Poesie und Reflexion zwischen 1755 und 1848: Kulturwissenschaftliche Seitensprünge 9783839464205

Das Erdbeben von Lissabon 1755 und die gescheiterte Revolution von 1848 sind zwei wesentliche Katastrophen der europäisc

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Inhalt
Einleitung
1. Naturbilder und Kunstideen
Einleitung
Erschütterungen der Schöpfung: Lissabon 1755
Aufbrüche zu Idealen
Riskante Künstlichkeit
»…wenn einem die Natur kommt«
Literatur
2. Musterstaat und menschliche Mechanik in Romanen der Aufklärung
Einleitung
Spielarten des Staatsromans
Moral und Satire
Empirie und Staat
Staat machen
Literatur
3. Johann Karl Wezel als Treffpunkt aufklärerischer Energien
Einleitung
Vernunft und Wahnsinn
Die Erziehung des Blöden
Weltverbesserung und Gesellschaftsentwicklung
Tugend und Laster auf Reisen
Literatur
4. Hygiene der Frau. Aufklärerische Lektionen
Einleitung
Normaler Körper oder reiner Körper
Feministischer Putzfimmel
Literatur
5. Theater zwischen Religion und Anthropologie
Einleitung
Jenseits von Bekenntnissen
Dramaturgie des ganzen Menschen
Ein Wort gibt das andere
Literatur
6. Ökonomie und Ironie. Eine romantische Affäre
Einleitung
Dichtung auf dem Markt
Überbieten und entwerten
Poetische Philosophie – Politische Ökonomie
Literatur
7. Historio-politische Romantik: Achim von Arnims Roman Die Kronenwächter
Einleitung
»Man kann keinen Glauben dazu fassen«
Geschichtsimaginationen
Poetische Maskeraden und Doubletten
Literatur
8. Europas kritische Masse
Einleitung
Bevölkerungen, Territorien
Politische Mengenlehren, ideell oder irdisch
Neu-alte Mythen und Massen
Literatur
9. Gebrochene Herkünfte: Heinrich Heine, Friedrich Nietzsche
Einleitung
Heimat. Lyrische Dialoge
Bewegungsfiguren der Freiheit
Nach dem Ende der Vorstellung: Auftritte des Dichters
Literatur
Schluss
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Poesie und Reflexion zwischen 1755 und 1848: Kulturwissenschaftliche Seitensprünge
 9783839464205

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Christa Karpenstein-Eßbach Poesie und Reflexion zwischen 1755 und 1848

Lettre

Christa Karpenstein-Eßbach, geb. 1951, lehrte Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Mannheim. Sie hat u.a. zu Hubert Fichte, der deutschen Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts, den neuen Kriegen in der Literatur und der Kulturwissenschaft der Medien publiziert.

Christa Karpenstein-Eßbach

Poesie und Reflexion zwischen 1755 und 1848 Kulturwissenschaftliche Seitensprünge

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: //dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2023 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Katrin Skora Umschlagabbildung: Celia Brown: Eos. 2008. 30x24 cm. Tusche/Acryl auf Nessel Korrektorat: Christa Karpenstein-Eßbach Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839464205 Print-ISBN: 978-3-8376-6420-1 PDF-ISBN: 978-3-8394-6420-5 Buchreihen-ISSN: 2703-013X Buchreihen-eISSN: 2703-0148 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

Inhalt

Einleitung .................................................................... 7 1. Naturbilder und Kunstideen ............................................. 15 Erschütterungen der Schöpfung: Lissabon 1755 ............................... 15 Aufbrüche zu Idealen........................................................ 22 Riskante Künstlichkeit........................................................ 31 »…wenn einem die Natur kommt« ........................................... 38 Literatur ..................................................................... 41 2. Musterstaat und menschliche Mechanik in Romanen der Aufklärung .. 43 Spielarten des Staatsromans ................................................ 44 Moral und Satire ............................................................ 50 Empirie und Staat .......................................................... 55 Staat machen ............................................................... 61 Literatur .................................................................... 68 3. Johann Karl Wezel als Treffpunkt aufklärerischer Energien ............................................... 73 Vernunft und Wahnsinn.......................................................79 Die Erziehung des Blöden.................................................... 84 Weltverbesserung und Gesellschaftsentwicklung ............................. 90 Tugend und Laster auf Reisen ............................................... 96 Literatur ....................................................................104 4. Hygiene der Frau. Aufklärerische Lektionen ...........................109 Normaler Körper oder reiner Körper .......................................... 111 Feministischer Putzfimmel .................................................. 117 Literatur .................................................................... 121

5. Theater zwischen Religion und Anthropologie .........................123 Jenseits von Bekenntnissen .................................................126 Dramaturgie des ganzen Menschen ..........................................136 Ein Wort gibt das andere .................................................... 141 Literatur .................................................................... 146 6. Ökonomie und Ironie. Eine romantische Affäre ........................ 149 Dichtung auf dem Markt .....................................................150 Überbieten und entwerten ...................................................156 Poetische Philosophie – Politische Ökonomie................................. 161 Literatur ....................................................................168 7. Historio-politische Romantik: Achim von Arnims Roman Die Kronenwächter ..................................................... 173 »Man kann keinen Glauben dazu fassen« .................................... 174 Geschichtsimaginationen.................................................... 179 Poetische Maskeraden und Doubletten .......................................183 Literatur ....................................................................189 8. Europas kritische Masse ............................................... 191 Bevölkerungen, Territorien .................................................. 191 Politische Mengenlehren, ideell oder irdisch..................................196 Neu-alte Mythen und Massen ............................................... 202 Literatur .................................................................... 210 9. Gebrochene Herkünfte: Heinrich Heine, Friedrich Nietzsche ........... 215 Heimat. Lyrische Dialoge .................................................... 217 Bewegungsfiguren der Freiheit ............................................. 220 Nach dem Ende der Vorstellung: Auftritte des Dichters ...................... 223 Literatur ................................................................... 228 Schluss ................................................................... 229

Einleitung

Als 1755 in Lissabon die Erde bebte und die Stadt zerstört wurde, erschütterte dieses Ereignis auch die Weltanschauungen der Zeitgenossen und den Glauben an die Ordnung der Schöpfung. Als 1848 die demokratische Revolution niedergeschlagen wurde, waren die Hoffnungen von liberalen Intellektuellen, Politikern und Schriftstellern begraben und viele zur Auswanderung gezwungen. Vor dem einen Ereignis war es anders, nach dem anderen wird es anders sein. Die beiden Daten – eine Natur- und eine politische Katastrophe – markieren den Zeitrahmen, in dem sich diese kulturwissenschaftlichen Untersuchungen zur Literatur bewegen. In diese knapp hundert Jahre fällt eine Menge von Literatur, die die Geschichtsschreibung immer wieder nach sogenannten Epochen zu sortieren suchte, um große Linien in der literarischen »Entwicklung« zu ziehen. So sehr Epochennamen ihre Funktion als Kürzel für erste fachliche Verständigung haben oder zur Gliederung von Lehrbüchern beitragen – das Anliegen dieser Studien zielt weder auf eine kontinuierliche Literaturgeschichtsschreibung noch auf eine kompakte Epochenkonturierung. Sie möchten sich auf das Abenteuer von kulturwissenschaftlichen Seitensprüngen einlassen. Seitensprünge können angeraten sein in Fällen, in denen ein Hindernis auftaucht, das den Weg versperrt, und ein solches Hindernis ist die Imagination epochaler Einheiten. Ein nächstes Hindernis könnte sich allerdings nach der Umgehung des ersten einstellen: nämlich in der Beschränkung der Darstellung von Einzelwerken, verbunden mit der Insinuation ihres Unikatcharakters steckenzubleiben, während wir doch wissen, dass die literarischen Werke in einem beziehungsträch-

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Poesie und Reflexion zwischen 1755 und 1848

tigen Resonanzraum angesiedelt sind, der sie mit zeitgenössischen Denkhorizonten und Problemlagen verbindet bzw. zu verbinden erlaubt und der zuweilen sogar in die Gegenwart desjenigen reicht, der sich mit ihnen befasst. Seitensprünge sind allerdings nicht allein dadurch motiviert, einem Hindernis auszuweichen. Sie verdanken sich vor allem einer Attraktion oder Faszination, die außerhalb, im Abseits der Hauptstraße liegt, wo, verbunden mit Neugier, andere, neue Perspektiven oder Einsichten zu gewinnen sind, wo sich ein WissenWollen einstellt, das, vielleicht noch tastend und ungewiss, von einer Frage getrieben ist. Dass diese Seitensprünge von einer kulturwissenschaftlichen Absicht getragen sind, verdankt sich (nicht zuletzt) der Geschichte von Umorientierungen in der Literaturwissenschaft, verbunden mit den dazugehörigen Krisen. Zwar ist die Philologie mit ihren Ursprüngen in der Antike älteren Datums als die Literaturwissenschaft, wenn sie sich um die Rekonstruktion und das Erklären alter Texte kümmert; mit dem 19. Jahrhundert aber wird Philologie zu Nationalphilologie, die an der Pflege und Ausbildung eines über Sprache und Literatur vermittelten Nationalbewusstseins arbeitet und den Tiefenraum von Geschichte und Kultur als Quelle für die Formierung des Volkes als Nation entdeckt. Spätestens mit den Modernitätskatastrophen des 20. Jahrhunderts sind aber solche Fundierungen als Legitimitätsbasis der Literaturwissenschaft so problematisch geworden wie das gesicherte Selbstverständnis der Geisteswissenschaften, von denen dann auch als den »sog. Geisteswissenschaften« gesprochen wurde. Die Literaturwissenschaft hat darauf geantwortet, indem sie sich auf das sprachliche Kunstwerk selbst und seine immanente Ästhetik konzentrierte, um alle Kontaminationen nationalliterarischer Art mit ihren politischen Implikationen zu vermeiden und nicht in die Abgründe der eigenen Fachgeschichte blicken zu müssen. Als literaturwissenschaftliche Gegenbewegung zu dieser Abstinenz in der Immanenz darf man die sozialgeschichtlich orientierten Zugänge zur Literatur verstehen, die mit der Historisierung von Literatur und Literaturwissenschaft von den sozio-kulturellen Umständen und Bedingungen geistiger Artefakte ausgeht, dafür aber den Preis zahlt, dass das literarische Werk bzw. das sprachliche Kunstwerk in

Einleitung

seiner an ästhetischen Kriterien zu erfassenden Singularität durch seine Verkettung im gesellschaftlichen Zusammenhang zu verschwinden droht. Nation, Kunstwerk, Sozialgeschichte: das sind die drei Stichworte, mit denen sich die Krisengeschichte der Literaturwissenschaft in aller Kürze skizzieren lässt. Ein vierter Faktor dürfte im Umbau der Philosophischen Fakultäten von einer Bildungsinstitution zu einem Ausbildungsbetrieb auf Massenbasis liegen, dessen Funktion darin besteht, gesellschaftlich relevantes Orientierungswissen bereitzustellen, sodass von Bildung auf die Selektion von Bildungsinhalten umgestellt wird. Aber die Literaturwissenschaft hat ein, wenn nicht erlösendes, so doch anderes Wort gefunden, um auf ihre Krisen zu antworten: Kultur. Was unter Kultur zu verstehen ist, umfasst ein breites Spektrum, es reicht von einem sehr weit gefassten Begriff, wonach darunter die gesamte Menschentätigkeit fällt, über Kultur als einer besonderen Pflegebeziehung bis hin zu einem engen Verständnis, das auf das Gebiet geistiger Objektivationen im Unterschied etwa zu Gesellschaft oder Wirtschaft beschränkt ist. Das Kompositum aus Kultur und Wissenschaft tritt sowohl im Singular wie im Plural auf. In der Pluralbildung handelt es sich um einen Ersatzbegriff für die alten, in den Fächern der Philosophischen Fakultät beheimateten Geisteswissenschaften wie die Philologien, die Ethnologie, Philosophie, Kunstgeschichte oder Archäologie. Ob sich die Umstellung von »Geist« auf »Kultur« hier der schwindenden Kraft des Geistes oder seiner potentiellen Gefährlichkeit verdankt, sei dahingestellt, auf jeden Fall ist Kultur »demokratischer« als Geist, weil es erstere auch ohne letzteren geben kann. Zum Aufstieg der Referenz auf Kultur als Gegenstand der Wissenschaft gehört aber auch ein theoretisch-methodischer Diskurs der Singularisierung zu der Kulturwissenschaft, die sie von der Pluralbildung als Ersatz für Geisteswissenschaften unterscheidet. Die Kulturwissenschaft, verstanden als eigenständige Disziplin, teilt mit dem Begriff Kultur das Problem, ihren Gegenstandsbereich zu bestimmen, denn grundsätzlich können alle möglichen kulturellen Praktiken, alle Dokumente und Artefakte mit ihrer wie auch immer gearteten kulturellen Funktion und Bedeutung darunter fallen. Wenn Literatur dann

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Poesie und Reflexion zwischen 1755 und 1848

überhaupt noch vorkommt, was nicht zwingend der Fall sein muss, so im Blick auf ihre Verbindung mit Kultur im Allgemeinen. Eine solche Perspektive, die in den je besonderen Gegenständen eines Faches das aufsucht, was sie mit Kultur im Allgemeinen zu tun haben, ist nun aber im Prinzip in jeder wissenschaftlichen Disziplin möglich, nicht nur in den Geisteswissenschaften, sondern auch in der Jurisprudenz, der Medizin, den Wirtschafts- oder Technikwissenschaften. So schwierig es deshalb um die Begründung der Kulturwissenschaft als eigenständiges Fach bestellt ist – der theoretische Impuls, der in Gestalt der Krisenantwort »Kultur« aufgetreten ist, erlaubt eine sinnvolle und nötige Öffnung fachspezifischer Fragehorizonte für kulturelle Implikationen ihrer Gegenstände. Aber in Sachen Literatur kommt eine Besonderheit hinzu. Die Literaturwissenschaft hat es mit einem Gegenstand zu tun, der diese Öffnung auf Kultur, die Lebensgewohnheiten und -umstände, Überzeugungen, Konflikte und Denkweisen von Menschen, schon mit sich trägt, denn anders als die anderen Künste wie Musik, Bildende Kunst oder Architektur kann Literatur alle nur möglichen kulturellen Phänomene, Praktiken und Artefakte zu ihrem Thema machen. Es gibt schlechterdings nichts, was nicht aufgrund der sprachlich verfassten Imaginationswelten der Literatur nicht Gegenstand ihrer Darstellungen werden könnte und worauf sie sich nicht in einem gleichsam sekundären Akt des Redens und Schreibens darüber beziehen könnte. Eine Verbindung von Poesie und Reflexion ist der Literatur schon inhärent, weil sie ihre Vermitteltheit mit Kultur selbst expliziert. Man könnte in der Untersuchung von literarischen Werken geradezu den Königsweg zur Untersuchung von Kultur sehen. Gewendet für eine kulturwissenschaftlich inspirierte Literaturwissenschaft geht es darum, die Kontextoffenheit der Werke in die Kontextoffenheit der Interpretation so zu transformieren, dass Bezüge und Resonanzen zwischen literarischen Werken und anderen, nicht-fiktionalen Texten kulturellen Wissens hergestellt werden, die Denkfiguren und Problemlagen einer Zeit erkennbar machen. Die Verbindung von Poesie und Reflexion ist deshalb nicht nur eine Angelegenheit, die in der Literatur selbst beheimatet ist, sondern auch eine des kulturwissenschaftlichen Verfahrens,

Einleitung

das Brücken schlägt zwischen der Literatur und den Dokumenten außer-literarischer Gebiete des Denkens und Wissens. Die Zugänge zur Literatur unseres Zeitraumes sind von dem Interesse geleitet, Beziehungen herzustellen, und haben den diskursanalytischen Zugängen zu Literatur wie dem New Historicism viel zu verdanken. Es geht um Beziehungen in mehrfacher Hinsicht. Sie bringen literarische Werke, z.T. auch weniger bekannte, miteinander in Verbindung unter dem Aspekt einer bestimmten Thematik, die ihren zeitgenössischen Rahmen hat, aber auch über ihn hinausführen kann, weil an späterer Literatur Persistenzen oder Verschiebungen in der Weise, wie eine Problematik gedacht und gestaltet wird, erkennbar werden können. Zuweilen führen die Wege bis hin zu Werken der Literatur unserer Gegenwart, in denen sich erweist, dass Vergangenes alles andere als tot und erledigt ist. Das Bestreben, Relationen herzustellen, bezieht sich jedoch nicht allein auf die Konstellierung literarischer Werke, sondern auch darauf, Resonanzen zwischen Literatur und außerliterarischen Diskursen der Zeit, kurz: zwischen Poesie und Reflexion zu entwickeln. Schriftsteller schreiben unter dem Druck ihrer Gegenwart, sind eingebunden in die intellektuellen, politischen und wissenschaftlichen Diskussionen, in denen sich das Denken einer Zeit seine Kontur zu geben versucht, Vorstellungen und Diskurse formiert werden, aufgeschrieben in Texten, die, von heute aus gesehen, zuweilen skurril und abseitig erscheinen mögen, deren Wert aber gerade darin besteht, spezifische Zonen vergangener Denkinteressen erhellen zu können. Die Beziehungen zwischen den einzelnen Kapiteln dieses Buches schließlich sind Ausdruck des übergreifenden Interesses, die Untersuchungen zur Literatur zwischen 1755 und 1848 an drei Fragerichtungen zu orientieren: der anthropologischen Reflexion, dem Denken des Politischen bzw. der politischen Theorie und den Verschränkungen von Literatur und Wissen. Literatur hat hier ihre Affären. Sie seien beispielhaft kurz skizziert. Anhand der Werke Johann Karl Wezels und nicht-literarischen Diskursen der Zeit werden Konturen eines Wissens und Denkens entfaltet, die unter dem Namen der Aufklärung Fragen der Vernunfttätigkeit und -kritik, der Erziehung, der Weltverbesserung, der Tugend und des Lasters behandeln; hier

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Poesie und Reflexion zwischen 1755 und 1848

gibt das Werk eines Dichters, das nicht zu den Stationen literaturgeschichtlicher Hauptstraßen gehört, in besonderer Weise Auskunft über relevante Denkzonen und Antriebskräfte des Wissens. – Die anthropologische Frage führt, wie beispielsweise im Kapitel über »Musterstaat und menschliche Mechanik«, zur Reflexion von Menschenfassungen, zur Spannung zwischen faktischer und normativer Natur des Menschen mit ihrer entsprechenden Zergliederung, die zu Gesellschaftskonzepten oder Utopien umgewendet werden. Sie führt aber auch, wie im Kapitel zur »Hygiene der Frau«, mitten hinein in einen nachhaltig persistierenden Geschlechterkomplex, der dem Körper der Frau eine Natur attestiert, die normativ zu traktieren ist. – Das Denken des Politischen mit seinem Spannungsreichtum, das spätestens mit der Erfahrung der Französischen Revolution als Aufgabe zutage tritt, gewinnt seine Konturen dort, wo es um Deutschland im europäischen Rahmen der politischen Gliederung von Staaten oder Ländern mit ihrer Bevölkerung wie im Kapitel »Europas kritische Masse« geht, oder um Gründungsmythen eines Reiches, wie sie in Achim von Arnims »Kronenwächter«Roman kritisch verhandelt werden. Aber der Komplex des Politischen führt über die politische Ordnung Europas hinaus in die politische Ökonomie und zur eigentümlichen Verwandtschaft zwischen romantischer Ironie und dem Denken der Marktwirtschaft. Mit diesen Bemerkungen vorab sind die jeweiligen Schwerpunkte genannt, die auf einem der drei leitenden Problemkomplexe liegen, aber Denkfiguren des Politischen werden sich auch überlappen mit anthropologischen oder diese mit solchen des Wissens. Insofern sind die drei Komplexe, die die Kapitel durchziehen und die Wege in die Literatur bahnen, nicht so strikt voneinander geschieden wie dies akademische Disziplinen nahelegen, was sich schließlich auch der Neigung der Literatur selbst zu Grenzüberschreitungen oder -verletzungen im Unterschied zu disziplinärem Wissen verdankt. Das erste Kapitel ist als Einführung zu verstehen, in dem der Zeitraum von 1755 bis in die vorrevolutionäre Zeit durchmessen wird. Dieser Durchgang wird geleitet von einer Frage, die ihre heute dringende Aktualität nicht verleugnen möchte: wie werden, nach einer Naturkatastrophe wie der von Lissabon 1755, die Auffassungen von und

Einleitung

Beziehungen zu Natur literarisch ausgearbeitet und in welche Positionen wird die Artefaktwelt der Kunst gegenüber Natur eingerückt? Es ist eine Geschichte, in der sich die Welt der Natur und die der Kunst im Spannungsgefüge zwischen die Seiten wechselnden Bedrohlichkeiten und Erlösungshoffnungen wiederfinden und eine notorische Problematik bilden, die auch ästhetiktheoretische Antworten herausgefordert hat. Die Dichternamen, die hier fallen, gehören durchgehend in das Verzeichnis der epochalen Repräsentanten, die Auswahl aus dem Korpus ihrer Werke fällt aber nicht unbedingt immer auf ihre Hauptwerke, sondern zuweilen auch auf markante kleinere, die an ihrer Seite stehen. Die folgenden Kapitel sind unserem Zeitraum gemäß geordnet, orientieren sich aber an keiner internen Chronologie, sondern behandeln problembezogene, eher synchron angelegte Gruppierungen von Werken bzw. Autoren. Hier werden auch Begegnungen mit Dichtern und Werken gesucht, die auf den literaturgeschichtlichen Höhenkammwegen weniger zu finden sind. Wir suchen Treffpunkte auf Seitensprüngen. Sie alle sind angesiedelt in einer wesentlichen Epoche der deutschen Literatur, dem klassisch-romantischen Zeitalter, das über seine Bedeutung für die Bildungsgeschichte und den Traditionsbestand unserer Gegenwart hinaus für eine Literatur steht, die, bei aller fiktionalen Fabulierkunst, um ihre Intellektualität und die literarische Kraft des Denksports weiß. Von einigen dieser Erkundungen möchten die einzelnen Kapitel berichten. Einzelne von ihnen entstanden zu unterschiedlichen Zeiten in verschiedenen Kontexten und wurden für dieses Buch entsprechend eingehend überarbeitet.

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1. Naturbilder und Kunstideen

In der Spannung zwischen den beiden Polen von Natur und Kunst werden in der Literatur, beginnend in der Mitte des 18. Jahrhunderts, nicht nur die Auffassungen von der Natur überdacht und neu formuliert und theologische, wissenschaftliche, pädagogische, politische, geschichtliche oder normative Fragen in der Referenz auf Natur abgehandelt, sondern auch neue Auffassungen von den Aufgaben und Möglichkeiten literarischer Vorstellungskraft und neue Wege zur Erkundung des Künstlerischen ausprobiert, die sich in ihrer Stellung zur bzw. gegenüber der Natur konturieren. Hier geht es um Natur als Thema der Kunst und um die Stellung der Kunst zu Natur. Das mag sich im Rückgriff allein auf die einschlägigen ästhetiktheoretischen Schriften der Zeitgenossen zeigen lassen, ertragreicher aber dürfte es sein, die geistige Spannkraft, die sich zwischen Natur und Kunst entfaltet, auch in literarischen Werken aufzusuchen. Über die vertrauten literaturgeschichtlichen Epochenbestimmungen und -abgrenzungen hinweg bleiben die Beziehungen zwischen Natur und Kunst eine notorische Zone, die immer wieder bearbeitet und in Verschiebungen variiert wird.

Erschütterungen der Schöpfung: Lissabon 1755 Der Gang durch die Komplementaritäten von Natur und Kunst, der bei Georg Büchner enden wird, beginnt im Jahre 1756. In diesem Jahr schreibt der damals 27-jährige Stadtphysikus der Stadt Brugg im heu-

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Poesie und Reflexion zwischen 1755 und 1848

tigen Schweizer Kanton Aargau namens Johann Georg Zimmermann sein Gedicht Die Zerstörung von Lisabon. Der erste Entwurf stammt vom 1. Dezember 1755, geschrieben einen Monat nach dem 1. November, dem Feiertag Allerheiligen, an dem um neun Uhr in Lissabon die Erde bebte. Dieses Erdbeben, das mit seinen Feuersbrünsten und Flutwellen die reiche Stadt zerstörte und zum Tod von etwa 30 000 Menschen führte, erschütterte auch die Weltanschauungen der Zeitgenossen und brachte eine Erdbebenliteratur mit einer Menge von Abhandlungen, Berichten und literarischen Reflexionen hervor, in denen auch über die Leibnizsche Theodizee mit der Vorstellung von der besten aller möglichen Welten und über Alexander Popes Überzeugung, wonach alles gut sei, debattiert wurde.1 Zu den prominentesten, auch 1756 erschienenen Debattenschriften gehören zweifellos Voltaires Gedicht über die Katastrophe von Lissabon und Rousseaus Brief über die Vorsehung, der auf den Pope- und Leibnizkritiker Voltaire mit seinem Optimismus und dem Glauben an eine Natur, die allenfalls, jedenfalls aufs Ganze gesehen, geringen Schaden anrichte, antwortet.2 Wie Voltaire, so schreibt auch Zimmermann ein Gedicht, und wie jener versieht auch er sein Poem mit Anmerkungen, allerdings weitaus ausführlicher als dies bei Voltaire der Fall ist; beide schicken ihrem Gedicht zudem ein Vorwort voraus. Zimmermann aber schreibt keine philosophische Abhandlung, sondern antwortet auf die Naturkatastrophe ganz und gar literarisch, und zwar auf durchaus ungewöhnliche Weise. In seinem Vorwort weist Zimmermann zunächst die Auffassung zurück, wonach Reime zum wesentlichen Bestandteil der Dichtkunst gehören würden; er wendet sich gegen die Dichter, »denen die Gewohnheit der Väter, allzu gefälliger Weise, zum Gesetze geworden«, wenn sie sich »dem Joche des Reimes (unterzogen)«. Er stellt fest: »Ein Dichter soll seine Wahrheiten fliessend, kurz, nachdrücklich, und einnehmend vorzutragen sich bemühen. Wenn er glücklich genug ist, diesen Zweck

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Instruktiv hierzu: Breidert 1994; Günther 1994 sowie Löffler 1999 mit einem umfangreichen Quellenverzeichnis. Jakob 2021 gibt einen Überblick über die Auseinandersetzung mit dem Erdbebenschrifttum in Journalen vor 1755. Beide Schriften auch in Breidert 1994.

