstellung des Petrus spiegelt sich auch in weiteren Szenen des Markusevangeliums wider (8,32; 9,5; 10,28; 11,21; 14,29). 239 So dienen v.a. die häufigen Erzählerkommentare dazu, dass Markus bei seinen Rezipienten als zuverlässiger Erzähler erscheint (s.o.).
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nicht offenbar zu machen – eine Perspektive, die vom Erzähler für richtig erklärt wurde (1,34) –, so ermahnt er jetzt seine Jünger, ihre Erkenntnis für sich zu behalten (V. 30). Das setzt aber gerade die Legitimität der Anrede voraus und lässt zugleich eine inhaltliche Überschneidung zwischen SohnGottes- und Christus-Titel erkennen (vgl. 4.4.3). Warum kommt es aber trotz des zutreffenden Wissens zum Missverständnis? Warum erkennt Petrus in Jesus den Messias, widerspricht aber ausgerechnet der Notwendigkeit des Leidens? Der Sachverhalt wird m.E. vor dem Hintergrund differenter Messiaserwartungen verständlich, wie sie uns im Aufeinandertreffen von urchristlicher Bekenntnissprache (s.o. zu 1,1) und frühjüdischer Vorstellungswelt begegnen. Ohne die vielfältigen Messiaserwartungen des antiken Judentums hier im Detail erörtern zu müssen, wird bereits bei einer oberflächlichen Durchsicht der Belege deutlich, dass man sich unter dem Messias zunächst und primär240 eine königlich-davidische Figur vorstellte. Dies entspricht auch dem historischen Ursprung dieses Vorstellungskomplexes: Ausgehend vom israelitischen Salbungszeremoniell (vgl. v.a. 1Sam 9,16; 10,1; 16,3.12f.; 1Kön 1,34f.39241) und der hiermit korrespondierenden Königstitulatur (משיח/LXX: Cristov~) konnte sich bereits im Anschluss an die Exilszeit, wenngleich ohne die dezidierte Verwendung des Messiastitels, die Hoffnung auf eine Erneuerung des davidischen Königtums etablieren. In der zwischentestamentarischen und frühjüdischen Zeit entwickelt sich hieraus eine zunehmend konkrete Figurenvorstellung vom königlichen Messias, wobei der Titel „Messias“ nun in den Fokus rückte (PsSal 17; 18; 4Esr 7,28; ApcBar syr 30,1; 1Hen 48,10; 52,4). In das Gesamtspektrum dieser königlichen Messiaserwartung gehören aber auch jene Textzeugnisse, in denen der Messiastitel fehlt (vgl. Philo praem. 95 [o[yi~]; TestLev 18; TestJud 24) sowie jene, in denen von der Usurpation messianischer Erwartungen durch politische Herrscher (z.B. 1Makk 14,4–5; 14,41) oder charismatische Rebellen242 berichtet wird. 240 So sehr die Funde von Qumran auf eine gewisse Disparität messianischer Vorstellungen verweisen, sollten die hier anzutreffenden Einzelerwartungen nicht zu einer Verzerrung des Gesamtbildes führen. Das in den Qumranschriften beschriebene Auftreten zweier Messiasse – mit einer Vorrangstellung des hohenpriesterlichen Messias – oder die hier anzutreffende Vorstellung einer messianischen Prophetengestalt (11QMelch 18; vgl. Jes 52,7) bleiben im Ganzen eher Randphänomene. Umgekehrt ist auch in den Qumranschriften durchaus eine königliche Messiaserwartung anzutreffen (4Q252; 1QSa 2,11f.; 4Q521Frgm 2ii,1). „Eindeutig ist: Außerhalb Qumrans wird vorwiegend nur ein königlicher Messias erwartet“ (THEISSEN/MERZ, Jesus, 464). 241 Das Alte Testament bezeugt daneben zwar eine Salbung des Hohenpriesters sowie einzelner Propheten (1Kön 19,16; Jes 61,1; Ps 105,15 [Erzväter]), aber diese Erwähnungen besitzen Seltenheitscharakter. 242 Von diesen leitet sich die markinische Warnung vor falschen Christussen (13,21f.) ab und zugleich wird vor deren Hintergrund auch das politische Todesurteil gegen Jesus (historisch) plausibel (15,26.32).
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Gemeinsam ist den allermeisten Zeugnissen, dass der königliche Messias explizit oder implizit als irdische bzw. sterbliche Gestalt begriffen wird. Unter dem Einfluss apokalyptischer Vorstellungen kann dies sogar besonders betont werden (ApcBar syr 30,1; 40,4; 74,2f.; 4Esr 7,26–35; 12,32.34b; vgl. hierzu Offb 20,1–6). Trotz dieser befristeten Funktion und obwohl teilweise sogar von einem gewaltsamen Sterben messianischer Gestalten gesprochen wird (Sach 12,10; Dan 9,24–26), wird diesem Tod nirgendwo eine eigentliche Heilsbedeutung zugeschrieben.243 Das Bild einer königlich-davidischen Messiasfigur, das sich nach den Kriterien der Bezeugungsbreite und der Erinnerungsnähe dem Vorwissen der markinischen Rezipienten zuschreiben lässt, macht verständlich, warum sich Petrus in 8,29 zu Jesus als dem (königlichen) Christus bekennen kann und zugleich der Leidensankündigung widersprechen muss. Er erkennt im Sinne einer vorösterlichen, genuin frühjüdischen Erwartungshaltung in Jesus den königlichen Messias. Gerade deshalb will er nicht hinnehmen, dass Jesu Herrschaft bereits zu Ende sein soll. Dass der Messias gar leiden und sterben muss, d.h. dass er hierzu von Gott vorherbestimmt ist (s.o), kann aufgrund dieses Überzeugungssystems (= Knowledge/Wish world) nur zum Protest führen. Petrus will Jesus zu einem Verhalten animieren, das dem der königlichen Messiaserwartung entspricht (= Intentional World). Die Rezipienten werden hingegen auf der Grundlage ihres nachösterlichen Glaubens und ihrer Bekenntnissprache die prinzipielle Gültigkeit des Messiastitels erkannt haben (= [Textual] Actual World). Im Unterschied zu Petrus erschließt sich ihnen die logische Verbindung zum angekündigten Kreuzesgeschehen, weil der Christustitel in der frühchristlichen Bekenntnissprache genau in diesem theologischen Themenkomplex seinen Platz hat (vgl. 4.2.1). 8,27–33 zeigt, dass sich Markus der unterschiedlichen Vorstellungswelten bewusst ist und diese erzählerisch zu inszenieren vermag. Im Ergebnis werden die Rezipienten dadurch in ihrer Sichtweise bestätigt: der Christustitel ist eine legitime Bezeichnung Jesu, muss aber notwendigerweise mit dem Leiden 243
Selbst wenn man für die vorchristliche Zeit eine messianische Deutung von Jes 53 annehmen wollte, so hätte diese gerade eben noch keine größere Verbreitung erfahren und lässt sich deshalb auch nicht dem Vorwissen der markinischen Rezipienten zuschreiben. Diese werden Jes 53 ohnehin vor dem Hintergrund eines – erst nachösterlich denkbaren – inkludierenden Stellvertretungsgedankens gelesen und damit zugleich auf eine Einzelperson bezogen haben. „Die Osterzeugen haben [...] den Gesamttext des Liedes vom leidenden Gottesknecht zum ersten Mal auf eine geschichtliche Einzelgestalt beziehen und von ihm her Jesu Leidensgeschick soteriologisch deuten können“ (STUHLMACHER, Jes 53, 104). Inwieweit diese Interpretation als „Antwort und Reaktion auf Jesu eigene Todesprophetie“ (104) zu begreifen ist, kann in unserem Kontext dahingestellt bleiben. Entscheidend ist nach den Kriterien der Erinnerungsnähe und der Bezeugungsbreite allein, dass eine solche Neudeutung bereits in vormarkinischer Zeit sowie v.a. in der gesamten neutestamentlichen Briefliteratur belegt ist (vgl. dazu ausführlich HOFIUS, Gottesknechtslied).
4.2 Perspektivische Vermittlung
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zusammengedacht werden und erschließt sich erst von Ostern her. Ein Bestreiten des Leids ist hingegen als widergöttlich zurückzuweisen (V. 33). Jede Polemik, die der Gemeinde aufgrund ihres Christusbekenntnisses entgegenschlägt – mag diese von außerhalb oder innerhalb kommen – soll mit Entschiedenheit zurückgewiesen werden. Für eine zusätzliche Bestätigung sorgt der spätere Hinweis, dass bereits der Gekreuzigte einer entsprechenden Polemik ausgesetzt war (15,32). Zugleich setzt die Erzählung voraus, dass es bei dem Apostel Petrus und den anderen Jüngern nach Ostern durchaus zu einer neuen Erkenntnis gekommen ist. Vor allem mit der angedeuteten Versöhnung zwischen den Jüngern und ihrem Herrn (16,7) verbindet sich die Hoffnung, dass Simon Petrus vom Auferstandenen doch noch „Gnade und Apostelamt“ empfängt und letztlich zur vollen Christuserkenntnis gelangt. Dies dürfte dem textexternen Personenverständnis entsprechen, das die Rezipienten von den Aposteln hatten, und wird auch durch die externe Prolepse in 13,10 und den dort gegebenen Ausblick auf die weltweite Mission vorausgesetzt: „Unter allen Völkern (eij~ pavnta ta; e[qnh244) muss zuerst verkündigt werden das Evangelium“ (vgl. auch 14,9). Das Merkmal des Jüngerunverständnisses dient also m.E. nicht primär dazu, Petrus und die anderen Apostel in ihrer vorauszusetzenden Autorität zu hinterfragen. Welche Motivation sollte es dazu im Jahr 70 n.Chr. noch geben? Vielmehr soll herausgestellt werden, dass selbst die Apostel erst in der Begegnung mit dem Auferstandenen zur vollen Christuserkenntnis gelangt sind und nicht mittels eigener Erkenntnis. Auch sie mussten sich erst von ihren hergebrachten Messiasvorstellungen lösen und dem Geschehnis von Kreuz und Auferstehung „nachdenken“. Markus reflektiert mit seiner Erzählung konsequent die Bedingungen vorösterlicher Erkenntnismöglichkeiten. Analog hierzu bleibt auch das „Bekenntnis“ des Hauptmanns auf seine Weise defizitär und es zeigt sich letztlich, dass keine der markinischen Figuren über den Erzählverlauf hinweg zu einer umfassenden Vorstellung von Jesus gelangt. Trotzdem stellt sich dann die Frage, woher Petrus seine richtige und zugleich zum Missverständnis führende Christuserkenntnis hat. Soll der Rezipient dieses Wissen auf ein Offenbarungsgeschehen zurückführen oder soll er darauf schließen, dass Petrus diese Einsicht aus einer Reflexion der vorherigen Ereignisse gewonnen hat? Sollte Markus diese Frage überhaupt reflektiert haben, was m.E. nicht mit Sicherheit zu sagen ist, so sprechen die Indizien eher für Letzteres. Gegen eine Deutung als Offenbarungsgeschehen spricht v.a., dass Petrus eben noch nicht zur vollen Erkenntnis der Identität Jesu gelangt und die klassischen Motive für ein Offenbarungsereignis fehlen. 244
Dass diese Formulierung ihren Sitz in der apostolischen Völkermission hat, verdeutlichen die einschlägigen Missionstexte des Neuen Testaments (Mt 28,18–20; Lk 24,47; Apg 15,17; Gal 3,8; Röm 1,5; 15,11; 16,26; 2Tim 4,17; vgl. auch Mk 16,15; Apg 1,8).
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Der Rezipient erhält also keine ausreichenden Signale, um das Geschilderte im Sinne einer Offenbarung zu deuten. Dass Petrus aufgrund der vorherigen Ereignisse in Jesus den Messias erkennt, erscheint demgegenüber überraschend, aber immerhin möglich. So wird trotz allem Unverständnis zuvor berichtet, dass sich die Jünger immerhin die Frage nach Jesu Identität gestellt haben (4,41) und dass sie in Auseinandersetzung mit Jesu Vorwurf (8,17–21) und einer Vergegenwärtigung bestehender Volksmeinungen (8,27f.) zu einer eigenen Positionierung herausgefordert werden. Aufgrund einer verbreiteten königlichen Messiashoffnung (= textexterne Wissen) erscheint es durchaus plausibel, dass die Jünger diese frühjüdische Erwartung auf Jesus projizieren konnten. Gerade dies werden sie im weiteren Erzählverlauf tun (8,31–10,45). Gleichzeitig wird der Rezipient die semantische Übereinstimmung zwischen 1,1 und 8,29 bemerkt haben und so in der Stimme des Petrus zugleich die Stimme des Erzählers gehört haben. In eingeschränkter Weise kann man hier von einer antiken Stiltrennung (Auerbach) sprechen. Allerdings wird durch den weiteren Erzählverlauf und die sich immer stärker verdichtende Perspektive der Jünger eine deutliche Differenz zum Standpunkt des Autors markiert. Während der vorösterliche Petrus und die anderen Jünger in Jesus allein den königlichen Messias erkennen, vermag der Rezipient denselben Titel neu zu füllen und mit dem Leidensaspekt zu verknüpfen. Insgesamt zeichnet sich die Perspektive der Jünger durch eine große Dynamik und durch offensichtliche Inkohärenzen bzw. überraschende Wendungen aus. Gerade dies lässt sich aber auf die erzählerische Absicht des Evangelisten zurückführen, der hiermit das vorösterliche Unverständnis der Apostel und ihr Festhalten an überkommenden Messiasvorstellungen inszenieren will. Gerade dort, wo die Reaktionen und Äußerungen der Jünger unverständlich scheinen und das gegebene Porträt aufgrund seiner zunehmenden Skurrilität Gefahr läuft, sich illusionsstörend auf den Rezeptionsprozess auszuwirken, fügt Markus einen eigenen Erzählerkommentar (6,52) und einen Kommentar Jesu (8,17) ein. e. Die Perspektive wichtiger Episodenfiguren und Figurengruppen: Mit der erzählwissenschaftlichen Methodik ist neben der Figurengruppe der Jünger in zunehmender Weise die Bedeutung der kleineren Figuren (minor characters245) erkannt worden. So betonen schon David Rhoads und Donald Michie: „The minor characters make brief cameo appearances and then disappear, yet the role of each is often quite memorable. Examples include characters such as the men who bring a paralytic to Jesus, the leper, Jairus the synagogue ruler, the Syrophoenician woman, the children Jesus embraces, the poor widow, and Joseph of Arimathea.“246 245
Vgl. EBNER, Schatten; WILLIAMS, Discipleship. Zum Begriff der „minor characters“ vgl. bereits TANNEHILL, Narrative Christology, 63, und RHOADS/MICHIE, Mark, 129–136. 246 RHOADS/MICHIE, Mark, 129.
4.2 Perspektivische Vermittlung
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Die von Rhoads und Michie zusammengestellte Auflistung wirkt allerdings noch weitgehend zufällig und ungeordnet. Erhalten die Figurengruppe der Kinder und die Figur des Jairus tatsächlich die gleiche Aufmerksamkeit im Lektüreprozess und sind mithin gleich wichtig? Woran bemisst sich die Wichtigkeit einzelner Figuren? Im Zuge feministischer Exegesen wurde die Frage nach der Wichtigkeit v.a. auf der Grundlage eines heutigen Ausgleichs zwischen den Geschlechtern getroffen. Wichtig sind hier jene (weiblichen) Figuren, die im Zuge einer von Männern dominierten Wissenschaft ausgeblendet oder nur einseitig interpretiert wurden. Der unbestreitbare Verdienst einer solchen, an der Geschlechtergerechtigkeit ausgerichteten Exegese ist es, dass in den letzten Jahrzehnten die Relevanz weiblicher Charaktere, wie z.B. der Syrophönizierin, der blutflüssigen Frau oder der anonymen Frau in 14,3–9 bemerkt und verstärkt diskutiert wurden. Andererseits muss aus kognitiv-narratologischer Perspektive eingewandt werden, dass sich die Wichtigkeit einer Figur gerade nicht an einem heutigen Forschungs– oder Gesellschaftsinteresse bemessen sollte. Vielmehr gilt es Faktoren zu benennen, die die Aufmerksamkeit von Rezipienten lenken und die helfen, die einzelnen Episodenfiguren247 des Markusevangeliums auf systematische Weise zu hierarchisieren. Wendet man die in Kap. 2 benannten Kriterien der Aufmerksamkeitslenkung auf das markinische Figurenensemble an (vgl. Abb. 4.2),248 so ergibt sich hieraus, dass zahlreiche Figuren – wie der Aussätzige in 1,40–45, der von Dämonen besessene Gerasener (5,1–20) oder der Blinde in Bethsaida (8,22–26) – kaum an Individualität gewinnen und mithin schnell aus dem Lesegedächtnis der Rezipienten verdrängt werden.
247
Da der Begriff des minor characters schnell ad absurdum geführt wird, wenn es sich hierbei im Rezeptionsprozess um eine wichtige Figur handelt, sollte er vermieden und durch vergleichsweise technische Bezeichnungen wie „Episodenfigur“, „Randfigur“, „Schaufigur“ etc. ersetzt werden. Bei den im Folgenden behandelten Figuren handelt es sich durchgängig um Episodenfiguren. 248 Ein anderes Bild ergibt sich durchaus, wenn man die Wichtigkeit von der jeweiligen Wirkungsgeschichte her bestimmt. Hier zeigt sich, dass auch Episoden und Figuren, die nach narratologischen Kriterien lediglich eine mittlere Aufmerksamkeit erhalten, ein hohes Inspirationspotenzial haben können. Allerdings besteht hier das Problem, dass die historische Wirkungsgeschichte oftmals von ganz anderen Faktoren beeinflusst wird. Zum Beispiel kann eine Erzählung größere Bedeutung gewinnen, weil sie unter einer gewandelten Zeitgeschichte ein neues Applikationspotential erhält oder durch andere Evangelisten und Autoren aufgenommen und ausgeschmückt wurde.
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wichtig die Syrophönizierin (7,24–30)**** Bartimäus (10,46–52) Josef von Arimathäa (15,42–47)*** die blutflüssige Frau (5,24b–34) Jairus (5,21–24a.35–43) der Gelähmte in Kapernaum (2,1–12) der besessene Gerasener (5,1–20)** der Vater des besessenen Knaben (9,15–27) der Blinde in Bethsaida (8,22–26) der Aussätzige (1,40–45) die anonyme Frau, die Jesus salbt (14,3–9) der Besessene in Kapernaum (1,21–27)* der Mann mit der verdorrten Hand (3,1–5) unwichtig ****
*** ** *
= hohes Maß an Individualität (z.B. Name, Äußeres, soziologische Verortung), Erzählung ist zumindest vorübergehend auf die Figur fokalisiert, überwiegend aktive Handlungsfunktion, überraschendes Verhalten, geringe bis mittlere Handlungsrelevanz; = mehrere individuelle Merkmale, Erzählung ist zumindest vorübergehend auf Figur fokalisiert, teilweise aktive Handlungsfunktion, überraschendes Verhalten, eher geringe Handlungsrelevanz; = Reduktion auf einzelne Merkmale (z.B. Bedürftigkeit), Figur ist kaum oder gar nicht fokalisiert, überwiegend passive Handlungsfunktion, (nahezu) keine Handlungsrelevanz; = weitgehend Reduktion auf ein Merkmal, Erzählung ist auf andere Figuren fokalisiert, rein passive Handlungsfunktion, keine Handlungsrelevanz.
Abb. 4.2: Hierarchisierung mehrerer Episodenfiguren nach ihrer Wichtigkeit Da diese Figuren jeweils auf einzelne Merkmale, insbesondere ihre Besessenheit oder Not reduziert werden und primär in einer passiven Rolle erscheinen, werden sie im Rezeptionsprozess zur Figurengruppe der „Bedürftigen“249 zusammengefasst. Als solche erhalten sie eine ähnliche Aufmerksamkeit wie die stets anonym bleibende Menge, die v.a. auf ihre unzureichende Erkenntnis (= Wissen/Wahrnehmung) und verschiedene Abstufungen des Erstaunens (= Gefühl) reduziert wird. Andere Figuren besitzen individuellere Züge und 249
Mit diesem Begriff nehme ich eine Klassifizierung vor, die nicht dem Markusevangelium entspringt, die aber geeignet ist, die erzählerische Präsentation dieser Figuren adäquat zu beschreiben. MALBON, Mark’s Jesus, 83–92, spricht in ähnlicher Weise von „suppliants“. Allerdings gewichtet sie die einzelnen Figuren nicht nach deren Wichtigkeit, so dass die Figur des Bartimäus, der Syrophönizierin, der blutflüssigen Frau, des Blinden in Bethsaida und des Vaters des besessenen Jungen gleich bedeutsam erscheinen.
4.2 Perspektivische Vermittlung
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erhalten zusätzliche Aufmerksamkeit durch ein außergewöhnliches Verhalten, wie z.B. Jairus, die blutflüssige Frau, Josef von Arimathäa oder der Gelähmte in Kapernaum. Diese Figuren geben sich aber trotzdem primär als Repräsentanten größerer Gruppen zu erkennen: So wird der Rezipient Jairus und Josef von Arimathäa der Gruppe der religiösen Autoritäten zuordnen,250 die blutflüssige Frau oder den Gelähmten der Gruppe der Bedürftigen. Sie prägen das Bild dieser Figurengruppen mit und fordern teilweise zu einer differenzierteren Betrachtung heraus. Die größte Aufmerksamkeit unter den Episodenfiguren erhalten zweifelsohne die Figur der Syrophönizierin und die Figur des blinden Bartimäus, die sich deutlich von der Gruppe der Bedürftigen abheben und gerade im Kontrast zu den oben beschriebenen Jüngern als vorbildliche Nachfolger Jesu erscheinen.251 Beide Figuren fassen Vertrauen in die zuvor gehörte Kunde und überwinden aufgrund dessen mit beispielhafter Beharrlichkeit die bestehende (und erzählerisch verstärkte) Distanz zwischen sich und Jesus. Jesu Begegnung mit der syrophönizischen Frau erhält bereits mit der Einleitung 7,24f. große Aufmerksamkeit. So verlässt Jesus mit seinem Aufbruch nach Tyrus erstmals das bisherige setting des Sees und begibt sich nach der Jüngerberufung alleine252 auf Wanderschaft. Die Erwähnung der Grenz- und Hafenstadt Tyrus soll den Rezipienten von Anfang an signalisieren, dass sich Jesus nun auf heidnischem Gebiet bewegt. Eine Assoziation, die vor allem durch die textextern vorgeprägte Bedeutung von Tyrus evoziert und durch die in V. 31 nachträglich erwähnte und zugleich kurios anmutende Routenführung 250
Jairus und Josef von Arimathäa erhalten zusätzliche Aufmerksamkeit, indem sie in Abweichung zur Gruppe der religiösen Autoritäten agieren (= Normabweichung) und somit zu einem differenzierten Bild dieser Gruppe herausfordern (s.o.). An der Figur des Jairus haben die Rezipienten wohl auch eine emotionale Anteilnahme. Zugleich bleiben aber beide Figuren extern fokalisiert, was v.a. bei Jairus angesichts der geschilderten Not überrascht. Ihr Potenzial, bedeutsame Entscheidungen zu treffen, sowie ihre kausale Involviertheit in die Handlung bleiben gering. Außerdem lässt sich bei ihnen keine symbolische Relevanz erkennen. 251 Demgegenüber greift es zu kurz, wenn man a priori sämtliche minor characters zu Kontrastfiguren der Jünger erklärt. So z.B. EBNER, Im Schatten, bes. 67: „Unter dieser Perspektive erscheinen geradezu alle kleinen Erzählfiguren in irgendeinem Punkt im Kontrast zu den Zwölf.“ Ähnlich WILLIAMS, Discipleship, und MALBON, Importance, 62–64.71f., die allerdings beide stärker zwischen Parallel- und Kontrastfiguren differenzieren. Um als Kontrast- bzw. Parallelfigur bezeichnet zu werden, sollten sich jedoch mehrere Merkmalsparallelen aufzeigen lassen. Zudem ist auf bestehende Handlungsinferenzen zu achten, durch die einzelne Merkmalsparallelen besonders betont werden. 252 Der intendierte Rezipient wird hier gerade nicht voraussetzen, dass die Jünger Jesus begleiteten (gegen SCHENKE, Literarische Eigenart, 188). Von ihnen ist weder in 7,24–30 noch in 7,31–37 die Rede und es gibt hier auch kein indirektes Indiz für ihr Anwesenheit. In 8,1 heißt es sogar explizit, dass Jesus seine Jünger wieder zu sich gerufen habe, was ihre vorherige Abwesenheit noch einmal unterstreicht.
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über Sidon in das Gebiet der Dekapolis verstärkt wird.253 Markus zeigt bei der Aneinanderreihung der Episoden keinerlei Interesse an einer mimetischen Raumdarstellung. Vielmehr nimmt er das unnatürliche Szenario254 in Kauf bzw. provoziert dieses, um hierdurch der Thematik der Heidenmission zusätzliches Gewicht zu verleihen. In einer Tour de Force durchquert Jesus die heidnischen Gebiete. 255 Dass die Syrophönizierin vor dem Hintergrund dieses Erzählrahmens als „Prototyp einer gläubigen Heidin“256 erscheint und erscheinen soll, wird im weiteren Erzählverlauf durch die Charakterisierung der Frau verdeut253 Das Städtepaar Tyrus/Sidon steht schon im alttestamentlichen Kontext stereotyp für das Gebiet Phöniziens bzw. pauschalisierend für das heidnische Grenzland (vgl. Jer 25,15– 28; 27,3; 47,1–7; Joel 3,1–8; Sach 9,2; 1Makk 5,15; Jdt 2,28). Die Verbindung beider Orte ist so eng, dass sich zahlreiche Textzeugen in V. 24 genötigt sehen, den Städtenamen Sidon zu ergänzen ( אA B K N G f 1.13 33. 579. 700. 892. 1241. 1424. syhmg). Die beiden Orte galten auch zur Abfassungszeit des Markusevangeliums noch als bedeutende und über das unmittelbare Einzugsgebiet bekannte Hafen- und Handelsplätze (vgl. Jos. Bell. 2,459; 2,588; 3,38; 4,105 [zu Tyrus] und Apg 27,3; Jos. Ant. 18,153 [zu Sidon]). In seiner Nacherzählung der Königsbücher nutzt Josephus die Ortsbezeichnung „zwischen Tyrus und Sidon“, um seinen Rezipienten die unbekannte Lage Sareptas zu erkären (Jos. Ant. 8,317– 320 [Tyrus und Sidon]). Dass die Rezipienten aufgrund dieser Bekanntheit die sonderbare Routenführung von der Küste ins Gebiet der Dekapolis (7,31) nicht bemerken konnten, ist eher unwahrscheinlich. Durch ihr textexternes Wissen und die bisherige Raumdarstellung ist den Rezipienten die geografische Lage und ethnische Prägung von Tyrus und Sidon sowie der Dekapolis bekannt, so dass ihnen der sonderbare Weg Jesu – auch ohne geografische Detailkenntnisse – auffallen muss und wohl auch auffallen soll. 254 Unter Bezugnahme auf Jan Albers Lesestrategien zur Bewältigung unnatürlicher Erzählwelten (vgl. ALBER, Impossible Storyworlds, 79–96) kann man hier von einem „foregrounding the thematic“ sprechen. Interessant wäre hier wohl ein kulturgeschichtlicher Vergleich zwischen den epochenspezifischen Funktionen unnatürlicher Erzählwelten. Auch die Frage, inwieweit sich gerade religiöse Texte dieses Mittels bedienen und wie sich dabei das Verhältnis von „Fiktionalität“ und „Religiosität“ beschreiben lässt, wäre dabei zu bedenken und zu klären. 255 Dass der Weg von Tyrus über Sidon in die Dekapolis (ajna; mevson tw`n oJrivwn Dekapw`lew~) und damit ans Ostufer des Sees führt, ist keineswegs so abwegig, wie es mitunter in der Markusforschung empfunden wurde (gegen SCHWEIZER, Markus, 82; mit SCHRÖTER, Jesus, 199–201), ändert aber nichts an der extremen Raffung der hier erzählten Reise Jesu. Gerade diese unterstreicht, dass Markus die Gebiete lediglich erwähnen will, aber gerade nicht an einer realistischen Darstellung interessiert ist. „Er steckt mit den genannten Gebieten vielmehr auf summarische Weise den geographischen Horizont der Wirksamkeit Jesu außerhalb Galiläas ab, indem er mit Tyros und Sidon das nordnordwestlich gelegene Gebiet bezeichnet und Jesus sodann […] in das Gebiet östlich vom See gehen läßt“ (SCHRÖTER, Jesus, 201). 256 GNILKA, Evangelium II/1, 293, der allerdings offen lässt, wie er zu ebendieser Interpretation gelangt. Vorausgesetzt ist hier zugleich, dass eine individuelle Figurenbeschreibung und ein prototypisches Figurenverständnis keineswegs im Widerspruch zueinander stehen müssen. Die Frage ist nicht, ob eine Figur ausschließlich auf prototypische Merkmale reduziert wird, sondern ob sie über ausreichend viele prototypische Merkmale verfügt, um eine solche Applikation zu evozieren.
4.2 Perspektivische Vermittlung
275
licht. Markus stellt sie in einem Erzählerkommentar vor und bezeichnet sie als Ἑλληνίς, d.h. als Heidin oder Nicht-Jüdin.257 Der anschließende Hinweis, dass die Frau von Geburt her Syrophönizierin sei (Surofoinivkissa twæ` gevnei), stellt klar, dass es sich bei dieser Heidin um eine Einheimische handelt.258 Sie ist damit Bewohnerin jenes Gebietes, in dem sich der Ruf Jesu bereits sehr früh ausgebreitet hat. Schon in Mk 3,7 konnte der Rezipient erfahren,259 dass Menschen aus dem Gebiet um Tyrus und Sidon von Jesus gehört hatten und zu ihm geströmt waren. Die Episode knüpft an diese Information an, so dass es die Rezipienten kaum verwundern dürfte, dass Jesus nicht verborgen bleibt und selbst im Haus aufgesucht wird (V. 24; vgl. 1,44f.; 2,1f.; 6,32f.). Erstaunlich ist dann jedoch, dass ausgerechnet eine Frau in den Fokus gerückt wird und die Chance der Anwesenheit Jesu nutzt. Wie andere Bedürftige fasst auch sie, allein aufgrund des Gehörten, den Entschluss, Jesus in ihrer Not um Hilfe zu bitten. Der Erzähler macht die Frau an dieser Stelle zum Wahrnehmungszentrum und ermöglicht den Rezipienten so, Empathie zu ihr aufzubauen: ajll jeujqu;~ ajkouvsasa gunhv.260 Im Folgenden wird durch das gleichsam beharrliche wie verständige Verhalten der Heidin demonstriert, dass die grenzüberschreitende Verbreitung des Evangeliums (= Vorgeschichte) und der dadurch geweckte Glaube an Jesus (= Grund) dazu führen, dass die Frau die Anwesenheit Jesu (= ermöglichender Faktor) nutzt, um ihren Wunsch, die Tochter vom Dämon zu befreien (= Intention), vorzutragen (= Verhalten). Die Beharrlichkeit261 der Frau lässt sich besonders gut durch die implizit vorausgesetzten Grenzen sowie deren Überschreitung verdeutlichen. Es ist hierbei gleichermaßen von einer räumlichen, einer ethnisch-religiösen, einer geschlechterbedingten und einer soziologischen Grenzüberschreitung zu sprechen. Als heidnische Frau und ohnmächtige Bittstellerin überschreitet sie mit der Hausschwelle262 zugleich die Grenze zu einem jüdischen Mann, von dem 257 Grieche bezeichnet hier, wie häufig im Neuen Testament, die Gesamtheit aller Heiden (vgl. Apg 19,10; 20,21; Röm 1,16; 2,9f.; 3,9; 10,12; 1Kor 1,24; 10,32; 12,13; Gal 3,28; Kol 3,11 u.ö.). 258 So auch STRUBE, Wegen dieses Wortes, 51; THEISSEN, Wundergeschichte, 130. 259 Vgl. zudem die Informationen in Mk 1,14f., 1,28 und 1,38f., die in Zusammenspiel mit 3,7 den Eindruck einer raschen Verbreitung des Evangeliums erwecken. 260 Auch bei der Demonstration des eingetretenen Wunders in V. 30 ist die Frau erneut Wahrnehmungszentrum. 261 Auch wirkungsgeschichtlich zeigt sich, dass in der frühen Kirchengeschichte eine Hervorhebung ebendieses Figurenmerkmals erfolgte (vgl. Beda PL 92,202; Ps.-Clem hom 2,19). Zugleich kann die Frau aufgrund ihrer heidnischen Herkunft als Urbild der Völkerkirche gelten. Das hohe Interesse an der Episode spiegelt sich auch in legendenhaften Ausschmückungen oder fiktiven Fortsetzungen wider (Ps.-Clem. hom 2,19 [Justa]; 3,73 [erwachsene Tochter Bernike]). 262 Die vorherige Erwähnung eines Hauses (V. 24), in dem Jesus nicht verborgen bleibt und die unmittelbar nachfolgende Information, dass die Syrophönizierin zu Jesus kam und ihm zu Füßen fällt, lassen einen entsprechenden Rückschluss auf den Schauplatz zu. Dies
276
4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
allein sie sich das Heil für ihre Tochter erhofft. Insofern die Geste der Unterwerfung (prosevpesen pro;~ tou;~ povda~ autou`) ihre Rolle als Bittstellerin illustriert,263 erweist sich die ehrenvolle Anrede Jesu (kuvrio~, hier: Herr/Meister) als kohärent (vgl. 11,3). 264 Inwieweit die unaufgeforderte Anrede der Frau gegen antike Geschlechterkonventionen verstößt und ob dies eine hohe Aufmerksamkeit erregt, lässt sich aufgrund einer unzureichenden Quellenlage nicht gänzlich klären, kann aber angesichts des allgemeinen Frauenbildes durchaus vermutet werden.265 Insofern die Frau indirekt als reich charakterisiert wird, denn sie verfügt offensichtlich über ein eigenes Haus,266 erscheint ihre Demutsgeste umso eindrücklicher. Trotz dieser Grenzen, die die Frau zu überschreiten hat, kommt es am Ende zu einer revolutionären Raumüberschreitung. Nicht nur die ausweglos erscheinende Situation der Tochter wendet sich dabei zum Guten, sondern – dem prototypischen Charakter der Erzählung entsprechend – wird zugleich das Verhältnis zwischen Juden und Heiden geklärt.267 ist keineswegs ohne Bedeutung, weil das Haus im bisherigen Erzählverlauf als Ort des Rückzugs und der Jüngerunterweisung galt. Auch hierüber ergibt sich also eine Parallelisierung zwischen den Jüngern und der Frau. 263 Vgl. die ähnliche Geste in 5,22. 264 Man wird deshalb zumindest vordergründig nicht von einer christologischen Titulatur sprechen können. Umgekehrt schließt dies aber keineswegs aus, dass die Rezipienten an dieser Stelle einen emergenten Bedeutungsgehalt mithören sollen. Das gemeinsame Bekenntnis zu Jesus als dem kuvrio~ vereint nach frühchristlicher Überzeugung gerade Juden und Heiden in der gemeinsamen Heilszusage (vgl. Röm 10,12 nach 10,9; 1Kor 12,3). Dass Jesus im Markusevangelium im umfassenden Sinn als „Herr“ zu begreifen ist, legt sich nicht allein aufgrund von Mk 1,3 nahe, sondern ergibt sich primär aus dem Erzählten, d.h. aus dem evozierten Figurenmodell (vgl. hierzu Kap. 4.3.2c). 265 Eine gründliche Auswertung entsprechender Belege findet sich bei JOCHUMBORTFELD, Die Verachteten, 124–153. Demnach konnte gerade das öffentliche Auftreten in der antiken Literatur abgewertet und sogar polemisch belegt werden (vgl. Cic. Cael. 20,44–49; Tac. ann. 13,45; Sall. Cat. 24,3–25,5 [Diffamierung als Prostituierte]). Innerhalb des Judentums können Frauen, die in Notsituationen engagiert auftreten, z.T. positiv dargestellt werden (vgl. v.a. Ester, Judith). Zugleich wird aber auch hier das Haus als „natürlicher Handlungsraum“ verstanden und ein bewusstes Ausbrechen aus diesen Grenzen zumeist negativ bewertet (vgl. Xen. oik. 7,1–43; Phil. spec. 3,169ff.; JosAs 16,1.4.10; 19,2; 21,4; vgl. dazu STANDHARTINGER, Frauen, 206–211 [Kurztext: positives Bild einer Lehrerin].214–216 [Langtext: negatives bzw. konventionelles Bild]). 266 In V. 30 kehrt die Frau ausdrücklich in ihr Haus (oi\kon aujth`~) zurück, was manche Textzeugen ganz offensichtlich als anstößig empfunden haben und daher auslassen (¸45 D W f 1 28 it boms). Da Tyrus als reiche Handelsstadt bekannt war, fügt sich dieses Figurenmerkmal jedoch gut in den Erzählkontext ein und wirkt plausibel. 267 Dass erst die Begegnung mit der Frau zu einem entsprechenden Sendungsbewusstsein Jesu geführt habe und er im Zuge des Aufeinandertreffens zu einer politisch (!) befreienden Interpretation seines Auftrags gelangt sei (so RINGE, A gentile, 72), hat keinen Anhaltspunkt innerhalb der Erzählung. Aufgrund der in 3,7f. beschriebenen Wirkung des Evangeliums und dem in 7,27 lediglich zeitlich gefassten Vorrang der Juden, lässt sich kaum von einer solch fundamentalen Neuerkenntnis sprechen.
4.2 Perspektivische Vermittlung
277
Durch den Dialog zwischen Jesus und der Frau wird v.a. die Verständigkeit der Heidin demonstriert, wobei sie in einen erkennbaren Kontrast zu den unverständigen Jüngern gerückt wird. Während die Jünger in der unmittelbar vorangehenden Episode Jesu Gleichnis erneut missverstehen (7,17f.268; vgl. 4,13), vermag die Syrophönizierin Jesu Bildwort nicht nur richtig zu interpretieren, sondern sie deutet es zugleich zu ihren Gunsten um. Jesu Bildwort, das mit den Begriffen der Kinder und dem des Hunds auf eine durchaus bekannte Metaphorik269 zurückgreift, hebt zunächst explizit den zeitlichen Heilsvorrang der Juden hervor (prw`ton270) und dient im Kommunikationsgeschehen zugleich dazu, die Bitte der Frau vorerst zurückzuweisen. Die bereits thematisierten Grenzen zwischen beiden Akteuren erscheinen durch dieses Wort geradezu unüberwindbar. Umso überraschender ist nun aus Sicht der Rezipienten die geschickte Antwort der Frau. Die Heidin akzeptiert dabei – im Sinne einer concessio – den Heilsvorrang der Juden und beginnt ihre Antwort daher mit einem zustimmenden: „Ja (naiv271), Herr“. Zugleich entkräftet sie aber die Ansicht, dass der Heilsvorrang der Juden rein zeitlich zu fassen wäre. Kinder und Hunde können 268
Die beiden Episoden folgen nicht nur unmittelbar aufeinander, sondern sind zudem durch den ähnlichen Handlungsraum („im Haus“) verknüpft. 269 Ähnlich PESCH, Markusevangelium II/1, 389; HAENCHEN, Weg, 272.274; MARCUS, Commentary, 464. Die Vorstellung, dass Hunde und damit heidnische Völker das (heilige) Brot Israels essen könnten, ist in der antiken jüdischen Literatur durchaus belegt (vgl. Did 9,5; 4QMMT; auch Mt 7,6). Im Neuen Testament findet die negative Konnotation von Hunden insofern eine Fortführung, als hier Ausgeschlossene und Häretiker derart bezeichnet werde können (Phil 3,2; Offb 22,15; 2Petr 2,1–3.12). Dass mit dem Bild noch spezifischer auf die tyrischen Getreidehändler und die wirtschaftlichen Ungerechtigkeiten damaliger Handelsbeziehungen angespielt werden soll, wie Johannes Majoros-Danowski meint (MAJOROS-DANOWSKI, Elija, 190f.), halte ich angesichts dieses verbreiteten Sprachgebrauchs für unwahrscheinlich. THEISSEN, Lokalkolorit, 79, auf den sich MajorosDanowski beruft, spricht weitaus zurückhaltender von einem „assoziativen Hof“ und damit einer wirkungsgeschichtlichen Umdeutung des ursprünglichen Markustextes. Mit den „Kindern“ rücken gerade nicht nur die Galiläer, sondern das gesamten Volk Israel in den Blick (vgl. Dtn 14,1; Hos 11,1; vgl. auch die synonyme Rede von den Söhnen und Töchtern Israels: Ri 11,40; 2Sam 1,24; 21,2; Neh 1,6; Tob 13,3; Apg 5,21; 9,15; Ps.-Clem. hom. 2,19). 270 Die inhaltliche Nähe zur paulinischen Theologie ist hier unverkennbar. Insofern der heilsgeschichtliche Vorrang der Juden bei Paulus an zentralen Stellen verhandelt wird (Röm 1,16; 9–11), die Formulierung „den Juden zuerst“ durchaus eine festgeprägte Form aufweist und insgesamt häufig verwendet wird (Röm 2,9f.; 3,1; 3.9.29; 9,24; 10,12; 1Kor 1,22f.; 9,29; 10,32; 12,13; Gal 3,28; vgl. auch Kol 3,11) und sich zwischen den Quellen eine ausreichende Erinnerungsnähe erkennen lässt, ist kaum plausibel zu machen, dass sich die Rezipienten des Markusevangeliums an dieser Stelle nicht an ein bekanntes heilsgeschichtliches Schema erinnern sollen. 271 So v.a. bezeugt durch אA B K N W G D f 1 å lat syh (ausgelassen durch ¸45 W Q f13 sys u.a.). Auch ohne die beteuernde Modalpartikel naiv lässt sich der zustimmende Grundton durch die ehrfurchtsvolle Anrede Jesu und die Wiederaufnahme des Bildwortes erkennen.
278
4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
sehr wohl miteinander essen, denn selbst wenn sich die Hunde mit den Krümeln, die vom Tisch fallen, begnügen müssen, reicht das Brot immer noch für alle. Unweigerlich werden die Rezipienten bei diesem Brotvergleich an das vorangehende Wunder der Brotvermehrung zurückdenken und in der Folge auf das nachfolgende Brotwunder auf heidnischem Gebiet beziehen. Bleiben die Jünger angesichts der erlebten Brotwunder unverständig und sorgen sich gar, weil sie nur ein einziges Brot besitzen (8,14–21), so erweist sich die Frau im Kontrast hierzu als Glaubende. Sie hat Vertrauen in Jesus gefasst und sich in ihrer Not gleichermaßen beharrlich wie verständig an ihn gewandt. Sie rechnet damit, dass seine Fürsorge ausreicht, um alle körperliche und geistige Not zu überwinden. Und Jesu Antwort sowie der nachgelieferte Beweis der Heilung lassen erkennen, dass die Frau zu Recht darauf gehofft hat. Auch die Begegnung mit Bartimäus erhält im Rezeptionsprozess eine vergleichsweise große Aufmerksamkeit. Neben der exponierten Stellung272 sowie den auffälligen Abweichungen von der klassischen Form der Wundergeschichte273 ist es vor allem das dezidierte Interesse an der Person, das gerade im Kontrast zur knappen Charakterisierung anderer Episodenfiguren ins Auge sticht: „[So] wird der Blinde als zentrale Person der Erzählung gleich in vierfacher Weise qualifiziert. Nicht nur seine Krankheit [= Äußeres] und sein Status [= soziokulturelle Verortung], sondern auch sein Name und – in Form der Übersetzung des Patronyms – seine Abkunft werden in der prägnanten Einleitung V. 46 mitgeteilt: ‚... da saß der Sohn des Timäus, Bartimäus, ein blinder Bettler, am Wege.‘“274
Zudem stellt Bartimäus nahezu durchgängig das Wahrnehmungszentrum275 der Erzählung dar und zeichnet sich zudem durch einen hohen Anteil an Figurenrede aus (V. 47.48.51b). Grammatikalisch betrachtet ist der Blinde auffallend oft das Satzsubjekt (V. 46b.47a.48b.50.51b.52b), und sein Verhalten wird zudem durch kopulatives dev hervorgehoben (V. 48b.50.51). Ähnlich wie in 7,25 wird auch von Bartimäus ausgesagt, dass er „von Jesus, dem Nazarener, hörte“. Sein Wissen von diesem Jesus wird man erneut mit der wiederholt erwähnten Evangeliumsverbreitung begründen müssen. Das Bild, das sich Bartimäus aufgrund des Gehörten macht, wird nun jedoch im Unterschied zu anderen Heilungsberichten explizit thematisiert. Wiederholt redet 272
Vgl. ECKSTEIN, Glaube und Sehen, 81. Auch wenn man sich keiner nachträglichen Gliederung des Markusevangeliums bedienen will, lässt sich die besondere Stellung aus dem Lektüreprozess heraus plausibel machen: Die Episode kann bei der Erstlektüre als Übergang zu den Ereignissen in Jerusalem erkannt werden (11,1), wobei Jerusalem zuvor wiederholt als Ort der Hinrichtung genannt wurde und zwar implizit durch die Nennung der Ältesten und Hohenpriester (8,31; 10,33) sowie die geografischen Informationen des Erzählers (vgl. 10,32: „Sie gingen hinauf nach Jerusalem...“). 273 Vgl. ECKSTEIN, Glaube und Sehen, 81f. 274 ECKSTEIN, Glaube und Sehen, 82. 275 Den selben Sachverhalt meint wohl GNILKA, Evangelium II/2, 109 („perspektivisch vom Standpunkt des Bettlers“).
4.2 Perspektivische Vermittlung
279
Bartimäus den vorbeilaufenden Jesus als Sohn Davids und damit als königliche Messiasfigur an: „Sohn Davids, [Jesus] erbarme Dich meiner“ (V. 47.48). Eine Anrede, die mit der äußeren Form der Episode korrespondiert und den Gesamteindruck einer herrscherlichen Audienzszene verstärkt.276 Hierzu passt im weiteren Erzählverlauf dann auch die ebenfalls ehrfurchtsvoll gemeinte Anrede „Rabbuni“277, d.h. „mein Herr“ bzw. „mein Gebieter“ (V. 51). Die Vorbildlichkeit des Bartimäus besteht aber keineswegs in dieser Äußerung. So lässt sich diese Anrede zwar durchaus als adäquat bezeichnen, aber der weitere Erzählverlauf wird noch zeigen, dass der Sohn-Davids-Titel einer Präzisierung bedarf. So beansprucht Jesus zugleich Herr Davids zu sein und damit über diesem zu stehen (vgl. 12,35–37).278 Hier und jetzt kann die Anre276
Vgl. zu diesem Gattungsvorschlag im Detail ECKSTEIN, Glaube und Sehen, 89–92, sowie BERGER, Formgeschichte, 313–315; BERGER, Einführung, 76–84.149f.224. Der Eindruck einer herrscherlichen Audienz wird v.a. durch die Erwähnung sowie die vermittelnde Funktion des „Gefolges“, die Anrede „Sohn Davids“, die Bitte um „Erbarmen“ und die explizite Anhörung und Gewährung der Bitte vermittelt. Diese Merkmale treten im Rezeptionsprozess besonders deutlich hervor, weil sie gerade eine Differenz zu anderen Wunderberichten markieren oder – wie der Sohn-Davids-Titel – unvermittelt erscheinen. 277 Es besteht hier gerade keine Inkohärenz zwischen den Anreden (so SCHENKE, Wundererzählungen, 358f.; ACHTEMEIER, Miracles, 131; HAHN, Hoheitstitel, 262), sondern man wird die Anrede rJabbouniv (aram.: )רבוניals aramäisches Äquivalent für אדניanzusehen haben (so auch ECKSTEIN, Glaube und Sehen, 91 [s. Belege dort]; BLACK, Muttersprache, 24). 278 So auch ECKSTEIN, Glaube und Sehen, 99. Daneben finden sich in der Exegese v.a. zwei Lesweisen. Insbesondere in der älteren Exegese wird die Gültigkeit der Anrede anerkannt. Zugleich wird dann jedoch eine nicht intendierte Inkohärenz zu 12,35–37 festgestellt. Hierin spiegelt sich noch das geringe Zutrauen in die literarischen Fertigkeiten des Markus wider. Eine zweite Gruppe von Exegeten will bereits in Mk 10,46–52 eine implizite Kritik erkennen (so SCHREIBER, Christologie, 164; KELBER, Kingdom, 95; BORING, Mark, 305; MALBON, Mark’s Jesus, 88–90). Malbon listet für diese Interpretation folgende Argumente auf: (1) Gegenüber der bestehenden Assoziation, dass der Sohn Davids aus Bethlehem kommt, werde hier Jesu Herkunft aus Nazareth betont; (2) das Bekenntnis werde am Wegesrand gesprochen, was die Rezipienten an Jesu Gleichniswort in Mk 4 und damit an den Samen, der beiseite fällt, erinnere; (3) die Anrede werde von Jesus ignoriert und damit abgelehnt; (4) weder der Erzähler noch eine andere Figur griffen die Anrede erneut auf; (5) 12,35–37 bestreite die Gültigkeit des Titels. Die Argumente (1) und (2) scheinen die assoziativen Fähigkeiten der Rezipienten deutlich zu überfordern. Die Verknüpfungsstärke bzw. Parallelität zu der jeweiligen Vorstellung ist vergleichsweise gering. Dass Jesus die Anrede ignoriert (3), lässt sich hinreichend mit der äußeren Form einer Audienzszene erklären. Dass das Bekenntnis zum Sohn Davids nur im Munde des Bartimäus vorkommt (4), reduziert die Meinung der Figuren unnötigerweise auf deren explizite Äußerungen. Während Jesus über den Erzählverlauf hinweg häufig als königlich-messianische Figur verstanden wird – insbesondere von den Jüngern (s.o.) – findet sich die engste Parallele zu unserem Text in 11,10. Dass Jesus in 12,35–37 die Gültigkeit des Titels gänzlich zurückweist, vermag ich nicht zu erkennen (5). Vgl. dagegen LOHSE, Art. uiJo~ Dauivd, 488, sowie meine Ausführungen zur Perspektive Jesu (s.u.).
280
4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
de jedoch stehen bleiben, weil Markus primär die Beharrlichkeit, mit der Bartimäus agiert, in den Fokus rücken will. Durch die starke Raffung der Ereignisse und die offensichtliche Auslassung des eigentlichen JerichoAufenthalts (V. 46: „sie kamen nach Jericho“/„und als er aus Jericho wegging“)279 erhält der Rezipient am Anfang den Eindruck, Jesus und sein Gefolge seien in großer Eile.280 Auf dem Weg nach Jerusalem scheinen sich die Ereignisse förmlich zu überschlagen. Bartimäus, der blinde Bettler, sitzt hingegen para; th;n oJdovn, d.h. am Wegesrand und damit eigentlich im Abseits des Geschehens (vgl. im Kontrast hierzu 10,52: ejn th`æ oJdw`æ). Dass der kurze Hinweis auf den Aufenthaltsort des Bartimäus zugleich seine soziale Verortung am Rande der Gesellschaft illustriert, ist m.E. aufgrund des beschriebenen Leids sowie des daraus resultierenden und implizit vorauszusetzenden sozialen Ausschlusses wahrscheinlich. Es unterstreicht die Ohnmacht des Mannes. Das beschriebene Szenario lässt insgesamt vermuten, dass der Tross um Jesus vorbeiziehen und dem Mann keine große Aufmerksamkeit schenken wird. Ein Eindruck, der im Folgenden durch die Figurenkonstellation verstärkt wird. So wird Bartimäus in eine kontrastive Beziehung zur Menge und zu den Jüngern gesetzt. Als Bartimäus von Jesus hört, erhebt er zwar die Stimme, um nach dem Sohn Davids zu rufen. Er wird aber sofort von einer nicht näher definierten Gruppe zurechtgewiesen: kai; ejpetivmwn aujtw`æ polloi; i{na siwphvshæ. Jesus scheint das Rufen des Bartimäus ebenfalls zu ignorieren. Damit verbleibt die Initiative ganz bei Bartimäus. Er, der den Messias nicht sehen, sondern nur hören kann, wendet sich aller äußeren Umstände und der scheinbaren Ablehnung zum Trotz erneut und mit noch lauterer Stimme an Jesus. Gerade hierin erweist er seinen Glauben, nämlich sein Vertrauen darauf, dass der königliche Messias ihn zu retten vermag und retten wird. Ging bisher alle Aktivität von Bartimäus aus, so ändert sich nun durch Jesu Zuwendung und seine Aufforderung, den Blinden herbeizurufen, alles. Ein Tatbestand, der sich besonders anhand der gewandelten Figurenkonstellation zeigen lässt (vgl. Abb. 4.3).
279 Die Inkohärenz innerhalb der Raumdarstellung sowie der Wechsel der grammatischen Person (3. Pers. Pl.: e[rcontai – 3. Pers. Sg.: ejkporeuomevnou) lässt vermuten, dass hier ein literarkritischer Bruch vorliegt und Markus oder eine vormarkinische Redaktion eine entsprechende Episode vom Aufenthalt in Jericho ausgelassen haben. Sowohl über den Inhalt dieser Episode als auch über die Motive der Auslassung lässt sich jedoch nur spekulieren. Auch sonst meidet der markinische Jesus größere Städte und begibt sich lediglich in deren Umgebung. Allerdings bleibt in 10,46 implizit vorausgesetzt, dass Jesus Jericho aufgesucht hat. 280 Ähnlich SCHENKE, Literarische Eigenart, 253.
281
4.2 Perspektivische Vermittlung Menge/Jünger
Jesus
Menge/Jünger
Jesus
*
Bartimäus
Bartimäus
V. 46–48
V. 49–52
* vgl. 10,36ff. mit 10,51
Abb. 4.3: Figurenkonstellation in Mk 10,46–52 Die anonyme Menge, die den Blinden eben noch zurückgewiesen hatte, fordert ihn nun auf, getrost zu sein und aufzustehen. Die Leute werden nun zu Akteuren, die eine Beziehung zwischen Jesus und Bartimäus unterstützen. Der bestehende Konflikt wird aufgelöst. Auch der „König“, der den Blinden eben noch ignoriert hatte, gewährt ihm nun seine Bitte. Aus der einseitigen Bitte um Beziehung wird ein Beziehungsgeschehen, an dem sich Jesus aktiv beteiligt. Auffallend bleibt zugleich, dass Bartimäus bereits vor Jesu Antwort den Mantel von sich wirft, was der vorherigen Erzähllogik entsprechend erneut den Glauben des Bettlers verdeutlichen soll. Er ist sich gewiss, dass er geheilt wird und kann das alte Gewand, d.h. seinen einzigen Besitz, getrost zurücklassen.281 Er steht vom Wegesrand auf, um sich mit Jesus auf den Weg zu begeben und in seine Nachfolge zu treten. Was zum Schluss fast beiläufig berichtet wird, ist als eigentliche Pointe zu bezeichnen. Hatte der geheilte Gerasener zuvor gebeten, Jesus nachfolgen zu dürfen, und war diese Bitte explizit zurückgewiesen worden, so wird Bartimäus als Vorbild im Glauben und Nachfolger präsentiert. Der einst Bedürftige wird zum wahren Jünger. Dass hierbei zugleich ein Kontrast zu den Jüngern aufgebaut wird, legt eine andere Beobachtung nahe: In der unmittelbar vorangehenden Episode hatte Jesus die beiden Jünger Jakobus und Johannes gefragt, was sie von ihm wollen (10,35). Nun fragt Jesus ganz ähnlich, was Bartimäus von ihm wünsche. Während sich die Jünger einen Anteil an der irdischen Macht Jesu erhofften und damit erneut ihr Unverständnis demonstrierten, erwartet der 281
Der Mantel ist der einzige Besitz, der einem Bettler verbleibt und der ihm nach dem Gesetz nicht genommen werden darf (Ex 22,26f.; Dtn 24,12f.). Durch das Zurücklassen des eigenen Hab und Guts soll der Rezipient wohl zugleich an die anfänglichen Nachfolgeerzählungen erinnert werden (1,18.20; 2,14). An dieses Merkmal der Jüngerschaft war bereits in 10,28 angeknüpft worden. Das Abwerfen des Mantels als Ausdruck der emotionalen Erregung zu verstehen (so GNILKA, Evangelium II/2, 110, mit Verweis auf 2Kön 7,5), greift zu kurz und vermag aufgrund der vergleichsweise geringen Parallelität und Bezeugungsbreite kaum zu überzeugen.
282
4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
Blinde das Wichtigste, nämlich seine Heilung, und mit seiner Nachfolge demonstriert er die Bereitschaft, Jesus auch auf dem Leidensweg zu folgen. Er hat Gewissheit, dass sich im Zeichen der Königsherrschaft Gottes und in der Begegnung mit Jesus sein Leben heilvoll verändert, ungeachtet aller äußeren Bedingungen. Befragen wir die Episode 10,46–52 abschließend auf die hierin implizit und explizit formulierte Sichtweise des Bartimäus, so lässt sich Folgendes festhalten: In der Begegnung mit Jesus zählt nicht die vollständige Entschlüsselung des Personengeheimnisses. Bartimäus und die Jünger teilen durchaus eine recht ähnliche Vorstellung, weil sie beide in Jesus den königlichen Messias erkennen. Wichtiger als die Bezeichnung „Christus“ (8,29) oder „Sohn Davids“ (10,47.48) ist hier aber die Beziehung zu Jesus und die Gewissheit, dass dieser als königlicher Heiland hilft und rettet. Als Nachfolger wird Bartimäus zum vorbildlichen Jünger. Zugleich ist hervorzuheben, dass der Blinde eine Episodenfigur bleibt. Die Möglichkeit, Bartimäus im Zuge der Passionserzählung wieder auftreten zu lassen, ergreift Markus nicht. An einer derart kohärenten Figurendarstellung ist er nicht interessiert. Ohne die übrigen „Bedürftigen“ der markinischen Erzählung mit der Figur des Bartimäus oder der Syrophönizerin auf eine Bedeutungsebene stellen zu müssen, lässt sich auch für diese aussagen, dass sie als gemeinsame Figurengruppe einen wichtigen Beitrag zum Gesamtverständnis der Person Jesu leisten. Hierbei lässt sich am ehesten von einer „Christologie der Begegnung“ sprechen. So werden der christologische Standpunkt der meisten Figuren und insbesondere ihr Glaube nicht über explizite Äußerungen vermittelt,282 sondern nahezu ausschließlich über das Figurenverhalten: Die Freunde des Gelähmten, die sich in kreativer Weise Zugang zu Jesus verschaffen, indem sie das Dach des Hauses abdecken283 (2,1–12). – Die blutflüssige Frau (5,24b– 34), die neben ihrem körperlichen Leid auch die damit verbundenen Konse-
282 Zahlreiche „Bedürftige“ kommen gar nicht zu Wort (1,21–27; 1,28–31; 2,1–12; 3,1– 6; 6,53–56; 7,31–37; 9,14–27) oder der Anteil der Figurenrede beschränkt sich auf einzelne Verse (5,18.20 [erzählte Rede]; 5,23; 8,24 [direkte Rede]). Grund hierfür ist, dass der Fokus zumeist auf anderen Figuren – wie den Angehörigen, Schriftgelehrten oder Dämonen – liegt und die „Bedürftigen“ weitgehend auf die passive Handlungsrolle des Empfängers reduziert bleiben (s.u.). Eine gewisse Ausnahme stellt 1,40–45 dar, weil hier der Anteil der Figurenrede vergleichsweise groß ist. Trotzdem gewinnt auch der Aussätzige kaum an Individualität. Die Episode dient v.a. dazu, die zunehmende Prominenz Jesu zu begründen (1,45) und die Heilung von Aussatz als endzeitliches Wirken des Kyrios zu präsentieren (vgl. 4.3.2b). 283 Vergegenwärtigt man sich die vergleichsweise enge Bebauung damaliger Ortschaften (= Wissen um allgemeine Stadttopographie) und folgert daraus, dass die Freunde nicht nur auf ein Hausdach klettern mussten, sondern möglicherweise die gesamte insula zu überwinden hatten, um zu diesem Dach vorzustoßen, so wirkt ihre Hilfsaktion umso eindrücklicher.
4.2 Perspektivische Vermittlung
283
quenzen der Verarmung284 (V. 26) und des gesellschaftlichen Ausschlusses285 zu tragen hat und die trotz ihres offensichtlichen Verstoßes gegen die Reinheitsvorschriften286 von Jesus als vorbildlich Glaubende dargestellt wird,287 284 Durch den Hinweis darauf, dass die Frau zahlreiche Ärzte aufgesucht habe, wird sie ihrer Herkunft nach als Reiche porträtiert. Eine ärztliche Behandlung konnte sich in der Antike nur die Oberschicht leisten (vgl. THEISSEN, Wundergeschichten, 234f.). Der soziale Abstieg wirkt dadurch umso drastischer. Die Erzählung spiegelt zwar eine verbreitete Kritik an der Unfähigkeit und Gier der Ärzte wider (vgl. COLLINS, Mark, 281 mit Belegen), richtet aber nicht den eigentlichen Fokus hierauf. 285 Ein solcher Ausschluss wird wiederum nur implizit vermittelt, dürfte sich den intendierten Rezipienten jedoch unmittelbar erschlossen haben: Vom religionsgesetzlichen Standpunkt aus war die Blutflüssige über zwölf Jahre im Zustand der Unreinheit. Dies hatte beispielsweise zur Folge, dass ihr jeglicher sexueller Kontakt verwehrt blieb und sie wahrscheinlich auch am religiösen Leben nur eingeschränkt partizipieren konnte. Durch ihre Armut war sie ebenfalls isoliert und möglicherweise sogar vielfältigem Spott ausgesetzt. In der antiken Kunst wird Armut gerade als häufiger Gegenstand der Belustigung verwendet (vgl. SEILER, Armut). 286 Für eine bewusste Bezugnahme auf die alttestamentlichen Reinheitsvorschriften spricht v.a. das hohen Maß an Parallelität. So erfährt gerade die provokative – weil kultisch verbotene (vgl. v.a. Lev 15,(19–24.)25–30) – Berührung eine mehrmalige Wiederholung (5,27.28.30.31) und wird zugleich durch das Wort Jesu (V. 34) auf überraschende Weise legitimiert. Gerade vor diesem kultischen Hintergrund erklärt sich dann auch, warum die Frau Jesus unbemerkt berühren will und sich erst auf Jesu Suche (V. 30) und seinen Blick hin (V. 32) traut, die Wahrheit zu sagen. Dass auch im rabbinischen Schrifttum die problematischen Konsequenzen einer strikten Gesetzesanwendung diskutiert wurden (bNid 16a), ermahnt heutige Exegeten zu einer gewissen Vorsicht vor Pauschalisierungen (mit JOCHUM-BORTFELD, Die Verachteten, 173), unterstreicht aber zugleich, wie groß die Not chronisch kranker Frauen gewesen sein muss. 287 Das abschließende Wort Jesu soll das Verhalten der Frau legitimieren und besitzt zugleich eine didaktische Funktion. Die Rezipienten sollen lernen, dass die Reinheitsvorschriften der Tora angesichts des eschatologischen Heils, das mit der Person Jesu verbundenen ist, ihre Gültigkeit verloren haben. Was allein zählt ist das Zutrauen in die Vollmacht Jesu. Jedoch dürften die Leser durch Jesu abschließendes Urteil durchaus überrascht werden, denn sie werden ihrerseits kaum Sympathie zu der Frau aufgebaut haben. Angesichts der zuvor beschriebenen Not des Jairus wird das Auftreten der Blutflüssigen eher als Störung empfunden. Durch die komplette Analepse (V. 25f.), die der Beschreibung der Krankheitsgeschichte dient, wird die erzählte Zeit auf retardierende Weise unterbrochen bzw. stark gedehnt (ähnlich SCHENKE, Literarisch Eigenart, 148 [„retardierende Erzählwirkung“]). Trotz des ausführlich beschriebenen Schicksals werden sich die Leser nicht in die Lebenssituation der Frau einfühlen können. Die Verzögerung führt vielmehr dazu, dass der Leser mit dem Tod des Mädchens rechnet und der Frau hierfür die Schuld gibt. Im Kontrast hierzu stellt Jesus ihr Verhalten als vorbildlich heraus. Zugleich kann er sich in der Folge als Herr über den Tod erweisen. Die Grenzen der irdischen Existenz stellen nicht die Grenzen seines Machtbereiches dar. Damit scheinen aber zugleich die Sorge und die Vorbehalte der Rezipienten unberechtigt. Auch sie sollen ihm über das Leben hinaus Vertrauen schenken und ihre religiös-moralischen Vorstellungen zukünftig allein an ihm ausrichten.
284
4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
weil sie in seine Heilungskraft vertraut und ihrer eigenen Erwartung gemäß Heilung erfährt.288 – Jairus (5,21–24a.35–43), der sich als Synagogenvorsteher und damit im Unterschied zu den anderen religiösen Autoritäten hilfesuchend an Jesus wendet und durch dessen Glaubenszuspruch289 eine Zuversicht über den Tod hinaus behält (V. 36), statt den Meister voreilig fortzuschicken oder ihn wie die anderen Trauergäste zu verlachen.290 – Die Kranken in der Gegend von Genezareth und ihre Angehörigen (6,53–56), die sich allein von einer Berührung Jesu Heilung erhoffen und als Glaubende im Kontrast zu den Bewohnern Nazareths erscheinen sollen.291 – Die heidnischen 288
Der Glaube ist hier als ein unbedingtes und beharrliches Vertrauen in die Person Jesu zu begreifen, was sich bereits aus der explizit formulierten Überzeugung der Frau ergibt (V. 28: Innenperspektive). Dass sich die Blutflüssige allein von der Berührung des Gewandes Heilung erhofft (eja;n a{ywmai ka]n tw`n iJmativwn aujtou`), muss dabei nicht durch ein hintergründiges Magieverständnis oder die Absicht einer magischen Krankheitsübertragung erklärt werden (so THEISSEN, Wundergeschichten, 137). Das Gewand lässt sich eher als „Realsymbol“ begreifen (RADL, Art. iJmavtion, 460): „Das Wesen der Person und innerliche Vorgänge drücken sich in ihrem Erscheinungsbild aus; und dazu gehört die Kleidung.“ Dieses Verständnis wird auch durch die anderen Kleidungshinweise im Markusevangelium bestätigt (vgl. 10,50 [Bettlergewand]; 16,5 [Engelsgewand]; Jesus: 6,56 [Prophetengewand]; 9,3 [himmlisches Gewand]). Zugleich soll durch die Berührung des Gewandes der Verstoß gegen die Reinheitsvorschriften verdeutlicht werden (s.o.). Dass das Vertrauen der Frau positiv zu beurteilen ist, ergibt sich sodann aus dem unmittelbaren Eintreten der Heilung (V. 29) und durch das abschließende Entlasswort Jesu (V. 34), das die Heilung explizit auf den Glauben zurückführt. 289 Entscheidend ist hierbei, dass dem Glaubensimperativ movnon pivsteue die göttliche Offenbarungsformel „Fürchte Dich nicht“ vorangestellt wird (vgl. 6,50) und hierdurch verdeutlicht wird, warum Jairus durchaus allen Grund hat, zu glauben. Dass sich Jesus nicht primär fordernd, sondern zuallererst schützend und ermutigend an Jairus wendet bzw. vor ihn stellt, wird auch dadurch vermittelt, dass er die Worte der Gesandten überhört (oJ de; ÆIhsou`~ parakouvsa~ to;n lovgon lalouvmenon) und ihnen somit keinen Raum lässt. 290 Im Hinblick auf das Lachen ist vielfach zu Recht betont worden, dass das Mädchen nicht nur in der Wahrnehmung der Zeugen für tot gehalten wird, sondern dass von dessen faktischem Tod auszugehen ist. Wenn Jesus artikuliert, das Mädchen schlafe lediglich, so kommt hierdurch seine im Anbruch der Königsherrschaft Gottes gründende Sichtweise zum Ausdruck. Der Unglaube der Trauernden besteht nicht in ihrer Trauer, sondern darin, dass sie sich nicht auf die Perspektive Jesu einlassen. Entsprechend harsch fällt Jesu Reaktion auf ihr Lachen aus (V. 40). Dadurch, dass Jesus die anderen hinausjagt, wird die Auferweckung zugleich zum Wunder im engsten Kreis. Dies dient einerseits der Wahrung des Wundergeheimnisses. Andererseits wird so das Vertrauensverhältnis zwischen Jesus und Jairus betont. Das abschließende Schweigegebot (V. 43) betrifft nicht das eigentliche Wunder der Auferweckung, was sich auch gar nicht verheimlichen ließe, sondern nur die genauen Umstände. Die Außenstehenden können aufgrund des vorherigen Wortes Jesu tatsächlich denken, das Mädchen habe lediglich tief geschlafen. 291 Dass der geraffte Bericht über Heilungen in Genezareth als Gegenbericht zur Nazareth-Episode (6,1–6) gelesen werden soll, ergibt sich aus folgenden Beobachtungen: (1) Die Landschaftsbezeichnung Gennhsarevt (V. 53) weicht von der sonst überlieferten Bezeichnung Gennesavr ab (1Makk 11,67; v. l. D it sy ), und stellt voraussichtlich eine An-
4.2 Perspektivische Vermittlung
285
Bewohner des Zehnstädtegebietes, die die Heilung eines Tauben und Stummen verfolgen und dadurch ausgelöst einen überraschenden „Lobpreis“ auf den Schöpfer sprechen (vgl. 7,37 – LXX Gen 1,31) und das Ereignis als Anbruch der messianischen Heilszeit erkennen (vgl. LXX Jer 35,5). – Oder der Vater des besessenen Knaben (9,14–27), der paradoxerweise von seinem Glauben sprechen und zugleich von Jesus eine Überwindung seines Unglaubens erbeten kann. Die Bedeutung, die der Erzähler solchen Begegnungen zuschreibt, lässt sich bereits aus deren absoluter Häufigkeit sowie ihrer anfänglichen Konzentration ableiten. Durch die gerafften Berichte in 1,34 und 6,55f. sowie die iterativen Summarien von Jesu Heilungen (3,10) und Exorzismen (1,39; 3,11f.) soll der Eindruck einer umfassenden Heiltätigkeit Jesu verstärkt werden. Ähnlich wie bei einem impressionistischen Meisterwerk fügen sich die einzelnen Eindrücke im Lektüreprozess zu einem umfassenden Eindruck von der angebrochenen Heilszeit zusammen. In der Begegnung mit Jesus realisieren sich jene eschatologischen Hoffnungsbilder, die v.a. der Prophet Jesaja292 (vgl. auch Ps 146,7) verheißen hatte: Lahme werden gesund (vgl. 2,1–12; 3,1–6 mit Jes 35,6), Taube können wieder hören, Stumme können wieder reden (vgl. 7,31–37 mit Jes 29,18; 35,5; 42,18 [Taubheit] u. Jes 32,4; 35,6; 61,1 [Stummheit]) und Blinde werden wieder sehend (vgl. 8,22–26; 10,46–52 mit Jes 29,18; 35,5; 42,7.16.18b). Insofern die Dämonen als Urheber all sol-
gleichung an den Ortsnamen Nazarevt dar (so auch HASLER, Gennhsarevt, 586). Selbst wenn den Rezipienten die eigentliche Namensänderung nicht bewusst war, konnten sie den Gleichklang beider Ortsbezeichnungen durchaus bemerken; (2) Während Jesus in Nazareth nur wenige Kranke durch Handauflegung heilen kann, werden in den Dörfern, Städten und Ansiedlungen ausdrücklich alle Kranken gerettet, die ihn berühren (kai; o{soi a]n h{yanto aujtou` ejswævzonto). Dieser Kontrast wird noch dadurch verstärkt, dass die Kranken in Genezareth von überall herbeigebracht werden und sich bereits von der Berührung der Quasten Heilung erhoffen. In Nazareth bleibt Jesus Aktionsträger und geht rings umher in die Dörfer; (3) Jesus sucht seine Vaterstadt bewusst auf und verlässt dazu sogar erstmals das bisherige Primärsetting am See. Die Ankunft in Genezareth ist demgegenüber ungeplant. Ursprüngliches Ziel der Überfahrt sollte Bethsaida sein, was aber erst in 8,22 erreicht wird. Die Rezipienten können aus dem zuvor erwähnten Sturm (6,48), der den Jüngern entgegen bläst, schließen, dass die Überfahrt missglückt und das Boot unbeabsichtigt in Genezareth gelandet ist. Damit erscheint das Aufeinandertreffen zwischen Jesus und den Bewohner als Gelegenheitsbegegnung; (4) Wenngleich beide Episoden nicht in unmittelbarer Abfolge präsentiert werden, besteht zwischen dem Anfang und Ende des sechsten Kapitels eine ausreichende Nähe im Lektüreprozess. In 6,53–56 sind den Rezipienten die Ereignisse aus Nazareth noch präsent. 292 Zur Verwendung und Bedeutung des Jesajabuches im Markusevangelium vgl. MARCUS, Isaiah. Durch das einleitende Zitat in 1,2f. bzw. den dort gegebenen Hinweis auf das Jesajabuch ist es naheliegend, dass die intendierten Rezipienten weitere Bezüge zu diesem Schriftpropheten ziehen konnten und sollten. Hierfür spricht auch schon die kulturelle Erinnerungsnähe des Jesajabuches.
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
cher irdischer Geißeln gelten konnten,293 wird durch ihre Überwindung und Austreibung der Anbruch der Königsherrschaft besonders evident (vgl. Mk 1,21–28.29–31294; 5,1–20; 7,24–30; 9,14–27 mit Jes 42,6f.; 49,24f.; 51,14; 53,12; 61,1 [= allegorische Auslegung des Gefangenschaftsmotivs]295). Nicht einmal der Tod behält in der Gegenwart Jesu seine Macht (vgl. Mk 5,21–24a. 35–43; 9,26 mit Jes 25,8; 26,19296). Dass die einzelnen Begegnungen der Demonstration endzeitlicher Verhältnisse dienen und damit zugleich der Charakterisierung Jesu, weil sich das Reich Gottes ausschließlich in seinem Wirken konkretisiert, lässt sich bereits anhand der durchgängig hierarchischen Verteilung der Handlungsrollen erkennen. Unter Rückgriff auf das literaturtheoretische Modell von Jens Eder – und damit auf moderne Beschreibungskategorien – lässt sich die Figur Jesu in allen genannten Episoden als „Protagonist“ bzw. „Held“ bezeichnen.297 Die „Bedürftigen“ bleiben ihrerseits auf die Rolle der „Empfänger“ reduziert. Dies wird besonders evident in den bezeugten Exorzismen, gilt aber auch dort, wo sich die Bedürftigen aktiv an Jesus wenden und auf Jesu Vollmacht, seine Gnade und seinen Zuspruch angewiesen bleiben. Hierher gehört dann auch die Beobachtung, dass die „Bedürftigen“ vor ihrer persönlichen Begegnung häufig von Jesus gehört haben (5,27; 6,55; 7,25; 10,47; vgl. auch 3,7f.; 12,37; negativ: 3,21 298) und sich ihr Verhalten somit erst vor dem Hintergrund der Evangeliumsverkündigung erklären lässt (1,14). Sie glauben nicht aus sich heraus, sondern aufgrund des Evangeliums von Jesus Christus. Hierbei erscheint Jesus gerade nicht allein als Bote des Evangeliums, sondern zugleich als dessen zentraler Inhalt. Dies ergibt sich für die intendierten Rezipienten zunächst aus dem „Quasi-Buchtitel“ (1,1), weil hier das Evangelium – im Sinne eines Primäreffekts – erstmals bestimmt wird und die Rezipienten diesen Sinngehalt zwangsläufig bei allen weiteren Erwähnungen ein-
293
Vgl. BÖCHER, Christus Exorcista, 70–74; BÖCHER, Dämonenfurcht, 33.152; FÖRSTER, Art. daivmwn, bes. 19. 294 Zum Fieber als Ausdruck dämonischer Besessenheit vgl. BÖCHER, Dämonenfurcht, 46; s. auch Lk 4,39 [ejpetivmhsen tw`‘ puretw`æ kai; afh`ken aujthvn]). 295 Während sich bei Jesaja noch eine Reminiszenz an die babylonische Gefangenschaft erkennen lässt, zeigt sich in neutestamentlicher Zeit eine deutliche Verschiebung zur allegorischen Deutung. Gerade die dämonische Besessenheit wird nun als Bindung oder Gefangennahme verstanden (vgl. Mk 7,35; vgl. auch Lk 13,16; Apg 10,38; TestSeb 9,6–8; TestDan 5,11). 296 Vgl. auch Ez 37,12f.; Dan 12,2. 297 EDER, Figur im Film, 493f. 298 Auch die Reaktion der Angehörigen (3,21; 3,31) verdeutlicht, dass die Evangeliumsbotschaft aufs Engste mit der Person Jesu verknüpft ist. Nicht der Anbruch der Königsherrschaft Gottes wird hier als widersinnig betrachtet, sondern Jesu Familie glaubt, dass er selber von Sinnen sei. Entsprechend stößt Jesus auch in seiner Vaterstadt auf Widerspruch, weil man ihn hier auf seine familiäre Herkunft und seine soziale Verortung reduziert.
4.2 Perspektivische Vermittlung
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tragen werden.299 Aber auch ohne Berücksichtigung von 1,1 legt sich diese Interpretation nahe: So lässt sich einerseits auf ein entsprechendes Vorwissen der Rezipienten hinweisen300 und andererseits darauf, dass die „Bedürftigen“ gerade nicht vom Evangelium, sondern explizit von Jesus gehört haben.301 Letztlich ist geltend zu machen, „dass das Heil Gottes an Jesu Person gebunden ist: Heil geschieht dort, wo er auftritt, ferner durch die von ihm Bevollmächtigten (3,14f.; 6,7ff.) oder „in seinem Namen“ (9,38)“,302 wie auch David S. du Toit einräumt (vgl. dazu auch 1,28; 1,45; 3,7f.). Dass die Rezi299 Warum ein solcher Inferenzprozess „[m]ethodisch unzulässig ist“, wie David S. du Toit behauptet (DU TOIT, Der abwesende Herr, 92 Anm. 119), leuchtet mir nicht ein. Zumindest in kognitiver Hinsicht spricht vieles für einen Bezug zwischen 1,1 und 1,14. 300 Insbesondere bei Paulus erscheint Jesus schon als zentraler Inhalt des Evangeliums und der apostolischen Verkündigung (Röm 1,9; 15,9; 1Kor 9,12; 2Kor 2,12; 9,13; 10,14; Gal 1,7; Phil 1,27; 1Thess 3,2; 2Kor 4,4), während die Wendung „Evangelium Gottes“ auf die Herkunft verweist (gen. subi. bzw. gen. auct.: Röm 1,1; 15,6; 2Kor 11,7; 1Thess 2,2.8.9). Vgl. zur Frage nach dem Inhalt des Evangeliums v.a. ECKSTEIN, Kanonhermeneutik, 48–51; ECKSTEIN, Wort Gottes). Ohne diesen Sprachgebrauch des Paulus voreilig zur Grundlage des markinischen Verständnisses zu machen, stellen diese Belege – v.a. aufgrund ihrer Erinnerungsnähe – eine wichtigen Referenz dar und sollten keineswegs übergangen werden. Dass Markus ein gänzlich anderes Verständnis vom Evangeliumsinhalt hat, scheint aufgrund der frühchristlichen Kommunikationsstrukturen und einer allem Anschein nach raschen Verbreitung der paulinischen Briefe unwahrscheinlich zu sein. Die eigentliche Differenz zwischen Paulus und Markus betrifft gerade nicht den Inhalt des Evangeliums, sondern die Verkündigungsfunktion Jesu. Erst Markus betont, dem Gegenstand seiner Erzählung entsprechend, dass Jesus zugleich Inhalt (1,1), Urheber bzw. Verkündiger (1,14) und in seinem Wirken Bringer des Evangeliums ist. 301 In der unmittelbaren Begegnung mit Jesus kommt es hingegen durchs „Sehen“ zur Anerkennung und Erkenntnis seiner Macht (5,6.22; 9,15; 12,28). Bereits eine kursorische Lektüre des Markusevangeliums vermag zu bestätigen, dass der Glaube hier v.a. als Glaube an Jesus und als vertrauensvolle Beziehung zu ihm verstanden wird (vgl. darüber hinaus ECKSTEIN, Glaube und Sehen): Durch den Dialog in 2,6–10 wird der Zuspruch des Glaubens mit der Thematik der ejxousiva, insbesondere Jesu Macht Sünden zu vergeben, verknüpft. – In 4,40 mangelt es den Jüngern an Glauben. Dieser artikuliert sich gerade im zuvor geäußerten Misstrauen gegenüber Jesus (4,38) sowie in der Unkenntnis seiner Identität (4,41). – Der Gerasener will als Reaktion auf seine Heilung Jesus nachfolgen (5,18) und verkündigt nach Jesu Ablehnung die Wohltat, die Jesus an ihm getan hat (5,20 nach 5,19!). – Der Unglaube der Nazarener (6,6) artikuliert sich darin, dass sie Jesu christologischen Anspruch angesichts seiner Herkunft bestreiten (6,1–3). – In 9,24 erwartet der Vater des besessenen Knaben, dass Jesus seinen Unglauben überwinden kann und bringt dadurch zugleich sein Vertrauen in die Person Jesu zum Ausdruck. Der Unglaube der zuvor erwähnten Zeitgenossen (V. 19) steht im Widerspruch zur Anwesenheit Jesu und der aktuellen Heilszeit. – Die Nachfolge des Bartimäus leitet sich unmittelbar aus Jesu Zuwendung und seiner Glaubenszusage ab (10,52). Geradezu vorbildlich sind sein Glaube und seine Jesusnachfolge, weil er, als „einer, der Jesus nicht gesehen, sondern nur von ihm gehört hat, gleichwohl an ihn glaubt und ihn als Herrn und Herrscher anruft“ (ECKSTEIN, Glaube und Sehen, 100). 302 DU TOIT, Der abwesende Herr, 93 Anm. 121.
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
pienten entgegen ihres textexternen Vorwissens und entgegen des textinternen Befundes Jesus ausschließlich als Verkündiger der Gottesbotschaft begreifen sollen und damit Gott zum alleinigen Gegenstand des Glaubens erklären, erscheint mir wenig wahrscheinlich.303 Letztlich wird hierdurch nur ein falscher Kontrast zwischen einem Glauben an Gott und einem Glauben an Jesus aufgebaut.304 In Entsprechung zu diesem christologischen Erzählinteresse gerät auch nie die weitere Lebensgeschichte der Bedürftigen in den Blick, sondern es bleibt vielmehr bei einer episodenhaften Begegnung. Auch die Konflikte, die sich im Zuge der Heilungswunder ergeben, betreffen nicht die „Bedürftigen“ – deren Konflikte werden lediglich implizit thematisiert –, sondern einzig die Person Jesu. Sein Zuspruch der Sündenvergebung ruft den Protest der Schriftgelehrten hervor.305 Seine Heilung am Sabbat führt zum Mordkomplott gegen ihn. Sein Exorzismus führt zum Protest der Gerasener und zur eindringlichen Bitte, das Land zu verlassen. Sein Glaubenszuspruch an Jairus führt zum Lachen der Trauergäste. Angesichts der Machtvollkommenheit Jesu, die in den Heilungen zu Tage tritt und die zugleich mit seiner vollmächtigen Lehre korrespondiert, könnte man vermuten, dass neben den Bedürftigen auch die Zeugen solcher Wundertaten zum Glauben kommen oder zumindest in ein positives Erstaunen versetzt werden. Eine solche Reaktion würde auch den antiken Gattungskonventionen einer Wundererzählung entsprechen.306 Tatsächlich erweisen sich die Reaktionen der „Menge“ und des Volkes jedoch als überaus facettenreich. Die Berichte reichen von einer expliziten Zustimmung über eine ominöse Furcht bzw. Ehrfurcht bis hin zur offenkundigen Ablehnung.307 Nun wird man diese Bandbreite an Reaktionen zweifelsohne mit der Überlieferungsgeschichte der einzelnen Traditionen begründen können. Zugleich mehren sich jedoch die Indizien, dass der markinische Erzähler diese Reaktionsbreite durchaus reflektiert und für seine erzählerischen Zwecke nutzbar gemacht hat. So nimmt die Menge innerhalb des Figurenensembles durchaus 303
Gegen VOUGA, Glauben, 95–103. Dass Jesus explizit zum Glauben an Gott aufrufen kann (11,22), lässt sich kaum als Widerspruch zum (hoheits)christologischen Glaubensverständnis der vorherigen Heilungsund Wunderberichte begreifen. Es zeigt sich hier wie andernorts, dass die urchristliche Gemeinde den Glaubensbegriff bereits mit großer Selbstverständlichkeit auf Gott und Jesus beziehen konnte (vgl. Joh 14,1; Gal 2,16; Phil 1,29 [pisteuvein ei[~ tina]). 305 Dies verwundert kaum, weil im Judentum die Sündenvergebung als Privileg Gottes galt (vgl. v.a. Ex 34,7; Jes 43,25; 44,22). 306 Vgl. hierzu PESCH, Markusevangelium II/2, 150–152; TAGAWA, Miracles, 100–16. 307 Wollen manche Exegeten die Furcht der Menge im Sinne einer durchgängig negativen Beurteilung deuten (so z.B. KELBER, Kingdom, 49; KINGSBURY, Conflict, 98.100), so wird hierdurch der gattungsgeschichtliche Haftpunkt des Motivs übergangen und zugleich übersehen, dass die Menge weitaus differenzierter und durch andere explizite und implizite Merkmale charakterisiert wird. 304
4.2 Perspektivische Vermittlung
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eine wichtige Funktion zwischen den religiösen Autoritäten und den Nachfolgern bzw. positiv charakterisierten „Bedürftigen“ ein. Die Unentschlossenheit der Menge ist eine Bedingung dafür, dass die religiösen Eliten das Volk im Zuge der Anklage umstimmen (15,11) und so für ihr eigenes Handlungsziel nutzbar machen können. Dass Jesus gerade in Jerusalem die größte Zustimmung erhält, ist dabei nicht als Widerspruch anzusehen, sondern dient einem doppelten Zweck. Die religiösen Autoritäten müssen angesichts der großen Zustimmung im Volk taktieren und für die Umsetzung ihres Mordplanes den richtigen Zeitpunkt abwarten. Dies wirkt sich spannungssteigernd auf die Lektüre aus. Zum anderen erhält Markus so die Möglichkeit, das intrigante Verhalten der Autoritäten herauszustellen. Sie agieren nicht offen und ehrlich, sondern hinterhältig. Zugleich erweisen sie sich als überaus geschickt, wenn sie trotz der vorhandenen Zustimmung das Volk letztlich für ihren Standpunkt gewinnen können. f. Die Perspektive Jesu: Zum Abschluss der Perspektivenanalyse wenden wir uns der Perspektive des Protagonisten und damit dem Selbstverständnis Jesu zu. Dass der christologische Standpunkt der Hauptfigur formal nach allen anderen Figurenperspektiven analysiert wird, ist mit der Wichtigkeit und v.a. dem häufigen Auftreten Jesu zu begründen. Der markinische Protagonist erweist sich als szenisch dominante Figur, die – mit Ausnahme des Herodes308 – allen wichtigen Nebenfiguren direkt begegnet. Ihr Standpunkt lässt sich daher erst hinreichend aus den vielfältigen Interdependenzen ableiten. Was Jesus über sich selbst aussagt und welches Selbstverständnis sich indirekt aus seinem Verhalten ableitet, gewinnt erst im Dialog mit den anderen Figuren – insbesondere im Konflikt mit den Autoritäten und aus der einzigartigen Gottesbeziehung heraus – seine eigentliche Kontur, Anstößigkeit und Aussagekraft. Auf diese wechselseitige Abhängigkeit zwischen Jesu Perspektive und der Perspektive anderer Figuren hat bereits Elizabeth Struthers Malbon aufmerksam gemacht. In ihrer Monografie „Mark’s Jesus“ unterscheidet sie methodisch zwischen (1) Äußerungen Jesu, die den Standpunkt anderer Figuren aufgreifen,309 und (2) Äußerungen Jesu, die sich kritisch auf den Standpunkt anderer Figuren beziehen.310 Allerdings erweist sich diese von Malbon vorgeschlagene binäre Opposition in analytischer Hinsicht noch kaum als ausrei308
Als weitere Ausnahmen könnte man Josef von Arimathäa anführen. Da der verstorbene Leib und das Faktum des Todes jedoch notwendigerweise zum Figurenmodell Jesu dazugehören, ist auch in diesem Fall von einer Begegnung zu sprechen. Bei anderen Figuren, denen Jesus nicht unmittelbar begegnet, wie den Dorfbewohnern in Mk 11,5, dem Hausherrn in 14,13–16 oder dem Kaiser in 12,13–17 handelt es sich ausschließlich um Schau-, Hilfs- und Randfiguren. 309 MALBON, Mark’s Jesus, 129–194 (What Jesus Says in Response). 310 MALBON, Mark’s Jesus, 195–217 (What Jesus Says Instead).
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
chend.311 So vermag ein Rezipient erst auf der Grundlage eines umfassenden Figurenverständnisses zu erkennen, ob die Äußerungen einer Figur als Zustimmung oder Ablehnung zu verstehen sind. Er wird hierzu v.a. auf die explizit und implizit verhandelten Charaktereigenschaften, Wissensbestände, Wahrnehmungen und Verhaltensweisen einer Figur achten müssen und so auf die Intention hinter einer Aussage rückschließen. Außerdem ist über Malbons Ansatz hinaus zu berücksichtigen, dass kontrastive und affirmative Äußerungen lediglich zwei Extreme darstellen. Vielfach wird sich eine Figur jedoch so zu Wort melden, dass ihr Standpunkt lediglich eine partielle Übereinstimmung bzw. Differenz zum Standpunkt anderer Figuren erkennen lässt. So sind Jesu Äußerungen und sein Verhalten in 8,31–33, wie in der zurückliegenden Analyse gesehen, keineswegs als prinzipieller Widerspruch zum Christusbekenntnis des Petrus zu deuten. Vielmehr wird das petrinische Bekenntnis nur insofern als defizitär erwiesen, als hierdurch die Notwendigkeit des Leidens übergangen wird und die Jünger auf dem Standpunkt einer frühjüdischen Messiaserwartung verharren, ohne die Einzigkeit Jesu zu erkennen und anzuerkennen (vgl. 4.2.2d). Aufgrund dieser einleitenden Überlegungen müssen bei der Analyse des Standpunkts Jesu die genannten Figureneigenschaften berücksichtigt werden. Dann jedoch stellt sich im Kontext der vorliegenden Arbeit das Problem, dass es zu unnötigen Doppelungen mit der nachfolgenden Figurenanalyse kommen könnte. Dieser Gefahr versuche ich dadurch zu begegnen, dass im Folgenden nur solche Figurenmerkmale berücksichtigt werden, die der unmittelbaren Erschließung eines christologischen Aussagegehaltes dienen. Im Zuge des nachfolgenden Kapitels werden alle elf Figurenmerkmale und das mentale Gesamtbild des markinischen Jesus im Fokus stehen. Wie bei den anderen Figurenperspektiven scheint es auch beim Selbstverständnis Jesu naheliegend zu sein, sich diesem zunächst über die expliziten Äußerungen anzunähern. Innerhalb der Figurenrede des Protagonisten nimmt wiederum die Rede vom Menschensohn eine hervorgehobene Bedeutung ein. Kein anderes Personenattribut findet sich derart oft im Munde des markinischen Jesus. Kein anderer Begriff wird in dieser Ausschließlichkeit von Jesus allein verwendet. 312 So entfallen alle dreizehn bzw. vierzehn Belege auf die Figur Jesu (2,10; 2,28; 8,31; 8,38; 9,9313; 9,12; 9,31; 10,33; 10,45; 13,26; 311
Vgl. RÜGGEMEIER, Prüfstein. Dass dies keineswegs selbstverständlich ist, erweisen jene neutestamentlichen Texte, in denen von einer Vision des Menschensohns die Rede ist (vgl. Apg 7,56 [Stephanus]; Offb 1,12–20; 14,14–20 (vgl. Eus. hist. eccl. 2,23,13). Joh 12,34 offenbart, dass die Rede vom Menschensohn als spezifisches Vokabular Jesu aufgefasst wurde und mit der Erwartung einer konkreten Gestalt verbunden wurde. Ansonsten kommt der Begriff des Menschensohnes auch sonst in der synoptischen Tradition überwiegend im Munde Jesu vor. 313 9,9 ist die einzige Textstelle, an der der Menschensohnbegriff in der Form der indirekten Rede vermittelt wird. Allerdings wird der Rezipient dem Aspekt der erzählerischen 312
4.2 Perspektivische Vermittlung
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13,32314; 14,21; 14,41; 14,62), die sich stets in der dritten Person als oJ uiJo;~ tou` ajnqrwvpou bezeichnet. Um den Sinn und Zweck hinter dieser auffälligen Verwendung des Menschensohnbegriffs zu erschließen, ist es methodisch unabdingbar, sich zunächst mit der textexternen Bedeutung von oJ uiJo;~ tou` ajnqrwvpou auseinanderzusetzen.315 Da der Begriff in den Evangelien mit großer Selbstverständlichkeit verwendet wird, aber nirgendwo eine explizite Erklärung erhält, gibt er sich als textextern vorgeprägte Wendung zu erkennen. Unter den erwägbaren Verstehensmöglichkeiten haben sich im Zuge der Forschungsgeschichte v.a. zwei Verständnisse herauskristallisiert. So wird die Rede vom Menschensohn entweder auf einen alltagssprachlichen Gebrauch des Aramäischen zurückgeführt oder im Sinne eines Hoheitstitels bzw. eines hoheitlichen Vergleichs aus der alttestamentlichen und frühjüdischen Apokalyptik abgeleitet (Dan 7; 1Hen 37–71; 4Esr 13). Im Hinblick auf den ersten Ansatz lässt sich dann noch einmal differenzieren, ob der Begriff Menschensohn a) in einem generischen Sinn („der Mensch“); b) in einem indefiniten Sinn („ein Mensch“);316 oder c) in einem umschreibenden Sinn („ich“317) zu verstehen ist. Der britische Religionswissenschaftler Geza Vermes meinte darüber hinaus, aus den rabbinischen Zeugnissen des 2. und 3. Jhdts. ableiten zu können, dass der Begriff Menschensohn als Selbstbezeichnung v.a. dort verwendet werde, wo sich ein Sprecher innerhalb einer Konfliktsituation bedroht fühle (= Gefühl) oder sich als besonders bescheiden erweisen wolle (= Charakter).
Vermittlung hier kaum Aufmerksamkeit schenken, sondern die Rede – wie an allen anderen Stellen – auf die Person Jesu beziehen. 314 13,32 ist in die Betrachtungen einzubeziehen, insofern der hier genannte Sohn aufgrund des Kontextes (V. 26) eindeutig mit dem Menschensohn zu identifizieren ist. 315 Jedenfalls bleibt es – wie im Forschungsüberblick dargelegt – ein Trugschluss, wenn Malbon und andere Anhänger des Narrative Criticism eine rein textimmanente Erschließungsmöglichkeit behaupten, dann jedoch im Zuge der eigenen Analyse gar nicht umhinkommen, textexterne Bedeutungen einzutragen (vgl. Kap. 3.4.1). 316 Ein solcher Gebrauch wird bereits im 19. Jhdt. von LIETZMANN, Menschensohn, 5, oder EBERHARD, Menschensohn, 10–17, behauptet. Vgl. hierzu aber v.a. VERMES, Use, 311–319; FITZMYER, Title, 147f. 317 Vgl. VERMES, Use, 320–328, und im Hinblick auf 2,10 VERMES, Jesus, 163–168. Ähnlich bereits MEYER, Jesu Muttersprache, 91–97. Kritisch äußern sich gegenüber diesem vermuteten Sprachgebrauch v.a. COLPE, Art. uiJo;~ tou` ajnqrwvpou, 403f.; CASEY, Son of Man, 164–182. Alle von Vermes angeführten Belegstellen für eine Selbstbezeichnung lassen sich letztlich auch als Aussagen über den Menschen im Allgemeinen interpretieren. Insofern die Menschensohnaussagen im Neuen Testament und im Markusevangelium zumeist exklusiv auf den Sprechenden zu beziehen sind, ist hier gerade ein Unterschied zum aramäischen Sprachgebrauch zu erkennen (so bereits JEREMIAS, MenschensohnLogien, 165).
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
„In most instances the sentence contains an allusion to humiliation, danger, or death, but there are also examples where reference to the self in the third person is dictated by humility or modesty.“318
Ob sich die Rede vom Menschensohn von einem solch aramäischen Sprachgebrauch oder aus der apokalyptischen Tradition ableiten lässt, ist im Folgenden vor der eigentlichen Erzählanalyse zu klären. Hierbei stellt die Fragmentarität der Quellen eine bleibende Herausforderung dar, so dass sich eine Entscheidung letztlich nur auf Indizien stützen kann und unter Vorbehalt zu formulieren ist. Im Zuge einer solchen Abwägung überwiegen m.E. jedoch die Argumente für eine Herleitung aus Dan 7 bzw. aus einer apokalyptischen Tradition des 1. Jhdt., die in 1Hen 37–71 und 4Esr 13 ihren Niederschlag gefunden hat und auf deren Spuren wir vermutlich auch bei Josephus (s.u.) stoßen. Für eine Ableitung des Menschensohnbegriffs aus dieser apokalyptischen Tradition sprechen sowohl textexterne Gründe, wie die vorauszusetzende Kommunikationssituation, als auch die erzählerischen und inhaltlichen Parallelitäten. Im Hinblick auf die Kommunikationssituation ist zunächst in Erinnerung zu rufen, dass der Begriff oJ uiJo;~ tou` ajnqrwvpou kein griechisches Idiom darstellt und einem griechischen Muttersprachler an sich unverständlich bleiben musste. Gerade deshalb wird der Begriff im Anschluss an Geza Vermes und Joseph A. Fitzmyer als Übersetzung des hebräischen בן־האדםbzw. des aramäischen בר־אנשאverstanden. Allerdings bleibt die vorauszusetzende Kommunikationssituation zwischen Markus und seinen Rezipienten trotzdem zu beachten. So lässt die Tatsache, dass Markus häufig aramäische Begriffe für seine Leser übersetzt, keinen Zweifel daran aufkommen, dass der intendierte Rezipient des Aramäischen gerade nicht mächtig war. Deshalb stellt sich die Frage, warum Markus den Begriff בר־אנשאnicht verdeutlichend mit a[nqrwpo~ bzw. oJ a[nqrwpo~ (vgl. Mt 9,8; 10,35f.; 12,12; 12,31) übersetzt. Gerade weil Markus sonst eine gute Kenntnis der aramäischen Sprache erkennen lässt, bleibt v.a. die doppelte Determinierung von oJ uiJo;~ tou` ajnqrwvpou unverständlich.319 Zwar besteht diesbezüglich auch ein Unterschied zu LXX Dan 7,13 (wJ~ uiJo;~ ajnqrwvpou), aber diese Differenz lässt sich recht ungezwungen damit erklären, dass der markinischen Formulierung bereits eine frühchristliche Adaption der Menschensohnvorstellung zu Grunde liegt. Gerade der einheitliche Sprachgebrauch in allen Evangelien lässt erkennen, dass es sich in der Urgemeinde um eine festgeprägte Wendung handelte. Unzureichend bleibt es demgegenüber, das offensichtliche Fehlen einer notwendigen Übersetzung bzw. Erklärung schlichtweg mit der Textgenese oder mit einer schriftstellerischen Unachtsamkeit des Markus zu entschuldigen. Angesichts der Häufigkeit und Relevanz des Menschensohntitels sowie der Tatsache, dass dessen Gebrauch ganz offensichtlich erzählerisch reflektiert wurde, bleibt eine derartige Lösung jedenfalls 318 319
VERMES, Use, 327. Mit HAHN, Art. uiJov~, 927.
4.2 Perspektivische Vermittlung
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unbefriedigend. Die Platzierung des Menschensohnbegriffs an zentralen Knotenpunkten der Erzählung (2,10; 8,29ff.; 14,61f.) sowie seine Verknüpfung mit wichtigen Handlungssträngen, wie dem Konflikt zwischen Jesus und den Autoritäten (2,1–12; 14,61f.), lassen gerade die hohe Relevanz dieses Begriffs erkennen. Wie könnte Markus ein aramäisches Idiom unerklärt lassen, wenn sich bei ihm sonst eine hohe Sensibilität für die Sprachfähigkeiten seiner Rezipienten erkennen lässt? Umgekehrt ist es durchaus plausibel, dass den Rezipienten die apokalyptische Figur eines Menschensohns aus Dan 7 bzw. aus der Danielrezeption bekannt war und die Begrifflichkeit daher gar keiner Erklärung bedurfte. Für eine Herleitung aus Dan 7 spricht zunächst, dass Markus von Anfang an eine Kenntnis alttestamentlicher Texte voraussetzt (Mk 1,2f.) und im Kontext der Menschensohnworte explizit auf die Schrift verwiesen wird (9,12; 14,21). Außerdem lassen nicht nur die Bildreden des äthiopischen Henochbuches (1Hen 37–71) oder ein Text wie 4Esr 13, sondern letztlich auch Josephus’ Nacherzählung des Danielbuches (Jos., Ant. 10,186–281320) sowie die möglichen321 Anklänge an Dan 7 in Bell 6,312ff. erkennen, dass das Danielbuch im 1. Jhdt. n. Chr. rezipiert wurde und in seiner gesamten hellenistisch-jüdischen Rezeptionsgeschichte zu vielfältigen Aktualisierungen eingeladen hat (= Erinnerungsnähe und Bezeugungsbreite).322 Über diese allgemeine Vertrautheit mit dem Erzählstoff des Danielbuches kann aber auch eine Bekanntheit der Menschensohnvorstellung behauptet werden. Und zwar gilt dies selbst dann, wenn man Bell 6,312ff. als unsicheren Befund außer Acht lässt und das vierte Esrabuch
320 Dass Josephus in seiner Nacherzählung Dan 7,19ff. bewusst auslässt und seinen Lesern an dieser Stelle empfiehlt, selbst das Danielbuch zur Hand zu nehmen (Ant. 10,210), verrät mehr über die Brisanz einer solchen Vision innerhalb eines römischen Kommunikationskontextes, als über die Textkenntnisse des Josephus und seiner Leser. Umso verständlicher wird die Auslassung „[u]nter der Voraussetzung, dass die im Midrasch Exodus rabba 35,5 zu 25,3 (p. 102,3ff. Mirkin) wiedergegebene aktualisierend deutende Tradition, wonach das Eisen dem ‚ruchlosen Edom‘ (d.i. Rom) gleicht, das den Tempel zerstört hat, bereits im ausgehenden 1. Jahrhundert n. Chr. bekannt war [...]“ (TILLY, Rezeption, 47). Der alte Streit, ob Jos. Bell. 6,312ff. auf Dan 7 (so SCHLATTER, Theologie, 256.258; MÜLLER, Menschensohn, 310) oder Num 24,17 (so v.a. HENGEL, Zeloten, 244f.) verweist oder gar an einen anderen apokalyptischen Text zu denken ist (vgl. DE JONGE, Josephus, 210), lässt sich hier nicht adäquat diskutieren. 321 Die von Josephus beschriebene und auf Vespasian hin umgedeutete Prophetie ist in den letzten Jahrzehnten entweder auf Dan 7 (so v.a. MASON, Josephus, 161–191) oder Num 24,7 (so HENGEL, Zeloten, 243–246) zurückgeführt worden. 322 TILLY, Rezeption, 31–50, zeigt von der griechischen Übersetzung bis zur Nacherzählung des Josephus auf, dass sich der Danieltext in der Rezeptionsgeschichte des hellenistischen Judentums als ausgesprochen adaptionsfähig erweist und die Rezeption „zahlreiche Reaktionen seiner Tradenten und Adressaten auf historische, kulturelle und religiöse Entwicklungen und Ereignisse widerspiegelt“ (50).
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
erst auf das Ende des 1. Jhdt. datiert.323 So lassen allein schon die motivlichen Parallelen zwischen 1Hen 37–71 und 4Esr 13 erkennen, dass diesen Texten eine ältere Vorstellung vom Menschensohn zugrundeliegen muss. Eine solch ältere Tradition wird dann aber zwangsläufig an die Zeit des Markusevangeliums (um 70 n.Chr.) heranreichen324 und erfährt auch noch in Offb 1,13–20 eine Aufnahme. Fragt man auf der Grundlage der genannten Textzeugnisse nach dem Inhalt einer frühjüdischen Menschensohnvorstellung, so lassen sich – im Sinne einer verhältnismäßig freien Relecture und Adaption von Dan 7 – folgende Merkmale erkennen: Erwartet wurde zur Zeit des Markusevangeliums offensichtlich eine individuelle325 Gestalt (1Hen 46,4; 62,5.7; 4Esr 13,3.12), die mit dem Messias und Sohn Gottes in Verbindung gesetzt werden konnte (1Hen 48,10; 52,4; 4Esr 13,37.52; 7,28)326 und der man gelegentlich ein präexistentes Wesen zusprach (1Hen 48,3; 4Esr 13,26). 327 Zugleich scheint sich diese Tradition bereits mit der Vorstellung einer richterlichen Figur und einer eschatologischen Herrschaft des Menschensohnes verknüpft zu haben (vgl. Joh 5,27). Das endzeitliche Auftreten eines solchen Hoffnungsträgers kann mit einer Entmachtung heidnischer Autoritäten einhergehen (1Hen 62,1ff.; vgl. Jos., Bell 6,312ff.). Die markinische Menschensohnvorstellung besitzt offensichtliche Berührungspunkte mit solch einer apokalyptischen Tradition, verweist jedoch zugleich über diese hinaus und deutet – durch die Verknüpfung mit anderen Endzeit- und Messiaserwartungen – auf Jesu Einzigkeit hin. Eine neue Betonung erfährt hierbei v.a. die Leidensthematik (8,31a; 9,31a; 10,33–34a u.ö.), die sich aus einer theologischen Reflexion des Kreuzesgeschehens und vermutlich durch eine Eintragung von Jes 53 sowie der Vorstellung vom leidenden Ge-
323 Für diese Datierung des 4Esr sprechen die versteckten, aber für die intendierten Rezipienten schnell zu entschlüsselnden Bezüge zur Tempelzerstörung (vgl. z.B. 4Esr 3,1). Mit HIEKE, Esra-Schriften; SCHREINER, 4. Esra-Buch, 301 [96 n. Chr.]; STONE, Fourth Ezra, 10 [81–96 n. Chr.]. Die Datierung des 1Hen und der Bildreden ist seit langem umstritten und die Vorschläge reichen von der zweiten Hälfte des 1. Jhdt. v. Chr. bis ins 3. Jhdt. n. Chr. (vgl. MILIK, Books, 91–98). Allerdings lassen die offensichtlichen Zitate in Jdt 1,14–16 und Barn 4,3 sowie die weitere Rezeption und große Wertschätzung in der frühen Kirche des 2. und 3. Jhdt. erkennen, dass die Schrift gebraucht wurde und weit verbreitet war (vgl. VANDERKAM, Heritage, 35–100, bes. 59.100). 324 Mit THEISSEN/MERZ, Jesus, 472f.; HIEKE, Esra-Schriften. 325 Nach der Deutung Dan 7,27 symbolisiert der Menschenähnliche die Herrschaft der „Heiligen des Höchsten“ und steht im Kontrast zu den vier Tieren, die ihrerseits für vier Weltreiche stehen. Somit erscheint der Menschensohn hier als Kollektivperson. 326 Vgl. hierzu ausführlich COLLINS, Daniel, 74–86. Der Menschensohn nach Dan 7 hat noch keine messianische Qualität, tendiert aber wohl „als Symbol der endzeitlichen von Gott verliehenen Herrschaft [...] zu messianischen Vorstellungen“ (COLPE, Art. uiJov~, 424). 327 Mit STUHLMACHER, Biblische Theologie, 118.
4.2 Perspektivische Vermittlung
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rechten ergibt.328 Zudem wird die Erwartung eines messianischen Menschensohns, die sich bei Markus u.a. in der Verknüpfung von Menschensohn-, Messias- und Gottessohn-Titel widerspiegelt (Mk 8,29ff.; 14,61f.), aufgegriffen, und zugleich durch die Betonung einer einzigartigen Vollmacht Jesu und der hierin zum Ausdruck kommenden Einheit zwischen Vater und Sohn (8,38) gesteigert. Zugleich bleibt durch die Vater-Sohn-Relation eine Unterordnung des Sohnes angezeigt, insofern der Sohn nicht um den Zeitpunkt seiner Wiederkunft weiß (13,32) und sich als gehorsam gegenüber dem Vater erweist (14,36). Gemäß frühchristlicher Bekenntnistradition – und unter dem Einfluss einer Relecture von Ps 110 (vgl. Phil 2,6–11; Heb 1,3; Eph 1,20–22; 1Petr 3,22) – wird der Gekreuzigte erst durch die Auferstehung von Gott erhöht und kann so in der Endzeit als erhöhter Menschensohn wiederkommen. Dies schließt aber keineswegs aus, dass der Gedanke der Präexistenz, der im Markusevangelium von Anfang an gegenwärtig ist (Mk 1,2f.), ebenfalls auf den Menschensohn übertragen wird – etwa dort, wo durch das göttliche dei` auf die Vorherbestimmtheit seines Todesschicksals und seiner Auferstehung (8,31; 9,9,12; 9,31; 10,33f.; 14,41) verwiesen wird. Letztlich fällt als Parallele zur vormarkinischen Menschensohnvorstellung auf, dass auch im ersten Evangelium ein wiederkommender Richter und (königlich-messianischer) Herrscher angekündigt wird (14,62; vgl. 8,38; 13,26). Dass dieser in der Endzeit „mit den Wolken des Himmels kommt“ (ejrcovmenon meta; tw`n nefelw`n tou` oujranou`) und sodann von seinen Anklägern gesehen wird, ist eindeutig als bewusste Intertextualität auszumachen (vgl. Dan 7,13: meta; tw`n nefelw`n tou` oujranou` [...] ejrcovmeno~).329 Allerdings wird auch hier die Menschensohnvorstellung durch einen zusätzlichen Rückbezug auf Ps 110 ergänzt. Im Vergleich zu Dan 7 scheint der Akzent von Mk 14,62 weniger auf einer Entmachtung der Autoritäten zu liegen, als auf dem Gedanken der Erhöhung und damit zugleich der Rehabilitation Jesu. Der Blasphemievorwurf und das daraus abgeleitete Todesurteil des Hohen Rats müssen bei der Wiederkunft des Menschensohnes revidiert werden. Der Standpunkt der Autoritäten erweist sich als falsch, während Jesu
328 Anders THEISSEN/MERZ, Jesus, 427, die eine Betonung des Leidens bereits in der Menschensohntradition vorgezeichnet sehen; allerdings nicht ohne zugleich einräumen, dass „[s]eine Verwendung in Weissagungen des ganz besonderen Geschicks Jesu [...] unverkennbar eine Weiterentwicklung [ist]“ (427). Während in der alttestamentlichfrühjüdischen Tradition höchstens von der Sterblichkeit der Menschen gesprochen wird, gerät hier aber noch keine heilschaffende Dimension des Todes in den Blick. Im Markusevangelium wird das Leidensgeschick Jesu von Anfang an mit dem Sendungsgedanken und der Vorstellung eines vorausgehenden göttlichen Ratschlusses verknüpft und erhält durch 10,45 und 14,22f. die Konnotation eines sühnenden Stellvertretungstodes (s.u.). 329 Wird der Menschensohnbegriff damit aber gerade bei seiner letzten Erwähnung auf die apokalyptische Tradition bezogen, so prägt dies rückwirkend die gesamte Vorstellung im Markusevangelium (= Rezenzeffekt).
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Selbstauskunft spätestens dann vor seinen Anklägern und vor aller Welt eine letztgültige Bestätigung findet. Wenden wir uns der markinischen Erzählung im Detail zu und orientieren wir uns zugleich an der Chronologie des Erzählverlaufs, so ist zu erkennen, dass die Rede vom Menschensohn nicht erst in Kap. 14 mit dem Autoritätenkonflikt in Zusammenhang gebracht wird, sondern dass bereits die anfänglichen Aussagen über den gegenwärtig wirkenden Menschensohn (2,10.28) in diesem Kontext zu verorten sind. Jesus redet erstmals in Kapernaum (2,1–12) von sich als Menschensohn, wobei die Ereignisse rund um die Heilung eines Gelähmten eben zugleich den Ausgangspunkt für Jesu Konflikt mit den religiösen Autoritäten markieren. Jesu Selbstbezeichnung in V. 10 wird überhaupt erst verständlich, wenn man sie gleichermaßen auf Jesu vorherigen Vergebungszuspruch (V. 5) und die sich daran anschließende Empörung der Autoritäten (V. 6f.) bezieht. Indem Jesus auf die irdische Vollmacht des Menschensohnes verweist (o{ti ejxousivan e[cei oJ uiJo;~ tou` ajnqrwvpou ajfievnai ajmartiva~ ejpi; th`~ gh`~), soll gerade sein provokatives Verhalten gerechtfertigt und dem Blasphemievorwurf der Schriftgelehrten widersprochen werden (i{na de; eijdh`te [...]). Evident wird dieser erzählerische Zusammenhang auch auf semantischer Ebene, insofern Jesus mit seiner Rede nahezu exakt die Formulierung der Gegner aufgreift.330 Diese hatten Jesu Sündenvergebung als Gotteslästerung empfunden, was aus jüdischer Sicht durchaus nachvollziehbar ist. So stellte die Sündenvergebung zumindest nach alttestamentlicher Vorstellung eine Prärogative Gottes dar (Ex 34,6f.; LXX Ps 129,3f.; Jes 43,25; 44,22).331 Die besondere Provokation Jesu lag vor diesem Hintergrund darin, dass dieser dem Gelähmten auf autoritative Weise seine Sünden vergeben hatte, wobei die Vokabel ajfiventai hier als aoristisches Präsens332 zu fassen ist und kaum als passivum divinum.333 Letzteres könnte nämlich gar nicht die Empörung der Autoritäten erklären, insofern die Übermittlung eines göttlichen Vergebungszuspruchs kaum als Blasphemie hätte gedeutet werden können. Aus einem ähnlichen Grund scheidet auch die Möglichkeit aus, den Begriff des Menschensohns hier in einem generischen, indefiniten oder umschreibenden Sinn zu verstehen. Die Vorstellung, dass Gott allen Menschen das Privileg der Sündenvergebung verleiht, würde zwar ebenfalls eine heftige Provokation darstellen, bliebe aber – selbst im Neuen Testament – als Forderung völlig 330 Ähnlich HOFIUS, Sündenvergebung, 128: „Die auf Jesus bezogene Formulierung ejxousivan e[cei ajfievnai ajmartiva~ V. 10 entspricht nach Form und Inhalt der in V. 7 vorliegenden Aussage über Gott: duvnatai ajfievnai aJmartiva~. Der Ausdruck ejxousivan e[cei korrespondiert also mit dem Verbum duvnasqai (‚können‘, ‚vermögen‘, ‚die Macht haben‘) und nimmt es sachlich wieder auf.“ 331 Mit GNILKA, Evangelium II/1, 100; HOFIUS, Vollmachtsfrage, 68; ZIMMERMANN, Mk 2,1–12, 243. 332 Vgl. BDR § 329 und dazu HOFIUS, Sündenvergebung, 127. 333 Vgl. JEREMIAS, Gleichnisse, 122 mit Anm. 4 u. 206 mit Anm. 8.
4.2 Perspektivische Vermittlung
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singulär und analogielos.334 Dass Jesus in V. 10 von der Vollmacht eines anderen Menschen spricht, entbehrt hingegen jeglicher Erzähllogik. Der Rezipient muss die Aussage aus dem unmittelbaren Lektüreprozess heraus unweigerlich auf Jesu Verhalten in V. 5 beziehen, weil gar keine andere Figur im unmittelbaren Kontext Erwähnung findet oder aus dem vorherigen Erzählverlauf zu erschließen wäre. Andererseits war der Begriff der ejxousiva bereits in Mk 1,22 auf Jesus und seine Lehre bezogen worden. Verwendet der markinische Protagonist den Begriff des Menschensohns als Selbstbezeichnung, so reicht es jedoch auch nicht, diese – im Sinne von Geza Vermes – als alltagssprachliche Äußerung zu verstehen und von hieraus gar auf eine Angst Jesu (= Gefühl) oder eine besondere Bescheidenheit (= Charaktereigenschaft) zurück zu schließen. Jesu provokative Sündenvergebung und die entsprechende Reaktion der Autoritäten sowie der Zeugen (2,12b) lassen gerade erkennen, dass Jesus tatsächlich umgekehrt eine einzigartige Autorität beansprucht. Dieser Autoritätsanspruch kann sich aber nur aus einem hoheitlichen und damit textextern vorgegebenen Verständnis des Menschensohns ableiten. Zugleich weisen Jesu Verhalten und seine Äußerung über eine solch messianische MenschensohnHoffnung hinaus. Eine entsprechende Reaktion zeigt deshalb auch die Menge (V. 12), wobei sich ihr Entsetzen und ihre Gottesverehrung vordergründig auf das Wunder, hintergründig jedoch auf Jesu Sündenvergebung bezieht, insofern jenes ausschließlich der Legitimierung des erfolgten Zuspruchs dient (i{na de; eijdh`te o{ti ejxousivan e[cei oJ uiJo;~ tou` ajnqrwvpou [...]). Dient die Rede vom Menschensohn bereits in 2,10 dazu, den Konflikt mit den Autoritäten auf Jesu provokativen Vollmachtsanspruch zurückzuführen, so findet diese Erzähllogik in 2,23–28 und 3,1–6 eine konsequente Fortsetzung. In 2,23–28 entwickelt sich aus dem anstößigen Ährenraufen, d.h. aus einem offensichtlichen Bruch der Sabbathalacha335 (V. 23), ein erneuter Konflikt mit den religiösen Autoritäten. Wie in 2,1–12 artikulieren die Pharisäer auch hier einen aus jüdischer Perspektive verständlichen Protest (V. 24). Dieser wird jedoch von Jesus anhand eines Davidbeispiels zurückgewiesen, wobei die ursprüngliche Erzählung aus 1Sam 21,2–10, die an sich keinen Bezug zur Sabbatthematik 334 Aus der einzigartigen Autorität Jesu und seinem Heilswerk kann die Sündenvergebung hier zwar auf den engsten Nachfolgerkreis und auf die Gemeinde übertragen und zum zentralen Gegenstand der Verkündigung erklärt werden (vgl. etwa Joh 20,23; Apg 13,38), aber keineswegs auf die gesamte Menschheit. Anders Mt 16,19 und 18,18, wo durch das Binden und Lösen kaum der Sachverhalt der Sündenvergebung gemeint sein dürfte, sondern die Lehrautorität und das Disziplinarrecht in der Gemeinde. 335 Vgl. DOERING, Schabbat, 409–431. Inwieweit das Ährenraufen bei einer liberalen Auslegung des Sabbatgebots – insbesondere in einer Notsituation – erlaubt war, wird in der Exegese vielfach diskutiert (vgl. SCHALLER, Sabbat, 10f.). Solche Ausnahmeregelungen sind für die markinische Erzählung gerade nicht geltend zu machen, weil Jesus und seine Jünger keineswegs Hunger leiden und Markus im Hinblick auf die religiösen Autoritäten ein durch und durch stereotypes Figurenporträt anstrebt.
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aufweist, 336 derart abgewandelt wird, 337 dass sich das Außerkraftsetzen des Sabbatgebots mit der königlichen Würde des Akteurs begründen lässt. Durch die nachfolgenden Logien in V. 27 und V. 28 erfährt die so benannte Autorität dann eine weitere Begründung und wird zugleich weiter gesteigert. Wird der Sabbat aufgrund der Schöpfung dem Menschen untergeordnet,338 so leitet sich diese Interpretation von Gen 1 ihrerseits aus dem besonderen Vollmachtsanspruch des gegenwärtig wirkenden Menschensohns ab. Hierbei gilt: „Der Menschensohn ist nicht als bloßer Ausleger des Gotteswillens dargestellt, sondern als derjenige, der über die Einrichtung des Sabbats verfügungsberechtigt ist.“339 Damit wird dem Menschensohn, der aufgrund des erzählerischen Kontexts und des bisherigen Erzählverlaufs (2,1–12) mit Jesus identifiziert wurde, geradezu eine gottgleiche Autorität verliehen, da letztlich nur Gott für sich beanspruchen kann, Herr des Sabbats zu sein.340 Vor diesem Hintergrund wird ersichtlich, dass Jesu Verhalten nicht allein durch die Aufnahme einer vorgegebenen Menschensohnvorstellung interpretiert werden soll, sondern dass auch umgekehrt die textextern vorgegebene Vorstellung eines Menschensohns durch Jesu Verhalten eine veränderte, die 336
Vgl. DOERING, Schabbat, 431. Die deutlichen Differenzen zur ursprünglichen Daviderzählung sind in der Exegese häufig thematisiert worden und haben gar zu der Überlegung geführt, dass sich die markinische Erzählung auf eine parallele mündliche Überlieferung zurückführen lasse (so HORSLEY, Hearing, 164f.). Dies bleibt jedoch reine Spekulation und ist unwahrscheinlich. Gerade die Tatsache, dass das Verhalten Davids entgegen der ursprünglichen Erzählung als Konflikt inszeniert wird (David nimmt sich die Schaubrote, statt sich die heiligen Brote aushändigen zu lassen), verrät die eigentliche Intention der Nacherzählung. Auch die Verlegung der Schauplatzes in den Tempel (oi\ko~ tou` qeou`), die zugleich eine Abwandlung der beteiligten Personen (ÆAbiaqa;r ajrciereuv~) erforderlich macht, dient der Dramatisierung. 338 Wenn als Vergleichstexte ApcBar syr 14,18 oder MekhSh zu Ex 31,13f.; bYom 85b (ca. 180 n. Chr.) herangezogen werden, so gilt es immer zugleich die Differenzen im Blick zu behalten (vgl. DOERING, Schabbat, 414–419, bes. 418; GUTTENBERGER, Gottesvorstellung, 128f.). 339 GUTTENBERGER, Gottesvorstellung, 129. 340 Ähnlich bereits GNILKA, Evangelium II/1, 124; SCHOLTISSEK, Vollmacht, 178; VAN IERSEL, Mark, 159. Etwas zurückhaltender GUTTENBERGER, Gottesvorstellung, 129 Anm. 73. Dass im Alten Testament die Formulierung „Herr des Sabbats“ nicht explizit auftaucht, ändert nichts daran, dass allein Gott diese Funktion für sich beanspruchen konnte. Wenn Guttenberger ihrerseits bemerkt, dass die Tora im Hinblick auf Gott häufig von „meinem Sabbat“ oder vom „Sabbat des Herrn“ (!) spricht, so ist damit Gott im Umkehrschluss als Herr ebendieses Sabbats bezeichnet. Genau diese Vorstellung wird im Markusevangelium auf Jesus bezogen. Völlig unerklärlich ist mir deshalb, wie die Bibel in gerechter Sprache den Menschensohnbegriff in V. 28 völlig verallgemeinernd wiedergeben („Menschen“) und den Kyriosbegriff zugleich zum Komparativ umfunktionieren kann: „Die Menschen sind wichtiger (sic!) als der Sabbat.“ Dann wäre dieses Herrenwort nichts anderes als eine Wiederholung zu V. 27 und es bedürfte seiner nicht. 337
4.2 Perspektivische Vermittlung
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Einheit zwischen Vater und Sohn betonende, Bedeutung erhält. Durch den Konflikt mit den Autoritäten bekommt diese Bedeutungsverschiebung zugleich eine besondere Aufmerksamkeit. Weil Jesus mit dem Verweis auf den Menschensohn seine besondere Vollmacht sowie seine Einheit mit Gott unterstreicht, kann sein Verhalten von den Autoritäten nicht anerkannt werden, sondern führt zwangsläufig dazu, dass sich diese in ihrem Vorwurf der Blasphemie bestätigt fühlen und einen entsprechenden Mordplan fassen (2,7; 3,6; vgl. 14,61). Jesu Selbstanspruch lässt sich eine hohe Handlungsrelevanz zuschreiben. Mk 3,1–6 knüpft an die beiden vorherigen Jesuslogien (2,27.28) und den darin artikulierten Vollmachtsanspruch an, illustriert die Übertretung des Sabbatgebots jedoch unter verändertem Vorzeichen. Während das Ährenraufen am Sabbat eine Ausnahmesituation vor Augen führte, wird das Heilen am Sabbat nicht nur erlaubt, sondern von Jesus allgemein geboten und eingefordert. Die rhetorische Frage in V. 4 impliziert, dass man am Sabbat das Gute tun und d.h. Leben retten solle.341 Indem Jesus trotz des offensichtlichen Widerstands der Autoritäten die Bedürfnisse des Einzelnen über die rein formale Sabbatheiligung stellt, wird erneut veranschaulicht, was es heißt, dass der Sabbat um des Menschen willen gemacht wurde und nicht der Mensch um des Sabbats willen. Eine polemische Spitze folgt mit Mk 3,6. Dass die religiösen Autoritäten, die in der Öffentlichkeit auf eine Einhaltung der Sabbatruhe gepocht haben, nun ihrerseits politisch aktiv werden und gerade nicht das Gute tun, sondern zusammen mit den politischen Autoritäten einen Tötungsplan gegen Jesus beschließen, erweist diese eindeutig als Heuchler. Sie folgen nicht dem guten Willen Gottes, der sich allein in Jesu Verhalten und Äußerungen offenbart. Dient die anfängliche Rede vom gegenwärtig wirkenden Menschensohn v.a. dazu, Jesu einzigartige Vollmacht und seine Einheit mit Gott auf provokative Weise zu inszenieren, so tritt der Titel oJ uiJo;~ tou` ajnqrwvpou im weiteren Erzählverlauf wohl an sich zurück, nicht aber der damit verbundene Anspruch und das hoheitliche Selbstverständnis Jesu. Im Zuge der Figurenanalyse wird sich zeigen, dass Jesu Einzigartigkeit und seine Einheit mit Gott im folgenden Erzählabschnitt (3,7–8,26) weiter betont und vertieft werden, was der intendierte Rezipient anhand zahlreicher Figurenmerkmale erkennen kann und soll (vgl. 4.3.1). Markus geht es nicht darum, Jesus als Menschensohn zu porträtieren, 341 Mit Jesu Frage wird zugleich ein jüdisch bekannter Grundsatz aus dem militärischen Kontext aufgegriffen und variiert (vgl. 1Makk 2,41; Jos. Bell. I,148f.). Bestand im Falle einer Belagerungs- und Verteidigungssituation auch am Sabbat die Notwendigkeit, sich zu verteidigen und Angreifer zu töten, so erhält diese Ausnahmeregelung eine Umkehrung. Auch das Recht Leben zu retten, muss am Sabbat bestehen. Vor diesem Hintergrund erübrigt sich dann zugleich der vielfach geltend gemachte Einwand, dass sich der Mann mit der verdorrten Hand gar nicht in einer lebensbedrohlichen Situation befunden habe. Es geht nicht um das konkrete Leid dieses einen Mannes, sondern um den allgemeinen Perspektivenwechsel.
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sondern durch die Aufnahme und zugleich Individualisierung einer vorliegenden Tradition für Jesu Einzigkeit zu sensibilisieren. Deshalb ist es kein Widerspruch, sondern eine konsequente Fortführung, wenn der Protagonist im Weiteren v.a. in Analogie zum alttestamentlichen Kyrios dargestellt wird (vgl. 4.3.2b). Jesus ist nicht allein als gegenwärtig wirksamer Menschensohn zu verstehen, sondern darüber hinaus als Herr über die Naturmächte, über Krankheiten, über Dämonen, über die Not und sogar über den Tod. In seinem Wirken ereignet sich – gemäß eigener Ankündigung (Mk 1,14f.) und gemäß der Ankündigung Gottes (1,2f.) – das Kommen des endzeitlichen Kyrios. Erst mit Jesu Rede vom leidenden und auferstehenden Menschensohn (8,31; 9,9; 9,31; 10,33) wird sodann der eigentliche Terminus oJ uiJo;~ tou` ajnqrwvpou wieder aufgegriffen. Für die Rezipienten ist es dabei kaum verwunderlich, dass sich Jesus erneut als Menschensohn bezeichnet, statt den von Petrus verwendeten Messiastitel zu wiederholen. Hierin kommt gerade keine Infragestellung des petrinischen Bekenntnisses zum Ausdruck, sondern durchaus eine Entsprechung. Denn wie wir sahen, lässt sich bereits in der vormarkinischen Menschensohntradition ein Bezug zur Messiaserwartung erkennen. Im 1. Jhdt. n. Chr. ist mit einer messianischen Menschensohnvorstellung zu rechnen. Weitaus größere Aufmerksamkeit dürfte der intendierte Rezipient deshalb dem scheinbaren Widerspruch zwischen dem bisherigen Vollmachtsanspruch und dem ab 8,31 betonten Leidensgehorsam Jesu schenken. Ein solch freiwilliges Leiden steht nämlich sowohl in Spannung zum vorherigen Erzählverlauf als auch zur apokalyptischen Vorstellung eines endzeitlichen Menschensohns, der über die Mächtigen triumphieren und nicht in die Hände der religiösen Autoritäten, der Menschen, der Heiden und Sünder überliefert werden soll, um von diesen gegeißelt und getötet zu werden. In erzählwissenschaftlichen Kategorien ist hier von einer offenkundigen Individualisierung (Schneider) der bisherigen Menschensohnvorstellung zu sprechen. In religionsgeschichtlicher Hinsicht artikuliert sich hierin hingegen ein besonderes Merkmal der urgemeindlichen Christologie: „Die Besonderheit von Jesu Messianität liegt in seiner Bereitschaft, als messianischer Menschensohn das dem Gottesknecht auferlegte stellvertretende Todesleiden für ‚die Vielen‘ auf sich zu nehmen. Von Jesu Leidensgehorsam sprechen die bekannten drei Leidensweissagungen. […] Dieselbe Opferbereitschaft äußert sich auch im Brot- und Kelchwort des markinischen Abendmahlsberichts (Mk 14,22.24par).“ 342
In der Tat lassen die Leidensweissagungen und 14,21.22–24, aber auch 9,12, 10,45 und einzelne Szenen des Passionsberichtes vermuten, dass die vormarkinische Menschensohnvorstellung – wenngleich nicht ausschließlich – auf der Grundlage von Jes 43 und 53 einer Relecture unterzogen wurde. Diese Parallelität zwischen Jesus und dem Gottesknecht ist innerhalb der Mar342
STUHLMACHER, Wirken, 131.
4.2 Perspektivische Vermittlung
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kusexegese freilich alles andere als unumstritten und bedarf einer ausführlicheren Thematisierung: Im Unterschied zu Peter Stuhlmacher oder auch Joachim Jeremias343 weisen Kritiker immer wieder zurecht darauf hin, dass sich auf einer rein semantischen Ebene nur geringere Berührungspunkte ergeben. Das gilt selbst für 10,45, insofern hier nur der Begriff pollw`n auf Jes 53 anzuspielen scheint (vgl. Jes 53,10.12), während Markus für die Vorstellung vom Lösegeld die Vokabel luvtron statt a[llagma (LXX Jes 43,3f.) verwendet. Ähnliches gilt für die Wiedergabe des hebräischen עבד. Während die Septuaginta dies mit pai`~ übersetzt, spricht der markinische Jesus abweichend vom dou`lo~ (10,44) und in Analogie hierzu vom Dienen des Menschensohnes (10,45: oJ uiJo~ tou` ajnqrwvpou [...] h\lqen [...] diakonh`sai). Berücksichtig man auch an dieser Stelle die spezifische Kommunikationssituation zwischen Markus und seinem intendierten Rezipienten, so ist unwahrscheinlich, dass von einer direkten Bezugnahme auf den hebräischen Text auszugehen ist. Ein produktionsästhetischer Fehler ist auch hier wegen der Relevanz der Leidensaussagen auszuschließen. Bedeutet dies nun zwangsläufig, dass die Vorstellung eines Gottesknechtes bei Jesaja als Parallele ausscheiden muss und Markus das Todesschicksal Jesu stattdessen in Analogie zu anderen Vorstellungen wie dem sühneschaffenden Märtyrerleiden (2Makk 7,37; 4Makk 6,29; 17,21) oder einem gänzlich unreligiösen Lebenseinsatz (Sir 29,15; 1Makk 2,59) verstehen wollte? 344 Der Begriff luvtron könnte möglicherweise auch aus dem außerreligiösen Bereich abgeleitet sein, wo er häufiger für eine abzuleistende Kautionszahlung steht. Eine erzählwissenschaftliche Analyse muss angesichts der vorgetragenen Kritik, die sich nahezu ausschließlich auf den semantischen Befund bezieht, an drei Aspekte erinnern. Bei der Analyse eines (textexternen) Figurenvergleichs ist immer auf das umfassende Figurenmodell zu achten. Zwar ist die Explizität einer Figurenparallele bei einer wörtlichen Wiederaufnahme besonders groß. Andererseits bleibt eine solch direkte Bezugnahme nahezu immer ein Sonderfall. Viel öfters wird der Rezipient bereits durch einzelne Merkmale – wie das Verhalten, die soziale Verortung oder eine Beschreibung des Äußeren – für eine Figurenparallele sensibilisiert.345 Zweitens sollten die 343
Vgl. JEREMIAS, Lösegeld; STUHLMACHER, Existenzstellvertretung; STUHLMACHER, Jes 53. 344 So z.B. ZAGER, Deutung, 182f.; vgl. hierzu auch GUTTENBERGER, Gottesvorstellung, 220–222. 345 Eine allzu enge Fokussierung auf die Semantik ist auch nach den Kriterien der Geschichtsforschung problematisch, insofern bereits die griechischen Übersetzungen eine erhebliche Variationsbreite aufweisen. Ein Beispiel für diese Varianz stellen die griechischen Übersetzungen zu Jes 53,3 dar. Während das Verb ejxoudenevw (vgl. Mk 9,12) bzw. das verwandte ejxoudenovw in der Septuaginta nicht vorkommt, findet sich diese Vokabel bei Theodotion, Aquila und Symmachus. So übersetzt Theodotion: ejxoudenwmevno~ kai;
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einzelnen Szenen und Anspielungen im Markusevangelium nicht isoliert betrachtet werden, sondern es ist zu fragen, ob sich eine Parallelisierung zwischen Jesus und dem alttestamentlichen Gottesknecht über den Erzählverlauf nachzeichnen lässt und im Lektüreprozess an Evidenz gewinnt bzw. verliert.346 Drittens muss den textinternen Referenzsignalen eine besondere Relevanz zugeschrieben werden. Unter diesem Gesichtspunkt ist zu betonen, dass der markinische Jesus das Leidensgeschick des Menschensohns ausdrücklich aus der Heiligen Schrift ableitet (9,12; 14,21f.). Selbstverständlich stellen diese allgemeinen Verweise noch kein hinreichendes Argument für eine Identifikation zwischen dem markinischem Menschensohn und dem jesajanischen Gottesknecht dar. Umgekehrt wird man aber skeptisch gegenüber all jenen Parallelen bleiben müssen, die offenkundig außerhalb des alttestamentlichen „Kanons“347 stehen bzw. auf einen außerreligiösen Sprachgebrauch zurückgeführt werden. Angesichts dieser Kriterien lässt sich sehr wohl von einer wiederholten Anspielung auf den jesajanischen Gottesknecht sprechen, wenngleich sich mit der Figur des Menschensohns zugleich weitere Traditionen verbinden und oftmals eher selektiv auf einzelne Attribute der alttestamentlichen Vorlage zurückgegriffen wird. So soll in Mk 10,45 nicht das gesamte Schicksal des Gottesknechtes auf Jesus übertragen werden, aber der Gedanke eines Stellejlavcisto~ ajndrw`n (Jes 53,3 q) und kontrastiert in diesem Kontext den einen Menschen (oJ a[nqrwpo~) mit den Menschensöhnen (ejklei`pon para; tou;~ uiJou;~ tw`n ajnqrwvpwn). Berücksichtigt man, dass die Übersetzung des Theodotion ihrerseits die Revision einer (weitaus) älteren Übersetzung darstellen könnte (vgl. ZIEGERT/KREUZER, Septuaginta [1. Jhdt. v. Chr.]; BARTHÉLMY, Les devanciers [30–50 n. Chr.]), so ermahnt dies zur Vorsicht gegenüber semantischen Abweichungen. Es entzieht sich schlichtweg unserer Kenntnis, mit welchem Wortlaut die Rezipienten des Markus vertraut waren. Man wird bei der Analyse immer alle zur Verfügung stehenden Übersetzungen zu Rate ziehen müssen. 346 In Analogie hierzu gilt es dann selbstverständlich auch zu beachten, „daß die deuterojesajanischen Lieder vom Gottesknecht im Frühjudentum nicht als Einzelstücke, sondern im Kontext des ganzen Jesajabuches gelesen wurden“ (STUHLMACHER, Jes 53, 95 Anm. 14). 347 Selbstverständlich kann hier nur eingeschränkt von einem Kanon gesprochen werden, da die neutestamentlichen Bezeichnungen – wie grafhv bzw. grafai; a{giai (z.B. Gal 3,8.22; 4,30; Röm 4,3; 9,17; 10,11; 11,2; Röm 1,2), novmo~ (als prima pars pro toto: z.B. Röm 3,19a; 3,31; vgl. Joh 12,34; 1 Kor 14,21), oJ novmo~ kai; oJ profh`tai (z.B. Röm 3,21; vgl. Mt 5,17; 7,12; 11,13; 22,40; Lk 16,29–31; 24,27), ta; gegrammevna ejn tw`æ novmwæ Mwusevw~ kai; toi`~ profhvtai~ kai; yalmoi`~ (Lk 24,44; vgl. Sir Prolog 1) – weitgehend unscharf bleiben und mit einer einigermaßen fixierten Textsammlung nicht vor dem Ende des ersten Jahrhunderts zu rechnen ist. Trotzdem bleibt insbesondere eine Bezugnahme auf 4Makk, die die These von einem sühnenden Märtyrerleiden stützen soll (s.o.), problematisch. Zum einen wird man 4Makk frühestens auf einen Zeitraum ab 90 n. Chr. datieren können. Zum anderen lässt sich der Schrift nicht einmal in späterer Zeit ein kanonischer Rang zuschreiben. Dass der intendierte Rezipient des Markusevangeliums eine Kenntnis des Buchinhalts bzw. einer älteren Tradition hatte, muss daher bestritten werden.
