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German Pages [296] Year 2006
ΝΤΟΑ 58 Ute Ε. Eisen Die Poetik der Apostelgeschichte
Novum Testamentum et Orbis Antiquus Studien zur Umwelt des Neuen Testaments Herausgegeben im Auftrag der Stiftung BIBEL+ORIENT Freiburg Schweiz von Max Küchler, Peter Lampe und Gerd Theissen
Band 58
Academic Press Fribourg Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen
Ute Ε. Eisen
Die Poetik der Apostelgeschichte Eine narratologische Studie
Academic Press Fribourg Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 2006
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Veröffentlicht mit Unterstützung des Hochschulrates Freiburg Schweiz und der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau Die Druckvorlagen der Textseiten wurden von der Autorin als PDF-Datei zur Verfügung gestellt. © 2006 by Academic Press Fribourg / Paulusverlag Freiburg Schweiz Herstellung: Paulusdruckerei Freiburg Schweiz ISBN-13:978-3-7278-1553-9 ISBN-10: 3-7278-1553-1 (Academic Press Fribourg) ISBN-13:978-3-525-53961-3 ISBN-10: 3-525-53961-4 (Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen) ISSN 1420-4592 (Novum Testam. orb. antiq.)
Johann und Helen
Vorwort
Die vorliegende Untersuchung wurde im Juli 2002 als Habilitationsschrift an der Ruprechts-Karls-Universität in Heidelberg eingereicht und im folgenden Wintersemester als Habilitationsschrift angenommen. An erster Stelle gilt mein besonderer Dank Prof. Dr. Peter Lampe, der diese Arbeit in meiner Zeit als Assistentin an seinem Lehrstuhl an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel stets sehr unterstützt und gefördert sowie mit mancher Aufmunterung begleitet hat. Sehr zu danken habe ich weiterhin Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Gerd Theißen, der das Zweitgutachten übernommen und hilfreiche Anregungen gegeben hat. Gedankt sei auch Prof. Dr. Max Küchler für die geduldige Zusammenarbeit bei der Erstellung der Druckvorlage. Für fruchtbare narratologische Gespräche danke ich vor allem Prof. Dr. Hans Krah und der Forschergruppe Narratologie der Universität Hamburg. Einige meiner Thesen diskutierte bereitwillig die deutsche Sektion für Neues Testament der European Society of Women's Theological Research sowie der Assistentinnenkreis der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Mein Dank gilt auch Dipl.-Bibliothekar Rolf Langfeldt, der sich als Leiter der Bibliothek der Theologischen Fakultät in Kiel, stets überaus hilfsbereit zeigte. Bei der entsagungsvollen Tätigkeit des Korrekturlesens halfen insbesondere mein Vater Dipl.-Ing. Wolfgang Eisen, aber auch meine Schwester Prof. Dipl.-Ing. M.Arch. Anett Joppien und meine Freundin und Kollegin PD Dr. Silke Petersen. Dr. Axel Horstmann hat in zuvorkommender Weise die Durchsicht griechischer Texte übernommen. Bei der Formatierung und Erstellung der Register halfen mit großem Engagement meine Gießener studentischen Mitarbeiter Oliver Heun und Simon Schäfer. Ihnen allen sei herzlich gedankt. Die dichtesten Begleiter der Entstehung dieses Buches waren meine Kinder Johann und Helen. Obwohl sie - kaum sprachfähig - die Fertigstellung des Buches für nicht nötig erklärten, da es ihrer Meinung nach ausreiche, wenn Papa Bücher schreibe, ermöglichten sie mir zusammen mit ihrem Vater, Prof. Dr. Harry Oelke, dennoch den Abschluss des Manuskriptes. Ihre erfrischende Lebendigkeit erschwerte und versüßte zugleich die Zeit am Schreibtisch. Ihnen ist dieses Buch in Dankbarkeit und Liebe gewidmet. Frankfurt am Main / Gießen, im September 2005
Ute E. Eisen
Inhaltsverzeichnis
Vorwort I. Einleitung
7 13
A. Hinführung zum Thema B. Was ist Literary Criticism? C. Was ist Narrative Criticism? D. Schlaglichter der Actaerzählforschung E. Zielsetzung und Aufbau der Untersuchung
13 16 22 32 43
II. Methodologische Grundlegung der Narratologie
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A. Hinführung zur Narratologie 1. Was heißt Narratologie? 2. Zur Geschichte der Narratologie 3. Das 'Was' und das 'Wie' von Erzählungen a) Gerard Genette: Diskurs und neuer Diskurs der Erzählung (1972/1983) b) Mieke Bai: Narratology (1985/1997) c) Shlomith Rimmon-Kenan: Narrative Fiction (1983) d) Seymour Chatman: Story and Discourse (1978) 4. Zum Gegenstand der Narratologie 5. Konstitutiva der Narratologie B. Das Erzählen 1. Das Kommunikationsmodell narrativer Texte 2. Die Erzählstimme (narrator) a) Auf welcher Kommunikationsebene wird erzählt? (extradiegetisch versus intradiegetisch) b) In welchem Maß ist die Erzählerin am Geschehen beteiligt? (heterodiegetisch versus homodiegetisch) c) Grad der Involviertheit von homodiegetischen Erzählstimmen d) Grad der Explizität der Erzählstimme (neutral versus explizit) e) Zuverlässigkeit (reliability) der Erzählstimme f) Das Geschlecht der Erzählstimme 3. Die Erzähladressatln (narratee) 4. Zusammenfassende Auswertung: Die Erzählstimme(n) der Acta
44 44 45 49 50 53 56 57 59 62 63 63 72 76 77 79 80 88 88 90 95
Inhaltsverzeichnis
C. Die Erzählung 1. Zeit a) Erzählzeit und erzählte Zeit b) Dauer bzw. Geschwindigkeit der Erzählung c) Ordnung der Erzählung d) Frequenz bzw. Häufigkeit der Erzählung 2. Modus a) Die Erzählung von Ereignissen b) Distanz in der Erzählung von Worten c) Distanz in der Erzählung von Gedanken d) Fokalisierung
99 99 99 100 104 108 110 111 113 118 121
D. Die Geschichte 1. Ereignisse a) Lotmans Grenzüberschreitungstheorie b) Renners Extrempunktregel 2. Figuren a) Klassifizierung der Figuren b) Techniken der Figurencharakterisierung c) Figuren der lukanischen Welt
125 126 127 130 131 133 136 137
ΙΠ. Narratologische Analyse der Apostelgeschichte
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A. Der Anfang der Erzählung der Acta 1. Der Erzählanfang der Acta (Act 1,1-14) a) Summar: Das erste Buch (Act 1,1-3) b) Szene 1: Der Auferstandene kündigt die Geisttaufe in Jerusalem an (Act 1,4-5) c) Szene 2: Letzter Dialog des Auferstandenen mit seinen Jüngerinnen, Erhöhung, Deutung durch zwei Engel (Act 1,6-11) d) Summar und Pause: Rückkehr nach Jerusalem (Act 1,12-14) 2. Die Architektur der erzählten Welt der Acta 3. Zusammenfassung B. Die Mitte der Erzählung der Acta 1. Die Petrus-Cornelius-Erzählsequenz (Act 10,1-11,18) a) Petrus b) Szene 1: Die Vision des Cornelius (Act 10,1-8) c) Szene 2: Die Vision des Petrus und seine Aufnahme der Gesandten des Cornelius (Act 10,9-23a) d) Szene 3: Ereignisse in Cäsarea (Act 10,23b-48) e) Szene 4: Ereignis in Jerusalem (Act 11,1-18) 2. Grenzüberschreitung und Extrempunkt in Acta 10,1-11,18
141 143 143 146 148 157 161 168 169 169 170 172 175 177 181 183
Inhaltsverzeichnis
3. Die Erzählung vom so genannten Apostelkonzil (Act 15,1-35) a) Die Figur Paulus b) Szene 1: Der Streit in Antiochia (Act 15,1-2) c) Szene 2: Die Reise des Paulus und Barnabas nach Jerusalem (Act 15,3) d) Szene 3: Die große Versammlung in Jerusalem (Act 15,4-29).... e) Summar: Reaktion in Antiochia (Act 15,30-35) 4. Auswertung C. Das Ende der Erzählung der Acta 1. Die Rom-Erzählsequenz (Act 28,16-31) a) Szene 1: Ankunft des Paulus in Rom (Act 28,16-22) b) Szene 2: Pauli Basileia-Gottes-Verkündigung und die Unstimmigkeit unter den römischen Judaioi (Act 28,23-28) c) Summar: Paulus verkündigt die Basileia Gottes offen und ungehindert (Act 28,30-31) 2. Auswertung IV. Grundzüge einer Poetik der Apostelgeschichte A. Das Erzählen der Acta B. Die Erzählung der Acta C. Die Geschichte der Acta
187 189 193 195 195 201 201 202 205 206 210 215 216 219 220 221 224
Quellen- und Literaturverzeichnis
227
Stellenregister
265
Sach- und Begriffsregister
277
Autorinnenregister
287
Tabellen- und Schaubilderverzeichnis
293
I. Einleitung
Α. Hinführung zum Thema Wie unterschiedlich ein und dieselbe Geschichte erzählt werden kann, zeigt Raymond Queneau in seinem Buch Exercises de style (1947) 1 , indem er eine Geschichte in 99 Varianten erzählt. Auch das Neue Testament entfaltet eine Geschichte in vier großen Varianten. Es ist die Geschichte von dem Leben, dem Tod und der Auferstehung Jesu Christi. Die vier kanonischen Evangelien erzählen auf jeweils eigene Weise dieselbe Geschichte. In jedem der vier Evangelien wird die Welt etwas anders dargestellt, und das zeigt, dass Erzählen auch Weltentwerfen heißt. Die dargestellte, die erzählte Welt ist immer auch eine entworfene Welt. In erzählte Welten einzutauchen, diese in ihren Strukturen und Funktionsweisen zu erfassen, zu beschreiben und ihre Bedeutungen zu entschlüsseln, ist das Ziel der Erzählforschung bzw. der Narratologie. Sie hat ein methodologisches Instrumentarium entwickelt, das im Folgenden vorgestellt (II.) und an der Apostelgeschichte (II., III.) angewendet werden soll. Die Apostelgeschichte (Acta) ist neben den Evangelien und der Apokalypse eine der großen Erzählungen im Neuen Testament. Sie und das Lukasevangelium gehören zusammen. Sie setzt gewissermaßen dieses fort, und beide Bücher bilden die für die frühchristliche Literatur singulare Form eines erzählerischen Doppelwerkes. Die erzählte Welt des Corpus Lucanum steht im Zentrum dieser Untersuchung. Da dieses Oeuvre in zwei Büchern verfasst wurde, ist eine Konzentration auf eines dieser Bücher, auf Acta, gerechtfertigt. Das Lukasevangelium bleibt dabei stets im Blick. Grundsätzlich wird den Fragen nachgegangen, wer diese Welt bevölkert, was sich in dieser Welt ereignet (Geschichte bzw. story) sowie wer diese Ereignisse wem erzählt (Erzählsituation bzw. narrator / narratee) und wie sie erzählt werden (Erzählung bzw. discourse). Eine dieser Untersuchung zugrunde liegende These ist, dass das Corpus Lucanum erzählte Theologie ist. 2 Karl Löning formulierte 1997 treffend: "Erzählen ist für die lukanische Theologie die konstitutive Form des Redens von Gott. (...) Deshalb ist die erzählende Erinnerung die adäquate Form der Rede von Gott. Erzählen ist keine beliebige Verpackung für theologische Inhalte, die 1
36. ed., Paris 1959, deutsch: Stilübungen, zuletzt 1990. Vgl. vor allem Gaventa, Toward a Theology of Acts: Reading and Rereading, 1988, 146-157. So beispielweise jüngst auch Fitzmyer, Acts of the Apostles, 1998, 97, oder auch Jervell, Apostelgeschichte, 1998, 91: "Lukas ist Erzähler und kein systematischer Theologe", grundlegend Tannehill, The Narrative Unity of Luke-Acts. A Literary Interpretation, 2 vols., 1986, 1990. 2
Einleitung
14
in der Erzählung lediglich enthalten sind, z.B. in Form von Aussagen über Gott, über Schöpfung und Gottesherrschaft, Sünde und Erlösung und dergleichen, die entweder in den erzählten Geschichten von einer Figur geäußert werden oder vom Erzähler der Geschichten kommentierend beigesteuert werden, die aber auch außerhalb der Erzählung unabhängig von den erzählten und erinnerten Ereignissen ausgesagt werden könnten. Das in den theologischen Erzählungen Erzählte als solches, die Handlung, ist der theologische Inhalt."3 Die Geschichte selbst also, die Story, ist der theologische Inhalt, den es zu erforschen gilt, nicht etwa die Erfassung ihres theologischen Destillats, ihrer Gotteslehre, ihrer Christologie, ihrer Ekklesiologie oder ähnlicher theologischer Topoi. 4 Eine weitere These dieser Untersuchung ist, dass eine angemessene Form der Analyse einer solchen erzählten Theologie die Erzählanalyse ist. Die erzählte Welt des Corpus Lucanum, speziell der Acta, wird im Folgenden als eigenständiger Weltentwurf ernst genommen, ernst auch mit seinen Engeln, Geistern und dergleichen, und nach den Regeln der Erzählanalyse untersucht. Dabei werden weitgehend die traditionellen exegetischen Methoden wie Traditions-, Form- und Redaktionskritik sowie historische Rekonstruktionen außer Acht bleiben. Nicht nur das, es wird auch, wie es Hermann Hauser treffend formuliert hat, auf die "Jagd nach der phantomatischen 'Absicht des Schriftstellers' verzichtet" 5 . Die vorliegende methodologische Zielsetzung verdankt sich jedoch nicht einer Antithese zu historisch-kritischen und traditionsgeschichtlichen Fragestellungen, sondern ist gespeist von der Erkenntnis, dass die Analyse der Erzählung der Acta noch am Anfang steht und daher besondere Aufmerksamkeit verdient. Es sollte doch endlich gelingen, das sich zuweilen noch immer feindlich gegenüberstehende historisch-kritische und literaturwissenschaftliche Paradigma miteinander zu versöhnen. So sollten Fragen nach der narrativen Struktur und Strategie biblischer Texte, der verarbeiteten Traditionen sowie der möglichen Historizität der erzählten Ereignisse stärker dialektisch aufeinander bezogen werden. 6 Es kann im 21. Jahrhundert nicht mehr ernstlich das Interesse der Bibelwissenschaft sein, einen Graben zwischen Literaturwissenschaft und Exegese zu manifestieren. In diesem Zusammenhang sei auch daran erinnert, dass sich die Exegese als Textwissenschaft seit jeher auch in herkömmlichen historisch-kritischen Auslegungen klassischer Fragen der Literaturwissenschaft bedient hat und noch
3
Löning, Das Geschichtswerk des Lukas, 1997,11. Diese Erkenntnis ist für das Alte Testament bereits 1957 formuliert worden. Gerhard von Rad schrieb in seiner Theologie des Alten Testaments, die wohl als die bedeutendste des 20. Jahrunderts zu gelten hat, in Bd.l, 134f: "Die legitimste Form theologischen Redens vom Alten Testament ist (...) die Nacherzählung." 4
5
Hauser, Strukturen der Abschlusserzählung der Apostelgeschichte, 1979, 5. Vgl. dazu den Versuch von von Bendemann, ΔΟΞΑ und ΣΤΑΥΡΟΣ, 2001. Auch Merenlathi / Hakola, Reconceiving Narrative Criticism, 1999, 47, schreiben treffend: "In our opinion, an even closer relationship between the two approaches would be mutually beneficial. Learning how the Gospels work as narratives might indeed prevent historical critics from jumping to conclusions, as it comes to reconstructing the historical situation 'behind' the text. On the other hand, what historical criticism has to say about the origin of the Gospels might lead narrative critics towards a better understanding of what, in fact, going on in the narrative. A narrative analysis should be an integral part o/historical investigation, and vice versa." 6
Hinführung zum Thema
15
immer bedient, etwa bei der Frage nach der Intention des Autors, nach der Form eines Textes (Gattungskritik) sowie seiner Quellen und Traditionen (Quellen- und Traditionskritik). Mit den Ausdifferenzierungen der Literaturwissenschaft und der Bibelwissenschaft im 20. Jahrhundert sind sowohl innerhalb der Literaturwissenschaft als auch innerhalb der Exegese klassische Fragen und Methoden in die Krise und Kritik geraten und in diesem Zusammenhang immer wieder revidiert und ergänzt worden. Die beständige methodologische Entwicklung betrifft die interdisziplinär ausgerichtete Bibelwissenschaft ebenso wie die Literaturwissenschaft und ist ein fruchtbarer Prozess, den es voranzutreiben gilt. Eine Profilierung der erzähltheoretischen Herangehensweise steht in der deutschen exegetischen Diskussion noch aus, was die Konzentration auf eben diese in der vorliegenden Untersuchung begründet und rechtfertigt. Im Folgenden wird in einem ersten Hauptteil (II.) die erste ausführliche und längst überfällige deutschsprachige Einführung in die Erzählanalyse neutestamentlicher Texte am Beispiel des Corpus Lucanum mit besonderem Gewicht auf den Acta geboten und in einem zweiten Hauptteil (III.) anhand einer narratologischen Analyse zentraler Texte der Acta vorgeführt. In dieser Einleitung (I.) wird in aller Kürze der Rahmen einer neutestamentlichen Erzählanalyse skizziert. Sie ordnet sich in den größeren Kontext des Literary Criticism ein. Dieser umstrittene und zugleich vage Begriff soll im Folgenden erläutert werden, denn es handelt sich dabei gewiss nicht um die exegetische Methode der Literarkritik, wie eine wörtliche Übersetzung ins Deutsche suggerieren könnte. Es wird vielmehr gezeigt, dass Literary Criticism solche exegetischen Methoden umfasst, die im ausdrücklichen Dialog mit der modernen Literaturwissenschaft stehen (I.B.). Innerhalb dieses Großbereiches des Literary Criticism, das heißt einer literaturtheoretisch orientierten Bibelauslegung, ist die Erzählanalytische bzw. Narratologische Exegese dem Bereich des Narrative Criticism zuzuordnen. Es folgt eine Klärung des Begriffs Narrative Criticism. Dabei plädiere ich für eine Modifikation dieser Bezeichnung, die eine spezifisch exegetische Bildung darstellt, und schlage die international und interdisziplinär verständlichere Bezeichnung Narratologische Analyse vor (I.C.). In einem weiteren Schritt wird die Actaforschung des 20. Jahrhunderts beleuchtet, an deren Anfang und Ende die Entdeckung des Erzählers ,Lukas' steht (I.D.), um schließlich in einem letzten, knapp gehaltenen Abschnitt die Zielsetzung und den Aufbau der vorliegenden Untersuchung darzulegen (I.E.).
Einleitung
16
Β. Was ist Literary
Criticism?
"Die Wahrnehmung der Aufbrüche und Umbrüche in der anglo-amerikanischen Exegese ist ebenso faszinierend wie verwirrend. Fasziniert bin ich von der Intensität und Reichweite der Interaktion amerikanischer Exegese mit Literaturwissenschaft und Literaturtheorie. Mit teilweise verwegener Konsequenz setzen sich Exegeten einer 'hermeneutischen' Erfahrung mit Texten aus, die zum Exodus aus dem vertrauten Gelände kritischer Bibelinterpretation treibt. Verwirrend ist die Interferenz der interpretativen Wege und Strategien, natürlich auch die Fülle der Beiträge." Gerd Schunack 7 E i n e n sehr w e i t e n und, w i e i c h m e i n e , t r e f f e n d e n B e g r i f f v o n Literary cism8
vertritt Mark A l l a n P o w e l l in seiner B i b l i o g r a p h i e
Modern
Literary
Criticism
aus d e m Jahr 1 9 9 2 . 9 Literary
The
Criticism
Bible
Critiand
ist für ihn
der S a m m e l b e g r i f f für v e r s c h i e d e n s t e literaturwissenschaftliche R i c h t u n g e n , die
in
der
biblischen
Exegese
rezipiert
werden.
Vor
allem
im
anglo-
a m e r i k a n i s c h e n B e r e i c h sind e i n e R e i h e v o n M o n o g r a p h i e n u n d S a m m e l b ä n den
erschienen,
die
Forschungsgeschichtlich
diese
methodologischen
Aufbrüche
skizzieren.10
z e i g t P o w e l l v e r e i n f a c h e n d mit H i l f e der
Unter-
scheidung des russischen Linguisten und Philologen R o m a n Jakobson, dass j e d e F o r m v o n K o m m u n i k a t i o n i m W e s e n t l i c h e n durch drei Faktoren g e k e n n -
7
Schunack, Interpretationsverfahren, 1996, 28. Zuweilen begegnet auch der Begriff 'New Literary Criticism'. Das Epitheton 'new' markiert die Abgrenzung vom traditionellen Begriff der Literarkritik, das heißt der exegetischen Methode, anhand derer die den biblischen Texten zugrunde liegenden Quellen herausgearbeitet werden. Eine mangelnde Unterscheidung der beiden Begriffe und ihrer sehr unterschiedlichen Fragestellungen bietet der Beitrag von Neirynck, Literary Criticism, Old and New, 1993, 11-38, der vorgibt von beidem zu handeln, aber fast nur von der klassischen Literarkritik spricht. Zur Unterscheidung des Literary Criticism von der Literarkritik s. auch Merenlahti / Hakola, Reconceiving Narrative Criticism, 1999, 13. 9 Powell, The Bible and Modern Literary Criticism. A Critical Assessment and Annotated Bibliography, 1992. 10 S. dazu die Bücher von Beardslee, Literary Criticism and the New Testament, 1970; Petersen, Literary Criticism for New Testament Criticis, 1987; McKnight, The Bible and the Reader. An Introduction to Literary Criticism, 1985; Poland, Literary Criticism and Biblical Hermeneutics, 1985; Longman III, Literary Approaches to Biblical Interpretation, 1987; Moore, Literary Criticism and the Gospels. The Theoretical Challenge, 1989. Vgl. vor allem auch die Sammelbände, die Einführungen in die verschiedensten Richtungen des Literary Criticism bieten, wie etwa Spencer (ed.), Orientation by Disorientation. Studies in Literary Criticism and Biblical Literary Criticism, 1980; Prickett (ed.), Reading the Text. Biblical Criticism and Literary Theory, 1991; Anderson / Moore (eds.), Mark and Method. New Approaches in Biblical Studies, 1992; Focant (ed.), The Synoptic Gospels. Source Criticism and the New Literary Criticism, 1993 (vgl. die Rezension von Sänger in: ThLZ 119, 1994, 800804); Malbon / McKnight (eds.), The New Literary Criticism and the New Testament, 1994; Porter / Tombs (eds.), Approaches to New Testament Study, 1995; Porter (ed.), Handbook to Exegesis of the New Testament, 1997; The Bible and Culture Collective, The Postmodern Bible, 1995 (Rez. v. Alkier in: ZNT 2, 1999, 63-66); Alkier / Brucker (Hgg.), Exegese und Methodendiskussion, 1998. Erwähnenswerte Aufsätze, die nicht in einem der genannten Sammelbände erschienen sind: Frye, Literary Criticism and Gospel Criticism, 1979, 207-219; Malbon / Anderson, Literary-Critical Methods, 1993, 241-254. S. auch die beiden Forschungsberichte von Schunack, Neuere literaturkritische Interpretationsverfahren in der anglo-amerikanischen Exegese, 1996, 28-55, und Zumstein, Narrative Analyse und neutestamentliche Exegese in der frankophonen Welt, 1996, 5-27. 8
Was ist Literary Criticism?
17
zeichnet ist11: Der , Sender' repräsentiert die Produktionsbedingungen eines Textes, die ,Nachricht' den Text bzw. das Produkt sowie der »Empfänger' im weitesten Sinne die Rezeptionsbedingungen: Senderln —>
Nachricht
—> Empfängerin
Autorin —•
Text
—• Leserin
Textproduktion —>
Produkt
—> Rezeption
Powell charakterisiert die Entwicklung der Literaturwissenschaft im 20. Jahrhundert12 "as a shift from the left to the right side of Jakobson's paradigm"13. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Literaturwissenschaft noch maßgeblich geprägt von der Frage nach dem Autor und seiner Intention bei der Herstellung von Bedeutung. Das änderte sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts; sie brachte eine Verlagerung des Interesses auf die intrinsic structures des Textes selbst und ihre Konstituierung von Sinn. Am Ende des 20. Jahrhunderts erfolgte dann eine Konzentration auf die Pragmatik bzw. Wirkung des Textes im Reader-Response Criticism bzw. der Rezeptionsästhetik. Am Ende des 20. Jahrhunderts haben sich alle drei genannten Aspekte literaturwissenschaftlicher Analyse innerhalb der internationalen Bibelwissenschaft etabliert und leisten jeweils ihre eigenen Beiträge zum vertieften Verstehen der Bibel. Powell unterscheidet innerhalb des biblisch-exegetischen Literary Criticism zwei Hauptgruppen:14 a) Die Text-Oriented Approaches. Darunter subsumiert er als erste Gruppe New Criticism, Formalism, Narratology, als zweite Gruppe Semiotik und Strukturalismus und als dritte Gruppe Rhetorical Criticism. Als vierte Gruppe sollte hier noch Linguistik ergänzt werden. b) Die Reader-Oriented Approaches. Darunter subsumiert er als erste Gruppe Affective, Phenomenological and Psychoanalytical Criticism und als zweite Gruppe Poststructuralism / Deconstruction.
" V g l . dazu ausführlich Jakobson, Linguistik und Poetik, (1960), 1972, 99-135 (er nennt sechs Faktoren: Sender, Nachricht, Kontaktmedium, Empfänger, Kontext und Code). 12 Zu ihrem Selbstverständnis vgl. die beiden Sammelbände Pechlivanos / Rieger / Struck / Weitz (Hgg.), Einführung in die Literaturwissenschaft, 1995, und Arnold / Detering (Hgg.), Grundzüge der Literaturwissenschaft, 1996, sowie die Darstellungen von Eagleton, Einführung in die Literaturtheorie, (1983), 19964, und Leitch, American Literary Criticism from the Thirties to the Eighties, 1988. 13 Powell, Bible and Modern Literary Criticism, 1992, 6. 14 S. zum Folgenden Powell, Bible and Modern Literary Criticism, 1992, 7-13.
18
Einleitung
Nach dem oben aufgeführten Schema von Jakobson lässt sich das folgendermaßen darstellen: Author-Centered Approaches Historical Criticism in its broadest sense
Text-Oriented Approaches New Criticism Formalism Narratology Structuralism Semiotics Rhetorical Criticism Linguistics
Reader-Oriented Approaches Affective Criticism Phenomenological Criticism Psychoanalytical Criticism etal. Poststructuralism / Deconstruction
Literary Criticism bezeichnet also in der Exegese solche Interpretationsmethoden, die im engen Dialog mit der modernen Literaturwissenschaft entstanden sind und auf die Bibel appliziert werden. Eine vermehrte Rezeption zeitgenössischer Literaturtheorie in der Bibelexegese erfolgt seit den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts und intensiviert sich zunehmend. Einige sprechen auch vom Anbrach einer 'neuen Ära' in den 60er Jahren. 15 In der vorliegenden Untersuchung wird der Begriff des Literary Criticism nach Powell in diesem weiten Verständnis benutzt 16 , der die verschiedensten literaturtheoretischen Ansätze, wie etwa Rhetorical Criticism, Narrative Criticism, Reader-Response Criticism, Deconstruction, Intertextuality etc. umfasst. 17 Charakteristisch für diese sind also der explizite Dialog mit der zeitgenössischen Literaturwissenschaft und die Adaption ihrer Methodologien. Das verstärkte Bemühen um einen interdisziplinären Austausch zwischen Bibel- und Literaturwissenschaft wird etwa seit den 70er Jahren greifbar in der Gründung von Zeitschriften mit dem Schwerpunkt des Dialoges der Bibelwissenschaft mit der modernen Linguistik und Literaturwissenschaft. Es begann mit den stärker an der Linguistik orientierten Zeitschriften: So wurde 1970 von Erhardt Güttgemanns in Deutschland die Zeitschrift Linguistica Biblica: Interdisziplinäre Zeitschrift für Theologie und Linguistik gegründet, 15 So etwa Porter, Literary Approaches, 1995, 80. Er sieht in der Presidential Address von James Muilenburg zum Annual Meeting der Society of Biblical Literature am 8. Dezember 1968 an der University of California, Berkeley, den Start dieser neuen Ära (Muilenburg, Form Criticism and Beyond, 1969,1-18, der ein Plädoyer für Rhetorical Criticism hält). 16 In Eisen, Das Markusevangelium erzählt. Literary Criticism und Evangelienauslegung, 1998, 135-153, habe ich den Begriff Literary Criticism noch im engeren Sinn des Narrative Criticism verstanden. 17 Porter, Literary Approaches, 1995, 86 passim, macht auf das Problem aufmerksam, dass einige so genannte literary-critical readings nur dieses Label enthalten, aber eigentlich traditionell arbeiten. In diesem Zusammenhang konstatiert er das ebenfalls begegnende Problem der "critical naivete". Vielfach werden kaum methodologische Verortungen und genaue Begriffsklärungen vorgenommen im Zusammenhang mit der sog. literaturwissenschaftlichen Bibelexegese. Porter nennt solches Vorgehen sehr treffend "Common Sense Criticism". Er kritisiert und fordert mit Recht: "It appears - to speak very generally - that the more the critical landscape becomes full of a variety of methods, the more explicit New Testament literary critics will need to be in identifying their method or methods, not just that they are literary critics" (ebd. 94).
Was ist Literary Criticism?
19
die 1989 umgetauft wurde in Zeitschrift für Theologie, Semiotik und Linguistik.K 1975 folgte in Frankreich die Gründung der Zeitschrift Semiotique et bible, die das Sprachrohr des Centre pour l'Analyse du Discours Religieux (CADIR) darstellt.19 Die führende Zeitschrift auf diesem Gebiet war die 1974 in den USA gegründete Zeitschrift Semeia: An Experimental Journal for Biblical Criticism. 0 Das Ziel der Zeitschrift Semeia war, "(to) serve as a vehicle for innovative work in progress and for communication among workers in all aspects of language running from literary criticism to linguistics"21. In den siebziger Jahren war Semeia das Sprachrohr des aufkommenden biblischen Strukturalismus, bis sie sich mit der Entwicklung weiterer Methodologien dem Dekonstruktivismus, der Narratologie, dem Feminismus, der Sprechakttheorie, dem Reader-Response Criticism usw. öffnete. Diese Zeitschrift bildete bis ins Jahr 2002 ein Forum für den Dialog von Literaturwissenschaftlerinnen und Bibelwissenschaftlerlnnen. So veröffentlichten darin etwa Jacques Derrida, Frank Kermode und Susan Lanser, um nur einige wenige zu nennen. Seit dem Jahr 2002 erscheint Semeia nicht mehr als Zeitschrift, sondern als Buchreihe: Semeia Studies.22 Die Buchreihe führt die ursprünglichen Zielsetzungen der Zeitschrift ungebrochen fort. Mittlerweile gehören literaturwissenschaftliche Analysemethoden im Umgang mit der Bibel international zum selbstverständlichen Methodenkanon biblischer Exegese und sind dort nicht mehr wegzudenken. So betont auch Stephen D. Moore in seinem Forschungsüberblick zu Literary Criticism and the Gospels von 1989, dass eine große Zahl literaturwissenschaftlich arbeitender Seminare und Arbeitsgruppen in den professionellen exegetischen Gesellschaften wie der Society of Biblical Literature, der Studiorum Novi Testamentum Societas, der Catholic Biblical Association und dem Westar Institute entstanden sind und weltweit vernetzt arbeiten. Und auch umgekehrt bemühen sich renommierte Literaturwissenschaftlerlnnen um biblische Texte, wie etwa Robert Alter, Mieke Bai, Roland Barthes, Jacques Derrida, Julia Kristeva, Louis Marin, Walter Ong, George Steiner und Meir Sternberg.23 Nordamerika bezeichnet Moore als das Zentrum des Dialogs zwischen nichtstrukturalistischer Literaturwissenschaft und Exegese.24 Aufbrüche dieser
18 Herausgegeben von Erhardt Güttgemanns unter Mitwirkung von Hans-Dieter Bastian, G. Johannes Botterweck, Reinhard Breymayer, Sabine Buschey, Helmut Gipper, Walter Magaß und Dan O. Via. Mit Heft 62, Februar 1989, wurde dem Titel der Zeitschrift der Begriff 'Semiotik' beigegeben. Ihr Erscheinen wurde 1993 (mit dem Juni Heft 68) ohne Nennung von Gründen eingestellt. 19 Vgl. dazu ausführlicher The Bible and Culture Collective, Postmodern Bible, 81; 116. 20 Editor: Robert W. Funk; Associate Editors: J. Dominic Crossan, Robert C. Culley, Robert Detweiler, Daniel Patte, Norman R. Petersen, Robert Polzin, David Robertson; Assistant Editor: Charlene Matejovsky. S. dazu auch Detweiler / Robbins, New Criticism, 1991, 258 (zu Semeia), 245f. (zu Funk), 246 (zu Via), 257 (zu Crossan), 257f. (zu Patte). 21 Wilder, Semeia, 1974,2. 22 Die Reihe Semeia Studies war bis dahin das Supplementum zur Zeitschrift Semeia. 23 S. Moore, Criticism, XVf. (vgl. zu den meisten der Genannten die in der Bibliographie dieser Untersuchung aufgeführten Arbeiten). 24 Hierzu und zum Folgenden vgl. Moore, Literary Criticism, 1989, XIVf.
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Einleitung
Art sind aber auch in Südafrika25, Israel, Skandinavien und den Niederlanden zu beobachten. Großbritannien ist abgesehen von der University of Sheffield eher zurückhaltend. Ähnliches gilt für Deutschland, was Moore auf die konfliktträchtige Geschichte der deutschen Exegese mit Erhardt Güttgemanns zurückführt, ohne dies weiter auszuführen. Güttgemanns war tatsächlich einer der ersten, wenn nicht der erste deutsche Exeget, der die Erzählforschung für die neutestamentliche Exegese fruchtbar machte26, dafür aber keine große Resonanz im deutschsprachigen Kontext fand und Außenseiter blieb27. Signifikant an Moores Aufzählung ist das Fehlen des frankophonen Bereiches. Das verdankt sich seiner eingeschränkten Optik auf die nichtstrukturalistische Literaturwissenschaft. Eine solche Trennung von strukturalistischer und nichtstrukturalistischer Literaturwissenschaft ist im poststrukturalistischen Zeitalter noch weniger sinnvoll als zuvor, denn es sind zwischen diesen divergierenden Forschungstraditionen immer wieder Interdependenzen feststellbar. So ist es zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch zu beklagen, dass die englischsprachige und die frankophone literaturwissenschaftlich ausgerichtete Exegese vielfach nicht vernetzt sind und teilweise unvermittelt nebeneinander stehen.28 Das zeigen zu dem Thema sehr anschaulich auch die beiden grundlegenden Forschungsberichte, die 1996 in der Zeitschrift Verkündigung und Forschung von Gerd Schunack zu den literaturkritischen Aufbrüchen in der anglo-amerikanischen Exegese und von Jean Zumstein zu denen der frankophonen Welt erschienen sind. Auf diese sei hier ausdrücklich verwiesen.29 Für den deutschsprachigen Kontext ist ein solcher Forschungsbericht noch nicht geschrieben worden. Das liegt vor allem auch daran, dass die literaturwissenschaftlich orientierten exegetischen Forschungsarbeiten zwar vereinzelt seit langem vorhanden sind3 , aber noch keineswegs als etabliert 25 Vgl. etwa Heft 2 der Zeitschrift Neotestamentica 22, 1988, oder auch die Arbeit von van Eck, Galilee and Jerusalem, 1995. 26 Vgl. Güttgemanns, Einleitende Bemerkungen zur strukturalen Erzählforschung, 1973, 2-47; ders., Narrative Analyse synoptischer Texte, (1973/1979), 1982, 179-223 (diese Aufsätze sowie ders., Linguistisch-literaturwissenschaftliche Grundlegung einer Neutestamentlichen Theologie, 1972, 2-18, und ders., Generative Poetik' - Was ist das? Thesen und Reflexionen zu einer neuen exegetischen Methode, 1973, 152-168, wurden 1976 von William Doty ins Englische übersetzt und in Heft 6 der Zeitschrift Semeia unter dem Titel: Generative Poetics veröffentlicht); s. auch ders., Offene Fragen zur Formgeschichte der Evangelien. Eine methodologische Skizze der Grundlagenproblematik der Form- und Redaktionsgeschichte, (1970), 2., verb. Aufl. 1971; für das Corpus Lucanum ist relevant ders., In welchem Sinne ist Lukas "Historiker"?, 1983, 9-26; vgl. aber vor allem auch die 24 Jahrgänge der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Linguistica Biblica. Interdisziplinäre Zeitschrift für Theologie und Linguistik sowie sein Nachwort zur deutschen Übersetzung der semiotischen Analyse der Passionsgeschichte von Louis Marin: Nachwort: Lektüre-Hilfen für den Leser, 1976, 188-196. 27 Eine Festschrift hat er dennoch erhalten: Reuter / Schenk (Hg.), Semiotica Biblica. Eine Freundesgabe für Erhardt Güttgemanns, 1999. 28 Erste Anzeichen für eine Veränderung dieser Misere ist etwa die prompte Übersetzung der 1998 in französischer Sprache erschienenen biblischen Erzähltheorie von Marguerat, How to Read Bible Stories, engl.: 1999. 29 Schunack, Neuere literaturkritische Interpretationsverfahren in der anglo-amerikanischen Exegese, 1996, 28-55; Zumstein, Narrative Analyse und neutestamentliche Exegese in der frankophonen Welt, 1996, 5-27. 30 So vgl. neben den oben genannten Arbeiten von Güttgemanns u.a. Sellin, Lukas als Gleichniserzähler: die Erzählung vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25-37), 1974, 166-189;
Was ist Literary Criticism?
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gelten können. Auch hat die Zeitschrift Linguistica Biblica 1993 ihr Erscheinen eingestellt, ohne dass eine Zeitschrift mit vergleichbarer Programmatik an ihre Stelle getreten ist. Im Bereich der neutestamentlichen Methodenbücher31 bemühen sich vor allem Klaus Bergers Exegese des Neuen Testaments: Neue Wege vom Text zur Auslegung erstmals 1977 ( 3 1991) und Wilhelm Eggers Methodenlehre zum Neuen Testament. Einführung in linguistische und historisch-kritische Methoden von 1987 ( 4 1996) 32 um einen Dialog. 33 Erwähnt sei auch der diesem Dialog gewidmete Sammelband Exegese und Methodendiskussion, den 1998 Stefan Alkier und Ralph Brucker herausgegeben haben. Für einen Methodenpluralismus innerhalb der Exegese plädiert sehr grundsätzlich und entschieden Gerd Theißen.34 Es sind derzeit zwei Bibliographien zu literaturwissenschaftlich orientierten Studien zur gesamten Bibel auf dem Markt, die bis Anfang 1990 reichen: The Bible and Modern Literary Criticism von Mark Allan Powell umfasst insgesamt knapp 1800 Titel (inkl. Theorie, Methode etc.), von denen etwa 500 Titel auf das Neue Testament entfallen.35 Mark Minor führt in seinen Literary1975, 19-60; ders., Komposition, Quellen und Funktion des Lukanischen Reiseberichtes (Lk ix 51-xix 28), 1978, 100-135; Theißen, Urchristliche Wundergeschichten. Ein Beitrag zur formgeschichtlichen Erforschung der synoptischen Evangelien, 1974; Klauck, Die erzählerische Rolle der Jünger im Markusevangelium. Eine narrative Analyse, 1982, 1-26; ders., Vorspiel im Himmel? Erzähltechnik und Theologie im Markusprolog, 1997; Hahn (Hg.), Der Erzähler des Evangeliums. Methodische Neuansätze in der Markusforschung, 1985; Zwick, Montage im Markusevangelium. Studien zur narrativen Organisation der ältesten Jesuserzählung, 1989; Lampe, Die urchristliche Rede von der "Neuschöpfung des Menschen" im Lichte konstruktivistischer Wissenssoziologie, 1998, 21-32 (mit einem konstruktivistischen Ansatz); Eisen, Das Markusevangelium erzählt. Literary Criticism und Evangelienauslegung, 1998, 135-153; dies., The Narratological Fabric of the Gospels, 2005, 195-211, sowie Wasserberg, Aus Israels Mitte - Heil für die Welt. Eine narrativ-exegetische Studie zur Theologie des Lukas, 1998; Mayordomo-Marfn, Den Anfang hören. Leserorientierte Evangelienexegese am Beispiel von Matthäus 1-2, 1998 (mit einem rezeptionsästhetischen Ansatz); Lehnert, Die Provokation Israels: Die paradoxe Funktion von Jes 6,9-10 bei Markus und Lukas. Ein textpragmatischer Versuch im Kontext gegenwärtiger Rezeptionsästhetik und Lesetheorie, 1999 (mit einem textpragmatischen Ansatz); Alkier, Wunder und Wirklichkeit in den Briefen des Apostels Paulus: Ein Beitrag zu einem Wunderverständnis jenseits von Entmythologisierung und Rehistorisierung, 2001 (mit einem semiotischen Ansatz); Merz, Die fiktive Selbstauslegung des Paulus. Intertextuelle Studien zur Intention und Rezeption der Pastoralbriefe, 2004 (mit einem Intertextualitätsansatz). 31
Zu neutestamentlichen Methodenbüchern, die sich explizit der Erzählanalyse widmen s. unten S.27f. 32 Das Buch ist nicht nur in mehreren Auflagen erschienen sondern auch ins Englische übersetzt worden (vgl. auch die kritische Rezension von Martin-Asensio in: Themelios 23.2, 1998, 61-62). 33 Für die alttestamentliche Exegese seien hier als herausragende Beispiele vor allem Utzschneider / Nitsche, Arbeitsbuch literaturwissenschaftlicher Bibelauslegung. Eine Methodenlehre zur Exegese des Alten Testaments, 2001, und Richter, Exegese als Literaturwissenschaft. Entwurf einer alttestamentlichen Literaturtheorie und Methodologie, 1971, genannt. 34 Vgl. Theißen, Methodenkonkurrenz und hermeneutischer Konflikt: Pluralismus in Exegese und Lektüre der Bibel, 1995, 127-140. Vgl. auch die treffenden Ausführungen von Mayordomo-Marin, Den Anfang hören, 1998, 11-23. Er schreibt u.a.: "An diesem Punkt scheint mir die anglo-amerikanische Exegese insgesamt risikofreudiger, theoriebewußter und innovationsbereiter als die deutschsprachige zu sein" (14). 35 Vgl. Powell, Bible and Modern Literary Criticism, 1992.
Einleitung
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Critical Approaches to the Bible insgesamt etwa 2250 Titel auf, von denen 770 auf das Neue Testament entfallen.36 Diese Bibliographien ließen sich durch die Forschungen der letzten fünfzehn Jahre erheblich erweitern.
C. Was ist Narrative
Criticism?
In der vorliegenden Untersuchung wird es innerhalb des breiten Rahmens des Literary Criticism, das heißt der literaturwissenschaftlich ausgerichteten Arbeiten zum Neuen Testament, um den so genannten 'Narrative Criticism' gehen.37 Innerhalb der exegetischen, vor allem der angloamerikanischen Diskussion, hat sich der Begriff des Narrative Criticism38 seit 1982 für eine erzählanalytische Auslegung neutestamentlicher Texte eingebürgert. Narrative Criticism ist eine spezifische Begriffsbildung von BibelwissenschaftlerInnen, die kein Äquivalent in der Literaturwissenschaft hat.39 Diese Bezeichnung, übersetzt 'erzählende Kritik', ist insofern missverständlich, als in ihr Konnotationen einer erzählenden Exegese mitschwingen. Das ist umso bedenklicher, da unter diesem Label zuweilen tendenziell nacherzählende Exegesen vorgelegt wurden. Ich halte deshalb auch die von Günter Wasserberg vorgeschlagene Übersetzung 'narrativ-exegetisch' für irreführend.40 Vielmehr impliziert der Narrative Criticism ein analytisches Verfahren, Erzählungen im weitesten Sinne in ihren Bauformen41 zu erfassen. Konkret geht es um die Analyse des 'Wie' einer Erzählung und des 'Was' einer Geschichte. Eine solche Analyse von Erzählungen ist methodologisch innerhalb der Narratologie 42 bzw. Erzähltextanalyse 3 beheimatet und nirgendwo sonst. Aus 36
Vgl. Minor, Literary-Critical Approaches to the Bible, 1992. Vgl. dazu folgende einleitende Überblicksdarstellungen: Kingsbury, Matthew as Story, (1986), 1988, 1-42; Moore, Literary Criticism and the Gospels, 1989, 1-68; Powell, What is Narrative Criticism? A New Approach to the Bible, 1990; ders., Narrative Criticism, 1995, 244-248; Malbon, Narrative Criticism: How Does the Story Mean?, 1992, 23-49; The Bible and Culture Collective, Postmodern Bible, 1995, 70-118; Porter, Literary Approaches to the New Testament: From Formalism to Deconstructivism and Back, 1995, 77-128, v.a. 97106; Stamps, Rhetorical and Narratological Criticism, 1997, 219-239, v.a. 227-232; Eisen, Das Markusevangelium erzählt. Literary Criticism und Evangelienauslegung, 1998, 135-153; Merenlahti / Hakola, Reconceiving Narrative Criticism, 1999, 13-48; Rhoads, Narrative Criticism: Practices and Prospects, 1999, 264-285. 38 Der Begriff Narrative Criticism wurde von Rhoads geprägt, vgl. ders., Narrative Criticism and the Gospel of Mark, 1982,411-434. 39 Spencer, Acts, 1993, 393 A 44, vermutet seine Herkunft aus der Analogiebildung zu Begriffen wie Quellen-, Form- und Redaktionskritik. 40 Vgl. Wasserberg, Aus Israels Mitte, 1998, s. zu dieser Monographie auch die Kritik von Horn in seiner Rezension ThLZ 126, 2001, 645-647. 41 So auch der Titel des frühen, noch immer grundlegenden und für die Erzählanalyse hilfreichen Werkes von Lämmert: Bauformen des Erzählens, 1955. 42 Etwa Prince, Narratology, 1982; Bai, Narratology, (1985), 19972; Onega / Garcia Landa (eds.), Narratology, 1996. S. zu den Begriffen unten (II.). Moore, Literary Criticism and the Gospels, 1989, 51, bezeichnet Narratologie irrtümlich als eine Texttheorie, die allein zum Ziel habe, Texte zu analysieren, um die Texttheorie weiterzuentwickeln. Moore verweist in diesem Zusammenhang auf die Narratologien von Bai, Chatman, Prince, Rimmon-Kenan und Stanzel und übersieht dabei, dass die Gattung der zitierten Werke auf eine Darlegung der 37
Was ist Narrative Criticism?
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Gründen der Präzisierung schlage ich daher auch für die neutestamentliche Exegese den Begriff der Narratologischen Analyse (engl, narratological criticism or analysis)44 vor, weil er angemessen den methodologischen Bezugsrahmen beschreibt und zugleich interdisziplinär und international verständlich ist. Im Folgenden werde ich die Entstehung des Narrative Criticism innerhalb der neutestamentlichen Wissenschaft skizzieren und die vor allem im neutestamentlichen Kontext entstandenen narratologischen Methodenbücher einschließlich der sehr gelungenen alttestamentlichen Narratologie von Jean Louis Ska kurz vorstellen. Angemerkt sei in diesem Zusammenhang, dass sich die Narratologische Exegese sowohl international als auch in Deutschland bereits sehr viel ausgeprägter innerhalb der Exegese der Hebräischen Bibel als der des Neuen Testaments etabliert hat. Sie verbindet sich mit Namen wie Robert Alter, Mieke Bai, Adele Berlin, J. Cheryl Exum, Jan P. Fokkelman, Meir Sternberg, und im deutschsprachigen Bereich mit Christof Hardmeier, Rüdiger Lux, Ilse Müllner, Uta Schmidt, Helmut Utzschneider sowie der jüdischen Bibelwissenschaftlerin Hanna Liss, um nur einige zu nennen. 45 Der Entstehungsort des Narrative Criticism des Neuen Testaments war das 'Markan Seminar' der Society of Biblical Literature von 1971 bis 1980,
Theorie zielt. Zudem haben ihre Verfasserinnen an anderer Stelle zahlreiche Textanalysen vorgelegt. Erwähnt seien hier nur die Arbeiten Bals zur Hebräischen Bibel. 43 Etwa Kahrmann / Reiß / Schluchter, Erzähltextanalyse, (1977), 1996. 44 So auch The Bible and Culture Collective, Postmodem Bible, 1995, 70ff. 45 Vgl. zur alttestamentlichen Narratologie: Bar-Efrat, Narrative Art in the Bible, translated by Dorothea Shefer-Vanson, 1989 (first edition in Hebrew 1979, second edition 1984) (hier finden sich v.a. Applikationen, aber kaum eine Theoriereflexion); Alter, The Art of Biblical Narrative, 1981; Berlin, Poetics and Interpretation of Biblical Narrative, (1983), 1994; Sternberg, The Poetics of Biblical Narrative, 1985 (zu Alter und Sternberg s. Bal, The Bible as Literature: A Critical Escape, [1986], 1991, 59-72); Bal, Femmes imaginaries: L'ancien testament au risque d'une narratologie critique, Ville de LaSalle 1985; dies., The Bible as Literature, 1986; dies., Murder and Difference. Gender, Genre, and Scholarship on Sisera's Death, 1988; Ska, "The Fathers Have Told Us". Introduction to the Analysis of Hebrew Narratives, 1990; Gunn / Nolan Fewell, Narrative in the Hebrew Bible, 1993; Exum, Tragedy and Biblical Narrative: Arrows of the Almighty, 1992; dies., Fragmented Women: Feminist (Sub)versions of Biblical Narratives, 1993; dies. / Clines, David J. A. (ed.), The New Literary Criticism and the Hebrew Bible, Sheffield 1993; Lux, Jona, Prophet zwischen "Verweigerung" und "Gehorsam". Eine erzählanalytische Studie, 1994; Fokkelman, Reading Biblical Narrative. An Introductory Guide, (1995), 1999; Utzschneider, Gottes langer Atem. Die Exoduserzählung (Ex 1-14) in ästhetischer und historischer Sicht, 1996; ders. / Nitsche, Arbeitsbuch literaturwissenschaftlicher Bibelauslegung. Eine Methodenlehre zur Exegese des Alten Testaments, 2001; Müllner, Gewalt im Hause Davids. Die Erzählung von Tamar und Amnon (2 Sam 13,1-22), 1997; Schmidt, Zentrale Randfiguren. Strukturen der Darstellung von Frauen in den Erzählungen der Königebücher, 2003; Liss, Die unerhörte Prophetie. Kommunikative Strukturen prophetischer Rede im Buch Yesha'yahu, 2003; dies., The Undisclosed Speech: Patteras of Communication in the Book of Isaiah, 2002; Hardmeier, Textwelten der Bibel entdecken: Grundlagen und Verfahren einer textpragmatischen Literaturwissenschaft der Bibel, 2. Bde., 2003 und 2004; Überblicke bieten: Oeming / Pregla, New Literary Criticism, 2001, 1-23; The Bible and Culture Collective, Postmodern Bible, 1995, 89ff. Innerhalb der narratologischen Forschungen zur Hebräischen Bibel wird vielfach der Begriff der Poetik / narrative poetics bevorzugt, den ich auch für meine Buchüberschrift gewählt habe. Als Auftakt der Erzählanalyse ersttestamentlicher Texte kann die Erzählanalyse von Gen 32,23-33 durch Roland Barthes, Der Kampf mit dem Engel. Textanalyse der Genesis 32,23-33, (1972), dt.: 1988, 251-265, betrachtet werden.
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das zuerst von Norman Perrin und später von Werner Kelber geleitet wurde.46 Als einer der Mitbegründer des Narrative Criticism neutestamentlicher Texte gilt David Rhoads, der 1977 zusammen mit Donald Michie, einem Professor für Englische Literatur, das Experiment unternahm, das Markusevangelium wie eine Short Story zu lesen und zu interpretieren. Das aus dieser Idee entstandene Werk, Mark as Story: An Introduction to the Narrative of a Gospel, erschien 198247 und ist noch heute sehr lesenswert; es führt gut in den methodischen Ansatz und seine Ergebnisse bei der Interpretation eines Evangeliums ein.48 Für das Johannesevangelium folgte 1983 Alan Culpeppers Anatomy of the Fourth Gospel: A Study in Literary Design49, für das Corpus Lucanum 1986 der erste Band von Robert C. Tannehill The Narrative Unity of LukeActs: A Literary Interpretation zum Lukasevangelium und 1990 der zweite Band zu den Acta. Für das Matthäusevangelium ist Jack Dean Kingsbury Matthew as Story von 1986 zu nennen.50 Der innerhalb der neutestamentlichen Exegese am meisten rezipierte erzähltheoretische Ansatz ist der des Literatur- und Filmwissenschaftlers Seymour Chatman in seinem Standardwerk Story and Discourse: Narrative Structure in Fiction and Film aus dem Jahr 197851. Chatman umreißt sein Anliegen folgendermaßen: "Taking poetics as a rationalist discipline, we may ask, as does the linguist about language: What are the necessary components - and only those - of a narrative? Structuralist theory argues that each narrative has two parts: a story (histoire), the content or chain of events (actions, happenings), plus what may
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Weitere Teilnehmerinnen dieser Arbeitsgruppe waren Thomas Boomershine, Joanna Dewey, Robert Fowler, Norman Petersen, Robert Tannehill und Mary Ann Tolbert, die in den folgenden zwanzig Jahren in sehr unterschiedlichen Richtungen literaturwissenschaftlich weiterarbeiteten. Vgl. dazu auch Moore, Literary Criticism, 1989, 7; Powell, What is Narrative Criticism?, 1990, 110 A 24; Rhoads, Narrative Criticism, 1999, 264. 47 Rhoads / Michie, Mark as Story: An Introduction to the Narrative of a Gospel, 1982; s. auch Rhoads, Narrative Criticism and the Gospel of Mark, 1982, 411-434 (Referat u.a. bei Moore, Criticism, 1989, 41-43). 48 Von Rhoads vgl. auch ders., Narrative Criticism and the Gospel of Mark, 1982, 411434; ders., Jesus and the Syrophoenician Women in Mark: A Narrative-Critical Study, 1994, 343-375; ders. / Syreeni (eds.), Characterization in the Gospels. Reconceiving Narrative Criticism, 1999; ders., Narrative Criticism: Practices and Prospects, 1999, 264-285. 49 S. das Referat von Moore, Literary Criticism, 1989,45-50. so Zur Orientierung über die bis Anfang der 90er Jahre erschienenen literaturkritischen Arbeiten zu den kanonischen Evangelien und zu Acta vgl. die Bibliographien von Powell, The Bible and Modem Literary Criticism, 1992, 257-338, und Minor, Literary-Critical Approaches to the Bible, 1992. Das Johannes-, das Markus- und das Matthäusevangelium haben bereits eine zweite Generation narratologischer Auslegung erfahren, vgl. Stibbe, John as Storyteller: Narrative Criticism and the Fourth Gospel, 1992 (mit einem sehr eigenwilligen Verständnis von Narrative Criticism, das sich jenseits des main-stream ansiedelt und bisher keine Nachfolgerinnen gefunden hat); Smith, A Lion with Wings. A Narrative-Critical Approach to Mark's Gospel, 1996 sowie Carter, Matthew: Storyteller, Interpreter, Evangelist, 1996. 51 Vgl. Chatman, Story and Discourse, 1978, 19895; daneben wurden häufig in der Exegese rezipiert der Pionier der anglo-amerikanischen Erzähltheorie Wayne Booth sowie die narratologischen Entwürfe von Boris A. Uspenskij, Gerard Genette, Susan Lanser, Mieke Bai, Shlomith Rimmon-Kenan und Gerald Prince. Vgl. zu den Einzelnen die Bibliographie dieser Untersuchung sowie meine Ausführungen zur Narratologischen Methodologie (s.u. II.).
Was ist Narrative Criticism?
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be called the existents (characters, items of setting); and a discourse (discours), that is, the expression, the means by which the content is communicated."52 Chatmans Unterscheidung von zwei Textebenen, erstens der story als dem Inhalt der Erzählung, dem 'Was', sowie zweitens des discourse als der Vermittlung der Erzählung, dem 'Wie', ist eine der fundamentalen Unterscheidungen innerhalb der Narratologie. Sie fragt danach, 'Wie' eine Geschichte erzählt wird. Aber nicht nur das 'Wie' ist Gegenstand der Narratologie, sondern auch das 'Was' der Geschichte. Kurz gesagt geht es um: 'Was' wird 'Wie' vermittelt? Diese zentrale analytische Unterscheidung muss vor allem deshalb im Auge behalten werden, weil im Text beides ineinander verwoben vorliegt und keine der beiden Textebenen ohne die andere Sinn erzeugen kann. Auf der Ebene der story wird nach den Ereignissen (events) gefragt sowie nach den in sie verwickelten Figuren (characters) und den Schauplätzen, an denen sich die Handlung zuträgt (setting). Auf der Ebene des discourse wird danach gefragt, wie die Story vermittelt wird durch eine Erzählstimme (narrator) und anhand welcher Erzähltechniken (traditionell point of view, showing versus telling). Was genau Erzähltheorie bzw. Narratologie heißt, wird unten eingehend vorgestellt (II.). Signifikant für neutestamentliche Narratologische Exegese ist, dass die Erzähltexte des Neuen Testaments - das sind im Wesentlichen die Evangelien, die Acta und die Apokalypse - als ganze in den Blick genommen und als zusammenhängende Erzählungen interpretiert werden unter Absehung von Fragen nach den ihnen zugrunde liegenden Quellen und Traditionen. Dabei wird von einer erzählerischen Einheit und Kohärenz dieser Schriften ausgegangen. In den Anfängen des Narrative Criticism war das Kriterium der 'Einheit' noch sehr vorherrschend. Diese vor allem durch die Poetiken des Aristoteles und des Horaz sowie den New Criticism - eine der bedeutendsten Richtungen in der amerikanischen Literaturtheorie und -kritik des 20. Jahrhunderts53 - geprägte Betonung der 'Einheit der Geschichte' hat in den letzten 52
Chatman, Story, 19. Die Anfänge des New Criticism liegen schon in den 20er Jahren. In der Zeit zwischen 1950 und 1970 gewann der New Criticism einen dominanten Einfluß auf die angloamerikanische Literaturkritik und weite Teile Westeuropas. Seit den 70er Jahren ist der New Criticism zu einer der beliebtesten Zielscheiben der Polemik fast aller neueren Richtungen der amerikanischen Literaturtheorie geworden. Obwohl sich bestimmte Grundprinzipien des New Criticism festhalten lassen - etwa das close reading des als autonome und einheitliche Größe gedeuteten Textes verbunden mit den Warnungen vor der genetic, der intentional und der affective fallacy - , war er eine disparate Bewegung mit den unterschiedlichsten Theoriebildungen. Nicht jeder Vertreter dieser Richtung stimmte allen Prinzipien zu, die heute als für den New Criticism charakteristisch gelten. Siehe dazu v.a. Leitch, American Literary Criticism, 1988, 24-59; aber auch Ryken, Formalist and Archetypal Criticism, 1991, 1-23; Poland, Literary Critcism, 1985, 65-105; Eagleton, Einführung in die Literaturtheorie, (1983), 4. erw. u. akt. Aufl.1997, 59-109. Als Standardwerk und theoretisches Manifest der Bewegung des New Criticism gilt v.a. Wellek / Warren, Theory of Literature, 1949 (dt. 1958, Neuauflage 1995). Rene Wellek ist ein Bindeglied zwischen der osteuropäischen und der angloamerikanischen Literaturtheorie. Bevor er in die USA emigrierte, war er ein Mitglied des Prager Linguistinnenkreises. John Crowe Ransom gab der Bewegung mit dem von ihm herausgegebenen Sammelband: The New Criticism, 1941, den Namen. Weitere wichtige Werke sind der Aufsatzband von William K. Wimsatt, The Verbal Icon, 1954; sowie ders. zusammen 53
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Jahren jedoch Kritik und Modifikation erfahren. Aristoteles forderte rigide die Einheit des 'Mythos', welchen wir heute als Geschichte bzw. Fabel bezeichnen (Poetik 1451a): "Demnach muß (...) auch die Fabel, da sie Nachahmung von Handlung ist, die Nachahmung einer einzigen, und zwar einer ganzen Handlung sein. Ferner müssen die Teile der Geschehnisse so zusammengefügt sein, daß sich das Ganze verändert und durcheinander gerät, wenn irgendein Teil umgestellt oder weggenommen wird. Denn was ohne sichtbare Folgen vorhanden sein oder fehlen kann, ist gar nicht ein Teil des Ganzen."54 Auch Horaz forderte, dass ein Werk simplex et unum sei (Ars Poet. 23). Beide Postulate entstammten der antiken Dichtungstheorie, widersprachen jedoch häufig damaliger Praxis. Die antike Praxis sah vielfach anders aus: Das Konzept der Einheit und Kohärenz korrespondierte einer zentrifugalen literarischen Praxis.55 Und mit Petri Merenlahti und Raimo Hakola ist entsprechend sehr zu bezweifeln, dass ein Streben nach Einheit und Kohärenz für die Verfasserinnen der Evangelien oder des Corpus Lucanum von primärer Relevanz war.56 Dennoch war es ein bestimmendes Anliegen des Narrative Criticism der 70er und 80er Jahre, eine Einheit der Erzählung im Sinn von Widerspruchsfreiheit, Wohlgeformtheit und Harmonie zu postulieren. In den 80er und auch in den frühen 90er Jahren ist oft noch, auch im Anschluss an den New Criticism, nach der "harmonischen Einheit" der Erzählung gefragt bzw. diese gesucht worden. 1987 hat innerhalb der exegetischen Diskussion Stephen Moore dieses Postulat des Narrative Criticism in seinem Aufsatz Are Gospels Unified Narratives treffend kritisiert. Mitte der Neunziger Jahre formuliert er provozierend zugespitzt: "(...) our texts are no more unified than we ourselves are."57 Diese durch den Poststrukturalismus und Dekonstruktivismus gespeiste Kritik Moores hat jüngst durch Merenlahti und Hakola weitere Vertiefung erfahren. Sie erinnern daran, dass auch der Altmeister der Narratologie, Gerard Genette, in seiner Analyse Marcel Prousts A la recherche du temps perdu der Versuchung, den gesamten Text dem Diktat seiner Methode zu unterwerfen, widerstanden habe.58 Rhoads fasst die Ergebnisse von Merenlahti und Hakola noch einmal treffend zusammen und fordert "to develop a narrative poetics for each Gospel so as adequately to take into account all the peculiarities of that narrative without forcing it into a straightjacket of coherence."59 Seit dem Entstehen des Narrative Criticism können drei Generationen methodologischer Handbücher des Narrative Criticism im Bereich der neumit Cleanth Brooks, Literary Criticism: Α Short History, 1957. Vgl. auch Brooks / Purser / Warren (eds.), An Approach to Literature, (1936), 19755, sowie Brooks, The Formalist Critics, 1951,72-81. 54 Übersetzung von Fuhrmann (Aristoteles, Poetik. Griechisch / Deutsch, übers, u. hrsg. von Manfred Fuhrmann, [1982], bibliogr. ergänz. Aufl. Stuttgart 1994, 29). 55 So Heath, Unity in Greek Poetics, 1987, 9. 56 Vgl. die scharfsinnigen Bemerkungen von Merenlahti / Hakola, Reconceiving Narrative Criticism, 1999, 23-33. 57 So Moore, Poststructuralism and the New Testament, 1994, 80, vgl. vor allem 74ff. 58 Merenlahti / Hakola, Reconceiving Narrative Criticism, 1999, 28. 59 Rhoads, Narrative Criticism: Practices and Prospects, 1999, 268.
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testamentlichen Wissenschaft unterschieden werden. Die erste Generation sind zwei Bände in der Reihe Guides to Biblical Scholarship von Fortress Press. Diese beiden ersten Arbeiten erschienen noch unter dem allgemeinen Etikett Literary Criticism und stellen erste Versuche dar, das Feld zu beschreiben und einzugrenzen. Die erste Arbeit stammt von William A. Beardslee und erschien 1970 unter dem Titel Literary Criticism of the New Testament. Sie ist noch von sehr klassisch exegetischen Fragestellungen bestimmt, wie etwa Form- und Literarkritik. Die Neuausgabe zum Thema in dieser Reihe wurde von Norman R. Petersen 1978 unter dem Titel Literary Criticism for New Testament Critics60 veröffentlicht.61 In dieser Publikation werden erste Perspektiven des Narrative Criticism entworfen. Petersens Darstellung lebt von einer starken Polemik gegenüber historisch-kritischen Fragestellungen.62 In polemischer Abgrenzung versucht er, die Vorzüge einer literaturwissenschaftlichen Perspektive aufzuzeigen. Dieser Polemik korrespondiert auf der Gegenseite ebenfalls eine ausgeprägte Polemik gegen jede Form nicht-historischen Fragens. Die Antithese von historischer und literaturwissenschaftlicher Kritik ist zwar immer wieder zu hören, sollte aber im 21. Jahrhundert als Uberwunden gelten. Heute ist deutlich, dass beide Paradigmen nicht ohne einander auskommen. Im Gegenteil, sie befruchten einander. Denn kein Text entsteht jenseits einer realen Welt und Situation, aber jede wie auch immer geartete Realität kann nur literarisch gebrochen, das heißt 'verdichtet', nicht abbildhaft zur Darstellung gebracht werden und gerät darin in Konflikt mit anderen Weltdeutungen, was innerchristlich und interkulturell verifizierbar ist.63 Die beiden Entwürfe der zweiten Generation einer neutestamentlichen Narratologie erschienen 1988 und 1990. Robert W. Funks erzähltheoretisch sehr fundiertes Werk The Poetics of Biblical Narrative von 1988 basiert im Wesentlichen auf Vladimir Propp, Seymour Chatman, Gerard Genette und Shlomith Rimmon-Kenan. Von allen auf dem Markt befindlichen biblischen Narratologien geht Funks am meisten ins Detail der Satzstruktur hinein und kommt dabei zu prägnanten Textgliederungen und erzählanalytischen Beobachtungen. In stimulierender Weise entwirft er eine Art narrative Grammatik.64 Dieser elaborierte Entwurf hat aber kaum in die narratologische 60
Seine vier Kapitel handeln von I. Literary Problems in the Historical-Critical Paradigm, II. A Literary-Critical Model for Historical Criticis, III. Story Time and Plotted Time in Mark's Narrative, IV. Narrative World and Real World in Luke-Acts. 61 In diese Anfangszeit gehört auch die Arbeit von Shimon Bar-Efrat Narrative Art in the Bible, die 1979 in hebräischer Sprache erschien und deren zweite Auflage von 1984 im Jahr 1989 in englischer Übersetzung publiziert wurde. Hier finden sich vor allem Applikationen, aber kaum eine Theoriereflexion, allerdings hilfreiche Literaturverweise auf erste Arbeiten. 62 Vgl. auch Petersen, Literary Criticism in Biblical Studies, 1980,25-50. 63 Rhoads, Narrative Criticism: Practices and Prospects, 1999, 269: "However, even though we cannot recover the intentions of an author, (...) subsequent literary studies have made clear that there is no storyworld apart from social context, and there is no storyworld apart from the reading experience. This is equally true of ancient readers and modern readers." 64 Vgl. etwa seine Graphiken und sein elaboriertes Abkürzungssystem, Funk, Poetics, ix-xv.