1. Naturbilder und Kunstideen

zu erlangen, so sehe ich nicht ab, was ihm Reime helfen können«. (Zimmermann 1997, S. 10) Anders als Voltaire, der sein Gedicht in gereimten Versen schrieb, verabschiedet Zimmermann die klassizistische poetische Norm als Kunstideal der Dichtung zugunsten von Versen, die »wie Prose« zu lesen seien. Während sich der Philosoph noch einen Reim auf das Erdbeben machen kann, reicht dessen Bindekraft für die Literarisierung der Katastrophe bei Zimmermann offenbar nicht mehr aus. Formideal und Schönheit des Reimes werden hier von dem, worum es geht: dem Erdbeben buchstäblich erschüttert. Und eine weitere formale Besonderheit, die im Vorwort hervorgehoben wird, ist der überaus ausführliche Anmerkungsapparat, der bis zu dreiviertel einer Druckseite umfasst, sodass das Gedicht selbst beachtlich an Gewicht verliert. Zimmermann erläutert: »die mehresten dieser Anmerkungen sind für Ungelehrte geschrieben, und Ungelehrten kan man niemahls zu deutlich seyn.« (S. 9) Dichtung referiert hier auf Wissen, und die Anmerkungen referieren historische und wissenschaftliche Erkenntnisse sowie eine Fülle empirischer Details z.B. über den Handel, die politische Verfasstheit Portugals oder über die Religion. Unter den Bedingungen der Katastrophe ist der Zugang zu Natur nicht nachahmend, sondern erkennend, womit die Trennung von Kunst und Wissenschaft unterlaufen wird. Was ästhetisch dargestellt wird, ist mit Wissen und Explikationen gesättigt. Dennoch handelt es sich nicht einfach um ein Lehrgedicht. Sein Verfasser hat es stattdessen so angelegt, dass er neben all seinen Erläuterungen die Dynamik seiner eigenen Erschütterungen gleichermaßen zum Gegenstand macht, selbst von den umwälzenden Seelenkräften durchdrungen ist – als Dichter. Im Vorwort notiert er: »Die Gabe für die Dichtkunst liegt viel tiefer, als man insgemein zu glauben scheinet. Ein Dichter muss eine ganz andere Seele haben, als ein andrer Mensch. Man fodert von ihm eine grössere Lebhaftigkeit in seinen Empfindungen« (S. 10), er »wandelt in das Thal der Schrecken, und eilet dem Schauplatze des Todes mit gewaltiger Rührung entgegen.« (S. 11) Ihn zeichnet besondere Empfindlichkeit aus, er kann ein allgemeines Erlebnis subjektivieren. Diese Dynamik teilt sich dem Aufbau des Gedichts mit: zu Beginn ist das Erdbeben Metapher für das Jüngste Gericht und Strafe

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Poesie und Reflexion zwischen 1755 und 1848

für ein schamloses Leben der Reichen und Herrschenden; dann wird im Stile eines Augenzeugen vom katastrophalen Geschehen berichtet, ein Unglück, das den König schließlich zur geläuterten Verantwortung gegenüber seinen Untertanen veranlasst, womit eine theologische Perspektive dem Geschehen gegenüber eingenommen wird, bis schließlich der Verfasser eine demütige Haltung auch im Angesichts der Katastrophe entwickelt. Im Durchgang durch diese Stationen wird die Naturkatastrophe zum Fall für die Modulation und Ausarbeitung eigener Empfindungen, unterfüttert vom Erkenntnis- und Wissensbezug, verbunden schließlich auch mit religiösen Reflexionen. Beispielhaft sei die folgende Passage genannt: »Noch nie geprüfte Kunst! ley mir den kühnen Schwung, Der den Gedanken schärft, dem Ausdruck Würde giebet, Und des Affectes Kraft in seiner Stärke mahlt; So sprach ich, da mein Geist erregt durch Schreckenbilder Den Unfall jener Stadt von einer Seite sah, Und stets die Phantasie in Schmerzen eingehüllet, Mich zwingend an den Ort des Todes mit sich riß, Wo gleich mein Sinn, besiegt, der zärtern Regung folgte. Nun winkt mir die Vernunft mit sanfter Kraft hinweg; Sie hohlt des Uebels Grund, der Portugal befallen, In Frömmigkeit verzückt, von seinen Sünden her.« (S. 30) Man mag das Gedicht in seiner Qualität nicht sonderlich hoch schätzen, denn der sechshebige Jambus ist zwar eine relativ fließende Versform, in der Form des Alexandriners aber dennoch, mit seiner regelmäßigen Pause nach der dritten Hebung, von einer ausgeprägten Starrheit. Ihre spätere Geschmeidigkeit hat die Sprache hier noch nicht erreicht. Wichtiger im Falle dieses Gedichts ist das Zusammentreffen verschiedener Elemente, das einen neuen Modus der Dichtung ankündigt. Die Absatzbewegung vom klassischen Formideal des Reimes, die Referenz auf Wissen und Erkenntnis, die Subjektivierung des Erlebens als innerer Dynamik, die religiöse Anstrengung bei der Verarbeitung der Naturkatastrophe und schließlich die eigene kompositorische Dynamik in der Entfaltung der einzelnen Themen von der Apokalypse über Gerechtigkeit, Bu-

1. Naturbilder und Kunstideen

ße, Strafe, Selbsterkenntnis bis hin zur religiösen Erweckung machen dieses Gedicht zu einem Beispiel für die Entfernung der Kunst vom Prinzip der Mimesis der Natur und für eine beginnende Verselbständigung der Kunst. Zwei Beispiele aus der Zeit vor dem Lissaboner Beben können die mit ihm verbundenen Verschiebungen im Verhältnis von Natur und Kunst deutlicher machen: das eine von Paul Gerhardt und das andere von Barthold Hinrich Brockes. Paul Gerhardts »Sommergesang« von 1653, ein populäres Kirchenlied (Gerhardt 1957, S. 119-122), beginnt: »Geh aus, mein Herz, und suche Freud In dieser lieben Sommerzeit An deines Gottes Gaben; Schau an der schönen Gärten Zier Und siehe, wie sie mir und dir Sich ausgeschmücket haben.« Nach den Bäumen, der Lerche, der Glucke, den Bächen und den Bienen wird in der siebten Strophe der Weizen besungen, um in den folgenden »Des großen Gottes großes Tun« zu rühmen. Beginnend mit der Aufforderung, »Geh aus, mein Herz«, geht dieses Ich nicht in sich, sondern hinaus in die Natur, die die Quelle seiner Freude ist. Über viele Strophen hinweg wird diese Natur in ihrer ganzen Schönheit gepriesen, sie wird vergegenwärtigt in ihren Formen, Farben, Klängen und Bewegungen, vom Unbelebten über Pflanzen und Tiere bis hin zu den Menschen, und der, dessen Herz aus- und aufgeht, hat in seinem Gesang an ihr teil. Dieses Ich, das sich der Natur öffnet, ist von der Schöpfung nicht getrennt, es bleibt ganz unpersönlich im Sinne von nicht-individualisiert in sie eingebunden. Was es von der Schöpfung wissen kann, offenbart die Natur selbst. Anmerkungen sind hier nicht nötig, von strafender Natur, die zur Einkehr, Reue oder Bekehrung herausfordern würde, ist keine Rede, und der Tod hat keinen Stachel, weil er nur die Pforte zu einem anderen, dem himmlischen Garten ist. In Gerhardts Lied spricht sich eine ungebrochene und naive Teilhabe und Freude an Natur im Sinne von Schöpfung aus. Hier gibt es noch nicht die Aufgabe, die Freude oder das Leid an Natur zu einer besonderen Angelegenheit der literarischen Ge-

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Poesie und Reflexion zwischen 1755 und 1848

staltung zu machen, weil es noch keine Trennung von ihr gibt, auf die die Kunst zu antworten hätte. Während sich das ausgehende Herz bei Gerhardt in der Kommunikation oder besser: der Kommunion mit Natur verströmt, findet sich im zweiten Beispiel der Thematisierung von Natur vor 1755 bei Barthold Hinrich Brockes eine Einzelbetrachtung von Naturphänomenen, die der positivistischen Auflistung nähersteht. In Gerhardts Kirchenlied steht das Klingen als Einklang des Menschen mit der Schöpfung im Zentrum, und diese Stimme kann ungehindert erschallen. Brockes’ »Betrachtung verschiedener zu unserem Vergnügen belebten Insekten« aus dem Jahre 1739 hat den Charakter einer Aufzeichnung von einzelnen Naturerscheinungen, die genau beobachtet werden müssen, um sie dann möglichst treffend bezeichnen oder ihnen einen Namen geben zu können. Es ist nicht eine Literatur der Stimme, sondern der Schrift, die später eben auch zu Anmerkungen führen kann. Voller Augenlust richtet sich in Brockesʼ Gedicht der Blick des lyrischen Ich auf die empirische Fülle und Vielfalt der besonders kleinen Lebewesen, der Insekten. »Man siehet jetzt fast überall mit Haufen Viel bunte Käferchen, gefärbte kleine Fliegen Zu unsrer Augenlust ein Leben kriegen Und in dem Gras, auf Kraut, auf Laub und Blumen laufen.« (Brockes 1969, S. 7) Zweifellos dient die Beschreibung dieses Gewimmels, Gekrabbels und Gesurres auch dem Preis der Schöpfung, wie der Titel der in den Jahren 1721 bis 1748 erschienenen Gedichtsammlung Irdisches Vergnügen in Gott deutlich macht. Aber der Enumeration all der kleinen Naturphänomene fehlt das Klingende des Einklangs, weil zwischen den Worten und den Dingen, die mit ihnen bezeichnet werden sollen, ein Abstand bemerkbar wird, wenn gefragt wird: »Wer wird der Farben Meng und ihre Schönheit nennen, Erzählen und beschreiben können, Mit welcher die Natur die kleinen Tierchen schmückt?«

1. Naturbilder und Kunstideen

Es gibt hier eine Unsicherheit hinsichtlich des Vermögens, die Dinge der Natur mit einem poetischen Namen zu belegen, deren Grund aber nicht, wie in Zimmermanns Lissabon-Gedicht, in einer erschütternden Gewalt der Natur, sondern in einer Fülle liegt, derer die Sprache kaum Herr wird. Es heißt: »Wer muß sich nicht recht inniglich ergetzen Und in der Lust sich nicht zugleich entsetzen, Wann er das Heer der bunten Schmetterlinge Besieht und ihren Putz erwäget?« Dieses »Entsetzen« wird nicht aufgelöst durch eine Modulation der Empfindungen des lyrischen Ich, sondern durch eine verschiebende Neubeschreibung der äußeren Natur, die nun »wunderlich« ist und »Wunderdinge« enthält, z.B. Schmetterlinge, die als »fliegende lebendge Blumen« bezeichnet werden. In der Schöpfung nistet etwas Befremdliches, das zu Schwierigkeiten bei der Beschreibung Anlass gibt, während das Vergnügen an der Schöpfung zu einer Angelegenheit des Imperativs geworden ist, wonach wir »des Schöpfers Wundermacht (…) In unsrer Lust betrachten sollen«. Weder bei Gerhardt noch bei Brockes findet sich eine Dynamik in der Modulation des Erlebens der äußeren Natur auf Seiten des Subjekts als lyrischem Ich, und insofern handelt es sich um eine subjektferne Thematisierung von Natur, im ersten Fall gesichert durch die theologisch verbürgte Harmonie der Schöpfung, im zweiten durch den Bezug auf eine Fülle, die zum Gegenstand empirischer Beobachtung und Beschreibung gemacht wird. Natur: das ist Schöpfung, der sich der Dichter zuwendet, ohne sein Werk schon als eigene Schöpfung und seine Kunst im Abstand zu Natur zu verstehen. Demgegenüber taucht mit Zimmermanns Gedicht – wie unbeholfen auch immer – in der Reflexion seiner dichterischen Mittel und eigenen poetischen Produktionsweise wie in der Darstellung der Gemütsbewegungen des lyrischen Ich im Angesicht eines katastrophalen Einbruchs in die Harmonie der Natur eine neue Ordnung in der Beziehung zwischen Natur und Kunst auf, die ohne besondere ästhetische Anstrengungen nicht mehr zu erreichen ist. Die Kunst selbst ist von nun an nicht mehr »natürlich«, sondern hergestellt, wes-

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halb mit der Frage, wie über was zu sprechen oder zu schreiben sei, die Konstitution des Werks in den Vordergrund tritt, eines Werks, das von nun an mit der Problematik des Scheins behaftet sein wird, weil es ein Artefakt ist, das nicht kurzerhand Wirkliches geben kann. Das ist zweifellos auch eine Verlusterfahrung, die auf die des Erbebens folgt.

Aufbrüche zu Idealen Legt man Klopstocks »Frühlingsfeier« von 1759 neben die bislang herangezogenen Gedichte, so ist zu bemerken, wie hier aus der Referenz auf Natur eine Dichtung entsteht, die ihr eigenes Gewicht geltend macht und eine andere Idee von Kunst entwickelt. Das Gedicht Klopstocks, der sich als einer der ersten ganz und gar als Dichter verstand und entsprechend lebte, hat, holzschnittartig gesagt, einen Frühlingsmorgen zum Gegenstand, der mit kühler Luft beginnt, um von einem Gewitter erschüttert zu werden, an dessen Ende ein sanftes Säuseln und der Regenbogen stehen. Aber sein Aufbau ist deutlich differenzierter. Von den insgesamt 27 freirhythmischen Strophen umkreisen die ersten fünf die Allmacht des Schöpfers des »Ozean(s) der Welten alle«, um zu betonen, dass es im Folgenden allein »Um die Erde nur«, den »Tropfen am Eimer« im Meer des Unendlichen gehe, dessen Bewohner sich fragt: »und wer bin ich?« (Klopstock 1969, S. 286) Die Strophen sechs bis neun thematisieren den Tod: »Ach nicht unsterblich!«, worauf als Antwort die Anrufung der Kunst folgt: »Du, meine Harfe«; »Umwunden wieder, mit Palmen/Ist meine Harf‹ umwunden! Ich singe dem Herrn!/Hier steh ich.« (S. 287) Auf diese Selbstvergewisserung des künstlerischen Vermögens folgt die Darstellung des Gewitters, die mit den restlichen fünfzehn Strophen den größten Raum einnimmt. Mit ihm bricht in die wiedererwachende Natur des Frühlings ein Tremendum ein. Aber die Krise des Kosmos – »Zürnest du? Herr,/Weil Nacht dein Gewand ist?« – wird gedeutet als dessen Erneuerung: »Sie kommt, Erfrischung auszuschütten,/Über den stärkenden Halm!« Im Angesicht des Gewitters wird die zuvor ergangene Aufforderung: »Du, meine Harfe,/Preise den Herrn!« realisiert. Diese Erneuerung verdankt sich nun der Kraft des

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dichterischen Wortes, das seine Stimme immer wieder erhebt, wie es in einem anderen Gedicht Klopstocks mit dem Titel »Die Glückseligkeit aller« eingangs heißt: »Ich legte meine Hand auf den Mund, und schwieg/Vor Gott!/Jetzt nehm ich die Harfe wieder aus dem Staub auf«. Das Theodizee-Problem, das mit der zerstörenden Kraft des Gewitters aufgerufen ist, wird in der Innerlichkeit des Gefühls desjenigen gelöst, der sich ihm ausgesetzt sieht, und das heißt: letztendlich im Kunstwerk, in dem sich diese Lösung ausspricht. Der Dichter situiert sich in einer Beziehung des Gegenüber, des Abstands, er lässt seine Harfe, wie nachdrücklich hervorgehoben wird, »vor Gott, vor Gott sie erschallen!« Auf Natur, als geoffenbarte Schöpfung, antwortet eine andere Schöpfung. Der Anfang eines anderen bekannten Gedichts von Klopstock, »Der Zürcher See«, formuliert dies in aller Deutlichkeit: »Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht/Auf die Fluren verstreut, schöner ein froh Gesicht,/Das den großen Gedanken/Deiner Schöpfung noch einmal denkt.« Damit ist die Kunst zum Ort der Schöpfung gegenüber der Natur als Schöpfung geworden, weil diese nicht mehr die fraglose Referenzzone für das Ideal der Schönheit darstellt. In diesem Gedicht heißt es einige Strophen später: »Und wir Jünglinge sangen/Und empfanden wie Hagedorn.« Hier entstehen Naturerleben und Naturbilder aus Dichtung, sie ist Vor-Schrift und Erlebnismodell des Empfindens, des Gefühlsausdrucks, der Codierung der »inneren« Natur angesichts der »äußeren«. In Abwandlung von Brockes kann man sagen: wir haben es mit einem irdischen Vergnügen in Kunst bei leidenschaftlichem Naturerleben nach literarischen Modellen zu tun, und in Abwandlung von Gerhardt geht das Herz nun nicht mehr aus in Natur, sondern in Kunst, die ihm die Worte für das gibt, was es glaubt zu finden, wenn es in sich geht. Wenn Klopstock Hagedorn aufruft, so Goethes Werther Klopstock. Die Szene ist auch hier in ein Spannungsgefüge zwischen Naturereignissen und Kunsteinfall eingelagert. Während eines Balles lernt Werther Lotte näher kennen, es funkt zwischen ihnen, aber auch am Himmel in Gestalt eines Gewitters, von dem Lotte die ängstliche Gesellschaft mit Hilfe eines Spiels abzulenken sucht, bei dem schnell im Kreis herum bis Tausend zu zählen ist und derjenige, der stockt oder sich irrt, von Lot-

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te eine Ohrfeige erhält, wobei auf Werther von der schon jetzt geliebten Hand immerhin zwei entfallen. Während beide dann ans Fenster treten, um dem Gewitter und dem Regen zuzusehen, sah Lotte »gen Himmel und auf mich, ich sah ihr Auge tränenvoll, sie legte ihre Hand auf die meinige und sagte: ›Klopstock!‹« Werther ist keineswegs irritiert, dass nicht sein Name, sondern der Klopstocks genannt wird, im Gegenteil: »Ich erinnerte mich sogleich der herrlichen Ode, die ihr in Gedanken lag, und versank in dem Strome von Empfindungen, den sie in dieser Losung über mich ausgoß.« (Goethe 1963, Bd. 6, S. 27) Der Einklang der Herzen wird über Dichtung gestiftet, nicht im Medium von Natur. Das Pendant zur Zitation Klopstocks bildet die Referenz auf Ossian und die prosaische Evokation jener Gesänge, die Mcpherson als nordische Archaik in Szene gesetzt hatte und aus denen Werther bei seiner letzten Begegnung mit Lotte vorliest. Im »Gesange des Jammers« fühlen beide »ihr eigenes Elend in dem Schicksal der Edlen, fühlten es zusammen, und ihre Tränen vereinigten sich.« (S. 110, 114) Natur stellt hierfür kein Modell bereit, denn, so heißt es in der Sprache des zitierten Ossian: »Süß ist dein Murmeln, Strom; doch süßer die Stimme, die ich höre«. (S. 11) Klopstocks Eloge auf den lyrischen Gesang, der im Falle von Ossian/Mcpherson allerdings prosaisch ausfällt, liegt hier nahe. Ob es sich um Glück, Unglück, Geselligkeit oder auch Einsamkeit handelt: die Kunst ist das Medium, das für die Modulation der Empfindungen und Geisteskräfte aufgerufen wird. Ihr Gegenpol, Natur, wird für Werther zunehmend problematisch. In einem seiner ersten Briefe an den Freund Wilhelm schreibt er von seinem »Vorsatze, mich künftig allein an die Natur zu halten. Sie allein ist unendlich reich, und sie allein bildet den großen Künstler.« (S. 15) Mit Worten, die an Brockesʼ »Irdisches Vergnügen in Gott« erinnern, schreibt er vom »Wimmeln der kleinen Welt zwischen Halmen«, von den »unzähligen, unergründlichen Gestalten der Würmchen, der Mückchen« (S. 9). Später wird er sich mit dem Seufzer »Ach damals« an dieses vergangene Naturerleben erinnern und feststellen: »Ich habe keine Vorstellungskraft, kein Gefühl an der Natur«, »ich sehe nichts als ein ewig verschlingendes, ewig wiederkäuendes Ungeheuer.« (S. 52 f.) Wenn sich hier noch ein Gefühl einstellt, dann das der Verletzung: »durch die Hecken, die mich verletzen, durch

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die Dornen, die mich zerreißen! Da wird mir’s etwas besser! Etwas!« (S. 55) Die Idylle ist verabschiedet. Wenn Natur insgesamt, über »die große, seltne Not der Welt, diese Fluten, (…) diese Erdbeben« (S. 53), über die Katastrophen hinaus grundsätzlich einen Stachel erhalten hat, dann ist darauf nicht mit der Referenz auf Natur und ihrer Mimesis zu antworten, es sei denn, man verhielte sich wie der Wahnsinnige im Werther-Roman, der im Winter Blumen sucht und der von Werther darauf aufmerksam gemacht wird: »Das ist auch die Jahrszeit nicht.« (S. 88) Gegenüber den Vorstellungen von der Unendlichkeit und Fülle der Schöpfung kommt der Gesichtspunkt ihrer Begrenztheit und ihres Mangels ins Spiel, der sich der natürlichen Abfolge von Zuständen im zyklischen Rhythmus von Wiederholungen mit ihrem Vorher, Nachher und Jetzt-nicht verdankt. Im Gebiet der Kunst – wie auch des Wahnsinns – ist hingegen Raum für die Koexistenz verschiedener Zustände, d.h. für Ambivalenzen, Brüche und Zwiespältigkeiten ebenso wie für die Vergegenwärtigung von Abwesenheiten, die »nach der Natur« nicht denkbar sind. Über Goethes Werther schreibt Friedrich Schiller in seiner Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung: »Es ist interessant, zu sehen, mit welchem glücklichen Instinkt alles, was dem sentimentalischen Charakter Nahrung gibt, im ›Werther‹ zusammengedrängt ist; schwärmerische unglückliche Liebe, Empfindsamkeit für Natur, Religionsgefühle, philosophischer Kontemplationsgeist, endlich, um nichts zu vergessen, die düstre, gestaltlose, schwermütige Ossianische Welt.« (Schiller 1967, Bd. 5, S. 738) In der Gegenüberstellung von naiver und sentimentalischer Dichtung werden die Dichtungs- und Empfindungsarten der Alten und der Modernen gegeneinander konturiert, und hierfür spielt die jeweilige Stellung von Natur und Kunst zueinander eine zentrale Rolle. Die Abhandlung beginnt mit der Überlegung, wonach es »Augenblicke in unserem Leben (gibt), wo wir der Natur in Pflanzen, Mineralien, Tieren, Landschaften, sowie der menschlichen Natur in Kindern, in den Sitten des Landvolks und der Urwelt, nicht weil sie unsern Sinnen wohltut, auch nicht weil sie unsern Verstand oder Geschmack befriedigt (von beiden kann oft das Gegenteil stattfinden), sondern bloß weil sie Natur ist, eine Art von Liebe und von rührender

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Achtung widmen.« (S. 694) Diese Art des Interesses finde »nur unter zwei Bedingungen statt. Fürs erste ist es durchaus nötig, daß der Gegenstand, der uns dasselbe einflößt, Natur sei oder doch von uns dafür gehalten werde; zweitens, daß er (in weitester Bedeutung des Worts) naiv sei; d.h. daß die Natur mit der Kunst im Kontraste stehe und sie beschäme.« (S. 694) Natur steht hier einer entthronten Kunst gegenüber, wobei diese Natur ihre eigenen Gesetze, ihre innere Notwendigkeit hat, eine »ewige Einheit mit sich selbst«, die »kein ästhetisches, sondern ein moralisches (Wohlgefallen)« erzeugt, weil wir darin, »durch eine Idee vermittelt«, das »ruhige Wirken aus sich selbst« lieben und genießen. (S. 695) Wollte man aber diese naive Natur in der Nachahmung des Naiven »bis zur höchsten Illusion treiben«, dann »würde die Entdeckung, daß es Nachahmung sei, das Gefühl, von dem die Rede ist, gänzlich vernichten.« (S. 694 f.) Denn diese Natur wäre dann nicht mehr das, was ihren Wert für unsere Empfindung ausmacht: sie wäre nicht mehr Natur, sondern Kunst, beschämend künstliche Nachahmung. Wenn diese naive Natur auch noch kein ästhetisches Wohlgefallen zu geben vermag, so gibt sie doch eine Idee: die einer außerhalb von Kunst liegenden Einheit. Diese aber ist mit dem Eintritt in die Tätigkeit der Vernunft und des Verstandes als gesonderten Vermögen und mit dem Eintritt in Kultur für die Modernen verloren. Auf diese Erfahrung anlässlich des Naiven antwortet von nun an eine sentimentalische Empfindungsweise: die der modernen Dichter im Unterschied sowohl zur verlorenen Kindheit wie zur Welt der Griechen, wobei Schiller luzide bemerkt, dieses sentimentalische Gefühl sei »einerlei mit demjenigen, welches wir für die Alten haben« (S. 711). Als ob Schiller Sigmund Freud, der das Triebschicksal des modernen Menschen in den sublimierenden, aber auch repressiven Kräften der Kultur sehen sollte, als ob er Simmels Überlegungen zur »Tragödie der Kultur«, deren Artefakte uns fremd gegenüberstehen, ein Stück weit vorwegnähme, spricht Schiller von den »Drangsalen der Kultur« und einer durchaus verständlichen Neigung, die dazu verleite, »daß wir das Prärogativ unserer Vernunft für einen Fluch und für ein Übel halten«. (S. 707) Für den Dichter gibt es deshalb genau zwei Möglichkeiten: »Der Dichter (…) ist entweder Natur, oder er

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wird sie suchen. Jenes macht den naiven, dieses den sentimentalischen Dichter.« (S. 716) Einem rousseauistischen Suchverhalten steht diese Begründung der Dichtung der Modernen aus dem Verhältnis zu Natur denkbar fern, nicht zuletzt angesichts von Rousseaus »Tendenz«, »die Natur entweder zu suchen oder an der Kunst zu rächen« und die Menschheit »lieber zu der geistlosen Einförmigkeit des ersten Standes« zurückzuführen. (S. 730 f.) Vom »fernen Auslande der Kunst« her gesehen ist es nur ein Bild vom Naturzustand, das »bloße Naturkinder« als »glücklich und vollkommen« vor Augen stellt; »wir sind frei geworden und haben beides verloren.« Deutlich gegen Rousseau gewendet heißt es: »Also nichts von Klagen über die Erschwerung des Lebens, über die Ungleichheit der Konditionen, über den Druck der Verhältnisse (…) Jene Natur, die du dem Vernunftlosen beneidest, ist keiner Achtung, keiner Sehnsucht wert. Sie liegt hinter dir, sie muß ewig hinter dir liegen. Verlassen von der Leiter, die dich trug, bleibt dir jetzt keine andere Wahl mehr, als mit freiem Bewußtsein und Willen das Gesetz zu ergreifen oder rettungslos in eine bodenlose Tiefe zu fallen.« (S. 707 f.) Weil Natur nur sentimentalisch gegeben ist, kann das Prinzip ihrer Nachahmung keine Geltung mehr beanspruchen. Nachdem naive und sentimentalische Denkart einander als zwei sowohl in der Geschichte wie im einzelnen Menschenleben anzutreffende Haltungen zur Natur gegenübergestellt sind, gewinnt Kunst ihre neue Kontur. So »ergibt sich, daß dort in dem Zustande natürlicher Einfalt, wo der Mensch noch, mit allen seinen Kräften zugleich, als harmonische Einheit wirkt, wo mithin das Ganze seiner Natur sich in der Wirklichkeit vollständig ausdrückt, die möglichst vollständige Nachahmung des Wirklichen – daß hingegen hier in dem Zustande der Kultur, wo jenes harmonische Zusammenwirken seiner ganzen Natur bloß eine Idee ist, die Erhebung der Wirklichkeit zum Ideal oder, was auf eins hinausläuft, die Darstellung des Ideals den Dichter machen muß.« (S. 717) Die Dichtungen der Alten »rühren uns durch Natur, durch sinnliche Wahrnehmung«, die der Modernen »durch Ideen«. (S. 717) Statt Nachahmung der Natur: Aufbruch zu Idealen.