4.2 Perspektivische Vermittlung
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vertretungstodes für die Vielen bleibt offensichtlich aus dem Jesajabuch entlehnt. Die Rede vom Dienst steht dazu nicht im Widerspruch, sondern lässt sich durchaus plausibel als eine Anpassung an den vorherigen Erzählkontext erklären. Hierdurch soll der selbstlose Tod Jesu mit dem anmaßenden Verhalten der Jünger und dem Gebären der weltlichen Herrscher kontrastiert werden.348 Zugleich bleibt der Stellvertretungstod in Analogie zu Jes 53 an die Sendung des Menschensohns und damit an Gottes Handeln gebunden. Von einer freiwilligen Lebenshingabe lässt sich an dieser Stelle gerade nicht reden,349 da der Sendungsgedanke (1,2f.; 8,31; 9,12; 9,31; 10,33), der im vorherigen Erzählverlauf expliziert wurde und der das Verhältnis zwischen Jesus und Gott wesentlich charakterisiert, sonst außer Acht gelassen würde. Zutreffender lässt sich hier – in Entsprechung zur frühchristlichen Bekenntnistradition (Phil 2,8) – vom Gehorsam, also der uJpakohv Jesu sprechen, die in der Gethsemane-Episode und im Passionsbericht noch weiter entfaltet wird.350 Die grammatikalischen Bezüge in Mk 10,45 untermauern dies. Hauptwort des Satzes ist e[rcomai in der dritten Pers. Sg., während das Dienen und die Lebenshingabe parallelisiert werden und so als Entfaltung des Gekommenseins in den Blick geraten.351 Mit seinem umfassenden Wirken und seinem Heilswerk folgt der Menschensohn Jesus dem ewigen Ratschluss Gottes. Obwohl in 10,45 offensichtlich kein direkter Text-zu-Text-Bezug vorliegt, wird der schriftkundige Rezipient die Aussagen doch am ehesten vor dem Hintergrund eines stellvertretenden Sühnetodes und damit in inhaltlicher Analogie zu Jes 53 deuten können. 348 Weder in 2Makk 6,28; 7,9; 4Makk 6,27; 17,21, noch in anderen Traditionen, die hinter Mk 10,45 vermutet werden, taucht das Motiv des Dienens auf. Die Frage, ob die Verwendung des Menschensohntitels anstelle eines älteren „ich“ erfolgte (so LÜHRMANN, Markusevangelium, 181) und wie sich 10,45 traditionsgeschichtlich zu 1Tim 2,5f. und Lk 22,24–27 verhält (vgl. STUHLMACHER, Existenzvorstellung, 29–33 [10,45 primär]; ZAGER, Deutung, 172–175 [1Tim 2,5f./Lk 22,24–27 primär]), lässt sich nicht mehr klären und kann an dieser Stelle dahingestellt bleiben. 349 So z.B. GNILKA, Evangelium II/2, 104. 350 Mit STUHLMACHER, Jes 53, 96. 351 Diese grammatikalische Abhängigkeit thematisiert auch Gudrun Guttenberger, merkt im Folgenden jedoch an, dass 10,45 von einer Selbsthingabe Jesu rede und im Unterschied zu Jes 43,3f. Gott nicht als Subjekt des Handelns erscheine (vgl. GUTTENBERGER, Gottesvorstellung, 220.221). Dieser Argumentation vermag ich nicht zu folgen, weil sie falsche Alternativen voraussetzt. Nach der markinischen Erzähllogik bleibt die Hingabe des Sohnes immer an das Handeln Gottes gebunden. Dies wird u.a. daran erkennbar, dass sich Jesu Verhalten meist nicht auf eine menschliche Motivation zurückführen lässt, sondern sein Wirken im Wesentlichen vorherbestimmt ist (vgl. 1,15.38; 2,20; 8,31; 9,31; 10,33; vgl. Kap. 4.3.1j „Motivationen“). Hiermit korrespondiert sodann, dass Jesus die Ereignisse der Passion bis ins Detail hinein kennt und entsprechend vorhersagen kann (v.a. 11,1–7; 14,8; 14,28–30; 14,41; vgl. Kap. 4.3.1g „Wissen“).
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Auch sonst zeichnen sich die erzählerischen Bezugnahmen auf Jes 53 durch eine vergleichsweise geringe Explizität aus und es kommt zudem zur Verknüpfung mit anderen alttestamentlichen Traditionen. In 9,12 ist es neben dem Leidensaspekt v.a. die angekündigte Verachtung, die den intendierten Rezipienten mitunter an Jes 53,3 denken lässt. Zugleich wird man in ejxoudenevw einen Bezug zu LXX Ps 21,7 erkennen müssen, was später durch die entsprechenden Anspielungen im Kreuzigungsbericht (15,24 [Ps 22,18]; 15,29 [22,7]; 15,34 [22,1]; vgl. 16,1–8 [22,31]) eine Bestätigung erhält. In der markinischen Vorstellung vom leidenden Menschensohn scheinen die Figur des leidenden Gottesknechtes und die Figur Davids bzw. des leidenden Gerechten zu verschmelzen. Gleiches lässt sich im Hinblick auf Jesu Schweigen vor dem Hohen Rat (14,60–61a) sowie vor Pilatus (15,4f.; vgl. auch 15,28–33) aussagen. Während dieses Schweigen aus der Perspektive der Ankläger unverständlich bleibt und angesichts geltenden Rechts unverständlich bleiben muss,352 kann der Rezipient in Jesu Verhalten gleichermaßen eine Anspielung auf den jesajanischen Gottesknecht (Jes 53,7) und auf David bzw. den leidenden Gerechten erkennen (LXX Ps 37,14: kai; a[lalo~ oujk ajnoivgwn to; stovma aujtou`). Der Akzent liegt hierbei allerdings auf Letzterem, was insbesondere durch die Erwähnung falscher Zeugen (vgl. LXX Ps 26,12; 34,11) und die evozierte Gerichtssituation unterstrichen wird. „The implication is that what is happening to Jesus is in accordance with the scriptures. Just as the prototypical king, David, suffered, so must the messiah.“353
Finden sich in 9,12 sowie in Kap. 14 und 15 v.a. Anklänge an den Psalter, während die Anspielungen auf Jes 53 eher sekundär bleiben, lassen sich in 9,31 und 10,33 sowie 14,21–24 deutlichere Anklänge an die Figur des Gottesknechtes erkennen. In 9,31 und 10,33 wird durch das Verb paradivdotai bzw. paradoqhvsetai auf eine Preisgabe des Menschensohns durch Gott verwiesen, wobei das Passiv – in Analogie zum göttlichen dei` aus 8,31 oder dem Gekommensein Jesu (10,45) bzw. der Stunde der Passion (14,41b–42) – jeweils als passivum divinum zu verstehen ist (vgl. Röm 4,25).354 Im direkten Vergleich mit Mk 9,31 352 Der Angeklagte hatte nach römischem Recht die Möglichkeit, zur erhobenen Anklage Stellung zu beziehen und sich zu verteidigen (vgl. SHERWIN-WHITE, Roman Law, 25f.). Dass die Angeklagten hiervon in aller Regel Gebrauch machten, lässt sich nicht nur vermuten, sondern hat in zahlreichen, kunstvoll gestalteten Verteidigungsreden und in der Herausbildung einer eigenen Redegattung seinen literarischen Niederschlag gefunden. 353 COLLINS, Mark, 704. 354 Mit STUHLMACHER, Jes 53, 95f., der zugleich an der historischen Rückfrage und Jesu Selbstverständnis interessiert bleibt, schreibt 9,31 eine besondere Relevanz zu, insofern er hierin einen „jesuanischen Grundbestand“ der Überlieferung erkennt (vgl. JEREMIAS, Theologie I, 267f.280ff.). Für die vorliegende Arbeit ist eine solch historische Bewertung irrelevant, weil die intendierten Rezipienten kaum zwischen jesuanischen Worten und deren redaktioneller Überarbeitung unterscheiden konnten. Abgesehen davon bleiben die
4.2 Perspektivische Vermittlung
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zeichnet sich die dritte Leidensankündigung durch einen höheren Grad an Detailliertheit aus. Während in 9,31 noch verallgemeinernd von einer Überlieferung in die Hände der Menschen die Rede ist (eij~ cei`ra~ ajnqrwvpon), wird in Kap. 10 eine zweistufige Aushändigung an die religiösen Autoritäten und an die heidnischen, d.h. römischen Autoritäten vorausgesetzt. Dass Jesus von einem seiner menschlichen Nachfolger, nämlich Judas, verraten und an die Autoritäten ausgeliefert wird, ist keineswegs im Kontrast hierzu zu sehen. Gerade die frühzeitige Ankündigung dieses Verrats (3,19) sowie Jesu Ankündigung in 14,21 lassen erkennen, dass auch dieses Geschehen vorherbestimmt ist, wobei die Anklänge an LXX Jes 53,6.12 unverkennbar sind. „Although Judas is not relieved of responsibility, this allusion in Isaiah 53 suggests that the death of Jesus was divinely ordained.“355 Im Kontext der Abendmahlparadosis ist es v.a. das Kelchwort (weniger eindeutig das Brotwort356), das auf Jes 53,10–12 und zugleich auf Ex 24,8 rekurriert und den Tod Jesu gerade durch diesen Doppelbezug als stellvertretende Sühne deutet.357 Schafft Jesus mit seiner Lebenshingabe Sühne für die Vielen, so bleiben selbst der widersinnige Verrat des Judas und das Leiden des Menschensohnes (V. 21) keineswegs sinnlos, sondern werden in den größeren Heilsplan Gottes eingefügt und bekommen einen soteriologischen Sinn. Durch die Anspielung auf den jesajanischen Gottesknecht wird ersichtlich, dass Jesu Leiden als schriftgemäß zu bezeichnen ist und somit im Ratschluss Gottes begründet liegt.358 Gerade so erhalten auch die vorherigen Ankündigungen vom Leiden des Menschensohns eine abschließende Deutung, insofern nun noch einmal verständlich wird, warum Jesus vom göttlichen dei` sprechen konnte. Auf erzählerischer Ebene finden sich die beiden letzten Berührungspunkte zwischen dem leidenden Menschensohn und dem jesajanischen Gottesknecht im Kreuzigungsbericht und in 16,1–8. Dass Jesus nach 15,27 zwischen zwei Räubern gekreuzigt wird (= soziale Verortung), dürfte nicht erst in der Interpretation der nachmarkinischen Redaktion (vgl. 15,28) als entsprechender beiden Fragen, welche Leidensankündigung den ursprünglichen Grundbestand bildete und inwiefern sich hierin die Stimme des historischen Jesus erhalten hat, weitgehend offen. 355 COLLINS, Mark, 224. 356 Präzisierend formuliert erst Lukas durch die Hinzufügung des doppelten „für euch“ (Lk 22,19.20), wodurch der Stellvertretungs- und Sühnecharakter des Todes Jesu eindeutig(er) hervortritt. Inwieweit es sich dabei um einen lukanischen oder vorlukanischen Sprachgebrauch handelt, kann an dieser Stelle unberücksichtigt bleiben (vgl. dazu MITTMANN-RICHERT, Sühnetod, 118–120). 357 Mit STUHLMACHER, Jes 53, 97. 358 Gleichzeitig lässt sich 14,21 im Kontext von 14,22–24 nicht als ausschließliche Anspielung auf Jes 53 verstehen. Wie der Gebrauch von Schriftzitaten und Schriftverweisen im Markusevangelium insgesamt erkennen lässt, geht es um die Schriftgemäßheit christologischer Aussagen, die durch die Rückbindung an mehrere Traditionen an Evidenz gewinnt. Zugleich wird durch die Bezugnahme auf unterschiedliche Vorstellungen und Texte über die Schrift hinaus auf das verlässliche Wort Gottes verwiesen.
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Schriftbezug (Jes 53,12) verstanden worden sein. Auch der intendierte Rezipient konnte diese Figurenparallele bereits erkennen. Der Auferstehungsbericht in16,1–8 korrespondiert insofern mit Jes 53, als das Leiden des Gottesknechtes gerade nicht als göttliche Strafe gedeutet wird, sondern das heilvolle Eingreifen Gottes und der Gedanke einer göttlichen Rehabilitation Betonung finden. Dass der Sohn von Gott gemartert würde (Jes 53,4), bleibt in der Retrospektive ein Irrtum der Zeitzeugen. Eng mit der Vorstellung eines leidenden Menschensohns ist gerade darum auch die Vorstellung vom kommenden Menschensohn verbunden. Der Sohn, der unter der religiösen Anklage der Blasphemie (14,61) und unter der politischen Anklage eines Königsprätendenten (15,2) steht, ist mit jenem Sohn identisch, der von Gott durch die Auferstehung erhöht wird und als Erhöhter zurückkommen wird, um von allen Menschen gesehen und gemäß seinem eigenen Hoheitsanspruch anerkannt zu werden. Aufgrund dieser Identität zwischen dem leidenden und kommenden Menschensohn können, ja müssen in 14,61.62 die Titel Gottessohn, Christus und Menschensohn aufeinander bezogen werden. So kann sich Jesus nur explizit dazu bekennen, der Christus und der Sohn des Hochgelobten zu sein, weil er bereits um seine Erhöhung durch den Vater und um sein endzeitliches Wiederkommen weiß. Er bekennt sich damit zu einer Machtfülle, die sich nicht allein aus seinem eigenen Handeln ableiten lässt und die auch nicht in seinem eigenen Wirken allein begründet liegt, sondern die ihm von Gott selber verliehen wird. Deshalb ist die Verwendung des Menschensohntitels in 14,61 nicht als Bescheidenheit oder gar als Angst vor den Autoritäten zu deuten, zumal Jesu Antwort ja gerade erst zu seiner Verurteilung führt und zugleich heftigsten Protest provoziert. Dass der Protagonist der markinischen Erzählung den Sohn-Gottes- und Christustitel nie verwendet und zugleich beide Titel in Verbindung mit dem Menschensohn–Titel setzt und – unter Aufnahme von Ps 110 und Dan 7 – bekenntnisartig bejaht (14,62), lässt sich am sinnvollsten vor dem Hintergrund einer breiten frühchristlichen Bekenntnisbildung erklären. Es artikuliert sich hierin die Überzeugung, dass es allein dem Vater vorbehalten bleibt, seinen Sohn in der Kraft der Auferstehung von den Toten einzusetzen (Röm 1,4), ihn zu seiner Rechten zu erheben (Röm 8,34; Eph 1,20; Kol 1,3; Heb 1,3.13; 8,1; 10,12; 12,2; 1Petr 3,22; vgl. Ps 110) und ihn zum Herrn und Christus zu machen (Apg 2,36; vgl. 5,31; Röm 8,34). Gerade deshalb gewinnen im Markusevangelium jene Textstellen eine besondere Relevanz, in denen der Messias oder eine endzeitliche Figur von Gott angesprochen wird (Mal 3,1; Ps 2,7; Ps 110). Gerade deshalb ist es nach den Worten des markinischen Jesus erst das Ereignis der Auferstehung, mit dem das Schweigegebot an die Jünger endet (Mk 9,9) und es ist erst der Auferstehungsglaube, aus dem heraus Jesus vollends als einzigartiger Sohn erkannt und verehrt wird. Erst unter dem Eindruck der Auferstehung werden das Unverständnis der Jünger und die Furcht der Frauen weichen und die Nachfolger Jesu zur wahren Christuserkenntnis gelangen. In diese Erzähllogik fügen sich Jesu Verwendung des Davidssohn-Titels (12,36f.) und seine Reaktion auf eine entsprechende Anrede ein (10,46–52).
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4.2 Perspektivische Vermittlung
Dass sich der Protagonist von Bartimäus protestlos als Sohn Davids anreden lässt – und sich sogar augenscheinlich in Analogie zu einer herrscherlichen Audienzszene und damit als königliche Figur verhält, – steht keineswegs im Widerspruch zur späteren Relativierung des Sohn-David-Titels. Jesus lässt sich durchaus eine königliche Würde zuschreiben und aus dieser Würde heraus agiert der Protagonist von Anfang an (vgl. 2,23–28). Zugleich stellt der Sohn-Davids-Titel aber keine hinreichende Beschreibung Jesu dar. Jesus ist als königlicher Messias, d.h. als Christus und Davidssohn, zu verstehen, aber seine Identität beschränkt sich nicht allein auf diese Würde, weil er zugleich als Davids Herr zu begreifen ist (12,35–37). Allerdings schreibt sich der markinische Jesus auch diese Würde nicht selbstständig zu, sondern leitet sie aus dem Dialog in Ps 110 zwischen Gott und dem Herrn Davids, d.h. dem königlichen Messias ab. So wie sich Jesus im Hinblick auf den Sohn- Gottes- und Christustitel zurückhaltend erweist, so verwendet er auch den Kyriostitel nicht in unmittelbarer Anwendung auf sich selbst. Dass der Evangelist Markus dennoch die frühchristliche Überzeugung teilt, dass Jesus jener Name von Gott verliehen wurde, der über allen anderen Namen steht (Phil 2,9f.), legt sich aufgrund der emergenten Textbedeutung von Mk 12,35–37 durchaus nahe und wird sich gerade in der nachfolgenden Figurenanalyse bestätigen.
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesus und seine Einheit mit Gott „Womit soll man Unvergleichliches vergleichen, und wie soll man Unbegreifliches auf den Begriff bringen? Wie kann man, ‚was kein Auge gesehen hat‘, vor Augen stellen, ‚und was kein Ohr gehört hat‘, zu Gehör bringen?“ (ECKSTEIN, Anfänge, 3)359
Das Markusevangelium ist nicht als isolierter Text zu verstehen, der fern aller theologischen Diskurse seiner Zeit entstanden ist. Vielmehr ist das erste Evangelium als historisch kontingente Ausdrucksform eines kollektiven Erkenntnisprozesses zu begreifen, der seinen Ausgangspunkt im Geschehen bzw. Erleben360 von Kreuz und Auferstehung besitzt. Das Evangelium nach 359
S. hierzu 1Kor 2,9 als Aufnahme von Jes 64,3. Als historische Disziplin hat die Exegese keinen Zugriff auf die ontische Realität, die diesem Wirklichkeitserleben der frühen Gemeinde zu Grunde liegt. Sie kann lediglich rekonstruieren und nachzeichnen, wie die Urgemeinde ihre Welt begriff und sprachlich fixierte. „Der Streit über die ontische Realität ‚hinter‘ diesen Visionen – ob rezeptiv oder produktiv – ist deshalb eo ipso auch kein wissenschaftlicher, keiner, der auf dem Felde 360
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
Markus ist eingespannt in jenen größeren Prozess des frühchristlichen Nachdenkens, der in den Bekenntnissen der Urgemeinde seine ersten Ausdrucksformen findet und sich dann über die theologischen Auseinandersetzungen des Paulus sowie die parallele Entstehung episodischer Erzählungen bis hin zur überaus motivreichen361 Christologie eines Johannesevangeliums entfalten konnte. Wenngleich dieser Reflexionsprozess keineswegs linear verlaufen ist, sondern je nach Kommunikationskontext unterschiedliche Betonungen und Weiterführungen erfahren konnte, so lassen sich inmitten einer neutestamentlichen Vielstimmigkeit mindestens zwei Grundkonstanten erkennen. Erstens ist die neutestamentliche Christologie nie bloße Aufnahme vorgegebener Traditionen gewesen. Die im Christusgeschehen erschlossene „Weisheit“ findet ihren Ausdruck vielmehr in den unterschiedlichsten Formen der Transformation, 362 Dramatisierung, 363 Neukomposition, 364 Transpohistorischer Forschung ausgetragen oder durch Intensivierung der historischen Rückfrage entschieden werden könnte“ (LAMPE, Wirklichkeit, 101–112, hier 112). 361 Es ist v.a. das Verdienst von Ruben Zimmermann, dieses Spezifikum der johanneischen Christologie herausgearbeitet zu haben (vgl. ZIMMERMANN, Christologie der Bilder). Während sich die reichhaltige Motivik tatsächlich als markantes Merkmal der johanneischen Christologie bezeichnen lässt, greift es zu kurz – gerade im Kontrast zum Markusevangelium – von einer „hohen Christologie“ zu sprechen. Wie sich im Zuge der Analyse zeigen wird, kann auch im Hinblick auf das Markusevangelium durchaus von einer hohen Christologie gesprochen werden, wenn man hierunter eine Betonung der Einzigkeit Jesu Christi und seiner Einheit mit Gott versteht. 362 Vgl. GENETTE, Palimpseste, 16. Es sollte nicht übersehen werden, dass bereits die Übertragung prophetischer Vorhersagen oder Psalmworte in die Form der Erzählung eine kaum zu unterschätzende literarische Leistung darstellt. Vgl. z.B. die Aufnahme von Psalmmotiven (Ps 22; 69) in Mk 15. 363 Eine solche Dramatisierung wird gerade bei Markus greifbar, wo das Todesschicksal Jesu auf den Konflikt mit den religiösen Autoritäten zurückbezogen wird und eine Konfliktspannung über den gesamten Erzählverlauf durch eine entsprechende Sympathielenkung sowie eine Reduktion möglicher Handlungsoptionen (vgl. 3,6) aufgebaut wird. Die erzählerische Leistung des Markus besteht darin, alttestamentliche Vorstellungen und Zitate – wie LXX Ps 117,22 – nicht nur aufgegriffen und umgewandelt zu haben (vgl. 8,31), sondern den damit angedeuteten Konflikt in Form episodischer Begegnungen illustriert und in einen kohärenten Handlungsverlauf überführt zu haben. Für eine andere Spannung sorgt im Markusevangelium die kognitive Rätselspannung, die v.a. die Interpretation der Gleichnisse betrifft und durch das Geheimnismotiv (4,10–12) sowie das Unverständnis der Jünger evoziert wird (vgl. zu den unterschiedlichen Formen der Spannung WENZEL, Analyse der Spannung, 186–195; JUNKERJÜRGEN, Spannung, 61–72 [mystery, suspense]). 364 Bei der Neukomposition werden mündliche oder schriftliche Jesus-Traditionen um eine alttestamentliche Verheißung oder ein nichtbiblisches Sprichwort gruppiert, um so für eine neue Interpretation zugänglich zu werden (vgl. die sog. „Erfüllungszitate“ bei Matthäus und dazu STUHLMACHER, Verstehen, 74). Die noch häufigere Anordnung um prominente Jesuslogien verfährt ähnlich, lässt nur noch einen indirekten Bezug zur alttestamentlichen Literatur erkennen (vgl. etwa das „Wanderlogion“ Mk 10,31; Mt 19,30; 20,16; Lk 13,30).
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
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nierung bzw. Relecture 365, Fortschreibung und Neuapplizierung 366 alttestamentlich-frühjüdischer Traditionen und Vorstellungsgehalte. Die Vielfalt der Abwandlungen und Ausdrucksformen verweist zweitens auf die große Dynamik und zugleich Anstößigkeit dieses Reflexionsprozesses. Sowohl in der jüdischen als auch in der heidnischen Umwelt war die Gemeinde aufgrund ihrer Verkündigung zahlreichen Konflikten und Verspottungen ausgesetzt: „Wir aber predigen den gekreuzigten Christus, den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit“ (1Kor 1,23). Als skavndalon gilt die christliche Predigt insbesondere deshalb, weil sich die Gemeinde von Anfang an und nicht erst in einem Spätstadium ihrer eigenen Entwicklung zum auferstandenen Christus als dem Kyrios bekennen konnte.367 Bereits die aramäisch und griechisch sprechenden Judenchristen konnten den von Gott auferweckten368 Christus mit jenem Titel bezeichnen, der in der Septuaginta für die Umschreibung des Gottesnamens Jahwe genutzt wurde. Dies zeigt sich nicht zuletzt in der christologischen Abwandlung alttestamentlicher
365
Von Relecture lässt sich am ehesten dort sprechen, wo alttestamentliche Bekenntnisse vor dem Eindruck des Christusgeschehens neu gelesen, erschlossen und ausgesagt werden. Besonders eindrücklich wird dieser Prozess dort, wo Paulus die alttestamentliche Gottestitulatur oJ kuvrio~ uneingeschränkt auf Jesus Christus bezieht (1Kor 4,5; 7,10.12; 9,14; 16,7; 2Kor 10,8; 13,10; Phil 4,5; 1Thess 3,12; 4,16) oder in Anknüpfung an das Schema Jisrael (Dtn 6,4) sogar das Bekenntnis zu dem einen Gott binitarisch entfalten kann (1Kor 8,6), indem er es zugleich auf „den einen Gott, den Vater“ und „den einen Herrn, Jesus Christus“ bezieht. Im Markusevangelium ließe sich u.a. die Abwandlung des Maleachi- und Jesajazitates in 1,2f. sowie die Deutung von Ps 110,1 in 12,35–37 als Relecture bezeichnen. 366 Eine Fortschreibung und Neuapplizierung, die zugleich eine Dramatisierung bedeutet, findet sich beispielsweise in 12,1–12. Indem das ursprüngliche Weinberglied des Jesaja durch die Schilderung eines Pachtstreits ergänzt wird, wird der Fokus von den Reben auf die Winzer und damit vom Volk Israel auf die religiösen Autoritäten gerichtet. Durch die Reaktion der Autoritäten (12,12) wird diese Neuapplizierung – im Sinne eines autoreflexiven Kommentars – betont. 367 Vgl. zum Ganzen HENGEL, Sohn Gottes, 120–125; FITZMYER, Art. kuvrio~, 816f.; ECKSTEIN, Anfänge, 4–6; ähnlich LAMPE, Wirklichkeit, 110f., der die Verwendung christologischer Hoheitstitel (Gottessohn, Kyrios etc.) im Lichte einer konstruktivistischen Epistemologie betrachtet. Die frühere These der religionsgeschichtlichen Schule, dass der Kyrios-Titel auf das hellenistische Judentum der gar auf die nichtjüdischen Gemeinden zurückzuführen sei, hat sich in jedem Fall als unhaltbar erwiesen (so noch BOUSSET, Kyrios, 77f.; BULTMANN, Theologie, 54f.126–130). 368 Vgl. die Verwendung des Kyrios-Titels in folgenden formelhaften und zum ältesten Bestand des Neuen Testaments zählenden Auferweckungsaussagen (Röm 4,24; 10,9b; 1Kor 6,14; 2Kor 4,14; Heb 13,20) sowie die Auferstehungsformel Lk 24,34 und dazu ECKSTEIN, Wirklichkeit, 160–163; ECKSTEIN, Anfänge, 5.
310
4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
Kyrios-Wendungen (1Kor 1,8; 2,8369; 2Kor 1,14; Phil 1,6; 2,10f.; vgl. auch Röm 10,8–17370). Die folgende Figurenanalyse soll aufzeigen, dass sich die Darstellung des markinischen Jesus nicht allein als Abbild dieses umfassenden Bekenntnisprozesses begreifen lässt. Vielmehr hat Markus in seiner Erzählung die Einzigkeit Jesu Christi und seine Einheit mit Gott bewusst inszeniert und zwar derart, dass frühjüdische Schemata der Messiaserwartung erzählerisch entfaltet und zugleich unterminiert und neu verknüpft werden. Die markinische Christologie lässt sich nicht einseitig als Sohn-Gottes-, Menschensohn- oder Propheten-Christologie bezeichnen, als würden durch eine dieser Vorstellungen andere Traditionen konterkariert (vgl. 3.2.2) oder als habe Markus als Redakteur den offensichtlichen Widerspruch konfligierender Vorstellungsgehalte gar nicht bemerkt. Vielmehr zeichnet sich die markinische Christologie durch eine überaus differenzierte Relationierung und Neuverknüpfung bekannter Traditionen aus. Im Ergebnis wird hierdurch gerade die unzureichende Beschreibungsfähigkeit hergebrachter Erwartungen verdeutlicht und im Ergebnis auf die Einzigkeit Jesu Christi verwiesen. Kaum zufällig dürfte in diesem Zusammenhang sein, dass auf diese Einzigkeit auch wiederholt durch die Reaktionen der erzählinternen Zeugen verwiesen wird: „Wir haben so etwas noch nie gesehen!“ (Mk 2,12) – „Was ist das? Eine neue Lehre in Vollmacht?“ (1,27) – „Wer ist dieser, dass sogar Wind und Meer ihm gehorchen?“ (4,41) – „Woher hat er das? Und welche Weisheit ist ihm gegeben?“ (6,2; vgl. auch 5,20; 7,37; 14,61). Die Frage nach der Identität Jesu wird aber nicht nur explizit gestellt, sondern zugleich durch das Unverständnis der Jünger evoziert. Gerade weil die Jünger keine hinreichende Antwort geben können, hat der intendierte Rezipient einen großen Anreiz, die Einzigkeit Jesu seinerseits zu ergründen (= Rätselspannung). Zugleich soll der Rezipient durch die Einzigkeit Jesu auf dessen Einheit mit Gott zurückverwiesen werden. Ein Bezug, der sich nicht aus expliziten Erzähler- oder Figurenkommentaren ableitet, sondern erst über den Lektüreprozess ergibt und die markinische Christologie im Kern als emergent erweist. Wer Jesus ist, steht nicht schwarz auf weiß im Text des Markusevangeliums, sondern seine Identität erschließt sich dem intendierten Rezipienten im Lektüreprozess und aufgrund einer methodisch nachvollziehbaren Leserlenkung. Im Folgenden möchte ich zeigen, dass der in Kap. 2 erarbeitete Figurenbegriff in diesem Kontext einen wichtigen Beitrag bei der Analyse leisten kann: (1) Auf Grundlage der in Kap. 2.3.2 vorgestellten Methodik soll eine möglichst umfassende und zugleich systematische Erschließung der expliziten und impliziten Merkmale ermöglicht werden. Der Unterschied zum aktuellen Diskussi369 370
Vgl. dazu HOFIUS, Einer ist Gott, 167–180. Vgl. dazu ECKSTEIN, Erwägungen zu Röm 10,8, 55–72.
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
311
onsstand besteht zum einen darin, dass der markinische Protagonist nicht allein auf explizite Figurenzuschreibungen reduziert wird. Sämtliche Schlussfolgerungen, die der Rezipient aufgrund seines textinternen und textexternen Wissens ziehen kann und soll, werden berücksichtigt. Über die zumeist thematisierten Merkmale des Figurenverhaltens, der Figurenmotivation oder des Charakters hinaus werden alle in 2.3.2 beschriebenen elf Merkmale untersucht.371 Diese Detailbetrachtung legt bereits eine Grundlage für den zweiten Analyseteil, insofern jeder Figurenvergleich (4.3.2) im Wesentlichen auf der Parallelität bzw. dem Kontrast einzelner Figurenmerkmale fußt. Zugleich soll durch eine an den Merkmalskategorien orientierte Darstellungsweise der Zugriff für nachfolgende Forschungsarbeiten erleichtert werden.372 (2) Gerade weil der markinische Protagonist im Vergleich zu bisherigen Forschungsbemühung einer weitaus umfassenderen Analyse unterzogen werden soll, stellt sich aus kognitiver Sicht die Frage nach der rezipientenseitigen Figurenwahrnehmung. Nicht alle Merkmale, die sich auf analytischem Wege erschließen lassen, sollen auch von den Rezipienten an die Figur Jesu herangetragen werden. Aus diesem Grund gilt es, die Kriterien der Aufmerksamkeitslenkung zu berücksichtigen, und es ist eine Abstufung zwischen Haupt- und Nebenmerkmalen bzw. wichtigen und nebensächlichen Merkmalen zu treffen.373 (3) Die Analyse bleibt figuren- und nicht szenenorientiert,374 d.h. es soll gezeigt werden, wie der Rezipient einzelne Merkmale über den Lektüreprozess hinweg 371 Über die hier genannten Merkmale hinaus finden sich in der Kommentarliteratur immer wieder erzählerische Paraphrasen, in deren Zusammenhang u.a. auf möglich Gefühle, Wahrnehmungen oder andere Merkmale eingegangen wird. Allerdings bleibt es zumeist bei Einzelnotizen. Vgl. etwa WEDER, Einblicke, 143, zu Jesu Wahrnehmung in 2,5: „,Und Jesus sah ihren Glauben...‘. Damit macht die Erzählung klar, dass die vier Träger den Glauben zur Darstellung bringen. Was sah Jesus eigentlich? Er sah, dass die vier mit größter Entschlossenheit seine Nähe suchten. Er sah, dass sie alles taten, um die Hindernisse zwischen Jesus und dem Kranken aus dem Weg zu räumen. [...] Das sah Jesus, und das nannte er kurzerhand ihren Glauben.“ 372 Durchaus nutzbar sind die Ergebnisse wohl auch für praktische Neuanwendungen der Markustexte (z.B. im Kontext der Predigtvorbereitung, des Bibliologs, bildlicher Darstellungen usw.). Hier besteht dann jedoch – im Unterschied zur exegetischen Auslegung – die Möglichkeit, einzelne Merkmale auszuschmücken und über den ursprünglichen Textsinn hinaus zu betonen bzw. weiterzuentwickeln (z.B. Gefühle, Äußeres, Wünsche, Raum). So können u.a. neue Applikationsmöglichkeiten geschaffen und die Erzählung an heutige Rezeptionserwartungen angepasst werden. 373 Das Begriffspaar Haupt- und Nebenmerkmal birgt das Problem in sich, dass einem binären Oppositionsdenken Vorschub geleistet wird. Präziser ist es demgegenüber – in Analogie zur Wichtigkeit der Figuren – auch die Merkmale auf einer Skala zu verorten. In dieser Hinsicht werden die Merkmale Jesu wie folgt klassifiziert: ***** = sehr wichtig; **** = wichtig; *** = von Bedeutung; ** = kaum wichtig; * = bedeutungslos. 374 Ähnlich bereits die Differenzierung bei RHOADS/DEWEY/MICHIE, Mark, 151–153 u. 154–159. Vgl. zu dem hier verwendeten Begriffspaar FINNERN, Narratologie, 331.
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
in das mentale Figurenmodell integriert (situatives Figurenmodell) und welche Vorstellung er von der Figur Jesu am Ende der Erzählung hat (abschließendes Figurenmodell). Eine szenenorientierte Analyse, bei der alle Figuren eines Erzählabschnitts auf ihre jeweiligen Merkmale untersucht werden, wäre hingegen zu ausführlich und liefe zudem Gefahr, die erzählerische Progression aus dem Blick zu verlieren. Obwohl durchaus einzelne Episoden einer näheren Betrachtung unterzogen werden und die jeweils forschungsgeschichtlich relevanten Fragen mitbeantwortet werden, möchte ich immer zugleich die Dynamik der einzelnen Merkmale im Blick behalten.375 Auf der Grundlage der einzelnen Figureneigenschaften kann dann abschließend beantwortet werden, ob sich das Figurenmodell des markinischen Jesus als eher statisch oder dynamisch, kohärent oder inkohärent, ein- oder mehrdimensional, geheimnisvoll oder transparent bezeichnen lässt (Figurenkonzeption). (4) Im Zuge des Figurenvergleichs (4.3.2) können nach den Kriterien der Parallelität, Erinnerungsnähe und Bezeugungsbreite all jene externen Personenvorstellungen analysiert und in ihrer literarischen Funktion über den Erzählverlauf verfolgt werden, auf die der intendierte Rezipient des Markusevangeliums zurückgreifen muss, um die Handlung mitzuverfolgen und indirekte Rückschlüsse auf die Figur Jesu zu ziehen. Konkret wird es sich hierbei um die Figur des Elia redivivus und die Figur Gottes bzw. des Kyrios handeln. 4.3.1 Figurenmerkmale und Konzeption des markinischen Jesus Die folgende Merkmalsanalyse orientiert sich an jenen elf Merkmalen, die im Zuge der methodischen Grundlegung präsentiert wurden (vgl. Kap. 2.3.2). Zugleich soll jeweils zu Beginn die Wichtigkeit der einzelnen Figurenmerkmale bezeichnet werden, wobei die Skala von bedeutungslos (*) bis sehr wichtig (*****) reicht. a. Standpunkt:
Welche Werte, Normen und Meinungen soll der Rezipient bei Jesus annehmen? b. Wahrnehmung: Welche sinnlichen Wahrnehmungen soll der Rezipient Jesus zuschreiben? c. Gefühle: Welche Gefühle soll der Rezipient Jesus zuschreiben? d. Verhalten: Welches Verhalten soll der Rezipient erschließen und von Jesus erwarten? e. Äußeres: Welche äußerlich sichtbaren Attribute soll der Rezipient Jesus zuschreiben? f. Raum: In welchem räumlichen, zeitlichen, religiösen und soziokulturellen Umfeld soll der Rezipient Jesus verorten?
375 So lassen die Schweigegebote Jesu durchaus den Rückschluss auf eine einheitliche Figurenmotivation zu, während dem Äußeren Jesu primär eine zeichenhafte und handlungsfunktionale Bedeutung zu eigen ist. Aussagen wie in 6,56; 9,3 und 15,20 lassen sich gerade nicht zu einem kohärenten Bild zusammenfügen.
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
g. Wissen: h. Pflichten: i. Wünsche: j. Motivationen: k. Charakter:
313
Welche revolutionären oder restitutiven Grenzüberschreitungen lassen sich dem Protagonisten zuschreiben? Welches Wissen soll der Rezipient bei Jesus voraussetzen? Welche Pflichten soll der Rezipient bei Jesus annehmen? Welche grundlegenden Wünsche soll der Rezipient bei Jesus vermuten? Auf welche Motivationen soll der Rezipient bei einer konkreten Handlung oder einer Verhaltensweise Jesu schließen? Welche Charaktereigenschaften soll der Rezipient Jesus zuschreiben?
a. Standpunkt (Wichtigkeit: ****): Über das eigene Selbstbild im engeren Sinne hinaus (vgl. 4.2.2f) bezieht der markinische Jesus v.a. zu ethischreligiösen Fragen sowie deren Legitimation Stellung. Hierbei wird zumeist durch ein Verhalten Jesu oder ein Verhalten seiner Jünger376 eine Streitfrage ausgelöst, die dann dialogisch oder durch ein autoritatives Wort Jesu entschieden wird. In Bezug auf die Streitgespräche lässt sich dabei eine klare Bündelung zu Beginn in Kapernaum (2,1–3,6) sowie in Jerusalem (Mk 11 u. Mk 12) erkennen. Ein Grund für diese Verteilung ist, dass über den erkennbaren Dissens der Konflikt mit den religiösen Autoritäten sowie deren Mordplan begründet und sodann dessen Vollstreckung plausibel gemacht werden soll. Eine Ausnahme zum prinzipiellen Dissens stellt jedoch ausgerechnet die Frage nach dem höchsten Gebot dar (12,28–34), wobei dieses Gebot von Jesus und einem Jerusalemer Schriftgelehrten gleichermaßen in der Alleinverehrung Gottes (Dtn 6,4.5) und dem Gebot der Nächstenliebe (Lev 19,18) gesehen wird und Letzteren – im Unterschied zu den anderen religiösen Autoritäten – ausdrücklich als verständig (V. 34) erweist. 377 Der abschließende Konsens zwischen Jesus und dem Schriftgelehrten überrascht umso mehr, als in den vorherigen Streitgesprächen ein autoritativer Anspruch Jesu zur Sprache kommt (s.u.) und er sich gerade deshalb von Anfang an den Vorwurf der Blasphemie einhandelt (2,7378). Wie kann Jesus zugleich an einer Alleinver376 Allerdings erkennen die Rezipienten aufgrund ihres textexternen Wissens wohl, dass das Verhalten der Jünger auf Jesu autoritative Legitimierung zurückzuführen ist. So handelt es sich zumeist um Verhaltensweisen, die für das Zusammenleben der frühen Gemeinde längst identitätsbildend sind oder eine gewisse Selbstverständlichkeit erhalten haben (2,13–17: Tischgemeinschaft; 2,18–20: Reduktion der Fastenpraxis; 2,23–38: Liberalisierung des Sabbatgebots; 7,1–23: Aufhebung der Reinheitsvorschriften). 377 Gerade dann stellt sich aber die Frage, warum Jesus diesen Schriftgelehrten nicht – wie mehrere Bedürftige – für seinen Glauben lobt, sondern einschränkend formuliert, dass dieser dem Reich Gottes nicht mehr fern sei. Welche Erkenntnis fehlt dem Schriftgelehrten noch? Vgl. hierzu ausführlich Kap. 4.3.2c. 378 Dieser Vorwurf wiegt insofern besonders schwer, als er im allersten Streitgespräch erhoben wird und damit – im Sinne eines Primäreffekts – die Wahrnehmung der Autoritäten entscheidend prägt. Die Rezipienten werden auch in den folgenden Konflikten den Vorwurf der Blasphemie mithören und sich gerade auch so den Mordplan der religiösen und politischen Autoritäten (3,6) erklären.
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
ehrung Gottes festhalten und für sich einen gottgleichen Autoritätsanspruch erheben? Auf diese scheinbare Inkohärenz werden wir in Kap. 4.3.2 zurückkommen und uns dort mit dem emergenten Bedeutungsgehalt von 12,28–34 sowie der Frage nach dem vorausgesetzten Verhältnis zwischen Jesus und Gott auseinandersetzen. Betrachten wir hier zunächst die im Markusevangelium verhandelten Streitthemen, so lässt sich ein überaus breites Spektrum erkennen. Inhaltliche Wiederholungen gibt es (nahezu) 379 keine. So werden in chronologischer Reihenfolge die Frage nach der Sündenvergebung (2,1–12), die Tischgemeinschaft mit Zöllnern und Sündern (2,13–17), die Fastenpraxis (2,18–22), das Sabbatgebot (2,23–28; 3,1–6), die Reinheitsvorschriften 380 (7,1–23), das Recht auf Ehescheidung (10,1–12), die Nutzung des Jerusalemer Tempels381 (11,15–18), die Legitimität der Kopfsteuer (12,13–17), der Auferstehungsglaube (12,18–27) und – im Sinne einer abschließenden Bündelung – das höchste Gebot (12,28–34) verhandelt.382
379
Die beiden Streitgespräche in 2,23–3,6 erhalten hingegen allein schon durch das Menschensohnwort in V. 28 einen gemeinsamen Mittelpunkt. Trotz der inhaltlichen Wiederholung und dem anschließenden Mordplan (3,6) lässt sich der Konflikt zwischen den Autoritäten und Jesus aber keineswegs auf die Thematik der Sabbatobservanz reduzieren. Vielmehr sollen die Rezipienten den Tötungsbeschluss auf alle vorangehenden Streitgespräche und den hierin artikulierten Hoheitsanspruch Jesu beziehen. Das Verhalten der Autoritäten demonstriert gerade, dass sie sich längst ein Bild von Jesus gemacht haben. Sie rechnen bereits im Vorfeld mit einer Heilung am Sabbat. Durch den Ort und die Zeit des Geschehens ergibt sich ein Bezug zu 1,21–27. Beide Episoden rahmen Jesu Auftreten in Kapernaum. 380 Auf dieser Thematik ruht über den Gesprächsgang hinweg der Fokus. Dass Jesus Ex 20,12 und 21,17 aufgreift, um das von Mose Gesagte mit den menschlichen Satzungen der Pharisäer zu kontrastieren, dient allein dem Ziel, die Legitimation der pharisäischen Lehre zu hinterfragen und mithin deren Reinheitsvorstellungen (s.u.). 381 Wenngleich es sich bei dieser Begebenheit um kein Streitgespräch handelt und die religiösen Autoritäten nicht einmal anwesend sind, wird durch Jesu Verhalten und seine Rede auf besonders eindrückliche Weise ein bestehender Dissens vor Augen gestellt. Durch die erwähnte Reaktion der Autoritäten ergibt sich sodann ein offensichtlicher Bezug zu den übrigen Begegnungen (vgl. 11,18 mit 12,12 u. ) 382 Die Streitgespräche lassen sich – zusammen mit 3,22–30 – als gemeinsamer Handlungsstrang bzw. als Nebenhandlung des Markusevangeliums identifizieren: Neben der weitgehenden Übereinstimmung beim Figurenbestand und bei der Figurenkonstellation lässt sich zugleich auf semantische Parallelen und auf einen kausalen Handlungszusammenhang verweisen: Die Streitgespräche in 2,1–3,6 markieren den Auftakt des Konflikts und machen den Tötungsbeschluss plausibel. In 3,22 und 7,2 treten sodann Jerusalemer Schriftgelehrte auf, die sich als religiöse Inspektoren begreifen lassen. Ihr Erscheinen lässt sich nur durch die anfängliche Intensität des Konflikts erklären. Auf dem Weg nach Jerusalem soll Jesus durch die an ihn herangetragenen Streitgespräche versucht werden, was explizit erwähnt (10,2; 12,13) oder indirekt vermittelt wird.
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
315
Wenn ich aus diesen Episoden zunächst 7,1–23 zur Illustration herausgreife, so hat dies seinen Grund darin, dass a) diese Episode besonders differenziert das Autoritätsgefüge zwischen den menschlichen Satzungen (der Pharisäer), dem Wort des Mose und Jesu autoritativem Lehranspruch vor Augen stellt; b) der Text eine doppelte Überleitungsfunktion besitzt, indem er eine Verknüpfung zwischen den Streitgesprächen in Mk 2 und 12 ermöglicht und zugleich Jesu Wirken im Heidenland (7,24–37.8,1–9) einleitet; c) sich zeigen lässt, wie der Erzähler über die ihm Text artikulierten Standpunkte hinaus auf den Standpunkt seiner Rezipienten zurückgreift, um diese für die Position Jesu zu gewinnen bzw. in ihrer religiösen Praxis zu bestätigen. Mit der Einleitung in 7,1 und den darin erwähnten Figurengruppen knüpft der Erzähler zunächst an den vorher berichteten Konflikt mit den religiösen Autoritäten an. Die Pharisäer waren bereits in den anfänglichen Begegnungen in Kapernaum zugegen und hatten zusammen mit den Herodianern einen gemeinsamen Mordplan beschlossen. Auch von den Jerusalemer Schriftgelehrten war bereits zuvor die Rede (3,22), wobei die Rezipienten hier wie dort am ehesten an religiöse Oberaufseher383 denken sollen. Es erscheint aus dem Erzählzusammenhang logisch, dass diese durch Jesu Verhalten sowie die sich rasch ausbreitende Kunde (vgl. 3,7f.384) auf den Plan gerufen werden. Durch ihre Anwesenheit wird – im Anschluss an 1,14, 3,6 und 3,22 – ein Bedrohungsszenario aufgebaut und damit Spannung erzeugt. Und tatsächlich verstoßen Jesu Jünger, indem sie das Brot mit ungewaschenen Händen essen, 383
So auch COLLINS, Mark, 228; VENETZ, Galiläa, 58f.; WITHERINGTON, Gospel, 156. Ein solches Auftreten erscheint auch historisch plausibel: Vgl. zum Einfluss der Jerusalemer Schriftgelehrten auf Galiläa v.a. FREYNE, Relations, bes. 51. Wenn überhaupt überrascht der frühe Zeitpunkt ihres Erscheinens (so auch NIEMAND, Jesus, 136–144, bes. 144). Dass mit dem Auftritt der Schriftgelehrten bereits Jerusalem als Ort der Feindschaft in den Blick gerate, vermag ich nicht zu erkennen (gegen GNILKA, Evangelium II/1, 148; LOHMEYER, Evangelium, 77; SCHENKE, Literarische Eigenart, 119 u.a.). Der Konflikt zwischen Jesus und den religiösen Autoritäten entzündet sich bereits zuvor in Kapernaum, ist also seinem Ursprung nach durchaus als ein galiläischer Konflikt zu bezeichnen. Auch sonst folgt das Markusevangelium keineswegs einem dualistischen Schema, nachdem die Anfangszeit des Wirkens in Galiläa rein positiv und Jerusalem durchweg negativ charakterisiert würde. Ebenso wie in Galiläa findet Jesus in Judäa und Jerusalem Anhänger und stößt auf Sympathisanten (3,7f.; 11,8–10; 12,28–34; 12,37b; 14,12–16; 15,21.39; 15,42– 46). Umgekehrt erfährt er bereits in Galiläa Ablehnung (3,20f.31f.; 5,17; 5,40; 6,1–6). 384 Wird hier auf eine große Menge aus Galiläa, Judäa und Jerusalem verwiesen, so dürfte dies den Rezipienten zugleich an 1,5 erinnern. Dass Jesus sogar über Galiläa und Judäa hinaus Zulauf erhält (Idumäa, Transjordanien, Tyrus und Sidon), zeigt, dass seine Popularität über die des Täufers hinausreicht. Die Gefangennahme des Johannes (1,14) illustriert zugleich, dass ein derartige Popularität keineswegs unregistriert bleibt und die Autoritäten zum Handeln herausfordert. Freilich hindert dieses Bedrohungsszenario Jesus nicht, eben jene Regionen aus der Menschen zu ihm herbeigeströmt kommen, seinerseits aufzusuchen.
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
gegen die pharisäischen Satzungen (V. 2: paravdosi~ tw`n presbutevrwn).385 Nachdem der Erzähler seinen Rezipienten diese Reinheitsvorschrift anhand unterschiedlicher Anwendungsbereiche erläutert und zugleich pauschalisierend auf alle Juden ausgeweitet hat (V. 3f.),386 wird der vermeintliche Verstoß von den Autoritäten explizit angesprochen (V. 5). Dass sich die Schriftgelehrten auf die Satzungen der Ältesten berufen, nimmt Jesus nun zum Anlass, die Gültigkeit dieser Regelungen prinzipiell in Frage zu stellen. Der Vorwurf lautet, dass die religiösen Autoritäten ihre eigenen Satzungen missbrauchten, um Gottes Gebot auszuhöhlen und zu verlassen (V. 8). Aus diesem Grund muss der Aufruf zur peniblen Einhaltung solcher Satzungen als Heuchelei bzw. Schauspielerei bezeichnet werden. Die Autoritäten werfen anderen einen Gesetzesbruch vor, den sie durch ihre eigenen Menschengebote (V. 7) und Menschensatzungen (V. 8) geradezu systematisch betreiben. Um die Rezipienten von seinem Standpunkt zu überzeugen und den Anspruch pharisäischer Satzungen zurückzuweisen, greift der markinische Jesus in der Folge auf den Korban-Schwur zurück (V. 10–12). Dieser erlaube es den Pharisäern, das Gebot der Elternehrung (Ex 20,12; Dtn 5,16) zu umgehen.387 Der mit der Elternehrung gegebene Themenwechsel ist hierbei keineswegs unlogisch oder als Ergebnis einer längeren Textgenese abzutun. Vielmehr lässt sich dieser Gesprächsverlagerung eine rhetorische Funktion zuschreiben. Der Korban-Schwur, bei dem man seinen Eltern das Eigentum entzog, indem man es als Opfergabe dem Tempel weihte, war im Judentum zwar durchaus verbreitet, aber alles andere als unumstritten. 388 Es handelt 385
Auch außerhalb des Markusevangeliums wird auf eine solche Überlieferung als Kennzeichen der Pharisäer hingewiesen (vgl. Jos. Vit. 191; Gal 1,14). Vor allem die Sadduzäer kritisierten diesen Satzungen (Jos. Ant. 13,408f.; 13,297f.), wobei sich ihre Kritik wohl nicht nur auf die mündliche Überlieferung bezog, sondern zugleich auf die offenkundigen Widersprüche zum Wort der Tora (mit MASON, Josephus, 240–243). 386 Diese Aussage wirkt historisch kaum plausibel, weil sich kaum eine entsprechende Praxis für alle religiösen Gruppierungen nachweisen lässt. GUTTENBERGER, Gottesvorstellung, 141 übersetzt aus diesem Grund ÆIoudai`oi mit Judäer und bezieht den Begriff damit auf eine spezifische Bevölkerungsgruppe. So werde ÆIoudai`oi nur von Pilatus und den Soldaten (15,2.9.12.18) auf ganz Israel bezogen, während der Erzähler ihn präziser gebrauche. Außerdem lege sich diese Begriffskonnotation durch den Kontext – insbesondere die Erwähnung einer Jerusalemer Delegation in V. 1 – nahe. M.E. reichen diese Indizien jedoch nicht aus, um von einer bewussten Leserlenkung zu sprechen. Naheliegender ist es, dass durch die Ausweitung des Gebots auf alle Juden die Relevanz des nachfolgenden Gesprächsgangs betont werden soll. An einer historischen Darstellung ist Markus nicht interessiert. Außerdem löst eine regionale Eingrenzung noch keineswegs das Problem, weil sich auch für die spezifische Region Judäa kaum eine einheitliche Sitte behaupten lässt. 387 Jesu Vorwurf wirkt umso schwerer, als unter Rückgriff auf Ex 21,17 eine Todesdrohung ausgesprochen wird. 388 Der Schwur ist auch in der Mischna bezeugt (vgl. MNed 5,6; MNed 5,5; MBQ 9,10). Allerdings wird v.a. in MNed 9,1 das Problem der sozialen Unverträglichkeit gesehen. Gerade deshalb wird hier die Möglichkeit geschaffen, zumindest ein im Affekt gesproche-
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
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sich um eine Regelung, die in einem offensichtlichen Konflikt mit der überaus hochgeschätzten und für den gesellschaftlichen Zusammenhalt immens wichtigen Elternehrung stand (vgl. Mk 10,19 389).390 Die rechtlich legitimierte Umgehung der Elternehrung diente letztlich ausschließlich der Jerusalemer Tempelverwaltung. 391 Somit greift der markinische Jesus beispielhaft eine Satzung auf, die nicht nur unter den intendierten Rezipienten des Markusevangeliums, sondern sogar innerhalb des Judentums Widerspruch erzeugen konnte. Erweist sich die väterliche Satzung aber in diesem Punkt als problematisch und wird durch den Korban-Schwur tatsächlich das vierte Gebot zum Vorteil der Jerusalemer Autoritäten umgangen, so muss der Rezipient auch der weiteren Schlussfolgerung Jesu zustimmen: der autoritative Anspruch der pharisäischen Satzungen ist insgesamt zurückzuweisen, weil ihre Satzungen tatsächlich eine systematische Aushöhlung der göttlichen Gebote ermöglichen. An diesem Punkt des Argumentationsverlaufs steht fest, dass nach Jesu Meinung das Gesetz des Mose nicht nur einen Vorrang vor den Satzungen der Ältesten hat, sondern dass vielmehr der Anspruch, den die Schriftgelehrten unter Berufung auf ebendiese Satzungen erheben, abzulehnen ist. Damit ist aber die eigentliche Ausgangsfrage nach Reinheit oder Unreinheit beim Essen noch nicht beantwortet. Vielmehr sieht ja gerade das Gesetz des Mose entsprechende Reinheitsvorschriften vor, wenngleich sich diese nicht auf das Händewaschen, sondern vorrangig auf den Verzehr bestimmter Tiere (Lev 11,1–47; Dtn 14,3–21), deren Vermischung (Ex 23,19; 34,26; Dtn 14,21; vgl. mHul 8,4; bHul 115b) oder den Blutgenuss (Gen 9,4; Lev 3,17; 7,26f.; 17,10–14; 19,26; Dtn 12,16.23; Hes 33,25) beziehen. Wenn Jesus die ursprüngliche Streitfrage nun ausweitet, um die Ansicht einer äußerlichen Verunreinigung gänzlich zurückzuweisen und der Erzähler – in Übereinstimmung mit der frühchristlichen Überlieferung 392 – dahingehend deutet,
nes Gelübde wieder aufzulösen. Auf MNed 9,1 weist schon DSCHULNIGG, Markusevangelium, 205 hin, ohne allerdings die pragmatische Funktion des Jesuswortes näher zu beschreiben. 389 Hier erhält das Gebot gerade durch seine Endstellung eine besondere Aufmerksamkeit. 390 Vgl. etwa Phil. decal. 51, 107–110 u. 120; her. 181; spec. 2,225. Auch außerhalb des Frühjudentums war es ein hoher Wert, die Eltern zu ehren (vgl. BERGER, Gesetzesauslegung, 285f. [zur Stoa]). 391 Aus diesem Grund lässt sich durchaus von einer subtilen Kritik an der anwesenden Gruppe der Jerusalemer Autoritäten sprechen (so bereits SARIOLA, Gesetz, 60; HORSLEY, Hearing, 170). 392 Vgl. Gal 2,11–21; Röm 14,14–17; 1Kor 8,1–13; 10,23–11,1; vgl. auch Tit 1,15. Gerade deshalb besteht keine Notwendigkeit, den Erzählerkommentar für eine nachmarkinische Glosse zu halten (so z.B. die Erwägung bei HAENCHEN, Weg, 264). Ein textkritisches Indiz hierfür fehlt ohnehin!
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
dass Jesus alle Speisen für rein erklärt habe (V. 19b),393 so stellt sich automatisch die Frage nach der Autorität Jesu. Dies gilt umso mehr, als die alttestamentlichen Speisevorschriften auch in der zwischentestamentarischen Literatur und darüber hinaus anerkannt waren (Dan 1,8–16; 1Makk 1,48.62; 2Makk 5,27; 6,19; 4Makk 1,32–35; Jdt 12,1–4; JosAs 7,1; Jub 6,7.12–14; 22,16; TesLev 9,13; Arist 144–154.161–168; CD 12,8–15; Phil. spec., 4,97–118; Jos. Ant. 3,259f.) und im Aufeinandertreffen mit den Heidenvölkern ein zunehmend wichtiges Identitäts- und Abgrenzungsmerkmal darstellten.394 Einige Exegeten wollen nun deutliche Parallelen zwischen Jesu Argumentation und einer in der frühjüdischen Literatur erkennbaren Neuinterpretation alttestamentlicher Reinheitsvorschriften erkennen. 395 Tatsächlich können bereits im Alten Testament die Reinheitsgebote zugleich oder sogar vorrangig auf das Innere des Menschen bezogen werden (vgl. Jer 33,8; Hes 36,25–28; Ps 51,4.9.12; Prov 20,9; Phil. spec. 208f. [zu Num 19,22]).396 Trotzdem stellen Jesu Worte eine anstößige Zuspitzung dar, weil hier der verunreinigenden Kraft des Äußeren prinzipiell widersprochen wird. Pointiert verkündigt er dem Volk (V. 15a), dass „es nichts gibt (oujdevn ejstin), was von außen in den Menschen hineinkommt, dass ihn unrein machen könnte (o} duvnatai koinw`sai aujtovn).“ Selbst wenn man diese Aussage – historisch betrachtet – als Weiterführung einer bereits alttestamentlich und frühjüdisch gegebenen Aufwertung des Inneren begreifen wollte, so stellt sich im konkreten Erzählverlauf des Markusevangeliums die Frage, mit welcher Autorität Jesus dies verkündigen kann. Hatte er nicht gerade erst die Hybris und Heuchelei der Pharisäer entlarvt und dabei auf den falschen Anspruch menschlicher Satzungen verwiesen? Mit welchem Recht kann er nun seinen eigenen Standpunkt 393
Manche Exegeten wollen kaqarivzwn auf ajfedrw`na zurückbeziehen (so z.B. HAENCHEN, Weg, 264f.). Dass wäre aber nicht nur eine äußerst „primitive“ Begründung, wie Haenchen selber bemerkt, sondern verkennt völlig den vorherigen Argumentationsverlauf und die Notwendigkeit, auf die eingangs gestellte Frage nach Reinheit und Unreinheit eine verbindliche Antwort zu geben. 394 Alle Untersuchungen der neueren Zeit weisen darauf hin, dass den Speisegeboten eine hohe Relevanz bei der Abgrenzung von der paganen Umwelt zugeschrieben wurde. Schon in der antiken Literatur (Tac. hist. 5,4,1–5,5,2) werden die Speisegesetze neben anderen boundary markern genannt. MAYER, Lebensnorm, 308f., der die Forschungsdiskussion seit Sanders bündelt und die Belege einer erneuten Prüfung unterzieht, nennt als herausragende Kennzeichnen die Endogamie, die Beachtung des Kalenders (Sabbat, Feste), die Einhaltung von Speisegeboten sowie den Tempelkult. Allerdings merkt auch er an, dass sich v.a. im außerpalästinischen Bereich ein gewisses Variationspotenzial erkennen lässt (MAYER, Lebensnorm, 310). 395 Vgl. hierzu ausführlich STEGEMANN, Speisegesetze, 29–51. 396 Hier ist eine Analogie zu Jesu Verkündigung gegeben, insofern auch dieser die aus dem Inneren des Menschen entspringenden bösen Gedanken und Taten als die eigentliche verunreinigende Macht ansieht und derartige Taten in einem Lasterkatalog zusammenfasst (V. 20–23).
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
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über das Gesetz des Mose erheben? M.E. lässt sich dieser Widerspruch nur dadurch lösen, dass Jesus für sich gerade keine menschliche Autorität beansprucht, sondern eine Autorität, die letztlich sogar über dem Gesetz des Mose steht. Seine „Satzungen“ sollen gerade nicht als menschliche Rede betrachtet werden. Vielmehr sollen die Rezipienten anerkennen, dass Jesus auf legitime Weise den Standpunkt bzw. Willen Gottes vertritt, ja dass Jesu Lehre den Standpunkt des Schöpfers überhaupt erst angemessen zur Sprache bringt. Hierzu passt die vom Erzähler gebotene Zusammenfassung, nach der Jesus durch seine Worte alle Speisen für rein erklärt habe (7,19b: kaqarivzwn pavnta ta; brwvmata). Rückblickend erweist es sich als notwendig, dass die durch das Verhalten der Jünger ausgelöste Reinheitsfrage von Jesus beantwortet wird und nicht von den Jüngern selber. Die alttestamentlichen Reinheitsvorschriften lassen sich nur unter Berufung auf eine göttliche Autorität umdeuten bzw. außer Kraft setzen. Es handelt sich um eine Legitimation, die sich die Gemeinde gerade nicht selber geben kann und die nicht einmal den Jüngern bzw. späteren Aposteln als Autoritätsträgern zusteht. Jesu göttliche Vollmacht spiegelt sich bereits in den anfänglichen Streitgesprächen wider, die im Sinne eines Primäreffekts die Wahrnehmung des markinischen Jesus entscheidend beeinflussen. Rekapitulieren wir an dieser stelle noch einmal die Ergebnisse der zurückliegenden Analyse (vgl. Kap. 4.2.2f), so lässt sich mit Jesu Sündenvergebung (2,5b.10) bereits im Zuge der ersten Auseinandersetzung ein größtmöglicher Anspruch erkennen, insofern die Sündenvergebung alttestamentlich betrachtet eine Prärogative Gottes darstellt (Ex 34,6f.; LXX Ps 129,3f.; Jes 43,25; 44,22).397 Vor diesem Hintergrund erscheint der Blasphemievorwurf der Autoritäten und die Reaktion der Zeugen 398 durchaus nachvollziehbar. In 2,23–28 rechtfertigt Jesus seinen Bruch der Sabbathalacha399 (V. 23), der erneut für eine verständliche Empö397 Mit GNILKA, Evangelium II/1, 100; HOFIUS, Vollmachtsfrage, 68; ZIMMERMANN, Mk 2,1–12, 243. 398 „So etwas haben wir noch nie gesehen (oujdevpote ei[domen)!“ Dass sich diese Aussage allein auf die Heilung des Gelähmten bezieht, ist angesichts der Vielzahl antiker Heilungsberichte unwahrscheinlich. Die Heilung eines Gelähmten bliebe erstaunlich, wäre aber keineswegs einzigartig. Die Aussage kann sich daher nur auf die Heilung (V. 11f.) als Ausdruck der zuvor zugesprochenen – und aus der Sicht der Autoritäten blasphemischen – Schuldvergebung beziehen. 399 Vgl. DOERING, Schabbat, 409–431. Inwieweit das Ährenraufen bei einer liberalen Auslegung des Sabbatgebots – insbesondere in einer Notsituation – erlaubt war, wird in der Exegese vielfach diskutiert (vgl. SCHALLER, Sabbat, 10f.). Solche Ausnahmeregelungen sind für die markinische Erzählung aber gerade nicht geltend zu machen, weil Jesus und seine Jünger keineswegs Hunger leiden und Markus im Hinblick auf die religiösen Autoritäten ein durch und durch stereotypes Figurenporträt anstrebt. Innerhalb der markinischen Erzähllogik ist es gerade nicht denkbar, dass sich die Autoritäten als liberal erweisen. Sein Bild von den Autoritäten ist nicht historisch differenziert, sondern leitet sich ganz offensichtlich aus der eigenen Gemeindeerfahrung und Konfliktsituation ab.
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
rung sorgt, durch einen Verweis auf seine David gleiche, königliche Würde (V. 25f.). Durch die nachfolgenden Logien in V. 27 und V. 28 inszeniert sich der markinische Protagonist nicht nur als autoritativer Ausleger von Gen 1, sodern zugleich als Herr über den Sabbat.400 In 3,1–6 erlaubt Jesuse nicht nur das Heilen am Sabbat, sondern fordert es durch seine rhetorische Frage (V. 4) ein. Trotz des offensichtlichen Widerstands der Autoritäten stellt er die Bedürfnisse des Einzelnen über die rein formale Sabbatheiligung. Auch 2,13–17 und 2,18–22 versinnbildlichen auf ihre Weise die neue Ordnung, die sich mit Jesu Gekommensein und seiner Gegenwart verbinden. Jesu Tischgemeinschaft mit den Sündern und Zöllnern und die Ausrufung eines Hochzeitsfestes, das sich nicht mit einer aktuellen Einhaltung der pharisäischen Fastenpraxis in Einklang bringen lässt, sind so unvereinbar mit dem Weltbild der religiösen Autoritäten, wie ein neues Tuchstück, das auf ein altes Kleidungsstück genäht werden soll oder ein neuer Wein, der durch alte Schläuche geleitet werden soll (2,21f.). So „neu“ und anstößig Jesu Forderungen und Verhaltensweisen den religiösen Autoritäten erscheinen, so sehr ist sich der Rezipient im Klaren darüber, dass gerade diese neue Ordnung im Einklang mit dem Willen Gottes, des Schöpfers steht.401 Demonstrieren die anfänglichen Konfliktsituationen Jesu Vollmacht und seinen Anspruch, den Willen Gottes letztgültig zur Sprache zu bringen, so lässt sich dies auch auf die weiteren Begegnungen mit den Autoritäten und die folgenden Streitgespräche übertragen.402 So erhebt sich Jesus in zahlreichen Konfliktsituationen autoritativ über die Tora und die hiermit begründeten Reinheits- und Sabbatgebote sowie deren praktische Realisierung im Pharisäismus. Dies schließt umgekehrt keineswegs aus, dass sich der Sohn Gottes an anderer Stelle explizit auf die Autorität der Heiligen Schriften berufen kann (11,15–18; 12,18–27; 12,28–34). Es handelt sich hierbei keineswegs um eine unbeabsichtigte Inkohärenz. Viel verwunderlicher wäre es, wenn sich der Sohn, der seine Vollmacht vom Vater ableitet und der dessen Willen zur Sprache bringen will, ausschließlich in Abgrenzung zum Gesetz des Mose und zum Wort der Propheten definieren und profilieren würde. Nicht die Kritik an den Heiligen Schriften steht im Mittelpunkt der jesuanischen Lehre und der markinischen Erzählung, sondern allein die Verwirklichung des le400
Mit GNILKA, Evangelium II/1, 124; SCHOLTISSEK, Vollmacht, 178; VAN IERSEL, Mark, 159. 401 So bereits GUTTENBERGER, Gottesvorstellung, 132f.: „Mit Jesus wird etwas Altes von einer neuen Ordnung abgelöst; diese neue Ordnung ist ihrerseits im Urgeschehen der Schöpfung begründet.“ 402 Vgl. hierzu die ausführliche Analyse bei LÜHRMANN, Pharisäer, und das entsprechende Fazit (182): „Das Thema der Auseinandersetzung Jesu mit den Schriftgelehrten ist bei Mk also vom Beginn (1,22; 2,6) bis hin zum bitteren Ende im Prozeß (14,55–64) und in der Verspottung des Gekreuzigten (15,31f.) die Frage der ejxousiva Jesu und damit die Frage seiner Messianität.“
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
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bensförderlichen Gotteswillens. Ebendiesen bringt Jesus trotz aller Anfeindungen und Nachstellungen zu Gehör und setzt ihn in die Tat um. b. Wahrnehmung (Wichtigkeit: *****): Bereits in der Anfangszeit Religionsgeschichtlicher Betrachtungen wurde im Hinblick auf den markinischen Jesus bemerkt, dass sich dieser durch eine außerordentliche Wahrnehmungsfähigkeit auszeichne.403 Tatsächlich lässt sich – wie bereits im Zuge der Perspektivenanalyse gesehen – festhalten, dass sich der markinische Jesus der diversen Sichtweisen auf seine Person bewusst ist.404 Er kann in die Herzen anderer Figuren schauen und erkennt ihre Gedanken bzw. ihre nichtöffentlich geäußerten Meinungen und Überzeugungen (2,8; 3,5; 3,22[?] 405; 12,15). Eine Fähigkeit, die vom Erzähler durch Einblicke in Jesu Gedanken und Gefühle oder mittels zitierter Figurenrede zur Sprache gebracht wird. Häufig lässt bereits das Verhalten Jesu darauf rückschließen, dass er um die Absichten und Lebensumstände anderer Figuren weiß. In den meisten Streitgesprächen antwortet er nicht auf die eigentliche Ausgangsfrage, sondern verblüfft seine Gegner mit durchaus überraschenden – und zugleich in der Heiligen Schrift oder seiner eigenen Autorität gründenden – Antworten, die die Fragesteller und ihr intrigantes Verhalten entlarven (7,6–13; 10,3.5– 9;11,29f.; 12,16f.; 12,14–27). Über das vordergründig Gesagte ist er in der Lage, die eigentliche Intention seiner Gegner und anderer Figuren zu erkennen. Aufgrund dessen scheint er den anderen Figuren überlegen zu sein. Augenscheinlich wird dies etwa in der Begegnung mit dem Reichen Jüngling. Hier lässt Jesu unerwartete Aufforderung zum Besitzverzicht erkennen, dass er den Wohlstand des Mannes erkannt hat (10,21). Eine Information, die in der vorherigen Erzählung gerade nicht geboten wurde, die vom Erzähler jedoch nachträglich bestätigt wird (10,22; = Informationsverdoppelung) und für das Verständnis der Erzählung grundlegend ist. Auch Jesu Flucht an den See (3,7) lässt sich aufgrund der unmittelbaren Handlungsabfolge als Reaktion auf den eigentlich geheimen Mordplan der religiösen und politischen Autoritäten begreifen (3,6).406 Hierdurch sowie durch das bereits zuvor artiku-
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Vgl. etwa REITZENSTEIN, Mysterienreligionen, 12. Ähnlich MALBON, Mark’s Jesus, 125: „Jesus is aware of the varying responses to his words and actions – from the responses of eager suppliants to those of agitated opponent.“ 405 Das verbum dicendi und die Zitatreihung (vgl. 6,1–3) sind hier wohl eher als Indiz für eine öffentliche und laut artikulierte Verleumdung zu deuten. Die Schriftgelehrten zeigen sich zwar ansonsten eher zurückhaltend und artikulieren ihre Kritik gerade nicht öffentlich (vgl. 4.2.2c), aber die konkreten Indizien für einen inneren Monolog bzw. einen Dialog im Verborgenen sind in 3,22 vergleichsweise gering. Es scheint hier so, als habe Markus die beobachtete Inkohärenz innerhalb des Figurenmodells nicht näher reflektiert. 406 Zugleich erfüllt Jesus durch das Verlassen Kapernaums seinen Sendungsauftrag und weicht dem Konflikt mit den religiösen Autoritäten gerade nicht aus. Vielmehr kommt es 404
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
lierte Wissen um sein bevorstehendes Leiden (2,20) wird Jesus als handlungsmächtiger Akteur dargestellt, der keineswegs den Intrigen der Mächtigen ausgeliefert ist, sondern sich zur bestimmten Zeit selber in deren Hände übergibt und damit dem Ratschluss und Willen Gottes folgt (vgl. 4.2.2a). Die intendierten Rezipienten werden all diese implizit vorauszusetzenden Wahrnehmungen Jesu zweifelsohne bemerkt haben, weil sie über den Erzählverlauf ausreichend Empathie zur Person Jesu aufbauen konnten407 und die Wahrnehmung Jesu ein durchaus handlungsrelevantes sowie zum Verständnis seines Verhaltens notwendiges Merkmal darstellt. Außerdem wird Jesus durch seine Wahrnehmungsfähigkeit gerade in einen Kontrast zu anderen Figuren gerückt. Dies gilt besonders für die Figurengruppe der Jünger, die „mit den Ohren hören und doch nicht verstehen“ und „mit den Augen sehen und doch nicht erkennen“ (4,10–12; vgl. 8,18). Ist die Wahrnehmung damit als wichtiges Merkmal Jesu erkannt, stellt sich die Frage, ob dessen Hervorhebung rein innerdiegetisch motiviert ist oder ob der intendierte Rezipient darüber hinaus zu einem externen Figurenvergleich angeregt werden soll. Kommt der besonderen Wahrnehmungsfähigkeit Jesu eine textexterne Verweisfunktion zu? Dies war letztlich die These der älteren Religionsgeschichte, die u.a. aufgrund dieses Figurenmerkmals eine Parallelität zu antiken Wundertätern erkennen wollte. Allerdings muss eine derartige Bezugnahme aufgrund der zu geringen Parallelität, Bezeugungsbreite und Erinnerungsnähe sowie des konstruktiven Charakters eines entsprechenden Figurenschemas zurückgewiesen werden (vgl. Kap. 3.2.1). Um die externe Verweisfunktion dieses Figurenmerkmals zu erkennen, scheint mir eine Episode von Relevanz zu sein, in der die Wahrnehmungsfähigkeit Jesu über das ansonsten Berichtete hinaus gesteigert wird. Es handelt sich dabei um jene Episode in 6,45–52, die sich bereits aufgrund ihrer äußeren Form als Theophanieerzählung zu erkennen gibt. In die entsprechende Theophanie- und Rettungsmotivik – a) Gottes Erscheinen vom Berge her (Dtn 33,2; Ri 5,4f.; Hab 3,3); b) Gottes Schreiten über das Wasser (Ps 77,20; vgl. Hi 9,8; 38,16); c) Gottes Herrlichkeit, die am Volk bzw. an den Theo-
bereits in 3,22–30 mit dem Beelzebul-Vorwurf und durch das Hinzutreten der Jerusalemer Autoritäten (V. 22) zu einer erneuten Konfrontation (vgl. auch 7,1–13). 407 Von den acht Faktoren, die den Aufbau von Empathie begünstigen, treffen alle auf den markinischen Jesus zu: (1) Der Erzähler gewährt seinen Rezipienten eine vergleichsweise hohe Innensicht; (2) Jesus ist häufiges Wahrnehmungszentrum; (3) durch die häufige Wiedergabe wörtlicher Rede ist die sprachliche Distanz gering; (4) Jesus ist immer wieder Gegenstand von Figuren- oder Erzählerkommentaren (z.B. 7,19b); (5) abgesehen von 1,4– 8, 6,17–29 und 16,1–8 ist Jesus immer als Handlungsakteur präsent; (6) ihm kommt die größte Bedeutung für den Fortgang der Handlung zu; (7) er erweist sich aufgrund seiner Figurenmerkmale als besonders komplexe Figur (s.u.); (8) seine Erlebnisse und sein Handeln betreffen die Rezipienten existentiell.
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
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phaniezeugen vorüberschreitet408 (Ex 33,19.22; 34,5f.; 1Kön 19,11); d) Gottes Selbstvorstellungsformel mh; fobei`sqe409 (Gen 26,24; 28,15; Jes 41,10; 43,5; Jer 1,8.19); e) Gottes Offenbarungsformel410 ejgwv eijmi (Ex 3,14; Jes 43,1–3.10f.); f) Gottes heilvolles Eingreifen am Morgen 411 (Ex 14,24.27; 2Kön 19,35; Jes 17,14; 29,7f.; 33,2; 37,36; Ps 46,6; Klgl 3,22f.; JosAs 14,1f.412; Jos. Vit. 3,14–16; LibAnt 42,3); g) Gottes Macht über die bedrohlichen Chaosmächte des Meeres (Hi 9,5–10; Ps 93,1–4; 94,12f.) – fügt sich auch Jesu „Sehen“ ein (V. 48a). Dabei lässt sich keineswegs von einem unbedachten Nebeneinander von Rettungs- und Theophaniemotivik sprechen,413 sondern in Jesu Fähigkeit, die Not aus der Ferne zu sehen und heilvoll einzugreifen, erweist sich gerade seine Einzigkeit und Einheit mit Gott. Es soll hierdurch verdeutlicht werden, dass Gott in der Person Jesu heilvoll eingreift. Das Erzählte soll nicht Jesu herausragende Sehstärke illustrieren, sondern vielmehr den Blick der Rezipienten für die wahre Identität Jesu schärfen. Kann Gott v.a. von den Psalmbetern aus der Ferne angerufen werden, um zur Hilfe zu eilen (Ps 22,11; 35,22f.; 71,12), so wird nun von Jesus ein ebensolches Eingreifen erzählt: Er bleibt in der Not nicht abwesend, sondern kommt aus der Ferne zur Rettung und lässt sich dabei von keiner Handlungsgrenze aufhalten. Weder See und Wind noch die dahinterstehenden Chaosmächte 408
Dass sich insbesondere dieses Ereignis als inkohäsiv erweist, wird in der Forschung immer wieder bemerkt. Alle Versuche, diese Aktion aus einer hintergründigen Motivation Jesu zu erklären oder den Begriff parevrcesqai entgegen seiner formgeschichtlichen Verhaftung zu verstehen, vermögen abernicht zu überzeugen (gegen DU TOIT, Der abwesende Herr, 97 Anm. 145: „Das Wort parevrcesqai muss hier in seiner Bedeutung ‚erreichen, hinzukommen‘ verstanden werden). Hat Matthäus diese Aussage gestrichen (Mt 14,25), so spricht dies gerade gegen einen solch geglätteten Wortsinn. Naheliegender ist es, dass den Rezipienten das Vorübergehen als inkohäsives Element auffallen sollte und gerade deshalb über das vordergründig Erzählte hinaus verweist. Zugleich ist anzumerken, dass sich auch andere Motive als inkohäsiv erweisen: Warum sollte Jesus plötzlich einen „Berg“ aufzusuchen? Dass er sich ausgerechnet hierher zurückzieht, um Ruhe zu finden, scheint wenig plausibel. Warum lässt es Jesus zu, dass sich seine Jünger die ganze Nacht abmühen, wenn er ihre Not frühzeitig sieht? 409 Auch hier reicht esnicht, dieses Wort als logische Antwort auf die Furcht der Jünger und als „Aufforderung zu Furchtlosigkeit“ zu verstehen (so DU TOIT, Der abwesende Herr, 98f. Anm. 149). 410 Vgl. ZIMMERMANN, EGW EIMI; BECKER, „Ich bin“-Formel. Dass diese Worte nur als Rekognitionsformel zu verstehen sind, d.h. dass die Jünger lediglich darauf aufmerksam gemacht werden, dass es der ihnen bekannte „Jesus“ ist, der sich nähert (so DU TOIT, Der abwesende Herr, 99), scheint mir dem Text nicht gerecht zu werden. Warum sollten die Rezipienten diese Worte entgegen ihrer kulturell geprägten Bedeutung verstehen? 411 Mit der vierten Nachtwache wird das letzte Viertel der Nacht und damit der Zeitraum vor dem Morgengrauen beschrieben. 412 Mit der Mehrheit heutiger Exegeten datiere ich die Schrift auf das 1. Jhdt. n. Chr. (vgl. zur Datierungsfrage ausführlich VOGEL, Einführung, 12–14). 413 So bereits BULTMANN, Geschichte, 231.
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
oder der offensichtliche Unglaube der Jünger können den Sohn Gottes aufhalten.414 Dass das Thema der Ab- bzw. Anwesenheit Jesu im Mittelpunkt des Erzählten steht, wird schon in der Einleitung (V. 45–48) durch die Erwähnung räumlicher Gegensätze (Berg/See bzw. Land/See) sowie die Distanzierung der Jünger (hjnavgkasen tou;~ maqhta;~ [...] proavgein/ajpotaxavmeno~ aujtoi`) deutlich. Den Jüngern kommt ihrerseits die Funktion einer Kontrastfigur zu. Während die Rezipienten aufgrund der Motivfülle auf Jesu Einheit mit Gott verwiesen werden, erkennen die Jünger im seewandelnden Jesus nur ein favntasma, d.h. ein Gespenst.415 Obwohl Jesus schon zuvor Wind und Wellen beherrscht hatte (4,35–41), zeigen sie sich angesichts seiner Vollmacht erneut entsetzt. Eine Wahrnehmung und ein Verhalten, das der Erzähler explizit als Unverständnis und Herzensverhärtung geißelt (V. 52). Lässt sich der Unglaube an der Verkennung Jesu und seiner Vollmacht festmachen, so reicht es nicht, Jesus als gegenwärtigen Boten der neuen Gottesherrschaft zu begreifen.416 Was die Jünger in der Begegnung hätten wahrnehmen können, wäre die Gegenwart Gottes in Jesus gewesen.417 Das heißt aber nichts anderes als eine Einheit zwischen Gott und Jesus, die zugleich Jesu Einzigkeit begründet. Dass an einigen Stellen im Markusevangeliums von einer – allem Anschein nach – eingeschränkten Wahrnehmungsfähigkeit Jesu erzählt werden kann, lässt sich kaum als Inkohärenz begreifen. Vielmehr erklären sich diese 414
Im Vergleich zur ersten Sturmstillung (4,35–41) bedient sich Jesus nicht einmal eines Scheltwortes. Der Kontrast zwischen dem stundenlangen Treiben des Sturmes und der sofortigen Ruhe, die bei Jesu Betreten des Bootes einkehrt, könnte kaum größer sein. Dies verdeutlicht die Überlegenheit Jesu auf besondere Weise. Dass die Rezipienten eine Verknüpfung zwischen 6,45–52 und 4,35–41 herstellen konnten und sollten, ergibt sich aus den zahlreichen Parallelen: (1) identische Figurenbesetzung (Jesus, Jünger); (2) Thematik der Abwesenheit (Schlaf, physisch); (3) gleicher Aktionsraum (Boot, „Meer“); (4) gleiche Handlungsgrenze/Gegner (Sturm, Wellen); (5) gleiche Reaktion der Jünger (Furcht, Unverständnis, kein Glaube); (6) Thematik der Identität Jesu. 415 Ausdrücklich wird die Verwechslung auf Jesu „Wandel auf dem Meer“ zurückgeführt (ijdovnte~ aujto;n ejpi; th`~ qalavssh~ peripatou`nta e[doxan o{ti favntasmav ejstin). Nicht nur in den Tragödien des 5. Jhdt. v. Chr. (vgl. z.B. Aeschyl. Pers. 354 u. 681–690; Eum. 94–139; vgl. auch Plat. Phaid. 81) finden sich zahlreiche Schilderungen von Geistererscheinungen, sondern auch in den griechischen Zauberpapyri (vgl. PGM 4,2701; 7,579), bei Plutarch (Plut. Dio. 2,2–4) oder mit einem polemischen Unterton bei Lucian (Lucian. Philopseud. 29); vgl. auch Sap 17,13f. Der markinische Text scheint diese Vorstellungswelt aufzugreifen, insofern Geistern durchaus vergleichbare übernatürliche Fähigkeiten zugesprochen wurden. Bei Josephus bezeichnet favntasma hingegen zumeist Visionen und Traumgesichte (vgl. Jos. Ant. 2,82; Bell. 3,353) oder auch Engelserscheinungen (Ant. 1,331 u. 333 [Der Engel Gottes am Jabbok]). 416 So DU TOIT, Der abwesende Herr, 99. 417 Mit SCHENKE, Literarische Eigenart, 178: „Die Jünger könnten längst zur Einsicht gekommen sein, dass ihnen in Jesus Gott begegnet, wenn sie nur ihr Herz sprechen ließen.“
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
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Ausnahmen wiederum vor dem Hintergrund entsprechender Genrevorgaben (10,51: Audienzbericht418) oder es handelt sich um eine erzählerische Verzögerung, durch die die Wahrnehmungsfähigkeit letztlich sogar betont werden soll. Wenn Jesus in 5,30 nachfragt, wer ihn im Gedränge berührt habe, so verweist dies nicht auf seine mangelnde Wahrnehmungsfähigkeit. Vielmehr wird explizit ausgesagt, dass Jesus trotz des Gedränges die heilenden Kräfte, die von ihm ausgeströmt sind, bemerkt hat. Die Rückfrage der Jünger (V. 31) stellt die Ungewöhnlichkeit solch einer Wahrnehmungsfähigkeit heraus. Jesu gesteigerte Wahrnehmungsfähigkeit wird aber auch dadurch veranschaulicht, dass er sich im weiteren Erzählverlauf umschaut und explizit die (Frau) sieht, die dies getan hat (perieblevpeto ijdei`n th;n tou`to poihvsasan). Mittels erlebter Rede wird hier Jesu uneingeschränkte Kenntnis vermittelt. Nur aufgrund dieser gesteigerten Wahrnehmungsfähigkeit wird letztlich auch verständlich, warum Jesus abschließend vom Glauben der Frau und ihrer Gesundung von der Plage sprechen kann (V. 34: mavstix). Doch wie verhält es sich mit den Kreuzesworten Jesu (15,34)? Lassen diese nicht sehr wohl eine eingeschränkte und allzu menschliche Wahrnehmung des Protagonisten erkennen? Einerseits lassen sich Jesu Kreuzesworte durchaus als intertextuelle Referenz verstehen (Ps 22,2) und rufen dann – zusammen mit den vorherigen Anspielungen des Passionsberichtes (Ps 22,19; vgl. Mk 15,24/ Ps 22,8; vgl. Mk 15, 29f.31f.) – Psalm 22 in Erinnerung.419 Andererseits wird durch Jesu Schrei festgehalten, dass der Sohn tatsächlich von Gott ausgeliefert und dem Tod preisgegeben wird. Über den gesamten Verlauf des Kreuzigungsberichtes wird mit der theoretischen Möglichkeit eines himmlischen oder gar göttlichen Eingreifens gespielt und so Spannung erzeugt. Das göttliche Eingreifen bleibt jedoch aus und Jesus wird dem Spott der Beistehenden ausgeliefert. Wenn ihm unmittelbar vor seinem Sterben der mit Essig getränkte Schwamm gereicht wird, so wird hierdurch nicht allein auf einen weiteren Klagepsalm angespielt (Ps 68,22: kai; eij~ th;n divyan mou ejpovtisavn me o[xo~), sondern zugleich ein Rückbezug zum Missverständnis 418
Vgl. ECKSTEIN, Glaube und Sehen, 89–92 sowie BERGER, Formgeschichte, 313– 315; BERGER, Einführung, 76–84 sowie 149f. u. 224. 419 Vgl. GESE, Psalm 22, 16f. Anders als Gese meine ich jedoch, dass sich die Bezugnahme auf den Psalm erst aufgrund des textexternen Wissens der Rezipienten (= Textwissen; Wissen um Jesu Auferstehung) und damit von der Rezeption des Endtexts her nahelegt. Es ist dann aber weniger die hoffnungsvolle Wahrnehmung des Protagonisten, die hier zur Sprache kommt, sondern der nachösterliche Blick des Erzählers, der die Ereignisse bereits theologisch – unter Rückgriff auf die Heiligen Schriften und insbesondere den Psalter – deutet (vgl. dazu JANOWSKI, Konfliktgespräche, 355f). Dementsprechend ist es auch erst die Stimme des Erzählers, durch die Jesu Worte übersetzt und so verständlich vermittelt werden. Auch in der rabbinischen Tradition kann sich mit dem Psalm die Hoffnung auf Gottes Erhörung und Barmherzigkeit verbinden (vgl. O’BRIEN, Scripture, 148f. und dazu bYoma 29a; bMeg15b).
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
der Invokatio „Eloi, Eloi…“ – als eines Rufs nach Elia – hergestellt. „Die Tränkung verfolgt den Zweck, das Leben Jesu kurzfristig zu verlängern, um das Wunder zu ermöglichen.“420 Gerade indem das Wunder ausbleibt und sich somit die Erwartung der Beistehenden erfüllt, wird erzählerisch unterstrichen, in welch großer Hilflosigkeit Jesus stirbt. Erst in der Retrospektive, d.h. von der Auferstehung her (Mk 16,1–8), wird erneut deutlich werden, dass Jesus zwar dem Spott der Menschen preisgegeben wurde und Gott ihn sterben ließ, dass er sich aber gerade nicht als von Gott „Geschlagener“ oder „Gemarterter“ bezeichnen lässt. Gemäß Jes 53,4 ist er dies allein aus dem Blickwinkel seiner Ankläger sowie der Kreuzigungszeugen. Der Gekreuzigte hat hiervon zumindest eine Vorahnung. Ansonsten bliebe sein Rufen nach Gott eo ipso sinnlos. Zum anderen ist der Kreuzesschrei Jesu nicht einfach vom zuvor evozierten Figurenmodell zu lösen. Erzählwissenschaftlich ist hier – mit der Terminologie Schneiders (vgl. 2.3.2) – durchaus von einer Individualisierung des bisherigen Figurenschemas zu sprechen, aber keineswegs von einer Entkategorisierung bzw. Falsifizierung. Markus erkennt von Ostern her, dass Jesu Leben gerade mit allen Tiefen des Leidens von Gott umgriffen bleibt und kann so – im Unterschied zur johanneischen Darstellung (Joh 19,28–30) – auf eine Betonung der Souveränität Jesu verzichten. c. Gefühle (Wichtigkeit: ***): Wie in den meisten Erzählungen wird auch im Markusevangelium nur an einigen Stellen explizit auf die Gefühle der Figuren hingewiesen.421 Dies gilt auch für den markinischen Jesus: Mehrmals heißt es von ihm, dass er mit einzelnen Menschen (1,41) oder dem Volk (6,34; 8,2) Mitleid bzw. Erbarmen empfunden habe (splagcnivzesqai). In der Begegnung mit dem Reichen Jüngling wird gar erzählt, Jesus habe diesen lieb gewonnen (10,21: hjgavphsen). Andererseits kann Jesus in der Begegnung mit den religiösen und politischen Autoritäten auch Zorn spüren, betrübt sein (3,5) und in seinem Geist aufseufzen (8,12). Auf sich selbst und seine Passion bezogen zeigt sich Jesus in Gethsemane (14,33f.) nach außen als erschrocken und unruhig und deutet diese Reaktion dadurch, dass seine Seele bis zum Tode betrübt sei (perivlupov~ ejstin hJ yuchv e{w~ qanavtou422). Kommt hier-
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GNILKA, Evangelium II/2, 323. Ohne an dieser Stelle einen ausführlichen Vergleich mit antiken Erzählungen vorlegen zu können, scheint sich im Markusevangelium durchaus eine besondere Häufung solch expliziter Erwähnungen zu finden. Dies erklärt sich v.a. aufgrund der Häufigkeit der erzählten Wunder und des damit verbundenen Furchtmotivs (vgl. 1,22.27; 2,12; 4,41; 5,15 u. 20; 5,33; 5,42; 6,2; 6,20; 6,50 u. 51; 7,37; 9,6; 9,15 [vor Heilung!]; 10,24 u. 26; 10,32; 11,18; 12,17; 12,37b; 15,5; 15,44; 16,5 u. 8). 422 Hier als intertextuelle Referenz auf Ps 42,6 u. 12 und Ps 43,5 und damit wohl als Ausdruck erlebter Gottesferne. 421
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
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durch ein sehr starkes Gefühl der Verzweiflung zum Ausdruck, so korrespondiert damit das anschließende Niederwerfen.423 Auch an anderen Stellen kann und soll der intendierte Rezipient die Gefühle Jesu aus anderen Figurenmerkmalen oder aufgrund einer bestimmten Figurenkonstellation erschließen. So spiegelt sich in den allermeisten Heilungsberichten wider, dass Jesus Mitleid und Erbarmen empfindet. Der Rezipient kann darauf nicht nur aufgrund der anfänglich gegebenen, expliziten Information schließen (1,41), sondern er wird hierauf letztlich in nahezu jedem Heilungswunder verwiesen. Dies gilt auch für die beiden Episoden 7,24–30 und 10,46–52. Folgen diese beiden Begegnungen ihrer äußeren Form nach einer königlichen Audienzszene, so erklärt sich von hieraus, dass das Erbarmen erst aufgrund eines eindrücklichen Insistierens gewährt wird. Auch hier erkennt der intendierte Rezipient jedoch, dass Jesus von sich aus erbarmend ist und hierzu nicht erst umgestimmt werden müsste. Dass Jesus mit Juden und Heiden gleichermaßen Mitleid hat, wird gerade durch die in Mk 7,31–37 überlieferte Heilung eines Tauben und Stummen und das nachfolgende Speisungswunder bestätigt. Fragt man nach der hintergründigen Bedeutung dieses Erbarmens, so reicht es weder, hierin ein individuelles und situatives Gefühl Jesu noch ein typisches Merkmal frühjüdischer Messiaserwartungen zu erkennen. 424 Im Kontext bekannter Messiaserwartungen besitzt das Erbarmen jedenfalls keine nennenswerte Relevanz.425 Naheliegender ist es, dass die Rezipienten durch Jesu Erbarmen auf ein wesentliches Merkmal Gottes verwiesen werden. Eine Assoziation, die sich v.a. bei den beiden Speisungswundern (vgl. 6,34; 8,2) und dem hier gegebenen Bezug zu Hes 34 nahelegt.426 Dass sich die Vorstellung von Gott als dem Erbarmenden schlechthin auf eine breite Bezeugung stützen kann, dürfte angesichts der überaus zahlreichen Psalmbelege sowie der prophetischen Literatur (v.a. Jer; DtJes; Joel 2,13f.) kaum strittig sein. In der frühjüdischen Literatur (TestSeb 8,1f.; TestAbr 12) wird Gottes Erbarmen zu einem wesentlichen Kennzeichen seines eschatologischen Auftretens. Ein Gedanke, der auch Mk 5,19 zu Grunde zu liegen scheint (o{sa oJ kuvriov~ soi pepoivhken kai; hjlevhsevn se). Dass sich Jesus in den Heilungswundern und damit im Zuge einer zeichenhaften Realisierung der Königsherrschaft Gottes 423
„Vers 35a schildert, wie Jesus sich auf die Erde wirft. Im Unterschied zur Darstellung bei Matthäus und Lukas bezeichnet die markinische Formulierung [e[pipten ejpi; th`~ gh`~] keine Gebetshaltung, sondern macht seinen Gemütszustand anschaulich. Vgl. BROWN, Death I, 165.“ (GUTTENBERGER, Gottesvorstellung, 192 Anm. 30). 424 So z.B. KÖSTER, Art. splavgcnon, 554. 425 Wohl verbindet sich mit dem Kommen mancher Messiasgestalt die Vorstellung eines göttlichen Erbarmens, dass sich der Messias selber als der Erbarmende erweist, ist aber m.W. außerhalb des Neuen Testaments nicht belegt und entspricht auch nur bedingt der frühjüdischen Vorstellung eines irdischen Boten Gottes. 426 Vgl. hierzu ausführlich 4.3.2b.
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
als Erbarmender zeigt (vgl. auch 1,41), fügt sich gut in diesen Vorstellungshintergrund ein. Markus lässt Jesus „in der Rolle Gottes selbst als eschatologischen Heiland handeln.“427 Auch auf Jesu Ärger bzw. Zorn gegenüber den Autoritäten kann der Rezipient über die expliziten Stellen hinaus rückschließen. Wichtige Anhaltspunkte dafür sind, dass Jesus Einblick in die Herzen seiner Gegner hat, damit um ihre Intrigen weiß und als Konsequenz hieraus immer wieder ungehalten bzw. harsch antwortet. So konfrontiert Jesus die Autoritäten direkt mit ihrer Schauspielerei und Gottlosigkeit428 (7,6; 12,15) oder spricht den Sadduzäern explizit eine Kenntnis der Schrift429 und der Kraft Gottes ab (12,24). Im Kontrast hierzu kann sich Jesus über die verständige Antwort eines Schriftgelehrten freuen und ihn so ermutigen (12,34). Von Zorn oder Verachtung ist auch im Kontext von 14,43–49 zu sprechen, wobei sich sein Ärger nicht auf die eigentliche Gefangennahme bezieht – um die Jesus ohnehin weiß –, sondern darauf, dass die Gesandten der religiösen Autoritäten ihn wie einen Räuber behandeln und mit Schwertern und Knüppeln bedrohen. Zudem erweisen sie sich als feige, weil sie ihn nicht im Tempel und damit in der Öffentlichkeit ergreifen (14,48f.). Die Rezipienten können sich an dieser Stelle wohl besonders gut mit Jesus identifizieren und ihre eigenen Gefühle der Ohnmacht und der Bedrohung eintragen (= emotionale Perspektivenübernahme).430 Insgesamt fällt auf, dass Jesu Zorn primär den Autoritäten gilt bzw. ihrer Lehre, 427
WALTER, Art. splagcnivzomai, 634. uJpovkrisi~ bzw. uJpokrithv~ meint hierbei – dem Ursprung des Wortes entsprechend – durchaus eine „Schauspielerei“. In letzter Konsequenz wird hierdurch aber dem Sprachgebrauch der LXX entsprechende die Gottlosigkeit bezeichnet, d.h. ein Verhalten, das sich an eigenen menschlichen Maßstäben und nicht an Gott festmacht (so auch GIESEN, Art. uJpovkrisi~ , bes. 964; gegen GNILKA, Evangelium II/2, 152; PESCH, Markusevangelium II/ 2, 226, die den Begriff auf den Aspekt der „Heuchelei“ reduzieren wollen). Im Argumentationszusammenhang von 7,6f. klingen durch die Aufnahme von Jes 29,13 beide Aspekte an: 7,6b (Schauspielerei), 7,7 (Gottlosigkeit). 429 Ein solcher Vorwurf wird auch später durch das Rabbinentum häufig erhoben (vgl. etwa bBB 115b–116a; bMen 65a–b). Vergegenwärtigt man sich, dass die Kenntnis der Schrift ein erstrebenswertes Ziel in allen religiösen Gruppen des Judentums war, so lässt sich die Schwere dieses Vorwurfs ermessen (vgl. etwa die ajkrivbeia der Pharisäer Jos. Ant. 18,41; Vit. 191; Apg 22,3; 26,5; den Anspruch der Qumrangemeinde: 4QMMT C 10 oder die Selbstauskunft des Josephus: Jos. c. Ap. 1,54). 430 So ist das Schwert nicht allein als gewöhnliche Ausrüstung des Gefängnispersonals zu begreifen (so Apg 16,27). Vielmehr wird dieses immer wieder mit dem Martyrium verbunden und steht geradezu sinnbildlich für die Aggression, der sich die Urgemeinde ausgesetzt sah (vgl. Röm 8,35; Apg 12,12; Offb 13,10b). Ähnliches wird durch Mt 10,34 impliziert, weil nicht die Christen zum Schwert greifen sollen (Mt 5,39), sondern die Nachfolge Jesu und Verkündigung des Evangeliums Verfolgungen und Tötungen provozieren (10,38f.). Die intendierten Rezipienten können Jesu Zorn daher gut nachempfinden. Zum Begriff der „emotionalen Perspektivenübernahme“ vgl. SILBEREISEN/AHNERT, Soziale Kognition, 598 und Kap. 2.3.2 (4). 428
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
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deren rigide Handhabung über dem Heil des Einzelnen steht (3,1–6) und damit der Realisierung der Königherrschaft Gottes zuwiderläuft. Der Zorn Jesu lässt sich also als Kehrseite seiner Liebe bzw. seines Erbarmens verstehen und erweist sich damit als nachvollziehbar und transparent. Ein weiteres Gefühl, das sich dem markinischen Jesus zuschreiben lässt, ist das der Enttäuschung. Dieses Gefühl betrifft v.a. die Beziehung zu den Jüngern und ist eng mit dem Konflikt verbunden, der sich zwischen Jesu Wunsch nach Verständnis und dem faktischen Unverständnis der Jünger ergibt. Ihren Ausdruck findet diese Enttäuschung primär in der Figurenrede Jesu. Bereits in 4,13 bezieht sich Jesus auf das zuvor thematisierte Unverständnis gegenüber seinen Gleichnissen (V. 10) und fragt besorgt, wie die Jünger angesichts dieses Unverständnisses die übrigen Gleichnisse begreifen wollen. Doch obwohl Jesus die Gleichnisse so erzählt, wie sie die Menschen zu hören vermögen (4,33) und obwohl er dem Zwölferkreis die Gleichnisse im Geheimen erklärt (4,34), bleiben die Jünger unverständig. Das verleitet Jesus in 7,18 zu der Frage, ob seine Jünger „denn auch so unverständig sind“ (ou{tw~ kai; uJmei~ ajsuvnetoiv ejste;). Mit dem ou{tw~ kai; wird dabei auf die Menge zurückverwiesen, was angesichts der ursprünglichen Berufung (3,13– 19) einem Ausdruck der Enttäuschung gleichkommt.431 Wie sollen die Jünger zur Verkündigung ausgesandt werden, wenn sie die Lehre ihres Herrn nicht einmal verstehen? Dass sich der Konfliktverlauf über das weitere Markusevangelium zuspitzt, ist bereits im vorherigen Kapitel hinreichend besprochen worden (vgl. Kap. 4.2.2). Darum erscheint mir an dieser Stelle ein anderer Aspekt erwähnenswert. Während das Gefühl der Enttäuschung den irdischen Jesus über den gesamten Erzählverlauf begleitet und seinen Höhepunkt in der Flucht der Jünger erhält, deutet die Ankündigung des Engels in 16,7 an, dass der Auferstandene über alle erfahrene Enttäuschung hinwegsieht. Es ist hier nicht allein von einer Billigung zu sprechen, sondern von einem Gefühl der überlegenen Wertschätzung und bedingungslosen Liebe. Letztlich erscheint mir im Hinblick auf den Protagonisten auch von Bedeutung zu sein, welche Gefühle er im Kontrast zu anderen Figuren gerade nicht empfindet. Während alle anderen Bewohner der markinischen Erzählwelt eine ominöse Furcht oder gar Angst in der Begegnung mit Gott, mit himmlischen Wesen oder mit Jesus erfahren, werden diese Reaktionen von Jesus nicht berichtet. Was Jesus bei der Taufe fühlt, bleibt gänzlich im Verborgenen und liegt sogar abseits der Rezeptionslenkung. Was Jesus im Zuge seiner
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Dies scheint mir durch V. 17 impliziert zu sein. Dass Jesus seinen Jüngern demgegenüber ein ähnliches Unverständnis wie den religiösen Autoritäten vorwirft, wäre zwar der markinischen Erzähllogik entsprechend denkbar (vgl. 8,17; 6,52; 3,5 [Herzensverhärtung]), erscheint mir aber hier (noch) nicht im Fokus zu stehen. Eine eindeutige Entscheidung ist aber kaum möglich.
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
Verklärung oder angesichts der erneuten Gottesstimme fühlt, ist ebenfalls nicht zu erschließen. Insgesamt lässt die markinische Darstellung der Gefühle Jesu ein hohes Maß an erzählerischer Reflexion erkennen. So zeigt sich eine klare Zuordnung zwischen bestimmten Gefühlen und Figurengruppen. Jesu bestimmendes Gefühl gegenüber den Jüngern ist das der Enttäuschung. Sein Gefühl gegenüber den Autoritäten ist das des Zorns. Gegenüber den Bedürftigen erweist Jesus sein Erbarmen. Und im Unterschied zu allen anderen Figuren wird von Jesus nicht berichtet, dass er in der Begegnung mit Gott Furcht empfindet. Über diese klare Zuordnung hinaus, erweisen sich Jesu Gefühle zumeist als nachvollziehbar. So leitet sich das Gefühl des Zorns und der Enttäuschung zwangsläufig aus den beiden zentralen Konfliktverläufen, namentlich dem Konflikt mit den Autoritäten und den Jünger, ab. Gerade vor dem Hintergrund einer solch kohärenten und nachvollziehbaren Darstellung erhält die in 12,34 vermittelte Wertschätzung gegenüber dem Jerusalemer Schriftgelehrten besondere Aufmerksamkeit. Dass Jesu Erbarmen in 7,24–30 und 10,46–52 eingefordert werden muss, ist hingegen nicht als Inkohärenz zu verstehen, sondern leitet sich ganz aus dem zugrundliegenden Gattungsformular einer herrscherlichen Audienz ab. Ähnliches gilt für 10,21, wo hjgavphsen wohl nicht primär ein Gefühl bezeichnet, sondern die Hinwendung des Lehrers zum Schüler und damit „ein quasi-hoheitliches Tun dessen, der (Rechts-)belehrung und -entscheide gibt“.432 d. Verhalten (Wichtigkeit: *****): Der markinische Protagonist wird seinem Verhalten nach ganz wesentlich durch die Tätigkeit des Lehrens charakterisiert. So ist innerhalb der Markusforschung immer wieder zu Recht darauf hingewiesen worden, dass der markinische Jesus auffallend häufig mit dem Wortfeld didask- in Verbindung gesetzt wird.433 Zwölf mal wird er explizit von anderen Figuren als Lehrer angesprochen (didavskale: 4,38; 5,35; 9,17.38; 10,17.20.35; 12,14.19.32; 13,1; 14,14) oder im Gesprächsgang als didavskalo~ bezeichnet (5,35; 14,14 [Selbstbezeichnung Jesu]). Siebzehn mal wird das Verb didavskein auf ihn bezogen (1,21.22; 2,13; 4,1.2; 6,2.6.30.34; 7,7; 8,31; 9,31; 10,1; 11,17; 12,14.35; 14,49) und fünf mal ist ausdrücklich von seiner Lehre die Rede (didachv: 1,22.27; 4,2; 11,18; 12,38). Bemerkenswert ist hierbei zugleich, dass sich das Wortfeld gleichmäßig über den gesamten Erzählverlauf verteilt und somit Jesu Verhalten in Galiläa, auf dem Weg nach Jerusalem und in Jerusalem beschreibt. 432
BERGER, Gesetzesauslegung, 398. So auch PESCH, Markusevangelium II/2, 136.140, der hjgavphsen mit „liebkosen“ bzw. „küssen“ übersetzt (vgl. hierzu BAUER, Wörterbuch, 8). Eine entsprechende Geste ist belegt durch 2Sam 15,5; TestRub 1,5; TestDan 7,1; Test Benj 1,2; EvBarth 4,71 u. 28,1. 433 Vgl. BORING, Mark, 253f.; ROBBINS, Teacher; BROADHEAD, Titular Christology, 81–91.
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
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Die absolute sowie relative434 Häufigkeit mit der das Wortfeld didask- auf Jesus bezogen wird, ist Grund genug, auch in diesem Analyseabschnitt den Fokus auf Jesu Lehre zu richten. Gleichzeitig ist aber darauf hinzuweisen, dass eine Beschränkung auf diesen semantischen Befund unzureichend bliebe. So wird in zahlreichen Untersuchungen zu wenig beachtet, dass das Verhalten einer Figur von den Rezipienten über eine Vielzahl von Figurenmerkmalen erschlossen wird. Dass Thomas Buddenbrook ein äußerst erfolgreicher Kaufmann ist, ergibt sich nicht allein aus der häufigen Verwendung eines entsprechenden Handelsjargons, sondern ebenso aus seinem Figurenäußeren, dem sozialen Kontext oder auch seiner Gestik, Mimik, Körperhaltung und Figurensprache. Mit Jens Eder lässt sich festhalten, dass zur Analyse eines Verhaltens immer die physischen Aktionen einer Figur, ihre Sprechakte, ihr Sprachstil, ihr Blickverhalten, ihre Gesten sowie ihr Bewegungs- und Raumverhalten heranzuziehen sind.435 Ansonsten besteht unweigerlich die Gefahr, dass Textstellen wie 10,32–34 oder 11,27–33 – wo das Wortfeld didasknicht explizit verwendet wird – übersehen bzw. unzureichend gewichtet werden.436 Unzureichend wäre eine bloße Beschränkung auf die Semantik aber auch deshalb, weil damit gerade noch nicht die vielfältigen Bezüge zu anderen Verhaltensweisen und zum mentalen Gesamtmodell einer Figur in den Blick gerieten. Gerade dies ist aber für das Markusevangelium wichtig, weil die Lehre Jesu in einem engen Bezug zu seiner Verkündigung und Gleichnisrede, seinem Wunderwirken sowie der Annahme seines Leidensweges steht. Um Jesu Lehre im Folgenden möglichst umfassend zu erschließen, orientiere ich mich in meiner Darstellung an der sog. Lasswell-Formel, die in der Kommunikationswissenschaft zur Beschreibung eines allgemeinen Kommunikationsvorgangs verwendet wird. 437 Auf Jesu Lehre bezogen und leicht erweitert bzw. modifiziert, lauten die Analysefragen: Was (1) lehrt Jesus wie (2) und mit welcher Intention sowie welchem Effekt (3)? Und wen (4) unterrichtet er dabei wo (5) und wann (6)? Die Frage nach dem Was (1) und damit nach dem Inhalt der Lehre, wird innerhalb der Exegese nicht selten mit dem Verweis auf ein fehlendes Denksystem zurückgewiesen. Der Inhalt der Lehre trete bei Markus hinter den Aspekt der Wirkung zurück und sei nichtzuletzt im Unterschied zu den ande434
Das Wortfeld wird nahezu ausschließlich auf Jesus bezogen. Vgl. EDER, Figur im Film, 257–264. 436 So berücksichtigt BROADHEAD, Titular Christology, 81–91 (The Teacher), Mk 10,32–34 lediglich in einer kurzen Anmerkung (87 Anm. 7) und lässt 11,27–33 gänzlich unerwähnt, obwohl sich das Gespräch der äußeren Form nach recht eindeutig als rabbinisches Schul- und Streitgespräch zu erkennen gibt (vgl. zum Gattungsschema aus Frage und Gegenfrage vgl. GNILKA, Evangelium II/2, 136f.). 437 Vgl. LASSWELL, Structure, und dazu BURKART, Kommunikationswissenschaft, 492– 494. 435
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
ren Evangelien weitgehend irrelevant.438 Richtig hieran ist, dass die Lehre Jesu überwiegend situativ bleibt und – ausgehend von einem konkreten Anlass – ihren Ausdruck in kurzen Sentenz, Gleichnissen oder Streitgesprächen findet. In der Summe muss allerdings festgehalten werden, dass diese Figurenrede durchaus einen Großteil des markinischen Erzählstoffs ausmacht.439 Zudem lässt sich trotz einer gewissen Varianz durchaus ein thematischer Fokus erkennen. So wird bereits durch das programmatische Verkündigungswort in 1,14f. – das als erste explizite Äußerung Jesu besondere Aufmerksamkeit erhält (= Primäreffekt) und das in der Folge wiederholt aufgegriffen wird (v.a. 4,11) – der Blick auf den Anbruch der Königsherrschaft Gottes und damit zugleich auf die Person Jesu als deren Verkündiger und Bringer gerichtet.440 Hierzu passt, dass im weiteren Erzählverlauf die Begriffe didavskein und κηρύσσειν sowie weitere Termini der Evangeliumsverkündigung synonym verwendet werden und aufs Engste miteinander verknüpft bleiben (vgl. z.B. 1,38f.; 3,14; 4,2.14.33441; 6,12.30). Ebenso dienen Jesu Gleichnisse auch inhaltlich der unmittelbaren Illustration der Königsherrschaft (4,26–29.30–34) oder verweisen zumindest indirekt auf jene Verheißungen (4,2–9.14–20) und neuen Normen (7,1–23), die angesichts der angebrochenen basileiva tou` qeou` gelten und unter denen auch die nachösterliche442 Gemeinde noch lebt. 438
So neuerdings wieder HÜBENTHAL, Markusevangelium, 181. In dieser Hinsicht hebt Susanne Luther völlig zu Recht hervor, dass „[d]ie in der Forschung wiederholt vertretene Ansicht, Mk lege keinen Wert auf den Inhalt der Lehre Jesu sondern allein auf die Tatsache, dass er als Lehrer dargestellt werden muss, [...] zu widerlegen ist, da dieser Eindruck nur aufgrund des Vergleichs mit den Synoptikern zustande kommt und Mk für sich betrachtet in 40% seiner 661 Verse die Lehre Jesu vermittelt“ (LUTHER, Art. Lehrer; vgl. dazu die entsprechende Statistik bei BYRSKOG, Jesus, 194f.). 440 Vgl. dazu SÖDING, Vollmacht, 3–17, und LANDMESSER, Geheimnis, 290: „Für das Markusevangelium ist entscheidend, daß das Subjekt des dort geschilderten Geschehens Jesus ist. Mit dem Kommen Jesu und mit seiner Verkündigung erfüllt sich das Kommen Gottes. Und mit dem Eintreten Jesu in die Welt wird die heilvolle Herrschaft Gottes in der Welt offenbart. Diese heilvolle Herrschaft Gottes ist nicht mehr zu trennen von dem Wirken Jesu“. 441 Die Wendung „das Wort (sagen)“/to;n lovgon (lalei`n) ist bereits innerneutestamentlich als terminus technicus für die Evangeliumsverkündigung bezeugt und dürfte von den intendierten Rezipienten entsprechend interpretiert worden sein: „Das Wort (sagen)“ (oJ lovgo~ lalei`n, vgl. Phil 1,14 (v.l.); 1Thess 1,6); „das Wort Gottes“ (oJ lovgo~ tou` qeou`, vgl. 1Kor 14,36; 2Kor 2,17; 4,2; 1Thess 2,13; vgl. Phil 1,14 v.l.); „das Wort von der Versöhnung“ (oJ lovgo~ th`~ katallagh`~, vgl. 2Kor 5,19); „das Wort vom Kreuz“ (oJ lovgo~ tou` staurou`, vgl. 1Kor 1,18). 442 Zu Recht hat Christof Landmesser darauf aufmerksam gemacht, dass 4,14–20 keine reine Doppelung zu 4,2–9 darstellt, sondern dass gerade durch die Variationen (Same ð Sämann; implizit: to; spevrma ð explizit: oJ lovgo~) und die Ergänzungen bzw. Konkretionen (Behinderung durch Satan, qlivyei~, diwgmoiv) eine Neuapplikation für die nachösterli439
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
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Mit dem Verweis auf Jesu Gleichnisrede ist bereits ein443 wesentlicher Aspekt der äußeren Form (2) und der Wirkung bzw. Intention (3) benannt. Jesu Lehre artikuliert sich u.a. in der Form der parabolhv.444 Entscheidend für das Gesamtbild ist hierbei weniger die schiere Anzahl der überlieferten Gleichnisse, als vielmehr der Eindruck, den Markus wiederum zu Beginn der Erzählung zu vermitteln sucht445 und der sich letztlich in den beiden summarischen Aussage widerspiegelt, dass Jesus „durch viele solche Gleichnisse das Wort gesagt“ (4,33) und „ohne Gleichnisse überhaupt nicht zu ihnen (sc. zum Volk446) geredet“ (4,34) habe. Mit dem Begriff der parabolhv wird dabei nicht primär auf eine festgeprägte Gattung verwiesen (vgl. 7,17!), sondern v.a. auf die Intention hinter Jesu Lehre. Seine Gleichnisse dienen zunächst keineswegs der Verschleierung, sondern sie sollen durchaus das Reich Gottes so zu Gehör bringen, wie es die Menschen verstehen können (4,33: kaqw;~ hjduvnanto ajkouvein). Und tatsächlich wird auf vielfältige Weise davon berichtet, dass Menschen in ganz Galiläa und weit darüber hinaus „von ihm hören“ (3,8; 3,21; 5,20; 5,27; 6,14; 6,55; 7,25; 10,47 implizit: 3,22; 7,1; 14,3), ihn „erkennen“ (6,54), ihm folgen wollen (1,45; 3,8; 5,18; 6,55), sich „um ihn versammeln“ (1,33; 2,2; 3,8; 4,1; 5,21; 6,2b; 6,33; 7,1; 10,1; implizit: 8,1), ihm ihre Kranken und Angehörigen bringen (6,55; 7,32; 8,22; 10,13) oder dass sein Wirken vor Ort „bekannt wird“ (2,1; 5,14) und er nicht „verborgen bleiben kann“ (1,45; 7,24). Jesu Gleichnisse verfehlen also keineswegs vollständig ihre intendierte Wirkung. Umgekehrt gilt es festzuhalten, dass gerade aufgrund der prinzipiellen Verständlichkeit der Gleichnisrede all jene als Ungläubige bzw. Außenstehende erwiesen werden, die sein Wort vernehmen, ihm aber paradoxerweise kein Vertrauen schenken, die Jesu Gleichnisrede hören und doch nicht verstehen. Durch ihr Unverständnis erweisen sie sich als von Gott Verstockte (4,11b–12). Faktisch wirkt Jesu Lehre damit nur dort Glauben, wo Gott es
che Gemeinde ermöglicht wird (LANDMESSER, Geheimnis, 286–288). Ganz ähnlich verhält es sich mit 7,1–13.14f.17–23, weil hier der vordergründige Streit ums Händewaschen erst durch Jesu nachträgliche Erklärung ans Volk (V. 14f.) und an die Jünger (V. 17–23) verallgemeinert wird. Entsprechend wird durch den Erzählerkommentar in V. 19b verdeutlicht, dass dieses autoritative Wort Jesu die nachösterliche Speisepraxis legitimiert. 443 Auf die Relevanz der Wunder Jesu werde ich später zu sprechen kommen (s.u.). 444 Vgl. zum inneren Zusammenhang von Gleichnisrede und Lehre v.a. 4,2: Und er lehrte sie in Gleichnissen vieles (kai; ejdivdasken aujtou;~ ejn parabolai`~). 445 Mit der markinischen Einleitung in 4,1 wird die Gleichnisrede explizit auf Jesu anfängliches Wirken in der Umgebung von Kapernaum bzw. „am See“ bezogen. 446 Mit aujtoi`~ rücken keineswegs die Jünger als Adressaten in den Blick, sondern es wird auf die Menschenmenge aus 4,1 zurückverwiesen. Erst so wird die Differenzierung in V. 34 verständlich: Während das Volk Jesu Lehre in der Form des Gleichnisrede vernimmt, legt Jesus seinen Jüngern das Gesagte nochmals aus.
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
will.447 Jesu Verhalten und Gottes Verhalten sind unweigerlich aufeinander bezogen, aber allein Gott wird die Entscheidungsgewalt über Verständnis und Unverständnis zugesprochen. Selbst dort, wo die Rezipienten in Jesu Verhalten seine Zugewandtheit zu einem Menschen erkennen können, kommt diese Person nicht zwangsläufig zum Glauben, wie v.a. an der Figur des Reichen Jünglings zu erkennen ist (10,21: oJ de; ÆIhsou`~ ejmblevya~ aujtwæ` [= Blickverhalten] hjgavphsen aujtovn [= Geste448]). Dies wirft die berechtigte Frage der Jünger auf, wer überhaupt in das Reich Gottes gelangen könne (10,23.26) und wird von Jesus dahingehend beantwortet, dass dies zu entscheiden, allein Gott obliege: „Bei den Menschen ist es unmöglich, aber nicht bei Gott. Alles ist nämlich möglich bei Gott“ (10,27).449 An dieser Stelle ist nachzutragen, dass sich Jesu Lehre nicht allein auf seine Gleichnisse und seine verbalen Äußerungen beschränken lässt, sondern dass sie auch in seinen Machterweisen und Wundertaten ihren Ausdruck findet (2).450 Im Hinblick auf die Intention und Wirkung (3) zeigt sich eine deutliche Analogie zur Gleichnisrede. Wie für Jesu Gleichnisse gilt auch für seine Wundertaten, dass diese durchaus zum Glauben an die basileiva tou` qeou` und an die Person Jesu auffordern, dass aber auch sie faktisch immer zugleich Glauben und Unglauben bewirken. Während zahlreiche Bedürftige in der Begegnung mit Jesus explizit (2,5; 5,30.34; 9,24; 10,52 [negativ 4,40]) oder implizit Glauben fassen, erweisen sich v.a. die religiösen Autoritäten und die Jünger durch ihre Reaktion als verstockt und herzensverhärtet. Wenngleich die Jünger nicht einmal durch die Häufigkeit oder Wiederholung 447
Wenn der vierte Evangelist den Begriff der parabolhv gänzlich vermeidet und präzisierend vom Rätselwort (paroimiva; hebr. māschāl) spricht (Joh 10,6; 16,25.29; vgl. Sir 47,17), so geschieht dies durchaus in konsequenter Weiterführung zu 4,11: Auf die vorläufig verhüllte Rede Jesu wird einst die verständliche Rede folgen (vgl. Joh 16,25.29). Dass auch diejenigen, die zu Jesu Lebzeiten verstockt geblieben sind, die Evangeliumsbotschaft hören und den Glauben empfangen können, lässt sich zum einen an der Figurengruppe der Jünger erkennen (s.u.). Es ist nicht einmal ausgeschlossen, dass einzelne Vertreter der religiösen und gesellschaftlichen Elite zum Glauben kommen (vgl. 15,42–47 und implizit 12,28–34; 10,17–27). 448 Vgl. BERGER, Gesetzesauslegung, 398; PESCH, Markusevangelium II/2, 140. 449 Dass der Mensch zu seinem eigenen Heil keinen Beitrag leisten kann, wird auch an anderer Stelle des Markusevangeliums immer wieder von Jesus ausgesagt (vgl. 4,27f.; 4,31f.; 8,37; 10,15). Erzählerisch findet es seinen Ausdruck auch darin, dass alle „Bedürftigen“ nicht aufgrund eines eigenen Entschlusses Jesus vertrauen, sondern weil sie zuvor von der Jesuskunde erreicht wurden oder ihre Not in der unmittelbaren Begegnung mit Jesus überwunden wird. Letztlich vermögen gerade die im Markusevangelium zahlreich überlieferten Exorzismen die Passivität der Bedürftigen zu unterstreichen. 450 So wird bereits in 1,21–27 durch die Dämonenaustreibung versinnbildlicht, was es bedeutet, dass Jesus in Vollmacht lehrte. Kurze Zeit später werde Jesu Verkündigung und seine exorzistische Tätigkeit erneut aufeinander bezogen und zugleich auf seine ursprüngliche Sendung nach Galiläa zurückgeführt (1,39; vgl. 1,14f. mit 1,38f.).
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
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der Machterweise zum Glauben kommen (8,17–21), so soll dies jedoch keineswegs zu deren vollständiger Diskreditierung führen. Vielmehr wird durch ihr Fehlverhalten der Blick abermals über das Erzählende hinaus auf die nachösterliche Zeit gerichtet. Die Rezipienten können und sollen darauf schließen, dass die Jünger in der Begegnung mit dem Auferstanden zum Glauben gelangt sind (16,7) und als Osterzeugen und Apostel endlich verstanden haben, was sie bereits zu Lebzeiten Jesu hätten erkennen können und sollen. Dass Markus die Frauen am Grab oder auch die männlichen Nachfolger über die erzählte Zeit hinaus als Ungläubige stigmatisieren und diskreditieren will, ist aufgrund des mutmaßlichen Wissens der Rezipienten und des zuvor Erzählten (13,9–11; 14,9) unwahrscheinlich.451 Richten wir den Blick abschließend darauf wen (4) Jesus wo (5) und wann (6) unterrichtet, so lässt sich eine besondere Privatunterweisung der Jünger erkennen. Wiederholt berichtet Markus, dass die Jünger „allein“ (4,10; 4,34b [iterative Erzählweise]; 6,32 [Intention]; 9,28) oder „im Haus“ (7,17; 9,28; 9,33; 10,10) belehrt worden seien. Dass es sich bei dem erwähnten Haus keineswegs um einen konstanten Schauplatz handeln kann, ergibt sich aus den permanent variierenden und zumeist für die Rezipienten erschließbaren Aufenthaltsorten Jesu. Somit legt sich der Verdacht nahe, dass das Haus als Chiffre bzw. gestimmter Raum zu verstehen ist. Aller Voraussicht nach konnte der frühchristliche Leser hiermit am ehesten die schutzhafte Umgebung assoziieren, die ihm und seiner Gemeinde trotz aller Verfolgungen durch die gottesdienstliche Unterbringung in einem Privathaus beschieden war oder die ihm auch das eigenen Zuhause – im Unterschied zum öffentlichen452 Raum – bot. Von Bedeutung ist zudem Jesu hohe Mobilität, durch die von Anfang an die überregionale Ausrichtung seiner Lehre und seines Sendungsauftrags verdeutlicht wird. Wenngleich Kapernaum als Wirkstätte Jesu eine hervorgehobene Bedeutung besitzt (1,21–3,6; [5,21–43?]; [7,1–23?] 9,33–50), soll das Evangelium explizit in ganz Galiläa verkündigt werden (1,14f.; 1,38f.), wobei sich Jesus zumeist öffentlich an das Volk bzw. die Bewohner der jeweiligen Stadt oder Gegend wendet (1,21f.; 2,13; 4,1f.; 6,2.6.34; 11,17f.; 12,35.37b). Das Jesus das Volk unterrichtet, wird vom Erzähler sogar als Gewohnheit 451
Gegen WEEDEN, Conflict, 50. Würden Jesu Vorhersagen nicht eintreten, so würden nicht allein die Jünger diskreditiert, sondern zugleich der Protagonist und der Engel am Grab (vgl. 16,7). Das wird aber kaum die Intention des Evangelisten gewesen sein. 452 Wenngleich vor einer voreiligen Differenzierung zwischen „privat“ und „öffentlich“ zu warnen ist, weil hierdurch ein heutiger, moderner Kontrast in eine antike Erzählung transferiert wird, so lässt sich im Markusevangelium doch bei der Erwähnung des Hauses der Aspekt des Rückzugs und des Schutzes erkennen. So zieht sich Jesus etwa ins Haus zurück, nachdem er zuvor inmitten einer großen Mege aufgetreten ist und zugleich von einem Konflikt erzählt wurde (vgl. 7,17 nach 7,1–16; 10,10 nach 10,1–9). Das Haus ist aber zugleich der Ort, wo innere Konflikte besprochen werden (9,33) und das Unverständnis der Jünger eine Thematisierung findet (9,28f.; vgl 4,10; 4,33f.).
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
(10,1) bezeichnet. Über den Erzählverlauf erreicht Jesus aber nicht nur das jüdische Volk in Galiläa und Jerusalem, sondern ebenso die heidnischen Nachbarregionen. Auf dem Weg 453 nach Cäsarea Philippi verschiebt sich zugleich der Schwerpunkt der Verkündigung. So beginnt Jesus ab 8,27 damit, seine Jünger in Offenheit454 über seine bevorstehende Passion zu unterrichten (8,27.31– 32a; 9,30–32) und gibt ihnen in 10,32–34 Auskunft über den genauen Ort seiner Hinrichtung: „Siehe, wir gehen hinauf nach Jerusalem [...]“. Auch in seiner Gleichnisrede (12,1–12) wird nun das Leiden und die am „Sohn“ verübte Gewalt in den Mittelpunkt gerückt. Durch den neuen thematischen Fokus wird jedoch keineswegs ein Bruch zur vorherigen Ankündigung der Königsherrschaft markiert. Vielmehr erfüllt sich Jesu Verheißung trotz des bevorstehenden Todesleidens. Angesichts der Auferstehung sind nun die Nachfolgerinnen Jesu zur Verkündigung des Evangeliums aufgerufen (9,9; 16,7) und im Wissen um die baldige Wiederkunft des Menschensohnes sollen sie – ebenso wie die nachösterliche Gemeinde – ausharren und auf die baldige Vollendung der basileiva tou` qeou` warten (8,38; 9,1; 13,24–37; 14,25). Versucht der Erzähler durch den Begriff und die Vorstellung des Lehrens Jesu Verkündigung, seine Gleichnisrede, sein Wunderwirken und seine Leidens- und Auferstehungsvoraussagen zu bündeln,455 so ist trotzdem festzuhalten, dass sich die markinische Christologie und das Figurenmodell Jesu kei453
Vielfach wird betont, dass Cäsarea Philippi den geografischen Extrempunkt im Norden darstelle und dem Bericht zugleich eine emergente politische bzw. kaiserfeindliche Bedeutung zu Grunde liege. Die Anhaltspunkte für Letzteres sind jedoch überaus gering. Ob die Rezipienten eine relative Positionierung der einzelnen Ortschaften vornehmen können, ist ebenfalls fraglich. Nur wenn man die markinische Gemeinde in einer benachbarten Region verortet, lässt sich wohl ein entsprechendes Wissen voraussetzen. Dann allerdings dürfte das Interesse weniger der „nördlichen“ Lage des Ortes gelten, als vielmehr der Tatsache, dass sich Jesus dem Ort der Gemeinde annähert. Denkbar ist , dass sich die Gemeindeglieder gerade so – aus ihrer eigenen Not- und Verfolgungssituation heraus – mit dem markinischen Jesus identifizieren sollten. Anders als vielfach behauptet, führt auch der „Weg“ in die Passion keineswegs gradlinig nach Jerusalem, sondern erhält zumindest durch den „Umweg“ über den Berg der Verklärung (9,2–13) sowie die Rückkehr und den längeren Aufenthalt in Kapernaum (9,33–50) eine deutliche Unterbrechung. 454 Mit parrhsivaæ ist in 8,32b eine Offenheit der Rede gemeint. Jesus verschweigt seinen Jüngern nichts und klärt sie auf verständliche Weise über sein Schicksal auf. Dass parrhsivaæ demgegenüber eine Rede in der Öffentlichkeit bezeichne, widerspricht gerade dem in 8,30 formulierten Schweigegebot. In diesem Sinne wird dem Wunsch nach Geheimhaltung auch in 9,30 Ausdruck verliehen (= Innensicht in Jesus). Auch Jesu Verhalten in 10,32 (kai; paralabw;n pavlin tou;~ dwvdeka) ist auf diesen Wunsch zurückzuführen. 455 Die überwiegende Anzahl der Belege finden sich tatsächlich im Munde des Erzählers (1,21.22 [erlebte Rede]; 1,27; 2,13; 4,1.2; 6,2.6; 6,34; 8,31; 9,31; 10,1; 11,17.18; 12,14; 12,35; 12,38). Außerdem vermittelt dieser bereits durch die äußere Form der Streitgespräche sowie Jesu Souveränität die Vorstellung eines – allen anderen Gelehrten überlegenen – Lehrers.