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Analysepraxis hineingewirkt. Auch meine Versuche, mit diesem Modell zu arbeiten, haben sich als nicht konstruktiv erwiesen, weil sich das Beschreibungsinstrumentarium in seiner Detailliertheit bei der Erfassung größerer Erzählsequenzen als störend erweist. Zwei Jahre später, 1990, erschien die Arbeit von Mark Allan Powell What ist Narrative Criticism? A New Approach to the Bible. Powell bemüht sich um eine breiter angelegte Perspektive. Er nimmt zumindest nominell Structuralism, Rhetorical Criticism, Reader-Response Criticism sowie Narrative Criticism in den Blick.65 Powell entfaltet dann aber im Wesentlichen nur drei Aspekte des Narrative Criticism. Er konzentriert sich vor allem auf die Aspekte der Story: Events, Characters und Settings. Charakteristisch für diesen Entwurf ist der weitgehende Verzicht auf theoretische Überlegungen bei gleichzeitig genialischen exemplarischen Anwendungen auf die Evangelientexte. Damit bildet Powell den Gegenentwurf zu Funk. Funk ist in seinen theoretischen Ausführungen und Präzisierungen so detailliert, dass größere Erzählzusammenhänge aus dem Blick zu geraten drohen. Powell dagegen bringt inspirierende Anwendungen, die aber infolge fehlender vertiefter theoretischer Fundierung schwer an anderen als den von Powell behandelten Texten umsetzbar sind. Erwähnt sei hier noch eine alttestamentliche Narratologie jener Zeit, die einen Mittelweg zwischen Funk und Powell beschritt. Es handelt sich um die Einleitung in der Analyse hebräischer Erzählungen von Jean Louis Ska "Our Fathers Have Told Us" aus dem Jahr 1990. Ska gelingt es, in Einzelaspekte narratologischer Theoriebildung prägnant einzuführen (Time, Plot, Narrator and Reader, Point of View, Characters), diese darzustellen und die wichtigste Literatur zu nennen. Des Weiteren illustriert er die narratologischen Arbeitsschritte in nachvollziehbarer Weise an alttestamentlichen Einzeltexten. Skas biblische Narratologie stellt somit auch ein für die Analyse neutestamentlicher Texte sehr hilfreiches Instrumentarium bereit. Knapp zehn Jahre später, 1998, folgte die dritte Generation biblischer Narratologien. 1998 veröffentlichte der renommierte neutestamentliche Narratologe Daniel Marguerat zusammen mit Yvan Bourquin eine exzellente Erzähltheorie biblischer Texte: Pour lire les recits bibliques. Das Buch erschien schon im folgenden Jahr, 1999, in englischer Übersetzung unter dem Titel How to Read Bible Stories.66 Marguerat und Bourquin verknüpfen in idealer Weise frankophone und anglo-amerikanische Erzähltheorie miteinander, wobei ein leichtes Übergewicht der frankophonen Theoriebildung zu verzeichnen ist. Das ist insofern begrüßenswert, als die übrigen durchgehend englischsprachigen Arbeiten ein deutliches Gewicht auf die anglo-amerikanische Theoriediskussion legen. Diese Einführung ist didaktisch außerordentlich durchdacht und mit klaren und übersichtlich präsentierten Definitionen, Übungsfragen und Antworten (am Ende des Buches) versehen. Florence Clerc hat den Text mit anschaulichen und zugleich humorvollen Zeichnungen illustriert. Diese biblische Narratologie kann als derzeit umfas-
65 66
Vgl. Powell, Narrative Criticism, 1 Iff. Nach dieser Ausgabe wird im Folgenden zitiert.
Was ist Narrative Criticism?
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sendeste und facettenreichste, vor allem auch für Studierende geeignete Einführung in die biblische Narratologie bezeichnet werden. Fast zeitgleich erschien von dem katholischen Neutestamentier Francois Tolmie das knapp gehaltene und dadurch übersichtliche Buch Narratology and Biblical Narratives: A Practical Guide (1999). Tolmies Darstellung basiert auf den Erzähltheorien von Gerard Genette, Slomith Rimmon-Kenan, Mieke Bai und Seymour Chatman.67 Kapitelweise wird eine kurze theoretische Einführung in die wichtigsten Aspekte der Erzählanalyse gegeben.68 Alle Kapitel sind unterlegt mit Textbeispielen aus der Hebräischen Bibel und dem Neuen Testament. Abgeschlossen wird jedes Kapitel durch einen für Einsteigerinnen hilfreichen, nicht zu ausufernden Literaturüberblick a) zu Theorieaspekten und b) zur ihrer bisherigen Anwendung auf Bibeltexte. Eine ausführliche deutschsprachige Einführung in die biblische Narratologie liegt noch nicht vor. Kurze Erwähnungen finden sich freilich69, so etwa in neueren neutestamentlichen Methodenbüchern: Thomas Söding bietet in Wege der Schriftauslegung (1998) in seinem Kapitel zur "Formanalyse (Formkritik)" erzähltheoretische Überlegungen innerhalb der Analyse erzählender Texte.70 Martin Meiser dagegen hat in seiner Einführung in die Exegese des Neuen Testaments aus dem Jahr 2000 ein Unterkapitel explizit der "Erzählanalyse" gewidmet; er ordnet sie in sein Kapitel zur Redaktionsgeschichte ein, was genealogisch nicht unzutreffend ist.71 Dennoch vermögen beide Zuordnungen nicht wirklich zu überzeugen und führen bei Studierenden, an deren Adresse diese Bücher gerichtet sind, eher zu Verwirrung. Denn Narratologische Analyse besitzt ein eigenes methodologisches Instrumentarium, das in die herkömmlichen Methoden nicht einfach integrierbar ist. Sie hat sehr eigene Denkvoraussetzungen und eine eigenständige Tradition und Theoriebildung innerhalb der Literaturwissenschaft (s.u. Π.Α.). Diesen Aspekt berücksichtigen die alttestamentliche Methodenlehre von Helmut Utzschneider und Stefan Ark Nitsche Arbeitsbuch literaturwissenschaftlicher Exegese. Eine Methodenlehre zur Exegese des Alten Testament aus dem Jahr 2001 sowie die jüngst erschienene neutestamentliche Methodenlehre von Martin Ebner und Bernhard Heininger Exegese des Neuen Testaments. Ein Arbeitsbuch für Lehre und Praxis (2005). Beide Bücher bieten umfangreiche und gelungene Darstellungen der Erzählanalyse, die als eigenständiges Phänomen wahrgenommen wird.72 Insgesamt ist die Narratologische Exegese des Neuen Testaments im deutschen Kontext bisher nur sehr zögerlich rezipiert worden. Ausnahmen 67
S. Tolmie, Narratology, 1999, 5. Die Kapitelüberschriften sind: 1. Narrator and Narratee, 2. Focalization, 3. Character, 4. Events, 5. Time, 6. Setting, 7. Implied Author and Implied Reader. 69 Lindemann markiert das methodologische Feld der Erzählanalyse nur implizit, indem er das Adjektiv redaktionsgeschichtlich in Anführungszeichen setzt und diese Fragestellung weiter präzisiert als die Betrachtung des Evangeliums "als Erzählung", ohne dies allerdings weiter auszuführen, vgl. Conzelmann / Lindemann, Arbeitsbuch zum Neuen Testament, 1995", 113ff. 70 Söding, Wege der Schriftauslegung, 1998, 140-151. 71 Meiser, Proseminar II, 2000, 106-108. 72 Utzschneider / Nitsche, Arbeitsbuch literaturwissenschaftlicher Bibelauslegung, 2001, 150-186; Ebner / Heininger, Exegese des Neuen Testaments, 57ff. 68
Einleitung
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bilden Hans-Josef Klauck, der schon 1982 in theoretisch hoch reflektierter Weise in Anlehnung an die Erzähltextanalyse von Cordula Kahrmann, Gunter Reiß und Manfred Schluchter73 die erzählerische Rolle der Jünger im Markusevangelium analysierte74, sowie Ferdinand Hahn, der 1985 den Sammelband Der Erzähler des Evangeliums: Methodische Neuansätze in der Markusforschung veröffentlichte. In diesem Sammelband wurden Aufsätze und Vorträge der anglo-amerikanischen Forschung von Willem S. Vorster, Robert C. Tannehill und Norman R. Petersen in deutscher Übersetzung dem deutschsprachigen Publikum zugänglich gemacht. Ergänzt wurden diese durch Beiträge von Cilliers Breytenbach zum Markusevangelium als episodische Erzählung und von Ferdinand Hahn Einige Überlegungen zu gegenwärtigen Aufgaben der Markusinterpretation. Dieser Band ist dem Markusevangelium gewidmet und hat in den 20 Jahren seit seinem Erscheinen in Deutschland kaum Resonanz erfahren. In jüngster Zeit erschien die Monographie von Günter Wasserberg Aus Israels Mitte - Heil für die Welt: Eine narrativ-exegetische Studie zur Theologie des Lukas (1998), die sich als erste deutschsprachige Monographie zum lukanischen Doppelwerk des methodischen Ansatzes des Narrative Criticism bedient. Wasserbergs Ausführungen zur Methodik bleiben jedoch in der Hauptsache forschungsgeschichtlich an drei wichtigen Arbeiten zum Lukasevangelium und den Acta orientiert (Kingsbury, Tannehill, Tyson), wobei auf systematische Überlegungen zur Methodik im Einzelnen verzichtet wird.75 So hat Friedrich Wilhelm Horn in seiner Rezension dieser Monographie mit Recht kritisiert, Wasserberg setze die Methodologie des Narrative Criticism "apodiktisch" voraus, ohne sie darzustellen.76 Im Jahr 2001 erschienen zwei Monographien zum Lukasevangelium mit einem Schwerpunkt auf einer erzählanalytischen Fragestellung. In seiner Habilitationsschrift Mehr als ein Prophet: Die Charakterzeichnung Johannes des Täufers im lukanischen Erzählwerk knüpft Christoph Gregor Müller explizit an die narratologische Theoriebildung an (Gerard Genette, Shlomith RimmonKenan) und legt damit die erste umfassende, primär auf narratologischer Methodologie basierende Untersuchung zum Lukasevangelium im deutschen Kontext vor.77 Im gleichen Jahr erschien die Habilitationsschrift Reinhard von Bendemanns Zwischen ΔΟΞΑ und ΣΤΑ ΥΡΟΣ: Eine exegetische Untersuchung der Texte des sogenannten Reiseberichts im Lukasevangelium, die sich der Erzähltextanalyse neben einer vorrangig traditionsgeschichtlichen Frage-
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Kahrmann / Reiß / Schluchter, Erzähltextanalyse. Eine Einführung, (1977), 19964. Vgl. o. Anm. 30. 1997 folgte sein Buch zur Erzähltechnik der Markusprologes: Vorspiel im Himmel. In diesem Buch führt er seine Ansätze von 1982 leider nicht fort und legt seine narratologisehen Kategorien, wie etwa Stimme und Fokalisierung nur in knappester, teilweise undurchsichtiger Weise dar (40-46). 75 Zur "Methodik" vgl. Wasserberg, Israels Mitte, 31-67. Die Darlegung ist an größeren, im Geiste des Narrative Criticism verfassten Arbeiten zu den Acta orientiert und enthält kaum systematische Überlegungen zur Methodologie. Treffender wären diese Ausführungen als Forschungsüberblick bezeichnet gewesen. 76 Horn, Rez. Wasserberg, 2001, 645f. 77 Vgl. dazu die ausführliche Rezension von von Bendemann, in: BZ 46, 2002, 278-280. 74
Was ist Narrative Criticism?
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Stellung bedient.78 Von Bendemann bringt ebenso wie Müller und anders als Wasserberg wenigstens eine knappe Einführung in sein Verständnis von "narrativer Analytik". 9 Er betont aber in diesem Zusammenhang, dass er es nicht als die Aufgabe seiner Untersuchung betrachtet, in die Modelle der Erzähltheorie einzuführen.80 Damit hat er ein exegetisches Forschungsdesiderat für den deutschsprachigen Kontext benannt, an welches die vorliegende Untersuchung anknüpft. Für die vorliegende Untersuchung ergibt sich daraus eine doppelte Zielsetzung: Zum einen möchte diese Untersuchung in die Narratologie einführen und zum anderen eine erzählanalytische Auslegung der Acta vorantreiben. Im Arbeitsprozess wurde deutlich, dass eine ausschließlich narratologische Applikation ohne theoretische Fundierung kaum überzeugend und nachvollziehbar gewesen wäre. Stanley E. Porter hat in einem Forschungsbericht zum Literary Criticism, also grundsätzlich zu literaturwissenschaftlichem Arbeiten, die wenig theoriebewussten Auslegungen, die sich als self-evident präsentieren, treffend als Common-Sense Criticism bezeichnet.81 Mit Recht fordert er eine intensivere Theoriereflexion, gerade auch angesichts der sich ausdifferenzierenden literaturwissenschaftlichen Herangehensweisen an das Neue Testament.82 Ähnlich beklagt Breytenbach in einem Forschungsbericht zum Markusevangelium im Jahr 1993, dass sich unter den synchronen Markusarbeiten eine "gefährliche Methodenlosigkeit" breit mache, die sich durch die "Zurückhaltung, sich selbständig über die Grundlagen der Text- und Literaturtheorie kundig zu machen" auszeichne.83 Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es angesichts dieser Forschungslage, ein transparentes und nachvollziehbares methodologisches Instrumentarium zu präsentieren. So erklärt sich der erste große Hauptteil dieser Untersuchung zur "Methodologischen Grundlegung der Narratologie" (II.). Dieser soll die Nachvollziehbarkeit und methodologische Überprüfbarkeit meines zweiten Hauptteiles, der "Narratologischen Analyse der Apostelgeschichte" (ΙΠ.), ermöglichen und zudem eine weitere vertiefende Theoriereflexion anregen.
78 Vgl. dazu die Rezensionen von Klauck, in: BZ 45, 2001, 270-272, und von Reinmuth, in: ThLZ 127, 2002, 171-173. 79 Vgl. von Bendemann, ΔΟΞΑ und ΣΤΑΥΡΟΣ, 2001, 114-128. 80 Ebd. 114. 81 Als Beispiele führt er unter anderem Talbert und Tannehill an, die beide vor allem mit Arbeiten zum lukanischen Doppelwerk hervorgetreten sind. 82 Porter, Literary Approaches, 1995, 97 passim; ähnlich Breytenbach, Das Markusevangelium als traditionsgebundene Erzählung, 1993, 91. Angemerkt sei, dass es anachronistisch ist, die Arbeiten des Narrative Criticism als "New Criticism" oder "Formalism" zu bezeichnen, wie es Porter ebd. tut. Beide literaturwissenschaft-lichen Richtungen gehören der Vorgeschichte des Narrative Criticism bzw. der Narratologie an (s.u. H.A.), sind aber längst methodologisch überholt, wenngleich zugestanden werden muss, dass einzelne heutige exegetische Arbeiten in Prinzipien des New Criticism zurückzufallen drohen. 83 Breytenbach, Das Markusevangelium, 91.
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D. Schlaglichter der
ActaerZählforschung
Theologians and historians alike act as if theology could be distilled from narrative, without taking into account the peculiar nature of narrative itself. As Gaventa says, Lukan theology is intricately and irreversibly bound up with the story he tells and cannot be separated from it. An attempt to do justice to the theology of Acts must struggle to reclaim the character of Acts as a narrative. William Shepherd 84
Die Acta Apostolorum und das Lukasevangelium bilden das so genannte Corpus Lucanum und machen zusammen fast ein Drittel des Neuen Testaments aus. Sie sind umfangreicher als die Paulusbriefe und die johanneische Literatur zusammengenommen. Ein solches Doppelwerk hat keine Analogie in der Literatur des frühen Christentums.85 Innerhalb der Forschungsvielfalt zum lukanischen Doppelwerk 86 widmet sich die vorliegende Untersuchung schwerpunktmäßig der Erzählung und der "Geschichte" (story) der Acta. Vergleichbares ist in der Actaforschung des 20. Jahrhunderts in Ansätzen immer wieder Gegenstand von Untersuchungen ge84
Shepherd, The Narrative Function, 1993, 29. Viele Evangelien und viele Apostelgeschichten sind im frühen Christentum entstanden, aber kein weiteres Doppelwerk bestehend aus Evangelium und Apostelgeschichte, vgl. die apokryphen Evangelien und Apostelgeschichten in den Ausgaben Schneemelchers (s. das Quellenverzeichnis). 86 Vgl. die allgemeinen Forschungsberichte, etwa von Gräßer, Forschungen zur Apostelgeschichte, 2001, 59-287 (Nachdruck seiner Forschungsberichte von 1960, 1976 und 1977); van Unnik, Luke-Acts. A Storm Center in Contemporary Scholarship, (1966), 1973, 92-110; Gasque, A History of the Interpretation of the Acts of the Apostles, (1975), ergänzte Aufl. 1989; Bovon, Luke the Theologian. Thirty-Three Years of Research (1950-1983), (1978), 1987; ders., Studies in Luke-Acts: Retrospect and Prospect, 1992, 175-196; Pliimacher, Acta-Forschung 1974-1982, 1983, 1-56, und 1984, 105-169; Rese, Das LukasEvangelium. Ein Forschungsbericht, 1985, 2258-2328; Hahn, Der gegenwärtige Stand der Erforschung der Acta, 1986, 177-190; Radi, Das Lukas-Evangelium, 1988; Powell, What are they saying about Luke?, 1990; ders., What are they saying about Acts?, 1991; Schneider, Literatur zum lukanischen Doppelwerk. Neuerscheinungen 1990/91, 1992, 1-18; Lindemann, Literatur zu den Synoptischen Evangelien 1984-1991, 1994, 252-284 (zu Lk). Weitere Forschungsberichte zum Lukasevangelium und den Acta führt Verheyden, Unity of Luke-Acts, 1999, 9 A 23, auf. Es wird immer schwieriger, die Forschungslandschaft zu überblicken. Gräßer, der selbst über Jahrzehnte Forschungsberichte zu den Acta geschrieben hat, stellt fest, dass allein für die Jahre 1998 und 1999 der Elenchus Bibliographicus 220 neue Titel zum lukanischen Doppelwerk nennt (so Gräßer, Forschungen, 2001, 1). Vgl. auch die Bibliographien von Mills, A Bibliography of the Periodical Literature on the Acts of the Apostles 1962-1984, 1986 (Mills führt 991 nach Autorinnen geordnete Zeitschriftentitel bis 1985 an, ergänzt durch Zeitschriften-, Stellen- und Stichwortindices); ders., The Acts of the Apostles, 1996 (Monographien, Aufsätze und Lexikonartikel werden geordnet erstens nach Textstellen und zweitens nach Themen, drittens werden die Kommentare aus den Jahren 1900 bis 1994 zu den Acta angeführt); Green / McKeever, Luke-Acts and New Testament Historiography, 1994; zum Lukasevangelium vgl. Segbroeck, The Gospel of Luke. A Cumulative Bibliography 1973-1988, 1989 (2759 Studien zum Lukasevangelium von 1973-1989 in alphabetischer Reihenfolge mit erschließenden Indices: Bibliographien, Forschungsberichte, Aufsatzbände, Einleitungsfragen, Textkritik, Kommentare, Stil und Sprache, Religionsgeschichte, literarische Fragen, Theologie, Auslegungsgeschichte, Bibelstellen); weitere Bibliographien zum Lukasevangelium und Acta führt Verheyden, Unity of Luke-Acts, 1999, 8 A 21, auf. 85
Schlaglichter der Actaerzählforschung
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wesen. Es wurde behandelt unter Stichworten wie etwa 'Stil' oder 'Erzählkunst des Lukas'87 sowie in jüngster Zeit vermehrt unter dem Sammelbegriff des Narrative Criticism 8. Im Zuge der größeren Öffnung der Bibelwissenschaften gegenüber der Literaturwissenschaft seit den 70er Jahren (s.o. I.B.) gelang es zunehmend, die Frage nach dem Erzähler Lukas in einen methodologischen Rahmen einzuschreiben (s.o. I.C.). So sei zum gegenwärtigen Stand der literaturwissenschaftlichen Erforschung der Acta auf die bestehenden Forschungsberichte89 und Bibliographien 90 verwiesen. Die Arbeiten zu den Einzelaspekten der story und des discourse des Corpus Lucanum, wie etwa zu dem plot, den Figuren, den Erzählstimmen, sollen nicht im Vorgriff auf die beiden Hauptteile dieser Untersuchung (II., III.) vorgestellt werden. Sie werden dort diskutiert, wo sie sachlich ihren Ort haben. Im Folgenden werden in Umrissen die wichtigsten Stationen auf dem Weg zu einer methodologisch fundierten Erforschung der Acta als erzählter Geschichte bzw. als erzählter Theologie benannt, Stationen, die zu den Forschungen unter dem Oberbegriff des Narrative Criticism führten.91 87 Vgl. zu Stilkritik und Erzählkunst - so die klassischen Bezeichnungen des 20. Jahrhunderts - des Corpus Lucanum im weitesten Sinn grundlegend etwa: Hawkins, Horae Synopticae, 1907; Cadbury, The Style and Literary Method of Luke, 1920; ders., The Making of Luke-Acts, New York 1927; ders., Four Features of Lucan Style, 1966, 87-102; Dibelius, Stilkritisches zur Apostelgeschichte, 1923, 9-28; Morgenthaler, Die lukanische Geschichtsschreibung als Zeugnis. Gestalt und Gehalt der Kunst des Lukas, 1948; ders., Lukas und Quintilian: Rhetorik als Erzählkunst, 1993; Wilcox, Semitisms in Acts, 1965 (vgl. die Rezension von Haenchen 1966); Steichele, Vergleich der Apostelgeschichte mit der antiken Geschichtsschreibung. Eine Studie zur Erzählkunst in der Apostelgeschichte, 1971; Plümacher, Lukas als hellenistischer Schriftsteller. Studien zur Apostelgeschichte, 1972; Talbert, Literary Pattems, Theological Themes and the Genre of Luke-Acts, 1974; Radi, Paulus und Jesus im lukanischen Doppelwerk. Untersuchungen zu Parallelmotiven im Lukasevangelium und in der Apostelgeschichte, 1975; Mattill, The Jesus-Paul Parallels and the Purpose of Luke-Acts: Η. H. Evans Reconsidered, 1975, 15-46; Jeremias, Die Sprache des Lukasevangeliums, 1980; Roloff, Apostelgeschichte, 1981, 10-12; Resseguie, Point of View in the Central Section of Luke (9:51-19:44), 1982, 41-47; Praeder, Jesus-Paul, Peter-Paul, and JesusPeter Parallelisms in Luke-Acts: A History of Reader Response, 1984, 23-39; Levinsohn, Textual Connections in Acts, 1987 (hier v.a. Unterschiede zwischen dem Lukasevan-gelium und den Acta); Dawsey, Literary Unity of Luke-Acts, 1989, 48-66 (v.a. Unterschiede); Dauer, "Ergänzungen" und "Variationen" in den Reden der Apostelgeschichte gegenüber vorausgegangenen Erzählungen. Beobachtungen zur literarischen Arbeitsweise des Lukas, 1989, 307336; ders., Beobachtungen zur literarischen Arbeitstechnik des Lukas, 1990; Parsons / Pervo, Rethinking, 1993,45ff passim; von Bendemann, ΔΟΞΑ und ΣΤΑΥΡΟΣ, 2001 (454 A 3 betont er die "narrative Kohärenz" von Lukasevangelium und Acta, übersieht dabei aber die "sprachlich-stilistischen Differenzen" nicht). 88 Es würde zu weit führen, diese Arbeiten hier gesammelt einzeln aufzuführen; vgl. dazu die Bibliographie am Ende. 89 Vgl. die Forschungsberichte mit besonderem Gewicht auf literaturkritischen Arbeiten zum Lukasevangelium und vor allem den Acta: Kurz, Narrative Approaches in Luke-Acts, 1987, 195-220; Powell, Acts?, 1991, 96-107; Spencer, Acts and Modern Literary Approaches, 1993,381-444. 90 Speziell dazu s. Powell, Bible and Modern Literary Approaches, 1992, 308-324 passim (literary-critical interpretations of Luke-Acts with comments); Minor, Literary-Critical Approches, 1992, 413-434 passim (kommentiert). 91 Wie unten angedeutet (H.A.), ist die überfällige Korrelation von Narratologie und Rhetorik noch nicht ins Visier der Forschung getreten. Sie stellt ein dringendes Forschungsdesiderat dar.
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Dem Entstehen des Narrative Criticism gehen im Wesentlichen drei Hauptphasen der Auslegung der Acta im 20. Jahrhundert voraus, deren Übergänge fließend sind: 1. Die historische Phase bis Anfang der 50er Jahre. 2. Die redaktionskritische Phase von 1954 (einsetzend mit dem Erscheinen von Hans Conzelmanns Mitte der Zeit) bis in die 70er Jahre. 3. Die Übergangsphase bzw. kompositionskritische Phase von 1974 (einsetzend mit Charles H. Talberts Literary Patterns)92 bis Mitte der 80er Jahre. In der ersten Phase wurden die Acta primär als historisches Dokument der apostolischen Zeit und als erste Kirchengeschichte untersucht; von dieser Fragerichtung war die Actaforschung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts maßgeblich bestimmt. 93 In den 50er Jahren setzte die zweite Phase der Actaforschung ein. Es war die Entdeckung des 'Lukas' als Schriftsteller und Theologe. 94 Forschungsgeschichtlich bildete diese Zeit einen markanten Einschnitt. Sie überwand eine primär an der Frage nach der Historizität der in den Acta verarbeiteten Quellen und Traditionen interessierte Forschung und richtete ihr Augenmerk auf die Merkmale der literarischen und theologischen Bearbeitung und Gestaltung dieser Traditionen durch den Verfasser. Es war die Zeit des Aufkommens der Redaktionsgeschichte. Sie setzte innerhalb der Lukasexegese mit Hans Conzelmanns Monographie Die Mitte der Zeit: Studien zur Theologie des Lukas ein.95 Durch diese Arbeit wurde Conzelmann einer der Mitbegründer der Redaktionsgeschichtlichen Methode. 96 Dieses Verfahren geht von der Prämisse aus, dass die Verfasserinnen der Evangelien nicht allein die ihnen überlieferten mündlichen und schriftlichen Traditionen kompiliert, sondern gemäß kompositioneilen und theologischen Grundprinzipien arrangiert, bearbeitet oder sogar neu geschaffen haben. Damit traten die Evangelistinnen, die bis dato vorrangig als Sammlerinnen ihrer Traditionen aufgefasst worden waren, als kreative Redaktorinnen bzw. Autorinnen in den Blickpunkt. 97 Anhand der Scheidung von Tradition und Redaktion im synopti92
Talbert bezeichnet ebenfalls, unabhängig vom Erscheinen seines Buches, das Jahr 1974 als "watershed", s. dazu unten. 93 Von dieser Frage ist ein Teil der angelsächsischen Forschung bis heute geprägt und in jüngster Zeit knüpft die Monographie von Hengel / Schwemer, Paulus zwischen Damaskus und Antiochien, 1998, wieder daran an. 94 Vgl. dazu vor allem den Forschungsbericht von Bovon, Luke the Theologian. ThirtyThree Years of Research (1950-1983), (1978), 1987 95 Conzelmann, Die Mitte der Zeit. Studien zur Theologie des Lukas, (1954), 4., verb. u. erg. Aufl. 1962. Diese Monographie basiert auf Conzelmanns Dissertation: Die geographischen Vorstellungen im Lukasevangelium, Diss. Tübingen 1951 (Maschinenschrift). Vgl. auch Conzelmanns Kommentar: Die Apostelgeschichte, (1963), 1972. 96 Vgl. dazu Rohde, Die redaktionsgeschichtliche Methode, 1966; Donahue, Redaction Criticism: Has the Hauptstrasse become a Sackgasse?, 1994, 27-57, sowie Merk, Redaktionsgeschichte, 1997 (Lit.). 97 Daher schlägt Haenchen, Weg, 1966, 24, auch die Bezeichnung 'Kompositionsgeschichte' vor als treffendere Alternative zum Begriff der 'Redaktionsgeschichte', den Marxsen prägte: "Marxsens Anliegen stimmen wir durchaus zu. Aber ist der Begriff der 'Redaktion' glücklich? Die Quellenforschung sah in dem Redaktor einen Mann, der mit Leimtopf und Schere die Quellen mehr schlecht als recht zu einem Evangelium zusammenbrachte. An eine solche Überarbeitung der Tradition durch den Evangelisten denkt ja Marxsen gerade nicht, wenn er in den Evangelisten Schriftsteller mit der Fähigkeit zur Komposition und mit eige-
Schlaglichter der Actaerzählforschung
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sehen Vergleich wurden die spezifischen theologischen Zuschnitte der einzelnen Evangelistinnen herausgearbeitet. Conzelmann erfuhr im Hinblick auf seine Thesen zur Theologie des Lukasevangeliums vielfältige Kritik98, nicht aber im Hinblick auf seine Methodologie und ihre Prämissen. Ungeachtet der Tatsache, dass seine Deutung der lukanischen Theologie als Heilsgeschichte in drei Stufen als überholt gelten kann, hat Conzelmann gezeigt, dass die lukanische Erzählung der Geschichte Jesu und seiner Gemeinde ein "Bild" von dieser Geschichte vermittelt, das mit den historischen Ereignissen nicht immer konform ist. Die lukanische Erzählung der Geschichte und der genaue Hergang der ihr zugrunde liegenden Ereignisse sind nicht deckungsgleich. Darin folgte Conzelmann auch den Thesen von Martin Dibelius (s.u.), auf den er sich in seiner Studie immer wieder berief." Angemerkt sei, dass die lukanische Theologie in der Lesart Conzelmanns vor allem in der spezifischen Rezeption durch Ernst Käsemann in Misskredit geriet.100 Sie wurde in die Theologiegeschichte des frühen Christentums als Verfallstheologie eingeschrieben, welche die urchristliche Eschatologie durch eine Heilsgeschichte ersetzte. Käsemann drückte der lukanischen Theologie
nen theologischen Konzeptionen sieht. Wir möchten darum dieses zweite Stadium der Formgeschichte (das dem ersten nicht feind ist!) lieber Kompositionsgeschichte nennen." 98 Die These Conzelmanns im Hinblick auf die lukanische Bearbeitung der Tradition war, dass der Verfasser die von der Parusieerwartung geprägte frühchristliche Theologie in eine Theologie der Heilgeschichte mit drei aufeinander folgenden Phasen umsetzte: "a) Die Zeit Israels (Lc 16,16). b) Zeit des Wirkens Jesu (nicht: seines "Lebens") (...), charakterisiert in Stellen wie Lc 4,16ff., Act 10,38. c) Zeit seit der Erhöhung des Herrn, auf Erden Zeit der Kirche, in welcher die Tugend der Geduld gefordert ist. Denn die Kirche wird in der Welt verfolgt, und dieses Leiden wird als gottgesetzt anerkannt (Act 14,22); aber sie ist ausgerüstet worden, damit sie die Verfolgung bestehen kann, indem sie den Geist empfing. Dieser ist das eigentlich Charakteristikum dieser dritten Epoche," so Conzelmann, Mitte, 9. Diese Verarbeitung des Problems der Parusieverzögerung in Form eines heilsgeschichtlichen Konzeptes machte die Abfassung der Fortsetzung des Lukasevangeliums notwendig: die Apostelgeschichte. Zur Kritik an Conzelmanns Entwurf vgl. exemplarisch etwa Theißen, Jünger als Gewalttäter (Mt ll,12f.; Lk 16,16). Der Stürmerspruch als Selbststigmatisierung einer Minorität, 1995, 183-200. 99 Conzelmann, Mitte, 5, schreibt im Anschluss an Dibelius: "Unser Ziel ist nicht die Erforschung der Vorlagen und Quellen als solcher und nicht die Rekonstruktion der historischen Vorgänge. Diese bleibt natürlich eine unumgängliche Aufgabe. Zunächst aber ist der Sinn des vorliegenden Textes ohne Rücksicht auf unsere Vorstellung vom mutmaßlichen Vorgang zu erheben, also das Bild, das Lukas von diesem zeichnet." Und er fährt fort: "Erforderlich ist die Bestimmung des eigenen geschichtlichen Standortes des Lukas innerhalb der kirchlichen Entwicklung. Nur dann ist die Art und Weise zu verstehen, wie er einerseits auf die 'arche' der Kirche in ihrer Einmaligkeit, Unwiederholbarkeit, zurückblickt - das setzt zeitliche Distanz voraus - , wie er andererseits auf die eschatologischen Ereignisse vorausblickt. Nicht daß er in den Kategorien von Verheißung und Erfüllung denkt, macht seine Eigenart aus - das teilt er mit anderen - , sondern die Weise, wie er daraus ein Bild des heilgeschichtlichen Ablaufs entwirft und wie er dafür den überlieferten Stoff verwendet." 100 Vgl. Käsemann, Problem des historischen Jesus, (1954), 187-214; ders., Paulus und der Frühkatholizismus, (1963), 1964, 239-252; ders., Ephesians and Acts, 1966, 288-197. Vgl. zu dieser Kontroverse Kümmel, Lukas in der Anklage der heutigen Theologie (1970/ 1972), 1974, 416-436, und zuletzt Gräßer, Forschungen zur Apostelgeschichte, 2001, 15ff.
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schließlich den Stempel des Frühkatholizismus auf.101 Die hiermit einhergehende Abwertung der lukanischen Theologie wirkt in Deutschland bis in die Gegenwart nach. Sie gründet ein Stück weit sowohl im Erbe Franz Overbecks als auch Rudolf Bultmanns. Franz Overbeck bezeichnete die Hinzufügung einer Apostelgeschichte zum Evangelium als „eine Taktlosigkeit von welthistorischen Dimensionen".102 Rudolf Bultmann hat in seiner monumentalen Theologie des Neuen Testaments nur die Theologien des Paulus und des Johannesevangeliums als solche anerkannt und gewürdigt.103 Ernst Haenchen knüpfte in seinem Meyerschen Kommentar zur Apostelgeschichte, der 1956 in erster Auflage erschien, und in seinen zahlreichen Aufsätzen wie Conzelmann ebenfalls an Martin Dibelius an. Leitend war für Haenchen, den "Gedanken einer Quellenbenutzung mit dem einer zusammenfassenden Bearbeitung und Darstellung" derselben durch den Verfasser der Acta zu verbinden.104 Des Weiteren arbeitete Haenchen die schriftstellerische Kunst des Lukas weiter heraus und prägte den Begriff des "dramatischen Episodenstils" bzw. der "dramatischen Szenentechnik".105 Diese auch für die vorliegende Untersuchung virulente Erkenntnis Haenchens wurde vielfach rezipiert.106 Genannt seien etwa Eckhard Plümacher, der damit in seiner Monographie zu Lukas als hellenistischer Schriftsteller arbeitet, oder Hanneliese Steichele in ihrer Studie zur Erzählkunst des Lukas, die diesen Aspekt treffend der Erzählforschung zuordnet, indem sie auf Lämmerts Bauformen des Erzählens verweist. Trotz dieser Rezeptionen hat die von Haenchen treffend markierte lukanische Erzählweise der dramatischen Szenentechnik kaum eine systematische Darstellung erfahren. Die Entdeckung der schriftstellerischen Kunst des 'Lukas' hatte Vorläufer anfangs des 20. Jahrhunderts. Schon Adolf von Harnack untersuchte im Zusammenhang mit seinem Bemühen, die Quellen der Acta herauszuarbeiten,
101 S. Käsemann, Problem des historischen Jesus, (1954), 1960, 187-214: 198f.; ders., Paulus und der Frühkatholizismus, (1963), 1964, 239-252. 102 Overbeck, Christentum und Kultur, 1919, 78. Die gesamte Passage lautet: "Nichts ist bezeichnender für die Auffassung des Lukas von der evangelischen Geschichte, sofem er darin ein Objekt der Geschichtsschreibung sieht, als sein Gedanke, dem Evangelium eine Apostelgeschichte als Fortsetzung zu geben. Es ist eine Taktlosigkeit von welthistorischen Dimensionen, der größte Exzeß der falschen Stellung, die sich Lukas zum Gegenstand gibt. Dieser Uebergriff deckt sich auch unmittelbar in der Tatsache auf, daß die Apostelgeschichte neben den Evangelien dasteht wie eines der armseligsten und ärmsten Bücher neben solchen, die durch ihren Reichtum zu den am höchsten stehenden gehören. Dem dritten Evangelisten ist sein Unternehmen, den Stoff der evangelischen Geschichte historiographisch zu gestalten, völlig mißlungen - der Gedanke an sich war dilettantisch, kein Wunder, daß sich der Dilettant auch sonst verrät." Hier haben wir unverblümte Worte Overbecks vor uns, die erst postum von seinem Schüler Carl Albrecht Bernoulli herausgegeben worden sind. 103 So und zum Ganzen auch Gräßer, Forschungen, 2001, 15ff. 104 Haenchen, Apostelgeschichte, 40, in Antithese zu Schleiermacher. 105 Ebd. 117. 106 Vgl. etwa Steichele, Vergleich der Apostelgeschichte mit der antiken Geschichtsschreibung. Eine Studie zur Erzählkunst in der Apostelgeschichte, 1971, 71 ff.; Plümacher, Lukas als hellenistischer Schriftsteller, 1972, 80ff.; Roloff, Apostelgeschichte, 1981, 10-12 (er spricht von der lukanischen "Kunst des szenischen Erzählens"); Breytenbach, Paulus und Barnabas, 1996, 22 passim; Jervell, Apostelgeschichte, 1998, 75.
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auch den literarischen Stil der Acta.107 Im Jahre 1923 erschien dann Martin Dibelius' kleiner, aber epochemachender Aufsatz Stilkritisches zur Apostelgeschichte108. Dibelius stellte hier das die Forschung zu den Acta beherrschende Interesse an der Rekonstruktion der christlichen Frühgeschichte in Frage zugunsten der Erkenntnis und Hervorhebung der kreativen stilistischen und literarischen Gestaltung des Stoffes durch "den Erzähler", wie Dibelius den Verfasser immer wieder gerne nannte. Etwa zeitgleich betonte Burnett H. Streeter in The Four Gospels von 1924, dass der Autor des Corpus Lucanum "a consummate literary artist"109 sei. Vor allem aber hat der Altmeister der angelsächsischen Actaforschung, Henry J. Cadbury, 1920 mit seinem Buch The Style and Literary Method of Luke die erste große "Untersuchung über Stil und literarische Methode des Lukas (...), die u.a. auch der Legende von der medizinischen Sprache des Lukas ein Ende machte"110, vorgelegt. Diesem Werk folgte Cadburys auch von Martin Dibelius hochgelobtes Buch The Making of Luke-Acts im Jahr 1927, das von allen damaligen Arbeiten am tiefsten in den literarischen Charakter des Corpus Lucanum einführte und dieses in der literarischen Welt der hellenistischen Historiker situierte.111 Cadbury war es auch, der die literarische Zusammengehörigkeit des Lukasevangeliums und der Acta fundierte und den Bindestrich "Luke-Acts" schuf. Bis zum heutigen Tag bildet die Erkenntnis, dass beide neutestamentlichen Bücher von derselben Hand stammen und als literarisches Werk zusammengehören, den Konsens der Forschung, auch wenn in den letzten Jahren dieses Thema wieder vielfach die Gelehrtenwelt beschäftigte. So war das 47. Colloquium Biblicum Lovaniense vom 29.-31. Juli 1998 der Frage nach der "unity of the Gospel of Luke and the Acts of the Apostles" gewidmet. Hervorgegangen aus dieser Tagung ist ein über 800 Seiten umfassender Sammelband, den Joseph Verheyden 1999 herausgegeben hat. Dieser resümiert in seiner Einleitung die Forschung zu dieser Fragestellung und kommt zu dem Ergebnis, dass als unumstößlicher Konsens der Forschung festgehalten werden kann, dass beide Bücher von demselben Verfasser stammen und als literarisches Werk zusammengehören. Sein Forschungsbericht zeigt im Einzelnen weiter auf, dass aber die Fragen, ob beide Bücher von Anfang an zusammen konzipiert waren, wie sie aufeinander bezogen sind und worin sie sich voneinander unterscheiden, unterschiedlich beurteilt werden. Diese Debatte soll hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden, verwiesen sei neben
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Hamack, Lukas der Arzt, 1906. Abgedruckt in Dibelius, Aufsätze, 1951, 9-28. 109 Streeter, Four Gospels, 1924,548. 110 So Haenchen, Apostelgeschichte, 57. " ' S . neben den genannten Werken auch seine zahlreichen Beiträge in Jackson / Lake (ed.), The Beginnings of Christianity, 5 Bde., London 1920-1933, sowie ders., The Book of Acts in History, 1955; ders., Four Features of Lucan Style, 1966, 87-102. Die Verdienste Cadburys für die Actaforschung werden vorgestellt und diskutiert von Gaventa, Peril of Modernizing, 1992, 7-26 (der Titel ist in Anspielung auf Cadburys Buch, The Peril of Modernizing Jesus, 1962, gewählt) mit respondierenden Voten von Jones, Legacy, 27-36, und Pervo, "On Perilous Things", 37-43. 108
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dem genannten Sammelband112 auf das Buch von Mikeal C. Parsons und Richard Pervo Rethinking the Unity of Luke and Acts von 1993. Parsons und Pervo, die in sehr fundierter Weise die Frage der Einheit von Lukasevangelium und Acta auf der Ebene der Generic Unity, der Narrative Unity sowie der Theological Unity diskutieren, kommen zu dem Ergebnis, dass neben den zahlreichen Übereinstimmungen und Verflechtungen der beiden Bücher auch Differenzen bestehen, die nicht ignoriert werden sollten. So weisen sie etwa die Notwendigkeit zurück, beide Bücher derselben Gattung zuzuordnen. Auch im Hinblick auf die erzählerische Einheit der beiden Bücher zeigen sie Differenzen auf, die das Diktat der ungebrochenen Kohärenz beider Bücher fundiert in Frage stellen. Am Ende ihrer Studie plädieren sie für eine Lockerung des Bindestrichs zwischen Luke-Acts und schlagen vor, diesen durch ein 'und' zu ersetzen. Damit wird in treffender Weise zum einen die Eigenständigkeit der beiden Erzählungen mit ihren Eigenheiten ernst genommen und zum anderen auch ihre unleugbare literarische Zusammengehörigkeit festgehalten. Ein erneuter Einschnitt in der Forschungsgeschichte erfolgte in den 70er Jahren und ist aufs Engste mit dem Namen Charles H. Talbert verbunden.113 In seiner Rezension des zweiten Bandes des monumentalen Kommentars von Joseph A. Fitzmyer zum Lukasevangelium, der 1985 erschienen war, bezeichnet Talbert dieses Kommentarwerk als das Ende einer Ära, nämlich der Zeit von 1954 bis 1974.114 Das Jahr 1974 markiert er als "watershed".115 Talbert nennt vier Neubesinnungen der Forschung:116 (i) Der Fokus der Analyse richtet sich auf größere Textpassagen und nicht mehr auf die traditionellen Perikopen. (ii) Bis dahin stand die minutiöse Untersuchung des Lukasevangeliumstextes im Vergleich zu seinen Quellen im Vordergrund. Dagegen tritt seit 1974 das "close reading"117 des fortlaufenden Evangelientextes als abgeschlossene Texteinheit ins Zentrum. (iii) In der bisherigen Forschung stand die Geschichte der Tradition im Zentrum, also die Frage nach den mündlichen und schriftlichen Vorstufen der Evangelientexte sowie die Frage nach der genuinen Jesustradition. Dagegen wird nun die Botschaft des Textes in seiner kanonischen Gestalt in den Vordergrund gerückt.
112 Vgl. Verheyden (ed.), The Unity of Luke-Acts, 1999, darin neben ders., The Unity of Luke-Acts. What Are We Up To?, 3-56, vor allem auch den Beitrag von Marguerat, LucActs: Une Unite A Construire, 57-81. 1,3 Vgl. zu Talbert: Parsons, Reading Talbert: New Perspectives on Luke-Acts, 1987, 687-720; ders. / Tyson (eds.), Cadbury, Knox, and Talbert. American Contributions to the Study of Acts, 1992. 114 S. Talbert, Review of Fitzmyer, 1986, 336-38: 337. 115 Er führt neben der Gründung der Luke-Acts Group der Society of Biblical Literature die Lectures von Minear To Heal and to Reveal, an, die 1976 gedruckt erschienen. Ungleich einflussreicher war freilich sein eigenes Buch: Talbert, Literary Pattems, 1974. 116 1976 stellt Talbert, Shifting Sands, 213, zur Lage der Actaforschung noch fest: "(...) widespread agreement is difficult to find, except on the point that Conzelmann's synthesis is inadequate". 117 Dieser Begriff stammt aus dem New Criticism. Vgl. dazu Weitz, Zur Karriere des Close Reading: New Criticism, Werkästhetik und Dekonstruktion, 1995, 354-365.
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(iv) Die Dialogpartner in der Zeit vor 1974 waren vor allem Conzelmann und seine Kollegen. Seit 1974 sind die Dialogpartner vorrangig die griechisch-römische Literatur und die moderne Literaturkritik. Talbert ist zugleich der wichtigste Vertreter dieses Neuaufbruchs innerhalb der Forschung zum lukanischen Doppelwerk jener Zeit.118 Er nannte seine Analysemethode architecture analysis mit den Hauptzielen, to "detect the patterns, rhythms, architectonic designs, or architecture of a writing"119. Daneben bemühte er sich, das Corpus Lucanum in der Literaturgeschichte seiner Zeit zu verorten und den Fokus der Gattungsbestimmung beider Bücher zu weiten. Der Klassiker dieser Ära der Erforschung des Corpus Lucanum ist sein Buch Literary Patterns and Theological Themes and the Genre of LukeActs, das 1974 im Druck erschien. Talbert war es auch, der 1974 die LukeActs Group der Society of Biblical Literature gründete und dieser von 19741983 als Chairman vorstand120. Diese dritte Phase, die von 1974 bis in die 80er Jahre hinein reichte, bildet den Übergang von redaktions- über kompositionskritische Arbeiten hin zum Narrative Criticism. Während in Deutschland im Anschluss an Conzelmann Redaktionsgeschichte ausgeprägt als "editorial criticism" betrieben wurde, wie es John R. Donahue treffend bezeichnet, das heißt, stark konzentriert auf die Scheidung von Tradition und Redaktion in Einzelstücken, wurde die Redaktionsgeschichte im angelsächsischen Bereich mit einem anderen Schwerpunkt weiterentwickelt.121 Hier erfolgte eine stärkere Konzentration auf die lukanische Gestaltung der Gesamterzählung, während die Frage nach der spezifischen Bearbeitung der Quellen in den Hintergrund rückte. Es wurde ausgeprägter kompositionskritisch gearbeitet.122 Eines der Hauptwerke dieser Ära war Robert F. O'Tooles The Unity of Luke's Theology: An Analysis of Luke-Acts von 1984. O'Toole betonte auch die Einbeziehung der Acta in eine Rekonstruktion der lukanischen Theologie. Methodologisch war O'Toole Exegeten wie Cadbury, Dibelius, Conzelmann und Haenchen verpflichtet, sein vorrangiges Interesse galt allerdings der Herausarbeitung der Theologie des Corpus Lucanum. Dies erfolgte in Paraphrasierungen der theologischen, chris" 8 S. zu Talbert: Parsons, Reading Talbert: New Perspectives on Luke-Acts, 1987, 687720, und ders. / Tyson, Cadbury, Knox, and Talbert. American Contributions to the Study of Acts, 1992. 119 Talbert, Literary Patterns, 1974, 7. Nach Moore ist das, wovon Talbert hier spricht, die Geburtsstunde der Kompositionskritik. Im Unterschied zur Redaktionskritik, die auf dem synoptischen Vergleich basiert, fragt die Kompositionskritik nach der Gesamtkonzeption des Evangeliums; diese bilde den primären Kontext der Interpretation des Einzelstückes, so Moore, Commentaries, 32. 120 Die Programme der Luke-Acts Group 1974-1978 und des Luke-Acts Seminars 19791983 der Society of Biblical Literature unter der Leitung von Charles Talbert sind als Appendices veröffentlicht in Parsons, Reading Talbert, 1992, 173-179. S. dazu auch die beiden von Talbert herausgegebenen Bände: Perspectives on Luke-Acts, 1978, und Luke-Acts: New Perspectives from the Society of Biblical Literature Seminar, 1984. 121 Vgl. dazu und zum Folgenden auch Donahue, Redaction Criticism: Has the Hauptstrasse become a Sackgasse?, 1994, 27-57. 122 Vgl. dazu O'Toole, Unity, 1984, 11-14; Moore, Literary Criticism, 1989, 4-7. Signifikanterweise fehlt das Stichwort 'Kompositionsgeschichte' und 'Kompositionskritik' in den großen deutschen Lexika wie der Theologischen Realenzyklopädie und in Die Religion in Geschichte und Gegenwart in der dritten und vierten Auflage.
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tologischen, ekklesiologischen, soteriologischen und ethischen Botschaften des Doppelwerkes, sofern sie aus der narrativen Gestalt des Textes deduziert werden konnten. 123 Dabei lag ein Schwerpunkt auf dem Erweis der Einheitlichkeit der theologischen Perspektive des Corpus Lucanum, die O'Toole auch "harmonious unity" nannte 124 . Die Übergänge von der Kompositionskritik zum Narrative Criticism sind fließend. So ist etwa einer der Hauptvertreter des mit dem Corpus Lucanum befaßten Narrative Criticism, Robert C. Tannehill, in manchem der Kompositionskritik verpflichtet. Vor allem sein strenges Postulat der "narrative unity" ist nicht nur dem New Criticism, sondern auch dem kompositionskritischen Denken verhaftet. Aber während die redaktions- sowie die kompositionskritischen Phasen geprägt waren von der Frage nach der lukanischen Theologie, es also vorrangig um die Rekonstruktion theologischer Gedanken und Konzepte ging, erfolgt mit dem Einsetzen der Phase des Narrative Criticism ein Paradigmenwechsel. Erstmals tritt die erzählte Welt ins Zentrum des Interesses. Robert C. Tannehill, dessen Kommentar zum Corpus Lucanum The Narrative Unity of Luke-Acts seit seinem Erscheinen 1986 und 1990125 als das Standardwerk zu dessen Erzählanalyse gilt, schreibt: "A gospel story excercises influence in a much richer way than through theological statements, which might be presented in an essay (...). Seeking for a Lukan theology within Luke-Acts tends to divorce theological themes from the larger purpose of the work. Instead, we should seek to understand Luke-Acts as a system of influence which may be analysed in literary terms. The message of Luke-Acts is not a set of theological propositions but the complex reshaping of human life, in its many dimensions, which it can cause."126 Die Erzählung des Lukasevangeliums und der Acta wird hier nicht mehr als Steinbruch theologischer Gedanken benutzt, sondern als ein das menschliche Leben prägen wollender, theologisch deutender Weltentwurf mit eigener Plausibilität und Logik, die nachzuzeichnen sich der Narrative Criticism aufgegeben hat. Tannehills Konzept lässt sich folgendermaßen bestimmen: (i) Tannehill verortet sich methodologisch im Bereich des Narrative Criticism. Er bestimmt Narrative Criticism näher als eine ausgeprägte Rezeption nichtbiblischer Literaturkritik, betont aber, dass er die Erzähltheorie nicht weiterentwickeln 127 und auch ihre Terminologie weitgehend vermeiden möchte. 128 Er bedient sich lediglich ausgewählter Aspekte der Erzähltheorie, um neue Einsichten in der Auslegung des Corpus Lucanum zu gewinnen. Die123 Weitere Arbeiten in diesem Geiste stammen etwa von Maddox, The Purpose of Luke-Acts, 1982; Karris, Luke: Artist and Theologian: Luke's Passion Account as Literature, 1985; Squires, The Plan of God in Luke-Acts, 1993. 124 O'Toole, Why Did Luke Write Acts (Lk-Acts)?, 1977, 66-76: 74. 125 Diesem Werk gingen zahlreiche Einzelstudien von Tannehill voraus: The Disciples in Mark: The Function of a Narrative Role, 1977, 386-405; ders., The Gospel of Mark as Narrative Christology, 1979, 57-95; ders., The Composition of Acts 3-5: Narrative Development and Echo Effect, 1984, 217-240; ders., Israel in Luke-Acts: A Tragic Story, 1985, 6985; ders., Rejection by Jews and Turning to Gentiles: The Pattern of Paul's Mission in Acts, (1986), 1988, 83-101. 126 Tannehill, Unity I, 8. 127 Ebd. 1. 128 Ebd. 6.
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se betreffen vor allem die Story-Ebene. Sein Fokus richtet sich auf die "major roles in the narrative" und er beschreibt seinen Standort "on the borderline between character and plot".129 (ii) Tannehill betreibt eine konsequente Endtextanalyse, das heißt er verzichtet auf literar- und traditionsgeschichtliche Fragestellungen.130 Er stellt dazu fest, dass die Entscheidung, eine Tradition in ein Werk aufzunehmen, das ganze Werk betrifft. Denn selbst wenn eine Tradition Eingang gefunden hat, wird durch den neuen Kontext ein neuer Text geschaffen, der für Tannehill allein von Interesse ist.131 (iii) Tannehill klammert Fragen nach der Historizität der erzählten Ereignisse aus. (iv) Tannehill betreibt dezidiert keinen Reader-Response Criticism.132 (ν) Den Zusammenhang von Lukasevangelium und Acta beschreibt er in seinem ersten Band von 1986 noch ungebrochener als in seinem zweiten Band als "narrative unity"133. Die Einheit der beiden Bücher bestimmt Tannehill durch ihren "purpose", den Plan Gottes. Dass am Ende der Acta der Plan Gottes nicht ganz erfüllt ist, gehört nach Tannehill zur Erzählstrategie; "Jewish rejection is repeatedly highlighted in the narrative from the first scene of Jesus' public ministry to the last scene of Acts. Attention to this important aspect of the plot shows that the mission is not a simple success."134 Der umfangreiche Kommentar Tannehills bestimmt die dem Narrative Criticism verpflichtete Exegese des Corpus Lucanum bis heute. Seit seinem Erscheinen 1986 und 1990 ist noch keine vergleichbare, auf das gesamte Doppelwerk bezogene Auslegung mit erzählanalytischem Schwerpunkt publiziert worden. Neben dem Kommentar Tannehills, der den anglo-amerikanischen Narrative Criticism repräsentiert, bildet eine Aufsatzsammlung von Daniel Marguerat den Repäsentanten der frankophonen narratologischen Forschung zum Corpus Lucanum. Der französische Neutestamentier und ausgewiesene Narratologe Daniel Marguerat, der auch durch die bereits oben erwähnte exzellente biblische Narratologie Pour lire les recits bibliques / How to read Bible Stories hervorgetreten ist, veröffentlichte eine Fülle narratologischer Einzelstudien zum Doppelwerk, insbesondere zu den Acta. Seine wichtigsten Aufsätze sind gesammelt erschienen in: La premiere histoire du Christianisme (Actes de Apötres) 1999 und bereits 2002 ins Englische übersetzt worden: The First Christian Historian. Writing the 'Acts of the Apostles'.135 Dieses Buch bildet in gewisser Weise die Bilanz seiner über ein Jahrzehnt andauernden, fruchtbaren narratologischen Arbeit zum Corpus Lucanum. Marguerats Arbei-
129 Explizit unterscheidet er mit Wayne Booth real author, implied author und narrator. Des Weiteren erwähnt er Gerard Genettes erzähltheoretisches Zeitmodell, Shlomith RimmonKenans Fokalisierungsmodell (vor allem in seinem II. Band) sowie Marianna Torgovnicks Funktionsanalyse des Endes (Darlegungen zu diesen Modellen s.u. II. und III.). 130 Ebd. 6; II 4. 131 Ebd. 6. 132 Ebd. 5f. 133 Ebd. II 6f. 134 Ebd. II 2. 135 Im Folgenden wird die englischsprachige Ausgabe herangezogen.
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ten gehören zu den derzeit fundiertesten Untersuchungen zur explizit narratologischen Analyse der Acta. Neben diesen wegweisenden und übergreifenden Arbeiten sind zahlreiche Forschungsbeiträge zu erzähltheoretisch relevanten Einzelfragen zum Corpus Lucanum erschienen, die hier nicht eigens ausgelistet werden können. Wie schon oben angedeutet, werden sie den beiden folgenden Hauptteilen der vorliegenden Untersuchung (II., III.) und deren Unterkapiteln sachlich zugeordnet und dort aufgeführt. Die vorrangig den discourse betreffenden Arbeiten, welche - erzähltheoretisch gesprochen - den gesamten Bereich des Erzählens und der Erzählung betreffen, sind im zweiten Kapitel unter den Überschriften "Das Erzählen" (II.B.) und "Die Erzählung" (II.C.) zu finden. Das umfasst die Hauptaspekte: Erzählstimme (narrator), Erzähladressatln (narratee), Zeit und Modus (Distanz, Fokalisierung). Die vorrangig der story der Acta gewidmeten Arbeiten sind ebenso im zweiten Kapitel unter der Überschrift "Die Geschichte" (II.D.) anzutreffen. Diese umfasst die Aspekte: Ereignisse und Figuren. Narratologisch ausgerichtete exegetische Einzeluntersuchungen zu Erzählsequenzen oder Einzeltexten der Acta werden im dritten Hauptteil innerhalb der Narratologischen Analyse zu den entsprechenden Stellen angeführt oder im größeren Kontext erwähnt (III.).136 Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass mit dem Entstehen des Narrative Criticism in den 80er Jahren ein deutlicher shift von "theologycentered methods" zu der "story-based power of the gospels", wie es Moore treffend nennt, erfolgt ist.137 Diese Entwicklung ist gut zu beobachten an Jack Dean Kingsbury, einem der Pioniere des Narrative Criticism, der in seinem Matthäusevangeliumskommentar von 1977 noch ausgeprägt nach den theologischen Gedanken des Evangelisten fragte, während er neun Jahre später in seinem Klassiker des Narrative Cricism Matthew as Story primär die erzählte Welt des Matthäusevangeliums analysiert. Mit dieser Verschiebung von einer theologiezentrierten Methode zu einer story-and-discourse-orientierten Methode setzt auf breiter Front eine erste Rezeption narratologischer Methodologie ein. Wie schon oben erwähnt (I.B.), ist Seymour Chatmans Story and Discourse zu einem der methodologischen Standardwerke innerhalb der Narratologischen Exegese avanciert. 138 Insgesamt ist zu beobachten, dass sich der größere Teil der Arbeiten im Geiste des Narrative Criticism, ähnlich wie Tannehill, auf die Ebene der Story konzentriert. In der vorliegenden Untersuchung sollen beide Ebenen ins Blickfeld treten, wobei ich, wie unten gezeigt werden wird, in Anknüpfung an die frankophone narratologische Tradition drei Ebenen unterscheiden werde: Erstens die Ebene des "Erzählens", zweitens die Ebene der "Erzählung" und drittens die Ebene der "Geschichte". Festzuhalten bleibt, dass diese Dimensionen im Text der Acta ineinander greifen und nur zum Zweck der Analyse und Beschreibung differenziert werden. Es ist festzuhalten: Die Entwicklung der Actaforschung des 20. Jahrhunderts führte von einer vorwiegend historischen Fragestellung (Lukas der 136
Des Weiteren sei auf die ausführliche Bibliographie der vorliegenden Arbeit verwie-
137
Moore, Narrative Commentaries, 1987, 33f. Vgl. dazu ausfuhrlich unten II.A.3.d.
sen. 138
Zielsetzung und Aufbau der Untersuchung
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Historiker) über die Stilkritik zu einer Redaktions- und Kompositionsgeschichtlichen Betrachtung (Lukas der Theologe) bis hin zur Erzählanalyse (Lukas der Erzähler139).
E. Zielsetzung und Aufbau der
Untersuchung
Die vorliegende Untersuchung hat nach allem eine doppelte Zielsetzung: Erstens führt sie in die Methodologie der Erzähltextanalyse systematisch ein (II.). Hierbei wird die Narratologie zuerst in ihrer Genese skizziert (Π.Α.2.). Dann werden die Konstitutiva der Narratologie benannt und in ihrer jeweiligen Zuordnung zu einer der drei Textebenen nacheinander vorgestellt sowie mit Beispielen aus dem Corpus Lucanum illustriert (II.B., C.). Darüber hinaus finden sich erste Auswertungen hinsichtlich einer narratologischen Analyse des Corpus Lucanum, so zum Erzähladressaten, den Erzählstimmen und den Figuren. Diese Einführung in die Methodologie dient darüber hinaus der Präzisierung und Klärung von bisher zu beobachtenden methodologischen Unscharfen innerhalb der Arbeiten des Narrative Criticism. Nicht zuletzt möchte dieser Theorieteil eine Lücke in der deutschen exegetischen Diskussion schliessen. Zweitens setzt die vorliegende Untersuchung die Narratologische Exegese der Acta methodologisch fundiert fort (III.)· Die Narratologische Exegese dieser Arbeit stellt eine exemplarische Analyse zentraler Erzählsequenzen der Acta dar. Sie ist orientiert an der Frage nach dem Anfang der Geschichte in Jerusalem und nach ihrem Ende in Rom. Anfang und Ende sind erzähltheoretisch von großer Bedeutung für das Gesamtverständnis einer Erzählung, wie zu sehen sein wird (III.A., C.). Darüber hinaus ist die Analyse an den beiden Protagonisten der Acta, Petrus und Paulus, orientiert. Zudem werden ErzählSequenzen aus der Mitte der Erzählung in Augenschein genommen, die sich zum einen bis in die Gegenwart hinein als Zentraltexte der Acta erwiesen haben und sich zum anderen durch ihre erzählstrukturelle Beschaffenheit in besonderer Weise für eine Erzählanalyse eignen (III.B.). In einem dritten resümierenden Teil werden Grundzüge einer Poetik der Apostelgeschichte aufgezeigt (IV.). Abgeschlossen wird die Untersuchung durch ein Quellen- und Literaturverzeichnis, ein Stellen-, Sach- und Begriffssowie Autorinnenregister. Am Ende des Buches findet sich ein Verzeichnis der Tabellen und Schaubilder dieser Untersuchung.
139 So jüngst auch Jervell, Apostelgeschichte, 1998, 91. Seine ersten drei Worte der Charakterisierung der lukanischen Theologie lauten: "Lukas ist Erzähler (...)."
II. Methodologische Grundlegung der Narratologie
A. Hinflihrung zur Narratologie 1. Was heißt
Narratologie?