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Zu dem Gegensatz von Natur und Kunst tritt ein zweiter hinzu: der zwischen Wirklichkeit und Ideal. Die Beziehung der Kunst auf das Ideal wird in dem Augenblick notwendig, in dem ein Gegenstand nicht mehr in seiner natürlichen Begrenztheit und Einheit gegeben ist, sondern zum Objekt der Reflexion gemacht wird; damit sind verschiedene Weisen seiner Behandlung möglich, die sich nicht mehr aus seinem einfachen So-Sein ergeben, sondern jeweils auf eine Idee hin orientiert sind. Statt naiver Übereinstimmung treten Denken und Empfinden im Zustande der Kultur auseinander. Beides, Denken und Empfinden, Idee und Natur wieder zur Einheit zu bringen, ist nun genau das Ideal der Kunst geworden. Es handelt sich hier um alles andere als einen einfachen »Idealismus«, mit dem man eine Epoche der Literatur und Philosophie in Deutschland gern bezeichnet. Stattdessen haben wir es vielmehr mit einer geradezu historisch-genetischen Erklärung jenes Aufbruchs zu Idealen zu tun. So sehr Kunst auf die historisch entstandene Orientiertheit am Ideal ausgerichtet ist, so ist dieses Ideal aber »ein Unendliches, das (…) niemals erreicht« wird, weshalb auch, trotz aller Kunst, zwar der »kultivierte Mensch in seiner Art niemals vollkommen werden« kann, doch ist »das Ziel, zu welchem der Mensch durch Kultur strebt, demjenigen, welches er durch Natur erreicht, unendlich vorzuziehen«. (S. 718) Wie die Gegenüberstellung von Realist und Idealist zeigt, ist der letztere jedoch nicht frei von Gefahren, die ihm drohen, denn »die selbständige Einbildungskraft (hat) eine gefährliche Freiheit und kann nicht, wie in andern Fällen, durch die sinnliche Gegenwart ihres Objekts in ihre Grenzen zurückgewiesen werden.« So kann der Idealist durchaus »der Phantasterei zum Raube dahingegeben« sein. (S. 762 f.) Mit dem Abschied vom Prinzip der Mimesis verändert sich der Begriff von Unendlichkeit, sie wandert von Naturbildern zu Kunstideen. Bei Brockes war, seinem physikotheologischen Denken entsprechend, der Schöpfer in der kleinsten Schöpfung, z.B. dem Käfer anwesend. Unendlichkeit war Attribut eben dieses Schöpfers, erkennbar in seiner Veräußerung in der Natur. Klopstock hatte Unendlichkeit an den Kosmos gebunden, in dem die Erde der kleine Tropfen im unendlichen Meere ist; Unendlichkeit war nicht so sehr Attribut des Schöpfers, sondern des Raumes. Schiller macht Unendlichkeit zum Attribut von Kultur

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und geistig-künstlerischer Tätigkeit und formuliert damit ein Prinzip der Romantiker, das unter dem Namen der Ironie mit eben dieser Unendlichkeit konnotiert werden wird, wenn das Prinzip der Steigerung und Überbietung zur ästhetischen Regel einer unabschließbaren Verwandlung gemacht wird, in der alles die natürliche Begrenztheit der Phänomene verliert. Hier zeigt sich: Epochennamen, wie sie aus den Literaturgeschichten vertraut sind, haben wohl ihre unbestreitbare Funktion für schnelle Verständigung, verstellen aber das Phänomen, dass Denkmotive und Problemstellungen, die entwickelt werden, nicht kurzerhand in den Grenzen solcher Epochennamen eingehegt werden können. Schillers Ausgang aus einem »beschränkten Zustande zu einem unendlichen« hört auf den Namen »Elysium« (S. 750 f.). Einen solchen Weg lässt Friedrich Hölderlin seinen Hyperion beschreiten. Der sein Leben in der Doppelung von ehemaligen und gegenwärtigen Bewusstseinslagen in Briefen an einen Freund beschreibende Hyperion hat eine gute Erziehung erfahren, geht zu weiteren Studien in die Stadt, die ihm bald verleidet ist, und schifft sich für die Rückfahrt ein. Bilder einer innigen Einheit mit Natur steigen auf, um sogleich auch zu verschwinden. »Ich war nun wirklich eingeschifft. Ein frischer Bergwind trieb mich aus dem Hafen von Smyrna. Mit einer wunderbaren Ruhe, recht, wie ein Kind, das nichts vom nächsten Augenblick weiß, lag ich so da auf meinem Schiffe, und sah die Bäume und Moskeen dieser Stadt an, meine grünen Gänge an dem Ufer (…) das sah ich an, und ließ es weiter gehen und immer weiter; wie ich aber nun auf’s hohe Meer hinauskam, und alles nach und nach hinabsank, wie ein Sarg in’s Grab, da mit einmal war es auch, als wäre mein Herz gebrochen – o Himmel! schrie ich, und alles Leben mir erwacht‹ und rang, die fliehende Gegenwart zu halten, aber sie war dahin, dahin!« (Hölderlin 1994, S. 46 f.) Indiz für das Ende der innigen Einheit ist ausgerechnet ein Einbruch in der Sprache: »Nun sprach ich nimmer zu der Blume, du bist meine Schwester! und zu den Quellen, wir sind Eines Geschlechts! ich gab nun treulich, wie ein Echo, jedem Ding seinen Namen.« (S. 51) Das sind die Anfänge zum Aufbruch in die Dichtung, um den es im Falle von Hyperion jedenfalls beim Dichter anders bestellt ist als bei einer möglichen Dichterin, wie sich an der von ihm

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geliebten Diotima erweist, die »stiller wurde und immer stiller« (S. 85) und ihre wenig sprachmächtige Liebe zum Dichter und der Dichtung, weil sie bloß aus Natur kommt, dementsprechend mit dem Leben bezahlt. Im Hyperion wird ein der Geschichte der Menschheit analoger individueller Bildungsprozess durchlaufen, der nach der Trennung von Natur zum Namengeben, zur Sprache, zur Tätigkeit des Geistes führt. Zwar erlebt Hyperion in der Liebe zu Diotima zunächst noch einmal eine Einheit, in der beide »Eine Blume nur (waren)« (S. 71), aber »so seligruhig, wie ein Kind, das vor sich hinspielt, und nicht weiter denkt« (S. 105), kann der Dichter nicht bleiben, weil er aus dem Lauf der Geschichte herausfiele. »Von Kinderharmonie sind einst die Völker ausgegangen, die Harmonie der Geister wird der Anfang einer neuen Weltgeschichte sein. Von Pflanzenglück begannen die Menschen (…) von nun an gärten sie unaufhörlich fort, von innen und außen, bis jetzt das Menschengeschlecht, unendlich aufgelöst, wie ein Chaos daliegt (…); aber die Schönheit flüchtet aus dem Leben der Menschen sich herauf in den Geist; Ideal wird, was Natur war (…) Ideal ist, was Natur war.« (S. 73) Der Freiheitskampf findet in diesem Aufbruch zu Idealen durchaus noch seinen Platz, aber der Weg der Dichtung führt im Hyperion weiter in eine sich in der Kunst artikulierende Welt des Geistes, der Reflexion, des Bewusstseins – ein Weg, der nicht frei ist von einer eigentümlichen Aporie, denn was die Wunde schlug: die Tätigkeit des Geistes als Indiz für die Trennung von Natur, soll sie, als Geistestätigkeit auf der höheren Stufe des Ideals, auch wieder heilen. Hans Blumenberg hat darauf aufmerksam gemacht, dass »nach der Erkenntniskritik Kants und nach dem deutschen Idealismus eine Rückkehr zum Realismus der Natur gar nicht möglich ist (…) In der Gleichgültigkeit der zur Erscheinung degradierten Natur gegenüber dem Menschen gründet als einziger Ausweg der Selbstbehauptung die Gleichgültigkeit des Menschen gegenüber dieser Natur.« (Blumenberg 2020, S. 59) Die abgewertete Natur ist der Gegenpol, an dem sich Kunst zu beweisen und zu behaupten hat und an dem sie sich, weil der implizite Bezug auf sie zu ihrer Geburtsstunde gehört, abarbeitet.

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Riskante Künstlichkeit Wie eine neue Kunst beschaffen sein sollte, die ihre Stellung im Angesicht entwerteter Natur behauptet, entwickelt Heinrich von Kleist anhand eines populären Jahrmarktsvergnügens, das den »Pöbel« erfreut: dem Marionettentheater. Statt des hohen Tons von Hölderlins elegischem Roman findet sich hier eine kühle Analyse dessen, was von der Kunst gefordert wird, dem Erzähler erläutert von einem Tänzer der städtischen Oper. Die Spannung und Entfernung zwischen Natur und Kunst wird in mehreren Varianten durchbuchstabiert; dabei handelt es sich um eine Reihe von Konkurrenzbeziehungen. Sie beginnt mit den künstlichen Figuren des Marionettentheaters, in deren Mechanismus der Tänzer eine höhere Vollkommenheit erblickt als in der menschlichen Verkörperung des Tanzes. Der Tanz mit seiner Kombination aus Kraft und Bewegung hat eine Affinität zur Mechanik – einem Gebiet, dem auch das allgemeinere Interesse der Zeit gilt. Hier findet sich der erste Grund für die Überlegenheit der Marionette. Während der organische Körper des Tänzers der Schwerkraft unterworfen ist, »haben diese Puppen den Vortheil, daß sie antigrav sind. Von der Trägheit der Materie, dieser dem Tanze entgegenstrebendsten aller Eigenschaften, wissen sie nichts (…) Die Puppen brauchen den Boden nur, wie die Elfen, um ihn zu streifen, und den Schwung der Glieder, durch die augenblickliche Hemmung neu zu beleben«. (Kleist 2010, Bd. 2, S. 429) Die Mechanik der Marionette ist dem Organismus mit seiner natürlichen Schwerkraft vorzuziehen, weil bei ihr der Schwerpunkt so gesetzt werden kann, »daß ihr Tanz gänzlich ins Reich mechanischer Kräfte hinübergespielt« werden kann. (S. 427) Der zweite Grund für den Vorzug der Marionette referiert nicht auf Attribute des Körpers bzw. der Naturgesetze, sondern auf Eigenschaften des Geistes bzw. Bewusstseins. Der Vorteil der Marionette: sie ziert sich nicht, gleitet nicht in falsche Künstlichkeit ab. »Denn Ziererei erscheint«, so der Tänzer, »wenn sich die Seele (vis motrix) in irgend einem andern Puncte befindet, als in dem Schwerpunct der Bewegung. Da der Maschinist nun schlechthin, vermittelst des Drahtes oder Fadens, keinen andern Punct in seiner Gewalt hat, als diesen: so sind alle übrigen

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Glieder, was sie sein sollen, todt, reine Pendel«. (S. 428 f.) Kunst entsteht unter Abzug des Lebendigen, weil dieses auch im Fall der Intervention des Bewusstseins bzw. der Seele den Fluss der vollendeten Bewegung, die auf den Namen Grazie hört, stört. Dass die in die Welt des Unbelebten verlagerte Kunst wiederum zu einer neuen Gefahrenzone werden kann, wird Eichendorffs Marmorbild vor Augen führen. Im zweiten Exempel für die konkurrenziellen Spannungen zwischen Natur und Kunst wird die Blickrichtung etwas verschoben. Der Startpunkt dieser Anekdote liegt nicht bei der toten Materie, sondern bei einem lebendigen jungen Mann, der sich ins Verhältnis zu einer Statue setzt und den Versuch unternimmt, die Geste jenes steinernen Jünglings, des antiken »Dornausziehers«, nachzuahmen, nachdem ihn sein Spiegelbild an die in dieser Statue verkörperte vollkommene Bewegung erinnert hatte. Die narzistisch inspirierte Verdopplung gelingt nicht, die Bewegungen, die er von nun an macht, haben ein »komisches Element«, und es »war keine Spur mehr von der Lieblichkeit in ihm zu entdecken«. (S. 431) Hätte er es doch bei der Bewunderung für die tote Kunst belassen, statt sie ins Leben holen zu wollen und seine Seele zu deplazieren! Hier scheitert die Nachahmung von Kunst in natura. Das dritte Exempel wechselt noch einmal die Perspektive und geht von Natur in Gestalt eines Tieres aus. Der Tänzer berichtet von einem Sieg, den er im Fechten errungen hatte, und wird vom Unterlegenen zu demjenigen geführt, an dem der Sieger seinen Meister finden soll. Es handelt sich um einen Bären – auch dies im Übrigen eine Jahrmarktsattraktion – der jeden Stoß ohne jedes Rapier allein mit seiner Tatze pariert, weil alle seine Bewegungen so angemessen sind, dass keine Kunst des Fechtens ihm etwas anhaben kann und er dafür nicht einmal ein Kunstmittel benötigt. Hier gibt es keine Begegnung von Kunst und Natur auf Augenhöhe. Dieses Exempel markiert, ebenso wie der Fall der Marionette, die alles andere als künstliche Nachahmung von Natur ist, als auch im Fall des Jünglings mit seinem scheiternden Wunsch nach einer natürlichen Nachahmung der Kunst, die Entfernung zwischen Natur und Kunst. Man kann Kleists »Über das Marionettentheater« [1810] auch als eine Antwort auf Schillers Ausführungen »Über Anmut und Würde« von 1793

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verstehen. Beide, Anmut und Würde – die im Übrigen auch gegendert sind – sind auf die gleiche Polarität, Natur und Kunst, bezogen, aber die Bewegungsrichtungen zwischen den beiden Polen unterscheiden sich. Bei der Anmut handelt es sich um die Erhebung aus der Vitalsphäre in den Bereich des Geistigen, im Fall der Würde um die Versenkung des Geistigen in Natur. Kleists Antwort radikalisiert die Künstlichkeit unter den Prämissen vollkommener Mechanik. Der Tänzer resümiert für die Seite der Natur, »daß in dem Maaße, als, in der organischen Welt, die Reflexion dunkler und schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender und herrschender hervortritt.« Dagegen bleiben im Gebiet der Kunst nur zwei Möglichkeiten: hier gibt es Grazie nur in einem »Körperbau«, »der entweder gar keins, oder ein unendliches Bewusstsein hat, d.h. in dem Gliedermann, oder in dem Gott.« (S. 432 f.) In dieser Argumentation, in dieser Alternative kommt eine Beziehung von Kunst auf Natur – den Bären – nicht mehr vor. Dass es die Welt der Artefakte ist, über die bei Kleist der Weg zu einem »Paradies« führt, das »vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist« (S. 429), wird man zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit seiner Naturvergessenheit bezweifeln können. Der Aufbruch zu Idealen ist nicht problemfrei, und im elysischen Reich der Geister könnte es spuken. In der Gegenüberstellung des Realisten und des Idealisten hatte Schiller darauf aufmerksam gemacht, dass letzterer Gefahr laufen könne, »der Phantasterei zum Raube dahingegeben« zu sein. So könnte, denkt man Schiller weiter, an den Idealisten durchaus ein Ordnungsruf zu richten sein, nämlich die Aufforderung »sei realistisch«, und zwar in dem Sinne, dass er die Welt der Kunst in der ihr eigenen Wirklichkeit als kenntlich gemachte künstliche Welt jenseits von Natur auch als solche erkennen muß – eben als »aufgeführte« Kunst. Ein solcher »Ordnungsruf« ergeht in einem Stück der »Kreisleriana« von E. T. A. Hoffmann mit dem Titel »Der vollkommene Maschinist« [1814], das von den Gefahren handelt, sich von künstlerischen Artefakten so fesseln zu lassen, dass sie nicht als Kunst, sondern als Natur zur Erlebniswirklichkeit werden. Im Unterschied zu Hoffmanns Erzählung »Der Sandmann«, die die Verwechslung von Kunst und Natur als wahnhaftes Phantasma literarisiert, handelt es sich beim »Vollkommenen Maschinisten« um eine Mischung von Pamphlet

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und Ironie, die den Romantiker Hoffmann in die Nähe eines Verfremdungstheoretikers namens Brecht rückt, der dekretierte: »Glotzt nicht so romantisch«. Der Ich-Erzähler berichtet aus seiner Zeit als Operndirigent und Theatergänger, in der er sich mit dem Dekorations- und Maschinenwesen im Theater auseinandersetzte. Seine heftige Kritik trifft den »törichten Grundsatz«: »Dekorationen und Maschinen müßten unmerklich in die Dichtung eingreifen, und durch den Total-Effekt müßte dann der Zuschauer, wie auf unsichtbaren Fittigen, ganz aus dem Theater heraus in das fantastische Land der Poesie getragen werden.« (Hoffmann 1962, S. 58 f.) Gegen die illusionistischen Total-Effekte, bei denen man von der Künstlichkeit nichts mehr bemerken soll, steht der »erste Grundsatz«: »Krieg dem Dichter und Musiker – Zerstörung ihrer bösen Absicht, den Zuschauer mit Trugbildern zu umfangen und ihn aus der wirklichen Welt zu treiben.« Stattdessen müssen die Zuschauer »durch zweckmäßige Anordnung der Dekorationen und Maschinerien (…) beständig an das Theater (erinnert werden)«. (S. 60 f.) Die Vorschläge, wie man der ganzen Dekoration die »sogenannte Wahrheit«, d.h. genau den Trug vollendeter Nachahmung, die ihren bloßen Schein nicht zu erkennen geben soll, nimmt, sind bemerkenswert skurril und modern zugleich. In einer »felsichten Einöde tut ein Straßenprospekt, in einem Tempel ein finsterer Wald sehr gute Dienste«. (S. 62) Oder eine Kulisse solle in das Theater zu stürzen drohen oder wirklich stürzen; der Theaterdonner soll zuvor mit Worten angekündigt werden, damit dadurch die künstliche Inszeniertheit des Donners bemerkbar werde, und wenn einmal der Mond scheinen soll, so »wird nämlich in ein viereckiges Brett ein rundes Loch geschnitten, mit Papier verklebt und in den hinter demselben befindlichen rot angestrichenen Kasten ein Licht gesetzt. Diese Vorrichtung wird an zwei starken, schwarz angestrichenen Schnüren herabgelassen, und siehe da, es ist Mondschein!« (S. 64) Der vollkommene Maschinist ist eben der, der die Maschinerie nicht verbirgt, sondern zeigt, und er hilft damit jenem Kunstverstand auf die Sprünge, der nötig ist, nachdem Kunst sich vom Prinzip der Nachahmung verabschiedet hat. Einen Verbündeten findet der Maschinist als Kämpfer gegen den Illusionismus der

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Nachahmung bei Shakespeare: dem Weber Zettel und dem Schreiner Schnock, die dem Publikum versichern, dass Pyramus nicht wirklich stirbt und der Löwe kein Löwe, sondern beides erkennbares Theater ist. Es ist bemerkenswert, dass die Strategien zur Abwendung der Gefahr, vom Idealischen ins Phantastische abzugleiten, den Rückgriff auf populäre Vergnügen nutzen. Bei Kleist war es das Marionettentheater des Jahrmarktes, bei Hoffmann ist es das Theater Shakespeares, das nicht nur ein Theater des Volkes war, sondern in dem auch, wie im »Sommernachtstraum«, die Handwerker Theater spielen. Die beiden kleinen Erzählungen von Kleist und Hoffmann über Mechanik und Maschinerie, deren Artefaktcharakter der Kunst zu Hilfe kommen soll, antworten auf das Problem, dass mit einer von Natur getrennten Orientierung der Kunst an Idealen der Kunstverstand um den Verstand gebracht werden kann. Kunst ist, sobald sie philosophisiert wird, nicht mehr harmlos. Sobald die artefiziellen Welten, die sie erzeugt, auf das Scheinen einer Idee hin orientiert werden, die einem künftigen Ideal wie der Erfahrung seines Bruchs in der Gegenwart verpflichtet ist, wird es nötig, die Täuschung der Fiktion im Sinne der Illusion zu vermeiden. Man muss sie als fingierte erkennen. Es geht um Desillusionierung, und die geht in ihrer zeitlichen Struktur auch über die Momentanismus der spontanen Evidenz hinaus. Das ist relativ leicht, wenn man Marionetten vor sich hat oder ein Mondgestell an Seilen aus der Kulisse herunterhängt. Schwieriger wird es dort, wo ein Ideal verfolgt wird und die Intensität der Vorstellung dazu verleitet, es für wirklich zu nehmen, wo das Ideal lebendig erscheint, als ob es in Natur fallen würde. Das Unheimliche, zu dem gehört, dass die Grenzen zwischen Totem und Lebendigem, Organischem und Unorganischem unklar werden, liegt hier nicht mehr fern, ebenso wenig wie die Angst vor der Einbildung, die möglicherweise in dem Maße steigt, in dem die Kunst mit dem Auftrag versehen wurde, zum Anwalt von Idealen zu werden. Als eine Warnung vor der Wahrnehmung des Scheins als einer nach außen, in die Wirklichkeit getretenen Idealität, als Warnung vor dem täuschenden Schimmer der Traumwelt kann man Eichendorffs Novelle »Das Marmorbild« [1818] verstehen. Sie bildet den Gegenpol zur Novelle

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»Aus dem Leben eines Taugenichts«, in der der Ich-Erzähler besitz- und sorglos, geradezu einfältig und naiv, glücklich und naturverbunden in der Welt und mit der Poesie zurechtkommt und die mit den Worten »und es war alles, alles gut« endet. Im »Marmorbild« geht es um die Kunst, dem Titel entsprechend bezogen auf die Problematik des »Bildes«, das zwischen seiner Seinsbezogenheit und seinem artefiziellen Charakter als Repräsentation angesiedelt wird. Der kunstliebende junge Edelmann Florio reist, getrieben von und zu einer verlockenden Ferne und Schönheit nach Lucca und findet sich, kaum angekommen, in einer Gesellschaft, die sich zwischen »blühenden Gebüschen«, unter »hohen Bäumen« auf einer »glänzenden Wiese« mit Spaziergang, Ballspiel und Musik »im lauen Abendgolde« vergnügt. (Eichendorf 1891, Bd. 2, S. 331) In dieser Szene ist alles in wunderbarer Bewegung, wenn etwa das Federballspiel beschrieben wird: »Die buntgefiederten Bälle flatterten wie Schmetterlinge, glänzende Bogen hin und her beschreibend, durch die blaue Luft, während die unten im Grünen auf und nieder schwebenden Mädchenbilder den lieblichsten Anblick gewährten.« (S. 331) Zur Anmut dieser natürlichen Bewegung will die wiederkehrende Verwendung eines Wortes allein schon in dieser Eingangspassage nicht recht passen; die Rede ist nicht von Mädchen, sondern von »Mädchenbildern«, nicht vom Frühling, sondern vom »Bild des Frühlings«, wie denn auch Florio »zwischen den ewig wechselnden Bildern umher(schweift)«. (S. 331) Bilder stehen, auch wenn sie einander im Wechsel ablösen, einer natürlichen Bewegung denkbar fern. Was in dieser Szene schon angekündigt ist – die Verschiebung natürlicher Phänomene zum Artefaktcharakter eines stillgestellten, gleichsam eingefrorenen Bildes – wird im Verlauf der Novelle mit zunehmender Dramatik durchgespielt bis hin zur inversen Verlebendigung des Bildes. Während eines nächtlichen Spaziergangs gelangt Florio zu einem Weiher, an dessen Ufer eine Marmorstatue der Venus steht, bei deren Anblick ihm das unbewegte Bild so lebendig erscheint, »als schlüge es die seelenvollen Augen langsam auf, als wollten sich die Lippen bewegen zum Gruße, als blühe Leben wie ein lieblicher Gesang erwärmend durch die schönen Glieder herauf.« (S. 340 f.) Steinerweichende Schönheit macht Stein zu Sein, das sich jedoch als Schein

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herausstellt, wenn das Venusbild dann »so fürchterlich weiß und regungslos (…) mit den steinernen Augenhöhlen aus der grenzenlosen Stille« blickt. (S. 341) Dabei bleibt es nicht, denn in der Begegnung mit einer schönen Frau ist für Florio das »schöne Marmorbild (…) lebend geworden und von seinem Steine in den Frühling heruntergestiegen« (S. 347), und während eines Balles erscheint ihm die schöne Griechin sogar gleich zweifach im »seltsamen Doppelbild«, und ihr Gesicht sieht »fast wie damals das Marmorbild am Weiher« aus (S. 351, 354). Umstellt von Bildern, die zwischen Verlebendigung und tödlicher Erstarrung des in ihnen verkörperten Ideals der Schönheit changieren, kommt es schließlich zu einem regelrechten Show-down der Bilder. Während Florios Besuch bei einer Dame, die ihm zunächst als Venus in natura, dann als bleiche Statue erscheint, stößt er in einer schreckhaften Bewegung eines der an der Wand lehnenden steinernen Bilder an, das Bild rührt sich, gibt wie in einem Dominoeffekt seine Bewegung an die anderen weiter, die Bilder erheben sich und Florio flieht vor dem Aufstand der Bilder, die auf ihn eindringen. Der kunstbeflissene Florio ist das Opfer eines »teuflischen Blendwerks« aus vorgestellten Erdichtungen geworden (S. 368), erliegt ihrer Fiktionalität, indem er sie als lebendige Natur ansieht. Eichendorffs Novelle führt die Gefahren einer durch Kunst bis zum Wahnsinn bedrohten und entzündeten Einbildungskraft eindrücklich vor Augen, aber sie weiß auch um ein Gegenmittel, auf das der Sänger Fortunato, der den gefährdeten Florio durch die Novelle unaufdringlich begleitet, hinweist, indem er ein »altes Lied« singt. Der Venus wird »ein ander Frauenbild« als Leitstern der Kunst gegenübergestellt: »Ein Kindlein in den Armen/Die Wunderbare hält,/Und himmlisches Erbarmen/Durchdringt die ganze Welt.//Da in den lichten Räumen/Erwacht das Menschenkind,/Und schüttelt böses Träumen/Von seinem Haupt geschwind.« (S. 367) Die Einbildungskraft wird in den Grenzen der Religion abgesichert und so moderiert, dass sie keinen Verblendungen und Täuschungen unterliegt. Das Bild Marias vermindert Kunstriskanz, weil in ihm das fleischgewordene Wort, das dem toten Buchstaben gegenübersteht, schon verkörpert ist. Dies »ander Frauenbild«, das die Kunst orientieren soll, führt nun nicht kurzerhand zur in Kunst verpackten

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religiösen Belehrung, sondern eröffnet einen neuen Möglichkeitsraum. Denn, so Fortunato: »Glaubt mir, ein redlicher Dichter kann viel wagen, denn die Kunst, die ohne Stolz und Frevel, bespricht und bändigt die wilden Erdengeister, die aus der Tiefe nach uns langen.« (S. 368) Solche Erdengeister werden, hier durchgespielt an ihrem Opfer Florio, zum Gegenstand der Kunst, zum Objekt, das, nachdem die Kunst nicht mehr harmlos ist, nun bearbeitet werden muss. Damit ist der Weg frei für literarische Erkundungen und Aufklärungen des inneren Erlebens, seiner Abgründe, Phantasmen, Täuschungen und Träume. Florio wird schließlich von seiner Fixierung aufs griechische Kunstideal geheilt und selbst zum Sänger eines neuen Liedes: »Nun bin ich frei!« (S. 368)