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
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neswegs auf die Vorstellung eines Lehrers reduzieren lassen. Jesus wird zwar vom Erzähler als Lehrender vorgestellt und zugleich von anderen Figuren und Figurengruppen als ebensolcher angesprochen. Jesus versteht sich auch selber durchaus als didavskalo~ (14,14) und weist sogar auf seine tägliche Lehre im Tempel hin (14,49). Zugleich versäumt es der Erzähler aber keineswegs, darauf aufmerksam zu machen, dass Jesus mehr ist als jeder andere Lehrer oder auch (endzeitliche) Prophet (1,7f.; 9,2–8). Die Vollmacht, mit der er lehrt, unterscheidet ihn gerade von den anderen Schriftgelehrten, denen er auch in den Streitgesprächen überlegen bleibt. Aufgrund seiner vollmächtigen Exorzismen (1,27; 5,15.20), seiner Natur- (4,41; 6,50.51), Therapie(5,33; 7,37) und Auferweckungswunder (5,42) sowie seines Verkündigungsstils und seiner Leidensweissagungen (1,22; 6,2; 10,24.26; 10,32) erkennen die Menschen ihn gerade nicht als Lehrer, sondern geraten vielmehr ins Staunen und stellen sich unweigerlich die Frage nach seiner wahren Identität. Dass Jesu Verhalten über alle bekannten Erwartungen hinaus verweist (vgl. hierzu Kap. 4.3.2), lässt ihn gerade in seiner Einzigartigkeit erkennbar werden und die Rezipienten ihrerseits nach seiner wahren Identität fragen (vgl. Kap. 4.4). Mit den hier untersuchten Verhaltensweisen ist keineswegs Jesu gesamtes Verhalten beschrieben und erfasst worden. Wo sich einzelne Aktionen aufgrund ihrer Häufung oder aufgrund ihrer Inkohärenz zum sonstigen Figurenmerkmal ins Bewusstsein der Rezipienten drängen, werden diese in den folgenden Analyseabschnitten berücksichtigt. Dort, wo sich Jesus einmalig auf eine bestimmte Weise verhält oder wo sich ein Verhalten problemlos in das bisherige Figurenmodell einfügt, werden die intendierten Rezipienten diesem hingegen kaum eine größere Aufmerksamkeit schenken und es ist aus diesem Grunde bei der Analyse zu vernachlässigen. e. Äußeres (Wichtigkeit: **): Fragen wir nach den äußeren Attributen des markinischen Protagonisten, so werden wir zunächst auf einige wenige explizite Nennungen zurückverwiesen, die allesamt Jesu Kleidung betreffen (5,27.28.30; 6,56; 9,3; 15,17.20.24.46). Dass Markus an diesen Stellen gerade kein Interesse an einem mimetischen Figurenporträt hat, ergibt sich bereits aus der fehlenden Kohärenz der einzelnen Aussagen. Die Beschreibungen haben primär einen symbolischen oder handlungsfunktionalen Charakter. In 9,3 soll das weiße Gewand auf die himmlische Herkunft Jesu verweisen. Die Aussage steht in enger Verbindung zu Jesu Verklärung, durch die Jesus – gerade im Kontrast zu Mose – als Widerschein der göttlichen Herrlichkeit vorgestellt wird.456 Im Passionsbericht dient die königliche Bekleidung vor456
Vgl. hierzu die Auslegung in Kap. 4.2.2a. Die Farbe weiß ist völlig unzweifelhaft als Farbe des Himmels zu begreifen: Vgl. hierzu LXX Tob 5,5–9; 2Makk 3,26.33; Jos. Ant. 5,8,276–284 ; Herm, Vis. 3,1,6; 3,2.5?; 3,4,1; EvPetr 9 [36], 13[55].
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
dergründig der Verspottung Jesu und korrespondiert so mit der politischen Scheinanklage (15,26).457 Zugleich wird durch diese Verspottung, an der sich ausdrücklich die Hohepriester und Schriftgelehrten beteiligen (15,31f.), auf ironische Weise das Unverständnis der religiösen und politischen Autoritäten herausgestellt. Sie erkennen gerade nicht die königliche Würde Jesu, die diesem mit dem Christus- und Sohn-Davids-Titel tatsächlich zuzusprechen wäre, sich aber keineswegs hierauf beschränkt. 458 Mit dem Verlosen der Kleider wird eindeutig auf Ps 22,19 verwiesen und damit zugleich ein erster Verstehenshinweis für das spätere Kreuzeswort Jesu geliefert. Auch hier folgt die Darstellung also einem handlungsfunktionalen Interesse. Welche Kleider Jesus im Detail getragen hat, ist für Markus unbedeutend. In Mk 5 dient die Kleidung der Illustration und Thematisierung des anstößigen Geschehens. Hierbei muss Jesu Gewand keine magische Qualität zugesprochen werden. Vielmehr ist der mehrmalige Hinweis auf die Kleider (5,27.28.30) in Zusammenhang mit deren Berührung zu sehen, wodurch letztlich v.a. der offensichtliche Verstoß gegen die Reinheitsvorschriften betont wird (vgl. Kap. 4.2.2e). Und wie verhält es sich mit dem sonderbaren Hinweis auf die Quasten an Jesu Gewand in Mk 6,56? Joachim Gnilka interpretiert diese Textstelle wie folgt: „Beachtenswert ist, daß Jesus als frommer Jude geschildert wird, der an den Zipfeln seines Gewandes die Dtn 22,12; Num 15,38f. vorgeschriebenen vier Sisith (Quasten oder Schaufäden) trug, die aus vier weißen und blauen Fäden bestanden. Nach Num 15,39 sollten sie an alle Gebote des Herrn erinnern (Mt 23,5; 9,20par).“459
Doch warum sollte der Rezipient inmitten eines Heilungssummariums gerade auf diese hintergründige Bedeutung verwiesen werden? Warum sollte das Tragen eines solchen Gewandes außerdem ein Indiz auf die besondere Frömmigkeit sein, wo es doch in der Tora als allgemeine Anweisung geboten 457 Aus dem Hinweis, dass diese Anklage aufgeschrieben war (ejpigrafhv), einen direkten Bezug zu 12,16 abzuleiten und in der Verspottung damit eine Gleichsetzung zwischen Jesus und dem römischen Kaiser zu erkennen, mutet den Rezipienten hingegen eine zu große kognitive Leistung zu (gegen SCHMIDT, Wege, 418 Anm. 352). Als oJ basileu;~ tw`n ÆIoudaivwn (15,2.9.12.18.26) erscheint Jesus primär in Kontrast zu den jüdischen Klientelkönigen. Eine Anklage, die die Rezipienten aufgrund der vorangehenden Pilatus-Episode zugleich als konstruiert und verleumderisch erkennen können (vgl. 15,10). Vgl. hierzu ausführlich Kap. 4.2.2c. 458 Dass Jesus als königlicher Messias richtig bezeichnet wird, dies aber nicht seine ganze Identität ausmacht, wird bereits aus 8,29, 10,47f. und 12,35–37 ersichtlich, ergibt sich aber auch aus dem Passionsbericht. So tritt neben das Missverständnis der Hohenpriester und Schriftgelehrten bzw. die Verspottung der Soldaten die Fehlinterpretation der Kreuzesworte (15,35). Hierin artikuliert sich die falsche Überzeugung, Jesus sei in seinem Sterben auf das Erscheinen des Elia redivivus angewiesen. 459 GNILKA, Evangelium II/1, 273.
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
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wird? Die Interpretation wird umso schwieriger, wenn Gnilka zugleich die (implizite) Vorstellung einer Machtübertragung460 erkennen will und diese auf einen hellenistischen Einfluss zurückführt. Statt die Erwähnung der Quasten mit zu vielen Konnotationen zu überfrachten, erscheint es mir einfacher, diese gar nicht primär im Sinne einer Figurencharakterisierung zu begreifen. Durch das erzählerische Detail soll vielmehr eine Verortung des Geschehens auf der jüdischen Uferseite ermöglicht werden. Auch an anderer Stelle erwähnt Markus repräsentative Figuren bzw. Figurengruppen,461 typische Gebäude oder entsprechende Rituale und Gebräuche, um seinen Rezipienten eine räumliche Orientierung zu geben und im Rezeptionsprozess den Eindruck einer durch den See und die ethnischen Bestimmtheiten geteilten Landschaft zu vermitteln. Dass in 6,53–56 eine solche Orientierung notwendig ist, ergibt sich aus der unmittelbar zuvor berichteten Episode und dem ungeplanten Erreichen Genezareths.462 Das Alter Jesu lässt sich im Unterschied zum Lukasevangelium (Lk 3,23: „etwa dreißig Jahre alt“) nur indirekt erschließen. Grundlage hierfür können dabei allein die wenigen biografischen Informationen aus Mk 3,20f., 3,31–35 und 6,1–6 sein. Dass Jesus vor seiner Taufe in Nazareth gelebt und dort als tevktwn463 – also (Holz)Handwerker – gearbeitet hat (6,3), lässt jedoch lediglich eine sehr grobe Einschätzung zu. Es legt sich ein Alter über 20 Jahre nahe. Auch diese Informationen liegen jedoch jenseits der intendierten Rezeptionslenkung, weil die Figurenrede in 6,2f. nicht primär der Beschreibung des Äußeren oder der sozialen Verortung dient, sondern sich hierin v.a. die Vorbehalte gegenüber Jesu Anspruch artikulieren und der dahinterstehende Abwägungsprozess der Menschen transparent und nachvollziehbar werden soll. Letztlich wären die eigentlichen Details aber weitgehend austauschbar. Insgesamt erweisen sich die Aussagen zu Jesu Äußerem als wenig individuell und detailliert. Es bleibt überwiegend bei situativen Beschreibungen des 460
So auch DONAHUE/HARRINGTON, Mark, 217. Wird eine solch magische Vorstellung zu Grunde gelegt, so erklärt dies nicht die spezifische Erwähnung von Quasten. Die einfache Erwähnung des Gewandes hätte in diesem Falle ausgereicht (vgl. 5,24b–34; anders Mt 9,20). 461 Auf der jüdischen Uferseite treten Pharisäer, Schriftgelehrte und ein Synagogenvorsteher (5,22) auf, während im heidnischen Gebiet z.B. Schweinebauern erscheinen (5,14ff.). Der Beruf des Schweinebauern wurde von Juden aufgrund der Reinheitsvorschriften äußerst selten ausgeübt (vgl. MBQ 7,7; Lev 11,7f.; Dtn 14,6; Jes 65,4; 66,18). 462 Dass es sich hierbei um eine (teils) fiktive Landschaftsbezeichnung handelt, die in Angleichung an den Ortsnamen Nazareth kreiert wurde, könnte eine zusätzliche Erklärung für die gegebene Kleidungsnotiz sein. Die Rezipienten sollen wissen, dass Genezareth auf der jüdischen Seite des Sees zu verorten ist. 463 Da es in der Antike nur selten eine berufsbiografische Abstufung bei den Berufsbezeichnungen gibt, bleibt bei der bloßen Erwähnung einer Tätigkeit zumeist unklar, über welche Berufserfahrung jemand verfügt. Wie lange Jesus als Handwerker gearbeitet hat, lässt sich aus der markinischen Erzählung schlechterdings nicht erheben.
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
Äußeren.464 Ein allgemeine und konstante Vorstellung des Äußeren kann und soll sich bei den Rezipienten gerade nicht einstellen. f. Raum (Wichtigkeit: **): Der markinische Jesus wird als eine Person dargestellt, die ihrer Herkunft nach aus dem sonst völlig bedeutungslosen465 Nazareth stammt (1,9; 6,1–6), zur Zeit von Herodes Antipas in Galiläa sowie den umliegenden Regionen wirkte (= [Primär]setting466) und in Jerusalem zur Zeit des Statthalter Pilatus hingerichtet wurde. Es sind aber weniger diese kärglichen Informationen über Jesu Herkunft und seine zeitgeschichtliche Verortung, die ihn als Figur näher charakterisieren. Auch die wenigen biografischen Details, die bereits im vorherigen Abschnitt angesprochen bzw. angedeutet wurden – wie der Beruf oder die Verwandtschaftsverhältnisse – tragen nur sehr wenig zu dem Bild bei, das über den Erzählverlauf im Gedächtnis der Rezipienten evoziert wird. Wesentlicheres fördert eine Analyse der zugrundeliegenden Raumsemantik zu Tage. So lässt sich Jesus vielfach als Extrempunkt (Renner) explizit be464
Eine gewisse Ausnahme stellt 9,15 dar, weil hier die Veränderung des Äußeren, die sich auf dem Berg der Verklärung ereignet hat (9,3), weiter nachwirkt und die Menge sich entsetzten lässt. Zweifelsohne erfolgt dies, um die gegebene Parallelisierung zwischen Jesus und Mose fortzuführen (vgl. Ex 34,29f.). ejkqambei`stai lediglich mit „staunen“ zu übersetzen und dieses Staunen auf Jesu unerwartetes (so GOULD, Gospel, 167; TAYLOR, Gospel, 146) oder rechtzeitiges Erscheinen (so WEISS, Evangelien I/2, 143; KLOSTERMANN, Markusevangelium, 90; LOHMEYER, Evangelium, 185), greift zu kurz und unterschätzt das literarische Vermögen des Markus (mit HOFIUS, Allmacht, 4 mit Anm. 6 u. 7.). 465 Vgl. Joh 1,46; 7,41f.52. Die im Johannesevangelium festgehaltene jüdische Polemik erklärt weiterhin am besten, warum Matthäus den „Umzug“ von Bethlehem – als eigentlichem Geburtsort – nach Nazareth als göttlich Führung präsentiert und als schriftgemäß zu erweisen versucht (vgl. FRANCE, Formula Quotations, 238.246). 466 Tatsächlich zeichnet sich das Markusevangelium nicht durch ein einheitliches Setting aus, sondern durch die Wanderschaft Jesu weitet sich das Setting zunächst in konzentrischen Kreisen um den See von Galiläa bis in die Heidengebiete (Dekapolis, Tyrus und Sidon) aus. Vom nördlichen Extrempunkt Cäsarea Philippi erreicht Jesus dann nach einem abschließenden Zwischenstopp in Kapernaum (9,33–50) und über Transjordanien und Jericho allmählich Jerusalem. Die erzählte Welt umspannt darüber hinaus das gesamte Imperium Romanum, weil durch die Erwähnung des Kaisers oder der römischen Soldaten der Blick über das Gebiet der Levante hinaus geweitet wird. Die konkreten Schauplätze an denen sich die einzelnen Handlungen vollziehen, stehen nicht immer in Bezug zu historischen Orten, sondern können – durchaus in Analogie zu modernen Romanen – einem mehr oder weniger starken Fiktionalitätsgrad unterliegen. Die erzählerischen Mittel reichen dabei von der Abwandlung einzelner Landschaftsbezeichnungen (Genezareth) über die Erwähnung eines ansonsten unbekannten Ortes (Dalmanutha) und die historisch fragwürdige Nennung einer Synagoge in Nazareth, bis hin zur Inkaufnahme unnatürlicher Reiserouten (7,31) oder thematisch motivierten Delokalisierung bekannter Orte (Gerasa). Die geringe Detailliertheit der markinischen Raumdarstellung fällt v.a. im Vergleich zum Galiläa-Porträt des Josephus auf (vgl. Jos. Vit. 398–408; Bell. 3,506–521; 3,635), wobei hier freilich der Gattungsunterschied zu beachten bleibt.
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
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schriebener oder implizit vorauszusetzender Raumstrukturen bezeichnen. Dies findet seinen Ausdruck darin, dass die Bewohner der erzählten Welt immer wieder zu Jesus strömen, ihm nachfolgen wollen, ihn bedrängen und sich um ihn herum versammeln. Ein Eindruck, der bereits zu Beginn der Erzählung – rund um den Schauplatz „Kapernaum“ – vermittelt wird, so dass von einer intendierten Rezeptionslenkung zu sprechen ist. Erzählerisch wird dieser Eindruck durch den gerafften Bericht in 1,32–34 sowie die Episoden von der Heilung eines Gelähmten (2,1–12) verstärkt. Dass die Freunde des Gelähmten das Dach dort aufgraben, wo sich Jesus befindet (o{pou h\n), erweist diesen ebenfalls als räumlichen Zielpunkt des Handelns. Auch Jesu Sitzplatz am Tisch mit den Zöllner und Sündern (2,15f.), sein Sitz- (4,1) und Schlafplatz im Boot (4,38467), seine Position innerhalb der Menschenmenge (5,24b.31) oder während der beiden Speisungswunder (6,39f.; 8,6) erweisen ihn jeweils als Zentrum des Geschehens und der gegebenen Raumstrukturen. Diese Zentralität Jesu gipfelt in der Episode von der Verklärung, wo Jesus den Jüngern und den beiden anderen Prophetengestalten gegenüber sinnbildlich enthoben wird. Und sogar im Auferstehungsbericht zieht ausschließlich jener Ort, wo Jesu Leichnam hingelegt wurde, die Aufmerksamkeit der Rezipienten auf sich (16,7). Die anderen Bestattungsplätze innerhalb der Grabeshöhle bleiben gänzlich im Dunkeln. Dass Jesus häufig als Extrempunkt eines explizit thematisierten Raums (2,1–12) oder einer implizit evozierten Raumstruktur zu begreifen ist, scheint zweifach motiviert zu sein. Zum einen wird durch das Herbeiströmen einzelner Menschen oder der Menge, die Verbreitung des Evangeliums veranschaulicht. Überall wo sich Jesus hinbewegt – und selbst wenn er heidnische Gebiete durchstreift – haben Menschen bereits von ihm gehört. Zum zweiten vermittelt die räumliche Zentralität Jesu, dass der Anbruch der verkündigten Königsherrschaft Gottes aufs Engste mit seiner Person verbunden ist. Die basileiva tou` qeou` ereignet sich ausschließlich468 dort, wo Jesus zugegen ist. Auch die häufigen Grenzüberschreitungen Jesu lassen sich unter dem Überbegriff der Raumsemantik analysieren. Dabei erweist sich der ältere Grenzbegriff von Lotman nach wie vor als hilfreich, weil er es erlaubt, nicht nur räumliche Überschreitungen im engeren Sinne, sondern auch ethnische, soziale oder religiös-ethische Überschreitungen in den Blick zu nehmen.469 All diese Grenzüberschreitungen lassen sich im Markusevangelium antreffen, 467
Es dürfte keineswegs zufällig sein, dass Jesus ausdrücklich auf dem erhöhten Hinterdeck (pruvmna) schläft und damit an jenem Ort, an dem gewöhnlich der Steuermann Platz nahm und das Boot durch Stürme navigierte. 468 Auch in 9,38–41 wird das Auftreten eines anderen Exorzisten gerade dadurch legitimiert, dass dieser im Namen Jesu agiert. In Entsprechung hierzu besitzen auch die Jünger nur in ihrer Beauftragung durch Jesus Vollmacht (6,7–13.30). Freilich bleibt ihnen ihr Herr in seiner Machtfülle überlegen (9,14–29, hier V. 18f.). 469 Vgl. LOTMAN, Struktur, 312.
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
wenngleich der Schwerpunkt auf räumlichen, ethnischen und religiösethischen Grenzüberschreitungen liegt und der Aspekt der sozialen Grenzüberschreitung eher randständig bleibt. – räumliche Grenzüberschreitung: Mit räumlichen Grenzüberschreitungen haben wir es insbesondere im Kontext der beiden Sturmstillungsepisoden (4,35–41; 6,45–52) sowie im Auferstehungsbericht (16,1–8) zu tun. Hierbei wird zum einen illustriert, dass sich Jesus auch jene Schauplätze als Aktionsraum zu eigen macht, die für andere Bewohner der erzählten Welt eine unüberwindbare Handlungsgrenze darstellen. Während die Jünger angesichts des Sturms Todesangst leiden (4,38) oder sich mit größter Kraft – und doch vergeblich – gegen die Naturgewalten anstemmen (6,41), behält Jesus die Zuversicht und Macht hierüber oder schreitet sogar – wie sonst nur von Gott überliefert (s.o.) – über die Wogen des Meeres bzw. Sees. Aufgrund der jeweils berichteten Stillung des Sturms erweist sich die Grenzüberschreitung als revolutionär. Die vorherige Situation bleibt dauerhaft verändert. Dies demonstriert gerade Jesu Vollmacht und Überlegenheit gegenüber den dämonischen Mächten und Naturgewalten. Auch in 16,1–8 deuten das geöffnete und leere Grab auf eine revolutionäre Grenzüberschreitung hin. Die Grabeshöhle als kulturell vorgeprägter und gestimmter Ort der letzten Ruhe und Trauer wird zum Ort des neuen Aufbruchs und – zumindest perspektivisch – zum Ort der neu aufkommenden Hoffnung und Freude.470 – ethnische Grenzüberschreitung: Der Aspekt einer ethnischen Grenzüberschreitung hat sich besonders stark auf die erzählerische Ausgestaltung und Anordnung des markinischen Erzählstoffes ausgewirkt. Eine solche Überschreitung wird nicht nur durch Jesu Begegnung mit der Syrophönizierin und den auffälligen Reiseweg über Tyrus und Sidon (7,24–37) oder durch das zweite Speisungswunder (8,1–9) vermittelt, das in offensichtlicher Parallelität zur ersten Speisung ausgestaltet wurde. Vielmehr finden die ethnische Gegensätze auch darin ihren Ausdruck, dass die beiden Uferseiten des Galiläischen Sees jeweils auf stereotype Weise als jüdisches und heidnisches Gebiets präsentiert werden und sich jeweils als konstante Teilräume erweisen. Mit Ausnahme von Jesus und seinen Jüngern, die regelmäßig von einem Ufer zum anderen übersetzen, verbleiben alle anderen Bewohner des West- und 470 Dass die Frauen über die erzählte Zeit des Markusevangeliums hinaus ängstlich und zaghaft bleiben, ist aufgrund des vorherigen Erzählverlaufs (13,10; 14,9) sowie des vorauszusetzenden Kommunikationskontextes auszuschließen. Nicht die Ereignisse nach Ostern sind der markinischen Gemeinde unbekannt – diese haben sich bereits in einer frühchristlichen Bekenntnissprache verdichtet –, sondern die Lebensgeschichte Jesu vor Ostern, die von Markus als ajrchv bezeichnet wurde (1,1), sind das eigentlich Neue. Das Verhalten der Frauen weist – in Analogie zum Verhalten der männlichen Jüngern – auf ihr eingeschränktes Wahrnehmungs- und Erkenntnisvermögen hin, bleibt aber in der Hoffnung auf eine neue nachösterliche Offenbarung aufgehoben (16,7).
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
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Ostufers in ihrem jeweiligen Ausgangsraum. Zugleich erweist sich die Notiz in 3,7f, die vom Herbeiströmen unterschiedlicher Menschengruppen berichtet, als programmatisch, insofern Jesus im weiteren Erzählverlauf in ebendiese Regionen aufbrechen wird und er überall dort bereits bekannt ist. – religiös-ethische Grenzüberschreitung: Besonders häufig werden im Markusevangelium religiös-ethische Gegensätze thematisiert. Da diese aufs engste mit dem Grundkonflikt zwischen Jesus und den religiösen Autoritäten verbunden sind (2,1–12; 2,15–17; 2,23–28; 3,1–6), muss hierauf jedoch nicht erneut eingegangen werden (vgl. 4.2.2c). Es handelt sich durchgängig um revolutionäre Grenzüberschreitungen, weil Jesu neue Lehre im bleibenden Widerspruch zur Lehre der Autoritäten, der väterlichen Überlieferung und sogar dem Wortlaut der Mose-Tora steht. – soziale Grenzüberschreitung: Soziale Grenzüberschreitungen stehen m.E. nirgendwo im Vordergrund des Erzählten. Durch den Hinweis auf Jesu Beruf (6,2f.) wird bestenfalls auf sein normabweichendes und seiner Herkunft zuwiderlaufendes Verhalten hingewiesen. Ähnliches gilt für die zuvor erzählte Perspektive der Angehörigen, die Jesus für verrückt erklären (3,21). Man könnte hier von einer restitutiven Grenzüberschreitung sprechen, weil Jesus bei den Seinen und in seiner Heimat gerade kein Umdenken bewirken kann. Auch in einigen Heilungswundern wird die Überschreitung sozialer Grenzen thematisiert, wobei Jesus jeweils derjenige ist, der anderen eine Überwindung solcher Grenzen ermöglicht. Allerdings steht selbst in 5,24b–30 (v.a. V. 26) nicht der soziale Aspekte – etwa eine Befreiung aus vorgegebenen Geschlechterrollen oder einer gesellschaftlichen Herabwürdigung – im Vordergrund. Mit den Reinheitsvorschriften der Tora rückt auch hier primär eine religiös-ethische Grenze in den Fokus. Am ehesten lässt sich noch in 14,3–9 die Überschreitung einer sozialen Grenze erkennen. Die Verschwendung des Salböls, das nahezu mit dem Wert eines Jahreseinkommens gleichgesetzt wird,471 wird von den Anwesenden als anstößig empfunden und durch den Hinweis auf eine alternative Armenfürsorge 472 kritisiert (vgl. 10,21!). Sie verkennen jedoch, dass die Frau, wie von Jesus gedeutet, nicht nur eine Wohltätigkeit, sondern ein gutes Werk getan hat (V. 6),473 indem sie nämlich
471 Die genannte Geldsumme ist durchaus realistisch. Plin. hist. nat. 13.4 beziffert die teuersten Öle auf vierhundert Denare und hält dies für kostspieligen Luxus: „exceduntque quadringenos denarios librae: tanti emitur voluptas aliena; etenim odorem qui gerit, ipse non sentit.“ 472 Dass die Festpilger in der Passawoche zum Almosengeben angehalten war, wie Pesch bemerkt (PESCH, Markusevangelium II/2, 331), mag zwar zutreffen, scheint hier aber nicht im Hintergrund zu stehen. Es rückt ja gerade eine Einheimische in den Blick. 473 Zumindest im rabbinischen Judentum wird zwischen dem regelmäßigen Almosengeben als einer Wohltätigkeit und dem situativ gebotenen guten Werk unterschieden. Zu
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Jesus vorzeitig (proevlaben) zum Tode salbt und damit zugleich sein Sterben durch ein prophetisches Zeichen ankündigt. Die Erzählung von Jesu Grablegung und der markinische Auferstehungsbericht werden hieran anknüpfen, wenn durch den frühzeitigen Tod Jesu vor dem Sabbat keine Salbung mehr möglich sein wird und der Rezipient bereits in 16,1 erahnt, dass die Mühe der drei Frauen vergeblich sein wird, weil Jesus bereits auferstanden ist. g. Wissen (Wichtigkeit: ****): Das Wissen Jesu lässt sich nicht immer präzise vom Merkmal der Wahrnehmung abgrenzen. Einige der unter Punkt b. (Wahrnehmung) thematisierten Aspekte ließen sich auch unter dem hier verhandelten Gesichtspunkt zusammenfassen. Ob Jesus in 3,7 um den konkreten Mordplan der Autoritäten weiß oder dieses Vorhaben situativ erkennt, ob er bereits im Vorfeld um den Reichtum des Jünglings weiß oder dies in der Begegnung sieht, lässt sich schlechterdings nicht erschließen. Diese Unschärfe ist allerdings nicht auf einen prinzipiellen Überschneidungsbereich beider Analysekategorien zurückzuführen, sondern ergibt sich primär aus der Besonderheit des markinischen Protagonisten. Gerade weil Jesu Wahrnehmung entgrenzt ist, d.h. weil er – wie sonst nur der Erzähler – in das Innere der Menschen schauen und über alle menschlichen Fähigkeiten hinaus Sachverhalte sehen und spüren kann, kommt es zu diesen Überschneidungen. Trotzdem lässt sich an vielen Stellen dezidiert von einem Wissen Jesu sprechen, weil hier im Erzählverlauf keine beobachtbaren Anhaltspunkte für eine situative Erkenntnis geboten werden. So weiß Jesus offensichtlich von Anfang an474 – und sogar bevor die religiösen Autoritäten dies überhaupt beschlossen haben – um seinen Tod sowie die näheren Umstände seines Sterbens. Obwohl die Informationen, die der markinische Jesus über seinen Tod preisgibt zunächst nur indirekt (2,20) sind und erst in der zweiten Evangelienhälfte an Explizität und Detailliertheit gewinnen, ist nicht davon auszugehen, dass Jesus sein Wissen sukzessiv erhält. Woher Jesus sein Wissen von Anfang an hat, wird allerdings nirgendwo erzählt. Zahlreiche Exegeten versuchen diese Lücke mit einer implizit vorauszusetzenden Beauftragung während der Taufe zu erklären. Zumeist beruft man sich dabei auf die Geistverleihung.475 Die particula veri an dieser Interpretation ist, dass die Rezipienten über die Geistverleihung einen Bezug zu Jes 42 und damit zur Gestalt des Gottesknechtes ziehen können (vgl. 4.2.2a). Wenn Jesus im weiteren Erzählverlauf seinen eigenen Tod im Sinne eines sühnenden Stellvertretungstodes
Letzterem zählt gerade auch die Sorge um einen Verstorbenen (vgl. MekhSh zu Ex 18,20; bBQ 99b; bBM 80b; bSuk 49b; BerR zu Gen 23,19). 474 Anders GUTTENBERGER, Gottesvorstellung, 96, für die das „Motiv“ des Vorherwissens auf 8,27–14,41 beschränkt ist. Richtig ist, dass diese Eigenschaft Jesu im Passionsgeschehen besondere Betonung findet, um die Freiwilligkeit seines Leidens herauszustellen. 475 Vgl. KRAUS, Aspekte, 173; DU TOIT, Der abwesende Herr, 345f.
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
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deutet (10,45; 14,22–24476), so zeigt sich hierin durchaus eine inhaltliche Konstante. Taufgeschehen und Jesu Wissen um die Bedeutung seines Todes stehen in einem logischen Verhältnis zueinander. Fragt man allerdings nach dem Ursprung dieses Wissens, so lässt sich gerade nicht das Taufgeschehen anführen. Vielmehr scheint Jesu Wissen vor der erzählten Zeit begründet zu sein und es lässt sich mit gutem Recht von einem Präexistenzgedanken bei Markus sprechen. So wird bereits in 1,2f. eine Beauftragung vorausgesetzt. Die Gottesstimme kündigt keineswegs zufällig die Sendung eines Boten an, der dem angesprochenen „Du“ – und damit Jesus (vgl. 4.2.2a) – vorangeht und dessen Weg bereiten wird. Keineswegs zufällig ist in diesem Zusammenhang auch, dass Jesus das Wissen um seinen bevorstehenden Tod und seine Auferstehung im weiteren Erzählverlauf auf dem Weg nach Jerusalem ausspricht und dieser Weg so über den Erzählverlauf hinweg die Konnotation eines Leidensweges erhält. Gerade die prominente Erwähnung des Weges zu Beginn (1,2f.) und dessen mehrfache Wiederholung dürften ein Indiz dafür sein, dass der Rezipient diese Aussagen aufeinander beziehen soll und kann. Eine Präexistenzvorstellung liegt dann auch 12,35–37 zu Grunde, wo in Aufnahme von Ps 110,1 wiederum betont wird, dass der „Herr“ (kuvrio~) zu „meinem Herrn“ (twæ` kurivwæ mou), d.h. Davids Herrn, gesprochen habe und dies von Jesus als ein Reden des Vaters zu ihm gedeutet wird. Auf eine solche Beauftragung vor der erzählten Zeit lässt sich auch der mehrfach erwähnte und dezidierte Hinweis auf Jesu Sendung beziehen (1,38; 2,17; 9,37; 10,45; vgl. 1,24). An dieser Stelle lohnt sich m.E. eine intensivere Betrachtung des Gleichnisses 12,1–8 sowie v.a. der hierin artikulierten Sendung des Sohnes (V. 6). In der markinischen Version des Gleichnisses lässt sich noch der Prätext Jes 5,1–7 erkennen. Hierbei handelt es sich eindeutig um einen bewussten intertextuellen Bezug, wofür das hohe Maß an Parallelität 477 spricht. Außerdem rekurriert Markus von Anfang an und besonders häufig auf den Propheten Jesaja. Legt sich bereits bei Jesaja sowie in den Schriften von Qumran eine allegorische Deutung der einzelnen Motive nahe (vgl. Jes 5,7; 4Q500 1478), so ist dies auch für den Markustext geltend zu machen. Der Rezipient ist auf eine solche Interpretation eingestellt, weil die Gleichnisse auch zuvor den Jüngern (sowie den intendierten Rezipienten) 476
Vgl. HOFIUS, Zuspruch, 141. Vgl. folgende Übereinstimmungen zwischen LXX Jes 5 und Mk 12: kai; fragmo;n perievqhka (LXX Jes 5,2a) ð kai; perievqhken fragmovn (Mk 12,1b); kai; prolhvnion w[ruxa ejn aujtw (LXX Jes 5,2c) ð kai; w[ruxen uJpolhvnion (Mk 12,1c); kai; wæjkodovmhsa puvgron ejn mevswæ aujtou` (LXX Jes 5,2b) ð kai; wjækodovmhsen puvgron (Mk 12,1c). Zusätzlich wird in Mk 12,1 von der Errichtung eines Zauns berichtet. 478 In 4Q500 1 wird der Weinberg mit Jerusalem, der Turm mit dem Tempel und die ausgehobene Kelter mit dem Brandopferaltar vor dem Tempel identifiziert (vgl. dazu BROOKE, 4Q500 1, bes. 269–272.284). Umso bemerkenswerter erscheint, dass in EvThom 65f. sämtliche allegorischen Züge fehlen. 477
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
mittels nachträglichen Allegorese erklärt wurden (4,13–20; vgl. 4,34 479 ). Zugleich wird das ursprüngliche Gleichnis des Jesajas aber transponiert und dramatisch ausgestaltet. In Anlehnung an das Weinberglied des Jesajas erzählt der markinische Jesus von der Pflanzung eines neuen Weinbergs und der Anlage notwendiger Bewirtschaftungsmittel (Zaun, Kelter, Turm).480 Neu sind aber das Ereignis der Verpachtung und der daraus resultierende Pachtkonflikt mit den Weingärtnern.481 Hierdurch stehen nicht mehr die schlechten Reben im Mittelpunkt, die bei Jesaja mit den Israeliten identifiziert werden (5,7), sondern das Verhalten der Pächter, das der Rezipient in Bezug zum Verhalten der religiösen Autoritäten setzen soll (12,12). Im Sinne eines dramatischen Aufbaus spitzt sich der Konflikt durch das mehrmalige Senden von Knechten und deren Verschmähung, Geißelung und Tötung zu (V. 2.4.5). Auf dem Höhepunkt der Erzählung wird der „geliebte Sohn“ (V. 6a), den der Weinbergbesitzer zugleich als „meinen Sohn“ (V. 6b) bezeichnet, gesendet. Dass die Formulierung „geliebter Sohn“ einen eindeutigen Rückbezug auf das Taufgeschehen (1,11) und die Offenbarung Gottes auf dem Berg (9,7) darstellt, sollte aufgrund der semantischen Parallelität außer Frage stehen.482 Für unseren Kontext wichtig ist zugleich, dass der Sohn nicht erst qua Sendung zum Bevollmächtigten des Vaters erhoben wird, sondern dass sich gerade umgekehrt die Sendung aus seinem Wesen als Sohn – und damit gemäß der Erzähllogik als „Erben“ (12,7) und Bevollmächtigten – ableitet. Dass der Vater letztlich seinen Sohn sendet, ist alles andere als ein Ausdruck von Naivität. Es erklärt sich vielmehr daraus, dass die Autorität des Sohnes ungleich größer ist, als die der einfachen Knechte. Im Unterschied zu diesen war der Sohn als Repräsentant des Vaters in der Lage, dessen Landansprüche – auch juristisch – geltend zu machen. Gerade deshalb lässt dessen Ermordung erkennen, dass die Weingärtner nicht allein eine Aussetzung der Pachtzahlung anstreben, sondern eine widerrechtliche Aneignung des Landes verfolgen (V. 7). Ist die Sendung des Sohnes Ausdruck für den unbändigen Versöhnungs479 Bemerkenswert ist, dass selbst das Logion in 7,15 als Gleichnis bezeichnet wird, weil es in 7,17–23 auf die Speisegesetze hin ausgelegt wird. 480 Manche Exegeten wollen in der beschriebenen Pflanzung des Weinbergs eine zeitliche Vorverlegung gegenüber Jes 5,1 erkennen (so z.B. COLLINS, Mark, 545). Tatsächlich wird in Jes 5 nur die Bepflanzung desselbigen beschrieben, aber der hier erwähnte Bau eines Turms und einer Kelter (Jes 5,2) wecken ebenfalls das Bild einer neuen Anlegung. Die beschriebene Anlage lässt noch keine besondere Fürsorge des Weinbergbesitzers erkennen, da die genannten Attribute zur notwendigen Ausstattung eines landwirtschaftlichen Betriebs gehörten (vgl. Num 22,24; Spr 24,31). 481 Martin Hengel hat anhand der Zenon-Papyri und einzelner Topoi der rabbinischen Gleichnisüberlieferung nachweisen können, dass eine derartige ausländische Verpachtungspraxis und ein entsprechendes Konfliktszenario durchaus historische Anhaltspunkte besitzt (vgl. HENGEL, Gleichnis, 1–39). 482 Redaktionsanalytisch erweisen sich diese Formulierungen als markinische Hinzufügungen (so auch HENGEL, Gleichnis, 30; GNILKA, Evangelium II/2, 143).
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
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willen und die Barmherzigkeit des Weinbergbesitzers, so wird durch das Verhalten der Pächter deren ganze Boshaftigkeit offenbar. Insgesamt ist die Parallelisierung zwischen dem Sohn im Gleichnis und der markinischen Figur des Jesus also überdeutlich, so dass man – zumindest auf der Ebene des Endtextes483 – nicht um eine Identifizierung beider umhin kommt. Dadurch wird es aber notwendig, den im Gleichnis artikulierten Sendungsgedanken ebenfalls auf Jesus zu übertragen. Warum sollte einzig dieser Aspekt nicht übertragbar sein, zumal er sich in die oben vorgelegte Interpretation von 1,2f. nahtlos einfügt? Auch Jesus ist als der einzigartig bevollmächtigte Sohn zu begreifen, der gerade als solcher in die Welt gesendet wird und dem sich damit ein entsprechende Präexistenz zuschreiben lässt. Neben der Frage der Präexistenz und Sendung wird auch dem Vorherwissen Jesu innerhalb des exegetischen Diskurses eine große Relevanz zugeschrieben. Nicht nur in der älteren religionsgeschichtlichen Schule, sondern bis in aktuelle Publikationen hinein484 wird dieses Figurenmerkmale dabei als Bezugnahme auf eine qei`o~ ajnhvr–Vorstellung verstanden. Wir hatten jedoch bereits im forschungsgeschichtlichen Teil dieser Arbeit gesehen, dass die entsprechenden Quellen aufgrund einer zu geringen Parallelität, Erinnerungsnähe und Bezeugungsbreite nicht belastbar sind.485 Letztlich reicht es auch nicht, Jesu Vorherwissen nur im Sinne eines „umsichtigen“ Verhaltens zu verstehen, wie es Josephus etwa den Pharisäern attestiert und damit deren Machteinfluss begründet.486 Dass Jesus bis ins Detail die nahe Zukunft vorhersagen kann (11,1b–6; 14,12–16), er um die genauen Umstände seines Todes sowie des Verrats und der Verleugnung weiß (Tod: 8,31; 9,31; 10,33 u.ö.; Verrat: 14,18–21; Verleugnung: 14,30), er die Zerstörung des Tempels (13,2) und die Verfolgungssituation der Gemeinde adäquat beschreibt (10,39f.) und für sich sogar eine Kenntnisse der eschatologischen Endereignisse beansprucht (Mk 13; 14,62), erweist ihn erneut als einzigartig. Dabei müssen die vielfältigen Berührungspunkte zur alttestamentlichen bzw. frühjüdischen Messias- und Prophetenvorstellung keineswegs übergangen wer-
483
Die Frage, ob das Gleichnis in seiner Urform auf den historischen Jesus zurückzuführen ist und ob bereits hier an eine entsprechende Selbstidentifikation zu denken ist, kann an dieser Stelle ausgeklammert werden. Im Unterschied zur Mehrheit des Kommentatoren kommt Martin Hengel auch diesbezüglich zu einem positiven Urteil (HENGEL, Gleichnis, 33). 484 Vgl. etwa SCHNELLE, Theologie, 383: „Motivgeschichtliche Parallelen liegen auch zur hellenistischen Überlieferung des ‚göttlichen Menschen‘ (qei`o~ ajnhvr) vor (das wunderbare Erkennen/Vorherwissen: Mk 2,8; 3,2; 4,39f.; 5,30; 6,37; 8,4f. [...]).“ 485 Insofern überrascht es kaum, dass auch Schnelle im Zusammenhang seiner Darstellung keine einzige Quelle anführt. 486 Vgl. Jos. Ant. 17,41
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
den, sondern es sind gerade diese, die Jesus als Kontrastfigur erscheinen und in seiner Einzigkeit erkennen lassen (vgl. ausführlich dazu 4.3.2a).487 Beispielhaft lässt sich dies an 11,1–11 und 14,12–16 zeigen. In beiden Episoden wird dem intendierten Rezipienten vor Augen gestellt, dass Jesus bis ins kleinste Detail die bevorstehenden Ereignisse, die äußeren Umstände bzw. Räumlichkeiten und das Verhalten der Personen kennt und sich dieses Wissen dienstbar macht. Hierzu werden die jeweils zuvor getroffenen Ankündigungen Jesu (11,2f.; 14,13–15) nahezu wortwörtlich (11,6f.488) bzw. durch eine Zusammenfassung des Erzählers (14,16) bestätigt. Weitgehend einig sind sich die Kommentatoren über die erzählerische Absicht dieses Erzählzuges. Es soll veranschaulicht werden, dass Jesus seinem Leiden nicht einfach ausgeliefert ist, sondern dieses Leid von Gott vorherbestimmt ist. Indem Jesus gemäß dieser Bestimmung handelt, bejaht und bewirkt er sein Schicksal. Er erweist sich dadurch Gott gegenüber als gehorsam,489 aber zugleich als initiativ. Der eigentliche Unterschied zwischen den Interpretationen besteht in der Beschreibung der daraus abzuleitenden Identität Jesu. Aus welchem Selbstverständnis heraus agiert Jesus derart? Sind Jesu Vorhersagen ein Hinweis auf seine prophetische Macht490 oder soll er als leidender Gerechtet erscheinen? Ist das Vorauswissen ein Hinweis auf Jesu einzigartige Würde als Sohn Gottes491 oder artikuliert sich in diesem Wissen gar eine
487
Das Wissen Jesu stellt zwar einen wichtigen, aber keineswegs den einzigen Vergleichspunkt zwischen Jesus und der Erwartung endzeitlicher Prophetengestalten dar. Deshalb soll in Kap. 4.3.2a – auf der Grundlage aller Figurenmerkmale sowie der beobachtbaren Leserlenkung – ein externer Figurenvergleich durchgeführt werden. Im Folgenden konzentriere ich mich weiterhin auf das Wissen Jesu. 488 Der einzige Unterschied ist durch die Näherbestimmung des Fundortes gegeben (am Tor, auf der Straße). Das Wort a[mfodon, das in der LXX das Stadtviertel meint (LXX Jer 17,27; 30,33), gibt dabei nicht erst der heutigen Exegese ein Rätsel auf (vgl. bereits Polybius, Hist 39,3,2). Es steht hier wohl eher für die (Durchgangs)Straße (vgl. v.l. zu Apg 19,28). Mehrere Handschriften ersetzen an dieser Stelle a[mfodon durch ajmpevlou. Hier hinter steht jedoch offenkundig die Intention, den ohnehin gegebenen Bezug zu Gen 49,11 zu unterstreichen (s.u.). M.E. soll a[mfodon in Zusammenhang mit der Erwähnung des Tores darauf hindeuten, dass die Jünger nicht lange nach dem beschriebenen Esel suchen mussten. Auch die Näherbestimmung des Ortes soll inhaltlich mit Jesu Worten übereinstimmen: kai; eujqu~ eijsporeuovmenoi eij~ aujth;n euJrhvsete pw`lon [...]. 489 So LOHMEYER, Evangelium 1/2, 233.299f.; GNILKA, Evangelium II/2, 117.233; HAENCHEN, Weg, 373.474; SCHENKE, Literarische Eigenart, 263.317; COLLINS, Mark, 647. Eine rationalistische Erklärung, wie sie sich Ende des 19. Jhdts. vermehrt finden lässt und die Jesu Wissen durch vorherige Erkundungsgänge etc. plausibel machen will, findet sich in der heutigen Exegese nicht mehr und läuft dem Textsinn auch völlig zuwider. 490 So z.B. COLLINS, Mark 518: „The prediction in v. 2 that, as soon as they enter the village, they will see a young donkey tied up on which no one has ever sat manifests Jesus’ prophetic powers (cf. 14,12–16).“ 491 So HAENCHEN, Weg, 374 zu 11,1–11.
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
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göttliche Perspektive?492 Und wie verhalten sich hierzu die offensichtlichen Anklänge an eine messianische Königsgestalt in 11,1–11 (Sach 9,9; Ps 118,25f.; PsSal 17) oder die Selbstbezeichnungen Jesu als oJ kuvrio~ (11,3) und oJ didavskalo~ (14,14)? Offensichtlich scheinen sich hier überaus disparate Personenvorstellungen und Endzeithoffnungen zu überlagern. Betrachten wir zunächst 11,1–11. Bereits die Einleitung sorgt durch die Erwähnung mehrerer Ortsbezeichnungen für eine gewisse Verwirrung. Jesu Weg von Jericho (10,46–52) nach Jerusalem verläuft bei Markus über Bethfage und Bethanien. Die geografische Ungereimtheit, die sich daraus ergibt, dass der Weg über Bethfage einem Umweg gleichkommt, ist in der Exegese auf unterschiedliche Weise aufgelöst worden. Die Antwortversuche reichen von der Behauptung einer vermeintlichen Jerusalemer Perspektive 493 oder einer vergleichsweise groben Lokalisierungshilfe494 (vgl. Lk 19,29) bis hin zur These, Markus habe die Lage der Ortschaften schlichtweg nicht gekannt. Nun verkennen all diese Lösungsversuche jedoch, dass das im Nachhinein Erzählte durchaus auf der Voraussetzung eines Umweges aufbaut. 495 Würde von einer linearen Routenführung erzählt, so bliebe zumindest unverständlich, warum Jesus seine Jünger in ein Dorf schickt, das er ohnehin mit diesen durchqueren wird. Die Routenführung ist durchaus eine sinnvolle Vorbereitung für das von Markus zu erzählende Wunder.496 Wichtiger als die konkre492 „Jesus kann den Jüngern genaue Anweisungen geben, denn in göttlicher Perspektive kennt er nicht nur die Örtlichkeit, ohne sie zuvor betreten zu haben, sondern nimmt auch den späteren Ablauf der Ereignisse und die Reaktion der Augenzeugen vorweg. Jesus setzt in Gang, was längst von Gott zur Erfüllung der Prophetie von Sach 9,9 eingeleitet worden ist.“ (SCHENKE, Literarische Eigenart, 263). 493 So PESCH, Markusevangelium II/2, 172. Hierbei stellt sich allerdings die Frage, wie die Rezipienten einen derartigen Perspektivenwechsel bemerken konnten. Durch die vorherige Episode in Jericho und den vorausgesetzten Wegverlauf von dort nach Jerusalem hinauf wird zugleich eine entsprechende Blickrichtung (von Süden) vorausgesetzt. 494 So DSCHULNIGG, Markusevangelium, 294. Dieses Verständnis scheint auch dem Bericht des Lukas zugrunde zu liegen. Für Markus stellt sich allerdings die Frage, warum gerade diese beiden Ortsbezeichnungen gewählt wurden. Hätte in diesem Fall nicht die Erwähnung des Ölbergs ausgereicht, wo sich ohnehin die meisten Pilgerwege bündelten? 495 Dass die anderen Evangelisten die Routenbeschreibung auf je eigene Weise ändern (Mt 21,1; Lk 19,28f.; Joh 12,1.12), leitet sich primär aus der Häufung an Ortsnamen ab. Umgekehrt erschließt sich nicht, warum Markus angesichts fehlender Ortskenntnisse zusätzliche Dorfbezeichnungen einfügen sollte. Wer sich im Südwesten Deutschlands nicht auskennt, wird bei seiner Wegbeschreibung von Tübingen nach Stuttgart kaum Degerloch oder das Bohnenviertel erwähnen. Im Falle des Markusevangeliums liefe eine solche Hinzufügung sogar dem bisherigen Erzählinteresse zuwider, weil der Fokus ganz auf Jerusalem – als dem Ort der Passion – liegen soll. Werden Bethanien und Bethfage dennoch erwähnt, so legt sich umso mehr der Verdacht nahe, dass diesen Orten auch eine erzählerische Funktion zuzuschreiben ist. 496 Die historische Rückfrage, ob Jesus tatsächlich diesen Weg gewählt haben kann, lässt sich nicht beantworten und sie ist wohl zu spezifisch. Markus erweist sich bei der
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
ten Dorfbezeichnungen, deren hintergründiger Wortsinn kaum erzählerische Relevanz besitzen dürfte, erscheint mir, dass die Lage Bethaniens durch die Erwähnung des Ölbergs näherqualifiziert wird. Mit diesem Berg konnte sich bereits im Alten Testament das eschatologische Kommen Gottes verbinden (Sach 14,4).497 Für das 1. Jhdt. n. Chr. ist für diesen Ort zugleich das Auftreten selbsternannter Messiasgestalten bezeugt (vgl. Jos. Bell. 2,261; Ant. 20,170). Der Bezug zu Sacharja scheint bei Markus jedoch naheliegender zu sein. Wird der Einzug Jesu in Jerusalem auf der Folie von Sach 9,9 und damit einer königlichen Messiasvorstellung und Friedensverheißung erzählt, so ist jedoch zugleich von einer impliziten Korrektur des in Sach 14 gebotenen, kriegerischen Gottesbildes zu sprechen. 498 Der Schwerpunkt der markinischen Darstellung liegt trotz der räumlichen Situierung in jedem Fall auf Sach 9. Denn obwohl Markus im Unterschied zu Mt 21,4f. nicht explizit auf Sacharja verweist, ergibt sich die literarische Abhängigkeit bereits aus der Beschreibung des Esels. In Entsprechung zum Septuagintatext ist bei Markus noch wenig spezifisch von einem pw`lo~ die Rede, womit letztlich jegliches Jungtier bezeichnet werden kann. Der im Septuagintatext ausgesprochene Aspekt der Unberührtheit (pw`lo~ nevo~) findet bei Markus seine Entsprechung in dem Hinweis, dass der Esel noch nicht zugeritten war (V. 2b: ejfÆ o}n oujdei;~ ou[pw ajnqrwvpwn ejkavqisen).499 Der kurze Hinweis, dass der Esel angebunden war, lässt sich hingegen mit der Mehrheit der Exegeten als Reminiszenz an Gen 49,11 verste-
Lokalisierung einzelner Ereignisse oder bei der geographischen Anordnung seines Erzählstoffes als weitgehend freier Autor. 497 Diesen Textbezug betont besonders DUFF, March, 58,66. Allerdings übergeht er dabei allzu schnell die Differenzen, die v.a. in dem in Sach 14 gebotenen kriegerisches Szenario bestehen. Dass Gott hier wie in einer Passion in Jerusalem einziehe, vermag ich dem alttestamentlichen Text nicht zu entnehmen (ähnlich die Kritik bei COLLINS, Mark, 517 Anm. 41). 498 Dass Sach 9–14 durchaus als gemeinsame Texteinheit auf den christlichen Passionsbericht eingewirkt hat, ist v.a. in der Matthäusforschung eingehend untersucht und bestätigt worden (vgl. BRUCE, Zechariah, 336–353; EVANS, Zechariah’s Messianic Hope, 373– 388). Luz vertritt demgegenüber – wenig überzeugend – die Meinung, Matthäus habe das Buch Sacharja nicht einmal gekannt (vgl. LUZ, Matthäus I/3, 181 mit Anm. 34). 499 Der Rückfrage mancher Exegeten, wie Jesus auf einem nicht zugerittenen und damit widerspenstigen Jungesel in die Stadt habe einreiten können, ist zu modern gedacht. Markus wird sich hierum kaum Gedanken gemacht haben, weil ihm die gebotene Symbolik und der Bezug zu Sach 9 wichtiger waren, als die historische Plausibilität des Erzählten. Die gegebene Inkohärenz lässt sich darum auch nicht als Indiz für eine markinische Bearbeitung anführen (so HAENCHEN, Weg, 376). Wann der Bezug zum Sacharjatext im Verlauf der Textentstehung eingetragen wurde, lässt sich schlechterdings nicht mehr feststellen. Wichtig in unserem Kontext ist allein, dass diese Anspielung für die intendierten Rezipienten noch erkennbar ist.
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
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hen.500 Dass Jesus auf einem Jungesel in Jerusalem einzieht und damit auf einem königlichen Reittier, 501 verdeutlicht, dass er nach dem Verständnis des Evangelisten durchaus die Zuschreibung einer königlich-messianischen Würde provoziert hat. Wie schnell die geweckten Assoziationen jedoch missverstanden werden, verdeutlicht die Reaktion des Volkes. Die Menschen unterliegen demselben Missverständnis wie zuvor Petrus (8,29–33) und die anderen Jünger (10,35– 45). So lässt der zweite Jubelruf in V. 10 erkennen, dass sie allein auf die Errichtung einer gegenwärtigen irdischen Königsherrschaft hoffen: „Gelobt sei das Reich unseres Vaters502 David, das da kommt!“ Dass sich das markinische Bild Jesu keineswegs auf eine solche politische Erwartung reduzieren lässt, ergibt sich nicht nur aus dem näheren Erzählkontext (12,35–37) oder dem Gesamtevangelium (1,14f.), sondern auch aus der Episode selber. Durchaus entscheidend ist in diesem Zusammenhang die einmalige Selbstbezeichnung Jesu als „Herr“ und das hieraus abgeleitete Anrecht auf das Reittier (V. 3): oJ kuvrio~ aujtou` creivan e[cei. Man wird diese provokative Formulierung kaum entkräften können, indem man aujtou` als Possessivpronomen zu oJ kuvrio~ hinzuzieht und daraus ableitet, Jesu habe lediglich im Namen des eigentlichen Besitzers gebeten: „Sein Herr (sc. der Besitzer des Esels) bedarf seiner“.503 Dass die Rezipienten die Anwesenheit des Besitzers voraussetzen sollen, ist sehr unwahrscheinlich. Es fehlt nicht nur jeglicher Hinweis hierauf, sondern der bereits erwähnte Reiseweg Jesu sowie die ebenfalls ausgesprochene Versicherung einer Rücksendung des Esels (V. 3b) lassen dies unmöglich erscheinen. Wie lässt sich dann aber die Selbstbezeichnung oJ kuvrio~ verstehen? Oscar Cullmann vermutet, dass sich hierin schlichtweg die Erinnerung an eine historische Anrede Jesu bewahrt habe und diesem ein Jünger-
500 Mit COLLINS, Mark, 517; GNILKA, Evangelium II/2, 116; WITHERINGTON, Mark, 309, u.a. Eine solche Reminiszenz ist dabei alles andere als selbstverständlich, weil der Jakobssegen über Juda zunächst einen kollektiven Charakter besitzt. Erst durch eine frühchristliche Relecture wurde es möglich, diesen Text auf Jesus und damit auf eine Einzelperson zu beziehen. 501 Vgl. hierzu die Belege bei MEYERS/MEYERS, Zechariah, 129f. 502 Die Bezeichnung „Vater David“ ist sonst nicht bekannt. M.E. handelt es sich hierbei um eine markinische Wortschöpfung, die doppelt motiviert sein könnte: (1) Zum einen vermeidet Markus den erwartbaren Königstitel (vgl. dagegen Lk 19,38; Joh 12,13), weil er diesen für den eigentlichen Kreuzigungsbericht reserviert; (2) Der Ruf erweist die jubelnde Menge als „Söhne Davids“, d.h. es soll der Eindruck einer engen, vertrauensvollen Beziehung zwischen König und Volk zum Ausdruck gebracht werden. Während die Israeliten David in dieser Hinsicht als Vater bezeichnen könnten, hat Jesus jedoch als dessen Herr zu gelten, wie er im weiteren Erzählverlauf selber verdeutlicht (12,35–37). Markus pflegt auch sonst einen spielerischen Umgang mit Verwandtschaftsbegriffen (vgl. 10,46–48; 5,23.34; 3,31–35). 503 So z.B. LANE, Mark, 395–397
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
Rabbi-Verhältnis zu Grunde liege.504 Wahrscheinlicher ist es jedoch, dass die intendierten Rezipienten „Kyrios“ bereits hier im Sinne eines hoheitlichen Selbstanspruches Jesu begriffen haben. Ähnlich wie in 12,35–37 kommt darin die besondere Erhabenheit Jesu zum Ausdruck. Diese stellt ihn über David und den wiederkommenden Davidssohn. Hat 11,1–11 damit Jesu königliche Würde zum Thema und demonstriert zugleich seine Erhabenheit über die hergebrachten Sohn-Davids-Erwartungen, so erscheint er in 14,12–16505 als Parallel- und Kontrastfigur zu den alttestamentlichen Prophetengestalten, wobei der engste Bezug zu 1Sam 10506 und damit zur Person des Samuel besteht (vgl. daneben 1Kön 17,8–16; 2Kön 1,1–18). Eine Parallelität lässt sich nicht nur auf semantischer (LXX 1Kön 10,2: ajpevlqhæ~; 10,2f.: euJrhvsei~; 10,5: ajpanthvsei~) und symbolischer Ebene (LXX 1Kön 10,3: Krugträger) feststellen.507 Auch die Verteilung der Handlungsrollen weist Analogien auf,508 wobei eine frappierende Gemeinsamkeit darin besteht, dass die Helfer jeweils von sich aus auf die Gesandten zugehen bzw. diese ansprechen (1Sam 10,2b.3f.; Mk 14,13: ajpanthvsei uJmi`n). Dieses Detail lässt zugleich erkennen, dass Markus das wunderhafte Vorherwissen Jesu inszenieren will und keineswegs daran gedacht ist, dass Jesus zuvor alles arrangiert habe.509 504
CULLMANN, Christologie, 210. Die beiden Episoden 11,1–11 und 14,12–16 markieren nicht nur den Anfangspunkt des Jerusalemaufenthalts und den Übergang zu eigentlichen Passion, sondern sie sind auch durch die Figurenkonstellation (Jesus, zwei Jünger, Helfer), das Motiv des Vorherwissens und Sendens (inkl. Befehl), das Betreten der Stadt und die Erfüllung des Vorhergesagten miteinander verbunden. Außerdem wird Jesus durch die Bezeichnung „Herr“ bzw. „Lehrer“ jeweils eine hohe Autorität zugeschrieben. 506 So bereits BULTMANN, Geschichte, 283f., der die Parallelitäten jedoch auf ein gemeinsames „Märchenmotiv“ zurückführt, bei dem „ein Wesen (meist ein Tier) dem Wandernden vorausgeht und ihm dadurch den Weg weist.“ Dass der intendierte Rezipient ein solches Motiv – im Sinne eines festgeprägten kognitiven Schemas – kannte und dieses in 14,12–16 aktivieren konnte, ist jedoch gänzlich unwahrscheinlich. Eine Kenntnis von 1Sam 10 ist demgegenüber wesentlich wahrscheinlicher (ähnlich GNILKA, Evangelium II/ 2, 232). 507 Zu diskutieren ist ferner, ob durch die vorherige Salbung Jesu im Hause Simon (14,3–9) ein weiterer Bezug hergestellt werden soll. Der Unterschied besteht freilich darin, dass es sich bei Jesus nicht um eine Königssalbung, sondern eine vorweggenommene Totensalbung handelt. Die Frau verwendet wohlriechende Aromen (muvron) und kein Olivenöl (e[laion), wie es bei Königssalbungen benutzt wurde (vgl. COLLINS, Mark, 642). 508 Protagonist: Samuel/Jesus; Empfänger: Saul/zwei Jünger; Helfer: Männer auf dem Weg/Wasserträger und Hausherr. In beiden Episoden gibt es keine (expliziten) Antagonisten. 509 Gegen PESCH, Markusevangelium II/2, 343. HURTADO, Mark, 220f., erkennt hinter Jesu Verhalten die Motivation der Geheimhaltung. Jesus habe alles im Vorfeld vorbereitet, damit er mit seinen Jüngern an einem geheimen Ort feiern könne und sich der geplanten Verhaftung entziehe. Auch die Formulierung o{pou eja;n eijsevlqhæ weist jedoch darauf hin, 505
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Die kurze Episode setzt in V. 12 mit der verständlichen Frage der Jünger ein, wo denn das Passalamm zubereitet werden solle. Durch die vorangestellte Zeitangabe wird die Dringlichkeit dieser Frage unterstrichen. Der erste510 Tag des großen Festes ist bereits angebrochen. Da das Festmahl damit in wenigen Stunden ansteht und die Aufgaben der Vorbereitung überaus vielfältig sind, wollen die Jünger die Aufgabe in die Hand nehmen.511 Dadurch wird aber nur erneut ihr Unglaube offenbar, weil sie mit ihrer Frage indirekt voraussetzen, dass Jesus nicht für sie – in ausreichendem Maße – gesorgt habe (vgl. 4,38). Der weitere Verlauf der Erzählung demonstriert vor diesem Hintergrund gerade Jesu umfängliche Fürsorge und wird zugleich zu einer Demonstration dafür, dass Jesus selbst die Einzelheiten der bevorstehenden Passion bekannt sind und er somit Herr der Situation bleibt. Diese Überlegenheit und Situationsmächtigkeit erhält durch zwei Kontrastierungen die besondere Aufmerksamkeit der Rezipienten. Im Unterschied zu Samuel tut Jesus seinen Jüngern nicht nur das kund, was ihm Gott unmittelbar zuvor gesagt hat (1Sam 9,27), sondern er erscheint selber als „Auslöser“ und „Entscheider“ (Eder). Autoritativ redet er von sich als dem Lehrer (oJ didavskalo~512). Die Jünger sollen dem Hausherrn nicht nur eine Bitte übermitteln, sondern dieser empfängt – wie zuvor der Besitzer des Eselfüllens – einen Befehl Jesu und hat ihm seine Räumlichkeiten zur Verfügung zu stel-
dass die Ereignisse – aus menschlicher Perspektive – zufällig wirken und Jesus trotz dieser vermeintlichen Zufälligkeit sowie der Alltäglichkeit des Szenarios den Überblick behält. Mit GNILKA, Evangelium II/2, 233, ist auch das Auftreten eines Wasserträgers in Jerusalem ein alltägliches Geschehen. Wenngleich in der Regel Frauen das Wasser für den (eigenen) Haushalt zu besorgen hatten (vgl. Joh 4), ist hier vorauszusetzen, dass der (reiche) Hausherr seinen Sklaven zum Brunnen geschickt hat (ähnlich GUNDRY, Mark, 821). 510 Die vermeintliche Problematik, dass Markus in V. 12. zugleich vom Tag der ungesäuerten Brote (V. 12a), d.h. dem eigentlichen Festtag, und vom Tag der Opferung der Passalämmer (V. 12b) sprechen kann, löst sich angesichts ähnlicher Zeitangaben in jüdischen Texten auf. Hier kann der 14. Nissan ebenfalls als erster Tag der ungesäuerten Brote bezeichnet werden (vgl. JEREMIAS, Abendmahlsworte, 11). 511 GNILKA, Evangelium II/2, 231f., erkennt in diesem Erzählzug ein Anzeichen dafür, dass es sich um eine alte Erzähltradition handelt. In jüngeren Überlieferungsschichten erscheine Jesus sodann als Initiator. Abgesehen davon, dass dieses Indiz vergleichsweise schwach ist, um eine entsprechende Überlieferungsgeschichte zu rekonstruieren, gerät dadurch die erzählerische Absicht des Markus aus dem Blick. 512 Wird Jesus zuvor von anderen Figuren als „Lehrer“ angeredet, so spricht er nun erstmals von sich als ebensolchem. Dabei fällt auf, dass das Possessivpronomen ausgelassen wird. Zugleich ist zu betonen, dass durch den Lehrerbegriff lediglich Jesu Autorität unterstrichen werden soll. Die Bezeichnung spielt sonst kein größere Rolle im Urchristentum und lässt sich darum kaum titular verstehen (vgl. hierzu ausführlich RIESNER, Lehrer, 246–276). Wenn Markus den Begriff hier verwendet, so hat er ihn schlichtweg aus der älteren Überlieferung übernommen. Er gewinnt im erzählerischen Kontext keine weitere Ausschmückung oder Aufmerksamkeit.
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len.513 Jesu Vorauswissen gründet bereits in seiner Sendung (1,2f.; 2,19–20; 8,31; 9,12f.; 9,31; 10,33f.) und damit seinem präexistenten Wesen. Zweitens, wird Jesu Überlegenheit dadurch demonstriert, dass sich die Ereignisse der Passion bis ins Detail so erfüllen, wie er es will und nicht so, wie es die Autoritäten erhofft haben. Da die religiösen Führer die Reaktion der Bevölkerung fürchten (11,18; 12,12) und eine Verhaftung Jesu während des Festes ausdrücklich vermeiden wollen (14,2: mh; ejn th`æ eJorth`æ, mhvpote e[stai qovrubo~ tou` laou`), laufen die beschriebenen Ereignisse ihrem Plan zuwider. „Entgegen der Planung der Gegner findet Jesu Auslieferung und Tötung ‚am Fest‘ statt. Nicht die Gegner sind die Herren über die jetzt folgenden Termine und Ereignisse.“514
Wenn die Autoritäten in der Folge die Gelegenheit ergreifen, die sich durch den Verrat des Judas ergibt (14,10f.43–52), dann werden sie hierdurch nur zum Handlanger Jesu, der seinem Vater gegenüber – auch bis zum eigenen Tode – gehorsam bleibt. Weiß der markinische Jesus damit bis ins kleinste Detail um die Ereignisse der nahen und ferneren Zukunft und kennt zudem die Ereignisse der eschatologischen Endzeit, so muss unter Berücksichtigung der Endzeitrede gleichwohl eine Differenz zwischen dem Wissen des Vaters und des Sohnes festgehalten werden. Nur der Vater kennt den Tag und die Stunde, zu der der erhöhte Menschensohn wiederkommen wird (13,31f.). Dieses Wissen bleibt allein dem Vater vorbehalten und zeichnet diesen vor den Engeln, aber eben auch vor dem Sohn aus. Die Betonung des übernatürlichen Vorherwissens soll zwar Jesu Einzigkeit betonen und lässt v.a. seine Überlegenheit gegenüber den Propheten und dem erwarteten königlichen Davididen erkennen, aber es bleibt zugleich bei einer Unterscheidung zwischen Vater und Sohn. Eine undifferenzierte Gleichsetzung zwischen Jesus und Gott gibt es, wie bereits mehrfach beobachtet wurde, auch an dieser Stelle nicht. h. Pflichten (Wichtigkeit: ***): Durch die im vorherigen Abschnitt angesprochenen Aspekte der Sendung und des Leidenmüssens sind bereits zwei wesentlichen Pflichten Jesu benannt. Zugleich haben wir bereits oben gesehen (vgl. „Wissen“), dass Jesus von Anfang an – und sogar vor der erzählten Zeit – um Gottes entsprechenden Ratschluss weiß. Diesem Ratschluss unterwirft sich Jesus jedoch nicht nur, sondern er bewirkt zugleich dessen Umsetzung durch sein vollmächtiges Wirken (1,21–10,52) und seinen Weg in die Passion (8,31–15,37). Während sich die Jünger und die anderen Nachfolger angesichts des bevorstehenden Martyriums immer wieder erschrocken zeigen und an einer irdischen Messiasvorstellung festhalten wollen, werden an der Figur Jesu zunächst keinerlei Zweifel oder Bedenken erkennbar. Umso überra513 514
Mit GNILKA, Evangelium II/2, 233. SCHENKE, Literarische Eigenart, 317.
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
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schender wirkt im Rezeptionsprozess dann die Gethsemane-Episode (14,32– 52). Zweifelt Jesus hier nicht doch an der Sinnhaftigkeit seiner Beauftragung und stellt wenigstens für einen Moment seine eigenen Wünsche über seine Pflicht und damit den Ratschluss Gottes? Erweist sich dieses Figurenmerkmal damit zugleich als inkohärent oder ist von Mk 14 aus Jesu Pflichtbewusstsein – im Sinne eines Entkategorisierungsprozesses – neu zu beurteilen? Diese Fragen und ihre Beantwortung sind an dieser Stelle vorerst zurückzustellen. Eine umfassende Analyse dieses (möglichen) Autoritätskonflikts515 ist nämlich erst unter gleichzeitiger Berücksichtigung der Bedürfnisse Jesu (s.u. „Wünsche“) und anderer Figurenmerkmale sowie des Handlungsverlaufs sinnvoll. Ein weiterer Konflikt ergibt sich aufgrund der Werte und Normen, die die religiösen Autoritäten an Jesus herantragen und zu denen sie Jesus damit verpflichten wollen. Die einzelnen Konfliktfragen werden zumeist durch ein nonkonformes Verhalten Jesu oder seiner Jünger ausgelöst, von den religiösen Autoritäten als solches wahrgenommen (und artikuliert) sowie von Jesus autoritativ entschieden. Immer wieder handelt es sich dabei um Werte und Normen, die auch den Rezipienten aufgrund ihres textexternen Wissens bzw. ihrer eigenen Lebenswelt vertraut waren. Insofern Jesus im Zuge des Parteienkonflikts die Autorität der religiösen Entscheidungsträger auf fundamentale Weise hinterfragt und zugleich einen eigenen, konfrontativen wie normativen Autoritätsanspruch erhebt, der ihn im Zweifelsfall sogar über die Autorität der Tora stellt, wirkt er aus Sicht der Rezipienten als maßgebliche Norminstanz. Sein Verhalten und sein überlegenes Auftreten wecken über den Erzählverlauf Sympathie und Zuspruch. Dies bedeutet nicht, dass sich die Rezipienten in ihren inner- und außergemeindlichen Konflikten an Jesu Verhalten orientieren sollen. Jesus eignet sich nur sehr bedingt als Vorbild bzw. exemplum,516 weil seine Überlegenheit v.a. in seiner Identität und dem damit 515
FINNERN, Narratologie, 115 bezeichnet einen Konflikt zwischen den Pflichten einer Figur und ihren Wünschen als „Moralkonflikt“. Hierdurch wird der Begriff der Pflicht jedoch voreilig auf seine moralische Dimension reduziert. Eine Pflicht kann jedoch auch aus einer konkreten Beauftragung abgeleitet werden. In diesem Fall ist der Pflicht-/ Wunschkonflikt immer zugleich ein Parteienkonflikt. Zugleich handelt es sich aber durchaus auch um einen Konflikt „innerhalb“ der Figur, weil diese zwischen den eigenen Wünschen und der – von ihr anerkannten – Pflicht entscheiden muss. 516 Gegen SCHENKE, Jesus, bes. 95: „Der Jesus des MkEv ist in jeglicher Hinsicht ein Vorbild für seine Jünger und überhaupt für alle seine Nachfolger, wenn er sie auch als der präexistente Gottessohn an Würde und Bedeutung weit überragt.“ Dass auch die Jünger (und andere Nachfolger) von der eigenen Familie ausgeschlossen und von ihren Mitmenschen gehasst werden (13,12.13), dass sie vor menschliche Gerichte gestellt werden (13,9; 8,38) und das Martyrium erleiden müssen (10,38f.) – kurzum: dass die in vielerlei Hinsicht ein ähnliches Schicksal wie Jesus ertragen müssen – erweist Jesus noch nicht als ihr Vorbild. Vielmehr richtet das Markusevangelium inmitten dieser Verfolgungssituation den Blick auf den Jesus, der allein über alle erfahrene Not erhaben bleibt und seinen Beistand
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verbundenen Vorauswissen sowie der verliehenen Vollmacht gründet. Die Rezipienten können und sollen aber seinem Autoritätsanspruch folgen und sich in ihren Auseinandersetzungen auf die neuen Werte und Normen, die angesichts der angebrochenen Königsherrschaft Gottes gelten, berufen (vgl. z.B. 7,19b nach 7,15.18–19a517). i. Wünsche (Wichtigkeit: **): Die Bedürfnisse Jesu und die daraus situativ abgeleiteten Wünsche nehmen im Markusevangelium – auch im Vergleich zu den anderen Evangelien – einen vergleichsweise geringen Raum ein. Augenscheinlich wird dies bereits bei Jesu erstem Auftritt, nämlich im Zusammenhang seiner Versuchung. Während der ausführliche Dialog zwischen Jesus und dem Teufel bei Matthäus (Mt 4,1–11) und Lukas (Lk 4,1–13) durchaus auf Jesu Bedürfnisse – wie den Wunsch nach Speise, nach einer irdischen Machtfülle oder Wunderkraft – eingeht, bleibt das eigentliche Versuchungsgeschehen bei Markus eher eine Randnotiz, die in den ohnehin knappen Bericht Mk 1,12f. eingeschoben wird.518 Der intendierte Rezipient wird sich angesichts des vierzigtägigen Wüstenaufenthalts zwar durchaus ein Bild von Jesu physischer und psychischer Verfasstheit machen können – und es ist in diesem Zusammenhang durchaus bemerkenswert, dass auch zahlreiche
versichert. Jener Jesus, der sich als wiederkommender Menschensohn zu denen bekennen wird, die sich zu ihm bekannt haben (8,38) und der denen ewiges Leben verspricht, die es um seinetwillen verlieren (8,35). Auch in ihrem Verkündigungsdienst und ihrer Wundertätigkeit bleiben die Jünger „Gesandte“ Jesu (6,7), die zudem erst nach Ostern zur Erkenntnis seiner wahren Identität gelangen konnten. Und wenngleich sich ihre Gemeinschaftsform am Ideal des Dienens zu orientieren hat, so bleibt der stellvertretenden Tod Jesu doch das eine Fundament diese Gemeinschaft, weil Jesus allein sein Leben für die vielen geben konnte (10,43–45). Vorbild ist im Markusevangelium nicht Jesu, sondern Vorbild sind all jene Bedürftigen, die die Kunde von ihm hören, sich angesichts dessen auf ihn verlassen können und eine zeichenhafte Heilung erfahren. 517 Wenn hier in manchen Kommentaren angemerkt wird, dass Jesu Unterweisung im Haus nur noch einen sehr indirekten Bezug zur Ausgangsfrage (7,5) aufweise, so ist dies gerade darin begründet, dass die Erzählung über die erzählte Welt hinaus eine Antwort auf einen außertextlichen Konflikt geben will. Hierbei erweist sich die Schlussfolgerung, die aus dem gesamten Argumentationsverlauf erwächst, zugleich als übergeordnete Bestimmung: Wenn der Mensch durch nichts, was außerhalb seiner selbst liegt, verunreinigt werden kann (V. 15), so erweist sich damit auch das eingeforderte Händewaschen als widersinnig. Unabhängig davon, dass diese Vorschrift ohnehin von Jesus als väterliche Überlieferung und damit als „Menschensatzung“ entlarvt und diskreditiert wurde. 518 Vgl. bereits die ähnliche Feststellung bei BULTMANN, Geschichte, 271: „In dem MkBericht erfährt man weder, worin die Versuchungen bestanden haben, noch welchen Sinn es hat, daß Jesus meta; tw`n qhrivwn ist.“ Manche Exegeten halten peirazovmeno~ uJpo; tou` satana` deshalb gar für einen nachträglichen Zusatz (vgl. 271 Anm. 1). Sollte es sich um eine markinische Hinzufügung handeln, stellt sich aber die Frage, warum er diesen Erzählzug dann nicht weiter entfaltet hat.
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
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Kommentatoren auf diese Frage eingehen519 – einzig, Jesu Bedürfnisse werden weder explizit thematisiert, noch wird der erzählerische Fokus hierauf gelenkt. Wie schon bei der Taufe schaut der Rezipient Jesus vor den Kopf. In der Folge fällt auf, dass Jesus durchaus einen ausgeprägten Sinn für die Bedürfnisse anderer Menschen hat (z.B. 6,31520; 8,1–3) und z.T. explizit nach deren Wünschen fragt (10,36521; 10,51), dass er im Kontrast hierzu aber kaum persönliche Bedürfnisse und Wünsche artikuliert oder erkennen lässt. Dort, wo derartige Wünsche thematisiert werden, stehen sie zumeist in einem unmittelbarem Zusammenhang mit Jesu Sendung, wie bei der Jüngerberufung (1,17; 3,13) oder seinem Wunsch im Verborgenen zu agieren (7,24b; 9,30). Weitgehend losgelöst hiervon wird gelegentlich von einem geistlichen Bedürfnis Jesu erzählt, das darin besteht, in der Einsamkeit zu beten und die Nähe Gottes zu suchen (1,35; 6,46522; vgl. auch 14,35523). Insgesamt ist jedoch keineswegs davon zu sprechen, dass die Bedürfnisse und Wünsche Jesu dazu beitrügen, ihn näher von seiner menschlichen Seite zu porträtieren. Gerade dieses wird nun im Hinblick auf 14,35f. immer wieder betont.524 Und lässt sich Jesu Bitte an den Vater nicht tatsächlich am einfachsten so erklären, dass der Sohn seinen eigenen Wunsch nach Leben und 519
poihvsw besitzt hier, innerhalb der Aufforderung an die Jünger, einen voluntativen Aspekt (vgl. HOFFMANN/VON SIEBENTHAL, Grammatik, §202c). 520 Demgegenüber fällt auf, dass die „Not“ der Menschen in 6,35 von den Jüngern an Jesus herangetragen wird. Hierbei ist kaum zu erwarten, dass Jesus der nahende Abend und die öde Landschaft entgangen sind und er die Menge geradezu verantwortungslos in diese prekäre Situation gebracht hat (vgl. 8,1–3). Vielmehr ist zu schlussfolgern, dass Jesus – wie bereits zuvor (5,39–42) – um das nachfolgende Wunder weiß bzw. auf ein Eingreifen Gottes vertraut. 521 Mit der gleichen Entschiedenheit, mit der die Zebedaiden ihren Wunsch daraufhin äußern (dov~/gib!), weist Jesus diesen mit seiner zweiten Antwort zurück, in dem er auf Gottes Vorherbestimmung und seinen begrenzten Machtbereich verweist (V. 40: oujk e[stin ejmo;n dou`nai). 522 Hier in der Verknüpfung mit dem Aufenthaltsort auf dem Berg zugleich als Motiv der Theophanie und um Jesu rettendes Eingreifen aus der Ferne einzuleiten (s.o.). 523 Kai; proelqw;n mikrovn. Dieses Entfernen lässt sich weder mit einem entsprechenden Verhalten anderer Prophetengestalten vergleichen (so GNILKA, Evangelium II/2, 260 unter Verweis auf Gen 22,5; Ex 19,3; Jer 15,17), noch mit der unfreiwilligen Einsamkeit eines leidenden Psalmbeters (so SCHENKE, Studien, 549 unter Verweis auf Ps 27,10; 31,12; 69,9). 524 Vgl. etwa SCHENKE, Literarische Eigenart, 325f.; FRITZEN, Gott, 325f. Entsprechende Auslegungen finden sich zudem schon in der frühen und frühmittelalterlichen Kirche (vgl. Orig. c. Cels. 2,24; PG 123,653; Beda PL 92,275 [hier apologetisch]), wobei diese eindeutig von der Ausprägung einer Zwei-Naturen-Lehre beeinflusst sind. Für Thomas von Aquin ist die Episode später sogar Beleg dafür, dass Jesus neben einem göttlichen auch einen menschlichen Wille habe (vgl. Thomas von Aquin, Summa theologica III q. 18, a. 1). Auch an dieser Stelle ist man jedoch gut beraten, die Wirkungsgeschichte einer Erzählung von der historischen Interpretation zu unterscheiden.
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körperlicher Unversehrtheit plötzlich über den Willen Gottes und die damit gegebene äußere Pflicht stellt?525 Lässt sich hier nicht tatsächlich ein Wandel oder gar eine Krisis erkennen, die darin besteht, dass Jesus seine eigene Selbstverpflichtung, die in seiner Verkündigung, seinem Wirken und seinen Weissagungen zur Sprache kam, nun in Frage stellt und mit ihr zugleich die Autorität Gottes?526 Oder ist der Einschnitt vergleichsweise geringer, so dass eher von einem Lernprozess, einem Einüben des rechten Gehorsams im Angesicht des Todes zu sprechen ist (vgl. Hebr 2,9)?527 Der Text ermahnt in jedem Fall zur genauen Lektüre, wobei gerade auch die Bezüge und Verknüpfungen zum vorherigen Handlungsverlauf sowie der erzählerische Fortschritt innerhalb der Episode zu berücksichtigen sind: Im Hinblick auf die Gesamthandlung erweist sich die Gethsemane-Episode offenkundig als Knotenpunkt.528 Nicht nur der Konflikt mit den Autoritäten findet hier einen vorläufigen Höhepunkt, weil der in 3,6 gefasste Mordbeschluss nun seiner unrevidierbaren Realisierung entgegenstrebt, 529 sondern auch das Unverständnis der Jünger, das in deren mangelnder Wachsamkeit (14,37f.40.41 nach 13,34–37) sowie der Flucht gipfelt (14,50). Zugleich wird die Beziehung zwischen Gott und Jesus erneut in den Vordergrund gerückt (1,9–11; 9,2–8), während diese in den Leidensweissagungen Jesu und im offenkundigen Vorherbestimmtsein der Jerusalemer Ereignisse eher den Charakter einer Hintergrunderzählung erhalten hatte. Greift man aus dem größeren Erzählabschnitt die Gebetsszene in 14,33–36 heraus, so lässt sich eine noch engere Verknüpfung mit der Verklärungsszene (9,2–8) erkennen. Ein Sachverhalt, der in der Markusexegese bereits häufig bemerkt und ausführlich beschrieben wurde.530 Trotzdem können die in Kap. 2 vorgestellten Kriterien zur Analyse der Verknüpfungsstärke einen Beitrag 525
So SCHENKE, Literarische Eigenart, 325f.: „Jesus bittet tatsächlich um die Aufhebung des Planes Gottes (vgl. 1,2f.); Gott soll das dei` des Leidens Jesu (vgl. 8,31) zurücknehmen, die Ankündigungen der Schrift (vgl. 9,12.31; 14,21) leerlaufen lassen. [...] Wie jeder Mensch schreckt auch er [sc. Jesus] vor dem Sterben zurück.“ Schenke betont zugleich, dass Jesus um die unmögliche Erfüllbarkeit dieser Bitte weiß und über den Erzählverlauf seine eigenen Wünsche wiederum zurückstellt und den Willen Gottes von neuem bejaht (vgl. SCHENKE, Literarische Eigenart, 326f.). 526 So etwa FRITZEN, Gott, 326.: „[Es] ist in aller Deutlichkeit angezeigt, dass Jesu bisherige Akzeptanz des von Gott aufgegebenen Weges in die Krise gerät“. Das Moment der Infragestellung wird auch außerhalb der Exegese betont (vgl. v.a. BARTH, KD IV/1, 291– 298). 527 So in der Tendenz GUTTENBERGER, Gottesvorstellung, 195: „Es verändert sich eben nicht die äußere, sondern die innere Wirklichkeit: Jesus überwindet die deiliva.“ 528 Ähnlich bereits die Beobachtung bei GUTTENBERGER, Gottesvorstellung, 188 in Anlehnung an KELBER, Hour, 50. 529 Auch die Frage, wann, wo und wie Judas Jesus verraten wird (vgl. 3,19), findet damit nun eine Beantwortung. 530 Vgl. GUTTENBERGER, Gottesvorstellung, 190–195.
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
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dazu leisten, die erfassten Bezugspunkte neu zu systematisieren und kritisch auszuwerten. Hierbei ist zunächst im Sinne eines negativen Befundes festzuhalten, dass beide Szenen weder durch einen metakommunikativen Hinweis noch durch eine semantische Übereinstimmung oder eine offensichtliche Korrespondenz der Zeit531, des Raumes oder einzelner Gegenstände verbunden sind. Auch die Erzählperspektive ist eine gänzlich andere: Hier ist die Erzählung auf Jesus fokalisiert, wobei dieser zugleich das Wahrnehmungszentrum darstellt, dort sind es die Jünger, deren Wahrnehmungen, Meinungen und Gefühle der intendierte Rezipient erfährt und antizipieren soll. Dieser Unterschied in der Darstellungsweise verbietet es auch, beide Szenen im Hinblick auf die Gemütswelt Jesu zu vergleichen. Hätte der intendierte Rezipient einen diesbezüglichen Vergleich anstellen sollen, so hätte der Erzähler ihm dafür mehr Anhaltspunkte bieten müssen.532 Dass der Verklärungsbericht und Jesu Gebet in Gethsemane trotzdem aufeinander zu beziehen sind, ergibt sich über den gleichen Figurenbestand und die kontrastive Figurenrelation. So dürfte es kaum zufällig sein, dass sich Jesus sowohl in 9,2–8 als auch in 14,33–36 in der Gemeinschaft des engeren Jüngerkreis befindet (vgl. noch 5,37–43). Zugleich lässt sich eine kontrastive Figurenrelation ausmachen, weil durch die Verklärung auf dem Berg533 und die Gottesstimme eine größtmögliche Nähe zwischen Jesus und seinem Vater demonstriert wird, während die wiederholt vorgetragene Gebetsbitte – V. 35 (indirekte Rede), V. 36 (direkte Rede), V. 39 (erzählte Rede), V. 41 (Ellipse) – und das offensichtliche Schweigen Gottes ein deutlicher Hinweis auf dessen Ferne sind.534 531 Während die explizite Zeitangabe in 9,2 („nach sechs Tagen“) ohne erkennbaren Bezug bleibt und gerade deshalb Aufmerksamkeit erweckt, folgen die Ereignisse in Jerusalem einem durchaus erkennbaren Wochenschema (s.o.), in dessen Verlauf sich die Gethsemane-Episode dem sechsten Tag zuordnen lässt. Allerdings bleibt dann unverständlich, warum die Verklärung erst „nach sechs Tagen“ und nicht „am sechsten Tag“ erfolgt. Außerdem findet sich in der Gethsemane-Episode gerade kein Hinweis auf die zeitliche Situierung, sondern der Rezipient muss sich dies aus dem vorherigen Erzählverlauf (14,12.17) erschließen. Insgesamt erscheint mir eine bewusste Verknüpfung über den Zeitaspekt damit zwar möglich, aber wenig wahrscheinlich. 532 Dass der Rezipient bei der Verklärung und im Zuge der Leidensankündigungen keine Innensicht in Jesus erhält, sollte auch nicht zu dem voreiligen Schluss führen, Jesu sei ansonsten „emotionslos“ (FRITZEN, Gott, 325). 533 Der Berg wird im Markusevangelium primär als Ort der Gottesbegegnung und Offenbarung verstanden (vgl. 6,46 [Gebet]; 9,2–7 [Verklärung]), wobei die Rezipienten auf eine entsprechend vielfältige alttestamentliche Motivik zurückgreifen können: vgl. Ex 19– 24 (Tora); Gen 22 (Abraham); 1Kön 11,36; Ps 132,13 u.ö. (Zion); Ps 2,6; 121,1; Jes 27,13 u.ö. („heiliger Berg [Zion]“). 534 An diesem Kontrast zwischen Gottesnähe und Gottesferne ist Markus auch schon beim ersten Auftritt Jesu interessiert, insofern er die Versuchung Jesu (1,12f.) unmittelbar auf das Taufgeschehen (1,9–11) folgen lässt und explizit erwähnt, dass der Geist (Gottes)
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Betrachtet man die eigentlichen Gebetsbitten Jesu, so spiegeln diese – trotz der gewandelten Situation und der wiederholt vorgetragenen Todesangst Jesu535 – durchaus das vertrauensvolle Verhältnis der vorherigen Erzählung wider. Hierbei ist die direkte Figurenrede in V. 36 als Kommentar zur indirekten Rede in V. 35 zu begreifen. Beide Wiedergaben stimmen zunächst in der Aussage überein, dass bei Gott alles möglich sei. Dabei reicht es nicht, die Formulierung pavnta dunatav als formelhafte Gebetseröffnung zu begreifen.536 Vielmehr lässt sich durch eine breite Textbezeugung belegen, dass diese Worte eine letzte Zuversicht in Gottes Allmacht und sein rettendes Eingreifen zum Ausdruck bringen. 537 Bereits in 10,27 entsprach es dem Standpunkt Jesu, dass bei Gott möglich sei, was dem Menschen – im Hinblick auf sein eigenes Heil – unmöglich bleibe. Hieran wird sich der intendierte Rezipient unweigerlich erinnern.538 Ein Wandel im Gottesbild lässt sich damit gerade nicht feststellen. Wichtig ist zudem, dass die an sich neutrale Wendung pavnta dunatav539 explizit an die Anrede Gottes als Vater gebunden wird. So adressiert Jesus seine Bitte vertrauensvoll an Gott als seinen „Abba“, was für den griechischsprachigen Rezipienten zugleich wiederholend mit „mein Vater“ übersetzt wird.540 Auch hierin zeigt sich eine Konstante zur vorherigen Handlung: Jesus bittet keineswegs aus einer Haltung des Misstrauens heraus, sondern er wendet sich gerade im Moment der tiefsten Betrübnis an den Gott, der sich von Beginn an – und bereits vor der erzählten Jesus in die Wüste getrieben habe. Dass die anderen Evangelisten diese Erzählordnung für zu provokativ hielten, leitet sich aus der faktischen Trennung beider Szenen bei Matthäus und Lukas ab. 535 Nachdem die Erzählung bereits in V. 33 auf Jesus fokalisiert ist und der Rezipient so von Jesu Angst erfährt, wird dies durch die Figurenrede in V. 34 bestätigt und verstärkt. 536 VAN UNNICK, Alles, 28 arbeitet die Parallelen zwischen dem griechischen Gebet und dem Gethsemane-Gebet Jesu heraus. Vor diesem Hintergrund ließe sich die Formulierung als „pars epica“ begreifen. Selbst wenn den Rezipienten diese Formparallelen bewusst waren, relativiert dies aber keineswegs das in Jesu Worten zum Ausdruck gebrachte Vertrauen – als ob der Rückgriff auf liturgische Formen einer persönliche Identifizierung mit deren Inhalten zuwiderlaufen würde. 537 Vgl. die ausführliche Quellenbesprechung bei GUTTENBERGER, Gottesvorstellung, 193f. und dazu v.a. Phil. Jos. 245; spec 4,127; opif. 46; Abr. 112.175; virt. 26; somn. 1,87. 538 So erscheint es offensichtlich, dass dort die Frage der Jünger nach dem ewigen Heil (10,24) und ihre Verunsicherung (10,26) angesichts des exklusivistischen Wortes Jesu auch den intendierten Rezipienten unmittelbar angehen und er gerade deshalb die abschließende Erklärung Jesu im Hinterkopf behält. 539 Allerdings wird diese Wendung auch als solche schon im Alten Testament und darüber hinaus zumeist auf Gott oder je nach kulturellem Kontext auf die Götter bezogen (vgl. Belege bei GUTTENBERGER, Gottesvorstellung, 193). 540 Auch wenn der Erzähler diese Übersetzung nicht als solche markiert, wie an anderer Stelle, so ergibt sich die Doppelung der Anrede doch ganz offensichtlich aus diesem Kommunikationsinteresse. Es soll damit also gerade keine Abstufung im Vertrauensverhältnis getroffen werden.
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Zeit – als sein Vater erwiesen (1,2f.11) und der sich den Jüngern als ebensolcher offenbart hat (9,7). Er wendet sich an jenen Vater, von dem er im Gleichnis sagen konnte, dass er das Vergehen der Weingärtner rächen und den verworfenen Stein zum Eckstein machen werde (12,10–11). Lässt sich im Gottesbild und in der Gottesbeziehung also gerade kein innerer Wandel ausmachen, so richtet sich der Fokus automatisch auf Jesu eigentliche Bitte. Verlangt Jesus hier zu seinen Gunsten eine Änderung des bisherigen Heilsplans? Durch den Begriff der Stunde (V. 35) und die Metapher des Kelchs (V. 36) erhält das vorgetragene Anliegen zunächst alles andere als „einen geheimnisvoll unbestimmten Ton.“541 Auch durch den personifizierten Sprachgebrauch (w{ra als Subjekt) soll keineswegs der eigentliche Akteur, nämlich Gott, in den Hintergrund treten. Vielmehr verweisen beide Ausdrücke allein schon wegen ihrer kulturellen Konnotation und der vorherigen Gebetseröffnung darauf, dass die Überlieferung und der Tod Jesu im Ratschluss Gottes begründet liegen.542 Jesus bleibt nicht seinen Gegnern oder einem unbestimmten Schicksal ausgeliefert, sondern allein seinem Vater. Jesu Gebetsbitte steht damit nicht im Widerspruch zum eigenen Nachfolgeruf (8,34), sondern lässt gerade das ungeheuerliche Ausmaß erkennen, mit dem Jesus diesen Ruf auf sich selbst bezieht und zugleich an Gottes Liebe festhält. Der intendierte Rezipient erinnert sich zwangsläufig an das dei` der Leidensankündigungen (8,31) und an die explizite Voraussage des Stellvertretungstodes (10,45), den Jesus als luvtron für die Vielen 543 erleiden muss. Jesus erweist sich in seiner Bitte als gehorsam. Auch angesichts seines eigenen Leidens ist er bereit, sich ganz dem Willen Gottes zu unterstellen: „Aber nicht was ich will, sondern was Du [willst]!“544 541
GUTTENBERGER, Gottesvorstellung, 186. So ist der Kelch schon im Alten Testament immer Synonym für das (Todes) Schicksal, das von Gott kommt bzw. – im Sprachbild bleibend – von diesem „gereicht“ wird (Jer 25,15; 49,12; 51,7; Ps 75,9; Klgl 4,21; Ez 23,31f.; Hab 2,16; vgl. auch 1QpHab 11,14f.; 4QpNah 4,6; Offb 16,19; 17,1f.4; 18,3.6;). Eine Verbindung zum Abendmahlsbericht ergibt sich weniger über die Kelchmetaphorik als über das vorausgesetzte Verständnis eines Stellvertretungstodes. Dass sich Jesus als gehorsam erweist, weil er zu Gunsten der „Vielen“ stirbt (10,45) und sein Leben hergibt (14,22: Leib; 14,24: Blut), fügt sich durchaus in die markinische Erzähllogik ein. Auch die Metapher der „Stunde“ unterstreicht, dass das Schicksal Jesu von Gott vorherbestimmt und zeitlich festgelegt wurde (vgl. Offb 9,15; 11,13; 14,7–15). Der Begriff bezieht sich dabei nicht allein auf die Stunde der Auslieferung (vgl. 14,41), sondern auch auf das nachfolgende Kreuzesgeschehen, das seinerseits in mehrere Stunden unterteilt wird (vgl. die zunehmende zeitliche Raffung in 15,25.33.34). 543 Hier als Semitismus für „alle“ (vgl. Jes 53,4–12), d.h. in Analogie zu 2Kor 5,14–21 und 1Joh 2,2 als ein Versöhnungsgeschehen, das den gesamten Kosmos einschließt. 544 Warum man diese Worte nicht als Einwilligung verstehen sollte und warum diese Deutung sogar „über den Text hinaus [geht]“ und „ihm seine Offenheit [nimmt]“ (FRITZEN, Gott, 325), will sich mir nicht erschließen. Selbstverständlich bleibt, wie Fritzen bemerkt, eine leidvolle Differenz zwischen dem Willen Jesu und dem Willen Gottes beste542
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Der Spannungsbogen, der durch das mögliche Szenario einer stellvertretenden Verfluchung (vgl. Gal 3,13) und eines göttlichen Strafgerichtes eröffnet wird, reicht nun seinerseits über die Gebetsszene und die GethsemaneEpisode hinaus. Innerhalb des unmittelbaren Erzählverlaufs erhält Jesus gerade keine Antwort von Gott, was sich an der dreifach vorgetragenen und im Wortlaut gleichbleibenden Gebetsbitte (V. 39b) ablesen lässt. Indem Jesus letztlich selber aussagt, dass die Zeit vorbei (ajpevcei545) und die Stunde gekommen sei, wird offensichtlich, dass er das Leid ertragen muss.546 Erwähnenswert erscheint mir in diesem Zusammenhang, dass sich im weiteren Erzählverlauf Jesu Handlungsrolle anpasst. Er wird vom Akteur und eigentlichen Initiator der Handlung zum Objekt, an dem sich die religiöse und weltliche Verurteilung, die Verspottung und die Hinrichtung weitgehend passiv vollziehen. Auch hier schlüpft er in die Rolle des Gottesknechtes. Dass der Rezipient diesen Wechsel bemerken und nachvollziehen soll, ergibt sich mitunter aus dem expliziten und wiederholt vorgetragenen Hinweis, dass Jesus während der Anklage geschwiegen und sich still verhalten habe (14,61; 15,4.5). Hierin wird abermals deutlich, dass Jesus in den Ratschluss Gottes eingewilligt hat und zugleich seinen Gegnern überlegen bleibt.547 Umgekehrt wird sich erst von Auferstehung her zeigen, wie Gott auf Jesu Gebetsbitte geantwortet hat. Wenngleich er seinen Sohn nicht vor dem Tod errettet, so doch im Tod und aus dem Tod heraus (vgl. Heb 5,7). Jesus wird an Stelle der Sünder zu einem verfluchten Gekreuzigten, aber er steht keineswegs unter dem bleibenden Zorn Gottes. Seine Auferweckung ist vielmehr der sichtbare Erweis für die Liebe des Vaters und ein Freispruch von der Anschuldigung der Blasphemie.
hen – das zu illustrieren ist ja gerade Sinn und Zweck der kurzen Szene! – aber gerade deswegen tritt doch die uneingeschränkte Bereitschaft Jesu, sich dem Willen Gottes und der äußeren Pflicht zu unterwerfen, so deutlich hervor. 545 Mit GNILKA, Evangelium II/2, 261: „Rätselvoll ist das Wort ajpevcei. [...] Wahrscheinlich muß man unpersönlich übersetzen, aber nicht wie die Vulgata ‚es ist genug‘ (sufficit), sondern in bezug auf die Zeit: Es ist vorbei.“ 546 Ob hinter der Tatsache, dass hier der Begriff der Stunde und eben nicht die Metapher des (Zornes)Kelches verwendet wird, eine tiefer Absicht steckt, lässt sich kaum aussagen. Da beide Begriff zuvor eher synonym gebraucht wurden, wird man an dieser Stelle nicht zu viel Bedeutung in den Text hineinlegen dürfen. 547 Prägnant fasst dies SCHREIBER, Markuspassion, 262, zusammen, wenn er schreibt: „[…] Jesus, der wehrlos Preisgegebene, aber ganz und gar in Gottes Willen Geborgene (14,35f.) und so um die Schrifterfüllung Wissende (14,48f.), kennt die ‚Stunde‘ (14,41); er bestimmt den Augenblick der Verhaftung (14,42f.) wie den seines Todes (15,32.37) von Anfang an (vgl. 2,19f. vor 3,6), nicht seine Gegner. Darum Jesu drohendes Schweigen ab 14,43, darum aber auch die wenigen, dieses Schweigen durchbrechenden Worte von 14,48f. Hier schweigt und spricht der Gekreuzigte, der im Sterben siegreiche Weltenrichter von 15,37.“
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Ziel der Gethsemane-Episode ist es nicht, die innere Gemütslage und die Bedürfnisse Jesu zu bespiegeln, sondern den intendierten Rezipient auf die einzigartige Gottesbeziehung zu verweisen und damit schlussendlich auf das heilvolle Handeln Gottes an seinem Sohn und im Kreuzestod hinzuweisen. j. Motivation (Wichtigkeit: *****): Seit William Wredes grundlegender Studie hat die Frage nach dem Messiasgeheimnis im Markusevangelium so viel Aufmerksamkeit erhalten, wie kaum ein anderer Aspekt der markinischen Erzählung. Und wie im forschungsgeschichtlichen Teil dieser Arbeit aufgezeigt (vgl. 3.3.1), überwiegen in der Diskussion der letzten Jahrzehnte wieder jene Stimmen, die auf der Ebene des Endtextes eine weitgehende Kohärenz zwischen den einzelnen Motiven dieses Erzählzugs erkennen wollen und deshalb nach der literarische Absicht des Autors fragen (Theißen, Watson, Schweizer). Einige Aporien der bisherigen Forschungsgeschichte lassen sich aber erst auflösen, wenn nicht nur nach der Motivation des Autors, sondern weiterführend nach der Motivation des markinischen Jesus gefragt wird.548 Offensichtlich ist zunächst, dass nahezu alle Motive, die seit Wrede unter dem Überbegriff des Messiasgeheimnisses zusammengefasst wurden bzw. zusammengefasst werden konnten, Aktionen des Protagonisten darstellen. Es ist der markinische Jesus, der den Dämonen, Jüngern und Geheilten zu schweigen gebietet. Es ist der markinische Jesus, der den Jüngern im Haus oder im Freien eine Privatunterweisung gewährt. Es ist der markinische Jesus, der in der sogenannten Parabeltheorie (4,11f.), zwischen „Insidern“, denen das Geheimnis der basileiva tou` qeou gegeben ist, und „Outsidern“, denen die Gleichnisse eine unverständliche Rätselrede bleiben, unterscheidet. Das einzige Motiv, das kein Verhalten Jesu darstellt, ist das Jüngerunverständnismotiv. Trotzdem steht auch dieses Verhalten, wie sich im Folgenden zeigen wird, durchaus in einem mittelbaren Zusammenhang zum Messiasgeheimnis, insofern das Unverständnis der Jünger und der übrigen Bewohner der erzählten Welt u.a. aus Jesu Geheimhaltung resultiert. Gesondert zu betrachten ist aus erzählwissenschaftlicher Perspektive demgegenüber die Durchbrechung der Schweigegebote durch Geheilte bzw. Angehörige (1,45; [5,20]; 7,36). Dass Figuren andere Interessen als der Protagonist verfolgen, ist in Erzählungen gerade der Regelfall und sollte weder überbewertet noch mit der Analyse der Figurenmotivation vermischt werden. Folgt man dem Erzählverlauf des Markusevangeliums, so stößt der Rezipient bereits sehr früh darauf, dass der markinische Protagonist seine Identität geheimhält. Schon in 1,25 – im Zusammenhang des ersten Exorzismus – 548 Dass der Protagonist dabei weder i.e.S. unabhängig vom Autor ist noch mit dem Autor und dessen Standpunkt voreilig gleichzusetzen wäre, braucht an dieser Stelle nicht eigenes erwähnt werden, sondern ist in der methodischen Grundlegung dieser Arbeit hinreichend erörtert worden (vgl. Kap. 2.2).
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
gebietet Jesus den Dämonen zu schweigen. Zu diesem Zeitpunkt der Erzählung hat der Rezipient noch unterschiedliche Möglichkeiten, dieses Verhalten zu deuten. Zum einen könnte Jesu Befehl schlichtweg Ausdruck seiner situativen Vollmacht und Überlegenheit sein, ohne dass dahinter überhaupt eine allgemeine Absicht vermutet werden müsste. Zum anderen bestünde die Möglichkeit, dass Jesus die Dämonen nicht reden lässt, weil deren Identitätszuschreibung falsch ist. Beides erweist sich jedoch spätestens mit der Information in 1,34 als Irrtum. Hier lässt der Erzähler seinen intendierten Rezipienten zum einen wissen, dass die Dämonen Jesus „kennen“ (oi\da549) und d.h. um seine wahre Identität wissen. Hierdurch wird bestätigt, was der Rezipient aufgrund seines textexternen Wissens bereits zuvor geahnt haben dürfte: dass die Dämonen als übernatürliche Wesen über eine besondere Personenkenntnis verfügen.550 Auch der unmittelbare Erzählzusammenhang und v.a. die inhaltliche Korrespondenz zwischen Gottesstimme (1,11: „Sohn“) und Dämonenrede (1,24: „Heiliger Gottes“)551 ließ bereits erkennen, dass der Standpunkt der Dämonen zuverlässig ist. Zum anderen wird durch die iterative Erzählweise in 1,34 (vgl. 3,11f.) verdeutlicht, dass Jesu Schweigebefehl an die Dämonen keine einmalige Handlung darstellt, sondern als Verhaltensweise zu verstehen ist. Es ist eine Eigenart des markinischen Jesus, dass er die Dämonen nicht zu Wort kommen lässt. Hinter seinem Verhalten steht eine bewusste Absicht, die der Rezipient ergründen soll. Allerdings sind auch an dieser Stelle des Erzählverlaufs noch unterschiedliche Verstehensmöglichkeiten in Betracht zu ziehen: a. Jesus will prinzipiell nicht, dass Menschen seine Identität erkennen, b. Jesus will noch nicht, dass Menschen seine Identität erkennen, c. Jesus will nicht, dass die Menschen seine Identität durch die Dämonen erkennen, sondern durch Gott (c1), durch ihn selber (c2) oder qua eigener Erkenntnis (c3).
Eine vierte Motivation wird indirekt von Gerd Theißen behauptet. Sollte im Hintergrund der markinischen Erzählung tatsächlich der Wunsch stehen, die soziologische Relevanz des Geheimnisses und der Geheimhaltung zu demonstrieren, so müsste der Rezipient hinter Jesu Verhalten eine Art Selbstschutz erkennen können. Jesus würde dann aus Angst (= Gefühl) handeln oder aus Gehorsam gegenüber dem Vater (= Pflicht), weil die vorzeitige Preisgabe seiner Identität in einem (verfrühten) Martyrium resultieren würde. 549 Hierbei handelt es sich offensichtlich um eine Wiederaufnahme der Figurenrede in V. 24 durch den Erzähler, die gerade so eine Bestätigung erhält. Wenn der Dämon in der Synagoge zu Kapernaum angab, Jesus zu kennen, so war dies eine zuverlässige Aussage. 550 Vgl. hierzu auch die detaillierte Begründung unter 4.2.2b. 551 Die Begriffe „Heiliger Gottes“ und „Sohn (Gottes)“ korrespondieren insofern inhaltlich, als jeweils die besondere Beziehung zwischen Jesus und Gott betont wird (vgl. dazu 4.2.2b).
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
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Kann der Rezipient in 1,32 noch mit all diesen Motivationen hinter Jesu Verhalten rechnen – wenngleich keineswegs all diese Optionen aus seiner Sicht gleichwahrscheinlich 552 sind –, so werden die Verstehensmöglichkeiten durch den weiteren Erzählverlauf eingeschränkt. Dass Jesus aus Angst oder Gehorsam agiert, wird sich m.E. bereits durch die nachfolgenden Episoden auf dem Gebiet von Kapernaum als falsch erweisen und steht über den gesamten Erzählverlauf hinweg in einer Spannung zu Jesu offensichtlichem Vollmachtsanspruch und seiner Wundertätigkeit. So sind es gerade Jesu Zuspruch der Sündenvergebung (2,5), die Begründung dieses Verhaltens unter Verweis auf seine besondere Vollmacht (2,9f.) und die – ebenfalls aus seiner besonderen Autorität abgeleitete – Missachtung des Sabbatgebotes (2,23–28; 2,28–3,5), die den Mordplan der religiösen und politischen Autoritäten provozieren. Dass Jesus keineswegs vor einer Konfrontation mit den Autoritäten zurückschreckt, sondern durch seinen selbst erhobenen Vollmachtsanspruch den Vorwurf der Blasphemie auf sich zieht (14,61), erhält auch an zahlreichen Stellen des Erzählverlaufs eine Bestätigung (vgl. hierzu ausführlich 4.2.2c und 4.3.1a). Warum sollte Jesus aber einer Verfolgung entgegenwirken und sie im unmittelbaren Anschluss selbst initiieren und weiter provozieren? In diesem Fall hätten wir es mit einer (unreflektierten) Inkohärenz innerhalb des Figurenmodells oder mit einer äußerst mysteriösen Figur zu tun. Beides ist eher unwahrscheinlich. Naheliegender ist es, dass die Motivation hinter Jesu Verhalten eine andere ist und der Rezipient aufgrund des weiteren Erzählverlaufs konkretere Rückschlüsse ziehen kann. Bevor wir auf die Parabeltheorie (4,10–12) zu sprechen kommen, durch die sich weitere der genannten Verstehensmöglichkeiten ausschließen lassen, ist es m.E. wichtig, sich in einem Zwischenschritt über die faktische Wirkung von Jesu Geheimhaltung Klarheit zu verschaffen. Dass Jesus seine Identität nicht preisgibt und die Dämonen, die ihn kennen, nicht zu Wort kommen lässt, bleibt nämlich keineswegs folgenlos. Vielmehr begünstigt sein Verhalten, dass sich im Volk verschiedene Spekulationen über seine Person entwickeln und etablieren können. Und diese Vorstellungen von der Person Jesu werden im weiteren Erzählverlauf immer wieder thematisiert und erhalten gerade so die Aufmerksamkeit des intendierten Rezipienten. Zu Beginn wird der Leser häufig darauf verwiesen, dass die Menge Jesus bedrängt und von immer entfernteren Regionen zu ihm herbeiströmt, weil sie sich von ihm Heilung und andere Wundertaten erhofft (1,32–34.37; 2,1f.; 2,13; 3,7–10; 3,20) oder seiner Lehre Gehör schenken will (3,20.32; 4,1).553 Zugleich er552
Dass der markinische Jesus eine Erkenntnis seiner Person prinzipiell ablehnt, wird ein nachösterlicher Rezipient wohl kaum näher in Erwägung gezogen haben. 553 Insofern sich im weiteren Erzählverlauf aus dieser Zustimmung diverse Vorstellungen ableiten, die irrtümlicherweise an die Person Jesu herangetragen werden (vgl. 6,14–16; 8,27f.), wird man kaum – mit William Wrede – von einer beabsichtigten Betonung und Wertschätzung der supranaturalen Identität Jesu sprechen können. Umgekehrt sollen Jesu
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fährt der Leser in der Überleitung zwischen Jesu Wirken in Kapernaum und Jesu Wirken am See (3,7–35) von der Anklage der religiösen Autoritäten (3,22–30), die Jesu Vollmacht auf ein Bündnis mit dem Beelzebul zurückführen und von der ablehnenden Haltung der Angehörigen (3,20f.31–35), die der Auffassung sind, Jesus sei von Sinnen. Erst indem Jesus seine wahre Identität zurückhält und lediglich in Gleichnissen zu den Autoritäten spricht (3,23; vgl. 7,17), können sich diese und andere Missverständnisse seiner Person etablieren. Hierbei schafft es Markus, die diversen Perspektiven im Volk widerzugeben und zugleich über den Erzählverlauf hinweg zu konzentrieren. So werden die einzelnen Perspektiven spätestens in Mk 6 gebündelt und in der Verwechslung zwischen Jesus und Johannes-Elia bzw. zwischen Jesus und einem der endzeitlichen Propheten zusammengefasst. Dass Jesus mit seinem Verhalten eine solche Meinungsbildung begünstigt, bedeutet jedoch keineswegs, dass damit seine eigentliche Motivation beschrieben wäre. Jesus beabsichtigt nicht, sich gegen eine vorschnelle Eindeutigkeit zu wehren und die Menschen zur eigenständigen Meinungsbildung anzuregen (so Malbon).554 So erhalten die artikulierten Meinungen im Volk gerade keine Anerkennung durch den Erzähler oder durch Jesus, sondern werden eindeutig als falsche Identitätszuschreibungen entlarvt. Jesu harsche Kritik gilt hierbei sowohl dem Standpunkt der Angehörigen und der religiösen Autoritäten (vgl. 3,23–26; 3,33–35; 6,1–6), als auch der Menge (8,29; vgl. 6,14–16). Und sogar die Jünger werden wegen ihres implizit oder explizit geäußerten Standpunkts getadelt (4,40; 8,17–21) oder auf ein defizitäres Messiasverständnis, das die Notwendigkeit des Leidens leugnet, hingewiesen (8,33). Umgekehrt ist auch nicht davon zu sprechen, dass Jesus mit seinem Verhalten ein falsches Personenverständnis provozieren wolle. Vielmehr wird dem Leser schlichtweg im Sinne eines faktischen Resultats vor Augen geführt, dass die Menschen aufgrund der Geheimhaltung zu keinem rechten Verständnis der Person Jesu gelangen können, d.h. dass über das Miterleben der Wunder, die Wahrnehmung der Lehre und die eigene Erkenntnis kein Weg zum Personenverständnis Jesu führt. Auf der Grundlage dieses Unverständnisses, das alle menschlichen Bewohner der erzählten Welt betrifft (vgl. 9,19), gewinnt die Parabeltheorie in 4,10–12 und Jesu Erklärung seiner Gleichnisrede (4,33f.) ihre eigentliche Brisanz. Wie bereits in 4.3.1d („Verhalten“) gezeigt wurde, dient auch Jesu parabolhv keineswegs der Verschleierung seiner Identität. Das Reich Gottes Vollmacht und Fähigkeit, Wunder zu wirken, keineswegs abgewertet werden, sondern bleiben – insbesondere für den Rezipienten und im Sinne einer emergenten Textbedeutung – wichtige Hinweise auf Jesu wahre Identität. 554 Vgl. MALBON, Mark’s Jesus, 209f.: „[H]e silences the unclean spirits and Peter and breaks his own silence with the high priest – and all for the same reason: to turn answers into questions, to refract the sometimes blinding light of the traditional ‚titles‘ into the colorful story of one who comes not to be served but to serve.“
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
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wird durch Jesu Gleichnisrede durchaus so zu Gehör gebracht, wie es die Menschen verstehen könnten (4,33: kaqw;~ hjduvnanto ajkouvein). Im Sinne der alttestamentlichen Rätselrede dienen die Gleichnisse primär dazu, die Unverständigen als Außenstehende und als von Gott verstockte Menschen zu erweisen und in ihrer Verstockung einzuschließen. In dieser Hinsicht wird man dem i{na und mhvpote in 4,12 nicht nur einen konsekutiven, sondern durchaus einen finalen Sinn zuzuschreiben haben.555 Andererseits lässt sich die Scheidung in Glaubende und Ungläubige nicht als eigentliches Handlungsziel Jesu bezeichnen. Nach der markinischen Erzähllogik hat Jesus nämlich gar nicht die Macht, von sich aus Glauben zu wecken und Menschen zu verstocken. Einsicht kann den Menschen nur vom Vater gegeben werden. In dieser Hinsicht ist sich Jesus zwar gewiss, dass den Jüngern das Geheimnis des Reiches Gottes gegeben ist, aber er vermag weder mit seiner Lehre (vgl. 4,13ff.) noch mit seinen nachfolgenden Privatunterweisungen (s.u.) etwas an der Verstockung zu ändern. Insbesondere der genaue Wortlaut der Parabeltheorie lässt erkennen, dass Jesus keineswegs beansprucht, durch sein eigenes Handeln die Menschen zum Glauben an ihn zu führen, sondern dass er sich mit seiner Lehre und mit seinem Handeln dem Wirken Gottes, des Vaters, unterordnet. Die durch die Apokalyptik vorgeprägte und auch in Qumran anzutreffende Rede vom Geheimnis Gottes556 im Singular und die beiden Verben devdotai und givnetai lassen deutlich erkennen, dass es sich bei dem verborgenen Inhalt der Gleichnisse um ein Wissen handelt, das allein Gott den Menschen erschließen kann. 555
Mit LANDMESSER, Geheimnis, 291; anders SCHENKE, Literarische Eigenart, 129: „Jesus lehrt nicht auf diese Weise, um zu verstocken. Das wird daraus ersichtlich, dass die Rätsel-Rede Jesu nicht nur an Gegner gerichtet ist (3,23; 12,1.12), vielmehr hilfreich für das Verstehen des Volkes ist (4,1f.33; 7,14f.17) und auch den Jüngern gilt (4,13; 7,17; 13,28).“ Schenke verkennt dabei, dass nach markinischem Verständnis die Gegner, das Volk und die Jünger auf ganz ähnliche Weise – von Gott – verstockt sind, was implizit durch die vielfältigen Missverständnisse und explizit durch den Erzählerkommentar in 6,52 und dem parallelen Kommentar Jesu in 8,17–21 zur Sprache gebracht wird. Während das Unverständnis der Jünger jedoch temporär bleibt und die Gemeinde um eine nachösterliche Erkenntnis der Apostel weiß (s.u.), erklärt die Parabeltheorie, warum es angesichts der nachösterlichen Evangeliumsverkündigung dennoch zu einem bleiben Unverständnis unter Juden und Heiden kommt. „Hier wird keine theologische Theorie unabhängig von der tatsächlichen Erfahrung der Verkündigung und ihrer Wirkung entwickelt. Vielmehr ist die Parabeltheorie und der in ihr verankerte Verstockungsgedanke eine nachträgliche Erklärung für die Ablehnung der Verkündigung der nachösterlichen Gemeinde durch diejenigen, die als ejkei`noi oiJ e[xw bezeichnet werden“ (LANDMESSER, Geheimnis, 291f.). 556 Mit GNILKA, Evangelium II/1, 165 und COLLINS, Mark, 248f. Vgl. hierzu v.a. BORNKAMM, Art. musthvrion, 820–823. Dass Mt und Lk vom Markustext abweichen und von ta; musthvria sprechen, ist an dieser Stelle zu vernachlässigen. Bereits im Hebräischen kann entweder der Plural ( )רזימoder Singular ( )רזverwendet werden, wenn es um ein von Gott offenbartes Geheimnis geht: vgl. z.B. 1QpHab 7,4f. (Plural) und 4Q417 Frgm. 2 1,10f. (Singular).
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Hiermit korrespondiert sodann auch die Motivik des zweiten, vierten und fünften Gleichnisses, insofern hierin das Offenbarwerden durch die Metapher vom Licht und vom natürlichen Wachstum557 illustriert wird und damit ebenfalls eindeutig auf ein Wirken Gottes rekurriert wird. Nach Jesu Standpunkt bleibt es allein dem Vater vorbehalten, den Menschen das Geheimnis seines Reiches und das Geheimnis seines Sohnes558 zu erschließen (vgl. 10,27). Weil Jesus nicht einmal am Unverständnis seiner Nachfolger etwas ändern kann, wird im weiteren Erzählverlauf verständlich, warum er zunehmend an deren Verhalten und deren Blindheit verzweifelt (8,21; 9,19). Seine Privatunterweisungen vermögen das Unverständnis der Jünger gerade nicht zu überwinden, sondern lassen dieses nur immer deutlicher hervortreten und werden – als Konsequenz dessen – zunehmend zur Anklage. Blieben die Jünger bei ihrem Standpunkt, so würden sie sich in der Tat als Außenstehende erweisen und hätten keine Hoffnung in das Reich Gottes einzuziehen. Genau diese Spannung hält Markus bis zum Erzählende aufrecht. Andererseits soll Jesu Zuspruch an die Jünger in 4,11 keineswegs als Irrtum erscheinen. Den Jüngern ist tatsächlich das musthvrion von Gott gegeben (devdotai), allerdings wurde es ihnen noch nicht erschlossen und so vermögen sie es noch nicht zu verstehen.559 Das Bekenntnis des Petrus bringt aber immerhin den Erweis, dass die Jünger zumindest eine Vorahnung bzw. schemenhafte Vorstellung von der Person Jesu haben (vgl. die Handlungsinferenz mit 8,22–26). Vor allem Jesu Ankündigungen einer nachösterlichen Evangeliumsverkündigung (8,35; 13,10; 14,9) und die abschließende Rede des Auferstehungsboten (16,7) lassen sodann erwarten, dass den Jüngern mit Ostern bzw. in der Begegnung mit dem Auferstandenen die wahre Erkenntnis der Person Jesu zu Teil wird. So liegt gerade in der angekündigten Begegnung mit dem Auferstandenen die Hoffnung begründet, dass Petrus und die anderen Jünger über die von Markus erzählte ajrchv hinaus zum wahren Verständnis der Person Jesu gelangen und das Evangelium Jesu Christi, d.h. das Evangelium, das die Person Jesu zum eigentlichen Inhalt hat, verkündigen werden. Ob von Markus vorausgesetzt wird, dass dem Auferstandenen jene Erschließungsmacht gegeben ist, die der irdische Jesus noch nicht hatte, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Wahrscheinlicher ist aber, dass Markus und der intendierte Rezipient des ersten Evangeliums die Osterbegegnung als Gott gewirktes Offenbarungsgeschehen verstehen. Seinem Ursprung nach bleibt das Evangelium ein Evangelium Gottes (Gen. subi. bzw. Gen. auct.). Wollte man hingegen ein Unverständnis der Jünger über Ostern hinaus postulieren, 557
Mit KLUMBIES, Mythos, 132. Dass das musthvrion th`~ basileiva~ keine eigenständige Größe darstellt, sondern auf Jesu Wirken und seine Person zu beziehen ist, ergibt sich allein schon aus dem vorherigen Erzählverlauf und durch die Verknüpfung mit 1,15. Ähnlich SCHNELLE, Theologie, 373. 559 Ähnlich GUNDRY, Mark, 197. 558
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
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so stünde dies im deutlichen Widerspruch zu den bereits genannten Ankündigungen (8,35; 13,10; 14,9; 16,7). Dass der Rezipient diesen Ankündigung sowie der Ankündigung des Engels glauben kann und soll, leitet sich unweigerlich aus der inhaltlichen Übereinstimmung beider Worte (= Informationsverdoppelung) und von der Zuverlässigkeit der Perspektiventräger ab. Jesu Standpunkt und der Standpunkt eines Engels sind für einen frühchristlichen Leser glaubhaft (= textexternes Figurenschema). Beziehen wir die Betrachtungen des zurückliegenden Abschnitts auf unsere Frage nach dem Messiasgeheimnis und die dahinter stehende Motivation Jesu, so bedeutet dies, dass sich mit Mk 4 einige der oben genannten Deutungsmöglichkeiten bestätigen lassen, während andere ausscheiden. Undenkbar ist ab 4,10–12, dass sich Jesus einem Verständnis seiner Person prinzipiell widersetzen will (a.). Durch die Unterscheidung zwischen Unverständigen und Verständigen wird eo ipso vorausgesetzt, dass Jesu Identität nicht prinzipiell verborgen bleiben soll. Jesu Unterordnung unter den Vater lässt andererseits in der Retrospektive verständlich werden, warum der Protagonist den Dämonen zu schweigen gebietet. Es drückt sich hierin offensichtlich der Wille aus, dass Jesu Identität ausschließlich durch den Vater preisgegeben werden soll (c1). Damit ist zugleich unwahrscheinlich, dass die Menschen und Jesu Nachfolger qua eigener Erkenntnis Jesu Personengeheimnis lüften (c3) oder unmittelbar durch Jesu Lehre und sein Handeln zur Erkenntnis gelangen sollen (c2). Der weitere Erzählverlauf demonstriert sodann auf eindrückliche Weise die Unmöglichkeit eines menschlichen Erkenntnisweges, der v.a. mit einer (temporären) Verstockung durch Gott zu begründen ist. Eine plumpe Jüngerkritik ist hingegen nicht die Absicht des Evangelisten. Die Unmöglichkeit menschlicher Erkenntnis erhält im weiteren Erzählverlauf v.a. durch das Jüngerunverständnis, das sich als Nebenhandlung identifizieren lässt, und durch das Unverständnis der anderer Figuren und Figurengruppen eine besondere Betonung. Beide „Motive“ sind deshalb erzähllogisch mit dem Messiasgeheimnis verbunden. Dem Jüngerunverständnis schenkt der intendierte Rezipient besonders große Aufmerksamkeit, weil es a) häufig wiederholt wird; b) der Erschließung anderer Figurenmerkmale dient;560 c) durch perspektivische Mittel in den Vordergrund gerückt wird (v.a. durch die Informationsverdoppelung 6,52/8,17–21); d) gelegentlich mit starken Emotionen und Werten belegt ist;561 und e) vor dem Hintergrund eines textextern vorgegebenen Personenverständnisses überraschend wirkt. 560 In zahlreichen Episoden und Szenen kann der Rezipient das Verhalten (z.B. 9,32; 10,13; 10,48[?]), die Gefühle (z.B. 9,32; 10,32; 16,8), die Wahrnehmungen (6,49), die Standpunkte (z.B. 9,5), die Wünsche (z.B. 10,35), das Wissen (vgl. 9,8) und das Äußere (z.B. 16,8 [Zittern]) direkt oder indirekt vom Unverständnis der Jünger ableiten. 561 Dies gilt voraussichtlich für die feige und – nach antikem Verständnis – unmännliche Flucht bei der Verhaftung Jesu (14,50), die durch die Anwesenheit von Frauen bei der Kreuzigung (= Kontrastfiguren) zusätzliche Aufmerksamkeit erhält.
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Dass weder die politischen noch religiösen Autoritäten oder auch die Bewohner Nazareths zu einem wahren Verständnis der Person Jesu gelangen, dürfte hingegen im Erwartungshorizont des intendierten Rezipienten gelegen haben und korrespondiert gerade mit der Ablehnung, die die nachösterliche Gemeinde aufgrund ihrer Verkündigungstätigkeit erfährt. Da sich dem Unverständnis der Autoritäten eine hohe Handlungsrelevanz zuschreiben lässt, der daraus resultierende Konflikt mit noch stärken Emotionen und Werten belegt ist und der Erzähler diverse Mittel der perspektivischen Hervorhebung verwendet,562 erhält auch dieses Unverständnis eine vergleichsweise große Aufmerksamkeit. Somit lässt sich die Thematik des Verstehens bzw. Missverstehens als zentrales Thema der markinischen Gesamterzählung identifizieren (vgl. 4.4.2). Indem das Urteil des Erzählers und das Urteil Jesu über die menschliche Erkenntnis durchgängig negativ ausfällt, wird auf eindrückliche Weise vor Augen gestellt, dass Gott allein wahres Verstehen schenken kann. „Der Glaube ist dem Menschen von sich aus nicht möglich, das glaubende Verstehen wird im Markusevangelium ganz dem heilvollen Handeln Gottes zugerechnet.“563
Zugleich bleibt für den Rezipienten ein gradueller Unterschied zwischen dem Unverständnis der Jünger und dem Unverständnis der Autoritäten bestehen. Zwar gelangen beide Figurengruppen im Erzählverlauf nicht zur wahren Erkenntnis Jesu, weil Gott ihnen dieses Wissen (noch) nicht zuteil werden lässt. Aber während die Jünger nur vorübergehend verstockt sind und mit der Auferstehung ein zeitliches Ende ihres Unverständnisses angedeutet wird, verdeutlichen Jesu Worte in 4,10–12 sowie vor dem Synhedrium (14,62), dass die Autoritäten und die „Outsider“ erst am Tag der Parusie Jesus erkennen werden. Ob damit lediglich ein unterschiedlicher Zeitpunkt der Erkenntnis markiert wird oder ob davon auszugehen ist, dass die Autoritäten darüber hinaus von Gott verworfen werden, lässt sich nicht mit Eindeutigkeit entscheiden. Da Jesus im gesamten Verlauf der markinischen Erzählung nicht als primäre Entscheidungsgewalt in Erscheinung tritt, sondern es allein dem Vater vorbehalten bleibt, über das Heil zu entscheiden, sollte die Funktion des wiederkommenden Menschensohns in dieser Hinsicht nicht überbewertet werden. Jesu Wiederkunft demonstriert innerhalb des Erzählkontexts v.a. seine Überlegenheit gegenüber den Autoritäten und dient primär seiner Rehabilitation. Mit der Rückkehr des Sohnes erhält Jesu selbsterhobener Vollmachtsanspruch eine letztgültige Legitimation. Die richterliche Funktion des Menschensohns rückt demgegenüber eher in den Hintergrund. Zugleich lassen die wiederholte Aufnahme von Jes 6,9 u. 10 bei Markus und die paralle562
Zu diesen Mitteln zählen die hohe Innensicht in die Autoritäten (2,6; 3,2; 11,31f.; 12,12; 14,1; 14,55), die Kontrastierung zwischen Figurenrede und Figurenverhalten (z.B. 12,14 nach 12,13), explizite Figurenkommentare (7,6–8; 8,15; 12,15; 12,38–40) und die Informationsverdoppelung (z.B 12,15 ⇔15,10 [Jesus, Pilatus]). 563 LANDMESSER, Geheimnis, 294.
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
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len Anspielungen auf dieses Prophetenwort in Röm 11,8564 und Apg 28,26f. vermuten, dass eher an eine Verstockung bis zum Ende der Welt gedacht ist als an eine endgültige Verwerfung. So oder so lässt sich am faktischen Unverständnis der Autoritäten erkennen, dass Jesus mit seiner Lehre und seinem Handeln keine „Überzeugungsarbeit“ leisten will, sondern dass er sich mit seinem gesamten Wirken dem Willen Gottes unterstellt. Jesus will zuerst dem Vater dienen und lehrt und handelt darum so, dass hierdurch entweder Gottes (zeitweilige) Verstockung (bzw. Verwerfung) oder seine Erwählung einzelner Menschen offenbar wird, wobei letztere in einer Erkenntnis der Person Jesu und seines Heilswerks ihren Ausdruck findet. In diesen Deutungsrahmen fügen sich die restlichen Motive des Messiasgeheimnisses ab 8,27 ein. Jesu Privatunterweisungen an die Jünger (8,27–30 u. 31–33; 9,30–32; 9,33–41; 10,10–12; 10,23–27 u. 28–31; 10,32–34; 10,35– 45), zu denen auch die expliziten Leidensankündigen zu zählen sind (vgl. 8,30 u. 34; 9,30; 10,32b), lassen in ihrer raschen Abfolge und Häufung offenbar werden, dass das Fehlverhalten und die irrtümliche Meinung der Jünger jeweils in einem menschlichen Missverständnis der Person Jesu begründet liegen. So können Petrus und die anderen Jünger aufgrund ihrer frühjüdischen Erwartungshaltung nicht akzeptieren, dass Jesus als königlicher Messias sein eigenes Leiden und Sterben ankündigt (8,32b; vgl. hierzu 4.2.2d). Seine Leidensankündigung verstehen die Jünger trotz mehrmaliger Wiederholung ebenso wenig wie seine Wunder (vgl. 8,17–21). Und weil sie sich nicht einmal trauen, ihren Herrn nach der Bedeutung seines Wortes zu fragen (9,32), ruft dessen Lehre bei ihnen sogar Furcht und Entsetzen hervor (10,32). Hängen die Jünger, wie bereits in Mk 8,30 offenbar wird, einer königlichen Messiasvorstellung an, so wird vor diesem Hintergrund auch verständlich, warum sie offensichtlich ein irdisches Königtum erwarten und deswegen bereits in einen heimlichen Rangstreit geraten (9,33–37). Auch das Missverständnis der Zebedaiden (10,35–45) ist auf die Erwartung eines irdischen Messias zurückzubeziehen. Gerade deshalb markiert Jesus einen deutlichen Unterschied zwischen der Herrschaft der Mächtigen und seinem eigenen Dienst. Freilich sind die Jünger auch für diese Anweisung und für die indirekte Leidensankündigung, die im Kelch- und Taufwort zur Sprache kommt (10,38–40), unempfänglich. Jesu Ankündigung ihres eigenen Martyrium nehmen sie völlig reaktionslos hin. Der erneute Rangstreit (10,41) und Jesu Zurechtweisung (10,42–45) lassen das mangelnde Verständnis – durch das erzählerische Mittel der Wiederholung – abermals hervortreten. 564
Während Paulus das Jesajawort aufgreift, um die zeitweilige Verstockung Israels zu beschreiben, richten sich die Worte des markinischen Jesus dezidiert an alle Hörer. Eine kategoriale Unterscheidung zwischen Israel und den Heidenvölkern lässt sich im ersten Evangelium nicht ausmachen (gegen BURKILL, Revelation, 210). So weiß Markus durchaus auch von einer Zustimmung zu Jesus im Volk (12,37) und kennt einzelne Autoritäten, die offene für die Lehre Jesu sind (12,28–34).
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Andererseits stellen Jesu Worte für den Rezipienten einen Hinweis darauf dar, wie der bevorstehende Kreuzestod zu deuten ist, nämlich als stellvertretendes Sühnegeschehen mit universaler Bedeutung. Dass Jesus im selben Kontext darauf verweist, dass das Sitzen zu seiner Rechten und Linken 565 keineswegs dem Sohn zusteht, sondern vom Vater vorherbestimmt ist, und der Stellvertretungstod des Sohnes in der Sendung und damit im Ratschluss des Vaters begründet liegt (vgl. 4.2.2a), unterstreicht erneut, dass sich Jesus ganz dem Heilswirken des Vaters unterordnet. Jesus konkretisiert mit diesen Worten das, was er in Mk 10,23–27 noch allgemein über das Hineinkommen ins Reich Gottes ausgesagt hatte: „Bei den Menschen ist es unmöglich, aber nicht bei Gott. Alles ist nämlich möglich bei Gott (10,27),“ der seinen Sohn für die vielen dahingibt. Dass Jesu Unterordnung unter den Vater keineswegs im Widerspruch zur einzigartigen Beziehung beider steht und dass diese Unterordnung trotzdem eine Identifikation zwischen Jesus und Gott möglich macht, wird noch in der weiteren Analyse – und unter Berücksichtigung der frühchristlichen Bekenntnistradition – zu zeigen sein (vgl. 4.3.2b). Hier und jetzt ist jedoch festzuhalten, dass hinter den unterschiedlichen Motiven des Messiasgeheimnisses durchaus eine kohärente Absicht des Protagonisten sichtbar wird. Jesus gebietet den Dämonen und seinen Nachfolgern, dass sie ihn nicht öffentlich bekannt machen sollen, weil die vollumfänglich Offenbarung des Sohnes allein dem Vater vorzubehalten ist. Als Zeitpunkt für diese Offenbarung wird durchgängig die Auferstehung Jesu bzw. die Begegnung mit dem Auferstandenen genannt. Erst von hier aus werden die Jünger und alle, denen das Geheimnis von Gott erschlossen wird, Jesu Person und Heilswerk verstehen können. Bis dahin müssen die Jünger ihre (fragmentarische) Erkenntnis geheimhalten (8,30; 9,9). Nicht primär, weil diese defizitär oder gar falsch wäre und Jesu wahre Messiaswürde verkennt, sondern weil der Sohn in seinem freiwilligen Gehorsam gegenüber dem Vater an dem vorgegebenen Sendungsauftrag festhält. Auch im Hinblick auf 14,62 sollt man noch nicht von einer Durchbrechung des Messiasgeheimnisses sprechen. Der gesetzte Zeitpunkt der Offenbarung wird keineswegs missachtet. Vielmehr lässt dieses öffentlichen Bekenntnisses 565
Mit dem Platz zur Rechten und zur Linken werden die beiden Ehrenplätze neben der Hauptperson – in der Regel dem König – bezeichnet. Traditionsgeschichtlicher Hintergrund ist Ps 110,1, in dem Gott dem König zusagt, zu seiner Rechten zu sitzen (vgl. zum Ganzen HENGEL, Setze dich [mit Quellenangaben]). Das Missverständnis der Jünger besteht nun gerade darin, dass sie noch nicht mit Jesu himmlischer Verherrlichung rechnen (die Anspielung auf Ps 110,1 sind allein dem Rezipienten bewusst), sondern – gemäß ihres zuvor artikulierten Standpunkts – von einem irdischen Königreich Jesu ausgehen. Gerade deshalb wird ihre Anfrage mit einem Hinweis auf den sühnenden Stellvertretungstod Jesu (10,45) und den eigenen Märtyrertod (10,38–40) beantwortet. Das Wort von der Taufe und vom Kelch bleibt wie alle vorherigen Gleichnisworte Jesu für die Jünger unverständlich.