Dieser Untersuchung liegt der methodologische Ansatz der Narratologie 1 zugrunde. Im deutschen Kontext wird das damit Bezeichnete häufig Erzähltheorie bzw. Erzähl(text)analyse genannt. Der Anglist und renommierte Narratologe Ansgar Nünning definiert den Begriff 'Erzähltheorien' wie folgt: "Bezeichnung für heterogene Ansätze der Erzählforschung, die auf eine systematische Beschreibung und Erforschung der Arten, Strukturen und Funktionsweisen narrativer Phänomene abzielen. Als Synonym für E. ist in der internationalen Erzählforschung der auf T. Todorov zurückgehende Terminus 'Narratologie' (narratology) üblich, der als Wissenschaft vom Erzählen' definiert ist, während der nur im dt. Sprachraum verwendete Begriff 'Narrativik' keine weite Verbreitung gefunden hat."2 Nünning betont zurecht, dass sich innerhalb der internationalen Diskussion der Begriff der 'Narratologie' (narratology) eingebürgert hat. Da die vorliegende Untersuchung in der Tradition und im Dialog mit der internationalen erzähltheoretischen Diskussion steht, wird im Folgenden vorrangig mit dem Begriff 'Narratologie' bzw. dem deutschen Äquivalent 'Erzähltheorie' gearbeitet. Der Narratologie geht es, wie Nünning treffend ausführt, um die Erforschung der Strukturen und Funktionsweisen narrativer Phänomene mit dem Ziel ihrer Beschreibung und Systematisierung. Schon Nünnings Wahl des Plurals 'Erzähltheorien' und sein Hinweis auf die Heterogenität der Ansätze markiert zurecht, dass sich im 20. Jahrhundert keine einheitliche Systematik herausgebildet hat. Vielmehr liegt eine Vielzahl von Ansätzen zur Systematisierung der Strukturen und der Funktionsweisen von Erzählungen vor. 3 Damit 1 Zur Einführung siehe Martinez / Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, 1999; Onega / Garcia Landa (ed.), Narratology: An Introduction, 1996, 1-41, mit einer Anthologie narratologischer Basistexte; Vogt, Grundlagen narrativer Texte, 1996, 287-307; sehr elementarisiert: Nünning, Erzähltextanalyse leicht gemacht, 1994, 254-258; sowie die Forschungsüberblicke; Jahn, Narratologie: Methoden und Modelle der Erzähltheorie, 1995 (Lit.); Jahn / Nünning, A Survey of Narcological Models, 1994. 2 Nünning, Erzähltheorien, 1998, 131. 3 Das betonen auch Martinez und Scheffel, die ihre 1999 erschienene Einführung in die Erzähltheorie mit den Worten eröffnen: "Die Erzähltheorie gehört seit den frühen sechziger Jahren zu den zentralen Anliegen der internationalen Literaturwissenschaft. Damals entstanden die maßgeblichen Entwürfe im Rahmen des Strukturalismus und der Semiotik. Zur selben Zeit wurden wichtige ältere Arbeiten (von Michail Bachtin, Vladimir Propp, den Russischen Formalisten) durch erste Übersetzungen in die westliche Diskussion eingeführt. In den fol-
Hinführung zur Narratologie
45
ist eine zentrales Problem der narratologischen Diskussion benannt: Es ist schwierig, sich in der Vielfalt der gewählten Begrifflichkeiten und der damit benannten Phänomene zurechtzufinden. Daher scheint es mir sinnvoll und notwendig, in der vorliegenden Untersuchung größtmögliche Transparenz im Hinblick auf die hier verwendete Begrifflichkeit und Methodik zu üben. 2. Zur Geschichte der Narratologie Als Geburtsstunde der Narratologie gilt das Erscheinen der Nummer 8 der Zeitschrift Communications im Jahr 1966.4 Das Thema der Ausgabe lautete: L'analyse structurale du recit. Sie enthält eine Reihe von schulbildenden Grundlagenaufsätzen von Roland Barthes, Algirdas Julien Greimas, Claude Bremond, Umberto Eco, Christian Metz, Tzvetan Todorov und Gerard Genette. Mit Nünning können drei Phasen der Entwicklung unterschieden werden: 1. Die prästrukturalistischen Anfänge bis Mitte der 60er Jahre. 2. Die strukturalistische Hauptphase bis Ende der 80er Jahre (einsetzend mit dem Erscheinen von Communications Heft 8, 1966). 3. Die Phase der Revision und interdisziplinären Weiterentwicklung.5 Die erste Phase der prästrukturalistischen Anfänge ist gekennzeichnet durch eine Vielzahl interdisziplinärer Einflüsse. Diese reichen zurück bis in die Antike; vor allem sind zu nennen die Poetik des Aristoteles6, aber auch die Ars Poetica des Horaz oder die anonym bzw. fälschlich unter dem Namen des Longinus überlieferte Schrift Vom Erhabenen .7 Freilich bestehen auch enge Interdependenzen zwischen Poetik und Rhetorik, die noch einer gründlichen Aufarbeitung harren. So wären beispielsweise die Rhetorik des Aristoteles, die Progymnasmata von Aelius Theon und die Ausbildung des Redners von Quintilian im Hinblick auf ihre poetologisch relevanten Aspekte hin zu befragen.8 Die Beispiele könnten beliebig ausgeweitet werden. Es ist also keinesfalls so, dass die Erzähltheorie ausschließlich ein Produkt der modernen Literaturwisgenden Jahren kamen zahlreiche Termini und Systeme für die Analyse erzählender Texte auf, die eine schwer überschaubare Konkurrenz alternativer Methoden, Begriffe und Nomenklaturen entstehen ließen - auch wenn sich die zugrundeliegenden Einsichten der Sache nach häufig ähnelten. Viele Beiträge stützten sich zudem auf Modelle und Paradigmen, die inzwischen in den Hintergrund der literaturwissenschaftlichen Diskussion gerückt sind. Diese Entwicklung führte zu der unbefriedigenden Situation, dass sich die Erzähltheorie (...) etablieren konnte, sie aber bis heute weder eine einheitliche Begrifflichkeit noch eine überzeugende Systematik hervorgebracht hat." 4 Vgl. Jahn, Narratologie, 29. Jochen Vogt nennt sie das '"Gründungsdokument' einer 'französischen Schule' der strukturalen Erzählanalyse oder Narratologie" (Vogt, Nachwort, 1995, 300). 5 Nünning, Erzähltheorien, 131. 6 Zu einem Aspekt der Poetik des Aristoteles vgl. exemplarisch die Studie von Käppel, Die Konstruktion der Handlung der Orestie des Aischylos, 1998. 7 Zur antiken Dichtungstheorie vgl. insbesondere Fuhrmann, Dichtungstheorie, 19922. 8 Vgl. dazu erste Ansätze bei Robbins, Narrative in Ancient Rhetoric and Rhetoric in Ancient Narrative, 1996, 368-384, aber vor allem die Monographie von Martfn-Asensio, Transitivity-Based Foregrounding in the Acts of the Apostles. A Functional-Grammatical Approach to the Lukan Perspective, 2000. Martin-Asensio arbeitet mit einem Analysemodell, das die engen Interdependenzen von Linguistik, Rhetorik und Narratologie selbstverständlich voraussetzt. Eine Systematisierung dieser Interdependenzen liegt meines Wissens nach noch nicht vor, jedenfalls nicht im biblisch-exegetischen Kontext.
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Methodologische Grundlegung der Narratologie
senschaft ist, wie vielfach missverständlich angenommen wird. Vielmehr ist die moderne Erzähltheorie aus der antiken Dichtungstheorie herausgewachsen. Zu zahlreichen zeitgenössischen narratologischen Grundbegriffen könnten Verbindungen zu der antiken Dichtungstheorie aufgezeigt werden.9 Der Rekurs auf die antike Poetik scheint vielfach auch eine legitimatorische Funktion auszuüben - etwa in dem Sinne: Was in der antiken Poetik erkannt wurde, darf auf neutestamentliche Texte appliziert werden, weil die Analysekriterien aus dem weiteren kulturellen Kontext der Entstehung der Schriften des Neuen Testaments stammen. Jeder späteren narratologischen Begriffsbildung und -präzisierung anhand moderner Literatur wird in diesem Zusammenhang oftmals Skepsis entgegengebracht. Es steht der Verdacht im Raum, als könnten solche an moderner Literatur entwickelten Theoriebildungen keine Gültigkeit für antike Texte beanspruchen.10 Das mag in Einzelfällen zutreffen, denn es gibt moderne erzählerische Phänomene, welche die Antike noch nicht kannte (etwa den stream of consciousness). Dagegen sei aber eingewendet, dass erstens auch die moderne Narratologie nicht nur an modernen Texten, sondern auch an antiken Klassikern, wie etwa der Odyssee oder der Ilias entwickelt wurde11, um nur einige Beispiele zu nennen.12 Zweitens und viel wichtiger scheint mir, dass die moderne Narratologie poetologische Fragestellungen weiter präzisiert hat und beispielsweise im Hinblick auf den narrativen Diskurs, das heißt die Art und Weise der narrativen Vermittlung, Erhebliches geleistet hat. Der narrative Diskurs hat insgesamt in der antiken Theoriebildung wenig Aufmerksamkeit gefunden.13 Deshalb dem Phänomen des Diskurses auch heute wenig Beachtung zu schenken, nur weil es die antiken Theoretiker nicht getan haben, ist unsinnig. Vielmehr sollte die Frage im Vordergrund stehen, ob die im 20. Jahrhundert fortentwickelte Erzähltheorie 9 Verweise auf antike Dichtungstheorie liefern im neutestamentlich-exegetischen Kontext beispielsweise: Breytenbach, Markusevangelium, 1985; Thornton, Zeuge des Zeugen, 1991, 130 passim; Sheeley, Narrative Asides in Luke-Acts, 1992, 31f.; Gowler, Host, Guest, Enemy, and Friend: Portraits of the Pharisees in Luke and Acts, 1991; Satterthwaite, Acts against the Background of Classical Rhetoric, 1993, 337-379; Mayordomo-Marin, Den Anfang hören, 1998; von Bendemann, ΔΟΞΑ und ΣΤΑΥΡΟΣ, 2001. Zur antiken Vorgeschichte der modernen Erzähltheorie vgl. Scholes / Kellogg, Nature of Narrative, 1966, 56ff. passim. Auch Barthes, Einführung in die Strukturale Analyse von Erzählungen, 226, betont die Herkunft der Erzählanalyse aus der antiken Poetik, ohne dies allerdings weiter zu vertiefen mit der Begründung, er verstehe sich nicht als Literaturwissenschaftshistoriker. I S. auch die Antwort Culpeppers, Anatomy of the Fourth Gospel, 8-11, auf diesen Einwand. II Vgl. zuletzt de Jong, A Narcological Commentary on the Odyssey, 2001, sowie dies., Narrators and Focalizers. The Presentation of the Story in the Iliad, 1987, reprinted 1989, oder zu Euripides dies., Narrative in Drama. The Art of the Euripidean MessengerSpeech, 1991. 12 Zur Narratologischen Analyse antiker Texte vgl. jüngst Schmitz, Moderne Literaturtheorie und antike Texte, 2002, 55-75, sowie die Sammelbände de Jong / Nünlist / Bowie (eds.), Narrators, Narratees, and Narratives in Ancient Greek Literature. Studies in Ancient Greek Narrative, 2004; dies. / Sullivan (eds.), Modem Critical Theory and Classical Literature, 1994, sowie Atti del Convegno Intemazionale "Letterature Classiche e Narratologia", herausgegeben vom Instituto di Filologia Latina dell'Universita' di Perugia, 1981. S. exemplarisch weiterhin Genette, Erzählung, 1994, und Bremond, La Logique des Possibles Narratifs, 1966, 60-76, sowie ders., Logique du Recit, 1973 (zu Sophokles, Oedipus Rex). 13 Darauf macht auch schon Genette, Erzählung, (1972), 1994, 116, aufmerksam.
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zum vertieften Verstehen antiker Texte und in diesem Zusammenhang auch biblischer Texte 14 beitragen kann.15 Da hier nicht Geschichte der Narratologie aufgearbeitet werden kann und soll, seien nur einige Meilensteine aus dem 20. Jahrhundert kurz hervorgehoben. Es sind die sprachwissenschaftlichen Theorien von Ferdinand de Saussure, Roman Jakobson und Noam Chomsky, die den Weg für die moderne Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaft und damit auch für die Erzähltheorie gebahnt haben. Einen wichtigen Einfluss hatten der Russische Formalismus der zwanziger Jahre, vor allem mit seiner Unterscheidung von zwei Erzählebenen, von 'fabula' und 'sjuzet' (Boris Tomasevskij) 16 , sowie der anglo-amerikanische New Criticism, etwa mit seiner Konzentration auf die Autonomie des Textes und seinen Warnungen vor der genetic, der intentional und der affective fallacy (William K. Wimsatt, Monroe C. Beardsley, Cleanth
14
Das zeigen die bisher erfolgte narratologische Erforschung des Neuen Testaments (s.o), aber auch beispielsweise die Arbeiten von Mieke Bai zum Ersten Testament: Bai, Femmes imaginaires: L'ancien testament au risque d'une narratologie critique, 1985, (sowie die Teilübersetzung davon: dies., Lethal Love: Feminist Literary Readings of Biblical Love Stories, 1987); dies., Murder and Difference: Gender, Genre, and Scholarship on Sisera's Death, 1988; dies., Death and Dissymmetry: The Politics of Coherence in Judges, 1988. 15 Es sei daran erinnert, dass auch andere Methoden der Exegese, wie etwa Textkritik, Quellenkritik, Traditions- und Redaktionsgeschichte, der modernen Literaturwissenschaft entlehnte methodologische Konzepte sind und - was j a auch richtig ist - ganz selbstverständlich zum Methodenkanon der Bibelwissenschaften gehören. 16 Die Gruppe der russischen Formalisten ist gekennzeichnet durch eine enge Zusammenarbeit von Linguisten (Roman Jakobson), Literaturhistorikern (Boris Ejchenbaum, Jurij Tynjanov) und -theoretikern (Viktor Sklovskij), um nur einige wichtige zu nennen. Sie hatte nur eine kurze Phase der Aktivität: von 1915 bis 1930. Der Russische Formalismus wurde von zwei geistigen Zentren geprägt: dem 1915 gegründeten Moskauer Linguistik-Zirkel, u.a. unter Beteiligung von Roman Jakobson, und der 1916 in Petersburg / Petrograd konstituierten Gesellschaft zur Erforschung der poetischen Sprache (OPOJAZ), die u.a. durch Viktor Sklovskij und Boris Ejchenbaum geprägt wurde. 1930 wurde die Gruppe vom Stalinismus zerschlagen. S. insgesamt zum Russischen Formalismus die Monographien von Hansen-Löve, Der russische Formalismus, 1978, und Erlich, Russischer Formalismus, 1955 (dt. 1964), sowie die Beiträge von Barsch, Russischer Formalismus, 1998, 472-474; Meyer, Exkurs, 1995; Barthes, Erzählanalyse, 1969/1972, 226f; Striedter, Zur formalistischen Theorie der Prosa und der literarischen Evolution, 1969, IX-LXXXIII. S. auch die Anthologien zum Russischen Formalismus von Todorov (ed.), Theorie de la Litterature, 1965, sowie Striedter (Hg.), Russischer Formalismus, (1969/1971), 19945. Das sicher wirkungsmächtigste Werk des Russischen Formalismus ist Propps, Morphologie des Märchens, 1928 (dt. 1975). S. auch die Selbstdarstellung von Ejchenbaum, Die Theorie der formalen Methode, 1925 (dt. 1965), 7-52. Er hält fest: "Ein komplettes System, eine in sich geschlossene Doktrin besitzen wir nicht und haben wir nie besessen. In unserer wissenschaftlichen Arbeit schätzen wir die Theorie bloß als Arbeitshypothese, mittels derer die Fakten entdeckt werden und einen Sinn bekommen: in ihrer Gesetzmäßigkeit sowie als Mittel für die Forschung. Deshalb geben wir uns nicht mit Definitionen ab, nach denen die Epigonen so dürsten, und errichten keine allgemeinen Thesen, an denen die Eklektiker so hängen. Wir stellen konkrete Grundsätze auf und halten uns daran, sofern sie vom Material verifiziert werden. Wenn das Material ihre Differenzierung und Veränderung erheischt, dann ändern und differenzieren wir die Grundsätze. In diesem Sinne sind wir unabhängig von unseren eigenen Theorien, wie es sich für die Wissenschaft auch gehört; denn Theorie und Überzeugung ist zweierlei. Fertige Wissenschaften gibt es nicht - Wissenschaft vollzieht sich nicht in der Aufstellung von Wahrheiten, sondern in der Überwindung von Irrtümern" (ebd. 8).
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Brooks) 17 . Weitere Vorläufer sind der amerikanische Romancier, Dramatiker und Literaturkritiker Henry James 18 (centre of consciousness, point of view), Käte Friedemann (zur Kategorie des Erzählers), Percy Lubbock (point of view, showing, telling), Ε. M. Forster (story and plot, round and flat characters), Käte Hamburger (Erzählfunktion, Fiktionalitätskriterien), Norman Friedman (point of view), Günther Müller (Unterscheidung zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit), Eberhard Lämmert (Bauformen des Erzählens), Wayne Booth (ιimplied author) sowie die Arbeiten des 'frühen' Franz Stanzel (Erzählsituationen). Die zweite Phase, die so genannte strukturalistische Hauptphase, reicht bis Ende der 80er Jahre. Sie setzt mit dem Erscheinen des Heftes 8 der Zeitschrift Communications von 1966 ein; wichtige Theoretiker dieser Zeit sind bereits oben genannt worden. Die verschiedenen Ansätze mündeten schließlich in die Narratologien von Gerard Genette, Mieke Bai, Seymour Chatman sowie Shlomith Rimmon-Kenan, um nur die wichtigsten zu nennen. 19 Diese werden unten genauer vorgestellt und diskutiert. Die dritte Phase der Revision und interdisziplinären Weiterentwicklung war eine Folge der Krise, die in der Mitte der 80er Jahre einsetzte. Zerrieben zwischen der massiven Kritik, einerseits der historischen und andererseits der poststrukturalistischen Lager, wurde die Narratologie für tot erklärt.20 Die narratologische Theoriediskussion hat die Kritik jedoch konstruktiv umgesetzt und sich in den letzten Jahren in kaum mehr überschaubarer Weise interdisziplinär ausdifferenziert. 21 David Herman spricht von der gegenwärtigen Phase als der der postclassical narratologies, die er in der Einleitung zu dem von ihm herausgegebenen Sammelband Narratologies: New Perspectives on Narrative Analysis aus dem Jahr 1999 folgendermaßen umreißt: "Among the many recent articles and books that have promoted a rethinking of classical narratological models are those written from a feminist perspective (...); those written from linguistic, sociolinguistic and psycholinguistic perspectives (...); those written from a cognitive perspective (...); those written from a logico-philosophical perspective based on the concept of possible worlds (...); those written from a rhetorical perspective (...); and those written from a postmodernist perspective that stresses the ludic, nonformalizable, and antitotalizing forces and effects of narrative (...)".22 17
S. dazu oben I.C. (u.a. Anm. 53). S. dazu im Einzelnen Aczel, James, 1998 (Lit.). 19 Erwähnt seien hier noch die Narratologien von Cordula Kahrmann / Gunter Reiß / Manfred Schluchter, Erzähltextanalyse. Eine Einführung, 1977, 19964; Gerald Prince, Narratology, 1982; Michael Toolan, Narrative: A Critical Linguistic Introduction, 1988, 2001 2 . 20 Vgl. dazu Currie, Postmodern Narrative Theory, 1998, Iff. In diese Ära der berechtigten post-strukturalistischen Kritik an der Narratologie fällt auch die Arbeit von Moore, Literary Criticism and the Gospels: The Theoretical Challenge, 1989. 21 Vgl. dazu die Forschungsüberblicke von Nünning, Towards a Cultural and Historical Narra-tology. A Survey of Diachronic Approaches, Concepts, and Research Projects, 2000, 345-373; Fludemik, Beyond Structuralism in Narratology: Recent Developments and New Horizons in Narrative Theory, 2000, 83-96, sowie Bai, Close Reading Today: From Narratology to Cultural Analysis, 1999, 19-40. Aufschluss darüber geben auch die beiden 2002 erschienenen Sammelbände: Nünning / Nünning (Hgg.), Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär, sowie Nünning / Nünning (Hgg.), Neue Ansätze in der Erzähltheorie. 22 Herman, Introduction, 27. 18
Hinführung zur Narratologie
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In meiner folgenden Darstellung narratologischer Grundprinzipien wird immer wieder auch Kritik und Revision aus der neueren Theoriediskussion einfließen. Zur allgemeinen Orientierung im Dschungel der Theorien und Begrifflichkeiten sei auf die primär narratologisch ausgerichteten Glossare verwiesen: A Dictionary of Νarratology von Gerald Prince sowie CoGNaC (A Concise Glossary of Narratology from Cologne), herausgegeben von Manfred Jahn, Ansgar Nünning und Inge Molitor.23 3. Das 'Was' und das 'Wie'von Erzählungen Ein Grundprinzip der Narratologie ist die Unterscheidung zwischen dem 'Was' und dem 'Wie' von Erzählungen, den so genannten Erzählebenen. Jede Erzählung konstituiert sich aus zwei Ebenen, die beide voneinander abhängig sind. Da ist zunächst die Inhaltsebene der Erzählung, das heißt die story (histoire / Geschichte). Sie konstituiert sich aus dem, 'was' erzählt wird: den Ereignissen und den Figuren, von denen eine Erzählung handelt, sowie aus dem zeitlichen und räumlichen Rahmen der Geschichte, den settings. Der Inhaltsebene korrespondiert die Kommunikations- oder Verknüpfungsebene, das heißt der Diskurs (discourse / discours) der Erzählung. Sie bezieht sich darauf, 'wie' etwas erzählt wird. Denn die Story wird vermittelt durch ein Verfahren der Präsentation, das heißt durch eine Erzählstimme (Erzähler, Stimme, Erzählinstanz), durch Erzählperspektiven (Fokalisierung) sowie durch eine Erzählstrategie (Modus). Die Unterscheidung zweier Ebenen geht auf den russischen Formalisten Boris Tomasevskij zurück; er unterscheidet 'fabula' und 'sjuzet'.24 Fabula heißt bei ihm die Verbindung der Ereignisse nach ihrem zeitlichen Ablauf und entspricht der oben genannten story. Sjuzet bezeichnet die Reihenfolge und die Art der Verknüpfung, nach der die Ereignisse im Werk vorliegen, was dem oben genannten Diskurs entspricht. Tzvetan Todorov griff 1966 das Begriffspaar des Russischen Formalismus auf und übersetzte Fabula mit 'histoire' und Sjuzet mit 'discours'}5 Daran knüpften die großen Entwürfe der narratologischen Hauptphase an, die heute als Standardwerke gelten. Im Folgenden werde ich vier dieser narratologischen Theorieentwürfe kurz skizzieren und auf diesem Wege versuchen, Differenzen und Übereinstimmungen aufzuzeigen sowie die divergierende Begrifflichkeit durchschaubar zu machen. Diese vier Entwürfe sind die Er-
23 Das Dictionary von Prince stammt aus dem Jahr 1987 und ist daher in vielerlei Hinsicht überholt. Eine kürzere Fassung des oben erwähnten CoGNaC aus dem Jahr 1993 bietet Jahn / Nünning, Teaching Narrative Fiction: A Glossary of Technical Terms, 1994, 33-36; CoGNaC soll im Jahr 2003 in revidierter Fassung im Trierer Wissenschaftsverlag erscheinen. Breiter angelegt sind: Nünning (Hg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, 1998; Makaryk (ed.), Encyclopaedia of Contemporary Literary Theory, 1993. S. auch Greimas / Courtes (ed.), Semiotics and Language: An Analytical Dictionary, 1982 (franz. Orig. 1979); Stam / Burgoyne / Flitterman-Lewis, New Vocabularies in Film Semiotics. Structuralism, Post-Structuralism and Beyond, 1992; Hawthorn, Grundbegriffe modemer Literaturtheorie, 1994 (engl. Orig. 1992) sowie Abrams, A Glossary of Literary Terms, 1999 7 . 24 25
S. Tomasevskij, Theorie der Literatur. Poetik, (1925), 1931, 214-227. Todorov, Categories, 1966, 125-151.
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zähltheorien von Gerard Genette, Mieke Bai, Seymour Chatman und Shlomith Rimmon-Kenan. In der Erzähltextanalyse geht es darum, zum einen die erzählte Welt zu erheben und zum anderen, die Art und Weise, wie diese Welt vermittelt wird, zu erfassen und zu beschreiben. Es kann festgehalten werden: Eine Erzählung hat zwei Merkmale, die jeweils eine Ebene repräsentieren; sie hat eine Geschichte und sie wird erzählt. Zu unterscheiden ist dabei zwischen der erzählten Welt (histoire / story) zum einen und zum anderen den narrativen, rhetorischen Mitteln (discours / recit) sowie dem Medium, durch welche die Erzählung zu verstehen gegeben wird (narration). Keine der Ebenen kann ohne die andere Sinn erzeugen. Zur Orientierung sei ein Überblick über die divergierenden Unterscheidungen und Bezeichnungen der eine Erzählung konstituierenden Erzählebenen innerhalb der genannten Erzähltheorien vorangestellt26: Was wird ezählt?
Wie wird erzählt?
Russischer Formalismus Todorov
fabula
a) Erzählung sjuzet
histoire
discours
Genette
histoire
recit
narration
Bai
fabula
story
text
Chatman
story
discourse
Rimmon-Kenan
story
text
b) Erzählen
narration
Tabelle 1: Benennungen der Ebenen der Erzählung
a) Gerard Genette: Diskurs und neuer Diskurs der Erzählung
(1972/1983)
1972 erschien der Discours du recit des französischen Literaturwissenschaftlers Gerard Genette relativ unscheinbar in einem Sammelband mit Gelegenheitsarbeiten {Figures ΙΙΓ).27 Genette zeigt in diesem Buch die Spielregeln narrativer Systeme am Beispiel Marcel Prousts A la recherche du temps perdu28 auf. Elf Jahre später erscheint ein weiteres Werk, der Nouveau Discours du recit, welches Genette als Postscriptum zum Discours du recit bezeichnet.29 Es handelt sich dabei um eine "kritische Selbstlektüre im Lichte
26
Vgl. auch die Tabelle in Martinez / Scheffel, Einführung, 1999, 26. Eine Skizze der Grundlinien dieser Arbeit (Frontieres du recit) findet sich schon im achten Heft der oben erwähnten Zeitschrift Communications von 1966. 28 Das Faszinierende seiner Analyse ist u.a., dass es ihm gelingt, die aus der Sicht auch seiner Narratologie zu beobachtenden Irregularitäten im Werk Prousts bestehen zu lassen. 29 1980 erfuhr der Discours du recit eine Übersetzung ins Englische mit einem Vorwort von Jonathan Culler, was die Rezeption dieses Werkes im anglo-amerikanischen Kontext erheblich beförderte. Eine deutsche Übersetzung erfolgte erst 1994 mit einem Nachwort von Jochen Vogt. Diese Übersetzung kam spät, hat allerdings den Vorteil, dass dieser Band beide 27
Hinführung zur Narratologie
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der Kommentare, die dieser 'methodologische Versuch' hervorgerufen hat", so Genette30. Er setzt sich in Form eines Kommentars zum eigenen Werk in anregend zu lesender Weise mit seinen Kritikern und Kritikerinnen (vor allem Mieke Bai, Shlomith Rimmon-Kenan, Dorrit Cohn) auseinander und modifiziert seinen Entwurf im Dialog mit ihnen. Dabei greift Genette vor allem auch Fragen und Perspektiven auf, die in der von ihm 1972 wenig oder gar nicht berücksichtigten angloamerikanischen Diskussion bedeutsam sind (etwa das Konzept des implied author). Genette31 übernimmt von Todorov den Begriff histoire und definiert ihn analog als "das Signifikat oder den narrativen Inhalt"32. Anstelle des Todorovschen Begriffs discours führt er dagegen eine weitere Unterscheidung ein. Er unterteilt in 'recit' (Erzählung) und 'narration' (Narration). Recit definiert er als "den Signifikanten, die Aussage, den narrativen Text oder Diskurs Erzählung im eigentlichen Sinne"33 und führt darunter die Kategorien Zeit und Modus auf. Der Begriff narration dagegen soll seiner Definition zufolge allein "dem produzierenden narrativen Akt sowie im weiteren Sinne der realen oder fiktiven Situation vorbehalten sein (...), in der er erfolgt"34. Genette ordnet dieser Ebene die Kategorie der 'voix' (Stimme) zu, die in anderen narratologischen Theorien vielfach 'Erzähler' (narrator) bzw. Erzählinstanz genannt wird. Genette siedelt in diesem Zusammenhang den Schwerpunkt seiner 'Analysemethode' auf der Ebene der Erzählung an - wie schon der Titel seiner Abhandlung Discours du recit markiert. Er schreibt: "Unser Gegenstand hier ist also Erzählung in dem engeren Sinn, den wir diesen Ausdruck von nun an geben wollen. Es ist deutlich genug, denke ich, dass der narrative Diskurs die einzige der drei soeben unterschiedenen Ebenen ist, die sich direkt einer textuellen Analyse unterziehen läßt (...)"35. Die folgende Übersicht zeigt zur Orientierung die drei von Genette unterschiedenen Textebenen (französisch / deutsch) mit ihren Definitionen sowie den darunter verhandelten narratologischen Kategorien, die unten (II.B.-D.) genauer erläutert werden:
Schriften Genettes, also sowohl den 'Diskurs der Erzählung' von 1972 als auch den 'Neuen Diskurs der Erzählung' von 1983 enthält, zusammengefaßt unter dem deutschen Titel: Die Erzählung. Zur deutschen Übersetzung vgl. die Rezension von Eckart Reinmuth, 1995, 977-979. Im Folgenden zitiere ich aus der deutschen Übersetzung (Kurztitel Erzählung) und markiere durch die Angabe des Erscheinungsjahres 1972 oder 1983, ob es sich um den Discours du recit (1972) oder um den Nouveau discours du recit (1983) handelt. 30 Genette, Erzählung, 195. 31 Zum Folgenden vgl. ebd. 16. 32 Ebd. 16. 33 Ebd. 34 Ebd. 35 Ebd.
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Gerard Genette, Discours du recit, 1972 histoire / Geschichte
recit / Erzählung
Narration / Narration
"... das Signifikat oder den narrativen Inhalt Geschichte zu nennen ..."(16)
"... den Signifikanten, die Aussage, den narrativen Text oder Diskurs Erzählung im eigentlichen Sinne..." (16)
Narration soll "dem produzierenden narrativen Akt sowie im weiteren Sinne der realen oder fiktiven Situation vorbehalten sein (...), in der er erfolgt." (16) 5. Stimme (5. Kap.)
Tempus (1.-3. Kap.) 1. Ordnung 2. Dauer 3. Frequenz 4. Modus (4. Kap.) Distanz Fokalisierung
Tabelle 2: Genette, Discours du recit, 1972 Wie bereits dieser Überblick veranschaulicht, entfaltet Genette ausschließlich die beiden Ebenen des recit und der narration. Es gibt in seinem Buch kein Kapitel zur Ebene der histoire (vgl. Tabelle 2). Dieser Umstand korrespondiert seiner oben zitierten Überzeugung, die er mit dem Erzähltheoretiker Franz Stanzel teilt: Eine unmittelbare bzw. unvermittelte histoire gibt es nicht und insofern ist eine solche auch nicht beschreibbar. 36 Kontur gewinnt eine histoire allein über die Rekonstruktion ihrer Zeitstrukturen, ihrer Modi und ihrer Stimme, und diesen Erzählphänomenen geht Genette daher in seiner Analyse des Werkes Prousts nach. Genette wählt die drei zugrunde liegenden Kategorien: Zeit, Modus und Person (letztere bezeichnet er zum Zwecke der besseren Verstehbarkeit als Stimme). Sie sind der Grammatik des Verbes entlehnt. Der Wahl dieser Begrifflichkeiten liegt die Auffassung zugrunde, "jede Erzählung (...) als eine, wenn auch noch so gewaltige, Erweiterung eines Verbes im grammatischen Sinne zu betrachten" 1 . Denn schon der Satz "ich gehe, Pierre ist gekommen" sind für Genette Minimalformen der Erzählung. 38 Genette versucht also "die Probleme der Analyse des narrativen Diskurses nach Kategorien zu ordnen, die der Grammatik des Verbes entlehnt werden und die sich hier auf drei fundamentale Klassen von Bestimmungen reduzieren: da sind 1. die Probleme, die zu den temporalen Beziehungen zwischen Erzählung und Diegese gehören, und die wir unter der Kategorie des Tempus oder der Zeit einordnen; 2. die, die zu den Weisen (Formen, Stufen) der narrativen 'Darstellung' gehören, also zu den Modi (...) der Erzählung; 3. schließlich die, die die Art und Weise betreffen, wie in der Erzählung oder dem narrativen Diskurs die Narration selber impliziert ist, so wie wir sie definiert haben, das heißt die narrative Situation oder Instanz (...) 36 37 38
Zu Stanzel vgl. dessen Erzähltheorie: Theorie des Erzählens, (1979), 19956, 15ff. Genette, Erzählung, 18. Ebd. 19.
Hinfuhrung zur Narratologie
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und mit ihr ihre zwei Protagonisten: der Erzähler und sein realer oder virtueller Adressat; man könnte versucht sein, diese dritte Kategorie 'Person' zu nennen, aber aus Gründen, die später noch deutlich werden, ziehe ich einen Ausdruck vor, der nicht so stark (...) von psychologischen Konnotationen geprägt ist, und dem wir einen viel größeren Begriffsumfang geben werden, so daß 'Person' (wobei vor allem an den traditionellen Gegensatz zwischen Erzählungen 'in der ersten' und solchen 'in der dritten Person' gedacht wird) nur noch ein Aspekt unter anderen sein wird: ich meine den Ausdruck Stimme (...) noch einmal, es handelt sich hier um terminologische Anleihen, die nicht für sich beanspruchen, auf exakten Homologien zu basieren"39. Was er im Einzelnen unter Zeit, Modus und Stimme als Analysekriterien entfaltet, wird unten systematisch und mit anderen Erzähltheorien synthetisiert dargestellt und soll hier nicht vorweggenommen werden. Der Überblick (vgl. Π.Β.2., C.l. und 2.) möge auch rückblickend erleichtern, sich im für die gesamte Erzähltheorie überaus folgenreichen System von Genette strukturell und begrifflich zurechtzufinden. Für Genettes Erzähltheorie kann insgesamt festgehalten werden, dass seine erzähltheoretische Erfassung der Zeitgestaltung von Erzählungen anhand seiner entwickelten Kategorien Ordnung, Dauer (im neuen Diskurs: Geschwindigkeit) und Frequenz schulbildend wirkten. Seine brillanten Ausführungen dazu umfassen nicht umsonst die erste Hälfte seines Buches und sind bis heute unübertroffen. 40 Des Weiteren hat er mit seiner Unterscheidung der klassischen point of v/ew-Fragestellung in die zwei zu unterscheidenden Fragen 'who speaks' und 'who perceives' - das entspricht seiner Unterscheidung der Kategorie des Modus und der Stimme - die Erzähltheorie entscheidend vorangebracht, was unten näher entfaltet wird (II.B.2). Überaus hilfreich ist auch seine modifizierende Kommentierung im Nouveau dicours du recit, die zahlreiche für die narratologische Theoriediskussion bedeutsame Einzelaspekte enthält, auf die unten in den Einzelkapiteln eingegangen wird. Ohne Bedeutung ist Genettes Theorie im Hinblick auf die histoire, die ich die Ebene der Geschichte nennen werde. Genette blendet diese, ebenso wie es auch Stanzel tut, aus. Zu Unrecht wie mir scheint, aber das werden die folgenden Erzähltheorien und die Textanalyse des zweiten Hauptteils zeigen. b) Mielce Bai: Narratology
(1985/1997)
Die Erzähltheorie der niederländischen Literaturwissenschaftlerin Mieke Bai erschien erstmals 1977 unter dem Titel De theorie van verteilen en verholen. 1980 erfuhr sie eine zweite Auflage und wurde 1985 ins Englische übersetzt und für die englischsprachigen Leserinnen revidiert und bearbeitet. Seitdem, vielfach nachgedruckt, zählt diese Narratologie zu einem Standardwerk der Erzähltheorie. 1997 erfuhr die englische Übersetzung von 1985 eine zweite Auflage und eine vollständige Revision. In diese Neuauflage sind die von Bai
39 40
Ebd. Genette, Erzählung, 21-114 (dazu unten II.C.l.).
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vorangetriebene Theoriebildung sowie die neuere internationale narratologische Diskussion eingeflossen. 41 Mieke Bai unterscheidet wie Genette drei Erzählebenen. Hinsichtlich der ersten Erzählebene übernimmt sie nicht den Begriff histoire, sondern kehrt zur Begrifflichkeit des russischen Formalismus zurück und spricht von 'fabula', die sie definiert als "a series of logically and chronologically related events that are caused or experienced by actors. An event is the transition from one state to another state. Actors are agents that perform actions. They are not necessarily human. To act is defined here as to cause or to experience an event."42 Anders als Genette entfaltet sie die Bestandteile der Fabel näher und untergliedert sie in elements, wie sie es ausdrückt. Das sind erstens die Ereignisse (events), zweitens die Figuren (actors), drittens die Zeit (time) und viertens die Lokalisierung (location). Das, was Genette recit nennt, also den narrativen Diskurs Erzählung, bezeichnet Bai als story und definiert sie als "a fabula that is presented in a certain manner." 43 Hier geht es ihr um die Art und Weise, wie die Fabel präsentiert wird. Das umschließt ähnlich wie bei Genette Fragen der narrativen Zeitgestaltung (sequential ordering, rhythm, frequency) sowie vor allem auch die Frage, aus welcher Perspektive erzählt wird (focalization). Statt des Genetteschen Begriffs narration führt sie für die dritte Ebene den Begriff text ein, den sie bestimmt als "a text in which an agent relates ('tells') a story in a particular medium, such as language, imagery, sound, buildings, or a combination thereof'44. Die inhaltliche Bestimmung ist also trotz der begrifflichen Unterschiedlichkeit sehr ähnlich wie bei Genette. Es geht um den Erzähler bzw. das Medium oder die Stimme - wie Genette es nennt - durch welche eine Story zu verstehen gegeben wird (narrator). Hier ergänzt sie jedoch noch Aspekte des Modus (comments, description). Im Hinblick auf die substantielle Bestimmung dieser beiden Textebenen kommt sie Genette insgesamt sehr nahe. 45
41 Bai, Narratology. Introduction to the Theory of Narrative, translated by C. van Boheemen, 19972. Vgl. auch ihre Aufsatzsammlung: On Story-Telling: Essays in Narratology, edited by David Jobling, 1991, sowie ihre Rezension von Stanzel, Genette und Brooks: TeilTale Theories, 1986, 555-564, sowie ihre Standortbestimmungen: dies., The Point of Narratology, 1990, 727-753; dies., Close Reading Today: From Narratology to Cultural Analysis, 1999, 19-40. 42 Bai, Narratology, 5. 43 Ebd. 44 Ebd. 45 Zu den Differenzen s. die Einzelkapitel zu den Kategorien der Erzähltheorie.
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Die folgende Übersicht möge ihre Strukturierung veranschaulichen: Mieke Bai, Narratology. Introduction to the Theory of Narrative, Second Edition 1997 III. Fabula: Elements I. Text: Words II. Story: Aspects "A narrative text is a text in which an agent relates ('tells') a story in a particular medium, such as language, imagery, sound, buildings, or a combination thereof." (5)
"A story is a fabula that is presented in a certain manner." (5)
1. Preliminary Marks 2. Narrator 3. Non-Narrative Comments 4. Description 5. Levels of Narration
1. Preliminary Marks 2. Sequential Ordering 3. Rhythm
6. Remarks and Sources
4. Frequency 5. From Actors to Characters 6. From Place to Space 7. Focalization 8. Visual Stories 9. Remarks and Sources
"A fabula is a series of logically and chronologically related events that are caused or experienced by actors. An event is the transition from one state to another state. Actors are agents that perform actions. They are not necessarily human. To act is defined here as to cause or to experience an event." (5) 1. Preliminary Marks 2. Events 3. Actors 4. Time 5. Location 6. Remarks and Sources
Tabelle 3: Bai, Narratology, 1997 Signifikant am Aufbau ihrer Neuauflage von 1997 ist, dass sie die Reihenfolge der behandelten drei Textebenen (fabula, story, text) umkehrt. Während sie 1985 noch traditionell die Story-Ebene (bei ihr fabula genannt) als erstes erörtert, an zweiter Stelle dann den narrativen Diskurs und zuletzt die Erzählerin (narrator), stellt sie letztere in ihrer Revision von 1997 voran und bearbeitet die story (bei ihr fabula) an dritter und letzter Stelle. Außerdem ergänzt sie ein neues Kapitel, nämlich zum erzählerischen Medium des Films und bezieht damit die mittlerweile selbstverständlich gewordene Ausweitung der narratologischen Analyse auf Filme mit ein. Mit ihrer veränderten Reihenfolge der Textebenen setzt Bai die schon von Genette und anderen erkannte Einsicht um, dass es eine Unmittelbarkeit des Erzählens nicht gibt. Genette und Stanzel zogen daraus den radikalen Schluss, dass Narratologie als strikte Theorie des narrativen Diskurses aufzufassen ist, worin ihnen Bai nicht folgt. Bai hat seit dem Erscheinen ihrer Narratologie die Theoriebildung in produktivster Weise vorangetrieben. Das betrifft vor allem ihre Kritik an Genette und ihre Ausarbeitung des Konzepts der Fokalisierung (s.u. II.C.3). Ihre Ar-
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beiten sind gekennzeichnet durch eine breite Rezeption der internationalen Theoriediskussion. 46 Im Unterschied zu den meisten anderen Erzähltheoretikerlnnen hat sie sich auch der Analyse biblischer Texte gewidmet. 47 c) Shlomith Rimmon-Kenan: Narrative Fiction (1983) Die Erzähltheorie der israelischen Literaturwissenschaftlerin Shlomith Rimmon-Kenan ist in engem Dialog mit dem Werk Genettes entstanden 48 und kann ebenfalls als Standardwerk der Narratologie bezeichnet werden. 49 Sie bietet die sicher übersichtlichste Darstellung. Rimmon-Kenan unterscheidet ebenfalls drei Ebenen: Erstens die Ebene der story. Sie definiert: "'Story' designates the narrated events, abstracted from their disposition in the text and reconstructed in their chronological order, together with the participants in these events."50 Sie behandelt auf dieser Ebene die Ereignisse (events) und die Figuren (characters) ähnlich wie Bai. Zweitens unterscheidet sie wie Genette und Bai eine zweite Ebene, die sie als text bezeichnet (Genette: recit, Bai: story). Sie definiert: "Whereas 'story' is a succession of events, 'text' is a spoken or written discourse which undertakes their telling. Put more simply, the text is what we read. In it, the events do not necessarily appear in chronological order, the characteristics of the participants are dispersed throughout, and all the items of the narrative content are filtered through some prism or perspective ('focalizer')."51 Sie subsumiert darunter analog zu Genette und Bai time, analog zu Bai characterization und focalization. Im Bereich der Charakterisierung führt sie Differenzierungen vor, welche die Theoriediskussion vorangetrieben haben (s.u.). Drittens unterscheidet sie mit der Begrifflichkeit Genettes als dritte Ebene narration, die sie definiert: "Since the text is a spoken or written discourse, it implies someone who speaks or writes it. The act or process of production is the third aspect - 'narration'. (...) Within the text, communication involves a fictional narrator transmitting a narrative to a fictional narratee."52 Diese Bestimmung ist nicht nur begrifflich, sondern auch inhaltlich weitgehend identisch mit Genette. Sie behandelt darunter in ihrem Kapitel Levels and voices die von Genette entwickelten Unterscheidungen im Hinblick auf Stimme. Diese ergänzt sie jedoch durch Aspekte wie die Wahrnehmbarkeit (perceptibility) und die Zuverlässigkeit (reliability) der Erzählerin, die in der 46 S. neben der Neuauflage ihrer Narratology von 1997: dies., Close Reading Today: From Narratology to Cultural Analysis, 1999, 19-40; dies., The Point of Narratology, 1990, 727-753; dies., Tell-Tale Theories, 1986, 555-564. 47 Vgl. Bai, Lethal Love: Feminist Literary Readings of Biblical Love Stories, 1987; dies., Murder and Difference: Gender, Genre, and Scholarship on Sisera's Death, 1988; dies., Death and Dissymmetry: The Politics of Coherence in Judges, 1988. 48 Vgl. ihre Rezension von Genettes Discours du recit: Rimmon-Kenan, A Comprehensive Theory of Narrative. Genette's Figures III and the Structuralist Study of Fiction, 1976, 33-62. 49 Rimmon-Kenan, Narrative Fiction. Contemporary Poetics, 1983. 50 Ebd. 3. 51 Ebd. 52 Ebd. 3f.
Hinführung zur Narratologie
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gegenwärtigen Diskussion von großer Aktualität sind. In ihrem Kapitel Speech Representation ordnet sie der Narrationsebene Aspekte des Modus zu, die bei Genette auf seiner Recitebene zu finden sind. Rimmon-Kenan stellt ihrer Arbeit eine Einleitung voran, in der sie ihren forschungsgeschichtlichen Horizont markiert. Sie erwähnt hier den angloamerikanischen New Criticism, den Russischen Formalismus, den französischen Strukturalismus, die Tel-Aviv School of Poetics sowie die Phänomenologie des Lesens. Neben den klassischen Themen der Narratologie findet sich in ihrem Buch auch ein abschließendes Kapitel zu The text and its reading (ch. 9), in welchem sie rezeptionsästhetische Fragen diskutiert. Shlomith Rimmon-Kenan, Narrative Fiction. Contemporary Poetics, 1983 Story
Text
Narration
"'Story' designates the narrated events, abstracted from their disposition in the text and reconstructed in their chronological order, together with the participants in these events." (3)
"Whereas 'story' is a succession of events, 'text' is a spoken or written discourse which undertakes their telling. Put more simply, the text is what we read. In it, the events do not necessarily appear in chronological order, the characteristics of the participants are dispersed throughout, and all the items of the narrative content are filtered through some prism or perspective ('focalizer')." (3) 1. Time (ch. 4) 2. Characterization (ch. 5) 3. Focalization (ch. 6)
"Since the text is a spoken or written discourse, it implies someone who speaks or writes it. The act or process of production is the third aspect - 'narration'. (...) Within the text, communication involves a fictional narrator transmitting a narrative to a fictional narratee." (3f)
1. Events (ch. 2) 2. Characters (ch. 3)
1. Levels and Voices (ch. 7) 2. Speech Representation (ch. 8)
Tabelle 4: Rimmon-Kenan, Narrative Fiction, 1983 Es kann festgestellt werden, dass der Vorteil dieser Erzähltheorie in ihrer klaren und komprimierten, alle wichtigen Aspekte zusammenfassenden Darstellung liegt. Besondere Verdienste hat sich Rimmon-Kenan in ihrer weiteren Ausdifferenzierung der Erzählerin erworben. Hier insbesondere in der Frage nach der Wahrnehmbarkeit (perceptibility) und der Verlässlichkeit der Erzählerin (reliability). d) Seymour Chatman: Story and Discourse
(1978)
Die oben skizzierten Erzähltheorien Genettes, Bals und Rimmon-Kenans haben neben vielen Einzelaspekten vor allem die Unterscheidung von drei Textebenen gemeinsam. Im Gegensatz dazu rezipiert der amerikanische Literatur· und Filmwissenschaftler Seymour Chatman in seiner Erzähltheorie
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Methodologische Grundlegung der Narratologie
Story and Discourse von 197853 die vom Russischen Formalismus aufgebrachte Unterscheidung von zwei Textebenen, nach denen er sein Buch benannt hat. Seine Erzähltheorie ist insgesamt in starker Anlehnung an Roland Barthes und Gerard Genette entworfen, zeigt allerdings auch erhebliche Modifikationen gegenüber diesen. Dazu gehört die schon erwähnte Unterscheidung von zwei Textebenen, die der story und die des discourse. Prima facie hat Chatman damit zumindest terminologisch wieder vereinfacht. Der weitere Hauptunterschied besteht darin, dass Chatman diejenige Ebene, die bei Genette gar keine Berücksichtigung findet, nämlich die der histoire, einbezieht und breit entfaltet. Er ist somit ein Vertreter des weiteren Begriffs von Erzählung. Es versucht dabei, anglo-amerikanische, russische und französische Ansätze zu synthetisieren (Wayne Booth, Mikhail Bakhtin, Roland Barthes, Gerard Genette, Tzvetan Todorov).54 Seine Ebene der story definiert er als "the content or chain of events (actions, happenings), plus what may be called the existents (characters, items of setting) (...)"55. Hier behandelt er die klassischen Themen der Geschichte: Ereignisse (events), Figuren und das nach der Filmtheorie so genannte setting, das heißt den Ort und die Zeit der Geschichte (existents). In diese Ebene integriert er auch die von Genette der recit zugerechnete erzählerische Gestaltung der Zeit. Seine Ebene des discourse bestimmt er als "the expression, the means by which the content is communicated"56. Hier behandelt er dann über die klasssiche Frage nach der Erzählerin hinaus Aspekte, die Genette der recit-Ebene zuordnet, wie etwa den Modus der Erzählung. Das der frankophonen Erzähltheorie entstammende Stichwort der Fokalisierung fehlt bei Chatman. Dagegen werden bei ihm typisch anglo-amerikanische Topoi der Erzähltheorie behandelt und ausgeführt wie vor allem das Konzept des point of view und des implied author.
53 Chatman, Story and Discourse. Narrative Structure in Fiction and Film, 1978 (vgl. dazu u.a. die ausführliche Besprechung von Mosher, A New Synthesis of Narratology, 1980, 171-186). Das Buch wurde vielfach nachgedruckt, in der vorliegenden Untersuchung wird aus der fünften, unveränderten Auflage von 1989 zitiert. 54 S. Chatman, Story, 1978, 11. 55 Ebd. 19. 56 Ebd.
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Seymour Chatman, Story and Discourse. Narrative Structure in Fiction and Film, 1978 Discourse Story "the content or chain of events (actions, happenings), plus what may be called the existents (characters, items of setting)..." (19) 1. Story: Events (ch. 2) 2. Story: Existents (ch. 3)
"the expression, the means by which the content is communicated." (19)
3. Discourse: Nonnarrated Stories (ch. 4) 4. Discourse: Covert versus Overt Narrators (ch. 5)
Tabelle 5: Chatman, Story and Discourse, 1978 Chatman hat seinen Entwurf von 1978 in weiteren Aufsätzen und einem weiteren Buch Coming to Terms: The Rhetoric of Narrative in Fiction and Film von 1990 vertieft, teilweise revidiert, aber insgesamt weitgehend bestätigt. Hier finden sich Beiträge zum narrator und zwei programmatische Aufsätze zum Konzept des implied author, der Chatmans Festhalten daran dokumentiert, womit er allerdings weitgehend allein steht (s.u. II.B.). 4. Zum Gegenstand der
Narratologie
Der Gegenstand der Narratologie ist - wie oben schon deutlich wurde - die Erzählung oder narrative. Dabei sind, wie ebenfalls deutlich wurde, ein weiterer und ein engerer Begriff von Erzählung zu unterscheiden. Den engeren Begriff von Erzählung vertreten Narratologen wie Genette und Stanzel. Für sie begrenzt sich die Erzähltheorie auf die Analyse der kommunikativen Vermittlung fiktiver oder realer Vorgänge durch eine Erzählstimme sowie die Gestaltung der Zeit und des Modus der Erzählung. Im Gegensatz dazu vertreten Narratologlnnen wie Chatman, Bai und Rimmon-Kenan einen weiteren Begriff von Erzählung, indem sie die Inhaltsebene der Erzählung in die Analyse mit einbeziehen, also auch Ereignisse und Figuren in die Erzählanalyse integrieren. Im Poststrukturalismus - es sei daran erinnert, dass Roland Barthes, Gerard Genette, Mieke Bai, Shlomith Rimmon-Kenan und viele andere diese Wandlung des Theorieparadigmas mit vollzogen haben - hat eine weitere Ausweitung des Begriffs der Erzählung stattgefunden. Die herkömmliche Begrenzung auf fiktionale Erzähltexte wurde aufgegeben. 58 Als Erzählung werden nun Erzählungen aller Art verstanden, seien es Sachtexte, Werbespots, Urlaubserzählungen oder historiographische Texte, um nur einige Beispiele zu nennen. Die zugespitze These lautet: narrative is everywhere59 und die Narratologie stellt ein Instrumentarium bereit, das ihre Strukturprinzipien und ihre Funktionsweisen zu analysieren vermag. Die Angemessenheit dieser These
57
Stanzel, Theorie des Erzählens, (1979), 19956, 15ff; ähnlich Prince in seinem Dictionary, 1987. 58 So etwa Forster, Aspects of the Novel, 1927 (reprinted 1974). 59 So Currie, Postmodern Narrative Theory, 6.
60
Methodologische Grundlegung der Narratologie
beweisen mittlerweile vorliegende narratologische Analysen
verschiedenster
Textgattungen, seien es Werbespots, historiographische oder auch philosophische Texte.60 D i e s e A u s w e i t u n g d e s G e g e n s t a n d e s der N a r r a t o l o g i e v e r l i e f k e i n e s w e g s konfliktfrei. Der Disput u m die Wertigkeit v o n Dichtung und
Geschichts-
s c h r e i b u n g e t w a i s t s o alt w i e d i e P o e t i k s e l b s t . P i a t o n r ä u m t e d e r D i c h t u n g für d a s A l l g e m e i n w o h l k e i n e w e i t e r e B e d e u t u n g e i n , b e t r a c h t e t e s i e v i e l m e h r als T ä u s c h u n g u n d i n s o f e r n als ü b e r f l ü s s i g , w e n n n i c h t s o g a r s c h ä d l i c h . 6 1 A ristoteles
d a g e g e n kehrte diesen Grundsatz u m , ordnete die D i c h t u n g
der
G e s c h i c h t s s c h r e i b u n g v o r u n d w i d m e t e ihr e i n e g a n z e t h e o r e t i s c h e A b h a n d lung:
seine
Poetik.
2
Diese
Kontroverse
prägt
und
bestimmt
in
vielen
Wissenschaftskontexten bis heute die Diskussion. Der betonten Unterscheidung, die vielfach mit einer Wertung zugunsten des einen oder des anderen verbunden wurde, ist mittlerweile die Einsicht g e w i c h e n , dass e i n e V i e l z a h l v o n P a r a l l e l e n z w i s c h e n H i s t o r i o g r a p h i e u n d Literatur b e s t e h e n . 6 3 Für die F o r s c h u n g s d i s k u s s i o n sind z w e i Hauptgruppen z u differenzieren: D i e j e n i g e n , für d i e h i s t o r i s c h e u n d f i k t i o n a l e E r z ä h l u n g e n g r u n d s ä t z l i c h z u unterscheiden sind ( e t w a Dorrit C o h n , Gerard Genette)
und solche, die eine
60 Vgl. zum Werbespot: Grimm, Filmnarratologie. Eine Einführung in die Praxis der Interpretation am Beispiel des Werbespots, 1996; zu historiographischen Texten: White, Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, 1973, dt. 1991; ders., Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, 1986, dt. 1991, zu White s. Nünning, "Verbal Fictions?", 1999, 351-380; zu philosophischen Texten: Leroux, Du Topos au Theme: Sept Variations, 1985, 445-454. 61 Piaton, Politeia II., ΠΙ. und X. Buch, bes. 398a u. 595a-607b. 62 Aristoteles schreibt (Poetik 1451b): "Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich nicht dadurch voneinander, daß sich der eine in Versen und der andere in Prosa mitteilt - man könnte ja auch das Werk Herodots in Verse kleiden, und es wäre in Versen um nichts weniger ein Geschichtswerk als ohne Verse - ; sie unterscheiden sich vielmehr dadurch, daß der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte. Daher ist Dichtung etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung; denn die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere mit." Zur Genese der Schrift Poetik des Aristoteles vgl. das Nachwort von Manfred Fuhrmann in dessen Textausgabe von 1982 (bibl. erg. 1994) sowie ders., Antike Dichtungstheorie, 1992, 1-110. 63 Nünning, "Verbal Fictions?", 353, schreibt: "Das Spektrum der theoretischen Ansätze, die nachhaltig zur Problematisierung des Verhältnisses zwischen Literatur und Geschichte im Zeitalter der Postmodeme beigetragen haben, reicht vom New Historicism, der die Historizität der Literatur sowie die Textualität der historischen Überlieferung und der Historiographie betont, (...) über poststrukturalistische und dekonstruktivistische Ansätze, die die Zentralität des Subjekts zugunsten der Einsicht in die sprachliche Verfaßtheit aller kulturellen Ordnungen zurückweisen und das Individuum in ein freies Spiel der Signifikanten auflösen, (...) bis zum radikalen Konstruktivismus, der die Vorstellung von der Erkennbarkeit einer objektiven und unabhängig vom beobachtenden Subjekt existierenden Wirklichkeit erschüttert. (...) Diese Ansätze haben nicht nur die Dichotomien 'Text vs. Kontext', 'Fiktion vs. Wirklichkeit' oder 'Kunst vs. Wissenschaft', sondern auch die aristotelische Unterscheidung von Dichtung und Geschichtsschreibung in Zweifel gezogen." 64 Vgl. Cohn, Fictional versus Historical Lives: Borderlines and Borderline Cases, 1989, 3-24; dies., Signposts of Fictionality: A Narratological Perspective, 1990, 775-804; dies., Narratologische Kennzeichen der Fiktionalität, 1995, 105-112; Genette, Fictional Narrative, Factual Narrative, 1990, 755-774; ähnlich Stanzel, Historie, Historischer Roman, Historiographische Metafiktion, 1995, 113-123.
Hinführung zur Narratologie
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Unterscheidung aufzulösen versuchen (etwa Roland Barthes, Hayden White). 65 Es könnte jetzt versucht werden, die außerordentlich komplexe Theoriediskussion nachzuzeichnen, 66 was einige Seiten füllen würde. Das scheint mir aber nicht notwendig, weil - angeregt durch Genette - eine begriffliche Differenzierung in die Diskussion eingeführt wurde, die hier ausreichend weiterführt. Es ist Genettes Unterscheidung von 'fiktionaler Erzählung' und 'faktualer Erzählung'. 67 Genette thematisiert und problematisiert 1990 in seinem Aufsatz Fiktionale Erzählung, faktuale Erzählung erstmalig, dass er seinen Discours du recit von 1972 ebenso wie dessen Revision 1983 irrtümlich auf fiktionale Erzählung begrenzte 68 . Beide Formen postuliert er als angemessenen Gegenstand der Narratologie, wobei er Unterschiede festhält: "Ich möchte (...) provisorisch und auf mehr theoretische oder zumindest apriorische Weise untersuchen, aus welchen Gründen sich die faktuale und die fiktionale (...) Erzählung zu der von ihr "berichteten' Geschichte verschieden verhalten, einzig weil diese im einen Fall 'wahr' ist (oder als 'wahr' gilt) und im anderen fiktiv, das heißt, von dem, der sie gerade erzählt, erfunden oder von jemandem anderen, von dem er sie übernimmt. Ich sage 'gilt', weil es vorkommt, daß ein Historiker ein Detail erfindet oder eine 'Intrige' arrangiert, oder daß ein Romancier sich an einer Zeitungsnotiz inspiriert: worauf es hier ankommt, ist der offizielle Status des Texts und sein Lektürehorizont."69 Diese Unterscheidung hat sich seitdem durchgesetzt und Matias Martinez und Michael Scheffel eröffnen ihre Einführung in die Erzähltheorie von 1999 bereits mit der Grundunterscheidung zwischen fiktionalem Erzählen, das heißt der Erzählung erfundener Vorgänge, und faktualem Erzählen, das heißt der Erzählung von historischen Ereignissen und Personen. 70 Diese Definitionen zielen auf Wertfreiheit.
65
Barthes, Historical Discourse, (1967), 1970, 145-155; zur Literatur von White s.o. Hierzu sei auf den exzellenten Aufsatz von Nünning, "Verbal Fictions?", 1999, 351380, verwiesen, ohne dass damit der Positionierung Nünnings im Lager der Gegnerinnen der Identitätsthese das Wort geredet sei. 67 Vgl. Genette, Fictional Narrative, Factual Narrative, 1990, 65-94; die Unterscheidung wurde rezipiert von Vogt, Grundlagen, 1996, 293-296; Martinez / Scheffel, Einführung, 1999, 9-19; Dolezel, Fictional and Historical Narrative, 1999, 247-273. 68 Erstmals veröffentlicht in Poetics Today 11, 1990, 755-774 und erneut abgedruckt und schließlich ins Deutsche übersetzt in: ders., Fiktion, 1992, 65-94, hier: 66. Das Stichwort 'faktual' findet sich bezeichnenderweise noch nicht in den oben erwähnten Nachschlagewerken. 69 Ebd. 67. 70 Sie definieren faktuale Texte als "Teil einer Kommunikation, in der das reale Schreiben eines realen Autors einen Text produziert, der aus Sätzen besteht, die von einem realen Leser gelesen und als tatsächliche Behauptungen des Autors verstanden werden. Fiktionale Texte sind ebenfalls Teil einer realen Kommunikationssituation, in der ein realer Autor Sätze produziert, die von einem realen Leser gelesen werden. Fiktionale Texte sind jedoch komplexer als faktuale, weil sie außer der realen auch noch einer zweiten, imaginären Kommunikationssituation angehören. Die fiktionale Erzählung richtet sich sowohl im imaginären als auch im realen Kontext an einen Leser und stellt daher eine 'kommunizierte Kommunikation' dar (...)", Martinez / Scheffel, Einführung, 1999, 17. S. auch Vogt, Grundlagen, 1996,293-296. 66
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Methodologische Grundlegung der Narratologie
Es ist angesichts des vorliegenden Untersuchungsgegenstandes der Acta kaum nötig, weiter in die Frage nach den Kriterien von Fiktionalität einzudringen, da mit der Definition 'faktualer' Erzählung die Art der Erzählung abgedeckt ist, die in den Acta, dem Corpus Lucanum insgesamt, vorliegt. Acta ist eine faktuale Erzählung, weil sie - wenigstens dem lukanischen Selbstverständnis nach - von historischen Ereignissen und Personen erzählt. Dabei steht außer Frage, dass die erzählte Geschichte dieser Ereignisse und Personen erzählerisch vermittelt und gestaltet ist, was dieses Erzählwerk für eine narratologische Analyse in hervorragender Weise prädestiniert. 71 5. Konstitutiva der Narratologie Wie bereits deutlich geworden ist, stellt es ein Problem dar, sich innerhalb der verwirrenden Vielfalt der Begrifflichkeiten der Narratologien zu orientieren. In meinen Vorarbeiten habe ich verschiedene Wege beschritten, die umfangreiche Literatur, die gerade in den letzten Jahren explosionsartig angeschwollen ist, zu ordnen und in eine plausible Systematik zu bringen. In der vorliegenden Untersuchung gehe ich von dem oben skizzierten weiten Begriff der Erzählung aus. Im Folgenden werden der primär methodologische Teil (II.) und der textanalytische Teil (III.) jeweils das 'Was', also die erzählte Welt oder Geschichte, und das 'Wie', also die Art und Weise ihrer Vermittlung auf der Ebene der Erzählung (recit) und des Erzählens {narration), zum Inhalt haben. Welche Kategorien der Erzähltheorie ich dabei den einzelnen Erzählebenen zuordne, soll nachstehende Tabelle überblickartig zeigen und in den folgenden Kapiteln ausgeführt werden: I. Wie wird erzählt?
II. Was wird erzählt?
ERZAHLEN narration (Genette) text: words (Bai) discourse (Chatman)
ERZAHLUNG recit (Genette) story: aspects (Bai) text (Rimmon-Kenan)
1. Erzählstimme und Erzähladressatlnnen
2. Zeit 3. Modus a) Distanz b) Fokalisierung
GESCHICHTE histoire (Genette) fabula: elements (Bai) story (Chatman, RimmonKenan) 4. Ereignisse (Raumsemantik) 5. Figuren (Charakterisierung)
Tabelle 6: Konstitutiva der Narratologie
Im Aufbau sowohl des methodologischen als auch des textanalytischen Teiles dieser Untersuchung folge ich dabei der von Bai modifizierten Reihenfolge der Analyse der Erzählebenen. Ich setze ein mit dem 'Erzählen', das heißt mit der für die Erzähltheorie zentralen Frage nach der Erzählerin und der Erzähladressatln (II.B.). Unter der Überschrift 'Das Erzählen' werden die Analysekategorien für die Erfassung sowohl der Erzählstimme (II.B.2.) als 71 So zuletzt auch von Bendemann, ΔΟΞΑ und ΣΤΑΥΡΟΣ, 2001, 112, und Müller, Mehr als ein Prophet, 2001, 12.
Das Erzählen
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auch der Erzähladressatln (II.B.3.) sowie deren Funktionen entfaltet. Unter dem Oberbegriff 'Erzählung' (II.C.) komme ich dann auf narratologische Grundprinzipien der Erzählung wie Zeit (II.C.l.), Modus (II.C.2.) und Realisierung zu sprechen (II.C.2.d). In einem dritten und letzten Arbeitsschritt wird die Ebene der Geschichte analysiert (H.D.), hier vor allem die Ereignisse (II.D.l.) und die Figurendarstellung (H.D.2.).