»…wenn einem die Natur kommt« Im »Marmorbild« wie auch bei den anderen Romantikern konnte der Glaube an die Kunst durch die Verschiebung hin zu einem neuen Ideal noch gerettet werden, indem die Kunst zu dem Medium gemacht wurde, in dem sie ihre Riskanz und Leistungskraft reflektieren kann. Aber Natur als Thema der Literatur kehrt wieder, nicht in Gestalt etwa der momentanen Katastrophe eines Erdbebens, sondern in einer antiidealistischen, materialistischen Wendung als grundsätzliche Frage nach der Macht und Modifikation von Natur. Büchner hat sie im »Woyzeck« [1836/37] an einer geschundenen Kreatur durchgespielt. Es mag naheliegen, diese Kreatur sogleich mit dem Namen des Titelhelden zu belegen, aufschlussreicher aber ist es, mit einer Szene zu beginnen, in der ein Tier im Zentrum steht: das »astronomische Pferd«, also ein sternenkundiges Pferd und damit ein Wesen, das auf die Geburtsstunde der Wissenschaft, die Beobachtung und Berechnung der Bewegungen der Himmelskörper verweist. Diese als Jahrmarktsattraktion auftretende Figur ist denn auch »Mitglied von alle gelehrte Societät«. (Büchner 1974, Bd. 1, S. 411) Die Szene, in der von einer »unidealen Natur« und einer »doppelten Raison« die Rede ist, spielt auf dem Jahrmarkt; Büchner hat den Ort, an dem hier über keineswegs unwesentliche Fragen geredet wird, weit

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entfernt vom Gebiet der anerkannten hohen Künste angesiedelt. Es handelt sich um die vergleichsweise lange, dritte Szene der Lese- und Bühnenfassung. (Büchner 1974, Bd. 1, S. 411 f.) Angekündigt vom Ausrufer wird eine »rapräsentation«: »Meine Herren! Meine Herren! Sehn Sie die Creatur, wie sie Gott gemacht, nix, gar nix. Sehn Sie jetzt die Kunst, geht aufrecht hat Rock und Hosen, hat ein Säbel!« Die Polarität von bloßer Kreatürlichkeit auf der einen und ausstaffierter Künstlichkeit auf der anderen Seite fällt in der Figur des astronomischen Pferdes zusammen, von dem gesagt wird: »Alles Erziehung, habe nur eine viehische Vernunft, oder vielmehr eine ganz vernünftige Viehigkeit«. Das Kunststück der Darstellung dieser »unidealen Natur« im Inneren der Jahrmarktsbude zeigt, es ist »Ei Mensch, ei thierisch Mensch und doch ei Vieh, ei bȇte«, es kann »sich nur nit ausdrücke, nur nit explicirn, ist ein verwandelter Mensch!« Wenn später Woyzeck selbst von einer »doppelten Natur« spricht (S. 418), so darf man in der »rapräsentation« der niedrigen Jahrmarktskunst, diesem »commencement von commencement« eine artefizielle Verdopplung dessen sehen, was in der Figur namens Woyzeck verkörpert ist. Bei der Natur, wie sie im »Woyzeck« reflektiert wird, handelt es sich nicht um die Klage über deren Verlust, nicht um die Vorstellung einer mit ihr verbundenen Einheit oder Harmonie, sondern um deren Wiederkehr, ihren doppelten Charakter, ihre Macht, Widerständigkeit und Formbarkeit. Sie ist der Gegenstand von Wissenschaft und Experiment und Woyzeck die entsprechende Versuchsperson in zweifacher Hinsicht: als Forschungsobjekt des Doktors und als literarisches »Objekt«, an dem die Logiken und Folgen einer zum wissenschaftlichen Gegenstand gewordenen Natur exemplifiziert werden. Als Woyzeck, vergleichbar dem Pferd, das sich »ungebührlich« aufführte, öffentlich uriniert, antwortet er auf den Tadel des Arztes mit dem Rekurs auf Natur, deren Triebkraft kein Wille mehr bändigt: »Aber Herr Doctor, wenn einem die Natur kommt.« Auf die idealistisch imprägnierten Vorstellungen des Arztes, wonach der Wille Natur beherrscht und sich deshalb »die Individualität zur Freiheit (verklärt)«, erläutert er: »Sehn Sie Herr Doctor, manchmal hat einer so n’en Character, so n’e Structur. – Aber mit der Natur ist’s was anders, sehn Sie mit der Natur (er kracht

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mit den Fingern) das ist so was, wie soll ich doch sagen, zum Beispiel…«. (S. 417) Dem Versuch, dieser Natur sei es in idealistischer Überformung, sei es in wissenschaftlicher Klarheit habhaft zu werden, hält Woyzeck entgegen: »Die Schwämme Herr Doctor. Da, da steckts. Haben Sie schon gesehn in was für Figuren die Schwämme auf dem Boden wachsen? Wer das lesen könnt.« (S. 418) Angesichts einer auf die Schwundstufe rohen Seins gebrachten Natur erwächst aus einem Versuch, im Buch der Natur zu lesen, kein Sinn. Ihr Pendant ist ein nicht minder roh gewordenes Sollen, sei es Woyzeck verordnet mit der dem Denken der Zeit verpflichteten phosphathaltigen Erbsenkur, sei es formuliert in der sinnentleerten Aufforderung zur Moralität: »Moral das ist wenn man moralisch ist«. (S. 414) Büchner lässt seinen Titelhelden sagen, dass unter den Prämissen einer ver- und entborgenen doppelten Natur die Tugend zum Kostüm geworden ist: »Ja Herr Hauptmann, die Tugend! ich hab’s noch nicht so aus. Sehn Sie, wir gemeine Leut, das hat keine Tugend, es kommt einem nur so die Natur, aber wenn ich ein Herr wär und hätt ein Hut und eine Uhr und eine anglaise und könnt vornehm reden, ich wollt schon tugendhaft seyn. Es muß was Schöns seyn um die Tugend«. (S. 415) Riskanz und Gefährdung gehen nun nicht mehr von Kunst, sondern von Natur aus. Das ändert auch die Stellung der Kunst, weil sie ihre Sicherung in einer Beziehung auf Transzendenz und Ideal verliert. Bei Eichendorff konnte das Bild der Maria mit Kind als Antidot gegen die gefährliche Überflutung der Einbildungskraft gezeichnet werden. In Büchners »Woyzeck« finden wir auch eine Mutter mit Kind, die – man darf davon ausgehen, dass Namensgebungen bei Dichtern nicht rein zufällig sind – Marie heißt; hier fällt sie dem Messer Woyzecks zum Opfer. Heftige Gemütsbewegungen oder »wilde Erdengeister« werden von Kunst nicht mehr gebannt. Die doppelte Natur als beherrschende, bedrängende und als beherrschte, bedrängte wird zum bodenlosen Referenzraum von Literatur, ausgesprochen von Woyzeck, der, nachdem er auf den Boden gestampft hatte, gleich zu Beginn des Stückes feststellt: »Alles hohl da unten«. (S. 409) Es bedarf hier keines Erdbebens mehr, das die Welt erschüttert, weil sie schon instabil ist und eine idealistische Überformung ebenso wenig zulässt wie einen emphatischen Bezug auf

1. Naturbilder und Kunstideen

Natur. Dies führt zu einer Literatur, die das Niedrige und Geringe als ihren neuen Gegenstand entdeckt. (Originalbeitrag)

Literatur Blumenberg, Hans. 2020. Realität und Realismus. Hg. v. Nicola Zambon, Frankfurt a.M: Suhrkamp. Breidert, Wolfgang. Hg. 1994. Die Erschütterung der vollkommenen Welt. Die Wirkungen des Erdbebens von Lissabon im Spiegel europäischer Literatur. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft. Brockes, Barthold Hinrich. 1969. [1739]. »Betrachtung verschiedener zu unserem Vergnügen belebten Insekten«. In Deutsche Dichtung im 18. Jahrhundert. Hg. v. Adalbert Elschenbroich, 7-9. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft. Büchner, Georg. 1974. [1836/37]. Woyzeck. In Sämtliche Briefe und Werke. Historisch-kritische Ausgabe, hg. v. Werner R. Lehmann. Erster Band, 405-431. München: Hanser. Eichendorff, Joseph von. 1891. [1818]. Das Marmorbild. In Eichendorffs Werke. Hg. v. Richard Dietze. Zweiter Band. 329-370. Leipzig und Wien: Bibliographisches Institut. Gerhardt, Paul. 1957. [1653]. Dichtungen und Schriften. Hg. v. Eberhardt von Cranach-Sichart. München: Paul Müller. Goethe, Johann Wolfgang von. 1963. [1774]. Die Leiden des jungen Werther. In Goethes Werke. Hamburger Ausgabe Bd. 6. 7-124. Hamburg: Wegner. Günther, Horst. 1994. Das Erdbeben von Lissabon erschüttert die Meinungen und setzt das Denken in Bewegung. Berlin: Wagenbach. Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus. 1962. [1814]. Der vollkommene Maschinist. In Fantasie- und Nachtstücke. Hg. v. Walther Müller-Seidel, 58-66. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

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Hölderlin, Friedrich. 1994. [1797/99]. Hyperion. In Sämtliche Werke und Briefe in drei Bänden. Hg. v. Jochen Schmidt. Bd. 2, 9-276. Frankfurt a. M: Deutscher Klassiker Verlag. Jakob, Hans-Joachim. 2021. Die kritische Auseinandersetzung mit dem internationalen Erdbebenschrifttum in ausgewählten gelehrten Journalen (1730-1754). In Lessing Yearbook/Jahrbuch XLVIII. Eighteenth-Century Catastrophes/Katastrophen des achtzehnten Jahrhunderts. 17-36. Göttingen: Wallstein. Kleist, Heinrich von. 2010. [1810]. Über das Marionettentheater. In Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, hg. v. Roland Reuß u. Peter Staengle. 425-433. München, Frankfurt a.M.: Hanser/Stroemfeld. Klopstock, Friedrich Gottlieb. 1969. [1759]. Die Frühlingsfeier. In Deutsche Dichtung im 18. Jahrhundert, hg. v. Adalbert Elschenbroich, 286-290. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft. Löffler, Ulrich. 1999. Lissabons Fall – Europas Schrecken. Die Deutung des Erdbebens von Lissabon im deutschsprachigen Protestantismus des 18. Jahrhunderts. Berlin: de Gruyter. Schiller, Friedrich. 1967. [1795/96]. Über naive und sentimentalische Dichtung. In Sämtliche Werke. Hg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert. Bd. 5, 694-780. München: Hanser. Zimmermann, Johann Georg. 1997. [1755/56]. Die Zerstörung von Lisabon. Die Ruinen von Lissabon. Gedanken bey dem Erdbeben. Hg. und mit einem Nachwort von Martin Rector u. Matthias Wehrhahn. Hannover: Revonnah.

2. Musterstaat und menschliche Mechanik in Romanen der Aufklärung

Es wäre durchaus möglich, diese Überschrift in einer Austauschbewegung zu verkehren, sodass sie lauten würde: »Staatliche Mechanik und Mustermensch«. Denn für die Aufklärung ist die enge Verschränkung kennzeichnend, die sie zwischen den Konzepten und Entwürfen vom Menschen und den Modellen staatlicher Organisationsformen hergestellt hat. Ein neuer Diskurs vom Menschen stellt ihn als ein Vernunftwesen heraus, dessen Rationalität alle Triebkräfte seines Handelns erkennen und regulieren kann, als ein Wesen, das »sich machen« kann und in radikaler Diesseitigkeit seine Vervollkommnung anstrebt. (Vovelle 1996, S. 11) Und ein neuer Diskurs über den Staat macht den wohlgeordneten Zusammenhang aller Kräfte zum Maßstab einer allgemeinen Glückseligkeit, in der Nützlichkeit, Reichtum und Tugend miteinander vereint werden. Philosophische, moralische, politische, pädagogische und spezialwissenschaftliche Schriften sind getragen von diesen aufklärerischen Idealen, aber sie haben auch einen Typus literarischer Werke entstehen lassen, die die Frage nach dem Menschen als Subjekt der Erkenntnis mit der Frage nach staatlichen Handlungsmaximen, in denen der Mensch das Objekt ihrer Praktiken ist, verbinden.1

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Allgemein zum anthropologischen Interesse des 18. Jahrhunderts s. die Einführung zu Fabian, Schmidt-Biggemann, Vierhaus. Hg. 1980 sowie ebd. die instruktiven Detailstudien.

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Im Folgenden werden zunächst die Thematisierung von Staatsfragen im Rahmen der neu entstehenden Gattung des Romans und das Spektrum ihrer Formen behandelt. Danach wird eine spezifische Denkfigur, die sich mit der Behandlung von Staatsfragen und Menschenfassungen verknüpft hat, skizziert, nämlich ein Denken im Rahmen maschineller Mechanik, doch ohne Bezüge auf Technik im engeren Sinne. Schließlich und in der Hauptsache werden verschiedene literarische Staatsreflexionen und Menschenkonzepte an ausgewählten Beispielen im Hinblick auf die Integration anthropologischer Fragen, auf die moralische Kritik an menschlicher Natur und an der Organisation des Staates sowie in Hinsicht auf die aufklärerischen Praktiken eines umfassenden Wissenserwerbs untersucht. Dabei folgt die Analyse der ausgewählten Werke dem Ziel, in den literarischen Fiktionen die Konzeptualisierungen aufklärerischer Denkprofile freizulegen und eine Verbindung zwischen literaturwissenschaftlichen Fragestellungen und theoriegeschichtlich orientierten Zugängen herzustellen.

Spielarten des Staatsromans Bei den gerade auch in der Literatur anzutreffenden Verschränkungen der Entwürfe vom Menschen mit staatlichen Organisationsmodellen handelt es sich um ein Phänomen der europäischen Aufklärung2 , weshalb hier denn auch Werke der englischen, französischen und deutschen Literatur gleichermaßen behandelt werden. Die Literatur, die projektiert, dass der Mensch »zu dem reinen Licht des Verstandes wiederkehren werde« und das ganze menschliche Geschlecht »dem einzelnen Menschen gleich sei« (Mercier 1982, S. 16 f.), ist mit dem Begriff des Staatsromans belegt worden, verstanden in dem Sinne, dass in romanhafter Form ein idealer Staat dargestellt wird, der sich der

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Zur Aufklärung als »transnationaler Bewegung« s. Möller 1986.

2. Musterstaat und menschliche Mechanik in Romanen der Aufklärung

Glückseligkeit seiner Bürger verpflichtet.3 Aber wie die Untersuchung einzelner literarischer Werke zeigen wird, ist der Staatsroman kein einheitliches Genre. Sein Facettenreichtum entfaltet sich vor dem Hintergrund jener neuen Gattung, die das 18. Jahrhundert stark gemacht hat: dem Roman. Der Roman, zunächst misstrauisch beäugt bis verworfen ob seiner die Leidenschaften und das Gemüt erregenden Kraft, wird zur bürgerlichen Epopöe schlechthin. In ihr konstituiert sich ein neuer Reflexionsmodus des seiner selbst gewiss werdenden Menschen, seiner Handlungen und Empfindungen. Nicht nur ein neues Publikum wird mit ihm erreicht, sondern auch die Bildung eines neuen Menschen. Die Dimension des Privaten, die dem Roman besonders im Gegensatz zum Theater von Anfang an anhaftet, mag die Thematisierung von Staatsfragen zwar logisch gesehen ausschließen, tatsächlich aber führt gerade die Entdeckung der Individualität im Roman dazu, dass die aufgeklärte Privatheit und ihre tugendhafte Normativität in den politischen Raum verlängert und umgekehrt der Raum des Politischen im privaten Räsonnement verankert wird.4 Nachdem man die Welt »nicht mehr als geheimnisvolle(n), gefährliche(n), von magischen Kräften durchwirkte(n) Kosmos« sieht, vollzieht der Roman, zunächst und vor allem im England nach der Glorious Revolution, eine Hinwendung zu Beschreibungen von Wirklichkeit, in denen sich der Mensch »völlig unheroisch durch Wissen, Moral und Arbeit zu bewähren vermochte« (Weiß 1992, S. 207). Hier wird eine neue Empirie entdeckt. Neben diese auch für den Staatsroman wesentliche Dimension tritt eine zweite, die die Bedeutung betrifft, die man der Kunst zuweist. Für die Künstler »gründen Ansehen und Glaubwürdigkeit des Kunstwerks in seinem sittlichen und moralischen Gehalt, ungeachtet seiner bloß formalen Qualitäten.« (Arasse 1996, S. 214) Die neuen Empirien und die hohe Auf-

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Zum Staatsroman s. Schneider 1980, S. 170 ff sowie Schwonke 1957 mit dem Schwerpunkt naturwissenschaftlich-technischer Utopien, des weiteren Naumann 1976. Zur Entfaltung des moralischen Bewußtseins in den politischen Bereich hinein, mit Bezug auf »Staatsromane« der Aufklärung s. Spies 1992, bes. Kap. II.

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fassung von der gesellschaftlichen Aufgabe der Kunst bilden das Terrain, das die Thematisierung von Staatsfragen im Roman ermöglicht. Im Allgemeinen vom »Staatsroman« zu sprechen, ist jedoch viel zu ungenau. Denn das Spektrum literarischer Staatsreflexionen lässt sich in ein Gefüge von Beziehungen eintragen, das sich tableauartig zeichnen lässt. Die aufklärerische Verschränkung von Anthropologie und Staat läuft in der einen Linie auf moralische Kritik zu, in einer zweiten auf die Entdeckung neuer Empirizitäten als Gegenständen des Wissens, die die Basis für eine aufgeklärte Staatsführung abgeben. Auf der Linie der moralischen Kritik liegt zum einen der Fürstenspiegel und zum anderen die Satire, während im Gebiet der neuen Empirizitäten der Staatsroman im engeren Sinne und die Utopie angesiedelt sind. Die Komplexe Moral und Wissen werden von den jeweiligen literarischen Aussageweisen unterschiedlich moduliert. Aber zweifellos fallen diese Modalitäten der Staatsreflexionen mit ihren jeweiligen intellektuellen und literarischen Formvorlieben in den Ländern der europäischen Aufklärung wiederum unterschiedlich aus. Zu Recht ist darauf aufmerksam gemacht worden, dass sich die deutsche Literatur jener Utopien nicht rühmen kann, die die französische Literatur des 18. Jahrhunderts aufzuweisen hat (Bersier 1981, S. 9). Man wird hinzufügen müssen, dass weder die deutsche noch die französische Literatur jene Gesellschaftssatire kennen, die am Anfang des Jahrhunderts in England einen markanten Ausdruck gefunden hat. Vollständig wird das Tableau der literarischen Staatsreflexionen, wenn diese beiden, die Utopie und Gesellschaftssatire, um ihre komplementären Pendants ergänzt werden: die Utopie, jene dem Wunsch verschriebene Darstellung des idealen Zustandes in entlegenen Räumen oder fernen Zeiten, um den Staatsroman im engeren Sinne, der weitaus realistischer reformistische, allgemein pädagogische Konzepte für eine projektierbare Gegenwart entwirft; und die Satire, der böse Blick auf die Laster der Welt, ist zu ergänzen um den Fürstenspiegel, der sich von der barocken Tradition der Herrscherverherrlichung zur Ratschlagliteratur

2. Musterstaat und menschliche Mechanik in Romanen der Aufklärung

für der Tugend verpflichtete Fürsten wandelt.5 Diese vier Textarten: Utopie und Staatsroman, Satire und Fürstenspiegel konturieren die Formen literarischer Staatsreflexion, wobei Utopie und Satire dem Raum der literarischen Imagination weitaus mehr verpflichtet sind als Staatsroman und Fürstenspiegel, die eine stärkere realistische Tendenz, verbunden mit pädagogischen Optionen inkorporieren. Im Vergleich werden sich die literarischen Imaginationsräume von Satire und Utopie eher in England bzw. Frankreich als in Deutschland finden, wo der Musterstaat eher in Staatsromanen und Fürstenspiegeln konzipiert wird – wiewohl beide auch in der englischen und französischen Literatur präsent sind. Um dies Tableau der Verknüpfungsweisen von Staatsdenken und Anthropologie zu entfalten, werden für Deutschland Werke von Christoph Martin Wieland und Johann Karl Wezel herangezogen, für England von Bernard Mandeville und Jonathan Swift, für Frankreich von François de Salignac de la Mothe-Fénelon und Louis-Sébastien Mercier. Dass die anthropologische Frage nach den Verfasstheiten des Menschen und den Eigenheiten seiner Natur einen so prominenten Platz im Denken des Staates einnehmen kann, verdankt sich einem Ausschluss, der allen literarischen Varianten gemeinsam ist, nämlich dem Ausschluss der Frage nach der Technik und der Rolle, die sie für Staatsund Gesellschaftsentwicklungen spielen könnte. Obwohl das 18. Jahrhundert die Guillotine erfunden hat und die erste Dampfmaschine schon am Ende des 17. Jahrhunderts durch den Grubeningeniuer Thomas Newcomen und den Militärtechniker Thomas Savery entwickelt wurde (Hammel 1994, S. 64), bleibt die Reflexion der gesellschaftlichen Bedeutung von Technik und Maschinen eine Leerstelle im aufklärerischen Denken – auch dort, wo künftige bzw. bessere Staaten entworfen werden. Charakteristisch für alle vier Modelle der Staatsreflexion im 18. Jahrhundert, auch für die Utopie, ist ein gemeinsamer Sachverhalt: keines von ihnen »enthält Vorwegnahmen, welche die kommende Entwicklung der Technik und industrielle Revolution ahnen lassen, keines 5

Zur näheren Charakterisierung dieser literarischen Formen s. Müller 1989, dort unter dem Sammelbegriff »Utopie« als literarische »Gegenwelten«.

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traut Naturwissenschaft und Technik eine die Gestalt des Gemeinwesens bestimmende oder gar verändernde Funktion zu.« (Schwonke 1957, S. 93) Das Interesse des 18. Jahrhunderts war allenfalls auf den Automaten, und das heißt im strengen Sinne: auf eine apparative Mechanik gerichtet, die als Nachahmung der Natur interpretiert werden konnte. An der Maschine selbst ist keine verändernde Kraft zu entdecken, im Gegenteil: sie hat die Bedingung und Grenze ihrer Existenz daran, dass sie Natur nachahmt und dem menschlichen Wissen unter denselben Prämissen gegeben ist, unter denen ihm auch die Natur gegeben ist. Das bedeutet, dass die Maschine im Denken des 18. Jahrhunderts kein von den Menschen geschaffener Gegenstand der Anschauung ist, der auf seine sozialen Funktionen und geschichtlichen Folgen wie Möglichkeiten befragt würde. Dass diese Leerstelle »Technik« im 18. Jahrhundert in der Forschung keine oder kaum Beachtung fand, hat nachhaltige Folgen für die Interpretation literarischer Staatskonzepte gehabt. Sie wurden vor allem im Hinblick auf ihre sozialen oder etatistischen Ideal-Entwürfe untersucht oder auf der Stufenleiter von Fortschritt oder Reaktion angeordnet6 , ohne dass dabei die Menschenkonzepte, die in ihnen mitformuliert worden sind, einer weiteren Untersuchung zugänglich gemacht wurden. Der in der Literatur der Zeit praktizierte Abweis von Technik und Maschine als Anschauungsgegenständen bedeutet nämlich nicht zugleich, dass Maschinen-Vorstellungen keine Rolle spielten. Ein Verständnis von Maschinen, wonach diese in mimetischer Beziehung zu jener Natur stehen, von der die Wissenschaft schon weiß, hat eben dazu geführt, dass die Maschine, statt ein konkreter Gegenstand zu sein, weit mehr das Modell eines Erkenntnismodus sein konnte.7 Die Ausgrenzung der Maschine als Gegenstand hat ihre weite Einschließung ins Denken der Zeit ermöglicht. Wenn die Maschine nichts als Nachahmung der Natur ist, wenn der Mensch auf seine Natur hin befragt wird, um seine Möglichkeiten zu entdecken, dann rücken Mensch, 6 7

So etwa Naumann 1976, hier besonders für die Staatsromane Albrecht von Hallers. S. hierzu Stollberg-Rilinger 1986, bes. S. 24 f., 32 f.

2. Musterstaat und menschliche Mechanik in Romanen der Aufklärung

Natur und Maschine in eine Verbindung, die für literarische Staatskonzepte insbesondere Bedeutung hat. Sofern der Mensch das Subjekt des Wissens ist, wird man ihn als Mustermenschen bezeichnen können, sofern er das Objekt des Wissens ist, werden wir auf seine menschliche Mechanik stoßen. Die anthropologische Dimension, die hier eingelagert ist, verweist nicht auf eine vernunftjenseitige Problematik, wie sie mit anthropologischen Fragestellungen auch verbunden wurde.8 Hier soll vielmehr der Versuch unternommen werden, die aufklärerischen Konzepte der menschlichen Natur, das anthropologische Interesse9 , im Raum der Vernunft zu situieren und die Beziehungen zwischen Staats- und Menschenfassungen in den Spielarten aufklärerischer Rationalitäten aufzusuchen. Nicht zuletzt in der Rolle, die Maschinen-Vorstellungen im Denken der Zeit spielen, wird die Spezifik jener Denkfiguren der Vernunft erkennbar. Die folgende Untersuchung ausgewählter literarischer Werke in Hinsicht auf die in ihnen zum Tragen kommenden Staats- und Menschenkonzepte ist nicht am Modell einer literaturgeschichtlichen Chronologie orientiert, sondern geht nach Ländern vor, beginnend mit England am Anfang des 18. Jahrhunderts. Dabei tritt der Vergleich zwischen den einzelnen Texten wie ihre detaillierte Interpretation zugunsten einer systematischen Perspektive zurück, die darauf gerichtet ist, Werke der europäischen Aufklärung zu dem hier interessierenden Thema in einem Modell zu erklären, das die theoretischen Denkfiguren der Zeit mit aufschließt.

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Vgl. beispielhaft H. und G. Böhme 1985. Zum zunehmenden Interesse der Aufklärungsforschung an anthropologischen Fragestellungen im weitesten Sinne s. den Forschungsüberblick in Alt 1996, S. 55 ff, 307 ff.