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deutlich werden, dass es sich mit den religiösen Autoritäten ganz ähnlich wie mit den Jüngern verhält. Obwohl durch die Frage des Hohenpriesters und Jesu Antwort alle zentralen Hoheitstitel aufgegriffen und aufeinander bezogen werden, offenbart die Reaktion der Anwesenden auf paradoxe Weise ihr Unverständnis und damit ihre Verstockung. So wird Jesu Personengeheimnis durch seine eigenen Worte gerade nicht für die Bewohner der erzählten Welt gelüftet, sondern lediglich für den intendierten Rezipienten bündig zur Sprache gebracht. Dieser allein erkennt, dass der königliche Gesalbte mit dem Sohn Gottes und dem – gegenwärtig wirkenden, leidenden und566 – endzeitlich wiederkommenden Menschensohn identisch ist und gerade dies auf Jesu Einzigkeit und seine Einheit mit dem Vater hinweist. Von einer Durchbrechung des Messiasgeheimnisses ist letztlich auch in 15,39 noch nicht zu sprechen. So erhält der markinische Erzähler auch im Moment der Kreuzigung und trotz des deutlichen Bekenntnisses des Hauptmanns die Spannung des bisherigen Unverständnisses aufrecht. Er schließt sich – wenn man so will – dem Anliegen seines Protagonisten an und erzählt gerade nicht von einer vorösterlichen Erkenntnis bzw. Offenbarung der Person Jesu. In Analogie zum Petrusbekenntnis wird durch das Bekenntnis des Hauptmanns die nachösterliche Personenerkenntnis lediglich vorgezeichnet. In der Aussage „dieser war Gottes Sohn“ oszillieren auf eigentümliche Weise Erkenntnis und Unverständnis. So wird Jesus zwar zu Recht als Sohn Gottes angesprochen (vgl. 1,11; 3,11; 9,7; 14,61; vgl. 1,24). Aber während die Jünger dem frühjüdischen Mißverständnis erlagen, dass der Messias als königliche Gestalt vor Leid verschont bleiben müsse, so erkennt der heidnische Hauptmann im Moment des Leidens noch keine Identität zwischen dem Gekreuzigten und Auferstandenen. Auch seinem Bekenntnis fehlt noch die nachösterliche Erkenntnis, dass Jesus gerade in der Auferstehung als Sohn eingesetzt wird und mithin als solcher zu verehren ist. k. Charakter (Wichtigkeit: ***): Das Markusevangelium erwähnt immer wieder explizit menschliche Charaktereigenschaften und ermöglicht seinen Rezipienten zugleich, einen indirekten Rückschluss auf solche menschlichen Dispositionen. Besonders oft ist es Jesus selber, der aufgrund seiner übermenschlichen Wahrnehmung die Charaktermerkmale anderer Figuren erkennt (s.o. „Wahrnehmung“) und von seinen Nachfolgern bestimmte Eigenschaften dezidiert einfordert oder ablehnt (4,13–20; 4,40; 8,34–38; 9,42–50; 566 Auch wenn die Aspekte des gegenwärtigen Wirkens und des Leidens hier nicht explizit angesprochen werden, wird der Rezipient diese Attribute des übergeordneten Figurenschemas durchaus einbeziehen. Die allgemeine Situation eines Gerichtsprozesses und die explizite Erwähnung des Hohenpriesters, der Schriftgelehrten und der Ältesten (14,53) stellen eine starke Verknüpfung zu den Leidensankündigungen – insbesondere 8,31 (und 10,33) – her. Und der Vorwurf der Blasphemie erinnert den Leser an den Anfang des Konflikts, d.h. das Wirken des gegenwärtigen Menschensohnes in Kapernaum (2,7).
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
10,17–23; 12,38–40.41–44). Zugleich werden die genannten oder erschließbaren Charaktereigenschaften nahezu immer einer Bewertung unterzogen, wobei der Maßstab für diese Beurteilung nicht (primär) in der Tora oder einem hiervon abstrahierten Naturgesetz zu suchen ist.567 Vielmehr nimmt der markinische Jesus für sich in Anspruch, den eigentlichen Willen Gottes zu kennen und diesen – in Einklang oder auch in Widerspruch zum Gesetz – letztgültig zur Sprache zu bringen. Durchweg negativ charakterisiert und beurteilt werden die religiösen Autoritäten, die explizit (7,6; 12,15.40) und implizit als Heuchler bzw. Schauspieler erscheinen.568 Sie geben lediglich vor, dem Willen Gottes zu folgen, trachten aber eigentlich nach menschlichen Zielen, wie Anerkennung (12,38f.; vgl. 11,32; 12,12), Reichtum (10,17–23; 12,40a) oder religiöser und politischer Macht (7,7–13). Nach dem Standpunkt Jesu sind solche Ziele jedoch vergänglich und haben vor Gott keinerlei Geltung (8,36f.; 10,21). Zum Ende der Erzählung erfährt der Rezipient, dass selbst die Verurteilung und Überantwortung Jesu nicht primär einem religiösen Interesse folgt – obwohl die Autoritäten durchaus als Hüter der Orthopraxie in Erscheinung treten –, sondern dass ihr Handeln v.a. durch Neid motiviert ist (15,10).569 Auch sonst agieren die Schriftgelehrten hinterhältig und erweisen sich als verschlossen, was bei Jesus teils heftige Gefühle und Reaktionen hervorruft (vgl. 3,5 nach V. 4).570 Keineswegs zufällig tritt aus dieser Gruppe der religiösen Autoritäten der Schriftgelehrte in 12,28–34 hervor. Als Kontrastfigur erhält er die besondere Aufmerksamkeit der Rezipienten.571 Wie Jesus erkennt er in Dtn 6,4.5 und 567
Im hellenistischen Diasporajudentum ist demgegenüber eine Interpretation der Tora als Naturgesetz überaus häufig anzutreffen (vgl. ausführlich GUTTENBERGER, Gottesvorstellung, 168 [mit Belegen]; WEBER, Gesetz, 319–321). 568 Markus knüpft mit dem Begriff bzw. der Vorstellung eines uJpokrithv~ an den Sprachgebrauch der LXX an (vgl. etwa Hi 34,30; 36,13) und versteht hierunter, ähnlich wie andere Autoren des Neuen Testaments (Gal 2,13; 1Tim 4,2), einen Menschen, der sich in seinem Verhalten nicht von Gott bestimmen lässt. 569 Worauf genau die religiösen Autoritäten neidisch sind, bleibt offen. Die Rezipienten werden die Aussage wohl gleichermaßen auf Jesu Vollmacht, die seine Lehre von Anfang an auszeichnet (1,22), und auf die wiederholt vorgeführte sowie explizit erwähnte Zustimmung im Volk (12,37) beziehen. 570 Dass Jesus seinerseits nur im Kreise seiner Jünger in Offenheit über seine Passion redet (8,32) und im Zuge der Anklage sogar schweigt (15,4.5), lässt sich nicht als Inkohärenz verstehen. Abgesehen von seinem bevorstehenden Leiden sucht Jesus durchaus die offene Konfrontation und Auseinandersetzung, ja diese bedingt sogar erst seine Verfolgung und spätere Hinrichtung. Das Verhalten in 15,4.5 ist hingegen textextern motiviert und verweist entweder auf das Schweigen des leidenden Gottesknechts (Jes 53,7). Eine intertextuelle Referenz, die für die Rezipienten wegen der vorherigen Anklänge (1,11; 10,45) sowie der allgemeinen Bezugnahme auf das Jesajabuch (1,2) nachvollziehbar ist. 571 Mehrere Indizien sprechen dafür, dass es sich hierbei um eine bewusste Leserlenkung handelt: (1) Rezenzeffekt: die Begegnung bildet den Abschluss der Jerusalemer Streitgespräche, wodurch die Kontrastwirkung erhöht wird; (2) identische Erzählperspekti-
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
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Lev 19,18 das höchste Gebot und ordnet sich damit in seinem Handeln Gott unter. Umgekehrt lässt die kurze Episode offen, ob der Gelehrte zugleich Jesu anstößige Lehrautorität akzeptiert. Billigt er ihm eine einzigartige Kenntnis des göttlichen Willens zu oder bleiben beiden Personen gerade hier unterschiedlicher Meinung? Eine weitere, wenngleich weniger bedeutsame Kontrastfigur stellt die arme Witwe in 12,41–44 dar.572 Indem sie gerade nicht in der Öffentlichkeit, sondern im Verborgenen573 „alles, was sie hat“ in den Opferkasten einwirft und damit trotz ihrer bitteren Armut ihren gesamten ve: in Analogie zu den vorherigen Begegnung ist die Episode zunächst auf die Figur des Schriftgelehrten fokalisiert. Allerdings wird durch die gebotene Innensicht nun die positive Haltung gegenüber Jesus unterstrichen (12,28 vs. 11,18; 12,12.13); (3) semantische Übereinstimmung (Figurenrede): durch die Wiederholung des ejpÆ ajlhqeiva~ in der Figurenrede wird der Standpunkt kontrastiert. Während die Gruppe der Schriftgelehrten Jesus jedoch keineswegs für „wahrhaftig“ hält und ihre Heuchelei vom Protagonisten bemerkt wird (12,15), erkennt der Schriftgelehrte aufgrund von Jesu Antwort, dass dieser wahrhaftig geantwortet hat (12,32); (4) Einzelfigur: Wenngleich der Schriftgelehrte nur wenige individuelle Züge erhält, ist bereits bemerkenswert, dass es sich bei ihm im Unterschied zu den vorherigen Begegnungen um eine Einzelperson handelt (vgl. 10,17–23). Vor diesem Hintergrund ist es wenig wahrscheinlich, dass der in Aussicht gestellte Konsens als versöhnliches Ende des bisherigen Konfliktverlaufs zu begreifen ist. Vielmehr soll betont werden, dass diese Begegnung eine Ausnahme darstellt. Sie lässt die nachösterliche Gemeinde darauf hoffen, dass auch aus der Gruppe der Schriftgelehrten einzelne umkehren. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass der Schriftgelehrte noch nicht „im“ Reich Gottes ist (ouj makra;n ei\ ajpo; th`~ basileiva~ tou` qeou`). 572 Auch hier handelt es sich offensichtlich um eine bewusste Leserlenkung: (1) Handlungsverknüpfung: Die kurze Szene folgt unmittelbar auf Jesu negative Charakterisierung der religiösen Autoritäten (12,38–40); (2) kausaler Handlungszusammenhang: mit der Witwe wird eine (stereotype) Figur aus der vorherigen Auflistung herausgegriffen, die ausdrücklich unter dem Einfluss der Autoritäten leidet (V. 40a: oiJ katesqivonte~ ta;~ oijkiva~ tw`n chrw`n). Die Armut der Witwe liegt somit (auch) im Verhalten der Autoritäten begründet; (3) Kontrast bei der Raumbeschreibung: Während die religiösen Autoritäten mit dem öffentlichen Raum verknüpft werden und nach öffentlicher Anerkennung trachten, agiert die Witwe im Verborgenen. Ihre große Opferbereitschaft wird erst aus der Wahrnehmung Jesu ersichtlich, der um ihre prekäre Situation weiß. 573 Dass die Höhe der Opfergabe laut verkündet wurde und Jesus deshalb den genauen Betrag gewusst habe, erscheint historisch unwahrscheinlich und liegt gerade nicht im Interesse der Charakterisierung. In WaR 3,5 zu Lev 2,1 wird die abfällige Reaktion des Priesters getadelt und die Gabe der Armen nachträglich gewürdigt: „Da erschien dem Priester aber ein Traum: Schätze sie nicht gering, sondern achte sie, als hätte sie sich selbst zum Opfer geboten“ (WÜNSCHE, Midrasch Wajikra Rabba, 22). Wahrscheinlicher ist es, dass die Rezipienten erneut Jesu übermenschliches Wissen voraussetzen sollen. Neben der genauen Summe, die die Frau in den Opferkasten einlegt und die für die Rezipienten übersetzt wird, ist von Bedeutung, dass Jesus den individuellen Wert dieser Gabe kennt und der Rezipient so auf die Motivation und den Charakter der Frau rückschließen kann (12,44b). Durch das einleitende „Amen, ich sage euch“ wird die Zuverlässigkeit der Aussage unterstrichen (so GNILKA, Evangelium II/2, 177). Zugleich handelt es sich hierbei um ein weisheitlich-eschatologisches Richter- und Rettungswort (vgl. BERGER, Amen-Worte, 49.110).
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Lebensunterhalt hergibt (12,44b), wird ihr echtes Vertrauen erkennbar. Sie agiert aus der Gewissheit heraus, dass allein Gott für sie sorgen wird.574 Die Witwe lässt damit in ihrer persönlichen Notlage jenes Vertrauen erkennen, dass Jesus bei Außenstehenden (10,17–23),575 aber auch bei seinen Jüngern vermisst (4,35–41; 8,14–21).576 Für das Markusevangelium ist zudem charakteristisch, dass ein enger Bezug zwischen dem Tun des göttlichen Willens und der Nachfolge Jesu hergestellt wird. Den Willen Gottes kann nur tun, wer Jesus nachfolgt (8,34) und seinem Wort vertraut (8,38). Wird dies von den Nachfolgern anerkannt, so begeben sie sich jedoch ihrerseits in einen Konflikt mit den religiösen Autoritäten und müssen mit eigener Verfolgung und eigenem Leid rechnen (8,35b). Umgekehrt werden sie darin vergewissert, dass sie als familia dei eine neue Gemeinschaft konstituieren. Jesus und seine Nachfolger sind inmitten aller Anfeindungen unabhängig577 von innerweltlichen und familiären Sozialbin574
Dass nicht die Höhe der Opfergabe sondern die Einstellung gegenüber Gott entscheidend ist, wird auch durch Men 13,11 hervorgehoben: „Ob einer viel gibt oder wenig, nur soll der Mensch seine Gedanken auf Gott gerichtet haben.“ Mk 12,41–44 ist zugleich als skandalöse Zuspitzung solcher Wertevorstellungen zu begreifen. Die Frau opfert mit ihren zwei Lepta die kleinsten Kupfermünzen, die das jüdische Zahlungssystem überhaupt kennt und dies stellt ihren gesamten Besitz dar. Die Erwähnung zweier Münzen dient wohl dem Ziel, die uneingeschränkte Opferbereitschaft der Frau zu unterstreichen. Sie hätte immerhin eine der Münzen zurückbehalten können (so auch GNILKA, Evangelium II/2, 177). THEISSEN, Lokalkolorit, 259 hat aufgezeigt, dass die Übersetzung „ein Quadrans“ keineswegs für eine römische Herkunft des Markusevangeliums sprechen muss. Im MtEv sowie im Talmud wird der Begriff sprichwörtlich für den geringsten Geldbetrag gebraucht (vgl. Mt 5,26; bQid 12a). Gelegentlich konnten lokale Kupferprägungen den entlehnten Begriff des kodravnth~ erhalten (vgl. CHANTRAINE, Art. quadrans, 660). 575 Während der reiche Jüngling nicht bereit war, der Aufforderung Jesu zu folgen und all seinen Besitz zu verkaufen und den Armen zu geben (o{sa e[cei~ pwvlhson kai; do;~ toi`~ ptwcoi`~), opfert die arme Witwe ihre letzte Habe (o{sa ei\cen e[balen o{lon to;n bivon aujth`). Sie erwartet damit jener Schatz im Himmel (10,21), der dem Reichen – trotz aller Gesetzestreue (10,19f.) – verwehrt bleibt. 576 Faktisch ist die Verknüpfungsstärke zwischen den einzelnen Episoden eher gering. Trotzdem soll der Rezipient wohl einen Vergleich zwischen dem Verhalten der Frau und dem bisherigen Verhalten der Jünger ziehen. Dieser Vergleich beruht dann allerdings eher auf dem kognitiven Gesamtmodell, das die Leser über den bisherigen Lektüreprozess von den (unverständigen) Jüngern gewonnen haben. Für einen intendierten Vergleich spricht, dass die Szene – ebenso wie die umgebenden Perikopen (12,38–40; 13,1ff.) – der äußeren Form nach als Jüngerunterweisung ausgestaltet wurde. Die Jünger sollen sich am Verhalten der Frau orientieren (und nicht an den religiösen Autoritäten). Das Erzählte steht somit zugleich in einer gemeinsamen Argumentationslinie mit den vorherigen Jüngerunterweisungen (8,34–38; 10,42–45). Auch hier hatte Jesus einer Orientierung an weltlichen Erfolgen und Zielen widersprochen und das Handlungsprinzip des Dienens und der gegenseitigen Unterordnung eingefordert. 577 Dass das Markusevangelium demgegenüber eine radikale Loslösung von der eigenen Familie oder gar ein Eremitentum einfordert, ist nicht zu erkennen. Auch in 13,12 bleibt
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dungen (3,20f.31–35; 13,12; 1,20 ó 10,28–31): „Derjenige nämlich, der den Willen Gottes tut, der ist mein Bruder und (meine) Schwester und (meine) Mutter“ (3,35). Der Fokus der bisherigen Darstellung lag keineswegs zufällig auf den anderen Figuren des Markusevangeliums. Tatsächlich wird der Charakter Jesu weitgehend indirekt dargestellt. Die Rezipienten können jedoch erschließen, dass Jesus die Eigenschaften, die er von seinen Nachfolgern einfordert, für sich in Anspruch nimmt. Dies gilt v.a. für die grundlegende Orientierung am Willen Gottes. Jesus folgt sogar auf einzigartige Weise dem göttlichen Willen, was sich insbesondere an seiner uneingeschränkten Bereitschaft zur Leidensannahme und somit durch seine Einwilligung in Gottes Heilsplan erkennen lässt. Diese Bereitschaft gipfelt in der Gethsemane-Episode (s.o. „Wünsche“). Insofern Jesus dem Willen des Vaters bis in den eigenen Tod hinein folgt, kann von einer uneingeschränkten Unterordnung des Sohnes gesprochen werden. Diese Unterordnung findet auch darin ihren Ausdruck, dass allein dem Vater vorbehalten bleibt, Glauben zu wecken oder Menschen zu verstocken (10,27; 4,11f.; 6,52; 8,17). Umgekehrt sollte diese Unterordnung des Sohnes aber nicht mit einer Bescheidenheit des Protagonisten verwechselt werden. Eine Charaktereigenschaft, die dem markinischen Jesus nicht erst in der neueren, erzählwissenschaftlich informierten Exegese zugeschrieben wird, die hier aber geradezu in den Mittelpunkt der Personenbeschreibung gerückt wurde. So meint Elizabeth Struthers Malbon, dass sich der markinische Jesus gerade im Unterschied zum Erzähler als bescheiden erweise: „The narrator boldly asserts that Jesus is the Christ, the Son of God. Jesus is reticent. Perhaps this is why it is so important that the voice (of God) confirm the narrator’s point of view; the Markan Jesus hardly does so! [...] [T]he Markan Jesus boldly proclaims the rule (kingdom) of God, about which the narrator speaks directly once, and after Jesus’ death (15,43), and makes assertions about the Son of Humanity, about which the narrator is silent. There is thus a tension between the Markan narrator who wants to talk about Jesus and the Markan Jesus who wants to talk about God.“578
Richtig ist, dass der Menschensohntitel ausschließlich im Munde Jesu auftaucht (vgl. 4.2.2f) und der Anbruch des Reiches Gottes allein von ihm verkündigt wird. Gleichzeitig ist aber zu sehen, dass Jesus den Anbruch der basileiva tou` qeou` von Anfang an auf sein Wirken und seine Person bezieht (s.o.). Die Rede vom Menschensohn unterstreicht gerade Jesu Vollmacht (2,5–7.10) und besitzt somit eine hohe Relevanz innerhalb des anfänglichen Konfliktgeschehens. Die Reaktionen der Autoritäten sowie der Angehörigen (3,21) demonstrieren auf eindrückliche Weise, dass sich Jesus – in der Wahrvorausgesetzt, dass die nachösterlichen Gemeindeglieder in familiären Strukturen leben, wenngleich ebendiese Bindungen für sie zur Gefahr werden können. 578 MALBON, Mark’s Jesus, 191.
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nehmung seiner Zeitgenossen – alles andere als bescheiden verhält. Entsprechend ruft er, dort, wo er zur Orientierung am Willen Gottes auffordert, zugleich in die Nachfolge und ermahnt die Menschen, sein Wort zu achten und zu halten. Auch der Sohn-Gottes-Titel wird von Jesus in Anspruch genommen. Dies ergibt sich aus der dezidierten Frage des Hohepriesters (14,61) und der völlig unzweideutigen Antwort Jesu: ejgwv eijmi (14,62)! Dass Jesus erst am Ende der Erzählung seine Bescheidenheit überwinde und sich somit dem Standpunkt des Erzählers annähere, wie Malbon es darstellt,579 vermag ich weder der Episode noch dem vorherigen Erzählverlauf zu entnehmen. 14,53– 65 enthält keinerlei Indizien für eine charakterliche Veränderung des Protagonisten. Wenn sich Jesus bereits in Gethsemane betend an seinen Vater wendet (14,36.39), wenn er zuvor vom Sohn des Weingärtners erzählt (12,1– 12), wenn er sich ausdrücklich über den Sohn Davids erhebt (12,35–37), wenn er den Standpunkt Gottes (1,9–11; 9,7) nirgendwo explizit zurückweist oder relativiert, so demonstriert all dies, dass Jesus von Anfang an alles andere als bescheiden ist. Vielmehr weiß er eindeutig um seine Gottessohnschaft und nimmt diese Rolle auf vielfältige Weise an. Abschließend möchte ich noch auf ein weiteres Charaktermerkmal hinweisen, das der Rezipient über den Lektüreprozess der Figur Jesu zuschreiben kann und allem Anschein nach zuschreiben soll. So erweist sich Jesus im Gegenüber zu seinen Jüngern als besonders treu. Obwohl er sich durchaus über die Herzensverhärtung seiner Begleiter erbost (8,17–21) und sich der Konflikt zwischen beiden Parteien über den Erzählverlauf immer weiter zuspitzt, hält er sogar über seinen eigenen Tod hinaus an den Jüngern fest. Das Unverständnis und der Unglaube der Jünger, die Verleugnung des Petrus und die Tatsache, dass die zwölf ihren Freund im Stich lassen, ändern nichts an Jesu eigener Haltung.580 Mit den Worten des Engels (16,7; vgl. 14,28) wird in Aussicht gestellt, dass sich Jesus mit seinen Nachfolgern versöhnt und an seiner Berufung festhält.
579 MALBON, Mark’s Jesus, 192: „The usually reticent Markan Jesus does finally accede at the end to the title ‚Christ, Son of the Blessed One‘ (14,61–62), which the Markan narrator asserted at the beginning (‚Christ, the Son of God‘, 1,1).“ 580 Angemerkt sei an dieser Stelle immerhin, dass das Markusevangelium nicht einmal einen Bericht über den Selbstmord des Judas enthält. Dies bedeutet nicht, dass der Evangelist von einer Begnadigung bzw. Rehabilitierung des Verräters ausgeht. Aufgrund des Gerichtswortes in 14,21 muss dies sogar ausgeschlossen werden. Im Unterschied zu Matthäus oder Lukas ist der erste Evangelist aber an keiner Polemik gegenüber einzelnen Jüngern interessiert. Dass Markus demgegenüber gar keine Kenntnis vom Tod des Judas gehabt haben soll, erscheint vergleichsweise unwahrscheinlich. Die ausgeschmückten Überlieferungen bei Matthäus und Lukas lassen erkennen, dass sich bereits sehr früh diverse Legenden um den Selbstmord des Judas gerankt haben.
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4.3.2 Figurenvergleiche und emergente Bedeutungsgehalte der markinischen Christologie Im Zuge der vorangehenden Merkmalanalyse ließ sich bereits ansatzweise erkennen, dass der Autor des Markusevangeliums eine Vorliebe für kontrastive Figurenvergleiche besitzt.581 Nicht nur in einzelnen Episoden, sondern auch über den weiteren Handlungsverlauf hinweg treten einzelne Personen und Personengruppen als Kontrastfiguren in Erscheinung. So heben sich der Schriftgelehrte in 12,28–34 oder Josef von Arimathäa (15,42–47) deutlich von dem zuvor evozierten Bild der Autoritäten ab. Und die Syrophönizierin (7,24–30) erweist sich nicht zuletzt im Unterschied zu den Jüngern (7,17f.) als verständig, indem sie Jesu Wort zu ihren Gunsten umdeutet und damit seine Zustimmung und Anerkennung erhält. Im vorliegenden Unterkapitel soll das Augenmerk nun auf jene Figurenparallelen gerichtet werden, die der Profilierung des markinischen Protagonisten dienen. Hierbei wird der Akzent auf zwei externen Figurenparallelen liegen. Gleichzeitig verdeutlicht bereits die Figur des Täufers und der mit ihr gegebene Bezug zur endzeitlichen Erwartung eines Elia redivivus, dass bei Markus gar nicht immer eine klare Differenzierung zwischen internen und externen Parallelen möglich ist. Zugleich werden im Folgenden nur solche Figurenparallelen untersucht, denen der intendierte Rezipient Aufmerksamkeit schenken kann. So ist zwar plausibel, dass sich in 4,35–41 erkennbare Analogien und Differenzen zwischen Jesu Verhalten und dem Verhalten des Jona ergeben,582 aber dieser Figurenvergleich wird über den weiteren Erzählverlauf gerade nicht weiter aufgegriffen oder vertieft.583 Thematisiert werden demgegenüber die Bezüge zu: a. Johannes-Elia; und b. dem alttestamentlichen Kyrios a. Johannes-Elia als endzeitlich-prophetischer Vorläufer des Kyrios Jesus: Wie bereits im forschungsgeschichtlichen Teil dieser Arbeit betont wurde, 581 Eine Kontrastierung oder Parallelisierung einzelner Figuren erfolgt durch manche sandwich stories: vgl. 3,20–35 (religiöse Autoritäten/Angehörige Jesu), 5,21–43 (Leid des Jairus/Leiden der blutflüssigen Frau), 14,1–11 (Tötungsplan der Autoritäten u. Beteiligung des Judas/Liebeserweis einer Anonymen). Weitere Kontrast- oder Parallelfiguren finden sich z.B. in 12,38–44 (Schriftgelehrte/arme Witwe; 15,35f.39 (dabeistehende Zeugen/ dabeistehender Hauptmann). Unter Umständen kann sich der Kontrast auf ein einziges Merkmal oder eine Information beziehen (z.B. 10,52 vs. 5,18f.). 582 Vgl. zu diesen Parallelitäten KLAUCK, Allegorie, 345f.; COLLINS, Mark, 259f. 583 Zugleich wird auch bei der Sturmstillung durch das Motiv des Schlafens und das Scheltwort Jesu (ejpitimavw) der Fokus primär auf einen Vergleich mit der Figur Gottes gerichtet. Vgl. zur Schelte Gottes LXX Ps 9,6; 67,31; 105,9; 118,21 und dazu SCHENKE, Wundererzählungen, 55.
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lässt sich in der neueren Markusexegese ein Interesse an der literarischen Funktion des Täufers und des Elia redivivus erkennen. Während die ältere Forschung v.a. die Differenzen der im Markusevangelium verarbeiteten EliaTraditionen betonte, ist in den letzten beiden Jahrzehnten die erzählerische Intention in den Fokus der Analyse geraten (vgl. Kap. 3.2.3). Das Elia-Bild des Markus scheint weitaus kohärenter zu sein, als dies innerhalb der Exegese lange Zeit anerkannt wurde. Weiterhin uneins ist man sich jedoch darüber, ob die Figur des Elia primär mit Johannes (so Dautzenberg, Öhler, Pellegrini) oder mit Jesus (so Wentling, Miller/Miller584) parallelisiert werden soll oder ob die Eliaerwartungen – wie insbesondere von Christine Joynes und Johannes Majoros-Danowski vorgeschlagen – zugleich auf Johannes und Jesus zu beziehen sind. Zunächst lässt sich ganz allgemein festhalten, dass man bereits in der zeitgenössischen Literatur auf eine große Anzahl überaus facettenreicher Eliaberichte und -motive stößt.585 Nach den Kriterien der Bezeugungsbreite und Erinnerungsnähe ist es wahrscheinlich, dass die Rezipienten des Markusevangeliums mit der endzeitlichen Erwartung eines Elia bzw. mit einzelnen Motiven – wie v.a. der Wiederkehr des Elia und seinem Wunderwirken – vertraut waren. Zugleich lässt sich anhand folgender fünf Kriterien zeigen, dass Markus die Aufmerksamkeit seiner Rezipienten auf die Figur des Elia richtet: i) Häufigkeit: Auf keine andere externe Figurenvorstellung wird derart oft angespielt oder explizit verwiesen. Explizit ist in 6,14f. und 8,27f. davon die Rede, dass das Volk Jesus mit dem wiedergekommenen Elia identifiziert habe. In 9,2–7 erscheint Elia zusammen mit Mose auf dem Berg der Verklärung (9,2–7), was beim Abstieg eine Diskussion zwischen Jesus und seinen Jüngern über die Wiederkunft des Elia und die Auferstehung der Toten auslöst (9,8–13). Zuletzt sind es im Zuge der Kreuzigung die jüdischen Zeugen, die Jesu Worte missverstehen und meinen, dieser erwarte ein Wiederkommen des Elia (15,35f.). Weitgehende Einigkeit herrscht in der Exegese auch darüber, dass bereits durch die markinischen Einleitungsverse und ihren Bezug auf Jes 40,3 und Mal 3,1.23 auf die Figur des Elia verwiesen wird. Weiterhin zu nennen und zu diskutieren ist die Blockcharakterisierung in 1,4–8,586 die nicht nur einige Parallelen zwischen Johannes und Elia erkennen lässt, sondern eine Identifikation beider Figuren impliziert. An diese Identifikation knüpft Jesus in 9,12f. an, wenn er vom Gekommensein des Elia spricht und 584
Miller/Miller betonen dabei jedoch, dass die gegebenen Figurenparallelen (Verkündigungsinhalt, Wunderwirken) lediglich anfänglich ausgestaltet, dann aber im weiteren Erzählverlauf disqualifiziert würden (MILLER/MILLER, Midrash, 84). 585 Zu den Belegen vgl. Kap. 3.2.3. 586 Vgl. zur sog. „Blockcharakterisierung“ EISEN, Poetik 136; FINNERN, Narratologie, 154.
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dieses auf das zurückliegende Leidensschicksal des Täufers bezieht (vgl. 6,27–29). Weitere implizite Parallelen werden gelegentlich in 1,16–20 (Motiv der Berufung),587 7,24–30 (Aufenthalt des Elia in Sarepta),588 10,35–45 (Be587 So DSCHULNIGG, Markusevangelium, 75; KLAUCK, Vorspiel, 83; MAJOROSDANOWSKI, Elija, 163–176; MILLER/MILLER, Mark as Midrash, 70–78; PESCH, Markusevangelium II/1, 114; ÖHLER, Elia, 158; und SCHENKE, Literarische Eigenart, 68f., der gar meint „[e]s wäre naiv anzunehmen, Autor und Leser wüssten dies nicht oder nähmen es (sc. das vorgeprägte Erzählschema, das auf 1Kön 19,19ff. zurückgeht) nicht wahr.“ Die Parallelität bezieht sich gleichermaßen auf die Figurenrelation (Dreieckskonstellation: Berufender, Berufener, Angehöriger), einzelne Berufungsereignisse sowie die Radikalität der Nachfolge (Zurücklassen der Familie, Aufgabe des Berufs). Wenngleich die beiden Berufungsszenen in 1,16–20 einer formkritischen Vorlage folgen, die ihren Ursprung in 1Kön 19,19–21 haben könnte, ist damit allerdings noch kein direkter Bezug zur Person des Elia gegeben. Es müssen gerade die Unterschiede im Blick bleiben: Bei Markus erfolgt die Berufung durch direkte Rede, in 1Kön 19 durch eine Zeichenhandlung. Elisa folgt Elia nicht unmittelbar, sondern verabschiedet sich zunächt von seinem Vater. Im Unterschied zu 1,16–20 wird von einem expliziten Zerstören der Arbeitsgeräte berichtet. Die vorauszusetzende Flucht der Jünger nach Galiläa (16,7) deutet sogar eine Rückkehr in die sozialen Ursprungsverhältnisse an. Insgesamt lässt sich lediglich eine mittelstarke Parallelität feststellen. Eine literarische Ausgestaltung vorhandere Bezüge lässt sich für Markus aber gerade nicht behaupten. 588 Vgl. DONAHUE/HARRINGTON, Gospel, 236; EDWARDS, Gospel, 218 Anm. 8 und besonders ausführlich MAJOROS-DANOWSKI, Elija, 185–199. Tatsächlich erfreut sich die Erzählung aus 1Kön 17 auch im 1. Jhdt. n. Chr. einer großen Beliebtheit (vgl. Lk 4,25f.; Jak 5,17f.; Offb 11,6; Jos. Ant. 8,13,2 und außerdem LibAnt 48,1; VitProph 10,4; 4Esr 7,109), so dass von einer ausreichenden Bezeugungsbreite und Erinnerungsnähe zu sprechen ist. Gleichzeitig vermag ich im Unterschied zu Majoros-Danowski keine hinreichenden Übereinstimmungen erkennen: (1) Von einer Hungersnot wird im Markusevangelium nicht berichtet. Eine solche Ausgangssituation muss vielmehr mittels historischen Kontextualisierung eingetragen werden (so auch THEISSEN, Lokalkolorit, 63–84). Dass es einen entsprechenden Konflikt zwischen der Handelsstadt Tyrus und Galiläa gegeben hat, ist hierbei das eine. Das Markus über die Metapher des Hundes hierauf anspielt und der Rezipient derart versteckte Signale richtig entschlüsseln kann, ist das andere. Letzteres erscheint unwahrscheinlich; (2) Wenngleich Sarepta zu Sidon gehört, lässt sich über die geographische Situierung von 7,24–30 kaum ein Bezug herstellen. Hätte Markus eine Parallelisierung angestrebt, so hätte er die Episode mühelos in der Umgebung von Sidon lokalisieren können. Er lässt Jesu weiteren Reiseweg über diesen Ort verlaufen (7,31); (3) Dass eine antike Frau ein krankes Kind hat, ist angesichts der prekären Hygieneverhältnisse und des allgemeinen Gesundheitssystems kaum verwunderlich und kann nicht als signifikante Parallele geltend gemacht werden. Man wird vielmehr die Unterschiede beachten müssen (Sohn vs. Tochter); (4) Auch das Liegen „auf dem Bett“ und „im Haus“ ist nicht als eigentliche Parallele geltend zu machen. Wo sollte das Kind sonst liegen?; (5) Die Krankheitsbeschreibung beider Kinder stimmt gerade nicht überein. Während sich der Gesundheitszustand des Sohnes akut verschlechtert und Elia ihn aus dem Tod auferwecken muss, ist die Tochter der Syrophönizierin von einem Dämon besessen. Auch wenn in der Antike diverser Krankheiten auf einen dämonischen Einfluss zurückgeführt wurden, sind die spezifischen Krankheitsbeschreibungen zu unterschiedlich. Erneut ist denkbar, dass es
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rufung Elisas)589 und 14,32–41 (Verzweiflung des Elia in der Wüste)590 gesehen. M.E. ist die Parallelität in all diesen Episoden jedoch zu gering, als dass die intendierten Rezipienten hier einen eindeutigen Bezug zur Eliatradition herstellen könnten und sollten. ii) Explizität: Die (weitgehend) unumstrittenen Bezüge in 1,2f.; 1,4–8; 6,14f.; 8,27f.; 9,2–7; 9,8–13; 15,35f. zeichnen sich durch ein hohes Maß an Explizität aus, weil hier der Name Elia entweder explizit verwendet wird oder – wie in 1,2f. – auf einen zentralen Grundtext der Eliatradition zurückgegriffen wird (Mal 3,1.23f.). Mit der Vorstellung der Wiederkehr und eines Vorangehens wird zugleich ein Hauptmerkmal des endzeitlichen Elia aufgegriffen. Neben den diversen Wundertaten, die in der jüdischen Literatur von Elia erzählt werden, ist es v.a. diese eschatologische Vorläuferfunktion, die in den Erzählungen und Texten immer wieder Erwähnung findet (s.u.). iii) Primär- und Rezenzeffekt: Gerade zu Beginn der markinischen Erzählung (1,2f.; 1,4–8) sowie in der Mitte (8,28; 9,2–7; 9,9–13) und am Ende (15,35) wird die Aufmerksamkeit auf die Figur des Elia gelenkt, was deren Relevanz für die gesamte Handlung unterstreicht. iv) Ungewöhnlichkeit der Darstellung: Im Unterschied zur jüdischen Literatur zeichnet sich die Figur des markinischen Elia durch mindestens591 ein ungewöhnliches Merkmal aus. Während Elia in der frühjüdischen Literatur ausschließlich als Vorläufer Gottes in Erscheinung tritt, lässt es die Eröffnung
in einer literarischen Vorstufe stärkere Bezüge zu 1Kön gegeben hat, aber auch diese werden von Markus nicht ausgestaltet und aktiviert. Die Rekonstruktion einer solchen Vortradition bleibt ohnehin spekulativ. 589 So v.a. MAJOROS-DANOWSKI, Elija, 220–228. Die von Majoros-Danowski behaupteten Gesprächsparallelen zu 2Kön 2,9f. sind fraglich und zu allgemein. Dass die Rezipienten eine indirekte Identifikation unter Zuhilfenahme von Ps 110 sowie der Vorstellung vom Gottesknecht vornehmen können, erscheint mir unwahrscheinlich. Wie Majoros-Danowski selber bemerkt, „spielt der 110. Psalm in Elijatraditionen keine Rolle“ (224). 590 So v.a. MAJOROS-DANOWSKI, Elija, 229–233. Der abweichende Schauplatz, die unterschiedlichen Handlungsrollen und die Tatsache, dass der markinische Bericht nicht primär auf Jesu Gemütslage fokussiert ist (s.o.), lassen auch diese Episode kaum als intendierten Text-zu-Text-Bezug erscheinen. 591 Johannes Majoros-Danowski erkennt auch in der physischen Erscheinung des Elia (9,2–7) eine außergewöhnliche Figureneigenschaft. Von einer solchen werde ebenfalls erst im 3. Jhdt. n. Chr. erzählt (MAJOROS-DANOWSKI, Elija, 49). Richtig ist, dass ein solches Erscheinen in der Tat die Aufmerksamkeit der Rezipienten auf sich zieht. Zugleich zeigt sich in 9,2–7 eine Inkohärenz innerhalb des markinischen Eliaporträts, weil der Prophet zuvor ausschließlich in der Gestalt des Täufers erschienen war.
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des Markusevangeliums zu, Elia (zugleich) als Vorläufer Jesu592 zu begreifen. Von einer derartigen Funktion weiß erst die spätere jüdische Überlieferung, wenn Elia zum Vorläufer eines Messias erklärt werden kann (bErub 43a.b; Sot 9,15; PesR 35 [161a]; SER 18 (97); SOR 17). v) starke Emotionen und Werte: Die Figur des Täufers erhält durch ihr ungerechtfertigtes Todesschicksal Aufmerksamkeit. Nicht nur der Bericht in 6,17–29 ist mit starken Emotionen und Werten belegt, sondern auch durch den frühen Hinweis auf die Verhaftung 1,14 und durch Jesu Rückblick in 9,13 wird ein wesentlicher Fokus auf die Leidensthematik gerichtet und dadurch zugleich Spannung erzeugt. Ob es sich bei dieser Charakterisierung, wie von Majoros-Danowski vermutet, um einen bewussten Kontrast „zu den [...] verbreiteten Traditionen eines gewalttätigen, eifernden Elijas“593 handelt, lässt sich nicht mit Sicherheit entscheiden. Sollte dies zutreffen, so erhielte das Porträt aufgrund einer weiteren ungewöhnlichen Figureneigenschaft zusätzliche Aufmerksamkeit. Lässt sich anhand dieser fünf Kriterien erkennen, dass die Rezipienten der Figur des Elia Aufmerksamkeit schenken sollen, so ist zu fragen, welche Vorstellung der Rezipient über den Erzählverlauf hinweg gewinnen soll und wie diese Darstellung zugleich die Wahrnehmung Jesu beeinflusst. Folgen wir bei unserer Analyse dem Erzählverlauf des Markusevangeliums, so wird der intendierte Rezipient erstmals mit dem Mischzitat in 1,2f. auf die Figur des Elia hingewiesen. Hierbei ist für das Verständnis der Textstelle grundlegend, dass es sich nicht allein um eine Wiederaufnahme und Verknüpfung von Jes 40,2 und Mal 3,1 handelt, sondern dass sich in diesem Mischzitat zugleich Gott selber äußert (vgl. 4.2.2a). Aufgrund der personalen Anrede eines Du, die eine offensichtliche und bewusste Ergänzung zum Septuaginta-Text darstellt (vgl. Kap. 4.2.2a), werden die Verse zugleich als Gespräch zwischen Vater und Sohn erkennbar.594 Gott redet hier – vor der er592
Wenngleich in der Exegese umstritten ist, ob Markus tatsächlich eine derartige hoheitschristologische Pointe setzt, wird von vielen Neutestamentlern auf eine entsprechende Deutungsmöglichkeit verwiesen. Vgl. zum Diskussionsstand die Übersicht bei MAJOROSDANOWSKI, Elija, 122f. 593 MAJOROS-DANOWSKI, Elija, 141. 594 So auch ROSE, Theologie, 116–119, hier 116: „Der Rezipient des Textes bekommt in Mk 1,2f. Anteil an einem – man möchte sagen – intergöttlichen Gespräch.“ Dass in 1,2f. die Rezipienten angeredet würden, was der zugrundeliegenden Kommunikationssituation des Jesaja- und Maleachitextes entspräche (Jes 40,1; Mal 3,23) und damit korrespondiere, dass Johannes und Jesus gleichermaßen Gottes Kommen verkündigten (1,7.15), vermag nicht zu überzeugen (so MAJOROS-DANOWSKI, Elija, 122f.). In diesem Fall würde es sich bei 1,2f. um eine Metalepse handeln, weil Gott als Figur der Erzählung aus der erzählten Welt herausträte, um die Rezipienten direkt anzusprechen. M.E. wird von MajorosDanowski nicht beachtet, dass im Falle seiner Interpretation die Abweichung von den
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zählten Zeit – zu Jesus und kündigt diesem einen Boten bzw. a[ggelo~595 an, der ein Wegbereiter sein wird und in seiner Verkündigung das Kommen des kuvrio~ bezeugt. Da der Angeredete nicht namentlich genannt wird, sondern der Erzähler das Personalpronomen sou verwendet, wird der Rezipient auf sein bisheriges Textwissen zurückgreifen und daher mit der einzigen zuvor genannten Figur gleichsetzen (= Kohäsion). Dann muss es sich aber um den in 1,1 erwähnten Jesus Christus handeln.596 Mit dem Vorläufer ist hingegen eindeutig Elia bezeichnet, was sich für den intendierten Rezipienten aufgrund der gegebenen Intertextualität (1,2) und seines textexternen Vorwissens nahezu zwangsläufig ergibt. Obwohl das Figurenporträt des Elia in den zeitgenössischen Überlieferungen als überaus facettenreich gelten kann,597 stellen die Wiederkehr 598 und die damit engstens verbundene Vorläuferfunktion Ausgangstexten ungleich größer ist. Dass Elia und Jesus den Rezipienten den Weg bereiten, lässt sich wohl kaum mit der Aussage von Jes 40,3 vereinbaren. Umgekehrt lässt sich die Hinzufügung des Sohnes zwischen Gott und den endzeitlichen Boten durchaus vor dem Hintergrund der oben skizzierten frühchristlichen Bekenntnisentwicklung plausibel machen (1Kor 8,6) und sollte für das Markusevangelium zumindest nicht a priori ausgeschlossen werden. 595 Ob mit a[ggelo~ zugleich auf die Vorstellung angespielt wird, dass Elia einer Engelsgestalt gleiche oder ob ausschließlich an seine Funktion als Bote zu denken ist, lässt sich schlechterdings nicht sagen. 9,2–6 zeigt durchaus Züge einer Angelophanie (vgl. 9,4: w[fqh u. dazu Lk 1,11; Apg 7,30). Andererseits wird dieser Gedanke von Markus nicht weiter ausgeführt. Eine entsprechende Ausschmückung des Figurenäußeren lässt sich gerade nicht belegen. So erscheint allein Jesus im himmlisch weißen Gewand (9,3) und nicht Elia. 596 Ähnlich KLAUCK, Vorspiel, 41: „Gott adressiert seine Stimme beide Male an seinen Sohn, den in V. 2b.c die Possesivpronomina vertreten. Sie gewinnen durch den Genitiv ‚Jesus Christus‘ in der Titelzeile ihre Eindeutigkeit, notfalls auch ohne die Apposition ‚Sohn Gottes‘.“ Anders MAJOROS-DANOWSKI, Elija, 122f. u. PELLEGRINI, Elija, 194, die aufgrund des Prätextes (Ex 23,20) für eine Identifizierung mit dem Volk Israel plädieren. Allerdings wird der Rezipient immer zuerst nach einer Referenz innerhalb des literarischen Erzählrahmens suchen. 597 Dies wird bereits anhand der Vielzahl neutestamentlich verarbeiteter Motive deutlich. Assoziationen, die sich hier mit der Figur des Elia verknüpfen, sind die des Regenmachers (Lk 4,25f.; Jak 5,17f.; vgl. 1Kön 17 u. 18,42–46), der Feuerzeichen vom Himmel (Lk 9,54; vgl. 2Kön 1,10–15), des Gottesurteils auf dem Karmel (Röm 11,2–5; vgl. 1Kön 19,10–18) oder der Auferweckung (Heb 11,35; vgl. Sir 48,5; 1Kön 17,17–24). 598 „Literatur- wie religions- und theologiegeschichtlich ergibt sich also, dass das Motiv der eschatologischen ,Wiederkehr‘ des Propheten Elija die stärkste Wirkung unter den Elija-Motiven entfaltet hat.“ (BECKER, Elija redivivus, 595, und dazu Sir 48,10f.; VitProph 21,3; 4Q558). Diese Erwartung resultiert ihrerseits auf dem alttestamentlichen Bericht von der Entrückung des Elia und dessen Wirkungsgeschichte (vgl. Sir 48,9.12; 1Makk 2,58; vgl. auch 1Hen 93,8). In der Literatur des 2. und 3. Jhdts. lebt die Wiederkunftshoffnung auf, wird jedoch erzählerisch ausgeschmückt und neu adaptiert (vgl. LibAnt 48,1 [Sterblichkeit aller Menschen]; 4Esr 6,26 [Elia und die Gerechten]; Sib 2,187–189; ApcEl 4,7– 20; 5,32f. [Elia und Henoch]).
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seine Hauptmerkmale dar. Diese können je nach literarischem Kontext adaptiert und aktualisiert werden. So wird bereits durch den wirkungsgeschichtlich599 bedeutsamen Abschluss des Maleachibuches (Mal 3,23f.) der Bote aus Mal 3,1 mit dem wiederkehrenden Elia identifiziert. Seine Vorläuferfunktion beinhaltet hierbei seine Sendung am Tag des Herrn. Nach Maleachi wird Elia dem Zorngericht Gottes vorausgehen, um das Volk zur Umkehr zu rufen. In Sir 48,10 wird der Maleachitext seinerseits zitiert und zugleich durch das Motiv der Restitution Israels ergänzt und konkretisiert. Auch in Qumran (4Q558600, indirekt 4Q521) scheint – bei aller Fragmentarität der Belege und trotz aller angebrachten Zurückhaltung – in den Blick zu geraten, dass der wiederkommende Elia in der Endzeit eine Vorläuferfunktion übernimmt.601 Dass er hierbei Gott vorausgeht, lässt sich den Texten nicht eindeutig entnehmen, ist aber die einzig sinnvolle Ergänzung. 602 Mk 1,2f. ruft aller Wahrscheinlichkeit nach solche Erwartungen an einen Elia redivivus und dessen Funktion als Vorläufer Gottes wach. Wie in Mal 3,23f. oder Sir 48,10 tritt auch Johannes der Täufer in der Rolle eines Umkehrrufers auf (1,4f.). Zugleich lässt sich eine Abwandlung erkennen. Während sich in vorrabbinischer Zeit, wie bereits angedeutet, kein einziger Text finden lässt, in dem Elia als Vorläufer des Messias auftritt,603 so wird durch das bereits erwähnte Gespräch eindeutig eine weitere Figur zwischen den Sendenden (Gott) und den Gesandten (Elia) eingefügt. Zugleich verkündigt der mit Elia zu identifizierende Bote – in Übereinstimmung mit der alttestamentlichen Literatur – das Kommen des kuvrio~. Die Menschen sollen ausdrücklich den Weg des Herrn bereiten. Seine604 Steige sollen sie eben machen. Dies wirft unweigerlich die Frage auf, in welchem Verhältnis das 599
Vgl. 4Q558; Sir 48,10; LXX Ex 23,30 (to;n a[ggelovn mou); TPsJ Ex 40,10 (Verknüpfung Ex 40,10 mit Mal 3,23); TPsJ Num 25,12 (vgl. hierzu im Detail MAJOROSDANOWSKI, Elija, 93–96). 600 .[...] לכן אשלח לאליה קד 601 M.E. sprechen die semantischen Parallelen und v.a. der explizite Sendungsgedanke für eine Anspielung auf Mal 3,23f. (ähnlich ZIMMERMANN, Texte, 414f.; COLLINS, Works 102f.; PUECH, Une apocalypse, 496). Dass Elia nicht als Vorläufer einer messianischen Gestalt verstanden wird, sondern seinerseits messianische Züge trägt (vgl. ÖHLER, Elia, 20f.), muss keineswegs im Widerspruch hierzu stehen. 602 Der Text ist „zwar nicht sicher, aber mit einiger Wahrscheinlichkeit ein Beleg für die Erwartung des wiederkommenden Elia“ (ZIMMERMANN, Texte, 415). 603 Den frühesten Beleg für eine derartige Vorstellung außerhalb des Neuen Testaments bietet bErub 43a.b. Vgl. zudem Sot 9,15; PesR 35 [161a]; SER 18 (97); SOR 17; vgl. zum Ganzen ÖHLER, Elia, 27–29; HÄFNER, Vorläufer, 336–338; FAIERSTEIN, Why, 81–85. Ein indirektes Zeugnis für diese späte jüdische Tradition stellt Justin, dial. 9,4; 49,1; 110,1 dar. 604 Die Abwandlung des Septuagintatextes (aujtou` statt qeou` hJmw`n) ist der markinischen Redaktion zuzuschreiben. Der Texteingriff ermöglicht es überhaupt erst, den Kyrios-Titel auf das angesprochene Du aus V. 2 und damit die Figur Jesu zu beziehen. Genau dies ist intendiert.
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Kommen des Elia, das im Folgenden erzählte Auftreten Jesu und das Kommen Gottes stehen. Ist Jesus mit dem alttestamentlichen kuvrio~, d.h. mit Gott zu identifizieren und ist sein Kommen Gegenstand der Eliaverkündigung? Oder bleibt es bei einer Differenz, so dass der markinische Jesus lediglich als zusätzlicher Bote und Verkündiger Gottes neben Elia auftritt? Die Einleitung erlaubt für sich genommen noch keine eindeutige Entscheidung, deutet aber – aufgrund der sprachlichen Eingriffe und der berechtigten Vermutung, dass die Rezipienten diese aufgrund ihres literarischen Wissens bemerken konnten – tendenziell auf eine Identifizierung zwischen Jesus und dem kuvrio~ hin. Wie bereits durch die frühen Bekenntnisse und Auferweckungsformeln der Urgemeinde belegt (Lk 24,34; 1Kor 8,6; Röm 4,24; 10,9b; 1Kor 6,14; 2Kor 4,14; Heb 13,20), kann auch hier die Vorstellung vom kuvrio~ binitarisch entfaltet und auf Gott und Jesus bezogen werden. Jesus ist der kuvrio~, dessen Weg Elia bereiten soll. In ihm richtet Gott seine Königsherrschaft auf. Die Blockcharakterisierung in 1,4–8 entfaltet erzählerisch, was in 1,2 angekündigt wurde. Aus heutiger Sicht mag überraschen, dass statt des zuvor verheißenen Elia nun vom Wirken des Täufers berichtet wird, ohne dass dies durch einen Erzählerkommentar erläutert würde. Eine weitere Erklärung scheint nicht nötig zu sein, um die Figur des Elia und die des Täufers miteinander zu identifizieren. Der Rezipient vermag die beiden Personenvorstellungen aufgrund ihrer gemeinsamen Merkmale und seines textexternen Wissens zu verknüpfen. Die Beschreibung eines Umkehrpredigers in der Wüste605 (1,4f.) knüpft aufs Engste an die vorherigen Prophetenworte bzw. den Ratschluss Gottes (1,2f.) und damit zugleich an ein Hauptmerkmal des erwarteten Elia an (Mal 3,1.23; Sir 48,10; TJon Mal 3,23f.; vgl. auch Lk 1,77f.). Gerade die Wüste am Jordan gilt aufgrund der Himmelfahrt als wichtiger Handlungsort des Elia (2Kön 2,8–14; vgl. auch 1Kön 17,3–7; 19,3–8).606 Dass die Wüste auch der Aufenthaltsort anderer Endzeitpropheten sein kann, steht hierzu nicht im Widerspruch, sondern ergibt sich aus der Tatsache, dass Elia auch für diese Zeichenpropheten Vorbild war und blieb.607 Die Erwähnung der johannei605
Vgl. die Wiederholung von ejn th`æ ejrhvmwæ in 1,3a und 1,4a als starke semantische Überschneidung. 606 Dass Elia in der späteren Tradition gar als Araber gesehen werden kann (VitProph 21,1; bBer 6b), leitet sich indirekt aus seiner Herkunft aus Tischbe und seiner Tätigkeit in der Jordanwüste – der „Araba“ (hā ‘arābāh) – ab (vgl. SCHWEMER, Elija, 108f.138–143). 607 Vgl. hierzu v.a. das Auftreten des Theudas (Jos. Ant. 20,97–99). Die Wüste stellt darüber hinaus aber auch die Wirkstätte des Ägypters (Bell. 2,261–263; Ant. 20,169–172), anderer anonymer Propheten (Bell. 2,258f.; Ant. 20,167f.; Ant. 20,188 [Zug in die Wüste]) oder der „Proto-Mandäer“ (vgl. RUDOLPH, Gnosis, 391 [Jordan]) dar. Inwieweit es sich bei diesen Gestalten um Propheten i.e.S. handelt, lässt sich nicht mit Sicherheit klären und bleibt umstritten. BARNETT, Sign Prophets, 679–697 hat für diese Gruppe den Begriff der
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schen Taufe stellt hingegen eher eine historische Reminiszenz dar (= historisches Pendant),608 ohne dass Elia oder ein anderer Prophet hier als Vorlage diente.609 Zugleich wird die Taufe bei Markus aber bereits ganz in den Dienst der Umkehrpredigt und göttlichen Sündenvergebung610 gestellt. In Analogie zu Mal 3,23f. wird das Volk zur Umkehr gerufen, um es vor Gottes Zorngericht611 zu bewahren. Dass das ganze jüdische Land (pa`sa hJ ÆIoudaiva cwvra) und alle Bewohner Jerusalems (oiJ JIerosolumi`tai pavnte~) dem Täuferruf folgen, kann hierbei nicht wörtlich zu verstehen sein. Durch das totum pro parte bzw. die hyperbolische Steigerung wird gerade der große Erfolg der Umkehrpredigt betont (vgl. 11,32) und damit die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf diese Figurenparallele gelenkt.612 Die völlig unvermittelte und zugleich unvollständige613 Beschreibung des Figurenäußeren sowie der Essgewohnheiten (1,6) dienen einem ganz ähnlichen Ziel: „Bekleidung und Speise erklären sich bei Johannes dem Täufer nach dem Bild des Propheten, sein Ledergürtel weist auf Elia.“614 Kognitionswissenschaftlich gesprochen
Zeichenpropheten geprägt. Dass diese, wie von ihm vermutet, Jesus imitiert hätten, erscheint aufgrund einer zu geringen Parallelität eher unwahrscheinlich. Naheliegender ist es von einer breiteren Strömung auszugehen, wobei sich ein prophetisches Selbstverständnis und der gewaltsame Widerstand gegen die Autorität vermischt haben dürften. Letzteres lassen v.a. die Berichte des Josephus im Bellum erkennen. 608 Mögliche Anklänge an das Tauchbad des Naaman (2Kön 5,14) und damit an die Figur des Elisas vermag ich nicht zu erkennen (gegen MAJOROS-DANOWSKI, Elija, 246). Gleiches gilt für die Heilung von Ausschlag in 1,40–45. Da solch ein Hautauschlag ein häufiges Krankheitsbild in der Antike darstellt, lässt sich keine literarische Abhängigkeit zur Elisa-Erzählung plausibel machen. 609 Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch der überlieferte Beiname „der Täufer“/ oJ baptivzwn (6,14.24 [= markinisch]) bzw. oJ baptisthv~ (6,25; 8,28). 610 Weder lässt sich für den jüdisch erwarteten Elia redivivus noch für den markinischen Täufer behaupten, dass dieser die Sünde des Volkes aus eigener Kraft beseitige (mit HOFIUS, Targum, 106 Anm. 216; gegen KELLERMANN, Sünden 165–177, bes. 173.176). Die kurze Notiz in 1,4 bereitet aber durchaus 2,5f. vor, wo eine solch direkte Sündenvergebung Jesus zugesprochen wird. Gerade indem Jesus die Vergebung der Sünden vollmächtig zuspricht, provoziert er den – jüdisch verständlichen – Widerspruch der Autoritäten. 611 Während ein Zorngericht bei Markus eher implizit durch die Thematik der Umkehrpredigt vorausgesetzt wird, findet dieses bei Matthäus und Lukas eine deutlich stärkere Entfaltung. 612 Matthäus scheint an dieser Stelle eine gewissen Inkohärenz empfunden zu haben und schafft mit Mt 3,7–12 einen entsprechenden Ausgleich. Indem er einen Dialog mit den Pharisäern und Sadduzäern einfügt, hält es fest, dass auch der Täufer von Anfang an auf Widerstand gestoßen ist. 613 Die Hervorhebung einzelner Attribute verdeutlicht zugleich, dass es sich hierbei keineswegs um eine historiografische Sachinformation handelt. Vielmehr wird das historische Erscheinungsbild des Täufers auf wesentliche Vergleichsmerkmale reduziert, um eine offensichtliche Parallele zu anderen Prophetengestalten und Elia herzustellen. 614 LICHTENBERGER, Elia-Traditionen, 547.
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wird durch die Erwähnung des Kamelhaarmantels615 und der Speisen (Honig, Heuschrecken)616 der allgemeine frame des endzeitlichen Propheten aktiviert und durch die Erwähnung des Ledergürtels (vgl. 2Kön 1,8617) konkretisiert. Exkurs: Die Ankündigung des Stärkeren und der neuen Geisttaufe durch Johannes-Elia (Mk 1,7f.) Mit 1,7 wird erneut auf die literarisch gut bezeugte und den Rezipienten bekannte Vorläuferfunktion des Elia verwiesen. Klärungsbedarf besteht jedoch im Hinblick auf die Ankündigung eines Stärkeren (V. 7), die hier etwas ausführlicher thematisiert werden soll. Umstritten ist innerhalb des exegetischen Diskurses, ob mit der Formulierung auf das Kommen Gottes verwiesen wird 618 oder mit dem Stärkeren (zugleich) Jesus gemeint sein kann.619 M.E. wird man Markus durchaus zuzutrauen haben, dass er um die Offenheit und das Adaptionspotenzial dieser Formulierung weiß. Im Sinne eines breit bezeugten Sprachbefundes ist es zunächst durchaus naheliegend, Gott mit dem Stärkeren zu identifizieren und eine Anspielung auf seine eschatologische Ankunft zu erkennen (vgl. Jes 40,10).620 Dies fügt sich in die frühjüdisch erwartbare Elia-Verkündigung ein. Wen sonst könnte Elia als Vorläufer Gottes ankündigen? Wie wir bereits gesehen haben, sind alleine Berichte, die Elia als Vorläufer eines Messias charakterisieren, zu spät. Trotzdem reicht es m.E. nicht, die Aussageintention des Markustextes auf die literarisch vorgezeichnete und überaus prominente Elia-Erwartung zu reduzieren. Es legt sich vielmehr der begründete Verdacht nahe, dass bei Markus an die Stelle des erwarteten kuvrio~ die Person Jesu tritt. Es gilt gerade die Dialogizität (Pfister621 ) zwischen der vorgegebenen Begriffsvorstellung und 615 Elia wird im Alten Testament zunächst nur als „behaarter Mann“ charakterisiert (2Kön 1,8: ÆAnh;r dasu;~), aber es legt sich nahe, dass dieses Attribut auf den Mantel (vgl. 1Kön 19,13; 1Kön 19,19–21; 2Kön 2,8.13f.) übertragen wurde. Der haarige Mantel kann dann aber auch ganz allgemein zur Charakterisierung prophetischer Gestalten verwendet werden (Sach 13,4; Heb 11,37 AscJes 2,9f.; vgl. auch 1Clem 17,1). 616 Honig und Heuschrecken stellen nicht primär Speisen eines asketisch-eremitischen Lebensstils dar (so GNILKA, Evangelium II/1, 47, der meint, dies unterstreiche sogar die Gerichtspredigt). Vielmehr illustrieren sie – im Unterschied zu landwirtschaftlich erzeugten Produkten – die Abhängigkeit des Propheten von Gott und dessen Fürsorge. Es ergibt sich ein indirekter Bezug zur Versorgung Israels mit Manna (Ex 16,14–36; vgl, SCHENKE, Literarische Eigenart, 52) und zur Versorgung des Elia durch Raben mit „Brot und Fleisch“ (1Kön 17,4.6). Nach MekhY zu Ex 18,9 nimmt das Manna den Geschmack der besten Speisen an, wozu Heuschrecken und Honig zählen. Elija kann als jener Prophet bezeichnet werden, der das Manna zurückbringt (vgl. MekhY zu Ex 16,32). 617 Entscheidend ist für diese Textstellen, dass Elia nicht nur mit einem Ledergürtel beschrieben wird, sondern dass dieser auch in 2Kön 1,8 das Erkennungsmerkmal für Ahasja darstellt. Außerdem lässt ist auf die semantische Parallelität verweisen: LXX 2Kön 1,8: zwvnhn dermativnhn periezwsmevno~ th;n ojsfu;n aujtou` – Mk 1,6: zwvnhn dermativnhn peri; th;n ojsfu;n aujtou`. 618 So z.B. PELLEGRINI, Elija, 137; MAJOROS-DANOWSKI, Elija, 126. 619 So z.B. HAENCHEN, Weg, 42f.; VAN IERSEL, Markus, 86. 620 Vgl. TILLY, Johannes, 39. 621 Vgl. PFISTER, Intertextualität, 29: „Dieses Kriterium besagt, daß – wie immer ceteris paribus – ein Verweis auf vorgegebene Texte oder Diskurssysteme von umso höherer intertextueller Intensität ist, je stärker der ursprüngliche und der neue Zusammenhang in
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dem Markustext zu berücksichtigen. Für eine Identifikation zwischen Jesus und dem Stärkeren spricht hierbei, 1) dass im unmittelbaren Anschluss an die Verheißung des Täufers Jesus erstmals auftritt (1,9–11). Unter Verweis auf kognitive Inferenzprozesse ist es naheliegend, dass der intendierte Rezipient dieses Auftreten auf die vorherige Ankündigung bezieht. Der Stärkere wird angekündigt und tritt zugleich auf, 2) dass Johannes davon spricht, dem Stärkeren das Lederband seiner Sandale zu lösen. Während sich dieses Ereignis ausgesprochen gut in den beschriebenen Kontext der nachfolgenden Taufe einfügt622 und hierdurch der Dienerstatus des Täufers unterstrichen wird,623 lässt sich für die Figur Gottes eine entsprechende Praxis kaum plausibel machen. 624 Gegen eine Gleichsetzung von Jesus und dem Stärkeren wird nun allerdings häufig geltend gemacht, dass das Markusevangelium nirgendwo die angekündigte Geisttaufe Jesu erzählerisch entfalte (1,8). Demgegenüber scheine mit 1,9–11 gerade eine solche Taufe mit dem Heiligen Geist erzählt zu werden. Allerdings bezieht sich die von Johannes angekündigte Taufe gerade nicht auf eine Einzelperson, sondern auf die zuvor genannte und weiterhin anwesende Menge (V. 5). Der antithetische Parallelismus verdeutlicht, dass die Gruppe der Getauften identisch bleibt: ejgw; ejbavptisa uJm a`~ [...] aujto;~ de; baptivs ei uJm a`~ [...]. Wie lässt sich diese Taufankündigung, bei der Jesus als Täufer und die Menge als Getaufte erscheint, dann jedoch verstehen? Mehrere Lösungsvorschläge lassen sich wiederum diskutieren: 1) Es handelt sich um eine Inkohärenz, die allein auf die Genese des Textes zurückzuführen ist. Zweifelsohne lässt der synoptische Vergleich einen längeren Tradierungsprozess des Täuferwortes erkennen.625 Angesichts der sonst zu beobachtenden Achtsamkeit des Autors bleibt diese Lösung allerdings unbefriedigend. Warum sollte Markus gerade zu Beginn seiner Erzählung und zugleich an jener Stelle, an der er seinen Protagonisten in die Erzählung einführt, einen derart gravierenden Bruch nicht bemerkt haben? 2) Die Ankündigung des Täufers ist falsch. Sie unterstreicht dessen Unwissenheit im Hinblick auf zukünftige Ereignisse. M.E. liegt diese Schlussfolgerung außerhalb der markinischen Intention und Leserlenkung. Die Erzählung enthält keine ausreichenden Indizien für eine solche Vermutung. Wäre die Verkündigung des Täufers bzw. des endzeitlichen Elia unglaubwürdig, so käme dies zugleich einer Diskreditierung Gottes gleich. Sollte der von Gott gesandte und in 1,2f. angekündigte Elia unzuverlässig sein? semantischer und ideologischer Spannung zueinander stehen.“ Ausdrücklich macht Pfister dieses Kriterium nicht allein für Text-zu-Text-Bezüge im engeren Sinne geltend, sondern zugleich für umfassendere Diskurssysteme. Statt „Diskurssystem“ ließe sich kognitiv präzisierend von „mentalen Modellen“ sprechen. 622 Dass dem Täufling vor seiner Taufe bzw. vor seinem Tauchbad die Sandalen ausgezogen werden, lässt sich als prozedurales Vorwissen der Rezipienten erfassen. Gerade deshalb muss dieses Ereignis im nachfolgenden Taufbericht nicht explizit erwähnt werden. 623 Vgl. zum Schuheausziehen als Sklavendienst bzw. als Dienst innerhalb eine SchülerLehrer-Verhältnisses MekhY zu Ex 21,2; TQid 1,6; bQid 22b. In bKet 96a wird dieser Praxis hingegen explizit widersprochen: „Alle Arbeiten, die ein Sklave für seinen Herrn verrichten muss, verrichte auch ein Schüler für seinen Meister, ausgenommen den Schuh lösen“ (GOLDSCHMIDT, Der Babylonische Talmud IVb, 773f.). Auch diese Ausnahmeregelung macht jedoch nur Sinn, wenn dem Autor eine entsprechende Praxis vor Augen stand. 624 MAJOROS-DANOWSKI, Elija, 127, will als Parallele SifBam 15,41 geltend machen. Wenn hier in einem Gleichnis (!) von der Sandale des Königs die Rede ist, so lässt sich dies aber nicht einfach auf Gott übertragen. 625 Vgl. hierzu LAUFEN, Doppelüberlieferungen, 94.
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
In 11,27–33 wird gerade die Zuverlässigkeit des Täufers hervorgehoben. Seine „Taufe“ – und dies verweist zugleich auf seine Sündenvergebung und Verkündigung – war „vom Himmel“, d.h. von Gott.626 3) Der Hinweis auf eine Tauftätigkeit Jesu ist in einem übertragenen Sinn zu verstehen. So urteilt Ludger Schenke: „Die Formel: ‚Er wir euch in Heiligem Geist taufen‘ umschreibt das gesamte Wirken des kommenden Gottessohnes, seinen Weg. Was alles davon umfasst wird, muss die Erzählung zeigen.“ 627 Hierfür ließe sich geltend machen, dass der Begriff der Taufe in dieser Hinsicht auch das Wirken des Johannes zusammenfasst (vgl. 11,27–33). Gegen diese Interpretation spricht allerdings, dass der Begriff der Taufe an keiner Stelle explizit auf Jesu Lehre oder sein Wunderwirken bezogen wird. Lediglich Jesu Leiden sowie das Leiden seiner Nachfolger kann mit der Metapher des Taufens umschrieben werden (10,38–40). Allerdings gerät auch hier nicht primär Jesu irdische Taufe in den Blick. Vielmehr wird das Kreuzigungsgeschehen mit dem späteren Martyrium der Apostel verglichen und somit auf Ereignisse jenseits der erzählten Zeit vorausverwiesen. 4) Es handelt sich um eine verdeckte Metalepse. Innerhalb der Erzählung bezieht sich die Ankündigung eindeutig auf die umstehende Menge. Diese hat eine berechtigte Hoffnung darauf, nicht nur die Wassertaufe des Johannes zu empfangen, sondern auch Jesu zukünftige Geisttaufe. Gleichzeitig wird dieses Ereignis innerhalb der erzählten Zeit nicht eingelöst. Die Rezipienten des Markusevangeliums können die Aussage aber mit der ihnen bekannten Taufpraxis in Verbindung setzen. Die nachösterliche Gemeinde ist Empfängerin der angekündigten Geisttaufe und damit der Taufe Jesu. Auch an anderer Stelle ist die markinische Erzählung in dieser Weise „transparent“ gestaltet. Sie verweist über das vordergründig Erzählte hinaus auf die Situation der nachösterlichen Gemeinde (4,13–20;628 7,1–23). In der Konsequenz erscheint der Täufer auch bei dieser Lösung als Unwissender (s. 2), aber dieser Sachverhalt wird von Markus lediglich in Kauf genommen und nicht ausgestaltet bzw. fokussiert. Auch wenn man diesem, von mir favorisierten Lösungsvorschlag nicht folgt,629 so lässt bereits die Auflistung möglicher Interpretationen erkennen, dass im Hinblick auf 1,7 keineswegs die Notwendigkeit besteht, den Begriff des Stärkeren ausschließlich auf Gott zu beziehen. Vielmehr wird die ursprüngliche Ankündigung eines Stärkeren – und damit Gottes – auf Jesus übertragbar. In Analogie zu 1,2f. tritt Jesus an die Stelle des kuvrio~.630 Gott kommt in der Person Jesu als der Stärkere.
Kehren wir zu unserer Ausgangsfrage nach dem Verhältnis zwischen Elia und Johannes dem Täufer zurück, so lassen sich die festgestellten Parallelen zwi626 Der Himmel ist hier eine Umschreibung des Gottesnamens, den es aus religiösen Motiven – gerade hier im Dialog mit den gegnerischen Autoritäten – zu vermeiden galt. 627 SCHENKE, Literarische Eigenart, 52. 628 Mit LANDMESSER, Geheimnis, 287f.292–294. 629 Problematisch an diesem Verständnis bleibt, dass die Christen zwar durchaus auf den Sohn oder im Namen des Sohnes getauft wurden, aber nirgendwo Jesus als explizites Subjekt der Taufe genannt wird. Dieses Problem ergibt sich allerdings auch, wenn man Gott mit dem Stärkeren identifiziert. In 1,9–11 ist es explizit Johannes, der tauft – nicht Gott. Dass Gott zum Subjekt der Taufe erklärt wird, könnte sich aber von der verbreiteten Vorstellung einer Geistausgießung ableiten (Jes 44,3; Ez 36,25–27; Joel 3,1f.; vgl. auch Jes 32,15; Sach 12,10). 630 Ähnlich GUTTENBERGER, Gottesvorstellung, 70f.; ROSE, Theologie, 134.
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
391
schen beiden Figuren im Sinne eines Blending Netzwerks (vgl. Kap. 2.1.3) konzeptualisieren. Die Merkmale, die der markinische Johannes mit dem erwarteten Elia teilt, lassen sich als Input Spaces erfassen. Die Tabelle (Tab 4.4) verdeutlicht, dass man – wie wir bereits anhand der Kleidungsnotiz gesehen hatten – nicht immer eindeutig zwischen den Individualkennzeichen beider Figuren und der allgemeineren Beschreibung einer Prophetengestalt unterscheiden kann. Die Anzahl gemeinsamer Merkmale und die Parallelität einzelner Eigenschaften reicht aber aus, um von einem intendierten Vergleich zwischen Elia und Johannes sprechen zu können. Zugleich verweist das Grundmodell der Blending-Theory darauf, dass die benannten Merkmalparallelen für sich genommen noch nicht ausreichen, um von einer Identifikation zu sprechen. Die Parallelen könnten ebenso gut Ausdruck einer ähnlichen prophetischen Lebensweise sein oder den Rückschluss erlauben, dass sich der historische Johannes am Vorbild des Elia orientiert habe. Dass die Rezipienten des Markusevangeliums im Auftreten des Täufers zugleich Elia erkennen und beide Figurenmodelle überblenden, ergibt sich letztlich erst über das textexterne Wissen der Rezipienten und damit über einen zweiten Inferenzprozess (completion). Zum einen lässt sich erneut auf die verbreitete Elia redivivus-Hoffnung verweisen (Mal 3,23f.; Sir 48,10f.; VitProph 21,3; 4Q558), die ihrerseits als Konkretion einer umfassenderen, für den jüdischen wie griechisch-römischen Bereich bezeugten Wiederkehrvorstellung, aufzufassen ist. 631 Weil man ohnehin auf die Wiederkehr und das irdische Erscheinen des Elia und anderer Personen hoffte, konnten die Rezipienten auf eine Identifikation zwischen Johannes und Elia schließen. Zweitens scheint es seit dem 1. Jhdt. v. Chr. durchaus üblich, dass Elia in der Gestalt historischer Personen oder wichtiger Zeitgenossen erscheint. Das Spektrum reicht dabei von einer impliziten und partiellen Parallelisierung bis hin zu einer expliziten und vollständigen Identifikation.632 Personen, die mit Elia identifiziert werden, sind Simon Makkabäus (1Makk 13,3– 5), Choni (Jos. Ant. 14,22–24; mTaan 3,8; bTaan 23a–25a; yTaan 66d; bYom 53b), Johannes Hyrkanus (TPsJ Dtn 33,1) und Pinhas (LibAnt 48,1f.; TPsJ Num 25,12; TPsJ Ex 6,18633). 631
Vgl. BECKER, Elija redivivus, 595–600. Im Judentum kann neben der Wiederkehr des Elia v.a. auf eine Wiederkehr des Mose und des David gehofft werden. Die bedeutendste redivivus-Vorstellung im griechisch-römischen Kulturraum stellt die Erwartung eines Nero redivivus dar (vgl. KLAUCK, Nero Redivivus). Die Erscheinung einzelner Herrschergestalten oder deren Apotheose lässt sich nur entfernt mit den redivivusHoffnungen des Judentums vergleichen. Sie besitzen gerade keine eschatologische Bedeutung. Außerdem wird von einer wiederholten Besuchen einzelner Herrscher berichtet. 632 Vgl. hierzu ausführlich ÖHLER, Elia, 98–110; MAJOROS-DANOWSKI, Elija, 148–150. 633 Hier ist am ehesten von einer vollständigen Identifikation zu sprechen: כהנא רבא פנחס הוא אליהו.
392
4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie Input Spaces
Elia (redivivus)
mk Johannes
andere Propheten
Vorläufer Gottes
Mal 3,1.23; Sir 18,10; TJon Mal 2,23f.
1,2f.; 1,7f.
––
Ledergürtel
2Kön 1,8
1,6
––634
Umkehr des Volkes
Mal 3,1.23; Sir 48,10; TJon Mal 3,23f.
1,4f.
AscJes 2,7–12; 5,1–14 (Jesaja); 635 Jos. Ant. 20,188
(haariger) Mantel
1Kön 19,13; 1Kön 19,19–21; 2Kön 2,8.13f.; (vgl. 2Kön 1,8: ÆAnh;r dasu;~)
1,6
Sach 13,4; Heb 11,37; AscJes 2,10; (Jos. Ant. 8,353f.) 636
Wüste am Jordan
2Kön 2,8–14; 1Kön 17,3–7; 19,3–8
1,6
2Kön 5 (Elischa); Jos. Ant. 20,97–99 (Theudas); Bell. 2,261–263; Ant. 20,169–172 (Ägypter); Bell. 2,258f.; Ant. 20,167f.; 20,188 (anonym)
indirekt: 1Kön 17,4.6; (vgl. Ex 16,14–36637 )
1,6
–– 638
gering
Heuschrecken, wilder Honig
keine
Taufe
––
1,4
–– 639
Parallelität hoch
Tab. 4.4: Figurenvergleich Elia – Johannes (Input Spaces und Parallelität) 634 Dass der Ledergürtel lediglich „zur normalen Tracht des Bauern und Beduinen [gehört]“ (GNILKA, Evangelium II/1, 47), ist bei Markus nicht im Blick. 635 Bei „Jesaja“ herrscht allerdings das Motiv der Trauer vor, die angesichts des Abfalls der Israeliten aufkommt. Eine tatsächlich Umkehr wird nicht berichtet. 636 Der Mantel oder auch das Gewand stehen vielfach für die Fähigkeit zu prophezeien, was durch 2Kön 2 und den Bericht des Josephus besonders betont wird. Eine andere Bedeutung hat vermutlich das Sackgewand (vgl. Offb 11,3; Hipp. De antichristo, 43), das für Buße stehen dürfte (vgl. dazu Am 8,10; Jdt 8,5; JosAs 10,16; 14,16). 637 Vgl. hierzu auch die wirkungsgeschichtlich festzustellende Übertragung auf die Person des Elia (MekhY zu Ex 18,9; MekhY zu Ex 16,32). 638 Die engste Parallele stellen Jos. Vit. 10–12 und AscJes 2,11 dar (Wildkräuter). 639 Als entfernte Parallele ließe sich Jos. Vit. 10–12 anführen. Allerdings weist auch die „Taufe“ des Bannous eher Ähnlichkeiten mit dem regelmäßigen Tauchbad der Essener auf. Es handelt sich gerade nicht um einen einmaligen Taufakt. Gleiches gilt für die Tauchbäder der Proto-Mandäer (vgl. dazu RUDOLPH, Gnosis, 391).
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
393
Im Neuen Testament finden sich nicht nur Analogien zu diesem Auftreten des Elia in menschlicher Gestalt, sondern hier kann eine solche Parallelisierung explizit benannt werden und zugleich als vollständige Identifikation angesprochen werden (Mt 11,9–14; 17,10–13; Lk 1,15–17; auch Joh 1,19– 25).640 Aufgrund der Bezeugungsbreite, Erinnerungsnähe und Parallelität dieser Vorstellungen ist es wahrscheinlich,641 dass die Rezipienten des Markusevangeliums die Wiederkunft des Elia erwarteten und sich diese als ein Auftreten in der Gestalt eines anderen Menschen vorstellten. Auf der Grundlage dieses textexternen Vorwissens und der Vielzahl textintern festzustellender Merkmalsparallelen ergibt sich dann tatsächlich eine Identifikation zwischen Elia und Johannes dem Täufer. Diese wird im folgenden Erzählverlauf durch weitere Merkmalsparallelen und v.a. durch den rückblickenden und auf das Martyrium des Johannes bezogenen Kommentar Jesu in 9,12f. bestätigt. Mit 1,14 deutet der Erzähler des Markusevangeliums erstmals an, dass Johannes als Elia redivivus ein gewaltsames Schicksal erleidet. Es ist denkbar, dass die Rezipienten bereits aufgrund ihres textexternen Wissens eine allgemeine Kenntnis von der Hinrichtung des Johannes durch Herodes hatten. 642 Unklar ist demgegenüber, ob die Rezipienten dieses Leidensschicksal ebenfalls mit der Elia-Überlieferung verknüpfen konnten oder ob eher von einer Individualisierung (Schneider) der Elia-Erwartung zu sprechen ist. Eine entsprechende Motivik lässt sich erst spät feststellen (LibAnt 48,1) oder bleibt, wo sie bereits früher anzutreffen ist, zu unspezifisch (Offb 11,3–13), um von einem eindeutigen Bezug zur Person des Elia sprechen zu können.
640 Freilich finden sich auch implizite Parallelisierungen im Neuen Testament (Apg 9,36–43 [Petrus]; Apg 20,7–20 [Paulus]). So lässt das von Lukas erzählte Auferweckungswunder jeweils an 1Kön 17,17–24 erinnern. Dass Elia für Paulus selber zum Typos des erfolglosen Missionars werden kann (vgl. Röm 11,1–5; 1Kön 19,10.18), stellt einen anderen Sachverhalt dar. Im Römerbrief liegt der Fokus auf dem Gnadenhandeln Gottes und der Erwählung eines Restes, nicht auf einer Identifikation zwischen Paulus und Elia. Auch Paulus Reise nach Arabien (Gal 1,17) lässt sich nicht als „eine Art Wiederholung der Reise Elijas zum Berg Horeb/Sinai“ (MAJOROS-DANOWSKI, Elija, 149) verstehen. Die Parallelität zwischen beiden Berichte ist zu gering. 641 Die Bewertung der Quellen wird freilich durch die unsichere Datierung der rabbinischen Schriften sowie insbesondere de Targum Pseudo-Jonathan erschwert. 642 Dass die Hinrichtung von Josephus festgehalten wird (Jos. Ant. 18,116–119) spricht zunächst für den allgemeinen historischen Wert, den man dem Leben und Sterben des Täufers zusprach. Zugleich bleibt festzuhalten, dass die Rezipienten die konkrete Darstellung des Josephus vermutlich nicht kannten. Die Differenzen zwischen dem markinischen Bericht und Josephus sind zu groß. Der Ort, die näheren Begleitumstände und das Motiv hinter der Hinrichtung sind gänzlich andere.
394
4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
Das vorläufige Auslassen der Hinrichtungsumstände wirkt sich in jedem Fall spannungssteigernd aus. Der Leser wartet darauf, dass das Schicksal des Täufers von Markus nachgetragen wird. Daher wird er der Erzählung in 6,14–29 Aufmerksamkeit schenken. Indem die Festnahme des Täufers zugleich den Beginn für Jesu öffentliches Auftreten markiert, wird „JohanesElia“ anknüpfend an 1,2f. und 1,7f. erneut als Vorläufer Jesu dargestellt. „Wenn die zeitliche Absetzung auch mit den historischen Gegebenheiten übereinstimmen wird, erfolgt sie hier nicht um der Historie, sondern um eines heilgeschichtlichen Schematismus willen.“ 643 Auch mit seiner Festnahme und in seinem Todesschicksal geht Johannes dem markinischen Jesus voran. Demgegenüber liegt es außerhalb der intendierten Leserlenkung, den Zeitpunkt für Jesu Auftreten psychologisch zu erklären. Dass Jesus die Festnahme des Täufers bewusst abgewartet habe, weil er sich als dessen Schüler bedroht gefühlt habe, passt nicht zur vorher berichteten Versuchung (1,12f.). 644 Diese erschien nicht als bewusster Rückzug, sondern als gottgewirkte Erprobung. Es war ausdrücklich der Geist Gottes, der Jesus in die Wüste sandte (1,12a). Ob der Rezipient das passivische paradoqh`nai in 1,14 ebenfalls auf Gottes Eingreifen zurückführen kann und hierin zugleich eine erste Andeutung auf Jesu eigene Passion erkennt, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Spätestens wenn Jesus seine eigene Verhaftung ankündigt (9,31; 10,33; 14,41), wird der Rezipient allerdings an das Schicksal des Täufers zurückerinnert und erwartet nun wohl eine vergleichbare Festnahme und Hinrichtung Jesu. Eine Parallele zwischen Jesus und dem Täufer lässt sich auch im Hinblick auf den Inhalt ihrer Verkündigung erkennen. Wenn der Täufer den Stärkeren nach ihm ankündigt (1,7) und sich gerade darin als Vorläufer und Bote Jesu erweist (1,2f.), so knüpft auch der markinische Jesus den Anbruch der Königsherrschaft Gottes an seine Person. Auch wenn der markinische Jesus explizit das Evangelium Gottes (eujaggevlion qeou`) verkündigt und hier gerade nicht vom eujaggevlion ÆIhsou` Cristou` die Rede ist,645 so wird man aufgrund von 1,1 sowie der frühchristlichen Missionssprache 646 643
GNILKA, Evangelium II/1, 65. Gegen MAJOROS-DANOWSKI, Elija, 152: „Für den Verfasser ist auch Jesus durch Johannes’ Verfolgung gefährdet. Während Johannes verhaftet wird, hält sich Jesus geschützt vom Zugriff der Obrigkeit (sic!) in den Wüstengebieten südlich von Juda auf (Mk 1,12f.). Als Johannes verhaftet ist und damit für die Oberen das mit ihm verbundene Problem erst mal erledigt scheint, kehrt er nach Galiläa zurück (Mk 1,14).“ 645 Zur Vermeidung des Genitivus auctoris bei der Namensgebung der vier Evangelien vgl. HENGEL, Four Gospels, 48–56. 646 Das „Evangelium Gottes“ wird im Neuen Testament mit großer Selbstverständlichkeit vom Christusereignis her entfaltet und kann nicht einfach von seinem christologischen Inhalt getrennt werden. Vgl. zu Jesus Christus als zentralem Inhalt des Evangeliums und der apostolischen Verkündigung v.a. 1Kor 1,23; 2,2; 2Kor 4,5; Gal 1,11f.15f.; 3,1. Ähnlich 644
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
395
und des weiteren Erzählverlaufs kaum die christologischen Implikationen überhören können. Dass die Zeit erfüllt (peplhvrwtai oJ kairov~) und das Reich Gottes bereits herbeigekommen ist (h[ggiken 647 hJ basileiva tou` qeou`), muss auf das Auftreten Jesu bezogen werden. Es ist der Zeitpunkt für Jesu Wirken, der von Gott vorherbestimmt wurde. Und das Reich Gottes gewinnt in der Folge ausschließlich dort Realität, wo Menschen in der Begegnung mit Jesus Glauben fassen und wo ihnen durch Jesu Lehre und Verkündigung der Schlüssel zum Mysterium des Reiches Gottes gegeben wird (4,11). Weil Jesus als zentraler Inhalt des Evangeliums anzusehen ist, kann Markus auf synonyme Weise von der „Kunde Jesu“ (1,28) sprechen oder davon, dass die Menschen in ganz Galiläa und weit darüber hinaus „von ihm hören“ (3,8.21; 5,20.27; 6,14.55; 7,25; 10,47 implizit: 3,22; 7,1; 14,3), ihn „erkennen“ (6,54), ihm folgen bzw. nachfolgen wollen (1,45; 3,8; 5,18; 6,55), sich „um ihn versammeln“ (1,33; 2,2; 3,8; 4,1; 5,21; 6,2b.33; 7,1; 10,1; implizit: 8,1), ihm voller Zuversicht ihre Kranken und Angehörigen bringen (6,55; 7,32; 8,22; 10,13) oder dass sein Wirken vor Ort „bekannt wird“ (2,1; 5,14) und er so nicht „verborgen bleiben kann“ (1,45; 7,24). Mit 6,14–29 wird das Todesschicksal des Täufers in Form einer kompletiven Analepse nachgeliefert. Der Fokus liegt allerdings nicht allein auf der Person des „Johannes-Elia“, sondern gemäß der Einleitung (6,14–16) zugleich auf Jesus und dessen Identität. Johannes bleibt innerhalb der Episode weitgehend passiv, Parallelen zum alttestamentlichen Elia-Zyklus werden gerade nicht ausgestaltet648 und selbst die in V. 18 zitierte Kritik an der 2Kor 4,4.6, wenn die Erkenntnis des Evangeliums mit der Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes im Angesichte Jesu Christi gleichgesetzt wird: to;n fwtismo;n tou` eujaggelivou th`~ dovxh~ tou` Cristou` [...] pro;~ fwtismo;n th`~ gnwvsew~ th`~ dovxh~ tou` qeou` ejn proswvpwæ [ÆIhsou`] Cristou`. 647 Die resultative Bedeutung des Perfekts h[ggiken betont auch ECKSTEIN, Glaube und Sehen, 96 Anm. 95: „Rein sprachlich gesehen kann selbstverständlich auch bei Verwendung der Perfektform ein unmittelbar bevorstehendes Ereignis bezeichnet sein (vgl. h[ggiken/-kasin in LXX Dtn 31,14; Jes 56,1 [V. l.]; Ez 7,4; 9,1; 12,23 u.ö.); bei den ntl. Belegen für die eschatologischen term. Tech. ejggivzw/ejgguv~ wird die jeweilige Konnotation nur vom konkreten Kontext her erkennbar.“ Ähnlich bereits HAENCHEN, Weg, 73; GNILKA, Evangelium II/1, 66f.; Anders z.B. MARXSEN, Evangelist, 89, der betont ejggivzein beziehe sich auf ein „nahes, aber noch nicht eingetretenes Ereignis.“ Seiner Ansicht nach bricht das Reich Gottes erst mit der Parusie an. 648 Als mögliche Anspielungen lassen sich folgende Ereignisse und Merkmale nennen: (1) Kritik am König (6,18/2Kön 1,3f.6); (2) Verhaftung (6,17/2Kön 1,9–14); (3) Feindschaft der Königin (6,19.24.28/1Kön 19,1f.; vgl. auch 1Kön 18,17f.; 19,10.14; 21,20.25). Allerdings müssen zugleich die Differenzen gesehen werden: Der Gegenstand der Kritik ist jeweils ein anderer. Bei Elia bleibt es bei einem Verhaftungsversuch. Das Setting ist mit der beschriebenen Geburtstagsfeier und dem Tanz der Tochter ein gänzlich anderes. Insgesamt ist das Maß an Parallelität gering. Zugleich finden sich in der Episode wesentliche
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
ungesetzlichen649 Eheschließung dient primär dazu, die nachfolgende Intrige der Herodias plausibel zu machen.650 Mit V. 14f. wird auf die Verbreitung der Jesus-Kunde und die zunehmende Popularität des Protagonisten aufgrund seiner Wundertaten zurückverwiesen. Obwohl die Figur des Täufers und des Elia in den vorherigen Kapiteln nahezu gänzlich zurückgetreten waren, werden sie nun zur möglichen Erklärung von Jesu Wundern herangezogen. Während der Rezipient diese Taten von Anfang an auf den Anbruch der Königsherrschaft zurückzuführen vermag und erkennt, dass sich im Wirken des Sohnes zugleich das Kommen des Stärkeren ereignet, d.h. das Gott in der Person Jesu kommt und handelt (1,2f.7f.14f.), so herrschen im Volk nach wie vor andere Ansichten vor. Die Überzeugung, dass Jesus mit dem Elia redivivus, dem auferstandenen Täufer oder einem der endzeitlichen Propheten zu identifizieren sei, leitet sich aus einem gemeinsamen traditionsgeschichtlichen Hintergrund ab. Der Rezipient wird sich auch hier zwangsläufig an den Erzählanfang und die dort vorgenommene Identifizierung zwischen Elia und Johannes erinnern. Da der Rezipient seit Anfang an um das zeitgleiche Auftreten beider Figuren weiß (1,9), erscheint die von Herodes getroffene Identifikation als Irrtum. Dass auch der Täufer Wunder gewirkt habe, was durch 6,14 indirekt vorausgesetzt wird,651 wurde von Markus zuvor nicht erzählt. Die entsprechende Information in 6,14 dürfte sich somit aus der vorherigen Identifikation mit Elia und dem entsprechenden Vorwissen der Rezipienten ableiten. Dass Elia im zeitgenössischen Judentum als Wundertäter par excellence galt, ist durch die Literatur bestens bezeugt und spiegelt sich auch in mehreren Anspielungen innerhalb des Neuen Testaments wider (Lk 4,25f.; Jak 5,17f. [Regenmacher]; Lk 9,54 [Feuerzeichen]; Röm 11,2–5 [Karmel/Gottesurteil]; Heb 11,35 [Auferweckung]). Dieser Sachverhalt muss von Markus erzählerisch nicht entfaltet werden.652 Erkennt der Rezipient, dass sich zwischen den unterschiedlichen Standpunkten innerhalb des Volkes deutliche Schnittmengen ergeben und erinnert er sich zwangsläufig an die vorherigen Identifikation zwischen Johanstärkere Anklänge an die Esthererzählung, auf die die Rezipienten vermutlich eher achten konnten (vgl. SMIT, Geburtstagsfeier, 35; MAJOROS-DANOWSKI, Elija, 179–181; ÖHLER, Elia, 37; PELLEGRINI, Elija, 265f.). 649 Mit 6,18 tritt der Täufer für das alttestamentliche Gebot ein, dass den Ehebruch verbietet (Ex 20,17) und gerade die Ehe mit der Schwägerin anklagt (Lev 18,16; 20,21; vgl. Jos. Ant. 18,5,4). 650 Nichtsdestotrotz fügt sich diese Gesellschaftskritik und Kritik am Königshaus durchaus in das bisher evozierte Bild eines Propheten ein. 651 V. 14: „Deshalb wirken die Wunderkräfte [auch] in ihm [sc. Jesus]“/kai; diva tou`to ejnergou`sin aiJ dunavmei~ ejn aujtwæ`. 652 Es ließe sich diesbezüglich also von einer brevias-Funktion sprechen. Zugleich konzentriert Markus das Porträt des Täufers ganz auf die Leidensthematik.
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
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nes und Elia, so erhält der Abwägungsprozess des Herodes geradezu eine ironische Konnotation. Der König wägt zwischen Alternativen ab, die so gar nicht bestehen. Obendrein wirkt seine Schlussfolgerung, es müsse sich bei Jesus um den auferstandenen Johannes handeln, angstgetrieben. Die zitierte Figurenrede in V. 16b und die damit verbundene und zugleich vorweggenommene Information, dass der König den Täufer enthauptet habe, erscheinen obendrein wie ein Schuldeingeständnis. Durch die Innensicht wird dem Rezipienten ein Einblick in den Abwägungsprozess und in die Gemütslage des Herodes gewährt. Auch der weitere Erzählverlauf, durch den Herodes als unmoralischer, wankelmütiger und fremdbestimmter Akteur dargestellt wird, dient offensichtlich der Infragestellung des artikulierten Standpunktes (vgl. 4.2.2c). Die Episode erzählt „auch von der mangelnden religiösen und kulturellen Kompetenz des Herodes Antipas, durch die letztlich auch seine Einschätzung Jesu diskreditiert wird.“653 Ähnlich verhält es sich mit dem Vorschlag, Jesus lasse sich mit Elia gleichsetzen. Gerade weil es bereits zu Beginn des Markusevangeliums zu einer eindeutigen Parallelisierung zwischen Johannes und Elia gekommen ist und der Rezipient in der Figur des Johannes fortan zugleich die Person des Elia erkennt, kann Jesus nicht mit Letzterem identisch sein. Auch in diesem Standpunkt der Bevölkerung artikuliert sich deren Unwissenheit. Offen bleibt demgegenüber, ob Jesus als ein anderer, endzeitlicher Prophet gelten kann.654 Dieser Standpunkt erscheint zu diesem Zeitpunkt der Erzählung immerhin möglich, weil sich mehrere Figurenmerkmale Jesu – insbesondere sein Vorauswissen und seine Sendung – auf eine derartige Vorstellung beziehen lassen. Zudem hatte sich Jesus unmittelbar zuvor (6,4) selber als Prophet bezeichnet; freilich in Aufnahme eines vorliegenden Sprichwortes 655 und mit dem Ziel seine Ablehnung in der eigenen Heimatstadt zu
653
HÜBENTHAL, Markusevangelium, 279. Dass 6,15b lediglich an „einen Profeten, wie es früher schon viele gab“ (GNILKA, Evangelium II/1, 24), erinnert, ist angesichts des Kontextes – insbesondere aufgrund der Nennung des Elia und der damit verbundenen Wiederkunftserwartung – unwahrscheinlich. Bereits Matthäus hat die Formulierung auf eine der endzeitlich erwarteten Prophetengestalt bezogen (Mt 16,14) und der markinischen Vorlage eine eigenständige Konkretion verliehen („Jeremia“). Wenn Markus eine ebensolche Konkretion vermeidet, so scheint dies dadurch motiviert zu sein, dass hier einer Identifikation zwischen Jesus und einem der endzeitlichen Propheten prinzipiell widersprochen werden soll. Jesus ist nicht als Elia, Mose redivivus (vgl. 9,2–7), Jeremia oder irgendein anderer Endzeitprophet anzusehen. 655 So bereits BULTMANN, Geschichte, 30f.; vgl. als Parallele P.Oxy 1,5; EvThom 31. Markus fügt zu diesem Sprichwort lediglich die ablehnende Haltung der Angehörigen hinzu, was der bisherigen Erzähllogik entspricht (vgl. 3,21; 3,31–35). Handelt es sich um die Aufnahme eines bekannten Sprichwortes, so sollte die Tatsache, dass der Prophetentitel in Jesu Mund auftaucht, nicht überstrapaziert werden. Es ist hier eher von einem produktionsästhetischen Fehler auszugehen. Jedenfalls erhält diese Textstelle im Lektüreprozess zu 654
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
rekapitulieren. Letztlich wird der Rezipient jedoch auch gegenüber dieser dritten Identitätszuschreibung misstrauisch bleiben. Es handelt sich um eine Sichtweise, die an die Figurengruppe des Volkes und damit an einen eher unzuverlässigen Perspektiventräger gebunden bleibt. Zugleich dürfte sich die deutliche Disqualifizierung der beiden ersten Standpunkte auf die dritte Zuschreibung auswirken. Mk 8,27–29 lässt als nahezu wörtliche Wiederaufnahme656 von 6,14–16 erneut erkennen, dass Jesus weder als Täufer noch als Elia zu gelten hat und auch als endzeitlicher Prophet nicht hinreichend erfasst wird. Wenn Jesus seine Jünger dezidiert nach den Ansichten im Volk fragt, so impliziert dies nicht, dass er diese Meinungen nicht schon kenne. Vielmehr ist der Dialog von Anfang an so aufgebaut, dass der Standpunkt des Volkes mit der späteren Antwort der Jünger kontrastiert werden kann. 657 Das Bekenntnis des Petrus, das dieser stellvertretend für den gesamten Jüngerkreis ausspricht, gleicht gerade einer Widerlegung der Volksmeinungen.658 Sprachwenig Aufmerksamkeit, als dass sich auf der Grundlage dieser einen Information der Standpunkt des Erzählers rekonstruieren und bestimmen ließe. 656 Im Hinblick auf die Entstehungsgeschichte bleibt hingegen zu diskutieren, ob sich beide Episoden auf eine je eigenständige Tradition zurückführen lassen (so PESCH, Markusevangelium II/2, 31), eine der beiden Textstellen der markinischen Redaktion zuzuschreiben ist oder ob gar beide Aufzählungen auf das Konto des Evangelisten gehen (so LÜHRMANN, Markusevangelium, 145). Auffällig ist v.a. die unterschiedliche Bezeichnung des Johannes (6,14: ÆIwavnnh~ oJ baptivzwn – 8,28: ÆIwavnnhn to;n baptisthvn), wobei die Formulierung in 8,28 vom markinischen Sprachgebrauch abweicht (vgl. 1,4). Dies lässt auf zwei ursprüngliche Traditionen rückschließen, die von Markus je nach Kontext durch Näherbestimmungen ergänzt werden (6,14f.), um wichtige Aspekte des weiteren Handlungsverlaufs einzuleiten (Auferstehung, Wundertaten) oder gerade umgekehrt ausgelassen werden, um eine unnötige Doppelung zu vermeiden und die Erzählung auf die wesentlichen Informationen zu reduzieren (so in 8,27). Die Rezipienten werden diese Feinheiten im Lektüreprozess jedoch kaum bemerkt haben und die Auflistungen als weitgehend kohärent wahrgenommen haben. 657 Die Meinungen im Volk sind hierbei erneut auf Jesu Wundertätigkeit zurückzuführt. Wenn Markus dies nicht erneut thematisiert, so nur deshalb, um eine unnötige Wiederholung zu vermeiden. Dass Jesus aufgrund seiner Wundertaten für Elia, Johannes oder einen Endzeitpropheten gehalten wird, ergibt sich bereits aus der großen Anzahl der zuvor berichteten Wunder und die ambivalenten Reaktionen innerhalb des Volkes. Wird Jesus gemäß frühjüdischer Erwartungshaltung für einen Wundertäter gehalten, so entspricht dies aber gerade nicht dem Standpunkt des Markus. Dieser führt Jesu Vollmacht auf seine Gottessohnschaft und einzigartige Beziehung zum Vater zurück (s.u.). 658 So auch MÜLLER, Wer ist dieser, 87: „[Die Christusbezeichnung] stellt heraus, daß es sich bei Jesus nicht um eine prophetische oder endzeitliche Gestalt handelt, sondern um den messianischen Retter handelt.“ Anders und besonders pointiert MAJOROS-DANOWSKI, Elija, 183: „Es geht dem Verfasser bei den unterschiedlichen Identifizierungen nicht in erster Linie um die jeweilge Berechtigung der einzelnen Aussagen. In allen liegt ein Stück Wahrheit. [...] In diesen unterschiedlichen Identifizierungen spiegeln sich verschiedene Auffassungen davon, wer oder was Jesus bzw. der Messias ist.“ Dies scheint mir jedoch –
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lich ergibt sich dies bereits aus der parallelen Formulierungsweise in 8,27 und 8,29 (V. 27: tivna me levgousin oiJ a[nqrwpoi ei\nai – V. 29: uJmei~ de; tivna me levgete ei\nai) und der damit verbundenen Betonung des Jüngerstandpunktes (uJmei`~ de;). Jesus geht mit keinem Wort auf die wiedergegebenen Ansichten des Volkes ein, sondern fragt unmittelbar nach dem Standpunkt der Jünger. Das angesichts des bisherigen Jüngerunverständnisses überraschend prononcierte Bekenntnis des Petrus erinnert den Rezipienten an den einleitend formulierten Standpunkt des Erzählers (vgl. 1,1) und gewinnt von hieraus seine Gültigkeit. Der Christustitel hatte in der Zwischenzeit keinerlei Erwähnung mehr gefunden, wird den Rezipienten aber gerade als Anfangsstatement noch im Gedächtnis sein (= Primäreffekt). Der mit 1,1 eröffnete Interpretationsspielraum (vgl. 4.2.1) wird hier erzählerisch gefüllt und erhält erstmals eine bekenntnishafte Konkretion; freilich nicht, ohne sofort auf der Grundlage der Leidensthematik problematisiert bzw. weiter vertieft zu werden. Jesu Wunder und seine Verkündigung, dies wird durch 8,27–29 verdeutlicht, lassen sich nicht auf eine endzeitlich-prophetische Identität zurückführen, sondern verweisen auf seine Messianität sowie seine besondere Vollmacht als Menschensohn und damit letztlich auf seine einzigartige Beziehung zu Gott. Im Unterschied zu den Vertretern eine „corrective christology“ erkenne ich bei Markus allerdings keine prinzipielle Ablehnung oder gar Polemik gegenüber Jesu Wundertaten. Nicht die Wunder sollen hinterfragt werden, sondern ein damit möglicherweise verbundenes bzw. an die Person Jesu herangetragenes Prophetenverständnis, das seine wahre Identität zu relativieren droht. Dass eine Klärung der Identitätsfrage gerade in 8,27–29 und damit an einem wichtigen Knotenpunkt der markinischen Erzählung erfolgt, ist alles andere als zufällig. Das frappierende Unverständnis der Jünger (8,14–21) hatte den Rezipienten kurz zuvor angeregt, seinerseits nach Jesu Identität zu fragen. Was hätten die Jünger in den vorherigen Speisungswunder erkennen können? Was haben sie nicht verstanden? Und auch der nachfolgende Bericht von der Heilung eines Blinden in Bethsaida (8,22–26) hatte – auf symbolische Weise – die Thematik des Erkennens und Verstehens aufgegriffen. „[Hier wurde] im Kontrast zur vorausgehenden Klage über die Blindheit der Jünger (8,17– 21) deutlich, dass Jesus als der Sohn Gottes die Macht hat, die Augen zu öffnen. [...] Wie der Blinde vor Bethsaida durch das Wunder der Heilung ganz und gar sehend wird, so können auch die Hörer des Evangeliums durch den Gekreuzigten und Auferstandenen für das Geheimnis der Gottesherrschaft sehend werden.“659
trotz aller positiven Wertschätzung, die Markus damit als Autor zu Teil wird – eine allzu postmoderne Lesart der markinischen Erzählung zu sein. 659 ECKSTEIN, Glaube und Sehen, 99.
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
Wird nun in der kurzen Szene 8,27–29 einer einfachen Identifizierung mit einem der endzeitlichen Propheten widersprochen, so lässt sich dies gleichermaßen rückblickend auf Jesu Wundertaten sowie vorausblickend auf seinen Leidensweg und seine Passion beziehen. Weder lässt sich Jesus hinreichend als prophetischer Wundertäter bestimmen, noch kann sein Leiden und Sterben mit dem Schicksal endzeitlicher Prophetengestalten verglichen und erklärt werden. Jesus „muss“ – durchaus wie Johannes, Elia und andere Gottesgesandte (9,13f.) – das unberechtigte Todesschicksal erleiden, aber er nimmt dieses Leiden nicht als Endzeitprophet auf sich, sondern gerade als Messias und vollmächtiger Menschensohn, der seine Passion in allen Einzelheiten vorauszusagen weiß und selbst initiiert (vgl. 4.3.1g). Eine solche Differenz zwischen den zuvor Gesandten und dem einzigen „Sohn“ spiegelt sich später auch im Gleichnis von 12,1–12 wider, wo der Sohn nicht nur in zeitlicher Hinsicht den anderen Boten nachgeordnet wird, sondern gerade in seiner Funktion als Erbe und legitimer Vertreter hervorsticht. Weil Jesu Worte und Taten von seinen Gegnern und dem Volk nur missverstanden werden können und selbst von seinen Jüngern vor Ostern nicht vollumfänglich begriffen werden, weil sie die Notwendigkeit des Leidens nicht akzeptieren wollen, untersagt Jesus, das Geheimnis seiner Identität vor Kreuz und Auferstehung preiszugeben (8,30; 9,9; vgl. 1,24f.; 3,12; 1,43f.; 5,43; 7,36a; 8,26). Dass sich sein Schweigegebot explizit auf das Messiasbekenntnis des Petrus bezieht, verdeutlicht die prinzipielle Legitimität dieser Identitätszuschreibung und stellt im Umkehrschluss die zuvor zitierten Meinungen abermals in Frage. Da die Verklärungsszene (9,2–7) und der anschließend berichtete Abstieg vom Berg (9,8–13) bereits weiter oben ausführlich analysiert wurden (vgl. 4.2.2a) und dabei der Kontrast zwischen Jesus und den beiden Propheten Elia und Mose herausgearbeitet wurde, möchte ich an dieser Stelle die Ergebnisse der Analyse lediglich aufgreifen und in den bisher skizzierten Handlungsverlauf einfügen. Wurde bereits durch das parallele Auftreten von Jesus und Johannes in Mk 1 sowie die implizite Identifikation zwischen dem Täufer und Elia offensichtlich, dass weder Jesus und der Täufer noch Jesus und Elia miteinander zu identifizieren sind, so wird Letzteres durch die Erscheinung des Elia auf dem Berg nochmals auf eindrückliche Weise bestätigt. „Die Erscheinung Elias klärt [...] schlagartig: Jesus ist auf keinen Fall der wiedergekommene Elia bzw. Elia ist nicht in der Gestalt Jesu wieder erschienen.“660
660
DU TOIT, Der abwesende Herr, 356f. Nicht nachvollziehbar ist für mich, warum du Toit angesichts dieses eindeutigen Votums dann jedoch schlussfolgern kann, dass Jesus als Prophet den anderen beiden Propheten vorgeordnet würde (vgl. DU TOIT, Der abwesende Herr, 357). Dies erscheint angesichts von 8,27–29 und der dort implizit vorgetragenen Kritik an einer Prophetenvorstellung unwahrscheinlich.
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
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Das Erscheinen des Elia leitet sich dabei ganz aus der oben angesprochenen Wiederkunftshoffnung ab, worauf insbesondere die semantische Parallele zu Mal 3,23 hindeutet (vgl. LXX Mal 3,23: ajpokaqistavnei). 661 Warum ein solches Erscheinen nach der Hinrichtung des Täufers möglich ist, wird von Markus nicht weiter reflektiert. Man wird dieses Erscheinen jedenfalls nicht mit einer indirekten Auferstehungsankündigung zu verwechseln haben. Hiergegen spricht auch das gemeinsame Auftreten von Elia und Mose. Der Evangelist ist primär an der Überlegenheit Jesu gegenüber beiden Prophetengestalten interessiert, die sich in der subtilen Kontrastierung (Verwandlung, Äußeres, Zelt), der exklusiven Zusage Gottes (V. 7) und dem alleinigen Zurückbleiben Jesu (V. 8) zeigt. Eine ähnliche Überlegenheit gegenüber Mose und Elia ergab sich bereits aus dem vorherigen Erzählverlauf. So hatte Jesus bereits in 7,1–15 eine Autorität beansprucht, die nicht nur über der Autorität der Pharisäer und ihrer väterlichen Satzungen stehe, sondern auch über der des Mose und der Heiligen Schriften (vgl. 4.2.2). Wenn die Erzählung vom Abstieg (9,8–13) wieder ganz auf die Figur des Elia fokussiert, so geschieht dies mit der Absicht, dessen Vorläuferfunktion nochmals zu betonen und Jesu bevorstehendes Leidensschicksal zugleich als schriftgemäß zu erweisen (9,13). Während Elia in der Gestalt des Täufers erschienen ist und dessen Schicksal erlitten hat, geht Jesus seinem eigenen Schicksal erst noch entgegen. Seinem Leidensschicksal lässt sich aufgrund der Auferstehungshoffnung zugleich ein tieferer heilsgeschichtlicher Sinn zuschreiben. Mit Ostern soll die Gottessohnschaft Jesu offenbar werden und von Jesu Jüngern öffentlich verkündigt werden. Dem Schicksal des JohannesElia kommt demgegenüber eine ausschließliche Verweisfunktion zu. Aus seinem Schicksal könnten die Jünger auf Jesu Identität rückschließen. Vorerst gebietet Jesus seinen Jüngern aber, die miterlebte Audition geheimzuhalten. Hiermit bejaht er zugleich das für ihn bestimmte Schicksal und wirkt an diesem aktiv mit. Bleibt die wahre Erkenntnis Christi an seine Auferstehung und damit das Osterereignis gebunden, so lässt sich auch das in 15,34–36 zur Sprache gebrachte Unverständnis der Kreuzigungszeugen begreifen. „Einige der Dabeistehenden“ (V. 35: tine~ tw`n paresthkovtwn), die nicht näher charakterisiert werden, missverstehen Jesu Ruf nach Gott. Wenn die Zeugen hierbei unterstellen, Jesus habe nach Elia gerufen und sei von dessen Hilfe abhängig, so geben sie sich eindeutig als Juden zu erkennen. Solche Elia-Erwartungen lassen sich auf den jüdischen Kulturraum eingrenzen. Zugleich lässt die griechische Übersetzung der aramäischen Kreuzesworte erkennen, dass es sich bei dieser Wahrnehmung der Menschen um einen Trugschluss handelt. Wie 661
Ob zugleich eine Anspielung auf Sir 48,10 und die dort verbriefte Restitutionshoffnung vorliegt, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, erscheint aber aufgrund fehlender intertextueller Bezüge eher unwahrscheinlich.
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
6,14–16 ist auch die kurze Szene 15,34–36 keineswegs frei von Ironie. Die jüdischen Spötter verstehen ihre eigen Gebetssprache nicht. 662 Wenn Jesu Worte auf aramäisch zitiert werden (elwi elwi lema sabacqani), so soll dies das Unverständnis der Menge keineswegs entschuldigen, sondern gerade als paradox erweisen. „Eine Verwechslung von Eloi und Elija ist akustisch und philologisch kaum möglich.“663 Dass Markus im Anschluss vom zynischen Verhalten eines Einzelnen berichtet, der Jesu Todesleiden durch das Darreichen von Essigwasser verlängern will und so sehen möchte, ob Elia tatsächlich kommt (V. 36), unterstreicht die erzählerische Intention einer durch und durch negativen Charakterisierung der Kreuzigungszeugen.664 Fragen wir nach der textexternen Vorstellung, die hinter dem Missverständnis der jüdischen Zeugen stehen könnte, so ließe sich zunächst – mit der großen Mehrheit665 der Exegeten – auf eine im rabbinischen Schrifttum und Talmud bezeugte Funktion des Elia als Nothelfer verweisen. Die engste Parallele würde in diesem Fall bNed 50a darstellen, wo Elia den Lehrer Eleazar ben Perata im Zuge seiner Hinrichtung durch die Römer 400 Meilen versetzt. Das in 15,34–36 Erzählte scheint sich mit dieser Vorstellung eines Nothelfers zunächst sehr gut in Einklang bringen zu lassen. Auch wenn in V. 35 nicht explizit gesagt wird, dass Jesus den Elia „um Hilfe“ ruft, scheint spätestens die Aussage des Herbeilaufenden ein solch helfendes Eingreifen zu implizieren: „Lasst uns sehen, ob Elia [tatsächlich] kommt, um ihn [vom Kreuz] herabzuholen.“ Allerdings darf nicht übersehen werden, dass 15,34–36 in diesem Fall der früheste Beleg für eine solche Vorstellung wäre. Die rabbinische Belege sind viel zu spät, um eine literarische Abhängigkeit plausibel machen zu können. Außerdem ist die Parallelität zwischen dem markinischen Bericht und den späteren Quellen vergleichsweise gering. Zumeist tritt Elia als Helfer bei Krankheiten auf, so dass man hier wohl am ehesten von einer wirkungsgeschichtlichen Weiterentwicklung der Wundermotivik sprechen kann. Dass Elia zur Rettung im Gebet angerufen wird, ist außerhalb des Markusevangeli662 So bereits SCHENKE, Literarische Eigenart, 345 und MORRIS, Elijah, 124 [„Markan irony“]. 663 GNILKA, Evangelium II/2, 322. 664 Ob der Herbeilaufende – wie von Lukas (Lk 23,36) – als Soldat interpretiert werden kann, ist nicht sicher. Dass er ebenfalls mit einem Eingreifen durch Elia rechnet, lässt ihn eher als Juden erscheinen. Andererseits ist schwer vorstellbar, dass ein jüdischer Zeuge dem Gekreuzigten einen Schwamm mit Essig reichen durfte. Gerade sein energisches Einschreiten und seine Wortwahl lassen ihn eher als Autoritätsperson erscheinen. Man wird deshalb am ehesten an einen römischen Soldaten zu denken haben, der sich die jüdische Erwartung zu eigen macht bzw. an deren Falsifizierung und der Leidensverlängerung seine Freude findet. 665 So GUNDRY, Mark, 967; JEREMIAS, Art. jHl(e)iva~, 932; LAMBRECHT, Art. jHliva~, 286; PESCH, Markusevangelium II/2, 496; SCHENKE, Literarische Eigenart, 345; SCHWEIZER, Evangelium, 195; kritisch: BURCHARD, Markus, 9; ÖHLER, Elia, 139–141; WYPADLO, Verklärung, 190.
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
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ums ebenfalls nicht bezeugt.666 Er erscheint stets von alleine. Letztlich überrascht es, dass Markus zum Ende seiner Erzählung eine gänzliche neue Vorstellung von Elia einführen sollte. Demgegenüber erscheint es wesentlich plausibler und wahrscheinlicher, die Kreuzigungsszene unmittelbar auf 9,11– 13 667 und damit auf die Rolle des Elia als Vorläufer Jesu zu beziehen. Während der Rezipient seit der Verklärung bzw. dem Abstieg vom Berg weiß, dass Elia in der Gestalt des Johannes da war und hingerichtet wurde, warten die jüdischen Zeitgenossen noch fälschlicherweise auf dessen eschatologische Wiederkunft. Gerade deshalb verkennen sie aber, wer dort vor ihren Augen am Kreuz hängt. „Die Szene offenbart [...] die Verbindung Jesu mit seinem Vater und stellt gleichzeitig klar: Jesus ist nicht Elija.“668 Die Dabeistehenden sehen hingegen mit sehenden Augen und erkennen trotzdem nicht. Gerade deshalb erweisen sich die Beistehenden als Außenstehende (vgl. 4,11f.). Erst mit der Auferstehung, so der Ausblick am Ende des Markusevangeliums, werden die Jünger Jesu wahre Identität – vermittels des Glaubens, den Gott in ihnen wirkt – erkennen und verkündigen. Während die Menge Jesus vorerst nur mit Spott und Ablehnung zu begegnen vermag, lässt der unerwartet frühzeitige Tod bereits Gottes heilvolles Eingreifen erkennen. Indem Jesus auf wundersame Weise laut ausschreit und sogleich stirbt, wird dem Spott und der beabsichtigten Verlängerung des Todesschicksals ein vorzeitiges Ende – durch Gott – gesetzt. Jesu Schrei nach Gottes Beistand hat indirekt seine Erhörung gefunden und diese Erhörung wird mit der Auferstehung auf eindrückliche Weise bestätigt. Überblicken wir abschließend noch einmal die markinische Figurenkonzeption des Elia, so lässt sich trotz der unvermittelten Wiederkehr des bereits hingerichteten Johannes-Elia (9,2–7) eine weitgehende Kohärenz erkennen. Diese besteht darin, dass Johannes-Elia durchgängig als Vorläufer Jesu in Erscheinung tritt. Bereits mit dem zum Dialog abgewandelten Schriftzitat in 1,2 wird an dieses Merkmal, das sich aufgrund von Mal 3,23 und Sir 48,10 als Hauptmerkmal des Elia redivivus bezeichnen lässt, erinnert. Als ebensolcher Vorläufer kündigt Elia in der Gestalt des Täufers den „Stärkeren“ (Mk 1,7) an, was gleichbedeutend damit ist, dass Gott als Kyrios in Jesus kommt und sein Reich hier und jetzt im Wirken Jesu aufrichtet. Im weiteren Erzählverlauf wird auf der Grundlage textexterner Vorstellungen an die Wundertätigkeit des Elia erinnert und diese Fähigkeit – ohne erzählerische Entfaltung – auf den Täufer übertragen (6,14). Der im Volk vorherrschenden Überzeugung, Jesu lasse sich als Elia, auferstandener Täufer oder einer der Endzeitpropheten verstehen (6,14–16; 8,27f.), wird widersprochen. Dies geschieht u.a. dadurch, dass dieser Standpunkt mit Herodes und dem Volk an fragwür666 667 668
So bereits der Einwand von SELLIN, Züge, 85f.; ÖHLER, Elia, 147f. So bereits BURCHARD, Markus, 9. WYPADLO, Verklärung, 191.
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dige Perspektiventräger gebunden wird, dem Rezipienten mit dem Christusbekenntnis eine zuverlässige Alternative angeboten wird (8,29) und sich Jesu vollmächtiges Wirken zugleich auf seine Sohnschaft und damit seine einzigartige Beziehung zu Gott zurückführen lässt (vgl. dazu weiter 4.3.2b). Mit 1,14 und der kompletiven Analepse in 6,14–29 wird der Fokus von Markus auf die Leidensthematik gelenkt und so veranschaulicht, dass Johannes-Elia auch in dieser Hinsicht Jesu vorangehen muss und letztlich dessen Leidensweg bereitet. Während Johannes-Elia im Sinne eines endzeitlichen Propheten bzw. Gesandten Gottes (vgl. 12,1–12) ein ungerechtfertigtes Todesschicksal erleidet, das für sich genommen sinnlos bliebe, weiß Jesus längst um seine eigene Passion, aber auch um seine Auferstehung und die nachösterliche Erkenntnis seiner Person. Er willigt mit seinem Verhalten in Gottes Heilsplan und ewigen Ratschluss ein, nicht zuletzt indem er sein Personengeheimnis wahrt und seine Jüngern beim Abstieg vom Berg der Verklärung zu schweigen gebietet. Der engere Jüngerkreis hätte aufgrund von Jesu Aufeinandertreffen mit Elia und Mose und aufgrund der gehörten Audition bereits zu Lebzeiten Jesu erkennen können, ja erkennen müssen, wer Jesus wahrhaftig ist. Aber nicht einmal Jesu Auslegung der Schrift und der Rückbezug auf die Hinrichtung des Täufers (9,11–13), die deutlich erkennen lassen, dass der Vorläufer Gottes bereits gekommen und gestorben ist, lassen sie die richtige Schlussfolgerung ziehen.669 Petrus und dem gesamten Zwölferkreis bleibt auch verschlossen, dass Jesus als Messias – entgegen des jüdischen Erwartungshorizonts – leiden muss (8,30f.; 9,8–10) und durch seine Auferstehung zugleich als einzigartiger Sohn und Kyrios eingesetzt wird. Der Kreuzigungsbericht stellt eine logische Fortsetzung des vorherigen Eliaporträts und insbesondere von 9,11–13 dar. Die jüdischen Zeugen erwarten – gemäß Mal 3,1.23 – das Kommen des Elia in der Endzeit. An die Funktion des Nothelfers kann hier noch nicht gedacht sein. Statt um die tatsächliche Wiederkunft des Elia zu wissen, die sich mit dem Auftreten des Täufers längst ereignet hat, dient den Dabeistehenden diese Vorstellung allerdings nur zum Spott. Der Soldat unterm Kreuz bemächtigt sich ebenfalls dieser jüdischen Erwartung. Seinem zynischen Verhalten wird jedoch durch Gottes Eingreifen ein vorzeitiges Ende gesetzt. Gott bekennt sich bereits im Tod und sodann in der Auferstehung zu seinem Sohn und damit rückblickend zu jenem „Du“, das er bereits vor der erzählten Zeit angesprochen und dem er die Sendung eines Vorläufers verheißen hatte. Letztlich ist es Gott selber, der Jesus den Weg bereitet und sämtliche Geschicke in seiner Hand behält. 669
Dabei ist unklar, ob die Hinrichtung des Täufers überhaupt der „knowledge world“ der Jünger entspricht. Durch die erzählerische Technik des embedding (vgl. 2.4.2) könnte in Kap. 6 angedeutet werden, dass die Jünger aufgrund ihrer vorherigen Aussendung (6,7– 13) und ihrer zwischenzeitlichen Erlebnisse, die sie ihrem Herrn berichten (6,39), gar keine Kenntnis von der Hinrichtung genommen haben.
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
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Grund genug, im folgenden Analyseabschnitt das Verhältnis und die Figurenparallelen zwischen dem alttestamentlichen Kyrios und dem markinischen Jesus näher zu beschreiben. b. Der markinische Jesus als Kyrios: Fragt man nach der Relevanz, die sich dem Kyrios-Titel innerhalb der markinischen Christologie zuschreiben lässt, so fällt zunächst die sehr geringe Anzahl an ausführlichen Studien auf.670 Und die vereinzelten Bemerkungen und Ausführungen, auf die man in der Kommentar- oder Einleitungsliteratur stößt, weisen v.a. auf den uneinheitlichen Sprachgebrauch und die geringe Explizität der einzelnen Aussagen hin. Insgesamt sei das entsprechende Reflexionsniveau bei Markus eher gering. Gleichzeitig ist zu beobachten, dass sich auch in der Markusforschung die Position Martin Hengels671 – nach der sich der Kyrios-Titel aus der Septuaginta ableiten lasse und seinen Ursprung nicht primär in den hellenistischen Mysterienreligionen habe,672 wie es v.a. der Ansicht der Religionsgeschichtlichen Schule entsprach – durchgesetzt hat. Auch Markus wird mittlerweile zugesprochen, dass er den Kyrios-Titel als Gottesbezeichnung der Septuaginta kannte und verwendete. Dies spiegelt sich v.a. in der wörtlichen Aufnahme des Schema Jisrael (12,29f.32),673 aber auch durch die Verwendung des Kyrios-Titels in 5,19 und 13,20 wider.
670
Vgl. BROADHEAD, Titular Christology, 135–144 [„Lord“]; JOHANSSON, Kyrios, sowie die exkursartigen Ausführungen bei TAYLOR, Gospel, 153f. 671 Vgl. HENGEL, Sohn Gottes, 120–130. 672 Zu dieser klassischen These der Religionsgeschichtlichen Schule vgl. BOUSSET, Kyrios Christos, 75–105. Hengels Einwände gegen diese These beziehen sich im Wesentlichen darauf, dass (1) der Kyrios-Titel keineswegs die beherrschende Bezeichnung für Mysteriengottheiten war (das entspricht dem in dieser Arbeit verwendeten „Kriterium der Parallelität“); (2) der Kyrios-Titel eine Nähe zum „Baals“-Titel besitze und somit eine gedankliche Nähe zum Religionsraum Syriens und Mesopotamiens aufweise (das entspricht dem hier verwendeten „Kriterium der Erinnerungsnähe“). Umgekehrt mussten selbst Anhänger von Boussets These einräumen, dass der Kyrios-Titel in den griechischsprachigen Gemeinden des Judentums verwendet wurde, um das laut gelesene Qere für JHWH zu ersetzen und dass sich dieser Sprachgebrauch auch bei Josephus und Philo widerspiegele (so SCHULZ, Kyrios Jesus, 131–133). Man wird diese Verwendung des Kyrios-Titels aber kaum auf die Diaspora beschränken können, weil damit der hellenistische Einfluss auf Palästina unterschätzt würde. Außerdem konnte schon im vorchristlichen Judentum mara im Sinne von „der Herr“ und damit als göttlicher Titel verwendet werden (vgl. FITZMYER, Der semitische Hintergrund, 291–296). 673 Geradezu überschwänglich stimmt der Schriftgelehrte Jesus zu, indem er Jesu Antwort nochmals wiederholt, sie als wahr anerkennt (ejpÆ ajlhqeiva~) und ihn ausdrücklich als guten Lehrer anerkennt. Es gilt an dieser Stelle aber die Differenzen im Blick zu behalten. Der Schriftgelehrte fügt seinerseits ein bestärkendes Zitat aus Jes 45,21 bzw. Dtn 4,35 hinzu (kai; oujk e[stin a[llo~ plh;n aujtou`) und vermeidet seinerseits den Kyrios-Titel (ei|~ ejstin kai; oujk e[stin a[llo~ plh;n aujtou` kai; to; ajgapa`n).
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
Weithin umstritten ist innerhalb der Markusforschung hingegen, ob und wie diese Kyrios-Titulatur auf die Person Jesu zu beziehen ist. Immer wieder wird herausgestellt, dass einzelne Textstellen (v.a. 1,2f.; 1,7; 12,36f.) eine hoheitschristologische Konnotation besitzen. Zudem wird diskutiert, ob die nachösterliche Gemeinde auch dort eine Anspielung auf die Gottesprädikation vernehmen konnte, wo der Kyrios-Begriff vordergründig einem profanen Sprachgebrauch folgt (v.a. 7,28; 11,3).674 Zugleich wird häufig und mit erstaunlicher Vehemenz betont,675 dass durch Szenen wie 10,17f. oder 12,28– 34 an der Alleinverehrung Gottes festgehalten werde und sich damit eine deutliche Spannung innerhalb der markinischen Gesamtkonzeption erkennen lasse. Gerade deshalb wird dann zurückhaltend von einer „sporadischen Kyrios-Christologie“ 676 oder nahezu polemisch von einem „primitive understanding of the lordship of Jesus“677 gesprochen. Diese weit verbreitete Einschätzung überrascht. Die neutestamentlich gut bezeugte Adaption und Relecture des alttestamentlichen Kyrios-Titels und damit der alttestamentlichen Gottesprädikation stellt nämlich durchaus eine hinreichende textexterne Basis für die Entwicklung einer reflektierten KyriosChristologie dar. Bereits vorpaulinisch wurde der Kyrios-Titel christologisch gefüllt verstanden und auf Jesus Christus, den auferstandenen und wiederkommenden Herrn bezogen. Ob durch den Maranatha-Ruf (1Kor 16,22; Did 10,6; Offb 22,20), die Kyrios-Akklamation in Röm 10,9.13 (vgl. Joel 3,5), 1Kor 12,3 und Phil 2,11 oder die binitarische Entfaltung der alttestamentlichen ei|~-Akklamation (1Kor 8,6), überall stoßen wir bereits in einer ausgesprochen frühen Phase der urchristlichen Bekenntnisbildung auf den Gedanken, dass mit dem einen Gott Israels zugleich der eine Herr Jesus Christus zu bekennen und zu verehren sei.678 Dass sich schon Paulus auf vorgegebene Traditionen und Bekenntnisse stützen konnte, verrät, dass diese in den Ge674
Vgl. BROADHEAD, Titular Christology, 142 [7,28 „a foreshadow“]; Vgl. etwa die Aussage von Raymond Brown zu 10,17f.: „This text strongly distinguishes between Jesus and God, and that a description which Jesus rejects is applicable to God. From this text one would never suspect that the evangelist thought of Jesus as God“ (BROWN, God and Man, 7). Diese Aussage übergeht freilich nicht nur den unmittelbaren Kontext (v.a. 10,21), sondern übersieht zugleich den Tatbestand, dass sich die Christologie eines Evangeliums nie aus einer Einzelaussage oder Perikope ableiten lässt, sondern immer erst aus der Synthese christologischer Einzelgehalte und damit aus der Lektüre des Gesamtevangeliums. 676 So STRECKER, Theologie, 374: „Von besonderer Bedeutung ist die Frage, ob Markus den Titel als Gottesbezeichnung der Septuaginta kannte. Es ergibt sich: Markus setzt, wenn auch nur sporadisch, die Kyrios-Christologie voraus.“ 677 BROADHEAD, Titular Christology, 143. 678 Tatsächlich markieren die Verehrung und das Bekenntnis zu Jesus als dem Kyrios den eigentlichen Unterschied zur frühjüdischen Umwelt. Theoretische Spekulationen über einen „zweiten Gott“, wie Philo den Logos bezeichnen kann (Phil. QG 2,62), sind hingegen auch hier denkbar. 675
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meinden hinlänglich und zugleich überregional bekannt waren. Begreift man das Markusevangelium, wie einleitend geschildert, als Teil dieses frühchristlichen Bekenntnisprozesses und keineswegs als ein Textzeugnis, das in einem gänzlich isolierten Gemeindemilieu entstanden ist, so ist es nur ein kleiner Schritt, das vorgegebene Kyrios-Bekenntnis mit den episodischen Erzählungen aus dem Leben Jesu ins Gespräch zu bringen und zu vermitteln.679 Die literarische und theologische Motivation des Markus lässt sich vor diesem Hintergrund durchaus nachvollziehen: Das frühchristliche Bekenntnis zum Kyrios Jesus, das offensichtlich im Auferstehungsglauben wurzelte (vgl. 1Kor 15), sollte mit jenen Inhalten verknüpft werden, die durch die episodenhaften Erzählungen in den urchristlichen Gemeinden bereits überliefert wurden. Markus erkennt dabei eine Diskontinuität zwischen der vorösterlichen und nachösterlichen Zeit, die nicht primär im Wesen Jesu begründet liegt, sondern im Erkenntnisvermögen seiner Nachfolger und dem nachösterlichen Offenbarungsgeschehen. Diese Diskontinuität inszeniert er, indem er einerseits erzählerische Parallelen zwischen der Figur Jesu und der Figur Gottes schafft (= Parallelfiguren) und damit betont, dass bereits die Zeitzeugen Jesus als Kyrios hätten erkennen können. Andererseits stellt er auf drastische und zugespitzte Weise die eingeschränkte Wahrnehmungsfähigkeit und den unzureichenden Wissensstand der menschlichen Perspektiventräger, insbesondere der religiösen Autoritäten und der Jünger, heraus. Markus betont somit eine Identität zwischen dem irdischen und auferstandenen Jesus, ohne den nachösterlichen Erkenntnis- bzw. Offenbarungsfortschritt zu nivellieren. Zugleich achtet er darauf, das seine intendierten Rezipienten die Äußerungen der einzelnen Figuren vor dem Hintergrund ihrer eigenen Christuserkenntnis verstehen und d.h. im Sinne eines hoheitschristologischen Bekenntnisses füllen können. Dazu greift der erste Evangelist – in Analogie zu Paulus – auf allgemein anerkanntes Bekenntnisgut zurück, entfaltet dieses aber auf originäre Weise, indem er einen erzählerischen Brückenschlag zwischen der nachösterlichen Gemeindesituation und der Lebensgeschichte Jesu, der ajrch; tou` eujaggelivou ÆIhsou` Cristou` schafft.
679
Dies gilt umso mehr, als bereits bei Paulus der Kyrios-Titel auf den irdischen Jesus bezogen werden konnte und dies sogar ausgesprochen früh (vgl. 1Thess 2,19; 3,13; 1Kor 1,7f.; 5,5; Phil 3,20; 4,5). Weitgehend unstrittig ist sodann, dass in der Apostelgeschichte der Kyrios-Titel auf Jesus übertragen wird (vgl. Apg 1,21; 2,20f.25.34.36(!).47; 4,33 u.ö.). Ich sehe keinen Grund, warum ausgerechnet das Markusevangelium eine Ausnahme innerhalb dieses frühchristlichen Bekenntnisprozesses darstellen sollte. Es hat jedoch den Anschein, dass mit dem wissenschaftlich anerkannten Sprachvermögen eines neutestamentlichen Autors zugleich die Wahrscheinlichkeit steigt, dass diesem eine reflektierte Christologie zugesprochen wird. Die Einfachheit der Sprache ist aber weder mit der literarischen Qualität eines Werkes gleichzusetzen noch mit dem theologischen bzw. christologischen Reflektionsvermögen.