B. Das Erzählen "Eine Erzählsituation ist, wie jede andere auch, ein komplexes Ganzes, in dem die Analyse - oder auch bloß die Beschreibung - nur dadurch Unterschiede kenntlich machen kann, daß sie ein Gewebe von engen Beziehungen zwischen dem narrativen Akt, seinen Protagonisten, seinen raum-zeitlichen Bestimmungen, seinem Bezug auf andere Erzählsituationen in derselben Erzählung usw. zerreißt. Die Erfordernisse der Darlegung zwingen uns zu diesem Gewaltakt, einfach deshalb, weil der Diskurs der Kritik, wie jeder andere auch, nicht alles zugleich sagen kann." Gerard Genette 72
Die Unterscheidung zwischen realem Autor bzw. realer Autorin und Erzählerin eines Erzähltextes ist mittlerweile ein Allgemeinplatz in der Literaturtheorie.73 So schreibt etwa Wolfgang Borchert weitgehend alltagssprachlich, das bedeutet aber nicht, dass die reale Person Wolfgang Borchert nur in dieser Weise schreiben oder reden konnte. Der umgangssprachliche Erzählstil war Borcherts erzählerisches Stilmittel.74 Auch kann ein männlicher Autor eine weibliche Erzählstimme einsetzen und umgekehrt. Das Geschlecht der gewählten Erzählerin muss also nichts über die reale Autorin besagen. Autorinnen können beliebig viele unterschiedliche Erzählerinnen einsetzen. Beispiele dafür sind die Erzählungen Tristan und Tonio Kröger, die Thomas Mann fast zur gleichen Zeit geschrieben hat, die aber Erzähler enthalten, die in mancher Hinsicht voneinander abweichen. Auch hier wäre also ein unmittelbarer Rückschluss auf den realen Autor trügerisch.75 1. Das Kommunikationsmodell narrativer Texte Den theoretischen Rahmen der Erzähltheorie bildet die Kommunikationstheorie; deren sog. "Funktionen" stellen einen umfassenden theoretischen Bezugsrahmen für die Untersuchung von literarischer Kommunikation bereit. Ein in Anlehnung an Roman Jakobsons Kommunikationsmodell76 - für narrative 72
Der Diskurs der Erzählung, 1972, 153. Sie geht auf Kayser, Wer erzählt den Roman?, (1958), 1969, 197-216, 206f., zurück: "(...) der Erzähler (...) ist nicht der Autor. (...) der Erzähler ist eine gedichtete Person, in die sich der Autor verwandelt hat", anders Weber, Erzählliteratur, 1998, 7 passim. 74 Diese Erkenntnis sollte davor warnen, zu leichtfertig von einer beispielsweise einfachen Sprache vorschnell auf mangelnde Bildung zu schließen, das heißt insgesamt vorschnell historische Rückschlüsse aus Texten zu ziehen. 75 Vgl. dazu Petersen, Textinterpretation, 16f. 76 S. dazu Jakobson, Linguistics and Poetics, 1960, 350-377; ders., Poetik, 1979, 88ff. Vgl. auch Nünning, Grundzüge eines kommunikationstheoretischen Modells, 1989, 22ff. Das Jakobsonssche Kommunikationsmodell mit seinen sechs Sprachfunktionen ist eine Weiter73
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Methodologische Grundlegung der Narratologie
Texte entwickeltes Kommunikationsmodell stellt einen theoretischen Bezugsrahmen für die Analyse von Erzähltexten zur Verfügung, indem es die Instanzen transparent macht, die an der Kommunikation eines Erzähltextes beteiligt sind. Dieses Beschreibungsmodell hat sich in den letzen Jahrzehnten innerhalb der Erzähltheorie in seinen Gewichtungen gewandelt. Ein Meilenstein bei der Bestimmung der Instanzen, die an der Kommunikation narrativer Texte beteiligt sind, stammt von Chatman.77 Sein Modell besticht einerseits durch Einfachheit und Klarheit, andererseits führt es eine nicht geringe Anzahl von relevanten Kommunikationsteilnehmerinnen an. Chatman unterscheidet sechs "parties", wie er sie nennt: Real Author, Implied Author, Narrator, Narratee, Implied Reader und Real Reader. Genette, für den es nur zwei Instanzen der narrativen Vermittlung gibt, nämlich den Erzähler und den realen Autor, kommentiert despektierlich: "Schon eine Menge Leute für eine einzige Erzählung. Ockham steh mir bei!" 78 Narrative Text Real author
Implied Author—•(Narrator)—•(Narratee)—•Implied Reader
• Real Reader
Tabelle 7: Kommunikationsmodell nach Chatman79 Dieses Modell von 1978 zeigt drei einander zugeordnete Instanzen, die an der Kommunikation narrativer Texte beteiligt sind. Es sind an erster Stelle der reale Autor und seine reale Leserin. Diese beiden Instanzen liegen außerhalb des narrativen Textes (narrative text) und entfallen somit als relevante Instanzen für die Erzählanalyse, deren Gegenstand weder produktions- noch rezeptionsästhetische Faktoren sind. 80 Die für die Erzähltheorie relevanten entwicklung des so genannten 'Organon-Modells' des Psychologen Karl Bühler aus den Jahren 1933/34. Wenzel, Jakobson, 1998, 247, fasst zusammen: "Grundidee dieses von J. (...) in einer seiner bekanntesten Schriften skizzierten Modells ist die Vorstellung, daß bei jedem Kommunikationsakt sechs Faktoren: der Sender, die Botschaft, der Kanal, der Empfänger, der Kontext und der Code, sowie in jeweils unterschiedlich starker Ausprägung sechs ihnen zugeordnete Sprachfunktionen eine Rolle spielen: die emotive Funktion als Ausdruck der Befindlichkeit des Senders und seiner Haltung zum thematisierten Gegenstand; die poetische (...) Funktion als 'the set [...] toward the message as such' (...), also als 'Einstellung auf die Botschaft als solche', auf ihre bes. sprachliche Form und Strukturiertheit; die phatische Funktion als die Überprüfung der zwischen Sender und Empfänger hergestellten Sprechverbindung; die konative Funktion als der in der Botschaft enthaltene Appell an den Empfänger; die referentielle Funktion als der Bezug auf die Wirklichkeit, d.h. auf die im Kontext vorgegebenen Gegenstände und Personen (...); die metalinguistische Funktion als die Verständigung über den Code (...), also z.B. über die Bedeutung der im Kommunikationsakt verwendeten Begriffe." 77 Vgl. bei Genette, Erzählung, 285. 78 Genette, Erzählung, 285. 79 Chatman, Story, 1979, 151. 80 Der Verzicht auf die ausführliche Erörterung der Frage nach der realen Autorin des Corpus Lucanum fällt in dieser Untersuchung umso leichter, als ich, wie unten (S.66ff) gezeigt wird, der Auffassung bin, dass er oder sie ohnehin unbekannt ist. Die gerade in der jüngeren Diskussion aufgeworfene Frage nach den realen Leserinnen des Corpus Lucanum wird ebenso wenig Gegenstand dieser Untersuchung sein. Zu den Erstrezipientlnnen des Doppelwerkes vgl. zuletzt Kurth, "Die Stimmen der Propheten erfüllt", 2000, 226-233. Zur
Das Erzählen
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Größen stellen die intratextuellen Instanzen dar. Das sind in Chatmans Modell der implied author und der implied reader sowie der narrator und der narratee. Letzere hat er eingeklammert, weil er sie als optional betrachtete und nicht als für jeden Erzähltext konstituierend. Diese Gewichtung hat sich innerhalb der Narratologie mittlerweile umgekehrt. Die von Chatman noch optional eingeschätzte Erzählstimme (narrator) sowie ihr Adressat (narratee) rückten ins Zentrum der Erzähltheorie und werden heute als die maßgeblichen Konstituenten des erzählerischen Kommunikationsprozesses betrachtet.81 Das Konzept des implied author ist dagegen, sofern an ihm überhaupt noch festgehalten wird, in den Hintergrund getreten. Der Begriff implied author82 wurde von Booth 1961 in seinem für die Erzähltheorie so bedeutsamen Werk The Rhetoric of Fiction geprägt. Seitdem gehört dieser Begriff zu den Grundkategorien vor allem der Erzähltheorie des anglo-amerikanischen Bereiches (Chatman).83 In der frankophonen Erzähltheorie hat er kaum eine Rolle gespielt. Und in jüngster Zeit gewinnen die narratologischen Stimmen Oberhand, die dieses Konzept ausmustern (Genette, Bai, Nünning, Martinez und Scheffel 84 ). Es kann als eines der umstrittensten Konzepte der Narratologie bezeichnet werden. 85 Die Kritik zielt im Wesentlichen auf zweierlei: Erstens wird die terminologische Unklarheit des Begriffs kritisiert. Anstelle einer genauen Definition umkreist Booth sein Konzept eines implied author als Gesamtbedeutung eines literarischen Werkes mit seinen Normen und Werten. Er bezeichnet den implied author als 'the author's second self, das sich als 'image' im Text personifiziert. Booth hält in seiner zweiten, überarbeiteten Auflage seiner Rhetoric of Fiction von 1983 an diesem Konzept fest, räumt Methodologie einer rezeptionsästhetischen Analyse und in diesem Zusammenhang auch der Frage nach den Erstrezipientlnnen vgl. die das Problemfeld aufarbeitende Studie von Mayordomo-Marin, Den Anfang hören, 1998 (Lit.). 81 So jetzt auch Chatman, Coming to Terms, 1990, 151. 82 Aus der umfangreichen literaturwissenschaftlichen Diskussion zum Konzept des implied author vgl.: Booth, Rhetoric of Fiction, (1961), 19832, 67ff., 162f. (auch bequem zugänglich in deutscher Übersetzung in: Theorie zur Autorschaft, hrsg. v. Jannidis u.a. 2000, 142-152), s. auch Afterword, in: Second Ediüon 1983, 421-425; Chatman, Story, 1978, 28, 148-151; ders., Coming to Terms, 1990, 74-89, 90-108; Bronzwaer, Implied Author, Extradiegetic Narrator, and Public Reader, 1978, 1-18; Bai, Narratology, 18; dies, Laughing Mice, 1981, 202-210, hier: 209; Juhl, Life, Literature, and the Implied Author, 1980, 177-203; Lanser, The NaiTative Act, 1981, 131 f.; Rimmon-Kenan, Comprehensive Theory of Narrative, 1976, 33-62, hier: 58; dies., Narrative Fiction, 1983, 86-89,101-104; Genette, Erzählung, (1983), 1994, 283-295; Diengott, The Implied Author Once Again, 1993, 68-75; Nelles, Historical and Implied Authors and Readers, 1993, 22-46; Nünning, Renaissance eines anthropomorphisierten Passepartouts oder Nachruf auf ein literaturkritisches Phantom? Überlegungen und Alternativen zum Konzept des "implied author", 1993, 1-25; Kindt / Müller, Der 'implizite Autor'. Zur Explikation und Verwendung eines umstrittenen Begriffs, 1999, 273-287. 83 Chatman ist einer seiner überzeugtesten Vertreter, vgl. ders., Story, 28, 148-151; ders., Coming to Terms, 1990, hier vor allem die Kapitel 5: In Defense of the Implied Author, 74-89, und Kapitel 6: The Implied Author at Work., 90-108. S. dazu die treffende Kritik von Nünning, Renaissance, 1993,1-25, hier v.a. 2-5. 84 Martinez / Scheffel, Einführung, 1999, diskutieren nicht einmal mehr das Problem. 85 Vgl. zur Forschungslage Nünning, Renaissance, 1993, 1-25, mit detaillierten Verweisen.
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aber selbst Schwächen ein. Zweitens wird kritisiert, dass der implied author eine am Senderpol angesiedelte Instanz ist, die als 'stimmlos' bezeichnet wird. Chatman definierte: "Unlike the narrator, the implied author can tell us nothing. He, or better, it has no voice, no direct means of communication. It instructs us silently, through the design of the whole, with all the voices, by all the means it has chosen to let us learn."86 Hier setzte Rimmon-Kenans Kritik an. Wie kann eine stimmlose Instanz kommunizieren? Sie verbannte die Kategorie des implied author aus dem Kommunikationsmodell narrativer Texte.8 Darin hat ihr niemand widersprou
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chen. Tatsächlich diente Booth das Konzept des implied author zur Erfassung moralischer Grundüberzeugungen und Geltungsansprüche eines literarischen Werkes89 und bildete somit eine Art Surrogatbegriff für die auch von ihm aufgegebene Frage nach der 'Intention des Autors', die die Literaturwissenschaft lange bestimmt hatte. Das Konzept der 'Autorenintention' basiert auf der Überzeugung, dass es Aufgabe der Interpretation ist, die bewusste oder unbewusste Absicht des empirischen Autors zu rekonstruieren, um ein Werk zu verstehen.90 Innerhalb der Vorgeschichte der Narratologie war es vor allem der New Criticism mit seiner 86
Chatman, Story, 1978, 148. Rimmon-Kenan, Narrative Fiction, 86-89. Sie gab das Konzept damit nicht auf, sondern ordnetet es anderen erzähltheoretischen Fragestellungen zu, wie etwa der nach der Zuverlässigkeit der Erzählstimme (reliability) (ebd. 100-103). Dazu ausführlich Chatman, Coming to Terms, 1990, 90ff. 88 Nünning, Renaissance, 1993, 1-25, gibt dem Konzept des implied author den Abschied und schlägt vor, statt vom implied author von der "Ebene der Gesamtstruktur" oder auch von "abstrakte(m) Strukturniveau des Gesamttextes" zu sprechen. Diese beiden Umschreibungen werden definiert als "die Summe aller strukturellen Kontrast- und Korrespondenzbezüge, die sich durch Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen textuellen Elementen auf den Kommunikationsebenen der Figuren und des Erzählers ergeben". S. auch die scharfe Kritik an Nünning von Kindt / Müller, Der 'implizite Autor', 1999, 273-287, hier v.a.: 273-277, mit einem ähnlichen Ergebnis; sie schlagen "Textintention" oder "Erzählstrategie" als alternative Begriffe zum implied author vor. Mit etwas anderen theoretischen Voraussetzungen hat Robbins, The Social Location of the Implied Author of Luke-Acts, 1991, 305-332, eine solche Textbeschreibung des Corpus Lucanum vorgenommen. Er analysiert die Erzählstrategie des implied author unter folgenden Oberbegriffen des Sozialsystems: 1. Previous Events (historische Einordnung), 2. Natural Environment and Resources (geographischer Rahmen und topologische Charakteristika), 3. Population Structure (unter anderem Alter und Geschlecht), 4. Technology, 5. Socialization and Personality, 6. Culture, 7. Foreign Affairs, 8. Belief Systems and Ideologies, 9. Political-Military-Legal System. 89 Booth ist in einer Mormonengemeinde in Utah aufgewachsen und war kurze Zeit "Mormon missionary", bis er schließlich einer der Chicago Critics wurde. Booth betont noch 1995, dass er von Anfang an eine ethische Grundorientierung auch in seiner literaturwissenschaftlichen Arbeit besaß (Booth, Afterword, 1995, 284), die ihm vielfach auch den Vorwurf des Moralismus einbrachte (s. dazu und zu Booth insgesamt Kindt/Müller, Der 'implizite Autor', 1999, 277-280). Booths' ethisch-moralische Grundorientierung zeigt sich auch in seinem Buch: The Company We Keep. An Ethics of Fiction, 1988. 90 S. dazu zuletzt ausführlich Jannidis / Lauer, Martinez / Winko, Texte zur Theorie der Autorschaft, 2000, 7-29; Danneberg, Zum Autorkonstrukt und zu einem methodologischen Konzept der Autorintention, 1999, 77-105; Mayordomo-Marfn, Den Anfang hören, 1998, 170-187. 87
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Warnung vor der intentional fallacy?1 der sich von dieser herrschenden Position abgrenzte.92 Gegen eine überwiegend positivistische, vornehmlich auf biographische und historische Fakten sowie psychologische Faktoren ausgerichtete Literaturbetrachtung des 19. Jahrhunderts rückten die Vertreter des New Criticism die Betrachtung des Textes als ein auf sich selbst referierendes literarisches Artefakt ins Zentrum.93 Die Bildung der Kategorie des implied author stellte in diesem Zusammenhang für Booth - und in seinem Gefolge für Chatman - den Versuch dar, den Gedanken einer 'Textintention' bzw. einer 'Erzählstrategie'94 festzuhalten und dabei einen 'intentionalen Fehlschluss' zu vermeiden. 9 Zudem hat Booth den Begriff des implied author zu einer Zeit gebildet, als die Trennung von realem Autor und Erzähler noch nicht sonderlich geläufig war, aber eine Differenz zwischen beiden kenntlich gemacht werden sollte. 96 Das hat sich mittlerweile geändert: In den Mittelpunkt der Analyse der erzählerischen Vermittlung ist 'der Erzähler' getreten. Diese Entwicklung deutet sich schon bei Rimmon-Kenan an, die explizit das Modell Chatmans dahingehend modifiziert, dass sie die Erzählerin, bei ihr narrator, und die Erzähladressatln, bei ihr narratee, als die entscheidenden Konstituenten der narrativen Vermittlung betrachtet. Diese Einschätzung ist mittlerweile repräsentativ für Erzähltheorien (etwa Genette, Bai, Toolan, Martinez, Scheffel). Insofern ist das Modell Chatmans von 1979 folgendermaßen zu modifizieren:
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S. Wimsatt / Beardsley, The Intentional Fallacy / Der intentionale Fehlschluss, (1946/1954), in: Texte zur Theorie der Autorschaft, hrsg. u. komm. v. Fotis Jannidis et al, Stuttgart 2000, 84-101 (leicht gekürzte Fassung der überarbeiteten Fassung: The Verbal Icon. Studies in the Meaning of Poetry, Lexington: University of Kentucky 1954, 3-18). 92 S. dazu ausführlich Danneberg / Müller, Der 'intentionale Fehlschluss' - ein Dogma? Systematischer Forschungsbericht zur Kontroverse um eine intentionalistische Konzeption in den Textwissenschaften, 1983, 103-137, 376-411; Rosebury, Irrecoverable Intentions and Literary Interpretation, 1997, 15-30; sowie den Exkurs von Mayordomo-Marin, Den Anfang hören, 1998, 170-187, mit einer Anwendung auf die neutestamentliche Exegese. S. auch die Anthologie wichtiger Texte des 20. Jahrhunderts zur Theorie der Autorschaft, hrsg. v. Jannidis, Lauer, Martinez und Winko, 2000, sowie den von diesen herausgegebenen Sammelband: Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, 1999. 93 Poland, Literary Criticism and Biblical Hermeneutics, 1985, 73, formuliert in ihrer die kritischen Aspekte des New Criticism besonders betonenden Darstellung: "From their [die Vertreter des New Criticism] perspective, the romantic cult of originality and self-expression was symptomatic of the erosion of a spiritual order and the loss of integrity in the modern consciousness". 94 So nennen es Kindt / Müller, Der 'implizite Autor', 286, in Anschluss an Booth. 95 Kindt / Müller, Der 'implizite Autor', 280: "Der Begriff ermöglichte Booth die Aufrechterhaltung der Vorstellung, er könne die normativen Welten von literarischen Texten interpretieren und kritisieren, ohne dabei die Grenzen des Textes zu überschreiten und Opfer einer 'fallacy' zu werden. So betrachtet, war der Begriff des implied author eine Kompromissbildung, die Booth die Realisierung seiner ethischen Grundorientierung um den Preis der theoretischen Eindeutigkeit erlaubte". 96 S. auch Genette, Erzählung, (1983), 1994, 285.
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Narrative Text Real author —•
Narrator —» Narratee
Real Reader
Tabelle 8: Modifiziertes Kommunikationsmodell Es kann also festgehalten werden, dass die Unterscheidung zwischen Autor und Erzähler für die Erzählanalyse konstituierend ist. Die Frage nach der realen Autorin stellt sich für die Narratologie nicht. Unabhängig davon ist diese Frage für das Corpus Lucanum ohnehin nicht eindeutig zu beantworten. Die Forschungsliteratur dazu lässt sich auf zwei Hauptgruppen reduzieren. 97 Die eine Gruppe hält den Paulusbegleiter und Arzt Lukas für den Verfasser. Diese Annahme geht auf Irenäus von Lyon (um 180) zurück (Haer III 1,1; 14,1). Er kombinierte die so genannten 'Wir'Passagen der Acta (16,10-17; 20,5-15; 21,1-18; 27,1-28,16) mit Aussagen aus Kol 4,14 und 2 Tim 4,11. 9 8 Neben Irenäus bezeugt auch der Canon Muratori (um 200): "Das dritte Buch des Evangeliums nach Lukas. Dieser Arzt Lukas hat es nach Christi Himmelfahrt, da ihn Paulus als der Schrift Kundigen herangezogen hatte, unter seinem Namen nach Meinung verfaßt."99 Diese altkirchliche Hypothese wird in jüngster Zeit auch im deutschen Kontext wieder mit großer Leidenschaft vertreten vor allem von Martin Hengel und Anna Maria Schwemer in ihrer Monographie über Paulus zwischen Damaskus und Antiochien von 1998. 100 Dieser Auffassung steht die Überzeugung der anderen Gruppe entgegen, dass das Corpus Lucanum und die drei anderen kanonischen Evangelien anonym verfasst und erst später historisch greifbaren Personen zugeschrieben worden sind. 101 Anonymität und Pseudepigraphie waren in der jüdischen und
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Vgl. zu dieser Frage den Überblick von Fitzmyer, The Authorship of Luke-Acts Reconsidered, 1989, 1-26; ders., Acts, 1998, 49-51. 98 Die so genannten 'Wir'-Passagen werden als Augenzeugenbericht des Verfassers, der Paulus auf seinen Reisen begleitete, gelesen. Von dem in 2 Tim 4,11 erwähnten Lukas heißt es, dass er als letzter treu bei Paulus ausgeharrt hat. Damit kommt er als Begleiter des Paulus, der ihn den 'Wir'-Passagen zufolge bis nach Rom begleitet hat, in Frage. Kol 4,14 schließlich erwähnt einen Arzt Lukas und diese Tatsache wiederum wird korreliert mit medizinischer Terminologie im Corpus Lucanum. Als weiterer neutestamentlicher Beleg für Lukas wird Phlm 24 angeführt. Eine ausführliche Diskussion aller Quellen, welche die Verfasserfrage thematisieren, findet sich in der umfangreichen Monographie von Thornton, Zeuge des Zeugen, 1991, 8-69. 99 Zitiert nach Schneemelcher, Apokryphen I, 28. 100 Hengel / Schwemer, Paulus, 1998, 10, schreiben: "Die Apostelgeschichte halten wir gegen eine verbreitete Anti-Lukas-Scholastik für ein Werk, das bald nach dem 3. Evangelium von Lukas dem Arzt verfaßt wurde, dem Reisebegleiter des Paulus ab der Kollektenreise nach Jerusalem. D.h., sie ist, zumindest zum Teil, als Augenzeugenbericht für die Spätzeit des Apostels, über die wir aus den Briefen nur wenig erfahren, eine Quelle aus erster Hand." Vgl. auch die umfangreiche Monographie von Thornton, Zeuge des Zeugen, 1991. Weitere Vertreter dieser These führt Fitzmyer, Acts, 1998, 51, an, er gehört selbst zu dieser Gruppe. 101 Vgl. etwa Pesch, Die Zuschreibung der Evangelien an apostolische Verfasser, 1975, 56-71. Weitere Vertreter dieser Auffassung sind etwa Conzelmann, Enslin, Haenchen,
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hellenistischen Literatur jener Zeit keine Seltenheit und keineswegs so überraschend wie im Zeitalter des Copyright; sie sind sogar für große Teile des Neuen Testaments signifikant.102 Zur Zeit der Entstehung der Evangelien galt offensichtlich: Wesentlich ist allein die Botschaft von Jesus Christus, nicht aber die Frage, wer genau die Evangelien niedergeschrieben hat.103 So wurden die Evangelien anfangs ohne Titel überliefert. Die Überschriften sind erst später hinzugefügt worden, wohl als die voranschreitende Verbreitung der Evangelien und ihres beginnenden Zusammenschlusses zu einem Viererkanon dies als Identifikationsmerkmal notwendig machte. Zu welchem Zeitpunkt diese Zuschreibungen erfolgten, kann nicht mehr genau bestimmt werden.104 Innerhalb dieses Forschungskonsenses hat es sich eingebürgert, der Einfachheit halber von 'Lukas' zu sprechen, wenn der reale Verfasser gemeint ist. Angesichts der Unsicherheit hinsichtlich der Identifikation des realen Verfassers des Corpus Lucanum würde ich die Bezeichnung ,LukA', einer Zusammensetzung aus Luk(asevangelium und) A(cta), aus folgenden Gründen als treffender erachten: (i) Es hält in Erinnerung, dass wir es mit einem anonym verfassten Erzählwerk zu tun haben. Die artifizielle Bezeichnung LukA vermeidet die missverständliche Sicherheit, dass wir Lukas, den Paulusbegleiter und Arzt, vor uns haben, der zu uns spricht. Denn der oder die Verfasserin hat offensichtlich bewusst darauf verzichtet, sich namentlich einzuführen, was ihm oder ihr im Prolog leicht möglich gewesen wäre. Dies sollte respektiert werden. (ii) Das Lukasevangelium und die Acta stellen ein Doppelwerk dar, das derselben Hand entstammt, also literarisch zusammengehört. (iii) Die selbstverständliche Zuschreibung des Werkes an einen Mann, ohne dass dies sicher nachgewiesen ist, wird damit vermieden.105 In der englischsprachigen Sekundärliteratur wird dieser Aspekt kritischer als im deutschsprachigen Bereich reflektiert und hat dort zu sprachlichen MarkierunKoester, Kümmel, Marxsen, Parsons, Pervo, Plümacher, Roloff, Schmid, Schneider, Vielhauer, Weiser; s. die Liste von Fitzmyer, Acts, 51. 102 Im Neuen Testament sind neben den vier Evangelien und der Apostelgeschichte auch noch der Hebräerbrief und der erste Johannesbrief anonym verfasst worden. Ein Großteil der übrigen neutestamentlichen Schriften sind pseudepigraphisch verfasst, das heißt sie beanspruchen "mit einem vorgeblichen, in der Regel apostolischen Vf.namen (...) Anerkennung für sich" (s. Paulsen, Pseudepigraphen, 1381), wie die Briefe an die Epheserlnnen und Kolosserinnen, der zweite Thessalonicherbrief, die drei Pastoralbriefe, der Jakobusbrief, die beiden Petrusbriefe sowie der Judasbrief. Fast zwei Drittel der neutestamentlichen Schriften sind somit anonym oder pseudonym verfasst. Zu dem Phänomen der Anonymität und Pseudepigraphie s. Wolter, Die anonymen Schriften, 1988, 1-16; Paulsen, ebd. 1381 f. (Lit.). 103 So auch Hengel, Evangelienüberschriften, 14. 104 Vgl. dazu ebd. Hengel; er vertritt die Überzeugung, dass sie sehr früh erfolgten. 105 Ich möchte nicht die unbewiesene Annahme fortschreiben, es seien sicher Männer gewesen, die die Evangelien, ja die gesamte frühchristliche Literatur verfasst haben. Es bleibt festzuhalten: Wir wissen es in vielen Fällen nicht und Forschungen zur antiken (Frauen)geschichte der letzten Jahrzehnte haben im Hinblick auf die Literalität von antiken Frauen neue Perspektiven eröffnet, vgl. dazu Eisen, Jesus, 81 (hier v.a. auch Anm. 5 mit weiterführender Lit.). Es sei daran erinnert, dass kein geringerer als Adolf von Harnack die Möglichkeit erwogen hat, dass Frauen Verfasserinnen frühchristlicher Schriften waren (vgl. ders., Probabilia über die Adresse und den Verfasser des Hebräerbriefs, 1900).
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gen geführt. So hat es sich eingebürgert, vom Verfasser als 'he or she' oder als 's/he' zu sprechen, sofern das Geschlecht unbekannt ist. 106 Das kommunikationstheoretische Pendant zum implied author ist per definitionem der implied reader (vgl. Tabelle 7). Es handelt sich dabei um das in der Narratologie sicher am wenigsten ausgebildete Konzept. Innerhalb der klassischen Narratologie hat es keine maßgebliche Bedeutung erlangt und ist nicht weiter systematisiert worden, bis auf höchst rudimentäre Ansätze etwa bei Rimmon-Kenan und Genette. 107 Wolfgang Iser dagegen hat den Begriff des implied reader aufgegriffen und in seinen beiden Hauptwerken Der implizite Leser: Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett von 1972 und Der Akt des Lesens: Theorie ästhetischer Wirkung von 1976 zum Zentralkonzept einer Rezeptionsästhetik ausgebildet. Eine Vermittlung von Narratologie als Textästhetik mit Ansätzen der Rezeptionsästhetik 108 steht noch aus. 09 In der vorliegenden Untersuchung kann nur auf die Wichtigkeit der Frage nach den Rezeptionsbedingungen eines Textes und der Bedeutung der Rezeption für die Konstituierung von Sinn hingewiesen werden, jedoch ist sie nicht Gegenstand narratologischer Theoriebildung, welche die Grundlage der vorliegenden Untersuchung bildet, und wird daher im Folgenden nicht weiter entfaltet. 110 Im Übrigen ist innerhalb der klassischen Narratologie für das Konzept des implied reader ähnliches zu konstatieren wie für sein kommunikationstheoretisches Pendant des implied author. Beide Kategorien sind 106 Vgl. etwa Kurz, Approaches, 1987, 204; Kingsbury, Luke, 9; Spencer, Acts, 1993, 407; Moore, Literary Criticism and the Gospels, 1989; Fowler, Let the Reader Understand, 1991 (2001) et al. 107 S. Rimmon-Kenan, Narrative Fiction, 1983, 117-129; Genette, Erzählung, (1983), 1994, 283-295. 108 Rezeptionsästhetik ist hier der Oberbegriff und verweist auf eine komplexe Theoriediskussion unterschiedlichster Ansätze. Zur Aufarbeitung dieses methodologischen Feldes vgl. die forschungsgeschichtliche und exegetische Untersuchung von Mayordomo-Marin, Den Anfang hören, 1998 (Bibl.), sowie Link, Rezeptionsforschung. Eine Einführung in Methoden und Probleme, (1976), 19802 und Holub, Reception Theory. A Critical Introduction, 1984. Vgl. v.a. die schon oben genannten klassischen Beiträge von Iser, Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett, (1972), 19903; ders., Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, 1976, 2., durchges. u. verb. Aufl. 1984; sowie die drei Anthologien: Warning (Hg.), Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, 1975, 19934; Suleiman / Crosman (ed.), The Reader in the Text: Essays on Audience and Interpretation, 1980 (Bibl.); Tompkins (ed.), Reader-Response Criticism: From Formalism to Post-Structuralism, 1980 (Bibl.). 109 Zu Ansätzen in dieser Richtung vgl. Nünning, Towards a Cultural and Historical Narratology: A Survey of Diachronic Approaches, Concepts, and Research Projects, 2000, 345-373. Die alte Feindschaft, die sich mit dem Stichwort der affective fallacy verbindet, kann als überholt gelten, weil die These des programmatischen Aufsatzes von Wimsatt / Beardsley, The Affective Fallacy, (1949), 1954, 21-39, von Narratologlnnen nicht rezipiert wurde. Außerdem ist an die Stelle autoritärer Selbstbehauptung einzelner literaturwissenschaftlicher Ansätze das Bewusstsein für die Berechtigung, ja die Notwendigkeit eines Methodenpluralismus getreten. Innerhalb der neutestamentlich-exegetischen Diskussion ist es John A. Darr, On Character Building: The Reader and the Rhetoric of Characterization in Luke-Acts, 1992; ders., Narrator as Character: Mapping a Reader-Oriented Approach to Narration in LukeActs, 1993, 43-60; ders., Herod the Fox. Audience Criticism and Lukan Characterization, 1998, der sich um eine solche Synthese bemüht. 110 Zuletzt hat Nünning neben dem Konzept des implied author auch das des implied reader aus der Narratologie verabschiedet, vgl. Nünning, Renaissance, 1993, 18.
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abgelöst worden von dem Begriffspaar und Konzept des narrator und narratee, die unten vorgestellt werden. Nünning hat eine plausible Modifikation des herkömmlichen Kommunikationsmodells narrativer Texte entwickelt, das hier zugrundegelegt wird (s.u. Schaubild 1). Ebene eins ( E l ) bezeichnet die Storyebene oder 'level of action'. Auf dieser Ebene 'bewegen' sich die Figuren. Die Ebene zwei (E 2) ist die Ebene des Diskurses bzw. 'the level of fictional mediation and discourse'. Es ist der Ort der Erzählerin (narrator) und seiner Erzähladressatln (narratee). Diese beiden Ebenen sind die intratextuellen Ebenen der Analyse und damit der Gegenstand der Narratologie. Die Ebene drei (E 3) ist die so genannte außertextuelle Ebene oder 'the extratextual level of nonfictional communication' zwischen realer Autorin und realen Leserinnen. Sie fällt nicht mehr in den Zuständigkeitsbereich der Narratologie. Ε3 extratextual level of non-fictional communication Ε2 level of fictional mediation and discourse Ε1 level of action characters in the story narrator
real author
narratee
real reader
Schaubild 1: Kommunikationsebenen der Erzählung111 Innerhalb dieses Modells kann optional noch eine weitere Ebene eingefügt werden. Das wäre die Ebene des so genannten 'Werkganzen', die traditionell mit dem Begriff des implied author konzeptionalisiert wurde. In der vorliegenden Untersuchung wird auf die Kategorie des implied author und ihre Derivate verzichtet.11 Es gilt daher im Folgenden das oben dargestellte Mo-
111 Nach Jahn / Nünning / Molitor, CoGNaC, 1993, 1; Jahn / Nünning, Teaching Narrative Fiction: A Glossary of Technical Terms, 1994, 33. Nünning bietet das Modell mit ausgeprägterem Komplexitätsgrad in seiner Dissertation, Grundzüge eines kommunikationstheoretischen Modells der erzählerischen Vermittlung, 1989, 22-40, sowie in ders., Die Funktionen von Erzählinstanzen: Analysekategorien und Modelle zur Beschreibung des Erzählerverhaltens, 1997, 325. 112 Vgl. dazu v.a. Nünning, Grundzüge eines kommunikationstheoretischen Modells der erzählerischen Vermittlung, 1989, 22-40; ders., Renaissance eines anthropomorphisierten Passepartouts oder Nachruf auf ein literaturkritisches Phantom? Überlegungen und Alternativen zum Konzept des "implied author", 1993, 1-25; ders., Die Funktionen von Erzählin-
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dell. Für das Erzählen sind zwei Begriffe konstitutiv: Die Erzählstimme, the narrator (Π.Β.2.), sowie die Erzähladressatln, the narratee (Π.Β.3.). 2. Die Erzählstimme
(narrator)
Die zentrale Frage lautet: Wer spricht bzw. erzählt? Es gibt keine Geschichte, die nicht erzählt wird. Die narrative Instanz, die erzählt, kann dabei mehr oder weniger oder auch gar nicht sichtbar sein, aber das ändert nichts daran, dass sie als textuelle Instanz vorhanden ist und die Erzählung vermittelt. 113 Der traditionelle Gebrauch des Begriffs 'Erzähler' lädt zu dem Missverständnis ein, diese textuelle Instanz zu anthropomorphisieren. Der zugegebenermaßen griffige Begriff 'Erzähler' wird häufig als reale Person missinterpretiert, vor allem gerne mit dem realen Autor gleichgesetzt. Damit ist ein weiteres Problem angesprochen. 'Der Erzähler' wird nicht nur missverständlich mit dem realen Autor gleichgesetzt, sondern dieser Autor wird in der Regel zusammen mit seinem Erzähler als männlich imaginiert. Nünning, der dieses Problem ebenso erkennt und benennt, hat vorgeschlagen, nur noch von 'Erzählinstanz' zu sprechen. Das bedeutet in seinem System die Verabschiedung der anschaulichen, wenn auch problematischen Bezeichnung 'der Erzähler'. Ich werde in der vorliegenden Untersuchung in der Hauptsache mit Begriffen wie 'Erzählerin', sofern diese Instanz nicht explizit textuell geschlechtlich determiniert ist, mit 'Erzähler', sofern diese Instanz textuell männlich determiniert ist, sowie mit dem neutraleren Begriff der Erzählstimme arbeiten. Dabei sei aber noch einmal ausdrücklich betont, dass es sich hier ausschließlich um eine diskursive Funktion handelt, die von der realen Autorin geschaffen wurde, um die Geschichte auf eine bestimmte Weise zu vermitteln. Als solches textuelles Phänomen kann die Erzählerin bei der erstanzen: Analysekategorien und Modelle zur Beschreibung des Erzählerverhaltens, 1997, 323349. 113 S. zu dieser Zentralfrage der Narratologie aus der Fülle der Beiträge: Friedemann, Die Rolle des Erzählers in der Epik, 1910; Stanzel, Die typischen Erzählsituationen im Roman, 1955 (Nachdr. 1963); ders., Typische Formen des Romans, 1964, 1994 12 ; ders., Theorie des Erzählens, 1979, 1995 6 ; Booth, Rhetoric, (1961), 1983 2 , 149ff.; Genette, Erzählung, (1972/1983), 1994, 151-188, 245-295; Chatman, Story, 1978, 196-253; Bai, Narratology, 1997, 19-31; Lanser, The Nairative Act. Point of View in Prose Fiction, 1981; dies., Fictions of Authority. Women Writers and Narrative Voice, 1992; dies., Sexing Narratology: Toward Gendered Poetics of NaiTative Voice, 1999, 167-183; Rimmon-Kenan, Fiction, 1983, 86-105; Warhol, Toward a Theory of the Engaging Narrator, 1986, 811-818; Nünning, Grundzüge eines kommunikationstheoretischen Modells der erzählerischen Vermittlung, 1989 (vgl. auch die Rez. von Fludemik, Narratology in Context, 1993, 729-761); ders., 'Point of view' or 'focalization'l Über einige Grundlagen und Kategorien konkurrierender Modelle der erzählerischen Vermittlung, 1990, 249-268; ders., "What is Point of View of the Story?" Literaturdidaktische Hinweise für die Praxis der Erzähltextanalyse, 1992, 38-44; ders., Funktionen von Erzählinstanzen, 1997, 323-349; Graevenitz, Erzähler, 1989, 78-105; Weimar, W o und was ist der Erzähler?, 1994, 495-506; Martinez / Scheffel, Einführung, 1999, 67-107. Zum Forschungsstand bis 1979 vgl. Stanzel, Theorie des Erzählens, 24-38. Innerhalb der biblischen, vor allem der neutestamentlich-exegetischen Narratologien vgl. Bar-Efrat, Narrative Art, 1989, 13-46; Funk, Poetics, 1988, 29-34; Powell, Narrative Criticism, 1990, 25ff.; Ska, "Our Fathers Have Told Us", 1990, 43-54; Marguerat / Bourquin, Bible Stories, (1998), 1999, 102-120; Tolmie, Narratology, 1999, 13-27. Zur antiken griechischen Literatur insgesamt vgl. den Sammelband von de Jong / Nünlist / Bowie (eds.), Narrators, Narratees, and Narratives in Ancient Greek Literature. Studies in Ancient Greek Narrative, 2004.
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zählerischen Vermittlung einer Geschichte verschiedene Funktionen erfüllen, während der Grad der Ausprägung dieser Instanz sehr unterschiedlich sein kann und von einer betonten Individualisierung bis hin zur Anonymität reichen kann. Die Bestimmung des 'Erzählers', wie es traditionell hieß, oder der Erzählinstanz, wie es Nünning vorgeschlagen hat, wurde und wird in der Narratologie sehr unterschiedlichen Oberbegriffen zugeordnet. Im deutschsprachigen Kontext ist die Erzählinstanz seit Franz Stanzel für eine lange Zeit als 'Erzählsituation' bezeichnet worden, im frankophonen Bereich seit Gerard Genette 'Stimme' oder genauer 'Produktionsinstanz des narrativen Diskurses'. Zur Debatte steht bei diesen Begriffsbildungen die Frage nach 'der Rolle des Erzählers' (narrator) im Erzählwerk. Seit der gleichlautenden Pionierstudie von Käte Friedemann Die Rolle des Erzählers in der Epik von 1910 sind eine Reihe von Arbeiten erschienen, die sich methodologisch der Dimension der erzählerischen Vermittlung angenommen haben. Wegweisend waren vor allem die schon genannten Literaturwissenschaftler Franz Stanzel und Gerard Genette sowie später Susan Lanser, Shlomith Rimmon-Kenan und schließlich Ansgar Nünning. Nünning nennt noch 1997 das methodische Instrumentarium für die Analyse der Erzählrede "nach wie vor dürftig" 114 . Dieser Umstand stimmt umso bedenklicher, als schon Lanser 1981 die "absence of a well-developed critical practice for analyzing narrative 'presences' in depth" 115 beklagt und fordert, dass "the study of narrators must parallel the ways we study characters; narrators, too, are personae created by the text" 116 . Wie bereits angedeutet, waren eine der wirkungsvollsten Stationen auf dem Weg zur Erfassung der Erzählstimme die Arbeiten des österreichischen Literaturwissenschaftlers Franz Stanzel zu den typischen Erzählsituationen. Stanzel hat eine über Jahrzehnte gültige und bestimmende, inzwischen aber vielfältig kritisierte Unterscheidung vorgenommen. Es ist die Unterscheidung von drei typischen Erzähl Situationen: (i) Die auktoriale Erzähl situation: Sie zeichnet sich durch "die Anwesenheit eines persönlichen, sich in Einmengung und Kommentaren zum Erzählten kundgebenden Erzählers" aus. Dieser 'Erzähler' wirkt auf den ersten Blick als identisch mit dem Autor oder der Autorin, ist aber ebenso von diesem oder dieser geschaffen worden wie jede Figur des Romans. Stanzel fährt fort: "Die der auktorialen Erzählsituation entsprechende Grundform des Erzählens ist die berichtende Erzählweise. Die szenische Darstellung, von der auch in einem Roman mit vorherrschend auktorialer Erzählsituation ausgiebiger Gebrauch gemacht werden kann, ordnet sich (...) der berichtenden Erzählweise unter." 117 (ii) Die Ich-Erzählsituation: Hier gehört der Erzähler zur Welt der Figuren des Romans. "Er selbst hat das Geschehen erlebt, miterlebt oder beobachtet, oder unmittelbar von den eigentlichen Akteuren des Geschehens in Erfahrung
114 115 116 117
Nünning, Funktionen von Erzählinstanzen, 1997. Lanser, Narrative Voice, 1981, 233. Ebd. 42. Stanzel, Typische Formen des Romans, 1964, 199412, 16.
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gebracht. Auch hier herrscht die berichtende Erzählweise vor, der sich szenische Darstellung unterordnet."118 (iii) Die personale Erzählsituation: In dieser Erzählsituation verzichtet der Erzähler auf Einmischungen und Kommentare. Er "tritt (...) so weit hinter die Charaktere des Romans zurück, daß seine Anwesenheit dem Leser nicht mehr bewusst wird, dann öffnet sich dem Leser die Illusion, er befände sich selbst auf dem Schauplatz des Geschehens oder er betrachte die dargestellte Welt mit den Augen einer Romanfigur, die jedoch nicht erzählt, sondern in deren Bewusstsein sich das Geschehen gleichsam spiegelt. Damit wird diese Romanfigur zur persona, zur Rollenmaske, die der Leser anlegt."119 Diese Unterscheidung Stanzeis hat in den letzten Jahren so vielfältige Kritik erfahren, dass sie als überholt gelten kann.120 Von zentraler Bedeutung im Hinblick auf eine terminologische Präzisierung und Systematisierung der Frage nach der Erzählstimme ist in der gegenwärtigen Theoriediskussion die Taxonomie Genettes von 1972 und 1983, die er auch in Abgrenzung von Stanzel und dessen shortrunnings entwickelt hat.121 Genettes Entwurf hat das Modell Stanzeis als Basismodell in der neueren Erzählforschung weitgehend abgelöst, wobei sein Entwurf in der neueren narratologischen Diskussion auch schon wieder Modifikationen erfahren hat. Ein entscheidendes Verdienst Genettes liegt darin, zwei Aspekte unterschie den zu haben, die zuvor in der Erzähltheorie unzureichend differenziert und meist summarisch unter dem Begriff point of view122 behandelt worden sind.123 In der anglo-amerikanischen Erzähltheorie wurde der narrator traditionell unter diesem Begriff behandelt. Dieser Begriff war allerdings von einer 118
Ebd. Ebd. 17. 120 Gute kritische Darstellungen des Stanzeischen Modells finden sich in Martinez / Scheffel, Einführung, 1999, 89-95, s. auch Jahn, Narratologie: Methoden und Modelle der Erzähltheorie, 1998, 38-40; Jahn / Nünning, Survey, 1994, 297-299; Nünning, 'Point of View' or 'Focalization', 1990, 253-255; Kablitz, Erzählperspektive, 1988, 238f, v.a. auch A l l ; Genette, Erzählung, (1983), 1994, 269-278; Cohn, Encirclement 1981, hier findet sich auch ein gründlicher Vergleich der Modelle von Stanzel und Genette. 121 Vgl. Genette, Erzählung, (1972/1983), 1994, 151-188. 245-295. 122 Die Kategorie point of view hat Henry James in die Diskussion eingebracht und sie ist von Percy Lubbock mit nachhaltiger Wirkung expliziert worden. Lubbock, The Craft of Fiction, 1921, 251, definiert: "The whole intricate question of method, in the craft of fiction, I take to be governed by the question of point of view - the question of the relation in which the narrator stands to the story." Zum Vergleich von James' und Lubbocks' point of view-Begriff vgl. Morrison, James's and Lubbock's Differing Point of View, 1961, 245-255. 123 Die bisher umfassendste Studie zum point of view stammt von Lanser, The Narrative Act: Point of View in Prose Fiction, 1981; s. auch Uspensky, Poetik der Komposition. Struktur des künstlerischen Textes und Typologie der Kompositionsform, 1975 (russ. Orig. 1970) (vgl. dazu Eisen, Das Markusevangelium erzählt, 1997, 143ff., mit Anwendung auf das Markusevangelium); Markus, Point of View im Erzähltext, 1985; Nünning, Grundzüge eines kommunikations-theoretischen Modells der erzählerischen Vermittlung, 1989; ders., 'Point of view' or 'focalization'? Über einige Grundlagen und Kategorien konkurrierender Modelle der erzählerischen Vermittlung, 1990, 249-268 (ein Forschungsbericht); ders., "What is Point of View of the Story?", 1992, 38-44; Chatman, Coming to Terms, 1990, 139-160 ("A New Point of View on 'Point of View'"). Ältere wichtige Beiträge stammen von Friedman, Point of View in Fiction: The Development of a Critical Concept, 1955, 1160-1184; Booth, Distance and Point-of-View, 1961, 60-79; Lotman, Point of View in a Text, 1975, 339-352. 119
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noch ausgeprägteren terminologischen Unscharfe als das Beschreibungsmodell Stanzeis. Genette machte darauf aufmerksam, dass der Begriff des point of view zwei zu unterscheidende Fragestellungen vermengt.124 Er schlägt vor und diese Unterscheidung ist unabdingbares Allgemeingut der Narratologie geworden - , zwischen narration und focalization zu unterscheiden, das heißt zwischen der Frage qui pergoit? und qui parle?125 Es sind also folgende zwei Fragen in den Blick zu nehmen, die eng miteinander verbunden, aber zu unterscheiden sind: (i) Wer erzählt die Geschichte? (Wer spricht? bzw. Wer ist die Erzählerin?) (ii) Aus wessen Sicht oder Perspektive wird die erzählte Welt wahrgenommen? (Wer sieht? Wer nimmt wahr? Durch wessen Augen werden die Ereignisse gesehen? Oder: "Wo liegt das Zentrum, der Fokus der Wahrnehmung?"126). Erst so kann die Erzählstimme als eigenständige Kategorie des Erzählvorgangs systematisiert werden. Die durch die zweite Frage in die Erzählforschung neu eingebrachte Kategorie der 'Fokalisierung' (traditionell 'Erzählperspektive' oder auch point of view) wurde ebenfalls eigenständig konzeptionalisiert (s.u. II.C.2.d.). Genette behandelt die erste Frage nach der Erzählstimme unter dem Oberbegriff νο ix (Stimme). Er überwindet in seinem Entwurf traditionelle Begriffsbildungen wie etwa 'auktoriale Erzählsituation', unter die gemeinhin sehr grobmaschig die verschiedensten erzählerischen Besonderheiten subsumiert wurden, sowie Begriffspaare wie 'Ich-Erzähler' / 'Er-Erzähler' und schafft dabei neue Begriffspaare wie extradiegetisch versus intradiegetisch und heterodiegetisch versus homodiegetisch. Diese zu verstehen, ist unumgehbare Voraussetzung für die erzähltheoretische Analyse. Im Folgenden sollen daher sein Modell, seine Terminologie und die von ihm entwickelten Kategorien zur Analyse der Stimme sowie die Fortentwicklungen durch Lanser (perceptuality, Geschlecht), Rimmon-Kenan (reliability) sowie Nünning (Funktionen der Erzählinstanz) dargestellt werden. Die Kombination von Genettes Modell mit den genannten Modifikationen und Erweiterungen bilden die Grundlage für die Analyse der Erzählstimme in der vorliegenden Untersuchung.127 Im Folgenden werden sechs Kategorien zur Differenzierung von Erzählstimmen entfaltet.128 Die Funktionen der Erzählstimmen erfüllen wesentliche
124 Die Vermischung ist schön zu beobachten bei dem dennoch sehr gelungenen Kapitel 7: "Point of View in Narrative", in: Scholes / Kellog, Nature of Narrative, 1966, 240ff. 125 Genette hat 1972 noch von Qui voit? gesprochen. Im neuen Diskurs hat er es in Qui pergoitl geändert, um auch andere als visuelle Formen der Wahrnehmung in die Terminologie zu integrieren, vgl. Genette, Erzählung, (1983), 1994, 235. 126 So ausdrücklich Genette, Erzählung, (1983), 1994, 235 (Hervorhebung im Original), da die Fokalisierungsinstanz nicht immer an einer Person festzumachen ist, z.B. bei der externen Fokalisierung (s.u. II.C.2.d.iii.). 127 Vgl. im wesentlichen Nünning, Die Funktionen von Erzählinstanzen: Analysekategorien und Modelle zur Beschreibung des Erzählerverhaltens, 1997, 323-349. 128 Zum Folgenden vgl. die bisher umfassendsten Kategorienkataloge von Nünning, Die Funktionen von Erzählinstanzen: Analysekategorien und Modelle zur Beschreibung des Er-
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Aufgaben beim Aufbau der erzählten Welt (setting the scene) und ihres Werte- und Normensystems.129 a) Auf welcher Kommunikationsebene wird erzählt? (extradiegetisch versus intradiegetisch) Zunächst ist zu klären, auf welcher Kommunikationsebene erzählt wird.130 Ist die Erzählstimme selbst Teil der erzählten Welt und gehört der Ebene der Handlung (Ε 1) (s.o. Schaubild 1) an, dann handelt es sich um eine Figur der erzählten Welt, eine so genannte intradiegetische Erzählstimme. Gehört sie nicht der Ebene der Geschichte an, so konstituiert sie auf der Ebene der erzählerischen Vermittlung zusammen mit der fiktiven Adressatin den Erzählvorgang (E 2). Dann befindet sie sich per definitionem außerhalb der erzählten Welt und wird daher als extradiegetisch bezeichnet. Es handelt sich hierbei um die Ebene der "narration of the story", wie Rimmon-Kenan zu präzisieren versucht.131 Die Bezeichnung erfra-diegetisch ist dabei etwas irreführend, weil die Erzählstimme als Figur trotzdem in der Geschichte vorkommen kann. Dieser Punkt ist mit Recht an Genettes Terminologie kritisiert worden. Genette antwortet darauf: "Worauf es hier ankommt, ist, dass er als Erzähler außerhalb der Diegese steht."132 Eine extradiegetische Erzählstimme ist in der Regel eine dritte Person-Erzählerin oder ein anonymes 'Ich'. Genette nennt sie auch author-narrator und diese ist oftmals in der Rahmenerzählung greifbar. Handelt es sich bei der Erzählstimme um eine intradiegetische Erzählerin, so schlägt Nünning mit Recht vor, diese als "erzählende Figur"133 zu bezeichnen, um eine Vermischung der beiden Ebenen, der der erzählerischen Vermittlung und der der erzählten Welt zu vermeiden. Für die intradiegetische Erzählerin ist festzuhalten, dass sie sich innerhalb der erzählten Welt befindet. Es handelt sich also um "narration in the story" im Gegensatz zur extradiegetischen, die außerhalb derselben steht.134 Für das Corpus Lucanum gilt, dass sowohl eine extradiegetische Erzählstimme, nämlich der anonyme Ich-Erzähler aus den Prologen, als auch zahlreiche intradiegetische Erzähler und Erzählerinnen, die Geschichten erzählen. Der sicher bedeutsamste intradiegetische Erzähler des Lukasevangelium ist Jesus, so etwa Jesus als Gleichniserzähler (Lk 10,30-35; 15,11-32; 16,19-31 u.ö.). In den Acta sind die wichtigsten intradiegetischen Erzähler Petrus (Act l,16-22.24b-25; 2,14-36.38-39.40; 3,12-26; 4,8-12.19-20; 5,29zählerverhaltens, 1997, 323-349, sowie ders., Grundzüge eines kommunikationstheoretischen Modells der erzählerischen Vermittlung, 1989, 43-52; 84-124. 129 Vgl. dazu Genette, Erzählung, (1972), 1994, 183-186; Nünning, Grundzüge, 1989, 84-124; ders., Funktionen von Erzählinstanzen, 1997, v.a. 332ff. 130 Genette arbeitet im Zusammenhang der Analyse der Erzählstimme sehr ausgeprägt mit dem Begriff der Diegese. Diegese bezeichnet für ihn die in einer Erzählung narrativ vermittelten Vorgänge und die durch diese konstituierte räumlich-zeitliche Welt, vgl. Genette, Erzählung, (1972), 1994, 16 A 2. 131 So Rimmon-Kenan, Fiction, 91. 132 Genette, Erzählung, (1983), 1994, 249. 133 Nünning, Funktionen von Erzählinstanzen, 327. 134 Bai, Narratology, 1997, 22, hat die vergleichbare Terminologie des external narrator (EN), das entspricht dem extradiegetischen Erzähler, und dem character-bound narrator (CN), das entspricht dem intradiegetischen Erzähler, eingeführt.
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32; 10,28-29.34-43.47; 11,5-17; 15,7-11) und Paulus (Act 9,5; 13,16-41.4647; 14,15-17; 15,7-11; 17,22-31; 18,6; 20,18-35; 21,13; 22,1.3-21; 23,1.3.5.6; 24,10-21; 25,8.10-11; 26,2-23.25-27.29; 27,10.21-26.31.33-34; 28,17-20.2528), sie haben von allen Figuren die meisten Redeanteile, allen voran Paulus. Neben der extra- und intradiegetischen Erzählebene sind noch weitere Erzählerebenen zu unterscheiden, die so genannten metadiegetischen (Genette) oder besser hypodiegetischen Erzählerebenen (Bai, Rimmon-Kenan).135 Eine Erzählerin der hypodiegetischen Erzählebene ist eine solche, die innerhalb einer erzählten Erzählung erzählt. Wenn etwa im Lukasevangelium, welches ein extradiegetischer Erzähler erzählt, in einem Gleichnis, welches der intradiegetische Erzähler Jesus erzählt, eine Figur dieser erzählten Welt des Gleichnisses erzählt, dann haben wir eine hypodiegetische Erzählerin vor uns. Im Gleichnis vom verlorenen Sohn beispielsweise erzählt ein Knecht des Vaters dem älteren Sohn, was sich zugetragen hat (Lk 15,27), und ist damit ein hypodiegetischer Erzähler. Bei weiteren Verschachtelungen wird dann entsprechend dem Grad der Verschachtelung von hypohypodiegetisch oder hypohypohypodiegetisch etc. gesprochen. Erzählebene
Erzählerin
extradiegetisch
die anonyme Erzählstimme (Lk/Act)
intradiegetisch
Jesus als Gleichniserzähler (Lk 15,11-32)
hypodiegetisch
der Knecht im Gleichnis (Lk 15,27)
Tabelle 9: Erzählebenen b) In welchem Maß ist die Erzählerin tisch versus homodiegetisch)
am Geschehen
beteiligt?
(heterodiege-
Als Nächstes stellt sich die Frage, in welchem Maße die Erzählerin am Geschehen beteiligt ist. Es geht also nun um die Eigenschaften der extra- bzw. intradiegetischen Erzählerin. In welchem Verhältnis steht sie zur Geschichte? Tritt sie selbst als Figur in der Erzählung in Erscheinung, dann handelt es sich um eine homodiegetische Erzählstimme. Das entspricht Stanzeis 'IchErzähler'; dieser ist selbst auf der Figurenebene am Geschehen beteiligt. Tritt die Erzählstimme dagegen nicht als Figur in der erzählten Welt in Erscheinung, dann handelt es sich um eine heterodiegetische Erzählinstanz. Die heterodiegetische Erzählstimme verfügt über Privilegien, die eine homodiegetische Erzählstimme nicht besitzt. Das sind Privilegien, die konventionell auch der auktorialen Erzählerin zugeschrieben wurden. Die 135 Rimmon-Kenan, Narrative Fiction, 1983, 91-94, hat von Bai "hypodiegetisch" als Alternative zu Genettes "metadiegetisch" übernommen, um die Unterordnung der eingeschachtelten Erzählung zu verdeutlichen. Genette propagiert aber auch 1983 weiterhin den Begriff der Metadiegese (Erzählung, 1993/1994, 253f.), weil die metadiegetische Erzählung oft wichtiger ist als die primäre Erzählung. Ich gebe ebenfalls den Begriff der Metadiegese in diesem Zusammenhang auf, weil er in jüngster Zeit in der Regel für Diskurse gebraucht wird, die über Diskurse geführt werden. Analog ist in der Sprachwissenschaft per definitionem die Metasprache die Sprache über die Sprache.
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heterodiegetische Erzählstimme besitzt 'Allwissenheit' (omniscience), 'Omnitemporalität' (omnitemporality) und 'Omnipräsenz' (omnipresence). Das äußert sich konkret folgendermaßen: (i) Sie ist allwissend, indem sie die Gedanken und Gefühle der Figuren kennt, sog. inside views besitzt (omniscience). Eine solche Allwissenheit besitzt auch die Erzählstimme des Corpus Lucanum. In zahlreiche Figurengruppen und Einzelfiguren hat sie Einblick (inside views), so kennt sie die geheimen Pläne derer, welche die Jüngerinnen vernichten wollen (Act 6,11; 9,23; 13,50; 14,5; 19,24ff.; 20,3; 23,12ff.; 25,2f.), sie kennt das Denken und Fühlen der Jüngerinnen selbst (Act 2,46; 4,32; 5,5; 5,11; 5,41; 6,5; 10,17; 12,16; 13,52; 15,22), der religiösen Autoritäten (Act 4,2.13; 5,24.26.33; 7,54 u.ö.), der Judaioi136 (Act 9,22.23; 12,3; 13,45 u.ö.) oder von Einzelfiguren wie dem Gelähmten (Act 3,5), Saphira (Act 5,7), Simon Magus (Act 8,13), Cornelius (Act 10,24), Herodes Agrippa I. (Act 12,4.20) und vielen mehr. (ii) Sie hat Kenntnis der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft (omnitemporality). Auch das gilt für die Erzählstimme des Doppelwerkes. Sie weiß auf Tage, ja Stunden genau, was sich ereignet hat (Act 3,1; 5,7; 10,3.9 u.ö.). Sie kennt auch die Zukunft der Geschichte (Act 1,11; 27,24 u.ö.). (iii) Sie ist allgegenwärtig (omnipresence). Sie kann an Orten, an denen sich Figuren allein aufhalten, anwesend sein. Das gilt ebenfalls für die Erzählstimme des Corpus Lucanum. So ist sie etwa beim einsamen Gebet Jesu in Gethsemane (Lk 22,41-44), bei den einsamen Visionen des Cornelius und des Petrus (Act 10,3-7.10-16) oder bei der nichtöffentlichen Beratung der religiösen Autoritäten anwesend (Act 4,15ff.). Sie weiß sogar, was an verschiedenen Schauplätzen gleichzeitig passiert137, etwa, wenn sie die Ereignisse des Kommens der Boten des Cornelius nach Joppe und der Vision des Petrus auf dem Dach des Hauses des Gerbers Simon simultan erzählt (Act 10,9.17). Insgesamt kann festgehalten werden, dass sie Panoramaeinblicke hat. Sie weiß, dass die Geistausgießung am Pfingsttag allen Bewohnerinnen Jerusalems bekannt wurde (Act 1,19), dass die zerstreuten Gläubigen umherzogen und das Wort verkündigten (Act 8,4) oder dass Petrus und Johannes das Wort in vielen Dörfern der Samariterinnen verkündigten (Act 8,25). Sie überblickt, dass die Gemeinde in ganz Judäa, Galiläa und Samarien Frieden hatte und sich festigte (Act 9,31) oder dass sich die Nachricht von der Totenerweckung Tabithas in ganz Joppe verbreitete (Act 9,42). All diese Eigenschaften besitzt eine homodiegetische Erzählinstanz in der Regel nicht, weil sie als Figur der Geschichte den natürlichen Wahrnehmungs- und Existenzgrenzen unterworfen ist. Diese erzähltheoretische Regel ist jedoch für das Corpus Lucanum nur begrenzt zutreffend. So hat im Lukasevangelium neben der Erzählstimme (Lk 19,11; 22,61; 24,8; 24,28; 24,37) die 136 Im Folgenden werde ich die im Corpus Lucanum genannten Ιουδαίοι nicht mit 'Jüdinnen und Juden' oder 'Jüdinnen' übersetzen, sondern stets Judaioi schreiben, um Assoziationen mit der jüngeren deutschen Geschichte des Nationalsozialismus und dessen Judentumsverständnis zu vermeiden. Vgl. zum Problem auch Hartenstein / Petersen, Zur Übersetzung von Texten aus dem Johannesevangelium in "gerechte Sprache". Anmerkungen zu einem schwierigen Projekt, 2001, 163-177: 167-170. 137 Vgl. dazu Nünning, Funktionen von Erzählinstanzen, 1997, 327; Rimmon-Kenan, Fiction, 1983, 95.
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Figur Jesus den Status eines allwissenden Protagonisten, der inside views in andere Figuren hat (Lk 5,22; 6,8; 9,47; 11,17; 24,38) und die Zukunft kennt (Lk 9,22.44; 10,11.12; 13,33-35.; 18,31-33; 19,43f; 21,6.8-28; 22,34; Act 1,5.8; 9,15-16; 23,11).138 In den Acta haben Petrus (Act 5,3) und Paulus (Act 14,9) inside views und allein Paulus hat die Fähigkeit in die Zukunft zu blicken (Act 20,25; 20,29-30; 27,10), insgesamt erheblich eingeschränkter als Jesus im Lukasevangelium.139 Der Status der Erzählstimme definiert sich also zum einen durch die narrative Ebene (extra- oder intradiegetisch) und zum anderen durch ihre Beziehung zur Geschichte (hetero- oder homodiegetisch). Daraus können mit Genette vier fundamentale Erzählertypen deduziert werden: "1. extradiegetisch-heterodiegetisch, Beispiel: Homer, Erzähler erster Stufe, der eine Geschichte erzählt, in der er nicht vorkommt; 2. extradiegetisch-homodiegetisch, Beispiel: Gil Blas, Erzähler erster Stufe, der seine eigene Geschichte erzählt; 3. intradiegetisch-heterodiegetisch, Beispiel: Scheherazade, Erzählerin zweiter Stufe, die Geschichten erzählt, in denen sie im allgemeinen nicht vorkommt; 4. intradiegetisch-homodiegetisch, Beispiel: Odysseus in den Gesängen IX bis XII, Erzähler zweiter Stufe, der seine eigene Geschichte erzählt."140 Bereits der Hinweis auf die Odyssee zeigt, dass die Erzählsituation innerhalb einer Erzählung wechseln kann, worauf auch schon Stanzel aufmerksam gemacht hat.141 Im Corpus Lucanum begegnen alle vier Formen von Erzählerinnen. Vorrangig erzählt uns ein anonymer extradiegetisch-heterodiegetischer Erzähler die Geschichte von der Geburt Jesu bis zur Haft des Paulus in Rom. Dieser extradiegetische Erzähler wird zum homodiegetischen Erzähler über kurze Erzählpassagen hinweg, in den so genannten 'Wir'-Passagen (s.u.). Ein intradiegetisch-heterodiegetischer Erzähler ist Jesus, wenn er Gleichnisse erzählt oder zukünftige Ereignisse vor Augen malt. Der intradiegetischhomodiegetische Erzähler der Acta mit dem höchsten Redeanteil ist Paulus (s.o.), neben ihn treten zahllose andere intradiegetisch-homodiegetische Erzählerinnen. c) Grad der Involviertheit von homodiegetischen Erzählstimmen Als dritte Analysekategorie dient die Frage nach dem Grad der Involviertheit der Erzählstimme in die Diegese. Sie wird in der Narratologie unterschiedlich benannt. Rimmon-Kenan spricht von Wahrnehmbarkeit der Erzählerin (degree of perceptibility) und meint damit sowohl die Involviertheit als auch den Grad der Explizität der Erzählstimme, beides wird im Folgenden unterschieden.142 Susan S. Lanser hat in ihrer Studie The Narrative Act: Point of View in Prose Fiction von 1981 die Beteiligung der Erzählstimmen, insbesondere die 138 139 140 141 142
Vgl. Parsons / Pervo, 72f. Zu diesem Problem vgl. auch Walworth, Narrator, 9-11. Genette, Erzählung, 178. Vgl. zu weiteren Beispielen z.B. Martinez / Scheffel, Einführung, 1999, 82f. Vgl. Rimmon-Kenan, Narrative Fiction, 1983, 96-100.
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der homodiegetischen Erzählstimme am erzählten Geschehen graduell skaliert. Die Skala bewegt sich für homodiegetische Erzählstimmen zwischen den Polen einer unbeteiligten Beobachterin bis hin zur Hauptfigur, die ihre eigene Geschichte erzählt (Autodiegese). Nach dem Modell von Lanser sind folgende Möglichkeiten zu unterscheiden: heterodiegetisch unbeteiligte Erzählerin
homodiegetisch unbeteiligte Beobachterin
beteiligte Beobachterin
Nebenfigur
eine der Hauptfiguren
Hauptfigur = autodiegetisch
Tabelle 10: Involviertheit der Erzählerin143 Die von Lanser skalierten Formen der Involviertheit der Erzählerinnen sind alle in den Acta anzutreffen. Der extradiegetische Erzähler erzählt heterodiegetisch, also an der Geschichte unbeteiligt. Nur in den so genannten 'Wir'Passagen wird er zum homodiegetischen Erzähler der Paulusreisen (s.u.), hier allerdings ausschließlich als beteiligter Beobachter, denn als eigenständige Figur wird er auch in den 'Wir'-Passagen nicht greifbar. Des Weiteren begegnen intradiegetische Erzählerinnen verschiedenster Involviertheit. So erzählt Paulus als intradiegetisch-homodiegetischer Narrator die Geschichte Israels und Jesu (Act 13,16-33), in der er selbst eine Nebenfigur ist (Act 13,32f), aber dieselbe Figur Paulus erzählt zweimal auch seine eigene Geschichte in Form einer Autodiegese (Act 22,3-21; 26,2-23), hier wird er als Narrator zur Hauptfigur der Erzählung. d) Grad der Explizität der Erzählstimme (neutral versus explizit) Darüber hinaus können Erzählstimmen im Hinblick auf ihre Explizität hin unterschieden werden. Bisherige Untersuchungen basieren im Wesentlichen auf Chatmans Unterscheidung eines overt versus covert narrator, das heißt einer offenen oder besser expliziten versus einer verborgenen oder neutralen Erzählerin.144 Wird eine Geschichte von einer anonym bleibenden Stimme vermittelt, über die keine weiteren Informationen gegeben werden, dann handelt es sich um eine 'verborgende Erzählerin' bzw. ein 'neutrales Erzählmedium'. Diesem korrespondiert eine entsprechende verborgene Erzähladressatln (s.u.3.). Die Funktion einer 'neutralen Erzählstimme' beschränkt sich in der Regel auf erzähltechnische Aspekte, wie die Konstitution der erzählten Welt (setting the scene): - Den Schauplatz, das heißt den Handlungsraum zu beschreiben.145
143 Die Tabelle ist eine Abwandlung von Lanser, The Narrative Act, 1981, 160; s. auch die Varianten von Jahn / Nünning, Survey, 1994, 293; Martinez / Scheffel, Einführung, 1999,
82. 144 145
chen.