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Moral und Satire Dass alle Reflexion über gesellschaftliche Zustände in der Erforschung der menschlichen Natur ihren Anfang hat, dies gilt insbesondere für Bernard Mandevilles berühmte satirische Bienenfabel.10 Die ausgeprägte anthropologische Fundierung von Gesellschaft gewinnt hier ihre besondere Kontur dadurch, dass die menschliche Natur unter dem Gesichtspunkt ihrer funktionalen Nützlichkeit behandelt wird. Mandeville hat seine Zeitgenossen in beträchtliche Aufregung versetzt, weil er der Untersuchung der Vernunft als dem Wesensmerkmal des Menschen weniger Raum einräumt als der Untersuchung seiner Leidenschaften und Interessen. Die in Versen abgefasste Fabel mit ausführlich kommentierenden Anmerkungen zeichnet das Bild einer Gesellschaft, deren Mitglieder von eigennützigen Interessen, Begierden und Neigungen geleitet sind. Dies ist aber kein Grund zur Kritik daran, denn Mandeville will vielmehr über die positiven Funktionen sogenannter amoralischer Interessen aufklären. Es heißt programmatisch: »Trotz all dem sündlichen Gewimmel warʼs doch im Ganzen wie im Himmel« (Mandeville 1968, S. 84). Kurz und gut: es handelt sich um eine Gesellschaft, die Wohlfahrt und Glückseligkeit realisiert. Dargelegt wird auch, wie die Regulation der Gesellschaft im Sinne der Tugend zu Verfall und Armut führt. Auf diese

10

Zuerst 1705 als Sixpenny-Broschüre unter dem Titel »The Grumbling Hive: or, Knaves Turnʼd Honest« in London erschienen, dann 1714 ebenfalls anonym, allmählich in weiteren Auflagen von Mandeville zur heutigen Fassung erweitert. Im Folgenden wird nach der Ausgabe von Walter Euchner zitiert. Sie gibt die 3. Auflage von 1724 (d.h. den ersten Teil der »Bienenfabel«, nicht aber den durch viele Angriffe veranlaßten, explikativen zweiten Teil, London 1729, dt.: Frankfurt 1761) vollständig wieder, in der von D. und F. Bassenge 1957 überarbeiteten Übersetzung von O. Bobertag (1914), und ist mit der hervorragenden zweibändigen historisch-kritischen Gesamtausgabe von F. B. Kaye (Oxford 1924) abgeglichen. Kaye, dessen Ausgabe des ersten Teils der Fabel auf der letzten zu Lebzeiten Mandevilles erschienen Fassung von 1732 basiert, weist darauf hin, dass schwer zu entscheiden sei, welche der beiden Ausgaben (1724 oder 1732) der Intention Mandevilles gerechter werde.

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Weise exemplifiziert die Bienenfabel ihre provokative These, dass die privaten Laster zum öffentlichen Wohl führen. Am Ende des Jahrhunderts wird ein anderer dem Laster seinen Raum einräumen, aber es nicht mehr dem Utilitarismus des Gemeinwohls beigesellen. Der Marquis de Sade wird es zu jener Zone machen, in der sich zum ersten Mal das geheime und dunkle Verlangen des Menschen selber entdeckt. Der Arzt Mandeville entdeckt menschliche Natur, indem er zerlegend und zergliedernd verfährt. »Wer«, so schreibt er im Vorwort, »an Leichnamen anatomische Studien macht, findet bekanntlich, dass die wichtigsten Organe, die für die Erhaltung der Bewegung im ganzen Mechanismus unseres Leibes am meisten in Betracht kommen, nicht harte Knochen oder starke Muskeln sind, auch nicht die Haut, diese zarte weiße Hülle des Ganzen, – sondern vielmehr winzigfeine Häutchen und kleine Röhrchen, die das ungewohnte Auge entweder übersieht oder doch nicht weiter beachtet. Ganz ähnlich nun ergeht es demjenigen, der sich unter Absehung von Kunst und Erziehung in die menschliche Natur vertieft, um zu erfahren, was eigentlich den Menschen zu einem sozialen Wesen macht.« (Mandeville 1968, S. 59) Statt auf ästhetische Distanz oder pädagogische Differenz Rücksicht zu nehmen, geht es darum, die verborgenen, aber elementaren Funktionsprinzipien der menschlichen Natur als Modell der Sozialität auszuzeichnen. Mandeville macht den Mechanismus des Körpers – der in der Tat kaum auf seine Moralität oder Tugend hin befragt werden kann – zum Gesellschaftskonzept, zum Staatsprogramm. Auf diese Weise konstituiert er einen Zusammenhang, in dem alle einzelnen Glieder an der Selbsterhaltung des Ganzen mitwirken, auch ohne ihre Absicht oder Kenntnis. Die Satire zielt auf die Positivität eines Funktionszusammenhanges, dessen ans Absurde grenzenden Utilitarismus der Leser erstaunt zur Kenntnis nehmen mag. Das System des Ganzen bedarf hier keines gründenden Akts durch einen Souverän, ebenso wenig eines Vertragsschlusses seiner Mitglieder, wie ihn Rousseau konzipiert, oder einer aus Furcht geborenen Unterwerfung unter einen Hobbesʼschen Leviathan. Es ist ein System, das, aus der Menschennatur kommend, seine Selbsterhaltung schon in sich eingebaut hat und selbstreferentiell in

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sich zirkuliert. Insoweit wird man Mandeville als einen frühen Denker der Systemtheorie bezeichnen können. Konzipiert im England nach der Glorious Revolution, das die Gesetze des Marktes zu entdecken beginnt, funktioniert dieses System dank jener invisible hand, die für den schottischen Politökonomen Adam Smith zum gesellschaftlichen Regulativ wird. Wo eine unsichtbare Hand regiert, da kann das System kopflos sein; jener Kopf des Königs, der später in Frankreich rollen sollte, ist hier schon gefallen. Die Natur des Menschen ist das Reservoir, aus dem Sozialtechnik und »skilful management« ihre Praktiken beziehen. Diese Praktiken erfordern keinen weisen Mann, denn es genügt jene Geschicklichkeit, die zum Aufziehen einer Uhr vonnöten ist. Mandevilles Satire auf ein System der unsichtbaren Funktionalität korrespondiert mit dem Newtonschen Weltbild aufs Genaueste, wonach das Universum ein harmonisches Ganzes ist, dessen Bewegungen Gesetzen gehorchen, die mathematisch genau beschrieben werden können und ein System der ausgeglichenen Wirkungen erkennbar machen.11 Von Mandevilles geschlossenem System gesellschaftlichen Funktionierens ist in Swifts Gullivers Reisen, erschienen 172612 und bis heute auch als Kinderbuch berühmt, keine Spur zu finden. In unserem Zusammenhang hat Swift Bedeutung, weil hier gerade die menschliche Natur zur Unvernunft in Beziehung tritt und eine Erfahrung von Gesellschaft evoziert, die durch und durch kritisch ist. Swift zielt weder auf die Darstellung einer besseren Gesellschaft, noch auf die Vorstellung der Mittel, die zu ihrer Realisierung angewendet werden sollten. Zwar könnte 11 12

S. Weiß 1992, insbesondere S. 70 f. zum Vergleich von Funktionsprinzipien mit einem Uhrwerk. Im Folgenden wird nach der von Anselm Schlösser hgg. dreibändigen SwiftAusgabe von 1972 (auch: Berlin und Weimar 1967) in der anerkannten Übersetzung Franz Kottenkamps und ihrer Bearbeitung durch Roland Arnold zitiert. Die nur geringfügig differierenden Gesamtausgaben von Temple Scott (1897 ff.) und insbesondere Herbert Davis (1939 ff, dessen Band 11: Gulliver’s Travels auf die von George Faulkner 1735 in Dublin hgg. Werke Swifts zurückgeht) sind Textgrundlage dieser Ausgabe. Zur bis heute fraglichen endgültigen Textgestalt von »Gulliver’s Travels« s. M. Treadwell 1995.

2. Musterstaat und menschliche Mechanik in Romanen der Aufklärung

man all die Stellen zusammenklauben, an denen von positiven Elementen der Staatsführung oder musterhaftem Verhalten die Rede ist – etwa vom König der Riesen, der seine Regierungspraktiken auf den »gesunden Menschenverstand und die Vernunft, auf Gerechtigkeit und Milde« gründet (Swift 1972, S. 206), oder von den Houyhnhnms, jenen vernunftbegabten und -ergebenen Pferden –, aber die Seltenheit solcher idealen Elemente widerstreitet ebenso wie ihre latente Zweideutigkeit – für den Riesenkönig ist Gulliver ein käufliches Objekt, die vernunftbegabten Pferde kennen keinerlei Gefühle – dem Entwurf eines positiven Gesellschaftsbildes. Swift ist ein rückhaltloser, aggressiver Satiriker der Gesellschaft und menschlicher Verhaltensweisen. Über den literarischen Rang von Gullivers Reisen ist, wie über den der Satire überhaupt, oft genug gestritten worden13 , und man hat sich bekanntlich auch nicht gescheut, die Swiftʼsche Bissigkeit einem Menschenhass zuzuschreiben, der geradezu zwingend im Wahnsinn enden müsse. Die harmonische Schönheit des Kunstwerks ist in der Tat nicht das Regulativ der satirischen Schreibweise. Weitaus eher als Gebrauchstext zu verstehen, manifestiert sich in der Satire eine publizistische Energie, die auf öffentliche Wirksamkeit und politische Intervention zielt. Die europäische Aufklärung hat ›Öffentlichkeit‹ insgesamt mit der Entstehung neuer kollektiver, ständische und konfessionelle Grenzen überschreitenden Kommunikationsformen ein neues Statut gegeben. Sie hat eine »Gesellschaft der Aufklärer« konstituiert, deren Reflexion Selbstbildung und Gemeinwohl miteinander verband, um Modelle und Muster der bürgerlichen Gesellschaft experimentell zu erproben (v. Dülmen 1996). In diesem Kontext, verbunden mit einer sich breit entwickelnden publizistischen Tätigkeit und politischen Energie, entfaltet sich die Satire als spezifische Interventionsform, und dies insbesondere in England, das mit der Glorious Revolution eine nachhaltige Übung auf dem Feld innenpolitischer Streitkultur absolviert hatte. In welchem Ausmaß es um die öffentliche Wirksamkeit des Textes geht, macht der 13

So Rosenkranz 1853/1968, der sie im letzten Kapitel »Caricatur« als besondere Form des Häßlichen abhandelt.

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fiktive Verfasser Gulliver in seinem Brief an den fiktiven Herausgeber deutlich, wenn er schreibt, »daß sieben Monate wohl gereicht hätten, alle Laster und alle Torheiten zu beseitigen, denen die Yahoos unterworfen sind«, und sich beklagt, dass schon sechs Monate in Untätigkeit verstrichen sind. (Swift 1972, S. 52 f.) Die moralische Satire kennt keine tragische Konstellation, sondern allein die erhellende Macht der Kritik an den Fehlern und Gebrechen der Unvernunft. Wenn der Mensch der Vernunft die Unvernunft auch in eine weite Ferne von sich rückt und von seiner Welt als Fremdes abtrennt, so fungieren bei Swift gerade die fremden, unbekannten Gesellschaften, in die Gulliver verschlagen wird, als Spiegel, in denen sich der Mensch selbst erkennt. Dabei geht es freilich nicht um die Erkenntnis in der wohlgefälligen Gestalt des Defoeʼschen Robinson, mit dem das Bild von den Tugenden des bürgerlichen Menschen gemalt wird. Swifts Spiegel verzerrt, verändert die Maßstäbe, stört die Proportionen, spielt das Spiel der Verkehrungen. Klein und groß, irdisch und himmlisch, tierisch und menschlich sind die Maßstabsverhältnisse, die der Erzähler durchläuft, um z.B. zu entdecken, dass die Gelehrsamkeit der in höheren Sphären schwebenden Forschungszentrale Laputa darin besteht, Fleischstücke nach mathematischen oder musikalischen Formen zuzuschneiden (Swift 1972, S. 239), oder zu erkennen, dass das Menschliche und das Tierische in den Gestalten von Pferden und Yahoos die Plätze tauschen. Jede Selbstgewissheit der Vernunft wird bei Swift hybride. Die Verzerrungen des Spiegels, die Verkehrungen von Proportionen sorgen stattdessen dafür, dass jede Inthronisation von Vernunft aus Gründen der kritischen Vernunft fraglich wird, vergleichbar den karnevalesken Verwandlungen und Depotenzierungen anerkannter Autoritäten und Konventionen14 . Wenn Gulliver dem König der Riesen nicht ohne Stolz von den Einrichtungen der englischen Gesellschaft berichtet und in den Nachfragen und Kommentaren des Königs gerade umgekehrt die Unvernunft, Korruption und Unmenschlichkeit Englands erkennbar wird, so liegt in dieser spiegelnden Dialogizität das Verfahren, das feste Terrain der Selbst14

Zur karnevalesken Dimension der Satire s. Bachtin 1985.

2. Musterstaat und menschliche Mechanik in Romanen der Aufklärung

gewissheiten der Vernunft öffentlich zu verflüssigen. Dabei genügt als kritische Antwort auf die Darstellungen gesellschaftlicher Praktiken und menschlicher Verhaltensweisen der Rekurs des imaginären Fremden auf fundamentale Wahrheiten, die sich außerhalb des satirischen Kontextes als »Binsenwahrheit« enthüllen würden: dass etwa das Recht nicht verwirren dürfe, sondern hilfreich sein müsse, oder gesunder Menschenverstand genüge, um den Menschen zu regieren.15 Diese buchstäblich antihermeneutische Verständnislosigkeit, wie sie der Riesenkönig oder die Pferde gegenüber den von Gulliver geschilderten sozialen und kulturellen Praktiken an den Tag legen, bildet die Ressource der moralischen Satire. Die Kritik erkennt aus der unüberwindlichen, Verständnis verweigernden Entfernung der Ironie das Närrische als menschliche Schwäche, aber sie garantiert auch, dass sowohl Staat wie menschliche Natur im Universum des moralischen Urteils zu stehen kommen. Für die moralische Kritik der Satire Swifts ist Aufklärung prinzipiell unabschließbar, weil die menschliche Natur im offenen Raum ihrer Schwächen steht, während Mandevilles geschlossenes System die Unendlichkeit seiner Funktionen perpetuiert.

Empirie und Staat Die Aufklärung hat also die natürlichen Fehler des Menschen nicht im Bereich des Privaten angesiedelt, wo sie unter dem Schirm der Intimität nur begrenzt ausgeleuchtet würden. Fehler sind Gegenstand öffentlichen Interesses und vernunftbestimmter Regulative. Damit erschließt sich ein weiterer Komplex der literarischen Staatsreflexion, bei dem es um die Frage nach aufgeklärten Regierungspraktiken geht. Beispielhaft hierfür ist Fénelons Die Abenteuer des Telemach, weil dort die Konzepte der Staatsführung und die Erschließung von neuen Feldern des Wissens einen Zusammenhang bilden. Zweifellos sind die Fehler des Fürsten unter den Bedingungen des Absolutismus von ganz besonderem Interesse, und Fénelon schreibt denn auch: »Es ist mit der Größe wie mit gewissen 15

S. zu diesem Stilmittel Vickers 1973, S. 145 ff.

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Gläsern, welche alle Gegenstände vergrößern. Sämtliche Fehler scheinen auf diesen hohen Rangstellen zu wachsen« (Fénelon 1984, S. 210). Aber so sehr auch der Fürst ein hervorgehobenes Beobachtungs- und Erziehungsobjekt sein mag – er wird zum Modell eines über ihn hinausgehenden, allgemeinen Interesses an der Kenntnis und Regulation von Fehlern. Als Fénelons Buch Die Abenteuer des Telemach unter bis heute nicht geklärten Umständen erstmals 1699, dann 1717 posthum autorisiert erscheint16 , löst es einigen Skandal aus. Fénelon knüpft zwar an die Tradition der Fürstenspiegel an, deren genrebildendes Modell Macchiavellis Der Fürst (1513) ist, aber es findet sich bei ihm keine apologetische Darstellung einer Herrscherfigur, sondern die Explikation des Erziehungsprozesses eines künftigen Monarchen. Fénelon schreibt zudem, anders als seine Vorgänger, in französischer Sprache und macht die Moralität und Aufgeklärtheit bzw. den Despotismus und die Misswirtschaft fürstlicher Regierungspraktiken über den Kreis der lateinisch Gebildeten hinaus der öffentlichen Diskussion zugänglich. Fénelons Telemach verbindet mehrere Komplexe seiner Reflexion des Staates zu einem Entwurf, der seine reformerische Praktikabilität gezielt ins Auge fasst. Dem nachhaltigen Interesse dieses Jahrhunderts an der Menschenführung Rechnung tragend, durchläuft der Titelheld, Sohn des Odysseus, die odysseeischen Irrfahrten als Stationen der Ausbildung zum tugendhaften Fürsten, der unter der Anleitung Mentors bzw. Minervas aus den Erfahrungen, denen er auf seiner abenteuerlichen Reise ausgesetzt ist, Verhaltens- und Regierungsregeln lernt. Da Natur allein den Menschen, also auch den Fürsten, nicht ausreichend 16

Der franz. Originaltitel lautet: Suite de quatrième livre de l’Odyssée d’Homère, ou les Avantures de Télémaque, fils d’Ulysse. Zitiert wird nach der Neuausgabe von Volker Kapp (1984) in der Übersetzung von Friedrich Fr. Rückert (1878). Diese Übersetzung gilt als werkgetreueste der zahlreichen Übertragungen und geht auf die posthume Ausgabe von 1717 zurück, die im Unterschied zur zurückgezogenen Ausgabe von 1699 und zu den vorhandenen Manuskripten eine der Odyssee Homers entsprechende Einteilung in 24 Bücher aufweist. Eine Textveränderung ist mit der differenten Aufteilung jedoch nicht verbunden; vgl. die kritische Ausgabe von A. Cahen, 2 Bde. (1927).

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für seine Aufgaben ausstattet, muss er erzogen oder umerzogen werden, aber bei dieser Vervollkommnung des Menschen handelt es sich nicht um eine lebensphasenbezogene Pädagogik, sondern um einen altersunabhängigen Prozess, um eine Erwachsenenbildung.17 Fénelon rekurriert auf das antike Epos, in dem traditioneller Weise Angelegenheiten des Staates behandelt werden, aber er greift weder auf das Epos einer Stadt, die Ilias, noch auf das Epos einer ethnischen Gruppe, die Argonauten, zurück, sondern auf jenes des einzelnen Helden, die Odyssee, die später für Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung zum Paradigma aufklärerischer Denkkomplexe werden sollte. Fénelon transformiert das antike Epos in den Roman eines Helden, aber er folgt dabei nicht den Gattungsvorgaben seiner Zeit, wonach der Roman, so Daniel Huet in seinem Traité de l’origine des romans von 1666, eine Liebesgeschichte ist, d.h. im privaten Raum der Intimität des Gefühls angesiedelt ist18 . Umgekehrt wird gerade der Roman zur Staatsangelegenheit, sein privater Raum zum öffentlichen Interesse. Neben dem Komplex der Menschenbildung finden sich im Telemach utopische Elemente, wenn, Rousseau vorwegnehmend, von einer alternativen Gesellschaft der Glückseligkeit im Naturzustand berichtet wird. Freilich erscheint sie nur in den Erzählungen weitgereister Seefahrer, nicht im Erfahrungsraum des Helden. Gegenbild zur Welt der Begierden und der Macht, fungiert jene Gesellschaft als Erinnerung an ein Goldenes Zeitalter ebenso wie als Entwurf eines positiven Urbildes der menschlichen Natur, d.h. als Maßstab der Menschenführung. Aber die utopischen Elemente sind gegenüber der Explikation tatsächlicher Regierungspraktiken – dem dritten Komplex des Telemach – von geringem Gewicht. Die Anleitungen zur Staatsführung, die hier gegeben werden, erlauben es, den Telemach vor allem als Staatsroman zu qualifizieren. So wichtig die erzieherische Option auch ist – es handelt sich nicht um die Geschichte des individuellen Helden als die seiner

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Der Besonderheit von Lebensphasen wird erst später Bedeutung zugeschrieben, vgl. Ariès 1975. Bei Mohr 1971 hingegen eine wenig zutreffende phasenorientierte Interpretation der Erziehung Telemachs. So auch noch F.v. Blanckenburg 1774/1965.

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persönlichen Entfaltung; und so sehr die Momente des Utopischen mit zum Tragen kommen – es handelt sich ebenso wenig um die literarische Fiktion einer neuen Gesellschaft. Wenn Mentor im Staate Salent als Exempel für den künftigen Fürsten ein tugendhaftes und prosperierendes Gemeinwesen einrichtet, so beschreibt Fénelon dies unter den konkretesten verwaltungswissenschaftlichen Vorschriften. Schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts gewinnt die Statistik jene Relevanz, die sie später z.B. im allgemeinen Staatsrecht August Ludwig Schlözers erhält, der davon überzeugt war, dass sich Statistik und Despotismus nicht vertragen (Schlözer 1793, S. 25). Zur Kunst des Regierens gehört nicht nur genaue Buchführung und Zählung (Fénelon 1984, S. 214), sondern auch genaue Beobachtung, Kontrolle, Prüfung und Lenkung (S. 404), ein Blick für die Tatsachen, der die monarchischen Praktiken auf eine Fülle empirischer Felder verpflichtet. Der Monarch wird auch, so Fénelon, Beamte einsetzen, »welche über die Familien und die Sitten der einzelnen wachen« (S. 228).19 Die Voraussetzung des Regierens ist eine umfassende Kenntnis, ein vollständiges Wissen, und allererst dieses kann die aufgeklärten Praktiken der Macht begründen. Der Kenntnis des Menschen kommt hier nicht nur in Hinsicht auf dessen allgemeine Natur und seine natürlichen Rechte Bedeutung zu. Menschenkenntnis ist darüber hinaus verbunden mit dem Erwerb eines positiven Wissens, das alle Handlungen, Lebensführungen, Vorlieben, Verkehrs- und Arbeitsformen durchsichtig macht. Fénelons Gesellschaft ist in dem Maße aufgeklärt, in dem sie in ihrer ganzen Wahrheit, und das heißt auch in ihren verwerfungswürdigen Mängeln der Kenntnis des Monarchen durch eine Beobachtung gegeben ist, der er auch selbst unterliegt. Aufklärung macht sichtbar, und sie erzeugt neue Sichtbarkeiten durch Institutionen, Praktiken und Techniken, die das Wissen zum Regulativ eines organisierten Gesellschaftszustandes machen. Die neue Wahrnehmung und empirische Orientierung20 findet sich auch dort, 19 20

Zur Rolle des Beamten in der Aufklärung s. Capra 1996. Vgl. Bödeker 1987, S. 12 ff, der die Bedeutung der Empirie für die »Politisierung der Aufklärung« hervorhebt.

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wo von einer anderen Gesellschaft geträumt wird. Es handelt sich um einen lebensweltlichen Rationalismus der Utopie, wie er sich in LouisSébastien Merciers Das Jahr 244021 findet. Beispielhaft ist dieser Zukunftsroman aus dem Jahre 1771, weil er für einen Problemkomplex der Aufklärung steht, in dem sich das Vernunftinteresse an Staats- und Menschenfragen mit Kontrolle und Beobachtung verschränkt. In diesem Roman schläft der Erzähler nach einem Gespräch mit einem Engländer, der anlässlich seines Besuches in Paris eine heftige Kritik der Stadt im Sinne Rousseaus formuliert, ein, um im Traum im Paris des Jahres 2440 zu erwachen. Jener rousseauistischen Stadtkritik des Engländers setzt Mercier das Zukunftsbild gebauter, künstlicher Umwelt entgegen. In Begleitung eines Stadtführers erforscht der Träumer die Stadt, zu deren idealem Zustand die Realität des 18. Jahrhunderts in scharfem Kontrast steht. Diese realistische Option zielt, anders als bei Swift, ganz unironisch auf die schlechte Verfasstheit der Gegenwart. Dem Traumbericht beigegeben ist ein umfassender Anmerkungsapparat, der Details des gesellschaftlichen Lebens im 18. und im 25. Jahrhundert kommentiert, sodass zwei Zeitebenen miteinander verschränkt und zudem beide von einer außerhalb von ihnen liegenden Perspektive her wahrgenommen werden. Der Traum selbst wird dadurch rationalistisch perspektiviert und für die Erzeugung eines gesellschaftsrelevanten Wissens nutzbar gemacht. Die Wahrnehmung des Besuchers ist überaus genau und detailliert; sie richtet sich auf Hüte, Frisuren, Sitzgelegenheiten ebenso wie auf Verkehrsregelungen, Gesundheitsfürsorge, Begräbniszeremonien oder Verfahren der Steuereinziehung, sodass die literarische Fiktionalität des 21

Das franz. Original erschien 1771 anonym in Amsterdam, die erste Ausgabe unter dem Namen des Verfassers ist aus dem Jahre VII des Revolutionskalenders (=1799). Hier wird zitiert nach der von Herbert Jaumann hgg., mit Erläuterungen und einem Nachwort versehenen Ausgabe von 1982, der die Übersetzung von Christian Felix Weiße aus dem Jahre 1772 zugrunde liegt. Aufgrund der unzuverlässigen Übersetzung Weißes hat Jaumann das Original von 1771 herangezogen sowie die von R. Trousson hgg. Ausgabe (Bordeaux 1971) berücksichtigt und entsprechende Veränderungen vorgenommen, sodass damit die erste integrale Wiedergabe vorliegt.

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Zukunftsromans durch die Schärfe einer durch und durch rationalistisch-empirischen Methode alle Phantastik oder Unwahrscheinlichkeit verliert. Man könnte von einer utopischen Sozialreportage sprechen, wenn es eine solche Gattung gäbe.22 Dieser genaue Blick des Besuchers korrespondiert nun den Praktiken, die angewendet werden, um den vollkommenen Gesellschaftszustand zu realisieren. Dabei steht nicht mehr, wie noch bei Fénelon, der Fürst im Zentrum des Wissens. Das Wissen wird vielmehr allgemein. D.h. die Tätigkeit der beobachtenden Vernunft selbst ist gesellschaftskonstitutiv. So gibt es im künftigen Paris »in jeder Gasse (…) einen Posten, der über die öffentliche Ordnung wachte« (Mercier 1982, S. 26), »staatliche Aufseher, die überall die Fackel der Vernunft umhertragen« (S. 95), es wird jeden Monat registriert, »welche unter den Kranken gestorben und welche genesen sind«, wobei der behandelnde Arzt »über die Verfahren seiner Behandlung Rechenschaft abzulegen hat« (S. 51), und »jedermann schreibt auf, was er in seinen besten Augenblicken denkt«, damit dies am Tage des Begräbnisses öffentlich vorgelesen wird (S. 41). Das Staatswesen des künftigen Paris funktioniert auf der Basis veröffentlichter Beobachtungen und allgemeinen Wissens, seine Institutionen sind Institutionen zur Herstellung von Öffentlichkeit – vom privaten Raum der Familie und ihrer staatlichen Bedeutung ist an keiner Stelle die Rede. Zwar wird vermerkt, die Genauigkeit des Registrierens und Kontrollierens sei zuweilen peinlich, aber sie gründet sich in einem neuen Interesse am Menschen und am Leben (S. 51), das sich am Ende des 18. Jahrhunderts mehr und mehr zu formulieren beginnt und das zum diskursiven Regulativ des modernen Wissens werden wird23 . Dieses Interesse hat den Menschen in die Immanenz seiner Natur gestellt. Was sein Gesellschaftsverhältnis angeht, so gründen sich alle seine Beziehungen auf ein durch empirische Beobachtungen gewonnenes Wissen. Seine disziplinäre Gestalt hat dieses Wissen in 22 23

Merciers Schrift Tableau de Paris (1781-1788) ist in der Tat als eine frühe Sozialreportage anzusehen. Vgl. Foucault 1971, insbesondere den 2.Teil.