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
Lässt sich mit dem frühchristlichen Kyrios-Bekenntnis ein textextern gegebenes und nach den Kriterien der Erinnerungsnähe, Bezeugungsbreite und Parallelität gut belegtes Gedankengebäude benennen, an das die Erzählung des Markusevangeliums anknüpfen konnte und lässt sich darüber hinaus eine ausreichende Motivation hinter der Niederschrift des Markusevangeliums rekonstruieren, die darin besteht, nachösterliches Bekenntnis und vorösterliche Erzähltraditionen miteinander zu verknüpfen, so bleibt trotzdem die Aufgabe bestehen, anhand textinterner Kriterien eine erzählerische Parallelisierung zwischen Jesus und dem alttestamentlichen Kyrios nachzuweisen. Wie im vorherigen Analyseabschnitt lassen sich für eine bewusste Parallelisierung gleich mehrere Indizien benennen, die sodann in der nachfolgenden Analyse aufgegriffen und expliziert werden können: i) Primäreffekt: Gerade zu Beginn des Markusevangeliums werden die Rezipienten durch die Prophetenzitate in 1,2f. und deren sprachliche Abwandlung680 (V. 2: sou statt mou; V. 3: aujto`u statt tou` qeou hJmw`n) sowie die Ankündigung eines Stärkeren in 1,7f. dafür sensibilisiert, dass sich das Kommen des Kyrios in der Person Jesu ereignet. Indem Johannes-Elia den Weg Jesu bereitet, bereitet er zugleich dem Kyrios und damit Gott den Weg. Wenngleich diese Lesart, die im vorherigen Abschnitt begründet wurde (vgl. 4.2.2a), keineswegs als communis opinio bezeichnet werden kann, so findet sie – jenseits aller sprachlichen und theologischen Differenzierungsbemühungen681 – durchaus eine breitere Zustimmung. Erscheint Jesus aber in Kap. 1 des Markusevangeliums als Kyrios, so hat dies weitreichende und keineswegs zu übergehende Konsequenzen für die weitere Lektüre.682 Kognitionswissenschaftlich betrachtet ist es gerade der Ersteindruck einer Figur, der den weiteren Wahrnehmungsprozess steuert und nachhaltig beeinflusst (= Primäreffekt). Im Sinne eines Kategorisierungseffekts wird der Rezipient über den weiteren Erzählverlauf automatisch versuchen, alle nachträglichen Figureninformationen in ebendieses anfänglich gebotene Figurenschema zu integrieren. Er ist hierbei auch für jene Textinformationen sensibel, die lediglich implizit vermittelt werden. Erst wenn der Rezipient auf deutliche Inkohärenzen oder Widersprüche stößt, wird er den anfänglichen Eindruck bzw. das anfängliche Figurenschema hinterfragen, erweitern oder notfalls korrigieren und aufgeben. Es lässt sich jedoch nicht erkennen, dass der anfänglichen Identifizie680
So auch GUTTENBERGER, Gottesvorstellung, 66; PESCH, Markusevangelium II/1, 77. Diskutiert wird zumeist nicht die Parallelisierung an sich, sondern lediglich die Frage, wie sich das Verhältnis zwischen Jesus und Gott damit theologisch sachgemäß beschreiben lässt. Hierbei kann wahlweise von einer Repräsentanz Gottes (so z.B. GUTTENBERGER, Gottesvorstellung, 66) oder einer „Art Spiel mit den terminologischen Ebenen“ (ROSE, Theologie, 117f., hier 118) gesprochen werden. Durch Letzteres wird jedoch eine eindeutige Interpretation vermieden und auf den impliziten Leser verlagert. 682 Ähnlich bereits ROSE, Theologie, 118 und SANKEY, Promise, 6. 681
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rung zwischen Jesus und dem Kyrios auf eine derart eindeutige Weise widersprochen würde. Nicht einmal im Hinblick auf 10,17 oder 12,28–34 lässt sich von einem derartigen Entkategorisierungsprozess sprechen (s.u.). Für die frühchristliche Gemeinde standen das Bekenntnis zu Jesus und seine Verehrung als Kyrios gerade nicht im Widerspruch zur Alleinverehrung Gottes. Denn ihrem eigenen Selbstverständnis nach bekannte sich die urchristliche Gemeinde gerade in der Verehrung des Vaters und des Sohnes zu dem einen und einzigen Herrn und zwar in Abgrenzung zu den anderen Herren der Welt und Gottheiten (vgl. 1Kor 8,5f.). ii) Handlungsrelevanz: Die Einheit zwischen Jesus und Gott, die in der Anwendung des Kyrios-Titels besonders prägnant zum Ausdruck kommt, wird bereits sehr früh durch den Blasphemievorwurf der Autoritäten aufgegriffen (2,7) und begründet ihrerseits den weiteren Konfliktverlauf sowie den Mordplan der Autoritäten (3,6). Hieran lässt sich erkennen, dass die Identifizierung zwischen Jesus und Gott auf entscheidende Weise den markinischen Handlungsverlauf prägt. Nicht nur in den weiteren Auseinandersetzungen mit den Autoritäten bleibt Jesu göttliche Vollmacht und Autorität das eigentliche Konfliktthema, sondern auch bei seiner Verurteilung vor dem Hohen Rat spielt der Blasphemievorwurf die entscheidende Rolle (14,64). Umgekehrt gleicht Jesu Auferstehung einer Rehabilitation, wobei das heilvolle Eingreifen Gottes durch eine vielfältige Motivik besonders hervorgehoben wird (vgl. 4.2.2a). Der anfänglich propagierte Anspruch, der sich in Jesu autoritativer Lehre und seinem Wunderwirken, aber auch in seiner barmherzigen Hinwendung zu den Verlorenen (6,34) widerspiegelt, findet in Gottes abschließendem Handeln eine Bestätigung. iii) Häufigkeit: Betrachtet man zunächst nur jene expliziten Kyrios-Belege, die sich mittelbar oder unmittelbar auf die Person Jesu beziehen lassen, so ist zugegebenermaßen von einer vergleichsweise geringen Anzahl an Belegen zu sprechen.683 Zu diskutieren wäre in diesem Fall neben 1,2f. allein das Menschensohnwort in 2,28, die Parallelisierung in 5,20 (nach 5,19), die Anrede der Syrophönizierin (7,28) 684 sowie Jesu implizite und explizite Selbstcharakterisierung in 11,3685 und 12,36f. Über diese expliziten KyriosBelege hinaus muss eine narratologische Analyse aber die Relevanz jener Episoden und Szenen hervorheben, die auf erzählerische Weise – und das heißt über bestimmbare und nachvollziehbare Figurenmerkmale – einen 683 Dass die Häufigkeit, in der ein christologischer Titel im Markusevangelium verwendet wird, nicht automatisch Auskunft über die Bedeutung dieses Titels geben kann, zeigt sich ebenso am Sohn-Gottes-Titel. 684 Mit PESCH, Markusevangelium II/1, 389; POKORNÝ, Puppy, 331f. 685 Mit CULLMANN, Christologie, 209; GUTTENBERGER, Gottesvorstellung, 65. Anders z.B. DSCHULNIGG, Markusevangelium, 295, der hier eine Anspielung auf das „Königsrecht der Requisition“ erkennt.
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
Bezug zum alttestamentlichen Kyrios herstellen. 686 Berücksichtigt man diesen Sachverhalt, so erfährt die anfängliche Identifizierung zwischen Jesus und dem verheißenen Kyrios eine ausgesprochen häufige Thematisierung. Die nachfolgende Analyse wird verdeutlichen, dass überall dort, wo der Protagonist in seiner Vollmacht als Herr über die Dämonen und Naturgewalten (1,21–27; 3,22–30; 4,35–41; 5,1–20; 6,45–52; 7,24–30; 9,14–29), als Herr über den Mangel (6,34–44; 8,1–9) oder als Herr über Krankheit und Tod (1,29–31; 1,40–45; 3,1–6; 5,21–43; 7,31–37; 8,22–26; 10,46–52) erscheint, eine starke Abhängigkeit zu alttestamentlichen Kyrios-Vorstellungen besteht. Dann ist jedoch nicht nur von einer besonders häufigen Anspielung zu sprechen, sondern geradezu davon, dass der markinische Jesus über einen Großteil der markinischen Erzählung hinweg als Kyrios charakterisiert wird. iv) Rätselspannung: Erscheint Jesus aufgrund einzelner Figurenmerkmale und insbesondere aufgrund der Art und Weise seines vollmächtigen und übernatürlichen Auftretens als Kyrios, so ist auch die Explizität der gebotenen Figurenparallelen als vergleichsweise gering einzuschätzen. Tatsächlich wird nirgendwo im Markusevangelium – durch den Erzähler oder eine andere Figur – explizit ausgesagt, dass Jesus als oJ kuvrio~ oder oJ qeov~ zu bezeichnen sei (vgl. Joh 20,28; Apg 28,31) oder der Kyrios in der Person Jesu repräsentiert werde.687 Markus überlässt diese Schlussfolgerung seinem Rezipienten, lenkt aber zugleich dessen Aufmerksamkeit auf die vorhandenen Kyrios-Parallelen. Es lässt sich im Hinblick auf das Markusevangelium von einer bewussten Rätselspannung sprechen. Insbesondere die wiederholt gestellte Frage der Zeitzeugen nach Jesu Identität und ihr Erstaunen sowie das Unverständnis der Jünger regen den Rezipienten immer wieder dazu an, die Parallelen zum alttestamentlichen Kyrios zu reflektieren. Wie lässt sich die Frage der Jünger in 4,41 beantworten? Was hätten die Zwölf im Zuge der beiden Speisungswunder erkennen müssen? Was verbirgt sich hinter der Beobachtung der Menschen, dass Jesus den Dämonen gebietet und diese ihm unmittelbar gehorchen (1,27)? Auch die Disqualifizierung einzelner Figurenstandpunkte, die durch direkte Erzählerkommentare (6,52), durch Informationsverdoppelung (8,17) oder eine morali686 Es ist ein offensichtlicher Mangel bisheriger Studien, dass diese erzählerisch inszenierten Figurenparallelen zu wenig oder gar nicht beachtet werden. Dies gilt etwa für Edwin K. Broadhead, der sich ganz auf die expliziten Kyrios-Belege konzentriert und abschließend nichtsdestotrotz konstatiert: „the unique understanding of Jesus’ lordship articulated in the Gospel of Mark is a narrative construction“ (BROADHEAD, Titular Christology, 135–144, hier 144). 687 Vgl. zu diesem Einwand BROADHEAD, Titular Christology, 142: „The Gospel of Mark thus points to the lordship of Jesus, but only indirectly as an existential experience and never as an absorption of the identity of Yahweh.“
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
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sche Abwertung einzelner Perspektiventräger (6,17–29 nach 6,14–16) erfolgen kann, regt den Leser zum Mitdenken an und verwickelt diesen in einen erzählerisch entfalteten Erkenntnisprozess. Was ist an den artikulierten Standpunkten falsch und welche Rückschlüsse erlaubt dies auf Jesu wahre Identität? In diesem Kontext ist auch an die Figurenrelation zwischen Jesus und Johannes-Elia zu erinnern. Wird der Täufer mit dem wiederkommenden Elia und damit dem Vorläufer des Kyrios identifiziert und Jesus zugleich zum Stärkeren erklärt, so stellt sich unweigerlich die Frage nach dem göttlichen Wesen Jesu. v) Ungewöhnlichkeit der Darstellung: Die Aussage, dass der endzeitliche Kyrios in menschlicher Gestalt aufgetreten sei und den schändlichen Kreuzestod erlitten habe, bleibt vor dem Hintergrund einer frühjüdischen Vorstellungswelt größtmögliche Provokation (vgl. 1Kor 1,23; Phil 2,6–8). Im Markusevangelium erhalten aber gerade diese anstößigen Aussagen eine besondere Betonung. So erfährt die Passion Jesu eine ausführliche Behandlung (Kap. 11–16) und rückt durch den Mordplan der Autoritäten (3,6) sowie Jesu explizite und implizite Leidensankündigungen sehr früh ins Bewusstsein der Rezipienten. Die Jünger vermögen Jesu wahre Identität gerade deshalb nicht zu fassen, weil sie das Bekenntnis zu ihm, als dem Christus, nicht mit dem Aspekt des Leidens zu verknüpfen wissen. Auch Jesu Herkunft aus Nazareth findet bei Markus durch die Erstcharakterisierung (1,9), das Wissen der Dämonen (1,24) und den Konflikt mit den Angehörigen und Bewohnern Nazareths (3,20f.31–35; 6,1–6) eine besondere Betonung, was angesichts der literarischen Bedeutungslosigkeit dieses Ortes (vgl. Joh 1,45f.) überraschend wirkt.688 Letztlich wird die Unvereinbarkeit zwischen Jesu menschlicher Herkunft und seiner göttlichen Würde auch im Auferstehungsbericht thematisiert, wenn die Frauen ausdrücklich nach dem Nazarener und dem Gekreuzigten suchen und die Auferstehungsbotschaft des Engels vorerst nur Furcht und Zittern hervorrufen kann und noch keine wahre Erkenntnis. vi) Existenzielle Relevanz: Hat die urchristliche Gemeinde gerade aufgrund ihres Bekenntnisses zu Jesus als dem Kyrios mit Zurückweisungen und Anfeindungen zu kämpfen und erstrecken sich die Konflikte gleichermaßen auf das jüdische und hellenistische Lebensumfeld, so wird der intendierte Rezipient den Kyrios-Aussagen aufgrund seiner eigenen existentiellen Erfahrungen eine hohe Aufmerksamkeit schenken. Er wird besonders sensibel für entsprechende Anspielungen sein, weil das Erzählte für ihn nicht nur geschichtliche Reflexion ist, sondern „fundierende Geschichte“ (Jan Ass-
688
Ein solcher Kontrast zwischen hoheitschristlogischen Zuschreibungen und Jesu Herkunft tritt besonders deutlich in 1,9.11 u. 1,24 hervor.
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
mann).689 Sein Interesse gilt nicht allein der geschichtlichen Person, sondern zugleich dem auferstandenen Herrn der Kirche, nicht allein historischen Ereignissen, sondern v.a. dem darin offenbarten Wesen Jesu, nicht allein der Neuigkeit des Erzählten, sondern insbesondere dem bekannten Zuspruch, den er beim Lesen neu erhält. 690 Legt sich aufgrund dieser sechs Kriterien nahe, dass die Rezipienten der Vorstellung vom kommenden Kyrios Aufmerksamkeit schenken können und sollen, so ist zu fragen, welches konkrete Bild der Rezipient über den Erzählverlauf vom Kyrios erhält und wie diese Vorstellung die Wahrnehmung des markinischen Jesus beeinflusst. Außerdem ist im Zuge der nachfolgenden Analyse zu erweisen, dass die angesprochenen Bezugspunkte zur alttestamentlichen bzw. urchristlichen Kyrios-Erwartung ausreichend sind, um tatsächlich von einer bewussten Parallelisierung und einer kohärenten Kyrios-Christologie zu sprechen. Vergegenwärtigen wir uns zu Beginn des Figurenvergleichs noch einmal die in 1,2f. und 1,7f. getroffenen Identitätsaussagen, so ist darauf hinzuweisen, dass der erste Evangelist mit dem endzeitlichen Kommen des Kyrios (Jes 40,3) eine spezifische Gottesvorstellung bei seinem intendierten Rezipienten wachruft und diese zugleich durch die offensichtlichen Abwandlungen des Maleachi- und Jesajazitates auf die Person Jesu bezieht. Gott, der Kyrios, erscheint – anders als dies innerhalb des Judentums zu erwarten war – in der menschlichen Gestalt Jesu und richtet in ihm seine Königsherrschaft auf (1,14f.). Als Kyrios wird sich Jesus, gemäß der Ankündigung des Johannes-Elia (1,7f.), als der Stärkere erweisen. Seine Macht lässt sich
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Vgl. ASSMANN, Gedächtnis, 75–86. Diesen Charakter der markinischen Erzählung erkennt auch SCHENKE, Literarische Eigenart, 15–21 [„Das Markusevangeliums als Mythos“]. Ich verwende hier bewusst den Begriff der fundierenden Geschichte und vermeide demgegenüber den von Assmann und anderen synonym verwendeten Begriff des „Mythos“. Letzterer erscheint mir aufgrund seiner wechselhaften Verwendungsweise und Bedeutung innerhalb des exegetischen Diskurses allzu missverständlich (vgl. zu den unterschiedlichen Theorieansätzen KLUMBIES, Mythos, 63–98). 690 Mit ASSMANN, Gedächtnis, 77, ist dabei einer falschen Alternative zwischen „Historizität“ und „fundierender Geschichte“ entgegenzuwirken: „Diese Bezeichnung (sc. fundierende Geschichte) bestreitet in keiner Weise die Realität der Ereignisse, sondern hebt ihre Zukunft fundierende Verbindlichkeit hervor als etwas, das auf keinen Fall vergessen werden darf.“ Der Unterschied besteht – mit Aristoteles gesprochen – darin, dass die „fundierende Erzählung“ bzw. Dichtung etwas „Philosophischeres“ und „Bedeutenderes“ darstellt (Aristot. poet. 1451b5f.). Auch nach Aristoteles greift sie durchaus auf historisches Wissen zurück, aber die Kunst des Dichters besteht darin, aus den historischen Informationen das für die Gegenwart und Zukunft Bedeutsame herauszugreifen und die Ereignisse so zu arrangieren und die Figuren so zu gestalten, dass das Erzählte für den Rezipienten Bedeutung gewinnt bzw. behält.
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
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nicht auf die des endzeitlichen Propheten Elia reduzieren, sondern entspricht einer göttlichen Machtfülle.691 An diese Vorstellung einer einzigartigen Machtfülle knüpft Jesu Wirken in Kapernaum und ganz Galiläa unmittelbar an. So wird die ejxousiva von Anfang an als das wesentliche Unterscheidungsmerkmal zwischen Jesus und den Schriftgelehrten benannt (1,22), und es ist ebendiese Vollmacht, die bereits die Menschen in Kapernaum überrascht nach Jesu Identität fragen lässt: „Was ist das? Eine neue Lehre in Vollmacht“ (1,27). Seine Vollmacht lässt Jesus damit gerade nicht als einen bekannten Wundertäter oder Endzeitpropheten erscheinen, sondern als eine Gestalt, die die Menschen verwundert und damit in ihrer Einzigartigkeit hervortreten lässt. Worin Jesu ejxousiva genau besteht wird in der Folge durch sein Wirken veranschaulicht. Mit Jesu vollmächtiger Lehre verbindet sich aufs Engste die Vorstellung, dass Jesus der Herr über die Dämonen und Naturgewalten (1,21–27; 3,22–30; 4,35–41; 5,1–20; 6,45–52; 7,24–30; 9,14–29), der Herr über Mangel und Not (6,34–44; 8,1–9) und der Herr über Krankheit und Tod (1,29– 31; 1,40–45; 3,1–6; 5,21–43; 7,31–37; 8,22–26; 10,46–52) ist. Zugleich wird dem intendierten Rezipienten vor Augen gestellt, dass Jesus die Macht hat, Sünden zu vergeben (2,1–12). Betrachten wir zunächst die Rolle, die Jesus als Herr über die Dämonen einnimmt. Die Exorzismen erhalten bei Markus nicht nur wegen ihrer Häufigkeit eine besondere Betonung, sondern auch wegen der verstärkenden „Summarien“692, die der Erzähler in 1,32–34 und 1,39 einfügt, und weil Jesu erstes Wunder eine Austreibung darstellt (= Primäreffekt). 693 Bevor ich auf die einzelnen Austreibungsberichte und die dadurch evozierte Identifizierung zwischen Jesus und dem alttestamentlichen Kyrios eingehe, wende ich mich jedoch 3,22–30 zu, weil sich diesem Text im Hinblick auf die Deutung der Exorzismen eine Schlüsselfunktion zusprechen lässt. Die hier geschilderte Auseinandersetzung mit den Schriftgelehrten ist Jesu anfänglichem Wirken in Kapernaum nachgeordnet und stellt zugleich 691
Zum engen Bezug von Kyrios-Titel und Machtausübung vgl. FRENSCHKOWSKI, Art. Kyrios, 6, und dazu z.B. Jes 40,9f.26. Verwandt ist die neutestamentlich breit bezeugte Vorstellung von der Kraft, die die Gläubigen durch den Kyrios verliehen bekommen und in der ihre Gemeinschaft begründet liegt (1Kor 5,4; 2Kor 12,9; Eph 1,20–23; Phil 3,20f.; 2Thess 1,7; 1Tim 1,12; 1Petr 3,22; 2Petr 1,3.16). 692 Durch diese „Summarien“, die sich erzählwissenschaftliche betrachtet als geraffte Erzählung erweisen, werden die Exorzismen zugleich von den übrigen Krankenheilungen unterschieden. Beide werden gleichwertig nebeneinander erwähnt. 693 Ähnliche Kriterien nennt bereits GUTTENBERGER, Gottesvorstellung, 249, die diese allerdings im Sinne redaktioneller Maßnahmen versteht. Da die Rezipienten aber nicht mit der eigentlichen Textgenese und der Gestalt der vormarkinischen Überlieferung vertraut waren, reicht es, sich hier auf den Endtext und die hier zu beobachtenden Merkmale einer Leserlenkung zu konzentrieren.
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
eine Überleitung zu Jesu Wirken am See und in Galiläa dar. Nach den berichteten Exorzismen (1,21–27; 1,32–24; 1,39) wird nun explizit nach einem Grund für Jesu Vollmacht gefragt. Hiermit verbindet sich zugleich eine Identitätszuschreibung. Die Jerusalemer Autoritäten, die im Erzählverlauf erstmals auftreten und im Anschluss an den geheimen Mordplan (3,6) als religiöse Inspektoren erscheinen sollen, erheben den absurden Vorwurf, Jesus treibe mittels694 des Beelzebuls, d.h. durch den Obersten der Dämonen und damit durch Satan (V. 23),695 die bösen Geister aus. Absurd ist dieser Vorwurf aus Sicht des intendierten Rezipienten, weil der Bericht von Jesu Taufe und Versuchung längst demonstriert hat, dass Jesus der Sohn Gottes ist und keineswegs im Bunde mit dem Satan steht. Vielmehr wirkt er seine Wunder in der Vollmacht des Heiligen Geistes und wurde dem Satan zur Versuchung übergeben. Die Widersinnigkeit des Vorwurfs wird auch von Jesus herausgestellt (V. 23–26). Gehören die Dämonen auf die Seite des Satans, so würde sich dieser durch Jesu Wirken offensichtlich selber schwächen. Er würde im Bildwort gesprochen sein Reich bzw. sein Haus entzweien. Mit dem Gleichniswort696 in V. 27 fügt Jesus sodann eine eigene Erklärung seiner Exorzismen an. Hierbei wird keineswegs zufällig der Begriff des „Starken“ zur Umschreibung Satans aufgegriffen. 697 Kann niemand in das Haus des Starken und damit Satans eindringen und dieses ausrauben, ohne den Hausbesitzer zuvor gefesselt zu haben, so erweist sich der Eindringling im Umkehrschluss als der „Stärkere“. Als ebensolcher wird aber, wie wir im Hinblick auf 1,7 bereits gesehen haben, v.a. Gott bezeichnet. Er ist es auch, der in der Vorstellungswelt des Judentums allein die
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Das ejn in V. 22 hat eine instrumentale Bedeutung. M.E. ist die lange Überlieferungsgeschichte dieses Namens an dieser Stelle zu vernachlässigen. Dass es sich bei „Baal Zebul“ ursprünglich um eine orakelgebende Gottheit handelte (vgl. 2Kön 1,2f.6.16), wird dem intendierten Rezipienten des Markusevangeliums ebenso wenig bewusst sein, wie die hintergründige Namensbedeutung „Herr der Höhe“. Geradezu abwegig ist es , dass die Bezeichnung auf die höchste pagane Gottheit Baal Schamem verweisen solle, was von TWELFTREE, Exorcist, 105, und GASTON, Beelzebul, 253, vorschlagen wird, den Rezipienten aber allzu viel zumutet und im Widerspruch zum Kontext steht (V. 23). Etwas zurückhaltender GUTTENBERGER, Gottesvorstellung, 240 Anm. 143: „Diese an sich einleuchtende Assoziation lässt sich jedoch leider nicht belegen.“ 696 Vgl. V. 23: „Und nachdem Jesus sie zusammengerufen hatte, sprach er in Gleichnissen (ejn parabolai`~) zu ihnen.“ 697 Dass der Begriff des Starken auf den Satan zu beziehen ist, ergibt sich gleichermaßen aus (1) dem vorherigen Erzählverlauf (v.a. 1,12f.); (2) der geschilderten Diskussionssituation (3,22.23.26); und (3) dem textextern gegebenen Begriffspotenzial (vgl. LXX Jes 49,24–26). An dieser Interpretation ist mit der Mehrheit der Exegeten festzuhalten (so HAENCHEN, Weg, 146f.; PESCH, Markusevangelium II/1, 215; SCHENKE, Literarische Eigenart, 120f.; GNILKA, Evangelium II/1, 150). 695
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
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Macht hat, den Satan oder die Dämonen in der Endzeit zu binden.698 Allerdings wurde das Kommen des Stärkeren durch die Ankündigung des Johannes-Elia (1,7) gerade auf Jesus hin übertragbar.699 Mit dem Stärkeren verbindet sich nach der markinischen Erzähllogik deshalb nicht nur die Ankunft Gottes, des Vaters, sondern zugleich die Ankunft des Kyrios Jesus. Seine Exorzismen veranschaulichen, wie die Ankündigung des Täufers zu verstehen ist und wie sich das Reich Gottes in Jesu vollmächtigem Wirken realisiert. Im Unterschied zur frühjüdischen Vorstellungswelt wird das Binden des Satans nicht mehr in ferner Zukunft erwartet, sondern erscheint mit Jesu Kommen bereits als Geschehnis der Gegenwart bzw. Vergangenheit (vgl. Lk 11,20). Diese Interpretation, die das Binden des Satans an Jesu Person knüpft, scheint nun freilich mit dem Problem behaftet zu sein, dass die markinische Erzählung zuvor gar nicht von einer entsprechenden Fesselung des Satans berichtet hat. In der kurzen Versuchungsszene (1,12f.) blieb Jesus auf eine rein passive Handlungsrolle reduziert. Vom Geist in die Wüste getrieben war er den wilden Tieren und den Versuchungen des Satans ausgeliefert. Von einem Triumph über den Satan hatte Markus gerade nicht erzählt und ein solcher lässt sich auch kaum der dichten, aber keineswegs eindeutigen Symbolik des Textes entnehmen.700 Nun könnte man geneigt sein, 3,27 als 698 Bereits in Sach 13,2 taucht der Gedanke auf, dass Gott in der Endzeit den unreinen Geist aus dem Land vertreibt (to; pneu`ma to; ajkavqarton ejxarw`). Gemäß TestSeb 9,6–8 wird Gott in dieser Zeit die Gefangenen von Beliar erlösen und jeder Geist, der die Menschen verführt, wird zertreten werden (vgl. auch TestDan 5,11). Gott kann auch als Richter über den Azazel und die Geister erscheinen (1Hen 55,4). Daneben findet sich in mehreren Texten der Gedanke, dass der Satan und die bösen Geister in der Endzeit bereits vernichtet wurden, ohne dass die näheren Umstände eines kosmischen Kampfes geschildert werden (AssMos 10,2; Jub 23,29f.; TestJud 25,3). Aufgrund von Gottes Macht können die Geister in der Endzeit den Menschen überantwortet werden, so dass diese über die bösen Geister herrschen (TestSim 6,6). Wo Gestalten – wie der endzeitlichen Hohepriester (TestLev 18,12) oder Salomo (Sap 7,15–20; Jos. Ant. 8,42–49) – eine Macht über die Dämonen zugesprochen wird, so wird Gott weiterhin als eigentliches Subjekt des Bindens verstanden (mit BECKER, Untersuchung 297f.; gegen GRUNDMANN, Evangelium, 60) bzw. als derjenige, der Salomo diese Kunst gelehrt habe. Die Belege der spätrabbinischen Zeit können kaum noch für die Interpretation der neutestamentlichen Exorzismen herangezogen werden (vgl. SehmR 30,16; BamR 14,3; PesK 5,3). 699 Gegen KLAUCK, Allegorese, 182, der im indirekten Verweis auf den Stärkeren eine ausschließliche Anspielung auf Gott erkennen möchte. Dies legt sich aber durch den Kontext des Konfliktgesprächs gerade nicht nahe. Das Interesse der gesamten Episode richtet sich ja auf die Frage, aus welcher Vollmacht heraus Jesus agiert (V. 22). 700 Dass Jesus durch die kurze Szene als Kontrastfigur zu Adam erscheinen soll und in seiner Versuchung der Tierfrieden wiederhergestellt wird, der durch den Sündenfall zerstört wurde (so GRÄSSER, Tierschutzethik, 148; BAUCKHAM, Wild Animals, 4–7), vermag ich angesichts der allzu kurzen Erwähnung der Tiere nicht zu erkennen. Auch die Kombination „Tiere“/„Engel“ reicht für sich genommen nicht aus, um einen direkten Bezug zu
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
kompletive und zugleich indirekte Analepse zu begreifen. In diesem Fall würde durch Jesu Bildwort das zuvor ausgesparte Ereignis der Satansbindung nachgeliefert. Bereits die Tatsache, dass in 3,27 eine entsprechende Markierung fehlt und es sich eben bestenfalls um eine indirekte Analepse handelt, erweist diese Interpretation jedoch als problematisch. Es bleibt dabei, dass die Versuchungsszene nicht so recht zur Vorstellung einer Fesselung passen mag. Ein erzählerischer Nachtrag der Satansbindung scheint gemäß der markinischen Erzähllogik aber auch gar nicht notwendig zu sein. Für Markus lässt sich das Kommen des Kyrios nämlich gar nicht ohne eine parallele Entmachtung des Satans denken. Jesus muss den Satan nicht erst im Zuge seiner Versuchung oder im Sinne einer konkreten Handlung, einer Wundertat, binden, sondern dieser ist – trotz aller Bedrängnisse, die der Sohn Gottes jetzt und seine Nachfolger fortan zu erleiden haben – bereits von Gott gebunden und seiner Macht beraubt.701 Jesu Vollmacht liegt nicht in einem bestimmten Ereignis seiner Biografie begründet, sondern gerade in seiner Identität und einzigartigen Beziehung zu Gott. Ebendiese Abhängigkeit zwischen Jesu Vollmacht und seinem Wesen spiegelt sich in den einzelnen Exorzismusberichten wider. Schon der Dämon in der Synagoge von Kapernaum (1,23–27) befürchtet seine Vernichtung deshalb, weil ihm mit Jesus der Sohn Gottes gegenübersteht: „Ich weiß, wer du bist: ‚Der Sohn Gottes‘ 702“ (1,24b).703 Und Jesu kurzes und TestNaft 8,4–6 plausibel zu machen. Insgesamt sind der Grad an Parallelität und die Erinnerungsnähe viel zu gering, um von einer bewussten Anspielung zu sprechen. 701 Somit wird in 1,12f. nicht primär eine Aussage über die Person Jesu und sein Wirken getroffen, sondern es gerät auch hier bereits die Beziehung zwischen Jesus und Gott in den Blick. Wie die nachfolgende Erzählung dann entfalten wird, ist es Gott selber bzw. der Heilige Geist, der Jesus immer wieder in Bedrängnisse und letztlich ins Leiden und in den Tod hineinführt. Bei Markus verbindet sich die Vorstellung vom Leiden Jesu mit dem Gedanken der Sendung und zugleich mit der Gewissheit, dass dieses Leiden in der einzigartigen Beziehung zwischen Vater und Sohn aufgehoben bleibt. 702 Es greift hingegen zu kurz, diesen oi\da-Satz ebenso wie 3,11 oder 5,7 als eine Gegenwehr des Dämons zu verstehen (gegen BAUERNFEIND, Worte, 13; vgl. dazu PGM 8,13f.). Die formalen Parallelitäten zu den Zauberpapyri dürfen nicht über den Kontext der markinischen Erzählung gestellt werden. Gerade die Zusammenfassung in V. 27b demonstriert, dass das Verhältnis zwischen Jesus und dem Dämon dem Verhältnis zwischen einem „Befehlenden“ und einem „Gehorchenden“ entspricht (mit SCHOLTISSEK, Vollmacht, 117f.). Dabei wird nicht zwangsläufig auf den militärischen Kontext angespielt (so MARCUS, Mark, 194), sondern es gerät viel eher das Autoritätsgefälle zwischen einem Herrn und seinem Sklaven in den Blick. 703 Auch die feststehende Wendung ti; ejmoi/hJmi`n kai; soiv/uJmi`n (vgl. Ri 11,12; 2Sam 16,10; 19,23; 1Kön 17,18; 2Kön 3,13; 2Chr 35,21) weist auf eine Verweigerung der Beziehung hin und steht damit in einem unlösbaren Zusammenhang mit Jesu Identität (vgl. BÄCHLI, Was habe ich, 79; SCHOLTISSEK, Vollmacht, 109). „[Dieser] Ausdruck steht für die Ablehnung einer Beziehung, die gegen den Willen des Sprechenden diesem aufgedrängt werden soll [...]“ (GUTTENBERGER, Gottesvorstellung, 256 Anm. 212).
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vollmächtiges Scheltwort (v. 25) demonstriert sogleich – wie auch im weiteren Erzählverlauf (ejpitimavw704 [4,39; 9,25; vgl. 8,33], fimovw [4,39]) – eine Überlegenheit, die sich nur als gottgleiche Autorität begreifen lässt. Was die Bevölkerung von Kapernaum überrascht, ja überraschen muss, ist dementsprechend nicht der Exorzismus an sich, sondern der Umstand, dass die Dämonen bereits auf das autoritative Wort Jesu hin gehorchen müssen. Die Zusammenfassung in V. 27b greift kaum zufällig den Aspekt des Befehlens und Gehorchens auf und stellt damit das schroffe Autoritätsgefälle zwischen Jesus und den Dämonen heraus. Während andere antike Exorzisten bestenfalls durch Riten, Beschwörungsformeln, das Gebet oder einen frommen Lebenswandel ihr Gegenüber bezwingen können, 705 reicht bei Jesus bereits ein kurzer Befehl oder – wie in 6,45–52 – sogar sein bloßes Erscheinen, um die Dämonen und Chaosmächte zum Schweigen zu bringen.706 Neben den Scheltworten und dem immer wieder verdeutlichten Autoritätsgefälle, das auch durch das Herbeilaufen oder die Proskynese der unreinen Geister veranschaulicht werden kann (5,6), finden sich in den erzählten Exorzismen noch weitere Figurenparallelen. Überdeutlich sind die Anspielungen auf den alttestamentlichen Kyrios in den beiden Sturmstillungswundern (4,35–41; 6,45–52), die ihrerseits exorzistische Züge aufweisen.707 Auf die entsprechende Motivik, insbesondere das Motiv des „schlafenden Gottes“, der „Bedrohung der Chaosfluten durch Gott“ (Ps 18,6.16; 68,31; 104,7; 106,9; 107; 119,21; Hi 7,12; 38,8–11; Jon 1,4–16; Jes 51,9f. u.ö.), des „Seewandels“ (Hab 3,15; Hi 9,8.11708; TestHiob 9,8) 709 oder der „erbetenen Rettung aus der Ferne“ (Ps 22,11; 35,22f.; 71,12), wurde bereits im Zuge der vorangehenden Analyse verwiesen. An dieser Stelle gilt es noch704
Vgl. LXX Ps 9,6; 67,31; 105,9; 118,21 und dazu SCHENKE, Wunderzählungen, 55. GNILKA, Evangelium II/1, 195, bemerkt zu Recht, dass „das Verb in hellenistischen Exorzismuserzählungen fehlt [und] die Geschichte an biblische Terminologie [anschließt].“ 705 Vgl. etwa die Texte bei PREISDANZ/HENRICHS, Zauberpapyri I, 114.170–172; vgl. aus der frühjüdischen Umwelt Jos. Ant. 8,2,5 (Austreibung Eleazars im Namen Salomos). Die Berichte aus Philostrats Lebensgeschichte des Appollonios von Tyana (Philostr. Apoll. 3,38; 4,10; 4,20) oder bei Lukian (Lukian. Philopseud. 16) sind ein deutlicher Reflex auf die frühchristliche Charakterisierung Jesu und ermöglichen keinen Rückschluss mehr auf die Vorstellungswelt des 1. Jhdt. 706 Der intendierte Rezipient konnte und sollte das fehlende Scheltwort in 6,45–52 bemerken. Die Episode weist ansonsten deutliche Parallelen zu 4,35–41 auf, so dass gerade eine derartige Differenz auffallen musste. 707 Vgl. KOLLMANN, Neutestamentliche Wundergeschichten, 101. 708 COLLINS, Rulers, 227, erkennt in Hi 9,8.11 sogar den wesentlichen Impuls zur Ausgestaltung von 6,45–52. 709 Auch in der hellenistischen Literatur verweist das Gehen auf dem Wasser auf eine göttliche Begabung: Hdt. hist. 7,35,56; Dion. Chrys. Or. 3,30f.; Lys. or. 2,29; Isokr. Pan. 88f.
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mals zu betonen, dass Markus diese reichhaltige Motivik bzw. diese Figurenparallelen innerhalb seiner Überlieferung nicht nur bemerkt hat, sondern dass er seine Rezipienten auf diese Merkmale und die darin zur Sprache kommende Identitätszuschreibung hinweist. Hinter der abschließenden Frage in 4,41 und dem irrtümlichen Identitätsverständnis in 6,49 steckt eine pragmatische Funktion. Beide Äußerungen, die Teil des umfassenderen Jüngerunverständnisses sind, regen den Rezipienten dazu an, seinerseits nach Jesu wahrem Wesen zu fragen und dieses auf der Grundlage der zuvor erzählten Wunders zu erschließen. Statt auf Jesu Taten mit einem vorösterlichen Unverständnis bzw. Unglauben zu reagieren, was der Erzähler durch seinen eigenen Kommentar und die Reaktionen Jesu geißelt (4,40; 6,52; 8,17), soll der Rezipient Jesus als Kyrios erkennen und anerkennen. Gerade diese Identität lässt sich nämlich aufgrund der gegebenen Figurenparallelen erschließen. Wer sonst könnte Wind und Wellen zum Schweigen bringen und über das aufgewühlte Meer hinwegschreiten? Wer sonst wird von den Menschen angerufen und aus dem Schlaf gerissen, um durch seine Machttaten die Not zu beseitigen (vgl. LXX Ps 43,24–27710 und LXX Ps 7,7; 58,5b– 6; 77,65f.; Jes 51,9–11)?711 Es ist der kuvrio~, wie es später auch Matthäus in der Relecture der markinischen Sturmstillungserzählung erkennt und demzufolge die Jünger ausrufen lässt: „Herr, rette [uns], wir gehen zu Grunde/kuvrie, sw`son, ajpolluvmeqa“ (Mt 8,25).712 In der anschließenden Erzählung von der Heilung des besessenen Geraseners (5,1–20) sind es nicht allein einzelne Figurenparallelen, die Jesu wahre Identität erkennen lassen, sondern es ist auch hier der Abschluss der Episode, der den Rezipienten erneut auf Jesu wahre Identität verweist. Nachdem Jesus dem Geheilten in V. 19 aufträgt, nach Hause zurückzukehren und dort „zu verkünden, was der Herr ihm getan hat“ (ajpavggeilon aujtoi`~ o{sa oJ kuvriov~ soi pepoivhken kai; hjlevhsevn se), berichtet der Erzähler in V. 20, dass der Gerasener in der Dekapolis „anfing zu verkündi710
V. 24: ejxegevrqhti i{na tiv uJpnoi`~, kuvrie; Für die Behauptung, dass Jesus durch die Sturmstillung lediglich als „Exorzist“ und „Zauberer“ dargestellt werde (so z.B. HAENCHEN, Weg, 202), fehlt jeglicher Anhaltspunkt. Die intertextuellen Bezüge zum Jonabuch lassen Jesus, wenn der intendierte Rezipient diese überhaupt bemerken konnte, als Kontrastfigur erscheinen (vgl. zu dieser Intertextualität KLAUCK, Allegorie, 345f.; BEAVIS, Mark, 91). 712 Vielfach wird der Versuch unternommen, die Leerstelle, die durch die Frage der Jünger hinterlassen wird, durch den weiteren Erzählverlauf – insbesondere das Bekenntnis des Petrus oder des Hauptmanns unterm Kreuz – zu füllen (so z.B. GNILLKA, Evangelium II/1, 197 [8,29]; KETTENBACH, Schiffahrtsmetaphorik, 260 [15,39]). Die tatsächliche Verknüpfung zwischen diesen Episoden ist aber sehr gering. Naheliegender ist es, dass der Rezipient die Identitätszuschreibung aus der Motivik des zuvor Erzählten ableitet und in Jesus den Kyrios erkennt. „Die Erzählung inszeniert Jesus wie Gott“ (GUTTENBERGER, Gottesvorstellung, 268; ähnlich KOCH, Bedeutung, 93; MARCUS, Mark, 338; MATJAŽ, Furcht, 60–63; MÜLLER, Wer ist dieser, 44). 711
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
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gen [...], was ihm Jesus getan hat“ (h[rxato khruvssein [...] o{sa ejpoivhsen aujtw`æ oJ ÆIhsou`~). Jesu Wirken wird also, wie sich an der gleichbleibenden Wortwahl und Satzstruktur erkennen lässt, aufs Engste mit dem Wirken Gottes, des Kyrios, parallelisiert.713 Markus Anliegen ist es nicht allein, „die spätere missionarische Situation [einzublenden]“ 714 oder zu verteidigen,715 als lasse sich erst im kirchlichen Kerygma von Jesus als dem Kyrios sprechen, sondern er trifft durchaus eine Aussage über das Wesen des irdischen Jesus. Dieser ist bereits vor Ostern als Kyrios anzusprechen, wird aber erst nach Ostern von seinen Nachfolgern verehrt und erkannt werden. Gerade deshalb kann die „Predigttätigkeit“ des Geraseners höchstens als Anfangspunkt (ajrchv) der nachösterlichen Mission und Verkündigung erscheinen. Obwohl 5,19f. eine emergente Bedeutungsstruktur aufweist und Markus es wiederum seinem intendierten Rezipienten überlässt, Jesu Identität zu erschließen, kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass der markinische Leser – nach der Eröffnung in 1,2f. und dem bisherigen Erzählverlauf – die angebotene Kyriostitulatur unweigerlich auf Jesus beziehen und im Sinne einer Gottesprädikation verstehen wird.716 Diese Interpretation legt sich auch aufgrund des vorher geschilderten Exorzismus und der demonstrierten Machtfülle Jesu nahe. Hierbei wird in 5,1–20 gerade nicht von einem Kampf zwischen Jesus und den Dämonen erzählt, 717 sondern durch das Herbeilaufen und die Unterwerfungsgeste erneut auf das Autoritätsgefälle zwischen beiden Parteien hingewiesen. Jesu Überlegenheit drückt sich auch in seinem Vorauswissen aus, d.h. in der Tatsache, dass er die Dämonen in eine Schweineherde entlässt, die sogleich in den See stürzt. Zugleich erscheint Jesu Macht aufgrund der beschriebenen Umstände noch einmal gesteigert. Nicht einmal eine „Legion“ an Dämonen, deren gewaltsames Verhalten dadurch zum Ausdruck gebracht wird, dass der Besessene
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Gegen FENEBERG, Jesus, 151, der eine Missbilligung dieser Aussage durch den Erzähler erkennen will. Für diese These lassen sich aber keine erzählerischen Mittel anführen. Nachdem Jesus bereits in 1,2f.7 als Kyrios vorgestellt wurde, müsste eine derartige Kritik durch den Erzähler wesentlich deutlicher vorgetragen werden und es würde sich zugleich ein Dissens zwischen dem Standpunkt des Markus und dem Standpunkt Gottes (1,2f.) ergeben. 714 GNILKA, Evangelium II/1, 207. 715 So PESCH, Markusevangelium II/1, 294. 716 So auch GUTTENBERGER, Gottesvorstellung, 268: „Am Ende der Erzählung (Mk 5,20) wird die Hoheit Jesu weiter gesteigert: Das Gottesprädikat kuvrio~ (Vers 19) wird auf Jesus bezogen.“ Vgl. nun auch WHITENTON, Hearing, 186. 717 Gegen BAUERNFEIND, Worte, 24f., der sich dabei v.a. auf die vermeintliche Beschwörung durch den Dämon (V. 7) bezieht; ähnlich COLLINS, Mark, 268; KOLLMANN, Wundertäter, 206; LÜHRMANN, Markusevangelium, 100.
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von Menschenhand nicht mehr zu fesseln 718 ist (5,3f.), bleibt dem „Sohn des höchsten Gottes“719 überlegen. Der in 5,1–20 vor Augen geführten Vollmacht des Gottessohnes und der in 5,19f. vollzogenen Identifizierung zwischen Jesus und dem Kyrios lässt sich über die eigentliche Episode hinaus eine Relevanz zuschreiben. So wird mit 5,1–20 ein Erzählabschnitt des Markusevangeliums eröffnet, der nicht nur durch das Kohärenzsignal des Bootes und die wiederholt berichtete Begegnung mit den Heiden verknüpft ist, sondern in dem zugleich mehr als die Hälfte aller markinischen Wundererzählungen berichtet werden. Die Identitätszuschreibung in 5,1–20 hilft dem Rezipienten, auch diese nachfolgenden Wunderberichte zu erschließen. Jesus soll durch seine Wundertaten und in der Autorität, die er gegenüber den Schriftgelehrten und Mose beansprucht (7,1–23), weder in der Rolle eines Endzeitpropheten, eines qei`o~ ajnhvr, Schamanen oder weltlichen Herrschers erscheinen, sondern seine Wunder und sein weiteres Wirken verweisen stets auf das einzigartige Kommen des göttlichen Kyrios. Innerhalb des bezeichneten Erzählabschnittes findet sich die bereits analysierte Begegnung zwischen Jesus und der Syrophönizierin (7,24–30), die durch eine erfolgte Fernheilung bzw. einen „Fernexorzismus“ abgeschlossen wird und – gemäß der zuvor erfolgten Umdeutung des Bildwortes von den Hunden – Jesu Hinwendung zu den Heiden illustriert. Die Episode ist zugleich mit dem letzten Exorzismus in 9,14–29 verknüpft, so dass sich eine gemeinsame Betrachtung anbietet: Im Vorfeld beider Episoden wird erzählerisch verdeutlicht, dass Jesus „mehr“ ist als Mose. Jesu Autorität übersteigt die des Propheten und damit zugleich die der Tora (7,1–16), was das Außerkraftsetzen der rituellen Reinheitsgebote und damit die nachfolgende Hinwendung zu den Heiden überhaupt erst ermöglicht (vgl. 8,1–9). Und im Zuge der Verklärung wird Jesus unter der Zeugenschaft des engsten Jüngerkreises und in Anwesenheit des Mose und Elia zum Sohn Gottes ausgerufen (9,1–7). Sein äußeres Erscheinungsbild, das den Glanz des Mose in der Begegnung mit Gott übertrifft (Ex 34,29–35; Phil. Mos. 2,70), wird in der Einleitung Mk 9,14f. bewusst aufgegriffen und verbindet beide Erzählungen miteinander. Erstmals wird im Markusevangelium davon berichtet, dass die Menge bereits vor dem eigentlichen Wunder von Ehrfurcht ergriffen worden sei. Die beiden Exorzismen in 7,24–30 und 9,14–29 sind 718
Die wiederholte Erwähnung des Fesselns bzw. der Unmöglichkeit eines solchen Bindens wird den Rezipienten unweigerlich an 3,27 erinnern. Was Menschen nicht vermögen, das vermag allein der Stärkere und damit Gott in der Person Jesu. 719 Nach GUTTENBERGER, Gottesvorstellung, 268, wird durch dieses Zugeständnis an den Gott Israels zugleich eine Identifizierung zwischen den Dämonen und den heidnischen Gottheiten ermöglicht. Im Hintergrund würde dann Jes 65,3 stehen. Trotz der beschriebenen Szenerie sind die Berührungspunkte aber vergleichsweise gering und die markinische Erzählung lässt gerade keinen kultischen Kontext erkennen.
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
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aber auch aufgrund einer ähnlichen Figurenkonstellation und ihrer Darstellungstechnik miteinander verknüpft. 720 Während in 7,24–30 eine Mutter um die Heilung ihrer Tochter bittet, ist es in 9,14–29 ein Vater, der Jesus stellvertretend darum bittet, dass sein Sohn gerettet werde. In beiden Fällen erfolgt die Austreibung also durch die Vermittlung eines Elternteils. Zugleich kommen die Dämonen in beiden Episoden nicht mehr zu Wort, sondern der Fokus wird ganz auf das menschliche Gegenüber und den Dialog zwischen Jesus und dem Vater bzw. der Mutter gelenkt. Das Verhalten, die Meinung und der Charakter dieser beiden Figuren erhält nun deutlich größere Aufmerksamkeit. Dies bleibt keineswegs ohne Auswirkung auf die Wahrnehmung des Erzählten. Indem die Dämonen nur noch als Objekt des Gesprächs erscheinen und auf ihre Handlungsrolle als Gegenspieler menschlicher Akteure reduziert werden, erhält Jesu Überlegenheit im Lektüreprozess eine weitere Steigerung. Es ist in diesem Kontext wohl keineswegs ohne Ironie, dass nunmehr nicht allein der Besessene, sondern zugleich der Dämon selbst als taub und stumm bezeichnet wird (V. 17.25).721 Zugleich wird Jesu Überlegenheit im Vergleich zu seinen Jünger offensichtlich (9,18b.28f.).722 Die hatten den Dämon, der das Leben des besessenen Jungen seit Kindheit an bedroht (V. 22),723 nicht austreiben können. Ein Faktum, das Jesus zur Klage über das ungläubige Geschlecht veranlasst und ihn bereits hierin als präexistenten Sohn erkennen lässt. 724 Nur Jesus selber vermag den Dämon erneut durch ein einfaches Machtwort zu bannen, 725 was Veranschaulichung 720
Es lassen sich freilich auch Unterschiede benennen: Neben dem Setting stellt v.a. die Abwesendheit der Jünger in 7,24–30 ein wesentliches Differenzmerkmal dar. 721 Dass die Bezeichnung des Geistes als stumm (V. 17) bzw. stumm und taub (V. 24) nicht allein auf die Symptome des Jungen hinweisen, ist auch von anderen Auslegern gesehen und mit dem erzählerischen Kontext begründet worden (vgl. etwa COLLINS, Mark, 435). Angesichts des vorherigen Erzählverlaufs und der Tatsache, dass sich die Dämonen als gesprächig und lautstark erwiesen haben, muss diese Stummheit aber überraschen. 722 Ähnlich bereits BULTMANN, Geschichte, 225. 723 Die Besessenheit und die dadurch gegebene Bedrohung des Sohnes wird in 9,14–29 besonders eindrücklich vor Augen gestellt, wenn überaus abwechslungsreich vom Hinschmettern (V. 18), Schäumen (V. 18.20), dem Knirschen der Zähne (V. 18), dem Starrwerden (V. 18), einem Hin- und Herzerren (V. 20), einem Hinfallen (V. 20) und einem Sich-Wälzen (V. 20) gesprochen wird und dies in der Aussage gipfelt, dass der Junge wiederholt zum Feuer und Wasser hingetrieben worden sei (V. 22). 724 Mit HOFIUS, Allmacht, 6: „Die Klage Jesu kann nur auf dem Hintergrund der Präexistenzvorstellung verstanden werden, und sie setzt als solche den Gedanken voraus, daß der ‚Sohn Gottes‘ (9,7) lediglich für eine kurze Zeit als Mensch auf Erden weilen wird.“ Vgl. zu V. 19 auch HAENCHEN, Weg, 320; KLOSTERMANN, Markusevangelium, 91; LOHMEYER, Evangelium, 186f.; SCHMITHALS, Evangelium, 415. 725 Der Unglaube der Beistehenden erweist sich dann gerade darin, dass sie sich in ihrer Not an Jesu Jünger und nicht direkt an Jesus gewandt haben (mit HOFIUS, Allmacht, 8f.; SCHMITHALS, Evangelium, 414).
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dafür ist, dass Jesus alles möglich ist (pavnta dunatav) und dieses dem Glaubenden zugute kommt (tw`æ pisteuvonti). 726 Zu beachten ist hierbei, dass pavnta dunatav eine feststehende Wendung darstellt, die sonst exklusiv von Gottes Vermögen spricht: „pavnta dunatav ist göttliches Attribut im strengen Sinn.“ 727 Dass der Exorzismus nach außen wie eine Totenauferweckung erscheint (9,26f.), unterstreicht einerseits die Unwissenheit der Beistehenden, ist aber wohl zugleich ein versteckter Hinweis bzw. eine Erinnerung an Jesu tatsächliche Machtfülle (vgl. 5,34–43728). Geradezu unerhört ist dann die Deutung, die das erzählte Wunder durch den abschließenden Dialog im Haus erhält. Auf die Frage der Jünger, warum sie den Dämon nicht hätten austreiben können, antwortet Jesus, dass dies nur durch Gebet möglich war. Diese Aussage überrascht insofern, als Jesus den Dämon durch ein Machtwort und keineswegs durch ein Gebet ausgetrieben hatte. Man wird kaum anzunehmen haben, dass Markus oder gar ein nachmarkinischer Redaktor die Episode nicht recht verstanden habe. Es handelt sich auch kaum um „eine Anweisung für die Zukunft“, als könnten die Jünger fortan oder die nachösterliche Gemeinde durch das Gebet bewirken, woran sie hier offensichtlich scheitern. Nicht das Gebet der Jünger hätte etwas zu ändern vermocht, sondern das Gebet des Vaters hat den Unterschied ausgemacht. So soll durch den abschließen Dialog der Ruf des Vaters in V. 24b abschlie726 Im Hinblick auf Jesu Antwort in V. 23b (to; eij duvnhæ, pavnta dunata; tw`æ pisteuvonti) lassen sich im Forschungsdiskurs drei unterschiedliche Interpretationen ausmachen: (1) Jesus ist das Subjekt des Satzes, weil die Antwort unmittelbar an die Frage des Vaters nach Jesu Vollmacht anknüpft (so z.B. GNILKA, Evangelium II/2, 48.50; PESCH, Markusevangelium II/2, 92f.; SCHENKE, Literarische Eigenart, 222). Es wäre somit zu übersetzen: „Dem Glaubenden (sc. Jesus) ist alles möglich“; (2) Der Vater ist Subjekt des Satzes, weil seine Erwiderung in V. 24b erkennen lässt, dass er die Worte Jesu auf sich bezieht und sonst in der gesamten Evangelienliteratur nie vom Glauben Jesu die Rede ist. Es wäre somit zu übersetzen: Wenn Du kannst! Dem Glaubenden (sc. Dir) ist alles möglich (so z.B. COLLINS, Mark, 433.438; SCHLATTER, Glaube, 129; (3) „Bei pavnta dunatav ist [...] einzig das ‚Vermögen‘ Jesu, bei twæ` pisteuvonti einzig der ‚Glaube‘ des Vaters im Blick“ (HOFIUS, Allmacht, 14). Hier wird das twæ` pisteuvonti als Dativus commodi verstanden („Alles ist mir, Jesus, möglich, dir zugute, wenn du glaubst“). Diese letzte Interpretationsmöglichkeit (3), der ich mich anschließe, hat erhebliche Vorteile gegenüber den beiden ersten Optionen. Es werden sowohl die logische Zwischenstellung des Verses zwischen V. 22b und 24b als auch die semantischen Verbindungen berücksichtigt. So knüpft pavnta dunatav an das eij duvnhæ in V. 22b an, wo Jesus auf sein Vermögen hin angesprochen wurde. Der Dativ tw`æ pisteuvonti steht hingegen in enger Verbindung zum pisteuvw in V. 24b. 727 THEISSEN, Wundergeschichten, 140. So auch HOFIUS, Allmacht, 14. Vgl. dazu 10,27 par Mt 19,26; 14,36; Lk 1,37; Phil. opif. 46; virt. 26; Abr 268; LXX Gen 18,14; LXX Hi 10,13; 42,2; Herm vis. 4,2,6; mand. 12,6,3. 728 Konnte der Rezipient in Mk 5 erkennen, dass die Tochter des Jairus tatsächlich gestorben war und lediglich in der Betrachtung Jesu als schlafend bezeichnet werden konnte, so ist es hier gerade umgekehrt. Die Menge ist vom Tod des Sohnes überzeugt, während sich der Rezipient gewiss ist, dass Jesus ihm das Leben schenken wird.
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
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ßend als Gebet gedeutet werden. Was sich bereits aufgrund des Inhalts der Bitte nahelegt, wird nun noch einmal als Anrufung Jesu benannt. „Es ist die Anrufung Jesu, wie sie der Vater mit dem Ruf von V. 24b vollzogen hat. In solcher Anrufung bekundet sich der ‚Glaube, d.h. das Zutrauen zu Jesus und seinem Erbarmen. Sie ist Ausdruck der vertrauensvollen Hinwendung zu dem, der – im Sinne des göttlichen Attributs pavnta dunatav – Macht über die bösen Geister hat und dessen Hilfe nicht vergeblich erbeten wird.“729
Erkennt man in der Gebetsanrufung Jesu einen wichtigen Ausgangspunkt oder zumindest ein wichtiges Indiz für die frühchristliche Ausprägung einer Kyrios-Christologie, 730 so erhält diese Interpretation auch in historischer Hinsicht eine Plausibilität. Umgekehrt wird hierdurch deutlich, dass Jesus in der Erzählung durchaus in Analogie zum vorherigen Erzählverlauf als Kyrios erkennbar wird. Von einer göttlichen Machtfülle weiß auch die bereits eingehend analysierte Episode 7,24–30 zu berichten (vgl. 4.2.2e). Dass das Mädchen ohne die physische Anwesenheit Jesu geheilt wird, lässt sich nicht einfach mit einem Hinweis auf ein allgemeines Gattungsformular abtun, da Fernheilungen in der antiken Literatur äußerst selten begegnen und sich zwischen den einzelnen Berichten erheblich Unterschiede auftun (vgl. Mt 8,5–13; Joh 4,43–54; Ber 34b; Philostr. Apoll 3,38f.731).732 Dass in Mk 7,24–30 von einem „Fernexorzismus“ berichtet wird, ist m.E. einzigartig. Die Überwindung der räumlichen Distanz (7,29f.) illustriert darum Jesu besondere Erhabenheit über die Dämonen. 7,24–30 ist ebenso wie 9,14–29 als Steigerung der zuvor erzählten exorzistischen Tätigkeit Jesu zu begreifen. Vor dem Hintergrund einer solchen Machtfülle wäre es nun missverständlich, den implizit thematisierten Glauben der Syrophönizierin oder den explizit benannten Glauben des Vaters als Bedingung für die jeweils nachfolgende
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HOFIUS, Allmacht, 21. So z.B. HURTADO, Binitarian Shape, 187–213. Bestritten wird eine solche Anbetung des Kyrios Jesus in (vor)paulinischer Zeit u.a. von CASEY, Monotheism, 215–233. 731 In diesem Bericht der Vita Apollonii wird die eigentliche Fernheilung gar nicht erzählt, sondern sie soll durch die Übermittlung eines Briefes erfolgen. Die Erzählung eignet sich aber allein schon wegen ihrer späten Entstehung nicht zum Vergleich mit Mk 7. 732 Dass sich 7,24–30 gegen eine einseitige Gattungszuordnung sperrt, erweist sich allein schon anhand des Forschungsdiskurses (vgl. FELDMEIER, Syrophönizierin, 213f.). BULTMANN, Geschichte, 38, nennt die Episode ein Apophthegma, weil „das Wunder nicht um seiner selbst willen erzählt werde“. GNILKA, Evangelium II/1, 291 erkennt hierin ein Lehrgespräch, dass Jesus als Überwundenen (sic!) darstelle. Die Argumentation der Frau ist aber nicht Bedingung für Jesu Heilung. Bereits durch das prw`ton in Jesu Antwort deutet sich dem aufmerksamen Rezipienten an, dass der Protagonist nicht an einem prinzipiellen Vorrang der Juden, sondern lediglich an einem zeitlichen Vorrang festhält (diff. Mt 15,24.26). 730
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Heilung zu verstehen.733 Wenn der Vater in 9,24b paradoxerweise aussagt, dass er glaube und zugleich darum bittet, dass Jesus ihm in seinem Unglauben helfe, so kommt bereits im Gebetsruf sein Zutrauen in die Fähigkeiten Jesu zur Sprache.734 Er verlässt sich in allem, sogar im Hinblick auf das Glaubenkönnen, auf sein Gegenüber und ist gerade hierin Vorbild. Auch die Rezipienten können sich wie der Vater oder die Syrophönizierin ganz auf Jesu Vollmacht verlassen. Beide Erzählungen sind auf ihre Weise als Vergewisserung zu begreifen: als Vergewisserung, dass Juden und Heiden durch denselben Herrn miteinander verbunden sind und als Vergewisserung, dass Jesu Macht den eigenen Zweifel und Unglauben überragt. „Der Vater erfleht die Hilfe Jesu, wie man Gott um Hilfe anruft, und er tut das in dem Wissen, daß er diese Hilfe in gar keiner Weise verdient hat.“735 Während sich die Jünger zusammen mit dem Vater als ungläubiges Geschlecht erweisen (9,19) und dennoch Jesu Hilfe erfahren, kann sich die nachösterliche Gemeinde in ihrem Glauben an Jesus gewiss sein, dass sie errettet und – wider allem Augenschein – von den Fesseln des Satans und seiner Dämonen befreit ist. Erweisen sich die beiden Erzählungen in Mk 7 und Mk 9 damit als transparent, weil sie über die erzählte Zeit hinaus in die Lebenssituation des Rezipienten hinein sprechen, so wird nun verständlich, wie der Leser des Markusevangeliums die Erwiderung der Syrophönizierin in 7,28 auffassen kann und soll. Die Frau vermag wohl selber noch nicht zu begreifen,736 wie zutreffend ihre Anrede Jesu ist. Dass sie Jesus mit kuvrie anspricht, ist zunächst völlig hinreichend als Demutsgeste zu verstehen, die die Rolle der Frau als Bittstellerin unterstreicht und die auch in ihrem Niederwerfen zum Ausdruck kommt. Die Aussage korrespondiert aber andererseits mit dem anfänglich evozierten Figurenschema (1,2f.) und den nachfolgenden Exorzismusberichten. Nur als Herr über die Dämonen kann Jesus der Frau und ihrer Tochter helfen. Und gerade so erweist er sich nicht nur Juden, sondern auch Heiden gegenüber als barmherzig. Er ist – gemäß der frühchristlichen Vorstellungswelt – Herr über jene Gemeinde, die aus Juden und Heiden besteht.737
733 So GUTTENBERGER, Gottesvorstellung, 275, die in der Einführung des Glaubensmotivs „eine anthropologische Wende in der Frage nach dem Bösen“ erkennen will.. 734 Der Vater wird im gesamten Erzählverlauf keineswegs als Zweifler oder Ungläubiger porträtiert. Seine Bitte in V. 22b wird durch die Worte ei[ ti duvnhæ nicht relativiert (so z.B. SCHENKE, Literarische Eigenart, 222), sondern erfährt – insofern ti als adverbialer Akkusativ zu verstehen ist (mit HOFIUS, Allmacht, 9–12) – einen starken Nachdruck: „Nun aber, wenn es Dir irgend möglich ist [...].“ 735 HOFIUS, Allmacht, 19 (Hervorhebung J. R.). 736 Anders GUTTENBERGER, Gottesvorstellung, 275, die in der richtigen Erkenntnis der Frau zugleich eine Bedingung für die nachfolgende Heilung sieht. 737 Das gemeinsame Bekenntnis zu Jesu als dem kuvrio~ besitzt nach frühchristlicher Überzeugung gerade eine integrative Kraft (vgl. Röm 10,9.12; 1Kor 12,2f.).
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
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Die Barmherzigkeit des Kyrios wird auch durch die beiden Speisungswunder auf jüdischem (6,30–44) und heidnischem Gebiet (8,1–9) illustriert, die allein schon wegen der offensichtlichen Wiederholung und der neuerlichen Reflexion in 8,17–21 große Aufmerksamkeit auf sich ziehen und Jesus als Herrn über den Mangel ausweisen. Ebenso wie die Exorzismen durch 3,22– 27 eine erzählerische Reflexion erhalten und hierdurch zugleich das Augenmerk auf Jesu Identität gerichtet wird, so dienen der Erzählerkommentar in 6,52 und die Anklage Jesu im Boot (8,17–21) dazu, die Relevanz der vorangehenden Speisungswunder für den Rezipienten zu verdeutlichen. Der Erzähler und Jesus werfen den Jüngern Unverständnis und Verstockung vor, weil sie aus der Speisung der Fünftausend und Viertausend nicht die richtige Schlussfolgerung gezogen haben und sich in der Gegenwart ihres Herrn weiterhin Sorgen machen. Aber was hätten die Jünger und mit ihnen die Rezipienten in 6,45–52 und 8,1–9 erkennen müssen? Welches Zeichen ist dem Leser gegeben, dass den religiösen Autoritäten und mit ihnen „diesem Geschlecht“ offenkundig verweigert wird (8,11–13)? Die in 6,30–33 geschilderte Ausgangssituation lässt zunächst erkennen, dass es sich im Zuge des ersten Wunders keineswegs um eine Notsituation handelt. 738 Zwischen Aussendung (6,7–13) und Wiederkunft der Jünger (6,14) hat sich bei Jesus eine große Menge versammelt. Der Andrang und das permanente Kommen und Gehen lassen den Jüngern keinerlei Zeit zum Essen (V. 31). Jesus beschließt daraufhin, an einen einsamen Ort überzusetzen, wobei nicht an eine Fahrt ans Ostufer zu denken ist,739 sondern an eine Fahrt von Bucht zu Bucht. Nur so ist es möglich, dass die Menge dem Boot folgen und aufgrund des kürzeren Landweges vor Jesus und seinen Jüngern am Zielpunkt angelangen kann (V. 33). Dass Jesus beim Anblick der Menge nun ein Erbarmen empfindet, lässt sich nicht auf den Hunger der Menschen beziehen. 738 Aus diesem Grund empfiehlt es sich nicht, die Erzählung einseitig vor dem Hintergrund eines endzeitlich erhofften Nahrungsüberflusses zu lesen. So v.a. DU TOIT, Der abwesende Herr, 64, unter Verweis auf 1Hen 10,18f.; ApcBar syr 29,5f.; Sib 3,744–754; Jes 25,6; 49,10; 51,14; 65,13; Ps 22,27. Warum steht dann zunächst Jesu Lehre im Mittelpunkt? Warum taucht der Begriff des Hungers in der Erzählung nie explizit auf? Warum wird mit dem virtuellen Ereignis gespielt, dass die Menge am Ende des Tages in die umliegenden Höfe und Dörfer ausweichen könnte, um sich dort selber zu versorgen? Das alles spricht gegen einen intendierten Bezug zu dem von du Toit vorgeschlagenen Motiv. Eine dramatische Zuspitzung ist freilich beim zweiten Speisungswunder zu beobachten (s.u.). Allerdings scheint diese Dramatisierung nicht textextern beeinflusst zu sein, sondern ergibt sich aus dem Anliegen, das erste Speisungswunder noch einmal zu überbieten. Zugleich wird den Jüngern dadurch im Unterschied zu 6,35f. die Möglichkeit eines alternativen Lösungsvorschlags genommen und die Handlung insgesamt gerafft. Auch andere Ereignisse des ersten Wunders werden bewusste ausgelassen, um unnötige Längen zu vermeiden. 739 Gegen HAENCHEN, Weg, 245, der dies v.a. mit der beschriebenen Szenerie einer Ödnis begründet, damit aber ein sehr spezifisches topografisches Wissen bei Autor und Rezipienten voraussetzt.
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Weder legt das zuvor beschriebene Kommen und Gehen der Menschen nahe, dass diese hungrig sind, noch würde vor diesem Hintergrund verständlich, warum Jesus zunächst mit seiner Lehre fortfährt und sich diese ausdrücklich bis zum Abend erstreckt (V. 35). Dass die Menge in Jesu Augen ausgerechnet wie eine Schafherde ohne Hirten erscheint, soll und muss den Rezipienten motivgeschichtlich an Textstellen wie Num 27,17; 1Kön 23,17; 2Chr 18,16; Jer 23,1–4 oder auch Jdt 11,19 erinnern.740 Es ist damit angesprochen, dass dem Volk Israel eine religiöse und politische Autorität fehlt, die dem Willen Gottes entspräche. Vor diesem Hintergrund fügt sich dann auch die Aussage, Jesus habe die Menge vieles gelehrt (V. 34), nahtlos ein. Der markinische Protagonist übernimmt die Rolle jener Lehrautorität, die dem Volk offenkundig fehlt. Er stillt jenen geistlichen und damit tieferen Hunger, den das Volk verspürt (vgl. 1,22). Aber welche Identität ist Jesus damit zuzusprechen? Immer wieder wird Jesus aufgrund des Hirtenmotivs als prophetische Gestalt gesehen. Jesus erscheine als der von Gott eingesetzte und dem Willen Gottes folgende Hirte. So schreibt etwa Rudolf Pesch: „Jesus soll also als der ‚neue‘ Mose vorgestellt werden, als der eschatologische Prophet, in dem Gottes Hirtenfürsorge für Israel (Gen 48,15; Jes 40,11; Jer 31,10; Ps 23,1–4 u.a.) präsent wird.“741
Diese Interpretation stünde jedoch in deutlicher Spannung zu den nachfolgenden Erzählungen in 7,1–23 und 9,1–7, also jenen Texten, in denen Jesus von Mose unterschieden und diesem in seiner Autorität überstellt wird. Ein solches Verständnis überrascht umso mehr, als durch die unmittelbar vorangehende Disqualifizierung des Herodes und seines Standpunktes zugleich jener Position widersprochen wurde, dass Jesus einer der endzeitlichen Propheten sei (6,14–16). Umgekehrt enthält der Bericht vom ersten Speisungswunder mindestens drei Indizien, die Jesus mit Gott, als dem einen zuverlässigen und barmherzigen Hirten Israels, in Verbindung bringen. Zu nennen sind hier a. die unerwartete und kontrastive Erwähnung des grünen Grases in V. 49, die den Rezipienten an Ps 23 erinnert; b. die Parallelen zum alttestamentlichen Mannawunder und damit zur Fürsorge Gottes in der Wüste; und c. die explizite und erzählerisch inszenierte Hervorhebung des Erbarmens Jesu. a. Anspielung auf Ps 23: Im Anschluss an Jesu Lehre weisen die Jünger ihren Herrn zunächst auf die umgebende Ödnis hin und schlagen nicht zuletzt aufgrund dieser räumlichen Begebenheit vor, die Menschen in die umliegenden Höfe und Ortschaften zu entlassen (V. 36), wo sie versorgt werden könnten. Da die Jünger sodann Jesu Aufforderung, die Menge selber zu versorgen, 740 Die Häufigkeit, in der diese Formulierung verwendet wird, könnte darüber hinaus für eine feststehende Wendung sprechen, die den Rezipienten auch außerhalb der genannten literarischen Kontexte bekannt war. 741 PESCH, Markusevangelium II/1, 350. Ähnlich DU TOIT, Der abwesende Herr, 64.140.
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
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nicht recht verstehen, weil sie Jesu Vollmacht abermals unterschätzen und mit dem Vorschlag des Brotkaufs nach einer allzu profanen Lösung suchen, befiehlt ihnen ihr Herr jedoch, die vorhandenen Vorräte zusammenzutragen und das Volk auf dem grünen Gras (V. 39: ejpi; tw`æ clwrw`æ covrtw/) zu lagern. Diese detaillierte Beschreibung des Settings sticht im Lektüreprozess hervor. Das Markusevangelium zeichnet sich sonst durch eine vergleichsweise geringe Detailliertheit der Raumdarstellung aus. Warum wird nun ausgerechnet dieses Details erwähnt? Außerdem erkennt der Leser einen Kontrast zum vorher geschilderten Setting. Auch wenn man zwischen der zuvor beschriebenen Ödnis und dem hier geschilderten Grün keinen prinzipiellen Widerspruch erkennen muss, weil es die Topografie des Galiläischen Sees durchaus zulässt, dass sich Ödnis und fruchtbarer Boden in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander befinden,742 so ändert dies nichts an dem eigentlichen Kontrastbild. Aufgrund des zuvor evozierten Hirtenbildes und seines religiösen und literarischen Vorwissens wird der intendierte Rezipient die Erwähnung des grünen Grases am See als eine Anspielung auf Ps 23,1f. verstehen. Gott, der Herr, ist es, der als Hirte seine Schafe auf der grünen Aue weidet. Indem nun Jesus das Volk auf grünem Gras weidet, soll er offenkundig in der Rolle ebendieses Herrn erscheinen. 743 Ebenfalls möglich wäre es zwar, die Erwähnung des Grüns als allgemeinen Hinweis auf die Endzeit zu verstehen, aber das zuvor evozierte Bild eines Hirten und einer Schafherde lenkt m.E. die Erwartung der Rezipienten in eine zu konkrete Richtung.744 Gänzlich abwegig ist es, dass das grüne Gras lediglich „die Buntheit und Fröhlichkeit des Mahles“745 unterstreichen soll. Für diese Begriffskonnotation fehlt jeglicher Beleg und der Rezipient wird an keiner Stelle veranlasst, über die Gefühle der Mahlteilnehmer zu reflektieren. b. Anspielungen auf das Mannawunder: Dass das Volk in der Wüste bzw. Einöde Mangel erleidet und in auswegloser Lage von Gott versorgt und verpflegt wird, greift auf das alttestamentlich bezeugte Mannawunder zurück (Ex 16; Num 11,4–9; LXX Ps 77,23–29). Hierher gehört auch die Beobachtung, dass die Tischgemeinschaften zu hundert und zu fünfzig an die alte
742
Trotzdem reicht es nicht, diese Angabe schlichtweg als historische Reminiszenz und als Hinweis auf die Passazeit zu begreifen (so z.B. SCHMIDT, Rahmen, 191; SCHNACKENBURG, Evangelium, 160), weil damit die erzählerische Betonung, die diese Information aus dem Erzählverlauf heraus erfährt, zu wenig beachtet wird. 743 Unverständlich ist mir, warum DU TOIT, Der abwesender Herr, 140, diese Anspielung ebenfalls betont und dennoch an einer Identifizierung zwischen Jesus und Mose festhält: „Die Implikation ist: Jesus ist einer wie Mose, ein Hirte des Volkes. Die Anspielung auf Ps 23,1f. zeichnet Jesus als Repräsentanten Gottes, des eigentlichen Hirten der Menschen (vgl. auch Ez 34,41).“ 744 Ähnlich KERTELGE, Wunder, 134; VAN IERSEL, Markus, 188. 745 GNILKA, Evangelium II/1, 260.
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
Lagerordnung in der Wüste (Ex 18,21.25; Num 31,14) erinnert.746 Der geraffte Bericht des eigentlichen Wunders in V. 42 (kai; e[favgon pavnte~ kai; ejcortavsqhsan) verweist als leicht abgewandeltes Zitat ebenfalls auf LXX Ps 77,29747 und deutet das Geschehnis damit abschließend vor dem Hintergrund des alttestamentlichen Mannawunders. Während in der Wüste einst Gott selber das Volk versorgte, ist es im markinischen Bericht nun Jesus, der die Vorräte der Jünger verwendet und auf eindrückliche Weise vermehrt, so dass am Ende selbst die Reste die kärgliche Ration vom Anfang übertreffen. Dass Jesus die fünf Brote nimmt, zum Himmel blickt, den Lobpreis spricht und die Brote bricht, entspricht ganz der jüdischen und wohl auch frühchristlichen Liturgie des Gemeinschaftsmahles (= liturgisches Skript). Es verweist aber zugleich darauf, dass Gott im Wirken Jesu eigentlicher Urheber des Wunders bleibt. Zugleich erscheint Jesus – gerade im Unterschied zu Mose – nicht allein als Gesandter. Vielmehr ist er es, der in seiner Vollmacht den Jüngern befiehlt, so dass diese der Menge zu essen geben und die Reste am Ende einsammeln. Man wird das Speisungswunder daher weder als Werk eines einfachen Wundertäters missverstehen dürfen – Gott selber ist am Werk –, noch sollte aufgrund der illustrierten Gottesbeziehung die Rolle Jesu relativiert werden. Wenngleich Gott als Urheber des Wunders erscheint, bleibt der Fokus hier und im weiteren Erzählverlauf auf der Person Jesu und seinem Wesen (vgl. 6,49b.50b–51; 8,17–21). c. Erbarmen des Kyrios: Dass Jesu Wirken und Gottes Wirken parallelisiert werden, ergibt sich letztlich auch aus der auffälligen Betonung der Barmherzigkeit Jesu. Während die Gefühle Jesu im Markusevangelium zumeist nur indirekt zu erschließen sind (vgl. 4.3.1c), wird bereits mit V. 34 explizit ausgesagt, dass Jesus beim Anblick der Menschenmenge Barmherzigkeit empfunden habe. Zugleich wird dieses Erbarmen durch den nachfolgenden o{tiSatz mit dem Hirtenbild verknüpft (kai; ejsplagcnivsqh ejpÆ aujtouv~, o{ti h\san wJ~ provbata mh; e[conta poimevna). Dient das Erbarmen im Alten Testament vorrangig der Charakterisierung Gottes,748 so ist damit der wesentliche Verstehenshintergrund für dieses erzählerische Detail gegeben. Auch im Fortgang der Episode wird Jesu Erbarmen illustriert. Während die Jünger die 746
Diese Ordnung findet auch außerhalb des Neuen Testaments eine häufige Erwähnung im Zusammenhang mit endzeitlichen Vorstellungen: vgl. CD 13,1f.; 1QS 2,21f.; 1QM 3,13–4,4; 1QSa 2,11–22; vgl. auch 1Makk 3,55. Zugleich müssen aber auch die Differenzen, die gerade im Unterschied zu einem Text wie 1QSa 2,11–22 hervorstechen, im Blick bleiben. Richtet sich die Tischordnung dort nach der Würde der einzelnen Tischgäste, so ist hiervon bei Markus gerade nichts zu lesen. 747 Kai; e[fagosan kai; ejneplhvsqhsan sfovdra. Die Einfügung von pavnte~ hebt wohl den Mangel und damit indirekt die Größe des Wunders hervor. 748 Vgl. BULTMANN, Art. e[leo~, 475–479; BULTMANN, Theologie, 280–285, bes. 283; STAUDINGER, Art. e[leo~, 1046–1052, und dazu beispielhaft Gen 32,9–12; Ps 23,6; 103,3f.8; Jon 4,11. Vgl. auch TestSeb 8,1f.; TestAbr 12.
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
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Absicht haben, die Menge am Abend zu entlassen, damit sich die Menschen selbst versorgen können, erweist sich Jesus nicht zuletzt im Speisungswunder als fürsorglich. In der Situation des Mangels lässt er die Schafe nicht allein, sondern versorgt diese. Das Wunder dient nicht der Selbstinszenierung,749 sondern resultiert aus Jesu Selbstverständnis. Während die Erzählung in 6,34 auf Jesus fokalisiert ist und der Rezipient durch die gewährte Innensicht von dessen Erbarmen erfährt, bedient sich der Erzähler in 8,2 der direkten Figurenrede: „Erbarmen habe ich mit dem Volk (splagcnivzomai ejpi; to;n o[clon), denn schon drei Tage harren sie bei mir aus und nichts haben sie zu essen.“ Auch beim zweiten Speisungswunder wird Jesu Erbarmen also bereits zu Beginn betont.750 Im Vergleich zum ersten Speisungswunder lässt die weiterführende Äußerung zugleich erkennen, dass nun von einer dramatisch zugespitzten Notsituation erzählt wird. Wurde in Mk 6 ein Zeitraum von einem Tag vorausgesetzt, so ist nun von drei Tagen (hJmevrai trei`~751) die Rede, die die Menge bei Jesus ausgeharrt hat, um seiner Lehre zuzuhören.752 Durch den nachgelieferten Hinweis (V. 3), dass die Menschen gar nicht mehr entlassen werden können, weil sie sonst „auf dem Weg [ihrem Hunger] erlägen“ (ejkluqhvsontai ejn th`æ oJdw`æ), wird die Schwere der Not nochmals unterstrichen.753 Der Rezipient wird aufgrund der geschilderten Situation darauf schließen, dass nur ein neuerliches Speisungswunder eine Lösung der Not bewirken kann. Und er wird aufgrund des ersten Speisungswunders auch mit einem solchen Eingreifen Jesu rechnen und dies für wahrscheinlich halten. Im Kontrast hierzu lässt die Antwort der Jünger einen kaum noch begreiflichen Unglauben erkennen. Ihre Frage, wie jemand diese Menge in der Wüste sättigen könne, offenbart aber nicht nur ihr eigenes Unverständ749
Jesu ursprüngliches Ziel bestand gerade darin, sich dem Volk zu entziehen (V. 32). Ein Gedanke, der durch die Überleitung in V. 45f. wieder aufgegriffen wird, da Jesus nun in aller Eile seine Jünger vorausschickt und seinerseits die Menge entlässt, um sich auf den Berg zurückzuziehen. Jesus sucht also keineswegs eine Verehrung aufgrund seiner Wundertaten, sondern das Wunder erscheint – wie auch sonst – als notwendiger Dienst an den Menschen (10,42–45). 750 Diese Betonung wird durch die Platzierung von splagcnivzomai am Satzanfang bzw. am Anfang von Jesu Monolog (V.1–3) sogar noch verstärkt. 751 Dieser Semitismus ist bei Markus singulär, wird aber von den intendierten Rezipienten kaum als solcher erkannt worden sein. Im Unterschied zu 16,1f. ist die Zeitspanne von drei Tagen aber kaum als Hinweis auf Gottes Eingreifen am dritten Tag zu verstehen. 752 Wenngleich der Grund für das Verweilen nicht explizit genannt wird, leitet sich dieser aus der Parallelität zu 6,30–43 und dem zuvor evozierten Bild Jesu ab. Man wird die Nichterwähnung der Lehre jedenfalls nicht überbewerten dürfen. Auch sonst lässt der Bericht einige Informationen aus, die der Rezipient aufgrund des vorherigen Speisungswunders aber mühelos ergänzen kann: die genaue Lagerordnung der Menge, Jesu Aufblick zum Himmel, das Aufsammeln der Brocken durch die Jünger (vgl. demgegenüber 8,19f.). 753 Zugleich wird durch die weite Anreise verdeutlicht, dass sich die Kunde von Jesus immer weiter verbreitet und vielerorts Gehör findet (vgl. 1,28; 3,7 u.ö.).
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
nis, sondern erfüllt zugleich eine pragmatische Funktion. Das Augenmerk wird hierdurch auf die Einzigkeit Jesu gerichtet und darauf, dass das nachfolgende Wunder abermals Auskunft über seine Identität geben wird. Wer könnte eine so große Menge in der Wüste versorgen? Im Alten Testament ist dies allein von Gott aussagbar. Und tatsächlich wird auch hier durch die Verortung des Geschehens in der „Wüste“ sowie den gerafften Bericht in 8,8 (vgl. LXX Ps 77) auf das Mannawunder Gottes zurückverwiesen. Gott allein bzw. Gott in der Gestalt Jesu ist dazu fähig, die geschilderte Not zu überwinden und den Mangel in Überfluss zu verwandeln. Ob die Anzahl der sieben Brote und der sieben Körbe eine symbolische Bedeutung hat und auf das heidnische Setting verweist,754 mag an dieser Stelle dahingestellt bleiben. Es würde sich jedoch in die bereits beobachtete Strategie, dass Markus seinen Rezipienten mit Hilfe kleiner Details eine geographische Orientierungsmöglichkeit bietet, einfügen. Nach Jesu sonderlichem Reiseweg über Tyrus und Sidon in das heidnische Zehnstädtegebiet kehren die Jünger in 8,1 zu ihrem Herrn zurück, um Zeugen des neuerlichen Speisewunders zu werden. Das Erzählte hat seine inhaltliche Voraussetzung in 7,27–30, d.h. im Dialog zwischen Jesus und der Syrophönizierin und der hiermit begründeten Heilsgemeinschaft zwischen Juden und Heiden. Wurde Jesus bereits dort als kuvrio~ angesprochen, ohne dass sich die Frau der wirklichen Bedeutung ihrer Anrede bewusst gewesen wäre (s.o.), so erscheint Jesus nun in 8,1–9 als ebendieser Herr unter den Heiden. Mit dem Kommen Gottes in der Endzeit verbindet sich auch der Gedanke der Krankenheilung und der Totenauferweckung (Jes 35,5f.; 42,7; 61,1; 4Q 521; Jub 23,29f.; 1Hen 25,5–7755; ApcBar syr 29,7; vgl. Mt 11,5; Lk 7,22).756 Ganz konkret wurde innerhalb des Judentums erwartet, dass in der Endzeit Blinde sehen (Jes 29,18f.; 35,5f.; 42,6f.18; 61,1f.; Ps 146,8; 4Q 521), Taube hören (Jes 29,18a; 35,5b; 42,18), Stumme reden (Jes 35,6a), Lahme gehen (Jes 35,6a), Aussätzige rein werden (WaR 16,116d zu Lev 14,5) und Tote
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So bereits SUNDWALL, Zusammensetzung, 50, der zugleich eine Anspielung auf die sieben Diakone in Apg 6,5 erkennen will. SCHMIDT, Wege, 242, weist daraufhin, dass der Überfluss beim ersten Wunder größer gewesen sei als beim zweiten und die erwähnten Zahlen genau dies vor Augen stellen sollen. 755 Vgl. auch 1Hen 5,8f.; 96,3. 756 Im rabbinischen Schrifttum kann dann zwar betont werden, dass diese Wunder an jene Zeichen zur Zeit des Mose, des Elia, Elisa und Ezekiel erinnern, aber auch hierbei bleibt stets im Blick, dass Gott es ist, der ebendiese Wunder wirkt: „Wenn dir ein Mensch sagen sollte, dass Gott einst uns als Tote neu beleben werde, so sprich zu ihm: Das ist schon der Fall gewesen, es ist durch Elia, Elisa und Ezechiel geschehen. [...] Alles, was Gott einst tun wird und in dieser Welt neu machen wird, hat er schon vorangehen lassen und hat es zum Teil schon durch seine Propheten, seine Gerechten in dieser Welt getan“ (MHG Wa 27; vgl. MHG Ber 77; Midr Qoh 3,15; LeqT 76).
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
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auferweckt werden (Jes 26,19; Dan 12,2; 4Q 521; vgl. auch Mk 12,18757).758 Hierbei besteht ein enger Zusammenhang zwischen den beschriebenen Krankheitsbildern und dem Gedanken der Totenauferweckung, insofern der Zustand der Blindheit, Lahmheit, Aussätzigkeit oder auch Kinderlosigkeit dem des Todes gleichgestellt werden konnte (bNed 64759; vgl. Num 12,12; Ps 86,13; 2Kön 5,7; Hi 18,13; Jos. Ant. 3,261–264; bSan 47a). Wird von Gott erwartet, dass er in der Endzeit diese Krankheiten heilt und Menschen somit ins Leben zurückruft und allumfassend erlöst,760 so ist damit der wesentliche Hintergrund zum Verständnis der markinischen Heilungsberichte gegeben. In Analogie zu dieser endzeitlichen Erwartung heilt auch Jesus zwei Blinde (Mk 8,22–26; 10,46–52), einen Tauben und „Stummen“761 (7,31–37), einen Lahmen (2,1–12), einen Aussätzigen und eine Unreine (1,40–45; 5,24–34) und erweckt eine Tote zum Leben (5,21–24a.35–43).762 Bereits die Auswahl dieser Wunder lässt eine eingehende Reflektion erkennen und lässt die Berichte als zeichenhafte Taten erscheinen. An der Wiederholung einer Krankenheilung ist Markus – im Unterschied zu den vielzähligen Dämonenaustreibungen – nicht interessiert.763 Eine Näherbetrachtung der
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Wenngleich der Text demonstriert, dass die endzeitliche Hoffnung auf eine Totenauferweckung keineswegs für alle jüdischen Gruppierungen geltend zu machen ist, so lässt er doch auf eine Kenntnis dieser Vorstellung im gesamten Judentum rückschließen. Vgl. ferner Lk 20,35; Apg 4,2; 23,6; 24,15.21; 1Kor 15,20 [Jesus als Erstling] u. Hos 6,2 in der Interpretation von PsSal 3,10.12. 758 Die ebenfalls häufig bezeugte Befreiung aus der Gefangenschaft und aus der Unterdrückung fremder Völker (Jes 42,7; 43,16–21; 44,22; Hos 2,16f.; 11,11 [neuer Exodus]; 4Q521) wird im Markusevangelium auf die dämonische Besessenheit von Menschen bezogen (vgl. 3,27; 5,3f.). Demgegenüber ist bei Paulus ein abstrakteres, überindividuelles Verständnis von Befreiung zu erkennen, das in der Vorstellung einer Neuschöpfung gipfeln kann (2Kor 5,17). 759 „Vier werden einem Toten gleichgestellt: der Lahme, der Blinde, der Aussätzige und der Kinderlose.“ 760 Sehr zutreffend resümiert Jürgen Becker: „Von Endzeitgestalten des Frühjudentums werden ausnahmslos keine Heilungen erwartet. Es ist vielmehr Gottes endzeitliche Offenbarung selbst, die auch Krankheit und Tod verschwinden lässt“ (BECKER, Jesus, 137). 761 Vgl. zum genauen Krankheitsbild meine Analyse unten. 762 In 5,24–34 könnte zudem der Aspekt der Kinderlosigkeit anklingen, weil der zwölfjährige Blutfluss der Frau zugleich auf eine Unfähigkeit zur Fortpflanzung rückschließen lässt und in der Rahmenerzählung keineswegs zufällig auf das Alter der Tochter des Jairus hingewiesen wird (5,42). Ohne ihre Krankheit könnte die Frau ebenfalls ein Kind in diesem Alter haben. Die Heilung der Schwiegermutter des Petrus (1,29–31) und die Heilung 763 Die Wiederholung einer Blindenheilung leitet sich wohl aus einem doppelten Interesse ab. Kompositorisch rahmen die Berichte in 8,22–26 und 10,46–52 die Belehrungen der Jünger in 8,27–10,45 (vgl. ECKSTEIN, Glaube und Sehen, 99) und betonen so die Diskrepanz zwischen einem rein physischen Sehen und der geistlichen Erkenntnis Jesu (vgl. 4,12; 8,18). Zugleich besitzen die Blindenheilungen damit eine pragmatische Funktion,
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
einzelnen Episoden verdeutlicht, dass sich nicht nur thematische Parallelen zum endzeitlichen Wirken Gottes erkennen lassen, sondern dass sich wiederum über konkrete Figurenmerkmale eine Parallelisierung mit dem alttestamentlichen Kyrios erkennen lässt. Beginnen wir unsere Betrachtung mit dem einzigen Auferweckungsbericht (5,21–23.35–43), wobei ich an dieser Stelle die kunstvolle Verschachtelung mit 5,24–34 weitgehend außer Acht lasse764 und mich v.a. auf den zweiten Teil der Erzählung konzentriere (5,35–43). Es sei an dieser Stelle lediglich daran erinnert, dass es aus Sicht der Rezipienten überraschend wirken muss, dass sich mit Jairus ausgerechnet einer aus der Gruppe der religiösen Autoritäten hilfesuchend an Jesus wendet. Zugleich wirkt sich die Einfügung des Heilungsberichtes (5,24–33) spannungssteigernd aus, weil der Rezipient angesichts der Verzögerung mit einem Tod der Tochter rechnen muss. Mit ebendieser Todesnachricht wird dann auch der vorherige Handlungsstrang (V. 21–24a) wieder aufgegriffen (V. 35). Noch während Jesus zu der Geheilten redet (e[ti aujtou` lalou`nto~), treten die Diener765 des Synagogenvorstehers in Erscheinung und teilen diesem mit, dass sein Töchterlein verstorben sei. Angesichts der traurigen Botschaft erscheint es im wahrsten Sinne des Wortes „menschlich“, dass Jesus als Lehrer (didavskalo~) entlassen werden soll. Seine Hilfe kommt zu spät. Zugleich lässt die entsprechende Aufforderung der Diener erkennen, dass sie von Jesus keine Auferweckung einer Toten erwarten und die bisher evozierte Personenvorstellung nicht teilen. Der Rezipient, der von Anfang an in Jesus den Kyrios erkennt, kann mit einem solchen Wunder hingegen rechnen, wird ein „sad end“ aber für ebenso wahrscheinlich halten. Der Zweifel und Unglaube der Diener soll den Vater hingegen gar nicht erst erreichen. Deshalb werden ihre Worte von Jesus „überweil die Rezipienten des Evangeliums durch sie für das Geheimnis der Gottesherrschaft und für die Identität Jesu sehend werden sollen. 764 Gemäß der oben beschriebenen frühjüdischen Logik betont Markus einen engen Zusammenhang zwischen dem physischen Tod des Mädchens und dem sozialen Tod der Frau betont. Gerade deshalb werden beide Episoden miteinander verknüpft. Die blutflüssige Frau und Jairus erscheinen aufgrund mehrerer Merkmale als Kontrastfiguren, wobei nicht alle dieser Merkmale explizit thematisiert werden, sondern vom Rezipienten zu erschließen sind: (1) religiöse Stellung (unrein [V. 25]/rein); (2) sozialer Status (verarmt [V. 26]/wohlhabend [V. 22; V. 35]); (3) familiäre Situation (kinderlos/eine Tochter]); (4) räumliche Bewegung (Annäherung von hinten [V. 27]/von vorne [V. 22]); (5) Geschlecht (Frau/Mann); (6) gemeinsamer Standpunkt/ Glaube („Jesus macht gesund/rettet“ [V. 27f.34/V. 23.36]). Zudem bleibt die Frau anonym, während Jairus eine der wenigen Episodenfiguren im Markusevangelium ist, die einen Namen erhält. 765 Die Formulierung ajpo; tou` ajrcisunagwvgou lässt zunächst offen, in welchem Verhältnis Jairus und die Dazustoßenden stehen, aber der Kontext (sozialer Status) und das textexterne Wissen des Rezipienten legen eine Deutung im Sinne von „Dienern“ nahe. Eher unwahrscheinlich ist es demgegenüber, dass es sich lediglich um Bekannte oder Freunde handelt (so z.B. SCHENKE, Literarisch Eigenart, 151).
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
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hört“ (parakouvein766), obwohl sie gar nicht an ihn, sondern an den Vater gerichtet waren. Jesus stellt sich schützend vor Jairus. Statt sich auf die Perspektive der Diener einzulassen und dem Synagogenvorsteher irgendeine Möglichkeit zum Handeln zu gewähren, richtet sich Jesus mit der göttlichen Offenbarungsformel an Jairus (vgl. 6,50) und spricht ihm gerade so Mut zu, angesichts der aussichtslos erscheinenden Lage weiterhin an ihn 767 zu glauben. Der Vater kann auch angesichts der Todesnachricht zuversichtlich bleiben, weil Jesus dieser Wirklichkeitswahrnehmung seine eigene Weltsicht entgegenstellt. Die Diskrepanz zwischen der menschlichen Weltsicht und der göttlichen Wirklichkeitswahrnehmung Jesu bleibt auch über den weiteren Erzählverlauf erhalten und sie ist für das Verständnis der Episode grundlegend.768 Am Haus angekommen, wird Jesus mit dem Klagegeschrei der Angehörigen und Nachbarn konfrontiert. Auch ihre Trauer, die die erwartbare Reaktion auf den Tod des Mädchens darstellt, weist er zurück. Seine Frage, „Warum lärmt und weint ihr?“, sowie die entgegengestellte Weltsicht, dass das Mädchen lediglich schlafe, lassen der Trauer und dem Unglauben erneut keinerlei Raum. Zugleich nimmt Jesus mit seiner Rede die Perspektive Gottes 766
So die schwierigere und zugleich gut bezeugte und daher als ursprünglich zu erachtende Lesart (*א.2b B L W D 892*). Dass das Verb lediglich im Sinne eines beiläufigen Mithörens zu übersetzen ist, was sich aus der beschriebenen Redesituation (V. 35) ableite (so KRETZER, Art. parakouvw), ist unwahrscheinlich. Einerseits ist dies zu anthropomorph gedacht, als wäre Jesu Wahrnehmungsfähigkeit aufgrund parallel verlaufender Gesprächsgänge eingeschränkt. Andererseits erscheint dies auch aufgrund der Textgenese, d.h. der ursprünglich separaten Überlieferung von 5,21–23.35–43* und 5,24–34* unwahrscheinlich. Dann müsste es sich schon um eine reflektierte redaktionelle Anpassung handeln. Aber warum sollte ein Redaktor auf solch ein Detail achten? 767 Dass der Glaube auch hier primär die personale Beziehung bezeichnet, ergibt sich aus der zuvor erzählten Hinwendung des Jairus sowie dessen Zutrauen in Jesu Fähigkeiten (V. 22f.) und gerade aufgrund der vorangestellten Offenbarungsformel. Weil Gott selber in der Gestalt Jesu vor Jairus steht, hat dieser allen Grund an seinem Glauben festzuhalten. Aus dem selben Grund ist der Glaubensimperativ (movnon pivsteue) primär als Zuspruch und performative Rede zu verstehen. Es greift also zu kurz im Glauben des Jairus eine „Bedingung für das folgende Wunder“ (SCHENKE, Literarische Eigenart, 151) zu erkennen. Entsprechend wird auch gar keine Reaktion oder gar Antwort des Jairus berichtet, sondern Jesus selber setzt seinen Weg fort und erweist sich als eigentlicher Akteur und Wegbereiter. Dann lässt sich aber auch die Auswahl der Begleiter (Petrus, Jakobus, Johannes) nicht mit deren Glaubensstärke begründen (so SCHENKE, Literarische Eigenart, 151). 768 Dieses Aufeinandertreffen zweier Weltsichten spiegelt sich in der räumlichen Struktur der Erzählung wider. Der Weg Jesu, der vom See zum Haus und dann ins Zimmer des Mädchens führt, wird immer wieder unterbrochen (5,24b–34; 5,35; 5,38–40). Jesus überwindet jedoch all diese Grenzen und bahnt sich seinen Weg bis zur Tochter, die er auferweckt. Hierher gehört auch die Beobachtung, dass Jesus selbst im fremden Haus – und noch dazu im Haus einer Autoritätsperson – sämtliche Weisungen gibt und sogar die Trauergäste fortschickt.
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ein. „Nur für Gott ist der Tod nicht Tod, sondern ein Schlaf.“769 Gott allein hat die Macht, Tote aufzuerwecken (bTaan 2a; 4Q 521) und wird gerade deshalb als Gott der Lebenden verehrt (vgl. Mk 12,27). Deshalb ist es auch ausgeschlossen, Jesu Rede im Sinne eines Euphemismus zu interpretieren.770 Nach menschlichem Ermessen ist das Mädchen tot. Allein vor Gott ist der Tod wie ein Schlaf. Auch in der Kammer des Mädchens agiert Jesus weiterhin gemäß seiner zuvor artikulierten Sicht, dass das Mädchen lediglich schlafe und keinesfalls tot sei. Er reicht ihr die Hand771 und heißt sie aufzustehen (to; koravsion [...] ejgeivrein772). Die Verwendung des aramäischen taliqa koum soll dabei nicht als rJh`si~ barbarikhv bzw. Zauberspruch erscheinen. „Die Worte werden übersetzt, dass ihr Sinn verstehbar wird, und werden so zu Worten des täglichen Lebens.“ 773 Gerade als alltägliche Worte unterstreichen sie jedoch die Vollmacht Jesu, weil dieser nicht primär die Wirklichkeit des Todes überwinden muss, sondern die Wirklichkeit des Todes vor ihm gar keinen Bestand hat. Für ihn ist der Tod tatsächlich nur ein Schlaf, aus dem er das Mädchen erwecken kann. Jesu Kraft wird unterstrichen, indem das Mädchen unverzüglich aufsteht und im Raum umherwandelt, als wäre sie nie tot gewesen.774 Das Entsetzen der Zeugen ist ein stilgemäßer Ausdruck dafür, dass sich in der geschehenen Totenauferweckung Gott offenbart hat.775 Jesus wird von Markus als Herr über den Tod inszeniert. Kehren wir von diesem Höhepunkt der Wunderhandlung zum Anfangspunkt zurück und wenden uns mit 1,40–45 der einzige Heilung eines Aussätzigen bei Markus zu.776 Die Episode illustriert, was von Markus zuvor in 769
LOHMEYER, Evangelium, 106. Der Schlaf ist in der hellenistischen und jüdisch-christlichen Literatur durchaus als Euphemismus für den Tod bekannt (vgl. u.a. Dan 12,2; LXX Ps 87,6; 1Thess 5,10; vgl. auch die Belege bei RINGLEBEN, Wahrhaft auferstanden, 198). 771 GNILKA, Evangelium II/1, 218, erkennt hierin eine Anspielung auf die schützende Hand Jahwes (Ps 37,24; vgl. Ps 44,4; Ex 3,20; 7,5; Lk 1,66; Apg 11,21), aber die Parallelitäten erscheinen mir zu gering zu sein. 772 Diese griechische Übersetzung des aramäischen taliqa koum ist auf doppelte Weise deutbar, weil ejgeivrein in seiner Grundbedeutung „vom Schlaf aufwecken“ bedeuten kann (vgl. 4,38), aber ebenso als terminus technicus für die Totenauferweckung fungiert (vgl. 6,14.16). Markus erhält hierdurch die Spannung, die sich durch die unterschiedlichen Weltsichten ergibt aufrecht. 773 LOHMEYER, Evangelium, 107; so auch GNILKA, Evangelium II/1, 218. 774 Jesu Befehl an die Eltern (V. 43b), dem Mädchen etwas zu essen zu geben, knüpft hieran an. Zugleich wird hierdurch einer Deutung des Geschehens als Geisterscheinung widersprochen (mit GNILKA, Evangelium II/1 218). Ein Gespenst könnte die Nahrung nicht aufnehmen. 775 Die Formulierung ejxevsthsan ejkstavsei megavlhæ ahmt offensichtlich den hebräischen Infinitivus absolutus nach (vgl. BDR § 198,6). 776 Durch das Wortfeld der Reinheit bzw. Unreinheit ist die Episode zugleich thematisch verwandt mit 5,24b–34. 770
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geraffter Form erzählt wurde (1,34). War dort allgemein von „vielen Krankheiten“ und „vielfachen Erkrankungen“ die Rede, die Jesus in Kapernaum geheilt habe, so wird nun exemplarisch von der Heilung eines an Aussatz Erkrankten (levpra)777 berichtet. Der Ort des Geschehens wird nicht näher beschrieben, ist aber wohl aufgrund von 1,39 und der weiteren Textinformationen in einer Synagoge in Galiläa zu verorten. Im Vorfeld der eigentlichen Analyse sind zwei textkritische Probleme zu diskutieren. Die Anrede kuvrie, die in wenigen Handschriften für V. 40 bezeugt wird (C W Q it), ist durch Mt 8,2 par beeinflusst und daher sekundär. Zugleich verrät diese Ergänzung bei den beiden anderen Synoptikern, vor welchem Verstehenshintergrund die Erzählung von Anfang an gedeutet wurde. Insofern es nach jüdischem Verständnis Gott vorbehalten ist, Menschen von Aussatz zu befreien (Num 12,10–12; 2Kön 5,7; Jos. Ant. 3,264; bSanh 47a), weil die Krankheit zumeist als sein Strafhandeln verstanden wird (2Chr 26,16–23; 2Kön 5,19–27),778 soll das Wunder ein Hinweis auf Gottes Heilswirken durch den Kyrios Jesus sein. Hierauf verweist auch das zweite textkritische Problem. Mit der Mehrheit der Textzeugen ist in V. 41 zu lesen, dass sich Jesus angesichts der Begegnung und der eindrücklich vorgetragenen Bitte um Heilung, die den Glauben des Aussätzigen bekundet, erbarmte (splagcnivzomai, vgl. Mk 6,34; 8,2; 9,22). Mit diesem Erbarmen wird – wie auch sonst im Markusevangelium (vgl. 4.3.1c) – auf jenes Gefühl angespielt, das Gott gegenüber seinem Volk oder Einzelpersonen einnimmt und das in besonderer Weise sein endzeitliches Kommen kennzeichnet. Wenn einige Handschriften an dieser Stelle bezeugen, dass sich Jesus erzürnt habe (v.a. D), so stellt dies hingegen eine Anpassung an den weiteren Erzählverlauf und insbesondere an Jesu Drohung (ejmbrimavomai779) und das unverzügliche Fortschicken des Geheilten in V. 43 dar. Da Jesu Zorn aber ansonsten durchgängig den religiösen Autoritäten gilt (vgl. 4.3.1c) und sein Verhältnis zu den Bedürftigen auch sonst von einem göttlichen Erbarmen geprägt ist (explizit: 6,34; 8,2; indirekt: 9,22; 10,47–52), wird man der ersten Lesart den Vorzug zu geben haben.780
777
Das beschriebene Krankheitsbild sollte nicht vorschnell mit der modernen Diagnose „Lepra“ übersetzt werden. Der Begriff levpra kann in der griechischen Literatur demgegenüber eine ganze Bandbreite von leichten Hautveränderungen bis hin zu schwersten Erkrankungen bezeichnen (mit MÜLLER, Nicht nur rein, 225; vgl. hierzu die Differenzierungen bei Isid. etymol. 4,8,11f.). 778 Vgl. zum Aussatz als Ausdruck der gestörten Gottesbeziehung PREUSS, Alttestamentlicher Glaube, 388f. 779 In LXX Klg 2,6 als Ausdruck für den Zorn Gottes. 780 Gegen GNILKA, Evangelium II/1, 92f., der trotz schwacher Bezeugung ojrgisqeiv~ liest. Dass der Rezipient hier an die gestörte Schöpfungsordnung oder an die Erregung eines Wundertäters denken soll, ist unwahrscheinlich.
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
Hiermit korrespondiert, dass Jesus den Aussätzigen ausdrücklich heilen will (qevlw, kaqarivsqhti). Diese Willensbekundung in V. 41 bringt Jesu Vollmacht zum Ausdruck und erinnert zugleich daran, dass jede Wundertat an das göttliche Wollen gebunden bleibt (vgl. Sap 12,18; Ps 115,3; 135,6). Dass der Aussatz sofort weicht und Markus daraus ableitet, dass der Mann rein geworden sei (V. 42), erhebt Jesus gleichermaßen über die Propheten des Alten Testaments (vgl. Num 12,4–6; 2Kön 5,8–14) und über die Jerusalemer Tempelpriester, die die erfolgte Heilung gemäß Lev 14,2–32 (vgl. mNeg 3,1) lediglich beglaubigen können (V. 44). Jesus und Elisa stellen keine Parallel-, sondern bestenfalls Kontrastfiguren dar.781 Während Elisa den Aussatz Naamans gerade nicht dadurch heilt, dass er die Hand über diesen hält (2Kön 5,11), sondern Naaman ein Tauchbad im Jordan nehmen muss (2Kön 5,10), streckt Jesus seine Hand zur Heilung aus782 und heilt den Aussätzigen sodann durch sein wirkmächtiges Wort.783 Ob von einer bewussten Anspielung zu sprechen ist, kann jedoch nicht mit Sicherheit entschieden werden. Das unterschiedliche Setting (Jordan/ Synagoge in Galiläa) und die sonst vergleichsweise geringe Bedeutung des Elisas sprechen tendenziell gegen einen solchen intertextuellen Bezug. Dem Rezipienten dürfte demgegenüber bekannt sein, dass sich die Heilungen des Alten Testaments zumeist nur durch Vermittlung784 ereignen. Eine Frage, die viele Ausleger im Hinblick auf 1,40–45 ebenfalls beschäftigt, ist die des impliziten Gesetzesverständnisses und des entsprechenden Standpunktes Jesu. Folgt Jesus den allgemeinen Reinheitsvorschriften, indem er den Geheilten nach Jerusalem schickt, damit dort die erfolgte Heilung bestätigt wird? Joachim Gnilka will V. 44 in dieser Weise verstehen und erkennt zugleich eine pragmatische Funktion. Nichtzuletzt gegenüber den Außenstehenden solle verdeutlicht werden, „daß die christliche Gemeinde, die sich hier auf Jesus beruft, das Gesetz nicht bricht.“ 785 Diese Intention lässt sich dem ersten Evangelisten mit Blick auf 7,1–23 und v.a. 7,19 aber gerade nicht unterstellen. Die Betonung liegt bei Markus nicht auf der Einhaltung 781
So GNILKA, Evangelium II/1, 93; MAJOROS-DANOWSKI, Elija, 246. Hier hinter verbirgt sich ein bekannter Heilungsgestus, der auch durch Ex 4,4; 7,19; 8,1; 9,22f.; 14,16.26f. u.ö. bezeugt ist (vgl. PESCH, Taten, 68) und sich durchaus auch in der hellenistischen Literatur wiederfindet (vgl. WEINREICH, Heilungswunder, 1–37). Der Bezug zum Alten Testament ist jedoch – nichtzuletzt aufgrund des Elisa-Kontrastes – ungleich stärker. 783 Ähnlich bereits VAN IERSEL, Mark, 108–116. 784 Vgl. Jes 38; 2Kön 20; Ps 38; 41; 102; Sir 38,9 (eigenes Gebet); 2Sam 12,16.21f. (stellvertretendes Gebet); Sir 38,9f. (Buße); 38,11 (Opfergaben). Auch das Eingreifen eines Arztes erscheint unter dem Aspekt der Vermittlung (Sir 38,12). Eine Heilung durch direkten Zuspruch dürfte den Rezipienten vor diesem Hintergrund aufgefallen sein. 785 GNILKA, Evangelium II/1, 94. Ähnlich neuerdings auch MÜLLER, Nicht nur rein, 224: „Das Zeugnis beinhaltet dann sowohl die Anerkennung der Heilungsmacht Jesu als auch seine Treue gegenüber der Tora.“ 782
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
437
von Lev 14,2–32 und schon gar nicht auf der Einhaltung der gesamten Tora, sondern darauf, dass der Bericht des Geheilten den Priestern ein Zeugnis sein solle. Die Formel eiJ~ martuvrion (Spr 29,14; Hos 2,14; Mich 1,2; 7,18; Jub 1,7f.; 4,19; 10,17; ApcBar syr 84,7) ist dabei, wie auch in Mk 6,11 und 13,9, belastend gemeint. Die Priester könnten aufgrund der erfolgten Heilung erkennen, dass Gott in Jesus wirkt, aber sie werden faktisch nicht zu dieser Erkenntnis kommen. Insofern bereitet die Erzählung in 1,40–45 den folgenden Konflikt mit den religiösen Autoritäten vor und wurde aus diesem Grund wohl auch vor 2,1–3,6 platziert. Gleichzeitig wird durch die Durchbrechung des Schweigegebots (V. 45) plausibel gemacht, warum sich die Kunde von Jesus in Galiläa und darüber hinaus weiter ausbreitet und an vielen Orten Glauben weckt (3,7–12). Der von Aussatz Geheilte nimmt wie der Geheilte in 5,20 jene Verkündigung vorweg, die nach Ostern der gesamten Gemeinde aufgetragen ist, aber seine Erzählungen erfolgen noch verfrüht. Erst nach Ostern wird Jesu wahre Identität geoffenbart werden. Der Leser vermag sie hingegen aus dem Erzählten abzuleiten und zu erkennen. Auch in 7,31–37 wird nachösterliches Wissen der Urgemeinde aufgegriffen, wenn hier von der Heilung eines Tauben786 und mit Mühe Sprechenden787 berichtet wird und die Erzählung in einem beachtenswerten – und für die Lebenszeit Jesu kaum vorstellbaren – Lobpreis gipfelt (V. 37), der gleichermaßen Bezug auf Gottes schöpferisches Wirken und das endzeitliche Kommen des Kyrios nimmt: „Gut hat er alles gemacht (LXX Gen 1,31; Sir 39,16). Und die Tauben macht er hörend und die Stummen redend (vgl. LXX Jes 35,5).“ Beachtenswert ist dieser Lobpreis nicht nur wegen seiner Wortwahl, sondern auch deshalb, weil er von Heiden artikuliert wird und sich gerade diese als schriftkundig erweisen.788 Während die Reaktion der Zeugen 786
Kwfov~ kann aufgrund seiner Grundbedeutung „abgestumpft“ sowohl die Hörunfähigkeit als auch Sprachunfähigkeit eines Menschen bezeichnen. Da die sprachliche Einschränkung des Mannes in der Folge mit mogilavlo~ bezeichnet wird, ergibt sich hier aber eindeutig der Sinn „taub“. 787 Die in der Kommentarliteratur häufig verwendete Bezeichnung „Taubstummer“ stellt eine moderne Kategorisierung dar, die den gegebenen Krankheitsfall gerade nicht zutreffend beschreibt. Der in V. 35b gegebene Hinweis, dass der Mann nach erfolgter Heilung wieder richtig gesprochen habe (kai; ejlavlei ojrqw~) legt vielmehr den Verdacht nahe, dass seine Sprachfähigkeit durch die Taubheit stark beeinträchtigt war. Mogilavlo~ (V. 32) ist in seiner Wortbedeutung „mit Mühe sprechen“ zu übersetzen (so bereits GNILKA, Evangelium II/1, 297). 788 Robert H. Gundry betont demgegenüber, das in dem Erzählabschnitt keine Figur explizit als Heide charakterisiert werde (vgl. GUNDRY, Mark, 328). Dies ist allerdings auch gar nicht notwendig. Der intendierte Rezipient nimmt den Kranken und seine Angehörigen allein schon deshalb als Heiden wahr, weil die Geschehnisse eindeutig auf heidnischem Gebiet zu verorten sind (7,31). Bereits in 5,1–20 wurde die Dekapolis durch die Erwähnung von Schweinen und Schweinebauern als heidnisches Gebiet gekennzeichnet. Erst in 8,10 wird mit der Überfahrt im Boot erneut jüdisches Terrain erreicht. Durch die explizite
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zuvor immer nur in einem Entsetzen und Staunen (Mk 1,27a; 2,12b; 4,41a; 5,15; 5,33; 5,42), in der Frage nach Jesu Identität und Vollmacht (1,27b; 2,12b; 4,41b; 6,2f.) oder einem offenkundigen Unverständnis mündeten (6,14–16), erfolgt durch den Rückbezug auf Gen 1,31 und Jes 35,5 nun eine hoheitliche Beschreibung Jesu, die dem anfänglichen Standpunkt Gottes (1,2f.) zu entsprechen scheint. Wie an anderer Stelle im Markusevangelium auch, stellt der zweite Satz eine Näherbestimmung des ersten dar. Jesus hat alles gut gemacht, indem er unheilbare Krankheiten beseitigt. Wird Gott selber in Jes 35 als Subjekt solcher Heilungen gedacht, so ist abermals von einer partiellen Identifikation zwischen Jesus und dem alttestamentlichen Kyrios zu sprechen. So wie einst Gott die Welt gut erschaffen hat, wird sie von Jesus durch seine zeichenhaften Wundertaten wieder hergestellt. Dies findet seine Konkretion darin, dass Jesus in Analogie zum endzeitlichen Kommen des Kyrios Taube wieder hören und Stumme ihre Sprache wiederfinden lässt. Der Bezug zu Jes 35 wird auch schon in der Einleitung, nämlich durch die differenzierte Beschreibung des Krankheitsbildes, hergestellt. Die Formulierung kwfo;n kai; mogilavlon in V. 32 orientiert sich ganz offensichtlich an Jes 35,5 (kwfw`n) und 35,6 (mogilavlwn). Diese literarische Abhängigkeit ist umso wahrscheinlicher, als ein solches Krankheitsbild in den übrigen biblischen Schriften nicht mehr vorkommt. Auch in der sonstigen antiken Literatur ist die Heilung eines „Tauben und Stummen“ völlig singulär. Ist Jes 35,5f. damit als wesentlicher Verstehenshintergrund des erzählten Wunders benannt, sollten die thaumaturgischen Details innerhalb der Episode keineswegs überbewertet werden. Zu solchen antike Heilpraktiken zählt die Berührung der Zunge mit Speichel oder der Gebetsritus, der hier aus dem Hinaufblicken zum Himmel (vgl. Mk 6,41789) und einem Seufzen790 besteht. Erwähnung von Pharisäern erhält der Rezipient dann wiederum ein entsprechendes Signal, um sich räumlich orientieren zu können (8,11). Irrelevant ist , dass sich aus heutiger Sicht eine jüdische Bevölkerungsgruppe auf dem Gebiet der Dekapolis nachweisen lässt. Man wird dieses demografische Detail und ein heutiges Bewusstsein für Bevölkerungsminoritäten gerade nicht in den Text eintragen dürfen. Die markinische Raumdarstellung ist im Vergleich zu heutigen Maßstäben weitaus stereotyper und entspricht eher dem antiken Denkmuster einer „ethnography-cum-geography“ (WOOLF, Babarian, 255–271, hier 256), d.h. es wird ein enger Zusammenhang zwischen einer Region und der dort ansässigen Bevölkerungsmehrheit behauptet. 789 Gerade dieses vorherige Vorkommen lässt erkennen, wie Markus die Geste verstanden hat und der Rezipient sie innerhalb des Lektüreprozesses verstehen wird. Dass es sich hierbei um keinen Gebetsgestus handelt, sondern um das „Einholen von übermenschlicher Kraft“ (GNILKA, Evangelium II/1, 297), ist vor dem Hintergrund des bisher Erzählten eher unwahrscheinlich. 790 Vielfach wird hier auf jenes Seufzen verwiesen, das in zahlreichen Zauberpapyri oder beim Auftreten von Thaumaturgen erwähnt wird (vgl. Belege bei GUNDRY, Mark, 383f.). Das Verb stenavzw ist aber (ebenso wie das Substantiv stenagmov~) hinreichend in der Septuaginta und im Frühjudentum bezeugt und soll – vor diesem Verstehenshinter-
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
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Dass Jesus die Zunge des „Stummen“ mit Speichel berührt, rückt die Wundertat allerdings keineswegs in die Nähe jener Blindenheilung durch Vespasian (Tac. hist. 4,81; vgl. auch Suet. Caes. 8,7,2), die in der neueren Markusforschung viel Aufmerksamkeit gefunden hat.791 Vielmehr lässt sich in der antiken Literatur erkennen, dass man dem Speichel ganz allgemein eine heilende Wirkung bei diversen Leiden zuschreiben konnte. Auf diese Wirkung wird im Zusammenhang von Augenleiden (bShab 108b; vgl. auch Joh 9,6), allgemeiner Wundheilung und Symptomlinderung (bSan101a; bBB 126b), bei Aussatz (Plin. nat. 28,37) oder Stummheit (IG 10,51 [Epidaurische Iamata]) verwiesen. Zudem wird Speichel eine apotropäische Wirkung – etwa im Zusammenhang von Exorzismen (TestSal 7,3; Plin. nat. 28,38) – zugesprochen. Der Bericht des Tacitus und das Markusevangelium greifen unabhängig voneinander auf dieses medizinische Wissen ihrer Zeit zurück, ohne dass die Erzählungen deshalb in eine literarische Abhängigkeit zu bringen wären. Wenn Jesus zudem seine Finger in die Ohren des Mannes steckt, so ist dies als ein paralleler Heilungsgestus zur Überwindung der Taubheit zu denken. Der Kranke ist nicht ansprechbar und kann auf Jesu Anrede keine Reaktion zeigen, so dass im Unterschied zu den vorherigen Erzählungen Taubheit und Stummheit erst zu beseitigen sind, bevor auch dieser Mann durch das Wort Jesu Heilung erfährt. Das aramäische Heilungswort (effaqa) ist wie in allen anderen Episoden nicht als Zauberspruch zu begreifen, sondern wird von Markus absichtlich übersetzt (dianoivcqhti) und unterstreicht so Jesu Vollmacht. Gemäß des Wortes öffnet sich sofort das Gehör und es löst sich die Fessel792 von der Zunge des Mannes. So eindrücklich und zugleich fremd die beschriebenen Heilungsgesten aus heutiger Sicht auch sind, der intendierte Rezipient wird ihnen vermutlich kaum größere Aufmerksamkeit geschenkt haben. Das Überraschende ist nicht die Art und Weise wie Jesus hier heilt,793 sondern wie diese Heilung im Nachhinein von den Zeugen gedeutet wird und was dies über die Person Jesu aussagt. Der abschließende Lobpreis erhält
grund – eher die Intensität des Gebets und die besondere Notlage unterstreichen (vgl. LXX Ps 78,11; Ex 2,24; 6,5; Phil. det. 92–94; migr. 15; Deus 115; vgl. Röm 8,26). Vgl. zum Ganzen BALZ, Art. stenavzw, 651, der im Hinblick auf 7,34 schlussfolgert: „Die eigtl. Aussage dürfte aber darin liegen, daß Jesus stellvertretend für den Kranken und ihm zugute dessen Leiden in starker eigener Betroffenheit vor Gott bringt.“ 791 Vgl. Kap. 3.2.2 und dazu das zutreffende Urteil bei BEDENBENDER, Frohe Botschaft, 293. 792 desmov~ könnte hier ein Hinweis auf den dämonischen Ursprung der Krankheit darstellen. Allerdings folgt die Heilung sonst nicht dem Muster der markinischen Exorzismen und der Aspekt bleibt hier weitgehend im Hintergrund. 793 Anders COLLINS, Mark, 370: „The emphasis in the miracle story is on the therapeutic process.“
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
durch das Schweigegebot Jesu sowie dessen zusätzliche Einschärfung und neuerliche Durchbrechung besondere Aufmerksamkeit.794 Die erste795 von insgesamt zwei markinischen Blindenheilungen (8,22–26) enthält deutliche Parallelen zu 7,31–37. Man hat in der Vergangenheit deshalb vermutet, dass beide Episoden ursprünglich eine gemeinsame Doppelüberlieferung darstellten.796 Die Übereinstimmungen beziehen sich auf die Detailliertheit des Heilungsvorgangs, das auffällige Hinwegführen des Kranken (7,33a; 8,23)797 und auf die ähnliche Formulierung des Einleitungsverses (7,32; 8,22). Auch der intendierte Rezipient konnte diese Verknüpfung wohl bemerken, wenngleich ihm die dahinterliegende Textgeschichte kaum bekannt gewesen sein dürfte.798 Er wird die Verknüpfung viel eher mit dem Tatbestand in Verbindung gebracht haben, dass Taubheit und Blindheit auch an anderer Stelle des Markusevangeliums einen gemeinsamen Verstehenskomplex darstellen und symbolisch auf das Unverständnis der Menschen gegenüber Jesu Lehre (4,12), seinen Wundertaten (8,18) und letztlich seiner 794 Mit BULTMANN, Geschichte, 227, und GNILKA, Evangelium II/1, 296, lässt sich V. 36 als redaktionelle Einfügung des Evangelisten verstehen. Aber auch ohne eine Kenntnis der Textgenese – und diese wird man dem intendierten Rezipienten kaum zuzusprechen haben – besitzt die Erzählung ein eindeutiges „Achtergewicht“. Aufmerksamkeit erhält im Rezeptionsprozess nicht das Gewöhnliche, was dem Vorwissen des Rezipienten entspricht, sondern das, was ein Überraschungspotenzial in sich birgt. Dies ist aber gerade die hoheitliche Beschreibung Jesu in V. 37. Erzählwissenschaftlich lässt sich dieser Vers als antike Stiltrennung (Auerbach) bezeichnen, weil die Sprache der Figuren von der Sprache des Erzählers angesteckt zu sein scheint. Inwieweit die Rezipienten hier zwischen der Stimme des Erzählers und der Figuren differenzieren konnten, lässt sich allerdings kaum hinreichend bestimmen. 795 Zu 10,46–52 vgl. Kap. 4.2.2e. 796 So GNILKA, Evaneglium II/1, 296. 797 Durch das Hinwegführen bzw. Beiseitenehmen wird die spätere Verkündigung im Familienkreis überhaupt erst ermöglicht. Zugleich soll sich die Verkündigung gemäß des Schweigegebotes Jesu (7,36; 8,26) auf den Haushalt beschränken. Der Blinde soll nicht zurück ins Dorf gehen, um seine Heilung dort zu verkünden, sondern ins Haus. Dieser Sinn hinter Jesu abschließender Aufforderung wird in zahlreichen Handschriften explizit gemacht (vgl. it A C D K L N G Q 33vid 579 700 892 1241). Dass das Hinausführen aus dem Dorf auf eine Orientierungslosigkeit des Blinden hinweisen und so die Abhängigkeit von Jesu Wunderwirken betont werden soll (so VON BENDEMANN, Sehen und Verstehen, 341f.), halte ich für eher unwahrscheinlich. Das Motiv scheint mir an dieser Stelle tatsächlich formgeschichtlich bedingt zu sein und wird von Markus nicht weiter reflektiert. 798 Besondere Beachtung erhält die Episode auch durch ihre Verortung. Betsaida war bereits in 6,45 das angestrebte Ziel. Durch den nächtlichen Sturm war das Boot der Jünger jedoch abgetrieben worden. Jesus und seine Jünger hatte es deshalb in das Gebiet von Genezareth verschlagen. Nach zahlreichen Begegnungen auf heidnischem Gebiet (7,24– 8,9) und einem kurzen Aufenthalt in der Gegend von Dalmanutha (8,10–13) wird nun – nach einer erneuten Überfahrt – Betsaida erreicht. Damit ist der Schauplatz in 8,22–26 aber gerade nicht derselbe wie in 6,45 bei der Speisung der 5000 (so VON BENDEMANN, Sehen und Verstehen, 341).
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
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Identität stehen. Vor diesem Hintergrund ist es keineswegs zufällig, dass die Erzählung unmittelbar auf Jesu Jüngerschelte in 8,17–21 folgt. Während sich die Jünger trotz besonderer Unterweisung (4,11) und der erlebten Wundertaten als unverständig und ungläubig erweisen, wird in 8,22–26 von der schrittweisen Heilung eines Blinden berichtet. Der Mann schlägt aufgrund von Jesu Behandlung mit Speichel (V. 23) die Augen auf (ajnablevpein) und seine Sehkraft bahnt799 sich einen Weg nach außen (diablevpein), so dass er die Menschen als solche erkennt, aber zunächst nur wie Bäume wahrnimmt (V. 24). Erst durch das erneute Handauflegen vermag er so auf die Dinge zu blicken (ejmblevpein), dass ihm alles scharf erscheint (thlaugw`~ a{panta). Der enge Zusammenhang zwischen einem physischen und geistigen Sehen ist bereits motivgeschichtlich vorgegeben und bestätigt sich im weiteren Erzählverlauf des Markusevangeliums. Auch die Jünger kommen nur schrittweise zur Erkenntnis Jesu. Letztlich vermögen sie sein Personengeheimnis aber vor Ostern noch nicht zu lüften. Unmittelbar im Anschluss an unsere Episode wird sich Petrus stellvertretend für den Jüngerkreis zu Jesus als dem Christus bekennen und trotz dieser adäquaten800 Zuschreibung zugleich als unverständig erweisen. Er vermag diese Hoheitsaussage nicht mit Jesu bevorstehendem Leiden in Einklang zu bringen (vgl. hierzu ausführlich 4.2.2d). Auf das wiederholt thematisierte Unverständnis gegenüber Jesu Leiden folgt dann die zweite Blindenheilung des Markusevangeliums (10,46–52).801 Die Lektüre von 8,22–26 wirkt sich im Erzählverlauf bestätigend auf das anfangs evozierte Figurenschema, d.h. die in 1,2f. erfolgte Parallelisierung zwischen dem Kommen Gottes und dem Kommen Jesu aus, ohne dass die 799 In einer kurzen, aber gleichwohl erhellenden Studie zu 8,22–26 hat Joel Marcus den differenzierten Sprachgebrauch bei der Verwendung der visuellen Verben herausgearbeitet (MARCUS, Marcan Optics). Auf der Grundlage, dass das „Sehen“ in der Antike als ein aktiver Prozess verstanden wurde, verdeutlicht er, wie sich die Sehkraft des Blinden von innen nach außen Bahn bricht und schrittweise alle Barrieren überwunden werden. 800 Dies gilt es im Unterschied zu den Anhängern einer Corrective Christology zu betonen (vgl. zur Angemessenheit des Christusbekenntnisses 4.2.2d). GLENNEY/NOBLE, Perception, 80–82, halten Petrus und den blinden Bartimäus gar für Kontrastfiguren, weil sich der Christustitel im Unterschied zum Sohn-Davids-Titel als inadäquat erweise. Unabhängig davon, dass sich Christus- und Davidssohn-Titel allein schon wegen ihres gemeinsamen Vorstellungshintergrundes kaum derart kontrastieren lassen, gilt gerade das Gegenteil. Beide Äußerungen können vom Rezipienten als zutreffende, aber keineswegs hinreichende Beschreibung Jesu erkannt werden. Jesus ist sehr wohl als königlicher Messias, d.h. als Christus und Sohn Davids, zu verstehen, aber seine Identität beschränkt sich nicht allein auf diese Würde, weil er entgegen frühjüdischer Erwartungen als leidender Christus erscheint und andererseits als Sohn Gottes und damit als Davids Herr und nicht als dessen Sohn (12,35–37) zu bezeichnen ist. 801 Beide Blindenheilungen sind in der Vergangenheit zu Recht als Inclusio erkannt worden (so bereits ACHTEMEIER, Miracles, 115–145), was einem symbolischen Verständnis der Blindheit zusätzliche Plausibilität verleiht.
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Identitätsfrage hier explizit gestellt würde. 802 Vor dem Hintergrund einer verbreiteten Endzeithoffnung ist die Blindenheilung bereits an sich als ein Hinweis auf das heilschaffende Wirken des Kyrios zu verstehen (vgl. Jes 29,18f.; 35,5f.; 42,6f.18; Ps 146,8; 4Q 521). Blindheit galt innerhalb der antiken Vorstellungswelt als weitgehend unheilbare Krankheit, 803 die im alttestamentlichen und frühjüdischen Kontext zumeist auf das Strafhandeln 804 Gottes zurückgeführt wurde und in der Konsequenz nur durch ihn beseitigt werden konnte. Gerade weil solche Blindenheilungen „im all[gemeinen] als unmöglich“805 galten, prägten sie die endzeitlich Vorstellung vom heilvollen Eingreifen Gottes. Unwahrscheinlich ist es im Vergleich hierzu, dass die berichtete Blindenheilung auf ähnliche Heilungen der hellenistischen Umwelt verweist oder reagiert.806 Dies gilt auch für die von Vespasian überlieferte Blindenheilung (Tac. Hist. 4,81; Suet. Vesp. 7,2f.; Dio Cass. 66,8). In diesem konkreten Fall ist die Parallelität eher gering, weil sich scheinbare Gemeinsamkeiten – wie eine Heilung durch Speichel (s.o.) – vor dem Hintergrund eines verbreiteten medizinischen Wissens erklären lassen. Auch die Bezeugungsbreite ist zu gering, um eine literarische Abhängigkeit plausibel zu machen.807 Letztlich wird man eine solche Abhängigkeit zwischen dem Markusevangelium und den Kaiserviten aber insbesondere wegen der Datierung beider Texte in Frage zu stellen haben. Ein Bezug wird nämlich erst dann möglich, wenn man das erste Evangelium – im Unterschied zum bisherigen Forschungskonsens (um 70 n. Chr.) – äußerst spät datiert oder eine potenzielle Wirkungsgeschichte über den ursprünglich intendierten Textsinn stellt.808 802 Dass die Episode v.a. ein christologisches Interesse verfolgt, betont auch LARSEN, Structure, 140–160. 803 Diesen „realgeschichtlichen“ Hintergrund arbeitet VON BENDEMANN, Sehen und Verstehen, 342f., heraus und verweist u.a. auf die Krankheitsstatistiken innerhalb der hellenistischen Literatur (vgl. etwa Artemidor 1,26.48; 2,36; 3,39; 5,9.44). 804 Vgl. SCHRAGE, Art. tuflov~, 270–294, bes. 273, und dazu etwa Dtn 28,28f.; 2Kön 6,18; Jes 59,10; vgl. Gen 19,11. 805 SCHRAGE, Art. tuflov~, 273. 806 Kritisch äußert sich hierzu auch VON BENDEMANN, Sehen und Verstehen, 344. Die häufig herangezogene Blindenheilung von Epidauros (HERZOG, Wunderheilungen, W 18) beschreibt gar kein stufenweises Wunder, sondern von einem Traum und dessen Realisierung am nächsten Tag. Auch bei anderen Blindenheilungen (vgl. HERZOG, Wunderheilungen, W 4; 9; 32; 40; 65) ist die Parallelität eher gering. 807 Trotz erkennbarer Unterschiede erweisen sich die beiden späteren Überlieferungen bei Sueton und Dio Cassius als überlieferungsgeschichtlich abhängige Zeugnisse. Der Vergleich kann sich somit nur auf den Bericht des Tacitus stützen. 808 Was demgegenüber spätere Generationen in den Markustext hineinlesen konnten, d.h. welche Wirkungsgeschichte das Markusevangelium hat, ist nicht Gegenstand dieser Untersuchung und darf nicht mit der eigentlichen Texterklärung, d.h. dem Sinn, den die intendierten Rezipienten der Erzählung zuschrieben, verwechselt werden (vgl. 3.2.4).