Chatman, Story, 1978, 197-252. S. dazu Parsons / Pervo, Rethinking, 68, die das Lukasevangelium mit Acta verglei-
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Das Geschehen zeitlich einzuordnen, wobei Vorausdeutungen, Rückwendungen, Raffungshinweise und Aussparungen von der Informiertheit der Erzählstimme zeugen. - Die Figuren einzuführen und zu charakterisieren oder voneinander zu unterscheiden (s.u. II.D.2.).146 - Über die Ereignisse in der erzählten Welt zu berichten und sich dabei erzählerischer Mittel wie etwa der Szene oder des Summars zu bedienen (s.u. III.).147 Eine solche neutrale Funktion der Erzählstimme wird beim Lesen kaum wahrgenommen. Wird die Erzählstimme auf der Ebene der erzählerischen Vermittlung hingegen greifbar als literarische Figur, dann handelt es sich um eine 'explizite Erzählerin'. Das ist der Fall in den Prologen des Lukasevangeliums und der Acta (Lk 1,1-4; Act 1,1). Hier meldet sich die Erzählstimme zu Wort und kommentiert ihr Erzählen. Einer solchen expliziten Erzählstimme korrespondiert in der Regel eine entsprechend explizite Erzähladressatln. Auch diese treffen wir in den Prologen an. Der fiktive Erzähler kommuniziert hier mit seinem literarischen Adressaten Theophilus (Lk 1,3; Act 1,1). Das wichtigste Mittel einer expliziten Erzählstimme ist der so genannte Erzählerkommentar (commentary).148 Dabei können Kommentare zur Erzählung (narration) unterschieden werden von Kommentaren zur Geschichte (story). Die Kommentare zur narration haben im Wesentlichen vermittlungsbezogene Funktionen, d.h. expressive, appellative, phatische und metanarrative. Die Kommentare zur story haben die Funktion, Ereignisse der Geschichte zu erklären (explanative Funktion), zu bewerten (evaluative Funktion) und zu generalisieren (generalisierende Funktion). Zunächst einmal genauer zu den Funktionen der Kommentare zur Geschichte (story): (i) Die explanative Funktion149 der Kommentare zur story Anhand von Aussagen, die explizit oder implizit das erzählte Geschehen erklären, kann - auf Begrenztheiten von Figurenperspektiven hingewiesen werden, wobei die Erzählstimme hier als Interpretin fungiert, so etwa, wenn die Erzählstimme darauf hinweist, dass Saphira nicht wusste, dass ihr Mann Hananias bereits tot war, als sie zu Petrus kam (Act 5,7), - die Perspektive der Figuren korrigiert werden, auch 'korrigierender Kommentar' genannt. Damit können Harmonisierungsversuche oder Selbsttäuschungen von Figuren aufgedeckt und eine Analyse der Struktur der Handlungen vorgenommen werden. Das sind solche Erzählerkommentare, die Informationen zur Erläuterung der Motive des Handelns einer Figur enthalten. Sie "dienen vor allem der Erklärung 146 Beispiele dafür sind etwa: "Judas, der Sohn des Jakobus" (Act 1,13) und "Judas, der denen den Weg wies, die Jesus gefangen nahmen" (Act 1,16) oder "Simon, der Zelot" (Act 1,13), "Simon, der Zauberei trieb" (Act 8,9) und "Simon, der Gerber" (Act 9,43), oder "Jakobus, der Sohn des Alphäus" (Act 1,13) und "Jakobus, der Bruder des Johannes" (Act 12,2), oder "Herodes, der König" (Act 12,1) und "Herodes, derTetrarch" (Act 13,1). 147 So Nünning, Erzählinstanzen, 329. 148 Vgl. dazu auch Parsons / Pervo, Rethinking, 74-77. 149 S. dazu weitere Beispiele in Sheeley, Narrative Asides, 1992, 99-102 (zu Lk), 120125 (zu den Acta).
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und Erörterung von Intentionen, Motivationen und Bedürfnissen von Figuren".150 So berichtet der Erzähler der Acta vom Motiv des Hohepriesters und aller derer, die mit ihm waren, welche die Erzählstimme in einem erklärenden Kommentar als Partei der Sadduzäer näherbestimmt (ή οΰσα αϊρεσις τών Σαδδουκαίων). Als Motiv ihres Handelns gibt er Eifersucht an (έπλήσθησαν ζήλου) (Act 5,17). Oder er begründet die Eile des Paulus, nach Jerusalem zu kommen, mit dem Bedürfnis des Paulus, am Pfingsttag in Jerusalem zu sein (εσπευδεν γαρ ei δυνατόν ε'ίη αύτω τήν ήμέραν της πεντηκοστής γενέσθαι εις Ιεροσόλυμα) (Act 20,16). Diese Erläuterung der Motivation des Paulus hat auch die Funktion, ihn als frommen jüdischen Menschen zu charakterisieren. Ein weiteres Beispiel für die Erläuterung der Motive des Handelns von Figuren ist die Nennung des Grundes dafür, warum Paulus in Jerusalem festgenommen wurde: Die Judaioi meinten, Paulus habe den Griechen Trophimus mit in den Tempel genommen und damit den Tempel entweiht (21,29). -
Weitere explanative Erzählerkommentare sind Übersetzungen, die der Erzähler gibt. So etwa, wenn er Hakeldamach mit Blutacker (Act 1,19), Barnabas mit Sohn des Trostes (Act 4,36), Tabitha mit Reh (Act 9,36) oder Elymas mit Zauberer (Act 13,8) übersetzt. Die Tatsache, dass zwei dieser Übersetzungen (Act 4,36; 13,8) etymologisch unzutreffend sind, zeigt die narrative Funktion solcher Übersetzungen. Sie dienen der Charakterisierung. - Erzählerkommentare können auch den Kontext zum Verständnis eines Ereignisses liefern, so etwa die Zitierung von Jes 53,7 in der Erzählung von der Bekehrung des Äthiopiers (Act 8,32f.). Dem Erzähladressaten wird die notwendige Information gegeben, damit er dem weiteren Verlauf der Erzählung verstehend folgen kann.151 (ii) Die evaluative Funktion der Kommentare zur story Sie legt den Akzent nicht auf Ergänzung und Erklärung von Handlungen, sondern auf deren Bewertung. Es handelt sich dabei um normative Stellungnahmen. Linguistisch drückt sich das aus im Gebrauch von implizit rezeptionslenkenden Verben, wertenden Adjektiven und Adverbien bei der Figurendarstellung, Formulierungen expliziter Werturteile im Hinblick auf bestimmte Phänomene der dargestellten Welt und 'expliziter Symphatielenkung', deren negatives Pendant diejenigen Erzählerkommentare sind, die eine Figur negativ beurteilen oder bestimmen. So ist die Charakterisierung des Cornelius als frommen und gottesfürchtigen Menschen, der dem Volk reichlich Almosen gab und beständig zu Gott betete, eine Evaluation dieses Charakters, welche die Sympathie des Erzähladressaten eindeutig zugunsten dieser Figur lenkt (ευσεβής κα'ι φοβούμενος τον θεόν συν παντί τω οϊκφ αύτοϋ, ποιών έλεημοσύνας πολλάς τω λαώ και δεόμενος του θεοΰ δια παντός) (Act 10,2). Anders verhält es sich mit der Charakterisierung der Bewohnerinnen Athens, von denen der Erzähler mitteilt, dass sie nichts lieber taten, als die letzten Neuigkeiten zu erzählen oder zu hören ('Αθηναίοι δε πάντες και οί 150 151
Nünning, Erzählinstanzen, 1997, 336. S. etwa auch Lk 2,22-23.
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έπιδημοΰντες ξένοι εις ουδέν έτερον ηύκαίρουν ή λέγειν τι ή άκούειν τι καινότερον) (Act 17,21). Hier schwingt Ironie mit, die Athenerinnen werden damit lächerlich gemacht. Ein eindeutig negatives Urteil wird implizit über die Sadduzäer gefällt, "die behaupten, es gebe weder Auferstehung noch Engel noch Geist" (Σαδδουκαιοι μεν γαρ λέγουσιν μή είναι άνάστασιν μήτε αγγελον μήτε πνεΰμα) (Act 23,8). Dass diese Auffassung dem Werte- und Normensystem des Erzählers grundlegend widerspricht, zeigt die Erzählung vom Anfang bis zum Ende. Die Auferstehung Jesu und die der Toten ist eines der zentralen Themen der Erzählung nicht minder der Glaube an Engel und Geist. (iii) Die generalisierende Funktion der Kommentare zur story Durch verallgemeinernde Erzähleräußerungen wird an das Erzählte abstrahierend und generalisierend angeknüpft. Diese weisen keinen direkten, sondern eher einen mittelbaren Bezug zur erzählten Welt auf. Sie erfüllen, was Booth "generalizing the significance of the whole work" nennt.152 Beispiele dafür sind etwa die Synchronismen des Lukasevangeliums (Lk 2,lf; 3,1) oder der Hinweis, dass Priszilla und Aquila kürzlich aus Rom nach Korinth gekommen waren, weil Kaiser Claudius allen Judaioi geboten hatte, Rom zu verlassen (Act 18,2). Sie verweisen darauf, dass das Erzählte in die allgemeine Geschichte eingeschrieben ist. Eine weitere Verallgemeinerung ist der Hinweis, dass die Jüngerinnen in Antiochia zum erstenmal "Christinnen" genannt wurden (Act 11,26), er weist in die Gegenwart der Erzähladressatlnnen. Verallgemeinerungen übernehmen folgende Funktionen: - Sie heben die Allgemeingültigkeit eines Werkes hervor. - Sie liefern Informationen, die für die Leserinnen hilfreich sind im Ver stehen der Geschichte. - Sie können "sowohl zur Distanzverringerung zwischen Erzähler und fiktivem Adressaten als auch zur Einigung über Normen und Werte beitragen"153. - Sie dienen als ein implizites Mittel der Selbstcharakterisierung der expliziten Erzählstimme, sofern sie als persönliche Stellungnahme kenntlich gemacht sind. - Anhand generalisierender Reflexionen findet eine Vermittlung zwischen dem Individuellen und dem Allgemeinen statt. Im Folgenden werden nun die vermittlungsbezogenen Funktionen der Kommentare zur narration genauer differenziert: (iv) Die vermittlungsbezogenen Funktionen der Kommentare zur narration Die vermittlungsbezogenen Funktionen von Erzählstimmen beziehen sich nicht, wie die bisher entfalteten, auf die erzählte Welt (story), sondern auf den Erzählvorgang (narration) selbst. Es handelt sich also um die Kommunikation mit der fiktiven Adressatin auf der Ebene der erzählerischen Vermittlung und setzt sich mit dem Prozeß des Erzählens selbst auseinander. Innerhalb dieser Gruppe lassen sich vier Teilfunktionen unterscheiden: - Die expressive Funktion bezieht sich auf Äußerungen der Erzählerin über sich selbst. Sie dient der expliziten Selbstdarstellung der Erzähle152 153
Booth, Rhetoric, 197. Nünning, Erzählinstanzen, 339.
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rln und ihrer Perspektive und lenkt anhand von "Pronomina der ersten Person Singular [oder der ersten Person Plural 154 , U.E.E.] die Aufmerksamkeit vom erzählten Geschehen auf das Aussagesubjekt". 155 Sie verstärkt die Personalisierung der Erzählerin und etabliert die "Autorität des Sprechers, als es maßgeblich von dem ihm zugeschriebenen Grad an Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit abhängt, wie die explanativen und evaluativen Kommentare von Rezipienten aufgefaßt werden" 156 . - Die appellative Funktion bezieht sich auf Anreden der Leserinnen oder andere Äußerungen, mit denen sich die Erzählstimme direkt oder indirekt an die fiktive Adressatin wendet. Das kann soweit gehen, dass die Leserinnen zu bestimmten Rezeptionshandlungen aufgefordert werden. Linguistisch sind diese greifbar durch ein unspezifisches 'du', 'ihr' oder durch Imperativische Konstruktionen. Sie dienen der stärkeren Einbeziehung der Lesenden in den Erzählvorgang. 157 - Die phatische Funktion, "das heißt Äußerungen, die primär zur Stabilisierung des Kommunikationskanals dienen" 158 . Linguistisch wird dies greifbar in rhetorischen Fragen und in Einschüben der Erzählerin, die dazu dienen, den Kontakt zur Adressatin zu verstärken. Der Erzählgegenstand tritt dabei in den Hintergrund zugunsten einer dialogischen Beziehung zwischen Sprecherin und Empfängerin. - Metanarrative Funktion haben Äußerungen, in denen Aspekte des Erzählvorgangs thematisiert werden. "In metanarrativen Äußerungen kann sich eine Erzählinstanz mit Fragen der literarischen Produktionspraxis auseinandersetzen, ästhetische Probleme erörtern oder ihren gegenwärtigen Erzählvorgang zum Thema machen." 159 Dieser Aspekt der vermittlungsbezogenen Funktion begegnet im Prolog des Lukasevangeliums (Lk 1,1-4). Sie ist zu unterscheiden von der Erläuterung des eigenen Sprachgebrauchs des Erzählers oder der Mehrdeutigkeit von Worten, wie es etwa in Übersetzungen von Namen einzelner Figuren der erzählten Welt geschieht (Act 4,36; 9,36; 13,8), die der explanativen Funktion dienen (s.o.)160. Die Erzählung (narration) betreffende Erzählerkommentare, die solche vermittlungsbezogenen Funktionen ausüben, sind im Corpus Lucanum die beiden Prologe (Lk 1,1-4; Act 1,1).161 Folgende der oben entfalteten Einzelfunktionen sind zu erkennen: 154 Vgl. dazu die Ausführungen in der vorliegenden Untersuchung zu den so genannten Wir-Passagen (s.u.). 155 Ebd. 340. 156 Ebd. 157 Die Frage des Philippus an den Äthiopier: "Verstehst du auch, was du liest? " übernimmt auf der Ebene der Figurenrede diese Funktion (Act 8,30). Die Parenthese in Mk 13,14: "der Lesende begreife/verstehe" ist ein klassisches Beispiel. 158 Ebd. 159 Ebd. 341. 160 Zu den Problemen dieser Übersetzungen vgl. Parsons / Pervo, Rethinking, 69f., sowie die einschlägigen Kommentare z. St. 161 Die Prologe sind in der Forschung bisher vorrangig unter form- und literaturgeschichtlichen Fragestellungen beleuchtet worden. So hat etwa die These von Henry Cadburys
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Lk 1,1-4 hat metanarrative Funktionen. In diesem Prolog wird der Erzählvorgang selbst in mehrfacher Hinsicht thematisiert. Zuerst in seiner Relation zu den "vielen", die es bereits unternommen haben, die Ereignisse aufzuschreiben (Lk 1,1). Der Erzähler setzt sich also explizit in Beziehung zur Produktionspraxis christlicher Gruppen und hebt sein Unternehmen davon positiv ab. Das Verb έπιχειρέω ist hier schwerlich wertfrei gebraucht.162 Als deren Quellen nennt er die Paradosis derer, die von Anfang an Augenzeuginnen und Dienerinnen des Wortes geworden sind (ο'ι άττ' άρχής αύτόιτται και ύπηρέται γενόμενοι τοϋ λόγου) (Lk 1,2). Aus dem Folgenden geht nun hervor, worin sich das Unternehmen des Erzählers des Doppelwerkes von dem der "vielen" unterscheidet. Es ist der Umfang und die Methode seiner Erzählung. Der Erzähler betont, er sei allem von Anfang an genau nachgegangen (παρηκολουθηκότι άνωθεν πάσιν ακριβώς). Das πάσιν in Verbindung mit άνωθεν könnte sich darauf beziehen, dass der Erzähler im Gegensatz zu seinen Vorläuferinnen wirklich alle Ereignisse, die sich erfüllt haben, recherchiert hat, das heißt auch die Vorgeschichte des Wirkens Jesu sowie ihre Nachgeschichte nach Jesu Himmelfahrt. Jedenfalls setzt er im Gegensatz zu seinen Vorläuferinnen mit den Umständen der Geburt Jesu Christi ein und endet mit der Ausbreitung der Botschaft bis nach Rom durch Paulus. Extratextuell wissen wir, dass das Corpus Lucanum tatsächlich die umfangreichste Erzählung der frühchristlichen Geschichte ist und seine Quellen, das Markusevangelium und die Logienquelle, die Erweiterungen nach vorne und hinten nicht enthielten.
(Commentary, 1922, 489ff.), Lk 1,1-4 folge den Konventionen griechischer historiographischer Literatur, die Forschung bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts bestimmt. Dieser Konsens wurde Ende der 80er Jahre nachhaltig von Loveday Alexander erschüttert. Sie hat die beiden Prologe des Corpus Lucanum in der antiken 'scientific tradition' verortet. Vgl. dazu Alexander, Luke's Preface in the Context of Greek Preface-Writing, 1986, 48-74; dies., The Preface of Luke's Gospel. Literary Convention and Social Context in Luke 1.1-4 and Acts 1.1, 1993; dies., The Preface to Acts and the Historians, 1996, 73-103. Alexander, Preface, 1993, 175f., stellt fest: "It is worth stressing that our negative conclusions about the literary level of the preface are consistent with a wider range of observations on Luke's literary interests. In the preface itself, as our study has shown, the literary competence of its author is easily overvalued. Although he is composing freely, his freedom to use and adapt conventions is only relative (...). Once the preface is over, Luke reverts with startling suddenness to a 'biblical' style with which he clearly feels much more at home. (...) Even in Acts, his style is far less rhetorically than that of much hellenistic Jewish literature, and shows little sign of acquaintance with any rhetorical structures other than those widely disseminated through the language of officialdom. (...) More 'literary' passages, like the shipwreck scene of Acts 27, evoke the world of the popular novel as much as that of high classical literature." Neben solcher literaturgeschichtlichen Einordnung der Prologe wurden sie im Rahmen redaktions- und kompositionsgeschichtlicher Methodik im Hinblick auf ihren theologischen Zweck (purpose) für die Gesamtkonzeption des Corpus Lucanum untersucht, vgl. dazu grundlegend Klein, Lukas 1,1-4 als theologisches Programm, (1964), 1969, 237-261; Brown, The Role of the Prologues in Determining the Purpose of Luke-Acts, 1978, 99-111; Fearghail, The Introduction to Luke-Acts. A Study of the Role of Lk 1,1-4,44 in the Composition of Luke's TwoVolume Work, 1991. Die erzählanalytischen Untersuchungen der Prologe stehen noch am Anfang, vgl. aber Sheeley, Narrative Asides, 1992, 115f. 134f.; Tannehill, Unity I, 9-12. II, 9; Kurz, Reading Luke-Acts, 1993, 39-44. 162
So auch Klein, Lukas 1,1-4, 239f.
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Intratextuell ist kaum nachzuweisen, dass der Erzähler sein Konzept explizit in dieser Hinsicht von seinen Vorläuferinnen abgrenzt. Als deren Quellen nennt er die, die von Anfang an Augenzeuginnen und Dienerinnen des Wortes wurden. Dass er damit auf die Zeit der Taufe Jesu abhebt, wie Klein zu zeigen 16 λ versucht , ist nicht überzeugend. Denn nach lukanischem Verständnis sind Augenzeuginnen, die dann Dienerinnen des Wortes wurden, bereits in der Kindheitsgeschichte Jesu greifbar. Das Paradebeispiel ist Maria, die Mutter Jesu. Sie ist nach lukanischem Verständnis die sicher älteste Augenzeugin der Ereignisse und sie ist auch Dienerin des Wortes geworden.164 Sie wird ausdrücklich auch noch im zweiten Buch im Zusammenhang mit den Jüngerinnen nach der Himmelfahrt Jesu in Jerusalem erwähnt (Act 1,14). Sie ist erste und älteste Augenzeugin und zugleich Kontinuitätsfigur zwischen beiden Büchern des Corpus Lucanum. Im Zusammenhang mit dem Umfang dessen, was er recherchiert hat, betont der Erzähler des Weiteren, dass er allem 'akribisch' nachgegangen ist (παρηκολουθηκότι άνωθεν πάσιν ακριβώς). Das unterstreicht seine gewissenhafte Nachforschung (Lk 1,3).165 Das Verb παρακολουθέω ist Gemeingut der antiken Historiographie und bezeichnet die gründlichen Vorarbeiten einer Historikerin.166 Buchstäblich bedeutet dieses Verb allerdings auch "begleiten"167. So kann es hier in seiner Doppeldeutigkeit interpretiert werden und muss nicht eindeutig bestimmt werden.168 Der Erzähler präsentiert sich als ein gründlich recherchierender Historiker (histor) und zugleich als Augenzeuge (eyewitness). Letzteres zeigt sich allerdings erst in der zweiten Hälfte des zweiten Buches in den so genannten 'Wir'-Passagen der Acta (s.u.). Im Prolog ist seine Rolle als Historiker eindeutig betont. Das entspricht ganz antiker Konvention, welche die Rolle des Historikers der des Augenzeugen übergeordnet hat.169 Darüber hinaus betont der Erzähler, alles der Reihe nach aufzuschreiben (καθεξής γράψαι) (Lk 1,3). Das im Neuen Testament sonst nicht gebrauchte Adverb καθεξής kommt im Corpus Lucanum fünfmal vor (Lk 1,3; 8,1; Act 3,24; 11,4; 18,23). In allen Textstellen ist die geordnete Chronologie (Ordnung) der Ereignisse gemeint.170 Gerade die Petruserzählung wirft ein Licht auf das Verständnis dieser Vokabel durch den Erzähler. Er leitet die Erzählung des Petrus ein mit den Worten, dass Petrus alles der Reihe nach erzählte (Άρξάμενος δε Πέτρος έξετίθετο αύτοΐς καθεξής λέγων) (Act 11,4). Die Erzählung der Ereignisse erfolgt dann auch aus der Perspektive des Petrus so, wie er sie erlebt haben könnte (Act ll,5ff.). 171 Es geht nicht etwa um die lückenlose Erzählung der Ereignisse, dann hätte die Erzählung der Vision des 163
Vgl. ebd. 245-247. Ebd. 253. 165 Vgl. dazu ausführlicher Bovon, Lukas I, 38f. 166 Vgl. ebd. 37f. 167 Vgl. EWNT2 3, 67. 168 So auch schon Cadbury, 'We' and 'I' Passages in Luke-Acts, 1956/7, 128-132: "(...) it means observation or participation". 169 Vgl. ausführlich Scholes / Kellogg, Nature, 242-248. 170 Zu weiteren Deutungen vgl. Bovon, Lukas I, 39, und vor allem Schneider, Zur Bedeutung von καθίξής im lukanischen Doppelwerk, 1977, 128-131. 171 S. dazu unten III.B. 164
Das Erzählen
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Cornelius nicht fehlen dürfen.172 Das zeigt das erzählerische Gespür LukAs im Umgang mit der Chronologie der Ereignisse und ihrer perspektivischen Wahrnehmung. Es darf geschlossen werden, dass der Erzähler sein Werk implizit in den genannten Hinsichten als überlegen gegenüber seinen Vorläuferinnen präsentiert. Es ist erstens umfassender (πάσιν) und damit zweitens von allem Anfang an erzählt (άνωθεν), drittens ist es präziser (ακριβώς) und viertens der Reihe nach erzählt (καθεξής).173 Damit ordnet die Erzählstimme ihre Erzählung einem größeren literarischen Kontext ein, den sie evaluiert und dem sie sich in ihrer Methode als überlegen erweisen möchte. Insgesamt präsentiert sich der Erzähler vorrangig als Historiker (histor). Beide Prologe erfüllen eine appellative Funktion, indem sie einen Erzähladressaten namentlich ansprechen: κράτιστε Θεόφιλε (Lk 1,3), ώ Θεόφιλε (Act 1,1). In diesem Zusammenhang wird auch der Zweck des Unternehmens, nämlich in Relation zum Erzähladressaten, benannt. Der Erzähler spricht ihn in der zweiten Person Singular direkt an und fordert ihn auf, die Zuverlässigkeit des Wortes zu erkennen (έιτιγνως ... λόγων την άσφάλειαν) (Lk 1,4). Damit ist die erwartete Rezeptionshandlung benannt. Auf diese Weise werden die Lesenden in den Erzählvorgang einbezogen mit entsprechenden Handlungsanweisungen. Zu Beginn des zweiten Buches bedient sich erneut die Erzählstimme in erster Person der direkten Anrede ihres Adressaten Theophilus (Act 1,1). Diese erneute Anrede hat hier phatische Funktion: die Appellation dient der Stabilisierung des Kommunikationskanals zwischen Erzähler und Erzähladressaten. Zugleich wird an das Programm und die Autorität des Erzählers erinnert. Der Erzählgegenstand des ersten Buches wird in einer kurzen Analepse summarisch erzählt. Zugleich wird mit dieser erneuten Anrede des Erzähladressaten eine enge Verbindung des ersten mit dem zweitem Buch hergestellt. Insgesamt ist festzustellen, dass Äußerungen des Erzählers über seine eigene Person weitgehend fehlen. Nirgendwo stellt er sich namentlich vor, sondern hebt vor allem auf den Zweck seiner Erzählung ab. Damit ist die expressive Funktion, das heißt Äußerungen des Erzählers über sich selbst, kaum festzustellen, abgesehen von dem offenen und anonym bleibenden εδοξε κάμοί (Lk 1,3). Der Erzähler hat offensichtlich kein Interesse, auf sich als identifizierbare Person aufmerksam zu machen und diese ins Spiel zu bringen. Diese Charakteristik des Erzählers ändert sich auch nicht in den so genannten 'Wir1Passagen, wie irrtümlich angenommen werden könnte (s.u.). Wesentlich ist der Verweis auf den λόγος, der hier ohne die Näherbestimmung τοΰ θεοΰ oder τοϋ κυρίου doppeldeutig bleibt. Der Erzähler hebt damit implizit sowohl auf das Wort Gottes als auch auf die beiden Bücher des Doppelwerkes ab, denn im Prolog des zweiten Buches spricht er vom Lukasevangelium als dem ersten Buch (πρώτον λόγον) (Act 1,1). Seine Autorität erzeugt der Erzähler somit maßgeblich mit seinem Erzählverfahren und dem Hinweis auf die Zuverlässigkeit des Wortes.
172 173
Zur Deutung des καθεξής als lückenlose Erzählung vgl. Schneider, Bedeutung. So auch Bovon, Lukas I, 34f.
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e) Zuverlässigkeit (reliability) der Erzählstimme Das Kriterium der Zuverlässigkeit der Erzählstimme hat Wayne Booth 1961 in die Diskussion eingebracht.174 Es ist dann vor allem von Rimmon-Kenan aufgegriffen und weitergeführt worden. Als 'unzuverlässig' gelten solche Erzählstimmen, die - ein begrenztes Wissen haben, - emotional involviert sind und - ein fragwürdiges Werte- und Normensystem haben.175 Das Konzept des unreliable narrator erfährt gerade in jüngster Zeit weitere theoretische Aufarbeitungen.176 Entgegen den Stimmen, die behaupten, in der Antike habe es unreliable narration noch nicht gegeben, ist festzuhalten, dass ein solches Erzählen schon in der antiken Romaliteratur begegnet, wie etwa in Lukians Wahre Geschichten oder in Apuleius' Metamorphosen,177 Unzuverlässiges Erzählen lässt sich sehr gut an dem Begriff der Ironie verdeutlichen. Ironische Kommunikation enthält eine explizite und eine implizite Botschaft, die einander widersprechen. Die implizite Botschaft soll dabei als die 'eigentlich gemeinte' aufgefasst werden178 und es gibt eine Reihe von Studien, die das Phänomen auch für das Corpus Lucanum nachgewiesen haben.179 f ) Das Geschlecht der Erzählstimme Eine weitere relevante Kategorie zur Erfassung der Erzählstimme ist die ihres Geschlechts. Sie ist von der feministischen Narratologie180 in die Diskussion 174
Booth, Rhetoric of Fiction, (1961), 19832, 339-374. Booth hat es weiter konzeptualisiert in ders., A Rhetoric of Irony, 1974. 175 Rimmon-Kenan, Narrative Fiction, 1983, 100-103; s. auch Chatman, Story, 1978, 149, 233-237, sowie ders., Coming to Terms, 1990. 176 Vgl. Nünning, Erzählinstanzen, 1997, 330. 177 Vgl. Martinez / Scheffel, Einführung, 1999, 100-104. 178 Vgl. ebd. lOOf. 179 Vgl. den Forschungsüberblick zu Ironie in der Hebräischen Bibel, im Neuen Testament und in Luke / Acts von Ray, Irony, 1996, 11-27, sowie Kurz, Reading, 136f., den Ray zum Doppelwerk nicht anführt. 180 Zu einer feministischen Narratologie vgl. jüngst den Sammelband Nünning / Nünning (Hgg.), Erzähltextanalyse und Gender Studies, 2004, sowie den Überblick Nünning, Feministische Narratologie, 1998, 146-147. Darüber hinaus s. Lanser, The Narrative Act. Point of View in Prose Fiction, 1981; dies., Toward a Feminist Narratology, (1986), 1991, 610-629; dies., Shifting the Paradigm: Feminism and Narratology, 1988, 52-60; dies., Fictions of Authority. Women Writers and Narrative Voice, 1992; dies., Sexing the Narrative: Propriety, Desire, and the Engendering of Narratology, 1995, 85-94; dies., Queering Narratology, 1996, 250-261; dies., Sexing Narratology: Toward Gendered Poetics of Narrative Voice, 1999, 167-183; aber auch Bai, Femmes imaginaires: L'ancien testament au risque d'une narratologie critique, 1985; dies., Lethal Love. Feminist Literary Readings of Biblical Love Stories, 1987 (Teilübersetzung von 'Femmes imaginaires', 1985); dies, Murder and Difference. Gender, Genre, and Scholarship on Sisera's Death, 1988; dies., Death and Dissymmetry: The Politics of Coherence in Judges, 1988; Warhol, Gendered Interventions: Narrative Discourse in the Victorian Novel, 1989; dies., Guilty Cravings: What Feminist Narratology Can Do for Cultural Studies, 1999, 340-355; Prince, Narratology, Narratological Criticism, and Gender, 1996, 159-164; sowie den Sammelband herausgegeben von Mezei, Ambiguous Discourse: Feminist Narratology and British Women Writers, 1996. Vgl. auch die Forschungsberichte Allrath, A Survey of the Theory, History, and New Areas of Research of
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eingebracht worden. Einer der Ansatzpunkte feministischer Narratologie ist gerade auch die Frage des Geschlechts von heterodiegetischen Erzählstimmen181, weil die Nichtwahrnehmung der Geschlechtszugehörigkeit der Erzählstimme, sofern diese nicht explizit thematisiert wird, in der Regel mit einer implizit unterstellten Zugehörigkeit aller Erzähler zum männlichen Geschlecht korrespondiert, womit die Erzähltheorie der Vielfalt und Komplexität erzählerischer Praxis nicht gerecht wird.182 Das Geschlecht der extradiegetischen Erzählstimme im Corpus Lucanum kann gemäß dem Prolog näherbestimmt werden. Dort sagt das erzählende 'Ich': εδοξε κάμο'ι παρηκολουθηκότι άνωθεν πάσιν ακριβώς (Lk 1,3). Das Partizip Perfekt παρηκολουθηκότι hat eine maskuline Endung, womit das Geschlecht des Erzählers bestimmt werden kann. Ihm korrespondiert der männliche Erzähladressat Theophilus (Lk 1,3). Anders verhält es sich mit den intradiegetischen Erzählerinnen. Hier sind sowohl männliche, als auch weibliche vertreten. Die überwältigende Mehrheit der Redebeiträge stellen aber ohne Zweifel die Männer im Corpus Lucanum. Als Erzählerinnen treten Maria, die Mutter Jesu, auf (Lk 1,34.38.46-55; 2,48) sowie Elisabeth (Lk 1,25.42-45.60), Martha (Lk 10,40), eine namenlose Frau (Lk 11,27), eine Witwe (Lk 18,3), eine Magd (Lk 22,56), Saphira (Act 5,8), Lydia (Act 16,15) und eine von einem Geist besessene Frau in iterativer Erzählform (Act 16,17).183
Feminist Narratology, 2000, 387-410; Nünning, Gender and Narratology. Kategorien und Perspektiven einer feministischen Narrativik, 1994, 102-121; Nünning / ders. (Hgg.), Erzählanalyse und Gender Studies, 2004; sowie Osinski, Einführung in die feministische Literaturwissenschaft, 1998, 174-177. Eine scharfe Polemik gegen feministische Narratologie bietet Diengott, Narratology and Feminism, 1988, 42-51 (s. dazu auch die Entgegnung von Lanser, Shifting the Paradigm, 1988, 52-60). 181 Vgl. zum Geschlecht der Erzählstimme v.a. den programmatischen Überblicksartikel von Schabert, The Authorial Mind and the Question of Gender, 1992, 312-328, sowie dies., Englische Literaturgeschichte aus der Sicht der Geschlechterforschung, 1997, v.a. 471-493 (das Kapitel zu Autorschaft und Geschlechtermaskerade). S. auch beispielsweise Bai, Bible as Literature, (1986), 1991, 59-72; Lanser, Fictions of Authority, 1992; Nünning, Erzählinstanzen, 330f. 182 S. hierzu auch genauer Nünning, ebd. 331. 183 Einen umfassenden Überblick über Frauen in den Acta bietet die sozialgeschichtlich ausgerichtete Studie von Richter Reimer, Frauen in der Apostelgeschichte, 1992.
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Zusammenfassend wird das Kategorienraster mit den oben entfalteten sechs Kategorien zur Erfassung von Erzählstimmen nochmals übersichtlich veranschaulicht (Tabelle 10): Kategorien zur Differenzierung von Erzählstimmen 1. Kommunikationsebene der Erzählstimme 2. Anwesenheit auf der Ebene der Figuren 3. Grad der Involviertheit in das erzählte Geschehen 4. Grad der Explizität
Pole einer Skala extradiegetisch
intradiegetisch
heterodiegetisch
homodiegetisch
nicht-involviert
autodiegetisch
neutral
explizit
5. Grad der Zuverlässigkeit
glaubwürdig
unglaubwürdig
6. Geschlechtszugehörigkeit
weiblich
männlich
Tabelle 11: Analysekategorien zur Differenzierung von Erzählstimmen184 3. Die Erzähladressatln
(narratee)
Bei der Frage nach der Erzähladressatln geht es darum: 'Wer erzählt wem?' Es geht um das erzähltheoretische Pendant zur Erzählstimme (narrator), um den sog. narratee (franz. le narrataire), die narrative bzw. fiktive Adressatin. 185 Es handelt sich dabei ebenso um ein textuelles Phänomen wie bei der Erzählstimme auch. Beide Konzepte sind unumstrittene Größen der Erzählkommunikation (vgl. o. Schaubild 1 u. Tabelle 7 und 8) und es sei daran erinnert, dass die Erzählstimme und die Erzähladressatln keinesfalls mit Personen verwechselt werden dürfen, was vor allem immer dann schwerfällt, wenn sie personalisiert oder gar individualisiert begegnen. Es handelt sich also um textuelle Phänomene, die bei der erzählerischen Vermittlung einer Geschichte 186
verschiedene Funktionen erfüllen. Das Konzept der Erzähladressatln hat in der narratologischen Theoriediskussion bei weitem nicht die Aufmerksamkeit erhalten wie sein Pendant, das Konzept der Erzählerin. In anwendungsorientierten erzählanalytischen Studien werden zudem vielfach die beiden Kategorien der Erzähladressatln und des implied reader vermengt. Es sei hier ausdrücklich betont, dass es sich dabei erzähltheoretisch um unterschiedliche textuelle Instanzen handelt. Eine Entwirrung der Vermischung der beiden Kategorien von narratee und implied reader in der Sekundärliteratur steht noch aus. Ich werde aus den oben bereits 184
Ebd. 332, mit Ergänzungen. Der Begriff des narratee wird beispielsweise in dem sehr hilfreichen, von Jahn / Molitor / Nünning herausgegebenen CoGNaC (Concise Glossary of Narratology from Cologne) von 1993 mehrfach erwähnt (2, 6, 15, 30), aber erhält keinen eigenen lexikalischen Eintrag. Auch in Nünnings außerordentlich elaboriertem Beitrag: Die Funktionen von Erzählinstanzen: Analysekategorien und Modelle zur Beschreibung des Erzählerverhaltens, 1997, 323-349, schreibt er ganz selbstverständlich vom fiktiven Adressaten und von Rezeptionslenkung, ohne dies jedoch weiter zu erläutern und zu systematisieren. 186 So auch Nünning, Erzählinstanzen, 1997, 330. 185
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ausgeführten Gründen in aller Konsequenz ausschließlich mit dem Konzept der Erzähladressatln arbeiten. 187 Die Konzeptionalisierung der Textinstanz der narrativen Adressatin hat vor allem der amerikanische Literaturwissenschaftler und Romanist Gerald Prince vorangetrieben. 188 Sein Konzept hat aber insgesamt nicht die Aufmerksamkeit erfahren, die es verdient. Prince charakterisiert dieses Konzept schon in seinem ersten Beitrag dazu im Jahr 1971 treffend: "Any narrative presupposes not only a narrator but also a 'narratee,' a receiver of the narrator's message, and, just as the narrator in any tale is not its real author but a fictional construct having certain characteristics in common with him, the narratee in any tale should not be confused with a real reader or listener though he may very closely resemble him."189 Bei dem so genannten narratee handelt es sich also um jenes Textkonstrukt, das als Empfängerin der Geschichte bzw. als "narrator's audience" 190 vorgestellt ist. Ein anschauliches Beispiel dafür, wie zentral das Konzept eines narratee die Handlung einer Erzählung vorantreiben kann, sind die Erzählungen aus den 1001 Nächten. Hier korrespondiert der intradiegetisch-heterodiegetischen Erzählerin Scheherazade der intradiegetisch-heterodiegetische Kalif, der das narrative Publikum bildet und das Erzählen vorantreibt. Denn, erzählt die Erzählerin Scheherazade dem Kalifen nicht weiter, wird er sie töten lassen. Während Prince 1971 noch von fünf "major categories of narratee"191 spricht, betont er schon 1973, dass die Vielfalt der narratees in der Erzählliteratur phänomenal ist und sie darin mit der der narrators rivalisiert. Das gilt auch für ihre Funktionen. Da die Erzähladressatln zusammen mit der Erzählstimme ein Element der Erzählsituation bildet und sie miteinander kommunizieren, gelten für beide ähnliche Analysekategorien. So ist erstens für die Erzähladressatln die narrative Ebene zu bestimmen, auf der sie erzählerisch angesiedelt ist. Einer extradiegetischen Erzählstimme korrespondiert eine extradiegetische Erzähladressatln. Beide befinden sich per definitionem auf derselben diegetischen
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S. dazu und zum implied reader oben (II.B.l.). S. Prince, Notes Toward a Categorization of Fictional "Narratees", 1971, 100-106; ders., On Readers and Listeners in Narrative, 1971, 117-122; ders., Introduction ä la l'etude du narrataire / Introduction to the Study of the Narratee, (1973), 1980, 7-25; ders., Narratology. The Form and Functioning of Narrative, 1982, 16-26; ders., The Narratee Revisited, 1985, 299-303; ders., A Dictionary of Narratology, 1987, 57. S. darüber hinaus: Genette, Erzählung, (1972/1983), 1994, 186-188, 279-281; Piwowarczyk, The Narratee and the Situation of Enunciation: A Reconsideration of Prince' Theory, 1976, 161-177; dies., The Narratee in Selected Fictional Works of Diderot, 1978; Chatman, Story, 1978, 253-262; Bal, Narratology, 1997, 63, 76; Wilson, Readers in Texts, 1981, 848-863; Rimmon-Kenan, Narrative Fiction, 1983, 103-105; Goetsch, Leserfiguren in der Erzählkunst, 1983, 199-215; Seibel, Leser, 1998, 309f.; Martinez / Scheffel, Einführung, 1999, 84-89. Zur antiken griechischen Literatur vgl. den Sammelband von de Jong / Nünlist / Bowie (eds.), Narrators, Narratees, and Narratives in Ancient Greek Literature. Studies in Ancient Greek Narrative, 2004. 189 Prince, Categorization, 1971, 100. 190 Prince, Dictionary, 1987, 57. 191 Prince, Categorization, 1971, 103. 188
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Ebene. 192 Das bedeutet für die intradiegetische Ebene, dass einem characternarrator ein character-narratee korrespondiert. Das gilt auch für das Corpus Lucanum. Die extradiegetische Erzählstimme, die sich im Erzählerkommentar in Lk 1,1-4 zu Wort meldet, spricht hier den extradiegetisehen Adressaten Theophilus an. Analog korrespondieren beispielsweise der intradiegetische Erzähler Jesus oder Petrus mit einem intradiegetischen Publikum. Zweitens ist zu fragen, in welchem Maß die Erzähladressatln am Geschehen beteiligt ist? Ist sie hetero- oder homodiegetisch? Auch hier ist sie häufig analog zur Erzählstimme gestaltet. Drittens ist nach dem Grad ihrer Involviertheit ins Geschehen zu fragen, viertens nach ihrer Explizität und fünftens nach ihrem Geschlecht. Es gilt also ein ähnliches Kategorienraster wie zur Erschließung der Erzählstimmen. Narrative Funktionen der Kommunikation von Erzählstimme und Erzähladressatln sind etwa: - Die Erzeugung des Eindrucks einer realen Kommunikation durch die erzählerische Herstellung einer expliziten Kommunikationssituation zwischen Erzählerin und Adressatin. 193 Das gilt auch für das Corpus Lucanum, hier besteht die Kommunikationssituation zwischen dem anonym bleibenden, aber als 'Ich' expliziten Erzähler und seinem Erzähladressaten Theophilus (Lk 1,3; Act 1,1). - Die Schaffung eines erzählerischen Rahmens, innerhalb dessen die Diegese sich entfalten kann. 194 Durch die Rahmung werden die Leserinnen zur Identifikation mit der Adressatin eingeladen 195 , sie hören mit ihr zusammen die Diegese. So werden die Leserinnen in den Kommunikationsprozess einbezogen. 196 Im Falle des Corpus Lucanum treten die Leserinnen an die Seite des Erzähladressaten Theophilus. - Die Charakterisierung einer möglicherweise nicht näher erzählerisch präzisierten Erzählerin durch die Erzähladressatln. 197 In der Forschung zu den Prologen hat Theophilus 198 vor allem im Hinblick auf seine historische Bestimmung - wen sollte das überraschen - für Interesse gesorgt. Dies hat zu einer Vielzahl von Hypothesen zu dieser Figur geführt, etwa dass er der Patron oder Verleger des 'Lukas' gewesen sei oder ein römischer Beamter, den 'Lukas' informieren wollte 199 , und dergleichen mehr. 200
192 So Genette, Erzählung, (1972), 1994, 186; Chatman, Story, 1978, 255; RimmonKenan, 1983, 104. 193 Prince, Introduction, 22: "The narratee like the narrator plays an undeniable verisimilating (vraisemblabilisant) role." 194 Ebd. 23: "(...) establish the narrative framework". 195 Genette, Erzählung, (1972), 1994, 187. 196 S. dazu insgesamt Martinez / Scheffel, Einführung, 1999, 86f., von denen Wirkungen solch konzipierter Erzählsituationen beschrieben werden, so etwa Klopstocks Bibelepos Der Messias (1748-1773) oder Goethes Roman Die Leiden des jungen Werther (1774). 197 Prince, Introduction, 23:"(...) serve to characterize the narrator". 198 Widmungen von Büchern an Einzelne waren keine Seltenheit in der Antike, sie galten teilweise realen und teilweise fiktionalen Gestalten, vgl. dazu Alexander, Preface, 188 (ausführlich dazu 46-66), sowie den synoptischen Vergleich der Prologe des Doppelwerkes mit denen von Josephus' Against Apion in Parsons / Pervo, Rethinking, 60-62. 199 Vgl. beispielhaft Cadbury, Commentary, 490.
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Aber keine dieser Hypothesen konnte mit letzter Sicherheit bewiesen werden, auch in Ermangelung weiterer frühchristlicher Quellen, die von diesem Theophilus zeugen. 01 So stehen wir trotz der namentlichen Anrede vor einem Unbekannten. Erzählanalytisch stellt sich die Frage nach der narrativen Funktion dieses namentlich genannten Erzähladressaten innerhalb der die beiden Bücher eröffnenden und zugleich kommentierenden Prologe (Lk 1,1-4; Act 1,1).202 Wie schon betont handelt es sich narratologisch betrachtet beim Erzähladressaten um ein textuelles Phänomen, das mit dem textuellen Phänomen des Erzählers korrespondiert. Analog zum Erzähler befindet er sich auf der extradiegetischen Erzählebene und erweist sich im Verlauf der Erzählung als heterodiegetisch, das heißt, er ist am Geschehen nicht als Figur beteiligt. In den beiden Prologen des Corpus Lucanum wird der Erzähladressat direkt angesprochen. Dadurch wird eine explizite Kommunikationssituation geschaffen und der Eindruck einer realen Kommunikationssituation erweckt. An die Seite des explizit genannten Theophilus können somit die ebenfalls extradiegetischen Leserinnen der Erzählung treten. Die direkte Ansprache, gerade auch im Prolog zum zweiten Buch, dient der Stabilisierung des Kommunikationskanals und der Sicherung dieser Kommunikationssituation. Zugleich wird mit der Anrede eine Rezeptionshaltung vorgegeben, die dem Erzähladressaten in gleicher Weise wie den Lesenden gilt. Er und mit ihm die Lesenden sollen das Wort Gottes und diese Erzählung als "zuverlässig" erkennen. Der Erzähladressat wird charakterisiert durch das Epitheton κράτ ιστός, durch seinen Namen Theophilus und durch das Verb κατηχίω. Der Superlativ κράτιστος, was so viel wie "hochansehnlich, hochverehrt" bedeutet203, kommt in den Acta insgesamt viermal vor. In drei weiteren Fällen begegnet er im Munde des Paulus in seiner Anrede an die römischen Prokuratoren Felix (Act 200
Alexander, Preface, 188-200, diskutiert verschiedene Hypothesen, so etwa "Was Theophilus Luke's social superior?", "Was Theophilus a Patron?", "Was Theophilus an Outsider?" und "Was Theophilus Luke's Publisher?" Sie kommt aber zu dem Schluss, dass keine der Hypothesen mit Sicherheit beweisbar ist, das gilt auch für solche, die in ihm einen römischen Beamten erkennen zu können meinen. Jüngst hat Alexander, What if Luke had never met Theophilus?, 2000, 161-170, dennoch selbst eine Hypothese zur Identifikation des Theophilus vorgelegt: "Theophilus is being used by Luke not so much as a back-door introduction to the Roman corridors of power but for what he is in his own right - that is (let us hypothesize), as a prominent and amenable representative of the same Jewish community in Rome to which Luke has Paul make his last impassioned plea for hearing in Acts 28" (165). Zur Forschungslage vgl. auch Creech, The Most Excellent Narratee, 1990, 108-110 (Lit.). Neben der dort genannten Literatur s. auch Downing, Theophilus's First Reading of Luke-Acts, 1995, 91-109. 201 Es gibt nur eine fragliche Notiz in den Pseudoklementinen, Ree X 71, dass er in Antiochia sesshaft war: "Der erste Mann der Stadt aber, Theophilus, weihte voll feuriger Begeisterung die große Basilika seines Palastes zur Versammlungsstätte der Gemeinde", zitiert nach Bovon, Evangelium nach Lukas, 39. 202 Vgl. zu Theophilus unter narratologischen Gesichtspunkten Tannehill, Unity II, 9; Creech, The Most Excellent Narratee: The Significance of Theophilus in Luke-Acts, 1990, 107-127; Kurz, Reading Luke-Acts, 41-42. 203 Als Superlativ zu κρατύς ist es zum einen die "offizielle Wiedergabe des Titels vir egregius" und zum anderen kann es einfach nur als "höfliche Anrede ohne offiziellen Beigeschmack" fungieren, vgl. Aland / Aland / Bauer, Griechisch-deutsches Wörterbuch, 91 lf.
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23,26; 24,3) und Festus (Act 26,25). Analog zu diesen Figuren kann der Superlativ im Zusammenhang mit dem Erzähladressaten entsprechend interpretiert werden. Durch den Kontext der Acta wird der Erzähladressat als eine Figur von Rang und politischem Einfluss semantisiert. Der Name 'Theophilus' ist griechisch und nicht römisch, aber sowohl für heidnische wie für jüdische Kreise belegt.204 Besondere Verbreitung hatte er im hellenistischen Judentum.205 Über den sozialen Status sagt der Name selbst nichts aus, da er auch für Sklaven belegt ist.206 Die Vorstellung von Theophilus als einer Figur von Rang entsteht erst in der Verbindung mit κράτιστε und dessen Gebrauch in den Acta.207 Eine weitere Charakterisierung des Erzähladressaten erfolgt durch die Wendung, "damit du die Zuverlässigkeit der Worte erkennst, über die du unterrichtet wurdest" (ίνα έπιγνως περί ών κατηχήθης λόγων την άσφάλειαν) (Act 1,4). Das Verb κατηχέω bedeutet im Passiv in den Acta soviel wie "im Christusglauben unterwiesen zu sein".208 Diese Deutung legt der Gebrauch des Verbs im Zusammenhang mit Apollos aus Alexandria nahe, von dem es heißt, dass er "im Weg des Herrn unterwiesen war", womit eindeutig der christliche Horizont seiner Unterweisung ausgesagt ist (Act 18,25). Apollos wird als vom Geist erfüllter Verkündiger und als im Weg des Herrn unterwiesener geschildert, aber dennoch bedurfte er noch genauerer Informationen, die er durch Priszilla und Aquila erhielt (Act 18,26). In den beiden übrigen Textstellen der Acta, in denen das Verb im Passiv vorkommt, geht es ebenfalls um unzureichende Information (Act 21,21.24). Die Judaioi sind hier ganz offensichtlich sogar falsch informiert über die Lehre des Paulus. In diesem Zusammenhang wird Theophilus als eine Figur charakterisiert, die bereits vom Christusglauben gehört hat, aber offensichtlich noch weiteren Informationsbedarf hat. Das unterstreicht auch noch einmal das Programm des Erzählers, wie er es zuvor im Prolog entworfen hat. Er möchte alle notwendigen Informationen geben und schließlich ganz vom Christusglauben überzeugen sowie dessen Modalitäten präzisieren (vgl. dazu etwa die Bestimmungen des so genannten Apostelkonzils). Das Verb charakterisiert somit Erzähladressaten und Erzähler. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die sicher wichtigste Funktion der Erwähnung eines Erzähladressaten die Erzeugung des Eindrucks einer realen Kommunikationssituation zwischen Erzähler und Erzähladressat ist. Indem er als Figur von Rang angesprochen wird, treten die Leserinnen an dessen Seite und werden entsprechend aufgewertet. Zugleich wird die Rezep-
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Cadbury, Commentary, 507. Alexander, Preface, 133. Einige haben den Namen Theophilus metaphorisch gedeutet, im weitesten Sinn als "Gottesfreund", so etwa Sheeley, Getting into Act(s), 1999, 203. Zum Problem vgl. Alexander, Preface, 188. Diese Deutung hat mit weiteren Gründen in der Forschung immer wieder zu den Annahme geführt, dass es sich bei Theophilus um einen "Gottesfürchtigen" gehandelt hat, vgl. etwa Creech, Narratee, 1990. 206 Alexander, Preface, 188 passim. 207 Neuere Studien haben gezeigt, dass dieses Epitheton auch in nicht-offiziellen Kreisen gebraucht wurde, so Alexander, Preface, 133. 208 Vgl. dazu ausführlich Schneider, κατηχίω, 674-675. 205
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tionshaltung markiert. Es geht um das Anerkennen der Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit der erzählten Ereignisse und Worte. 4. Zusammenfassende Auswertung: Die Erzählstimme(n) der Acta Es liegen bereits einige Arbeiten zur Analyse der Erzählstimme(n) des Corpus Lucanum vor.209 Zu nennen sind vor allem die Arbeiten von Steven M. Sheeley, neben einigen Aufsätzen vor allem seine Monographie Narrative Asides in Luke-Acts von 1992210 sowie von William S. Kurz Reading Luke-Acts: Dynamics of Biblical Narrative von 1993.212 Ausschließlich zum Lukasevangelium hat James Marshall Dawsey The Lukan Voice: Confusion and Irony in the Gospel of Luke 1986 und ausschließlich zu den Acta hat 1985 Allen James Walworth The Narrator of Acts213 jeweils eine Monographie vorgelegt. Das Problem dieser Studien ist, dass sie mit unterschiedlichen Begrifflichkeiten und Theorieansätzen arbeiten. Sheeley ist diesem Problem 1989 in seinem Aufsatz The Narrator in the Gospels: Developing a Model nachgegangen und hat die unterschiedlichen Theorieansätze analysiert, die einigen exegetischen Untersuchungen - nicht nur zum Corpus Lucanum zugrunde liegen. Er konnte zeigen, dass in der Hauptsache die Theorieansätze von Boris Uspenskij, Gerard Genette, Wayne Booth und Susan S. Lanser rezipiert wurden. Diese wertet er aus mit dem Ergebnis, dass sich allein das Modell von Shlomith Rimmon-Kenans als tragfähig erweist. Zu derselben Erkenntnis ist der Anglist und Narratologe Ansgar Nünning 1990 in seinem Aufsatz 'Point of view' or focalization'? Über einige Grundlagen und Kategorien konkurrierender Modelle der erzählerischen Vermittlung gekommen. Nünning hat dann 1997 eine revidierte, erweiterte und präzisierte Fassung des Modells von Gerard Genette und vor allem von Shlomith Rimmon-Kenan in seinem Aufsatz Die Funktionen von Erzählinstanzen: Analysekategorien und Modelle zur Beschreibung des Erzählerverhaltens vorgelegt. Die darin entwickelten Kategorien zur Analyse von Erzählstimmen sind oben dargelegt worden: a) Kommunikationsebene der Erzählung, b) Beteiligung der Erzählerin am Geschehen, c) Grad der Involviertheit ins Geschehen, d) Grad der Explizität der Erzählstimme, e) ihre Zuverlässigkeit und f) ihr Geschlecht. Sie stellen die derzeit elaboriertesten Analysekriterien hinsichtlich der Analyse der Erzählstimmen dar und bilden daher auch die Grundlage für die vorliegende Analyse der Acta. Gemäß dem oben bereits Entfalteten lassen sich folgende zusammenfassende Schlüsse im Hinblick auf die Erzählstimmen der
209 Vgl. auch die Kurzzusammenfassung der hier vorliegenden Untersuchung in Eisen, Narratological Fabric, 2005, 198-201. 210 Neben Sheeleys Monographie, die sich vor allem auch dadurch auszeichnet, dass sie eine Fülle von antiken Texten analysiert, vgl. auch ders., Narrative Asides and Narrative Authority in Luke-Acts, 1988, 102-107; ders., Following Everything Closely: Narrative Presence in Luke 1-2, 1993, 100-110; ders., The Narrator in the Gospels, 1989, 213-223; ders., Getting into the Act(s): Narrative Presence in the "We" Sections, 1999, 203-220. 211 Vgl. auch Kurz, Effects of Variant Narrators in Acts 10-11, 1997, 570-586. 212 S. auch die unmittelbaren Vergleiche der Erzählsituation im Lukasevangelium und in Acta von Sheeley, Narrative Asides, 1992, 135f., und Parsons / Pervo, Rethinking, 1993,46ff. 213 Er arbeitet mit dem Theorieansatz von Susan S. Lanser, vgl. die Kritik von Sheeley, Narrator, 219f.
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Acta und ihrer Erzähladressatlnnen ziehen. Zu unterscheiden ist zwischen dem extradiegetischen-heterodiegetischen Erzähler, dem extradiegetischenhomodiegetischen Erzähler der 'Wir'-Passagen sowie den zahlreichen intradiegetisch-heterodiegetisch und homodiegetischen Erzählerinnen. Letztere werden unten in der "Narratologischen Analyse der Apostelgeschichte" (III.) im Einzelnen untersucht. Der extradiegetisch-heterodiegetischen Erzähler des Corpus Lucanum ist es, der die gesamte Geschichte des Doppelwerkes vermittelt, also ein Erzähler, der keine Figur der Geschichte und damit nicht in die Geschichte involviert ist. Er präsentiert sich als zuverlässiger histor. Er verfügt über keine Einschränkungen des Erzählens. Er ist allwissend, er kennt die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft, er weiß, was sich an verschiedenen Orten gleichzeitig ereignet. Beispiele dafür sind oben angeführt worden. Als extradiegetisch-heterodiegetischer Erzähler ist er ein expliziter Erzähler, indem er sowohl die Erzählung als auch die Geschichte kommentiert. Beispiele für seine Kommentierung der Erzählung sind die Prologe (Lk 1,1-4; Acta 1,1). Indem er mit ihnen seine beiden Bücher eröffnet, schafft er eine Art Primäreffekt {primacy effect) im Hinblick auf seine erzählerische Autorität, denn seine hier zugrundegelegte Autorität ist zugleich eine Rezeptionsvorgabe für die gesamte folgende Geschichte und ihre Erzählung.214 Der Erzähler präsentiert sich als gründlich recherchierender Historiker, der sich mit seinem methodischen Vorgehen den "Vielen" als überlegen erweist, die es vor ihm versucht haben, dieselben Ereignisse zu erzählen. Sein Programm ist es, "alles", "von Anfang an", "akribisch" und "der Reihe nach" zu erzählen. Darüber hinaus schafft er eine Kommunikationssituation mit dem namentlich genannten Erzähladressaten Theophilus. Dadurch gewinnt seine Erzählung Appellfunktion. Theophilus wird als 'most excellent' und damit als Figur mit Macht und Einfluss charakterisiert. Zugleich wird ihm die Rezeptionshandlung vorgegeben. Die Erzählung soll ihm dazu dienen, die Zuverlässigkeit des Wortes Gottes und des Berichtes des Erzählers zu erkennen. Diese Kommunikationssituation mit Theophilus wird im zweiten Prolog des Doppelwerkes erneut aufgerufen durch die direkte Ansprache an diesen (Act 1,1). Damit wird zum einen der Kommunikationskanal zwischen Erzähler und Erzähladressaten stabilisiert und zum anderen an die im ersten Prolog formulierte Programmatik des Erzählens angeknüpft. Was für das erste Buch galt, gilt nun auch für das zweite. In den beiden Prologen erweist sich der Erzähler als 'selbstbewusst'. Die Kommentierung seiner Erzählung dient somit auch seiner Selbstcharakterisierung als 'zuverlässiger' Erzähler, denn seine Zielvorgabe ist es, Zuverlässigkeit zu erweisen.215 Hinsichtlich seiner eigenen Person bleibt der Erzähler insgesamt zurückhaltend. Obwohl er als 'Ich' spricht, stellt er sich nicht namentlich vor und auch eher zufällig scheint er als männlich identifizierbar. Er bleibt anonym, auch in den Erzählpassagen, in denen er zum Augenzeugen des Geschehens wird. 214
Vgl. dazu den exzellenten Beitrag von Perry, Literary Dynamics: How the Order of a Text Creates its Meaning, 1979, 35-61, 311-361. 215 Anders Dawsey, The Lukan Voice. Confusion and Irony in the Gospel of Luke, 1986, der den Erzähler des Lukasevangeliums als "unzuverlässig" qualifiziert.
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Dies geschieht in den so genannten 'Wir'-Passagen216 (Act 16,10-17; 20,5-15 217 ; 21,1-18; 27,1-28,16). Hier wird der extradiegetisch-heterodiegetische Erzähler der Acta zum homodiegetischen Erzähler.218 Er springt ganz unvermittelt "Mary Poppins-like", wie Sheeley es nennt, in die Handlung und wird als Paulusbegleiter zum Augenzeugen des Geschehens. Die vorherrschend extradiegetisch-heterodiegetische Erzählstimme wird plötzlich und unvermittelt zur homodiegetischen, das heißt zur Figur der Geschichte. Der Umfang dieser Passagen ist gemessen am Gesamtumfang der Acta oder gar des Doppelwerkes gering, es sind nur vier, teilweise wenige Verse umfassende Erzählpassagen. Zudem sind sie über insgesamt 13 Kapitel verstreut. Sie sind aber schon seit den Tagen der frühen Kirche sehr genau wahrgenommen worden und haben sicher nicht nur Irenäus von Lyon zu Spekulationen über den möglichen Verfasser angeregt. Auch in der Forschung haben sie die unterschiedlichsten Interpretationen erfahren.219 Die traditionelle Sichtweise liest mit Irenäus diese Passagen als authentische Augenzeugenberichte des Verfassers. Innerhalb des literarkritischen und redaktionsgeschichtlichen Paradigmas wurden die 'Wir'-Passagen vielfach als Bearbeitungen von 'Wir'-Quellen durch den Verfasser gedeutet. Vernon Κ. Robbins hat schließlich die Hypothese vertreten, dass der Verfasser hier eine antike Konvention für Seefahrtserzählungen verarbeitet hat. Diese These ist vielfältig kritisiert worden, unter anderem auch deshalb, weil nur zwei der vier 'Wir'-Passagen Seefahrtserzählungen sind (Act 21,1-18; 27,128,16). In jüngster Zeit sind die 'Wir'-Passagen zunehmend im Kontext narratologischer Methodik als erzählerisches Stilmittel in den Blick getreten.220 216
Vgl. die Untersuchungen von: Robbins, The We-Passages in Acts and Ancient Sea Voyages, 1975, 5-18; ders., By Land and By Sea: The We-Passages and Ancient Sea Voyages, 1978, 215-242; Pliimacher, Wirklichkeitserfahrung und Geschichtsschreibung bei Lukas. Erwägungen zu den Wir-Stücken der Apostel-geschichte, (1977), 2004, 85-108 (mit Nachtrag und ausführlichem aktualisiertem Literaturverzeichnis); Praeder, The Problem of First Person Narration in Acts, 1987, 193-218 (Praeder konstatiert in ihrem Beitrag, dass weder die quellen· und redaktionsgeschichtliche noch die vergleichende literaturgeschichtliche Analyse eine hinreichende Erklärung für die Wir-Passagen erbracht habe, ohne allerdings eine Perspektive zu eröffnen); Wehnert, Die Wir-Passagen der Apostelgeschichte. Ein lukanisches Stilmittel aus jüdischer Tradition, 1989; Tannehill, Unity I, 246f; Porter, The 'We' Passages, 1994, 545574 (mit Forschungsbericht). 217 Zwischen Vers 8 und Vers 13 wird die dritte Person Plural nicht explizit erwähnt, muss aber mitgedacht werden. 218 Das Phänomen einer Erzählung in der ersten Person Plural begegnet innerhalb der frühchristlichen Literatur noch im Joh 21; 2 Petr; Petrusevangelium und in weiteren apokryphen Texten. In der antiken Literatur war sie insgesamt verbreitet, vgl. dazu Wehnert, Wir-Passagen, 1989; Thornton, Zeuge des Zeugen, 1991. 219 Vgl. den ausgezeichneten Forschungsüberblicke von Praeder, The Problem of First Person Narration in Acts, 1987, 193-218; Sheeley, Getting into Act(s), 203-220: 204-207. 220 Zuletzt wurden die Wir-Passagen von Comils, La metalepse narrative dans les Actes des Apötres: un signe de narration fictionnelle?, 2005, narratologisch als Metalepse gefasst. Ältere Ansätze für eine narratologische Deutung der Wir-Passagen finden sich bei Walworth, Narrator, 1985, 34-36; Kurz, Narrative Approaches in Luke-Acts, 1987, 195-220: 215-219; ders., Reading Luke-Acts. Dynamics of Biblical Narrative, 1993, 111-124; Pervo, Profit with Delight, 1987, 57; Sheeley,Narrative Asides and Narrative Authority in Luke-Acts, 1988, 102-107; ders., Narrative Asides in Luke-Acts, 1992, 155-158; ders., Getting into the Act(s): Narrative Presence in the "We" Sections, 1999, 203-220; Tannehill, Unity II, 1990, 246-247;
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Denn unabhängig von der Beantwortung der historischen Frage stellt sich die Frage, welche narrativen Effekte dieses 'Wir' erzeugt, welche Erzählstrategie damit verfolgt wird.221 Hervorzuheben ist die Tatsache, dass der Erzähler hier vorgibt, am Geschehen beteiligt und damit Augenzeuge zu sein. Nicht umsonst sind diese Passagen häufig in dieser Weise rezipiert worden. 222 Aber ob sie nun authentisch sind oder nicht, eine Frage die niemals mit letzter Sicherheit beantwortet werden kann, ruft diese fingierte oder wirkliche Augenzeugenschaft eine zusätzliche Autorität des Erzählers auf. Im Prolog hat der Erzähler vorrangig die Autorität eines Historikers für sich formuliert und diese in seiner Erzählung demonstriert. Nun tritt, wenn auch untergeordnet, zum Ende der Erzählung die des Augenzeugen hinzu. Nach Robert Scholes und Robert Kellogg entspricht diese Hierarchie antiker Konvention, die den Bericht des Historikers höher wertete als den des Augenzeugen. 223 Unser Erzähler beansprucht also beide Autoritäten für sich, wobei das Schwergewicht auf der des Historikers liegt. Und nur am Rande sei bemerkt, dass es als Ehre unter hellenistischen Geschichtsschreibern galt, wenn ein Historiker "gleich Odysseus 'Gischt und Wogenschwall' [(Od. XII 219)] ertragen" hat. Mehr noch: Dies "sollte für jeden Historiker, der diese Bezeichnung wirklich verdiente, unumgängliche Verpflichtung sein"224. Auffällig bleibt, dass der Erzähler in den 'Wir'-Passagen, ebensowenig wie in den Prologen und auch sonst in der Erzählung, als Figur identifizierbar wird. Er geht in diesem 'Wir' als anonymer Begleiter auf, dessen primäres Charakteristikum darin besteht, dass er Paulus auf einigen seiner Reisen begleitete. Das ist die primäre Funktion dieses auktorialen 'Wir': Es versetzt den Erzähler in die Diegese. Als Figur erlebt er die Ereignisse als Augenzeuge mit und beansprucht damit die Autorität einer Autopsie. 25 Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass sich der extradiegetisch-heterodiegetische Erzähler als expliziter Erzähler erweist. Er charakterisiert sich selbst primär als Historiker (histor), nicht nur in seinem Prolog, wo er sein eigenes Erzählen in diesem Sinne kommentiert, sondern auch in der Erzählung der Geschichte selbst. Im Hinblick auf seine Erzählung inszeniert er sich als ein seinen Vorläuferinnen überlegener Historiker, der die umfassendste, akribischste und geordneteste Erzählung der Ereignisse vorlegt.