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der Policeywissenschaft, dem Vorläufer der Soziologie und der Verwaltungswissenschaften angenommen. Bei Mercier wird die Entdeckung der unendlichen Genauigkeit des Sehens zum Initiationsritus des aufgeklärten Menschen schlechthin. Seine »erste Kommunion« erfährt der junge Pariser, indem man ihn zum Observatorium führt, um ihn zunächst durch ein Teleskop und dann durch ein Mikroskop blicken zu lassen (Mercier 1982, S. 81 ff.). So sehr hier auch die aus älteren Denktraditionen bekannte Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Makro- und Mikrokosmos mitgedacht ist, wonach es geheime Verwandtschaften zwischen dem bestirnten Himmel und dem Gras der Erde gibt, – jener Initiationsritus betont vor allem die Bedeutung der neuen Sichtbarkeiten. »Ohne Zweifel«, schreibt Mercier, »wird das Auge, das den zarten Bau des Herzens, der Nerven, der Fibern des winzigen Insekts gebildet, mühelos in den verborgensten Falten unseres Herzens lesen. Welcher innerste Gedanke kann sich diesem alles durchdringenden Blick entziehen, vor dem die Milchstraße nicht deutlicher erscheint als der Rüssel einer Motte?« (S. 82) Diesen Blick Gottes vollzieht der Mensch nach, wenn er durch Teleskop und Mikroskop (die einzigen im Zukunftsroman erwähnten Instrumente) in die unendlichen Sichtbarkeiten initiiert und dadurch zum Mitglied einer aufgeklärten Gesellschaft wird. Die Fähigkeit, genau sehen zu können, ist im Jahre 2440 schließlich allgemein verbreitet und auch in China, so berichten die künftigen Zeitungen, herrscht Aufklärung im buchstäblichen Sinne.

Staat machen In Merciers Zukunftsroman, der ersten »Uchronie«, besteht der Zeitraum zwischen 1770 und 2440 in einer Lücke. Der Leser erfährt nichts über einen historischen Prozess, der zu der beispielhaften Veränderung des gesellschaftlichen Zustandes geführt hat. Die Geschichte von knapp 700 Jahren wird übersprungen. Es gibt noch nicht die Geschichte im Singular, in der der »Prozeß der Ereignisse und der Prozeß ihrer Bewußt-

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machung konvergieren« (Koselleck 1979, S. 265). Aber es kündigt sich ein Denken an, das sich auf Geschichte zu beziehen beginnt. Beispielhaft hierfür ist Christoph Martin Wielands Goldner Spiegel von 1772.24 An diesem Roman lässt sich die schwierige, noch ungelöste Spannung zwischen einer Geschichte zum Zweck moralischer Belehrung und einer Geschichte als staatlicher Veränderung verdeutlichen. In der »wahren Geschichte« Der goldne Spiegel oder die Könige von Scheschian konfrontiert Wieland der Flucht »in erdichtete Welten, zu schönen Ideen« die Orientierung auf Geschichte, deren »ekelhafte(n) und grauenvolle(n) Gemählde(n)« wahrzunehmen für jeden Menschenfreund zwar eine »Pein« sei, die aber nichtsdestoweniger »eine Quelle sehr nützlicher Kenntnisse« für den Bürger und Staatsmann sei und die deshalb »das höchste und wichtigste Studium eines Menschen ist, der mehr als eine thierische Maschine sein will«. (Wieland 1909, S. 146 ff.) Zugleich fungiert Geschichte als »Spiegel, worin sich die natürlichen Folgen der Weisheit und der Thorheit« deutlich zeigen lassen (S. 11). Die Darstellung von Geschichte hat zum einen eine handlungspraktische Relevanz, weil ihre Kenntnis im Rahmen der Pflicht zu irdischer Planung für die Gestaltung des Staates nützlich ist25 . Zum anderen ist Geschichte ein Instrument der Belehrung über die Gesetze der Natur, ein Mittel, »Moral zu predigen« (S. 204). Diese beiden Bedeutungen von Geschichte verknüpft der Hofphilosoph Danischmend im Goldnen Spiegel, wenn er seinem Sultan die Geschichte des Landes Scheschian erzählt. Aber beide Funktionalisierungen von Geschichte: die Verbesserung des Staates und die Verbesserung des Fürsten als Menschen bzw. zum Menschen, die in der Intention des Philosophen liegen, kommen beim Rezipienten, dem Zuhörer, überhaupt nicht an. Der Sultan bleibt tatenlos, und er nimmt die Erzählung der Geschichte nicht als Belehrung, sondern als unterhaltendes Vergnügen, das es ihm erlaubt, besser

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Zitiert wird nach der krit. Ausgabe Berlin 1909 ff, Reprint Hildesheim 1986-1987, hier: Bd. 9, hgg. v. W. Kurrelmeyer (1931), der, abgesehen von den Jugendschriften, die Ausgaben letzter Hand zugrunde liegen. Vgl. Koselleck 1979, S. 34.

2. Musterstaat und menschliche Mechanik in Romanen der Aufklärung

einzuschlafen. Seine Taten bestehen allein in der Disputation mit dem Philosophen über die Interpretation des Erzählten. Indem Wieland den traditionellen Fürstenspiegel auf diese Weise dialogisiert, öffnet er den Raum für die Frage nach der »Normativität der utopischen Norm« (Müller 1989, S. 11), die der Philosoph dem Fürsten nahebringen will und die nun, wider den philosophischen Willen, zum Gegenstand der Auseinandersetzung wird. Diese literarische Konstruktion lässt an der erhofften Belehrbarkeit des Fürsten zweifeln. Der moralische Zweck, um dessentwillen die Geschichte erzählt wird, stellt sich nicht sogleich ein, weil die Auslegung von Geschichte einer interpretativen Relativität in der Disputation über sie unterliegt. Geschichte ist im Goldnen Spiegel zunächst durch ihre Narration selbst von Bedeutung; allein weil sie erzählt – und kommentiert – wird, fungiert sie als moralische Belehrung wie als Illustration guter Staatsführung und ist in beiden Fällen ein Exempel. Darüber hinaus ist Geschichte aber noch in der Geschichte des Staates Scheschian gegeben. Bei der Chronologie, die Danischmend gibt, handelt es sich noch nicht um die Darstellung eines Prozesses, dessen einzelne Stationen unumkehrbar wären und die eine Entwicklung bezeichneten. So entstehen die Laster und Folgen des Luxus unter einer despotischen Regierung ebenso wie im Zustand der Glückseligkeit. Der historische Bericht stellt verschiedene Zustände nebeneinander, die genetisch-historisch unverbunden bleiben und mit Merciers uchronischem Roman vergleichbar sind.26 Geschichtliche Veränderung, die auch für die Herstellung eines Musterstaates vonnöten ist, wird damit in weiten Zügen unfassbar; sie wird zum Sprung zwischen zwei Zuständen. Entweder führen Kriege diesen Zustandswechsel herbei – oder aber die menschliche Natur selbst, die auch am Grund des Krieges liegt. Sofern menschliche Natur am Zustandswechsel beteiligt ist – und das ist sie immer – ist sie von einer uneinholbaren Janusköpfigkeit. Zum

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Explizite Bezüge Wielands auf Merciers Das Jahr 2440 finden sich im 2.Teil des Goldnen Spiegel S. 190 und S. 266. Zur breiten deutschen Rezeption Merciers s. Jaumann 1990.

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einen gilt sie als der archimedische Punkt, der eine Glückseligkeit möglich macht, wie sie vom weisen Herrscher Scheschians oder im sogenannten »Tal der Kinder der Natur« (Wieland 1909, S. 45 ff.) praktiziert wird – und zum anderen fungiert menschliche Natur als Treibmittel zu verwerflichen Veränderungen. Einmal rekurriert man auf menschliche Natur als Maxime geschichtlichen Handelns, im anderen Fall ist sie eine Bedrohung der Glückseligkeit und muss zum Objekt von Steuerungsprozessen gemacht werden (S. 298 f.). Die Aporie dieses double bind ist durch den Rekurs auf Geschichte nicht lösbar – denn Geschichte setzt sie in Gang – im Gegenteil, diese Aporie verhindert das Denken eines historischen Prozesses. Ihr kann nur die Stabilität eines Zustandes entgegengesetzt werden, ein, so bemerkt der disputierende Sultan scharfsinnig, »Staatsgebäude (…), das wenigstens ebenso dauerhaft wäre als die Pyramiden in Ägypten«. (Wieland 1909, S. 308) Die Vernunft wird immer wieder aufgerufen, die Janusköpfigkeit der menschlichen Natur kritisch zu unterscheiden, womit sich die aufklärerische Kritik selbst auf Dauer stellt. Aber im Hinblick auf die Geschichte muss es darum gehen, sie in der Stabilität eines gewünschten Zustandes gleichsam postmodern zu beenden und die schlechte Intervention der menschlichen Natur unter Rekurs auf ihr wahres Regulativ stillzustellen. Die aufklärerische Option der gesellschaftlichen Glückseligkeit ist mit dem Problem konfrontiert, die Spannung zwischen normativer und faktischer Natur des Menschen zu lösen und von ihrer Geschichtsmächtigkeit zu befreien. Bei Johann Karl Wezel, mit dem wir uns im nächsten Kapitel ausführlicher befassen, findet sich die Darstellung eines Staatswesens, dessen Bewohner die historische Aufgabe, beständig glücklich zu sein, erfüllen. In dem vierbändigen Roman Lebensgeschichte Tobias Knauts, des Weisen, sonst der Stammler genannt beschreibt Wezel in mehreren Kapiteln einen Staat, der jene Stabilität erlangt und diesen Janus der menschlichen Natur stillgestellt hat. Auf Wezels Beschreibung des Staates Eupators sei schließlich eingegangen, weil Wezels aufklärender Blick die instrumentelle Dimension ins Auge fasst, die an der Herstellung des Glückszustandes beteiligt ist. Es handelt sich weder

2. Musterstaat und menschliche Mechanik in Romanen der Aufklärung

um eine Utopie noch um eine Staatskritik27 . Die Verschränkung von Mensch und Staat selbst wird zum Problem gemacht. Für Eupator ist der Staat eine Maschine; wie bei einem »Uhrwerk« führt die Bewegung aller einzelnen Teile zu einem regelmäßigen Gang des Ganzen, und jede Planung muss darauf zielen, dass der Staat »so maschinenmäßig (manövriert), wie ein Regiment Soldaten« (Wezel 1773, Bd. 4, S. 141). Nun gründet Eupator aber seine Planung nicht auf reformerische gesellschaftliche Einrichtungen – bei dem Versuch, die mit »mikroskopischem Blick« (S. 140) entdeckten Fehler des Staates durch eine großangelegte Planung staatlicher Praktiken zu beheben, war er am dadurch entstehenden Chaos gescheitert –, er gründet sie vielmehr auf menschliche Natur – im Jenseits von Geschichte. Anders als im rousseauistischen Rekurs auf eine ursprüngliche Einheit der menschlichen Natur, die dann teleologische Bestimmungen ermöglicht, wird menschliche Natur hier zum Objekt einer zerlegenden Analyse nach den Regeln der aufgeklärten Vernunft. Die Zergliederung macht erkennbar, dass das Funktionsprinzip des Staates dem der Natur gleicht: es handelt sich ebenfalls um eine maschinelle Mechanik. »Im menschlichen Herzen«, so heißt es, »sind verschiedene kleinere Räder, die in das große Rad der Eigenliebe greifen und von diesem umgetrieben werden.« (Wezel 1773, Bd. 4, S. 144) Es geht darum, durch eine Zergliederung des Menschen, wie sie Wezel auch in dem anthropologischen Versuch über die Kenntnis des Menschen vorgelegt hat, seine elementaren Antriebskräfte aufzufinden. Hier ist es die Eigenliebe. Damit nun auf der Ebene des Staates der regelmäßige Gang des Ganzen zustande kommen kann, muss menschliche Natur, d.h. die an ihrem Grund liegende Eigenliebe, als Antriebskraft genutzt werden; die Analogie des Funktionierens, die zwischen Staat und menschlicher Natur besteht, ermöglicht diese Fundierung des Staates auf das anthropologische Räderwerk.

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Zwar jeweils bestritten, werden beide Zuschreibungen in der Forschung formuliert; s. Jörger 1981, S. 81 f. zur Staatskritik; Knautz 1990, S. 171 zum anthropologisch fundierten ›Gegenmodell‹. Bei Wezels Beschreibungen des Staates von Eupator handelt es sich um eine Etappe der Lebensgeschichte Knauts.

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Die Zergliederung des Menschen entdeckt den Menschen, der sich auf sich selbst bezieht – nicht aber auf staatliche oder gesellschaftliche Zusammenhänge und deren Entwicklung. Um die fundamental gewordene Natur des Menschen in die Planung eines musterhaften Staates zu integrieren, kommt Eupator zu der Überzeugung, dass Tätigkeitsfelder bereitgestellt werden müssen, in denen sich die Eigenliebe verwirklichen kann. Die Umerziehung zum Verzicht auf Eigenliebe ist unsinnig, weil sie den Staat seiner Triebkraft beraubt. Unter den Namen der Ehre, des Ruhms, des Patriotismus oder der Tugendhaftigkeit kann die Eigenliebe in ein die Gesellschaft tragendes System des Verdienstes integriert werden und eine »wohlthätige, menschenfreundliche Richtung bekommen« (Bd. 4, S. 155). Zweifellos hat Wezel Mandeville und Adam Smith rezipiert, wobei er allerdings deren pragmatischem Utilitarismus die düstere Seite einer unmündigen, gelenkten menschlichen Natur hinzugefügt hat. Die Glückseligkeit selbst, die in Eupators Staat herrscht, kritisiert Wezel nicht. Aber er gibt eine Aufklärung ihrer Entstehung. Er nimmt, wenn man so will, eine historisch-genetische Perspektive gegenüber der Permanenz des Glückszustandes ein. Jene Glückseligkeit setzt die Selbstverkennung des Menschen voraus. Glückseligkeit stellt sich dann ein, wenn die Motive des Handelns in großen Leidenschaften wie Tugend- oder Ehrstreben gesehen werden und ihr Grund in der Eigenliebe unerkennbar bleibt. Das oberste Gesetz in Eupators Staat, das »befiehlt, sich glücklich zu dünken; und zwar beständig« (Bd. 4, S. 156), erfordert die Illusion seiner Bürger, das Gute »um des Guten willen zu thun« (S. 153). Wezel desillusioniert hier das Projekt der Aufklärung, Entwürfe des Menschen und Konzepte des Staates so miteinander zu verbinden, dass sie zu aufgeklärter, illusionsloser Glückseligkeit führen. Mehr noch: für Wezel erfüllt sich das aufklärerische Gesetz der Glückseligkeit in einer Illusion, über deren Entstehung von neuem aufgeklärt werden muss. Literarische Staatsreflexionen bilden kein einheitliches Genre, sondern stehen im Liniengeflecht von vier Textsorten: der Satire und der Utopie, dem Fürstenspiegel und dem Staatsroman. Wollte man dennoch eine Zuordnung versuchen, so wird man Swift fraglos bei der Satire situ-

2. Musterstaat und menschliche Mechanik in Romanen der Aufklärung

ieren, Mercier bei der Utopie, Wieland in die Nähe des Fürstenspiegels und Fénelon in die des Staatsromans rücken können, Mandevilles Bienenfabel auf der Linie zwischen Satire und Staatsroman einzeichnen und Wezels Staatsreflexion am Kreuzungspunkt von Fürstenspiegel, Utopie und einem von Mandeville inspirierten halbsatirischem Staatsroman ansiedeln. Bei allen genremäßigen Unterschieden liegt eine ihrer fundamentalen Gemeinsamkeiten in der Ausgrenzung des technisch-maschinellen Komplexes als verändernder Kraft. Stattdessen gilt für alle, dass die menschliche Natur selbst sowohl als Fundament der menschlichen Erkenntnistätigkeit wie als Objekt des Wissens und Gegenstand staatlicher Praktiken in den Horizont maschineller Mechanismen rückt. Vor diesem Hintergrund lassen sich die literarischen Staatsund Menschenfassungen in einem Bündel von drei Problemkomplexen zusammenfassen, die für die Aufklärung signifikant sind. Zunächst: die Integration von anthropologischen Fragen in Staatskonzepte. Mandeville rekurriert auf die menschliche Natur, um deren Funktionsgesetze in die Geschlossenheit eines sich selbst erhaltenden Systems allgemeinen Wohlstands zu integrieren. Wezels illusionslose Schilderung verknüpft, hierin Mandeville nicht ganz unähnlich, anthropologische Mechanismen mit der Herstellung des Musterstaates, in dem Menschen zum Objekt einer Glücksillusionen erzeugenden strategischen Lenkung ihrer Begierden werden. Zweitens: das Prinzip der moralischen Kritik, sowohl an menschlicher Natur wie an staatlichen Praktiken. Ein Medium dieser Kritik ist bei Wieland die Geschichte, als Spiegel der Belehrung für den Fürsten, aber auch als Exempel zum Erwerb aufgeklärter Erkenntnis. Bei Swift manifestiert sich eine kritische Erfahrung von Gesellschaft, in der Aufklärung prinzipiell unabschließbar ist. Menschliche Natur selbst erfordert es, moralische Kritik über aller Geschichte auf Dauer zu stellen. Schließlich: die Verbindung von Vernunft und neuen Empirizitäten. Fénelons Anleitungen zu Regierungspraktiken wie zu Praktiken des Herrschers sich selbst gegenüber erschließen eine Fülle von neuen empirischen Feldern, die einem positiven Wissen zugänglich gemacht werden. Für Mercier wird die beobachtende Vernunft zum Regulativ

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des Musterstaates, und zur Aufgabe der Aufklärung die Erzeugung neuer Sichtbarkeiten und öffentlicher Wahrnehmungen. Aufklärung, so machen alle Reflexionen über Musterstaat und menschliche Mechanik deutlich, ist nicht als Zustand, sondern als Tätigkeit zu fassen. (Zuerst in: Das 18. Jahrhundert, hg. v. Monika Fludernik, Ruth Nestvold, Trier: Wissenschaftlicher Verlag 1998, S. 181-198. Überarbeitet.)

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Am Ende seiner Naturgeschichte des Hamsters aus dem Jahre 1774 stellt Friedrich Gabriel Sulzer Überlegungen zu Nutzen und Schaden dieses Tieres an. (Sulzer 1774) Seine Berechnungen relationieren den Verlust an Getreide, der durch das Körnersammeln entsteht, mit dem Erlös, der aus dem Verkauf von Hamsterfellen zu erzielen ist. Die einwandfreie Rechnung führt zu dem Ergebnis, dass der Schaden überwiegt und dass die Folgerung daraus das Plädoyer für die Ausrottung sein muss. Sulzers Ratio wird nicht gewahr, dass eine Berechnung, an deren Ende der Nutzen des Fellverkaufs den Schaden überwogen hätte, zu eben derselben Folge geführt hätte, da kein Hamster leben bleibt, wenn man ihm das Fell über die Ohren zieht. In den Darlegungen der psychischen Curmethode befasst sich Johann Reil unter anderem mit der Heilung der Melancholie. (Reil 1803) Als ein Mittel dagegen nennt er den Beischlaf, jedoch nicht ohne darauf hinzuweisen, dass dieses Mittel mit Hilfe der Einrichtung öffentlicher Dirnenhäuser zwar bei Männern gut anwendbar sei, bei Frauen hingegen nicht, da diese schwanger werden könnten. Der medizinischen Vernunft gelingt die Differenzierung von melancholischer Frau und melancholischem Mann, aber sie kann nicht folgern, dass auch der Verkehr mit einer zur Heilung eingesetzten nicht-melancholischen Frau zur Schwangerschaft führen kann. Die beiden Beispiele aufklärerischen Denkens beunruhigen auf eine eigentümliche Weise. Es sind weniger die angeratenen instrumentellen Handlungsanweisungen, die skurril anmuten mögen – es ist vielmehr

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die Berührung des Verstandes durch eine im Vollzug seiner Regeln entstehende, unbemerkte Absurdität des Argumentierens selber, die eine Grenze der Aufklärung markiert und ihr ein doppeltes Gesicht gibt. Johann Karl Wezel, eine der irritierendsten Gestalten der Aufklärung, hat diesen eigentümlichen Gang des Verstandes als Kreislauf beschrieben: »er gieng aus, gieng – gieng – gieng und – kam wieder an den Ort, wo er ausgegangen war.« (Wezel 1971 a, Bd. 2, S. 149) Im Denken der Aufklärung selbst liegt eine zirkulierende Zwielichtigkeit, die in Wezels Werken Gestalt annimmt. Horkheimer und Adorno haben sie in dialektischer Kritik zum Gegenstand ihrer theoretischen Analysen gemacht. Der zweite Exkurs der Dialektik der Aufklärung, »Juliette oder Aufklärung und Moral«, führt aus, wie auf der Rückseite des aufklärerischen Projekts, alle Phänomene unter den Prämissen der Rationalität begreifbar zu machen und ihnen zu unterstellen, Vernunft selbst zum unbegriffenen Organ von Herrschaft, Aufklärung selbst »zum Götzen« wird (Horkheimer/Adorno 1968, S. 138) und einen maschinellen Charakter annimmt, der das vernichtet, was sich ihm nicht unterwirft. Der Blick, der hier auf die Aufklärung fällt, ist zutiefst pessimistisch. Denn de Sades Juliette, Inkarnation aufklärerischer Zwiespältigkeit, verkörpert einen Universalismus der Vernunft, der mit dem Verbrechen und der Vernichtung verschwistert ist. Vernunftkritik – als Aufklärungskritik – heißt hier, die Geschichtsmächtigkeit der Aufklärung und ihrer Konsequenzen immer aufs Neue herauszustellen und gegen die Tragik der Spaltung von Vernunft und Unvernunft, die sich in beiden noch einmal weiter entfaltet, das historisch ungewisse Projekt einer Vermittlung zu setzen, die menschliche Züge trägt. In einigen »dunklen Schriftstellern des Bürgertums« sehen Adorno und Horkheimer ihr Erschrecken vor der Aufklärung vorgebildet, weil jene, wie etwa de Sade, die »fehler- und inhaltslose Verfahrungsweise« aufklärerischen Denkens und seinen Charakter einer rein »maschinellen Produktionsweise« in aller Nacktheit dargestellt haben.1 Vielleicht 1

Horkheimer/Adorno 1968, S. 141, 111, 126. Zu den beunruhigenden Konsequenzen der Aufklärung und zu der aufklärerischen Skepsis gegenüber der Aufklärung selbst s. Jacobs 2001.

3. Johann Karl Wezel als Treffpunkt aufklärerischer Energien

kann man Johann Karl Wezel mit zu jenen dunklen Schriftstellern zählen. Auch in seinen Werken ist die Referenz auf die »Verfahrungsweise« aufklärerischen Denkens und die Reflexion seiner Praktiken aufzufinden. Was ihn aber von der Vernunftkritik der Dialektik der Aufklärung unterscheidet, das liegt nicht so sehr in der Differenz von philosophischer Kritik und literarischen Weisen der Auseinandersetzung, sondern darin, dass Wezels Werke dem aufklärerischen Denkmodus bis in seine kleinsten Verästelungen hinein folgen, um sie zu wiederholen, sich über ihnen zu verdoppeln, ihre Rationalität zu radikalisieren und sie an die Grenze ihres Sinns zu treiben, wo sie als Absurdität einer in sich zirkulierenden Vernunft sichtbar werden. Wezels aufklärende Antwort auf die Aufklärung ist nicht pessimistisch, sondern ironisch. In nachvollziehenden Kreisbewegungen durchläuft er das Innere ihres Vokabulars, um es in ironischer Brechung erscheinen zu lassen und seinen Sinn zu deplazieren. Während Horkheimer und Adorno die Geschichtsmächtigkeit einer fatalen Zwiespältigkeit herausstellen, erscheint Aufklärung bei Wezel als eine Denkformation, die kollabieren kann und ihr Ende findet, wenn sie dem Gebot folgt, ihren eigenen Regeln bis zum Ende zu gehorchen. Während die Aufklärung für Horkheimer und Adorno ihre gewaltsame Macht gerade durch ihre Zwiespältigkeit entfaltet, wird Aufklärung in Wezels Texten eben dadurch entmachtet. Ihre Gemeinsamkeit liegt in einer Vernunftkritik, die den Vollzug aufklärerischen Denkens zum Gegenstand macht und über ihn aufklärt. Für die Texte Wezels wird dies freilich erst dann sichtbar, wenn man sie in ihren Resonanzen zu den kulturellen Praktiken und diskursiven Formationen seiner Zeit untersucht. Die Zeitgenossen Johann Karl Wezels qualifizieren seine Werke als sonderbar, verfehlt, digressiv, beleidigend, räsonnierend2 , schließlich gar frevelhaft3 . Als er sich im Jahr der Französischen Revolution in seinen Geburtsort Sondershausen zurückzieht, um dort bis 1819

2 3

Vgl. die im Anhang des 4. Bandes von Wezels Lebensgeschichte Tobias Knauts abgedruckten zeitgenössischen Rezensionen. So Christoph Martin Wieland, der anläßlich des Belphegor von einem »neuen Frevel an der armen Menschheit« spricht. Zit. nach Schüddekopf 1900, S. 99.

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als Wahnsinniger zu leben, wird er seinen Zeitgenossen vollends zur eigentümlichen Gestalt und Sondershausen eine Reise wert.4 Literaturwissenschaftlichen Monographien über Wezel teilt sich bis heute jene Irritation mit, die seine Zeitgenossen erfahren haben und die einer interpretativ vereindeutigenden Positionierung des Autors zu Recht im Wege steht. Was an Wezel fasziniert, das ist seine Figuration als Treffpunkt aufklärerischer Energien. Zu einem solchen Treffpunkt hat – nachdem schon Arno Schmidt 1959 Wezel in seinem Hörspiel »Belphegor, oder Wie ich euch hasse« zu Gehör gebracht hatte – Einar Schleef 1983 Wezel in seinem gleichnamigen Theaterstück gemacht. Der wahnsinnige Dichter wird in Sondershausen auf die Bühne gestellt, dem Ort, der zugleich Adresse der jährlichen österlichen Pilgerfahrten von Bürgern, Kaiser, Fürst mit Hofstaat, Lehrer, Student, Trottel, einfachen Menschen und schließlich auch Goethes ist. Dies Publikum will den Dichter »predigen« hören, es will das leibhaftige Schauspiel dessen erleben, der »bebt nach Licht und muß sich nur in Ahnung fassen.« (Schleef 1983, S. 59) Mit wüsten und obszönen Reden wird der Dichter zur Aufführung getrieben, mit ebenso wüsten Worten leistet er der Spaltung von Vernunft und Unvernunft 4

Wezels Werke stehen für vieles: für den »Bann einer pathologisch sich ausdehnenden Einbildungskraft« (Strube 1980, S. 20); für Selbstüberschätzung und Größenwahn (Kreymborg 1913); für die sozialkritische Opposition gegenüber den falschen Hoffnungen der Aufklärung (McKnight 1981); für den literarischen Kampf gegen die Zeitkrankheit Melancholie (Knautz 1990); für die in der Groteske formulierte Antwort auf eine unvollendete bürgerliche Emanzipationsbewegung Jansen, 1980); für eine perspektivlose Gesellschaftskritik (Johannsen 1985); für die Kritik an einer unaufgeklärten Gesellschaft (Thurn 1970); für die Hinwendung der Aufklärung zur Lebenswelt und diätetischen Fragen der Lebensführung (Ammermann 1978); für die Emanzipation der bürgerlichen Klasse (Joerger 1981); für spätaufklärerische Skepsis (Kremer 1985); für die radikalisierten Denkfiguren von Widerstreit, Entgrenzung, Satire und Witz, wobei die Werke »verstören durch ihre Radikalität und Mechanik« (Hammerschmid 2002, S. 294); und schließlich könne man »sich vielfach ärgern über Wezels intellektuelle Arroganz, seinen harten Stil, seine Obsessionen auf bestimmte Themen«, notiert Heinz 1997, S. 13. Wezel-Bibliographien finden sich bei: McKnight 1971/1975; Blöss 1997.