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
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Da Blindenheilungen bereits im Alten Testament zu den wesentlichen Kennzeichen der Endzeit zählen und sich hier zugleich ein Zusammenhang zwischen der physischen Heilung und einer neuen geistlichen Erkenntnisfähigkeit abzeichnet (vgl. Jes 29,23f. nach V. 18; ), lässt sich der markinische Bericht aber ohnehin sinnvoll in dieser Vorstellungswelt verorten. Somit symbolisiert die schrittweise Wiedererlangung der Sehfähigkeit zugleich, was für die Zeitzeugen Jesu und seine Jünger gilt (8,17–21; 8,27–29): Dass nämlich auch sie das Wesen Jesu erst nach und nach erkennen können. Der weitere Erzählverlauf und das neuerliche Unverständnis der Jünger werden verdeutlichen, dass erst das Osterereignis (9,9) und die nachösterliche Selbstoffenbarung Gottes (16,8) die notwendigen Sehhilfen bieten, um das erzählte Heilungswunder und die Person Jesu in einem klaren Licht zu sehen. Vor Kreuz und Auferstehung erkennen selbst die Jünger nur schrittweise und schemenhaft, wer Jesus ist. Gerade weil das Kommen des Kyrios in menschlicher Gestalt völlig unerwartet war, vermögen herkömmliche Messiasvorstellungen Jesu Identität nur schemenhaft aber noch nicht hinreichend zu erfassen (8,29; 12,35–37). Eine gewisse Sonderstellung unter den Heilungsberichten nimmt 2,1–12 ein, weil der Fokus des Erzählten nicht allein auf der Krankheit und deren Überwindung liegt, sondern zugleich auf dem – sonst lediglich implizit vorausgesetzten – Zusammenhang von Krankheit und Sünde. Dass gerade die Sündenvergebung eine Prärogative Gottes darstellt (Ex 34,7; LXX Ps 129,3f.; Jes 43,25; 44,22) und sich Jesus mit seinem Zuspruch an den Gelähmten somit keineswegs unbegründet dem Vorwurf der Blasphemie aussetzt (Mk 2,6f.), muss an dieser Stelle nicht wiederholt und abermals begründet werden. Zu betonen ist hier lediglich, dass durch die Platzierung der Episode das anfänglich evozierte Figurenschema bereits im Kontext des anfänglichen Wirkens eine Bestätigung erhält. Hat die bisherige Interpretation einen annähernd richtigen Sachverhalt herausgestellt, so gilt es nun freilich Auskunft darüber zu geben, wie sich die beiden Episoden 10,17–27 und 12,28–34 in diese bewusste KyriosChristologie des Markusevangeliums einfügen. Es ist die These des folgenden Abschnitts, dass diese beiden Erzählungen zwar eine notwendige Differenzierung zwischen Gott und dem Kyrios Jesus erkennen lassen – eine einfache Gleichsetzung zwischen Jesus und Gott ist dem ersten Evangelium auch sonst fremd –, dass sie aber ihrerseits bestätigen, dass der Kyrios-Titel eine adäquate Bezeichnung Jesu darstellt und mithin von einer einzigartigen Beziehung zwischen Gott und dem Kyrios Jesus zu sprechen ist. Betrachten wir zunächst die Begegnung zwischen Jesus und dem „Reichen Jüngling“ (10,17–22.23–27). Die Episode nimmt aus Sicht des intendierten Rezipienten immer wieder unerwartete Wendungen. Ungewöhnlich ist bereits die Annäherung des Mannes. Seine Unterwerfungsgeste (V. 17) erinnert eher
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an das zuvor berichtete Verhalten einiger Bedürftiger (1,40 v.l.809; 5,22; 5,33; 7,25; vgl. auch 3,11) und will nicht so recht zum nachfolgenden Dialog passen.810 Die hierdurch zum Ausdruck gebrachte Demut des Mannes spiegelt sich auch in der Figurenrede wider. So wird Jesus respektvoll als didavskale ajgaqev angesprochen. Wenngleich diese Anrede dem Wortlaut nach einzigartig ist und sich in der griechischen Literatur so nicht wiederfindet, wird der intendierte Rezipient an ihr kaum etwas Ungewöhnliches bemerkt haben. Die Vorstellung, dass ein Lehrer oder Mensch aufgrund seiner Werke als „gut“ bezeichnet werden kann, fügt sich in den Erwartungshorizont eines antiken Lesers ein (vgl. Mt 12,35par Lk 6,45; Apg 11,24; bTan 24b). „[N]either Jew nor Greek would say that God alone is good.“811 Hierbei ist freilich zu beachten, dass ein Mensch nach frühchristlichem und frühjüdischem Verständnis nie an sich „gut“ sein konnte, sondern nur insofern er am Gutsein Gottes812 partizipiert. Gut ist, wer aus der Beziehung zu Gott „gute Frucht bringt“ (vgl. Mt 7,17f.; 12,33; Mk 4,8.20par), indem er dem guten Gebot und dem guten Willen Gottes folgt (vgl. Röm 7,12; 12,2; negativ: 7,6–9; 8,33). Überraschend ist vor diesem Vorstellungshintergrund weniger die Anrede des reichen Jünglings, als vielmehr die Rückfrage und sofortige Zurückweisung Jesu: Was nennst Du mich gut? Niemand ist gut außer einem: Gott (tiv me levgei~ ajgaqovn; oujdei;~ ajgaqo;~ eij mh; ei|~ oJ qeov~). Zweifelsohne hat diese Antwort auch forschungsgeschichtlich den meisten Anlass zur Diskussion geboten.813 Manche Exegeten wollen in den Worten eine besondere Bescheidenheit Jesu erkennen (= Charakter)814 oder sprechen davon, dass der markinische Protagonist als vorbildlicher und bekennender Monotheist dargestellt werde (= 809 Dass zahlreiche Handschriften die Geste des Niederwerfens bezeugen – unter ihnen *אA C K D 0130 f13 – lässt gerade erkennen, dass dieses Verhalten zum erwarteten Heilungsskript gehörte. 810 BERGER, Gesetzesauslegung, 429, will in dem Kniefall hingegen das Motiv einer jüdischen Bekehrungsgeschichte erkennen. Dies erscheint möglich, ist aber aufgrund des vorherigen Erzählverlaufs unwahrscheinlich. Man wird das Verhalten – in Entsprechung zu 1,40, 5,22 und 7,25 – als besondere Demutsgeste anzusehen haben. Die Ungewöhnlichkeit tritt durch die weitere Figurendarstellung, insbesondere die soziale Verortung des Mannes, noch deutlicher hervor. 811 GUNDRY, Mark, 53. Vgl. hierzu auch die Wendung ajgaqo;~ ajnhvr in TestSim 4,4; TestDan 1,4; TestAss 4,1 auf die bereits LOHMEYER, Evangelium, 209, hinweist. 812 Gott selber wird im Alten Testament gerade dafür gelobt, dass er gut ist (1Chr 16,34; 2Chr 5,13; Esr 3,11f.; Ps 118,1; vgl. Phil. LA I,47; somn. 1,149). Im eschatologischen Kontext wird die Hoffnung auf Gottes Güte zu einem zentralen Topos, was sich v.a. bei Jeremia niedergeschlagen hat (vgl. Jer 8,15; 14,11.19; 17,6; 32,42). Vgl. GRUNDMANN, Art. ajgaqov~, 13f. 813 Bereits 1908 bemerkt Friedrich Spitta, dass es sich bei 10,18 um eine „hundertfach erörterte Stelle“ handele (SPITTA, Jesu Weigerung, 12). Das Interesse hat seitdem keineswegs abgenommen. 814 So MALBON, Mark’s Jesus, 134f. mit Anm. 9.
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
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Standpunkt).815 Andere meinen gar, dass sich Jesus bewusst von jeglichem göttlichen Anspruch distanziere und seinem Verhalten oder sogar seiner Identität nach als Mensch erscheine: „What Jesus actually means in Mark 10,18 is: You are wrong if you think that I am (essentially) good, because I am a man like you, and no man is (essentially) good. Only God is (essentially) good.“816
Nicht selten werden diese Interpretationen dann allzu schnell auf das Verständnis des Gesamtevangeliums übertragen und ausgeweitet. Wenn Jesus an dieser einen Stelle verneine, gut zu sein und d.h. in seinem Verhalten oder seinem Charakter gottgleich zu sein, so müsse dies auch für seine Identität insgesamt und für die Christologie des Evangelisten gelten. Demgegenüber ist es geboten, die Aussage Jesu in den Erzählverlauf einzufügen und vor dem Hintergrund des zuvor evozierten Figurenmodells zu lesen. Außerdem ist die Aussage im gegebenen Argumentationszusammenhang und d.h. unter Berücksichtigung des weiteren Dialogs und der nachfolgende Szene (V. 23–27) zu betrachten. Jesu überraschender Antwort, dass keiner gut sei außer Gott, wird man dabei v.a. eine didaktische Funktion zuschreiben können. Sie stellt vor dem Hintergrund des oben skizzierten Verständnisses vom menschlichen „Gutsein“ eine Radikalisierung dar. Wenn Gott allein gut ist, so kann sich kein Mensch ein Anrecht auf das ewige Leben817 verdienen (V. 17b) und zwar nicht einmal durch die Einhaltung der Gebote.818 Es ist dem Menschen, wie der weitere Gesprächsverlauf dann auch offenbaren wird und wie es in der Pointe in V. 27 prägnant zusammengefasst wird, unmöglich, von sich aus in das Reich Gottes zu gelangen (V. 23–27). Weil Gott allein gut ist, kann der Mensch nur auf Gottes Güte hoffen. Er kann das ewige Leben nur passiv empfangen (vgl. 10,13–16819). In diese Logik fügt sich nun die Zitation der zehn Gebote ein (V. 19). Der reiche Mann kennt sie, weil sie nach jüdischem Verständnis den Weg zum ewigen Leben markieren. Der markinische Jesus zitiert die Gebote hierbei in der Reihenfolge der hebräischen Bibel (Ex 2,13–16; Dtn 5,17–20) und zugleich im erkennbaren Wortlaut der Septuaginta. Auffällig ist, dass das Gebot der Elternehrung im Vergleich zum Alten Testament eine unerwartete Endstellung erhält. Hierdurch wird eine besondere Aufmerksamkeit auf das vierte Gebot gelenkt, was der besonderen Relevanz entspricht, die der Elternehrung 815
So GUTTENBERGER, Gottesvorstellung, 311f. MARÍN, Christology, 95f. (Hervorhebung J. R.). Ähnlich BROWN, Jesus, 6–7; EDWARDS, Mark, 310; HENDERSON, Christology, 230; LOHMEYER, Evangelium, 209. 817 „Ewiges Leben“ impliziert zumeist eine Auferstehung der Toten und eine ewige Gemeinschaft mit Gott (vgl. etwa Dan 12,2; 2Makk 7,9; PsSal 3,16). 818 Ganz ähnlich GUNDRY, Mark, 553: „That God alone is good lays the groundwork for the inadequacy of keeping commandments, even God’s commandments [...].“ 819 Vgl. hierzu HECKEL, Segen, 55. 816
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auch im vorherigen Erzählverlauf zukam (vgl. Mk 7,10–13). Der Reiche vermag angesichts der Gebotsauflistung erleichtert feststellen, dass er all diese von Jugend an, d.h. vermutlich seit seinem dreizehnten Lebensjahr (vgl. mNid 5,6), gehalten habe. Manche Exegeten wollen in der Tatsache, dass Jesus das neunte und zehnte Gebot mit der Formulierung „Du sollst nicht rauben“ (mh; ajposterhvshæ~) zusammenfasst, eine implizite Anklage erkennen, weil der Reiche nichts zu begehren habe, sein Reichtum aber auf der Ausbeutung anderer beruhe.820 Obwohl der Rezipient erst in V. 22 vom Wohlstand des Mannes erfährt, könnte sich in Jesu Wortwahl tatsächlich sein besonderes Wissen andeuten. Jesus zeichnet sich auch sonst durch ein übernatürliches Wissens aus (vgl. Kap. 4.3.1g „Wissen“). Alle anderen Erklärungen für diese Wortwahl können hingegen kaum überzeugen.821 Allerdings muss das Gebot deshalb nicht unmittelbar als Anklage verstanden werden, sondern kann lediglich als kommunikationsbedingte Zuspitzung des neunten und zehnten Gebots interpretiert werden. Während der Mann aufgrund seines Verhaltens erwartet, ja erwarten muss, dass er auch aufgrund seiner Gebotserfüllung das ewige Leben ererben wird822 und diesbezüglich eine Bestätigung erfährt (Dtn 30,15; Ps 119,39; Prov 4,2; 12,21; 14,14; 28,10; Sir 9,2; vgl. auch Gal 3,10/Dtn 27,26), wird genau diese Hoffnung von Jesus – gemäß seiner anfänglichen Auskunft – zurückgewiesen. Bereits in V. 19a hatte Jesus lediglich darauf verwiesen, dass der Mann die Gebote kenne und keineswegs, dass ihm deren Erfüllung 820
So GUNDRY, Mark, 553f. Zu diskutieren sind folgende Alternativen: (1) Zitation von Dtn 24,14f.: Bereits Joachim Gnilka hat den Vorschlag unterbreitet, dass an dieser Stelle gar nicht das neunte und zehnte Gebot zitiert werde, sondern Dtn 24,14 (vgl. GNILKA, Evangelium II/2, 87). Obwohl sich dieses Gebot zur Lohnauszahlung ebenfalls gut in die Kommunikationssituation einfügt, besteht das Problem, dass die vorherige Zitation der zehn Gebote einen anderen Erwartungshorizont eröffnet. Andererseits wird durch die einleitende Formulierung ejntolaiv ein ausreichend weites Gebotsverständnis ermöglicht (vgl. SCHRENK, Art. ejntolhv, 544–556, bes. 546); (2) Wortspiel: Die Formulierung ajpo-sterhvshæ~ wird in V. 21 durch uJsterei` aufgegriffen (so z.B. GUNDRY, Mark, 554). Dieses Wortspiel konnte von den intendierten Rezipienten wohl sprachlich erkannt werden. Es ist aber fraglich, ob hierin eine ausreichende Begründung für die Reformulierung des neunten und zehnten Gebots liegen kann; (3) Anspielung auf 7,8–13: Die ungewöhnliche Reihenfolge der Gebote führt dazu, dass das Gebot der Elternehrung unmittelbar auf die Zusammenfassung des neunten und zehnten Gebots folgt. Man könnte hinter dieser auffälligen Verknüpfung eine Anspielung auf 7,8–13 erkennen. Bereits in Mk 7 lautete die Kritik Jesu, dass der KorbanSchwur dazu führe, dass die Kinder nichts mehr für ihre Eltern täten (V. 12). Faktisch wurden die Eltern ihrer Altersversorgung beraubt, indem diese von den Kindern als Opfergabe deklariert wurde. Da in 7,8–13 jedoch nicht explizit vom Raub die Rede ist, erscheint auch diese Schlussfolgerung außerhalb der intendierten Leserlenkung zu liegen. 822 Der Begriff des Erbens ist im frühjüdischen Schrifttum keineswegs rein passiv zu verstehen, sondern kann die Konnotation eines aktiven In-Besitz-Nehmens haben (vgl. PsSal 14,10; 1Hen 40,9; Sib Fr 3,47; TestHiob 18,8). 821
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
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ewiges Leben garantiere.823 Im Folgenden wird nun offensichtlich, dass eine Gebotserfüllung aus Sicht Jesu gerade nicht ausreicht, um das ewige Leben zu ererben. Dass Jesus den Mann ansieht und lieb gewinnt (V. 21a: hjgavphsen), ist keineswegs als Ausdruck der Anerkennung zu verstehen. Es ist vielmehr die Geste des Lehrers, der gegenüber seinem Schüler die Autorität besitzt Rechtsbelehrungen zu geben.824 Beruft sich der Mann darauf, alles zuvor geforderte (tau`ta pavnta) getan zu haben, so stellt Jesus dieser Gebotserfüllung nun das eine entgegen, was ihm noch fehlt (e{n se uJsterei`). Und dieses eine beschränkt sich keineswegs nur auf den Besitzverzicht, den Jesus in diesem Fall durchaus fordert. Vielmehr ist das eine, was dem Mann fehlt, die Nachfolge Jesu. So könnte der Mann wohl getrost auf seine Güter verzichten, wenn er erkennen würde, wer ihm gegenübersteht, und wenn er darauf vertraute, das in der Nachfolge Jesu mehr zu erwarten ist, als jemand in dieser Welt je gewinnen könnte (8,35f.). Hierzu müsste sich der Mann jedoch vom eigenen Vermögen – in des Wortes doppelter Bedeutung – lösen und sich ganz auf Jesus und damit Gottes Güte verlassen. Gerade dies erkennt er aber nicht und gerade dies lässt seinen Unglauben hervortreten und erklärt, warum ihn der Unmut packt (stugnavzein) und er fortgeht.825 Mit dem Nachfolgeruf erhält das Gespräch abermals eine überraschende Wendung. Nachdem Jesus in V. 18 davon gesprochen hatte, dass allein Gott „gut“ sei, so beansprucht Jesus nun auf autoritative Weise, den einen Heilsweg zu kennen und knüpft diesen zugleich an seine eigene Person. Der Nachfolgeruf „ergänzt“ und „vervollkommnet“ hierbei nicht nur die Forderung nach einer Gebotserfüllung,826 sondern die Nachfolge ist expressis verbis das eine, was dem Mann noch fehlt. Und dieses eine fehlt ihm nicht nur, weil der Reiche über die eigentliche Erlösung hinaus nach Perfektion strebt, 827 sondern weil sich die Erlösung ausschließlich in der Beziehung zu Jesus finden lässt. Die anfängliche Aussage, dass allein Gott gut sei, findet gerade hierin ihre Bestätigung. Wem es geschenkt ist, auf den Ruf Jesu zu hören und ihm 823
Dies bemerkt bereits GUNDRY, Mark, 553. Vgl. BERGER, Gesetzesauslegung, 398. So auch PESCH, Markusevangelium II/2, 136.140, der hjgavphsen mit „liebkosen“ bzw. „küssen“ übersetzt (vgl. BAUER, Wörterbuch, 8). Eine entsprechende Geste ist belegt durch 2Sam 15,5; TestRub 1,5; TestDan 7,1; Test Benj 1,2; EvBarth 4,71 u. 28,1. 825 Dass der Reiche unmutig wird und fortgeht (V. 22), signalisiert eindeutig, dass er dem Ruf Jesu nicht folgt und sich von ihm im Unglauben abwendet (so auch Mt 19,22). Anders verläuft die Darstellung bei Lukas, wo durchaus vorausgesetzt wird, dass der Mann auch während der nachfolgenden Unterweisung Jesu anwesend ist (Lk 18,23–27). Wenngleich auch Lukas von keiner Umkehr des Mannes berichtet, so ist das Erzählende hier doch zumindest als offen zu bezeichnen. 826 So SCHENKE, Literarische Eigenart, 245. 827 So COLLINS, Mark, 479: „This motivation suggests that the man is seeking a greater than ordinary level of spiritual achievement.“ 824
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nachzufolgen, der wird das ewige Leben ererben, indem er sich auf Gottes Güte verlässt. „If God alone is good and able to give commandments, then Jesus does so as well. By implication, then, he is also good. And he is good not in the sense implied by the rich man, but in the absolute, divine sense as used by Jesus himself.“828
Die Episode 10,17–27 steht damit gerade nicht in Kontrast zum vorher evozierten Figurenmodell, sondern sie bestätigt dieses, insofern die Nachfolge Jesu als Heilsweg propagiert wird und hierdurch abermals vor Augen gestellt wird, dass Jesu Autorität über dem Gesetz des Mose und dessen zeitgenössischer Auslegung steht. Gleichzeitig erweist sich Jesus ebenso wie Gott als gut und gütig. Das, was den Mann voller Unmut fortgehen und die Jünger in der Folge erschaudern lässt (V. 24), ist zwar durchaus die Radikalität des Nachfolgerufes und die Unmöglichkeit, diesem Ruf zu folgen, aber sie ist es nur deshalb, weil der Ungläubige noch nicht die Güte und das Vermögen Jesu sowie Gottes erkannt und anerkannt hat. Auch der Glaube und die Nachfolge sind keine menschlichen Möglichkeiten, sondern sie829 werden dem Einzelnen von Gott geschenkt (10,27). Gerade so erhält der Nachfolger trotz aller Entbehrungen Anteil am ewigen Leben Jesu und dies nicht erst „in der zukünftigen Welt“ (10,30b), sondern auch schon hier und jetzt (10,30a830). Auch in 12,28–34 wird von einem Dialog831 erzählt. Und dieses Gespräch mit einem Schriftgelehrten erhält sogar eine besondere Aufmerksamkeit, weil 828
GATHERCOLE, Son, 74. Dass bei Gott alles möglich ist, ist in soteriologischer Weise zu verstehen. Gott macht es möglich, dass der Mensch dem Ruf Jesu folgt. Er lässt Jesu Verkündigung auf fruchtbaren Boden fallen und bewirkt, dass seine Worte nicht von Reichtum und Begierde erstickt werden (4,19f.) Dass Gott als derjenige präsentiert werde, der den Menschen zum Besitzverzicht animiere (so COLLINS, Mark, 480f.), stellt demgegenüber eine ethische Verengung dar und verkennt v.a., dass der Besitzverzicht lediglich eine Konsequenz der Nachfolge darstellt und bei Markus keineswegs von einem prinzipiellen Armutsideal zu sprechen ist (vgl. 10,30). 830 Die vorausgesetzte Verfolgungssituation und die hundertfache „Erstattung“ zuvor verlorener Güter und Angehöriger verdeutlichen dabei, dass es hier nicht um individuellen Reichtum gehen kann, sondern um den Reichtum der frühchristlichen Gemeinde, die ihr Hab und Gut teilt und die anderen Jünger und Jüngerinnen als Brüder und Schwester erkennt (vgl. 3,34f.): „Jesus promises a hundredfold reward of houses, brothers, sisters, mothers, children, and farms. If they have to flee from their pursuers to as many as hundred different places, they will find a hundred different houses and families and farms through the hospitality of their fellow believers“ (GUNDRY, Mark, 558; vgl. Mk 3,31–35; Joh 19,26; Apg 2,44f.; 4,32–37; Röm 16,1b.13; Gal 4,19; 1Tim 5,1; Phlm 10). 831 Formkritisch ist dieses Gespräch zumeist als „Schulgespräch“ (BULTMANN, Geschichte, 53) bezeichnet worden. In neuerer Zeit wurde versucht, Analogien zum frühjüdischen derekh erez aufzuzeigen (DAUBE, New Testament, 160). Tatsächlich lässt sich der Dialog gattungsmäßig kaum als Streitgespräch bezeichnen, was v.a. beim Vergleich mit den synoptischen Parallelen hervorsticht. Gleichzeitig sollte der Gattungsaspekt nicht 829
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
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es das letzte derartige Aufeinandertreffen zwischen Jesus und einer jüdischen Autoritätsperson ist. Dies wird durch die abschließende Bemerkung in 12,34b auch indirekt thematisiert: „Und niemand wagte es mehr, ihn zu fragen“.832 Gleichzeitig deutet sich angesichts des bisherigen Konfliktverlaufs ein erstaunlicher Konsens an. Beide Gesprächspartner beurteilen die jeweiligen Antworten des anderen positiv und Jesus bekundet zum Schluss gar, dass der Schriftgelehrte nicht fern vom Reich Gottes sei. Zugleich wird aber nicht explizit ausgesagt, worin dieser Konsens besteht und warum sich Jesus überhaupt zu einer Aussage über den Heilszustand des Gelehrten bemächtigt sieht. Letzteres ist umso bemerkenswerter, als sich die Machtverhältnisse im Vergleich zum Ausgangspunkt des Dialogs geradezu verkehren.833 An dieser Stelle reicht es nicht, Jesu Bemerkung, dass der Gelehrte nicht fern vom Reich Gottes sei, vorschnell als rhetorische Stilfigur und d.h. im Sinne eines Litotes aufzulösen. Man wird die Aussage keineswegs nur auf ihren positiven Aussagegehalt reduzieren dürfen, sondern zugleich als Markierung einer Differenz.834 Dem Rezipienten stellt sich gleichermaßen die Frage, worauf sich Jesu positives Urteil beziehen mag und was dem Gelehrten noch fehlt, um in das Reich Gottes hineinzukommen. Gerade weil der abschließende Erzählerkommentar und die berichtete Reaktion der Menge keine weitere Erklärung bieten, wird das Interesse an diesen Leerstellen des Textes verstärkt. Doch betrachten wir die Episode im Detail und unter Berücksichtigung der vorauszusetzenden Rezeptionserwartungen: Der Dialog zwischen Jesus und dem Gelehrten knüpft unmittelbar an das vorherige Streitgespräch mit den Sadduzäern an. Jesu Verteidigung des Auferstehungsgedankens stößt beim Schriftgelehrtem, der zu diesem Streitgespräch hinzugetreten ist, auf Zustimmung. Indem der Erzähler einen Einblick in die Gedanken des Mannes gewährt (V. 28b), wird er von Anfang an positiv
überbewertet werden. Aus dem Lektüreprozess heraus wird der intendierte Rezipient des Markusevangeliums v.a. die Unterschiede zu den bisherigen Streitgesprächen bemerken, ohne ein externes Gattungsschema zu aktivieren. 832 Der Erzählerkommentar erscheint im Lektüreprozess als Abschluss des in 11,27 begonnenen Gesprächszyklus. Er markiert das Ende der ausgeführten Streitgespräche. 833 Dies stellt auch Wolfgang Oswald in seiner textpragmatischen Analyse des Gesprächs heraus: „Was als Lehrdebatte begonnen hatte, endet damit, das Jesus einer Person, dem SG [sc. Schriftgelehrten], das Heil zuspricht. Nicht nur die Konstellation der KmkP [sc. Kommunikationspartner], auch das Thema des Gesprächs, und auch die Betroffenheit der KmkP hinsichtlich des Gesagten ändern sich grundlegend im Verlaufe von nur vier Redebeiträgen“ (OSWALD, Gespräch, 97). 834 Mit BERGER, Gesetzesauslegung, 185, lässt sich hinter Jesu Formulierung ein Anklang an Sap 6,17–20 erkennen. Vgl. auch die christologische Zuspitzung in EvThom 82: „Jesus sprach: ‚Wer mir nahe ist, der ist dem Feuer nahe, und wer fern ist von mir, ist fern vom Königreich.‘“
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bewertet.835 Er erscheint im Vergleich zu den anderen Autoritäten als Kontrastfigur. Dieser Eindruck erhält im weiteren Erzählverlauf eine Bestätigung, insofern auch das zweite Urteil des Mannes positiv ausfällt (V. 32: kalw`~ ... ejpÆ ajlhqeiva~). Auch dieser Standpunkt markiert einen deutlichen Kontrast zu den anderen Schriftgelehrten, deren gleichlautende Anerkennung in 12,14 (ejpÆ ajlhqeiva~ th;n oJdo;n tou` qeou` didavskei~) vom Erzähler und von Jesus als Heuchelei entlarvt wurde (V. 13.15). Im Unterschied hierzu betont Jesus in der Begegnung mit diesem Gelehrten, dass der Mann verständig geantwortet habe (nounecw`~836) und beurteilt ihn damit seinerseits positiv. Trotzdem birgt die anfängliche Frage nach dem höchsten Gebot unter allen (Geboten)837 – angesichts des bisherigen Konfliktverlaufs (2,6b; 3,6) und der konkreten Bedrohungskulisse (12,12.13) – eine große, wenn nicht gar die größte Gefahr in sich. Der intendierte Rezipient muss aufgrund seines kulturellen und religiösen Vorwissens ahnen, dass die Frage nach dem höchsten Gebot Jesus schwer belasten kann. Wenngleich die Unterteilung der 613 Gebote in leichte ( )מצות קפותund schwere Gebote ( )מצות חמורותim Frühjudentum keineswegs einheitlich erfolgte und eine derartige Hierarchisierung sogar durchaus umstritten war,838 zeigt sich in der Tendenz, dass die schweren Gebote häufig jene Weisungen umfassen, die im Markusevangelium zum Konflikt mit den Autoritäten führen und sich zumeist auf die Person Gottes und den Sabbat beziehen. So können besonders oft die Einhaltung des Sabbatgebotes (jNed 3,38b4.8; jBer 1,3c14; vgl. Neh 9,13f.; Ex 16,28f.; Ez 20,21) oder die Alleinverehrung Gottes sowie die Heiligung seines Namens 835
Eine negative Motivation hinter dem anfänglichen Verhalten erkennt hingegen GUNDRY, Mark, 710: „His seeing that Jesus has answered the Sadducees well may indicate a desire to do a better job than they of dragging Jesus into a theological quagmire.“ 836 Der Begriff kommt in der neutestamentlichen Literatur ausschließlich hier vor und ist auch in der Septuaginta gänzlich unbekannt. Das hat in der Vergangenheit dazu geführt, die Episode ihrem Ursprung nach im Kontext der griechischen Popularphilosophie anzusiedeln (so BORNKAMM, Doppelgebot, 88f.). Den Rezipienten des Markusevangeliums dürften solche Bezüge allerdings kaum bewusst gewesen sein. Sie erkennen in diesem Wort primär einen Ausdruck der Zustimmung. 837 Dass sich die Begriffe ejntolhv und pavntwn im Hinblick auf den Genus als nicht kongruent erweisen, sollte nicht zu der Vermutung führen, der Gelehrte frage nach dem einen Gebot, dass höher sei als die Gebote und „alles andere“ (so GNILKA, Evangelium II/2, 164: „Dieser fragt nicht nach dem ersten Gebot im Gesetz (wie Mt 22,36), sondern von allem“). Diese Interpretation verbietet sich allein schon von Jesu folgender Antwort her (V. 31b), weil hier explizit auf eine Hierarchie unter den Gesetzen verwiesen wird. Es handelt sich in 12,28b somit am ehesten um eine constructio ad sensum (vgl. HOFFMANN/VON SIEBENTHAL, Grammatik, §265). 838 Die Frage nach dem höchsten Gebot lässt sich hierbei keineswegs nur auf den Bereich des hellenistischen Judentums beschränken, wie immer wieder unter Verweis auf bShab 31a behauptet wird (gegen BORNKAMM, Doppelgebot, 38; BURCHARD, Liebesgebot, 52–54). Ein Text wie Jub 36,7 ermahnt hier jedoch zur Vorsicht.
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
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(bHor 8a,1; [bSanh 74a; jSanh 21b; jShewi 4,35a42; jSanh 3,31b10;]839 jNed 3,38b,12; 3,38b,13; vgl. Ez 20,39) als höchste Gebote genannt werden. Wie wird Jesus angesichts des ohnehin bestehenden Blasphemievorwurfs (2,6f.) und der Mordabsicht der Autoritäten (3,6) nun reagieren? Das Überraschende an Jesu Antwort (V. 30f.) ist paradoxerweise ihre Konventionalität. Er gibt unter Aufnahme von Dtn 6,4f. eine Antwort, der der Schriftgelehrte und die anderen Autoritäten kaum widersprechen können. Jesus hält an einer Alleinverehrung Gottes fest und betont die Einzigkeit des Herrn: „Höre, Israel: Der Herr ist unser Gott. Der Herr ist einer, daher840 sollst Du den Herrn, deinen Gott, lieben [...].“ Mit dem Schema Jisrael ordnet sich Jesus zugleich in die Bekenntnistradition Israels ein. Gleichzeitig wird man nicht übersehen dürfen, dass dieses Bekenntnis zur Einzigkeit Gottes gerade auch für die frühchristlichen Rezipienten nachvollziehbar und verständlich ist und keineswegs in Widerspruch zur Verehrung des Kyrios Jesus steht. Die eigentliche Provokation der Antwort besteht in ihrem emergenten Bedeutungspotential, d.h. darin, dass das Bekenntnis zu dem einen Gott und zu dem einen Herrn, Jesus Christus, vorausgesetzt wird. Aufmerksamkeit dürfte im Rezeptionsprozess zugleich die nachfolgende Kombination des Schema Jisrael mit Lev 19,18, d.h. dem Gebot der Nächstenliebe, erhalten haben, da der Schriftgelehrte explizit nach dem einen höchsten Gebot gefragt hatte. Artikuliert sich in der Entsprechung, die der markinische Jesus zwischen den beiden Geboten herstellt, bereits ein christliches Proprium,841 oder finden sich zu diesem Doppelgebot Analogien innerhalb der frühjüdischen Literatur?842 In quellenkundlicher Hinsicht ist festzuhalten, dass sich in mehreren jüdischen Texten durchaus inhaltliche Analogien erkennen lassen, d.h. dass auch hier Gottesliebe und Liebe zum Volksgenossen in einem literarischen Kontext genannt werden. Die historische Beurteilung des Quellenbefunds wird jedoch dadurch erschwert, dass es sich bei den engsten Parallelen (TestIss 5,2; TestDan 5,3; TestJos 11,1; TestBen 3,3f.) voraussichtlich um spätere christliche Interpolationen handelt.843 Die 839
Die Bedeutung des Gebots wird bei diesen Parallelstellen dadurch hervorgehoben, dass selbst bei Androhung des eigenen Todes der Jude nicht dem Götzendienst verfallen darf. Zwar werden in allen genannten Textstellen zugleich die Unzucht und die Tötung als weitere Ausnahmen erwähnt, aber die gleichbleibende Reihung (Götzendienst, Unzucht, Mord) verdeutlicht auch hier, dass der Vermeidung des Götzendienstes die oberste Priorität eingeräumt wird. 840 Zur Übersetzung des parataktischen kai; mit „daher“ vgl. REISER, Syntax, 123–126. 841 So BORNKAMM, Doppelgebot; STUHLMACHER, Biblische Theologie I, 100. 842 So z.B. BURCHARD, Liebesgebot, 57; BERGER, Gesetzesauslegung, 56f.; HAENCHEN, Weg, 414. 843 Zur Diskussion vgl. DONAHUE, Neglected Factor, 579. Die Leidener Schule um de Jonge (vgl. DE JONGE, Twelve Patriarchs, 371–392) will die Testamente der zwölf Patriarchen demgegenüber zu genuin christlichen Schriften erklären.
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Testamente der zwölf Patriarchen sollten in ihrem quellenkundlichen Wert nicht überschätzt werden. In den anderen jüdischen Quellen wird hingegen zumeist kein engerer Begründungszusammenhang zwischen Gottesliebe und Menschenliebe hergestellt (Jub 7,20; 20,2f.; 36,7f.; mAv 6,6). Nirgendwo werden in diesen Quellen die beiden Gebote als Summe des alttestamentlichen Gesetzes verstanden. Vielmehr sind beide Gebote über den Begriff der Liebe844 und d.h. im Sinne einer vergleichsweise lockeren Stichwortreihung verknüpft. Darum verwundert es nicht, dass in den genannten Texten weitere Bestimmungen – in teils großer Anzahl – hinzugefügt werden, die sich auf Aspekte der Reinheit, der Beschneidung, der Sexualität, der Gerechtigkeit etc. beziehen (vgl. v.a. mAv 6,6; Jub 7,20; 20,3). Die einzige gewichtige, außerbiblische845 Parallele stellt somit Phil. spec. 2,63846 dar, weil hier Gottes- und Nächstenliebe als die beiden Hauptstücke des Gesetzes angesehen werden. Aus kognitiv-narratologischer Perspektive bleibt trotzdem fraglich, ob die Bezogenheit von Gottes- und Nächstenliebe innerhalb des Frühjudentums als ein festgeprägtes Schema betrachtet werden kann, an das sich die Leser des Markusevangeliums in 12,29–31 unweigerlich erinnern mussten. Die erzählerische Intention scheint im Markusevangelium847 ohnehin eine andere zu sein. Während der Schriftgelehrte nach dem einen höchsten Gebot fragt, antwortet Jesus keineswegs zufällig mit einem Doppelgebot und weist die Frage des Gelehrten damit als insuffizient zurück. Jesu Doppelantwort ist nicht konsensorientiert, sondern provokativ und trägt im Gesprächsverlauf zur oben erwähnten Verlagerung der Autoritätsverhältnisse bei. Die Frage, die sich der Rezipient unweigerlich stellen muss, ist nun, ob der Schriftgelehrte dieser Entsprechung beider Gebote zustimmen und sich damit Jesu Standpunkt anschließen wird. Tatsächlich erkennt der Mann Jesu Bestimmung des höchsten Gebotes unmittelbar an, was in seinem erneuten Urteil klar zum Ausdruck kommt (V. 32a). Interessant ist zugleich, wie der 844 Innerhalb des Pentateuchs sind das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe die einzigen, bei denen die Aufforderung zur Liebe nicht im Imperativ, sondern Jussiv steht. Hierauf verweist bereits MARCUS, Mark, 711. Dieser grammatikalische Sachverhalt könnte die häufiger anzutreffende Stichwortverknüpfung begünstigt haben. 845 Im Neuen Testament stellt Röm 13,8–10 eine vormarkinische Parallele dar. BERGER, Gesetzesauslegung, 171f., versteht Röm 13,8–10 als traditionsgeschichtliches Bindeglied zwischen einer jüdischen und hellenistisch christlichen Suche nach dem höchsten Gebot. 846 e[sti d’wJ~ e[po~ eijpei`n tw`n kata; mevro~ ajmuqhvtwn lovgwn kai; dogmavtwn duvo ta; ajnwtavtw kefavlaia, tov te pro;~ qeo;n di’ eujsebeiva~ kai; oJsiovthto~ kai; to; pro;~ ajnqrwvpou~ dia; filanqrwpiva~ kai; dikaiosuvnh~. 847 Anders Lk 10,27, wo es der Schriftgelehrte ist, der mit dem Doppelgebot der Liebe Jesu Frage nach dem Gesetz zusammenfasst. Der matthäische und lukanische Bericht weichen auch in ihrer Charakterisierung des Schriftgelehrten von der markinischen Version ab. So soll Jesus durch die Frage des Schriftgelehrten explizit versucht werden (Lk 10,25; Mt 22,35).
4.3 Figurendarstellung: Die Einzigkeit des Kyrios Jesu
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Gelehrte Jesu Gebotsbestimmung im Folgenden rezipiert bzw. seinerseits verständig interpretiert. In V. 32b wird das Schema Jisrael nicht einfach wiederholt, sondern nochmals auf den Gedanken der Einzigkeit Gottes hin zugespitzt. Die Auslassung des eigentlichen Subjekts – Kyrios bzw. Gott – lässt sich dabei völlig ungezwungen aus dem Gesprächsverlauf erklären. Dass es sich bei dem einen (ei|~) nur um Gott handeln kann, leitet sich ohnehin aus dem kulturell-religiösen Vorwissen der Rezipienten ab. Wahrlich bemerkenswert ist dann jedoch, dass der Gelehrte Jesu Gebot der Nächstenliebe in einen kritischen Bezug zur Opfer- und Tempelpraxis rückt. Dass das Gebot zur Nächstenliebe „mehr ist als alle Brandopfer und Schlachtopfer,“ stellt nämlich durchaus eine scharfe Kritik an der Tempelelite und ihrer Überbetonung der Opfergebote dar. Diese Deutung legt sich v.a. aufgrund des vorherigen Erzählverlaufs (11,15–18) sowie der impliziten Verortung des Gesprächs im Tempel848 (11,27) nahe. Wenn Jesus später wegen seiner eigenen Tempelkritik angeklagt wird (14,57–59), so verdeutlicht dies, welche unerwartete Provokation in der Äußerung des Schriftgelehrten liegt. Gleichwohl muss festgehalten werden, dass der Gelehrte Jesu Intention hinter dem Doppelgebot der Liebe erkennt, ihm aber noch nicht in der Grundsätzlichkeit seiner Gesetzeskritik folgt. Der Rezipient weiß demgegenüber aufgrund der vorherigen Erzählung, dass Jesus nicht nur den Primat einzelner Gebote behauptet und an einer formellen Hierarchisierung der Gebote interessiert ist, sondern dass er zugleich einzelne Gebote – wie die Reinheitsbestimmungen (vgl. 7,19) – aufhebt und sich hierin sein besonderes Wissen um Gottes Willen und seine eigene Autorität artikulieren. Für den Schriftgelehrten wäre eine solche Aufhebung einzelner Gebote – auch der Opfergebote – wohl noch nicht denkbar. Gerade dies lässt erkennen, warum der Mann aus der Perspektive Jesu wohl „verständig“ geantwortet hat, aber trotzdem eine Differenz bestehen bleibt. Er erkennt Jesu Hierarchisierung der Gebote an und weiß sie mit seiner eigenen Tempelkritik zu verbinden, aber er vermag sein Gegenüber noch nicht als eigentliche Gesetzesautorität anzuerkennen. Als ebensolche war Jesus aber im vorherigen Erzählverlauf in Erscheinung getreten. Entsprechend wird der Rezipient auch zum Abschluss dieser Episode abermals auf Jesu besondere Autorität verwiesen, wenn dieser dem Gelehrten nicht nur attestiert, dass er 848 Ähnlich bereits GNILKA, Evangelium II/2, 166: „Als weiterführender Kommentar aber erweist sich die Stellungnahme des Schriftgelehrten durch einen Zusatz, der der Gottes- und Nächstenliebe einen höheren Wert als allen Brand- und Schlachtopfern einräumt. Damit ist das Kultwesen des Tempels nicht für abgeschafft erklärt, aber erheblich relativiert.“ Richtig erkannt wird von Gnilka u.a, dass diese Tempelkritik ihre Vorlage in der alttestamentlichen Prophetenkritik hat (1Sam 15,22; Ps 51,20f.; 40,7; Spr 21,3; 16,7; Hos 6,6; Jes 1,11), die in einer zeitgenössischen Tempelkritik wieder auflebte (1QS 9,3–5; EpAr 234) und durch das (Voraus)Wissen um die Tempelzerstörung zusätzlichen Auftrieb erhalten konnte.
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
richtig oder wahrhaftig geantwortet habe, sondern – abermals unvermittelt – eine Aussage über dessen Heilszustand trifft: „Du bist nicht fern vom Reich Gottes“ (12,34b). Im allerletzten Gespräch mit einem Schriftgelehrten wird damit der gleiche Anspruch erhoben, wie er in Jesu Erstbegegnung mit den Schriftgelehrten in Kapernaum zu Tage trat (2,5–12). Jesus beansprucht für sich, Menschen das Heil und die Rettung auf verbindliche Weise zuzusprechen bzw. über deren Heilszustand eine valide Auskunft zu geben. Angesichts eines solchen Anspruchs vermag es kaum zu überraschen, dass keiner der Schriftgelehrten und Umstehenden es mehr wagt, Jesus etwas zu fragen oder ihn gar zu versuchen.
4.4 Funktion der markinischen Erzählung Wer es liest, horche auf! (Mk 13,14)
Wer eine Erzählung liest, gibt sich nicht selten nach wenigen Seiten einer ästhetischen Illusion hin.849 Der Leser taucht in die erzählte Welt mit all ihren Facetten ein und erhält – durchaus in Analogie zu seiner sonstigen Wirklichkeitswahrnehmung – ein lebhaftes Bild von deren Bewohnern, von den Räumen und Raumrelationen oder Ereignissen. In der postmodernen Literatur und im modernen Theater kann diese Illusion bewusst durchbrochen werden, um den Leser bzw. Zuschauer mit der Künstlichkeit und Inszeniertheit der erzählten Welt zu konfrontieren. Eine solche Illusionsstörung wird v.a. durch Formen der Metalepse oder eine explizite Metanarration (z.B. Erzählerkommentare) erzielt. Aber auch eine wenig detaillierte oder inkohärente Raumdarstellung oder ein häufiger und unvermittelter Perspektivenwechsel können es dem Rezipienten erschweren, sich in die erzählte Welt hineinzuversetzen.850 Auch im Markusevangelium lassen sich, wie bereits das einleitende Zitat erkennen lässt, mehr oder weniger deutliche Durchbrechungen der Narration finden. Der Erzähler wendet sich direkt an seine Rezipienten (13,14) oder 849
Vgl. WOLF/BERNHART/MAHLER, Immersion and Distance; WOLF, Illusion (Aesthetic); WOLF, Illusion; RECKWITZ, Art. Realismus-Effekt. Dasselbe Phänomen gerät bereits durch den Begriff der „Metapher“ bei Ricœur in den Blick (vgl. RICŒUR, Philosophische Hermeneutik, 32). In der Film- und Medienwissenschaft wird der Effekt zumeist unter dem Stichwort der „Immersion“ behandelt (vgl. EDER, Figur im Film, 105; MIKOS, Film- und Fernsehanalyse, 184f.; THON, Immersion revisited). In der aktuellen Diskussion zeigt sich ein gesteigertes Interesse an nichliterarischen Medien (vgl. HEDINGER, Täuschend echt; RYAN, Immersion). 850 Vgl. BAUER/SANDER, Illusionsbildung, 214–221; WOLF, Illusion, 208–474; vgl. hierzu bereits FINNERN, Narratologie, 198f.
4.4 Funktion der markinischen Erzählung
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fügt für diese kurze Erklärungen (z.B. 7,3f.; 7,19; 12,18; 15,6.42) und Übersetzungen (3,17; 5,41; 8,36; 15,22) ein. In 7,31 folgt die Raumdarstellung offensichtlich keinem mimetischen Interesse, sondern dient der inhaltlichen Betonung der Heidenmission. Auch der markinische Jesus scheint sich an einigen Textstellen nicht allein an die Bewohner der erzählten Welt zu wenden, sondern zugleich an die Rezipienten des Markusevangeliums (4,13– 20 851; 8,35; 14,9; evtl. 2,10852). Nun scheinen diese markinischen Formen der (impliziten)853 Metalepse und Metanarration jedoch im Unterschied zum heutigen Theater bzw. zur postmodernen Literatur nicht dem Fiktionalitätserweis zu dienen, sondern sie sollen das Erzählte gerade umgekehrt auf die Wirklichkeit der Rezipienten beziehen und hin deuten.854 Markus zeigt hierdurch auf, in welchem Zusammenhang das Erzählte mit der Lebenssituation des Rezipienten um das Jahr 70 n. Chr. steht und inwiefern die Ereignisse und die Person Jesu den Rezipienten in seiner spezifischen Situation angehen. Die Grenzen zwischen dem Erzählten und der Wirklichkeit der Hörer wird nicht durchbrochen, um auf die Fiktionalität des Erzählten hinzuweisen, sondern, um die Narration auf die Lebenswirklichkeit auszudehnen, den Leser mit dem Erzählten bzw. mit der Weltsicht des Protagonisten und damit dem Anbruch der basileiva tou` 851
Wie bereits LANDMESSER, Geheimnis, 287f., herausgestellt hat, lassen der absolute Begriff oJ lovgo~ (V. 14) – als terminus technicus der nachösterlichen Evangeliumsverkündigung (Mk 16,20; Lk 1,2; Apg 4,4; 6,4; Gal 6,6; Kol 4,3; 1Petr 2,8) – sowie die genannten Konkretionen der Bedrohung (Figur Satans, qlivyei~, diwgmoiv, mevrimnai tou` aijw`no~, ajpavth tou` plouvtou) erkennen, dass hier „die urchristliche Gemeinde ins Spiel [gebracht wird]“ (288). Erzählwissenschaftlich lässt sich von einer impliziten Metalepse sprechen, weil Jesu Auslegung des Gleichnisses in eine gewandelte Gemeindesituation hinein gesprochen wird und der Rezipient dies zu erkennen vermag. 852 Vgl. DU TOIT, Entgrenzungen, 295f. Wenngleich ich du Toit zustimme, dass sich das Anakoluth in Mk 2,10 sinnvoll auflösen lässt, wenn man die 2. Pers. Pl. auf die Leser bezieht („Damit ihr – d.h. ihr Leser – aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, Sünden auf Erden zu vergeben [...]“), lässt sich daraus nicht ableiten, dass es sich hier um eine Aussage über den zukünftigen Menschensohn handelt. Aus dem erzählerischen Gesamtzusammenhang (vgl. 2,5) ergibt sich eindeutig, dass es bereits der irdische Jesus ist, der dem Gelähmten die Vergebung seiner Sünden zuspricht. Die Figurenrede richtet sich auch hier zugleich an die Figuren der erzählten Welt und den intendierten Rezipienten. 853 EISEN/MÖLLENDORFF, Einführung, 2, weisen darauf hin, dass in der antiken Literatur zumeist eher „weiche, gleitende metaleptische Ebenenübergänge“ anzutreffen sind. In dieses Gesamtbild fügt sich das Markusevangelium ein. 854 Nach EISEN/MÖLLENDORFF, Einführung, 8, lässt sich auch dies verallgemeinernd für die „Literatur des Altertums“ aussagen: „So können Metalepsen Autorität und Plausibilität textueller Argumente unterstützen, die Aufmerksamkeit des Lesers steigern und somit zu gelingender Didaxe beitragen […]. Sie sorgen für die fortgesetzte Wahrnehmung einer Kontinuität zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und verleihen der im (nicht nur) skripturalen Monument gebannten Welt des Erzählten eine neue Gegenwärtigkeit und Kommunikabilität in der (nicht nur) oralen Performanz.“
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
qeou` in Beziehung zu setzen. Der markinische Jesus erscheint dadurch nicht allein als historische oder literarische Figur, sondern als Herr der Gemeinde, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbindet, dessen Weisungen in der Gegenwart und über sie hinaus aktuell bleiben und der als Auferstandener und von Gott erhöhter Sohn seinen Nachfolgern vorausgeht und gerade so in ihren Herausforderungen beisteht. Mit diesen einleitenden Textbeobachtungen und Thesen ist der Blick auf die Funktion der markinischen Erzählung und damit auf die Kommunikation zwischen Autor und intendiertem Rezipient gerichtet. Es steht die Frage im Raum, wie die markinische Erzählung zur Wirklichkeitskonstruktion der frühen Gemeinde beitragen soll und welche Relevanz sich der markinischen Christologie in diesem Zusammenhang zuschreiben lässt. Welche Intention steht hinter der perspektivischen Vermittlung (Kap. 4.4.2) und der erzählerischen Ausgestaltung des markinischen Protagonisten (Kap. 4.4.3)? Zu welchem Zweck wird das bisher skizzierte Jesusbild vermittelt und welche weitere Konturierung erhält es in diesem spezifischen Kommunikationsprozess? In den Erzählwissenschaften ist ebendiese Frage, wie Erzählungen auf einen jeweiligen Kulturkreis einwirken bzw. zurückwirken – so erstaunlich dies aus exegetischer Sicht klingen mag – erst in jüngster Zeit systematisch reflektiert worden. „Überblickt man die Wissenschaftsgeschichte(n) der Narratologie, so ist seit etwa zwei Dekaden zwar ein so großer und anhaltender Boom in der inter- und transdisziplinären Erzählforschung zu verzeichnen, dass man getrost von einer Renaissance der Erzähltheorie sprechen kann, aber der konstitutiven Bedeutung von Narrativen für Kulturen oder dem Verständnis von Kulturen als ‚Erzählgemeinschaften, die sich gerade im Hinblick auf ihr narratives Reservoir unterscheiden‘, hat die Narratologie bisher kaum Beachtung geschenkt.“855
Die Forschungsgeschichte zur markinischen Christologie verdeutlicht demgegenüber, dass die Exegese das erste Evangelium nahezu immer im Hinblick auf seine Funktion bzw. textexterne Wirkung befragt hat. Egal, ob das markinische Jesusbild als Aufnahme und Bestätigung oder als Korrektur und Kritik einer außertextlichen qei`o~ ajnhvr-Vorstellung oder alttestamentlicher Traditionen verstanden wurde oder ob man im Protagonisten des Markusevangeliums ein Gegenbild zu den römischen Herrschern zu erkennen meinte, überall wurde innerhalb des exegetischen Diskurses (implizit856) vorausgesetzt (vgl. Kap. 3.1; 3.2), dass es sich bei der markinischen Christologie um ein dialogisches Geschehen zwischen Text und Kontext handele und dass die
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NÜNNING, Kulturen erzeugen, 15f. Dass auch der Narrative Criticism letztlich – entgegen seines eigenen Anspruchs – nicht umhinkommt, über eine textliche Binnenperspektive hinaus kontextuelle Bezugspunkte in die Interpretation einzubeziehen, wurde in Kap. 3.4.1 bereits herausgestellt. 856
4.4 Funktion der markinischen Erzählung
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markinische Christologie auf ältere Traditionen rekurriere und ihrerseits auf die Ausbildung einer neutestamentlichen Christologie eingewirkt habe. In der neueren Markusforschung hat sich das Interesse an der Funktion des ersten Evangeliums nicht nur fortgesetzt, sondern scheint geradezu in den Mittelpunkt des Interesses geraten zu sein. So lässt sich bereits an den Titeln aktueller Monografien ablesen, dass die kulturelle Wirkung des Erzählten zu einem regelrechten Schwerpunktthema 857 avanciert ist. Das Markusevangelium wird in dieser Hinsicht als „Kommunikationsangebot für bedrängte Christen“ (Fritzen), als „Gegenentwurf zu den Menschenbildern seiner Zeit“ (Jochum-Bortfeld), als „Frohe Botschaft am Abgrund“ (Bedenbender) oder als „Erinnerungstext“ bzw. „kollektives Gedächtnis“ (Hübenthal) gelesen und interpretiert. Deutlich wird in all diesen Arbeiten, die zumeist am interdisziplinären Dialog mit den Kultur-, Literatur- oder Sozialwissenschaften interessiert sind, dass die Funktion des Markusevangeliums nicht mehr ausschließlich theologisch bzw. christologisch bestimmt wird, sondern dass in einem weiteren Sinne kulturelle Funktionen – wie die Identitätsbildung – in den Blick geraten. Zunächst ist es durchaus legitim und begrüßenswert, wenn sich Exegetinnen und Exegeten bei der Funktionsbestimmung – dem Drehen eines Kaleidoskops858 vergleichbar – von den verschiedenen „turns“ der Erzähl- und Kulturwissenschaften anregen lassen. Gerade dann bleibt es aber wichtig, immer wieder neu nach der Vereinbarkeit dieser Ansätze zu fragen und darzulegen, warum sich eine behauptete Funktion aufgrund einer vorgegebenen Indizienlage und einer historisch rekonstruierbaren Rahmensituation nahelegt.859 Weil die Ergebnisse einer Analyse selbstverständlich immer mit der 857
Wenn dieser Aspekt der neuesten Forschungsgeschichte hier nachgetragen wird und nicht in Kap. 3 ausführlicher thematisiert wurde, so ist dies damit zu begründen, dass ich meine eigene Funktionsbestimmung im Kontrast zu diesen aktuellen Beiträgen formulieren möchte (vgl. 4.4.1). 858 Vgl. zu dieser Metapher HÜBENTHAL, Markusevangelium, 11–16, hier 11: „Ähnlich wie bei einem Kaleidoskop werden in der Evangelienforschung bei der Annäherung an den komplexen Prozess der Entstehung und Verschriftlichung von Jesuserinnerungen oder Jesustraditionen unterschiedliche Einzelelemente betrachtet. [...] Diesen Prozess nachzuzeichnen ist eine nahezu unlösbare Aufgabe, die nicht nur von der Vielzahl der möglichen Faktoren, sondern auch von der Auswahl der einflussnehmenden hermeneutischen Prinzipien bestimmt ist, denn je nachdem, mit welchem ‚Turn‘ das exegetische Kaleidoskop gedreht wird, zeigen sich andere Ergebnisse.“ 859 Ähnlich äußert sich im Hinblick auf eine kulturwissenschaftliche Textanalyse auch Wolfgang Hallet: „Behauptungen und Annahmen über die kulturellen Prägungen, Inhalte, Implikationen und Bezüge eines literarischen Textes dürfen sich daher nicht auf pauschale Aussagen über den Zustand oder die Dynamiken einer Kultur beschränken, sondern sie müssen allein schon wegen der für jedes wissenschaftliche Verfahren erforderlichen Nachvollziehbarkeit anhand kultureller und textueller Manifestationen evident gemacht werden“ (HALLET, Methoden, 296).
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
angewandten Methodik korrespondieren, gilt es, die wissenschaftliche Angemessenheit ebendieser Methodik aufzuzeigen und methodisch bedingte Aporien aufzudecken. Wenn von der Funktion einer Erzählung gesprochen wird, ist m.E. konsequent zwischen einer intendierten, produktionsseitigen Funktion der Erzählung und nicht-intendierten, rezipientenseitigen bzw. wirkungsgeschichtlichen Funktionen zu differenzieren. Aus diesem Grund möchte ich in einem ersten Schritt die Funktionsbestimmungen der neuesten Markusforschung kritisch reflektieren und darlegen, warum ich auf der Grundlage der bisherigen Perspektiven- und Figurenanalyse sowie der in Kap. 2 erarbeiteten Analysekriterien den aktuell diskutierten Funktionsbestimmungen lediglich in Einzelaspekten zustimmen kann. Indem die Ergebnisse der eigenen Analyse in einem zweiten Schritt gebündelt und mit Hilfe der in Kap. 2 formulierten Methodik systematisiert werden, soll sodann die Hauptfunktion der markinischen Christologie, wie ich sie aufgrund ebendieser Methodik erkenne, beschrieben und herausgearbeitet werden. Hierbei wird sich zeigen, wie der intendierte Rezipient durch die Perspektivische Interaktion (4.4.2), die dynamische Entwicklung eines mentalen Figurenmodells (4.4.3) und seine Involviertheit in das Handlungsgeschehen (4.4.4) immer wieder auf die Einzigkeit Jesu und seine Einheit mit Gott verwiesen wird. Markus gibt seinem Rezipienten über den Erzählverlauf eine zunehmende Orientierung und fordert ihn durch die Auseinandersetzung mit anderen Standpunkten zugleich in seinem christologischen Denken heraus und befähigt ihn gerade so, sich innerhalb der bestehenden Konflikte mit der Umwelt positionieren zu können. Wenngleich sich dem ersten Evangelium durchaus weitere kulturelle Funktionen zuschreiben lassen, ist sein Interesse nicht zuerst, unterdrückte Menschen aufzurichten oder eine von der Gemeinde erfahrene Aporie zwischen Gottesnähe und Gottverlassenheit zu inszenieren. Vielmehr bleibt die Hauptfunktion der Erzählung eine christologische. Markus erzählt seinen Rezipienten von Jesus Christus (1,1), um im Dialog mit und in Abgrenzung zu existierenden Messias- und Endzeitvorstellungen ein bestimmtes Jesusbild zu propagieren und dessen Relevanz für die Gegenwart der Gemeinde und die Lebenswirklichkeit des intendierten Rezipienten zu erweisen. 4.4.1 Aktuelle Funktionsbestimmungen: Kritische Rückfragen aus der Perspektive einer kognitiv-narratologischen Exegese Unter den Arbeiten, die sich in den letzten Jahren schwerpunktmäßig mit der Funktion der markinischen Erzählung beschäftigt haben, möchte ich im Folgenden beispielhaft vier Monografien herausgreifen, die mir aufgrund ihrer Originalität und ihres methodisches Zugriffs von besonderer Relevanz zu sein
4.4 Funktion der markinischen Erzählung
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scheinen. Es handelt sich hierbei um die Arbeiten von Carsten JochumBortfeld, Wolfgang Fritzen, Andreas Bedenbender und Sandra Hübenthal. Aus dem Jahr 2008 stammt die Monografie „Die Verachteten stehen auf“ von Carsten Jochum-Bortfeld, in der das Markusevangelium als Gegenentwurf zu hellenistisch-römischen Menschenbildern gelesen wird. JochumBortfeld greift in seinem Theorieteil v.a. auf Hannah Arendts Verständnis vom Handeln als einer Freiheit des Anfangenkönnens860 zurück und versucht sodann anhand literarischer Zeugnisse den sozial- und kulturgeschichtlichen Erweis zu führen, dass in der hellenistisch-römischen Antike Menschenbilder konstruiert wurden, die zahlreiche Bevölkerungsgruppen in ihrer Handlungsfreiheit beschränkten und diesen ein Recht des Anfangenkönnens verwehrten. „Kernaussage der sozial- und kulturgeschichtlichen Analyse war, dass die von Angehörigen der Oberschicht geprägten Leitbilder vom Menschen den Angehörigen der Unterschicht, Frauen und Kindern und Angehörigen fremder Völker die Stellung als handlungsfähiges Subjekt absprechen oder sie zumindest stark einschränken.“861
In der markinischen Gemeinde, die der Autor in Syrien lokalisiert und die seines Erachtens überwiegend aus hellenistischen Christen und zugleich aus Menschen der Unterschicht bestand,862 erkennt Jochum-Bortfeld ein Milieu, das für die markinischen Gegenentwürfe zum bestehenden Menschenbild besonders empfänglich sein musste. Gemäß der Zentralität, die dem Handlungsbegriff in der theoretischen Grundlegung und in der historischen Quellenarbeit zugesprochen wird, konzentriert sich der Exeget in seiner Markuslektüre auf die Handlungsrollen der einzelnen Figuren.863 Ohne das direkte Gespräch mit den Erzählwissenschaften zu suchen, werden in der Auslegung faktisch implizite Figurenmerkmale angesprochen, v.a. die Motivation, die soziokulturelle Verortung, das Geschlecht, die Gefühle oder der Standpunkt der Charaktere. Die Darstellung von Menschen, die in der Begegnung mit Jesus neu anfangen könnten und ihre Handlungsfähigkeit und Handlungsfreiheit wiedererlangten, führe in der Summe dazu, dass sich die Leser „an diesen Geschichten abarbeiten, dass sie in ihnen Hilfe für den Weg in der Nachfolge finden können und dass sie sich durch die Erzählungen zu freien und selbstständigem Handeln ermutigen lassen.“864 860
Vgl. zu dieser Gleichsetzung von Handeln und neu anfangen v.a. ARENDT, Vergangenheit, 224, und ARENDT, Vita activa, 215. 861 JOCHUM-BORTFELD, Die Verachteten, 164. 862 Vgl. JOCHUM-BORTFELD, Die Verachteten, 165–171. 863 So werden die analysierten Episoden danach differenziert, ob die Episodenfiguren von sich aus aktiv werden (5,21–43; 7,24–30; 10,46–52; 14,3–9; auch 12,41–44), von Jesus zum Handeln motiviert werden (1,16–20; 2,13–17) oder in der Begegnung mit Jesus weitgehend passiv bleiben (1,21–28; 2,1–12; 3,1–6; 5,1–20; 7,31–37; 9,14–29; 10,13–16). Vgl. JOCHUM-BORTFELD, Die Verachteten, 164f. 864 JOCHUM-BORTFELD, Die Verachteten, 310f.
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
Begrüßenswert ist zunächst, dass sich die Studie von Carsten JochumBortfeld nicht allein mit den expliziten Textinformationen zufrieden gibt, sondern zu einem umfassenden Verständnis einzelner Episodenfiguren beitragen will. Eine Interpretation erzählender Texte kommt letztlich, wie ich im methodischen Teil meiner Arbeit dargelegt (vgl. v.a. Kap. 2.1) und in der bisherigen Analyse entfaltet habe, gar nicht umhin, die Leerstellen eines Textes und die vielfältigen Inferenzprozesse zwischen Text und Vorwissen der Rezipienten zu bestimmen. Anderseits bleibt im Falle von Jochum-Bortfelds Arbeit unklar, nach welchen konkreten Kriterien die impliziten Figurenmerkmale erschlossen werden, wie die zuvor rekonstruierten Menschenbilder und Vorstellungen der hellenistisch-römischen Umwelt im Leseprozess konkret aktiviert werden865 und wie es zur Identifikation mit einzelnen Figuren kommt.866 Besonders gravierend ist hierbei, dass Jochum-Bortfeld gar nicht bestimmt, ob der Rezipient einer Figur überhaupt ein Mindestmaß an Aufmerksamkeit schenken kann und soll. Die Tatsache, dass es sich bei nahezu allen Bedürftigen des Markusevangeliums um Episodenfiguren handelt und diese – abgesehen von wenigen Ausnahmen (7,24–30; 10,46–52) – keine Individualität gewinnen (vgl. Abb. 4.2 „Hierarchisierung mehrerer Episodenfiguren nach ihrer Wichtigkeit“), lässt Jochum-Bortfelds Funktionsbestimmung fraglich erscheinen. 865 Bedenkenswert erscheint mir hier, dass Jochum-Bortfeld gelegentlich auf abweichende Menschenbilder in der jüdischen Literatur verweist, aber nicht herausarbeitet, wie die Rezipienten des Markusevangeliums aufgrund ihrer Lokalisierung von beiden Vorstellungswelten geprägt wurden. Wichtig erscheint mir zudem, das gesichtete Material – dessen Zusammenstellung und Aufbereitung bereits ein Verdienst an sich darstellt – noch einmal im Sinne der in Kap. 3 vorgestellten Kriterien (Erinnerungsnähe, Bezeugungsbreite, Parallelität) zu gewichten. Außerdem müssten hier in weitaus stärkerem Maß nichtliterarische Quellen und Alltagszeugnisse berücksichtigt und ausgewertet werden, nichtzuletzt um das Selbstverständnis der benachteiligten und meist analphabetischen Randgruppen einzufangen. 866 So behält die Auslegung nicht selten einen thetischen Charakter oder es lassen sich sogar, wie sich beispielhaft im Hinblick auf Mk 7,24–30 zeigen lässt, Inkohärenzen innerhalb des Rezipientenbildes erkennen. In dieser Hinsicht erscheint die Syrophönizierin bei Jochum-Bortfeld zugleich als ‚Repräsentantin der feindlichen und ausbeuterischen Wirtschaftsmacht Tyros‘ (was eine jüdische Sichtweise voraussetzt) und als Figur, die der markinischen Leserschaft eine Identifikationsmöglichkeit eröffnet. Dass eine überwiegend heidnische und in Syrien beheimatete Leserschaft der Ortsbezeichnung Tyrus eine politische Bedeutung geben soll, erscheint mir unwahrscheinlich zu sein, zumal die Syrophönizierin gerade eine der wenigen Charaktere ist, der sich ein gewisses Maß an Individualität zuschreiben lässt. Zugleich verkennt Jochum-Bortfeld den unmittelbaren Zusammenhang zum vorherigen Erzählverlauf. Jesu autoritatives Außerkraftsetzen der jüdischen Reinheitsvorschriften (7,1–23) und die im Dialog verhandelte Mahlpraxis sowie implizierte Unterordnung der Heiden, richtet die Konzentration auf den Kontrast zwischen Juden und Heiden. Dem entspricht auch die alttestamentliche Konnotation von Tyrus, weil es sich hier um eine Chiffre für eine Heidenstadt handelt.
4.4 Funktion der markinischen Erzählung
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Wie ich in meiner eigenen Analyse dargelegt habe, liegt der Fokus der markinischen Erzählung nahezu immer auf dem Protagonisten, seinem Verhalten und seinen Merkmalen und nur sehr punktuell auf den Bedürftigen und ihrer Biografie. Nicht selten bleiben diese sogar, wie z.B. in 3,1–5, gänzlich im Hintergrund. Damit sich der Rezipient überhaupt mit einzelnen Figuren identifizieren kann, müssten diese aber nicht nur individueller gestaltet sein, sondern auch mehr Gesprächsanteil besitzen, häufiger im Erzählverlauf vorkommen, gelegentlich das Wahrnehmungszentrum des Erzählten darstellen oder mit Erzähler- und Figurenkommentaren bedacht werden.867 Hätte Markus primär die Menschenbilder seiner Zeit korrigieren wollen, so stellt sich zudem die Frage, warum dieser Konflikt nirgendwo explizit thematisiert bzw. deutlicher inszeniert wird. So entzündet sich der Konflikt zwischen Jesus und den Autoritäten augenscheinlich nicht an der Frage nach dem Menschenbild Jesu, sondern an seinem eigenen Hoheitsanspruch. Mithin erscheint es fraglich, den im Kontext dieses Konflikts auftauchenden Menschensohntitel als Ausdruck für Jesu „wahres Menschsein“868 zu definieren. Wir hatten demgegenüber gesehen, dass auch der Menschensohntitel bei Markus als hoheitliche Würdebezeichnung aufgefasst wird und Jesus hierdurch gerade seine irdische Vollmacht, sein freiwilliges Leiden und Sterben und seine endzeitliche Herrlichkeit aufeinander bezieht (vgl. 4.2.2f). Das von mir in Kap. 4.2 und 4.3 skizzierte Bild des markinischen Jesus schließt freilich umgekehrt mit ein, dass die Menschen in der Begegnung mit dem Protagonisten heilsame Erfahrungen einer Befreiung machen. Diese Befreiungen ereignen sich jedoch keineswegs dadurch, dass die einzelnen Menschen zu einem selbstständigen Handeln animiert werden. Vielmehr gerät eine Freiheit in den Blick, die aus einer Beziehung zu Jesus und aus einem Vertrauen in seine Vollmacht resultiert. Markus denkt – im Unterschied zu Arendt und Jochum-Bortfeld – nicht in Kategorien von Angewiesenheit und Selbstbestimmtheit, sondern für ihn bleibt die menschliche Existenz immer relational bestimmt, d.h. sie ist immer eine Existenz in Beziehung zu anderen Menschen, zur Umwelt sowie zu himmlischen Mächten und zu Gott. Gewinnbringend könnte es in diesem Zusammenhang sein, die markinische Anthropologie mit relationalen Identitätskonzepten der neueren Kultur- und Erzähl-
867 Diese erzählerischen Mittel, die im Rezeptionsprozess eine Identifikation überhaupt erst ermöglichen, verweisen zugleich auf eine Möglichkeit, wie neutestamentliche Erzähltexte in der heutigen Verkündigung oder im Religionsunterricht – über ihre ursprüngliche Intention hinaus – genutzt werden können, um neue Applikationsmöglichkeiten zu schaffen. Die Exegese sollte aber ihrerseits an dem historischen Textsinn interessiert bleiben und keine moderne Aktualisierung betreiben. 868 JOCHUM-BORTFELD, Die Verachteten, 296.
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
wissenschaft ins Gespräch zu bringen, wie sie in der feministischen und postmodernen Literaturtheorie formuliert worden sind.869 Anders als Jochum-Bortfeld moniert, wird der Mensch in seiner Beziehung zu Jesus bzw. zu Gott keineswegs auf seine Sündhaftigkeit reduziert, sondern partizipiert – wie die zahlreichen Exorzismen und Heilungen eindrücklich vor Augen stellen – gerade an der heilvollen Gegenwart Jesu. Insgesamt läuft die Arbeit von Jochum-Bortfeld damit Gefahr, dass der theoretisch erarbeitete Handlungsbegriff nicht allein eine Beschreibungskategorie darstellt, um textbasierte Sachverhalte heutigen Lesern zu erklären, sondern dass die Vorstellung einer Handlungsfreiheit und eines Selbstbestimmtseins in das Markusevangelium hineinprojiziert werden. Wolfgang Fritzen und Andreas Bedenbender richten in ihren Arbeiten – „Von Gott verlassen“ (2008) und „Frohe Botschaft am Abgrund“ (2013) – das Augenmerk auf eine kommunikative Situation, in der sich die Rezipienten vielfältigen Bedrängnissen und Anfragen ausgesetzt sehen. Während Fritzen von einer offenen Kommunikationssituation870 ausgeht, d.h. dass sich die markinische Erzählung für immer neue Lesweisen öffne und bis in heutige Kontexte hinein ein seelsorgerliches Potential entfalte,871 versteht Beden-
869
Vgl. RÜGGEMEIER, Autobiographie, 41–54 („Das relationale Selbst aus interdisziplinärer Sicht“). 870 Fritzen bezieht sich hierbei auf das textlinguistische Modell des kommunikativen Handlungsspiels von Siegfried J. Schmidt (vgl. dazu bereits HARDMEIER, Texttheorie; HARDMEIER, Textwelten I–II). Allerdings vermischt Fritzen die Kategorien eines geschlossenen kommunikativen Handlungsspiels mit der innerexegetischen Vorstellung einer konkreten Lokalgemeinde. Wenngleich sich im Markusevangelium keine direkten Hinweise auf einen klar begrenzbaren Rezipientenkreis finden lassen und sich die Erzählung durchaus an einen größeren Adressatenkreis oder gar die gesamte damalige Christenheit richten könnte (so v.a. BAUCKHAM, Gospels), werden die Situation und das Vorwissen des intendierten Rezipienten (z.B. Sprachfähigkeit, kulturelles Wissen, Verfolgungssituation) klar reflektiert und es ist keineswegs von einem völlig anonymen Autor zu sprechen. Die gewichtige Bedeutung eines Themas wird man ebenfalls kaum als Anhaltspunkt für eine offene Kommunikationssituation heranziehen können. Dass Markus seine Erzählung als „Anfang“ und „Grundlage“ (Mk 1,1) bezeichnet, erschließt sich gerade nur in einem bestimmten Rezipientenkreis, der dem Leben und Wirken Jesu diese Bedeutung zuspricht. Unhaltbar ist auch die Aussage, dass sich Erzählungen prinzipiell durch eine offene Kommunikationssituation auszeichneten. Insgesamt bleibt eine binäre Kategorisierung, die lediglich zwischen den beiden Extremen einer „offenen“ oder „geschlossenen“ Kommunikationssituation unterscheidet, unterkomplex. 871 Diese Ausrichtung der Arbeit ergibt sich, wie der Autor im Vorwort und an anderer Stelle erkennen lässt, aus dem eigenen Betätigungsumfeld, insofern Wolfgang Fritzen als neutestamentlicher Promovend Mitarbeiter am Lehrstuhl für Pastoraltheologie von Michael Sivernich war. Dass ein Neutestamentler keineswegs nur im Umgang mit dem Neuen Testament geschult ist, ist zweifelsohne als Bereicherung zu sehen, und die Arbeit bietet interessante Impulse für einen heutigen Textumgang (FRITZEN, Gott, 370–393). Anderer-
4.4 Funktion der markinischen Erzählung
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bender den Markustext als räumlich und zeitlich gebundene Allegorie des Jüdischen Krieges. Beide Studien stimmen darin überein, dass die Erzählung ein Grundgefühl der Gottverlassenheit bzw. Heillosigkeit verarbeitet und die Rezipienten mit dieser Erfahrung konfrontiert. Fritzen interpretiert das erste Evangelium als ein Kommunikationsangebot an bedrängte Christen, wobei es v.a. die Jünger seien, mit denen sich der Rezipient identifizieren und in deren Geschichte er sich mit seinem eigenen Scheitern eintragen könne. Das erste Evangelium sensibilisiere auf diese Weise für die Erfahrung der eigenen und fremden Not. Das Zweifeln an Gottes Nähe erhalte gerade in der Person Jesu, der in Gethsemane von Angst ergriffen sei und sich am Kreuz von Gott verlassen fühle, einen wichtigen Fürsprecher. „Dass diese Ausgangsfrage [der markinischen Erzählkommunikation] nicht am Beginn, sondern am Ende steht, verrät zum einen die Überzeugung, dass zu dieser Frage erst hingeführt werden muss, dass sie als Grundfrage der eigenen gläubigen Existenz erst entdeckt werden muss. Zum anderen zeigt dieser Umstand, dass das Markusevangelium auf diese Frage keine Antwort in belehrendem Klartext gibt; der Erzähler stattet den Leser vielmehr im Verlauf des Evangeliums mit Elementen einer Antwort aus, so dass er dann am Ende, wenn er mit der Frage konfrontiert wird, selbständig mit ihr umgehen kann.“872
Auch Bedenbender betont, dass die Aporie zwischen einer christologisch begründeten Heilsgewissheit und der realen Erfahrung einer politischen Heillosigkeit von Markus nicht aufgelöst, sondern im Sinne einer poetischen Reflexion inszeniert werde. Ausgehend von der Überzeugung, dass Markus im Jahr 70 n.Chr. gar nicht an den politischen Ereignissen und den damit verbundenen traumatischen Erfahrungen hätte vorbeischreiben können873 und sich die markinische Erzählung durch ein großes allegorisches Potential auszeichne,874 wird das erste Evangelium als Krisentext gedeutet, der „das Evangelium einem gedanklichen Belastungstest unterzieht, indem es nämlich die Osterbotschaft auf die Realität des Jüdischen Krieges prallen lässt und dabei weder die Osterbotschaft auch nur im geringsten verkürzt noch den Krieg auch nur im geringsten verharmlost.“875 In zwei Analyseteilen (Teil II und IV) werden v.a. die Ortsbezeichnungen des ersten Evangeliums allegorisch gedeutet.876 So spiegele sich im e[rhmo~ tovpo~ die ejrhvmwsi~ Jerusalems wider,877 die Meeresgeschichten erinnerten an seits bleibt es notwendig, stärker zwischen den Dimensionen des Textzugangs – hier der Interpretation und der Neudarstellung – zu differenzieren. 872 FRITZEN, Gott, 366. 873 Vgl. BEDENBENDER, Frohe Botschaft, 10–16. 874 Vgl. zur allegorischen Interpretation sowie zur Abgrenzung von einer nachträglichen Allegorese BEDENBENDER, Frohe Botschaft, 16–36. 875 BEDENBENER, Frohe Botschaft, 478. 876 Vgl. hierzu bereits BEDENBENDER, Orte. 877 Vgl. BEDENBENDER, Frohe Botschaft, 165–190.
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die Tradition der Chaosflut und des Völkeransturms878 und das Bekenntnis des Petrus vor Cäsarea Philippi könne – angesichts der politischen Rolle, die dieser Ort in den Jahren 67 und 70 gespielt habe – nur als Provokation879 aufgefasst werden. Ortsnamen wie Kapernaum, Bethsaida oder Chorazin ließen sich bei Markus bzw. in den kanonischen Evangelien insgesamt als Chiffre für Rom verstehen. In Teil III versucht Bedenbender aufzuzeigen, dass sich Markus zum einen gegen die Zeloten positioniere, die mit ihrer Elia-Erwartung in die Irre gingen, und zugleich zur Solidarität mit Israel aufrufe, das sich von den Zeloten in die Katastrophe habe führen lassen.880 Wenngleich sich durchaus aufzeigen lässt, dass im Markusevangelium mit emergenten Bedeutungen zu rechnen ist (z.B. 5,19f.) und sich mehreren Textstellen ein allegorischer Sinn zuschreiben lässt, überfordert Bedenbenders Interpretation den Markustext und den intendierten Rezipienten gleichermaßen. Wie der Exeget selber bemerkt,881 findet die Zerstörung Jerusalems mit keiner einzigen Silbe Erwähnung. Dass sich dieses Schweigen durch die traumatischen Erfahrungen der Urgemeinde erklären lässt, obwohl die markinische Gemeinde doch in Syrien verortet wird und ihr dementsprechend eher eine Beobachterrolle zugeschrieben werden muss, vermag nicht zu überzeugen. Es hat vielmehr den Anschein, als werde auch hier eine im Vorhinein feststehende Überzeugung – nämlich, dass Markus auf die politischen Zeitereignisse reagieren müsse – in den Text hineinprojiziert. Dabei ist es literaturgeschichtlich genauso plausibel, dass ein Autor die politischen Umstände aus denen heraus er schreibt, unbeachtet lässt bzw. nur sehr punktuell aufgreift (vgl. Mk 13). So käme man wohl kaum auf die Idee, Filme wie „Dead Poets Society“ (1989), „Pretty Woman“ (1990) oder „Schindlers Liste“ (1993) als Allegorie des Mauerfalls oder des zweiten Golfkriegs zu interpretieren. Über das politische Interesse und die Informiertheit des Markus wissen wir schlichtweg nichts und man bleibt sicherlich gut beraten, die historischen Bezüge eines Textes von diesem aus bzw. aus der Kommunikation zwischen Autor und Rezipient zu erheben, statt mit vorausgehenden Arbeitshypothesen an den Text heranzutreten. Im Hinblick auf Wolfgang Fritzens Arbeit lässt sich zunächst bestätigen, dass die Jünger durchaus als Identifikationsfiguren fungieren sollen. So lassen sich nahezu alle Faktoren, die den Aufbau von Empathie ermöglichen, für diese Figurengruppe nachweisen. Neben der häufigen Präsenz, der immer wieder gewährten Innensicht, dem keineswegs geringen Anteil an Figurenrede sowie der gelegentlichen Funktion der Jünger als Wahrnehmungszentrum, ist in diesem Zusammenhang v.a. darauf hinzuweisen, dass die oben erwähn878 879 880 881
Vgl. BEDENBENDER, Frohe Botschaft, 216–248. Vgl. BEDENBENDER, Frohe Botschaft, 249–277. Vgl. BEDENBENDER, Frohe Botschaft, 281–360. Vgl. BEDENBENDER, Frohe Botschaft, 478f.
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ten impliziten Metalepsen die Situation der Jünger auf die Situation der Rezipienten beziehen und diese gerade so auf Gemeinsamkeiten hingewiesen werden. Andererseits ist aber nicht von einer positiven Identifikation zu sprechen, sondern die Rezipienten sollen sich – der Indizienlage nach – vom Verhalten der Jünger distanzieren und ihren Standpunkt sowie ihr Wissen kritisch beurteilen. Hierfür sprechen v.a. (1) die negativen und zugleich expliziten Kommentare des Erzählers und des Protagonisten; (2) das negative Schicksal, das die männlichen und weiblichen Nachfolger Jesu am Ende gleichermaßen erleiden (unmännliche Flucht, Unverständnis angesichts des leeren Grabes) und das den abschließenden Gesamteindruck prägt (= recency effect); und (4) die Tatsache, dass der Rezipient aus seiner eigenen Informiertheit und aufgrund seines nachösterlichen Standpunktes das Unverständnis der Jünger erkennen muss und auf dieses nichtzuletzt durch Wiederholung (Kap. 6 u. 8) aufmerksam gemacht wird. Der Rezipient soll sich deshalb nicht im offensichtlichen Versagen der Jünger wiedererkennen, sondern er soll durch dieses Versagen der kirchlichen Autoritäten auf die Diskrepanz zwischen vorösterlicher und nachösterlicher Erkenntnismöglichkeit hingewiesen werden. Dies regt über den Erzählverlauf zur eigene Auseinandersetzung mit der Identität Jesu an. Mithin lässt sich Jesu Identität, anders als es Fritzens Darstellung nahelegt, kaum auf den Kreuzesschrei und ein Gefühl der Gottverlassenheit reduzieren, sondern diese Identität erschließt sich erst über den gesamten Erzählverlauf hinweg und aus dem Zusammenspiel sämtlicher Figurenmerkmale. D.h. die Gethsemaneereignisse oder Jesu Kreuzesschrei müssen im Zusammenhang mit dem Wissen Jesu, seinem Verhalten und der darin zum Ausdruck kommenden Vollmacht und seiner einzigartigen Gottesbeziehung (= Figurenrelation) gedeutet werden (vgl. 4.3.1). Ansonsten läuft die Exegese Gefahr, einzelne Ereignisse und Aktionen einseitig zu betonen und zu psychologisieren. Zweifelsohne kann eine solche Psychologisierung in heutigen Kommunikationssituationen eine Chance bieten, insofern hierdurch neue Applikationsmöglichkeiten eröffnet werden. Gerade deshalb muss jedoch konsequent zwischen der historischen Kommunikationssituation bzw. einer intendierten Funktion und einer wirkungsgeschichtlichen bzw. aktualisierenden Rezeption und Funktionsbestimmung differenziert werden. Fritzens Arbeit vermag dies aufgrund ihrer literaturtheoretischen Grundlage nicht. Unter den hier zu verhandelnden Arbeiten zeigt die Monografie von Sandra Hübenthal, die das Markusevangelium als kulturellen Erinnerungstext versteht, das größte Interesse an einem Dialog mit der neueren Erzählwissenschaft. So fußt ihre Beispielanalyse zu Mk 6,7–8,26 nicht allein auf strukturellen Beobachtungen,882 sondern auf einer Auseinandersetzung mit den leitenden Perspektiven, wobei Hübenthal v.a. auf die Possible Worlds Theory 882
Vgl. HÜBENTHAL, Markusevangelium, 237–308.
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
(Marie Laure-Ryan) zurückgreift. Gerade an der Perspektivengestaltung, insbesondere der Herausbildung einer Leitperspektive, lässt sich nach Hübenthal erkennen, dass es sich beim Markusevangelium um eine fundierende Geschichte handele. Im Übergang vom sozialen zum kollektiven Gedächtnis883 werde eine Vergangenheitsdeutung vorgelegt, die für das Selbstverständnis der Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft fortan bestimmend sei. „Die gemeinsame Geschichte konstituiert eine gemeinsame Identität, und die gemeinsame Identität wird durch den Rekurs auf die Geschichte gestärkt. Das Erzählen und Sich-Rückbeziehen auf diese Geschichte wird zur Keimzelle der Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft.“ 884
Als fundierende Geschichte lade das Evangelium zugleich zur Familiarisierung ein, wobei Hübenthal vor allem im Protagonisten eine wesentliche Identifikationsfigur erkennt. Der Rezipient erhalte bereits zu Beginn durch die Taufe eine besondere Innensicht in die Hauptfigur und könne sich sodann in der Verkündigungstätigkeit Jesu wiedererkennen, weil diese (1,14) wie seine eigene (16,8) unter dem Eindruck einer Krisenerfahrung beginne. Die Leser seien zudem aufgerufen, sich auf die von Jesus verkündigte basileiva tou` qeou` als eine Mögliche Welt einzulassen. Gerade weil die Jünger aufgrund ihrer vorösterlichen Perspektive mit Unverständnis reagierten, werde dieser Grundkonflikt zwischen erzählter Welt und Möglicher Welt auf die Zeit der Erzählgemeinschaft ausgeweitet: „Die W-Welt [sc. Wunschwelt] der Erzählfigur Jesus soll nicht nur zur K-Welt [sc. Wissenswelt] und O-Welt [sc. Pflichtenwelt] der anderen Erzählfiguren, sondern auch zur K-Welt und OWelt der Mitglieder der Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft werden.“885 Von einer Transparenz auf die Erinnerungsgemeinschaft lasse sich zudem im Hinblick auf den Konflikt mit den Normrepräsentanten sprechen. Sandra Hübenthals Studie ist insofern gewinnbringend, als sie mit Hilfe neuerer erzählwissenschaftlicher Kategorien – insbesondere dem Konzept des multiperspektivischen Erzählens und der Possible Worlds Theory – den Erweis führt, dass in der markinischen Erzählung unterschiedliche Standpunkte 883
Grundlage der hier verwendeten Terminologie ist das dreistufige Modell von Aleida Assmann, die neuerdings zwischen einem sozialen, kollektiven und kulturellen Gedächtnis unterscheidet (ASSMANN, Soziales und kollektives Gedächtnis). Während das soziale Gedächtnis dadurch bestimmt wird, dass es kurzfristig ist und sich allein im Medium des Gesprächs und der mündlichen Überlieferung formiert, ist das kollektive Gedächtnis auf Dauer angelegt und führt in einem Prozess der Verschriftlichung zur Etablierung einer Leitperspektive. Zugleich werden die historischen oder persönlichen Erfahrungen abstrahiert und auf zeitenthobene Inhalte konzentriert. Im kulturellen Gedächtnis erhalten diese Erzählungen dann eine zusätzliche institutionelle Festigung, finden Einzug in einen weithin akzeptierten Kanon, der seinerseits Gegenstand von Erziehung und Bildung sein kann und zumeist einer spezialisierten Auslegung bedarf. 884 HÜBENTHAL, Markusevangelium, 447. 885 HÜBENTHAL, Markusevangelium, 448.
4.4 Funktion der markinischen Erzählung
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aufeinandertreffen und zugleich von einer Leitperspektive zu sprechen ist. Dieser Eindruck bestätigt sich, wenn das vorhandene Perspektivenangebot im Sinne einer Perspektivischen Interaktion in den Blick genommen wird (s.u. 4.4.2). Hierbei zeigt sich, dass der Standpunkt Jesu durch Mittel der Kontrastierung (Autoritäten, Jünger) und Korrelation (Gott, Dämonen, explizite Erzählerkommentare) eine besondere Profilierung erfährt. Innerhalb dieses Kommunikationsgeschehens ist zugleich zu berücksichtigen, dass der intendierte Rezipient des Markusevangeliums seinerseits kein unbeschriebenes Blatt ist, sondern dass dieser um die messianischen Erwartungen seiner jüdischen Umwelt weiß und seinerseits mit zentralen Bekenntnissen der urchristlichen Gemeinde vertraut ist. In der Tat ist die christliche Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft „in der jüdischen Tradition verwurzelt. Sie ist die Luft, die sie atmen und die Sprache, die sie sprechen.“886 Zugleich gewinnt die Gemeinde ihre Legitimation aber nicht vollumfänglich aus dieser Tradition, sondern durchaus auch in Abgrenzung zu dieser, so dass „[a]us der nachösterlichen Perspektive der Welt der Erzählstimme [...] das Nicht-Erkennen Jesu als Menschensohn, Messias und Sohn Gottes jedoch nur als Verstockung begriffen werden [kann].“ 887 Man könnte an dieser Stelle bestätigend auf Jesu wiederholte Überordnung über Mose und das Gesetz des Mose verweisen, die sich aus seinen eigenen Worten und Taten sowie der expliziten und impliziten Kommentierung des Erzählers deutlich erkennen lässt.888 Wenn Hübenthal betont, dass das kollektive Gedächtnis auf einem rituellen Gedächtnis aufbaue und damit meint, dass die Erinnerung an Jesus nicht allein auf der textuellen Ebene erfolge, sondern an die Tauf- und Mahlpraxis anknüpfe, die sich in der gruppenspezifischen Bewältigung einer traumatischen Erfahrung – nämlich des Todes Jesu889 – bewährt hätten, so weist dies ebenfalls auf die Anfänge einer sich neu entwickelnden Gruppenidentität hin. Allerdings lässt sich die konstitutive Bedeutung, die hierbei der Tauf- und Mahlpraxis zugesprochen werden sollen, kaum in dieser Deutlichkeit verifi-
886
Beide Zitate aus HÜBENTHAL, Markusevangelium, 450. HÜBENTHAL, Markusevangelium, 448. 888 Gegen KAMPLING, Israel, 209, der eine wichtige Funktion der markinischen Erzählung darin erkennt, dass die Gemeinde sich im Widerstreit mit jüdischen Schriftauslegungen auf die Position Jesu beziehen könne. Dies reicht insofern nicht aus, als Jesus im Markusevangelium keineswegs nur als überlegener Interpret vorgestellt wird, sondern aufgrund seiner Einheit mit Gott eine einzigartige Autorität beansprucht. 889 Bei der Frage nach dem kulturellen Impuls hinter dem Markusevangelium ist nicht „von der Bearbeitung einer unmittelbaren Krise auszugehen, [sondern] vielleicht besser, die Reaktion auf eine sich generell verändernde Situation anzunehmen, die nach (Selbst-) Vergewisserung fragt“ (HÜBENTHAL, Markusevangelium, 454). 887
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
zieren.890 Aber auch wenn die erzählerische Vergegenwärtigung Jesu nicht primär rituell zu fassen ist, so bleibt nichtsdestotrotz festzuhalten, dass das Selbstverständnis und die Identität der markinische Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft aufs Engste an die Person Jesu gebunden bleiben und mithin die Frage nach der Identität Jesu und die Frage nach dem Selbstverständnis der markinischen Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft unauflöslich aufeinander bezogen bleiben.891 4.4.2 Perspektivische Interaktion: Verwicklung des intendierten Rezipienten in den christologischen Erkenntnisprozess Über die Ergebnisse und Einsichten der bisherigen Forschungsgeschichte hinaus lässt sich aufgrund der durchgeführten Perspektivenanalyse (Kap. 4.2) 890
Die große Bedeutung, die Hübenthal der Mahlthematik beimisst, ergibt sich wohl insbesondere aus der Anlage ihrer Arbeit, d.h. aus der Fokussierung auf Mk 6,7–8,26. Insgesamt bleibt die Mahlthematik im Markusevangelium ein eher untergeordnetes Motiv, wenngleich eine intendierte Kontrastierung zwischen Herodesmahl und Speisungserzählungen (vgl. HÜBENTHAL, Markusevangelium, 402–414) die Aufmerksamkeit der Rezipienten geweckt haben könnte. Auch die „offene Stelle“ bzw. verdeckte Metalepse in Mk 1,8 ist für sich genommen kaum ausreichend, um im ersten Evangelium deutliche Anklänge an die frühchristliche Taufpraxis zu erkennen. Anders als Hübenthal betont, erhält der Rezipient bei der Taufe Jesu gerade keine Innensicht in den Protagonisten. Die Erzählung bleibt extern fokalisiert. Die Gefühle und Gedanken Jesu sind dem Leser verborgen. Es ist hier höchstens von einer besonderen Informiertheit des Rezipienten zu sprechen, weil dieser – im Unterschied zu den Figuren der Erzählung – zum Zeugen der göttlichen Offenbarung wird, somit von Anfang an um die besondere Beziehung zwischen Vater und Sohn weiß und die weiteren Ereignisse und Aktionen vor dem Hintergrund dieser Einheit deuten kann und – im Sinne eines primacy effects – deuten wird. Persönlich bleibe ich skeptisch, ob sich der Rezipient mit der Figur Jesu identifizieren kann und soll. Zwar erhält der Rezipient an anderer Stelle tatsächlich Einblick in Jesu Gedanken- und Gefühlswelt und es lassen sich auch andere Faktoren nachweisen, die eine solche Identifikation begünstigen (häufige Präsenz, Wahrnehmungszentrum, hohe Relevanz für die Handlung, wörtliche Rede). Zugleich bleibt Jesus jedoch ein weitgehend mysteriös agierender Protagonist, dessen Verhalten zumeist nicht durch innerweltliche Beweggründe motiviert ist, sondern dessen Verhalten und Motivation sich aus seiner Sendung ableitet und somit auf seine Einzigartigkeit und Einheit hinweist. Theologisch gesprochen wird man also dem Verständnis Jesu Christi als exemplum die Bedeutung Jesu Christi als sacramentum vorordnen und überordnen müssen. 891 Überaus deutlich wird dies an der Wortwahl, die Hübenthal in ihrem Vortrag beim Colloquium Biblicum Lovaniense LXVI (26.–28. Juli 2017) wählt: „Nachdem ich in den letzten rund zehn Jahren intensiv zu Fragen an der Schnittstelle Kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorie und Neutestamentliche Texte im Allgemeinen und Kollektives Gedächtnis und Markusevangelium im Besonderen geforscht habe, komme ich mehr und mehr zu der Überzeugung, dass die Kernfrage des Markusevangeliums die Frage nah der Identität Jesu ist. [...] Dabei geht es nicht darum, wer Jesus war, sondern darum, wer Jesus ist und was das für die Gruppe der Nachfolger – genauer: die Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft des Markusevangeliums – heißt“ (HÜBENTHAL, Kulturelle Rahmen).
4.4 Funktion der markinischen Erzählung
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zeigen, dass Markus den Standpunkt aller wichtigen Figuren bzw. Figurengruppen reflektiert und seinem dichterischen Gestaltungswillen unterworfen hat. Nicht nur die Perspektive Gottes oder die Perspektive Jesu erweist sich als inhaltlich kohärent, sondern auch der Standpunkt der Autoritäten, der Jünger, der Dämonen oder der Bedürftigen. Und selbst dort, wo sich eine Perspektive als ausgesprochen facettenreich bezeichnen lässt – wie der Standpunkt der „Menge“ – bleibt eine erzählerische Absicht erkennbar (vgl. 4.2.2e). Die Meinungen der einzelnen Perspektiventräger werden dabei über den Erzählverlauf so in Szene gesetzt, dass sie im Sinne der aristotelischen Literaturtheorie nachvollziehbar bleiben. Auch dies schließt keineswegs aus, dass sich aufgrund der Textgenese kleinere Inkohärenzen feststellen lassen, aber diese Abweichungen sind in der Regel nicht so gravierend, als dass der intendierte Rezipient sie nicht im Lektüreprozess überbrücken könnte. Es handelt sich mithin eher um produktionsästhetische Fehler bzw. Unachtsamkeiten. So bleibt der Standpunkt der Dämonen trotz variierender Anreden (1,24; 3,11; 5,7) inhaltlich identisch. Und Jesu differenzierter Gebrauch des Menschensohntitels erweist sich im jeweiligen Erzählkontext als logisch und folgt offensichtlich ebenfalls einer literarischen Intention. Die Figurenstandpunkte der markinischen Erzählung sind mithin nicht als „episodisch“ zu bezeichnen, sondern der Rezipient erhält die Möglichkeit, im Lektüreprozess die Meinung einzelner Figuren und Figurengruppen zu identifizieren und wiederzuerkennen, diese in ihrer jeweiligen Entwicklung und Bezogenheit nachzuvollziehen und letztlich im Gedächtnis zu behalten. Dies ist wiederum die Voraussetzung dafür, dass er diese Standpunkte mit Hilfe eigener real-world strategies of sense making (Surkamp) zu erklären versucht und mit seinen eigenen christologischen Überzeugungen und textextern vorgegebenen Bekenntnissen abgleicht. Mithin ist im Hinblick auf die markinische Christologie von einem emergenten Textgeschehen zu sprechen, das den einfachen Sinngehalt „im Text“ bei weitem überragt. Im Folgenden soll auf der Grundlage der bisherigen Analyseergebnisse und mit Hilfe der von Ansgar und Vera Nünning formulierten Analysekategorien (vgl. Tab. 2.6) zunächst die Perspektivenstruktur der markinischen Erzählung zusammenfassend dargestellt werden. Hierbei sollen zugleich die spezifischen Rezeptionsleistungen, die über den bloßen Text hinausverweisen, benannt werden. Hierzu zählt die Gewichtung einzelner Perspektiven ebenso wie die inhaltliche Integration unterschiedlicher Perspektiven. Der Schwerpunkt der Analyse liegt sodann auf dem abschließenden Aspekt der inhaltlichen Perspektivenverarbeitung. Anzahl: Im Hinblick auf die Anzahl der Perspektiven ist zunächst von einem überschaubaren Angebot zu sprechen. Der Rezipient fasst die Meinungen zahlreicher Figuren und Figurengruppen zusammen und erkennt im We-
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sentlichen892 eine Erzählerperspektive und acht bzw. neun Figurenperspektiven. Es handelt sich hierbei, wie in Kap. 4.2.2 begründet und dargestellt, um die Perspektive Gottes (4.2.2a), die Perspektive der Dämonen (4.2.2b), die Perspektive der religiösen und politischen Autoritäten (4.2.2c), die Perspektive der Jünger (4.2.2d), die Perspektive Jesu (4.2.2f) und die Perspektive wichtiger Episodenfiguren und Figurengruppen (4.2.2e), wobei sich letztere noch einmal ausdifferenzieren lässt in eine Perspektive der Bedürftigen und eine Perspektive des Volkes (vgl. hierzu 4.2.2c; 4.2.2e). Zudem lässt sich zumindest in Ansätzen die Perspektive des Johannes bestimmen, wenngleich diese gänzlich mit der anfänglichen Perspektive Gottes, namentlich der Erwartung des Stärkeren und damit des Kyrios (vgl. 4.2.2a) in Deckung bringen lässt. Das vergleichsweise geringe Perspektivenangebot erleichtert es dem Rezipienten, sich mit den jeweiligen Standpunkten auseinanderzusetzen, diese inhaltlich zu relationieren und auf seine eigene Meinung zu beziehen. Dies gilt umso mehr, als sich zwischen einzelnen Perspektiventrägern wiederum inhaltliche Koalitionen ergeben und sich manche Perspektiveninhalte damit verstärken (s.u.: Inhaltliche Perspektivenverarbeitung). Heterogenität: Im Hinblick auf die Heterogenität ist von einem mehrschichtigen Befund zu sprechen. Betrachtet man die soziale Verortung der Perspektiventräger, so ist von einem vergleichsweise breiten Spektrum zu sprechen. Dass die Bedürftigen weitaus häufiger zu Wort kommen als die Prominenten der damaligen Zeit bzw. die gesellschaftlich höhergestellten Figuren und Figurengruppen und dass ihr Standpunkt dabei nicht disqualifiziert wird, sondern immer wieder eine offensichtliche Wertschätzung durch den Erzähler und die Figur Jesu erhält (z.B. 2,5; 5,34, 7,29), bleibt im Kontext der antiken Literaturgeschichte bemerkenswert.893 Da die Bedürftigen – mit Ausnahme der Syrophönizierin und des Bartimäus – kaum an Individualität gewinnen,
892
Wenngleich sich theoretisch weitere Perspektiven rekonstruieren ließen, wie z.B. die Perspektive der Geburtstagsgäste (6,21), die Perspektive der Begleitpersonen (7,32.37), die Perspektive der geheilten Tochter (7,29f.) oder der Kinder (10,13–15), so lassen sich diese im Rezeptionsprozess entweder den genannten Figurengruppen zuordnen (Geburtstagsgäste = Autoritäten; Begleitpersonen = Volk) und/oder erhalten so gut wie keine erzählerische Aufmerksamkeit, d.h. der intendierte Rezipient kann und soll sich gerade keine weiterführenden Gedanken zu ihrer Meinung machen. Im Unterschied hierzu kann es in der Verkündigung oder in der pädagogischen Vermittlung von Interesse sein, diesen impliziten Standpunkten nachzugehen, um neue Applikationsmöglichkeiten zu erschaffen. Es handelt sich dann jedoch immer um einen kreativen Vorgang und eine neue Sinnzuschreibung und gerade nicht um eine historisch-literarisch verantwortete Deutung bzw. Exegese. Zwischen diesen beiden legitimen Textzugängen sollte so klar wie möglich unterschieden werden. 893 Ähnlich bereits AUERBACH, Mimesis, 25.
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lässt sich hinter diesem Sachverhalt keine zentrale erzählerischer Absicht bzw. Hauptfunktion erkennen.894 Konzentriert man sich hingegen auf den kulturellen Kontext der artikulierten Standpunkte, so lässt sich eine große Homogenität feststellen. Nicht nur die Überzeugungen der religiösen Autoritäten, sondern auch der Standpunkt der Menge, der Jünger, der Dämonen, einzelner Bedürftiger oder auch die Perspektive Gottes fußen durchgängig auf alttestamentlich-frühjüdischen Erwartungen. Die Bedeutung der Heiligen Schriften wird vom Erzähler von Anfang an durch die Aufnahme alttestamentlicher Zitate sowie die deutliche Anspielung auf alttestamentliche Messias- und Endzeiterwartungen hergestellt. Eine Besonderheit stellt in diesem Zusammenhang die Figurenrede Gottes dar, weil diese nicht vom Erzähler imitiert wird, sondern es sich hierbei um eine Verknüpfung und Abwandlung alttestamentlicher Schriftzitate handelt (1,2f.; 1,11; 9,7). Nach den Kriterien der Erinnerungsnähe, Bezeugungsbreite und Parallelität lässt sich plausibel machen, dass die meisten Endzeiterwartungen auch im Frühjudentum des 1. und 2. Jhdt. verbreitet waren und als festgeprägte Figurenschemata im Bewusstsein der Rezipienten vorhanden waren. Aus diesem Grund kann der Erzähler diese Vorstellungen aufgreifen, ohne sie – im Unterschied zu aramäischen Redewendungen oder jüdischen Ritualen – umfassend erklären zu müssen. Aufnahme finden im Markusevangelium v.a. die Hoffnung auf eine Wiederkehr des Elia bzw. die Wiederkehr eines endzeitlichen Propheten (vgl. 4.3.2a), die Hoffnung auf eine Herrschaft des messianischen Davididen (vgl. 4.2.2d und passim), die Hoffnung auf das endzeitliche Kommen des Kyrios (vgl. 4.3.2b) und die Hoffnung auf das Auftreten eines endzeitlichen Menschensohnes (vgl. 4.3.1j). Daneben finden sich Anspielungen auf das Leidensschicksal der Propheten bzw. des leidenden Gerechten und damit verbunden auf die Figur des Gottesknechtes. Während manche Perspektiventräger (v.a. die Jünger, Autoritäten, Menge) in ihren Erwartungen noch gänzlich in einer frühjüdischen Vorstellungswelt verhaftet bleiben, lassen das von Gott angekündigte Kommen des Kyrios oder Jesu ausdifferenzierte Rede vom Menschensohn bereits deutliche Spuren einer christlichen Adaption und Relecture erkennen. Hierbei ist zu betonen, dass sich der Autor und der intendierte Rezipient dieser unterschiedlichen Gebrauchsweisen und Implikationen durchaus bewusst zu sein scheinen. 894
Mitursächlich für diese Verteilung und eine relative Bevorzugung sozial benachteiligter Figuren dürften die milieuspezifischen Bedingungen sein, in denen die Episoden ursprünglich entstanden sind. Dies schließt freilich nicht aus, dass der jeweilige Autor eigene Betonungen vornimmt. So ist Lukas offensichtlich bestrebt, den Kontrast zwischen arm und reich herauszustellen und durch die Erwähnung von Jüngerinnen ein ausgeglicheneres Verhältnis zwischen den Geschlechtern zu vermitteln. Bei Markus scheint bereits die Auswahl der Figuren christologisch motiviert zu sein. So steht jede für ein spezifisches Leiden, dessen Beseitigung in der Endzeit durch den Kyrios selbst erfolgen soll (s.u.).
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Markus spielt absichtlich mit der Differenz zwischen einer vorösterlichen und nachösterlichen Begriffskonnotation. So ist es keineswegs zufällig, dass die Jünger aufgrund ihres königlichen Messiasbildes die von Jesus propagierte Notwendigkeit des Leidens missbilligen. Der Rezipient wird dazu ermächtigt, dieses und andere Missverständnisse auf die mangelnde Informiertheit und insbesondere den vorösterlichen Erschließungsmangel der Perspektiventräger zurückzuführen (K-Welt). Die impliziten und expliziten Ankündigungen einer nachösterlichen Evangeliumsverkündigung lassen nämlich erkennen, dass der Rezipient durchaus weiß, dass der Auferstandene den Jüngern nach Ostern offenbar gemacht wurde und ihr Unverständnis bzw. ihre Verstockung lediglich temporär war. Ob der Rezipient darüber hinaus einen Bezug zwischen dem Unverständnis der Figuren und dem Unglauben seiner eigenen Zeitgenossen herstellen soll, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Die indirekten Anspielungen und Vorhersagen legen dies jedoch nahe. Dass der erste Evangelist über diese homogene Vorstellungswelt hinaus eine Parallelisierung zwischen Jesus und einem hellenistischen Wundertätertypus oder einem römischen Herrscherbild anstrebt, ist aufgrund der zurückliegenden Analyse nicht zu erkennen. Es lassen sich hierfür weder ausreichend textinterne noch textexterne Indizien geltend machen. Die Behauptung eines festgeprägten Wundertätertypus hat sich ohnehin als forschungsgeschichtliches Konstrukt erwiesen (vgl. Kap. 3.2.1 und 3.2.4). Das Bild eines römischen Herrschers besitzt demgegenüber wesentlich schärfere Konturen. Eine entsprechende Parallelisierung führt aber entweder zu einer fragwürdigen Spätdatierung des ersten Evangeliums (um 80 n.Chr.) oder dazu, dass es zu einer Verwechslung von intendiertem Textsinn und wirkungsgeschichtlichen Lesweisen kommt (vgl. Kap. 3.2.2 und 3.2.4). Wie anhand von Bedenbenders Arbeit gesehen, überfordert eine durchgängig allegorische Lesweise den Markustext und den intendierten Rezipienten gleichermaßen. So bleibt zu fragen, warum Markus von Anfang an explizit auf die Heiligen Schriften rekurriert und alttestamentliche Anspielungen deutlich markiert, wenn der intendierte Rezipient eigentlich auf einen ganz anderen Referenzrahmen rückschließen soll. Alle Erklärungsmodelle, die dieses offensichtliche Schweigen des Textes psychologisch oder soziologisch erklären wollen, indem sie auf die traumatischen Erfahrungen (Bedenbender) oder eine besondere Bedrohungslage der markinischen Gemeinde verweisen, sind als Spekulation zurückzuweisen. Unabhängig davon, ob man die markinische Gemeinde in Rom oder Syrien lokalisiert, ist sie in die politischen Auseinandersetzungen in der Levante und in Jerusalem nicht unmittelbar verwickelt. Markus scheint mit seiner Erzählung die weltpolitischen Ereignisse nur sehr indirekt aufzugreifen.895
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Ähnlich HÜBENTHAL, Markusevangelium, 450.
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Explizität: Das Kriterium der Explizität erweist sich im Hinblick auf die markinische Erzählung als vergleichsweise wenig aussagekräftig. Es ist ein Kriterium, das in der Vergangenheit der Exegese eher überbewertet wurde und dort zur Reduktion der markinischen Christologie geführt hat. Jedenfalls dort, wo man aufgrund ausgewählter Textstellen einseitig und voreilig von einer primären Sohn-Gottes- oder Menschensohn-Christologie gesprochen hat und damit einen kaum haltbaren Kontrast zwischen dem Standpunkt zentraler Figuren konstruierte. Ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Explizität und Wichtigkeit eines Figurenstandpunktes besteht offensichtlich nicht. Als eher explizit ist v.a. der Standpunkt Gottes und der Standpunkt der Dämonen zu bezeichnen. Eher implizit ist im Markusevangelium der Standpunkt der Autoritäten oder der Standpunkt der Bedürftigen. Ersteres ist aber damit zu begründen, dass die Autoritäten von Markus als scheinheilig dargestellt werden sollen, um den indirekt zu erschließenden und lediglich selten artikulierten Vorwurf der Blasphemie einer negativen Beurteilung zu unterziehen (s.u.). Sowohl die expliziten Standpunkte, bei denen sich der Erzähler beispielsweise der zitierten Rede bedient, als auch die impliziten Standpunkte, die primär durch ein Verhalten oder eine erzählte Figurenrede vermittelt werden, sind nie „an sich“ verständlich. Der Inhalt und die Intention des jeweiligen Standpunktes muss vom intendierten Rezipienten immer durch weitere Informationen – v.a. andere Figurenmerkmale und Figurenrelationen – erschlossen werden. So lässt erst das Machtgefälle zwischen Jesus und den Dämonen erkennen, dass diese Jesu Sohnschaft nicht freiwillig preisgeben, sondern seine Vollmacht schlichtweg anerkennen müssen. Und wenn Jesus von Gott als Sohn angeredet (1,11; 9,7; vgl. 12,36) und das Kommen des Kyrios von Gott selber mit dem Kommen Jesu gleichgesetzt wird (1,2f.), so artikuliert sich in der Sohnesanrede ein einzigartiges und wechselseitiges „Zugehörigkeitsverhältnis“896, das durch die Attribute des Wohlgefallens und der Liebe näherbestimmt wird (eujdokei`n, ajgaphtov~) und das bei der Interpretation des Leidens Jesu nicht einfach beiseite zu schieben ist. Der Standpunkt der Autoritäten besteht demgegenüber nicht in einer positiven Artikulation, sondern einzig und allein im Vorwurf der Blasphemie, der zunächst als Gedankenzitat vorgetragen wird (2,7) und sich im geheimen Mordplan (3,6: erzählte Rede) sowie der wiederholt vorgetragenen Absicht, Jesus überführen zu wollen, manifestiert. Dass der Rezipient die Meinung der Autoritäten primär aus deren Verhalten erschließen muss, bedeutet nicht, dass dieser Standpunkt von geringer Bedeutung wäre. Vielmehr ist ein Verständnis dieser Perspektive wichtig, um den zentralen Konflikt der Erzählung 896
GRUNDMANN, Markus, 45. Wenn der Begriff des Zugehörigkeitsverhältnisses im Folgenden verwendet wird, so rekurriere ich hiermit immer zugleich auf den grundlegenden Gebrauch bei Grundmann, ohne dies abermals explizit anzumerken.
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nachzuvollziehen, die weitere Handlung zu antizipieren, die Dramaturgie und Spannung des Erzählten nachzuempfinden und Rückschlüsse auf den Standpunkt des Erzählers zu ziehen. Der Perspektive der Autoritäten ist daher eine hohe Handlungsrelevanz zuzuschreiben. Durch die zahlreichen Bewertungen des Erzählers und des Protagonisten, die das intrigante Verhalten der Autoritäten aufdecken und ihre Meinung damit schwächen (vgl. Zuverlässigkeit, Hierarchie), wird der Rezipient zur eigenen Auseinandersetzung angeregt und soll den Standpunkt der Autoritäten zurückweisen. Auch hierdurch erhält dieser Standpunkt große Aufmerksamkeit und lässt erkennen, dass im Markusevangelium kein direkter Zusammenhang zwischen der Explizität und der Wichtigkeit einer Perspektive besteht. Es gilt alle Faktoren der Aufmerksamkeitslenkung zu berücksichtigen. Zuverlässigkeit und Hierarchie: Wie bereits im vorherigen Abschnitt angedeutet, wird die Zuverlässigkeit der Autoritäten durch den Erzähler des Markusevangeliums mehrfach und auf vielerlei Weise in Frage gestellt. Auch in seiner Einstellung gegenüber anderen Perspektiventrägern wird der Rezipient durch diverse Mittel der Sympathielenkung beeinflusst. Obwohl Markus seinen christologischen Standpunkt vorsichtig formuliert und durch die Verwendung des Christustitels in 1,1 lediglich ein Interpretationsspielraum eröffnet wird (vgl. 4.2.1), bleibt der erste Evangelist als extradiegetischer Erzähler den Figuren seiner Erzählung überlegen und vermag, deren Äußerungen und deren Verhalten von seinem nachösterlichen Standpunkt aus auf vielfältige Weise zu bewerten. Dass die Jünger Jesus angesichts seiner Wundertaten nicht erkennen und ihn beim Seewandel gar für ein Gespenst halten, lässt sich aus Sicht des Erzählers nur als (vorösterlicher) Unglaube verstehen und ist auf eine (temporäre) Verstockung zurückzuführen (6,52). Wenn dieser Erzählerstandpunkt wenig später in einer vergleichbaren Situation durch die Meinung des Protagonisten bestätigt wird (8,17), so handelt es sich hierbei um eine sogenannte Informationsverdoppelung. Der eigene Standpunkt wird durch die Meinung eines anderen, zuverlässigen Perspektiventrägers bestätigt. Hierbei greift Markus auf jene Zuverlässigkeit zurück, die der Person Jesu aufgrund des textexternen Wissens der Rezipienten zu eigen ist und die sich in der Erzählung durch Jesu Vorhersagen der näheren und weiteren Zukunft (vgl. 4.3.1g), bewahrheitet. Auch an anderer Stelle bedient sich Markus der Informationsverdoppelung, wobei er auch die Meinung mehrerer Figuren korrelieren kann (1,11 ó 3,11 [Gott, Dämonen]; 12,15 ó15,10 [Jesus, Pilatus]). Indem Markus häufig Einblick in die Gedanken der Autoritäten gewährt (2,6; 3,2; 11,31f.; 12,12; 14,1; 14,55), weist er nicht nur direkt auf deren böse Absichten hin, sondern er kann diese Absichten zugleich mit einem abweichenden Verhalten kontrastieren (z.B. 12,14 nach 12,13) und die religiöse Elite damit
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indirekt als hinterhältig, intrigant und scheinheilig charakterisieren. Eine Charakterisierung, die dann wiederum durch entsprechende Kommentare des Protagonisten bestätigt wird (12,15; vgl. 7,6–8; 8,15; 12,38–40). Letztlich werden die religiösen Autoritäten als verlässliche Perspektiventräger disqualifiziert, weil sie sich im Prozess gegen Jesus der Lüge und Falschaussage bedienen, d.h. ihrem eigenen Wertesystem zuwider handeln, und sich ihre Anklage mit der Auferstehung Jesu und der darin zum Ausdruck kommenden Rehabilitation durch Gott endgültig als falsch erweist. Jesu Vollmachtsanspruch erhält durch das Eingreifen Gottes hingegen eine größtmögliche Legitimation. Die Zuverlässigkeit führt somit automatisch zu einer Hierarchisierung der Perspektiven. Die Perspektive der Autoritäten erweist sich als falsch und ist abzulehnen. Die Informationen über die Perspektive Jesu und die Perspektive Gottes stützen sich gegenseitig und lassen auf Jesu wahre Identität rückschließen, ohne dass sie für sich genommen Jesu Person hinreichend und allumfassend beschreiben würden. Von einem besonders großen erzählerischen Geschick zeugt die Charakterisierung der politischen Autoritäten. Herodes und Pilatus werden hierbei parallelisiert und erscheinen jeweils als schwache Herrscher, die sich wider besseren Wissens in die Abhängigkeit anderer Personen begeben und sich innerhalb eines Wunsch-/Pflichtkonflikts sodann als ohnmächtig erweisen. Zugleich wird der Standpunkt des Herodes, der in Jesus den auferstandenen Johannes erkennt, durch den vorherigen (1,7f.) und nachfolgenden Erzählverlauf (8,27–29) disqualifiziert. Der gewährte Einblick in die Entscheidungsfindung des „Königs“ (6,16) soll offenbaren, dass die Überzeugung des Herodes auf der unentschuldbaren Hinrichtung des Täufers fußt und aus einer entsprechenden Angst vor dessen Rückkehr resultiert. Weder der Standpunkt des Herodes noch die vergleichbaren Überzeugungen im Volk, die Jesus für Elia oder einen der Propheten halten, sind zuverlässig, sondern sollen vom Rezipienten als unzureichend erkannt werden. Dieses Urteil leitet sich auch aus der besonderen Informiertheit des Rezipienten ab, weil dieser von Anfang an weiß, dass Johannes der Täufer und nicht Jesus mit Elia zu identifizieren ist. Eine Sichtweise, die in 9,12f. durch Jesus als zuverlässigem Perspektiventräger nochmals bestätigt wird. In der Begegnung mit Pilatus wird abermals Jesu Funktion als messianischer Königsprätendent thematisiert und ebenso wie zuvor – in der Begegnung mit den Jüngern oder Bartimäus – als defizitär zurückgewiesen. Jesus ist eine königliche Würde zu eigen, aber seine Identität lässt sich nicht auf die frühjüdische Erwartung eines königlichen Messias reduzieren. Quantität: Da der Standpunkt einer Figur nicht allein auf die expliziten Äußerungen oder Gedanken zu reduzieren ist, lässt sich die genaue quantitative Verteilung der Perspektiven nur schwer bestimmen. Grob ist zu erkennen,
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dass der Protagonist als szenisch dominante Person am häufigsten zu Wort kommt bzw. in die Aufmerksamkeit des Rezipienten gerät. Dies führt im Rezeptionsprozess dazu, dass sich der Rezipient mit dem Standpunkt Jesu besonders intensiv beschäftigen kann und seine Äußerungen und sein Verhalten beispielsweise auf seine Motivation hin befragt. Aus diesem Grund lässt sich dem Messiasgeheimnis, das in der vorliegenden Arbeit v.a. unter dem Gesichtspunkt der Motivation untersucht wurde (4.3.1j), eine hohe Bedeutung zuschreiben. Der Rezipient erkennt, dass Jesu Schweigegebote dem Zweck dienen, dass seine Identität allein durch Gott offenbar gemacht wird. Sein Verhalten strahlt zugleich die feste Zuversicht aus, dass es mit dem Ostergeschehen zu einer umfänglichen Offenbarung kommt und er so von seinen Nachfolgern erkannt und verkündigt wird. Entgegen einer häufig artikulierten Meinung lässt sich der Standpunkt Gottes nicht allein auf die beiden Offenbarungsszenen in 1,9–11 und 9,2–7 reduzieren. Aus kognitiv-narratologischer Sicht bleibt vielmehr zu betonen, dass die Perspektive Gottes auch aus Jesu Hinweisen auf den ewigen Ratschluss Gottes, d.h. aus den diversen Sendungsworten und Leidensankündigungen, zu erschließen ist oder in der Zitation bzw. Kombination alttestamentlicher Schriftzitate zur Sprache kommt (z.B. 1,2f.; 12,36b). Damit äußert sich Gott keineswegs selten, sondern sein Standpunkt bleibt über den gesamten Erzählverlauf hinweg präsent und findet – wenngleich indirekt – eine deutliche Artikulation. Insgesamt lässt sich erkennen, dass die Erzählung so ausgestaltet wurde, dass die Äußerungen und das Verhalten der einzelnen Perspektiventräger – im aristotelischen Sinne – „gut memorierbar“ (eujmnhmovneuton) bleiben (Aristot. poet. 1450b35–1451a15). Eine besonders gleichmäßige Verteilung erhält wiederum die Perspektive der Autoritäten. Mit der Streitgesprächssammlung (Mk 2,1–3,6), den Auseinandersetzungen im Mittelteil (Kap. 7; 11f.) und der ausführlichen Passionsschilderung (Kap. 14f.) lässt sich im Konfliktverlauf ein jeweils klar markierter Anfang, eine Mitte und ein Endpunkt erkennen. Auch diese erzählerische Ausgestaltung unterstreicht die hohe Relevanz, die der intendierte Rezipient dem Standpunkt der Autoritäten beimessen soll. Erzählordnung: Indem Markus seiner Erzählung ein Mischzitat aus Mal 3,1, Ex 23,20 und Jes 40,3 voranstellt und sich hierin – aus Sicht des intendierten Rezipienten – die Stimme Gottes artikuliert (vgl. 4.2.2a), erhält die damit verbundene Identifikation zwischen dem Kommen Jesu und dem Kommen des Kyrios eine hohe Aufmerksamkeit (= Primäreffekt) und Zuverlässigkeit. Durch Johannes’ Ankündigung eines Stärkeren sowie die Anrede Gottes (Mk 1,11) wird dieser Ersteindruck inhaltlich bestätigt und zugleich auf Jesu Einzigkeit und Einheit mit Gott hingewiesen. So stellt die Rede vom Kommen des „Stärkeren“ eine indirekte Identifizierung zwischen dem Wirken Jesu und
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dem Wirken des Kyrios her, und durch die göttliche Stimme in 1,11 gerät eine einzigartige und zugleich wechselseitige Vater-Sohn-Beziehung in den Blick. Mit dem ersten Heilungsbericht wird dann erstmals jene Wahrnehmungsdifferenz thematisiert, die zwischen den überirdischen Mächten und den menschlichen Charakteren besteht und die im weiteren Erzählverlauf ihre Fortsetzung findet. Während die Dämonen Jesus als Sohn Gottes erkennen und in seiner Vollmacht anerkennen müssen, bleibt den menschlichen Wunderzeugen Jesu Identität verborgen. Sie bemerken lediglich – wie in der Folge auch (1,27; 2,12; 4,41; 5,42; 7,37 u.ö.) – Jesu analogielose Vollmacht, die sich nicht nur in seiner Übermacht gegenüber Dämonen, sondern auch gegenüber Krankheiten, Naturgewalten oder dem Tod ausdrücken kann und bei den Menschen Verwunderung, Furcht und Entsetzen auslöst. Aufgrund seiner besonderen Informiertheit (s.u.) vermag der Rezipient diese Zeichen als verborgene Hinweise auf Jesu wahre Identität zu lesen. Auch durch sie wird Jesu Wirken mit dem endzeitlichen Wirken des Kyrios parallelisiert (vgl. 4.3.2b) und der anfängliche Standpunkt Gottes bestätigt. Der Standpunkt der Autoritäten erhält durch die Streitgesprächsammlung in 2,1–3,6 hingegen nicht nur große Aufmerksamkeit, sondern erweist sich im Erzählverlauf geradezu als Gegenposition zum Standpunkt Gottes. Entweder die Autoritäten sind im Recht und Jesu Vollmachtsanspruch ist Ausdruck eines blasphemischen Selbstverständnisses, oder Gott sowie Johannes und die Dämonen sind im Recht und Jesus erhebt seinen Vollmachtsanspruch völlig zu Recht, weil zwischen ihm und Gott ein einzigartiges Zugehörigkeitsverhältnis besteht und seine zeichenhaften Wunder auf sein göttliches Wesen hinweisen. Im weiteren Erzählverlauf tritt nach und nach die Perspektive der Jünger, des Volkes, der Bedürftigen und der politischen Autoritäten hervor, wobei der Rezipient diesbezüglich zu unterscheiden vermag, zwischen einem unzureichenden Standpunkt (6,14–16; 8,28; 9,5.10f.), der Jesus mit Elia oder einem anderen Propheten zu identifizieren versucht, und Teilwahrheiten (8,29; 10,35–37; 10,47f.; 11,9f.; 14,61; 15,2.26; 15,39), die zwar einen wesentlichen Aspekt der Identität Jesu benennen und der frühchristlichen Bekenntnissprache entsprechen, aber auf je unterschiedliche Weise in eine vorösterliche Sicht des Unwissens und des Unglaubens gehüllt bleiben (s.u.: Inhaltliche Perspektivenverarbeitung). Räumliche Verteilung: Die räumliche Verteilung der Perspektiventräger spielt im Markusevangelium eine untergeordnete Rolle. Der in der älteren Exegese behauptete Kontrast897 zwischen Galiläa und Jerusalem lässt sich nicht nachweisen. So stößt Jesus bereits in Kapernaum auf Ablehnung. Es ist der Ort, 897
So bereits LOHMEYER, Galiläa; BÖSEN, Galiläa, 262–274. FREYNE, Geography, 289–311, will sogar einen historischen Hintergrund für diese Opposition erkennen.
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wo die Autoritäten nach den anfänglichen Provokationen ihren Mordplan fassen. Wenn im weiteren Erzählverlauf Schriftgelehrte aus Jerusalem nach Galiläa strömen, so dient auch dies nicht einer einseitigen Abwertung der Hauptstadt. Der Rezipient wird diese Gelehrten, seinem textexternen Wissen gemäß für Inspektoren halten, die mit den lokalen Autoritäten zusammenwirken und aufgrund der besonderen Brisanz des erhobenen Vollmachtsanspruchs Jesu zugegen sind. Dies wird mitunter durch die sich rasch ausbreitende Kunde von Jesus plausibel gemacht. Umgekehrt weiß Markus durchaus von Jerusalemer Schriftgelehrten und Autoritäten zu berichten, die an Jesu Lehre Gefallen finden (12,28–34) und seiner Botschaft vom angebrochenen Reich Gottes (1,14f.) Vertrauen schenken (15,42–47). Obwohl Markus seinen Rezipienten eine klare geographische Orientierung bietet und die beiden Seiten des Galiläischen Meers auf stereotype Weise als genuin jüdisches und heidnisches Territorium dargestellt werden, lässt sich auch entlang dieser Ost-West-Achse bzw. dieser ethnischen Grenze keine einseitige Abwertung bzw. Wertschätzung ganzer Figurengruppen erkennen. So kann Jesus aufgrund seiner vollmächtigen Taten hier wie dort auf einen individuellen Glauben oder Unglauben stoßen. Das Verhältnis zwischen Jesus und den Heiden wird nicht durch eine besondere Glaubenshaltung oder Offenheit in der paganen Umwelt konstituiert, sondern dadurch, dass sich die Kunde von Jesus in den heidnischen Gebietet verbreitet, Jesus seinerseits diese Gebiete aufsucht und die Begegnungen, insbesondere die Begegnung mit der Syrophönizierin, zum Anlass nimmt, am heilsgeschichtlichen Vorrang der Juden festzuhalten und zugleich ein neues, universalistisches Heilsverständnis zu bestätigen bzw. aufzuzeigen (7,29f.). Unter dieser Voraussetzung ist dann sowohl das Schöpferlob der heidnischen Menge (7,31–37) als auch das Bekenntnis des römischen Hauptmanns (15,39) zu verstehen. Letzteres lässt auf eine nachösterliche Glaubenserkenntnis der Heiden hoffen, bleibt seinerseits aber noch in ein vorösterliches Unwissen gehüllt. Der Centurio erkennt angesichts der Todesumstände – namentlich des frühzeitigen Todeszeitpunktes und des unerwartbaren Schreis – zwar Jesu wahre Gottessohnschaft, aber er weiß noch nichts von einer Einsetzung des „Sohnes Gottes in Kraft durch die Auferstehung“ (Röm 1,3), zu der sich die christliche Gemeinde aus Juden und Heiden bereits früh bekannte und die dem Rezipienten des Markusevangeliums im Jahr 70 n. Chr. kaum gänzlich unbekannt war. Zeitliche Verteilung und Informiertheit: Die zeitliche Relation der berichteten Ereignisse und die zeitliche Verteilung der geäußerten Meinungen spielt im Markusevangelium ebenfalls keine nennenswerte Rolle. Wenn man im Hinblick auf das Markusevangelium von einer zeitlichen Unterteilung sprechen will, so besteht diese einzig und allein in einem zeitlichen Standpunkt vor Ostern und nach Ostern. Vor Jesu Auferstehung haben die Menschen keine
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oder lediglich eine sehr eingeschränkte Erkenntnis der Person Jesu, die sich in vielerlei Missverständnissen oder einer offenen Ablehnung des Gottessohnes artikuliert. Sie tragen Erwartungen an Jesus heran, die sich aufgrund der TAW (Textual Actual World) nahelegen, die sich aufgrund des nachösterlichen Wissens der Rezipienten aber als falsch oder defizitär erweisen. Es besteht gerade keine vollständige Kompatibilität zwischen TAW und AW (Actual World). Letztlich ist hiermit jedoch weniger der Aspekt einer zeitlichen Verteilung der Perspektiven angesprochen als der Aspekt der Informiertheit. Markus kann auf das christologische Vorwissen seiner Rezipienten vertrauen, namentlich eine Kenntnis urchristlicher Bekenntnistraditionen, und er gewährt ihnen zugleich einen Einblick in den innergöttlichen Dialog (Mk 1,2f.), lässt sie über zentrale Offenbarungsinhalte Bescheid wissen (1,11; 9,7) und erzählt aus der Wahrnehmung Jesu, sodass der Leser im Unterschied zu den Zeitgenossen Einblick in das übernatürliche Wissen der Dämonen erhält (1,24f.; 3,11; 5,6–10). Dieser Informationsvorsprung gegenüber den meisten Charakteren verleiht dem Rezipienten ein Gefühl größtmöglicher Orientierung. Im Zuge der Handlungsanalyse (4.4.4) wird sich zeigen, dass der Rezipient nicht alle Situationen und Entwicklungen der Erzählung antizipieren kann, dass er aber über weite Strecken eine gute Orientierung behält. Überrascht wird der Leser v.a. durch einzelne Verhaltensweisen und Äußerungen Jesu (z.B. 5,34), den plötzlichen Erkenntnisgewinn der Jünger in Mk 8,29, das „Bekenntnis“ des Hauptmanns (15,39) oder das abrupte Ende der Erzählung (16,8). Die Zusammenfassung der Figurenanalyse (4.4.3) verdeutlicht hingegen, dass der Rezipient nicht nur auf direktem Wege über Jesu Identität informiert wird, sondern dass er zugleich durch eine reiche Motivik und eine durchgängige Parallelisierung zwischen dem Wirken Jesu und dem endzeitlich erwarteten Wirken des kommenden Kyrios auf eine Einheit zwischen Jesus und Gott verwiesen wird. Im Unterschied zu den Jüngern, die Jesu Wunder nicht zu deuten vermögen und deshalb vom Erzähler und Protagonisten gleichermaßen getadelt werden, vermag der Rezipient, in Jesu Seewandel, im wiederholten Brotwunder oder den anderen Wunderzeichen Gottes endzeitliches Wirken zu erkennen. Die geringe Informiertheit und Unwissenheit der menschlichen Charaktere erhöht die Rätselspannung und sorgt dafür, dass die Rezipienten ihrerseits versuchen, die wahre Identität Jesu zu erschließen. Man könnte hier von einer didaktischen Funktion der markinischen Perspektivenstruktur sprechen. Normativität: Im Markusevangelium erscheinen gerade jene Perspektiventräger als unzuverlässig, die in der AW und TAW als menschliche Normrepräsentanten gedacht werden. Die religiösen Autoritäten der jüdischen Gesellschaft sind verstockt und erkennen in Jesu Vollmachtsanspruch ein blasphemisches Verhalten, statt ihn als Sohn Gottes oder gar als Kyrios anzuerken-
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nen. Da Jesus eine Verstockung der Autoritäten bis zu seiner Parusie ankündigt und die Schriftgelehrten bis dahin nicht bemerken, dass sie in ihrer Anklage bereits Jesu wahre Identität ausgesprochen haben (14,61f.), muss sich der Rezipient auch in seinem Lebensumfeld auf eine ablehnende Haltung der jüdischen Autoritäten einstellen. Dies schließt keineswegs aus, dass einzelne Repräsentanten dieser Elite durch die Verkündigung des Evangeliums zum Glauben an Jesus Christus gelangen (12,28–34; 15,42–47). Wo dies geschieht, bleibt dieser Glaube ebenso wie die Verstockung gottgewirkt (10,17– 27). Trotz ihrer offenkundigen Verstockung bleiben die Autoritäten auch in der erzählten Welt Normrepräsentanten. Das Volk lässt sich letztlich von der Meinung der religiösen Autoritäten überzeugen. Auch zwischen der Meinung des Herodes und dem anfänglichen Stimmungsbild innerhalb des Volkes gibt es eine inhaltliche Übereinstimmung. Jesus wird von beiden Parteien als endzeitlicher Prophet verstanden, sei es als Elia, als auferstandener Johannes oder einer der Propheten. Auch die Jünger zeichnen sich als Autoritäten der Urgemeinde durch ein defizitäres Wissen aus, weil sie zunächst keinerlei Antwort auf die Identitätsfrage zu finden scheinen, ihr Unglaube entsprechend getadelt wird und sie auch ab 8,28 einer unzureichenden Messiasvorstellung verhaftet bleiben. Sie erkennen zwar Jesu königliche Würde, widersprechen aber gerade deshalb – und d.h., weil sie an einer frühjüdischen Messiasvorstellung festhalten (KWelt) – der heilsgeschichtlichen Notwendigkeit des Leidens. Ziel dieser Charakterisierung ist es aber keineswegs, die Apostel der Urgemeinde zu diffamieren. Dafür hätte es im Jahr 70 n.Chr. auch kaum einen Grund mehr gegebenen. Vielmehr soll der Rezipient auf eine prinzipielle Erkenntnismöglichkeit vor Ostern hingewiesen werden. Die Jünger hätten anhand von Jesu Lehre und anhand der Wundertaten Jesu göttliche Identität erkennen können, wie es der Rezipient aus dem Erzählverlauf und aufgrund der gebotenen Intertextualitäten, Figurenparallelen und Symbole kann, aber die Jünger erweisen sich ebenfalls als verstockt. Umgekehrt setzt der wiederholte Hinweis auf eine nachösterliche Evangeliumsverkündigung voraus, dass Jesus den Jüngern letztlich vollumfänglich offenbar gemacht wurde. Auch wenn das Markusevangelium von keinen Osterbegegnungen erzählt, wird der Rezipient aufgrund des frühchristlichen Bekenntnisses (1Kor 15,3–5) und paralleler Erzähltraditionen, von diesen Begegnungen eine Kenntnis gehabt haben. Diese Erzählungen und Bekenntnisse sind im Unterschied zu den lebensgeschichtlichen Ereignissen des Markustextes gerade als das Vertraute und Bekannte anzusprechen. Die markinische Erzählung trägt nicht primär zur christlichen Identitätsbildung bei, sondern sie fußt ihrerseits auf einem frühchristlichen Selbstbewusstsein, dass sich in den Bekenntnissen der Urgemeinde bereits niedergeschlagen hat. Letztlich muss auch Gott als Normrepräsentant genannt werden, wobei v.a. der Standpunkt des Täufers auf Gottes Selbstauskunft in Mk 1,2f. zu bezie-
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hen ist. Wo im weiteren Erzählverlauf der Kyriostitel auf Jesus bezogen wird, erfolgt dies hingegen noch nicht im Sinne eines vollgültigen Bekenntnisses. Gleichzeitig wird der Rezipient eine adäquate Anrede erkennen können, die einen größeren Wahrheitsgehalt enthält, als sich die Figuren der erzählten Welt bewusst sind. Durch die Figurenrede der Dämonen wird die sonst geheime Offenbarung der Gottessohnschaft Jesu aufgegriffen. Zugleich wird durch die Schweigegebote Jesu verdeutlicht, dass es keinem anderen als Gott selber gebührt, Jesus als Sohn anzureden. Vor diesem Hintergrund lässt sich dann auch die von Jesus bevorzugte Selbstbezeichnung als Menschensohn verstehen. Sie steht weder in Spannung noch in Kontrast zum Standpunkt Gottes, sondern erklärt sich einzig und allein durch die Hierarchie, die sich innerhalb des Zugehörigkeitsverhältnisses zwischen Vater und Sohn ausmachen lässt. Während es allein dem Vater zusteht, seinen Sohn als solchen anzureden, spiegelt sich in der Verwendung des Menschensohntitels trotzdem derselbe Autoritätsanspruch wider. Jesus soll nicht als menschliche Gestalt erscheinen, sondern als endzeitlicher Menschensohn, der für sich die göttliche Vollmacht beansprucht, Sünden zu vergeben, Herr über Dämonen, über Krankheit, Mangel, Not und den Tod zu sein. Inhaltliche Perspektivenverarbeitung: Im Verlauf der bisherigen Zusammenfassung wurden bereits einige Strategien einer integrationsfördernden oder synthesestörenden Perspektivensteuerung angesprochen. Im Zuge dieses Abschnitts soll nun eine inhaltliche Relationierung der Perspektiven und eine Skalierung der Perspektivenstruktur vorgenommen werden. Dies ermöglicht es wiederum, den christologischen Standpunkt des Erzählers und die Hauptund Nebenfunktionen der markinischen Erzählung, insofern sie sich aus der Ausgestaltung der Perspektiven erheben lassen, zu bestimmen. Die neun bzw. zehn Einzelperspektiven der markinischen Erzählung lassen sich aufgrund ihrer unterschiedlichen Zuverlässigkeit, der Erzählordnung und dem Aspekt der Informiertheit in eine klare Hierarchie überführen. Zugleich lassen sich zwischen einzelnen Perspektiventrägern inhaltliche Koalitionen und Abhängigkeiten erkennen. Deutlich zurückgewiesen wird der Standpunkt der religiösen Autoritäten, der sich inhaltlich im Vorwurf der Blasphemie bündelt. Wird dieser Vorwurf zu Beginn (2,6) und am Ende (14,63f.) des Konfliktverlaufs deutlich artikuliert, so bezieht der Rezipient alle übrigen Äußerungen der Autoritäten auf diesen Anklagegrund und erkennt im intriganten Verhalten nichts anderes als die Absicht, Jesus zu Unrecht der Gotteslästerung zu überführen und deshalb einen Anklagegrund zu konstruieren. Dies sorgt im Rezeptionsprozess zugleich für Spannung und weckt die Aufmerksamkeit des intendierten Rezipienten. Nicht nur durch explizite Hinweise wird dieser immer wieder an die Mordabsichten der Autoritäten erinnert, sondern er vermag diese Motivation auch, aus dem Verhalten der Autoritäten abzuleiten. Er bedient sich hierbei
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seiner textexternen Menschenkenntnis und Alltagspsychologie. Dass Jesus die Hinterlistigkeit und Scheinheiligkeit der Autoritäten immer wieder anspricht, lässt sich als indirekte Sympathielenkung bezeichnen. In dem Maß, wie der Standpunkt der Autoritäten disqualifiziert wird, erhält Jesu Meinung Zuspruch vom Rezipienten. Politisch geschickt formulieren die religiösen Autoritäten ihren Vorwurf der Blasphemie vor Pilatus zu einem staatsrelevanten Vergehen um. Jesus wird nun als potentieller Königsprätendent angeklagt. Obwohl der römische Statthalter das falsche Spiel der Religionsträger durchschaut und die Anklage auf ihren Neid zurückführt (15,10), erweist er sich in der Folge als politisch abhängige Gestalt. Die religiösen Autoritäten können ihn für ihre Zwecke dienstbar machen und es gelingt ihnen, ihren Mordplan umzusetzen. Jesus wird als König der Juden gekreuzigt (15,26), wobei die Anklageschrift zugleich die Mitschuld des Pilatus bezeugt. Insofern der Rezipient von Jesu wahrer Königswürde weiß, lässt sich der Passionserzählung zugleich eine emergente Textbedeutung zuschreiben. Indem die Autoritäten zum Ende der Erzählung das Volk gegen Jesus aufstacheln, kommt es auch zu einer Übereinstimmung zwischen dem Standpunkt der Autoritäten und dem Standpunkt des Volkes. Diese Koalition zwischen Volk und religiösen Führern wirkt aus dem Erzählverlauf heraus eher überraschend, 898 zeugt jedoch für das große Geschick der Autoritäten und das erzählerische Geschick des Markus. Werden die Autoritäten nämlich zu Beginn durch den Zuspruch, den Jesus im Volk erhält (2,6 nach 1,33; 1,45; 2,1; vgl. 3,22 nach 3,7f.), überhaupt erst auf den Plan gerufen und wird Jesu Lehre von Anfang an mit der Lehre der Autoritäten kontrastiert (1,22.27), so changieren die Meinungen des Volkes in der Folge zwischen einer zustimmenden Bewunderung (z.B. 2,12; 3,7f.; 7,37; 12,37) und einem unverständigen Entsetzen (z.B. 5,42; 9,15; vgl. 4,41; 10,26) oder sogar einer existentiellen Angst (5,17). Dieses Changieren der Meinungen ist Grundlage dafür, dass das Volk später von den Autoritäten vereinnahmt werden kann. Dass Jesus in Jerusalem mit überwiegend positiven Erwartungen und Zustimmung empfangen wird (11,8–10; 12,37b), lässt sich vor diesem Hintergrund als dramaturgische Zuspitzung fassen. Inhaltlich scheint die Jerusalemer Bevölkerung in Jesus – ähnlich wie die Jünger oder Bartimäus – den kommenden Davididen zu erkennen. Auf diesen Zuspruch reagieren die Autoritäten ihrerseits mit großer Zurückhaltung. Explizit berichtet Markus davon, dass die Autoritäten Furcht vorm Volk gehabt hätten (11,18; 11,32; 12,12; 14,2) und Jesus deshalb mit 898
Ob sich der Rezipient jenseits der markinischen Erzählung eine Vorstellung von der Mitschuld des Volkes bzw. der Bevölkerung Jerusalems gemacht hat und aufgrund dessen mit diesem Umschwung gerechnet hat, lässt sich nicht rekonstruieren. Festzuhalten bleibt in jedem Fall, dass die Charakterisierung des vorherigen Erzählverlaufs eher positiv ist und Jesus gerade in Jerusalem auf starke Sympathiebekundungen stößt (11,8–10; 12,37b).