Darr, Narrator as Character: Mapping a Reader-Oriented Approach to Narration in Luke-Acts, 1993,43-60: 44. 221 Vgl. dazu auch Margolin, Telling Our Story: On 'We' Literary Narratives, 1996,115133. 222 Vgl. exemplarisch Thornton, Zeuge des Zeugen, 1991. 223 Scholes / Kellogg, Nature, 242ff. 224 So Plümacher, Wirklichkeitserfahrung und Geschichtsschreibung bei Lukas, 2004, 85-108: 103 (Verweise auf Polybios et al.: ebd. 100-104). 225 Unter rezeptionsästhetischen Gesichtspunkten, die, wie ich oben begründet habe, hier außen vor bleiben sollen, wäre zu überlegen, welche Wirkung die Wir-Passagen in dieser Hinsicht haben. So könnten sie als Einladungen an die Leserinnen interpretiert werden, an der Geschichte zu partizipieren, vgl. solche Überlegungen bei Tannehill, Unity II, 246; Kurz, Reading Luke-Acts, 111-124, und Darr, Narrator as Character: Mapping a Reader-Oriented Approach to Narration in Luke-Acts, 1993,43-60.
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Zudem schafft er eine explizite Kommunikationssituation zwischen sich und einem namentlich genannten Erzähladressaten. Als gründlicher Historiker und zuverlässiger Erzähler erweist er sich, indem er den Erzähladressaten mit Kommentaren durch die Erzählung begleitet, Umstände erklärt, Figuren evaluiert, die Ereignisse generalisiert und damit zugleich auch die Koordinaten seiner Welt entwirft. Zu seiner Autorität als Historiker tritt schließlich in der zweiten Hälfte des zweiten Buches die des Augenzeugen hinzu. Er hat nicht nur alles gründlichst recherchiert, sondern war auch streckenweise selbst dabei. Der Erzähler beansprucht für sich also eine doppelte Autorität, die des Historikers und die des Augenzeugen. Beide Autoritäten verbürgen Verlässlichkeit.
C. Die Erzählung
1. Zeit a) Erzählzeit und erzählte Zeit In der Erzählforschung hat Günther Müller 1948 erstmals die Bedeutung der Art der "Zeitfügung" in Erzählwerken benannt und in diesem Zusammenhang die schulbildende Unterscheidung von Erzählzeit und erzählter Zeit vorgenommen.227 Erzählzeit ist die Zeit, die es dauert, bis eine Erzählung erzählt oder vorgelesen ist. Dies ist freilich nicht auf die Sekunde festzulegen, aber es lässt sich eine ungefähre Vorstellung darüber machen, wie lange es dauert, das Corpus Lucanum vorzulesen. Im Kontrast dazu steht die Zeit, von der diese beiden Bücher in ihren 52 Kapiteln erzählen. Das ist die Zeit von der Ankündigung der Geburt des Johannes und Jesu bis zum zweijährigen Aufenthalt des Paulus in Rom. Diese Zeit umfasst einen Zeitraum von ungefähr 60 Jahren; dieser Zeitraum ist nach Müller die erzählte Zeit. Die Erzählzeit dagegen, die Zeit, die es dauert, das Corpus Lucanum vorzulesen, umfasst nur einen Tag. Werden noch die externen Analepsen und Prolepsen (s.u.) einbezogen, so reicht die erzählte Zeit des Doppelwerkes von der Weltschöpfung (Act 4,24) über die Menschenschöpfung (Lk 3,38; Act 17,26) und die Geschichte Israels von Abraham an (Act 7,2-47) bis zur weltweiten Verkündigung (Lk 24,47; Act 1,8; 28,28) und schließlich bis zur Parusie Christi und zum Täg des jüngsten Gerichts (Act 1,11; 3,20f.; 17,31).
226
Sheeley, Following Everything Closely: Narrative Presence in Luke 1-2, 1993, 100110; ders., Getting into Act(s), 1999, 203-220, hat die verschiedenen Erscheinungsformen des Erzählers der Corpus Lucanum in der Weise auf den Nenner gebracht, dass er als "director", "reporter" und "commentator" auftritt. Als 'director' wird er greifbar, indem er die notwendigen Informationen zum Aufbau der erzählten Welt gibt, indem er Szenen setzt und Figuren einfuhrt. Als 'reporter' ist er erkennbar, indem er Zusammenfassungen bietet und Einblicke in die Figuren gibt und als 'commentator' schließlich indem er die Ereignisse generalisiert. 227 Müller, Erzählzeit und erzählte Zeit, 1948, 269-286, 170.
Methodologische Grundlegung der Narratologie
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Die narratologische Analyse der Zeit untersucht nun, wie die erzählte Zeit im Erzählwerk gestaltet wird. Das maßgebliche methodologische Instrumentarium für diese Analyse hat - wie oben schon angedeutet - Gerard Genette bereitgestellt. Die Herausbildung von Analysekriterien zur Organisation der erzählten Zeit nimmt ungefähr die Hälfte seiner gesamten erzähltheoretischen Darlegungen ein.22 Sie sind durchgehend in der narratologischen Theoriebildung rezipiert worden. 229 Auch Genette rekurriert auf die von Müller vorgenommene Unterscheidung von Erzählzeit und erzählter Zeit und damit auf die Tatsache, dass die Erzählzeit der Gesamterzählung in der Regel nicht deckungsgleich mit der erzählten Zeit ist. Für zeitdeckendes Erzählen, das heißt die vollständige Übereinstimmung von Erzählzeit und erzählter Zeit eines Erzähltextes, die so genannte Isochrome, gibt es keine Beispiele in der Erzählliteratur. In Erzählwerken herrscht vielmehr immer eine je eigene Ökonomie der Zeit. Anhand erzählerischer Mittel und Kunstgriffe kann die erzählte Zeit in mehrfacher Hinsicht erzählerisch gestaltet werden. Genette unterscheidet drei Grundkategorien der Zeitfügung in einer Erzählung: Erstens die Ordnung der Zeit in der Erzählung. Dabei geht es um die Frage, in welcher Reihenfolge das Geschehen erzählt wird. Zweitens die Dauer bzw. Geschwindigkeit der Erzählung. Dabei geht es um die Frage, wie lange ein Ereignis erzählt wird. Und drittens die Frequenz. Dabei geht es um die Frage, wie oft ein Ereignis erzählt wird. Diese Anordnung Genettes verändere ich im Folgenden, indem ich die Kategorie der 'Dauer bzw. Geschwindigkeit der Erzählung' vorziehe. Im Rahmen der Erzählanalyse der Acta hat sich die vorrangige Betrachtung der Frage nach der 'Dauer bzw. Geschwindigkeit' der Erzählung als praktikabler erwiesen. 230 b) Dauer bzw. Geschwindigkeit der Erzählung Bei der Analyse der Dauer einer Erzählung geht es nach Genette um die Frage: Wie lange wird erzählt? Erzählungen halten sich wie oben schon angedeutet in der Regel nicht an die zeitliche Dauer des erzählten Geschehens. In Erzählungen wird im Normalfall immer wieder die Dauer des Geschehens durch erzählerische Mittel gekürzt (Summar), oder Zeitphasen der Geschichte werden übersprungen (Ellipse). Wenn die erzählte Zeit und die Zeit der Geschichte übereinstimmen, nennt das die Erzähltheorie zeitdeckendes Erzählen (Szene). Als vierte Variante begegnet noch die Möglichkeit, die Zeit der Geschichte anzuhalten, während die Erzählzeit voranschreitet (Pause). 231 228
Genette, Erzählung, (1972/1983), 1994, 21-114, 205-218. Hier kann jede beliebige Erzähltheorie seit 1972 zur Hand genommen werden, um das zu verifizieren. Zum Folgenden vgl. neben Genette v.a. Martinez / Scheffel, Einführung, 1999, 30-47, sowie den wichtigsten Vorläufer Genettes: Lämmert, Bauformen des Erzählens, 1955, 95-194. Für den biblisch-exegetischen Bereich gilt dasselbe, vgl. Funk, Poetics, 1988, 187-206; Ska, "Our Fathers Have Told Us", 1990, 7-15; Marguerat / Bourquin, Bible Stories, (1998), 1999, 85-100; Tolmie, NarTatology, 1999, 87-103. 230 So interessanterweise auch Marguerat / Bourquin, Bible Stories, 86ff. 231 Vgl. dazu und zum Folgenden Genette, Erzählung, (1972/1983), 1994, 61-80, 213215; Martinez / Scheffel, Einführung, 1999, 39-44. Für den biblisch-exegetischen Bereich s. Marguerat / Bourquin, Bible Stories, (1998), 1999, 86-89, sowie Funk, Poetics, 143-147. 229
Die Erzählung
101
Genette behandelt diese erzählerischen Phänomene in seinem Dicours du recit von 1972 noch unter dem Oberbegriff 'Dauer1. In seiner Revision im Nouveau Discours du recit von 1983 hat er ihn verändert und spricht nun von 'Geschwindigkeit' der Erzählung. Im Folgenden werde ich stets von 'Dauer bzw. Geschwindigkeit' sprechen, um solche Leserinnen, die nur mit der einen oder nur der anderen Bezeichnung vertraut sind, nicht zu verwirren. Festzuhalten ist, dass durch die Gestaltung der 'Dauer bzw. Geschwindigkeit' einer Erzählung sehr überraschende Effekte erzielt werden können. So können etwa eintausend Jahre in einem Satz erzählt werden oder ein Tag auf eintausend Seiten, wie in James Joyces Ulysses.232 Der Normalfall ist, dass ein mehr oder weniger schneller Wechsel von szenischem und summarischem Erzählen den narrativen Grundrhythmus von Erzählungen bildet. Das gilt auch für die Acta. Die vier Formen der Dauer bzw. Geschwindigkeit einer Erzählung seien im Folgenden kurz vorgestellt: (i) Szene In der Szene findet sich eine normale Geschwindigkeit, das heißt, die erzählte Zeit und Erzählzeit sind nahezu deckungsgleich. Zeitdeckendes Erzählen nimmt die Lesenden stärker ins Geschehen hinein und kann bei ihnen den Eindruck erwecken, als Augen- und Ohrenzeuginnen dem Geschehen beizuwohnen. Dabei gilt, dass die Aufmerksamkeit der Lesenden in besonderer Weise gefordert ist, wenn die Erzählung langsamer wird. Die Acta sind ausgeprägt durch szenisches Erzählen bestimmt. Das ist in der Forschung schon früh erkannt worden, und Ernst Haenchen hat dafür die Begriffe 'dramatische Szenentechnik' und 'dramatischen Episodenstil' geprägt.233 Erzähltheoretisch betrachtet ist es eine Form des Erzählens, welche die oben genannten Effekte erzielt. (ii) Summar In einem Summar, das in der Exegese traditionell Summarium heißt, herrscht eine schnelle Geschwindigkeit, das heißt die erzählte Zeit ist viel länger als die Erzählzeit. Anschauliche Beispiele dafür liefern die großen Summare der Acta (Act 2,42-47; 4,32-35; 5,12-16).234 An ihre Seite treten die kleinen Summare (Act 1,14; 4,4; 5,42; 6,7; 8,3; 9,31; 11,21; 12,24; 16,5; 19,20; 28,31), die in stark geraffter Form die erfolgreiche Ausbreitung der Botschaft berichten.235 Schon Haenchen hat erkannt, dies aber nicht weiter systemati232 In der deutschen Übersetzung der Suhrkamp Taschenbuchausgabe von 1996 sind es 988 Seiten. Die erzählte Zeit ist der 16. Juni 1904 von acht Uhr früh bis zum nächsten Morgen um drei Uhr. 233 Haenchen, Apostelgeschichte, 117, der auch darauf verweist, dass diese Erzähltechnik bei Vergil anzutreffen ist (zur Rezeption der Begriffe Haenchens s.o. I.D.). 234 Vgl. dazu Noorda, Scene and Summary. A Proposal for Reading Acts 4,32-5,16, 1979, 475-483; Co, The Major Summaries in Acts: Acts 2:42-47; 4,32-35; 5,12-16: Linguistic and Literary Relationships, 1992, 49-85. 235 Forschungsüberblicke zu den Summaren der Acta geben Haenchen, Apostelgeschichte, 194-197, sowie Zimmermann, Die Sammelberichte der Apostelgeschichte, 1961, 71-82; Wendel, Gemeinde in Kraft. Das Gemeindeverständnis in den Summarien der Apostelgeschichte, 1998, Iff. (vgl. hier auch die Hinweise auf alttestamentliche Summare [33-42] sowie Summare in der griechisch-römischen Geschichtsschreibung und bei Jospehus [43-52]; auf alle Evangelien und die Acta bezogen: Onuki, Sammelbericht als Kommunikation. Studien zur Erzählkunst der Evangelien, 1997, Iff (er vergleicht die neutestamentlichen Summare mit
Methodologische Grundlegung der Narratologie
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siert, d a s s s i e e i n A s p e k t der Z e i t f ü g u n g in der E r z ä h l u n g sind. S i e bieten d i e M ö g l i c h k e i t , "längere Z e i t r ä u m e darzustellen", e i n e Erzähltechnik, die, H a e n c h e n , "Lukas v o n M k gelernt" 2 3 6 habe (Lk 4 , 1 4 . 3 1 . 3 7 . 4 0 - 4 1 . 4 4 ;
so
5,15
u.ö.).237 E r z ä h l t e c h n i s c h d i e n e n S u m m a r e dazu, längere Zeiträume erzählerisch z u überbrücken u n d s o m i t d i e H a n d l u n g voranzutreiben. M i t i h n e n w e r d e n a u c h die s z e n i s c h erzählten E i n z e l e r e i g n i s s e v e r a l l g e m e i n e r t . 2 3 8 Z u g l e i c h indiziert der Erzähler damit, w e l c h e E r e i g n i s s e e s v e r d i e n e n , i m D e t a i l erzählt zu werd e n u n d w e l c h e in aller K ü r z e . 2 3 Beispiele für Summare der Acta: - ούτοι πάντες ήσαν προσκαρτεροΰντες ομοθυμαδόν τη προσευχή συν γυναιξιν και Μαριάμ τη μητρί τοϋ Ίησοϋ και τοις άδελφοϊς αύτοϋ. (Act 1,14) - Ή σ α ν δε προσκαρτεροΰντες ττ) διδαχή των άποστόλων καΐ τη κοινωνία, τη κλάσει τοΰ άρτου και ταΐς προσευχαϊς. έγίνετο δε πάση ψυχή φόβος, πολλά τε τέρατα και σημεία δια των αποστόλων έγίνετο. πάντες δε οί πιστεύοντες ήσαν επί τό αυτό και. ειχον άπαντα κοινά καΐ τά κτήματα και τάς ύπάρξεις έπίπρασκον και διεμεριζον αυτά πασιν καθότι άν τις χρείαν ε ί χ ε ν καθ' ήμέραν τε προσκαρτεροϋντες ομοθυμαδόν έν τω ίερφ, κλώντες τε κατ' οίκον άρτον, μετελάμβανον τροφής έν αγαλλιάσει και άφελότητι καρδίας α'ινοϋντες τον θεόν και 'έχοντες χάριν πρός όλον τον λαόν. ό δε κύριος προσετίθει τούς σωζομένους καθ' ήμέραν έπΐ τό αύτό. (Act 2,42-47) - Και ό λόγος τοΰ θεοϋ ηύξανεν και έπληθύνετο ό άριθμός των μαθητών έν 'Ιερουσαλήμ σφόδρα, πολύς τε όχλος των ιερέων ύπήκουον τη πίστει. (Act 6,7) (iii)
Ellipse
E l l i p s e wird a u c h Zeitsprung genannt, das heißt, e i n e Zeit der G e s c h i c h t e w i r d v o n der Erzählzeit übersprungen. D a b e i w e r d e n bestimmte lipsen unterschieden v o n unbestimmten
b z w . impliziten.
b z w . explizite
El-
In den u n b e s t i m m t e n
E l l i p s e n bleibt der Zeitraum, der übersprungen w o r d e n ist, u n b e s t i m m t . Er wird nicht benannt. In d e n b e s t i m m t e n b z w . e x p l i z i t e n E l l i p s e n w i r d der übersprungene Zeitraum angegeben. E i n B e i s p i e l für e i n e e x p l i z i t e E l l i p s e findet s i c h in der E r z ä h l u n g v o n H a n a n i a s u n d Saphira ( A c t 5 , 1 - 1 1 ) . D i e drei Stunden, d i e z w i s c h e n d e m T o d solchen in griechisch-römischen Biographien und Geschichtsschreibung sowie bei Josephus [81 ff]; die Hebräische Bibel bezieht er nicht ein). Mit Dibelius (Aufsätze, [1923], 1951, 15f.) und vielen anderen sind die Sammelberichte vielfach als Stilmittel zum Ersatz für nicht vorhandene zusammenhängende Traditionen zu den geschilderten Ereignissen interpretiert worden. Vgl. zu den Summaren der Acta und des Lukasevangeliums auch noch immer Cadbury, Summaries in Acts, 1933, 392-402; ders., Style, 108ff. (speziell zu den Summaren im Lukasevangelium). 236 So Haenchen, Apostelgeschichte, 115 A 1; s. auch die Ansätze für eine erzähltheoretische Deutung bei Noorda, Scene and Summary, 1979; Co, Major Summaries, 1992; sowie Onuki, ebd. zu den Summaren der Evangelien insgesamt (hier 66-73 zum Lukasevangelium und 130-134 zu den Acta). 237 Vgl. dazu die synoptischen Zusammenstellungen bei Cadbury, Style, 108ff. Zu den Summaren des Markusevangeliums s. grundlegend Egger, Frohbotschaft und Lehre. Die Sammelberichte des Wirkens Jesu im Markusevangelium, 1976. 238 Vgl. dazu auch Steichele, Vergleich der Apostelgeschichte, 63-66. 239 Rimmon-Kenan, Fiction, 98.
Die Erzählung
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des Hananias und der Ankunft Saphiras stehen, werden in Form einer expliziten Ellipse erzählt: "Nach etwa drei Stunden kam seine Frau" (Act 5,7). Mit einer impliziten Ellipse wird etwa die Szene von der Wahl des Matthias zum Nachfolger des Judas im Zwölferkreis eingeleitet (Act 1,15). Beispiele für explizite und implizite Ellipsen: - Και έν ταΐς ήμέραις ταύταις άναστάς Πέτρος έν μέσφ των αδελφών ε ΐ π ε ν ήν τε δχλος ονομάτων επί το αυτό ώσει εκατόν είκοσι - (Act 1,15) (implizit) (ähnlich Act 6,1; 11,27) - Έγένετο δε έπΐ την αυριον συναχθήναι αυτών τους αρχοντας καΐ τους πρεσβυτέρους και τους γραμματείς έν 'Ιερουσαλήμ, (Act 4,5) (explizit) - Έγενετο δε ώς ώρών τριών διάστημα και ή γυνή αύτοΰ μή είδυΐα το γεγονός είσήλθεν. (Act 5,7) (explizit) - τότε ήρώτησαν αυτόν έπιμειναι ημέρας τινάς. (Act 10,48) (implizit)
(iv) Pause
In einer 'Pause', auch 'toter Punkt' genannt, steht die erzählte Zeit still, während die Erzählzeit weiterläuft. Sie liegen in Beschreibungen (descriptions) oder Kommentaren (comments) vor. Bei Beschreibungen sind zwei Kategorien zu unterscheiden: Erstens Beschreibungen des setting (Geographie, Topographie, Architektur etc.) und zweitens Beschreibungen von Figuren, die immer auch Charakterisierungen sind. Des Weiteren liegen Pausen bei allen Sprechfunktionen der Erzählstimme vor, etwa in Kommentaren der Erzählerin. Beispiele zu den Erzählkommentaren sind oben bereits angeführt worden. Mit ihnen steht die erzählte Zeit der Geschichte still, während mit der Kommentierung (der Geschichte oder der Erzählung) die Erzählzeit weiterläuft. Erzählkommentare gehen folglich immer mit einer Verringerung der Geschwindigkeit der Erzählung auf Null einhand. Pausen zum Zweck der Kommentierung der Erzählung stellen, wie oben ausgeführt, die Prologe des Corpus Lucanum dar (Lk 1,1-4; Act 1,1). Der Erzähler spricht seinen Erzähladressaten direkt an und kommentiert sein Erzählen. Pausen zum Zweck der Kommentierung der Geschichte liegen etwa in Figurenbeschreibungen vor. So wird die Figur des Cornelius in einer erzählerischen Pause charakterisiert (Act 10,lf.): "In Cäsarea lebte ein Mann namens Cornelius, Hauptmann in der so genannten Italischen Kohorte; er lebte mit seinem ganzen Haus fromm und gottesfürchtig, gab dem Volk reichlich Almosen und betete beständig zu Gott." Erst nach dieser zwei Verse umfassenden Unterbrechung der erzählten Zeit der Geschichte zum Zwecke der Figurenbeschreibung läuft die erzählte Zeit ab Vers 3 weiter. Solche Figurenbeschreibungen in Form von Pausen begegnen häufig in den Acta (s.u. II.D.2.).240
240
Weitere Beispiele für Pausen sind etwa auch Genealogien (Lk 3,23-38; Mt 1,1-17).
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Dauer bzw. Geschwindigkeit der Erzählung Szene
Summar
Ellipse
Pause
Normale Geschwindigkeit,
Schnelle Geschwindigkeit,
Zeitsprung,
Toter Punkt,
d.h. die erzählte Zeit und Erzählzeit sind nahezu deckungsgleich
d.h. die erzählte Zeit ist schneller bzw. länger als die Erzählzeit
d.h. Zeit der Geschichte wird von der Erzählzeit übersprungen, eben nicht erzählt - bestimmt / explizit - unbestimmt / implizit
d.h. die erzählte Zeit steht still, während die Erzählzeit weiterläuft
Tabelle 12: Formen der Dauer bzw. Geschwindigkeit einer Erzählung Innerhalb der narratologischen Analyse ist also auch auf die Geschwindigkeit der Erzählung zu achten. 241 Solchen Erzählsequenzen, die mit einer geringen Geschwindigkeit erzählt werden, kommt dabei ein größeres erzählerisches Gewicht zu, als denen, die in zeitraffender Form erzählt werden. Grundsätzlich gilt also, dass auf Ereignisse bzw. Handlungsstränge, für die sich eine Erzählung besonders viel Zeit nimmt, auch ein besonderer Akzent gesetzt ist. c) Ordnung der Erzählung Eine weitere zentrale Frage zur Zeitordnung einer Erzählung lautet: In welcher Reihenfolge wird erzählt? 242 Genette geht von der Beobachtung aus, dass die Ereignisse der Erzählhandlung meist nicht in chronologischer Reihenfolge erzählt werden. Erzählungen arbeiten fast immer mit Anachronien, das heißt mit Unstimmigkeiten des Verhältnisses der Zeit, der Geschichte und der er-
241 Marguerat / Bourquin, Bible Storie, 1999, 87, haben eine grob gerasterte Geschwindigkeitsanalyse der Acta vorgenommen: "Kapitel 1-9 AD 30-32 9 Kapitel für 3 Jahre Kapitel 10-14 AD 32-48 5 Kapitel für 16 Jahre Kapitel 15,1-24,26 AD 48-53 10 Kapitel für 7 Jahre Kapitel 24,27 AD 54-55 1 Vers für 2 Jahre Kapitel 25,1-28,28 AD 56 3 Kapitel für 9 Monate (?) Kapitel 28,30-31 AD 57-58 2 Verse für 2 Jahre". Diese könnte bis ins Detail hinein ausdifferenziert werden. So erzählen die ersten zwei Kapitel Ereignisse, die sich an drei Tagen innerhalb von zwei Monaten zugetragen haben. Vielfach werden in Acta auch Tagesstunden präzise angegeben (Act 3,1; 5,7; 10,3.9; 23,23 u.ö.). 242 Vgl. zum Folgenden Genette, Erzählung, (1972/1983), 1994, 21-59.205-211; Martinez / Scheffel, Einführung, 1999, 32-39, die im Wesentlichen auf Genette rekurrieren sowie Lämmert, Bauformen, 1955, 95-194. Für den biblisch-exegetischen Bereich vgl. Funk, Poetics, 1988, 187-206; Ska, "Our Fathers Have Told Us", 1990, 8; Marguerat / Bourquin, Bible Stories, (1998), 1999, 89-96.152; Tolmie, Narratology, 1999, 87-93. Zu Prolepsen im Ersten Testament s. insbesondere auch den ausgezeichneten Beitrag von Koenen, Prolepsen in alttestamentlichen Erzählungen: Eine Skizze, 1997,456-477.
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zählten Zeit. 243 So werden Ereignisse, die gleichzeitig geschehen, nacheinander erzählt. Oder Ereignisse, die vor der erzählten Handlung geschehen sind, können durch Rückwendungen aus der Vergangenheit geholt werden, und was in Bezug auf die Haupthandlung in der Zukunft geschieht kann vorausgesagt werden in Form von Vorausdeutungen. Letztere begegnen sowohl im Erzählerbericht wie auch in der Figurenrede. Von diesen erzählerischen Möglichkeiten wird im Corpus Lucanum reichlich Gebrauch gemacht. 244 Anachronie ist also eine Durchbrechung der natürlichen Zeitfolge der Ereignischronologie bei der Reihenfolge erzählter Ereignisse. Sie kann in zwei verschiedenen Formen auftreten. Erstens in Form einer Rückwendung (Lämmert) bzw. Analepse (Genette) (engl, flashback) sowie zweitens in Form einer Vorausdeutung (Lämmert) bzw. Prolepse (Genette) (engl, foreshadowing). Martinez und Scheffel definieren prägnant: "In der Form der Analepse wird ein Ereignis nachträglich dargestellt, das zu einem früheren Zeitpunkt stattgefunden hat als dem, den die Erzählung bereits erreicht hat; in der Form der Prolepse wird ein noch in der Zukunft liegendes Ereignis vorwegnehmend erzählt. Unterteilt man die Zeitachse der erzählten Handlung in drei chronologisch aufeinander folgende Ereignisse A, B, C, sieht die Form der beiden Erzählverfahren so aus: Analepse: Β A C Prolepse: A C B."245 In beiden Fällen können weitere Präzisierungen vorgenommen werden. Zum einen im Hinblick auf ihre Reichweite. Bezieht sich die Analepse oder Prolepse auf ein Ereignis, das in den in der Hauptgeschichte behandelten Zeitabschnitt gehört, dann wird von interner Analepse oder Prolepse gesprochen, bezieht sie sich auf einen Zeitabschnitt, der außerhalb des Zeitabschnitts der Hauptgeschichte liegt, dann handelt es sich um eine externe Analepse oder Prolepse. Beide Formen können auch gemischt auftreten, also extern einsetzen und intern enden. Im Folgenden werden nur solche Analepsen oder Prolepsen als extern bezeichnet, die über die Geschichte des gesamten Corpus Lucanum hinausweisen. Ein Beispiel für eine externe Analepse findet sich in der Rede des Stephanus. Er erzählt rückblickend die Geschichte Israels von Abraham an (Act 7,2-53a). Erst im letzten Halbvers (Act 7,53b) wird auch die Tötung Jesu in diesen Rückblick einbezogen, womit die externe Analepse zu einer gemischten, also einer externen und internen wird. Eine eindeutig externe Prolepse liegt in der Vorausdeutung der Wiederkunft Christi vom Himmel her vor (Act 1,11). Die Vorausdeutung, dass die Verkündigung der Buße zur Vergebung der Sünden unter allen Völkern in Jerusalem beginnen wird, ist dagegen eine eindeutig interne Prolepse (Lk 24,47). Sie wird am Ende des Lukasevangeliums und ähnlich am Erzählbeginn der Acta (Act 1,8) vorausgedeutet und schließlich im zweiten Kapitel der Acta erzählt (Act 2). 246
243 Zum Phänomen der Achronie, das heißt einer Erzählung, die ohne eine zeitliche Einordnung der Ereignisse erzählt, s. Genette, Erzählung, 54ff. Sie ist für die vorliegende Untersuchung irrelevant. 244 Zum Lukasevangelium vgl. vor allem auch von Bendemann, ΔΟΞΑ und ΣΤΑΥΡΟΣ, 2001, oder etwa Häuser, Strukturen, 1979, im Hinblick auf das Schlusskapitel der Acta. 245 Vgl. Martinez / Scheffel, Einführung, 1999, 33. 246 Vgl. zum Problem auch Parsons, Departure, 85.
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Eine weitere Präzisierung der Analepsen und Prolepsen kann im Hinblick auf ihren Umfang vorgenommen werden. So werden komplette und partielle Analepsen oder Prolepsen unterschieden. Komplett sind sie, wenn die Einschübe lückenlos an die Gegenwart der erzählten Geschichte heranreichen bzw. lückenlos von ihr ausgehen. Eine komplette Analepse liegt in der Erzählung des Petrus von den Taten Jesu bis zur Ausgießung des Geistes vor (Act 2,22-33). Partiell dagegen sind sie, wenn das - wie in den meisten Fällen nicht gegeben ist.247 Lämmert nimmt über Genette hinaus noch weitere Unterscheidungen vor. Er unterscheidet auftauende und auflösende Rückwendungen. Schon seit der Antike werden zwei Grundformen des Beginns von Erzählungen unterschieden. Dies ist zum einen der unmittelbare Einstieg mit einer Szene, der so genannte in medias res-Beginn, oder zum anderen der Beginn ab ovo, das heißt die Geschichte wird von Anfang an erzählt. Beispiele für den ab ovoBeginn im Neuen Testament sind das Matthäus- und das Lukasevangelium, die beide die Geschichte Jesu von Anfang an erzählen und mit den Umständen der Geburt der Protagonisten Johannes und Jesus einsetzen. Lämmert unterscheidet im Zusammenhang mit dem in medias res-Beginn die so genannte aufbauende Rückwendung.248 Sie hat die Funktion, nach einer Eingangsszene in Form eines Einschubes eine Art Exposition nachzureichen, anhand derer die Hintergründe einer noch unvermittelt erzählten Situation entwickelt werden. Hier werden Informationen etwa über die Vorgeschichte handelnder Personen gegeben. Den Gegensatz zur aufbauenden Analepse bildet die auflösende Rückwendung.249 Sie findet sich meist am Ende einer Erzählung und dient der Ergänzung eines lückenhaft erzählten Geschehens. Ein anschauliches Beispiel dafür sind Kriminalromane, an deren Ende sich häufig das Geschehen in einem neuen Licht zeigt und sich der Fall aufklärt. Des Weiteren sei noch die einführende Vorausdeutung erwähnt, sie findet sich in Buchtiteln, Inhaltsangaben, Vorreden und Kapitelüberschriften. Ein Beispiel dafür ist Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausens Simplicissimus (1668/71). Der Titel lautet: "Der abentheuerliche Simplicissimus Teutsch / Das ist: Die Beschreibung deß Lebens eines seltzamen Vaganten / genant Melchior Sternfels von Fuchshaim / wo und welcher gestalt Er nemlich in diese Welt kommen / was er darinn gesehen / gelernt / erfahren und außgestanden / auch warumb er solche wieder freywillig quittirt (...)".250 Eine knappe einführende Vorausdeutung dieser Art findet sich auch im Corpus Lucanum im Prolog. Dort wird erwähnt, dass es in der Diegese um die Ereignisse geht, die sich unter uns erfüllt haben (περί των πεπληροφορημένων έν ήμΐν πραγμάτων) (Lk 1,1). Bei den Vorausdeutungen, die sich auf ein Geschehen beziehen, das im Augenblick des Erzählens der Zukunft angehört, unterscheidet Lämmert weitere Fälle. So die zukunftsgewisse Vorausdeutung.251 Hier macht eine all247
Eine partielle Analepse liegt in der Odyssee vor: Während Eurykleia den gealterten Odysseus an seiner Narbe wiedererkennt, wird in Rückwendung sein Leben erzählt. 248 Vgl. Lämmert, Bauformen, 1955, 104-108. 249 Vgl. ebd. 108-112. 250 Nach Martinez / Scheffel, Einführung, 1999, 37. 251 Lämmert, Bauformen, 143-175.
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wissende Erzählerin oder eine als zuverlässig geltende Figur der Geschichte aus einem größeren zeitlichen Abstand heraus die Lesenden zu Mitwissenden der Zukunft der erzählten Geschichte. Solche zukunftsgewisse Vorausdeutungen im Corpus Lucanum sind vor allem Worte Jesu, die sich auf die Zukunft beziehen (Lk 5,10b; Lk 9,22.44; 10,11.12; 13.33.34f.; 18,31-33; 19,43f.; 21,6.8-28; 22,34; 24,47-49; Act 1,5.8; 9,15-16; 23,11) sowie Vorausdeutungen von Engeln (etwa Lk 1,13-17.20; 31-33.35; Act 1,11; 27,23-24) oder des Paulus (Act 19,21; 28,28).252 Darüber hinaus gibt es noch den Typ der zukunftsungewissen Vorausdeutung, die sich stets auf den Wahrnehmungshorizont einer am Geschehen beteiligten Figur beschränkt, denn gewöhnlich kann keine Figur mit letzter Gewissheit eine Aussage über die Zukunft treffen.253 Ausnahmen in biblischen Erzählungen bilden wie oben schon angedeutet freilich die Vorausdeutungen, die aus dem Munde Gottes, Jesu, eines Engels oder wahrer Prophetinnen ergehen. Der Ort zukunftsungewisser Vorausdeutungen ist die Rede oder das Denken von Figuren. Dazu gehören Prophezeiungen sowie Träume, Wünsche oder Ängste, welche die Zukunft betreffen. Die Funktionen von Analepsen und Prolepsen müssen im Einzelfall bestimmt werden.254 Dabei ist bei Analepsen zu fragen, ob sie Kontinuität und damit Kohärenz von Vergangenheit und Gegenwart markieren sollen oder einen Bruch beschreiben. Ihre Reichweite (extern, intern, gemischt) sowie ihre Funktionen (aufbauend, auflösend) sind zu prüfen. Des Weiteren ist zu ermitteln, ob sie von der Erzählstimme selbst oder von Figuren vorgenommen werden und ob sie als zukunftsgewiss oder zukunftsungewiss zu verstehen sind. Zukunftsungewisse Vorausdeutungen bauen eine Spannung im Hinblick darauf auf, ob sie sich erfüllen oder nicht. Bei Prolepsen kann dann im Einzelnen untersucht werden, ob sie ein Konzept der Endzeit enthalten oder was sie sonst über die Zukunft aussagen. Aufs Ganze gesehen ist nach der Funktion von Anachronien zu fragen.
252
So auch Hauser, Abschlußkapitel, 176. Lämmert, Bauformen, 1955, 175-192. 254 S. dazu und zum Folgenden auch Marguerat / Bourquin, Bible Stories, (1998), 1999, 90-94, 152. 253
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Ordnung / Anachronien Def.: Durchbrechungen der natürlichen Zeitfolge der Ereignischronologie bei der Reihenfolge erzählter Ereignisse. Analepse / Rückwendung /flashback Prolepse / Vorausdeutung /
foreshadowing Β AC Def.: Nachgeholte Information über ein Ereignis, das in der natürlichen Zeitfolge der Ereignischronologie zurückliegt. - intern versus extern oder gemischt - komplett versus partiell - aufbauend - auflösend
ACB Def.: Vorwegnahme einer Information über ein Ereignis, das in der natürlichen Zeitfolge der Ereignischronologie erst später eintritt.
- zukunftsgewiss versus zukunftsungewiss - einführend
Tabelle 13: Ordnung / Anachronien in Erzählungen
d) Frequenz bzw. Häufigkeit der Erzählung Als dritten Aspekt der Zeitgestaltung hat Genette die Kategorie der Frequenz - in der Grammatik Aspekt - in die Erzähltheorie eingebracht.255 Es geht um die Frage: Wie oft wird erzählt? Die Häufigkeit, in der Ereignisse erzählt werden, wird durch die so genannte Frequenz reguliert. So kann ein Ereignis einmal erzählt (singulative Erzählung) oder wiederholt erzählt werden (repetitive Erzählung) oder aber es wird nur ein einziges Mal erzählt, was sich unzählige Male ereignet hat (iterative Erzählung). Folgende drei Erscheinungsformen sind also zu unterscheiden: (i) Die singulative oder singuläre Erzählung Singulative Erzählung heißt "einmal erzählen, was einmal passiert ist"256. Diese Form des Erzählens begegnet in der Literatur am häufigsten.257 Für das Corpus Lucanum stellt sich hier wieder das Problem, dass es aus zwei Büchern besteht. Was in dem einen Buch singulativ erzählt wurde, kann im zweiten Buch wiederholt erzählt werden. Ein Beispiel dafür ist die Erzählung der Himmelfahrt Jesu, sie ist in beiden Büchern je eine singulative Erzählung (Lk 24,50f.; Act 1,9). Da es sich aber um ein Doppelwerk handelt, kann diese Erzählung aufs Ganze gesehen nicht als singulativ gelten. Singulative Erzählungen der Acta sind etwa die Nachwahl des Matthias (Act 1,15-26), die Ausgießung des Geistes am Pfingsttag in Jerusalem (Act 2), die Heilung des Gelähmten durch Petrus im Tempel in Jerusalem (Act 3,1-10), die Kontrasterzählung über Barnabas, Hananias und Saphira (Act 4,36-5,11) - und viele mehr. 255 Zum Folgenden vgl. Genette, Erzählung, (1972/1983), 1994, 81-114, 217f.; Martinez / Scheffel, Einführung, 1999, 45-47. Für den biblisch-exegetischen Bereich vgl. Marguerat / Bourquin, Bible Stories, (1998), 1999,96-99, 152f.; Tolmie, Narratology, 99-101. 256 Genette, Erzählung, (1972), 1994, 82. 257 So auch in der Bibel, vgl. Tolmie, Narratology, 100.
Die Erzählung
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(ii) Die repetitive Erzählung Repetitive Erzählung heißt "n-mal erzählen, was einmal passiert ist"259. Beispiele aus den Acta ist das Ereignis des Todes und der Auferweckung Jesu (Act 3,15.26; 4,10; 13,30; 17,3), das immer und immer wieder erzählt wird, oder etwa die Berufung des Paulus, die insgesamt dreimal erzählt wird (Acta 9, 22, 26). Diese Form der Frequenz wird in der Erzählanalyse auch 'funktionale Redundanz' oder'echo effect' genannt.259 Funktionale Redundanz ist eine Erzähltechnik der Wiederholung und Variation, die dazu dient, die Rezeption einer Botschaft zu sichern. Sie hat ähnliche Funktionen wie die Wiederholung von Meinungsäußerungen in einer Unterhaltung. In solchen Kontexten werden Statements reforxnuliert, um sie zu klären, hervorzuheben oder zusammenzufassen.260 Es können fünf Haupt261 funktionen der Redundanz bzw. Variation unterschieden werden: Erstens, die Funktion der Ausweitung oder Ergänzung (expansion or addition), zweitens die der Auslassung (truncation or ellipsis), drittens die des Wechsels der Anordnung (change of order), viertens die der grammatikalischen Veränderung (grammatical transformation), etwa dem Wechsel zwischen Aktiv und Passiv, und fünftens die der Substituierung (substitution). Unter diesen Gesichtspunkten sind repetitive Segmente einer Erzählung sehr genau zu vergleichen. Auf diese Weise kann herausgearbeitet werden, welche Effekte mit den Wiederholungen erzeugt werden. Insgesamt gilt für Wiederholungen: Je häufiger ein Einzelereignis erzählt wird, desto stärker wird es betont. Die Acta sind in besonderer Weise durch Wiederholungen geprägt. So setzt ihre Erzählung mit der Wiederholung der Erzählung eines Ereignisses ein, das bereits im ersten Buch erzählt wurde: der Erhöhung Jesu (Act 1,9-11; vgl. Lk 24,51-52) (s.u. III.A.l.). Die Petrus-Cornelius-Erzählsequenz ist ebenfalls ausgeprägt durch Wiederholungen geprägt und wird selbst wiederholt erzählt (Act 10,1-11,18; 15,7-11) (s.u. III.B.l.) oder die wiederholte Erzählung des so genannten Aposteldekrets (Act 15,20.29; 21,25) (s.u. III.B.2.). Funktionale Redundanz ist eine die Acta beherrschende Erzähltechnik, die Tannehill als typischen Kompositionsmodus in den Acta bezeichnet.262 (iii) Die iterative Erzählung Iteratives erzählen heißt, "einmal (oder besser: ein einziges Mal) erzählen, was n-mal passiert ist"263 bzw. "einmal erzählen, was sich wiederholt ereignet hat".264 Mit dieser Erzählweise werden gerne Verhaltensmuster von Figuren gezeigt, so etwa, wenn es heißt, das die Eltern Jesu jedes Jahr zum Paschafest nach Jerusalem gingen (Lk 2,41) oder die Christusgläubigen in Jerusalem Tag 258
Ebd. Vgl. dazu grundlegend Suleiman, Redundancy and the "Readable" Text, 1980, 119142. Zu Formen der Redundanz im Neuen Testament und in der antiken Rhetorik vgl. u.a. Nida et al, Style and Discourse, 23-33; Sternberg, Poetics of Biblical Narrative, 365-444. 260 So auch Sternberg, ebd. 368. 261 Ebd. 391f. mit biblischen Beispielen. 262 Tannehill, Composition of Acts 3-5, 1984, 217-240: 237-240; ders., Unity II 74-77 (hier vor allem zu ihrer Funktion). 263 Genette, Erzählung, (1972), 1994, 83. 264 Martinez / Scheffel, Einführung, 1999,46. 259
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Methodologische Grundlegung der Narratologie
für Tag im Tempel einmütig verharrten, in ihren Häusern das Brot brachen und miteinander Mahl hielten, Gott lobten und beim Volk beliebt waren (Act 2,46-47). Frequenz / Häufigkeit Def.: Die Beziehung zwischen der Häufigkeit, in der sich ein Ereignis zugetragen hat, und der Häufigkeit, in der es erzählt wird. singulative Erzählung repetitive Erzählung iterative Erzählung 1 durch 1
1 wiederholt
Ν durch 1
Tabelle 14: Frequenz / Häufigkeit der Erzählung
2. Modus Unter der Kategorie Modus werden in der vorliegenden Untersuchung solche erzählerischen Mittel behandelt, welche die Distanz der Lesenden zum Geschehen regulieren. Durch bestimmte Formen der Erzählung von Ereignissen und Worten kann die Distanz scheinbar verringert oder erhöht werden. Erzähltheoretisch gesprochen sind die beiden äußersten Punkte der Skala der so genannte dramatische Modus (trad, showing oder mimesis) und der so genannte narrative Modus (trad, telling oder diegesis).265 Die Grundunterscheidung mimesis versus diegesis geht auf Piaton zurück, der im dritten Buch des Staates (Politeia 392c-394b) zwei erzählerische Modi unterscheidet, nämlich den der 'mittelbaren' und den der 'unmittelbaren Wiedergabe'. 266 In der 'mittelbaren Rede' will der Dichter gar nicht den Eindruck erwecken, dass ein anderer als er der Redende ist, was Piaton die 'reine Erzählung' (haple diegesis) nennt. In der 'unmittelbaren Rede' dagegen will der Dichter die Illusion erzeugen, dass nicht er es ist, der redet, sondern die eine oder andere Figur, wenn es sich um gesprochene Worte handelt. Diese Erzählweise nennt Piaton dann 'Nachahmung' (mimesis). In diesem Fall wird die Distanz zum Erzählten verringert, es wird eine Art 'Realitätseffekt' erzeugt, wie es Roland Barthes nennt. 267 Solche Erzählpartien sind häufig durch direkte Rede, Detailreichtum, ja durch überflüssige Details und zeitdeckendes Erzählen gekennzeichnet. Den Lesenden oder Hörenden wird der Eindruck vermittelt, der Szene selbst beizuwohnen. Es steht keine Erzählerin zwischen den Figuren der Erzählung und den Lesenden. Während Piaton dazu tendierte, die diegesis als die angemessene Erzählung zu bewerten, kehrte sich das in der Moderne um, denn in dieser galt in Anlehnung an Henry James, dass eine Erzählung ihre Geschichte nicht in erster Linie 'erzählen', sondern 'zeigen' 265 S. zum Folgenden v.a. Genette, Erzählung, (1972/1983), 1994, 115-132, 219-234; Pfister, Drama, (1977), 1988, 276ff.; Chatman, Story, 1978 (die Einzelaspekte des Modus finden sich verteilt über die Kapitel vier und fünf); Bai, Narratology, 19972, 3Iff.; Bonheim, The Narrative Modes: Techniques of the Short Story, 1982; Rimmon-Kenan, Fiction, 1983, 106-116; Martinez / Scheffel, Einführung, 1999, 47-63. Für den biblisch-exegetischen Bereich vgl. Funk, Poetics, 1988, 133-161; Ska, "Our Fathers Have Told Us", 1990, 65-79. Vgl. dazu auch de Jong, Narrators and Focalizers, 1-5. 267 Barthes, L'effet du reel, 1968, 84-89 (engl.: The Reality Effect, 1982, 11-17).
Die Erzählung
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soll. Von solchen Wertungen ist die zeitgenössische Erzähltheorie abgerückt. Hier erfolgten vor allem sehr präzise Unterscheidungen zwischen den unterschiedlichen Präsentationsformen (Modi) der Erzählung. Unter der Kategorie Modus geht es also um die verschiedenen Präsentationsformen der Erzählung. Dabei ist das plausible Modell Genettes leitend für meine Darstellung. Die Kategorie 'Modus' umfasst in Genettes Erzähltheorie zwei Aspekte. Erstens den Aspekt der Distanz, das heißt wie mittelbar oder unmittelbar eine Erzählung vermittelt wird. Und zweitens den Aspekt der Perspektive, der so genannten Fokalisierung, das heißt die Frage, aus wessen Blickwinkel die Erzählung vermittelt wird. Genette fasst treffend zusammen: "Die Erzählung kann den Leser auf mehr oder weniger direkte Weise mehr oder weniger detailliert informieren und so (...) eine mehr oder weniger große Distanz zu dem, was sie erzählt, zu nehmen scheinen; sie kann den Informationsfluß aber auch anders regulieren: nicht durch diesen etwas einförmig-quantitativen Filter, sondern so, daß sie sich die eine oder andere in die Geschichte involvierte Figur (oder Figurengruppe) mit ihren je spezifischen Erkenntnisvermögen herausgreift und deren 'Sicht' oder 'Blickwinkel' übernimmt oder zu übernehmen vorgibt, womit sie (...) diese oder jene Perspektive gegenüber der Geschichte einzunehmen scheint."268 Damit sind die wichtigsten Aspekte benannt, die nach Genette den Modus einer Erzählung bestimmen. Dies sind der Aspekt der 'Distanz' und der der 'Perspektive' bzw. genauer, der der 'Fokalisierung'. Genette macht hier deutlich, wie eng benachbart die beiden Kategorien der 'Distanz' und der 'Fokalisierung' sind. Das ist auch der Grund, warum sie gemeinsam unter dem Oberbegriff Modus behandelt werden. 269 Mit Genette soll die Frage nach der Distanz der Erzählung unter den Aspekten a) der Distanz in der Erzählung von Ereignissen, b) der Distanz in der Erzählung von Worten und c) der Distanz in der Erzählung von Gedanken behandelt werden. Es sei angemerkt, dass die Analysekriterien in der Erzählung von Worten und Gedanken bei weitem stärker erzähltheoretisch ausdifferenziert worden sind als in der Erzählung von Ereignissen. a) Die Erzählung von Ereignissen Bei der Erzählung von Ereignissen kann von einem 'dramatischen Modus' und entsprechender 'Unmittelbarkeit' bzw. 'mimetischer Illusion' in nicht so klarer Weise gesprochen werden, wie bei der Erzählung von Worten und Gedanken. Die Erzählung nichtverbaler Ereignisse werde ich im Folgenden Erzählerbericht nennen. 270 Für diesen gelten die oben bereits entfalteten Formen: szenische Darstellung (Szene) und Bericht im Zeitraffer (Summar). 268
Genette, Erzählung, (1972), 1994, 115. Die unterschiedlichen Zuordnungen von Modus und Fokalisierung zu den Erzählebenen innerhalb der verschiedenen Erzähltheorien zeigen, wie eng die Aspekte der Erzählung ineinander verwoben sind. Bai, Narratology, und Rimmon-Kenan, Fiction, ordnen Modus der Ebene text / narration zu (in der vorliegenden Untersuchung die Ebene des Erzählens) und Fokalisierung der Ebene der story / text (in der vorliegenden Untersuchung die Ebene der Erzählung) zu. Chatman, Story, rechnet Aspekte des Modus seiner Ebene des discourse zu (in der vorliegenden Untersuchung die Ebene des Erzählens), die Kategorie der Fokalisierung gibt es bei ihm nicht. 270 Auch Häuser, Strukturen, 171, spricht von "Erzählerbericht". 269
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Eine summarische bzw. raffende Erzählweise erzeugt eine größere Distanz zum Geschehen. Der Eindruck einer geringen Distanz zum Geschehen dagegen wird im 'dramatischen Modus' vor allem durch szenische Darstellung hergestellt. Hinzu kommen im dramatischen Modus weitere Faktoren: - das Zurücktreten der Erzählstimme, der Verzicht auf Kommentare und Leserinnenanreden, - das Einnehmen der Wahrnehmungsperspektive einer oder mehrerer Figuren (interne Fokalisierung, s.u.), - detailreiches Erzählen in Kombination mit zeitdeckendem Erzähltempo. Den Detailreichtum einer Erzählung hat Barthes zum Gegenstand seines Aufsatzes L'effet du riel von 1968 gemacht.271 Er hat darin gezeigt, dass vor allem sinnlos scheinende Details, also solche, die beim Hören oder Lesen der Geschichte befremden, weil sie nichts zur Entwicklung der Geschichte beitragen, in besonderer Weise geeignet sind, eine Illusion der Realität zu erzeugen. Die Vielzahl der in den Acta genannten Orte erzeugt ebenfalls den Effekt, dass Leserinnen glauben, dass nur ein Erzähler, der diese Orte kennt (eyewitness) oder darüber zuverlässige Informationen besitzt (histor), davon erzählen kann.272 Ein weiteres anschauliches Beispiel ist die szenische Erzählung der Schiffsreise des Paulus von Cäsarea nach Rom und seines Schiffbruchs vor Malta273, in der die Nennung zahlreicher Details aus dem Bereich der Seefahrt auffallen (Act 27,1-28,13). Es sind also vier wesentliche Charakteristika des dramatischen Modus der Erzählung von Ereignissen festzuhalten: Die Vorherrschaft der Szene, das Zurücktreten der Erzählerin, interne Fokalisierung und Detailreichtum.275
271
Vgl. oben Anm. 267. Dieser Befund ist vor allem auch auffällig im Vergleich mit der Nennung von Orten in den antiken Romanen. Diese führen zwar zahlreiche Orte auf, aber bei weitem nicht so viele wie die Acta. S. den Vergleich des Gebrauchs von Toponymen vor allem in Acta 13-28 mit dem in Werken Charitons und Xenophons: Alexander, Narrative Maps: Reflections on the Toponyms of Acts, 1995, 17-57. Für Alexander dient dieser Vergleich auch ihrer These, dass die Acta damit der "factual, pragmatic periplous tradition" näher steht als dem antiken Roman, s. ebd. 45 (zur Debatte um die Gattungsfrage der Acta vgl. zuletzt Wedderburn, Zur Frage der Gattung der Apostelgeschichte, 1996, 303-321; Jervell, Apostelgeschichte, 1998, 76-79). 273 Zu der Frage, um welche Insel es sich in Act 28,1 handelte, vgl. abschließend Wehnen, Gestrandet. Zu einer neuen These über den Schiffbruch des Apostels Paulus auf dem Weg nach Rom (Apg 27-28), 1990, 67-99; ders., "... und da erfuhren wir, daß die Insel Kephallenia heißt". Zur neuesten Auslegung von Apg 27-28 und ihrer Methode, 1991, 169180. 274 Alexander, Narrative Maps, 43, nennt es a "sense of realism". 275 Genette, Erzählung, (1972), 1994, 118. 272
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Beispiel für einen Erzählerbericht im dramatischen Modus (Act 27,27-32): Charakteristika: - szenisches Erzählen - interne Fokalisierung - Detailreichtum - Verzicht auf Erzählerkommentare
27 Ώς öe τεσσαρεσκαιδεκάτη νύξ έγένετο διαφερομένων ήμών εν τω Άδρία, κατά μέσον της νυκτός ύπενόουν ο'ι ναϋται προσάγει ν τινά αύτοϊς χώραν. 28 και βολίσαντες εύρον όργυιάς είκοσι, βραχύ δε διαστήσαντες και πάλιν βολίσαντες εύρον όργυιάς δεκαπέντε· 29 φοβούμενοι τε μή που κατά τραχείς τόπους έκπέσωμεν, έκ πρύμνης ρίψαντες αγκύρας τέσσαρας ηυχοντο ήμέραν γενέσθαι. 30 Των δε ναυτών ζητούντων φυγείν έκ τοΰ πλοίου και χαλασάντων την σκάφη ν εις την θάλασσαν προφάσει ώς έκ πρωρης άγκύρας μελλόντων έκτείνειν, 31 είπεν ό Παύλος τω έκατοντάρχη και τοις στρατιώταις· έάν μή ούτοι μείνωσιν έν τφ πλοίω, ύμεις σωθήναι ού δύνασθε. 32 τότε απέκοψαν οί στρατιώται τά σχοινία της σκάφης και ε'ίασαν αύτήν έκπεσεΐν.
b) Distanz in der Erzählung von Worten Im Zusammenhang der Analyse der Erzählung von Worten und Gedanken sind für die Verästelungen der Erzählung von Worten und Gedanken in der modernen Literatur sehr detaillierte Unterscheidungen vorgenommen worden, die für biblische Erzählungen nicht alle relevant sind. 276 Drei wesentliche Unterscheidungen sind für die Analyse der Erzählung von Worten und Gedanken im Neuen Testament virulent: Das ist erstens - im 'narrativen Modus' - der Redebericht bzw. die 'erzählte Rede', zweitens - in der Mittelzone zwischen dem narrativen und dem dramatischen Modus - die 'transponierte Rede' und drittens - im dramatischen Modus - die direkte Rede bzw. 'zitierte Rede'. Diese drei grundsätzlichen Wiedergabeformen von Worten und Gedanken, Gefühlen oder Wahrnehmungen, lassen sich wie folgt weiter präzisieren: (i) Redebericht (bzw. erzählte Rede) Die erzählte Rede einer Figur bzw. der Redebericht 277 (narrative report of speech), wie ich ihn nennen möchte, gehört dem narrativen Modus an. Er ist geprägt durch große Distanz zum Erzählten. Dies ist besonders dann der Fall, wenn der sprachliche Akt nur noch erwähnt wird, ohne dass sein Inhalt wiedergegeben wird. In der Regel wird der Inhalt der Rede mehr oder minder kurz zusammengefasst. Der Redebericht wird auch verwendet, wenn die gerafft berichteten Tatbestände bereits bekannt sind. Kleine Redeberichte werden auch oft der direkten oder der indirekten Rede eingefügt, auch um eine längere Gesprächsdauer plausibel zu machen. 278
276 Vgl. dazu Cohn, Narrated Monologue: Definition of a Fictional Style, 1966, 97-112; Fillmore, Pragmatics and the Description of Discourse, (1976), 1981, 143-166; McHale, Free Indirect Discourse: A Survey of Recent Accounts, 1978, 249-287; Chatman, Story, 161-195; Fludernik, The Fictions of Language and the Language of Fiction. The Linguistic Representation of Speech and Consciousness, 1993 . 277 Vgl. Lämmert, Bauformen, 235. 278 Ebd.
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Beispiele für den reinen Redebericht: - tote νηστεύσαντες και προσευξάμενοι και έπιθέντες τάς χείρας αύτοις απέλυσαν. (Act 13,3) - ίδόντες δε οί 'Ιουδαίοι, τους δχλους έπλήσθησαν ζήλου καΐ άντέλεγον τοις υπό Παύλου λαλουμένοις βλασφημοΰντες. (Act 13,45) - Π α ϋ λ ο ς εΰχαριστήσας τω θεώ ... (Act 28,15b) Beispiele für Redeberichte, in welchen der Inhalt kurz zusammengefasst wird: — ... οίς έξετίθετο διαμαρτυρόμενος την βασιλείαν τοΰ θεοΰ, πείθων τε αυτούς περί τοΰ Ίησοΰ άπό τε τοΰ νόμου Μωΰσέως και των προφητών, άπό πρωΐ έως εσπέρας. (Act 28,23b) - ... κηρύσσων την βασιλείαν τοΰ θεοΰ και διδάσκων τά περί τοΰ κυρίου Ίησοΰ Χριστού μετά πάσης παρρησίας άκωλύτως. (Act 28,31)
(ii) Die transponierte Figurenrede (indirekte Rede und erlebte Rede) Die transponierte Figurenrede befindet sich in der Mittelzone zwischen narrativem und dramatischem Modus. Sie heißt transponierte Rede, weil sie in der Regel von der ersten Person (Singular oder Plural) Indikativ Präsens in die dritte Person (Singular oder Plural) Indikativ Imperfekt 'transponiert' wurde. Es sind zwei Formen zu unterscheiden: a) Die indirekte Rede (indirect speech), mit der zwar alles gesagt werden kann, was die direkte Rede enthält, wobei aber die Lesenden nicht mitgeteilt bekommen, wie die gesprochenen Worte im Einzelnen gelautet haben. Indem die Erzählstimme die Rede eines anderen in die eigene integriert, geht der individuelle Stil der Figurenrede verloren. Im Neuen Testament ist sie nicht so häufig anzutreffen wie im klassischen Griechisch oder mehr noch bei den lateinischen Schriftstellerinnen.279 Wenn sie denn anzutreffen ist, springt sie häufig bald in die direkte Rede über, "im Klass. gewöhnlich durch Einschub eines εφη er sagte oder eines δτι recitativum, im NT häufig auch ohne entsprechende Kennzeichen"280. Das ist im Corpus Lucanum häufiger zu beobachten (Lk 5,14; Act 1,4; 14,22; 17,3; 23,22; 25,4-5). Der umgekehrte Fall, der Wechsel von direkter Rede in indirekte Rede begegnet nur einmal (Act 23,24).281 Im Neuen Testament begegnet fast ausschließlich die indirekte Rede im weiteren Sinne.282 Sie wird gebildet in Form abhängiger "Behauptungs- (Lk 22,70), Begehrungs- (Mk 6,8) und Fragesätze (Jh 18,21; Lk 18,36) sowie entsprechende^) Inf./Acl-Konstruktionen (Apg 5,36; Lk 5,14), die formal (direkt) abhängig sind von Ausdrücken des Sagens (oder Denkens)"283.
279
S. Blass / Debrunner/ Rehkopf, Grammatik, 2001, § 470. Hoffmann / von Siebenthal, Grammatik, § 274c. 281 Vgl. schon Haenchen, Apostelgeschichte, 90. 282 Näheres zur indirekten Rede im engeren Sinn vgl. Hoffmann / von Siebenthal, Grammatik, § 274e. 283 Haubeck / von Siebenthal, Schlüssel, II, 1994,497. 280
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Beispiel für indirekte Rede in einem abhängigen Behauptungssatz: - είπαν δε πάντες· σϋ οΰν ei ό υιός τοΰ θεοΰ; ό δε προς αύτοΰς εφη· ΰμεΐς λέγετε ότι εγώ d i u . (Lk 22,70) Beispiel für indirekte Rede in einem abhängigen Begehrungssatz: - και παρηγγειλεν αύτοις ί ν α μηδέν α'ίρωσιν εις όδόν el μη ράβδον μόνον, μη αρτον, μη πήραν, μη εις την (ώνην γαλκόν ( M k 6 , 8 ) Beispiel für indirekte R e d e in einem abhängigen Fragesatz: - άκουσας δε δ χ λ ο υ διαπορευομένου έπυνθάνετο τι ε ΐ η τοΰτο. (Lk 18,36)
Beispiele für abhängige Inf./Acl.-Konstruktionen: - και αύτός παρηγγειλεν αύτφ μηδενΐ ειπείν, άλλα άπελθών δεΐξον σεαυτόν τώ ίερει και προσένεγκε περί τοϋ καθαρισμού σου καθώς προσεταξεν Μωϋσής, είς μαρτύριον αύτοΐς. ( L k 5 , 1 4 ) (im Anschluss Fortsetzung durch direkte Rede) - προ γαρ τούτων των ήμερων άνέστη Θευδάς λέγων ειναί τίνα εαυτόν, y προσεκλίθη ανδρών αριθμός ώς τετρακοσίων... (Act 5,36) - ός παραγενόμενος και ίδών την χ ά ρ ι ν [την] τοΰ θεού, έχάρη και παρεκάλει πάντας τη προθέσει της καρδίας πρόσμενε ι ν τώ κυρίω, (Act 11,23) Beispiele für den Übergang von indirekter Rede zu direkter Rede: - και Συναλιζόμενος παρηγγειλεν αύτοΐς άπό 'Ιεροσολύμων μή γωρί(εσθαι άλλα περιμενειν την έπαγγελίαν τοϋ πατρός ήν ήκούσατέ μου (Act 1,4) - έπιστηρίζοντες τάς ψυχάς τών μαθητών, παρακαλοϋντες εμμένει ν τη πίστει κα'ι ότι δια πολλών θλίψεων δει ήμάς είσελθεΐν εις την βασιλείαν τοϋ θεοϋ. (Act 14,22) - ... διανοίγω ν και παρατιθέμενος οτι τον Υριστόν 'έδει παθεΐν κα'ι άναστηναι εκ νεκρών και οτι ουτός έστιν ό y ρ ιστός [όΐ Ίησοΰς όν εγώ καταγγέλλω ΰ μ ΐ ν . (Act 17,3)
β) Die erlebte Rede284 (free indirect speech oder free indirect style, style indirect libre) ist eine Zwischenform zwischen direkter und indirekter Rede.285 Sie bezeichnet eine Erzählweise, bei der die Rede oder die Gedanken einer Figur in Anlehnung an deren Diktion (Idiolekt) vom Erzähler im jeweils aktuellen Erzähltempus erzählt werden. Auch die Pronomina bleiben der jeweiligen Erzählsituation angepasst. Linguistisch steht diese Figurenrede im Indikativ und ist von keinem übergeordneten Verb abhängig. Sie benötigt kein verbum dicendi als Einleitung. Stanzel spricht treffend von einer "'Ansteckung' der Erzählersprache durch Figurensprache"286.
284
Cohn nennt sie "erzählten Monolog", s. dazu Lucius, Jahre, 1998, 3f. passim. Vgl. zur erlebten Rede auch Lämmert, Bauformen, 235f.; Stanzel, Theorie des Erzählens, 248ff.; Antor, Erlebte Rede, 1998, 127. 286 Stanzel, Theorie des Erzählens, 248. 285
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Der Wechsel zur erlebten Rede ist im Neuen Testament zuweilen am ιδού zu erkennen, welches zugleich die figurale Fokalisierung unterstreicht.287 Beispiele im Corpus Lucanum sind etwa die figuralen Näherbestimmungen der Engel, die als erlebte Rede wiedergegeben werden (Lk 24,4; Act 1,10; 10,22.30). Im Erleben der Jüngerinnen sind die Engel "Männer mit leuchtenden Gewändern" (Lk 24,4) oder mit "weißen Gewändern" (Act 1,10), im Erleben des Gesandten des Cornelius ist der Engel ein "heiliger Engel" (Act 10,22), in dem des Cornelius "ein Mann in einem leuchtenden Gewand" (Act 10,30). Der Erzähler selbst dagegen spricht neutral nur von "Engel" (vgl. Lk 1,13; 1,19; 1,30; 1,35, 1,38; 2,10; 22,43; Act 10,7; 12,8; 12,10 u.ö.) oder von "Engel des Herrn" (Lk 1,11; 2,9; Act 5,19; 8,26; 12,23 u.ö.), wenn er Engel erwähnt. In der Szene der Begegnung von Petrus und Johannes mit Simon Magus ist Simons Beobachtung, dass der Geist durch (διά) die Handauflegung der Apostel vermittelt wird, nicht Erzählermeinung (Act 8,15-24). Vielmehr verrät die direkte Rede des Simon sein magisches Missverständnis (Act 8,19).288 So wird auch in einer anderen Erzählung der Geistverleihung durch Handauflegung im Erzählerbericht das διά vermieden (Act 19,6), es wird ausdrücklich als Gebetshandlung geschildert. Ein weiteres Beispiel für erlebte Rede in den Acta ist die Erzählung der Behandlung des gefangenen Paulus durch den Hauptmann Julius auf der Reise nach Rom (Act 27,Iff.). Im Erzählerbericht heißt es, dass Julius in Sidon Paulus "wohlwollend behandelte und ihm erlaubte, zu seinen Freunden zu gehen und sich versorgen zu lassen" (Act 27,4). Der Gebrauch des Begriffs der "Freunde" statt des üblichen "Geschwister" oder "Jüngerinnen" in der Erzählerrede deutet an, dass diese sich hier des Idiolekts, das heißt des hellenistischen Vokabulars des Julius bedient, der selbst φίλος einer religiösen Gemeinschaft gewesen sein wird, und damit aus dem Erleben des Julius erzählt.289
287 Weitere Beispiele für 'erlebte Rede' im Neuen Testament bringen Pax, Spuren sog. "erlebter Rede" im Neuen Testament, 1963-1964, 339-354; Haacker, Fälle von "erlebter Rede", 1970, 70-77; zur erlebten Rede in der Hebräischen Bibel vgl. Weiß, Einiges über die Bauformen des Erzählens in der Bibel, 1963,456-475. 288 Vgl. auch Haacker, Fälle. 289 Zu diesen und weiteren Beispielen vgl. Haacker, Fälle, sowie Pax, Spuren.