3. Johann Karl Wezel als Treffpunkt aufklärerischer Energien

Widerstand und will »die zwei Gesichter in das eine bringen« (S. 57). Und Einar Schleef bringt in der Tat die pilgernden Zuschauer und den Dichter an einem nun sehr genauen Ort zusammen: bei dem gemeinsamen Besuch in der »Suhle«, dem Wohnort Wezels. Das Licht, das auf die Versammlung fällt, ist ein doppeltes, benannt im Motto des Stückes und wiederholt in den letzten Worten des Dichters: »Wez ist Feuer, El ist Licht« – natürliches Sonnenlicht und künstliche Illumination, ein Zwielicht also. Wie Schleef den Dichter Wezel als Treffpunkt seiner aufgeklärten Zeitgenossen auf die Bühne stellt, so lassen sich seine Werke als Texte lesen, die mit den kollektiven Produktionen kultureller Praktiken kommunizieren, die unter dem Namen Aufklärung versammelt sind, Texte, die sich vielleicht in besonders hemmungsloser Weise den aufklärerischen Energien der Zeit bis in ihre Ambivalenzen hinein geöffnet und den Code ihres zeittypischen kulturellen Materials mitreflektiert haben.5 Unter vier Aspekten einer solchen Figuration sollen Werke Wezels im Folgenden behandelt werden: dem der Konfrontation von Vernunft und Wahnsinn, der Erziehung des Blöden, der Weltverbesserung und Gesellschaftsentwicklung, schließlich unter dem Aspekt von Tugend und Laster. Die untersuchten Quellen datieren überwiegend aus der Schreibzeit Wezels, aber eine sklavische Koinzidenz von Daten wird nicht angestrebt – eher eine Öffnung in diachroner Hinsicht. Das Verfahren des New Historicism, literarische Werke mit der Kultur ihrer Zeit zu vernetzen, ist hier fraglos sinnvoll und hilfreich, und sein methodischer Stil, Momentaufnahmen einer Situation, den Nukleus eines synchronen Kontextes in der inzidenten Augenblicklichkeit einer Konstellation aufscheinen zu lassen, fasziniert zweifellos ob seiner

5

Darin unterscheidet sich der hier unternommene Versuch von philosophie-, geistes- und literaturgeschichtlichen Kontextualisierungen von Wezels Werken (s. z.B. Kremer 1985) ebenso wie von einer narratologisch orientierten Vorgehensweise, die Wezels Werke für sich als Versuch interpretiert, »in den Diskurs der Aufklärung einzugreifen«. (Schulz 2000, S. 23).

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archäologischen Stringenz. Aber die Resonanzen zwischen verschiedenen Feldern kultureller Praktiken werden dadurch um ihre diachronen Dimensionen unnötig kappt. In jede situative Konstellation ist auch eine zeit-räumliche Dimension eingeschrieben, deren Spuren sowohl in voraufgegangenen Bibliotheken, Diskursen, Positionen, bereiteten Problemfeldern und kulturellen Ordnungen sichtbar wie in Wiederaufnahmen und Aktualisierungen neu formiert werden. Die Synchronie des Treffpunkts ist also nach rückwärts ebenso durchlässig wie anschlussfähig nach vorn für eine andere Gegenwart zu halten. Mit dem für den New Historicism zentralen Begriff der Resonanz ist zunächst gemeint, dass im historischen Text der Widerhall kultureller Werte, Kontexte und Praktiken mitschwingt, dass also im »Innerhalb« des Textes das »Außerhalb« kultureller Codices anwesend ist, die den Ermöglichungsraum dieses Textes in seiner Form bereiten und die als kulturelles Material von ihm aufgenommen und vielleicht transformiert werden. (s. Greenblatt 1995, S. 50 f.) Hier ist der Begriff der Resonanz ein Regulativ für den analytischen Zugang zu Epochen der Literaturgeschichte und ihren Werken. Eben dieser Resonanzbegriff des New Historicism bedarf einer Erweiterung, die mit dem Selbstverständnis des Literaturwissenschaftlers als Interpreten von Kultur kommuniziert. Der Interpret historischer Resonanzen steht ja seinerseits in einem Resonanzgeflecht jeweiliger Gegenwart, das Wahrnehmungsund Denkmuster figuriert und kulturellen Praktiken das Gesicht der Selbstverständlichkeiten verleihen kann. Für den Interpreten von Literatur ist es vor allem der Resonanzraum seiner Gegenwart und ihrer Literatur, in dem sich eine Zeitgenossenschaft kultureller Praktiken bildet. In ihrem Kontext und von ihnen aus werden die Klangräume historischer Resonanzen hörbar, die Kommunikationen von Texten lesbar – denn sie klingen ja nicht von sich aus, sondern werden von einem Interpreten dazu gebracht, in dem sich die kulturellen Selbstverständlichkeiten und Friktionen seiner Zeit reflektieren. Zugleich konturiert die Literatur der Gegenwart, deren Zeitgenosse ein jeder Interpret ist, selbst Räume des Widerhalls historischer Texte, kultureller Muster und Motive, wenn sie ihre Texte über die und den voraufgegangenen schreibt, sie variiert und sich auf sie explizit oder implizit

3. Johann Karl Wezel als Treffpunkt aufklärerischer Energien

bezieht, wie etwa im Fall von Schleefs Stück über Wezel. Resonanzen sind nicht nur Sache eines vergangenen literaturgeschichtlichen Feldes, sondern ebenso eine des literarischen Jetzt. Ohne die Kenntnis seiner Gegenwartsliteratur wird dem Literaturwissenschaftler die Beteiligung seiner Gegenwart an der Entdeckung historischer Resonanzen ebenso entgehen wie die literarische Energie, die sich als zeitgenössische auf einen historischen Korpus bezieht, um die eigene Gegenwart im Widerhall geschichtlicher Resonanzen zu konturieren. Die Werke Wezels als Treffpunkt aufklärerischer Energien zu lesen, muss zunächst und vor allem heißen, den Resonanzraum ihrer kulturellen Konstellationen und Kontexte und die literarischen Verschiebungen und Distanzierungen ihrer Selbstverständlichkeiten kenntlich zu machen, aber eben dies geschieht unter den Bedingungen einer jeweiligen Gegenwart, in der die Leistungen und Aporien einer Kultur der Aufklärung erneut reflektiert werden.

Vernunft und Wahnsinn Das 18. Jahrhundert in Deutschland hat sich mit allem Nachdruck darum bemüht, den Narr, den Hans-Wurst von der Bühne zu verbannen. (s. Promies 1966) Die Kritik an der Frivolität des Adels, der den Narren aushielt, hat ihn des Platzes ebenso verwiesen wie die Abwehr des bloß pöbelhaften Vergnügens an der Zote. Gottsched gilt der Narr als Geschöpf einer unordentlichen Einbildungskraft, und Sulzer erlaubt ihm den Auftritt nur unter beachtlichen Vorsichtsmaßnahmen: dann nämlich, wenn es dem Narren gelingt, »das Lächerliche, das in den Schein des Ernstes oder der Würde eingehüllet ist, an den Tag zu bringen; dem Schalk die Maske abzunehmen, und ihn dem Spotte preiszugeben.« (Sulzer 1771/1774, S. 512) Für die Wahrnehmung darf der Narr kein Narr mehr bleiben, seine Narretei soll er in einer Inversionsbewegung ablegen, und seine Kleider muss er, so Sulzer, auch nicht mehr tragen. Stattdessen inkorporiert der Narr nun Vernunft gegenüber dem bloßen Schein des (Spott-)Objekts. Der Narr, der gegen den Schein nun wahrsprechen soll, wird mobil gemacht für das neue Gesetz der Kunst, das

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verbietet, dass »Ergötzlichkeit« oder die »Belustigung der Sinne und Einbildungskraft« ihr Endzweck sei, und das die Frage vorschreibt, »ob die Vernunft nichts Größeres darinn entdecke«. (Sulzer 1771/1774, S. 610) Während das Theater der Vernunft den Narren aus seinem Imaginationsraum verbannt, wird er gleichzeitig dort höchst real, wo die Aufführungen tatsächlicher Narren in den Tollhäusern Besucher anziehen. Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts dienten die mehr und mehr eingerichteten und immer überfüllten Toll-, Irren- und Narrenhäuser der »allgemeinen Belustigung der Einwohner (…), die dort am Sonntage sich an den Sprüngen und dem Geheule der Tollen ergötzten«.6 Diesem auch als »Fasnachtslaufen« bekannten Volksvergnügen korrespondierten die Besuche von Ärzten, Pädagogen und Dichtern, die ausführlich über ihre Beobachtungen berichten. (s. Osinski 1983) Der Narr ist nicht mehr die Figur eines theatralischen Spiels, in dem er im Stehgreif seine Rolle spielte, um andere zu »ergötzen«, sondern er erhält nun eine lebensweltliche Dichte, die die Erzählung von ihm lohnt. Die aufklärerische Kardinalfrage »Was ist der Mensch?« muss sich nun auch an diesen wirklich gewordenen Narren, den absonderlichen Fällen des Mensch-Seins, stellen und beantworten lassen. Von dieser Kardinalfrage aus gesehen wird die Wendung der literarischen Praxis vom Theater zur Prosa, die der preußische Staatsbeamte Friedrich von Blanckenburg in der ersten romantheoretischen Abhandlung der deutschen Literaturgeschichte programmatisch formuliert, verständlich. Nicht der im theatrum mundi handelnde Bürger im Sinne der antiken Polis kommt hier in Betracht, vielmehr »scheint in dem Roman das Seyn des Menschen, sein innrer Zustand, das Hauptwerk zu seyn«. (Blanckenburg 1965, S. 18) Zur Zone der Aufmerksamkeit wird die Kenntnis des Menschen, der auch der Roman dienen soll, und damit wird eine Fülle von Abnormitäten, Verzerrungen, Idiotien, Missgestalten und Verrücktheiten ins grelle Licht des aufklärerischen Interesses rücken. Sobald aber der Narr zur prosaischen Möglichkeit und Faktizität der Welt gehört und die Grenzen des Theaters verlassen hat, kann das Thea6

Kirchhoff 1890, S. 154; s. auch ders., 1912.

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ter die Funktion seiner Heilung übernehmen. Johann Reil schlägt vor, »daß jedes Tollhaus (…) ein für diese Zwecke besonders eingerichtetes, durchaus praktikabeles Theater haben könnte, das mit allen nöthigen Apparaten, Masquen, Maschinerien und Decorationen versehen wäre. (…) Ein solches Theater könnte zu Gefängnissen und Löwengruben, zu Richtplätzen und Operationssälen formiert werden.«7 Auf die ungeordnete Einbildungskraft der Narren antwortet nun der kalkulierte Einsatz der Einbildungskraft zur Dramaturgie innerer Zustände, und die Zuschauer dieses Theaters sind – Narren, durchaus in dem Sinne, in dem Einar Schleef die Pilger nach Sondershausen zum Publikum der Aufführungen des Dichters gemacht hat. Reils Vorschlag, dass die Einbildungen der Verrückten durch Theater geheilt werden könnten, weil die Verrückten »sich selbst nicht rathen und dem Betruge Betrug entgegenstellen können« (Reil 1803, S. 11), wird am frühen Beginn des 19. Jahrhunderts formuliert. Aber schon lange vorher war fraglich geworden, ob und wie denn dem Wahnsinn auf dem Boden der Vernunft begegnet werden könnte. Wezel schließlich buchstabiert diese Frage in seinem vierbändigen Roman Lebensgeschichte Tobias Knauts, des Weisen, sonst der Stammler genannt exzessiv durch. Der Umfang des Romans hätte vier Bände problemlos überschreiten können – nicht nur, weil die digressive Struktur des Erzählens die endliche Chronologie einer »Lebensgeschichte« sprengt, sondern vor allem deshalb, weil das aufklärerische Projekt, die Verrücktheit nicht nur zu belachen, sondern in ihren Ursachenzusammenhängen, Folgeprozessen und Wirkungseffekten zu beschreiben und zu zergliedern, keine Grenze seines Vollzuges kennt, sondern prinzipiell unendlich sein muss. Diese Logik vollzieht Wezel: »Das ist der Ursprung aller seltsamen Charaktere, die wir itzt bewundern oder belachen: wer sie erklären wollte, müßte im Buche des Schicksales alle ihre kleinsten geheimsten Begebenheiten und die feinsten Wirkungen derselben aufschlagen können.« (Wezel 1971 a,

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Reil 1803, S. 209 f. Um einen genaueren Eindruck von der aufklärerischen Lust an ausführlichen Darlegungen und weitläufigen Erklärungen zu geben, wäre die Wiedergabe längerer Zitate vonnöten – was hier aus Platzgründen leider nicht möglich ist.

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Bd. 4, S. 86) Auf 27 Seiten gibt Wezel z.B. eine Darlegung der Umstände und Ursachen, die dazu führten, dass der Vater Knauts seine Frau ohrfeigte, um abschließend zu bemerken, dass er den Faden der Untersuchung nun fallen lassen müsse, ein weiterer Punkt ungeklärt bleibe und dieser als »Beispiel zu dem Kapitel von den verloren gegangenen Bewegungsgründen der menschlichen Handlungen« diene, das noch zu schreiben sei.8 Der aufgeklärte Umgang mit dem Wahnsinn folgt eben denselben Regeln, die Wezel im Roman vorführt. Der Katalog der Umstände seiner Entstehung deckt sich dabei mit dem Katalog möglicher Umstände überhaupt. Körperliche Krankheiten, Unglück, Phantasie, heftige Leidenschaft, Gemütsplagen, Wetterveränderungen, Reiz, Kränkung, zu starke Bewegung im Gehirn, zu schwache Bewegung, übermäßige Freude, zu viel Lektüre, Verwahrlosung, Armut, enttäuschte Liebe bis hin zu Wirkungen der Ernährung – alles, was im Rahmen der menschlichen Biographie anfallen kann, kann ein Fall für den Wahnsinn sein.9 Es handelt sich um ein nach den Regeln des Verstandes produziertes, unkontrolliertes Wuchern des Gefährdungspotentials.10 Eine höchst modern anmutende lebenspraktische Antwort auf die Proliferation der 8

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Wezel 1971 a, Bd. 1, S. 92-119. Es handelt sich hierbei auch um eine Anspielung auf die minutiöse Erzählweise Laurence Sternes, die die Beschreibung einer Lebensgeschichte in die Zerlegung von Situationen auflöst. Hierzu Knigge 1790, bes. S. 134 ff (dort ein Katalog all der Umstände, die für Diagnose und Therapie des Wahnsinns berücksichtigt werden müßten); Tissot 1775 (Handbuch zu allen Fällen der Gefährdung); Spieß 1966 (Geschichten über unmäßige Leidenschaften und die Zerrüttungen des Hirns). Im 4. Band des Teutschen Merkur (1773) findet sich eine »Philosophische Betrachtung über den Schauer des Körpers bey unangenehmen Dingen, besonders zukünftigen oder bloß möglichen«. Dort heißt es (S. 23): »Je näher wir der Gefahr sind, und wenn wir auch von allen Seiten gesichert wären, so schweigt hier kalte Überlegung, und die ganze Vorstellung einer solchen Gefahr tritt in ihren Platz.« Dass es bei der Katalogisierung der möglichen Gefährdungen um ein Prinzip zur Organisation von Lust geht, macht diese Abhandlung deutlich. Knauts »kaltes Blut« verhindert aber »heiße« Überlegung. Hingewiesen sei an dieser Stelle auch auf die Katalogisierung des Verlangens und die Zählmanie in de Sades Die 120 Tage von Sodom.

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Gefährdung überliefert Wezel von seinem Großvater, der »keinen Bissen (aß), ohne ihn vorher durchs Mikroskop betrachtet, und das, was seiner Meynung nach schädlich war, abgelesen zu haben« – auch wenn er erst am Abend vom Mittagstische aufstand. (Wezel 1971 a, Bd. 1, S. XIX) War die aufklärerische Praktik darauf gerichtet, den Gefährdungen der menschlichen Seele, der unordentlichen Einbildungskraft durch die Zergliederung ihrer Ursachen beizukommen und damit den Katalog ihrer Veranlassungen zu erstellen, so folgt Wezels Roman eben dieser Logik, aber er kehrt sie um. Die mikroskopische Analytik geht zwar von der Prosa der Welt aus, aber sie transformiert sich in Theater, wenn es um das Wissen davon geht, »was für ein geheimes Uhrwerk diese Aufführung bewirkte«. (Wezel 1971 a, Bd. 2, S. 104) Zum einen ist »das menschliche Leben Eine, ist dieselbe Komödie« (Bd. 1, S. 90), sichtbar gemacht durch die Rationalität einer Zergliederung, die die »liebe Vernunft (…) mit einem Haufen Ursachen auf das Gefälligste (versorgt)« Bd. 2, S. 193); zum anderen aber wird auch diese Analytik selbst unter das Mikroskop gelegt, und hier rückt sie in eine Perspektive, die sie ihrerseits als ein »anatomisches Theater für die Seele« erscheinen lässt (Bd. 1, S. 24). Damit wird das Verfahren, mit dem Verrücktheiten nach den Regeln der Vernunft erklärt werden sollen, als eine kulturelle Praxis gedeutet, in der die Aufklärung sich ihr eigenes Theater vorspielt. Knaut, dem Helden des Romans, kommt in diesem doppelten Theater eine zweideutige Rolle zu: Narr, Idiot oder Weiser? Der Autor scheut sich nicht, ihm wiederholt Monstrosität zu attestieren, und die physiognomische Beschreibung seines Helden lässt eher an einen Affen denken (Bd. 3, S. 243 ff.) als an einen Menschen, der fähig ist, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, da er allein vom natürlichen Räderwerk der menschlichen Maschine bestimmt und so passiv ist wie das Papier, auf dem sein Erzähler schreibt (Bd. 1, S. 87). Zweifellos ist Knaut, der Stammler, blöde, gemessen an der Räsonnier- und Disputationslust eines Jahrhunderts, von dem der Mediziner Tissot sagen konnte, dass es leichter sei, »einen Akademiker als einen Menschen zu finden«. (Tissot 1775, S. 144) Aber im strengen Vollzug der Regeln aufklärerischen Denkens wird er zum Weisen, der noch seinen Lehrer übertrifft. Dieser war »so äußerst furchtsam, daß die geringste anscheinende Gefahr sei-

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ne Aufmerksamkeit und Empfindung ganz auf sich zog.« (Wezel 1971 a, Bd. 3, S. 13) Die Proliferation der Gefährdung vollzieht sich an ihm, und sei es auch nur in der Einbildungskraft. Knaut hingegen folgt einem vernünftigen Verfahren. Wenn alles in der Welt Gefährdung bis zum Fall für den Wahnsinn sein kann, und wenn angesichts dieses Potentials der Verstand gewahrt bleiben soll, dann kann eine lebenspraktische Antwort, die nicht irrational ist, nur darin bestehen, die Unempfindlichkeit als Programm gegen das analytische Theater zu stellen. Ich muss, so sagt sich Knaut »bey einer dritten Revision seiner Gedanken«, »meine Augen und alle Sinne verschließen, daß sie mir nicht die Wirkung aufdringen, wodurch sie andere Menschen verführen. Ich muß gegen alles unempfindlich seyn: dadurch bringe ichs dahin, daß ich nie etwas entbehre, und folglich beständig glücklich bin.« (Bd. 4, S. 11) Freilich – das alles ist Einbildung, eine ungeordnete Einbildung, wie sie laut Tissot aus allzu starken Bewegungen im Gehirn vor allem bei Gelehrten zu erklären ist und zu Gedanken führt, »welche man einen wahren Wahnwitz nennen kann, weil sie nicht mehr mit den äußern Eindrücken der Gegenstände, sondern mit der innern Beschaffenheit des Gehirns überein kommen, wovon ein Theil unfähig wird, die neuen Bewegungen anzunehmen, welche ihm die Sinne geben.« (Tissot 1775, S. 30) Steht dann am Ende der Weise Knaut, das Paradebeispiel einer an sich selbst vollzogenen aufklärerischen Vernunft gegen Narretei und Aberwitz, als Blöder da? Wezel gibt hierauf keine Antwort – und sie lässt sich wohl auch nicht geben. Was aber in diesem Roman vorgeführt wird, das ist die Energie eines Denkens, das die Macht der Vernunft in Endlosschleifen zirkulieren lässt.

Die Erziehung des Blöden Wezel lässt seinen Helden im ganzen vierbändigen Roman nicht in wörtlicher Rede auftreten. Knauts »Sprachwerkzeuge (sind) so ungelenk und unbiegsam«, dass er erst im Alter von fünf Jahren seinen Vater mit einem »unvernehmlichen Lallen rufen konnte«. (Wezel 1971 a, Bd. 1, S. 16) Als er später in der Schulstube auf den Rednerstuhl des Vaters steigt, um in

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erhabener Art zu predigen und Leidenschaften zu erregen, gelingt ihm dies nur, solange er allein ist und kein Ton einer anderen Stimme störend interveniert. (Bd. 1, S. 74-85) Knaut ist vor allem sprachlos, kann Fragen nicht verständlich oder nur dumm beantworten. (Bd. 2, S. 110 f. u. Bd. 4, S. 203) Er trifft auf eine feine Gesellschaft »voller Komplimente, voller Lachen und Munterkeit« – und er »sahe alles dieses wie im Traume und konnte nichts mitmachen. In seinem Taumel bemerkte er gar nicht, daß er sehr oft die bewegende Ursache war, wenn man lachte«. (Bd. 4, S. 54) Der Stammler hat ein Kommunikationsproblem, vor allem dort, wo er den engen Gesichtskreis seiner Standesgrenzen überschreitet. Von diesem an Stummheit grenzenden Stammeln schreibt Rousseau in den Bekenntnissen: man könne sich von ihm, der »so wenig Herr (s)eines Geistes« sei, »vorstellen, wie ich in der Unterhaltung sein muß, wo man, um schlagfertig zu sprechen, zugleich und augenblicklich tausend Dinge bedenken muß. Schon die Vorstellung so vieler Rücksichten, von denen ich bestimmt mindestens eine außer acht lasse, genügt, mich einzuschüchtern. Ich begreife nicht einmal, wie man in einem Kreise zu sprechen wagen kann (…) Am verhängnisvollsten aber ist es für mich, wenn ich, statt schweigen zu können, wo ich nichts zu sagen habe, voller Wut zu reden beginne (…) Ich bringe hastig und stotternd gedankenlos Worte hervor, die im glücklichsten Fall keinen Sinn haben.« (Rousseau 1961, S. 96 f.) Es handelt sich hier um Blödigkeit, eine soziale Erfahrung, die das 18. Jahrhundert in ausnehmendem Maße gemacht hat.11 Blödigkeit entsteht an der Stelle, wo die Enge der ständischen Homogenität verlassen und die Differenz der Stände körperlich erfahrbar wird – etwa in der Unfähigkeit, einen Handkuss entgegenzunehmen (Stanitzek 1989, S. 208) oder auf ungewohnte Höflichkeit zu reagieren (Wezel 1917 a, Bd. 2, S. 110). Der Adel gilt als Welt und Gesellschaft, der Bürger aber muß beides durch Reisen und geselligen Verkehr erst gewinnen. Doch eben hier gerät er »in eine Gesellschaft (…), deren Ton uns gänzlich fremd ist; wo (…) alle Gebräuche und äußeren Manieren der Anwesenden weit außer unserem Systeme liegen, (…) wo Zwang und Verwünschung un-

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Vgl. die ausführlichen Analysen von Stanitzek 1989.

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serer peinlichen Lage auf unserer Stirn gemahlt stehen.« (Knigge 1790, S. 15) Wo der Verkehr unter Gleichen mit der Empfindsamkeit gleicher Gemütsstimmungen welcher Art auch immer zu einem umfassenderen Verkehr erweitert werden soll, da muss das Kommunikationsproblem der Blödigkeit im Interesse bürgerlicher Beweglichkeit gelöst werden. Mit allem Nachdruck richtet sich deshalb die Energie dieses Jahrhunderts auf Erziehung. Die Adresse, an die die pädagogischen Direktiven gerichtet werden, ist – auch wenn sie aus der bürgerlichen Not der Blödigkeit geboren wurden – nicht spezifisch, sondern allgemein: der Mensch. Formuliert werden sie vor dem Hintergrund der neuen Wissenschaft Anthropologie, die Anatomie, Physiologie, Psychologie, Ästhetik und Moralphilosophie in der Untersuchung der Verhältnisse von Körper und Seele zusammenbringen soll.12 Auch Wezel schreibt eine Anthropologie Über die Kenntnis des Menschen; er steht in Verbindung mit dem Dessauischen »Philanthropin«, an dem u.a. Basedow und Campe unterrichteten, und er fordert zu einer Imagination auf, bei der wir »von der äußersten Zehe bis zu dem Punkt im Gehirn, wo die Nerven dem Auge unsichtbar werden, von dem Magen, der unsre Nahrungstheile zubereitet, bis zu dem Punkte, wo Gedanken und Empfindungen zu Entschlüssen und Handlungen werden, (…) eine Maschine seyn (wollen), worin wir Wirkungen wahrnehmen, die wechselsweise einander veranlassen.«13 Die anthropologischen Referenzen »Körper« und »Seele« sind eben die Zonen, in denen aufklärerische Energie ihre pädagogischen Reglements der Lebensführung entfaltet. Im ersten Band des Teutschen Merkur 12

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Programmatisch hierfür ist die 1790 erschienene Neue Anthropologie für Ärzte und Weltweise von Ernst Platner, eine Weiterführung von dessen 1772 erstmals vorgelegter Anthropologie. Wezel 1971 b, Bd. 1, S. 68. Deutlich formuliert wird wiederholt eine Abgrenzung gegenüber dem Materialismus LaMettries, der die Differenz von Körper und Empfindungen in der physiologischen Einheit der menschlichen Maschine aufgehen lasse – eine Kritik, die Platner geteilt hatte. Eine Untersuchung der »literarischen Reflexion pädagogischer Konzepte« im Prosawerk Wezels findet sich bei Bizard 2007.