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List ergreifen und töten wollten (14,1). Das Verhalten in Kap. 15 steht in einem offensichtlichen Kontrast zu dieser Charakterisierung. Wird der Standpunkt der Autoritäten vom Erzähler permanent durch eine negative Charakterisierung, einen offensichtlichen Mangel an Informiertheit und einen deutlich erkennbaren Kontrast zum Standpunkt Gottes sowie zum Standpunkt der Dämonen diskreditiert und deutet der markinische Jesus die Frage des Hohepriesters im Prozess als Verstockung (14,62) und gibt an, dass die Autoritäten erst bei seiner Parusie zur wahren Erkenntnis kommen, so erweist all dies, dass ihre Meinung falsch ist. Die Verspottungen unterm Kreuz – bishin zum offensichtlichen Missverständnis in 15,35 – zeigen dann, dass sich die Menge fälschlicherweise der Meinung der Autoritäten anschließt. Sie irrt, wenn sie am Ende mit derselben hasserfüllten Stimme wie die Autoritäten spricht (15,29f.31f.). Im Unterschied zu Jesu Gegnern weiß der Rezipient – aufgrund seines textexternen Wissens und des bisherigen Erzählverlaufs –, dass Jesus am Kreuz keineswegs ohnmächtig ist. Er könnte herabsteigen und diesem Geschlecht ein Zeichen geben. Aber er geht bewusst und freiwillig in sein Todesschicksal (vgl. 4.2.2g) und erweist sich gerade so als gehorsam gegenüber dem Vater (14,36; vgl. dazu 4.2.2h und 4.2.2i). Das Zugehörigkeitsverhältnis zwischen Vater und Sohn bewährt sich auch bzw. gerade im Todesschicksal und über das Todesschicksal hinaus. Denn mit der Auferweckung stellt sich der Vater eindeutig auf die Seite des Sohnes und verleiht ihm über den Tod hinaus jene Vollmacht (vgl. 4.2.2a), die dieser von Anfang an beansprucht hat und die den Konflikt mit den Autoritäten überhaupt erst begründete. Eine weitere inhaltliche Überschneidung besteht zwischen dem Standpunkt des Herodes und einem zwischenzeitlichen Meinungsbild im Volk. Beide Perspektiventräger stimmen darin überein, dass Jesus vor dem Hintergrund einer allgemeinen Prophetenerwartung oder vor dem Hintergrund einer konkreten Prophetengestalt (Elia, Johannes) zu verstehen sei. Dieser Standpunkt wird ebenfalls disqualifiziert. So wird Herodes erzählerisch geschickt durch sein moralisches Vergehen (= Vorgeschichte) und seinen inneren Entscheidungszwang (= Wunsch-/Pflichtkonflikt) als Perspektiventräger diskreditiert. Seine Überzeugung, Jesus sei mit dem auferstandenen Täufer gleichzusetzen, widerspricht zugleich dem Informationsstand des Rezipienten, der seit dem Anfang der Erzählung Johannes und Elia miteinander identifiziert (1,4–6) und hierin von Jesus, als zuverlässigem Perspektiventräger, bestätigt wird (vgl. 9,12f.). Durch die Replik in 8,28f. wird die Meinung des megalomanen „Königs“ abermals zurückgewiesen und mit dem Standpunkt der Jünger, die in Jesus zu Recht den königlichen Messias erwarten, kontrastiert. Jesus ist weder als Johannes der Täufer noch als Elia oder eine andere Prophetengestalt anzusehen. Von hoher Relevanz für das Verständnis der markinischen Christologie ist es, dass der Standpunkt des Herodes und der vorübergehende Standpunkt der
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Menge aber nicht einfach zurückgewiesen wird, sondern dass der Erzähler zugleich darum bemüht ist, Jesu Überlegenheit zu demonstrieren. Seine Intention ist es nicht allein, einer Identifikation zwischen Jesus und Elia bzw. einem anderen Propheten zu widersprechen, sondern letztere gemäß frühjüdischer Erwartung als Vorläufer Gottes zu präsentieren und durch den gegebenen Kontrast indirekt auf Jesu Einzigkeit hinzudeuten. Wenn die Vorläufer Gottes bereits erschienen sind und Gott sein eigenes Kommen mit dem Kommen des Sohnes verknüpft (1,2f.), so lässt dies zwar weiterhin unterschiedliche Deutungen der Person Jesu zu, erhebt diesen aber deutlich über jede bekannte Messiaserwartung. Auch die Ankündigung eines Stärkeren durch Johannes, die gemäß der Erzähllogik auf den Kyrios und auf Jesus zu beziehen ist (vgl. 4.3.2a), weist letztlich auf Jesu Einzigkeit hin. Die indirekte Parallelisierung zwischen Kyrios und Jesus findet sodann im Vollmachtsanspruch Jesu, der diesen über die Autorität des Mose stellt (vgl. 4.3.1a [zu 7,1–23]), seine Entsprechung. Auch die Schilderung der Verklärung und ihrer Begleitphänomene lässt sich als eine implizite Kontrastierung zwischen den beiden großen Prophetengestalten des Alten Testaments (Mose, Elia) auf der einen Seite und Jesus auf der anderen Seite deuten (vgl. 4.2.2a). Indem der Standpunkt des Herodes und der Menge zurückgewiesen, der Kontrast zwischen Jesus und den endzeitlichen Propheten hervorgehoben und die Figur des Johannes-Elia nicht nur zum Vorläufer Gottes, sondern auch zum Vorläufer Jesu erklärt wird, verweist Markus abermals auf jene Einheit zwischen Jesus und Gott, die sich in der frühchristlichen Bekenntnistradition artikuliert. So stellt die neutestamentlich gut bezeugte Adaption und Relecture des alttestamentlichen Kyriostitels und der alttestamentlichen Gottesprädikation die textexterne Basis für die Entwicklung einer reflektierten Kyrios-Christologie im Markusevangelium dar. Auch in dieser Hinsicht kann der Rezipient nicht einfach als unbeschriebenes Blatt verstanden werden, sondern als informierter Leser, der mit den sprachlichen Ausdrucksformen und den christologischen Denkmustern seiner Gemeinschaft vertraut war. Besonders differenziert erfolgt im Markusevangelium die implizite Beurteilung des Jüngerstandpunktes. Die Nachfolger schreiben Jesus zwar zurecht die Würde und Autorität eines königlichen Messias zu, aber sie bringen diese Personenvorstellung (noch) nicht mit dem Gedanken des Leids und der Auferstehung zusammen. Der intendierte Rezipient hat aufgrund seines nachösterlichen Standpunktes und der urchristlichen Bekenntnistradition einen deutlichen Informations- bzw. Offenbarungsvorsprung. Er weiss, dass sich Jesus durch Kreuz und Auferstehung als Christus erwiesen hat. Aufgrund seines textexternen Wissens erkennt er deshalb die Defizite eines frühjüdischen Messiasverständnisses. Umgekehrt soll der Rezipient den Standpunkt der Jünger keineswegs ablehnen oder auf eine christologische Irrlehre seiner Zeit beziehen, sondern er soll schlichtweg für die Notwendigkeit des Kreuzesoder Ostergeschehens sensibilisiert werden. Allein der Tatbestand, dass sich
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auch dem Rezipient und der Gemeinde das Personengeheimnis Jesu erst im „Nach-denken“ über Kreuz und Auferstehung erschlossen hat, mahnt hier Bescheidenheit. Und da es nach der Erzähllogik des Markus einzig und allein der Vater ist, der seinen Sohn nach Ostern Kraft des Evangeliums vollumfänglich offenbar machen kann, hat der Rezipient auch gar keinen Anlass, sich in irgendeiner Selbstgerechtigkeit über die Apostel der Urgemeinde zu erheben. Auch er ist erst durch das nachösterliche Evangelium, das das Heilswerk Christi und die Person Jesu zum zentralen Inhalt hat und das von den Aposteln verkündigt wurde, zum Glauben gekommen. Vom Ende der Erzählung her erschließt sich deshalb, warum Markus seine Erzählung im „QuasiBuchtitel“ (1,1) als ajrchv bezeichnete. Die erzählte Zeit des Markusevangelium umfasst das irdische Wirken Jesu bis hin zu seinem Tod und seiner Auferstehung und damit präzise den „Anfang“ des Evangeliums Jesu Christi. Die kirchliche Verbreitung des Evangeliums wird zwar erzählerisch vorausgesetzt und angedeutet (13,10; 14,9), aber gerade nicht mehr entfaltet. 899 Sie ist Grundlage zum Verständnis Jesu und zum Verständnis der Erzählung, aber nicht Gegenstand der Erzählung. Dass die Jünger, Bartimäus und andere Figuren bzw. Figurengruppen in einem frühjüdischen Denken verhaftet bleiben und sich ihr Standpunkt damit nicht als falsch, wohl aber als defizitär erweist und der Rezipient diese Standpunkte auf der Grundlage seines eigenen Wissens und seiner Bekenntnistradition beurteilen soll, lässt sich auf der Grundlage mehrerer Indizien behaupten: – Jesu (impliziter) Standpunkt: Weder in 8,30 noch in 10,49 lässt sich aus Jesu Verhalten ableiten, dass er der Zuschreibung einer königlich-messianischen Würde widerspreche. Der Text ist frei von jeglicher Polemik. Vielmehr ist Jesu Schweigebefehl in 8,30 ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Anrede der Jünger legitim ist. In Analogie hierzu stand auch hinter dem Schweigebefehl in 1,25 die Absicht, Jesu wahre Identität (1,34; vgl. 3,11f.), nämlich seine Gottessohnschaft, geheimzuhalten. In 10,46–52 wird durch Jesu Verhalten und die implizite Charakterisierung des Erzählers Jesu Königswürde zusätzlich betont. Die Episode folgt in vielerlei Hinsicht dem Skript einer Königsaudienz (vgl. 4.2.2e).900 Zudem wird Bartimäus keineswegs als Perspektiventräger verunglimpft, sondern erscheint nichtzuletzt durch den Ruf in die Nachfolge als zusätzlicher Jünger. Eine Wertschätzung, die sonst keiner Fi899 Vgl. als Parallele Apg 1,1, wo das prw`ton lovgon nach Selbstauskunft des Lukas ebenfalls auf jene Zeitspanne zu beziehen ist, die das irdische Wirken Jesu umfasst: „To;n me;n prw`ton lovgon ejpoihsavmhn peri; pavntwn, w\ Qeovfile, w|n h[rxato oJ ÆIhsou`~ poiei`n te kai; didavskein, a[cri h|~ hJmevra~ ejnteilavmeno~ toi`~ ajpostovloi~ dia; pneuvmato~ aJgivou ou}~ ejxelevxato ajnelhvmfqh.“ 900 Vgl. zu diesem Gattungsvorschlag bereits ECKSTEIN, Glaube und Sehen, 89–92, sowie BERGER, Formgeschichte, 313–315; BERGER, Einführung, 76–84.149f.224.
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gur zu Teil wird (vgl. dagegen 5,19). Bereits in 2,23–28 hatte Jesus seine eigene Autorität mit der Autorität Davids verglichen, so dass sich auch eine inhaltliche Korrespondenz zum Standpunkt der Jünger feststellen lässt. Wenngleich der Rezipient dieser inhaltlichen Übereinstimmung wohl kaum größere Aufmerksamkeit schenkt,901 lässt sich selbst an diesem Detail erkennen, dass sich die Übertragung einer königlichen Würde und Autorität durchaus in die Erzähllogik einpasst. – Wissen der Jünger und real-world-strategy of sense-making: Zwischen 4,13 und 8,21 haben sich die Jünger auf geradezu groteske Weise als unverständig erwiesen, was vom Erzähler und Jesus gleichermaßen mit ihrer Verstockung begründet wird (6,52; 8,17). Vor diesem Hintergrund erscheint das prägnante Bekenntnis des Petrus überraschend und erhält zweifelsohne eine besondere Aufmerksamkeit. Trotzdem erscheint es plausibel, dass die Jünger nach Jesu Schelte und aufgrund der konkreten Nachfrage zu der artikulierten Überzeugung gelangen können. Dass Jesu bisheriges Wirken auf der Grundlage eines frühjüdischen Weltbildes im Sinne einer königlichen Messianität gedeutet werden konnte, erscheint aus Sicht des intendierten Rezipienten ohnehin plausibel. Er kann sich diese Schlussfolgerung der Jünger im Sinne einer real-world strategy of sense-making erklären. Unwahrscheinlicher ist demgegenüber, dass der Rezipient die Worte des Petrus im Sinne eines vollgültigen christlichen Bekenntnisses deuten soll. Weder kann der Rezipient an dieser Stelle mit einer göttlichen Offenbarung rechnen – dagegen spricht der wiederholte Hinweis auf die Verstockung der Jünger – noch ist es plausibel, dass die Jünger vor Ostern eine entsprechende Erkenntnis hatten. Im weiteren Erzählverlauf wird sich deshalb auch zeigen, dass sämtliche Vorstellungen, die die Jünger aus ihrer königlichen Messiaserwartung ableiten, falsch sind und von Jesus als zuverlässigem Perspektiventräger negativ beurteilt werden. Die Leugnung des Leidens und ihr anhaltendes Unverständnis, ihr persönliches Ränkespiel und ihre – nach antikem Denken unmannhafte – Flucht und Verleugnung lassen erkennen, dass sich ihre Hoffnung allein auf eine irdische Herrschaft Jesu richtet und mit Jesu Verhaftung und seinem Tod ebendiese Hoffnung zu nichte ist. Die Jünger benutzen wohl den Messiastitel, verstehen ihn aber noch nicht hinreichend. Ob der Standpunkt des Bartimäus ebenfalls als defizitär erwiesen werden soll, lässt sich nicht mit gleicher Sicherheit sagen. Es handelt sich bei dem blinden Bettler um eine Episodenfigur, die trotz der erkennbaren Wertschätzung keine weitere Thematisierung und Reflexion erfährt. In Jerusalem tritt Bartimäus nicht mehr auf. Trotzdem wird der Rezipient nicht erst in 12,35– 901 Vermutlich wird der Rezipient diese Autoritätsbegründung zwar nachvollziehen, ihr aber im Erzählverlauf kaum Beachtung schenken. Ob er sich in 10,46–52 an diese anfängliche Auseinandersetzung erinnert, lässt sich kaum mit Sicherheit sagen. Die Verknüpfungsstärke ist trotz der expliziten Nennung Davids eher gering.
4.4 Funktion der markinischen Erzählung
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37, sondern bereits wegen der inhaltlichen Übereinstimmung zwischen dem Standpunkt des Bartimäus (Sohn Davids) und dem Standpunkt der Jünger (Christus) festgestellt haben, dass es sich bei diesem Personenverständnis um eine unzureichende Zuschreibung handelt. In der Begegnung mit dem Blinden ist das zur Sprache gebrachte Vertrauen wichtiger als die völlige Entschlüsselung des Personengeheimnisses. Wie bei der Heilung anderer Bedürftiger ist auch hier von einer „Christologie der Begegnung“ zu sprechen, wobei der Standpunkt nicht bzw. nicht primär durch die Figurenrede vermittelt wird, sondern durch das Verhalten der Bedürftigen und die Figurenrelation. – Kontrastierung mit dem Standpunkt Gottes: Sowohl der Standpunkt der Jünger als auch der Standpunkt des Bartimäus wird im weiteren Erzählverlauf faktisch mit dem Standpunkt Gottes kontrastiert. In 8,33 wird das Denken der Jünger als menschliches Denken bezeichnet, nachdem die Nachfolger Jesu Leidensankündigung abgelehnt haben. Was aufgrund einer frühjüdischen Endzeiterwartung naheliegend ist – weil sich die Hoffnung hier auf die irdische Macht des Heilands konzentrieren muss – wird mit der neuen (christlichen) Erkenntnis, die sich legitimierend auf den Standpunkt Gottes beruft, kontrastiert. Die Jünger (und mit ihnen der Rezipient) sollen auf Jesu Worte vertrauen (9,9) und nicht menschlichen Worten Glauben schenken. So wie Jesus bereits zuvor auf einzigartige Weise Gottes Willen autoritativ zu Gehör gebracht hat und sein Wort über den Satzungen der Pharisäer und sogar dem Wort des Mose stand, so ist auch die Ankündigung seines Todes und seiner Auferstehung zuverlässig. Der Standpunkt der Jünger erfährt sodann in 12,35–37 eine inhaltliche Berichtigung. Nur, wer die einzigartige Würde Jesu erkennt, die diesem von Gott unmittelbar zugesprochen wird und die ihn über die königliche Würde Davids erhebt, hat Einblick in das wahre Personengeheimnis Jesu. So wie Jesus mehr als einer der alttestamentlichen Prophetengestalten ist, so ist er – in seiner Autorität und Würde – auch mehr als einer der israelitischen Könige und sogar mehr als der erwartete königliche Messias. – Figurenmodell Jesu: Der Rezipient vermag aufgrund der vorherigen Charakterisierung Jesu und des vorläufigen Figurenmodells zu erkennen, dass die Zuschreibung der Jünger und des Bartimäus unzureichend bleibt. Er konnte Jesu Wunderwirken unlängst mit dem endzeitlichen Wirken des Kyrios parallelisieren. Während die Menge Jesu Wunder als prophetische Tat deutet und die Jünger hierin – nach anfänglichem Unverständnis – den königlichen Messias am Werk sehen, erkennt der Rezipient von Anfang an, dass in Jesus kein anderer handelt, als Gott selber. Hierbei ist nicht nur davon auszugehen, dass Markus den Titel des Kyrios als Gottesbezeichnung kannte, sondern dass er seinen intendierten Rezipienten über die einzelnen Episoden seiner Erzählung hinweg zu einem Vergleich zwischen Jesus und diesem Kyrios anregt. Jesus wird bewusst als Herr über die Dämonen und Naturgewalten (1,21–27;
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3,22–30; 4,35–41; 5,1–20; 6,45–52; 7,24–30; 9,14–29), als Herr über den Mangel (6,34–44; 8,1–9) oder als Herr über Krankheit und Tod (1,29–31; 1,40–45; 3,1–6; 5,21–43; 7,31–37; 8,22–26; 10,46–52) inszeniert. Von einer rein „sporadischen Kyrios-Christologie“ (Strecker) im Markusevangelium zu sprechen, ist allein schon deshalb unzureichend, weil das erste Evangelium von Anfang an (1,2f.) diese Figurenparallele thematisiert (= Primäreffekt) und dieser auch im weiteren Erzählverlauf eine hohe Handlungsrelevanz zuzuschreiben ist (vgl. 4.3.2b). – Textexternes Wissen: Die Überzeugung, dass Jesus nicht auf die Funktion des irdischen Davididen zu reduzieren sei, wie es dem Standpunkt der markinischen Jünger entspricht, sondern dass er zugleich als Kyrios zu verehren ist, stellt keine Vorstellung dar, die im Markusevangelium erstmals begegnete. Es ist vielmehr so, dass diese Überzeugung dem Rezipienten durch die urchristliche Bekenntnistradition vorgegeben war. So lässt ein Text wie 1Kor 8,6 erkennen, dass bereits vor der Niederschrift des ersten Evangeliums eine Identifikation zwischen Christus und Kyrios erfolgte und die Alleinverehrung Gottes keineswegs eine binitarischen Entfaltung des Schema Jisrael unmöglich machte. In enger Verbindung zum Standpunkt der Jünger steht der Standpunkt des römischen Hauptmanns. Wenngleich dieser Jesus als Sohn Gottes anspricht und erkennt, ist diese Äußerung aus dem Erzählverlauf heraus nicht einfach mit dem expliziten Standpunkt Gottes (1,11; 9,7) oder dem nachösterlichen Bekenntnis der Gemeinde gleichzusetzen. Der Rezipient vermag in dieser Aussage abermals das nachösterliche Bekenntnis zum auferstandenen Sohn vorgezeichnet sehen – und in dieser Hinsicht erschließt sich dann auch, warum es gerade ein Heide ist, der sich zu Jesus „bekennt“ –, aber wie in 8,28 ist auch hier noch kaum von einem vollgültigen christlichen Bekenntnis zu sprechen. Spricht der Hauptmann Jesus die Gottessohnschaft zu, so wird diese Aussage als innerer Erkenntnisprozess dargestellt und auf die näheren Umstände des Todesgeschicks zurückgeführt. Es ist auch hier nicht an ein vollumfängliches Offenbarungsgeschehen vor Ostern zu denken. Ein solches würde nicht nur im Widerspruch zur bisherigen Erzähllogik und v.a. zur inszenierten Diskrepanz zwischen einer vorösterlichen und nachösterlichen Erkenntnis stehen, sondern würde letztlich auch das explizit festgehaltene Missverständnis des Hauptmanns übergehen. Wenn dieser aussagt, Jesus sei Gottes Sohn gewesen (uiJo;~ qeou` h\n), so oszillieren in dieser Aussage ja ganz offensichtlich Glaube und Unglaube. Einfacher ist es darum, die Anrede des Gottessohnes ebenfalls auf Jesu königliche Würde zu beziehen. Der Hauptmann erkennt damit an, dass die Überschrift über dem Kreuz keineswegs nur ein politischer Vorwurf ist, sondern dass Jesus zu recht als gestorbener König der Juden anzuerkennen ist. Er ist für ihn der erwartete Davidide, der Gesalbte, der königliche Sohn Gottes, der nun jedoch gestorben
4.4 Funktion der markinischen Erzählung
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ist. Ebenso wie die Jünger und Bartimäus kommt auch der Hauptmann unterm Kreuz, als Repräsentant der heidnischen Obrigkeit, lediglich zu einer Teilerkenntnis der Person Jesu. Lässt sich damit festhalten, dass keine der menschlichen Figuren innerhalb der erzählten Zeit zur wahren Erkenntnis der Person Jesu kommt, so erweist sich die Perspektive Gottes und die Perspektive Jesu demgegenüber als zuverlässig. Zugleich ist diesen Standpunkten die Sichtweise des Johannes und der Dämonen zuzuordnen. Über den älteren Forschungsdiskurs hinaus sollte betont werden, dass sich der Standpunkt Gottes nicht allein auf den SohnGottes-Titel reduzieren lässt, sondern dass zur Erschließung des göttlichen Standpunktes auch die Schriftzitate bzw. Schriftdialoge (1,2f.; 12,36), die erzählerisch entfaltete Figurenrelation zwischen Jesus und Gott sowie die wiederholten Hinweise auf Gottes ewigen und unabänderlichen Ratschluss zu berücksichtigen sind. All dies zusammen lässt das besondere Zugehörigkeitsverhältnis zwischen Jesus und Gott erkennen und dient dazu, dass der Rezipient die Einzigkeit Jesu erkennt bzw. auf der Grundlage seiner textexternen Überzeugung in Jesus den Kyrios am Werk sieht. Aus diesem Personenverständnis leitet sich wiederum die besondere Vollmacht Jesu ab, die diesen über die Dämonen erhebt und erklärt, warum diese in allen Begegnungen Jesu wahre Würde anerkennen müssen. Dass Jesus im Unterschied zu Gott von sich nicht als Sohn Gottes redet, sondern sich bevorzugt als Menschensohn bezeichnet, sollte nicht zu einer voreiligen Kontrastierung beider Figurenstandpunkte führen. Jesus vertritt keinen anderen Standpunkt als Gott und seine Zurückhaltung lässt sich nicht psychologisierend als Bescheidenheit deuten. Jesu Zustimmung zum Vorwurf des Hohenpriester (14,62) aber auch schon die Rede von der eigenen Vollmacht, der Gebrauch des Menschensohntitels und sein autoritatives Verhalten demonstrieren, dass Jesus alles andere als bescheiden agiert, er um den Standpunkt des Vaters weiß (= Figurenwissen) und diesen offenkundig teilt (= Figurenstandpunkt). Die Nicht-Verwendung des Gottessohntitels im Munde Jesu kann völlig ungezwungen auf eine theologische bzw. christologische Reflexion des Evangelisten zurückgeführt werden. Trotz der postulierten bzw. implizit vermittelten Einheit zwischen dem Vater und dem Kyrios Jesus, weiß Markus sehr wohl zwischen Gott und Jesus zu differenzieren. Insbesondere berücksichtigt Markus, dass es innerhalb des beschriebenen Zugehörigkeitsverhältnisses allein dem Vater gebührt, seinen Sohn als solchen anzureden und mit der Auferstehung dauerhaft einzusetzen, – so wie es auch allein dem Vater gebührt, Menschen zum Glauben zu rufen oder zu verstocken. Gebührt es dem Sohn nicht, sich selbst als solchen zu bezeichnen, so erklärt dies zugleich, warum er von sich bevorzugt als Menschensohn redet und den Dämonen und Geheilten gebietet, ihn nicht als Sohn bekannt zu machen.
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4. Kapitel: Poetik der markinischen Christologie
Nicht einmal der Erzähler verwendet diese Anrede902 und überlässt es damit ganz dem Rezipienten, Jesu Identität aus dem Erzählten sowie auf der Grundlage seines nachösterlichen Wissens und des frühchristlichen Bekenntnisses zu bestimmen. Es ist der wesentliche Grund, warum sich die markinische Christologie als emergent erweist und der Standpunkt Gottes, der Standpunkt Jesu und der Standpunkt des Erzählers zwar nicht terminologisch übereinstimmen, wohl aber in ihrem hoheitlichen Personenverständnis. Versucht man auf der Grundlage des zurückliegenden Zusammenfassung eine Skalierung der markinischen Perspektivenstruktur vorzunehmen (vgl. Abb. 4.5), so kann weder von einer gänzlich offenen Perspektivenstruktur gesprochen werden – das Markusevangelium ist nach heutigem Verständnis keine multiperspektivische Erzählung im eigentlichen Sinne – noch von einer geschlossenen Perspektivenstruktur. Deutlich lassen sich inhaltliche Koalitionen zwischen einzelnen Perspektiventrägern erkennen und Markus setzt diverse Mittel zur impliziten Beurteilung der jeweiligen Standpunkte ein. Die markinische Erzählung kennt falsche und richtige Meinungen über die Person Jesu und gruppiert Meinungen um hervorstechende Normrepräsentanten. Zugleich zeichnet sich die Erzählung durch eine emergente Perspektivenstruktur aus. Gerade indem sich die expliziten Äußerungen Jesu und Gottes nicht wörtlich decken, indem der Autor keinen expliziten Standpunkt bezieht, mit Teilwahrheiten spielt und auf das textexterne Wissen des Rezipienten – insbesondere die nachösterliche Bekenntnistradition – rekurriert, verwickelt er seinen Leser in die Erzählung. Hierdurch gibt er ihm die Gelegenheit, das Erzählte auf seine Wirklichkeit zu beziehen und die Aktualität des präsentierten Jesusbildes zu reflektieren. Trotz einer emergenten Bedeutungsstruktur und synthesestörender Erzählstrategien lässt sich eine Privilegierung einzelner Perspektiven ausmachen und der intendierte Rezipient bleibt keineswegs im Unklaren über Jesu Identiät. Vielmehr lässt sich der Perspektive Gottes und der Perspektive Jesu ein gemeinsamer Konvergenzpunkt zuschreiben, der im frühchristlichen Bekenntnis zu Jesus als dem Kyrios besteht.Es ist somit gerade nicht von einer sporadischen Kyrios-Christologie im Markusevangelium zu sprechen, sondern davon, dass ebendiese hoheitschristologische Vorstellung den Schlüssel zum Verständnis der markinischen Christologie darstellt. Mithin ist auch nicht von einer einseitigen Sohn-Gottes-, Menschensohn- oder ProphetenChristologie zu sprechen, sondern von einem erzählerischen Standpunkt, der Jesu Einheit mit Gott betont, um eine entsprechende Einzigkeit seiner Person weiß und gerade deshalb auf die Vielfalt urchristlicher Vorstellungsgehalte zurückgreift.
902
Auch aus diesem inhaltlichen Grund ist es eher unwahrscheinlich, dass der SohnGottes-Titel in Mk 1,1 ursprünglich ist. Vgl. zur textkritischen Frage Kap. 4.2.1.
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4.4 Funktion der markinischen Erzählung integrationsfördernde Strategien
synthesestörende Strategien
offene
geschlossene Perspektivenstruktur Anzahl:
Perspektivenstruktur mittlerer Umfang des Perspektivenangebots
Heterogenität: eher geringe Streubreite des Perspektivenangebots Normativität: Zuverlässigkeit:
Perspektiventräger um Normrepräsentanten gruppiert meist implizite, teils explizite Rezeptions- und Sympathielenkung durch Erzähler, Protagonist
Hierarchie: klare Hierarchisierung der Perspektiven (v.a. durch Zuverlässigkeit der Perspektiventräger, explizite Kommentare, implizite Beurteilungen) Informiertheit: klarer Wissensvorsprung des Rezipienten gegenüber Figuren der erzählten Welt durch a. textexternes Wissen (v.a. nachösterliche Standpunkt) und b. (hohe) Innensicht in zuverlässige Perspektiventräger Erzählordnung, Quantität: Fokus ist durch Erzählordnung und Häufigkeit auf Perspektive Jesu und Perspektive Gottes gerichtet; falsche Sichtweise der Autoritäten wird zu Beginn kenntlich gemacht (2,1–3,6 als Primäreffekt) Explizität: punktes
teils offenes Ende
geringe Explizität des Erzählerstand-
hohe Explizität einzelner Figurenstandpunkte (v.a. Gott, Dämonen, Herodes) geringe Explizität einzelner Figurenstandpunkte Inhalt:
keine wörtliche, aber inhaltliche Korrespondenz zwischen dem Standpunkt Gottes und Standpunkt Jesu; beizuordnende Standpunkte
inhaltliche Übereinstimmung zwischen a) dem falschen (Autoritäten: Jesus als Gotteslästerer) und b) unzureichenden Standpunkt unzuverlässiger Perspektiventräger (Menge: Prophet; Jünger/Hauptmann: königlich-irdischer Messias)
Abb. 4.5: Skalierung der markinischen Perspektivenstruktur In funktionaler Hinsicht entzündet sich die Frage nach Jesu Identität einem Brennglas vergleichbar an der Frage nach der prinzipiellen Erkenntnismöglichkeit. Kontrastiert wird hierbei v.a. die mangelnde Erkenntnis der Menschen vor Ostern mit der Erkenntnis, die der Gemeinde nach Ostern von
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Gott gegeben ist. Die wahre Identität Jesu wäre bereits aufgrund seines Wirkens und seiner Verkündigung erkennbar gewesen. Faktisch führen alle gegebenen Indizien vor Ostern jedoch zu unterschiedlichen Missverständnissen, weil die Menschen „menschlich“ denken und von Gott verstockt sind. Eine wahre Erkenntnis Jesu kann es erst nach Ostern geben, insofern der intendierte Rezipient die Hinweise des Erzählers zu entschlüsseln vermag und durch das Unverständnis der Jünger, den Hinweis auf deren Verstockung und das offene Ende zum eigenen Nachdenken und zur Eintragung seiner eigenen christologischen Überzeugungen angeregt wird. Zugleich weiß das Markusevangelium aber darum, dass auch nach Ostern Menschen von Gott verstockt bleiben. Mithin gilt im Hinblick auf die Gesamterzählung für den intendierten Rezipienten und die AW, was in der erzählten Welt für die Deutung der Gleichnisse galt (4,11f.): „Euch ist das Geheimnis gegeben, [das Geheimnis] des Reiches Gottes. Jenen aber, die draußen sind, widerfährt es alles in Gleichnissen, damit ‚sie sehend sehen und trotzdem nicht sehen und hörend hören und doch nicht verstehen, damit sie nicht umkehren und ihnen vergeben werde‘(Jes 6,9b.10).“
Neben dieser epistemologischen Hauptfunktion der markinischen Erzählung und Christologie kann eine weitere Nebenfunktion bestimmt werden. So scheint Markus durchaus ein gewisses Bilanzierungsinteresse zu haben. Das historische Unverständnis, dem sich Jesus ausgesetzt sah und dem sich auch der intendierte Rezipient in seiner Umwelt ausgesetzt sieht, soll erzählerisch festgehalten und eingefangen werden. Allerdings geschieht dies nicht primär mit den Mitteln der Historie, sondern mit literarischen und poetischen Mitteln. So werden die Standpunkte der Figuren und Figurengruppen in einem aristotelischen Sinn „nachvollziehbar“ ausgestaltet, d.h. aber auf teils stereotype Weise zugespitzt. Markus folgt hierbei zugleich intuitiv dem aristotelischen Kriterium der Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit (Aristot. poet. 1454a24–36).903 Pharisäer, Dämonen, Herodes und der Täufer verhalten sich weitgehend so, wie es der frühchristliche Leser aufgrund seines textexternen Wissens und der vorausgesetzten bzw. erschließbaren Charaktereigenschaften und anderer Merkmale erwartet. Umgekehrt erlaubt das Verhalten einen Rückschluss auf den Charakter dieser Figuren und wird vom Erzähler oder dem Protagonisten teils direkt teils indirekt beurteilt. Am Umgang Jesu mit dem Unverständnis seiner Zeitgenossen kann der Rezipient drittens lernen, wie er seinerseits mit den Anfeindungen seiner Umwelt umgehen kann. Er soll Jesus hierbei gerade nicht zum Vorbild nehmen, sondern als Autorität erkennen und anerkennen. Der Protagonist des Markusevangeliums wird keineswegs als besonders „menschlich“ und „nahbar“ charakterisiert. Dass sich Jesus über die Satzungen der Ältesten und das Gesetz 903
Vgl. zu diesen Kriterien Kap. 4.1 sowie ausführlich SCHMITT, Poetik, 377–381.
4.4 Funktion der markinischen Erzählung
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des Mose erhebt und er damit beansprucht, den Willen Gottes auf einzigartiger Weise zu Gehör zu bringen, leitet sich gerade aus dem einzigartigen Zugehörigkeitsverhältnis zwischen Gott und Jesus ab. Die Erkenntnis der wahren Identität Jesu und die Anerkennung seines Machtanspruchs verleihen dem Rezipienten erst die Freiheit, sich nicht an das Gesetz des Mose halten zu müssen, sondern aus der Beziehung zu Jesus je neu Orientierung zu finden und in der Weisung seines Herrn zu bleiben. Diese Funktion der Erzählung, die sich als ethisch-didaktische Funktion bezeichnen lässt, gewinnt hohe Aufmerksamkeit durch (1) die hohe Relevanz des zentralen Parteienkonflikts (Jesus/Autoritäten) und dessen anfängliche Betonung (2,1–3,6); durch (2) explizite Erzählerkommentare (z.B. 7,19b); (3) durch die ausführliche Wiedergabe wörtlicher Figurenrede; (4) die hohe Emotionalität sowie (5) die deutliche Kritik, die den entsprechenden Dialogen und Begegnungen zu eigen ist (3,5; 3,28f.; 7,6–13; 8,11–13; 11,15–19; 12,9–12; 12,15; 12,24.27b; 12,35f.; 14,48f.; vgl. 8,15; 9,42–48; 12,37b–40). 4.4.3 Die Identität Jesu als emergente Bedeutungsstruktur der markinischen Erzählung Die Analyse des Perspektivenangebots (4.2) sowie der Perspektivischen Interaktion (4.4.2) führte zu der Erkenntnis, dass sich die markinische Christologie im Kern als emergent erweist. Der Standpunkt des Erzählers wird nicht explizit kommuniziert und erweist sich auch mit keinem der zu erschließenden Figurenstandpunkte als vollständig deckungsgleich. Erst aus dem Zusammenspiel der diversen Perspektiven und unter Berücksichtigung des textexternen Vorwissens der Rezipienten leitet sich das Jesusbild des Erzählers ab. Umgekehrt ist keineswegs von einer Offenheit oder gar Beliebigkeit der markinischen Christologie zu sprechen. Der Rezipient soll nicht irgendwelche Anschauungen über die Person Jesu in die Erzählung eintragen, sondern durch die Erzählung werden gerade jene Personenvorstellungen aktiviert, die dem Rezipienten durch die frühchristlichen Bekenntnistraditionen bekannt sind. Ein wesentliches Ergebnis der Figurenanalyse (Kap. 4.3) war, dass der markinische Jesus mittels diverser Figurenmerkmale mit dem alttestamentlichen Kyrios parallelisiert wird (4.3.2b) und für den Rezipienten als solcher zu erkennen ist. Der Gewinn der kognitiv-narratologischen Figurenanalyse bestand hierbei darin, dass auch implizite Figurenmerkmale berücksichtigt und in angemessener Weise gewichtet werden konnten. Angemessen ist eine solch umfassende Merkmalerschließung, weil sie nicht bei einer einfachen Binarität von expliziten und impliziten Aussagen stehen bleibt, sondern darüber hinaus alle relevanten Mittel der Aufmerksamkeitslenkung berücksichtigt und auf dieser Grundlage zwischen wichtigen Haupt- und weniger wichtigen Nebenmerkmalen differenziert. Wenngleich nirgendwo im Markusevangelium ex-
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plizit darüber Auskunft gegeben wird, warum Jesus den Dämonen und Geheilten zu schweigen gebietet (= Motivation), so lässt sich diesem Figurenmerkmal durchaus eine hohe Relevanz zuschreiben. Umgekehrt können äußere Attribute, wie die Quasten an Jesu Gewand (6,56), zwar eine explizite Erwähnung finden, ohne dass ihnen deswegen aber zugleich eine große Relevanz zuzuschreiben wäre. Die so durchgeführte Figurenanalyse hat im Ergebnis erkennen lassen, dass neben der Motivation Jesu v.a. sein Standpunkt, sein Verhalten, seine Wahrnehmung und sein Wissen die Aufmerksamkeit des intendierten Rezipienten auf sich ziehen und so das Bild des markinischen Jesus prägen. Durch die klare Artikulation eines ethisch-religiösen Standpunktes und Jesu Verhalten, insbesondere seine vollmächtige Lehre, seine Gleichnisrede und seine Wundertaten, wird Jesu Autorität betont und zugleich in ein Verhältnis zur Autorität des Vaters gesetzt. So ist Markus nicht allein daran gelegen, Jesu Kritik am ethisch-religiösen Standpunkt der Autoritäten deutlich zur Sprache zu bringen – um so der Gemeinde zugleich eine ethische Orientierung zu geben –, sondern er richtet den Blick darüber hinaus auf die dahinterliegende Legitimation Jesu, die diesem aufgrund seiner einzigartigen Gottesbeziehung zukommt. Jesu Meinung soll keineswegs (nur) mit inhaltlich korrespondierenden Standpunkten innerhalb des Frühjudentums parallelisiert werden, sondern es soll vielmehr der einzigartige göttliche Autoritätsanspruch hinter diesem Standpunkt evident werden. Dies kommt bereits in Jesu autoritativem Zuspruch der Sündenvergebung zur Sprache (2,1–12), da diese eine Prärogative Gottes darstellt (Ex 34,6f.; LXX Ps 129,3f.; Jes 43,25; 44,22). In ähnlicher Weise kann sich Jesus nicht nur über die Satzungen der Ältesten, sondern zugleich über das Gesetz des Mose und damit über die Autorität der Schrift erheben (vgl. v.a. 7,1–23). Er beansprucht, den Willen Gottes letztgültig und alleinverbindlich zu Gehör zu bringen. Diese Überlegenheit gegenüber allen anderen Autoritäten kann von Markus situativ durch weitere Figurenmerkmale, wie die Beschreibung des Figurenäußeren auf dem Berg der Verklärung (9,3) oder durch Figurenrelationen, wie Jesu stetig evidenter werdende Überlegenheit gegenüber den Dämonen, betont werden. Im Hinblick auf Jesu Lehre ist von Relevanz, dass diese in der Verkündigung der basileiva tou` qeou` ihren inhaltlichen Fokus besitzt und Jesus zugleich als zentraler Inhalt und Verkündiger des göttlichen Evangeliums erscheint. Insofern Jesu Gleichnisrede und seine Wundertaten als prinzipiell verständlich vorgestellt werden (vgl. 4.3.1d), sich die Zeitgenossen aber faktisch als weitgehend unverständig oder verstockt erweisen, und nicht einmal Jesu Privatunterweisungen an seine Jünger zum Verständnis seiner Person und seiner Lehre führen, wird zugleich auf die Erhabenheit des Vaters verwiesen. Faktisch wirkt Jesu Lehre nur dort den Glauben, wo der Vater dies will. Die markinische Christologie betont also zugleich Jesu Einheit mit Gott und differenziert trotzdem zwischen dem Handeln des Sohnes und dem hin-
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tergründigen Wirken des Vaters. Vater und Sohn sind nicht einfach gleichzusetzen. Jesus ist nicht einfach als Gott anzureden oder zu bekennen (diff. Joh 20,28). Er hat dem ewigen Ratschluss des Vaters und seinem Sendungsauftrag zu folgen. Eine differenzierte Verhältnisbestimmung zwischen dem Kyrios Jesus und Gott, dem Vater, lässt sich auch anhand anderer Kernmerkmale ablesen. Jesu übernatürliche Wahrnehmung trägt dazu bei, ihn als handlungsmächtigen Akteur zu porträtieren, der im Unterschied zur Vorstellung eines leidenden Gerechten (= externer Figurenvergleich) oder zum Leiden des Johanns (= interner Figurenvergleich) den Nachstellungen seinen Gegner keineswegs wehrlos ausgeliefert ist, sondern sich zur vorherbestimmten Zeit in deren Hände begibt und so dem ewigen Ratschluss und Willen des Vaters folgt. Dass Jesus durch seine besondere Wahrnehmungsfähigkeit mit antiken Wundertätern bzw. einem qei`o~ ajnhvr parallelisiert werden soll (vgl. Kap. 3.2.1) – eine Überzeugung, die sich bis in die gegenwärtige Diskussion wiederfinden lässt904 –, kann mangels entsprechender Parallelen hingegen nicht erwiesen werden. Vielmehr wird Jesus durch zahlreiche Merkmale, wie etwa seine Fähigkeit, die Not anderer aus der Ferne zu sehen (z.B. 6,45–52), als eine Gestalt porträtiert, die in Analogie zum alttestamentlichen Kyrios den Notleidenden zur Hilfe eilt (vgl. Ps 22,11, 35,22f.; 71,12) und sich als Herr über Not und Mangel (6,34–44; 8,1–9), über Dämonen und Naturmächte (1,21–27; 3,22–30; 4,35–41; 5,1–20; 6,45–52; 7,24–30; 9,14–29) sowie über Krankheit und Tod (1,29–31; 1,40–45; 3,1–6; 5,21–43; 7,31–37; 8,22–26; 10,46–52) erweist. Auch das übernatürliche Wissen Jesu dient sowohl der Betonung seines göttlichen Wesens als auch der Unterordnung unter den Vater. Dass Jesus bis ins Detail die nähere Zukunft kennt (11,1b–6; 14,12–16), er um die genauen Umstände seines Todes, den Verrat des Judas und die Verleugnung des Petrus weiß (8,31; 9,31; 10,33; 14,18–21; 14,30), er die Zerstörung des Tempels (13,2) und die Verfolgungssituation der Gemeinde im Voraus beschreibt (10,39f.) und für sich sogar eine Kenntnis der eschatologischen Endereignisse beansprucht, erweist ihn – nichtzuletzt im Vergleich zu den alttestamentlichen oder endzeitlich erwarteten Prophetengestalten – als einzigartig. Jesus weiß nicht nur von Anfang an und aufgrund seiner Präexistenz (1,2f.24; 1,38; 2,17; 9,37; 10,45; 12,1–8) um sein Todesschicksal, sondern er willigt aus Gehorsam in den Heilsplan des Vaters ein und initiiert diesen mit. Besonders eindrucksvoll wird dieser Gehorsam Jesu durch die Gethsemane-Episode illustriert (vgl. 4.3.1i). Letztlich verweist auch Jesu Motivation hinter seinen Schweigebefehlen darauf, dass er sich ganz dem Vater unterordnet. Nur dieser darf ihn als geliebten Sohn anreden, während die Dämonen ihn nicht offenbar machen sol904
So neuerdings wieder SCHNELLE, Theologie, 383f.
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len und können. Jesus selber weiß um seine Gottessohnschaft (1,10; 9,7), setzt eine solche Sohnesbeziehung in seiner Gleichnisrede voraus (12,1–8) und bekennt sich zu ebendieser Sohnschaft öffentlich vor dem Hohen Rat (14,62), aber er vermeidet zugleich jede entsprechende Selbstbezeichnung. Er überlässt es ganz und gar dem Vater, ihn als Sohn zu bezeichnen und – so der perspektivische Ausblick am Erzählende – ihn qua Auferstehung dauerhaft als Sohn einzusetzen. Verfolgt man über die Beschreibung der Kernmerkmale und ihre theologische Bedeutung hinaus die erzählerische Entwicklung des mentalen Figurenmodells, so ist 1,2f. als wichtiger Ausgangspunkt für das markinische Personenverständnis zu benennen. Bereits durch diesen innergöttlichen Dialog, der der eigentlichen Erzählung vorgeschaltet ist, wird das Wirken Jesu mit dem endzeitlichen Wirken des göttlichen Kyrios parallelisiert. Ein Primäreffekt, der sich unweigerlich auf die weitere Lektüre auswirkt. Im Sinne von Ralf Schneiders kognitivem Figurenverständnis ist von einer anfänglichen Kategorisierung zu sprechen, die im weiteren Erzählverlauf durch die implizit vorausgesetzte oder erzählerisch explizierte Relation zwischen Jesus und Gott sowie durch Jesu Verhalten und weitere Merkmale bestätigt wird. Die textexterne Vorstellung vom alttestamentlichen Kyrios bleibt der wesentliche Referenzrahmen zum Verständnis des markinischen Jesus. Das Markusevangelium zeichnet sich nicht nur durch eine sporadische Kyrios-Christologie aus, sondern die Kyriosvorstellung erweist sich gerade als wesentliche Voraussetzung und als Bindeglied zwischen den diversen Zuschreibungen. Fragen wir angesichts dieser Beobachtungen zum markinischen Figurenporträt nach der Funktion der markinschen Erzählung, so ist von einer bewussten Verwicklung des Rezipienten in die erzählte Christologie zu sprechen. Die Charakterisierung Jesu erfolgt gerade so, dass der Erzähler seinen Rezipienten mit der Kyriosvorstellung zwar das entscheidende Verstehensschema anbietet, dass der Rezipient – anders als die Figuren der Erzählung – die gebotenen Figurenparallelen, Intertextualitäten und Symbole jedoch trotzdem im Lektüreprozess entschlüsseln muss. Mit guten Gründen lässt sich behaupten, dass der Rezipient dies aufgrund seiner eigenen Bekenntnistradition kann, d.h. dass von einer bewussten und reflektierten Rezeptionslenkung zu sprechen ist. Durch die Voranstellung von 1,2f. wird kognitionswissenschaftlich betrachtet ein nachhaltiger Primäreffekt erzeugt. Durch diesen wird der Rezipient nahezu automatisch dazu angeregt, alle folgenden Figureninformationen – auch die impliziten – auf dieses Figurenschema zu beziehen. Auf der Grundlage einer kognitiv-narratologischen Exegese ist zu erkennen, dass die Anspielungen auf den alttestamentliche Kyrios keineswegs selten sind, sondern durchaus häufig erfolgen und Markus zudem bemüht ist, diverse Figurenparallelen ins Bewusstsein zu rücken. Die Auswahl der Wunder erfolgt im Markusevangelium alles andere als zufällig. Vielmehr wird Jesus bewusst als Herr über die Dämonen (1,21–27;
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1,32–34; 1,39; 5,1–20; 7,24–30; 9,14–29), als Retter in ausweglos erscheinender Not (4,35–41; 6,45–52), als barmherziger Herr über den Mangel (6,30–44; 8,1–9) und als Herr über Krankheit und Tod dargestellt (vgl. 4.3.2b). Bis in die Auswahl der Krankheiten hinein (Blindheit, Taubheit und Stummheit, Lähmung, Aussatz und Unreinheit, Tod) lässt sich ein hohes Maß an Reflexion erkennen. Der Kyrios Jesus befreit die Menschen gerade von jenen Fesseln und Qualen, deren Beseitigung im Zusammenhang des endzeitlichen Kommens des Kyrios angekündigt wurden. Die Analyse der Episoden konnte zugleich aufzeigen, dass sich nicht nur thematische Parallelen zwischen dem Wirken des Kyrios und dem Wirken Jesu erkennen lassen, sondern dass darüber hinaus deutliche, vom Rezipienten zu erschließende Merkmalparallelen erkennbar werden. Egal, ob der Schlüssel zum erfolgreichen Exorzismus in der Anbetung Jesu liegt (9,28f.), die Hilfe in der Not aus der Ferne durch den seewandelnden Jesus erfolgt (6,45–52), der Tod in der Wahrnehmung Jesu einem einfachen Schlaf gleicht (5,35–43), Jesus in Analogie zu Jes 35,5.6 einen Tauben und zugleich Stummen heilt (Mk 7,31–37), Jesus Menschen von der weitgehend unheilbaren Krankheit der Blindheit befreit (vgl. Jes 29,18f.; 35,5f.; 42,6f.18; Ps 146,8; 4Q 521), Jesus die Menge auf dem grünen Gras lagern lässt und sie dem Mannawunder entsprechend (vgl. Ex 16; Num 11,4–9; LXX Ps 77,23–29) sättigt und sich dabei als barmherzig erweist (vgl. z.B. Gen 32,9–12; Ps 23,6; 103,3f.8; Jon 4,11; vgl. auch TestSeb 8,1f.; TestAbr 12), immer sind die Berührungspunkte zwischen alttestamentlicher Vorlage und markinischer Neuinszenierung offensichtlich und für den Rezipienten – im Unterschied zu den Bewohnern der erzählten Welt – erkennbar. In der zweiten Erzählhälfte ist keineswegs von einer Entkategorisierung des anfänglichen Figurenschemas zu sprechen. Dass Jesus in der Begegnung mit dem Reichen Jüngling (12,28–34) dessen Anrede, didavskale ajgaqev, sofort zurückweist, ist weder als ein Ausdruck seiner Bescheidenheit (= Charakter) zu werten, noch soll Jesus dadurch als vorbildlicher Monotheist (= Standpunkt) ausgewiesen werden. Die Antwort besitzt vor allem eine didaktische Funktion, weil sie dem Jüngling von Anfang an jegliche Hoffnung auf eine Werkgerechtigkeit nimmt und radikalisierend auf Gottes alleinige Güte und Entscheidungsgewalt verweist. Auch in 12,28–34 wird einer Identifikation zwischen Jesus und Kyrios keineswegs widersprochen. Der Konsens, der sich zwischen Jesus und dem Gelehrten in der Bedeutung der Alleinverehrung sowie in der Bedeutung der Nächstenliebe und der daraus resultierenden Tempelkritik abzeichnet (vgl. 12,33b mit 14,57–59), schließt jedenfalls keineswegs aus, dass Jesus zugleich eine Verehrung seiner eigenen Person einfordert und hierin gerade die Differenz zwischen dem aktuellen Standpunkt des Gelehrten und dem Selbstverständnis Jesu besteht. Während der Gelehrte zu einer solchen Verehrung keine Zustimmung geben könnte, weil für ihn das Gebot der Alleinverehrung
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Gottes eine solch parallele Verehrung des Gottessohnes unmöglich macht, wird der frühchristliche und damit intendierte Rezipient hierin alles andere als einen Widerspruch sehen. Für ihn besteht die Alleinverehrung Gottes ja gerade in der Verehrung des einen Vaters und des einen Herrn, Jesus Christus, d.h. es ist bereits eine binitarische Entfaltung des alten Schema Jisrael, wie sie bei Paulus und in der vorpaulinischen Tradition bezeugt ist (vgl. 1Kor 8,6), vorauszusetzen. Sollte der Rezipient in 12,28–34 dennoch einen Widerspruch zum anfänglich evozierten und im weiteren Erzählverlauf sich bestätigenden Figurenschema erkennen, so ließe wohl spätestens der im direkten Anschluss wiedergegebene Dialog zwischen Messias und Gott (12,35–37) erkennen, dass Jesus als Herr und eben nicht allein als Sohn (Davids) anzuerkennen ist. Gerade die Unmittelbarkeit dieser Erzählfolge demonstriert, dass 12,28–34 nicht im Widerspruch zur vorherigen Erzähllogik und Kyrioschristologie steht, sondern dass die Vorstellung von Jesus als dem Kyrios hier sogar zum Differenzkriterium erhoben wird. Wer Jesus als Kyrios anerkennt, der ist dem Reich Gottes nicht nur nahe, sondern der erkennt, dass in Jesus ebendieses Reich bereits angebrochen ist und die eigene Lebenswirklichkeit bestimmt. Letztlich lässt sich im Markusevangelium gerade keine Entkategoriserung der Kyriosvorstellung feststellen, sondern es ist von einer Individualisierung dieser textexternen Vorstellung zu sprechen, insofern Markus präzise zwischen der Vollmacht des Kyrios Jesus und der Vollmacht des Vaters differenziert, hiermit über die frühjüdische Erwartung hinausverweist und den schändlichen Kreuzestod sowie die Rehabilitation des Sohnes durch die Auferstehung mit dem Bekenntnis der Urgemeinde erzählerisch zu vermitteln weiß. Durch den Tod hindurch erweist sich Jesus als der Herr, als der aufgrund seiner exemplarischen Wundertaten bereits zu Lebzeiten erkennbar gewesen wäre, aber faktisch nicht zu erkennen war, weil die Menschen und selbst Jesu Nachfolger von Gott verstockt waren und die Dämonen ihn nicht bekannt machen durften. Die Zentralität des Kyriosgedankens leitet sich indirekt aus der Prominenz der endzeitlichen Eliaerwartung und deren Übertragung auf Johannes den Täufer ab. Die Häufigkeit, Explizität, Ungewöhnlichkeit der Darstellung und starke Emotionalität der Elia-Anspielungen sowie die Tatsache, dass Johannes bereits in 1,2f. sowie durch die Blockcharakterisierung in 1,4–8 mit Elia identifiziert wird (= Primäreffekt), verdeutlicht, dass es sich hierbei um eine bewusste Parallelisierung handelt. Die Vielzahl antiker Wiederkehrvorstellungen und das literarisch verbreitete Motiv eines Elia redivivus dürften eine solche Parallelisierung begünstigt haben. Für unsere Fragestellung ist von besonderer Relevanz, dass durch diesen Figurenvergleich vor allem ein Hauptmerkmal, nämlich die Vorläuferfunktion des Elia, herausgestellt wird. Demgegenüber weiß Markus zwar darum, dass Elia im Frühjudentum als Wundertäter par excellence gilt und setzt dies insofern voraus, als die Menge
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Jesus auch angesichts seiner Wunder mit dem Endzeitpropheten identifizieren will (vgl. 6,14–16; 8,27), aber dieses Verhalten findet gerade keine erzählerische Entfaltung. Bereits durch den innergöttlichen Dialog in 1,2f. deutet sich an, dass Elia ganz die Vorläuferfunktion zuzuschreiben ist, während Jesus als Stärkerer angekündigt (1,7) und damit unweigerlich in die Nähe Gottes gerückt wird. Markus ist jedenfalls bis in sprachliche Details (1,3b: aujtou` statt qeou` hJmw`n) hinein und unter Zuhilfenahme vorgegebener Sprachbilder (1,7: der Stärkere) bemüht, die alttestamentliche Verheißung vom Kommen des Kyrios auf Jesus hin übertragbar zu machen und Johannes-Elia als Vorläufer des Kyrios Jesus erscheinen zu lassen. Findet sich im Frühjudentum des ersten Jahrhunderts noch kein Beleg dafür, dass Elia als Vorläufers des Messias erscheint, so widerspricht dies keineswegs der skizzierten Interpretation, sondern bestätigt diese. Jesus soll keineswegs nur als messianische Gestalt neben bzw. über Elia erscheinen, sondern die Grenzen zwischen dem Vater Jesu Christi und dem Kyrios Jesus sollen verschwimmen, es soll Jesu Einzigkeit und Einheit mit Gott betont werden. Auch im Hinblick auf sein Leiden und seinen Tod übernimmt der Täufer eine Vorläuferfunktion. Es ist auch hier von einem heilsgeschichtlichen Schematismus zu sprechen. Während Johannes im Sinne des endzeitlichen Propheten ein ungerechtfertigtes Leiden erlebt (vgl. 12,1–12), weiß Jesus um seine eigene Passion und Auferstehung und kann diese vor dem Hintergrund alttestamentlicher Prophezeiungen deuten (9,11–13). Weder die Jünger noch die anderen Zeitgenossen Jesu vermögen seine Hinweise auf die Schrift und seine Ankündigungen jedoch zu verstehen. Der Kreuzigungsbericht stellt eine inhaltlich logische Fortsetzung des vorherigen Elia-Porträts dar. Statt um die tatsächliche Wiederkunft des Elia zu wissen, die sich im Wirken des Täufers ereignet hat, verspotten die Dabeistehenden Jesus auf der Grundlage einer solchen Elia-Erwartung. Wird die Aufmerksamkeit des Rezipienten eindeutig auf die Elia- und Kyrios-Parallelen gelenkt und erscheint Jesus einerseits als der Stärkere, der mehr ist als ein endzeitlicher Vorläufer Gottes, und andererseits als Figur, die zahlreiche Merkmalparallelen mit dem alttestamentlichen Kyrios aufweist, so kann, ja muss im Hinblick auf das Markusevangelium von einer reflektierten Hoheitschristologie gesprochen werden. Dem Rezipienten soll in Analogie zur Gleichnisrede Jesu, und d.h. auf nachvollziehbare und verständliche Weise, zu Gehör gebracht werden, dass Jesus als Kyrios zu verehren ist, aber er soll dies als Leser aus dem Erzählten schlussfolgern und erkennen. 4.4.4 Die Involviertheit des Rezipienten in das Handlungsgeschehen Im Unterschied zur älteren, strukturalistischen Erzähltheorie und zum Narrative Criticism (vgl. Kap. 3.4.1), die der Involviertheit des Rezipienten ins
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Handlungsgeschehen kaum Beachtung schenkten bzw. eine solche bewusst außer Acht ließen, lässt sich auf der Grundlage eines kognitiven Handlungsverständnisses nachzeichnen, wie der intendierte Leser über den Erzählverlauf in seinen Ansichten und Überzeugungen bestätigt, überrascht, herausgefordert, orientiert oder desorientiert wird. Für die Frage nach der Funktion der markinischen Erzählung ist eine Berücksichtigung dieses Wechselspiels zwischen Text und Leser von großem Wert. So lässt sich nachvollziehen, wie die einzelnen Ereignisse, Episoden und Handlungsstränge auf den textextern begründeten und vorgeprägten Standpunkt des Rezipienten einwirken und welche Intention905 der Autor mit der erzählerischen Entfaltung des Handlungsgeschehens verfolgt. Hierbei gilt es keineswegs nur auf die äußere Struktur der Handlung und die Anordnung der Episoden zu achten, sondern auch auf das Leseerlebnis des intendierten Rezipienten. Wie fügen sich die einzelnen Informationen, die der Leser über einzelne Entitäten erhält im Lektüreprozess zu komplexeren Vorstellungen zusammen, und welcher Eindruck bleibt am Ende der Erzählung bestehen? Im Zuge der nachfolgenden Handlungsanalyse sollen noch einmal die beiden zentralen Handlungsstränge, nämlich das Jüngerunverständnis und das Messiasgeheimnis zusammenfassend dargestellt und in dieser Hinsicht ausgewertet werden. Diese Zusammenfassung mündet sodann in eine gesonderte Betrachtung des Erzählendes und in der Frage, welche pragmatische Funktion diesem zu eigen ist und welche Funktion sich vom Erzählende aus der Gesamterzählung zuschreiben lässt. a. Jüngerunverständnis:906 Da sich zwischen der TAW und der AW des Rezipienten eine hohe Kompatibilität aufweisen lässt, weil sich die erzählte Welt und die Wirklichkeit des intendierten Rezipienten in taxonomischer, logischer, physikalischer und moralisch-ethischer Hinsicht als weitgehend kongruent erweisen, dürfte das markinische Jüngerbild bei den Rezipienten auf große Verwunderung gestoßen sein. Jedenfalls lässt sich aus den gegebenen Textzeugnissen und der faktischen Autorität der Apostel ableiten, dass das Bild der Jünger eher von Wertschätzung, Achtung und Respekt geprägt war. Die ersten Berufungsberichte bestätigen dann auch genau dieses Bild und 905
Über den aktuellen Stand der Forschung hinaus wäre es hier von großem Wert, die Ergebnisse der Schreibprozessforschung auszuwerten und einzubeziehen (vgl. CHANQUOY, Revision; EIGLER, Textproduktionsforschung; HAYES, Revision). 906 Der intendierte Rezipient schenkt dem Jüngerunverständnis große Aufmerksamkeit, so dass von einer wichtigen Nebenhandlung zu sprechen ist. Faktoren hierfür sind, dass das Unverständnis der Jünger a) häufig thematisiert wird; b) es der Erschließung weiterer Figurenmerkmale dient; c) durch perspektivische Mittel in den Vordergrund gerückt wird (u.a. durch die Informationsverdoppelung 6,52/8,17–21); d) gelegentlich mit starken Emotionen und Werten belegt ist; und e) vor dem Hintergrund eines textextern vorgegebenen Personenverständnisses – aller Voraussicht nach – überraschend wirken musste.
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wecken so die Erwartung, dass sich die Jünger in der erzählten Welt ebenfalls durch ein vorbildliches Verhalten und Wissen auszeichnen werden. Sowohl die Erwählungsberichte als auch die Erzählung von der Einsetzung der Zwölf zeichnen sich durch eine positive Beurteilung aus. Diese erfolgt zum einen explizit durch den Protagonisten (vgl. 3,13) und damit durch einen zuverlässigen Perspektiventräger. Zum anderen werden die Jünger durch die gerafften Berichte von ihrer Berufung positiv dargestellt, weil sie Jesu Ruf unmittelbar folgen (1,18; 1,19; vgl. 10,28–30) und sich und ihre Angehörigen dem Herrn anvertrauen (1,29–31). Sie werden im Unterschied zu den meisten anderen Figuren mit ihrem Namen vorgestellt, was nicht nur darauf zurückzuführen ist, dass sie den Rezipienten namentlich bekannt waren, sondern auch darauf, dass sie im Lektüreprozess an Individualität gewinnen sollen und die Aufmerksamkeit des Rezipienten erhalten sollen. Erst907 das Gleichniskapitel (Mk 4) fordert zu einer Differenzierung und ersten Neubeurteilung heraus. Die Privatunterweisung der Jünger (4,10), die vom Erzähler als Verhaltensweise Jesu beschrieben wird (4,34b), deutet auf den hohen Stellenwert der Jünger hin, den diese in Jesu Augen haben. Als zukünftige Menschenfischer (1,17) sollen sie seine Gleichnisse verstehen und ihrerseits lehren können. An dieser Stelle wird der Rezipient noch vermuten dürfen, dass sich die Jünger in der Beziehung zu Jesus als lernfähig erweisen und durch seine persönliche Unterweisung verständig werden. Dass die Jünger ihrerseits zu den Außenstehenden gezählt werden könnten, ist zu diesem Zeitpunkt der Erzählung zwar denkbar, aber gänzlich unwahrscheinlich. Die Episode von der Stillung des Sturms (4,35–41) vermittelt dem Rezipienten zum ersten Mal den Eindruck, dass die Jünger aufgrund ihrer ängstlichen Haltung Jesu wahre Würde verkennen. Während die Zwölf nur die Frage stellen können, wer Jesus angesichts seiner Wundertat sei – und ihr Erkenntnisstand damit mit dem der Bevölkerung korrespondiert (1,27) –, vermag der Rezipient ebendiese Frage aufgrund seines textexternen Vorwissens, der bisherigen Informationen (1,2f.; 1,7; 1,10f.; 1,14f.; 1,24f.) und der gegebenen Figurenparallelen sowie erzählerischen Anspielungen auf die Figur des 907 Dass die Jünger nach 2,23 am Sabbat Ähren abrissen, was die unmittelbare Kritik der religiösen Autoritäten zur Folge hat, stellt gerade keine negative Beurteilung dar, sondern schafft eine erste Möglichkeit zur Identifikation. Indem die Jünger der Weisung ihres Herrn und nicht dem Gesetz des Mose folgen, kommt es zur Konfrontation mit der jüdischen Umwelt. Diese Erfahrung dürfte dem intendierten Rezipienten ebenfalls vertraut gewesen sein. Auch die Suche des Simon nach Jesus (1,36f.) – und das damit einhergehende Missverständnis, Jesus lasse sich (allein) für die Not der Kapernaumer Bevölkerung in Anspruch nehmen – reicht für sich genommen kaum aus, um das vorgeprägte Jüngerbild einer Kritik zu unterziehen. Vielmehr gerät hierdurch sehr früh die (universale) Weite des Sendungsauftrages in den Blick und es wird mittels räumlicher Grenzüberschreitungen deutlich gemacht, dass sich das Wirken und die Kunde Jesu nicht lokal einschränken lassen.
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alttestamentlichen Kyrios (vgl. 4.3.2b) zu beantworten. In Jesus wirkt kein anderer, als Gott selber. Er ist der Herr über die Naturmächte. Damit muss der Rezipient seine anfängliche und d.h. positive Beurteilung und Anerkennung der Jünger unweigerlich hinterfragen. Sollten die Jünger während der Zeit ihrer Nachfolge tatsächlich keine Erkenntnis der Person Jesu gehabt haben? Werden sie seine Wundertaten und seine Gleichnisse auch in der Folge nicht verstehen oder lernen sie doch allmählich hinzu? An dieser Stelle überwiegt aus Sicht des Rezipienten wohl noch die Überzeugung, dass die Jünger früher oder später zur wahren Erkenntnis kommen, aber eine gegenteilige Entwicklung wird der Rezipient nun stärker in Erwägung ziehen müssen. Die folgenden Kapitel wirken retardierend. In der Begegnung mit der blutflüssigen Frau offenbaren die Jünger abermals, dass sie Jesus – insbesondere seine Wahrnehmungsfähigkeit (5,31) – unterschätzen. Indem der Erzähler seinem Rezipienten eine Innensicht in die Gedanken der Frau gewährt und Jesus in 5,30 zum Wahrnehmungszentrum der Erzählung macht („und Jesus spürte sogleich [...]“) sind die Rezipienten besser informiert als die Figurengruppe der Jünger, die folgerichtig Jesu Frage nicht verstehen. Umgekehrt wird aber auch der Rezipient durch die nachfolgenden Ereignisse und insbesondere Jesu Reaktion überrascht. Die Verkettung zwischen 5,25–34 und der Jairusgeschichte wirkt sich zweifelsohne spannungssteigernd aus. Der Rezipient vermag trotz der vergleichsweise ausführlichen Krankheitsschilderung kaum Sympathie zu der Kranken aufzunehmen, weil sein Interesse unweigerlich dem (bedeutsameren) Schicksal der Jairus-Tochter gilt und die Frau in diesem Zusammenhang eher als störender Zwischenfall wahrgenommen wird. Überrascht wird der Rezipient nun nicht durch die nachgetragene Kunde vom Tod des Mädchens (V. 35b), weil diese Nachricht angesichts der Schwere der Krankheit und des verlangsamten Vorankommens vorauszuahnen waren. Überrascht wird der Rezipient vielmehr durch die Wertschätzung, die Jesus der Frau unmissverständlich und explizit entgegenbringt (V. 34). Überrascht wird er auch durch das gleichwohl größere Wunder, das Jesus im Anschluss durch die Auferweckung des Mädchens bewirkt und durch das er sich als Herr über den Tod erweist. Ließ die Kunde vom Tod des Mädchens die Vermutung aufkommen, Jesus habe durch die Heilung der Frau einen irreversiblen Fehler begangen, so wird dem Rezipienten nun aufgezeigt, dass er selber mit solch einer Vermutung einem menschlichen Denken gefolgt ist. Demgegenüber soll und darf der Rezipient aber darauf vertrauen, dass Jesus Herr über den Tod ist. Die Aussendung und Rückkehr der zwölf „Apostel“(6,[7].30; vgl. 3,14 908) und der doppelte Bericht von ihrem erfolgreichen Wirken (6,13 [Erzähler]; Obwohl der Aposteltitel in 3,14 gut bezeugt ist (u.a. durch אB D W q), streichen die meisten Exegeten diesen als spätere Glosse (vgl. GREEVEN/GÜTING, Textkritik, 195–198). In Mk 6,30 ist die Verwendung von ajpovstoloi hingegen gänzlich unstrittig. Dass der 908
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6,30 [indirekte Figurenrede]) dient wiederum dazu, den Rezipienten von der besonderen Autorität und dem richtigen Verhalten der Jünger zu überzeugen. Umso überraschender wirken nun das negative Porträt in 6,30–44 (bes. V. 35–37) und 6,45–52 sowie der explizite Erzählerkommentar in 6,52, der das Verhalten der Jünger erstmals als Verstockung interpretiert. Ab hier ist endgültig von einer Endkategorisierung des textextern vorgegebenen und anfänglich bestätigten Figurenmodells zu sprechen. Der Rezipient erwartet fortan (eher), dass die Jünger (vor Ostern) nicht mehr zum rechten Verständnis der Person Jesu gelangen. Dieser Eindruck verstärkt sich durch das neuerliche Unverständnis in 7,17 und Jesu ungehaltene Reaktion (V. 18), zumal die Privatunterweisung den Rezipienten unweigerlich909 an die gesonderte Erklärung der ersten Gleichnisse zurückerinnert und somit nun die Befürchtung nährt, die Jünger könnten am Ende als Außenstehende erscheinen. Regelrecht grotesk wirkt sodann das neuerliche Unverständnis der Jünger in 8,1–10. Wie in 4,35–41 erhält der Rezipient seinerseits mehrere implizite Hinweise, die Jesu Wirken mit dem Wirken des alttestamentlichen Kyrios parallelisieren (vgl. dazu 4.3.2b). In pragmatischer Hinsicht lässt sich dieser Diskrepanz zwischen der eingeschränkten Wahrnehmung der Jünger und der besseren Informiertheit und Erkenntnis des Rezipienten eine zweifache Funktion zuschreiben. Zum einen erkennt der Leser, dass der vorherige Erzählerkommentar (6,52) zuverlässig ist. Zum anderen wird er darin bestätigt, dass das Unverständnis der Jünger nur durch ein göttliches Offenbarungsgeschehen zu überwinden ist. Durch die Informationsdoppelung in 8,17f. wird die Zuverlässigkeit dieser Aussage zugleich weiter gesteigert und es drängt sich damit die Frage auf, bis zu welchem Zeitpunkt die Jünger verstockt bleiben. Dass die Jünger nach Ostern zur Erkenntnis der Person Jesu gelangt sind, muss der Rezipient aufgrund seines textexternen Wissens vermuten und hierin wird er auch im weiteren Erzählverlauf mehrfach, wenngleich indirekt, bestätigt. So setzt die markinische Erzählung völlig unzweideutig eine nachös-
intendierte Rezipient drei Jahrzehnte nach der Einsetzung von Aposteln den Begriff nicht im Sinne eines frühkirchlichen Ehrentitels verstehen soll (= semantisches Netz; vgl. zur Rekurrenz Kap. 2.4.2), sondern hierin lediglich eine Wiederaufnahme des Aussendungsgeschehens (6,7) zu erkennen ist (so z.B. GNILKA, Evangelium II/1, 258), vermag kaum zu überzeugen. 909 Die Verknüpfungsstärke zwischen 7,17ff. und 4,13–20.33f. ist relativ hoch. Aspekte, die beide Szenen verbinden, sind a) der identische Figurenbestand; b) die Bezeichnung der Rede Jesu als Gleichnis; c) die Verwendung des semantischen Wortfelds „verstehen/ wissen“ (= semantische bzw. thematische Übereinstimmung); d) die ähnliche Erzählperspektive und -technik (erzählerische Einleitung, indirekte Figurenrede der Jünger, zitierte und ausführlich wiedergegebene Antwort Jesu); d) das vergleichbare Setting (unter sich, im Haus); und e) der kausale Handlungszusammenhang (Unverständnis lässt Jünger als Außenstehende erscheinen).
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terliche Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus und damit eine Erkenntnis seiner Person voraus (8,35; 13,10; 14,9; 16,7). Überrascht wird der Rezipient seinerseits durch das zwischenzeitliche Bekenntnis des Petrus (8,29), das in seiner Prägnanz (so) nicht zu erwarten war. Wie es zu dieser plötzlichen Erkenntnis – trotz Verstockung – kommen kann, liegt dabei scheinbar nicht im Fokus des erzählerischen Interesses. Wichtig ist dem Erzähler nicht, wie es zu dieser Erkenntnis kommt, sondern dass der Rezipient diese Antwort als adäquat erkennt, insofern hierdurch eine frühchristliche Bekenntnisterminologie aufgegriffen wird (= textexternes Wissen) und der Standpunkt des Petrus mit dem anfänglichen Standpunkt des Erzählers korrespondiert (= Schlussfolgerungsprozess). Zugleich soll der Rezipient durch den nachträglich überlieferten Disput zwischen Jesus und Petrus erkennen, dass die Jünger zwar rein sprachlich eine zutreffende hoheitliche Würdebezeichnung verwenden, diese aber noch nicht vor dem Hintergrund des Kreuzesereignisses und der Auferstehung Jesu zu deuten wissen. Wenn sie vom Christus reden, so tun sie dies noch ganz im Sinne einer königlichen Messiaserwartung (= real-world-strategy of sense-making). Indem diese Sichtweise von Jesus zugleich als menschliches Denken und Versuchung zurückgewiesen und damit in einen Gegensatz zum Standpunkt Gottes und zum ewigen Ratschluss Gottes gerückt wird – was sich durch den weiteren Erzählverlauf weiter bestätigt (9,1–7) –, soll der Rezipient dazu bewegt werden, den Sinn und die Notwendigkeit des Leidens Christi anzuerkennen und mit dem Christusbekenntnis zu verknüpfen. In der Folge lässt sich entsprechend hierzu eine inhaltliche Verschiebung des Jüngerunverständnisses feststellen. Von Interesse ist nun nicht mehr die prinzipielle Frage nach Jesu Person und Identität – die Bandbreite an möglichen Verstehensschemata nimmt deutlich ab –, sondern von Interesse ist jetzt die Frage nach a) den Konsequenzen, die sich aus dem unzureichenden Personenverständnis der Jünger ergeben; und b) nach dem Grund und der Notwendigkeit des Kreuzestodes. So führt das unzureichende Personenverständnis auf Seiten der Jünger zum Rangstreit (9,33–37) und zum Missverständnis des rechten Herrschens und Dienens (10,35–45), weil um die vermeintliche Hierarchie innerhalb des neuen, irdischen Königtums gestritten wird und Jesu wiederholte Ankündigung seines Leidens und seines Stellvertretungstodes (10,45) verhallen oder lediglich Verwunderung und Furcht hervorrufen. Dass sich das Unverständnis zugleich beschädigend auf die Beziehung zwischen den Jüngern und ihrem Herrn auswirkt, wird beispielshaft durch die kurze Notiz in 10,32 zum Ausdruck gebracht, weil sich die Jünger nach 4,10 und 7,17 nun nicht einmal mehr trauen, Jesus nach dem Sinn seiner Rede zu fragen. Diese Beschädigung der Beziehung gipfelt schließlich im Verrat des Judas, in der Verleugnung des Petrus und in der feigen Flucht der Jünger. Eine Rehabilitation erfährt diese Beziehung folgerichtig nicht durch ein geändertes
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Verhalten oder ein Umdenken der Jünger, sondern erst durch Jesu nachösterliche Rückkehr und d.h. dadurch, dass der Auferstandene seine Jünger am Ort der ursprünglichen Berufung abermals aufsucht und ihnen in seiner Treue und Barmherzigkeit vergebend entgegengeht. Dass Markus die damit verbundene (Konflikt)Spannung gerade nicht aufhebt, sondern über das Erzählende hinaus aufrecht erhält, sorgt auf Seiten des Rezipienten dafür, dass dieser sein Vertrauen ganz in die göttliche Verheißung des Evangeliums und dessen Verkündigung setzen muss. b. Messiasgeheimnis: Das Messiasgeheimnis hat in der Forschungsgeschichte des letzten Jahrhunderts völlig zu Recht große Aufmerksamkeit erhalten (vgl. 3.3.1). Auf der Grundlage einer kognitiv-narratologischen Exegese lässt sich aufzeigen, dass der intendierte Rezipient die verschiedenen Handlungselemente durch die anhaltende Frage nach Jesu Motivation verbindet. Die einzelnen Elemente werden durch das übergeordnete Figurenmodell zusammengehalten und erhalten hierdurch Aufmerksamkeit. Während der Rezipient durch das Jüngerunverständnis zur eigenen Auseinandersetzung mit der Identität Jesu und der Frage nach dem Sinn seines Kreuzestodes angeregt wird und in seinem textexternen Personenverständnis bestätigt wird, kann er die Absicht hinter Jesu Schweigegeboten zunächst nicht eindeutig ergründen. Jesu Verhalten wirkt am Anfang eher mysteriös. Gerade diese Rätselspannung bewirkt aber, dass der Rezipient den Schweigegeboten und der Nichtverwendung des Sohn-Gottes-Titels Aufmerksamkeit schenkt und die dahinterliegende Motivation zu ergründen versucht. Insofern lässt sich berechtigter Weise von einer literarischen bzw. pragmatischen Funktion des Messiasgeheimnisses sprechen. Aufgrund seines textexternen Figurenwissens und der textlichen Informationen, die durch das anfängliche Prophetenzitat (1,2f.), die Ankündigung des Täufers (1,7) und die Himmelstimme (1,11) gegeben sind, erkennt der Rezipient, dass die Dämonen und himmlischen Mächte um Jesu wahre Identität wissen (vgl. 1,34). Jesus ist zu Recht als Sohn Gottes anzusprechen. Wenn der Protagonist aber ein Bekanntwerden ebendieser Identität verhindert, so lässt dies (theoretisch) unterschiedliche Erklärungen zu, wobei der Rezipient aufgrund seiner eigenen Bekenntnistradition und seines Wissens um die nachösterliche Verkündigung (8,35; 13,10; 14,9; 16,7) kaum von einer prinzipiellen Geheimhaltungsabsicht ausgehen wird. In der Tat wird mit dem Erzählverlauf immer deutlicher, dass Jesus seine Identität nur bis zur Auferstehung geheimhalten will (9,9) und sodann vom Vater vollumfänglich offenbar gemacht werden soll. Auch hier gilt es das textexterne Vorverständnis des Rezipienten zu beachten: So verbindet sich mit dem „Datum“ des Ostermorgens wohl automatisch die Vorstellung, dass Jesus qua Auferweckung zur Rechten Gottes erhöht wurde, ihm die Herrschaftsrechte des Sohnes verliehen wurden und er fortan von der Gemeinde
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als Sohn und Herr anzureden und zu verehren ist (Röm 1,3–4; Phil 2,9–11; vgl. 1Kor 15,23–28). Erst auf der Grundlage dieser verbreiteten frühchristlichen Bekenntnistradition wird jedenfalls verständlich, warum der markinische Jesus vor Ostern weder von sich als Sohn redet noch sich als Sohn anreden lässt. Gerade als (präexistenter) Sohn unterstellt er sich der Autorität des Vaters, dem es allein gebührt, ihn vor den Menschen als Sohn und Herrn offenbar zu machen und öffentlich als solchen anzureden. Es zeigt sich hier letztlich eine Kontinuität, die bis in die alttestamentliche Tradition zurückreicht, insofern der Sohn-Gottes-Titel auch hier schon als königliche Würdebezeichnung begriffen wird, die ausschließlich dem von Gott angesprochenen Davididen gelten kann (vgl. bereits Ps 2,7; 89,4f.27–30; 110,1–3; 1Chr 17,13; 22,10; 28,6;910 Jes 9,5f.; vgl. auch Lk 1,32). Jesu Schweigegebote und die umfassende Geheimhaltung seiner Identität resultieren somit aus seinem Gehorsam, der in seinen Leidensankündigungen, dem Wissen um Gottes ewigen Ratschluss und letztlich – in zugespitzter Weise – in der Gethsemane-Episode und seinem Kreuzestod zur Sprache kommen (vgl. 4.3.1g; 4.3.1i und 4.3.1j). Die Parabeltheorie ist als Pendant zu diesem Messiasgeheimnis auszumachen. Auch hier vertraut Jesus darauf, dass seinen Jüngern das Geheimnis des Reiches Gottes vom Vater gegeben wird. Er vermag diese Erkenntnis nicht durch seine Privatunterweisungen herbeizuführen, weil die Jünger (temporär) von Gott verstockt sind. Dem Vater allein bleibt es vorbehalten, den Glauben an Jesus Christus und die Erkenntnis seiner Person sowie seines Heilswerkes in den Jüngern und nachfolgenden Generationen zu wecken. Eine soziologische Funktion lässt sich dem Messiasgeheimnis demgegenüber nicht zuschreiben. Dass der Rezipient in Jesu Verhalten eine Notwendigkeit der Geheimhaltung erkennen und diese auf seine eigene Lebenswirklichkeit übertragen soll, steht in einem deutlichen Konflikt zu dem von Jesus erhobenen und öffentlich proklamierten Vollmachtsanspruch, der überhaupt erst den Konflikt mit den Autoritäten provoziert. Zugleich gilt, dass sich zwischen dem Protagonisten und dem intendierten Rezipienten kaum ausreichend Parallelen erkennen lassen, als dass der Rezipient sich in der Figur Jesu wiedererkennen und mit dieser identifizieren könnte. Theologisch und erzählwissenschaftlich unzureichend ist es auch, dass Messiasgeheimnis auf eine ausgeprägte Bescheidenheit Jesu (= Charakter) zurückzuführen oder gar von einer produktiven Differenz zwischen dem christologischen Standpunkt Gottes, dem Standpunkt des Erzählers und dem Selbstverständnis Jesu zu sprechen.911 Wesensmäßig ist Jesus bereits vor der erzählten Zeit als (präexistenter) Sohn Gottes anzusprechen und wird von Gott deshalb auch als Kyrios (1,2f.) und geliebter Sohn angekündigt und vor910 911
Vgl. dazu GESE, Sinai, 81 und HENGEL, Sohn Gottes, 38f. So z.B. neuerdings wieder MALBON, Mark’s Jesus, 191.
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gestellt (1,11; 9,7). Erkenntnismäßig hätten die Menschen ebendiese Identität – aufgrund von Jesu Lehre und seinem Wirken – erkennen können, ja müssen. Und dem Rezipienten ist auch genau dies aufgrund seines textexternen Vorwissens und der erzählerischen Parallelen möglich. Heilsgeschichtlich wird der Glaube an Jesus aber erst nach seiner Auferstehung und Erhöhung (vgl. 14,62) bewirkt, indem er nun von Gott als präexistenter Sohn und auferstandener Herr offiziell eingesetzt und vollumfänglich offenbart wird. Im Markusevangelium ist zwischen der Perspektive der ratio cognoscendi und der ratio essendi zu differenzieren. Die Frage nach dem Beginn der Erkennbarkeit der Gottessohnschaft ist hier eine andere als die Frage nach dem Anfang seines Seins bei Gott und seiner Teilhabe am Wesen des Vaters. Ebenfalls zu unterscheiden ist zwischen der endgültigen Übertragung der eschatologischen Gottesherrschaft auf den Sohn, die sich am Datum der Auferstehung festmachen lässt, und dem Beginn seines Sohn-Seins, das von Anfang an vorausgesetzt wird. Die Spannung, die mit Hilfe des Messiasgeheimnisses über das Erzählende hinaus aufrechterhalten wird, erfüllt keinen literarischen Selbstzweck, sondern es handelt sich hierbei um eine erzählerische Darstellungsform, die die Auferstehung als Schlüssel zum Verständnis der Person Jesu erscheinen lässt. Mit Ostern vollzieht sich kein Wandel im Wesen Jesu (auch nicht in seinem Selbstverständnis), sondern ein Wandel in der von Gott (nun) bewirkten menschlichen Erkenntnis. Auch der Rezipient muss damit anerkennen, dass sein Verständnis der Person Jesu durch Gott bewirkt ist und er jenseits der Evangeliumsverkündigung nicht zum rechten Verstehen gelangen kann. Ihm wird jede Möglichkeit genommen, sich über die Figuren der Erzählung und ihre Irrtümer zu erheben. c. Mk 16,8 und das Erzählende des Markusevangeliums: Die einst strittige Frage, ob das Markusevangelium ursprünglich mit 16,8 endete oder von einem anderen, längeren Markusschluss auszugehen ist, kann heutzutage als entschieden gelten. Der kürzere Markusschluss ist der Schluss, den der Evangelist seiner Erzählung von Anfang an gab.912 Trotz der Erkenntnis, dass eine antike griechische Schrift und ein griechischer Satz zweifelsfrei mit gavr enden konnte,913 sollte dabei jedoch nicht die Ungewöhnlichkeit eines eben912 Vgl. die Darstellung der Forschungsdiskussion zum Markusschluss bei BÖHM, Wo Markus aufhörte, 87–89; COX, History; DANOVE, End, 119–131; KELHOFFER, Miracle, 1– 46.48–472 [entstehungsgeschichtliche Plausibilisierung des Langschlusses]. Zur textkritischen Frage vgl. METZGER, Textual Commentary, 122–128; ALAND, Schluss, 246–283. 913 Vgl. als (einzige) Parallele hierzu den 32. Traktat in Plotins Enneaden (Plot. Enn. 5,5) und dazu VAN DER HORST, End With GAR?, 121–124, bes. 123f. Neben dieser literarischen Parallelstelle ist entscheidender, dass die Syntax der griechischen Sprache ein entsprechende Endstellung von gavr zulässt (vgl. PESCH, Markusevangelium II/1, 47f. [mit ausführlicher Literaturliste]).
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solchen Schlusses übergangen werden. Aus dem Erzählverlauf und aufgrund des textexternen Wissens der Rezipienten ist der Markusschluss höchst überraschend. So lassen die neutestamentlichen Ostertraditionen vermuten, dass der Bericht vom leeren Grab bereits in vormarkinischer Zeit aufs Engste mit der Schilderung von Ostererscheinungen verknüpft war (vgl. 1Kor 15,3–5.6f.; Mt 28,1–8.9–20; Lk 24,1–12.13–53; [Mk 16,9–18]; Apg 1,1–10; Joh 20,1– 10.11–18.19–29). Das Ende des ersten Evangeliums dürfte für den intendierten Rezipienten vor diesem Hintergrund unerwartet gewesen sein und musste zugleich als offener Schluss empfunden werden. Aufgrund des vorherigen Erzählverlauf ist es überraschend, dass mit den drei Frauen eine Figurengruppe in Erscheinung tritt, die zwar mit der erweiterten Jüngerschar zu assoziieren ist (vgl. Mk 16,7b: kaqw;~ ei\pen uJmi`n), die vor der Passionserzählung aber nicht explizit eingeführt wurde.914 Für eine Offenheit des Erzählendes sorgen hingegen die Worte des Engels, die zwar eine Versöhnung zwischen Jesus und seinen Nachfolgern in Aussicht stellen und erwarten lassen, ihrerseits aber über die erzählte Zeit hinausverweisen (= diegetisch vermittelte externe Prolepse). Offen ist das markinische Erzählende auch deshalb, weil der zentrale Konfliktverlauf mit den Autoritäten keiner vollständigen Lösung zugeführt wird. Gemäß frühchristlicher Bekenntnistraditionen deutet die Auferweckung offenkundig eine Erhöhung des Sohnes durch Gott an (Röm 1,3–4; 1Kor 15,23–28; Phil 2,9–11), was der Rezipient aufgrund Jesu eigener Ankündigungen sowie der Zuverlässigkeit seiner vorherigen Aussagen erwarten musste (Mk 8,38; 14,62; vgl. 12,36). Überraschend ist jedoch, dass dies nicht noch einmal explizit durch die Erzählerstimme oder eine andere Figur konstatiert wird. Stattdessen wird zum Schluss gerade vom Schweigen der Frauen berichtet und dies obwohl Jesus das Ereignis der Auferstehung zum Endpunkt seines Personengeheimnisses erklärt hatte (vgl. 9,9). Ein solch unerwartetes und offenes Ende, das zugleich durch seine sprachlichen Ungewöhnlichkeiten hervorstickt, wirft unweigerlich die Frage nach der pragmatischen Funktion auf. Welchen Zweck erfüllt dieses Ende des ersten Evangeliums? Eine hinreichende Antwort wird man wiederum nur dann geben können, wenn man die letzte Episode nicht isoliert betrachtet, sondern als Teil einer langen, mehrsträngigen Erzählung begreift und in ein Verhältnis zum Erzählganzen setzt. So betrachtet erscheint es zunächst wenig plausibel, das abschließende Schweigen der Frauen im Sinne einer endgültigen Nichtverkündigung der Engelsbotschaft und damit der Osterereignisse zu deuten. Der Rezipient müsste sich dann zum einen fragen, woher die ihm vorgelesene
914
Es ist auch kaum wahrscheinlich, dass der intendierte Rezipienten ihre Anwesenheit zuvor aus dem Erzählten oder aufgrund seines textexternen Vorwissens erschließen konnte.
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Schrift überhaupt stammen mag.915 Bereits die Existenz der Erzählung verweist eo ipso darauf, dass die Frauen die Kunde des Engels letztlich weitergesagt haben.916 Zum anderen bliebe unberücksichtigt, dass die Erzählung explizit und wiederholt auf die nachösterliche Verkündigungssituation vorausblickt (8,35; 13,10; 14,9; 16,7) und es dabei Jesus selber ist, der als zuverlässiger Perspektiventräger, eine Zeit der Evangeliumsverkündigung voraussagt. Wird mit den Worten des Engels gerade bestätigt, dass Jesu Vorhersage zuverlässig war und zwar bis ins Detail (vgl. 16,7 mit 14,28), so stünde ein zeitlich unbegrenztes Schweigen der Frauen in einem kaum zu übertreffenden Widerspruch hierzu. Ich vermag in einem solch potentiellen Widerspruch nicht die eigentliche Pointe des Evangeliums und Intention des Autors zu erkennen. Entsprechende Deutungen mögen zwar in der Postmodern attraktiv erscheinen, muten dem Markusevangelium als einer antiken Erzählung aber allzu viel zu. Die Sachlage ist m.E. aber auch weitaus einfacher: So liegt der Akzent des Markusschlusses weniger auf dem Schweigen der Frauen, als auf deren Furcht bzw. auf der in Aussicht gestellten Überwindung dieser Furcht durch die angekündigte Wiederkehr des Auferstandenen (16,7). Bereits die auffällige Endstellung des ejfobou`nto gavr signalisiert, worauf der Akzent der Schlussepisode liegt. Zudem wird der Rezipient das Schweigen mit der Furcht der Frauen begründen können, d.h. die Furcht ist an dieser Stelle das Schlüsselmerkmal aus dem sich das berichtete Verhalten ableiten lässt. Zudem kann der Leser die Furcht als menschliche Reaktion auf die Begegnung mit dem Göttlichen bzw. Einzigartigen interpretieren (vgl. Jünger: 4,41; 6,50.51; 9,6.32; 10,24.26.32; vgl. 16,5.6; Menge im jüdischen Gebiet: 1,22.27; 2,12; 5,42; 6,2; 9,15; 11,18; Menge im heidnischen Gebiet: 5,15; 7,37; Bedürftige: 5,33; religiöse und politische Autoritäten: 11,18; 15,5; 15,44; vgl. 6,20). Dies entspricht zweifelsohne auch den Gattungserwartungen bei einer Epiphanie-Erzählung. 917 Überraschend ist in 16,8 mithin nicht die Furcht der Frauen, sondern die Tatsache, dass das Evangelium mit 915
Dass 16,8 gerade eine solche Unterminierung des zuvor Erzählten bezwecken will und den Rezipienten somit in der Ungewissheit lässt, ob er dem Evangelium Vertrauen schenken kann, mutet einem antiken Text zu viel zu und stünde dann tatsächlich in einem kaum zu überbietenden Widerspruch zu der bisherigen Orientierung, die der Leser über den Erzählverlauf erhalten hat. Gegen DANOVE, End, 225–230; SCHENKE, Literarische Eigenart 352. 916 Gegen SCHENKE, Literarische Eigenart, 352; Mit BÖHM, Wo Markus aufhörte, 82f.; DU TOIT, Der abwesende Herr, 252. 917 Von einem Admirationsmotiv (vgl. dazu THEISSEN, Wundergeschichten, 78f.) im engeren Sinne ist in 1,27; 2,12; 4,41; 5,15; 5,33; 5,42; 6,50.51; 9,6; 9,32; 16,5.6 zu sprechen. Daneben können Jesu Lehre (1,22; 9,32; 10,24.26; 10,32) und sein bloßes Erscheinen (9,15) Reaktionen der Furcht und des Erstaunens auslösen. Die Furcht Jesu in Gethsemane und seine Verwunderung über den Unglauben in Nazareth stellen ein anderes Motiv dar (vgl. hierzu 4.3.1c und 4.3.1i).
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ebendieser Furcht endet. Abermals scheinen Menschen die Worte des irdischen Jesus gehört und doch nicht verstandenen zu haben. Damit bleibt die erzählerische Spannung, die durch das Unverständnis der Jünger in die bisherige Erzählung eingetragen wurde, über das Ende des Evangeliums hinaus aufrecht erhalten und findet im Verhalten der Frauen seine Fortsetzung. Die pragmatische Funktion hinter 16,8 ist dann jedoch keineswegs, dass der intendierte Rezipient es in irgendeiner Weise besser machen soll als die Jünger und Jüngerinnen, d.h. dass er nun – von sich aus – erkennen soll, was den Nachfolgern offenbar verborgen blieb. Er soll seine Hoffnung gerade nicht auf seine eigene Erkenntnis setzen, denn gerade das hieße den Fehler der Jünger und Jüngerinnen zu wiederholen (s.o.). Vielmehr soll er seine Hoffnung allein auf Gott setzen, der sich in Jesus offenbart hat, der in dessen Sendung selbst gekommen ist und der allein den rechten Glauben an seinen Sohn zu wirken vermag. Es gilt, die Hoffnung auf jenen Gott zu setzen, bei dem allein alle Dinge möglich sind (10,27) und der den Menschen – inmitten ihres eigenen Unglaubens – Glauben schenkt (9,24). In 16,8 wird der Leser also vor allem mit der offensichtlichen Begrenzung menschlicher Erkenntnisfähigkeiten konfrontiert. Dass Ende regt zum Schauder über die menschliche Blindheit und Herzensverhärtung an. Im Unterschied zur epistemologischen Funktion heutiger Erzählungen, bei der das Verstehen an sich radikal hinterfragt wird, wird durch das Ende des Markusevangeliums ein Weg zum wahren Verständnis aufgezeigt, das allein im Handeln Gottes begründet liegt. Damit erscheint die nachösterliche Zeit, die nicht mehr Teil der erzählten Zeit ist, als eigentliche Hoffnungs- und Heilszeit. Was den Menschen zur Zeit des irdischen Jesus verborgen blieb, das wirkt nun nach Ostern Gott selber. Er weckt hier und jetzt den Glauben an seinen Sohn durch die Verkündigung des Evangeliums. Es verbindet sich damit zugleich die Hoffnung auf eine Zeit, in der Jesus seiner Gemeinde als erhöhter Herr und Christus inmitten aller äußere Nöten und inneren Konflikte beisteht. Dass der Rezipient durch die Erzählung und das offene Erzählende umgekehrt auf eine Zeit der Abwesenheit Jesu eingestimmt werden soll und Jesu Erhöhung damit primär einer Distanzierung gleiche, ja dass die Furcht der Frauen gar damit zu begründen sei, dass sie das Urteil ihres Richters angesichts des eigenen Fehlverhaltens und Unglaubens zu erwarten hätten,918 dieser These von David S. du Toit vermag ich nicht zuzustimmen und möchte dies abschließend ausführlicher erläutern: Erstens stellt die neutestamentliche Rede von der Erhöhung Jesu, die dem markinischen Erzählende offenkundig zu Grunde liegt, ganz prinzipiell ein 918 Zwar betont du Toit später auch, dass das Markusevangelium um Jesu Vollmacht zur Vergebung wisse (2,10), aber die Zwischenzeit zwischen Jesu Erhöhung und Wiederkunft bleibt für ihn dennoch eine Zeit, die „im Zeichen des endzeitlichen Gerichts“ (DU TOIT, Der abwesende Herr, 309) stehen bleibt.
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Wort des Trostes dar.919 Die äußere Not und das innere Gefühl der Ohnmacht werden durch die Rede von Jesu Erhöhung nicht geleugnet, aber der Fokus und die Blickrichtung werden von den menschlichen Unzulänglichkeiten auf die Fürsorge und den Beistand des Herrn bzw. die Beziehung zwischen den Glaubenden und Gott gelenkt. So verbindet sich mit der Erhöhung gerade der Gedanke der uneingeschränkten, universellen Vollmacht des Sohnes. Zwar wird sich bei Jesu Wiederkunft die Art und Weise der Christusbeziehung ändern, aber die Qualität dieser Beziehung bleibt gleich (vgl. 2Kor 5,1–20920 und daneben Röm 14,7–9; Gal 2,19f.). Zweitens ist festzuhalten, dass das Thema der Abwesenheit Jesu im Erzählverlauf kaum Aufmerksamkeit erhält – und zwar nicht einmal dort, wo sich dies angesichts der von David S. du Toit vermuteten Intention erzählstrategisch nahelegen würde. So wird Jesu Abwesenheit zu Beginn (Mk 2,20), wo der Rezipient für das Thema sensibilisiert werden könnte, nur implizit behandelt.921 Und wenn im weiteren Erzählverlauf von der Abwesenheit Jesu gesprochen wird, so bleibt diese immer auf das Ereignis922 bzw. den Tag der 919
Dies räumt du Toit sogar überaus prominent auf der Rückseite seiner Monografie ein, wobei er das erste Evangelium bewusst in einen starken Kontrast zur übrigen Vorstellungswelt des Neuen Testaments rückt: „Da der Evangelist nicht wie im frühen Christentum üblich mit der Gegenwart des Erhöhten, sondern mit dessen Abwesenheit rechnet, wird im Evangelium die nachösterliche Zeit als Zeit der Abwesenheit Jesu und somit als Unheilszeit begriffen“ (DU TOIT, Der abwesende Herr, Rückseite). Die These der vorliegenden Arbeit ist es hingegen, dass der Rezipient des Markusevangeliums die Erzählung gerade auf der Grundlage seines textexternen Wissens liest und dementsprechend zu deuten vermag. So verbindet sich für ihn der Gedanke der Erhöhung unweigerlich mit dem Aspekt der Gewissheit. Prägnant kommt dieser Zusammenhang etwa auch in Apg 2,36 zur Sprache: „ajsfalw`~ ou\n ginwskevtw pa`~ oi\ko~ ÆIsrah;l o{ti kai; kuvrion aujto;n kai; cristo;n ejpoivhsen oJ qeov~, tou`ton to;n ÆIhsou`n o}n uJmei`~ ejstaurwvsate.“ 920 Vgl. dazu vertiefend HOFIUS, Wandeln, 271–283, der ausgehend von V. 7 den Unterschied zwischen (jetzigem) Glauben und (einstigen) Sehen herausarbeitet. 921 Ähnlich VAN IERSEL, Mark, 113. Abgesehen von der Frage der Aufmerksamkeitslenkung gilt es zu betonen, dass auch der hier implizierte Zusammenhang von Anwesenheit Jesu und Freude für sich genommen noch gar nicht aussagekräftig ist. Wird die Erhöhung im (neutestamentlichen) Sinne einer universellen Präsenz des Kyrios Jesus gedeutet, so ist damit gerade vorausgesetzt, dass die Zeit nach der Auferstehung als Freudenzeit zu gelten hat. Die Freude des Glaubenden wurzelt dann nicht mehr in räumlichen oder zeitlichen Voraussetzungen, sondern einzig und allein in der Relation zum Herrn der Welt. In ebendieser Weise impliziert das Evangelium immer eine persönliche Beziehung zu Jesus Christus als dem personalen Inhalt dieser Kunde und in ebendieser Weise wird der Glaube als (Jesus-)Beziehung und Nachfolge umschrieben und gedeutet. 922 Schon in 2,20 deutet die Beschreibung des „Entrissenwerdens“ (ajpaivrein) an, dass die Zeit der Abwesenheit allein im gewaltsamen Schicksal begründet liegt, das den Bräutigam ereilt. Dass der Rezipient dabei Jesus mit dem Bräutigam identifiziert und die Ankündigung auf dessen Kreuzestod deutet, ergibt sich u.a. aus der Inkohärenz zwischen der Bildwelt (Hochzeitsfeier) und der damit nicht korrespondierenden Vorstellung einer Bräutigamsentführung.
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Kreuzigung (2,20 [„jener Tag“]) oder die Zeit zwischen Tod und Auferstehung (vgl. v.a. 8,31; 9,31; 10,34) begrenzt. Von einem zentralen Thema der markinischen Erzählung kann drittens nicht gesprochen werden, weil die Verknüpfungsstärke zwischen den von du Toit angeführten Sentenzen und Szenen vergleichsweise gering bleibt (4,26– 29; 9,2–10; 10,28–31; 14,26–31.38; 16,8). Letztlich erscheint es mir zweifelhaft, dass sich all diese Textstellen durchgängig in einem allegorischen Sinn auf die nachösterliche Zeit übertragen lassen. Wenngleich der intendierte Rezipient des Markusevangeliums offensichtlich in einer Zeit der Verführung, der äußeren Not und sogar Lebensbedrohung zu verorten ist (vgl. Mk 13), so soll dieser doch gerade nicht mit der Abwesenheit seines Herrn zusätzlich konfrontiert werden, sondern er soll seine Vergewisserung darin finden, dass der Auferstandene der Gemeinde inmitten ihrer aktuellen Herausforderungen beisteht. Gerade die Endzeitrede – die der Erzähler auf die Situation der Rezipienten überträgt (13,14) – verdeutlicht, dass die Gemeinde in der Zeit der Verunsicherung, des Chaos’ und der eigenen Bedrohung ihre Gewissheit allein in Jesus Christus und damit im erhöhten Herrn finden kann und soll. So wird die Gemeinde ermutigt, in der Beziehung zu Christus zu bleiben, statt sich auf die anderen PseudoChristusse und ihre Heilsbotschaften zu verlassen (13,21f.). Die Gemeindeglieder sollen nicht dem eigenen rhetorischen Geschick vertrauen, sondern den Beistand des Geistes (13,11) – d.h. aber gerade den Beistand des Kyrios (vgl. 2Kor 3,17923) – erfahren. Sie sollen nicht in einen endzeitlichen Aktionismus verfallen, sondern wachsam bleiben und auf die endgültige Wiederkunft ihres Herrn warten (13,24–37). Weil der Glaubende darum weiß, dass der Frühsommer bereits angebrochen ist (V. 28) und die Zeichen des Unheils nur ein Hinweis darauf sein können, dass der Herr schon vor der Tür steht (V. 29), kann er aus einer begründeten Hoffnung heraus und in der frohen Erwartung warten (V. 33–37) und wird von der Wiederkunft des Hausherren kaum überrascht werden. Der wiederkommende Menschensohn und Herr wird dann jedoch kein anderer sein, als der von Markus bezeugte, irdisch wirkende und vom Vater auferweckte Kyrios. So wie das Reich Gottes durch sein Kommen angebrochen ist, setzt es sich in der Evangeliumsverkündigung und damit in der Vergegenwärtigung Jesu fort und bleibt für die Rezipienten – wider allen Augenscheins – die alles bestimmende Wirklichkeit. Der Markustext wird also kei923 Vgl. zu diesem Zusammenhang im paulinischen Denken v.a. BERGER, Theologiegeschichte, 51–54; FATEHI, Spirit’s Relation, 169–305 (ausführlich); THÜSING, Theologien I, 118–138. Mich überrascht, dass du Toit diese Studien seinerseits nennt, den beschriebenen Zusammenhang betont, um dann freilich das Fazit zu ziehen, „dass das Markusevangelium nicht an diesem frühchristlichen Konsens partizipiert: Im Markusevaneglium ist der Erhöhte in der vorhandenen Wirklichkeit nicht anwesend, seine Gegenwart ist nicht erfahrbar, er ist absolut transzendent“ (DU TOIT, Der abwesende Herr, 334).
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neswegs „in funktionaler Hinsicht zum Ersatz für den nach Ostern fehlenden irdischen Jesus“, 924 sondern die Funktion des Markusevangelium besteht darin, den einen Herrn, der vor Ostern und nach Ostern derselbe bleibt, zu bezeugen und ausgehend vom Anfang seines Wirkens dessen bleibende Relevanz zu betonen. Deshalb muss die inhaltliche Korrespondenz, die in 8,35.38 und 10,29f. zwischen der Person Jesu und dem Evangelium hergestellt wird, keineswegs einer nachträglichen Umdeutung unterzogen werden. Im Unterschied zu du Toit vermag ich gerade nicht zu erkennen, dass bei Markus ein inhaltlicher Wandel zwischen der vor- und nachösterlichen Verkündigung besteht (13,10; 14,9). Es ist ja nicht das Markusevangelium, das unter allen Völkern gepredigt und weitererzählt werden soll, sondern es ist – in Analogie zu 1,14f. und zum vormarkinischen Evangeliumsverständnis925 – daran gedacht, dass Jesus selber als personale Mitte des Evangeliums verkündigt wird. Hierbei lässt sich gerade eine Kontinuität zwischen der Verkündigung des Evangeliums unter allen Völkern und der Zuwendung des markinischen Jesus zu den Heiden erkennen. Und von jener Frau, die Jesus vor seinem Tode salbt, wird nicht primär deshalb erzählt (14,9), weil der Evangelist die Verbreitung seiner Schrift – und aller Einzelepisoden – vorausahnt, sondern weil die Tat der Frau von einer wahren Erkenntnis der Person Jesu zeugt und in ihrer Liebe die rechte Glaubensbeziehung angedeutet wird. 4.4.5 Auswertung: Funktionen der markinischen Erzählung Fassen wir an dieser Stelle die Funktionen der markinischen Erzählung zusammen, wie sie sich im Zuge der Perspektiven-, Figuren- und Handlungsanalyse zu erkennen gaben, so lässt sich zwischen einer Hauptfunktion und zwei Unter- bzw. Nebenfunktionen differenzieren. Die Hauptfunktion der markinischen Erzählung kann als epistemologische Funktion bezeichnet werden. Im Unterschied zu heutigen Erzählung ist hiermit nicht gemeint, dass das Markusevangelium jede menschlichen Erkenntnismöglichkeit prinzipiell bestreitet oder dass die Frage, welche Identität Jesus zuzuschreiben ist, ausschließlich subjektiv zu beantworten wäre. Es wird durch die Erzählung vielmehr aufgezeigt, dass die Menschen Jesus in seiner eigentlichen Identität – und d.h. nach markinischem Verständnis als präexistenten Sohn und Kyrios – faktisch nicht erkannt haben. Dabei hätten es die Menschen aufgrund von Jesu Wundertaten und seiner Lehre wissen können. Die Analyse der Perspektivenstruktur und insbesondere der Perspek924
DU TOIT, Der abwesende Herr, 288. Vgl. v.a. die Belege von Evangelium mit Gen. Obi. bei Paulus: Röm 1,9 („von seinem Sohn“); 15,19; 1Kor 9,12; 2Kor 2,12; 9,13; 10,14; Gal 1,7; Phil 1,27; 1Thess 3,2 („[Jesu] Christi“); 2Kor 4,4 („Herrlichkeit Christi“); Röm 10,8.17 (wegen des Kontextes Dtn 30,14: „das Wort (Christi)“). 925
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tivischen Interaktion konnte in diesem Zusammenhang verdeutlichen, dass der Autor zeitgenössische Endzeit- und Messiasvorstellungen der jüdischen Umwelt aufgreift und diese dem Rezipienten durch diverse Mittel der Aufmerksamkeitslenkung (Explizität, Informationsverdoppelung, Wiederholung, Beurteilung, Inkohärenz) ins Bewusstsein ruft. Zugleich lässt er durch explizite und implizite Beurteilungen erkennen, inwiefern diese Vorstellungen Jesu wahre Identität beschreiben können und inwiefern sie sich als insuffizient oder sogar als falsch erweisen. Gerade durch das Zusammenspiel der unterschiedlichen Perspektiven gelingt es dem Evangelisten so, Jesu Einzigkeit und seine Einheit mit Gott in Szene zu setzen. Der Vorwurf der Autoritäten, Jesus agiere aufgrund seines Vollmachtanspruchs und Selbstverständnisses blasphemisch, wird mit Hilfe einer durch und durch negativen Charakterisierung der Autoritäten sowie der angedeuteten Rehabilitation und Erhöhung Jesu am Erzählende zurückgewiesen. Der Standpunkt des Herodes und der Menge, die in Jesus lediglich einen der endzeitlichen Prophetengestalten erkennen, wird mit dem Standpunkt der Jünger und Jesu königlich messianischer Würde kontrastiert. Aber auch die Jünger erfassen Jesus noch nicht in seiner Einzigartigkeit, wenn sie ihn – ebenso wie der Hauptmann unterm Kreuz – als ebensolchen königlichen Davididen verstehen, seinem Sterben gerade deshalb aber noch keinen (heilsgeschichtlichen) Sinn zuschreiben können. Wenn nicht einmal die Frauen angesichts des offenen Grabes und der Osterbotschaft erkennen, wer Jesus bereits zu Lebzeiten war und dass er fortan als erhöhter Herr der Gemeinde zur Rechten Gottes sitzt, so soll dem Leser hierdurch weder ein Gefühl eigener Überlegenheit vermittelt werden noch sollen die Jünger als Autoritäten der Urgemeinde disqualifiziert werden, sondern der Rezipient soll angesichts des inszenierten Schauders die Unmöglichkeit einer eigenen Jesuserkenntnis akzeptieren und sich dessen bewusst werden, dass der Sohn allein durch den Vater offenbar gemacht werden kann und mit der nachösterlichen Verkündigung des Evangeliums offenbar gemacht wurde. So setzt das Markusevangelium als ajrch; tou` eujaggelivou ÆIhsou` Cristou` eine deutliche Zäsur zwischen den Ereignissen vor Ostern und den Ereignissen nach Ostern. Hierbei geht es Markus nicht um eine Vermittlung zwischen dem unmessianischen Leben Jesu und einer hoheitschristologischen Vorstellung der Urgemeinde. Zwischen dem irdischen Jesus und dem auferstandenen Herrn wird vielmehr eine wesensmäßige Kontinuität behauptet. Mit Ostern vollzieht sich kein Wandel im Wesen Jesu (auch nicht im Selbstverständnis Jesu), sondern ein Wandel in der von Gott (nun) bewirkten menschlichen Erkenntnis. Dies vermag der Rezipient nachzuvollziehen, weil ihm über den gesamten Erzählverlauf und insbesondere durch die kontinuierliche Parallelisierung zwischen Jesus und dem alttestamentlichen Kyrios die wahre Identität Jesu vor Augen gestellt wird und diese Anschauung gerade mit seinem eigenen – der urchristlichen Vorstellungswelt und Bekenntnistradition entspringenden –
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Standpunkt übereinstimmt. Der Kontrast zwischen der geringen Informiertheit der menschlichen Figuren bzw. Figurengruppen und dem Wissensstand des Rezipient, den dieser aufgrund seiner textextern vorgegebenen Bekenntnistradition sowie der erzählerisch gewährten Einblicke in die innergöttlichen Dialoge (1,2f.; 1,11; 12,36; vgl. auch 9,7) besitzt, wurde von Markus bewusst geschaffen und durch das Jüngerunverständnis – als einem nachvollziehbaren Erzählstrang – in den Mittelpunkt gerückt. Auch das Messiasgeheimnis lässt sich der epistemologischen Hauptfunktion der Erzählung zuordnen. Hierdurch wird dem Rezipienten verdeutlicht, dass eine wahre Erkenntnis Jesu letztlich nur im Sinne eines göttlichen Erschließungsgeschehens möglich ist, insofern der Sohn nur vom Vater eingesetzt und als solcher angesprochen wird. Neben der epistemologischen Hauptfunktion lässt sich im Markusevangelium ein gewisses Bilanzierungsinteresse erkennen. Das Unverständnis der Menschen, dem sich der irdische Jesus ausgesetzt sah, soll erzählerisch festgehalten und eingefangen werden. Markus bedient sich hierbei nicht primär der Mittel eines Historikers. Er gibt sich eher als Dichter zu erkennen. Die Standpunkte der Figuren und Figurengruppen werden von ihm im aristotelischen Sinn „nachvollziehbar“ ausgestaltet, d.h. auf stereotype Weise zugespitzt. Pharisäer, Dämonen, Herodes und Johannes der Täufer verhalten sich allesamt so, wie es der frühchristliche Leser aufgrund seines textexternen Wissens und der erzählerisch vermittelten Charaktereigenschaften erwartet. Und das Unverständnis der Jünger lässt sich vom Rezipienten zwar ergründen und mit dem Unverständnis der eigenen Zeit vergleichen, aber es wird auf provokative Weise ausgestaltet und erhält geradezu groteske Züge. Drittens kann im Hinblick auf das Markusevangelium von einer ethischen Funktion bzw. einer ethisch-didaktischen Funktion gesprochen werden. Der Rezipient lernt über den Erzählverlauf, wie er mit den Anfeindungen seiner Umwelt umgehen kann. Er soll sich Jesus hierbei gerade nicht zum Vorbild nehmen, sondern er soll ihn als Autorität anerkennen. So wird der Protagonist des Markusevangeliums gerade nicht als „menschlich“ oder „nahbar“ charakterisiert und eignet sich deshalb auch nicht als Identifikationsperson. Dass sich Jesus über die Satzungen der Ältesten und das Gesetz des Mose erhebt und er damit beansprucht, den Willen Gottes auf einzigartiger Weise zu Gehör zu bringen, leitet sich gerade aus dem einzigartigen Zugehörigkeitsverhältnis zwischen Gott und Jesus ab. Erst die Erkenntnis der wahren Identität Jesu und die Anerkennung seines umfänglichen Machtanspruchs verleihen dem Rezipienten die Freiheit, sich nicht mehr an das Gesetz des Mose halten zu müssen, sondern aus der Beziehung zu Jesus je neu Orientierung zu finden und in der Weisung ebendieses Herrn zu bleiben. Die ethisch-didaktische Funktion der Erzählung gewinnt v.a. durch den zentralen Parteienkonflikt (Jesus/Autoritäten) und dessen anfängliche Beto-
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nung (2,1–3,6), durch explizite Erzählerkommentare (z.B. 7,19b), durch die hohe Emotionalität sowie deutliche Kritik, die den entsprechenden Dialogen und Begegnungen zu eigen ist (3,5; 3,28f.; 7,6–13; 8,11–13; 11,15–19; 12,9–12; 12,15; 12,24.27b; 12,35f.; 14,48f.; vgl. 8,15; 9,42–48; 12,37b–40), an Aufmerksamkeit. Leitet sich die ethisch-didaktische Funktion damit aus dem christologischen Hoheitsverständnis des Markusevangeliums ab und lässt sich auch im Bilanzierungsinteresse des ersten Evangeliums erkennen, dass dieses primär der Betonung des menschlichen Missverstehens und damit indirekt der wahren Würde Jesu dient, so verweisen diese Funktionen letztlich in ihrer Gesamtheit auf die Zentralität der Christologie, die das eigentliche Hauptthema des ersten Evangeliums ist.
5. Kapitel
Grundzüge einer Poetik der markinischen Christologie Der Ausgangspunkt dieser Untersuchung war die Frage nach dem erzählerischen Standpunkt des Markus und damit nach dem mentalen Modell von „Jesus Christus“ (1,1), das der Evangelist seinen intendierten Rezipienten erzählerisch zu vermitteln versucht. Um diese erzählte Christologie des Markusevangeliums zu analysieren, bedarf es methodischer Instrumentarien, mit denen die Perspektiven (Kap. 2.2), die Figuren (Kap. 2.3) und die Handlung (Kap. 2.4) einer Erzählung analysiert und inhaltlich interpretiert werden können.1 Die heutige kognitive Narratologie, die sich seit den 1990-er Jahren als Querschnittsdisziplin aus den Bereichen der Anglistik, Germanistik, Romanistik, Slavistik, Medienwissenschaft, Psychologie, Philosophie, Soziologie, Linguistik und Pädagogik entwickelt hat, stellt hierfür zahlreiche neue und hilfreiche Analysekategorien und -verfahren zur Verfügung. Sie ermöglicht ein umfassendes Verständnis für die Inferenzprozesse, die sich im intendierten Rezipienten aufgrund seiner kognitiven Dispositionen, seines Vorwissens, der textlichen Informationen sowie der strukturellen Gestaltung des Erzähltextes ereignen. Gleichzeitig bleibt das Markusevangelium eine historische Erzählung innerhalb eines spezifischen, d.h. kulturell und zeitgeschichtlich vorgeprägten Referenzrahmens. Die vorliegende Arbeit verfolgte das Ziel, eine Methodik zu entwickeln, die der erzählerischen Gestalt und der historischen Dimension des ersten Evangeliums gleichermaßen gerecht wird und mit deren Hilfe sich die markinische Christologie umfassend analysieren und beschreiben lässt. Im Folgenden sollen die methodischen und inhaltlichen Ergebnisse dieser kognitivnarratologischen Exegese zusammenfassend vorgestellt werden. (1) Innerhalb der Markusexegese sind die Entwicklungen, die sich in den letzten zwanzig Jahren im Bereich der Narratologie ergeben haben, noch
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Der Raum, der ebenfalls ein konstitutives Element jeder Erzählung darstellt und in der neueren Erzähltheorie Aufmerksamkeit erhalten hat (ANZ, Textwelten, 114–122; BENZ/ DENNERLEIN, Literarische Räume; BODE, Roman, 297–304; DENNERLEIN, Narratologie; HAUPT, Analyse des Raums; NEUMANN/NÜNNING, Narrative Fiction, 59–62; RYAN, Art. Space; NÜNNING, Art. Raum/Raumdarstellung; BUCHHOLZ/JAHN, Art. Space in Narrative), wurde in dieser Arbeit nicht als eigenständiger Untersuchungsbereich vorgestellt. Im Hinblick auf die markinische Christologie ist dem Aspekt des Raums lediglich eine untergeordnete Relevanz zuzuschreiben (vgl. Kap. 2.3.2 (7) und Kap. 4.3.1).
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5. Kapitel: Grundzüge einer Poetik der markinischen Christologie
weitgehend unbekannt.2 Aus diesem Grund herrscht in den Bibelwissenschaften weiterhin das Bild einer strukturalistisch geprägten, textimmanent ausgerichteten Literaturtheorie vor. Daneben wird in den letzten Jahren verstärkt auf das Vokabular (Stichworte: impliziter Leser/Autor, Leerstelle) und auf wesentliche Grundaspekte der Rezeptionsästhetik zurückgegriffen (v.a. Pellegrini, Rose). Die Fixierung auf ältere Literaturtheorien ist bedauerlich, weil etliche Analysekategorien von der Mehrheit heutiger Narratologen kritisch hinterfragt werden und in den Literaturwissenschaften in dieser Weise gar nicht mehr zur Anwendung kommen.3 Außerdem hat sich der Schwerpunkt der Forschung von der Handlungsanalyse auf die Figuren- und Perspektivenanalyse verlagert, was für die Frage nach der markinischen Christologie wichtig ist und neue, differenziertere Betrachtungsmöglichkeiten eröffnet. Vor dem Hintergrund dieser aktuellen Entwicklungen verfolgte Kap. 2 das Ziel, aus den Mitteln und Instrumentarien der heutigen Narratologie jene auszuwählen, zu beschreiben und z.T. eigenständig zu vertiefen, die für den Dialog zwischen Exegese und Narratologie und für die Frage nach der markinischen Christologie hohe Relevanz haben.4 Um von Anfang an die Anwendbarkeit des methodischen Vorgehens im Blick zu behalten und bibelwissenschaftlich interessierten Lesern das Verständnis zu erleichtern, wurden die einzelnen Analysekategorien immer wieder an Beispielen aus dem Markusevangelium vorgestellt und veranschaulicht. (2) Kap. 3 diente dazu, das methodische Vorgehen innerhalb der Markusforschung zu beschreiben und – soweit möglich – auch das latente Methodenwissen zu rekonstruieren und zu explizieren, um es mit der in Kap. 2 erarbeiteten Methodik ins Gespräch zu bringen und in ein gemeinsames Gesamtsystem des Textumgangs und der Textinterpretation zu überführen. Unter-
2 Eine Ausnahme stellt nun die Arbeit von Sandra Hübenthal (HÜBENTHAL, Markusevangelium) dar, die v.a. neuere Ansätze der Perspektivenanalyse zur Anwendung bringt. Die Arbeit von Christian Rose aus dem Jahr 2007 (ROSE, Theologie) lässt bereits in Ansätzen ein Bewusstsein für diese Neuerungen erkennen, bezieht diese aber noch nicht in die eigene Analyse ein (vgl. Kap. 3.4.2). 3 Für die Infragestellung zentraler Analysekategorien lässt sich beispielhaft die heutige Kritik am impliziten Autor nennen (vgl. dazu HEMPFER, Fundierung, 1–26; BAL, Laughing Mice, 203–209; NÜNNING, Nachruf, 1–25). 4 Eine Ausnahme stellte Kap. 2.4.1 dar, insofern hier v.a. jene strukturalistischen Handlungsschemata vorgestellt wurden, die in der Vergangenheit einen direkten oder indirekten Einfluss auf den innerexegetischen Diskurs hatten. Dies diente primär dem besseren Verständnis der Forschungsgeschichte (vgl. Kap. 3). Zudem wurde in Kap. 2.4.3 gezeigt, dass unter den zeitlichen Aspekten der Handlungsdarstellung die Aspekte der Ordnung und Geschwindigkeit eine Relevanz behalten (und sich kognitiv vertiefen lassen), während der Aspekt der Frequenz im Markusevangelium zu vernachlässigen ist.
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schieden wurde ein primär religionsgeschichtlicher (3.2), ein redaktionsanalytischer (3.3) und ein literatur- und erzählwissenschaftlicher (3.4) Zugang zur markinischen Christologie. (2a) Obwohl sich innerhalb des religionsgeschichtlichen Zugangs (Kap. 3.2) keine direkte Auseinandersetzung mit der neueren Erzählwissenschaft erkennen lässt und auch die Bezugnahmen auf ältere Literaturtheorien eher sporadisch bleiben, konnten Anknüpfungspunkte für ein Gespräch zwischen den Disziplinen benannt werden (vgl. 3.2.4). So liegt zahlreichen religionsgeschichtlichen Arbeiten v.a. ein externer Figurenvergleich zu Grunde.5 (2b) Die Einsichten der neueren Erzählwissenschaft sensibilisieren dafür, dass im exegetischen Fachdiskurs (noch) präziser zwischen der historischen Rekonstruktion möglicher Verstehensschemata und der tatsächlichen Aufnahme und Verarbeitung textexterner Vorstellungen im Lektüreprozess zu unterscheiden ist. Um eine klare Differenzierung zwischen tatsächlichen Wissensbeständen und einem weiteren Traditionshintergrund zu ermöglichen, wurden die Kriterien der Erinnerungsnähe, der Bezeugungsbreite und der Parallelität formuliert (3.2.4 6a–c). Diese dienten zugleich dazu, die bisherigen Figurenparallelen, die im Verlauf der Forschungsgeschichte diskutiert wurden (3.2.1–3.2.3), einer kritischen Reflexion zu unterziehen (3.2.4 7a–c). Gänzlich unwahrscheinlich ist, dass die Rezipienten des Markusevangeliums die Vorstellung eines qei`o~ ajnhvr kannten (3.2.1) und den markinischen Jesus vor dem Hintergrund einer solchen Figurenparallele deuten sollten. Es handelt sich hierbei um ein forschungsgeschichtliches Konstrukt, das nicht länger Grundlage der Textinterpretation sein sollte. Die römische Herrscherideologie war den Rezipienten des Markusevangeliums hingegen aller Voraussicht nach bekannt, gewinnt in der Erzählung aber keine nachweisliche Relevanz. Die Parallelität ist in diesem Fall viel zu gering und die Bezüge zu anderen textexternen Vorstellungen (Elia, Kyrios) sind weitaus deutlicher, so dass sie im Vordergrund stehen und die Aufmerksamkeit der Rezipienten erhalten (vgl. Kap 3.2.4 7a–c; 4.3.2a und 4.3.2b). Die Figur des Elia ist den Rezipienten als textexterne Personenvorstellung bekannt und wird im Markusevangelium explizit genannt. Die Kenntnis dieser Vorstellung konnte jedoch gerade nicht zu einer Parallelisierung zwischen Jesus und Elia führen. Die Figur des Elia wurde in Kap. 4.3.2a genauer untersucht. Im Ergebnis lässt sich zeigen, dass Elia – vor dem Hintergrund einer endzeitlichen Prophetenerwartung – eindeutig mit Johannes identifiziert wer-
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Außerdem wird häufig auf kompositorische Details und damit handlungsanalytische Aspekte hingewiesen. Aber auch Fragen der Gattungsanalyse (vgl. v.a. 3.2.2b) können indirekt angesprochen sein.
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den soll und er zugleich auf die Rolle eines Vorläufers (= Hauptmerkmal) reduziert wird. Indem Johannes-Elia als Vorläufer des Kyrios in Erscheinung tritt, drängt sich dem intendierten Rezipienten von Anfang an die Frage auf, wie das einzigartige Zugehörigkeitsverhältnis zwischen Jesus und dem alttestamentlichen Kyrios zu beschreiben ist. (2c) Die kognitionswissenschaftliche Klassifizierung menschlicher Wissensbestände ließ in methodischer Hinsicht erkennen, dass weder die klassische Religionsgeschichte noch die Rekonstruktion einer spezifischeren „Traditions-“, „Begriffs- und Motiv-“ oder „Sozial- und Zeitgeschichte“ ausreichen, um das Vorwissen der Rezipienten, das bei der Lektüre und über den Rezeptionsprozess hinweg aktiviert wird, zu bestimmen. Im innerexegetischen Diskurs bleiben Wissensbereiche – wie etwa das prozessuale Vorwissen eines Rezipienten – noch weitgehend unberücksichtigt bzw. werden lediglich implizit vorausgesetzt. Außerdem kann aufgrund einer unzureichenden Abgrenzbarkeit der genannten „Methodenschritte“ noch nicht systematisch auf das bereits wissenschaftlich ausgewertete Quellenmaterial zurückgegriffen werden.6 (2d) Die erzählwissenschaftliche Interpretation bleibt auf eine historische Quellensuche und -beurteilung angewiesen, vermag ihrerseits aber präziser darzulegen, an welchen Leer- bzw. Inferenzstellen7 der Rezipient auf textexternes Wissen zurückgreift und wie genau die rekonstruierten Verstehensschemata im Lektüreprozess aufgegriffen, vom Rezipienten kognitiv verarbeitet und durch Mittel der Aufmerksamkeitslenkung im Lesegedächtnis gespeichert und im Lektüreprozess neu verknüpft werden. Im Unterschied zum innerexegetischen Diskussionsstand wird die Aufmerksamkeit des Rezipienten dabei nicht allein durch die Anordnung des Erzählstoffs gelenkt.8 Ob
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Für die Zukunft wäre es hier ein Gewinn, wenn für den Bereich der Exegese und angrenzende Disziplinen eine historische Datenbank erstellt würde, die das bekannte und ausgewertete Quellenmaterial nach relevanten frames und skripts klassifiziert (z.B. alltagsmedizinisches, architektonisches, geografisches Wissen) und einzelnen Forschern (online) verfügbar macht. Wenngleich das Medium des Internets auch in der Exegese längst entdeckt wurde und durch digitale Datenbanken (z.B. Perseus Digitial Library, WiBiLex) Quellenmaterial und wissenschaftliche Fachartikel zur Verfügung gestellt werden, bleiben die umfänglichen Möglichkeiten einer multimedialen Erschließung und Systematisierung noch weitgehend ungenutzt. Die Angebote orientieren sich weitgehend an analogen Nachschlagewerken. 7 Eigener Begriff (vgl. 3.2.4 3a). 8 Vgl. hierzu exemplarisch die Aussage von SCHMIDT, Wege, 10f.: „Für die hypothetisch zu erhebende Autorenintention des Evangelisten Markus gewinnen die Erzählstrukturen eine besondere Bedeutung, weil in seinem Evangelium zentrale Gesichtspunkte der Theologie durch die Gliederung des Textes hervorgehoben werden, die insbesondere durch die Wiederholung ähnlicher Handlungsabfolgen gekennzeichnet sind.“
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die religiöse Vorstellung eines intendierten Rezipienten in einer Erzählung schlichtweg aufgegriffen wird oder eine Individualisierung, Entkategorisierung oder Kritik erfährt, lässt sich auf der Grundlage einer exegetischen Betrachtung nicht aussagen. Die Exegese kennt keine Methodik der Textinterpretation und ist gerade hier auf erzählwissenschaftliche Betrachtungen angewiesen bzw. kann hier auf höchst ausdifferenzierte Analysemittel zurückgreifen. (2e) An die Stelle der klassischen Redaktionsgeschichte (Kap. 3.3) sind in den letzten Jahrzehnten faktisch zahlreiche andere Ansätze der Textinterpretation und Textanalyse getreten. Die Redaktionsgeschichte hat innerhalb der Exegese offensichtlich an Bedeutung und Überzeugungskraft verloren.9 Sie erweist sich auch im interdisziplinären Dialog als problematisch, weil ihr Gegenstandsbereich alles andere als klar umrissen ist. Der Methodenschritt der Redaktionsgeschichte bzw. der Redaktionsanalyse vereinigt zumeist zahlreiche weitere Analyseaspekte in sich, z.B. die Kompositionsanalyse, eine zeitgeschichtliche Kontextualisierung oder die Frage nach der Theologie des Autors. Dort, wo die Redaktionsanalyse in den Bereich der Texterklärung hineingreift, ist häufig eine interpretatorische Engführung zu beobachten. Die Christologie des Markus lässt sich weder aus einzelnen Ergänzungen oder Änderungen ableiten noch allein aus der kompositorischen Anordnung des Erzählstoffs. Der Standpunkt des Erzählers und das mentale Modell einer Figur sind erzählwissenschaftlich betrachtet weitaus komplexere Untersuchungsgegenstände. Zu bemängeln ist beispielsweise, dass in redaktionsgeschichtlichen Arbeiten zumeist nicht hinreichend zwischen dem Standpunkt des Erzählers und einzelnen Figurenperspektiven unterschieden wird10 und fast ausschließlich explizite Textinformationen in den Blick geraten. Gerade hier sind die Möglichkeiten einer kognitiv-narratologischen Analyse differenzierter und sollten die redaktionsanalytischen bzw. kompositionsanalytischen Betrachtungen nicht nur ergänzen sondern ersetzen. (2f) Insofern die kognitive Narratologie als methodische Weiterentwicklung und Präzisierung der Rezeptions- und Wirkungsästhetik sowie der linguistischen Pragmatik zu verstehen ist, lässt sie sich problemlos mit entsprechenden Ansätzen in der Exegese (Rose, Kmiecik, Danove) ins Gespräch bringen
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Die letzte umfangreichere Studie stammt aus dem Jahr 2000 (NALUPARAYIL, Identity), wobei auch hier die redaktionsgeschichtlichen Analysen nur der Vorbereitung der späteren erzählwissenschaftlichen Untersuchung dienen. 10 Dieser Gleichsetzung zwischen Erzähler- und Figurenstandpunkt scheint mitunter das Perspektivenverständnis von Lubbock zu Grunde zu liegen (vgl. LUBBOCK, Fiction, 251). Zur Kritik an diesem Perspektivenbegriff vgl. NÜNNING, Point of view, 249–251.