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Beispiele für erlebte Rede: - κ α ι έγενετο ev τω άπορεισθαι αύτάς περί τούτου και Ιδού άνδρες δύο επέστησαν αύταΐς εν έσθήτι άστραπτούση. (Lk 24,4) — και ώς ατενίζοντες ήσαν εις τον ούρανόν πορευομένου αύτοΰ, καΐ Ιδού άνδρες δύο παρειστήκεισαν αύτοΐς έν έσθήσεσι λευκαΐς, (Act 1,10) — και ό Κορνήλιος εφη· από τετάρτης ημέρας μέχρι ταύτης της ώρας ήμην την ένάτην προσευχόμενος έν τω οίκω μου, καΐ Ιδού άνήρ έστη ενώπιον μου έν έσθητι λαμπρά (Act 10,30) — Ιδών δε ό Σίμων δτι δια της έπιθέσεως των χειρών τών άποστόλων δίδοται τδ πνεϋμα, προσήνεγκεν αύτοΐς χρήματα (Act 8,18) — τη τε ετέρα κατήχθημεν εις Σιδώνα, φιλανθρώπως τε ό 'Ιούλιος τω Παύλφ χρηοάμενος έπέτρεψεν προς τούς φίλους πορευθέντι έπιμελείας τυχεΐν. (Act 27,3)
(iii) Die zitierte Figurenrede (direkte Rede und autonome direkte Rede) Die zitierte Rede gehört dem dramatischen Modus an; es ist die direkte Wiedergabe einer Figurenrede. Sie begegnet in der Regel in der Form der 'direkten Rede' (direct speech) oder auch in der selteneren 'autonomen direkten Figurenrede' (free direct speech), die im Gegensatz zur direkten Rede ohne verbum dicendi eingeleitet wird.290 Diese "Rede dramatischen Typs wurde, angefangen mit Homer, zur Grundform der Dialoge (und Monologe) in Epos und Roman (...), und Piatons Plädoyer zugunsten des rein Narrativen blieb um so wirkungsloser, als Aristoteles schon kurz darauf erfolgreich und mit großer Autorität die Überlegenheit des rein Mimetischen behauptet hat", schreibt Genette zur Genese dieser Form.291 Im Griechischen wird die direkte Rede nach Ausdrücken des Sagens (λέγω, α π ο κ ρ ί ν ο μ α ι usw.) im Wortlaut entweder unmittelbar (asyndetisch, das heißt ohne VerbindungsWörter) oder aber sehr häufig mit δτι recitativum, welches im Deutschen dem Doppelpunkt mit Anführungszeichen entspricht, angeführt. Beispiele für die asyndetische direkte Rede (Act 22,28): απεκριθη δε ο χιλιαρχος· εγω πολλοϋ κεφαλαίου έκτησάμην. ό δε Παύλος έφη· εγώ δε και γενέννημαι.
την
Beispiel für die Einleitung der direkten Rede mit δτι recitativum
πολιτειαν
ταυτην
(Lk l,24f):
Μετά δέ ταύτας τάς ημέρας συνέλαβεν Ελισάβετ ή γυνή αύτοΰ και περιέκρυβεν έαυτήν μήνας πέντε λέγουσα δτι ούτως μοι πεποίηκεν κύριος έν ήμέραις αις έπεΐδεν άφελεΐν δνειδός μου έν άνθρώποις.
Auch die Form der autonomen direkten Rede ist in den Acta anzutreffen (Act 2,38; 5,9; 9,11; 26,27). Schon Haenchen hat auf diese Spielart der direkten Rede ohne verbum dicendi in den Acta hingewiesen und dieses Stilmittel als 290 291
S. dazu Genette, Erzählung, (1972), 1994, bes. 228f.; McHale, Discourse, 1978, 259. Genette, Erzählung, (1972), 1994, 123.
Methodologische Grundlegung der Narratologie
118
Versuch des Verfassers "der Lebhaftigkeit einer Szene gerecht zu werden" gedeutet. 292 Erzählanalytisch gesprochen wird durch dieses Mittel die Distanz zum Geschehen verringert und die Lesenden werden Augen- und Ohrenzeuginnen. Beispiele f ü r autonome direkte Rede: - ό δε Πέτρος προς αύτη ν τι δτι συνεφωνήθη ύ μ ΐ ν πειράσαι τό πνεύμα κυρίου; ίδοί) οί πόδες των θαψάντων τον ανδρα σου επί τη θύρα και εξοίσουσίν σε. (Act 5,9) - ό δε κύριος προς α υ τ ό ν άναστάς πορεύθητι έπί την ρύμην την καλουμένην Εύθεϊαν και ζήτησον έν οικία 'Ιούδα Σαΰλον ονόματι Ταρσέα - Ιδού γαρ προσεύχεται (Act 9,11)
Die Form der direkten Rede ist in den Acta vorherrschend. Sie ist in zahlreichen Statements, kleineren und größeren Dialogen und vor allem auch in den zahlreichen großen Reden der Acta anzutreffen. 293 Nach Haenchen machen allein die Reden "von den rund 1000 Versen des Buches 300 aus", also knapp ein Drittel des Umfangs der Acta. 294 Den Figuren einer Erzählung Reden in den Mund zu legen, ist schon seit der antiken Rhetorik als Erzähltechnik der verschiedensten Erzählgattungen bekannt und praktiziert worden. Es ist die Erzähltechnik der Prosopopoiie (lat. sermocinatio) 295 , die sehr verbreitet war. 296 In den Reden der Acta lässt sich auch beobachten, dass diese teilweise einer spezifischen Diktion folgen, so etwa die Missionsreden dem biblischen Stil der Septuaginta nachempfunden sind (Act 2,14-39; 3,12-26). 297 c) Distanz in der Erzählung von Gedanken Was für die Erzählung von Worten entfaltet wurde, gilt analog für die Erzählung von Gedanken. Auch hier gibt es drei Grundformen: Gedankenbericht, transponierte und direkte Wiedergabe von Gedanken. Insgesamt gilt, dass
292
Haenchen, Apostelgeschichte, 90. S. dazu zuletzt Soards, The Speeches in Acts. Their Content, Context, and Concerns, 1994 (diese Studie verzichtet gänzlich auf traditionsgeschichtliche Fragen). Zur älteren Forschung vgl. grundlegend Dibelius, Aufsätze, (1949), 1951, 120-162; Wilckens, Die Missionsreden der Apostelgeschichte, (1961), 3. Überarb. u. erw. Aufl. 1974. Vgl. auch Powell, Acts?, 1991, 30-32, und die Skizze der Forschungsgeschichte zu den Reden von Jervell, Apostelgeschichte, 1998, 67-72. 294 Haenchen zitiert nach Kümmel, Einleitung, 135; Jervell, Apostelgeschichte, 67. Zum Vergleich sei die Ilias angeführt: In ihr sind etwa 45 % des Gesamttextes Reden, so De Jong, Narrators and Focalizers, 1989, x. 295 Vgl. Theon, Progymnasmata II, 115-118: Pen Prosopopoiias; Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, 1990, 407-411. 296 Vgl. dazu Plümacher, Lukas, 1972, 32-79; Kurz, Hellenistic Rhetoric in the Christological Proof of Luke-Acts, 1980, 171-195; Güttgemanns, In welchem Sinne ist Lukas "Historiker"?, 1983, 9-26. Zur Prosopopoiie in der Moderne vgl. Menke, Prosopopoiia. Stimme und Text bei Brentano, Hoffmann, Kleist und Kafka, 2000. 297 Zum Ganzen vgl. Plümacher, Lukas, 32-79; Roloff, Apostelgeschichte, 1981, 10f.; Steyn, Septuagint Quotations in the Context of the Petrine and Pauline Speeches of the Acta Apostolorum, 1995. 293
Die Erzählung
119
nicht nur Gedanken, sondern auch Wahrnehmungen und Gefühle der Figuren in diesen Formen erzählerisch wiedergegeben werden können. (i) Gedankenbericht (bzw. erzählte Gedanken) und Psycho-Narration Der 'Gedankenbericht' (psycho-narration, discours narrativise interieur)29S ist die Wiedergabe von Gedanken einer Figur durch die Erzählstimme analog zum Redebericht. Es handelt sich hierbei um die indirekteste Form der Bewusstseinsdarstellung von Figuren. Da der Gegenstand solcher 'Gedankenberichte' häufig nicht nur Gedanken, sondern auch Gefühle und Wahrnehmungen sind, hat Dorrit Cohn in ihrer Studie Transparent Minds299 vorgeschlagen, treffender von Psycho-Narration (Bewusstseinsbericht) zu sprechen. Mit dieser Bezeichnung können auch Vorgänge im Bewusstsein der Figuren wiedergegeben werden, die jenseits von klar formulierten Gedanken liegen.300 Im Folgenden werde ich in der Regel von Gedankenbericht sprechen. Eingeleitet wird der Gedankenbericht durch verba credendi. Der Gedankenbericht ist immer in den Erzählerbericht integriert. Beispiele für Gedankenberichte und Psycho-Narration in den Acta: - Άκούσαντες & κατενύγηοαν την καρδίαν ειπόν τε προς τον Πέτρον και τους λοιπούς αποστόλους· τί ποιήσωμεν, άνδρες αδελφοί; (Act 2,37) - Οί δε άκούσαντες διεπριοντο και έβοΰλοντο άνελεΐν αύτούς. (Act 5,33) - Άκούοντες δε ταϋτα διεπριοντο ταΐς καρδίαις αυτών και εβρυγον τους οδόντας έπ' αυτόν. (Act 7,54) - Ώς δε έν εαυτφ διηπόρει ό Πέτρος τί αν ε ΐ η το όραμα ό είδεν (Act 10,17) - ος παραγενόμενος και ίδών την χάριν [την] τοϋ θεοΰ, έ/άρη ... (Act 11,23)
(ii) Transponierte Gedanken: Erzählter innerer Monolog Die transponierten Gedanken einer Figur befinden sich analog zur transponierten Figurenrede in der Mittelzone zwischen narrativem und dramatischem Modus. Sie heißen transponierte Gedanken, weil sie in der Regel von der ersten Person (Singular oder Plural) Indikativ Präsens in die dritte Person (Singular oder Plural) Indikativ Imperfekt 'transponiert' wurden. Sie werden 'erzählter innerer Monolog' (narrated monologue / free interior monologue / free indirect style / indirect thought) genannt.3 1 Ska arbeitet auch mit der Bezeichnung free indirect perception, damit erfasst er begrifflich solche Wiedergaben, die sich auf Gefühle und sonstige Wahrnehmungen der Figuren beziehen.302 In meine Definition von 'erzähltem inneren Monolog' sind aus-
298
S. dazu und zum Folgenden auch Löschnigg, Gedankenbericht, 181. Vgl. Cohn, Transparent Minds, 21-57 (s. dazu Lucius, 20 Jahre Transparent Minds: Dorrit Cohns Beitrag zur Theorie der Erzählung, 1998). 300 Dafür gibt es aber in der antiken Literatur wohl keine Belege, so auch Scholes / Kellogg, Nature, 181. Aber vielleicht wurden sie auch nur noch nicht entdeckt. 301 Zum Vorkommen des Inneren Monologes in der antiken Literatur vgl. Scholes / Kellogg, Nature, 178ff.: "Some authors who developed and exploited the monologue in the ancient world are Homer, Apollonius Rhodius, Vergil, Ovid, Longus, and Xenophon of Ephesus" (178). Scholes und Kellogg sprechen durchgehend von "interior monologue", ohne, wie ich im Folgenden, zwischen erzähltem und zitiertem inneren Monolog zu unterscheiden. 302 Ska, "Our Fathers Have Told Us", 72 passim. 299
120
Methodologische Grundlegung der Narratologie
drücklich auch Wiedergaben von nichtgedanklichen Figurenwahrnehmungen aufgenommen. Der erzählte innere Monolog nähert sich stark an die vollständige Präsentation der Gedanken einer Figur an. Der Erzähler eignet sich die Stimme der Figur an, beide werden vermischt und sind daher teilweise auch schwer unterscheidbar. Es bleibt ein bestimmter Grad an Mittelbarkeit erhalten, so dass sich eine gewisse Distanz zur erlebenden Figur ergibt. Linguistisch ist der erzählte Monolog erkennbar an verba credendi sowie an den Wendungen wie "zu sich selbst" oder "in ihren Herzen" sprechen.303 B e i s p i e l e für 'erzählten inneren M o n o l o g ' : - Προσδοκώντος δε του λαού και δ ι α λ ο γ ι σ μ έ ν ω ν πάντων εν τ α ΐ ς καρδίαις αυτών περί τοϋ 'Ιωάννου, μήποτε αΰτος ε ΐ η ό χριστός, (Lk 3 , 1 5 ) - Ώ ς δε έπληροϋτο αΰτω' τεσσερακονταετής χρόνος, άνέβη έπι την καρδίαν αύτοϋ έπισκέψασθαι τους άδελφοΰς αυτοΰ τους υ'ιοϋς 'Ισραήλ. ( A c t 7 , 2 3 )
(iii) Zitierte Gedanken: Innerer Monolog Die Form des zitierten 'inneren Monologes' (interior monologue / direct thought, monologue interieur)i0A präsentiert am direktesten die Gedanken, Wahrnehmungen und Gefühle einer Figur. Die Funktion dieses narrativen Verfahrens ist es, den Einblick in die Gedanken und Gefühle einer Figur so realistisch wie möglich zu gestalten. Linguistisch wird er eingeleitet mit verba declarandi, dicendi, credendi und wie beim erzählten Monolog durch Wendungen wie "zu sich selbst" und "in ihren Herzen" sprechen. Die Gedanken der Figur werden im Präsens und in der direkten Rede der ersten Person dargestellt, womit die Präsenz einer vermittelnden Erzählstimme gänzlich ausgeschaltet wird. Im inneren Monolog hören wir die Stimme der Figur. Die Distanz zur Figur geht fast auf Null.
303
Vgl. auch Belegstellen dafür aus dem Alten Testament bei Ska, "Our Fathers Have Told Us", 68. 304 Antor, Innerer Monolog, 235: "Wie die erlebte Rede wird auch der i.M. eingesetzt, um die Komplexität mentaler Abläufe im Denken fiktionaler Charaktere möglichst realistisch zu evozieren. Dabei werden insbes. beim i.M. auch Regeln der Grammatikalität und der Kohärenzlogik überschritten, wenn z.B. der teils fragmentarische und chaotisch assoziative Charakter menschlichen Denkens dargestellt wird. So können im i.M. syntaktisch unvollständige Sätze und Wortsequenzen ebenso auftauchen wie Aneinanderreihungen von Begriffen, die keine konventionell sinnhafte Abfolge ergeben, da sie die innere Assoziationskette einer fiktionalen Figur darstellen." Das sicher berühmteste Beispiel ist der innere Monolog der Molly Bloom am Ende von James Joyces Ulysses.
Die Erzählung
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Beispiele für '(zitierten) inneren Monolog': — ήσαν δε τίνες των γραμματέων έκεϊ καθήμενοι και διαλογιζόμενοι kv τα'ις καρδίαις αύτών τί ούτος ούτως λαλεί; βλασφημεί' τις δύναται, άφιέναι αμαρτίας ει μή εις ό θεός; (Mk 2,6-7). — Ιδών δε ό Φαρισαΐος ό καλέσας αυτόν ειπεν εν έαυτω λ έ γ ω ν ούτος ει ήν προφήτης, έγίνωσκεν αν τις και ποταπή ή γυνή ήτις απτεται αύτοΰ, δτι αμαρτωλός έστιν. (Lk 7,39) 305 — Και ό Πέτρος εν έαυτω γενόμενος ε ι π ε ν νΰν οίδα αληθώς ότι έξαπέστειλεν [ό] κύριος τον αγγελον αύτοΰ και εξείλατό με εκ χειρός Ήρωδου και πάσης τής προσδοκίας τοϋ λαοϋ των Ιουδαίων. (Act 12,11) A n der f o l g e n d e n Tabelle lässt sich ablesen, w i e der narrative M o d u s abnimmt zugunsten des dramatischen mit zunehmender W i e d e r g a b e v o n direkter R e d e und G e d a n k e n v o n Figuren. A n g e s i c h t s der zahlreichen R e d e n in den A c t a ist somit das Vorherrschen des dramatischen M o d u s in den A c t a zu konstatieren. Worte (Rede) Redebericht
N A R R A T I \ 'ER M O D U S
Gedanken und Psycho-Narration Gedankenbericht
i
indirekte Rede erlebte Rede
erzählter Monolog
direkte Rede autonome direkte Rede
DRAMATIS 5CHER MODUS
innerer Monolog / zitierte Gedanken
Tabelle 15: Erzählung von Worten und Gedanken d)
Fokalisierung
E i n weiterer A s p e k t des M o d u s , der Informationsregulierung in der Erzählung, ist d i e Regulierung der Perspektive auf das G e s c h e h e n , die s o genannte Fokalisierung. 3 0 6 Fokalisierung meint i m W e s e n t l i c h e n den Grad der Ein305
Vgl. dazu von Bendemann, Liebe und Sündenvergebung, 179. Vgl. zum Konzept der Fokalisierung Genette, Erzählung, (1972/1983), 1994, 132149; 241-244; Stanzel, Theorie des Erzählens, 19792, 149-239; Bai, Narratology, 19972, 142161; dies., The Narrating and the Focalizing: A Theory of the Agents in Narrative, 1983, 234269; dies., Narration and Focalization, (1977, 1983), 1991, 75-108; dies., The Laughing Mice or: On Focalization, 1981, 202-210; Rimmon-Kenan, Narrative Fiction, 1983, 71-85; Berendsen, The Teller and the Observer: Narration and Focalization in Narrative Texts, 1984, 140158; Toolan, Narrative, (1988), 20012, 59-63; Kablitz, Erzählperspektive - point of view focalization. Überlegungen zu einem Konzept der Erzähltheorie, 1988, 237-255; Nünning, "What is Point of View of the Story?" Literaturdidaktische Hinweise für die Praxis der Erzähltextanalyse, 1992, 38-44; ders., 'Point of view' or focalization'? Über einige Grundlagen und Kategorien konkurrierender Modelle der erzählerischen Vermittlung, 1990, 249-268 (Forschungsbericht); Jahn, Windows of Focalization: Deconstructing and Reconstructing a Narratological Concept, 1996, 241-267; Martinez / Scheffel, Einführung, 1999, 63-67; Nün306
122
Methodologische Grundlegung der Narratologie
schränkung des Blickfeldes bzw. des Blicks auf das Geschehen. Die Leitfrage bei der Analyse der Fokalisierung lautet: Durch wessen Augen nehmen wir die Ereignisse wahr, die uns erzählt werden?307 Fokalisierung kann in einer Erzählung häufig wechseln. Mit Genette werden drei Typen unterschieden:308 (i) Nullfokalisierung Findet keine Einschränkung des Blickfeldes statt, was bei einer allwissenden Erzählstimme der Fall ist, spricht Genette von 'Nullfokalisierung' (NF). In diesem Fall weiß die Erzählerin alles und kann alles ohne eingeschränkte Perspektive erzählen. Das ist vor allem dann leicht erkennbar, wenn die Erzählstimme in die Gefühle und Gedanken einzelner Figuren Einblick hat. Es liegt keine spezifische Einschränkung des Blickfeldes vor. (ii) Interne Fokalisierung Eine Einschränkung des Blicks erfolgt dagegen, wenn das Geschehen aus der Perspektive einer Figur und die Welt in deren perspektivischer Brechung wahrgenommen wird. Dann spricht Genette von einer 'internen Fokalisierung' (IF), es kann aber auch von figuraler bzw. aktorialer Fokalisierung309 oder einem character-focalizer310 gesprochen werden.311 Innerhalb der internen Fokalisierung hat Genette verschiedene Varianten unterschieden. Er spricht von fester Fokalisierung, wenn so gut wie nie der Blickwinkel einer und derselben Figur verlassen wird. Wenn die Welt beispielsweise nur aus der Perspektive eines kleinen Mädchens wahrgenommen wird wie in Henry James' What Maisie knew. Verbreiteter ist die variable Fokalisierung; in diesem Fall wird die erzählte Welt aus der Perspektive verschiedener Figuren wahrgenommen. Multiple Fokalisierung liegt vor, wenn dasselbe Ereignis von mehreren Figuren aus je eigener Perspektive geschildert und interpretiert wird, wie etwa in Briefromanen, wo dasselbe Ereignis von verschiedenen Briefschreiberlnnen wahrgenommen wird. In den Acta ist dieser Typ interner Fokalisierung mehrfach anzutreffen, so etwa, wenn die Geschichte Israels von verschiedenen Figuren erzählt wird, etwa von Stephanus (Act 7,2-53) und von Paulus (Act 13,17-25) oder die Vision des Cornelius einmal von seinen Gesandten, einmal von diesem selbst und einmal von Petrus erzählt wird (Act 10,22.30-32; 11,13-14). Die Erzählungen der- bzw. desselben Ereignisses variieren in der Wahrnehmung der unterschiedlichen Figuren und können so von verschiedenen Seiten interpretiert und akzentuiert werden (s.u. III.A.B.).
ning / Nünning, "Multiperspektivität - Lego oder Playmobil, Malkasten oder Puzzle?" Grundlagen, Kategorien und Modelle zur Analyse der Perspektivenstruktur narrativer Texte, 1999, 367-388; 33, 2000, 59-84. Innerhalb der biblisch-narratologischen Diskussion ist Fokalisierung bisher wenig berücksichtigt worden, vgl. aber: Funk, Poetics, 1988, 99-132; Ska, "Our Fathers Have Told Us", 1990, 65-76; Marguerat / Bourquin, Bible Stories, (1998), 1999, 7275; Tolmie, Narratology, 1999, 29-38 (Lit.); sowie in Monographien: Hauser, Strukturen, 1979, 178f; Smith, A Lion with Wings, 1996, 185f. Vgl. auch die Untersuchung zur Ilias von de Jong, Narrators and Focalizers, 1987. 307 Vgl. Tolmie, Narratology, 32. 308 Vgl. zum Folgenden vor allem Genette, Erzählung, (1972/1983), 1994, 132-149; 241-244. 309 So nennt es Nünning. 310 So bezeichnet es Bai, Narratology. 311 Barthes, Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen, (1969), 1988, 127, spricht hier vom personalen Modus der Erzählung.
Die Erzählung
123
Schließlich ist noch die kollektive Fokalisierung zu unterscheiden, bei ihr erfolgt die Wahrnehmung durch eine Gruppe. Linguistisch ist interne Fokalisierung erkennbar an Verben der Wahrnehmung (verba sentiendi) (ατενίζω, βλέπω, ακούω, γινώσκω etc.). Kollektive interne Fokalisierung durch die Gruppe der Jüngerinnen liegt in der Himmelfahrterzählung der Acta vor (Act 1,9-11). Das Ereignis, dass Jesus emporgehoben wird und in einer Wolke verschwindet, wird aus der Perspektive der Jüngerinnen erzählerisch vermittelt: "während sie zusahen, wurde er emporgehoben ... vor ihren Augen (βλεπόντων αυτών έπήρθη ... από τών οφθαλμών αύτών)" (Act 1,9). Auch die folgende Erscheinung der zwei Engel erfolgt durch die Augen der Jüngerinnen, besonders akzentuiert durch καΐ ιδού (καΐ ώς ατενίζοντες ήσαν είς τον ούρανόν ... καΐ ίδού άνδρες δύο ...) (Act 1,10). Dieselbe Geschichte wird dagegen im Lukasevangelium mit externer Fokalisierung erzählt. Hier wird vom Erzähler eine neutrale Außenperspektive eingenommen (και έπάρας τάς χείρας αύτοΰ εύλόγησεν αύτούς. και έγένετο έν τω εύλογεΐν αύτόν αυτούς διέστη άπ' αύτών και άνεφέρετο είς τον ούρανόν. Και αύτοί προσκυνήσαντες αύτόν...) (Lk 24,50b52a) (s.u. III.A.l.) (iii) Externe Fokalisierung Der dritte Typ der Fokalisierung ist die 'externe Fokalisierung' (EF). Auch hier liegt eine Einschränkung der Perspektive vor. Die Erzählstimme, die mit externer Fokalisierung erzählt, erzählt nur das, was für jeden und jede Beobachterin wahrnehmbar ist, das heißt sie lässt zum Beispiel keine Einblicke in das Innere von Figuren zu. Insofern bezeichnet die externe Fokalisierung eine Einschränkung der Perspektive, weil sie eben nur das wahrnimmt, was zu Tage liegt. Sie wird häufig auch 'camera-eye-Technik' genannt, im Sinne eines unpersönlichen Erzählzentrums, denn dieses kann nur aufnehmen, was zu sehen ist, nicht etwa, was sich im Inneren von Figuren abspielt. Wenn eine Erzählung oder ein Erzählabschnitt dazu tendiert, möglichst objektiv zu berichten, das heißt ohne etwas über die Gefühle und Gedanken der Figuren mitzuteilen, liegt häufig eine externe Fokalisierung vor. Ein anschauliches Beispiel312 für die Erzählung eines Ereignisses mit externer Fokalisierung im Vergleich zu interner Fokalisierung ist die Wiedergabe der Handauflegung des Hananias im Zusammenhang der Berufung des Saulus. Die erste Erzählung dieses Ereignisses erfolgt in externer Fokalisierung (Act 9,17f.): Άπήλθεν δε Ά ν α ν ί α ς και είσήλθεν εις την οίκίαν καΐ έπιθεις έπ' αύτόν τάς χείρας ε ι π ε ν Σαούλ αδελφέ, ό κύριος άπέσταλκέν με, 'Ιησούς ό όφθείς σοι έν τη όδώ ή ήρχου, δπως άναβλέψης καΐ πλησθης πνεύματος άγιου, και εύθέως άπέπεσαν αύτοΰ άπό τών οφθαλμών ώς λεπίδες, άνέβλεψέν τε και άναστάς έβαπτίσθη.
Dieses Ereignis wird ein weiteres Mal in den Acta, diesmal mit interner Fokalisierung erzählt (Act 22,12f.): Ά ν α ν ί α ς δε τις, άνήρ εύλαβής κατά τον νόμον, μαρτυρούμενος ύπό πάντων τών κατοικούντων 'Ιουδαίων, ελθών προς με και έπιστάς είπέν μοι· Σαούλ αδελφέ, άνάβλεψον. κάγώ αύτη τή ώρα άνέβλεψα είς αύτόν.
312
Weitere Beispiele s. Tolmie, Narratology, 33-36.
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Methodologische Grundlegung der Narratologie
Hier ist keine neutrale Ansicht von außen gewählt, wie im ersten Beispiel, sondern es wird die Erzählperspektive der Figur des Paulus eingenommen, die das Ereignis aus ihrem Erleben heraus erzählt. Festzuhalten ist dabei, dass sich ein Fokalisierungstyp keineswegs immer über ein ganzes Werk erstreckt, sondern eher über narrative Segmente, die oftmals sehr kurz sein können. 313 Ein Beispiel dafür ist die Erzählung der Gefangennahme des Petrus durch Herodes Agrippa I. (Act 12,4-5): öv και πιάσας εθετο εις φυλακήν παραδοϋς τέσσαρσιν τετραδίοις στρατιωτών φύλασσαν αυτόν (externe Fokalisierung), βουλόμενος μετά το πάσχα άναγαγεΐν αυτόν τω λαώ (interne Fokalisierung). ό μεν ούν Πέτρος έτηρεΐτο έν τη φυλακή (externe Fokalisierung)· προσευχή δε ήν εκτενώς γινομένη υπό της εκκλησίας προς τον θεον περι αύτοϋ (Nullfokalisierung). Hier ist also ein rascher Wechsel der verschiedenen Fokalisierungtypen festzustellen. 314 Fokalisierung / focalization Nullfokalisierung (NF) / zero focalization Ubersicht, keine spezifische Wahrnehmungsperspektive (sie liegt vor, wenn die Erzählung Zugang zu ergänzenden Informationen erlaubt, die Zeit und Raum dominieren)
externe Fokalisierung (EF) / external focalization Außenansicht = neutral, die Erzählstimme vermittelt nichts, was nicht sichtbar ist
interne Fokalisierung (IF) / internal focalization Figurenperspektive bzw. aktoriale Erzählperspektive - fest / fixiert - variabel - multipel - kollektiv
Tabelle 16: Fokalisierungstypen
Die Unterscheidung der drei Typen der Fokalisierung in Nullfokalisierung, externe und interne Fokalisierung hat vor allem Genette geprägt und damit herkömmliche Begrifflichkeiten wie Erzählperspektive (Stanzel) oder point of view (Lubbock) abgelöst. Wie im Kapitel zur Erzählstimme bereits angedeutet, geht die Differenzierung der klassischen point of v/ew-Fragestellung in 'narration' und 'focalization' auf Genette zurück. Dieser hat eine Vermengung von zwei zu unterscheidenden Fragestellungen im Konzept des point of view bzw. der Erzählsituation erkannt. Er unterscheidet die Fragen: 'Wer spricht?' (narration) und 'Wer sieht / nimmt wahr?' (focalization). Denn es ist keinesfalls immer die Erzählerin, aus deren Perspektive das Geschehen wahrgenommen wird. Oftmals bezieht die Erzählstimme die Perspektive einer oder mehrerer Figuren bei der erzählerischen Vermittlung mit ein (interne Fokalisierung), manchmal findet keine Einschränkung der Perspektive statt (Nullfokalisierung) und bisweilen wird nur das erzählt, was für alle offen zutage liegt (externe Fokalisierung). 313 Genette, Erzählung, (1972), 1994, 136. Hier auch zu den Problemen der Unterscheidung im Analyseprozess. 314 Vgl. dazu Marguerat, Bible Stories, 73.
Die Geschichte
125
Die verschiedenen Fokalisierungstypen haben Funktionen, die RimmonKenan315 in Anlehnung an Uspenskij gebündelt dargestellt hat. So gilt für eine Nullfokalisierung, dass sie durch nichts eingeschränkt ist. Sie hat einen Panoramablick aufs Geschehen und kann simultan wahrnehmen, was an verschiedenen Orten zur gleichen Zeit geschieht. Darüber hinaus kann die Vergangenheit und die Zukunft in gleicher Weise wie die Gegenwart wahrgenommen werden. Im Gegensatz dazu haben die externe und interne Fokalisierung stets einen eingeschränkten Blick und sind damit in der Regel auf die Gegenwart beschränkt. Darüber hinaus ist die Nullfokalisierung im Hinblick auf das Wissen und die Erinnerung unbeschränkt. Angesichts dieser Charakterisitika beansprucht sie für sich Autorität, weil sie die ganze Geschichte evaluiert. Und in ihrer scheinbaren Neutralität wird ihr stets mehr Glauben geschenkt als einer internen und damit subjektiven, in das Geschehen involvierten Fokalisierung. Aspekte eines Kataloges linguistischer Kriterien, die einen Wechsel der Fokalisierungsinstanz kenntlich machen und als Indikatoren für die personale Zuordnung des Gesehenen, Empfundenen oder Gedachten zu einer Figur dienen, sind: - Eigennamen und Personalpronomen der dritten Person Singular, - Verben der Wahrnehmung - Verben des Denkens und - Verben der Gefühls- und Bewusstseinszustände.316 Fokalisierung bezieht sich auf Aktivitäten wie "denken", "fühlen", "wahrnehmen", "erinnern" etc. Die Fokalisierungsinstanz kann daher am einfachsten am grammatischen Subjekt der Verben festgestellt werden, die Gedanken, Gefühle, Wahrnehmungen ausdrücken. Mit der Frage: Wer denkt, fühlt, sieht, hört, erinnert, kann die Fokalisierungsinstanz erfasst werden.
D. Die Geschichte Wie oben schon erwähnt, werden die Ebene der Geschichte und ihre Konstituenten, die Ereignisse und die Figuren nicht in jeder Erzähltheorie entfaltet (s.o. H.A.). Für die Rezeption der Narratologie im Kontext der Bibelexegese ist zu beobachten, dass hier schwerpunktmäßig die Ebene der Geschichte beleuchtet wird.317 In diesem Zusammenhang wird vielfach mit dem Begriff des
315
Rimmon-Kenan, Fiction, 1983, 77ff. Vgl. dazu Nünning, 'Point of view' or 'focalization'? Über einige Grundlagen und Kategorien konkurrierender Modelle der erzählerischen Vermittlung, 1990, 261 (A 39), der mit Rimmon-Kenan, Fiction, 1983, 83, festhält: "Eine vollständige Liste aller linguistischen Kriterien, die einen Wechsel des Fokalisierungssubjekts kenntlich machen, liegt bislang jedoch noch nicht vor". 317 Vgl. dazu die theoretischen Reflexionen von Ska, "Our Fathers Have Told Us", 1988, 17ff.; Powell, Narrative Criticism, 1990, 35ff.; Bar-Efrat, Narrative Art in the Bible, 1988, 47ff.; Marguerat / Bourquin, Bible Stories, (1998), 1999, 40ff. Zu den Umsetzungen in Analysen neutestamentlicher Texte s. die Einleitung dieser Untersuchung. 316
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Methodologische Grundlegung der Narratologie
'Plot' gearbeitet. 318 Das Problem an diesem Begriff ist, dass er wie kein anderer in der Erzähltheorie unterschiedlichst gebraucht wird und das seit ungefähr achtzig Jahren. Jeremy Hawthorn spricht treffend von "minefields of confusing vocabulary" 319 . Der Grund für den unterschiedlichen Gebrauch liegt darin, dass der Begriff zwischen den Konzepten von story und discourse bzw. 'Geschichte' (histoire) und 'Erzählung einschließlich Erzählen' (recit et narration) anzusiedeln ist und seine Zuordnung daher einmal in die eine, einmal in die andere Richtung vorgenommen wird. So traf Forster 1927 noch die Unterscheidung von story und plot. Sein Begriffspaar wurde als Äquivalent zu 'fabula' und 'sjuzet' des Russischen Formalismus interpretiert (s.o. Tabelle l). 3 2 0 Nach oftmals älteren Definitionen gehört der plot-Begnff also in den Bereich des 'Wie' der Erzählung, das heißt auf die Ebene der narrativen Vermittlung. Diese Zuordnung ist für die meisten narratologischen Studien, denen in den letzten Jahren dieser Begriff zugrunde gelegen hat, nicht mehr zutreffend. Der plot-Begnff wurde zum Beschreibungsbegriff für Vorgänge auf der Ebene der Geschichte (story).321 Angesichts der verwirrenden Vielfalt der Verständnisse dieses Begriffs werde ich ihn im Folgenden nicht verwenden, da ich ihn für entbehrlich halte. 322 1. Ereignisse Der herkömmliche Ereignisbegriff fasst die kleinste Einheit einer Handlung als Ereignis auf. Dieser Definition zufolge sind Erzählsegmente wie "Cornelius hatte eine Erscheinung", "er sah einen Engel Gottes" oder "der sprach zu ihm" (Act 10,3) etc. Ereignisse oder wie Tomasevskij es auch nennt, Motive. 323 Für die vorliegende Untersuchung ist der Ereignisbegriff des estnischen 318 Zum Begriff plot vgl. Dipple, Plot, 1970; Egan, What Is a Plot?, 1978, 455-473; Brooks, Reading for the Plot. Design and Intention in Narrative, (1984), 1992; Pavel, The Poetics of Plot. The Case of English Renaissance Drama, 1985 (vgl. dazu die Rezension von Prince, Poetics Today 7, 1986, 157-158); Ronen, Paradigm Shift in Plot Models: An Outline of the History of Narratology, 1990, 817-842; Danneberg, Entwicklung von Theorien der Erzählstruktur und des Plot-Begriffs, 1998, 51-68. 319 Hawthorn, Grundbegriffe, (1992), 238f. (in der engl. Ausgabe). 320 Forster, Aspects, 93f: "We have defined a story as a narrative of events arranged in their time-sequence. A plot is also a narrative of events, the emphasis falling on causality. 'The king dies of grief, is a story. 'The king died, and then the queen died of grief, is a plot. The time-sequence is preserved, but the sense of causality overshadows it. (...) If it is in a story we say 'and then?' If it is in a plot we ask 'why?'" 321 S. auch den kurzen Überblick bei Antor, Plot, 1998, 426, der die Vielfalt der Interpretationen markiert. Ursprünglich geht der Plot-Begriff auf Aristoteles Mythos-Begriff zurück, vgl. dazu ausführlich Käppel, Konstruktion der Handlung, 1998, 20ff., sowie noch immer Fuhrmann, Antike Dichtungstheorie, (1973), 1992. 322 Vgl. zum p/or-Begriff innerhalb der Bibelexegese den grundlegenden Beitrag von Matera, The Plot of Matthew's Gospel, 1987. Mit dem Plotbegriff arbeiten in der Lukasexegese: Parsons, Narrative Closure and Openness in the Plot of the Third Gospel: The Sense of an Ending in Luke 24:50-53, 1986, 201-223; ders., The Departure of Jesus in Luke-Acts. The Ascension Narratives in Context, 1987; DuPlooy, The Narrative Act in Luke-Acts, 1986; ders., The Design of God in Luke-Acts, 1988, 1-6; Kingsbury, Conflict in Luke. Jesus, Authorities, Disciples, 1991; ders., The Plot of Luke's Story of Jesus, 1994, 369-378. 323 S. etwa die folgenreiche Bestimmung durch den russischen Formalisten Tomaäevskij, Theorie der Literatur, 21 Iff. S. zu weiteren Ereignis-Begriffen: Barthes, Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen, (1966), 1988, 102-143, hier: 109ff.; Chatman, Story,
Die Geschichte
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Literatur- und Kultursemiotikers Jurij M. Lotman leitend und in diesem Zusammenhang vor allem seine Grenziiberschreitungstheorie. a) Lotmans
Grenziiberschreitungstheorie
Lotman hat im achten Kapitel seines Hauptwerkes Die Struktur literarischer Texte (1970) einen eigenständigen Ereignisbegriff entwickelt.324 Sein Ereignisbegriff hat im Vergleich zum herkömmlichen, der sehr kleine Einheiten unterscheidet, den Vorteil, dass er weniger der narrativen Mikroebene verhaftet bleibt. Lotman hat vielmehr Kriterien entwickelt, in einer Erzählhandlung aus der Fülle der Vorfälle diejenigen als Ereignisse zu definieren, die von zentraler Bedeutung für die Geschichte sind. Die Summe dieser Ereignisse im Sinne Lotmans - bilden das Sujet einer Erzählung. Er arbeitet dabei mit der Dimension des Raumes der dargestellten Welt und in diesem Zusammenhang mit dem Konzept der Grenze. Die dargestellte Welt ist nach Lotman ein semantischer Raum, der über ein Bündel semantischer Merkmale definiert ist, die in dieser Kombination nur dieser Raum besitzt. Die Merkmalzuweisung führt zu einer Aufteilung des Gesamtraumes in disjunkte Teilräume, die in ihrer Summe die statische Grundordnung der erzählten Welt bilden, vor deren Hintergrund sich Handlung vollziehen kann. Das zentrale topologische Merkmal eines semantischen Raumes ist seine Grenze, die zugleich Teilräume markiert, und als unüberschreitbar gesetzt ist. Auch die Figuren der Erzählung weisen Raumbindungen auf. Ein Ereignis liegt dort vor, wo eine Figur der dargestellten Welt über die Grenze eines semantischen Feldes, das heißt Teilraumes, versetzt wird, also eine Grenzüberschreitung stattfindet. Die Folie für Lotmans Theorie bildet seine Überzeugung, dass Kunstwerke - und darin unterscheiden sich literarische Texte nicht von Bildern, Bauwerken oder Filmen - sekundäre modellbildende Systeme sind und als semiotische Systeme eine spezifische Sicht der Welt entwerfen. Diese Weltentwürfe folgen nach Lotman dem iconischen Prinzip, das heißt, dass "für den Menschen in der Mehrzahl der Fälle die Denotate verbaler Zeichen irgend1978, 43-95; Bai, Nanatology, 19972, 182-195; Rimmon-Kenan, Fiction, 1993, 6-28. Aus dem biblisch-exegetischen Bereich vgl. Funk, Poetics, 1988, 59-97; Ska, "Our Fathers Have Told Us", 1988, 17ff.; Powell, Narrative Criticism, 1990, 35-50; Bar-Efrat, Narrative Art in the Bible, 1988, 47ff.; Marguerat / Bourquin, Bible Stories, (1998), 1999,40-57. 324 S. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, (1970), 19934, 311-347. Seine Grenziiberschreitungstheorie wurde von Renner, Der Findling. Eine Erzählung von Heinrich von Kleist und ein Film von George Moorse. Prinzipien einer adäquaten Wiedergabe narrativer Strukturen, 1983, weitergeführt und modifiziert; s. auch Kräh, Räume, Grenzen, Grenzüberschreitungen. Einführende Überlegungen, 1999, 3-12. Zu ihrer exemplarischen Anwendung auf Dramen s. Krah, 'Gelöste Bindungen / bedingte Lösungen'. Untersuchungen zum Drama im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, 1996, 90-170, 274-305; ders., 'Zeichen, die wir deuten müßten'. Raumentwurf, Zeiterfahrung und Selbstfindung in Hans Henny Jahnns Der staubige Regenbogen (1959), 2001, 5-25, sowie zu Filmen und Erzähltexten ders., Weltuntergangsszenarien und Zukunftsentwürfe: Narrationen vom 'Ende' in Literatur und Film 1945-1990, 2004. S. auch die Darstellung von Lotmans Raumsemantik in Martinez / Scheffel, Einführung, 1999, 140-144. Zur Anwendung dieser Theorie im neutestamentlich-exegetischen Bereich vgl. Zwick, Montage im Markusevangelium, 1989 sowie Eisen, Boundary Transgression and the Extreme Point in Acts 10:1-11:18, 2003, 154-170.
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Methodologische Grundlegung der Narratologie
welche räumlichen, sichtbaren Objekte sind". 325 Angesichts dieser Bedeutsamkeit räumlicher Kategorien in der Modellierung von Welt hat Lotman festgestellt, dass Räume in literarischen Texten somit vielfach über ihre bloße Aufgabe, die Kulisse für die Handlungen der Figuren zu stellen, zusätzlich semantische Funktionen übernehmen. Lotman formuliert: Die "Struktur des Topos ist einerseits das Prinzip der Organisation und der Verteilung der Figuren im künstlerischen Kontinuum und fungiert andererseits als Sprache für den Ausdruck anderer, nichträumlicher Relationen des Textes."326 Diese Betrachtungsweise lässt sich auch dadurch illustrieren, dass nichträumliche Sachverhalte häufig durch räumliche Metaphoriken ausgedrückt werden, wie links versus rechts für die politische Einstellung oder oben versus unten für soziale Verhältnisse. Vor diesem Hintergrund entwickelt Lotman seinen Ereignisbegriff und in diesem Zusammenhang seine Grenzüberschreitungstheorie. Sie impliziert einen doppelten Analyseschritt. Als erstes ist die dargestellte Welt zu erfassen in der zunächst noch sujetlosen, das heißt ereignislosen Textschicht. Der dargestellte Raum wird über ein Bündel von Merkmalen erfasst und definiert. Dabei werden Grenzen erkennbar, die den Raum in disjunkte Teilräume gliedern. Die Grenzen sind durch Unüberschreitbarkeit gekennzeichnet. Die Summe der Teilräume und ihrer Semantiken bildet die statische Grundordnung der dargestellten Welt, auf der sich Handlung vollzieht. Bei der Analyse ist jedes Textelement (Objekte sowie Figuren) einem semantischen Raum zuzuordnen. Anhaltspunkte für die Bestimmung des topologischen Systems "semantischer Raum" finden sich oftmals in den topographischen, das heißt den geographischen Verhältnissen eines Textes. Die Topographie ist jedoch nicht immer Trägerin der Topologie. Die Topologie, die im Vergleich zur Topographie die abstraktere Größe ist, erschließt sich über Achsen, wie etwa vertikal horizontal, oder Oppositionen wie innen versus außen, offen versus geschlossen, einsam versus gemeinsam etc. In einem zweiten Schritt sind die Figurenbewegungen innerhalb der dargestellten Welt und ihrer Ordnung zu analysieren, das heißt nach der dynamischen Erzählhandlung in der sujethaften Textschicht zu fragen. Sobald sich innerhalb der Grundordnung der dargestellten Welt und ihrer Grenzen eine Figur über eine Grenze bewegt, wird die Erzählung sujethaft. Ein Ereignis ist somit immer auch ein Verstoß gegen die Normen der Ordnung der dargestellten Welt, in der die Grenze als unüberschreitbar gesetzt ist. 325 Lotman, Struktur literarischer Texte, 312, schreibt weiter: "Man könnte das in einem kurzen Experiment in Gedanken erproben: stellen wir uns irgendeinen im höchsten Grade verallgemeinernden Begriff vor, der völlig von konkreten Merkmalen, welcher Art auch immer, abstrahiert, irgendein Alles, und versuchen wir dann für uns, dessen Merkmale zu definieren. Wir werden uns unschwer davon überzeugen können, daß diese Merkmale für die Mehrzahl der Menschen räumlichen Charakter haben werden: 'Unbegrenztheit' (das heißt eine Relation zu der rein räumlichen Kategorie der Grenze; zudem ist im alltäglichen Bewußtsein der allermeisten Menschen 'Unbegrenztheit' nur ein Synonym für sehr große Abmessungen, für riesige Ausdehnung), die Fähigkeit, Teile zu haben. Sogar der Begriff der Universalität hat, wie eine Reihe von Versuchen gezeigt hat, für die Mehrzahl der Menschen einen deutlich räumlichen Charakter." 326 Ebd. 330.
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Es können grundsätzlich zwei Gruppen von Ereignistypen unterschieden werden. Zum einen restitutive und zum anderen revolutionäre Grenzüberschreitungen, die in insgesamt drei Grundformen in Erscheinung treten. Die restitutive Grenzüberschreitung kann folgende Grundformen annehmen: (i) Die aufgehobene Überschreitung bzw. Rückkehr in den Ausgangsraum. Eine Figur bewegt sich in den Gegenraum, verletzt dort die Ordnung und kehrt dann in den Ausgangsraum zurück. Es kommt kurzzeitig zu einer "Störung des Gleichgewichts" 3 7 , in dem Moment, wenn sich die Heldin im Gegenraum aufhält. Sie kehrt aber in ihren Ausgangsraum zurück und damit wird das alte Gleichgewicht, die gegebene Ordnung der Räume, wiederhergestellt. Ein Werbespot zu so genannten K-Absätzen soll das illustrieren: "Eine Kündigung findet statt. Die Sekretärin kommt wutgeladen durch die Bürotür, tackert ihrem Ex-Chef das Schreiben an die Krawatte und zieht ab. Da passiert's: Sie bleibt mit ihrem Schuhabsatz im Türrost hängen. Hämisches Grinsen. Jedoch der Absatz hält, der Auftritt ist gerettet und die Heldin gewinnt noch einen besonders effektvollen Abgang."328 Die Heldin betritt den Gegenraum, das Büro ihres ehemaligen Chefs, und verletzt die Ordnung dieses Raumes. Der Gegenraum ist mehrfach markiert: Die Protagonistin stürmt durch eine Tür in das Büro, ohne anzuklopfen, sie tackert ihrem Ex-Chef das Kündigungsschreiben an die Krawatte. Zudem nimmt sie sich das als Frau in einer Welt heraus, in der Männer die Chefs sind. Sie verletzt die Ordnung des Gegenraumes massiv, kehrt danach aber in ihren Ausgangsraum zurück. Die Ordnung des Gegenraumes wird zwar verletzt, bleibt aber zusammen mit der Ordnung des Ausgangsraumes erhalten. (ii) Die zweite Variante des restitutiven Typs ist das Aufgehen im neuen Raum, das heißt die Heldin nimmt den Zustand des Raumes an, den sie betreten hat. Die Ordnung des Ausgangsraumes wird durch die Ordnung des neuen Raumes ersetzt. Beispiel eines Werbespots für eine Kamera von Panasonic: "Vater kommt nach einem Geschäftsessen angetrunken nach Hause. In der Wohnung erwartet ihn die Familie. Mutter filmt seinen Aufzug mit der neuen Panasonic-Videokamera. Schlagartig ist er wieder nüchtern."329 Hier ist die Wohnungstür die Grenze zwischen Geschäft und Familie. In beiden Räumen herrschen unterschiedliche Ordnungen. Mit dem Raumwechsel verändert sich schlagartig das Verhalten des Mannes, er passt sich an die familiären Normen an. Die Ordnungsverletzung wird aufgehoben und die Ordnung wiederhergestellt. (iii) Im Gegensatz zur restitutiven Grenzüberschreitung gestaltet sich die revolutionäre Grenzüberschreitung anders. Es findet eine Ordnungstransformation oder eine Ordnungstilgung bzw. Raumzerstörung statt: Diese Variante der Grenzüberschreitung wird auch Metaereignis genannt. Die Ordnung der semantischen Räume verändert sich bei dieser Art der Grenzüberschreitung, die Grundordnung der dargestellten Welt wird transformiert. Grenzen werden verschoben, aufgehoben, konstituieren sich neu. Es 327 Todorov bestimmt die narrative Struktur einer story als Abfolge von "Gleichgewicht - Störung des Gleichgewichts - wiederhergestelltes, neues Gleichgewicht", vgl. ders., Die Grammatik der Erzählung, 1972, 57-71. 328 Renner, Grenzen, 11. 329 Ebd. 12.
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besteht kein Widerspruch mehr zwischen Heldin und semantischem Raum. Folgender Werbespot zu Tesa-Sticker mag das illustrieren: "Eine Lehrerin, Typ alte Jungfer, muß beim Museumsbesuch mit ihrer Schulklasse einen Saal mit Akt-Bildem passieren. Sie läßt die Klasse draußen warten, bis sie mit Hilfe von Tesa-Sticker auf alle schlüpfrigen Stellen schwarze Streifen geklebt hat. Die Jungs trampeln dödelhaft durch den Saal, zwei kesse Mädchen machen sich aber selbständig und untersuchen die reizvollen Akte näher, was ihnen um so leichter fällt, da man Tesa-Sticker genauso leicht abziehen wie ankleben kann."330 Hier gestalten Protagonistinnen die Ordnung des Raumes um. Dies geschieht zweifach. Die Lehrerin verändert die Ordnung des Raumes, indem sie die besonderen Stellen der Akte verdeckt. Die jungen Frauen verändern diese neue Ordnung, indem sie die Sticker abziehen, aber auch wieder ankleben können. Die Ordnung des Raumes verschiebt sich und konstituiert sich neu. Sujethaft im Sinne Lotmans restitutive Grenzüberschreitung
revolutionäre Grenzüberschreitung
(i) Rückkehr in den Ausgangsraum
(iii) Ordnungstransformation bzw. Ordnungstilgung = Metaereignis
(ii) Aufgehen im Gegenraum
Tabelle 17: Ereignistypen nach Lotman b) Renners
Extrempunktregel
Karl Nikolaus Renner hat eine Erweiterung von Lotmans Grenzüberschreitungstheorie vorgeschlagen, die Extrempunktregel. 331 Sie versucht, die bei Lotman vernachlässigte Binnenstruktur der Räume und der Bewegungen der Figuren in den abgegrenzten Räumen zu modellieren. Renners Extrempunktregel geht davon aus, dass semantische Räume binnenstrukturiert und häufig auf ranghöhere Elemente, auf Extrempunkte hin, ausgerichtet sind. Dies kann ein topographischer Mittelpunkt sein oder ein Berggipfel, die Bugspitze der Titanic oder aber politische und soziale Strukturen, wie etwa das Amt eines Präsidenten oder die Position des pater familias. Auffallend ist nun nach Renner, dass die Figuren nicht ziellos in den abgegrenzten Räumen umherwandern, sondern ihre Bewegungen häufig auf solche Extrempunkte ausgerichtet sind. Das Zustreben auf den Extrempunkt kann zwei Funktionen erfüllen: Entweder wird das Erreichen des Extrempunktes zum Wendepunkt oder aber zum Endpunkt des Geschehens. Die Extrempunkte werden zu Wendepunkten, wenn sich die Bewegungsrichtungen ändern und eine Rückkehr in den Ausgangsraum oder eine Ordnungstransformation stattfindet. Im Beispiel von den K-Absätzen haben wir den Fall, dass der Extrempunkt, der Chefschreibtisch an der Rückwand des Büros, an dem sich zusätzlich die ranghöchste Figur des Raumes befindet, 330
Ebd. 12. S. dazu und zum Folgenden Renner, Zu den Brennpunkten des Geschehens. Erweiterung der Grenzüberschreitungstheorie: Die Extrempunktregel, 1986, 115-130; ders., Räume Grenzen - Handlungen: Die Grenzüberschreitungstheorie als Analyseinstrument von Texten und Filmen, 1998, 1-21. 331
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zum Wendepunkt der Bewegungen der kündigenden Sekretärin wird, die in ihren Ausgangsraum zurückkehrt. Die Extrempunkte werden zu Endpunkten, wenn die Figurenbewegungen darin zum Stillstand kommen. Hierfür mag ein Werbespot für Kaminfeuer als Beispiel dienen: "Ein Kamin mit einem brennenden Feuer, ein leerer Raum. Die Tür geht auf, und nacheinander kommen ein Hund, ein Katze und eine Maus herein und lassen sich friedlich vor dem wärmenden Kamin nieder, ohne einander zu zerfleischen. So angenehm ist die Atmosphäre eines richtigen Kamins."332 Die Raumstruktur wird so entworfen, dass das Kaminfeuer den Mittelpunkt des Raumes bildet, er ist das Zentrum des Raumes. Der Weg der Tiere führt zum Kamin, der hier den Extrempunkt bildet, und endet dort. Der Extrempunkt wird somit in jeder Hinsicht zum Endpunkt ihrer Bewegungen. Denn die Tiere, die in diesen friedlichen Raum eindringen, verhalten sich anders als erwartet, nämlich gegen ihre Natur ebenso friedlich. Sie nehmen den Zustand dieses friedlichen Raumes an. Renner nennt die Extrempunkte zugleich die Brennpunkte des Geschehens. In Renners Rezeption von Lotmans Grenzüberschreitungstheorie erfolgt insofern eine Modifikation, als er dessen Ereignisbegriff als Verletzung einer Ordnung reformuliert und erweitert: Ein Ereignis liegt vor, wenn die Grenzen (so Lotman) und damit die Ordnung (so Renner) der dargestellten Welt verletzt werden. Das führt von Seiten der Protagonistinnen zur Rückkehr in den Ausgangsraum oder zur Anerkennung der Ordnung des Gegenraumes oder aber - und dann liegt ein Metaereignis vor - zur Transformation der Ordnung der dargestellten Welt. Eine solche Ordnungstransformation ist besonders anschaulich an der Petrus-Cornelius-Erzählsequenz der Acta zu beobachten (s.u. III.B.). 333 2. Figuren Es kann nicht behauptet werden, dass sich innerhalb der Narratologie eine allgemeingültige und konsistente Theorie der Figurenanalyse herausgebildet hat. 334 Es ist vielmehr zu beobachten, dass die Figuren in der Debatte oft nur
332
Renner, Grenzen, 15. Vgl. auch Eisen, Boundary Transgression and the Extreme Point in Acts 10:1-11:18, 2003, 154-170. 334 Das betont auch Jannidis, Figur und Person, 2005, Iff, dessen aktuelle Monographie zum Thema ich nicht mehr einarbeiten konnte. Vgl. des Weiteren die theoretischen Überlegungen zur Figurenanalyse von Forster, Aspects, (1927), 1974, 30-57; Harvey, Character and the Novel, (1965), 1970; Lotman, Struktur, 1972, 340-368; Grabes, Wie aus Sätzen Personen werden...: Über die Erforschung literarischer Figuren, 1978, 405-428; Chatman, Story, 1978, 107-138; Bai, Narratology, 1994 2 , 114-132, 195-208; Rimmon-Kenan, Fiction, 1983, 29-42, 59-70; Martin, Theories, 116-122; Pfister, Drama, 220-264; Nünning, Grundzüge, 1989, 6974; Ludwig, Figur und Handlung, 1989, 106-144; Bonheim, Systematics, 1990, 308-321; Knapp (ed.), Literary Character, 1990; Koch, Literarische Menschendarstellung. Studien zu ihrer Theorie und Praxis, 1991. Innerhalb der biblisch-exegetischen Narratologie vgl. BarEfrat, Narrative Art, 1989,47-92; Powell, Narrative Criticism, 1990, 51-67; Ska, "Our Fathers Have Told Us", 1990, 83-94; Marguerat / Bourquin, Bible Stories, (1998), 1999, 58-76; Tolmie, Narratology, 1999, 39-62. S. auch die weiterführenden Sammelbände mit Einzelstudien herausgegeben von Malbon und Berlin, Characterization in Biblical Literature, 1993 (Heft 63 333
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Methodologische Grundlegung der Narratologie
am Rande oder gar nicht behandelt wurden. 335 So finden sich, wie oben schon angedeutet, in einigen Erzähltheorien keine Überlegungen zur Figurendarstellung, etwa bei Gerard Genette und bei Franz Stanzel. Auch in Matias Martinez' und Michael Scheffels Einführung in die Erzähltheorie von 1999 gibt es dazu weder ein Kapitel noch ein Unterkapitel. In den Erzähltheorien, die sich der Figurendarstellung widmen, wird diese Frage häufig unter zwei Gesichtspunkten in zwei unabhängigen Kapiteln untersucht. Zum einen auf der Ebene der Geschichte unter der Überschrift 'Charaktere' (characters) und zum anderen auf der Ebene der Erzählung unter der Überschrift 'Charakterisierung' (characterization), so etwa bei Rimmon-Kenan und Bai. Ich werde im Folgenden beide Aspekte nacheinander behandeln. Die Analysekategorien der Figurendarstellung werden entfaltet unter a) 'Klassifizierung der Figuren'336, traditionell characters, und unter b) 'Techniken der Figurencharakterisierung', traditionell characterization (s.u.).337 Innerhalb der Forschung zur Figurendarstellung lassen sich die unterschiedlichsten Begriffe für die in Erzählwerken handelnden Figuren beobachten. Gängige Begriffe sind dramatis personae, Figuren, Personen, characters, actors, agents oder Aktanten. Die Begrifflichkeiten implizieren zugleich auch spezifische Verständnisse der Figuren. Es lassen sich zwei Extrempositionen beobachten. Eine extreme Position auf der Skala betrachtet die Figuren als autoreferentielle Textfunktion (Autonomie) und die andere extreme Position behandelt die Figuren der Handlung wie reale Personen. 338 Lothar Fietz analysiert die zuletzt genannte Position wie folgt: "Die nicht-strukturalistische Literaturwissenschaft hat sich seit der Romantik den Personen der Handlung unter dem Aspekt ihres 'Charakters' zugewendet. Die Frage, die dabei aufgeworfen wurde, war: Wie ist der Verlauf einer Handlung aus den Charaktereigenschaften der Handlungsträger abzuleiten. Dies führte zur psychologisierenden Analyse der Charaktere als eigenständige Einheiten der Erzählung, durch welche der Handlungsverlauf bestimmt wurde."339 Die Gegenposition zu diesem Verständnis literarischer Charaktere ist in strukturalistischen Arbeiten zu finden. Hier werden die Personen der Handlung nicht als psychologisch mehr oder weniger komplexe Charaktere verstanden und unter dem Aspekt ihres psychischen Wesens untersucht. Vielmehr kommt der aristotelische Ansatz zum Tragen, nach dem die Vorstellung vom Charakter und der Persönlichkeit eine sekundäre Vorstellung ist und dem primären Begriff der Handlung nachgeordnet wird: "Die Personen einer Handlung werden nicht als individualisierte Charaktere verstanden, sondern als 'Agenten der Handlung'. Noch einmal anders gewendet heißt dies, daß die handlungstragenden Personen nicht dadurch klassifiziert werden, was sie sind, sondern danach, was sie tun und dabei zum Verlauf der
der Zeitschrift Semeia), sowie von Rhoads und Syreeni, Characterization in the Gospels, 1999. 335 So auch Ludwig, Figur, 106. 336 Gowler, Host, 30, spricht hier von Identifikation der Charaktere. 337 Das folgende Modell stammt vorrangig aus Rimmon-Kenan, Fiction; Pfister, Drama, und Bonheim, Systematics (s.o.). 338 So etwa Harvey, Character and the Novel, 1966, 11-13 339 Fietz, Strukturalismus, 1982, 15.
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Handlung beitragen, d.h. nach ihrer Funktion für die Handlung. Dies bedeutet eine radikale Umkehrung des Ansatzes der psychologischen Charakterkritik."340 Das Problem der zuvor skizzierten Position ist also die Gefahr einer Psychologisierung literarischer Figuren. Das beginnt mit ihrer Bezeichnung als 'Charaktere', die allzu leicht zu einer Psychologisierung einlädt. Es bleibt gerade auch angesichts biblischer Erzählungen festzuhalten, dass die Figuren tatsächlich vor allem in ihrer Funktionalität greifbar werden, weniger in einer präzisen Ausgestaltung individueller Charakterzüge. Allerdings fehlen diese auch nicht gänzlich, wie noch zu zeigen sein wird. Ich werde im Folgenden von 'Figuren' sprechen, um damit zu verdeutlichen, dass es sich dabei um eine erzählerisch gestaltete Größe und nicht um die reale Abbildung empirischer Individuen handelt.341 Innerhalb der Analyse neutestamentlicher Texte besteht das Problem, dass in diesen Texten von Figuren erzählt wird, die in der Regel historisch sind. So sind etwa Petrus und Paulus, zwei der Protagonisten der Acta, selbstverständlich historische Gestalten. Von beiden Personen zeugen weitere Quellen. Von Paulus vor allem seine Briefe, anhand derer viele Aspekte der lukanischen Darstellung als historisch zweifelhaft erscheinen. Ich möchte an dieser Stelle also ausdrücklich darauf hinweisen, dass die folgenden Analysen der Charakterisierung dieser und anderer Personen des Corpus Lucanum in keiner Weise mit historischen Porträts verwechselt werden dürfen. In der vorliegenden Untersuchung wird ausschließlich die spezifisch lukanische Charakterisierung dieser Personen als Figuren in der Geschichte der lukanischen Erzählung beleuchtet. Ob und inwiefern diese lukanischen Charakterisierungen etwas mit den Figuren als historischen Gestalten zu tun haben, liegt jenseits der Fragestellung dieser Untersuchung. a) Klassifizierung der Figuren Vorausgeschickt sei, dass Figuren als Einzelpersonen (z.B. Jesus, Petrus), als Figurengruppen (etwa das Volk oder die Pharisäerinnen) oder als nichtmenschliche Entitäten (z.B. Gott, Engel, Geist, Tiere in Fabeln u. dergl.) auftreten können. (i) Welchen Status hat die Figur? Pfister spricht im Zusammenhang der Bestimmung des Status einer Figur von der 'Dominanzrelation' der einzelnen Figuren zueinander. Für die Gruppierung bzw. Abstufung der Figuren einer Erzählung nach ihrer Bedeutung für die Handlungsentwicklung sind in der Forschung verschiedene Vorschläge gemacht worden. Mit Pfister ist jedoch festzustellen, dass Abstufungen zwischen 'Hauptfiguren' (main characters), 'Nebenfiguren' (minor characters), 'Episodenfiguren' oder etwa 'Hilfsfiguren' vielfach nur sehr intuitiv vorgenommen werden und unklar bleiben.342 In der vorliegenden Untersuchung wird in der Hauptsache mit der Dreiteilung in 'Hauptfigur' (protagonist, main character), 'Nebenfigur' (intermediate character) sowie 'Hintergrundfigur' (background character) gearbeitet. 340 341 342
So auch Ludwig, Figur, 130. S. zu diesem Problem auch Nünning, Grundzüge, 69. Pfister, Drama, 227.