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(Kap. 3.4). Vielfach können die Ergebnisse durch eine stärkere Konkretisierung des rezeptionsleitenden Vorwissens und eine Berücksichtigung der kognitionswissenschaftlichen Dispositionen überprüft und verfeinert werden. Ähnliches gilt für die Ergebnisse und Arbeiten der deutschen Erzähltextanalyse. Im Unterschied hierzu muss zwischen dem Ansatz einer kognitiv-narratologischen Exegese und dem in Nordamerika beheimateten Narrative Criticsm (Malbon, Broadhead, Kingsbury, Kelber, Tannehill) eine weitgehende Unvereinbarkeit festgestellt werden. Die kritische Distanz zur klassischen Exegese und die dezidiert textimmanente Ausrichtung des Narrative Criticism führen dazu, dass wertvolle Ergebnisse historischer Forschungsbemühungen bei der Interpretation unberücksichtigt bleiben bzw. bei der Erklärung lediglich indirekt und ohne weitere Reflexion eingetragen werden. (3) Im Anschluss an die erzählwissenschaftliche Grundlegung und eine im Dialog zwischen Exegese und Narratologie schrittweise ausformulierte Methodik (Kap. 3.2.4; 3.3.3; 3.4.4) wurde – unter Einbeziehung des aristotelischen Poetikbegriffs – ein Raster der nachfolgenden Analyse entwickelt (Kap. 4.1). Als Leitaspekte wurden a) die erzählerische Vermittlung; b) der Inhalt; und c) die Funktion der markinischen Erzählung benannt. Während der Schwerpunkt der Perspektivenanalyse (4.2) auf dem Aspekt der erzählerischen Vermittlung lag und die Figurenanalyse (4.3) primär mit der Beschreibung des Erzählinhalts zu identifizieren war, diente Kap. 4.4 dazu, die Ergebnisse der vorherigen Analyse im Hinblick auf die erzählerische Funktion zu bündeln, mit anderen Funktionsbestimmungen der neuesten Markusforschung (Bedenbender, Fritzen, Hübenthal, Jochum-Bortfeld) zu kontrastieren und um eine vertiefende Handlungsanalyse zu ergänzen. (4) Über den bisherigen Diskussionsstand hinaus wurden im Zuge der Perspektivenanalyse eine Erzählerperspektive und acht bzw. neun Figurenperspektiven identifiziert, die der intendierte Rezipient im Lektüreprozess im Wesentlichen erkennen und differenzieren kann bzw. soll. Es handelt sich hierbei um die Perspektive Gottes (4.2.2a), die Perspektive der Dämonen (4.2.2b), die Perspektive der religiösen und politischen Autoritäten (4.2.2c), die Perspektive der Jünger (4.2.2d), die Perspektive Jesu (4.2.2f) und die Perspektive wichtiger Episodenfiguren und Figurengruppen (4.2.2e), wobei sich letztere noch einmal ausdifferenzieren und präzisieren lässt in eine Perspektive der Bedürftigen und eine Perspektive des Volkes (vgl. hierzu 4.2.2.c; 4.2.2e). (4a) Die Figurenperspektiven wurden in Anlehnung an den Perspektivenbegriff von Ansgar Nünning an die subjektive Wirklichkeitserfahrung der jeweiligen Figur bzw. Figurengruppe geknüpft. Zugleich wurde untersucht, wie
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die einzelnen Perspektiveninhalte durch den Einsatz erzählerischer Mittel betont werden (z.B. durch Primäreffekt, Wiederholung, Informationsverdoppelung, Kontrastierung) und so die Aufmerksamkeit des intendierten Rezipienten erhalten. Insgesamt zeigte sich, dass Markus den Standpunkt aller wichtigen Figuren und Figurengruppen reflektiert und seinem dichterischen Gestaltungswillen unterworfen hat. Die Figurenperspektiven sind im aristotelischen Sinn „nachvollziehbar“ und können von den intendierten Rezipienten mit Hilfe von real-world-strategies-of-sense-making erschlossen werden. Aufgrund des erkennbaren Reflexionsniveaus und der inneren Kohärenz, die sich bei der Charakterisierung einzelner Figuren und Figurengruppen feststellen lässt, ist mit gutem Grund von einer narrativen Christologie im Markusevangelium zu sprechen. Markus erscheint nicht nur als geschickter Erzähler, sondern zugleich als reflektierter Theologe, der bekannte Traditionen und Vorstellungen aufgreift, durch einzelne Repräsentanten verkörpern lässt und auf eine Art und Weise über den Erzählverlauf hinweg miteinander verknüpft, welche Jesu Einzigkeit und seine Einheit mit Gott thematisiert und die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf sich zieht. (4b) Der eigentliche Erzählerstandpunkt (vgl. Kap. 4.2.1) zeichnet sich durch eine überraschend geringe Explizität aus. Dies dürfte mitursächlich für die großen Interpretationsunterschiede innerhalb der bisherigen Forschungsgeschichte sein. Die markinische Christologie erweist sich im Kern als emergent, d.h. der Standpunkt des Erzählers lässt sich nicht auf einzelne Textinformationen reduzieren oder mit einzelnen Figurenstandpunkten vollständig in Deckung bringen, sondern kann erst aus dem Wechselspiel aller Einzelperspektiven abgeleitet werden. Durch explizite Erzählerkommentare, das perspektivische Mittel der Informationsverdoppelung, die vor Augen gestellte (Un)Zuverlässigkeit einzelner Perspektiventräger oder andere Mittel der Hierarchisierung positioniert sich der Erzähler auf eine indirekte – aber nichtsdestotrotz unmissverständliche – Weise. Explizit meldet sich der Erzähler nur im „Quasi-Buchtitel“ 1,1 zu Wort.11 Wird der Protagonist hierbei als „Jesus Christus“ angesprochen, so darf dies – angesichts des Vorwissens der Rezipienten – weder im Sinne eines Eigennamens bagatellisiert werden noch lässt sich diese Wortwahl als deutliches Bekenntnis des Erzählers interpretieren. Der „Quasi-Buchtitel“ reicht für sich genommen nicht aus, um den christologischen Standpunkt des Erzählers hinreichend zu bestimmen und kann nicht als Zusammenfassung der nachfolgenden Erzählung gelten.12 Vielmehr wird der traditionsgeschichtlich vorge-
11 Die kürzere Lesart (ajrch; tou` eujaggelivou ÆIhsou` Cristou`) ist hierbei als ursprünglich anzusehen (vgl. 4.2.1a) 12 Gegen HAENCHEN, Weg, 39 („Inhaltsangabe für das Ganze“); GIBLIN, Beginning, 984f.; GNILKA, Evangelium II/1, 42f. u.a.
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prägte und im Urchristentum primär kreuzestheologisch gefüllte Christustitel benutzt, um bei den intendierten Rezipienten ein Interesse dafür zu wecken, welche Vorstellungen im Folgenden an Jesus herangetragen werden, wie sich der Erzähler zu den verschiedenen Standpunkten positioniert und wie diese Standpunkte mit dem eigenen Vorwissen korrespondieren. (4c) Der Standpunkt Gottes erhält im Rezeptionsprozess eine besondere Aufmerksamkeit. Er ist dabei nicht allein auf die explizite Figurenrede in 1,11 und 9,7 zu reduzieren. Gottes Meinung über seinen Sohn findet bereits im anfänglichen Mischzitat (1,2f.) seinen Ausdruck, insofern der intendierte Rezipient hinter den Prophetenworten Gott als eigentlichen Sprecher erkennt und dies durch die markinische Adaption von Mal 3,1 und Jes 40,3 – insbesondere die Anpassung der Gesprächssituation – unterstrichen wird.13 Von Anfang an wird das Kommen Jesu mit dem Kommen des kuvrio~ und damit Gottes eigenem heilvollen Kommen parallelisiert (= Primäreffekt). Indem sich Gottes Vorhersage mit dem Auftreten des Täufers unmittelbar zu erfüllen beginnt (V. 4) und der Protagonist später von seiner Sendung und dem Vorherbestimmtsein seines Leidens spricht, erscheinen die Ereignisse des Lebens Jesu – einschließlich seines Leidens- und Todesschicksals – als gottgewirkt und müssen daher vor dem Hintergrund der einzigartigen VaterSohn-Beziehung gedeutet werden. Indem auch die Auferstehung als Gottes Handeln und mithin als Rehabilitation Jesu inszeniert wird, offenbart sich, dass der Kreuzestod wohl Gottes ewigem Ratschluss entspricht (vgl. die implizite Prolepse 2,20 vor 3,6), dass dieser aber keineswegs das eigentliche Ziel des göttlichen Handelns darstellt. Ist Jesus von Anfang an und bereits vor der erzählten Zeit als geliebter Sohn anzusprechen (1,11; 9,7), so wird er mit der Auferstehung dauerhaft und offiziell als solcher eingesetzt und ist als solcher von der Gemeinde zu verehren. (4d) Der Standpunkt Jesu korrespondiert inhaltlich mit dem Standpunkt Gottes, verstärkt diesen und sorgt zugleich für wichtige Differenzierungen. Anders als es in der neueren Markusforschung gelegentlich artikuliert wird, deutet die gehäufte Verwendung des Menschensohntitels nicht auf Jesu Bescheidenheit (= Charakter) oder gar auf sein „wahres Menschsein“14 hin. Dies wird gerade dann ersichtlich, wenn man die Figurenrede in Bezug zu den anderen Figurenmerkmalen Jesu – insbesondere seiner autoritativen Lehre und seinem Wunderwirken (= Verhalten/Verhaltensweise) sowie seinem übernatürlichen Wissen – setzt. Zugleich lässt die Selbstverständlichkeit, mit der der Menschensohnbegriff in die Erzählung eingeführt wird, erkennen, dass es sich um einen traditions-
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Mit ECKSTEIN, Glaube und Sehen, 95. JOCHUM-BORTFELD, Die Verachteten, 296.
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geschichtlich vorgeprägten Hoheitstitel handelt. Indem diese Selbstbezeichnung Jesu zu Beginn dazu dient, den Konflikt mit den religiösen Autoritäten zu plausibilisieren und Jesu unvergleichlichen Autoritätsanspruch zu thematisieren (2,10), richtet sich die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf diesen Erzählstrang. Dass die Rede vom Menschensohn auch sonst dazu dient, die Einzigkeit der Vater-Sohn-Beziehung und den daraus abgeleiteten Vollmachtsanspruch zu illustrieren, wird im weiteren Erzählverlauf immer wieder herausgestellt (2,23–28; 3,1–6) und findet im externen Figurenvergleich zwischen Jesus und dem alttestamentlichen Kyrios (vgl. Kap. 4.3.2b) eine Entsprechung. Durch die Rede vom leidenden Menschensohn wird v.a. der Gehorsam des Sohnes gegenüber dem Vater thematisiert, wobei offenkundig ist, dass Jesus um den Standpunkt Gottes weiß (14,62), den vom Vater bestimmten Leidensweg annimmt und – im Unterschied zum Leidensschicksal der endzeitlichen Propheten – sogar mitinitiiert (vgl. 4.3.1g). Das Markusevangelium kennt jedoch keine einfache Gleichsetzung zwischen Vater und Sohn, sondern behält durchgängig im Blick, dass der Sohn nur deshalb als solcher anzureden und von der nachösterlichen Gemeinde zu verehren ist, weil Gott ihm jenen Namen verliehen hat, der über allen anderen Namen steht (vgl. Phil 2) und ihn mit der Auferweckung dauerhaft als Sohn und Herrn eingesetzt hat. (4e) Vor diesem Hintergrund erklärt sich, dass die Dämonen wohl um Jesu Identität wissen, aber nicht zu Wort kommen dürfen und von Jesus zum Schweigen gebracht werden (vgl. 4.3.1j). Zugleich offenbart sich in Jesu Schweigegeboten abermals seine Vollmacht, insofern er als Herr über die Dämonen inszeniert wird und zwischen beiden ein eindeutiges Kräfteverhältnis herrscht. Während die Dämonen sich zu Beginn noch zu Wort melden, nehmen sie im weiteren Erzählverlauf eine zunehmend passive Rolle (7,24– 30; 9,14–29; vgl. dazu 4.2.2b) ein und treten letztlich ganz in den Hintergrund. Dass Jesus den Satan gebunden hat und mit ihm die bösen Geister und Dämonen, erweist ihn gerade als „Stärkeren“. Gott selber ist in Jesus gekommen und die Exorzismen sind letztlich nichts anderes als ein zeichenhafter Hinweis auf den Anbruch dieser Königsherrschaft Gottes. Das heilvolle Kommen des Kyrios ereignet sich im Kommen Jesu und zugunsten der Bedürftigen. (4f) Der Standpunkt der religiösen und politischen Autoritäten dient innerhalb des Wechselspiels der Perspektiven dazu, das menschliche Unverständnis gegenüber der Person Jesu zu thematisieren und die Rezipienten um so mehr von der Richtigkeit des göttlichen Standpunktes und des Standpunktes Jesu zu überzeugen. Dies geschieht nicht allein dadurch, dass der Standpunkt der Autoritäten im Widerspruch zum inhaltlichen Standpunkt Jesu steht und
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sich hieraus der zentrale Konflikt der markinischen Erzählung entwickelt. Markus unterzieht das Verhalten der Autoritäten zugleich einer moralischen Beurteilung. Durch eine hohe Innensicht in die Autoritäten (2,6; 3,2; 11,31f.; 12,12; 14,1; 14,55) werden diese als hinterhältig charakterisiert. Sie können aber auch dadurch diskreditiert werden, dass sie ihrem eigenen Wertesystem sowie den Wertvorstellungen der Rezipienten zuwiderhandeln (z.B. 14,56– 59; vgl. Ex 20,16; 23,6f.; Dtn 5,20; 19,15–21; Ps 27,12; Spr 6,16–19; 12,17; 14,5; 19,5.9; 25,18; Sanh 4,5). Ihr intrigantes Verhalten wird selbst von Pilatus (Mk 15,10) durchschaut und so zum Ende noch einmal explizit thematisiert (= Rezeneffekt). Der römische Statthalter erscheint seinerseits – wie zuvor Herodes – als schwacher Amtsträger, der wider Willen und entgegen der faktischen Machtverhältnisse zum Handlanger wird. So wie der „König“ Herodes aus Eitelkeit und Imponiergehabe der Hinrichtung des Täufers zustimmen muss und damit den Bestrebungen seiner Frau nachgibt, macht sich Pilatus von der Meinung des Volkes und damit indirekt von den religiösen Autoritäten abhängig. Wer sollte der Meinung dieser wankelmütigen Autoritäten vertrauen? Jesus lässt sich weder hinreichend als endzeitlicher Prophet verstehen, wie es dem Standpunkt des Herodes und der Meinung des Volkes entspricht (6,16; vgl. 8,27–29 [= Informationsverdoppelung]), noch als messianischer Königsprätendent, als der er offiziell hingerichtet wird (15,2.16–20.26b; vgl. 12,35–37). (4g) Im Unterschied zu den anderen eher statischen Figurenstandpunkten ist der Standpunkt der Jünger am ehesten als dynamisch zu bezeichnen. Ähnlich wie bei den Autoritäten beurteilt der Erzähler auch ihr Verhalten und ihre Meinung. Nach ihrem anfänglichen Unverständnis (4,13) und einem ängstlichen Fragen nach Jesu Identität (4,41) wird im Erzählverlauf zunehmend offensichtlich, dass die Jünger Jesus nicht erkennen. Im Unterschied zum intendierten Rezipienten können sie das Wirken Jesu nicht deuten und verstehen nicht einmal in der Wiederholung einzelner Wundertaten, wer Jesus ist. Diese Blindheit wird vom Erzähler mit einer göttlichen Verstockung erklärt, was im Erzählerkommentar (6,52) und der inhaltlich analogen Aussage Jesu (8,17f.) zum Ausdruck kommt (= Informationsverdoppelung). Nachdem das Unverständnis der Jünger zwischen Mk 4 und 8 immer groteskere Züge annimmt, wirkt das Bekenntnis des Petrus in 8,29 auf den Rezipienten überraschend und erhält so eine besondere Aufmerksamkeit. Die Kontrastierung mit den (irrtümlichen) Meinungen im Volk (8,27f.), die Korrespondenz mit dem „Quasi-Buchtitel“ (1,1) und Jesu Antwort bzw. sein Schweigebefehl (vgl. 1,25.34) lassen erkennen, dass das Bekenntnis zu Jesus als dem Christus legitim ist. Zugleich erscheint dieses Bekenntnis als „menschliches Gerede“ und wird in einen Kontrast zum Standpunkt Gottes gerückt. Petrus und die anderen Jünger verwenden den Christustitel offensichtlich nur im Sinne einer königlichen Messiaserwartung und können die-
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sen (noch) nicht mit Jesu Leidensweg und der Notwendigkeit des Kreuzestodes in Einklang bringen. Der Rezipient vermag dieses Spiel – aufgrund seines nachösterlichen Wissens – zu durchschauen und im Sinne einer realworld strategy of sense-making zu erklären: Die Jünger bleiben einer frühjüdischen Erwartung verhaftet und können noch nicht Jesu wahre Identität, die sich ihnen und der Gemeinde erst nach Ostern offenbart, erschließen. Das Unverständnis der Jünger spiegelt sich in den nachfolgenden Reaktionen auf Jesu Leidensankündigungen, im Streit zwischen den Aposteln und letztlich im Verrat des Judas und der feigen Flucht der Jünger in Gethsemane wider und bleibt bis zum Erzählende erhalten. Die angedeutete Versöhnung (16,7), die vorausgesetzte Situation einer nachösterlichen Evangeliumsverkündigung und das textexterne Bild, das die Rezipienten von den Jüngern als urchristlichen Autoritätspersonen haben, lässt andererseits kaum einen Zweifel daran aufkommen, dass Jesus seinen Nachfolgern nach Ostern als Sohn und Herr offenbar gemacht wurde. So wie der Rezipient erkennt, dass sich Gott in der Auferweckung letztgültig zu seinem Sohn bekennt und ihn damit von der Anklage der Autoritäten freispricht, so kann sich der Rezipient auch gewiss sein, dass den Jüngern eine wahre Erkenntnis nach Ostern geschenkt wird. Aber diese Erkenntnis bleibt gerade außerhalb jeder menschlichen Verfügungsgewalt. Gott allein wirkt den Glauben, indem er durch die nachösterliche Verkündigung des Evangeliums seinen Sohn in den Menschen offenbar werden lässt. Erzählt das Markusevangelium vom Anfang des Evangeliums Jesu Christi (1,1 [Gen. obi.]) und wird dabei zugleich vorausgesetzt, dass dieses Evangelium Gott zum Urheber hat (1,15 [Gen. subi.]) und als ebensolche Kraft den Glauben in den Menschen wirkt, so kann und soll der Rezipient gewiss sein, dass Gott seinen Sohn auch in ihm offenbar macht. (4h) Das Markusevangelium betont also, dass es keine umfängliche vorösterliche Erkenntnis der Person Jesu gegeben hat und Jesus erst nach Ostern in dieser Eindeutigkeit als Sohn und Herr offenbar gemacht wurde. In diese Erzähllogik fügen sich die Meinungen der wichtigen Episodenfiguren ein. Der Ausruf des Hauptmanns unterm Kreuz ist noch nicht als vollgültiges Bekenntnis zu verstehen, sondern in seinen Worten oszillieren – ähnlich wie in 8,29 – Glaube und Unglaube. Dass Jesus in der Wahrnehmung des Hauptmanns Gottes Sohn war (15,39), lässt eine inhaltliche Übereinstimmung mit dem Standpunkt der Jünger erkennen. Jesus wird als königlicher Messias angesprochen. Im Unterschied zu den Jüngern erkennt der Hauptmann Jesu königliche Würde sogar ausgerechnet im Moment seines Todes und aufgrund der näheren Umstände dieses Todes (15,39 vs. 8,29.31–33). Andererseits kann auch er noch nicht mit Jesu Erhöhung durch das Ostergeschehen rechnen und insofern Jesu wahre Würde noch nicht erfassen (15,39: Dieser war Gottes Sohn). Sein Auftritt und sein Verhalten wecken aber wohl immerhin
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die Hoffnung, dass das Evangelium Gottes die Kraft hat – selbst Feinde (vgl. 15,16–20) – zum Glauben zu rufen. Zugleich wird hierin die spätere Verbreitung des Evangeliums unter den Heiden vorgezeichnet, was mit Jesu Begegnungen in der Dekapolis und in der Gegend von Tyrus und Sidon korrespondiert. Insbesondere im Dialog zwischen Jesus und der Syrophönizierin, die zusammen mit Bartimäus die wichtigste Episodenfigur darstellt, wird diese Hinwendung zu den Heiden auf eindrückliche Weise thematisiert. Auch Bartimäus erkennt in Jesus zu Recht den kommenden Davididen (10,47.48), weiß aber ebenfalls noch nicht, dass Jesus zugleich Davids Herr ist und den messianischen König in seiner Vollmacht und Würde überragt (12,35–37). Wo es den Figuren der erzählten Welt offensichtlich an Wissen und Erkenntnis mangelt, kann der Rezipient sein textexternes Wissen und die Gewissheit, die er aus den frühchristlichen Bekenntnissen gewinnt, eintragen und die bestehenden Diskrepanzen (10,47.48 vs. 12,35–37) gerade deshalb sinnvoll deuten. Ohne die übrigen „Bedürftigen“ der markinischen Erzählung mit der Figur des Bartimäus oder der Syrophönizierin auf eine Bedeutungsebene stellen zu müssen, lässt sich auch für diese aussagen, dass sie als gemeinsame Figurengruppe einen wichtigen Beitrag zum Gesamtverständnis der Person Jesu leisten. Hierbei lässt sich am ehesten von einer „Christologie der Begegnung“ sprechen. So wird der christologische Standpunkt der meisten Figuren nicht über explizite Äußerungen vermittelt,15 sondern nahezu ausschließlich über das Figurenverhalten. Zugleich repräsentieren die einzelnen Figuren je eine „Plage“ (vgl. 5,29), von der die Menschheit durch das Kommen des Kyrios befreit werden soll (s.u.). (5) Der Rezipient erhält über den Erzählverlauf zu allen in Kap. 2.3 beschriebenen Figurenmerkmalen Informationen oder vermag diese aus dem Erzählten zu erschließen. Keines dieser Merkmale ist bedeutungslos (*). Trotzdem lassen sich die Merkmale aufgrund der unterschiedlichen Aufmerksamkeit, die sie bei der Rezeption erhalten, klar hierarchisieren. Es ergibt sich folgende Abstufung zwischen den Figurenmerkmalen:
15
Zahlreiche „Bedürftige“ kommen gar nicht zu Wort (1,21–27; 1,28–31; 2,1–12; 3,1– 6; 6,53–56; 7,31–37; 9,14–27) oder der Anteil der Figurenrede beschränkt sich auf einzelne Verse (5,18.20 [erzählte Rede]; 5,23; 8,24 [direkte Rede]). Grund hierfür ist, dass der Fokus zumeist auf anderen Figuren – wie den Angehörigen, Schriftgelehrten oder Dämonen – liegt und die „Bedürftigen“ weitgehend auf die passive Handlungsrolle des Empfängers reduziert bleiben (s.u.). Eine gewisse Ausnahme stellt 1,40–45 dar, weil hier der Anteil der Figurenrede vergleichsweise groß ist. Trotzdem gewinnt auch der Aussätzige kaum an Individualität. Die Episode dient v.a. dazu, die zunehmende Prominenz Jesu zu begründen (1,45) und die Heilung von Aussatz als endzeitliches Wirken des Kyrios zu präsentieren (vgl. 4.3.2b).
5. Kapitel: Grundzüge einer Poetik der markinischen Christologie ***** (= sehr wichtig):
Wahrnehmung, Verhalten, Motivation
**** (= wichtig):
Standpunkt, Wissen
*** (= von Bedeutung):
Gefühle, Pflichten, Charakter
** (= kaum wichtig):
Äußeres, Wünsche, Raum
* (= bedeutungslos):
–––
529
(5a) Jesu Motivation – insbesondere die Intention hinter seinen Schweigegeboten – bleibt aus Sicht der intendierten Rezipienten zunächst mysteriös. Durch die gegebene Rätselspannung wird die Aufmerksamkeit auf dieses Merkmal gerichtet. Im Lektüreprozess verdichtet sich sodann der Eindruck, dass Jesus seine Identität nicht geheim hält, um prinzipiell unerkannt zu bleiben oder um den Menschen die Möglichkeit einer eigenen Erkenntnis zu lassen, sondern weil er sich auch diesbezüglich dem Vater unterstellt und dieser allein seinen Sohn (nach Ostern) offenbar machen soll. Auch hinter den anderen Motiven des Messiasgeheimnisses steht die Absicht Jesu, sich dem Wirken des Vaters unterzuordnen und sich nicht als Sohn selbst zu verherrlichen, sondern dem ewigen Ratschluss Gottes zu folgen bis hin zum eigenen Tod am Kreuz. Dieses Anliegen wird u.a. dadurch unterstrichen, dass Jesus seine eigenen Wünsche (vgl. 4.3.1i) dem Willen Gottes unterordnet (vgl. 14,33–36). Zugleich weiß er, dass seine Identität mit dem Ostergeschehen offenbart wird und somit ein Ende aller Schweigegebote gekommen sein wird (9,9). Auch durch diese Ankündigung wird der Blick des Rezipienten über das Erzählende hinaus auf die hoffnungsvolle Situation der nachösterlichen Gemeinde gerichtet. (5b) Das Jüngerunverständnis korrespondiert mit den anderen Motiven des Messiasgeheimnisses, weil hierdurch verdeutlicht wird, dass ein wahres Verständnis der Person Jesu nicht einmal durch die Privatunterweisungen des Lehrers an sich ermöglicht wird. Auch hier bleibt es dem Vater vorbehalten, nach Ostern seinen Sohn in den Jüngern offenbar zu machen und Jesu Lehre und sein Wirken sodann zu erschließen. In der erzählten Zeit erweisen sich die Jünger hingegen bis zum Ende als unverständig, weil sie von Gott verstockt sind. (5c) Durch Jesu übernatürliches Wissen (4.3.1g), seine entgrenzte Wahrnehmung (4.3.1b) und sein Verhalten (4.3.1d), aber auch aufgrund seines wiederholt artikulierten Vollmachtsanspruchs (4.3.1a) oder durch die Überwindung offensichtlicher Raumgrenzen (4.3.1f) und den plötzlichen Wandel seines Äußeren (4.3.1e) kann Jesus mit anderen erwarteten Gestalten der Endzeit kontrastiert oder mit dem alttestamentlichen Kyrios parallelisiert werden (vgl. 4.3.2b). Eine wesentliche Funktion der Figurenmerkmale besteht darin, Jesus mit textexternen Figurenvorstellungen in Beziehung zu
530
5. Kapitel: Grundzüge einer Poetik der markinischen Christologie
setzen und gerade so seine Einzigkeit und Einheit mit Gott zu inszenieren. Dies erklärt die gelegentliche Inkohärenz, die sich in der Charakterisierung Jesu erkennen lässt. So verfolgt der Erzähler nicht das Ziel eine einheitliche Vorstellung vom Figurenäußeren zu erzielen, sondern das Äußere hat primär eine funktionale Bedeutung, weil es in einzelnen Episoden der Kontrastierung dient (9,15 nach 9,2–6) oder dem Rezipienten eine räumliche Orientierung bietet (6,56). (5d) Ein besonderes Augenmerk soll der intendierte Rezipient über den Erzählverlauf hinweg auf den Vergleich zwischen Jesus und Elia (vgl. 4.3.2a) richten. Die Häufigkeit der Anspielungen, das vergleichsweise hohe Maß an Explizität (1,2f.; 1,4–8 6,14f.; 8,27f.; 9,2–7; 9,8–13; 15,35f.), ein zu beobachtender Primär- und Rezenzeffekt (1,2f.; 15,35), die Ungewöhnlichkeit der Darstellung und die Tatsache, dass das Auftreten des Elia im Markusevangelium mit starken Emotionen belegt ist, lassen die hohe Relevanz dieser Parallelisierung erkennen. Ausgehend vom Prophetenzitat in 1,2f. wird Elia im Markusevangelium als Vorläufer des Kyrios porträtiert. Obwohl das Figurenporträt des Elia in zeitgenössischen Erzähltraditionen überaus facettenreich sein kann, wird mit dem Motiv der Wiederkehr und der Vorläuferfunktion gerade ein Hauptmerkmal dieser textexternen Figurenvorstellung aufgegriffen. Die zentrale Aussage dieses Figurenvergleichs liegt darin, dass es gerade nicht zu einer vollständigen (gegen Wentling, Miller/Miller) oder partiellen Identifikation (Joynes, Majoros-Danowski) zwischen Jesus und Elia kommt, sondern dass der wiedergekommene Elia in der Gestalt des Johannes als Vorläufer Jesu erscheint und so eine indirekte Identifikation zwischen Jesus und dem Kyrios vorgenommen wird. Johannes geht dem Stärkeren, und d.h. im Kontext des Markusevangeliums Gott und Jesus voran (1,2f.; 1,7). Vor dem Hintergrund einer Identifikation von Johannes und Elia erscheinen die Abwägungen des Herodes (6,14f.) hingegen absurd. Sein Standpunkt wird gerade deshalb durch eine moralische Beurteilung des Erzählers desavouiert (s.o.) und durch die nahezu wörtliche Aufnahme in 6,14–16 und den dortigen Kontrast zum Bekenntnis des Petrus zurückgewiesen. Herodes und die Menge erweisen sich als unzuverlässige Perspektiventräger. Dass es sich gemäß der markinischen Erzähllogik bei Jesus und Elia um Kontrastfiguren handelt, wird dann auf augenscheinliche Weise durch die Verklärungsszene (9,2–7; vgl. dazu 4.2.2.a; 4.3.1e; 4.3.2b) vor Augen geführt. Während der Rezipient seit Mk 6 um die Hinrichtung des Täufers und damit des wiedergekommenen Elia weiß, warten auch die jüdischen Zeugen unterm Kreuz weiterhin auf dessen Ankunft und verkennen gerade so, wer in der Person Jesu tatsächlich vor ihren Augen hingerichtet wird (15,34–36.39).
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(5e) Durch die Kontrastfigur des Johannes-Elia und das einleitende Prophetenzitat 1,2f.) wird von Anfang an nahegelegt (= Primäreffekt), dass Jesus mit dem Kyrios zu identifizieren ist und seine Sohnschaft im Sinne eines einzigartigen Zugehörigkeitsverhältnisses zwischen Gott und Jesus zu verstehen ist (vgl. 4.3.2b). An diese Parallelisierung wird im weiteren Erzählverlauf angeknüpft, so dass keineswegs nur von einer „sporadischen KyriosChristologie“16 im Markusevangelium zu sprechen ist. Vielmehr greift Markus das frühchristliche Bekenntnis zu dem einen Gott Israels und dem einen Herrn Jesus Christus (vgl. 1Kor 8,6) inhaltlich auf und verknüpft es erzählerisch mit den episodenhaften Erzählungen der Urgemeinde, wobei eine weitgehende Kontinuität zwischen dem vor- und nachösterlichen Wesen Jesu postuliert wird. Die Häufigkeit der expliziten und impliziten Kyrios-Anspielungen, die hohe Handlungsrelevanz, die sich dem Selbstanspruch Jesu und dem entgegengesetzten Blasphemievorwurf der Autoritäten zuschreiben lässt, und die expliziten Fragen nach Jesu Identität sowie das offensichtliche Unverständnis der Jünger (z.B. 1,27; 4,41; 6,52; 8,17–20), die im Sinne einer Rätselspannung die Aufmerksamkeit des Rezipienten erhöhen, lassen die große Bedeutung dieser Figurenparallele erkennen. Indem Jesus als Herr über die Dämonen und Naturgewalten, als Herr über Mangel und Not, als Herr über Krankheit und Tod vorgestellt wird, verstärkt sich dieser Eindruck im Erzählverlauf permanent. Die beiden Episoden 10,17–27 und 12,28–34 stellen die Parallelisierung zwischen Jesus und dem Kyrios nicht in Frage, sondern müssen ihrerseits als Bestätigung dieses externen Figurenvergleichs verstanden werden. Wenn dem reichen Jüngling noch eines fehlt, um das ewige Leben zu erhalten, so ist dies gerade die Jesus-Nachfolge und damit ein „Sich-Verlassen“ – in des Wortes doppelter Bedeutung – auf Jesu göttliche Güte. Und der Schriftgelehrte in Jerusalem ist dem Reich Gottes wohl nahe, weil er Jesu Hierarchisierung der Gebote anerkennt und mit seiner eigenen Tempelkritik zu verbinden weiß, aber er vermag sein Gegenüber noch nicht als eigentliche Gesetzesautorität anzuerkennen, die Jesus aufgrund seiner Identität zu eigen ist und die er ausdrücklich und wiederholt beansprucht. (6) In Kap. 4.4 wurden die Ergebnisse der Perspektiven- und Figurenanalyse abschließend gebündelt, indem der Blick auf die Funktion, d.h. die intendierte, produktionsseitige Wirkung der markinischen Erzählung gerichtet wurde. In einer kritischen Auseinandersetzung mit aktuellen Forschungspositionen (Jochum-Bortfeld, Fritzen, Bedenbender, Hübenthal) konnte aufgezeigt werden, dass die Funktion der markinischen Erzählung nicht primär eine kulturelle oder soziologische ist, sondern dass Markus seinen Rezipienten von Jesus Christus erzählt, um im Dialog und in Abgrenzung zu existierenden
16
STRECKER, Theologie, 374.
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Messias- und Endzeitvorstellungen sein eigenes Jesusbild zu propagieren und dessen Relevanz für die Gegenwart der Gemeinde und die Lebenswirklichkeit des intendierten Rezipienten zu erweisen. Wird hierbei die Einzigkeit Jesu und seine Einheit mit Gott betont, so ist dieses Jesusbild des Markusevangeliums keineswegs „innovativ“, sondern dem Rezipienten aufgrund seiner eigenen Bekenntnistradition bestens bekannt und vertraut. Die Perspektivische Interaktion erfüllt dementsprechend eher eine orientierende als eine desorientierende Wirkung (gegen Malbon, Müller u.a.). Integrationsfördernd wirken hierbei die vergleichsweise geringe Anzahl und Streubreite des Perspektivenangebots, die Gruppierung einzelner Perspektiventräger um zentrale Normrepräsentanten (Gott, Jesus/Autoritäten), die klare Hierarchisierung der Perspektiven und die explizite und implizite Beurteilung der Standpunkte (vgl. Abb. 4.5). (6a) Die Hauptfunktion der markinischen Erzählung kann als epistemologische Funktion bezeichnet werden. Im Unterschied zu heutigen Erzählung ist hiermit nicht gemeint, dass das Markusevangelium jede menschliche Erkenntnismöglichkeit prinzipiell bestreitet oder dass sich die Frage, welche Identität Jesus zuzuschreiben ist, ausschließlich subjektiv beantworten lässt. Es wird durch die Erzählung vielmehr aufgezeigt, dass die Menschen Jesus in seiner eigentlichen Identität – und d.h. nach markinischem Verständnis als präexistenten Sohn und Kyrios – faktisch nicht erkannt haben. Neben der epistemologischen Hauptfunktion lässt sich im Markusevangelium ein gewisses Bilanzierungsinteresse erkennen. Das Unverständnis der Menschen, dem sich der irdische Jesus ausgesetzt sah, soll erzählerisch festgehalten und eingefangen werden. Drittens kann im Hinblick auf das Markusevangelium von einer ethischen Funktion bzw. einer ethisch-didaktischen Funktion gesprochen werden. Der Rezipient lernt über den Erzählverlauf hinweg, wie er mit den Anfeindungen seiner Umwelt umgehen kann. Er soll sich Jesus hierbei gerade nicht zum Vorbild nehmen, sondern er soll ihn als Autorität anerkennen. So wird der Protagonist des Markusevangeliums gerade nicht als „menschlich“ charakterisiert und eignet sich auch nicht als Identifikationsperson. Die ethisch-didaktische Funktion der Erzählung gewinnt v.a. durch den zentralen Parteienkonflikt (Jesus/Autoritäten) und dessen anfängliche Betonung (2,1–3,6), durch explizite Erzählerkommentare (z.B. 7,19b), durch die ausführliche Wiedergabe wörtlicher Figurenrede und die hohe Emotionalität sowie deutliche Kritik, die den entsprechenden Dialogen und Begegnungen zu eigen ist (3,5; 3,28f.; 7,6–13; 8,11–13; 11,15–19; 12,9–12; 12,15; 12,24.27b; 12,35f.; 14,48f.; vgl. 8,15; 9,42–48; 12,37b–40), an Aufmerksamkeit.
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„It may seem that another book on Mark is the last thing we need in the field 17 of biblical studies,“ lautete 2011 das selbstkritische Urteil des amerikanischen Exegeten Scott Elliot. Es hat sich jedoch in vielfacher Hinsicht gezeigt, dass das Gespräch zwischen heutiger Narratologie und Exegese durchaus einen wichtigen Beitrag leisten kann, um die narrative Christologie des ersten Evangeliums in ihrer Komplexität und zugleich in ihrer Eindrücklichkeit neu zu beschreiben und heutigen Lesern vor Augen zu stellen.
17
ELLIOT, Mark’s Jesus, 3.
Literaturverzeichnis Die hier verwendeten Abkürzungen richten sich nach S CHWERTNER, S., Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete, Berlin/New York 3 2013. Darüber hinaus werden folgende Abkürzungen gebraucht: 1Fay.1
=
BMC BMCRE BMCRR CIA DVjs
= = = = =
ELCH GRM JLS JLT LiLi LWU MLLK
= = = = = = =
RENT
=
RLW
=
WiBiLex = ZaWT =
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Stellenregister (in Auswahl) 1. Bibel 1.1 Schriften des hebräischen Kanons Genesis 1 1,31 6,6 8,21f. 9,4 22 22,2 22,12 22,16 26,24 32,9–12 49,11
298, 320 285, 437, 438 223 223 317 165, 228 227, 229 227 227 323 497 350
Exodus 12,24 20,12 21,17 22,26f. 23,20 34,7
165 314 314, 316 281 92, 229 288
Leviticus 3,17 7,26 11,1–47 14,2–32 17,10–14 19,18 19,26
317 317 317 436f. 317 313, 375, 451 317
Numeri 11,4–9 12,4–6 12,10–12
427, 497 436 435
12,12 15,38f. 24,17 27,17 31,14 Deuteronomium 6,4f.
431 338 293 426 428
18,15 24,14f.
221, 309, 313, 374, 405, 451, 453, 488, 498 231 446
Richter 5,4f. 11,12 13,7
322 246, 416 243
1. Samuel 9,16 10 10,1 10,2 10,3f. 16,3 16,12f.
267 352 267 352 352 267 267
2. Samuel 22,14
244
1. Könige 10 17 19 23,17
352 151, 352, 386, 392 151, 323, 386, 392 426
Stellenregister
586 2. Könige 1,1–18 1,34 1,39 5 Jesaja 1,4 5,1–7 5,19 6,9 5,24 9,5 10,17 10,20 17,14 20,2 25,8 26,19 29,7 29,18f. 33,2 35,5f. 37,36 40,3
42,1 42,6 42,18 43,3–5 43,13 43,25 44,12 49,24f. 51,14 52,13–53,12 53,3 53,4 53,6 53,7 53,10 53,10–12 53,12 61,1
352, 388, 392 267 267 392, 431, 435f.
243 345 243 261 243 506 243 243 323 50 286 286, 431 323 285, 430, 442, 497 323 38, 285, 430, 437f., 442, 497 323 217, 224f., 380, 412, 476, 524 227, 228f. 285, 286, 430, 442, 497 285, 430, 442, 447 237, 344 243, 301, 323 413, 494 296, 319 286 286 11, 221, 286, 294, 300f., 303–306 134, 304 326 237, 305 304 134, 305 305 305f. 285, 430
Jeremia 1,8 1,19 5,23f. 6,26 17,19–27 20,2 23,1–4 25,15–28 27,3 33,8 35,5 (LXX) 47,1–7
323 323 263 230 238 50 426 274, 361 274 318 285 274
Ezechiel 7,4 9,1 12,23 16,8 20,21 20,39 34,41 36,25–27 37,12f.
395 395 395 209 450 451 427 390 286
Hosea 2,14 2,16f. 6,2 6,6 11,1
437 431 264, 431 431, 453 277, 431
Joel 2,13f. 3,1f. 3,1–8
327 390 274
Amos 2,6 2,16 8,5 8,6 8,10
50 209 238 50 392
Jona 1,4–16 4,11
417 428, 497
Stellenregister Sacharja 9,2 9,9 12,10 13,2 13,4 14,4 Maleachi 3,1
3,20 3,22–24 3,23f.
Psalmen 2,7 7,7 (LXX) 9,6 18,6 18,16 22 22,1 22,2 22,7 22,8 22,11 22,18 22,27 22,31 23 23,1 23,6 35,22f. 43,24–27 (LXX) 44,24–27 58,5f. (LXX) 59,5f. 68,31 71,12 74,13f. 77, 23–29 (LXX) 77,65f. (LXX) 86,13 89,4f.
274 349f. 268 415 388, 392 350
132, 217, 224f., 306, 380, 382f., 385, 392, 404, 476, 524 239 134, 232 132, 151, 154, 380, 382f., 385, 387, 391f., 401, 403f.
227–231, 506 418 53 417 417 68, 230, 308 304 325 304 325 323, 417, 495 304 425 304 426f. 427 497 417, 495 418 297 418 247 53, 417 417, 495 53 427, 428, 497 418 431 506
89,27–38 89,10f. 103,3f. 103,8 106,9 110
587
110,1–3 115,3 119,21 119,39 129,3 (LXX) 146,8
506 53 497 497 53, 417 183, 295, 302, 306, 307, 309, 345, 372 190, 345, 506 436 53, 417 446 443f. 430, 442, 497
Sprüche 1,1 4,2 6,16–19 8,22–31 12,17 12,21 14,5 14,14 16,7 19,5 19,9 21,3 24,31 25,18 28,10
219 446 526 190 526 446 526 446 453 526 526 453 346 526 446
Hiob 7,12 9,5–10 9,8 9,11 18,13 26,12f. 34,30 36,13 38,16
417 323 322, 417 417 431 53 374 374 322
Das Hohelied 1,1
219
Ester 1,3 1,19 5,3
254 254 254
Stellenregister
588 Daniel 1,8–16 7 7,13f. 9,24–26 12,2
318 183, 291–294 172, 292, 295 268 431
Esra 3,11f.
444
Nehemia 1,6 8,1–12 9,13f.
277 13 450
10,32 13,15–22
238 238
1. Chronik 17,13 22,10 28,6
506 506 506
2. Chronik 18,16 21,12–15 26,16–23 35,21
426 150f. 435 246
1.2 Zusätzliche Schriften der Septuaginta-Überlieferung Tobit 3,7–17 5,5–9 5,9 6,1–8 8,1–3 13,3
111 240, 337 209, 240 111 111 277
Judit 1,14–16 2,28 8,5
294 274 392
Weisheit Salomos 2,13 2,18 5,15 6,3 6,17–20 7,12 7,15–20 9,1–4 14,17–21
166 166 244 244 449 190 415 190 120
Jesus Sirach 6,8 6,10f. 6,14 9,2 12,8 18,10 24,1–10
265 265 265 446 265 392 190
29,15 37,1 37,5 38,9f. 38,12 39,16 41,4 41,8 42,2 42,18 45,1–6 45,2 47,17 48,1–11 48,1–13 48,5 48,9 48,10f. 48,12
301 265 265 436 436 437 244 244 244 244 232 232 334 134, 151 232 384 384 133, 154, 384– 386,401 384
1. Makkabäer 1,48 1,62 2,41 2,58 2,59 4,46 5,15 11,67 13,3–5 14,4f.
318 318 299 384 301 232 274 284 391 267
Stellenregister 14,41
267
2. Makkabäer 2,1–13 3,26 3,33 5,2
232 209, 240, 337 209, 240, 337 240
5,27 6,19 6,28 7,9 7,14 7,37 9,8–12
589 318 318 303 303, 445 264 301 120
1.3 Neues Testament Matthäusevangelium 1,1 204 4,1–11 356 4,8 264 4,10 169 5,17 302 5,26 376 5,39 328 6,29 264 7,6 277 7,12 302 7,17f. 444 8,5–13 423 8,25 418 9,8 292 9,10 339 10,10 50 10,34 328 11,5 430 11,9–14 393 11,13 302 12,12 292 12,18–21 230 12,31 292 12,35 444 14,25 323 16,16 214 16,19 297 17,10–13 393 18,18 297 253 19,1 19,30 308 20,1–16 262 20,16 308 21,1 349 21,4f. 350 22,35 452 22,36 450 22,40 302
25,34–40 26,73 27,62–65 28,1–8 28,9 28,9–20 28,11–15 28,18–20
209 63 239 508 239 508 239 269
Markusevangelium (nur Analyseauswahl und Beispieltexte) 1,1 212–222, 270, 474 1,2f. 216f., 224–227, 293, 345, 385f., 386f., 392, 394, 408, 412f., 471, 484, 505 1,4–8 386f., 498 1,4f. 386f., 392 1,6 20, 23f., 387, 392 1,7f. 388–390, 392, 394, 412f., 505 1,9–11 16, 243f. 1,9–13 101 1,11 46, 58, 227–231, 471, 505 1,11 ó 3,11 474 1,12f. 53, 63, 96, 246, 394, 415 1,14f. 332, 393, 412, 466 381 1,16–20 1,21–27 246, 414, 416f. 1,22 34, 36f. 1,24 242f., 246, 469 1,25 363f. 1,32–34 341, 413f., 1,33 63 1,34 246, 285, 505
590 1,39 1,40–45 2,1–3,6 2,1–12
2,5 2,5–7 2,5–12 2,6 ó 14,63f. 2,6f. 2,10 2,13–17 2,15–17 2,18–22 2,20 2,23–28 2,28 3,1–6 3,6 3,7 3,10 3,11 3,12 3,17 3,20f. 3,21 3,22 3,27 3,31–35 4 4,10–12 4,11f. 4,13–20 4,33f. 4,35–41 4,41 5,1–20 5,7 5,18 5,18–23 5,19 5,20 ó 5,19
Stellenregister 63, 101, 246, 285, 413f. 434–436 201, 250, 313, 493 42f., 282, 285, 293, 296f., 298, 341, 343, 431, 443, 494 296 42 454 481 34, 296, 313f. 290f. 314, 320f. 343 314, 320f. 99, 234, 344, 511f. 297f. , 314, 319, 343 290f. 72, 285, 297f., 299f., 315, 343, 461 34, 252, 451 63, 64, 315, 344 285 101, 242f., 246, 285, 469 34, 285 210 339 286 315 246, 416 339 33, 88, 93 366–371 333f., 363, 368f. 390 101 53f., 324, 342, 417, 501 410 92, 244–247, 286, 418–420 469 66f. 76f. 405, 409, 464 409
5,21–24 5,21–34 5,24 5,25–34 5,25f. 5,27 5,28 5,30 5,35–43 5,41 6,1–6 6,7 6,13 6,14–16 6,14–29 6,17–29 6,19–29 6,21–29 6,27–29 6,30 6,30–33 6,45–52 6,52 6,53–56 6,55 6,55f. 6,56 7,1–16 7,1–23 7,11 7,15 7,17f. 7,19 7,24 7,24–37 7,24–30
7,25 7,28 7,31 7,31–37 7,34 7,37
286, 431f. 39, 60, 432–434 282f. 502 97–99 286, 338 338 324f., 338 286, 431f. 31, 210 339f. 502 502 411 22, 64, 394, 395– 398 99, 252–255, 383, 411 62 65 381 503 425–429 50, 322–324, 342, 417 44f., 270, 410, 486 284 286 285, 338f. 31, 61 420 314, 315–320, 390, 426, 436f., 494 210 318 277 210, 211, 318 275 76, 92, 315 273–278, 286, 327, 330, 342, 381, 420, 423f., 460 286 406, 409 211, 455 285, 431, 437–440 31, 210 285
Stellenregister 8,1–9 8,14–21 8,17 8,17–21 8,22–26 8,22–33 8,27 8,27–29 8,27–33 8,28 8,29 8,31 8,31–33 8,33 8,34 8,38 9,1–7 9,7 9,8–13 9,9 9,10 9,11–13 9,12 9,14–27 9,14–29 9,26 9,31 9,33–37 10,1–12 10,17f. 10,17–27 10,22 10,32–34 10,33 10,33f. 10,35–45 10,45 10,46–52
10,47 10,47f. 11,1–11 11,3 11,15–18
92, 315, 342, 429– 431, 503 90f., 262–264 410, 486 270 285, 431, 440–443 92 255, 270 25, 398–400 266–270 480 255, 266, 268, 270 50, 234–237, 290f., 300 87f., 290 93 376 376 380, 400f., 420, 426, 504 46, 231–233, 471 401 290f., 300 264 22, 404, 499 290f., 293, 300 285, 286 420–423 286 50, 234–237, 290f., 300, 304f. 504 314 406, 409 321f., 443–448 34 97–99, 331 290, 300, 304f. 50, 234–237 381f., 504 290, 300–304 60f., 278–282, 285, 306f., 327, 330, 431, 441, 460, 485 286 58 348, 349–352 406 314, 453
11,27 11,27–33 12 12,1–8 12,1–12 12,12f. 12,13–17 12,15 ó 15,10 12,18 12,18–27 12,35–37 12,28–34
12,29f. 12,30f. 12,32 12,34 12,35–37 12,41–44 13 13,10 13,11 13,14 13,20 13,21f. 13,24–37 13,26 13,29 13,31f. 13,33–37 14 14,1 14,11 14,12–16 14,21f. 14,22–24 14,32 14,32–41 14,32–52 14,33–42 14,33–36 14,35f 14,36 14,41 14,43–49 14,53–59 14,61
591 453 331, 390 88 26, 345 499 450 250f., 314 474 211 64, 314 279f., 307, 345 313, 314, 374f., 406, 409, 448–454, 498 405, 452 451 405, 452f. 313, 454 487 375 33, 464 269, 513 512 45, 210, 454f., 512 405 512 512 290f. 512 290f. 354 512 304 482f. 252 348, 352–354 290f., 293, 300, 302 300, 304 68 382 355 358–363 358f. 34, 357f. 31 290f. 328f. 251 293, 306
Stellenregister
592 14,62 14,66–72 14,70 15 15,1–15 15,2 15,10 15,16–20 15,16 15,21–41 15,22 15,26 15,32 15,34 15,34–36 15,38 15,39 15,42 15,42–45 15,42–47 15,44f. 16,1 16,1–8 16,7 16,8
Lukasevangelium 1,1–4 1,2 1,11 1,15–17 1,32 1,35 1,37 1,77f. 3,1 3,23 4,1–13 4,17 4,25f. 4,39 6,45 7,22 8,28 9,35 9,54 10,25
34, 99, 290f., 306, 372f. 42 62 201, 304 255–257 306 482 257 211 404 210 482 269 31, 325f. 401–403 16, 17f., 23f. 373 211 258f. 65 257 101 62, 234, 237–241 509 78, 95, 466, 507– 513
46 455 384 393 244, 506 244 422 386 253 330 356 13 151, 381, 384, 396 286 444 430 214 230 151, 384, 396 452
10,27 11,20 15,22 18,23–27 19,28f. 19,38 20,35 22,19f. 22,24–27 23,36 24,1–12 24,4 24,13 24,53 24,34 24,47
452 415 50 447 349 351 269, 431 305 303 402 508 36 508 508 219, 309, 386 269
Johannesevangelium 1,29 221 1,29–34 38, 39 1,34 214 1,36 221 1,46 63, 340 4 353 6,7 262 7,41f. 340 7,52 63, 340 10,6 334 11,4 214 12,1 349 12,12 349 12,13 351 12,34 290, 302 14,1 288 16,25 334 16,29 334 19,19 257 19,21f. 257 19,26 448 20,23 297 43 21,15–17 21,25 49 Apostelgeschichte 1,1 1,1–10 1,8 1,21 2,20f.
219 508 269 407 407
Stellenregister 2,25 2,34 2,36 2,38 2,47 4,1f. 4,25f. 4,33 5,9 5,21 7,56 8,26–35 8,30f. 8,34f. 8,32 8,35 9,11 9,15 9,36–43 10,30 11,24 11,26 12,12 13,1 13,5 13,10 13,13 13,15 13,33 13,38 15,17 15,21 16,10–17 16,27 19,10 19,28 20,5–15 20,7 20,7–20 20,21 21,1–18 22,3 23,6 23,6–8 24,15 24,21 26,5 26,27 26,28
407 407 306, 407 34 407 251, 264, 431 228 407 34 277 290 7 7 7f. 221 221 34 277 393 209 444 221 25, 328 253 25 169 25, 228 13 228, 241 29 269 13 209 328 275 348 209 239 393 275 209 328 264, 431 251 264, 431 264, 431 328 34 221
27,1–28,16 27,3 28,26f, 28,31 Römerbrief 1,1 1,2 1,3f. 1,5 1,9 1,16 2,9f. 3,1 3,2 3,9 3,19 3,21 3,24 3,25 3,29 3,31 4,3 4,24 4,25 6,49f. 7,4 7,12 8,11 8,26 8,32 8,34 8,35 8,35–37 9–11 9,17 9,24 10,8 10,9 10,11 10,12 10,13 10,15f. 10,17 11,1–5 11,2 11,2–5
593 209 274 371 213, 410
287 225, 302 241, 306, 478, 506, 508 269 237, 513 275, 277 275, 277 277 221 275, 277 302 302 111, 221 221 277 302 302 240, 309, 386 221, 236, 304 236 236 444 240 439 165 236, 306 328 216 160, 277 302 277 310, 513 236, 240, 276, 309, 386, 406, 424 302 275–277, 424 406 216 310, 513 393 302 151, 384, 396
Stellenregister
594 11,8 12,12 13,8–10 14,7–9 14,9 14,14–17 15,1–3 15,6 15,7 15,9 15,11 16,1 16,13 16,20 16,26 1. Korintherbrief 1,8 1,23 2,8 4,5 5,7 6,14 7,10 7,12 8,1–13 8,5 8,6
371 444 452 511 236 317 221 287 221 287 269 448 448 169 269
8,11 9,12 9,14 10,23–11,1 10,32 12,3 12,13 15 15,3 15,3–5 15,5 15,23–28 15,25–27 16,2 16,7 16,22
310 277, 309, 411 310 309 211 236, 240, 386 309 369 317 409 221, 309, 386, 406, 488, 498, 531 221 287 309 317 275 276, 406 275, 277 407 167, 221 95, 480, 508 219 506, 508 168 239 309 406
2. Korintherbrief 1,14 2,9
310 307
2,12f. 3,17 4,4 4,14 5,1–10 5,20f. 6,15 8,9 9,13 10,8 10,14 11,7 11,13–15 13,10
209, 217 512 287 236, 240, 386 311 221 243 211 287 309 287 287 169 309
Galaterbrief 1,1 1,3f. 1,7 1,11f. 1,14 1,15f. 1,17 2,11–21 2,13 2,16 2,19f. 2,20 3,1 3,8 3,13 3,22 3,28 4,19 4,30 6,1f. 6,6
236 221 287, 513 394 248, 316 394 393 317 374 288 511 214 394 269, 302 221, 240, 362 302 275, 277 448 302 221 455
Epheserbrief 1,3–7 1,20 1,20–22 1,22 4,13 5,2 5,25f.
221 168, 306 295, 413 168 214 221 221
Philipperbrief 1,6
310
Stellenregister 1,14 1,27 1,29 2 2,6–8 2,6–11 2,8 2,9f. 2,9–11 2,10f. 2,11 3,2 3,20f. 4,5
332 287, 513 288 525 411 221, 295 303 307 506, 508 310 406 277 407, 413 309, 407
Kolosserbrief 1,3 1,19f. 2,2 3,11 4,3 4,10
306 230 213 275, 277 455 25
1. Thessalonicherbrief 1,6 332 2,2 287 2,8f. 287 2,13 332 2,19 407 3,2 287, 513 3,12 309 3,13 407 4,16 309 5,10 434 2. Thessalonicherbrief 1,7 413 1. Timotheusbrief 1,12 2,5f. 4,2 5,1 2. Timotheusbrief 3,16f. 4,17
413 221, 303 374 448
224 269
595
Titusbrief 1,15
317
Philemonbrief 10 24
448 25
Hebräerbrief 1,1f. 1,5f. 1,13 2,6–8 2,17 3,1 4,14 5,1–10 5,5 5,7 6,20 7,1–10,18 10,21 11,35 11,37 13,20
225 228 168 168 221 221 221 221 228 236 221 221 221 384 388 309
1. Petrusbrief 1,19 1,21 2,8 3,22 4,16
221 240 455 413 221
2. Petrusbrief 1,3 1,16f. 1,20f. 2,1–3 2,12
413 230, 413 224f. 277 277
1. Johannesbrief 2,2
361
Jakobusbrief 5,17f.
381, 384, 396
Johannesapokalypse 1,3–13 134 1,5 221 1,10 239
Stellenregister
596 1,13–20 5,6–14 6,11 7,9 7,13
294 221 240 240 240
11,3–13 11,5f. 12,14 20,1–6 22,20
393 151 213 268 406
2. Frühjüdische Autoren und Texte 2.1 Philo von Alexandrien De vita Mosis 1–2 1,5 2,211
232 215 238
De migratione Abrahami 15 439
In Flaccum 46
244
De decalogo 51 107–110 120
317 317 317
Legato ad Gajum 158 278 299f.
238 244 253
De Iosepho 245
360
Legum allegoriae 1,47
444
De Abrahamo 112 175 268
360 360 422
De opificio mundi 46 360, 422 De somniis 1,87 1,149 2,127
360 444 13
De specialibus legibus 2,225 317 3,169ff. 276 360 4,127 De virtutibus 26 177
Quaestiones in Genesim 1,86 132 2,62 406 Quid divinarum rerum heres sit 181 317 Quod deterius potiori insidiari soleat 92–97 439 Quod Deus sit immutabilis 439 115 136 132 138 132
360, 422 148
2.2 Flavius Josephus Antiquitates Judaicae 1,331 324 1,333 324
2,82 3,180 3,259f.
324 148 318
Stellenregister 3,261–264 3,264 5,277 8,45–49 8,319–354 8,353f. 10,186–281 14,22–24 16,160–165 18,41 18,63f., 18,116 18,116–119 18,119 20,97–99 20,170 20,188 20,167f. 20,169–172
431 435 209 111 132 392 293 391 121 328 234 153 153 153 392 350 392 392 392
Contra Apionem 1,54
328
597
2,18 2,23
13 238
De Bello Judaico 1,30 2,261 2,261–263 3 3,4 3,353 4 6,312 6,312ff. 7 7,155
250 350 392 127 63 324 127 122 293f. 127 130
Vita 3,14–16 10–12 191
238, 323 392 328
2.3 Weitere jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit 2. Baruch/syrischer Baruch 14,18 298 29,5f. 425 29,7 430 30,1 267f. 73,6 230 84,7 437 Elia-Apokalypse allg. 4,7–20 5,32f. 25f.
151 384 384 151
4Esra allg. 3,1 6,26 7,26–35 7,28 7,109 12,32 12,34 13 13,3 13,12
293f. 294 384 268 267, 294 381 268 268 292–294 294 294
13,26 13,37 13,52
294 294 294
1. Henoch/äthiopischer Henoch allg. 294 5,8f. 430 425 10,18f. 25,5–7 430 37–71 294 40,9 446 294 46,4 48,3 294 48,10 294 415 55,4 294 62,1ff. 62,5 294 62,7 294 93,3 384 93–6 430 102,6 251 Joseph und Asenath 7,16 318 8,9 244 10,16 392
Stellenregister
598 14,1f. 14,16 16,1 16,10 16,4 19,2 21,4 Jubiläen 1,7 4,19 6,7 6,12–14 7,20 10,17 20,3 20,20f. 22,16 23,29f. 36,7f. 47–50
238, 323 392 276 276 276 276 276
437 437 318 318 452 437 452 451 318 430 450, 452 232
Liber Antiquitatum Biblicarum 9–19 232 12,1 232 42,3 238, 323 48,1f. 381, 384, 391, 393 60 111 3. Makkabäer 6,2
244
4. Makkabäer allg. 6,27 17,21
302 303 303
Psalmen Salomos 2,28f. 3,10 3,12 3,16 14,10 17 18
120 431 431 445 446 267, 349 267
Sibyllinen 2,187–189 3,47 (Fr.)
384 446
3,519 3,574 3,744–754
244 244 425
Testament der zwölf Patriarchen allg. 451f. Testament Abrahams 12 327, 482, 497 15,12 244 Testament Assers 4,1
444
Testament Benjamins 1,2 330, 447 3,3f. 451 Testament Dans 1,4 4,7 5,1 5,3 5,11 7,1
444 243 243 451 268, 415 330, 447
Testament Hiobs 9,8 18,8
417 446
Testament Issachars 5,2 451 6,1 243 Testament Judas 24 25,3
267 415
Testament Levis allg. 14 18 18,2 18,12
243 162 267 242 111, 415
Testament Naftalis 5,8 243 8,4 415
Stellenregister
599
Testament Rubens 1,5 330, 447
Vita Adae et Evae/Apokalypse des Mose 24 230
Testament Sebulons 8,1f. 327, 482, 497 9,6–8 286, 415
Vitae Prophetarum allg. 10,4 21,1 21,1–15 21,3
Testament Simons 4,4 444 6,6 415
151 381 386 232 384
2.4 Schriften aus Qumran CD 5,18 12,8–15 13,1f.
243 318 428
4Q500 1 4Q521 allg.
345
1QGen 20,16–29
111
Frgm. 2ii,1
151, 431, 434, 442, 497 267
1QM 3,13–4,4
428
4Q558 allg. Z. 4
132f., 151, 385, 391 132
1QpHab 7,4f. 11,14f.
367 361
4QMMT allg. C 10
277 328
1QS 2,21 9,3–5
428 453
4QPNah 4,6
361
1QSa 2,11f. 2,11–22
267 428
4QPrNAb allg.
111
11QPsa 27 allg.
111
11QMelch 18
267
4Q 252 allg. 4Q417 Frgm. 2 1,10f.
252
367
2.5 Rabbinisches Schrifttum Mischna mAvot 6,6
452
mSanh 10,1
251
mTa‘anit 3,8
391
Stellenregister
600 Talmud Bavli bBava Batra 115b–116a
85b
Jerusalemer Talmud 328 jShabbat 23,18a.10
bBerachot 6b
298
238
386 Targume
bMegilla 15b
325
bMenachot 65a–b
328
bNedarim 64
431
bSanhedrin 47a
431, 435
Targum Jonathan zu Mal 2,23
336, 392
Targum Pseudo-Jonathan zu Ex 6,18 391 zu Num 25,12 391 zu Dtn 33,1 391 Midraschim
b Ta‘anit 66d
391
Mekhilta de R. Jishmael zu Ex 16,32 392 zu Ex 18,9 392
bYevamot 74a
238
Mekhilta de R. Simeon ben Jochai zu Ex 31,13f. 298
bYoma 29a 53b
325 391
Wajikra Rabba zu Lev 14,5
430
3. Griechisch-römische pagane Autoren und Werk Aischylos Die Perser 354 681–690
324 324
Eumenides 94–139
324
Aristoteles Poetik 1448a1 1425b20 1450a 1450a25 1450b21–34
199, 200 218 203 79 201
1450b35–1451a15 1451b5f. 1451b34f. 1452a–b 1453a4–12 1454a24–36 1460a8
201, 476 412 201 188 201 492 209
Metaphysik 1054b3–11
201
Nikomachische Ethik 1103a14–25 200 1111b5ff. 200 1115a6ff. 200
Stellenregister Gaius Iulius Caesar De Bello Gallico 1,1,1–7 62, 241 Cicero In Verrem 2,1,66 Pro Caelio 20,44–49
276
Dion Chrysostomos Orationes 3,30f. 417
Horaz Carmina 3,30 Isokrates Panathenaikos 88f. Lukian Philopseudes allg. 16 29 Lysias Orationes 2,29 Pomponius Mela de chorographia 1,1
Philostrat Vita Apollonii allg. 3,38 4,10 4,20
109–111, 148, 152 417 417 417
Platon Republica 392c–394b
33, 212
Phaidon 81
324
253
Diodor Bibliotheca historica 11,1,1 217
Herodot Historiae 5,28 7,35,56
601
253 417
Plinius der Älterer naturalis histoira 28,37 439 28,38 439 Plutarch Dio 2,2–4
324
Polybius Historiae 39,3,2
348
245f. Pompeius Trogus (in Justinus) epitoma historiarum Philippicarum 36,2,14 238 417 Sallust De coniuratione Catilinae 24,3–25,5 276 111, 116 417 324
Sueton de vita Caesarum 8,7,2
439
417
divus Vespasianus 442 7,2f.
62, 241
Strabo geographica 1,2,28
62, 241
Tacitus Annales 13,45
276
Cornelius Nepos De viris illustribus, praefatio 1,6–7 253
Stellenregister
602 15,44,3 Historiae 1,1,1 4,81 5,4 5,41,–5,5,2 Xenophon Oikonomikos 7,1–43
234
215f. 442 238 318
276
Papyri und Inschriften ÄgU 543,3 121 BMCRE 1,114 #705 1,196 #228 3,12 BM Mysia 139 #242 140 #256 IEph 17–19 375
121 121 121
121 121
I.Pergamon 381
121
OGIS 416 417
253 253
PGM 4,2701 7,579 8,13
324 324 416
PGrLat 10,1150,2–3
121
P.Oxy 1,5 2,240,3 12,1453
397 121 121
SeG 11,923,1–18
121
SGUÄ 8317 8824
121 121
121 121
4. Frühchristliche Autoren und Werke Clemens Alexandrinus Paedagogus 2,10,112,1–113,1 24
Ascensio Isaiae 2,7–12 392 2,10 392 2,11 392 5,1–14 392 Barnabasbrief 4,3 15,9
Didache 9,5 10,6 294 239
Bartholomäusevangelium 4,71 330 28,1 330 1. Clemensbrief 17,1
388
277 406
Eusebius Historia Ecclesiastica 2,23,13 290 3,39,15 25 Hippolyt De Antichristo 43
392
Stellenregister Hirt des Hermas visiones 3,1,6 3,2 3,4,1 3,5
603
49,10 110,1
385 385
240 240 240 240
Origenes contra Celsum 2,24
357
Ignatius Ep. ad Ephesios 11,2
221
Petrusevangelium 9,36 240 13,55 240
Ep. ad Magnesios 4
221
Polykarpbrief 7,31
221
Ep. ad Romanos 3,2
Pseudo-Clementinen Recognitiones 1,41,3 18 Homilien 2,19 3,73
275, 277 275
221
Justin Dialogus cum Tryphone Judaeo 9,4 385
Thomasevangelium 31 397 65f. 345
Autorenregister Abelson, R. P. 13 Abrams, M. H. 73, 75 Achtemeier, P. J. 279, 441 Ådna, J. 7 Ahnert, L. 59 Akmajian, A. 22 Aland, K. 507 Alber, J. 274 Albertz, M. 201 Alexander, M. 12, 13, Alkier, S. 78, 103, 214 Anderson, J. C. 103, 126 Arendt, H. 459 Arnold, G. 215f. Ashcroft, B. 11 Assmann, A. 145, 412, 466, Attardo, S. 14 Auerbach, E. 35, 37, 440, 470 Bachmann-Medick, D. 108 Back, F. 106 Bächli, O. 246, 416 Bakhtin, M. 41 Bal, M. 27, 39, 101 Balz, H. 253, 439 Bareis, J. A. 31 Barnett, P. W. 386 Barth, K. 358 Barthélmy, D. 302 Barthes, R. 156 Bartlett, F. C. 12 Batto, B. 247 Bauckham, R. 415, 462 Bauer, A. 454 Bauer, Th. 253, Bauer, W. 330, 447 Bauernfeind, O. 419 Beach, C. 200
Becker, E.-M. 91, 101, 124, 131, 213, 216, 225, 384, 391 Becker, J. 431 Becker, U. 156 Bedenbender, A. 2, 8, 19, 23, 63, 123, 126f., 129, 149, 154, 195, 245f., 439, 463f. von Bendemann, R. 440, 442 Bennett, W. J. 235 Benovitz, M. 254 Berger, K. 14, 57, 58, 140, 279, 317, 325, 330, 375 Bernhart, W. 454 Best, E. 126 Betz, H.-D. 106, 116–118, 119, 148, 149 Bickermann, E. 123 Bieler, L. 109f, 139 Bilezikian, G. G. 124 Black, D. A. 143 Black, M. 279 Blackburn, B. 149 Blinzler, J. 256 Blumenthal, Chr. 1 Bock, S. 61 Böcher, O. 245, 286 Böhm, M. 507, 509, Bösen, W. 477 Booth, W. C. 27f., 29, 34, 156, 182, 212 Boring, E. 163, 225, 279, 330 Bornkamm, G. 367, 450 Bortolussi, M 8, 51 Bourquin, Y. 96, 178 Bousset, W. 165, 309, 405 Bower, G. H. 17 Brandenburger, E. 171, 187 Bremond, C. 80, 81–83, 179, 194, 198
Autorenregister Breytenbach, C. 1, 103, 106, 163, 166, 167f., 235, 244 Broadhead, E. K. 183f., 208, 330, 331, 405, 406, 410 Broich, U. 107 Brône, G. 8 Brooke, G. J. 345 Brown, R. 406, 445 Bruce, F. F. 350 Büchli, J. 109 Bultmann, R. 110–112, 113, 155, 223, 309, 323, 352, 356, 397, 421, 423, 428, 440, 448 Burch, E. 200 Burchard, Chr. 402, 403, 450, 451 Burkhart, R. 331 Burkill, T. A. 156, 159, 160, 371 Burridge, R. A. 124 Byrskog, S. 332 Casey, M. 291, 423 Castro, C. A. 17 Chanquoy, L. 500 Chantraine, H. 376 Chatman, S. 9, 10, 26f., 28, 33, 34, 80, 178, 180, 185, 203, 212 Christmann, U. 8 Ci, J. 97 Cohn, D. 34 Collins, A. Y. 126, 240, 283, 304f., 315, 346, 348, 351, 352, 367, 379, 417, 419, 421, 422, 439, 447, 448 Collins, J. J. 294, 385 Colpe, C. 291, 294 Cook, D. E. 248 Cook, J. G. 83 Corrington, G. P. 116–118 Coulson, S. 12 Cox, L. 507 Cranfield, C. E. 213 Crisp, P. 19 Cullmann, O. 352, 409 Culpeper, J. 8 Culpepper, R. 96 Cuss, D. 121 Dambacher, M. 14 Dancygier, B. 94 Danove, P. L. 83, 223, 507, 509
605
Darr, J. A. 10 Daube, D. 448 Dautzenberg, G. 131f., 141f. Davidsen, O. 179, 193f. Davis, P. G. 181 De Beaugrande, R. 12 Dehn, G. 40 De Jonge, M. 293, 451 Dellarosa, D. 9 Dengel, A. 91 Dennerlein, K. 8, 39 Dewey, J. 33, 182, 220, 311 Dibelius, M. 110, 159f., 209 Dicke, G. 176 Dixon, P. 8, 51 Dockery, D. S. 143 Dodd, C. H. 163 Doležel, L. 86 Donahue, J. R. 168, 170f. Doering, L. 297f. Dormeyer, D. 103, 122, 124, 125f., 140, 144, 149, 215, 217 Drewermann, E. 104 Dronsch, K. 83, 86 Dschulnigg, P. 13, 58, 229, 252, 262, 263, 264, 317, 349, 381, 409 Duff, P. B. 350 Du Toit, D. S. 1, 97–99, 117, 148f., 152, 195, 228, 232, 287, 324, 344, 400, 425, 426, 427, 510–513 Dyer, R. 60 Ebeling, H. J. 156, 159f., Eberhard, F. 291 Ebner, M. 9, 77, 104, 122, 123, 124f., 126, 129, 141, 142, 143, 144, 146, 149, 150, 154, 270, 273, Eckey, W. 239 Eckstein, H.-J. 58, 91, 106, 278, 279, 287, 307, 309f., 325, 395, 399, 431, 485, 524 Eco, U. 9, 13, 29, 86, 133, 195 Eder, J. 38, 46, 49, 51, 53, 56, 60, 66, 68f., 72, 73, 75f., 92, 257, 286, 331, 353, 454 Edwards, J. R. 20, 381, 445 Egger, W. 9, 77, 137, 138, 191 Ego, B. 151 Ehrman, B. D. 214
606
Autorenregister
Eigler, G. 500 Eisen, U. E. 30, 33f., 36, 61, 205, 211, 212, 380, 455 Eisler, R. 130 Elkins, H. 108 Elliot, J. K. 1, 533 Emmott, C. 12 Erlemann, K. 143 Erll, A. 10 Ernst, J. 40, 162, 167, 264 Esser, D. 124 Evans, C. A. 350 Eysenck, M. W. 9, 17 Faierstein, M. 385 Fander, M. 104 Fatehi, M. 512 Fauconnier, G. 19–24, 391 Fauth, W. 109 Feldmeier, R. 423 Fendler, F. 45 Feneberg, R. 419 Feneberg, W. 217 Fenske, W. 143 Fillmore, Ch. J. 11 Finnern, S. 3, 4, 8, 9, 10, 14, 17, 27–29, 29–32, 54–61, 65f., 68, 70, 72–75, 77, 78, 81, 82, 86, 89, 91, 93, 95, 96, 98, 100, 105, 138, 139, 145, 178, 195, 237, 257, 311, 355, 380, 454 Fischer, C. 259 Fitzmyer, J. A. 63, 291, 309, 405 Fludernik, M. 8, 10, 19, 24, 47 Flusser, D. 130 Förster, W. 286 Fowler, R. M. 89 France, R. T. 340 Frankemölle, H. 125, 191 Freeman, D. C. 19 Freeman, M. H. 19 Frenschkowski, M. 160 Frey, J. 3 Frey-Anthes, H. 242 Freyne, S. 315, 477 Freytag, G. 79 Frickenschmidt, D. 124 Friedman, M. J. 34 Friedrich, G. 114
Fritzen, W. 2, 29, 35, 63, 78, 142, 195, 217, 262, 264, 357, 358, 359, 361, 462f. Füger, W. 41 Gadamer, H.-G. 14 Gardner, H. 9 Garrod, S. C 13 Gaston, L. 414 Gathercole, S. J. 448 Gavins, J. 8 Gelfert, H.-D. 78 von Gemünden, P. 59f. Genette, G. 9, 12, 31, 33, 39, 79, 96– 99, 101, 137, 190, 308 Georgi, D. 115, 169 Gerrig, R. J. 15 Gese, H. 325, 506 Giblin, C. H. 218 Giesen, H. 328 Gillingham, S. 228 Glenney, B. 441 Gnilka, J. 18, 53, 67, 126, 163, 165, 170, 171, 212, 218f., 230, 231, 234, 235, 244, 245, 246, 255, 258, 264, 274, 278, 281, 296, 298, 303, 315, 319, 320, 326, 328, 331, 338f., 346, 348, 351–354, 357, 362, 367, 375f., 388, 392, 394, 395, 397, 402, 414, 417, 419, 422, 423, 427, 434, 435, 436f., 440, 446, 450, 453, 503, 523 Gould, E. P. 126, 340, Grabes, H. 51 Gradel, I. 120 Grässer, E. 415 Greeven, H. 213, 502 Greimas, A. J. 77, 83f., 85, 137, 179 Grice, H. 22 Griffiths, G 11 Grundmann, W. 230, 235, 415, 444, 473 Günther, L.-M. 120 Güting, E., 213, 502 Güttgemanns, E. 80 Gundry, R. H. 235, 239, 240, 252, 262, 353, 368, 402, 437, 438, 443–448, 450 Gunn, D. M. 178 Gutenberg, A. 82, 87
Autorenregister Guttenberger, G. 258, 298, 301, 303, 316, 320, 327, 344, 358, 360, 361, 374, 390, 408f., 413, 414, 416, 418– 420 Gymnich, M. 8, 140 Haacker, K. 36 Hadas, M. 124 Häfner, G. 99, 385 Haenchen, E. 159, 218, 225, 230, 246, 277, 317, 318, 348, 350, 388, 395, 414, 418, 421, 425, 451 Hahn, F. 40, 118, 165, 170, 220f., 225, 279, 292 Hallet, W. 11, 61, 75, 140, 457 Halliday, M. 91 Halliwell, S. 200 Hanhart, R. 151 Harder, P. 20 Hardmeier, Ch. 462 Harnisch, W. 18 Hartenstein, F. 106f. Hartner, M. 10, 20, 22, 23, 47, 48 Hasler, V. 285 Haupt, B. 517 Hauptmeier, H. 41 Hauschild, Chr. 62 Hay, L. S. 159 Hayes, J. R. 161, 500 Heckel, U. 445 Hedinger, B. 454 Heil, J. P. 264 Heinen, S. 10, 28, 31 Heininger, B. 9, 77, 104, 143, 258 Helbig, J. 107 Hempfer, K. W. 27 Henderson, S. W. 2, 259, 445 Hengel, M. 7, 25, 45 Herder, J. G. 80, 177 Herman, D. 8, 12 Hermann, A. 29 Hessler, M. 108 Hieke, Th. 294 Hintikka, J. 86 Hiraga, M. K. 19 Hitchcock, F. R. 199 Hoffmann, E. G. 35, 228, 357, 450 Hoffmann, P. 123
607
Hofius, O. 232, 268, 296, 310, 319, 340, 345, 387, 421–423, 511 Horsley, R. 298, 317 Hougaard, A. 20 Huber, K. 228 Huber, M. 8 Hübenthal, S. 1, 2, 195, 206, 217, 249, 253, 254, 260, 263, 332, 457, 459, 465–468, 472, 518 Hübner, H. 132 Humphrey, R. 34 Humphrey, R. L. 10, 15 Hupe, H. 10 Hurtado, L. 225, 228, 352, 423 Ibsch, E. 8 van Iersel, B. M 58, 298, 320, 388, 427, 436, 511 Incigneri, B. J. 127, 128, 129 Inselmann, A. 59 Iossif, P. P. 120 Iser, W. 8–10, 13, 14, 29f., 195 Jahn, M. 8 Jannidis, F. 28, 36, 53, 69, 70, 73, 195, 257 Janowski, B. 8, 57, 227, 239, 325 Jauß, H. R. 9, 13, 195 Jeremias, J. 63, 165, 228, 261, 291, 296, 301, 304, 353, 402 Jochum-Bortfeld, C. 2, 195, 276, 283, 459–462, 524 Johansson, D. 1, 405 Johnson, S. E. 159 Jónsson, J. 14 Joynes, C. E. 131, 135f. Juel, D. 163f. Jülicher, A. 18 Junkerjürgen, R. 308 Kahrmann, C. 178 Kampling, R. 38, 258, 467 Kaplan, C. A. 9 Karrer, M. 151, 220 Kazmierski, C. R. 163, 165f. Keck, L. E. 115 Keel, O. 227 Keen, S. 38, 58 Kelber, W. 126, 180, 279, 288, 358
608
Autorenregister
Kellermann, U. 387 Kertelge, K. 427 Kettenbach, G. 418 Kim, T. H. 122 Kindt, T. 14, 27–29 Kingsbury, J. D. 182f., 184, 208, 230 288 Klauck, H.-J. 18, 225, 227, 259, 379, 381, 384, 391, 415, 418, Klausner, J. 130, 234 Klostermann, E. 209, 340, 421 Klumbies, P.-G. 28, 216, 368, 412 Kmiecik, U. 32, 179, 191f., 195, 196, 210 Koch, D.-A. 108, 113, 114, 141, 142, 201, 418 Koch, Th. 39 Köppe, T. 8 Köster, H. 124, 327 Kollmann, B. 119, 417, 419 Koskenniemi, E. 118, 139, 152 Kraft, R. 151 Kratz, R. G. 224 Kraus, H.-J. 344 Krause, J. J. 16, 107, Kreuzer, S. 143, 302 Kripke, S. 86 Kristeva, J. 107 Kuhn, H.-W. 201, 259 Kullmann, D. 34 Kürzinger, J. 25 Lämmert, E. 34, 96 Lambrecht, J. 402 Lampe, P. 24, 50, 238, 308, 309 Landmesser, Chr. 332f., 367, 370, 390, 455 Landy, F. 14 Lane, W. 351 Lang, F. G. 199, 200 Lang, M. 10 Lanser, S. S. 11, 33 Larsen, K. 442 Lasswell, H. 331 Laufen, R. 389 Lefevre, E. 34 Légasse, S. 230 Lentzen-Deis, F. 228 Lessing, G. E. 12, 205
Levinson, St. 14 Lévi-Strauss, C. 78, 83, 263 Lewis, D. 86 Lietzmann, H. 291 Lindemann, A. 1 Linke, A. 91 Linnemann, E. 17 Lohmeyer, E. 180, 315, 340, 348, 421, 434, 444, 445, 477 Lohse, E. 227, 279 Lotman, J. M. 62, 76, 183, 341 Lubbock, P. 186 Lüdeke, R. 10 Lüdemann, G. 106 Lücking, S. 200, 202 Lührmann, D. 20, 25, 124, 165, 170, 248, 250, 303, 320, 398, 419 Lundhaug, H. 20 Luther, S. 332 Luz, U. 113 Mack, B. I. 124 Mahler, A. 454 Maier, J. 234 Majoros-Danowski, J. 19f., 92, 211, 217, 218, 224–227, 252, 277, 381f., 383–385, 387, 388f., 391, 393, 394, 396, 398, 436, 530 Malbon, E. S. 2, 26, 32, 61, 83, 94, 95, 178, 184f., 193, 210, 223, 224, 242, 246, 248, 260, 266, 272, 273, 279, 289, 291, 321, 366, 377, 378, 444, 506, 522, 532 Malle, B. F. 66 Mandler, J. M. 12, 14 Marcus, J. 126, 213, 277, 285, 416, 418, 441, 452 Marguerat, D. 96, 178 Marín, J. J. 445 Martínez, M. 12, 33, 49, 50, 51, 62, 80 von Martitz, W. 149 Marxsen, W. 131, 155, 156, 395 Mason, S. 248, 293, 316 Masson, S. 15 Matera, F. J. 164f. Matjaž, M. 418 Mayer, G. 318 Mayordomo. Marín, M. 9, 10, 195 McKoon, G. 14
Autorenregister Meister, J. Chr. 84 Menhard, F. 47 Merz, A. 130, 267, 294, 295 Miller, D. 135, 147 Miller, P. 135, 147 Minsky, M. 12 Mittmann-Richert, U. 305 Montefiore, C. G. 130 Moore, St. 103, 178 Morris, P. 402 Moxnes, H. 61 Müller, G. 96 Müller, H.-H. 27–29 Müller, M. 293 Müller, P. 38, 45, 138, 167, 187–189, 200, 258, 398, 418, 435f., 532 Müller, U. B. 168–170, 220 Müller, W. G. 34 Mullins, T. Y. 25 Naluparayil, J. C. 1, 54, 69, 103, 105, 115, 157, 172 Neirynck, F. 89 Nelles, W. 28 Neumann, B. 61, 64, 75 Niederhoff, B. 39 Niemand, Chr. 315 Noble, J. T. 441 Nünning, A. 41f., 43–46, 47, 140, 173, 186, 206, 207, 456, 469, 517, 518, 521, 522 Nünning, V. 43–46, 47, 173, 206, 469 Oakley, T. 19 O’Brien, K. 325 Öhler, M. 132f., 148, 151, 153, 381, 385, 391, 396, 402, 403 Oeming, M. 178 Oepke, A. 40 Ohno. Chr. 84 Oko, O. I. 26, 30, 189, 225 Omerzu, H. 131 Orton, P. 19 Osborne, G. R. 143 Oswald, W. 449 Palmer, D. G. 83 Pavel, Th. 86 Pax, E. 36
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Pellegrini, S. 92, 133f., 232, 284, 388, 396 Perrin, N. 116, 139, 141 Perry, M. 17 Pesch, R. 18, 58, 131, 162, 201, 235, 239, 240, 244, 245, 246, 247, 252, 264, 277, 288, 328, 330, 334, 343, 349, 352, 381, 398, 402, 408, 409, 414, 419, 422, 426, 436, 447, 507 Petersen, N. R. 33, 182, 186 Petzke, G. 109 Pfister, M. 41, 49, 76, 107, 226, 388, 389, Plischke, S. 120 Poplutz, U. 14, 17, 53, 54, Pokorný, P. 122, 409 Powell, M. A. 96, 138, 178 Pramann, S. 211 Prechtl, P. 22 Pregla, A.-R. 178 Propp, V. 80 Puech, É. 385 Quillian, M. R. 91 Quinkertz, U. 33f. Rabinowitz, P. J. 33 Radl, W. 284 Räisänen, H. 112, 159, 162 Ratcliff, R. 14 Reckwitz, E. 454 Rehberger, K. 11 Reinmuth, E 151 Reiser, M. 35, 124, 451 Reiss, G. 178 Reitzenstein, R. 109f., 321 Renner, K. N. 82 Resseguie, J. L. 178 Rhoads, D. 33, 45, 178, 180–182, 206, 220, 258, 259, 270, 311 Riches, J. K. 61, 69 Rickheit, G. 14, 91 Ricœur, P. 454 Riesner, R. 353 Rimmon-Kenan, Sh. 27, 33, 60, 80 Ringe, Sh. H. 276 Robbins, V. K. 162, 225, 330 Robinson, J. M. 115
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Autorenregister
Rose, Chr. 26, 30, 33, 58, 138, 189f., 228, 243, 247, 383, 390, 408 Roskam, H. N. 124 Rudolph, K. 386 Rüger, H. 211 Rüggemeier, A. 462 Rüggemeier, J. 8, 10, 17, 36, 38, 39, 52, 55, 66, 72, 75, 78, 89, 91, 96, 105, 139, 184, 290 Rumelhart, D. E. 12 Ruqaiya, H. 91 Ryan, M.-L. 51, 54, 82, 86–89, 206, 454, 466, 517 Samuel, S. 104 Sand, A. 50 Sander, C. 454 Sanders, E. P. 107, 318 Sandmel, S. 107 Sanford, A. J. 13 Sariola, H. 317 Schade, U. 91 Schaller, B. 297, 313 Schank, R. C. 13 Scheffel, M. 12, 33, 49, 50, 51, 62, 80 Schenk, W. 209 Schenke, L. 32, 40, 53, 58, 93, 209, 210, 217, 219, 220, 225, 227, 233, 246, 251, 254, 262, 263, 264, 266, 273, 279, 280, 283, 315, 324, 348, 349, 354, 355, 357, 358, 367, 379, 381, 388, 390, 402, 412, 414, 417, 422, 424, 432, 433, 509 Schlatter, A. 293, 422 Schluchter, M. 178 Schmid, U. 151 Schmidt, K. L. 427 Schmidt, K. M. 126, 127f., 130, 338, 430, 520 Schmidt, S. J. 14, 41, 462 Schmithals, W. 78, 421 Schmitt, A. 199–202, 204, 209, 218, 492 Schnackenburg, R. 427 Schneider, R. 10, 14, 16, 17, 71, 76, 94 Schnelle, U. 138, 143, 347, 368, 495 Schniewind, J. 40 Schrage, W. 442 Schreiber, J. 112f., 279, 362
Schreier, M., 8 Schreiner, S. 7 Schrenk, G. 446 Schröder, J. 20 Schröder, M. 106 Schröter, J. 274 Schulz, S. 108, 113f., 141, 142, 144, 405 Schwarz, M. 14 Schweizer, E. 160, 274, 402 Schwemer, A. M. 151, 386 Seiler, St. 107, 283 Sellin, G. 403 Selz, G. J. 120 Semino, E. 8 Shepherd, T. 89 Sherwin-White, A. 304 Siebenthal, H. 35, 228, 357, 450 Simon, H. A. 9 Silbereisen, R. K. 59 Sinding, M. 19 Singer, W. 108 Sjöberg, E. K. T. 264 Ska, J.-L. 75 Skinner, Ch. 104 Smalley, B. 18 Smit, P. 252, 396 Smith, A. 252 Smith, D. E. Smith, J. Z. Smith, M. 124 Smith, St. H. 200 Söding, Th. 138, 143, 332 Sommer, R. 8 Spitta, F. 444 Stammerjohann, H. 191 Standhartinger, A. 276 Stanzel, F. K. 33f., 36, 37, 39 Starcky, J. 132 Staudinger, F. 428 Stauffer, E. 247 Steck, O. H. 138, 143 Stehen, G. 18 Stegemann, W. 318 Steichele, H.-J. 166f. Steinberg, G. 34 Stemberger, G. 13, 180, 224 Sternberg, M. 17 Sternberg, R. J. 14
Autorenregister Stilz, G. 11 Strohner, H. 14 Stocker, P. 39 Stockwell, P. 8 Stone, M. 294 Strasen, S. 14 Strecker, G. 124, 406 Strohner, H. 14, 22 Stuhlmacher, P. 124, 236, 268, 294, 300–305, 308, 451 Sundwall, J. 430 Surkamp, C. 41f., 46f., 86 Swetnam, J. 69 Taeger, F. 121 Tagawa, K. 288 Tannehill, R. C. 82, 179f., 181, 270 Taylor, V. 340, 405 Theißen, G. 103, 121, 123, 124, 128, 130, 146, 153, 159, 161, 171, 209, 245, 267, 275, 277, 283, 284, 294, 295, 376, 381, 422, 509 Theobald, M. 138, 185–187 Thon, J.-N. 454 Thüsing, W. 512 Tiffin, H. 11 Tilly, M. 18, 106, 151, 243, 293, 388 Todorov, T. 82 Tödt, H. 165 Trainor, M. F. 2 Trocmé, E. 167 Turner, M. 19–24, 391 Twelftree, G. H. 414 Uspenskij, B. A. 41, 182 Utzschneider, H. 91, 138, 199, Vandaele, J. 8 van der Horst, P. W. 507 van Eck, E. 61 van Oyen, G. 2 van Unnick, W. C. 360 Venetz, H.-J. 315 Vermes, G. 130, 291f. Vette, J. 70
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Via, D. O. 124 Vielhauer, Ph. 112, 114, 170 Vogler, W. 130 von Martitz, W. 149 Voorwinde, S. 59 Vorster, W. S. 211 Vouga, F. 288 Wagner, Th. 143 Walsh, R. 31 Walter, N. 328 Wasserman, T. 212f. Watson, F. 156, 159 Weber, R. 192, 374 Weder, H. 217 Weeden, T. 115f., 118, 141, 142, 159, 169, 335 Wege, S. 8 Weihs, A. 1 Weinreich, O. 436 Weiss, W. 201, 340, Weissenrieder, A. 108 Wendt, F. 108 Wentling, J. L. 130, 134f. Winko, S. 8 Winn, A. 122f. Witherington, B. 244, 252, 315, 351 Wolf, W. 454 Woolf, G. 120, 241, 438 Wolter, M. 210 Wrede, W. 90, 113, 156, 158f., 162 Zager, W. 301, 303 Zapf, H. 8 Zawadski, R. 131 Zenger, E. 8 Zerweck, B. 46 Ziegert, V. 302 Ziegler, J. 239 Zimmermann, H. 323 Zimmermann, J. 385 Zimmermann, R. 163, 296, 308, 319 Zmijewski, J. 163, 166, 167 Zwick, R. 14, 45
Sachregister Abba/Vater s. Gott(es), als Abba Abwesenheit (Jesu) 323, 510–512 Achronie (Erzählreihenfolge) 96f. Adressaten s. Rezipienten Aktantenmodell 49, 77, 84f., 179, 194 – Aktanten/dramatis personae (engl. actors, agents) 49 – Handlungsrollen 194, 198, 208, 248, 282, 286, 352, 362, 382, 415, 421, 459 – Handlungsrollenmodell (Eder) 54, 77 – methodische Schwächen 77, 248, 382 Aktion s. Figur, Verhalten Aktionsraum s. Raum, Aktionsraum Allegorie/allegorische Auslegung/ Allegorese 18f., 23, 346, 415, 418, 463f. – analogia fidei (Luther) 18 Anachronie 97–100, 234, 236, 247, 269, 508 – diegetisch/metadiegetisch 97, 99, 234, 508 – explizite/implizite 99f., 224, 234, 235, 236, 415f. – interne/externe 98, 99, 247, 254, 269, 508 – kompletive/repetitive 98f., 236, 247, 395, 404, 416 – komplette/partielle 98, 99 – objektive/subjektive 97, 99 – Analepse 97–100, 254, 395, 404, 415f. – Prolepse 97–100, 224, 234f., 236, 247, 269 – zuverlässig/unzuverlässig 99f. Analepse s. Anachronie, Analepse
Anthropologie/antikes Menschenbild 457, 459–462 Anfang einer Erzählung s. Handlung, Anfang Angelophanie 240, 329f., 369, 378, 384 Angst s. Furcht/Angst Antagonist s. Figur, Antagonist Antijudaismus s. Juden, Antijudaismus Antipathie s. Sympathie/Antipathie Applikation/Applikabilität 2, 18, 48, 74f., 259, 271, 274, 311, 461, 465, 470, 512 Apostel (als Autoritäten) 269f., 319, 335, 480, 485, 500, 502 – Martyrium 390 Aretalogie 124 Aristoteles 79, 124, 188, 199–205, 218, 412, 476, 492, 522, 523 Audienz/Audienzbericht 279, 307, 325, 327, 330, 485 Auferstehung 249 – Auferstehung Jesu 219, 236–238, 240, 295, 306, 309, 325, 370, 429, 475, 491, 498, 505, 507, 508, 511, 514, 524 – Auferstehungs-/Auferweckungsaussagen/-formeln 236, 309 – Auferstehungserwartungen 235, 264, 445, 511 – Auferstehungsglaube 325, 491, 511, 524 – als Rehabilitation Jesu 240, 295, 306, 370, 475, 498, 514, 524 – als Schlüssel zum Personenverständnis Jesu 491, 505, 507, 508 – nach drei Tagen 236, 237, 238, 429 – Tag der Auferstehung/Tag des Herrn 239
Sachregister Aufmerksamkeit, Aufmerksamkeitslenkung 16f., 23, 39, 69f., 72, 73, 76, 99, 101, 201, 202, 222, 234, 238, 242, 243, 271, 273, 291, 317, 369, 382, 440, 468, 470, 500, 511, 525, 526, 528f., 531 Augustus 121f., 149 Auslegungspluralismus s. Methodenpluralismus Aussatz, Aussätzigkeit 431, 435–437, 439, 497, 528 Außenperspektive s. Perspektive Autor/Erzähler – allwissender (omniscient narrator) 223 – Autor als Erzähler 31f., 210 – Beteiligung 32f. 209f. – Er-Erzähler (third-person narrator) 32, 33, 209, 210 – evaluativer Standpunkt (evaluative point of view) 32, 182f., 196 – expliziter vs. verborgener (overt vs. covert) 206, 209, 212 – extra-, intra-, homo-, heterodiegetisch s. Erzählung – Ich-Erzähler (first-person narrator) 32, 209 – inhaltlicher Standpunkt/„markinische“ Christologie 207f., 214, 220f., 310, 336, 378, 399, 457, 469, 474, 481, 490, 493, 494, 504 – intradiegetisch 33 – impliziter/implizierter (implied author) 27–29, 185 – als kognitives Modell 30f. – Kommentare 36, 39, 45, 57, 64, 91, 99f., 142, 206, 210–212, 221, 225, 228, 251, 266, 270, 275, 317, 333, 367, 386, 410, 425, 449, 454, 465, 467, 491, 493, 503, 516, 523, 526, 532 – Motivation 176f., 269, 363, 364f. – raumzeitlicher Standpunkt 210 – realer/historischer Autor („Markus“) 25 – Sprache und Sprachfähigkeiten 211 – unbeteiligter, beteiligter 32, 33, 209f.
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– unzuverlässiger (unreliable narrator) 46, 266 – verborgen 212 – Wir-Erzähler 32, 209 – Wissen 210f., 464 Autoritäten (Figurengruppe) s. Figuren/ Figurengruppen Bedürfnispyramide (Maslow) 65 Bethsaida 128, 271f., 399, 464 Bewusstseinsstrom (stream of consciousness) s. Rede, Bewusstseinsstrom Bezeugungsbreite s. Quellenbeurteilung Bildwort 234f., 264, 277, 416, 419f. Biografie 201 – autobiografische Berichte bei Paulus 209 – Idealbiografie 125 – „Evangelium-Biografie“ 125 – Kaiserbiografien 125, 442 – Vitenliteratur 118, 124, 125, 442 – qei`o~ ajnhvr-Viten 113 Blasphemie(vorwurf) 186, 237, 250f., 295f., 299, 306, 313, 319, 362, 365, 409, 443, 451, 473, 477, 479, 481f., 531 Blending Theory 20–25, 391f. – Backward Projection 21 – Completion 21, 24, 391 – Cross-Space Mapping 21 – Elaboration 21, 24 – Input Space 21, 24, 391f. Blindheit 58f., 74, 128, 160, 271, 273, 278, 280–282, 285, 368, 399, 430f., 439–443, 486f., 497, 510, 526 Blockcharakterisierung s. Figur, Blockcharakterisierung bottom-up-Verstehen 14f., 17, 31 Cäsarea Philippi 126f., 152, 265, 336, 464 Charakter, Charakterisierung s. Figur, Charakter Christologie – „der Begegnung“ 282, 487, 528 – Corrective Christology 71, 115f. – Kyrios- 405–454, 498 – Leidens- 163, 169
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Sachregister
– – – –
Lehrer- 157, 162 narrative 179, 183, 185, 194, 496 Propheten- 157, 162, 310, 490 Sohn-Gottes- 115, 157, 162, 163– 168, 228, 310, 473, 490 – Menschensohn- 157, 162, 168–173, 310, 473, 490 Christus 167f., 169, 172, 173, 183, 185, 220–222, 268f., 384, 399, 406, 411, 458, 474, 504, 510, 512 cognitive turn, kogntive Wende 7–25, 137, 173, 191, 194f. Conceptual Blending s. Blending Theory
Dämonen s. Figuren/Figurengruppen im Markusevangelium Dämonenaustreibung/Exorzismus 247, 285f., 288, 337, 363f., 413–417, 419, 421, 422f., 424f., 431, 439, 462, 497, 525 David 125, 243, 279, 297f., 304, 345, 351f., 486, 488, 528 default value 12 Diegesis (dihvghsi~) 33f., 212 Distanz s. Rede, Distanz Divus filius 121–123, 149 Drama, Dramatisierung 124, 199, 308, 346, 482 Elia, Elia redivivus 20–24, 116, 118, 125, 130–136, 150f., 153–155, 198, 379–405, 519f., 530, 531 Ellipse 100f., 237, 359 Emergenz 10, 17–24, 48, 68, 71, 85, 86, 126–130, 137, 140, 141, 142, 144, 162, 175, 182, 191, 220, 263, 307, 310, 314, 379–454, 493–499, 523 – markinische Christologie im Kern emergent 310, 379–454, 493–499, 523 Emotionen s. Figuren, Gefühle/Emotionen Empathie (Aufbau beim Rezipient) 38, 40, 48, 58, 74, 275, 322, 464 Empfänger s. Rezipient Enzyklopädie (U. Eco) 9 Epiphanie 117, 509
Episode, episodenhafter Stil 90–94, 222, 288, 407 Erbarmen (Gottes/Jesu) 326–328, 330, 409, 424, 425f., 428–435, 497, 505 Erinnerungsnähe s. Quellenbeurteilung Erzählabsicht s. Autor/Erzähler Erzähldistanz 33–38 Erzählgeschwindigkeit/-tempo 100f. Erzähl-/Kommunikationsebenen 20, 27, 88 Er-Erzähler s. Autor/Erzähler, ErErzähler Erzählmodus 32, 33–40 Erzählperspektive s. Perspektive Erzählte Welt – Fantasiewelt/Fantasy World (F-World) 88 – Intentionswelt/Intention-World (I-World) 87, 254 – Pflichtenwelt/Obligation-World (O-World) 87, 254, 466 – tatsächliche Welt/actual world (AW) 87f., 479, 492, 500 – textuelle Referenzwelt/textual reference world (TRW) 87f. – textuelle tatsächliche Welt/ textual actual world (TAW) 87f., 479, 500 – Wissenswelt/Knowledge-World (K-World) 87, 254, 466, 472, 480 – Wunschwelt/Wish-World (W-World) 87, 254, 466 Erzählung – autodiegetisch 32 – Frequenz 101f. – heterodiegetische 32 – homodiegetische 32 – iterativ 101f., 242, 285, 335, 364 – multi-singulative 102 – Raffung 100, 280, 285, 341, 428, 430, 435, 501 – repetitive 100–102, 236 – singulativ 102 – vari-singulativ 102 erzählte Zeit 96, 98, 100, 101, 510 Erzählzeit (discourse time) 92, 96, 100f. Evangelium(sverkündigung) 8, 218, 286, 332, 336, 386, 419, 472, 480,
Sachregister 485, 503f., 505, 507, 509, 510, 512, 513f., 527 Exegese s. historisch-kritische Methode Exorzismus s. Dämonenaustreibung/ Exorzismus Extrempunktregel s. Raum, Extrempunktregel Familie 62, 67, 376f., 466 Feministische Exegese 104, 271 Figur – abgeschlossene (Martínez/Scheffel) 49 – als mentales Modell/Bild 49–52, 203f. 266, 268, 273, 278, 340, 351, 379, 380, 387f., 412, 427, 494, 500f., 517, 527 – alternative 76, 289 – äußere Attribute 55, 61, 232, 272, 278, 301, 312, 337–340, 401 – als Aktant s. Aktantenmodell, Handlungsrollen – Antagonist 77, 84, 352 – Bewegungs- und Raumverhalten 55, 61, 331, 529f. – Blockcharakterisierung 70, 380f., 386, 498 – Charakter 45, 55–57, 61, 200, 373– 378, 421, 444, 445, 492, 497, 506, 515, 529 – dynamische vs. statische 72, 208, 312, 458 – „Eigenleben“/„subjektive Wirklichkeitserfahrung“ 34, 207 – Episodenfiguren 74, 270–289 – Figurenbestand/Figurenensemble 91, 271, 288, 359 – Figurenkonzeption 71–75, 203–205, 312, 403 – Figurenmerkmale 54–67, 312–378, 529 – Figurenmerkmale, Ähnlichkeit/ Unterschiede 23, 75f., 204, 391, 440 – Figurenrede s. Rede, Figurenrede – Figurengedanken s. Rede, Gedankenwiedergabe – Figurenvergleich 205, 233, 301, 311, 312, 322, 379–453, 519, 525, 530f.
615
– flat character vs. round character 72, 181 – Gefühle/Emotionen 38, 40, 55, 59f., 67, 254, 260, 272, 291, 297, 312, 321, 326–330, 364, 428, 435, 459, 511, 529 – Geschlecht s.o. unter Äußeres – Haupt-/Nebenmerkmale/Wichtigkeit einzelner Figurenmerkmale 73, 154, 204, 312, 321, 493, 520, 530 – Hauptfigur (Protagonist) 32f., 73, 77, 217, 220, 286, 289, 290, 297, 501, 515, 523 – Hintergrundfigur (backstage character) 222, 289 – Hilfsfigur (ficille character) 222, 248, 289 – Identität 55, 69–71, 493–499, 525, 527, 529, 531f. – individuell/Individualität 12, 271f., 460, 470, 501 – konkomitante 76, 260 – Kontrastfigur (foil character) 218, 324, 348, 352, 374, 375, 379, 436, 450 – Motivation, Intention 50f., 55, 65– 67, 187, 201, 249f., 254f., 313, 363– 373, 476, 481f., 493f., 495f., 505, 529 – Nebenfigur (minor character) 1f., 32, 257, 270f., 289 – Parallelfigur 75, 407–410, 412, 417–419, 428, 432, 436, 441f., 472, 475, 477, 479, 484, 488, 493–499, 501f., 503, 506, 514, 519, 524, 529, 530, 531 – Persönlichkeitskern 70, 154, 259 – Pflichten 50, 55, 64f., 87–89, 254, 256, 313, 354–356, 358, 364, 466, 475, 483, 529 – Randfigur (walk-ons) 222, 248, 289 – Schaufigur (card) 271, 289 – Schicksal einer Figur 43, 82, 87, 218, 401, 465 – soziokulturelles Umfeld 55, 61–64, 312, 340–344, 529 – Standpunkt, Meinung 32, 55, 57, 312, 313–321, 529
616
Sachregister
– Verhalten, Verhaltensweise 55, 60f., 73, 75, 312, 330–337, 529f. – Wahrnehmung 39f., 41, 46f., 51, 55, 57–59, 312, 321–326, 529f. – Wichtigkeit 272, 460 – Wissen/Unwissen 64, 313, 344–354, 472, 479, 483, 515, 529f. – Wünsche, Bedürfnisse 65, 313, 356–363 Figuren/Figurengruppen im Markusevangelium (Auswahl) – Autoritäten, politische 201, 212, 234, 248, 252–259, 295–297, 299f., 305f., 313, 316f., 326, 328, 330, 338, 343f., 346, 354f., 358, 365f., 370f., 376, 379, 407, 409, 411, 432, 450f., 461, 467, 473–483, 491, 493f., 506, 508, 514, 522, 525f., 532 – Autoritäten, religiöse 201, 212, 234, 240, 248–252, 259, 260, 273, 284, 289, 293, 295–297, 299f., 305f., 313, 316f., 319f., 326, 238, 330, 343f., 346, 354f., 358, 365f., 370f., 376, 379, 407, 409, 411, 414, 425, 432, 435, 437, 450f., 461, 467, 473–483, 491, 493f., 506, 508, 514, 522, 525f., 527, 531, 532 – Bartimäus 273, 278–282, 307, 470, 475, 482, 485, 486f., 489 – Bedürftige 46, 72, 77, 289, 330, 334, 435, 444, 460f., 469f., 471, 473, 509, 522, 525, 528 – Frauen 1f., 237, 239f., 244, 265, 306, 335, 344, 411, 508–510, 514 – Menge, Volk 36f., 60, 249, 262, 272, 280f., 288f., 297, 329, 341, 365f., 389f., 402f., 420, 425f., 428– 430, 449, 469, 471, 478, 483f., 487, 491, 498, 514, 530 – die Syrophönizierin 270f., 273–278, 282, 342, 379, 409, 420, 423, 424, 430, 470, 478, 528 Fokalisierung s. Perspektive Fragmentarität 24, 292, 385 Frames/Scripts (kognitive Grundkategorien) 11–14, 22, 24, 85, 98, 100, 143, 192, 234, 258f., 428, 444, 485 – instrumental scripts 13, 258, 444
– narrative scripts (Genrevorgaben) 13, 192, 485 – personal scripts 13 – situational scripts 13, 428 Frequenz s. Erzählung, Frequenz Funktion 8, 71, 80, 81f., 83, 204, 513– 516 – Bilanzierungsinteresse 515 epistemologisch 514f. – ethisch-didaktisch 515 Galiläa 218, 241, 247, 265, 330, 333, 335, 336, 340, 395, 413f., 435–437, 477f. Gattung/Gattungstheorie 11, 79f., 113, 121, 123–126, 137, 140, 288, 330, 333, 423, 504 Gebet 63, 358–362, 402, 417, 422–424, 438 Gebote – Alleinverehrung Gottes 313f., 406, 409, 450f., 488, 497f. – Doppelgebot der Liebe 450–453 – Elternehrung 316f., 445f. – Frage nach dem höchsten Gebot 313f., 375, 450–452 – Erfüllung, Unmöglichkeit der 445– 447 – Korban-Schwur 317 – leichte/schwere Gebote 450 – Opfergebote 453 – pharisäische Satzungen 315f. – „zehn Gebote“ 445f. Gedächtnis s. Lesegedächtnis Gegenspieler s. Figur, Antagonist Geistverleihung 117, 167, 227, 229, 344, Gemeinde, markinische s. Rezipient, intendierter Geschichtsschreibung s. Historiographie Gesetz (des Mose)/Tora 180, 317, 319f., 448, 467, 492f., 515 Gethsemane 265, 303, 326, 355, 358– 363, 377, 378, 463, 465, 495, 506, 527 Glaube – an die basileiva tou` qeou` 334 – als Beziehung 433, 511, 513
Sachregister – fides qua (creditur) 275, 278, 280f., 282–285, 325 – fides quae (creditur) 268, 335, 368, 373, 406, 488, 490, – Glaubensgewissheit 278, 433, 512 – an Gott (allein) 288 – an Jesus (Christus) 275, 287f., 313, 334, 506 – als Werk Gottes (opus dei)/ Unfähigkeit des Menschen 333f., 360, 372, 445, 510 – Zuspruch 284, 287, 289, 433 Gleichnis 26, 33, 88, 261, 263, 265, 277, 329, 331–334, 345–347, 361, 363, 366–368, 400, 414, 492, 494, 496, 499, 501–503 Gott(es) – endzeitliches Kommen als Kyrios 225f., 232f., 300, 384–386, 388f., 396, 408, 412, 415f., 420, 430, 435, 437f., 441f., 443, 471, 473, 476, 484, 497, 499, 512 – Erscheinung, Theophanie 322f. – Herrlichkeit 322, 337 – (Königs)Herrschaft 247, 249, 282, 288, 324, 327f., 329, 332, 336, 341, 351, 356, 386, 394, 396, 399, 412, 507 – Selbstvorstellungsformel 323 – als der „Stärkere“ 388–390, 394, 396, 403, 408, 411f., 414f., 470, 476, 484, 499 – Wille 235, 299, 319f., 322, 358, 361, 369, 371, 374–378, 426, 444, 453, 487, 493–495, 515, 529 Gottesknecht 8, 153, 163, 165, 229, 236, 300–302, 304–306, 344, 362, 471 Grenze s. Raum, Grenze Handlung – Handlungsanfang 94f., 201, 214, 234, 240f., 250, 260 – Antizipation der Handlung durch Rezipient/Rezeptionserwartungen 35, 60f., 78f., 88, 94, 95f., 359, 473f., 479, 492, 503, 504, 508 – Handlungsalternativen 81f., 85, 89
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– Handlungsdarstellung 96–102, 200– 202 – Handlungsende 94f., 201, 214, 246, 507–513, 514 – Handlungskern (kernel) 93 – Handlungsknoten 93, 293, 358, 399 – Handlungsstränge 90–94, 293, 500– 507 – Handlungsverlauf 14, 93, 355, 379, 400, 409 – Haupt- und Nebenhandlung (Wichtigkeit) 92f., 250, 369, 500 – Verknüpfung 16, 17, 79, 81, 89–94, 166, 293, 379, 440, 502 – – sandwich arrangement/stories 89f., 379 – – Verknüpfungsstärke (S. Finnern) 91, 173, 203, 255, 358, 512 Handlungsschema 79–85 – gattungsspezifisch (V. Propp) 80 – thematisch (C. Lévi-Strauss, A. Greimas) 83–85 – triadisch (C. Bremond) 81–83, 179, 194, 198 Hauptmann/Centurio 37f., 146, 166, 171f., 206, 214, 257, 259, 478f., 488f., 491, 514, 527 Heiden 229, 257, 274–277, 300, 315, 318, 327, 420, 424, 430, 437, 455, 478, 488, 513, 528 Heiliger Geist 230, 246, 389f., 414f., 512 Held s. Figur, Protagonist Herodes Antipas 46, 64f., 76, 252–255, 256, 289, 340, 393, 396f., 403, 426, 475, 480, 483, 484, 491, 492, 514, 515, 526, 530 heterodiegetisch s. Erzählung, heterodiegetisch Himmel/Himmelsstimme 16, 57f., 165, 257, 390, 428, 438, 505 Hintergrunderzählung 94, 236, 358 – narrative anchors (Dancygier) 94 Historiografie 124, 202 historisch-kritische Methoden – Begriffs-/Motivgeschichte 143, 347, 520
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Sachregister
– Formgeschichte/Formkritik/ Gattungsanalyse 110, 137, 325, 330, 333, 423 – Literarkritik 176 – Realia/Analyse von Realien 108, 143 – Redaktionsgeschichte/-analyse 107, 136, 141, 155–177, 179, 521 – Religionsgeschichte 106–155, 163, 196, 520 – Sozial- und Zeitgeschichte 108, 123, 143, 196, 520 – Textkritik 190, 212–214, 220, 435f. – Traditionsgeschichte 124, 131, 133, 144, 163, 165, 167, 171, 183, 193, 523f., 524f. – Überlieferungsgeschichte 155, 176, 227, 288 homodiegetisch s. Erzählung, homodiegetisch Hörer s. Rezipient Humor 14 Identifikation 22, 38, 69, 126, 131–133, 135f., 147f., 153, 168, 217, 226, 232f., 252f., 298, 302, 372, 380f., 385f., 388f., 391, 393, 396, 400, 408–411, 420, 438, 460, 475–477, 483f., 488, 497–499, 530 Identifikationsfigur(en)/Vorbild für Rezipient 74f., 273, 279, 281–283, 328, 347, 355, 424, 461–469, 492, 506, 515, 532 Identität s. Figur, Identität Ideologischer Standpunkt s. Autor/ Erzähler, ideologischer Standpunkt Illusion 270, 454f. Illusionsstörung 454f. impliziter Autor s. Autor/Erzähler, impliziter impliziter Leser s. Rezipient, impliziter Leser indirekte Rede s. Rede, indirekte Inferenz/Inferenzprozesse 14–17 Informationsverdoppelung (J. Vette) 70, 207, 243, 251, 258, 262, 321, 369, 370, 410, 474, 500, 514, 523, 526
Informiertheit 44, 465, 475, 477, 478f., 481, 491, 503, 515 Innensicht s. Perspektive, Innensicht innerer Monolog s. Rede, innerer Monolog instrumental script s. Frames/Scripts Intention – des Autors s. Autor/Erzähler – einer Figur s. Figur Interpretation, Texterklärung (Methode) 104, 123, 136, 139, 140, 141, 142, 144, 177, 196 Intertextualität – radikale Intertextualitätstheorie (J. Kristeva) 107 – analytisch/Text-zu-Text-Bezug 68, 107f., 133, 135, 146, 153, 175f., 187f., 189, 225f., 228f., 295, 325, 345, 384, 436, 480, 496 intradiegetisch s. Erzählung, intradiegetisch Ironie, ironisch 118, 164, 174, 254, 338, 397, 402, 421 Jericho 13, 127, 280, 349 Jerusalem 249, 252, 280, 289, 313–315, 317, 330, 336, 340, 345, 349f., 351, 358, 387, 414, 436, 463f., 472, 477f., 482, 488 Jesus als Figur im Markusevangelium (einzelne Merkmale in Auswahl) – Alter 339 – äußere Attribute 337–340 – Charakter 373–378 – Gefühle 326–330 – Gehorsam (freiwilliger) 303, 358, 364f., 372, 495, 506 – Motivation 363–373 – Pflichten 354–356 – soziokulturelles Umfeld, Raum 312, 340–344 – Standpunkt, Meinung 313–321, 485f. – Verhalten, Verhaltensweise 330– 337 – Wahrnehmung 321–326 – Wissen 344–354 – Wünsche, Bedürfnisse 356–363
Sachregister Johannes der Täufer 20–25, 57f., 65, 98, 131–124, 135f., 141, 153–155, 216–218, 225–227, 232f., 253f., 256, 379–405, 411, 415, 475, 480, 483, 492, 498f., 505, 524, 526, 530 Jona 379, 418 Juden 276–278, 316, 327, 401, 424, 430, 478 Jüdischer Krieg 129f., 180, 209f., 463 Jünger s. Figuren/Figurengruppen im Markusevangelium Jüngerunverständnis(motiv) 90, 118, 158, 161f., 259, 269, 277f., 328f., 363, 369, 399, 418, 441, 486, 500– 505, 515, 529 – als Nebenhandlung 90, 259, 369, 500 Kaiserkult/römische Herrscherideologie 119–130, 149, 152, 420, 472, 456 Kategorisierung(sffekt) – Entkategorisierung 71, 326, 355, 409, 497, 521 – Individualisierung 71, 300, 326, 393, 498, 521 – Personalisierung 71, 521 Kausalgeschichte (Handlung) 60, 66 Kern (kernel) s. Handlung, Kern Kinder – als Figurengruppe 271, 459, 470 Kinderlosigkeit 431f. Königsherrschaft s. Gott(es), (Königs)herrschaft Kognitive Wende s. cognitive turn Kohäsion/Kohärenz Kohärenzsignal 420 Komik s. Humor; Ironie Kommentar – des Erzählers s. Autor/Erzähler – der Figuren s. Figuren Kommunikationsebenen s. Erzähl-/ Kommunikationsebenen Kommunikationsmodell 26f. – nach S. Chatman 26–32 – narratee (Erzähladressat) 26 – kognitiv präzisiert (S. Finnern) 30– 32
619
Komposition, Kompositionsanalyse 136f., 141f., 156f., 168, 170, 174, 175, 179, 186, 188 – methodische Unzulänglichkeiten 136f., 175 Konflikt/Konfliktverlauf – Gemeindekonflikt (historisch) 108, 112, 115, 123, 180 – narrativ inszeniert 35, 42, 77, 95, 125f., 127f., 179f., 181, 183, 234f., 250f., 254, 256, 259, 260f., 264f., 266, 281, 288, 289, 291, 293, 296, 299, 309, 315, 317, 320, 329f., 343, 346, 355, 358, 370, 377f., 409, 411, 437, 449f., 458, 461, 466, 473f., 475, 476, 481, 483, 493, 505f., 508, 510, 515, 525f., 532 Konstruktivismus, radikaler 10 Kreuz, Kreuzigung 16, 37, 60, 68, 98, 112f., 114f., 116f., 119, 123, 125f., 129f., 134, 160, 166, 167, 169, 194, 237, 240, 251, 256–259, 265, 268f., 294, 304, 305, 307, 325f., 328, 363, 372f., 380, 390, 400–404, 411, 443, 463, 383–485, 488f., 498, 504–506, 514, 524, 527, 529, 530 Lahm, Lahmheit 285, 430f. Leerstelle/Inferenzstelle 12, 50f., 68, 98, 133, 139, 196, 239, 449, 460 Lesegedächtnis 14–17, 196, 204, 231 271, 340, 399, 469, 520 Leser s. Rezipient Leserlenkung s. Aufmerksamkeit Linguistik 9,19, 157, 179, 191–194, 195, 517, 521 Literarkritik s. historisch-kritische Methoden, Literarkritik Literatur- und erzählwissenschaftliche Ansätze in der Markusexegese 177– 194 – Erzähltextanalyse 178f., 185–191 – Linguistische und semiotische Ansätze 191–194, 517 – Narrative Criticism 178, 179–185, 499, 522 – Rezeptionsästhetik 185–191, 521 Lücke 98f., 246, 254, 344
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Sachregister
Markus s. Autor/Erzähler Menschensohn Messias, königlicher 267f., 320, 338, 354, 471, 482, 487, 488, 506, 514 Messiasgeheimnis 113, 500 – als Handlungsstrang 500 Metalepse 100, 390, 454, 455, 465 Metapher 17, 19, 23, 133, 361, 368, 390 Methoden – Pluralismus/Vielfalt 2, 103f. – Vergleich und Vereinbarkeit 104, 136–155, 173–177, 194–198 – Synchronie/Diachronie 4, 138, 178f., 185f., 187f., 190 Mimesis (mivmhsi~) 33, 212, 274, 337, 455 Modell-Leser s. Rezipient Modus s. Erzählmodus Mögliche Welten – Possible Worlds Theory s. dort – Theorie möglicher Welten s. dort Monolog s. Rede Moral 249, 253, – moralische Bewertung 397, 410f., 483, 526, 530 Mordplan 201, 250, 252, 289, 299, 313, 315, 321, 349, 365, 409, 411, 414, 473, 478 Motivation s. Figur, Motivation Multiperspektivität s. Perspektivenstruktur, Multiperspektivität Mysterienreligionen 109, 405 Mythem (C. Lévi-Strauss) 83f. Nachfolge, Leidensnachfolge 264, 282, 346, 378, 447f., 459, 485 narratee s. Kommunikationsmodell Narrative Criticism s. Literatur- und erzählwissenschaftliche Ansätze Narrative Ebenen s. Erzähl-/Kommunikationsebenen Narratologie – feministische 11 – historische 8, 23f. – kognitiv (Grundprinzipien) 8–25 – postkolonial 11 – russischer Formalismus 79f.
– Strukturalismus 25, 49, 78f., 79–85, 96–102, 136, 179–185, 195 Nazarener 243f., 278, 411 New Criticism 178 New Literary Criticism 49, 178 Nullfokalisierung s. Perspektive, Nullfokalisierung Offenbarung 17, 159f., 231, 263, 269f. 323, 346, 368, 372f., 407, 433, 443, 476, 479, 481, 484, 486, 488, 503 Parabeltheorie 158, 160, 162, 363, 365–367, 506 Paradigmenwechsel s. cognitive turn Paulus – als Autor/Erzähler 209 – (Bekenntnis)Traditionen in den paulinischen Briefen 241, 306, 309f., 386, 406f., 478, 488, 498, 505f., 508 Pause 100f. „Präexistenz“/Jesu Sohnschaft vor Zeiten Prophetenviten s. Biografie Persönlichkeitskern s. Figur, Persönlichkeitskern Personengeheimnis 161, 232, 282, 369, 373 404, 441, 485, 487, 508 Perspektive (point of view) – der Autoritäten 248–259 – der Dämonen 241–248 – Fokalisierung, fokalisiert 38–40, 207, 223, 273, 359, 429 – Gottes 223–241 – Innensicht 260, 397, 429, 464, 466, 491, 502 – der Jünger 259–270 – Nullfokalisierung 39 – Wahrnehmungszentrum 38–40, 223, 231, 275, 278, 359, 461, 464, 502 – wichtiger Episodenfiguren 270–289 Perspektivenstruktur (A. Nünning/ V. Nünning) 40, 43, 44, 513 – Anzahl der Perspektiven 43f., 469f., 491 – emergente 490, 523 – Erzählordnung 43f., 476f., 491 – Explizität 43–46, 473f., 491
Sachregister – – – – – – – –
geschlossene 490f. Heterogenität 43f., 470–472, 491 Hierarchie 43f., 474f., 491 Informiertheit 43f., 478f., 491 Inhalt 43f., 481–485, 491 Multiperspektivität 43f., 191 Normativität 43f., 479–481, 491 offene/Polyphonie 185, 190, 196, 490f. – Quantität 43f., 475f., 491 – Verteilung, räumlich/zeitlich 43f., 477–479, 491 – Zuverlässigkeit 43f., 46f., 474f., 491 Perspektivische Interaktion 48, 134, 205, 206, 208, 458, 467, 468-493, 513f. Perspektivische Vermittlung 206–306 Petrus/Petrusbekenntnis 25, 37, 42f., 62, 93, 115, 127, 160, 169, 172, 206, 214, 220, 231–233, 237, 255, 260, 264–270, 290, 300, 368, 371, 373, 378, 404, 441, 464, 486, 495, 504, 526, 530 Pharisäer 64, 180, 248, 263, 297, 315f., 318, 347, 401, 487, 492, 515 Pilatus 65, 258, 304, 340, 474f., 526, Pluralismus s. Methodenpluralismus Plot Map 88f. Poetik 5, 199–205, 522 Polemik 115, 118, 128, 132, 142, 159, 200, 269, 299, 399, 485 Possible Worlds Theory (M. L. Ryan) 47, 51, 54, 82, 86–89, 154, 195, 206, 249, 465, 466 Postkoloniale Exegese 104 Poststrukturalismus s. Konstruktivismus, radikaler Pragmatik 9, 123, 156–159, 186, 191f., 195, 263, 418, 430, 436, 500, 503, 505, 508, 510, 521 Primäreffekt (primacy effect) 17, 70, 94, 95, 190, 227, 230f., 247, 251, 268, 319, 332, 382, 399, 408f., 413, 468, 476, 488, 491, 496, 498, 523, 524, 530 Primat der Synchronie/Diachronie s. Methoden, Synchronie/Diachronie Prolepse s. Anachronie, Prolepse Protagonist s. Figur, Protagonist
621
Psychologie – Alltagspsychologie 46, 51, 56f., 65f., 394, 472, 482, 489 – Kognitionspsychologie 9f., 12, 17 – Persönlichkeitstheorie 47f., 70, 492 – real-world strategy of sense making 47, 73, 469, 486, 504, 523, 527 – Tiefenpsychologische Exegese 304 – zeit- und kulturspezifisch 56f. Quasi-Buchtitel 222, 266, 286, 330, 485, 523, 526 Quellenbeurteilung, Kriterien 145–155, 471 – Erinnerungsnähe 145f., 148–152, 471 – Bezeugungsbreite 146f., 152f., 471 – Parallelität 147f., 153–155, 471 ratio cognoscendi ratio essendi Rätselwort/-rede 334, 367 Rätselspannung 308 Raum – Aktionsraum 61, 324, 342 – auktorial erzählter Raum 64 – Extrempunktregel (Renner) 62, 340 – Extrempunktregel (kognitiv) 62, 340f. – figural fokalisierter Raum 64, 253 – Gestimmtheit/gestimmter Raum 63, 335, 342, – Grenze 61, 275–277, 323, 341–344, 478 – Raumsemantik (J. Lotman) 62, 341– 344 – restitutive Grenzüberschreitung 62, 313, 343 – revolutionäre Grenzüberschreitung 62, 276, 313, 342, 343 – soziokulturelles Setting 63, 459 – symbolischer Raum 63, 238f., 275, 430 Rede – Bewusstseinsstrom (stream of consciousness) 34 – erlebte/freie indirekte 34, 36, 240, 325 – erzählte 34, 35, 250, 359, 473
622 – – – – – – –
Sachregister
direkte 34, 244, 359 Distanz 33–38, 250 Figurenrede 473 – Dämonen 242, 481 – Gott 225–227, 471 – Herodes 397 – Jesus 290, 321, 329, 332, 360, 429, 493 – – Jünger 260, 464 – – weitere Figuren(gruppen) 278, 339, 444, 487 – Gedankenzitat 34, 35, 250, 256f., 260, 265, 321, 449f., 473, 474, 502 – indirekte 34, 503 – innerer/erzählter Monolog 34 – Stiltrennung (E. Auerbach) 37f., 270 – transponierte 34, 36 – verbum dicendi, Markierung 36 – zitierte 34, 37, 240, 245, 321, 395, 397, 400, 473 – Zitatreihung 35 Reinheit/Unreinheit 282–284, 315–321, 338, 343, 420, 430f., 436, 452f., 497 Religionsgeschichte s. historischkritische Methode Religionsgeschichtliche Schule 106f., 109f., 148f., 347, 405 Rezenzeffekt (recency effect) 17, 70, 94, 251, 382, 465, 530 Rezipient – Aufmerksamkeit s. dort – Dispositionen s. Lesegedächtnis; s. Inferenz/Inferenzprozesse – impliziter Leser (inkl. Kritik) 8f., 27, 29f., 182, 185, 191, 195 – Modell-Leser 8 – ideale(r)/exemplarische(r) Leser/ Lesergruppe 8, 463, 465 – informierter Leser – intendierter Rezipient/Leser/Hörer (Definition) 8–17, 30f. – Involviertheit 458, 499–513 – Wissen s. Vorwissen Rezeptionsästhetik s. Literatur- und erzählwissenschaftliche Ansätze Rezeptions-/Wirkungsgeschichte 30, 150f., 228, 259, 293, 442 Rom 146, 150, 464, 472
runde Figur, s. Figur, flat character vs. round character Sabbat 101, 237f., 288, 297f., 314, 319f., 344, 365, 450 Sadduzäer 211, 248f., 251, 328, 449 Satan/Teufel 53, 113, 117, 233, 246, 414f., 424 – als Scheltwort für Petrus 169 Schema (vgl. Frames/Skripts) 11–14, 51, 71, 471, 496–498, 504 Schema Jisrael 405, 451, 453, 488, 498 Schicksal s. Figur, Schicksal Schluss einer Erzählung s. Handlung, Schluss Schreibprozess(forschung)/Textproduktion 301, 469 Schrift, heilige 248, 293, 302, 305f., 320f., 328, 401, 445, 471f., 499 – Schriftgelehrte(r) 288, 296, 313, 315–317, 328, 330, 337f., 374, 379, 413, 420, 448–454, 478, 480 – schriftgemäß/Schriftbelege 305f., 401, 403f., 476, 489, 499 Schweigegebote 233, 242, 306, 363, 400, 437, 439f., 476, 481, 505f. Scripts s. Frames/Scripts Semiotisches Quadrat (A. Greimas) 83f. Sendung 136, 231, 303, 335, 345–347, 351, 354, 372, 385, 387, 404, 495, 510 Sohn Davids 279f., 282, 306f., 320, 338, 352, 378, 487, 498 Setting 139, 273, 340, 427, 450, 456 – Primärsetting 340 situational script s. frames/scripts showing vs. telling 212 slot (Schematheorie) 12 Spannung 240, 289, 315, 325, 368, 373, 383, 394, 432, 479, 481, 502, 505, 507, 510 – Rätselspannung 310, 410f., 505 Spruchquelle (Q) 111, 113, 117, 172 Stellvertretung(stod) 302f., 305, 344, 361, 372, 504 Stimme(n) 35–37, 210, 212, 454f., 512 Streitgespräche 248, 250, 252, 265, 313, 315, 319f., 319–321, 332, 337
Sachregister Sühne(tod) 303, 305, 344f., 372 – sühneschaffendes Märtyrerleiden 301f. Sünde/Sündenvergebung 42, 189, 251, 288, 296f., 314, 319f., 341, 365, 387, 390, 413, 443, 481, 494 – als Prärogative Gottes 296, 319, 443 Summarium 285, 333, 338, 413 – als erzählwissenschaftlich unpräzise Kategorie 101 Symbol 126, 171, 480, 496 Sympathie/Antipathie 48, 57, 355, 474, 482, 491, 502 Synagoge 13, 60, 128, 151, 242, 244, 416, 435, 436 Syrien 459, 464, 472 Taufe 16, 40, 57, 112, 114, 117, 165, 169, 179, 181, 184, 190, 194, 228, 264, 329, 339, 344, 357, 387, 388– 390, 392, 414, 466 Täuschung 99 textimmanent, werkimmanente Interpretation 8f., 12, 27, 29, 36, 78, 86, 105, 138, 178, 180f., 183, 187, 189, 195, 223 Theios Aner (qei`o~ ajnhvr) 105, 108, 109–119, 120, 139, 141, 142, 144, 148, 149, 152 Theologie des Autors s. Autor/Erzähler Theorie möglicher Welten 86 Thronbesteigungsritual 114 Tiefenpsychologische Exegese s. Psychologie, Tiefenpsychologische Exegese top-down-Verstehen 14 Traditionsgeschichte s. historischkritische Methode, Traditionsgeschichte Überlieferungsgeschichte s. historischkritische Exegese, Überlieferungsgeschichte Überraschung s. Handlung, Überraschung unzuverlässiger Erzähler s. Autor/ Erzähler, unzuverlässig
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Vespasian 122f., 124, 127–129, 142, 149f., 152–154, 439, 442 Vereinbarkeit von Methoden s. Narratologie, Vereinbarkeit Vergessen s. Lesegedächtnis Vergleich s. Figur, Figurenvergleich; Intertextualität Verhalten s. Figur Verknüpfungsstärke 91f., 203, 255, 358, 512 vierfacher Schriftsinn – allegorischer Sinn 18, 512 – anagogischer Sinn 18 – Literalsinn 18 – tropologischer Sinn 18 Vollmacht Jesu 244–246, 249, 265, 295–299, 310, 319f., 324, 337, 342, 365, 377, 409, 410, 413, 416, 428, 439, 465, 498, 511 u. passim Vorwissen des Rezipienten (vgl. Frame/Script) 7–11, 11–14, 15, 24, 28, 31, 46, 48, 51, 52, 54–57, 61, 64, 78, 85, 95, 99, 101, 126, 130, 137, 143, 144, 175, 182, 191, 195, 196f., 198, 235, 268, 287, 288, 384, 393, 396, 427, 450, 453, 460, 479, 493, 501, 517, 520, 522, 523, 524 Wahrnehmung s. Figur, Wahrnehmung Welt s. erzählte Welt Weltwissen s. Vorwissen werkimmanente Interpretation s. textimmenente, werkimmanente Interpretation Werte und Normen/Wertesystem 312, 355f., 369f., 383, 475 Wiederkunft – des Elia 380, 393, 401, 403f. – Jesu 295, 336, 370, 511, 512 Wir-Passagen (Apostelgeschichte) 10, 209 Wirkung, intendiert 29, 78, 94, 456f. Wirkungsästhetik 9, 195 Wirkungsgeschichte s. Rezeptions-/ Wirkungsgeschichte Wissen s. Erzähler, Wissen; Figur, Wissen; Vorwissen des Rezipienten Witz s. Humor Wundergeheimnis 113, 158, 161