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Methodologische Grundlegung der Narratologie
(ii) Welche Komplexität hat die Figur? Im Hinblick auf die Komplexität einer Figur ist noch immer die 1927 von E. M. Forster vorgenommene Unterscheidung von 'round and 'flat characters' verbreitet. Sie entspricht im deutschsprachigen Bereich in etwa der Unterscheidung von 'Charakter' und 'Typ'.3 3 Round characters, auch full-fledged characters genannt,344 sind mehrdimensional konzipierte Figuren, die eine komplexe Fülle von Eigenschaften aufweisen. Die Betonung liegt hier "auf der persönlichen Eigenart und Unverwechselbarkeit des einzelnen Menschen"345. Round characters sind auch häufig dadurch gekennzeichnet, dass sie sich im Verlauf der Handlung entwickeln. Flat characters dagegen sind eindimensional konzipierte Figuren, die durch eine begrenzte, in sich stimmige Fülle von Merkmalen gekennzeichnet sind. Eine andere Bezeichnung für sie ist 'Typ' {type). Der 'Typ' abstrahiert vom Individuellen und zeigt bestimmte allgemeinmenschliche Züge, wie etwa die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht, einer sozialen Schicht, einer Berufsgruppe o.Ä.34 Selten sind diese Kategorien in Reinform anzutreffen. Sie bilden lediglich die Pole von Individualisierung und Typisierung, zwischen denen sich eine Skala mit vielen Zwischenformen befindet.347 In biblischen Erzählungen liegen die Pole erfahrungsgemäß häufig nicht so weit auseinander, da diese Erzählungen weniger von Psychologisierung geprägt sind als viele moderne Erzählungen. Petrus und Paulus sind in der lukanischen Erzählung round characters im vollen Wortsinn, denn beide wandeln sich im Laufe der Geschichte: Petrus etwa kehrt in das Haus des Heiden Cornelius ein und überwindet so die Grenze der Ordnung seiner Welt, er verändert sich (s.u. III.B.l.). Oder Paulus wandelt sich vom Verfolger der Christusgruppe zu einem ihrer glühendsten Vertreter (s.u. III.B.3.a.). (iii) Welche Funktion hat die Figur? Propp hat in seiner Morphologie des Märchens aus dem Jahr 1928 sieben Funktionen der handelnden Personen herausgearbeitet. Er unterscheidet sieben generelle Rollen: 1. Der Gegenspieler (villain), 2. der Schenker (donor), 3. der Helfer (helper), 4. die gesuchte Person (sought-for person) und ihr Vater (father), 5. der Sender (dispatcher), 6. der Held (hero) und 7. der falsche Held (false hero).3Ai Anknüpfend daran hat Algirdas Greimas in seiner Semantique structurale von 1966 sein berühmt gewordenes Aktantenmodell entwickelt, welches die von Propp herausgearbeiteten Funktionen vereinfacht und zugleich universalisiert.349 Greimas schematisiert die typischen Rollen in Erzählungen in 'Aktanten'. Der Begriff des 'Aktanten' ersetzt für Greimas Bezeichnungen wie
343
Nünning, Charakter, 65. Berlin, Poetics, 23f. 345 Nünning, Charakter, 65. 346 Ebd. 347 In der biblisch-exegetischen Diskussion wird häufig auch mit dem Begriff block character operiert. Er bezeichnet eine Figur, die eine unveränderte Rolle in der gesamten Erzählung hat, vgl. Marguerat / Bourquin, Bible Stories, 61. 348 Vgl. Propp, Morphologie des Märchens. 349 Vgl. dazu und zum Folgenden Greimas, Strukturale Semantik, (1966), 1971, 157ff. 344
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character oder dramatis personae. Algirdas Greimas und Joseph Courtes definieren 'Aktant' wie folgt: "An actant can be thought of as that which accomplishes or undergoes an act, independently of all other determinations."350 Greimas unterscheidet sechs aktantielle Kategorien: Ein handelndes Subjekt (Protagonist), das von einem Adressanten (Sender) beeinflusst ist, übermittelt ein Objekt, wie etwa die Botschaft von Jesus Christus, an einen Adressaten (Empfänger), der damit aus dem Zustand des Mangels (ohne das Objekt) in den des Habens (des Objektes) versetzt wird. Diese Zustandsveränderung, die durch das Subjekt (Protagonisten) erfolgt, bedarf oftmals eines oder mehrerer Adjuvanten (Helfer), um mögliche Opponenten (Gegner) zu überwinden. Die Gegner und Helfer müssen genauso wenig wie alle anderen Aktanten lebende Wesen sein. So kann beispielsweise ein alter Glaube zum Gegner werden, der dann beispielsweise durch den Heiligen Geist als Adjuvant (Helfer) vom Subjekt (Protagonisten) überwunden wird.351 Adressant(Sender)
Adressat (Empfänger)
Adjuvant. (Helfer)
Opponent (Gegner)
Tabelle 18: Greimas' Aktanten- bzw. Rollenmodell Dieses Handlungsmodell sollte keineswegs statisch verstanden werden. So kann etwa eine Figur mehrere Aktanten bzw. Rollen ausüben oder eine Rolle ist auf mehrere Figuren verteilt. Eine Rolle kann auch abwesend sein oder das Subjekt kann zum Objekt werden und dergleichen mehr.353 (iv) Attribute der Figuren ? Des Weiteren ist nach den Attributen der einzelnen Figuren zu fragen. Dabei sind die Fragen nach dem Alter, dem Geschlecht, dem sozialen Status, der äußeren Erscheinung oder anderen besonderen Kennzeichen der Figur relevant.354 Zusammenfassend ist zur 'Klassifizierung der Figuren' festzuhalten: Aus den vier genannten Bestimmungen der Figuren, nämlich Status, Komplexität, Funktion und Attribute ergeben sich Arbeitsschritte für die Aufstellung der Figuren einer Erzählsequenz und die entsprechenden Bestimmungen dieser.
350
Greimas / Courtes, Dictionary, 5. Vgl. dazu Beispiele in Fournier, Episode, 1997, 115ff. S. auch Ska, "Our Fathers Have Told Us", 92-94 (hier auch eine differenzierte Kritik des Modells) (Lit.!); Marguerat / Bourquin, Bible Stories, 62-64. 52 Frei nach Greimas, Strukturale Semantik, 165. 353 Vgl. Hauser, Strukturen der Abschlußerzählung, 189. 354 Vgl. dazu Propp, Morphologie, 87. 351
136
Methodologische Grundlegung der Narratologie
b) Techniken der Figurencharakterisierung Die Charakterisierang von Figuren kann im Erzähltext unterschiedlich vorgenommen werden. Zum einen im Hinblick auf ihre Ausdrücklichkeit (implizit versus explizit) und zum anderen im Hinblick auf die textuelle Sprechinstanz (auktorial versus figural). Bei expliziten Charakterisierungen von Figuren ist darauf zu achten, von welcher textuellen Instanz sie erfolgen: von Seiten der Erzählinstanz (auktorial) oder von einer Figur {figural). Die Attribute einer Figur werden direkt sprachlich genannt, häufig in Form einer Beschreibung eines Charakters bei dessen erstem Auftreten. Sie erfolgt oft im narrativen Modus. In solchen Fällen wird eine Figur also explizit charakterisiert durch die Erzählerin, die Figur selbst oder eine andere Figur der Erzählung. Alle diese Charakterisierungen müssen auf ihre Glaubwürdigkeit (reliability) hin überprüft werden, denn die Erzählerin kann gewollt die Lesenden durch eine unzutreffende Charakterisierung in die Irre führen, etwa in einem Kriminalroman, um vom Täter abzulenken. Für die Selbst- und Fremdcharakterisierungen, die in Form von Kommentaren erfolgen, gilt, dass sie von einer verzerrenden Stilisierung gekennzeichnet sein können, die etwa durch die Handlungen der Figur nicht verifizierbar sind. Dann sind sie unglaubwürdig (unreliable). Sie geschehen meist in Form eines Eigen- oder Fremdkommentars als Monolog oder als Dialog. Die weniger eindeutig greifbaren Charakterisierungen sind implizite Charakterisierungen. Sie müssen aus Handlungen oder mitgeteilten Gefühlen der Figuren erschlossen werden. Im lukanischen Doppelwerk sind alle genannten Techniken anzutreffen. So wird beispielsweise Cornelius bei seinem ersten Auftreten in der Geschichte explizit durch die Erzählinstanz355 charakterisiert (Act 10,1 f.) sowie explizit durch Figuren, sei es durch den Engel (Act 10,4), sei es durch seine Gesandten (Act 10,22), die im Dialog Charakteristika seiner Person hervorheben. Diese expliziten auktorialen und figuralen Charakterisierungen werden ergänzt und bestätigt durch eine implizite Charakterisierung, nämlich die Erwähnung, dass er um die neunte Stunde betete, was ihn als frommen, dem Judentum zuneigenden Mann kennzeichnet (Act 10,3.30). Die Vielfalt der Techniken der Charakterisierungen des Cornelius hebt diese Figur in besonderere Weise hervor und lässt keine Zweifel mehr an ihrer Glaubwürdigkeit übrig.
355 So findet sich etwa eine Blockcharakterisierung des Cornelius zu Beginn der PetrusCornelius-Erzählsequenz (Act 10, lf.). Blockcharakterisierung ist eine spezielle Form der expliziten Charakterisierung. Sie erfolgt von Seiten der Erzählinstanz in einer einleitenden Beschreibung einer Figur bei deren ersten Auftreten.
Die Geschichte
Auktorial
137
Figural implizit
explizit
implizit
explizit
Beschreibung
Handlungen und Gefühle
Eigenkommentar
Fremdkommentar
Monolog
Monolog
Dialog
Handlungen
Dialog
Tabelle 19: Techniken der Figurencharakterisierung c) Figuren der lukanischen Welt Die Erzählung der Acta erwähnt allein 93 namentlich genannte Figuren. 356 Und es liegen bereits eine Reihe von narratologisch ausgerichteten Forschungen zu Einzelfiguren und Figurengruppen des Corpus Lucanum vor. Insgesamt ist in den Bibelwissenschaften ein wachsendes Interesse an literaturwissenschaftlich orientierter Figurenanalyse zu beobachten. 357 Sie stellt eine fruchtbare Ergänzung zu der Vielzahl der historisch-kritischen, d.h. quellen-, traditions- und redaktionsgeschichtlichen sowie prosopographisch ausgerichteten Forschungen zu Gestalten des frühen Christentums dar, deren primäres Interesse vielfach der Rekonstruktion der historischen Persönlichkeit dient. 358 Für das Corpus Lucanum sei an erster Stelle auf die Monographien zu Einzelfiguren wie dem Heiligen Geist 359 , Johannes dem Täufer 36 und HeroIii
des
ΐίΛ
, Philippus
356
'Xfi.'i
sowie zu Figurengruppen wie den Pharisäern
bzw. den
So die Zählung von Walworth, Narrator, 1984, 136. Vgl. etwa die beiden Sammelbände zum Thema Charakterisierung in biblischen Schriften, zum einen Struthers Malbon / Berlin (ed.), Characterization in Biblical Literature, 1993, sowie zum anderen Rhoads / Syreeni (ed.), Characterization in the Gospels. Reconceiving Narrative Criticism, 1999. Beide Bände enthalten wertvolle Einzelstudien zu Figuren des Ersten und des Neuen Testaments. 358 Genannt seien hier exemplarisch aus der überwältigenden Fülle der Forschungsbeiträge die exzellente und noch immer grundlegende Arbeit von Dietrich, Das Petrusbild der lukanischen Schriften, 1972, oder jüngst Perkins, Peter. Apostle for the Whole Church, 2000, und Wiarda, Peter in the Gospels. Pattern, Personality and Relationship, 2000. 359 Shepherd, The Narrative Function of the Holy Spirit as a Character in Luke-Acts, 1993; vgl. auch Earl, Pentecost as a Recurrent Theme in Luke-Acts, 1990, 133-149. 360 Müller, Mehr als ein Prophet. Zur Charakterisierung Johannes des Täufers im lukanischen Erzählwerk, 2001; s. auch Darr, On Character Building, 1992, 60-84. 361 Darr, On Character Building, 1992, 127ff.; ders., Herod the Fox. Audience Criticism and Lukan Characterization, 1998 (zu Darrs narratologisch-rezeptionsästhetisch orientierter Methodologie vgl. vor allem ders., On Character Building, 37-59; ders., Narrator as Character: Mapping a Reader-Oriented Approach to Narration in Luke-Acts, 1993, 43-60, sowie ders., Herod, 18-91). 362 Spencer, Portrait of Philip in Acts, 1992. 363 Gowler, Host, Guest, Enemy, and Friend: Portraits of the Pharisees in Luke and Acts, 1991 (zu Gowlers methodologischem Ansatz des 'socio-narratological approach' vgl. auch ders., Characterization in Luke: A Socio-Narratological Approach, 1989, 54-62); Tyson, Death of Jesus, 1986, 64-72; Brawley, Luke-Acts and the Jews, 1987, 84-106; Kingsbury, The Pharisees in Luke-Acts, 1992, 1497-1512; Darr, On Character Building, 1992, 85-126. 357
138
Methodologische Grundlegung der Narratologie
religiösen Autoritäten364 hingewiesen. Kleinere Beiträge sind zu Gott365, Satan366, Jesus367, Petrus (s.u. III.B.l.a.), Paulus 1 / -(s.u. III.B.3.a.) und zu 0/-Q Q Figurengruppen wie den Jüngerinnen , der Menge oder den 'minor characters'370 erschienen. Exemplarisch herausgegriffen sei etwa die scharfsinnige Studie von Patrick L. Dickerson zum stereotypen Muster der lukanischen Charakterisierung von 'minor characters'. Er nennt dieses Muster "New Character Narrative", weil es stets der Einführung einer bis dahin unbekannten Figur dient, die in der folgenden Erzählung eine Rolle spielt. Nach Dickerson besteht sie aus drei Elementen: 1. einer Einleitung (introduction), 2. einer Beschreibung (description) und 3. der Geschichte {story). Die Einleitung hat je eine stereotype Form, indem sie mit τις oder ιδού einen Mann oder eine Frau mit Namen oder ohne Namen einleitet.371 Danach folgt die Beschreibung, die keinem festen Formular folgt, aber wiederkehrende Elemente hat, etwa die Nennung der Herkunft oder etwa bei einem Ehepaar die Ehefrau sowie ihre Lebensweise (Lk 1,5-7; Act 5,1-2; 18,1-2). Ein signifikantes Beispiel für eine Figurenbeschreibung ist etwa die des Cornelius. Nachdem er eingeführt wurde mit "Άνήρ Ö6 τις kv Καισαρεία ονόματι Κορνήλιος" folgt eine Beschreibung seiner Person: Beruf, sozialer Status, Frömmigkeit. Erst danach setzt die Geschichte (story) dieser Figur ein. Im Lukasevangelium begegnet diese Art der Charakterisierung mehr oder weniger ausführlich nach Dickerson 31 mal, in den Acta 25mal3 2. Das ist, was man sonst in der Erzähltheorie Blockcharakterisierung nennt, das heißt eine neu eingeführte Figur wird zu Beginn der Geschichte en bloc charakterisiert, bevor die Handlung beginnt. Dickerson betont allerdings zu Recht, dass diese Form der Charakterisierung ausschließlich 'minor characters' betrifft und eben keine Protagonisten, wie etwa 364 Brawley, Luke-Acts and the Jews: Conflict, Apology, and Conciliation, 1987; Sanders, The Jews in Luke-Acts, 1987; Tyson (ed.), Luke-Acts and the Jewish People: Eight Critical Perspectives, 1988; ders., Images of Judaism in Luke-Acts, 1992; Powell, The religious Leaders in Luke: A Literary-Critical Study, 1990, 93-110; Kingsbury, Conflict in Luke, 1991, 21-28; Philipps, Subtlety as a Literary Technique in Luke's Characterization of Jews and Judaism, 1998, 313-326; Thompson, Believers and Religious Leaders in Jerusalem: Contrasting Portraits of Jews in Acts 1-7, 1998, 327-344. 365 Bovon, Gott bei Lukas, (1981), 1985, 98-119; Brawley, Centering on God, 1990, 111-124; ders., The God of Promises and the Jews in Luke-Acts, 1998, 279-296; ders., Abrahamic Covenant Traditions and the Characterization of God in Luke-Acts, 1999, 109-132; Kingsbury, Conflict in Luke, 1991, 11-13; Bibb, The Characterization of God in the Opening Scenes of Luke and Acts, 1993, 275-292; Marguerat, The God of the Book of Acts, (1996), 2000, 159-181 366 Kingsbury, Conflict in Luke, 1991, 13-14. 367 Brawley, Centering on God, 1990, 124-138; Kingsbury, Conflict in Luke, 1991, 1418, 37-78; ders., Jesus as the 'Prophetic Messiah' in Luke's Gospel, 1993, 29-42. 368 Kingsbury, Conflict in Luke, 1991, 18-21,109-139. 369 Kingsbury, Conflict in Luke, 1991, 28-31; Ascough, Narrative Technique and Generic Designation: Crowd Scenes in Luke-Acts and in Chariton, 1996, 69-81. 370 Kingsbury, Conflict in Luke, 1991, 31-34; Dickerson, The New Character Narrative in Luke-Acts and the Synoptic Problem, 1997, 291-312; Roth, The Blind, the Lame, and the Poor. Character Types in Luke-Acts, 1997 (mit einem Audience-Oriented Literary Approach und intertextuellem Bezug auf die Septuaginta). 371 Dickerson, New Character Narrative, 295, unterscheidet sechs Hauptvarianten. 372 Belege bei Dickerson, Character, 1997, 293 (A 10 und 11).
Die Geschichte
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Petrus oder Paulus: "However, most of the characters introduced by New Character Narratives are relatively minor characters, that is, persons to be healed, or other characters who participate in one narrative sequence only. Major characters like John the Baptist, Peter, or Paul are not generally introduced via New Character Narratives."373 Die Charakterisierungen von Protagonisten wie Gott, Jesus, Heiliger Geist, Petrus oder Paulus sind nicht in dieser Weise schematisiert, sondern erfolgen im Corpus Lucanum aufgrund der oben aufgezeigten Charakterisierungstechniken.
373
Dickerson, Character, 1997, 297.
III. Narratologische Analyse der Apostelgeschichte
Die Apostelgeschichte ist ein sequel des Lukasevangeliums.1 Diese Leseanweisung gibt der Erzähler der Acta selbst im ersten Satz seines Buches, indem er auf sein "erstes Buch" (πρώτον λόγοι*), das Lukasevangelium, verweist. Auch die Erzählsituation ist dieselbe. Er spricht erneut, wie schon in den ersten Sätzen seines Evangeliums, seinen Erzähladressaten Theophilus persönlich an (s.o. Π.Β.3.). Damit erneuert er den Kommunikationskanal mit seinem namentlich genannten Erzähladressaten und bietet danach zunächst ein knappes Summar des ersten Buches (Act l,l-2a), um dann mit neuen Akzenten das Ende des ersten Buches, nämlich die Ereignisse um die Erscheinungen des Auferstandenen und seine Erhöhung, erneut zu erzählen (Act 1,2b-14; vgl Lk 24,36ff.). Erst nach diesen Analepsen setzt er mit der noch unbekannten Geschichte des zweiten Buches ein, beginnend mit der Nachwahl des Matthias (Act 1,15-26) und nachfolgend der Herabkunft des Heiligen Geistes (Act 2). Mit der erneuten direkten Ansprache seines Erzähladressaten Theophilus, mit dem expliziten Verweis auf das erste Buch, der knappen Rekapitulation des Lukasevangeliums und der wiederholten Erzählung der Erscheinung des Auferstandenen und seiner Erhöhung, schafft der Erzähler eine enge Verknüpfung des Lukasevangeliums mit den Acta. Der gemeinsame Erzähladressat, die Erzählung von Jesu Wirken und speziell seiner Erscheinungen nach seiner Auferstehung und seiner Erhöhung bilden die Brücke zwischen beiden Büchern.
1 So etwa schon Haenchen, Apostelgeschichte; vgl. auch Parsons, Christian Origins and Narrative Openings: The Sense of a Beginning in Acts 1-5, 1990, 403-422: 403; ders. / Pervo, Rethinking the Narrative Unity of Luke and Acts, 1993; Fitzmyer, Acts of the Apostles, 1998, 55ff; Alexander, Reading Luke-Acts, 1999, 419-446: 420; vgl. dazu auch jüngst den Forschungsbericht von Verheyden, The Unity of Luke-Acts. What Are We Up To?, 1999, 3-56, sowie den gesamten Sammelband: The Unity of Luke-Acts, hrsg. v. Verheyden, 1999. S. auch oben I.D. Der Begriff 'sequel' wird weder von Haenchen noch von den anderen Genannten erläutert. Der Begriff bezeichnet ein Buch, Film, Theaterstück oder dergl., das die Geschichte eines älteren Buches, Filmes, Theaterstücks oder dergl. fort- oder umschreibt. Innerhalb der Literatur- und Filmwissenschaft vgl. etwa die exemplarische Untersuchung von Krah, Raum, Sexualität, sequel. 'Natur' als bürgerlicher Projektionsraum am Beispiel von The Blue Lagoon (1980) und Return to the Blue Lagoon (1991), 1999, 57-83.
Der Anfang der Erzählung der Acta
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A. Der Anfang der Erzählung der Acta Bei jeder Erzählung stellt sich die Frage, wie beginnen? Oder anders gewendet: Ein guter Beginn vermag Lesende oder Hörende zu bannen und ihnen den Weg in die Geschichte zu ermöglichen. Damit ist bereits eine wichtige Funktion des Beginns einer Erzählung benannt. Der Beginn hat eine Brückenfunktion, er soll die Hörenden aus ihrer Welt in die Welt der Erzählung hinüberführen. Umso überraschender ist es, dass sich die Erzähltheorie bisher wenig den Funktionsweisen und Gesetzen von Erzählanfängen zugewendet hat.2 Eine der Ausnahmen bildet Boris Uspenskij, der in seiner Poetik der Komposition eine Hauptfunktion des Erzählrahmens darin sieht, dem Lesenden zu ermöglichen, vom Außenstandpunkt zum Innenstandpunkt zu wechseln. Der Anfang einer Erzählung hat nach Uspenskij die Aufgabe, den Eingang in die erzählte Welt zu ermöglichen und der Schluss einer Erzählung, den Ausgang aus dem Werk zu gewährleisten.3 Während zu dem Erzählanfang des Lukasevangeliums schon eine Reihe von Untersuchungen vorliegen4, hat der Erzählanfang der Acta in der Forschung noch nicht so viel Aufmerksamkeit erhalten und die Ergebnisse differieren erheblich, da bereits der Versuch einer Bestimmung des Endes des Anfangs eine Vielzahl von Hypothesen evoziert hat.5 Elizabeth Struthers Malbon hat drei Hauptfunktionen von Erzählanfängen benannt6, die sich auch in der Analyse der Acta als weiterführend erweisen: (i) Die interactional fitnction: Der Erzählanfang stellt eine Verbindung her zwischen dem Text und den Leserinnen bzw. Hörerinnen. Diese Funktion 2 Vgl. aber Funk, Poetics, 207-226, sowie das von Smith herausgegebene Heft Semeia 52, 1991, zum Thema: How Gospels Begin? In diesem Heft vgl. vor allem die Bibliographie von Parsons, How Narratives Begin: A Bibliography, 33-41, sowie die Beiträge von Smith, Narrative Beginnings in Ancient Literature and Theory, 1-9; Parsons, Reading a Beginning / Beginning a Reading: Tracing Literary Theory on Narrative Openings, 11-31; Tyson, The Birth Narratives and the Beginning of Luke's Gospel, 103-120; die Responses stammen von Malbon, Ending at the Beginning: A Response, 175-184; Tannehill, Beginning to Study "How Gospels Begin", 185-192. 3 Vgl. Uspenskij, Poetik der Komposition, 1970/1975, 149 passim. 4 Vgl. etwa Tyson, The Birth Narratives and the Beginning of Luke's Gospel, 1991, 103120; Fearghail, The Introduction to Luke-Acts. A Study of the Role of Lk 1,1-4,44 in the Composition of Luke's Two-Volume Work, 1991; Coleridge, The Birth of the Lukan Narrative. Narrative as Christology in Luke 1-2, 1993; Sheeley, Following Everything Closely: Narrative Presence in Luke 1-2, 1993, 100-110. 5 Vgl. dazu nur Walton, Where Does the Beginning of Acts End?, 1999,447-467. Narratologische Überlegungen zum Erzählbeginn der Acta finden sich in Parsons, Departure of Jesus, 1986, 151-186; ders., Christian Origins and Narrative Openings: The Sense of a Beginning in Acts 1-5, 1990, 403-422; Tannehill, Narrative Unity II, 9-25; Marlow, A Narrative Analysis of Acts 1-2, 1991; Sheeley, Narrative Asides in Luke-Acts, 1992, 134-135 (er begründet seine Abgrenzung von Act 1,1-5 leider nicht). Vgl. auch die konventioneller ausgerichteten Untersuchungen von Palmer, The Literary Background of Acts 1.1-4, 1987, 427-438 (dieser Beitrag ist vorrangig formgeschichtlich ausgerichtet mit der These: "Luke has combined features of the various forms [prologue, appearance , farewell scene, and assumption], in order to create a unified introduction to the book of Acts as a whole", ebd. 427), und Zwiep, The Ascension of the Messiah in Lukan Christology, 1997, 94ff. 6 Vgl. Malbon, Ending at the Beginning: A Response, 1991, 175-184.
142
Narratologische Analyse der Apostelgeschichte
erfüllen in hervorragender Weise im Corpus Lucanum die Erzählerkommentare in den Prologen (Lk 1,1-4; Act 1,1). In beiden Prologen spricht der Erzähler als anonym bleibendes 'Ich' ausdrücklich den Erzähladressaten Theophilus an, den er im ersten Prolog ausführlich über seine Erzählweise aufklärt (Lk 1,1-4) (s.o. Π.Β.2.). Der Erzählkontrakt, den der Erzähler in Lk 1,1-4 formuliert hat, wird in der erneuten direkten Ansprache an Theophilus implizit aufgerufen und damit auch für das zweite Buch reklamiert. Zudem erfüllt die erneute Anrede an Theophilus im ersten Satz des zweiten Buches (Act 1,1) eine phatische Funktion. Der Kommunikationskanal zwischen Erzähler und Erzähladressaten wird erinnert und stabilisiert. (ii) Die intertextual function: In den Erzählanfängen werden Verbindungen aufgebaut zu anderen Texten, entweder derselben Gattung, wie etwa dem Märchen, wenn es heißt "es war einmal..." oder etwa durch die Sprache oder die geschilderten Ereignisse. Für das Lukasevangelium ist zu konstatieren, dass sein Erzählbeginn einen intertextuellen Bezug zur Septuaginta herstellt, indem deren Sprache gesprochen wird (Lk 1-2). Im Erzählanfang der Acta wird dagegen explizit auf "das erste Buch", das Lukasevangeliums rekurriert. Zum einen, indem der Erzähler die Geschichte des Lukasevangeliums kurz summarisch wiedergibt (Act 1,1-3) und zum anderen erneut das in Szene setzt (Act 1,4-13), was bereits am Ende des Lukasevangeliums szenisch erzählt wurde (Lk 24,36-53), nämlich die Erscheinung des Auferstandenen vor seinen Jüngerinnen7, den Abschiedsdialog und schließlich seine Erhöhung (Act 1,413). (iii) Die intratextual function: Erzählanfänge dienen dazu, eine Welt aufzubauen. Sie schaffen ein setting, wo überhaupt die Ereignisse stattfinden, sie führen Figuren ein, die für die Erzählung virulent sind, sie geben Themen der Erzählung vor und markieren rhetorische Modi des Erzählens. Bei all diesen Vorgaben hat der Anfang auch die Funktion, eine Spannung aufzubauen und Neugierde zu wecken und so die Leserinnen bzw. Hörerinnen für die Geschichte zu gewinnen.8 Auch Uspenskij betont, dass der Anfang einer Erzählung die Aufgabe hat, die Leserinnen bzw. Hörerinnen in die erzählte Welt hineinzuführen und sie mit dieser vertraut zu machen. Der Beginn der Erzählung der Acta erfüllt in hervorragender Weise diese Funktionen. Aber bevor das im Einzelnen gezeigt werden kann, muss die Frage geklärt werden, wo der Beginn endet. In der Forschung gibt es dazu eine Fülle von Hypothesen. Die Vorschläge reichen von Act 1,1-5; 1,1-8; 1,1-11; 1,1-14; 1,1-26; 1,1-2,41 bis hin zu l,l-2,47. 9 Diese Vielfalt der Vorschläge markiert ein Problem, das dem Text der Acta selbst innewohnt: Die Erzählung ist hier nicht eindeutig. Vielmehr hat der Erzähler einen gleitenden Übergang 7 Nach lukanischem Verständnis handelt es sich dabei um einen größeren Kreis von Nachfolgerinnen Jesu, bestehend aus den zwölf Aposteln und weiteren Männern und Frauen (Lk 24,9-10; Act 1,14). Unter den Frauen werden namentlich Maria Magdalena, Johanna sowie Maria, die Mutter des Jakobus genannt (Lk 24,10) und außerdem Maria, die Mutter Jesu (Act 1,14). 8 Malbon, Ending at the Beginning, 1991, 184: "A beginning must leave gaps, tensions, mysteries in order for the hearer / reader to desire to continue." 9 Vgl. dazu die Darstellung und Diskussion der verschiedenen Forschungspositionen von Walton, Where does the Beginning of Acts End?, 1999, 447-467.
Der Anfang der Erzählung der Acta
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(smooth transition) in das zweite Buch geschaffen, wie es immer wieder in der Forschung zutreffend festgestellt wird.10 Gemäß den von Struthers Malbon genannten Funktionen von Erzählanfängen ist der Beginn der Erzählung der Acta in den ersten 14 Versen zu sehen, welche diese drei Funktionen des Anfangs beinhalten. Sie stellen erneut die Kommunikationssituation zwischen dem als anonymes 'Ich' hervortretenden Erzähler und seinem Erzähladressaten Theophilus her (Act 1,1). Sie haben einen ausgeprägten intertextuellen Bezug zum Lukasevangelium, indem sie dessen Inhalt erneut, summarisch erzählen und die Abschieds- und Erhöhungsszene Des Auferstandenen reinszenieren. Und zudem führen sie in die erzählte Welt ein, indem sie wichtige Figuren und den geographischen Horizont der weiteren Handlung, von Jerusalem bis an das Ende der Erde, aufzeigen. Außerdem werden bevorstehende Ereignisse der Geschichte in proleptischen Summaren vorweggenommen: Die Verleihung des Heiligen Geistes (Act 1,4-5.8), die vor allem für das jüdische Volk der gesamten Ökumene (Act 2) und exemplarisch für die Völker (Act lOf.) in Szenen dramatisch gestaltet wird, sowie die Zeugenschaft der Jüngerinnen "bis ans Ende der Erde" (Act 1,8), der die gesamte Geschichte bis zu ihrem Erzählende gilt. Beide Geschehen sind als Voraussagen des Auferstandenen deklariert und sind damit auf der Ebene der Erzählung zukunftsgewiss. Auch der Inhalt und der Zielpunkt der Zeugenschaft wird zweimal summarisch bestimmt: Zum einen als Basileia Gottes (Act 1,3) und zum anderen als Wiederherstellung bzw. Apokatastasis der Basileia für Israel (Act 1,6)." Vom Zeitpunkt der Erreichung dieses Zieles sagt der Auferstandene seinen Jüngerinnen nur, dass es ihnen nicht zustehe, diesen zu erfahren. So bleibt der Zeitpunkt der endgültigen Aufrichtung der Basileia Gottes - verbunden mit der Apokatastasis der Basileia für Israel - offen bis zum Ende der Erzählung. 1. Der Erzählanfang der Acta (Act 1,1-14) Der Erzählanfang der Acta umfasst somit Act 1,1-14 und lässt sich folgendermaßen untergliedern: a) Summar: Das erste Buch (Act 1,1-3), b) Szene 1: Der Auferstandene kündigt die Geisttaufe in Jerusalem an (Act 1,4-5), c) Szene 2: Letzter Dialog des Auferstandenen mit seinen Jüngerinnen, Erhöhung, Deutung durch zwei Engel (Act 1,6-11), d) Summar und Pause: Rückkehr nach Jerusalem (Act 1,12-14). a) Summar: Das erste Buch (Act 1,1-3) Wie schon dargelegt erneuert der Erzähler in der direkten Anrede seines Erzähladressaten Theophilus den zu Beginn des Lukasevangeliums formulierten Erzählvertrag. Damit stabilisiert er den Kommunikationskanal zwischen sich und seinem Adressaten. Die Anrede des Theophilus bindet der Erzähler ein in
10 Z.B. Zwiep, Ascension of the Messiah, 94; Sheeley, Narrative Asides, 134; Tannehill, Narrative Unity II, 9. 11 Genaueres zur Apokatastasis der Basileia für Israel s.u.
Narratologische Analyse der Apostelgeschichte
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eine Zusammenfassung dessen, was "ich im ersten Buch berichtet habe" (τον μεν πρώτον λόγον έποιησάμην) (Act 1,1a). Das präzisiert er weiter als das, "was Jesus angefangen hat zu tun und zu lehren" (ών ήρξατο ό Ίησοϋς ποιεί ν τε καΐ διδάσκει ν) (Act 1,1b) bis zum Tag seiner Erhöhung (Act 1,2a). Mit diesen Worten ist das Lukasevangelium zusammengefasst (Lk 2,41-24,53). Nach dieser Zusammenfassung des Lukasevangeliums folgt ein Summar speziell des Geschehens zwischen Auferstehung und Erhöhung Jesu (Act l,2b-3), wie es bereits am Ende des Lukasevangeliums in einer dramatischen Szene erzählt wurde (Lk 24,36-49). Anders als im Lukasevangelium, wo der Erzähler diese Ereignisse auf einen einzigen Tag zusammenballt, spricht der Erzähler in den Acta nun von 40 Tagen, an denen der auferstandene Jesus seinen Jüngerinnen erschienen ist und über die Basileia Gottes gesprochen hat (δι' ημερών τεσσεράκοντα όπτανόμενος αύτοΐς και λέγων τα περί της βασιλείας τοΰ θεοΰ) (Act 1,3b). Nach diesem noch sehr allgemein gehaltenen, in hoher Geschwindigkeit erzählten Summar folgt die erste Szene der Acta, die als Mahlsituation vorgestellt wird. Zunächst seien die augenfälligsten Abweichungen dieser zusammenfassenden Rückblicke auf die szenische Erzählung am Ende des Lukasevangeliums benannt. Wie schon erwähnt, werden die Erscheinungen des Auferstandenen in dem Summar der Acta auf 40 Tage ausgeweitet, während im Lukasevangelium nur von einem Tag die Rede ist (Lk 24,1.13.29.33.36.50). Mit der Zahl 40 spielt der Erzähler in den Acta, für jüdische Leserinnen erkennbar, auf Ereignisse aus der Geschichte Israels an. Das sind vor allem die vierzig Jahre Israels in der Wüste (Ex 16,35; Ps 95,10; Arnos 5,25 u.ö.), auf die auch in den in den Acta von Stephanus und Paulus erzählten Rückblicken auf die Geschichte Israels explizit Bezug genommen wird (Act 7,30.36.42; 13,18).12 Zu denken wäre auch an den vierzigtägigen Aufenthalt von Moses auf dem Berg Sinai (Ex 24,18; 34,28; Dtn 9,9.11.18.25; 10,10), wobei dann dieser Zeitraum die Funktion hat, die Vollständigkeit der Belehrung der Jüngerinnen durch den Auferstandenen anzuzeigen.13 Mit der Festlegung der Erscheinungen auf 40 Tage stellt der Erzähler die Zeit zwischen Auferstehung und Erhöhung Jesu implizit in den Horizont der Geschichte Israels, speziell der Zeit des Mose, und knüpft darin an sie an14. 12
Nach Turner, Power from on High, 244-250, stellt Lukas Jesu messianisches Wirken als ein neues Exodusgeschehen dar, als endzeitliche Errettung Israels. 13 So Prieur, Verkündigung der Gottesherrschaft, 91, der auf einen analogen Vorgang im 4 Esr 14,23f.36.42-45.49[47] und syrBar 76 aufmerksam macht. Auch hier geht eine vierzigtägige Zeit der Belehrung bzw. Offenbarung der Entrückung voraus. Auch diese Texte knüpfen wohl an die Sinaitradition an, 4 Esr 14,2-6,23f. jedenfalls sogar explizit. Ähnlich auch Zwiep, Ascension, 116: "The forty days have a strong associate force. They are not to prepare Jesus for his heavenly ministry, but to convince his disciples of his resurrection and to have them prepared for their future mission. The forty days have their closest parallel in the 40 days of final instructions preceding the assumption of Ezra and Baruch and reflect the rabbinic emphasis on reliable instruction." 14 Die 40 Jahre könnten auch auf die Königszeit Davids (2 Sam 2,10; 5,4; 1 Kön 2,11; 11,42, vgl. auch 2 Kön 12,1; 2 Chr 9,30) anspielen, denn Jesus wird von Anfang an im Corpus Lucanum auch im Horizont der davidischen Herrschaft gedeutet (Lk 1,32-33 im Mund des Engels; Act 2,30-33 im Mund Petri). Vgl. weitergehend Jervell, Apostelgeschichte, 111. Insgesamt dazu Strauss, The Davidic Messiah in Luke-Acts. The Promise and its Fullfillment in
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Die am Ende des Lukasevangeliums in einer langen Szene im dramatischen Modus erzählte Erscheinung des Auferstandenen, die in direkter Rede wiedergegebenen Worte sowie die Rede- und Gedankenberichte15 (Lk 24,36ff) sind hier in den Acta nur summarisch erzählt.16 Die Handlungen des Auferstandenen, etwa das Zeigen seiner Wundmale (Lk 24,39f) und sein Essen (Lk 24,41-43), werden nun im Summar in den Acta zusammenfassend als Beweise (ev πολλοίς τεκμηρίοις) seiner Lebendigkeit gedeutet (Act 1,3a). Der Inhalt der Worte Jesu (Lk 24,36.38-39.41.44.46-48) ist mit dem Begriff 'Basileia Gottes' zusammengefasst (Act 1,3), einem Begriff, der am Ende des Lukasevangeliums nicht vorkommt. Der Begriff der Basileia Gottes, d.h. des Reiches Gottes bzw. der Gottesherrschaft (βασιλεία τοϋ 9eoö) (Act 1,3.6), bildet zusammen mit seiner Erwähnung im Schlussteil der Acta (Act 28,23.31) die theologische Klammer um das zweite Buch.17 Basileia Gottes kommt achtmal in den Acta vor (Act 1,3.6; 8,12; 14,22; 19,8; 20,25; 28,23.31). 18 Neben den Erwähnungen an Lukan Christology, 1995 (vgl. dazu die Rez. von Bendemann: ThLZ 122, 1997, 149-151. Er resümiert: "Für Lk gewinnt das Regententum des davidischen Herrschers ein neues Profil, indem es auf die Heiden als universalisiertes Israel ausgeweitet wird. Innovativ ist die lk Aussage, daß Jesus seine Herrschaft als König und Sohn des Höchsten auf dem Thron Davids [Lk l,32f.] endgültig mit der Auferstehung/Himmelfahrt [Apg 2,29-36] antritt" [151]). Diese Deutung Jesu steht neben der ebenfalls im Corpus Lucanum anzutreffenden Charakterisierung Jesu als des prophetischen Messias, vgl. Turner, Power from on High, 1996, 244-250; Kingsbury, Jesus as the 'Prophetic Messiah' in Luke's Gospel, 1993, 29-42. 15 So werden vor allem die Gefühle der Jüngerinnen vom Erzähler in Form von "Gedankenberichten" erzählt: Sie erschraken, sie fürchteten sich und meinten einen Geist zu sehen, sie glaubten nicht, sie freuten sich und verwunderten sich (Lk 24, 36ff). 16 In der Gesprächssequenz zwischen Jesus und den Emmausjüngem werden die Ereignisse bis zur Auferstehung Jesu wiederholt, aber sehr gerafft erzählt (Lk 24,19-24). 17 Zur 'Basileia Gottes' im Corpus Lucanum vgl. grundlegend die Monographie von Prieur, Die Verkündigung der Gottesherrschaft. Exegetische Studien zum lukanischen Verständnis von βασίλεια τοΰ θεοΰ, 1996, sowie Wolter, 'Reich Gottes' bei Lukas, 1995, 541-563. S. auch ders., 'Was heisset nu Gottes reich?', 1995, 5-19; Weiser, 'Reich Gottes' in der Apostelgeschichte, 1991, 127-135. Schon Weiser, "Reich Gottes", 132, hat gezeigt, dass der Ausdruck in dreifacher Hinsicht im Doppelwerk gezielt eingesetzt wird: "a) Unter räumlichem Gesichtspunkten umfaßt er 'flächendeckend' alle geographischen Räume der jesuanischen und urchristlichen Verkündigung: Galiläa und Judäa (Lk 4,43f; vgl. Apg 10,37 [...]), Samaria (Apg 8,12; vgl. 8,25), Kleinasien und Griechenland (Apg 19,8.25), Rom (Apg 28,23.31) und darüber hinaus (Apg 28,31; vgl. 1,8: bis an die Grenzen der Erde), b) Unter personalem Gesichtspunkt ist der Ausdruck bezogen auf alle Hauptträger der Verkündigung: auf Jesus (Lk 4,43f; 8,1; 9,11; 16,16; Apg 1,3), auf die Zwölf Apostel und weitere Jünger (Lk 9,2.60; 16,16), auf den 'Hellenisten' Philippus (Apg 8,12), auf Paulus (Apg 19,8; 20,25; 28,23.31) und auf alle Hörergruppen und Adressaten der Botschaft, nämlich auf Juden (z.B. Lk 4,43f; 8,1; 9,2.11; Apg 1,3), Samariter (Apg 8,12), einzelne Juden und vor allem Heiden (Apg 28,31). c) Unter zeitlichem Gesichtspunkt ordnet Lukas den Ausdruck allen Phasen der heilsgeschichtlichen Entwicklung innerhalb der mit Jesu Auftreten beginnenden Erfüllungszeit zu, nämlich der Zeit des Wirkens Jesu selbst, wie auch der Zeit der Kirche (Lk 16,16) und innerhalb dieser sowohl der Zeit der apostolischen wie nachapostolischen Verkündigung (Apg 20,25)." 18
So ist es auch nicht weiter überraschend, dass LukA als einziger neutestamentlicher Schriftsteller den Ausdruck "das Reich (Gottes) verkündigen" verwendet und zwar in der Kombination mit verschiedenen Verben: ευαγγελίζω (Lk 4,43; 8,1; 16,16; Act 8,12), κηρύσσω (Lk 8,1; 9,2; Act 20,25; 28,31), λαλίω (Lk 9,11), διαγγελλω (Lk 9,60), λέγω (Act 1,3), πείθω (Act 19,8) oder διαμαρτύρομαι. (Act 28,23).
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Schlüsselstellen wie dem Anfang und dem Ende der Acta, wird er auch im Verlauf der Erzählung in nicht unwesentlichen Zusammenhängen gebraucht. So etwa im Zusammenhang der ersten Verkündigung außerhalb Jerusalems (Act 8,12), innerhalb der paulinischen Verkündigung in Ephesus zu Beginn der sog. dritten Missionsreise (Act 19,8) und innerhalb der Abschiedsrede des Paulus in Milet (20,25). Basileia Gottes wird hier endgültig zum summarischen Begriff dafür, was die Verkündigung von und über Jesus bedeutet (vgl. auch schon Lk 4,43; 8,1; 9,2; 9,60).19 In seiner ersten Erwähnung der Basileia Gottes in den Acta fasst der Erzähler speziell die Worte des Auferstandenen vor seiner Erhöhung zusammen. Einige dieser Worte wurden im ersten Buch teilweise in direkter Redewiedergabe erzählt (Lk 24,44-49). Im Evangelium liegt in diesen Worten die Betonung auf der Schriftgemäßheit des Leidens und der Auferstehung des Messias (Lk 24,44-45), der Verkündigung der Buße zur Vergebung der Sünden unter allen Völkern (Lk 24,47) sowie der Zeugenschaft der Jüngerinnen, die dafür die Kraft des vom Vater verheißenen Heiligen Geistes erhalten (Lk 24,48f.). Die im Evangelium entfalteten Aspekte der Rede des Auferstandenen werden nun im Erzählanfang der Acta nur teilweise explizit rezipiert und zugleich kommen neue Aspekte hinzu. Die folgende szenische Erzählung der letzten Ge-spräche des Auferstandenen mit seinen Jüngerinnen vor seiner Erhöhung (Act 1,4-8) rezipieren das Thema der Zeugenschaft der Jüngerinnen und die Verheißung des Heiligen Geistes (Act 1,4-5.8). Nicht ohne Grund, denn beide Aspekte sind die großen Themen des zweiten Buches. Neu hinzu kommen die Terminierung der bevorstehenden Geisttaufe und die Entgegensetzung von Wasser- und Geisttaufe. Des Weiteren kommen die Frage nach der Apokatastasis der Basileia für Israel und der Ausblick auf die Parusie neu hinzu (Act 1,6-7.11).20 b) Szene 1: Der Auferstandene
kündigt die Geisttaufe
in Jerusalem
an (Act
1,4-5)
Die erste Szene der Acta setzt mit Vers 4 ein.21 Der Erzähler verlangsamt die hohe Erzählgeschwindigkeit der Summare, indem er dem Erzähladressaten unvermittelt in eine Mahlsituation (συναλιζόμενος)22 versetzt, die an Lk 24, 41ff. erinnert. Insgesamt ist das Essen des Auferstandenen betont und damit die Leiblichkeit der Auferstehung (Lk 24,30.41-43; Act 1,4).23 Es folgt eine Instruktion des Auferstandenen in indirekter Redewiedergabe, die zum Versende unvermittelt in direkte Rede übergeht (ην ήκούσατ! μου).24 Von jetzt an wird nahezu zeitdeckend erzählt. Die direkte Rede verringert zugleich die Dis19
So auch Prieur, Verkündigung der Gottesherrschaft, 9 passim. Auch Prieur, Verkündigung der Gottesherrschaft, 92, nimmt die letzten Worte Jesu im Lukasevangelium sowie die im Erzählanfang der Acta erzählten Worte Jesu zum Anlass, den Begriff der Basileia Gottes inhaltlich zu füllen. 21 So etwa auch Haenchen, Apostelgeschichte, 158; Prieur, Verkündigung, 95. 22 Zur Deutung von συναλίζομαι als "gemeinsam zu Tische sein, zusammen essen" vgl. EWNT2 3, 711-712 und Jervell, Apostelgeschichte, 112. 23 Es ist die dritte Mahlsituation mit dem Auferstandenen im Corpus Lucanum (Lk 24,30f.; 42f.; vgl. Act 10,41). 24 Vgl. Haenchen, Apostelgeschichte, 90. 148 A 5; BDR § 470,2. 20
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tanz zum Erzählten und steigert die Dramatik der Erzählung. Die in indirekter Rede wiedergegebenen Worte des Auferstandenen beinhalten in etwa seine am Ende des Evangeliums in direkter Rede wiedergegebenen Worte unmittelbar vor seiner Erhöhung (Lk 24,49). Er kündigt ihnen die Verheißung des Vaters (την έπαγγελίαν του πατρός) an, das heißt den Heiligen Geist, und ermahnt sie, in Jerusalem darauf zu warten. Nach dieser indirekt wiedergegebenen Rede des Auferstandenen folgen weitere Instruktionen in direkter Rede. Hier kommen nun neue Aspekte hinein, die sich in Lk 24,36ff. nicht finden. Deshalb könnte auch die in Acta l,4f. erzählte Szene mit ihrem Einsatz der direkten Rede unmittelbar an Lk 24,49 angeschlossen werden und mit ihrer 95 Entgegensetzung von Wasser- und Geisttaufe sowie dem Hinweis auf die zeitliche Terminierung des Ereignisses der Geisttaufe (ού μετά πολλάς ταύτας ημέρας) diese fortsetzen. Die Gegenüberstellung von Geisttaufe einerseits und Wassertaufe des Johannes andererseits findet sich hier erstmals im Munde Jesu.26 Im Evangelium nimmt Johannes der Täufer diese Gegenüberstellung vor. Damit ist der Bogen zurück zum Anfang des ersten Buches geschlagen. Dort findet sich in direkter Rede des Johannes der Vergleich seiner Wassertaufe mit der bevorstehenden Geisttaufe des Stärkeren, der mit heiligem Geist und Feuer taufen und Gericht halten wird (Lk 3,16f.).27 An diese Worte des Johannes knüpft der Auferstandene an und unterstreicht damit noch einmal, dass dieser Augenblick nun kurz bevorsteht. Damit könnte auch angedeutet sein, dass der Gerichtstag unmittelbar bevorsteht. Diese Deutung legt auch die Petrusrede unmittelbar nach der Geistausgießung nahe (Act 2,14-36). Hier beruft sich Petrus auf den Propheten Joel (Joel 3,1-5 LXX), dessen Worte über die Ereignisse vor dem bevorstehenden Tag des Herrn Petrus ausdrücklich nochmals als Gottesrede zitiert (λέγει ό θεός) (Act 2,16f) und damit betont der höchsten Autorität der erzählten Welt zuschreibt. Das im Zitat erzählte Ereignis der Geistausgießung über Männer und Frauen stellt Petrus explizit in den Kontext der Ereignisse der "letzten Tage" (εν ταΐς έσχάταις ήμεραις) (Act 2,17), womit er das μετά ταϋτα aus Joel 3,1 präzisiert. Im Zitat werden apokalyptische Bilder der Endzeit aufgerufen und die Geistausgießung wird als Auftakt dieses Geschehens gedeutet. In der erzählten Welt sind mit der Ankündigung der kurz bevorstehenden Geisttaufe somit Fragen und Phantasien über das Eschaton aufgeworfen.
25 Diese Gegenüberstellung begegnet erneut in Acta in der Verteidigungsrede des Petrus in Jerusalem nach der Geisttaufe aller Angehörigen und Besucherinnen des heidnischen Hauses des Cornelius. Petrus zitiert hier die Entgegensetzung von Wasser- und Geisttaufe als 'Herrenwort' (έμνήσθην δε τοϋ ρήματος του κυρίου) in Anspielung auf die Abschiedsszene, der seine Erzähladressaten in Jerusalem auch beigewohnt haben (Act 11,16). 26 Zum Heiligen Geist in Acta s. zuletzt Avemarie, Tauferzählungen, 2002, 129-174, zum Corpus Lucanum vgl. grundlegend Turner, Power from on High. The Spirit in Israel s Restoration and Witness in Luke-Acts, 1996 (vgl. zu Turner auch Avemarie, ebd., 153ff.). 27 Zu der wichtigen Figur Johannes des Täufers vgl. Müller, Mehr als ein Prophet. Die Charakterzeichnung Johannes des Täufers im lukanischen Erzählwerk, 2001.
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c) Szene 2: Letzter Dialog des Auferstandenen mit seinen Jüngerinnen, Erhöhung, Deutung durch zwei Engel (Act 1,6-11) Vor dem Hintergrund der Ankündigung der unmittelbar bevorstehenden Geisttaufe überrascht in der nun folgenden Szene die Frage der Jüngerinnen nach dem Zeitpunkt der Apokatastasis der Basileia für Israel nicht mehr. Sie verbinden mit der Geisttaufe den Beginn des Eschaton und stellen nun ihre Frage zum genauen Zeitpunkt der Restitution des Gottesvolkes, zu dem sie gehören (Jes 11,1-12; Jer 12,14-17; Am 9,11). Die Frage knüpft also thematisch bündig an Act 1,5 an, aber die Überleitung (O'L μεν οΰν συνελθόντες) legt einen Orts- und Szenenwechsel nahe.28 Μεν οΰν markiert im Corpus Lucanum in der Regel eine gewisse Zäsur.29 So wäre hier an einen Ortswechsel von innen (Mahlsituation) nach außen (Erhöhungssituation) zu denken. Aus dem nun folgenden Dialog der Jüngerinnen mit dem Auferstandenen erfolgt unmittelbar seine Emporhebung und sein Verschwinden in einer Wolke (Act 1,9). Dass diese Szene auf dem Ölberg spielt, zeigt eindeutig die Rückkehrnotiz (Act 1,12). In der ausdrücklichen Erwähnung der Versammelten, eben nicht nur der Apostel, deutet sich an, dass die Erscheinungen des Auferstandenen nicht nur den Zwölfen galten. Dass seine Erscheinungen innerhalb eines größeren Kreises von Jüngerinnen und Jüngern erfolgten, erzählt auch das Ende des Evangeliums. Hier werden die Zwölf ausdrücklich zusammen mit weiteren Frauen und Männern zu Zeuginnen der Auferstehung (Lk 24,1-10.22.33.36). Die sich nun anschließende Szene ist erzählerisch durch direkte Rede und interne Fokalisierung dramatisch gestaltet. Sie erzählt: Einen Dialog bestehend aus einer Frage der Jüngerinnen und der Antwort des Auferstandenen (Act 1,6-8) sowie die Erhöhung des Auferstandenen, sein Verschwinden in einer Wolke und das Deutewort der zwei Engel (Act 1,9-11). Diese Szene ist, wie oben schon angedeutet, teilweise am Ende des Lukasevangelium erzählt worden (Lk 24,36ff.). Ein Vergleich zeigt, wo die Übereinstimmungen und Abweichungen der beiden Erzählungen und damit ihre besonderen erzählerischen Akzente in den Acta liegen. (i) Der Dialog zwischen den Jüngerinnen und dem Auferstandenen (Act 1,6-8)
Die Jüngerinnen fragen den Auferstandenen in direkter Redewiedergabe, ob er "in dieser Zeit" - gedacht ist wohl an die Zeit nach der Geistverleihung auch die Basileia für Israel wiederherstellen wird (αποκαθιστάνεις την βασίλείαν τω Ισραήλ) (Act 1,6). Zitierte Rede ist insgesamt ein beim Erzähler häufig anzutreffender erzählerischer Kunstgriff, wichtige Aussagen Jesu durch Fragen seiner Gesprächspartnerinnen in die gewünschte Richtung zu lenken
28 Das die Verbindung zwischen Vers 5 und 6 nicht ganz klar ist, haben auch viele andere Ausleger konstatiert, vgl. nur Haenchen, Apostelgeschichte, z.St.; Roloff, Apostelgeschichte, z.St.; Prieur, Ankündigung, 101. 29 So auch Walton, Beginning of Acts, 448, mit Lit., sowie Avemarie, 469f.: "In Acta führt μεν ow Wechsel in Szene (8,25; 12,5; 13,4; 15,30; 23,18), Handlung (17,17) oder Redethema (17,30; 19,38; 26,4), summarische Mitteilungen am Ende von Erzählsequenzen (2,41; 5,41; 9,31; 16,5) oder neue Handlungsstränge (8,4; 11,19) ein."
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(vgl. Lk 1,34; 11,45; 12,41; 17,37 u.ö.)· 30 Der Auferstandene antwortet auf die Frage ebenfalls in zitierter Rede, wodurch für die Lesenden der Eindruck entsteht, diesem Gespräch beizuwohnen. Die Frage der Jüngerinnen schließt sich, wie oben schon angedeutet, schlüssig an die Verheißung der Geisttaufe durch den Auferstandenen an. Denn nach dem Verständnis der erzählten Welt bedeutete die Geistausgießung ein Ereignis der letzten Tage, der beginnenden Endzeit (Act 2,17) und mit ihr stellte sich auch die Frage nach der Apokatastasis der Basileia für Israel, die nach jüdischem Verständnis damit verbunden war.31 Diese Interpretation gibt der Erzähler selbst vor, indem er Petrus das Prophetenwort Joel 3,1-5 in seiner Pfingstrede als direkte Gottesrede zitieren und das Eintreffen dieses Ereignisses durch Petrus verstärkend als Beginn der "letzten Tage" deuten lässt (Act 2,17). Indem Petrus das Ereignis der Geistausgießung (Act 2,2-4) mit der Gottesrede aus Joel 3,1-5 interpretiert, markiert er den Tag der Ausgießung als Beginn der Endzeit, an deren Ende die Parusie steht. In der Rede des Petrus im Tempel (Act 3,19-21) wird erneut der Topos von der Apokatastasis gebraucht. Hier findet sich in gewisser Weise eine Terminierung für die άποκατάστασις πάντων, die - laut lukanischem Petrus Gott von Anbeginn durch seine Propheten hat verkündigen lassen. Indem Petrus sagt, dass der Himmel den Messias solange aufnehmen muss, bis die Apokatastasis erfolgt, setzt er den Zeitpunkt der Apokatastasis und der Parusie gleich (Act 3,21). Denn die Parusie bedeutet die Wiederkunft des Messias vom Himmel her (Lk 21,27; Act 1,11). Wann genau beides geschehen wird, weiß auch Petrus nicht, es bleibt auch hier ein Geheimnis, wie schon Act 1,6f. Eines jedoch machen diese beiden expliziten Erwähnungen einer Apokatastasis deutlich: Sie wird erfolgen - sie wird selbstverständlich Israel ein32
schließen - , ebenso wie die Parusie erfolgen wird (Act l , 6 f . l l ; 3,21). Für die Zwischenzeit ist der Zeugendienst der Jüngerinnen "bis ans Ende der Erde" vorgesehen (Act 1,8), der, wie sich zeigen wird, eine bestimmte Funktion hat. Der Auferstandene reagiert auf die Frage nach dem Zeitpunkt der Apokatastasis der Basileia für Israel mit einer schroffen Zurückweisung im Hinblick auf den Zeitpunkt. Er weist die Frage nach dem Zeitpunkt entschieden als Kompetenzüberschreitung der Jüngerinnen zurück (Act 1,7). Die Gesprächssequenz führt insofern über das bisher Erzählte hinaus, weil diese Frage in der Schlussszene des Lukasevangeliums (Lk 24,36ff.) noch nicht Bestandteil der
Das betont schon Roloff, Apostelgeschichte, 22. Vgl. etwa Sir 48,10; dazu ausführlich Weiser, Apostelgeschichte, 56; Jervell, Apostelgeschichte, 112ff. 3 2 In der vorliegenden Untersuchung soll nicht erneut die Diskussion um das Parusieproblem im Corpus Lucanum aufgerollt werden, dafür sei verwiesen auf Conzelmann, Die Mitte der Zeit, 87ff.; Gräßer, Das Problem der Parusieverzögerung in den synoptischen Evangelien und in der Apostelgeschichte, I960 2 , sowie jüngst ders., Forschungen zur Apostelgeschichte, 2001, 30-37 passim; Wolter, Israels Zukunft und die Parusieverzögerung bei Lukas, 1997, 405-426. Insgesamt dazu auch Erlemann, Naherwartung und Parusieverzögerung im Neuen Testament. Ein Beitrag zur Frage religiöser Zeiterfahrung, 1995. 30 31
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Erzählung war. Damit wird also ein weiterer Aspekt der Basileia Gottes erörtert und durch den Auferstandenen interpretiert. Was bedeutet nun die Apokatastasis der Basileia für Israel? Israel (Ισραήλ) ist 27 mal im Corpus Lucanum erwähnt und bedeutet "immer das historische Gottesvolk (...), an dem Gott schon in der Vergangenheit gehandelt hat und dem er jetzt die eschatologische Erfüllung bringt"33. Die Jüngerinnen fragen den Auferstandenen ausdrücklich nach der Apokatastasis der Basileia für Israel. Das Verb άποκαθιστάνω kommt einmal im Doppelwerk vor34 und ein weiteres Mal das Substantiv άποκατάστασις (Act 3,20f.)35. Die Grundbedeutung ist "wiederherstellen, in den ursprünglichen Zustand zurückversetzen" und in der Septuaginta hat das Verb die "spezifische Bedeutung der endzeitlichen Wiederherstellung Israels aus der Zerstreuung"36 (vgl. Jer 16,15; 23,8; 24,6; Hos 2,3; 6,11; 11,11; Ps 14,7; 85,2). Auch dem Erzähler des Corpus Lucanum geht es in diesem Sinn um die Apokatastasis der Basileia für Israel. Das zeigt schon der Anfang seines ersten Buches, wo die Frage nach der Apokatastasis der Basileia für Israel, wenn auch mit anderen Formulierungen, von zentraler Bedeutung ist und sich im Munde zuverlässiger Figuren (Gabriel, Maria, Zacharias, Engel, Simeon) findet. Der Engel Gabriel verheißt Maria, dass Gott Jesus den Thron Davids geben und er über das Haus Jakobs ewig herrschen wird (Lk l,32f.). Maria besingt das Erbarmen Gottes gegenüber seinem Kind Israel ('Ισραήλ ποαδός αύτοϋ), welches er den Vätern, Abraham und seinen Nachkommen, auf ewig verheißen hat (Lk 1,5Iff.). Und Zacharias weissagt vom Heiligen Geist erfüllt, dass Gott mit Jesus seinem Volk Israel Erlösung gebracht hat (Lk l,68ff.). Dann verkündigt ein Engel den Hirten eine große Freude, die dem ganzen Volk zuteil werden soll (χαράν μεγάλην ήτις εσται παντί τω λαω) (Lk 2,10): Die Geburt des Retters (Lk 2,11). Die Bezeichnung λαός ist im Corpus Lucanum der Bezeichnung des Volkes Israel vorbehalten.37 Und schließlich werden in zitierter Rede die Worte Simeons innerhalb einer Szene im Tempel in Jerusalem erzählt (Lk 2,25-35). Simeon selbst wird in einer erzählerischen Pause einleitend charakterisiert als gerecht und fromm, der vom Heiligen Geist erfüllt auf den Trost Israels (παράκλησιν τοΰ Ισραήλ) wartete, denn vom Heiligen Geist war ihm offenbart worden, dass er vor seinem Tod den Messias Gottes (τον χριστόν κυρίου) sehen werde (Lk l,25f.). In der dieser Charakterisierung folgenden Szene wird die Begegnung Simeons mit den Eltern Jesu und dem Säugling im Tempel erzählt (Lk 2,27-35). Im Erzählerbericht heißt es, dass Simeon den Säugling in seine Arme nimmt und ihn in direkter Rede als Gottes Rettung (το σωτήριόν σου) bezeichnet, die 33
Sehr prägnant Hauser, Strukturen, 91. Insgesamt achtmal im Neuen Testament, vgl. dazu ausführlich Müller, άποκαθίστημι, άποκαθιστώΐΌ), 310-312. Zur Apokatastasis im Corpus Lucanum vgl. Mußner, Die Idee der Apokatastasis in der Apostelgeschichte, 1967, 223-234; Wainwright, Luke and the Restoration of the Kingdom of God, 1977-78, 76-79; Ravens, Luke and the Restoration of Israel, 1995. 35 Im Neuen Testament nur hier. 36 So Müller, άποκαθίστημι., άποκαθ (.στάνω, 310. 37 Die einzigen Ausnahmen bilden Act 15,14 (vgl. dazu unten III.B.2.); 18,10. Zum Gebrauch von λαός im Corpus Lucanum - das Lukasevangelium weist 36, die Acta weisen 48 Belege a u f - vgl. Tannehill, Unity I, 143-144; Wasserberg, Aus Israels Mitte, 124-126. 34
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Israel und allen Völkern gilt (Lk 2,29-32)38. Hier findet sich in den bereits erwähnten theologischen Deutungen Jesu als "Heil für Israel" erstmals eine Ausweitung auf die Völker (φως εις άποκάλυψιν εθνών).39 Τά έθνη bezeichnen im Corpus Lucanum in der Regel die nichtjüdischen Völker. Diese Ausweitung auf alle Völker findet sich im Lukasevangelium erst wieder in den Worten des Auferstandenen kurz vor seiner Erhöhung (Lk 24,47). Zurück zur Simeon-Szene: Nach einem Erzählerbericht über die Reaktion der Eltern sie staunten (θαυμάζοντες επί τοις λαλουμένοις περί αύτοΰ) - fährt Simeon
mit seiner Rede fort. Und in den nun folgenden Worten wird proleptisch vorweggenommen, was das Corpus Lucanum erzählt, nämlich die Spaltung Israels durch Jesus. Simeon verheißt hier, dass Jesus dazu bestimmt ist, dass viele in Israel durch ihn zu Fall kommen und aufgerichtet werden (εις πτώσιν και άνάστασιν πολλών εν τω Ίσραάλ) und er zu einem Zeichen wird, dem widersprochen wird (εις σημεϊον άντιλεγόμενον) (Lk 2,34). Damit ist der Konflikt vorgezeichnet, der die Erzählung des Corpus Lucanum prägt: Das Heil gilt Israel und den Völkern, aber es wird im Volk Israel teilweise zu Wiederstand führen. 40 Auch auf der Ebene der Figurenkommunikation wird deutlich gemacht, dass Jesu Wirken auch von seinen Jüngerinnen als Erlösungshandeln für Israel aufgefasst wird. Das zeigt der Erzähler etwa im Gespräch der Emmausjünger mit dem Auferstandenen (Lk 24,21). Denn der Auferstandene wiederspricht den Jüngern nicht, sondern bestätigt ihre Hoffnung mit Verweis auf Mose, die Propheten und alle Schriften (Lk 24,27). Die Zeichnung Jesu als Retter Israels im Lukasevangelium wird fortgesetzt in den Acta. Auch hier wird betont, dass Gottes Verheißung dem Volk Israel in Jerusalem und der gesamten Diaspora gilt (Act 2,39)41. Noch an einer weiteren Stelle in den Acta wird die Apokatastasis Israels ausgesagt, aber mit anderen Vokabeln und daher häufig übersehen. In der Rede des Jakobus auf der großen Versammlung in Jerusalem ist die Apokatastasis der Basileia für Israel umschrieben als Wiederaufrichtung des zerfallenen Zeltes Davids (Act 15,16). In diesem Zusammenhang begegnen die Verben άνοικοδομέω und άνορθόω. Die Apokatastasis ist zeitlich als ein Ereignis aufzufassen, das nach Gottes Gewinnung eines Volkes aus den Völkern (Act 15,14), also nach einer fortgeschrittenen Völkermission, erfolgen wird (μετά ταΰτα αναστρέψω) (Act 15,16) (s.u. III.B.2.). Im Einklang damit steht die im Erzählanfang der Acta folgende Antwort des Auferstandenen an seine Jüngerinnen. Denn er weist nicht ihre Erwartung der Apokatastasis der Basileia für Israel zurück, sondern nur ihren Wunsch, den Zeitpunkt dafür zu erfahren. Darüber hinaus entwirft er vielmehr eine Perspektive des von ihnen erwarteten Handelns. 38
Die Formulierungen Simeons knüpfen an Jes 42,6; 46,13; 49,6.9 an. Zur Form- und Traditionsgeschichte von Lk 2,29-32 vgl. Wasserberg, Aus Israels Mitte, 136-138. 40 Es handelt sich hierbei um eine zukunftsgewisse interne Prolepse. Genau dieser Konflikt wird im Evangelium inszeniert durch die Passion Jesu und in Acta durch den anhaltenden Widerstand eines Teiles Israels gegen die Botschaft seiner Zeuginnen. Zur Simeon-Szene vgl. zuletzt Wasserberg, Aus Israels Mitte, 134-147. 41 Bei gleichzeitiger Drohung gegenüber denjenigen, die nicht auf ihn hören (Act 3,22f.). In dieser Schärfe aber nur hier im Corpus Lucanum. 39
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Die Antwort des Auferstandenen auf die Frage der Jüngerinnen hat drei Teile. Als Erstes weist er die Frage der Jüngerinnen als Kompetenzüberschreitung zurück (Act 1,7). Gott hat solche Zeiten festgelegt und es steht den Jüngerinnen nicht zu, diese zu erfahren. Die Erwartung einer Apokatastasis für Israel ist davon unberührt. Nach dieser negativen Antwort folgt zum Zweiten und Dritten eine doppelte Verheißung. Mit einem adversativen άλλά stellt er ihnen die Herabkunft des Heiligen Geistes erneut in Aussicht (schon Lk 24,49; Act l,4f.) und kündigt ihnen ihre Zeugenschaft "in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an das Ende der Erde" an (Act 1,7-8). Beide Verheißungen erfolgen hier zum wiederholten Mal. Bereits in der Erscheinungsszene des Lukasevangeliums sind sie begegnet (Lk 24,47f.49) - in umgekehrter Reihenfolge. Zudem wird die Zeugenschaft dort im Rahmen ihres ethnischen Horizontes ausgesprochen, sie soll "unter allen Völkern" (εις πάντα τά ί=θνη) erfolgen (Lk 24,47), das heißt ausgeweitet auf alle Völker. In den Acta dagegen wird die geographische Dimension der Ausbreitung der Botschaft betont.42 Beide Erwähnungen interpretieren sich jedoch wechselseitig und gehören zusammen. Denn die Wendung "bis ans Ende der Erde" Γ