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wird 1773 der Vorschlag unterbreitet, »fehlerhafte Temperamente« zu bessern, indem man »solche Nahrungsmittel für sie (aussucht), die ihre Fehler durch entgegen gesetzte Fehler zu vernichten strebten.«14 Die interne Logik dieses Vorschlags mag auf die schon bekannte Weise befremdlich anmuten, sofern sie die Ökonomie des Fehlerhaften ohne die Chance auf einen Ausgleich fortschreibt, aber das Wichtigere ist, dass hier eine Diätetik formuliert wird, die personale Beschaffenheiten mit Fragen der Ernährung verknotet. Es geht um mehr noch als bloße Gesundheit oder die Heilung von Krankheiten. Zwar wird in den »Betrachtungen über die Wahl der Nahrungsmittel« ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Armen unter schlechter Nahrung besonders zu leiden haben, wenn sie verdorbene Lebensmittel oder das Fleisch kranker Tiere verzehren müssen, aber darüber hinaus geht es um eine allgemeine Praktik, die ein genaues Ziel hat: nämlich in die Verbindung dieses »Etwas im Kopfe, das wir zum Denken brauchen, mit der Vegetation und den Nerven« regulativ einzugreifen. (Wezel 1971 b, Bd. 1, S. 171) Bei dem Gedanken, in diese Zusammenhänge mehr Licht zu bringen, ruft Wezel emphatisch aus: »wie viel leichter wär es dann, zu erziehen und zu heilen!« (S. 199) Es geht darum, eine ausgewogene Zusammensetzung der Körpersäfte zu erzielen, weder zu feuchte noch zu trockene, weder zu nahrhafte noch zu magere Nahrung, weder zu schwache noch zu starke Getränke zu sich zu nehmen bzw. einen extremen Zustand der Säfte durch konträr wirkende Mittel auszugleichen.15 Die diätetischen Regulative zielen genau auf jenes »Etwas im Kopf, das wir zum Denken brauchen«. Denn mit der Nahrung, so erklärt Platner in der Neuen Anthropologie für Ärzte und Weltweise, nehmen wir den »Nervengeist« auf, der in ihnen enthalten ist und seinen Weg auch zum Gehirn nimmt. Wenn dieser Nervengeist vom Gehirn dann abgesondert wird und »durch die Oberfläche des Körpers aus(dünstet)« (Platner 1790, S. 43 ff, 51), dann sind die Effekte der Ernährung mit geistigen, kulturellen

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o. V. »Über die Widersprüche in der menschlichen Natur«, in: Der Deutsche Merkur 1. Bd. 1773, S. 162. S. z.B. Betrachtungen über die Wahl der Nahrungsmittel. In Der Teutsche Merkur 4/1773, passim; Tissot 1775 passim; Wezel 1971 b, Bd. 1, S. 222-227.

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und sozialen Tatbeständen kurzgeschlossen. Knauts Erzieher Selmann erläutert in einer Disputation mit einem unaufgeklärten Zeitgenossen diesen Zusammenhang: »Wenn ich rohen Schinken und Erbsen in einer gewissen Quantität gegessen habe, so ist meine Seele nicht unsterblich, und wenn ich alle Schriften, von Platos Phädon bis zu meines Pfarrs Predigten, darüber nachläse; umsonst! Nach einer nüchternen Mahlzeit von sanften mildernden Speisen halte ich sie für unsterblich auch ohne Beweis, und fühle unwiderstehlich, daß sie es seyn muß.« (Wezel 1971 a, Bd. 2, S. 165) Über den Begriff des Geschmacks wird die Diätetik vollends zur Pädagogik. »Durch den Geschmack«, so Johann August Unzer, »gewöhnen wir uns die gute und böse Seite der Dinge sinnlich, lebhaft, stark und lebendig zu erkennen«. (Unzer 1770, S. 78) Nicht allein Gesundheit, sondern die Konditionierung der Sinnlichkeit unter Aspekten der Moralität, also die Bildung von Geschmack ist einer Diätetik eingeschrieben, die »fehlerhafte Temperamente« regulieren will. »Geschmack« ist das, was im Verbund mit Sinnlichkeit das Spektrum der Extreme zu moderieren erlaubt und einen moralischen Umgang mit ihnen ermöglicht. Wie die Diätetik zwischen Schinken mit Erbsen und einer milderen Nahrung den Geschmack formiert, so die Pädagogik zwischen den Ansichten einer guten und einer bösen Seite der Welt. Dieser Geschmack bildet sich auf der Basis einer Allseitigkeit, die Extreme scheut16 , denn: jede Einseitigkeit bereitet »die Jugend zu einem blöden, furchtsamen und menschenscheuen Charakter vor, der ihr zur Last, und ihrer Gesundheit eben so nachtheilig wird, als er dem geselligen Menschenfreunde verhaßt und unerträglich ist.« (Unzer 1770, S. 88) Wie es im Bereich des Körpers um eine moderierende Praktik der Regulation geht, so auch im Bereich der Affektationen der Seele durch Reize und Triebe. Vor allem ist es hier die Sexualität, die die Einbildungskraft »erhitzt« und zu »rasendster Ausschweifung« führt. Salzmann, Pädagoge am berühmten Schnepfenthaler Philantropin, legt einen mit fingierten Briefen versehenen Bericht über die Folgen 16

Im Rückblick auf das vergangene pädagogische Jahrhundert bemerkt Niemeyer 1801, S. 68, eines seiner Charakteristika sei die Polymathie gewesen.

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der Onanie vor, in dem er zugleich die Praktiken der Triebkontrolle empfiehlt, die zu einer ruhig-harmonischen Mittellage des affektiven Lebens führen. Er bekennt: »Es kostet mich wirklich viel Überwindung, Schilderungen dieser Art abdrucken zu lassen, und meinen Lesern zuzumuthen, sie zu betrachten. Ich kann aber nicht anders.«17 Aufklärung ist hier in ihrem strikten Sinne Sexualaufklärung. Salzmann wendet sich gegen jede »Verheimlichung« (Salzmann 1787, S. 92), plädiert für den pädagogisch geregelten Diskurs über Sexualität und eine Organpraktik, die auf Gesundheit im Bewusstsein ihrer Gefährdungen durch Überreizungen zielt. Das Modell dieser Pädagogik ist die interne, selbstgesteuerte Regulation extremer oder abweichender körperlicher und seelischer Zustände, ihr Ideal die Kultur des Ausgleichs in einer moderaten Mittellage. In Wezels Roman erhält dies aufklärerische Ideal des policierten Menschen eine Wendung, die ihm eine andere, eine zweite Interpretation beilegt. Wenn Knaut sich nicht recht verführen lässt, wiewohl ihm der Autor des häufigeren Gelegenheit dazu gibt; wenn er in ruhiger Gelassenheit immer wieder seine Eicheln isst, um zu beweisen, dass er mit jeder Nahrung glücklich sein kann (Wezel 1971 a, Bd. 4, S. 84 f.), dann handelt es sich bei dieser Politik sich selbst gegenüber, mit der auf die Turbulenzen der Körpersäfte und Affekte geantwortet werden soll, zugleich um die Geburt des Phlegma. In der Figur Knauts markiert Wezel die Grenzen einer Pädagogik, die das Kommunikationsproblem des Bürgers im anthropologischen Modell ausgeglichener Zirkulationen lösen soll, die aber mit der eigensinnigen Affektbeherrschung Knauts ihren Spiegel vorgehalten bekommt. Die einzige Entwicklung oder Bildung, die Wezel seinem Knaut zubilligt, ist die zum »Sonderling«. (Wezel 1971 a, Bd. 4, S. 242) »Stammler« bleibt er bis zum Schluss, wenn er nach langem Schweigen »trocken« einen dreiwortigen Heiratsantrag ausspricht. (Wezel 1971 a, Bd. 4, S. 270) Der Sprechende dieses Romans ist sein Autor, der in unzähligen Anreden an den Leser Konversation mit ihm betreibt. Dichterische Praxis ist der 17

Salzmann 1787, S. 161. Ein anderer Text Salzmanns (1788) befaßt sich ausführlich mit dem Problem der weiblichen Schnürbrüste.

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Ort, an dem sich das Kommunikationsproblem löst, Unterredung geübt, belehrend geraten wird, die pädagogische Bildung des Geschmacks stattfindet und die richtige Erkenntnis der Welt erworben wird. Wezel macht die Figur des Dichters zum Modell der Policierung der Gesellschaft und gibt ihm in der Kontraposition zu seinem Helden eine überragende Stellung. 1804 erscheint schließlich in Erfurt Gott Wezels Zuchtruthe des Menschengeschlechts, mit dem Untertitel: Werke des Wahnsinns von Wezel, dem Gott-Menschen. Die Autorschaft ist noch immer ungeklärt, Wezel als Verfasser aber höchst zweifelhaft. Dennoch steigert dieses Werk die sozialen Energien, die jene regierende Macht des Autors, wie sie als Pendant seines Helden entfaltet ist, in Szene setzt.18

Weltverbesserung und Gesellschaftsentwicklung Um seine Erziehungsmaßregeln zu veranschaulichen, lässt Johann Heinrich Campe einen Vater zum Scheine mit der folgenden GuteNacht-Geschichte anheben: »Es war Nacht, und Robinson lag ruhig auf seinem Lager; die treuen Lama’s zu seinen Füssen. Der Mond stand in seiner ganzen Herlichkeit am Himmel, die Luft war rein und stil, und ein tiefes Schweigen herschte durch die ganze Natur. Robinson, von der Arbeit des Tages ermüdet, lag schon im süssen Schlummer und träumte, wie er oft zu thun pflegte, von seinen lieben Eltern, als plötzlich – «. Hier bricht der Vater die Erzählung unvermutet ab. Er malt stattdessen die schädlichen Folgen aus, die mit der Fortsetzung der Erzählung zu eben diesem Zeitpunkt vor dem Einschlafen eintreten könnten: »aber nein, mit einer so schreklichen Begebenheit wollen wir diesen Abend nicht beschliessen! Es könnte uns die Nacht davon träumen, und dan würden wir einen unruhigen Schlaf haben.« (Campe 1779, S. 210 f.) Hier ist Willkür direkt in den Prozess der Erziehung inseriert. Die Wezel zugeschriebene »Zuchtruthe« wird hier ganz säkular, in pädagogischer 18

Hinweise zu diesem Werk bei Adel 1968. Bärnighausen, 1997, stellt fest, der Verfasser sei »bis heute noch nicht sicher identifiziert. Man denkt an Georg Gustav Teubner.« (S. 122) So auch Neubert 2008, S. 169, Anm. 79.

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Praxis vertritt die des weltlichen Vaters die des himmlischen. Legitimiert wird eine solche Praxis von dem intensiven aufklärerischen Streben nach der Glückseligkeit des Staates, nach einem öffentlichen Wohl, das durch Erziehung verwirklicht werden soll19 , aber auch, wie wir gezeigt haben, Gegenstand von Staatsromanen geworden ist. Campes Beispiel zur Illustration pädagogischer Machtausübung ist wohl gewählt. Es bezieht sich seinerseits gerade auf jenen Text, der schon selbst als Instrumentarium des Verbesserns in der aufklärerischen Welt reüssiert hatte: den Robinson Crusoe Daniel Defoes von 1719. Jean-Jacques Rousseau deklarierte ihn im Émile zur einzigen Pflichtlektüre seines Zöglings. Entwürfe einer besseren Welt haben im aufgeklärten Zeitalter Konjunktur: sei es, dass sie eine historische Stufenleiter des Fortschritts der menschlichen Gesellschaft auf der Ebene der Zeit projektieren, sei es, dass sie eine optimale Organisation gesellschaftlichen Zusammenhanges als rationale Raumordnung in einem gegebenen Gebiet entwerfen. Im Feld des Literarischen treffen beide Aspekte häufig im Modell der Reise zusammen: einer Reise durch die zeitliche Gestuftheit gesellschaftlicher Entwicklungen, und einer Reise durch die heterologe Gleichzeitigkeit gegenwärtiger Gesellschaften auf dem Globus. Zwei Romane Wezels, Robinson Crusoe und Belphegor kommunizieren mit jenen Energien, die die Aufklärung entwickelte, um ihre Entwürfe gelingender Gesellschaftlichkeit zu konzeptualisieren. Im gleichen Jahr, 1779, in dem Campes Robinson-Bearbeitung für Kinder erschien, veröffentlichte Wezel seine Nach- und Umdichtung von Defoes Roman aus dem Jahre 1719.20 Wezel zeigt in den beiden Vorreden seines zweibändigen Romans eine ironische Distanziertheit gegenüber jenem Stoff, der von seinen Zeitgenossen in den Rang eines »schriftstellerischen Arkanums« gehoben worden sei (Wezel 1990, S. 5) und nun so viele »Autorfedern, Druckerpressen, Verleger« usw. zu geschäftigen

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S. z.B. das nachdrückliche Plädoyer Basedows für die Glückseligkeit der Staaten als Funktion der Erziehung in seinem Methodenbuch für Väter und Mütter der Familien und Völker (Basedow 1880). Im Standardwerk Stoffe der Weltliteratur von Elisabeth Frenzel wird Wezels Roman unter dem Stichwort »Robinsonaden« erstaunlicherweise nicht genannt.

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Aktivitäten veranlaßt habe, dass Rousseau, wäre er »ein schadenfroher Mann gewesen«, mit »köstlichem Vergnügen« von »seinem Fixsterne« herabblicken würde21 . Wezel ist sich der Konjunktur von Themen und Mustern des zeitgenössischen Denkens wohl bewusst. In Wezels Bearbeitung des Stoffes schreibt sich nun nicht nur eine neue Robinsonade über einer alten fort, vielmehr werden auch die mit dem RobinsonStoff mobilisierten aufklärerischen Optionen für eine Glückseligkeit in Gesellschaft zum impliziten Objekt des Romans und rücken in kritische Distanz. Gegen Ende des ersten Bandes »war Robinson alle Stände der Menschheit nunmehr durchwandert: er war Jäger, Fischer, Ackersmann, Hirte gewesen; er hatte Handwerke, Künste und Schiffahrt erfunden«. (Wezel 1990, S. 85) Noch diesseits jeder Gesellschaftlichkeit entfalten sich, der Defoeschen Vorlage vergleichsweise stark verpflichtet, Robinsons Fähigkeiten im Vollzug seiner Arbeiten mit natürlichen und künstlichen Materialien; er produziert Komfort und Sicherheit, und er kann es allein. All die Entdeckungen, die im Zustande der Isolation gemacht werden und die die Lebensbedingungen des Individuums verändern, sind gleichwohl paradigmatisch, verknüpfen sie sich doch mit Fortschrittsideen von der Entwicklung der Menschheit insgesamt. Aber den pädagogischen Optimismus, wonach die gesellschaftlichen Kräfte der Menschheit schon in denen des isolierten Einzelnen natürlich verkapselt liegen, vollzieht Wezel nicht mit. Der zweite Band überschreitet die Grenzen einer Orientierung am individuellen Nukleus. Er berichtet »von den Veränderungen in dem Zustande der Gesellschaft und von den Erfindungen, die aus der gesellschaftlichen Vereinigung herfließen«. (Wezel 1990, S. 134) Wezel partizipiert hier an dem energischen Interesse des 18. Jahrhunderts an Fragen des gesellschaftlichen Zusammenhanges, wie es staats- und wirtschaftstheoretische, aber auch jene literarischen Texte durchzieht, die häufig entfernte Orte oder die exklusive Lage der Insel aufsuchen, 21

Wezel 1990, S. 131. Auch dieser Roman war freilich situiert im pädagogischen Kontext: ein Teildruck erschien in den vom Dessauischen Erziehungsinstitut herausgegebenen Pädagogischen Unterhandlungen 1778/79.

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um dort die Möglichkeiten sozialer Ordnungen durchzubuchstabieren.22 Aber im Unterschied zu jenen Texten utopischen Charakters, die einen Gesellschaftstypus konzeptualisieren, vollzieht sich auf Wezels Insel eine Dynamik, die gesellschaftliche Transformationsprozesse, d.h. eine Gesellschaftsgeschichte sichtbar macht. Im Zeitraffer wird von der Urgesellschaft, der Sklaverei, der Entstehung der Arbeitsteilung, der Einführung und Ausbreitung des Handels, der Konstitution von Zentralgewalten, der Einführung von Geld und Zins, ständischer Differenzierung, Monarchie, Städtebildung, der Entstehung von Rechtsprechung und Religion, der Bildung von kleinen Republiken mit Verfassungen und dem Kampf gegen Aberglauben bis hin zum Aufruhr gegen die Despotie erzählt.23 Diese Linie von Gesellschaftsentwicklungen, über deren Verhältnis zum Konzept des Fortschritts noch zu sprechen sein wird, gewinnt zugleich eine räumliche Extension auf Robinsons Insel. Dort existieren voneinander sehr verschiedene Gesellschaften gleichzeitig nebeneinander, sodass sich das, was als historischer Entwicklungsunterschied von Gesellschaften erscheint, auch topographisch verzeichnen lässt. Auf der Insel finden sich, jeweils im Kleinformat: eine Gesellschaft im Naturzustand, bei der es sich um Engländer handelt (Wezel 1990, S. 188, 202), eine Despotie (S. 189, 201), eine handelnde Republik (S. 188, 201), beide ebenfalls von Engländern gebildet, eine Monarchie, deren Oberhaupt und Untertanen Wilde sind (S. 189, 206), sowie eine Aristokratie der Spanier (S. 187), denen Crusoe nach seiner Rückkehr auf die Insel besonders nahesteht. All diese Gesellschaften stellen keine Alternativen dar, von denen eine gegenüber einer anderen zu privilegieren oder als utopisches

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Hingewiesen sei etwa auf Johann Gottfried Schnabels Insel Felsenburg (1731-1743), auf Friedrich Leopold Graf zu Stolbergs Die Insel (1788) oder Wilhelm Friedrich von Meyerns Dya-Na-Sore (1787-1791). Wezel hat mit hoher Wahrscheinlichkeit Adam Fergusons Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft (engl. 1767, dt. 1768, Neuausg. Frankfurt 1986) gelesen, deren Darstellungen er in weiten Zügen folgt.

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Konzept einer besseren Welt auszuzeichnen wäre. Die insuläre Topographie der Gleichzeitigkeiten rückt stattdessen in eine globalisierende Perspektive, unter der der kleine Raum zum Abbild des Globus mit seinen verschiedenen Gesellschafts-, Regierungs- und Wirtschaftsformen wird. Avant la lettre erscheint die konfliktuöse Dynamik eines Globalisierungsprozesses, in den die kleinteiligen gesellschaftlichen Formationen hineingezogen werden, um von Wezel schließlich allgemein als »Robinsonianer« bezeichnet zu werden – wenngleich auch das Projekt »einer einzigen großen« Gesellschaft nicht ausgeführt wird (S. 217). Den Lesern aber, so vermutet der Autor, werde es »nicht unangenehm sein, das Wachstum einer Gesellschaft bis zu dem Zeitpunkte zu verfolgen, wo sie zu einem großen eingerichteten festen Staate wurde«.24 Die Anspielung auf die zeitgenössische Leser-Erwartung einer Schilderung glücklicher Geselligkeit in einer besseren Welt, getragen von einer Empfindsamkeit, gegen die Wezel heftig polemisiert (Wezel 1990, S. 6 ff.), ist deutlich. Schon im Vorwort zu dem Roman Belphegor bezieht sich Wezel auf jene Erwartung – um ihre Erfüllung zu verweigern: wer »lieber ideale Schilderungen von ganz guten Menschen und ganz glücklichen Welten lesen« wolle, dem könne »dieses Büchelchen keine taugliche Speise scheinen«. (Wezel 1965, S. 10) Wezels Robinson Crusoe enttäuscht sie – durch eine Konzeption des Romans, die in die Raumordnung der Insel die der Zeit einschreibt. Die topographischen Linien des globalisierten Raumes werden von der Zeitschiene historischer Veränderungen gekreuzt. Pferde und Ochsen machen die Abschaffung der Sklaverei möglich, vielerlei Erfindungen erleichtern die Arbeit und bringen Luxus, der Handel befördert die Entfaltung der Geisteskräfte. (Wezel 1990, S. 226) Aber was als Fortschrittsgeschichte lesbar sein könnte, wird in Wezels Robinson Crusoe ein ruinöser Prozess, in dem sich die Schritte des Fortschritts als Geschichte des Untergangs erweisen. Genau genommen ist diese Insel – der Ort, mit dem sich einmal utopische Hoffnungen verbanden – schon 24

Wezel 1990, S. 222. Wezel ist die terminologische Differenzierung von »Gesellschaft« und »Staat« erstaunlich geläufig – setzt sie sich doch in Deutschland erst langsam im Denken nach der Aufklärung durch.

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untergegangen. Die Reste, die auf ihr hinterlassen wurden, werden, so heißt es am Ende des Romans, das Objekt von Archäologen, Altertumsforschern, Spurensuchern werden. Nach einem großen Aufstand der Robinsonianer gegen die Despotie und nach einer allgemeinen Anarchie war die Insel »eine menschenleere Wüste, wie ein tragisches Theater, auf welchem ein barbarischer Dichter gewürgt hat. Nichts blieb übrig als Spuren der Bevölkerung, Steine mit Aufschriften, verschüttete Pantoffeln, Trinkgefäße und Nachttöpfe, vermoderte Strümpfe, verstreutes Geld, zerbrochene Waffen, umgestürzte Heiligenbilder, damit dereinst ein amerikanischer Antiquar alle diese Altertümer ausgraben und der Akademie der Wissenschaften in Kanada oder der Sozietät der Altertümer unweit Hudsons Bai mit vielen Zitaten aus den alten teutschen, französischen und englischen Schriftstellern beweisen kann, daß hier einmal Europäer wohnten.« (Wezel 1990, S. 263) In den Untergang von Robinsonia ist der Untergang der alten Welt Europas eingeschrieben, zehn Jahre vor der Französischen Revolution. Die Spurensucher, die die Hinterlassenschaften jener europäischen Welt entziffern und katalogisieren, werden sich in der neuen Welt finden: in Nordamerika. Von hier aus fällt der Blick auf Ruinen. Was später in der Romantik zum befriedeten Romantizismus der Ruine wird, hat im Kontext des aufklärerischen Strebens nach besseren Welten die Schärfe einer Zeitdiagnostik gegen den Strich der optimistischen Erwartungen. In deren Untergrund murmeln die Imaginationen eines Unterganges, der zwar noch woanders stattfindet, aber doch schon näher rückt. Im Jahre 1784 reist Constantin François de Volney nach Ägypten und Syrien, um die Ruinen beider Länder aufzusuchen. Ergriffen vom »Genius der Gräber und Ruinen« erinnert der Reisende die untergegangene Welt: »Hier, sagte ich zu mir selbst, hier blühte ehemals eine begüterte Stadt; hier war der Sitz eines mächtigen Reichs. Eine lebendige Menge beseelte vormals diese jetzt so verödeten Plätze und belebte ihren Umkreis. In diesen Mauern, wo jetzt totes Schweigen herrscht, ertönte unaufhörlich das Geräusch der Künste,

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das Geschrei der Festlichkeit und Freude.«25 In den zerbrochenen Monumenten vergangener Reiche trifft der Blick auf die Verbürgtheit eines Zusammenhanges von Geschichte und Untergang, der erst später geschichtsphilosophisch beruhigt werden wird, hier aber seine Tragik noch bewahrt hat, ist der Zusammenbruch der alten Welt doch so irreversibel und endgültig, wie ihn die Französische Revolution später machen wollte. Schließlich ist bemerkenswert, dass Wezel in die Dynamik des Untergangs auch jenes Werk miteinbezieht, das als »schriftstellerisches Arkanum« der Aufklärung reüssiert hatte: den Robinson Crusoe. Am Rande und außerhalb der alten Welt Europas werden die Textreste der »Robinsonianer« von Eskimos, Isländern, Kamtschatkanen, Samojeden, Tschuwaschen und Buraten gesammelt, übersetzt, verfälscht, bebildert, als Elementarwerk für Kinder aufbereitet, zu Waffen umfunktioniert, als Makulatur für den Druck anderer Schriften verarbeitet. Die letzten Reste des Werkes werden, so die Phantasie am Ende von Wezels Roman, »in Küchen, Kellern, Kramläden und an anderen Orten zu beliebiger Konsumtion verbraucht, und endlich ist der Name Robinsonia aus allen menschlichen Köpfen und Büchern so gänzlich vertilgt, daß man so wenig von der Insel weiß als wie vom Südpole.« (Wezel 1990, S. 264) Der imaginäre ferne Ort, an dem sich das Projekt gesellschaftlicher Glückseligkeit und das Modell der Erziehung im Geiste der Aufklärung lokalisieren lassen sollte, ist selbst untergegangen. Das utopische Konzept ist entmachtet, topographisch und geschichtlich, der Text Robinson Crusoe aufklärerisch dekonstruiert.

Tugend und Laster auf Reisen Aufklärerische Rationalität hat zum einen den Komplex der Erziehung als Funktion gesellschaftlicher Glückseligkeit forciert und im utopischen Denken kulminieren lassen. Zum anderen hat diese Rationalität 25

Volney 1977, S. 35 und 24 f. Das Buch wurde schon vor der Großen Revolution entworfen.

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die Form einer Planungswissenschaft angenommen, die die gesellschaftlichen Zusammenhänge der Individuen in optimaler Weise regeln soll und die eine Mechanik projektiert, in der die Kräfte, Interessen und Bedürfnisse der Menschen zum Nutzen eines wohlgeordneten Ganzen miteinander verbunden werden. Leidenschaftlich hat sich das 18. Jahrhundert mit Fragen der Gesellschaftlichkeit, des Verkehrs in Gesellschaft, mit dem Projekt vollendeter Verbindungen befasst. Johann Heinrich Gottlob von Justi, renommierter Policey-Wissenschaftler seiner Zeit, projektiert in seiner Grundfeste zu der Macht und Glückseeligkeit der Staaten das aufgeklärte »Post- und Fuhrwesen«. »Um die Geschwindigkeit und den richtigen Lauf der Posten zu befördern, so wird der allergenaueste und bestmögliche Zusammenhang derselben erfordert. Die Posten müssen nämlich in ihrem ganzen Lauf dergestalt mit einander übereinstimmen, daß, sowohl auf denen Hauptals Neben-Routen, nach denen angekommenen Posten so fort wieder andere auf diesen Routen weiter fortgehen, und die Briefe, Paquets und Reisenden nicht an einem Orte liegen bleiben müssen, bis etwan nach 1 und 2 Tagen wieder eine andere Post abgehet.« (von Justi 1760/61, Bd. 2, S. 392) »Übereinstimmung« und »Zusammenhang« sind im Übrigen die übergreifenden, ständig wiederkehrenden Topoi in Justis umfangreichem zweibändigen Werk. In Louis-Sebastien Merciers L’an 2440 macht der Erzähler die folgende Beobachtung im künftigen Paris: »Ich bemerkte, daß die Hingehenden auf der rechten Seite und die Hergehenden auf der linken gingen. Dieses so einfache Mittel, nicht niedergefahren zu werden, war nur erst erfunden worden; so wahr ist es, daß nur erst mit der Zeit die nützlichen Entdeckungen gemacht werden. Alle Ausgänge waren sicher und leichte, und bei öffentlichen Feierlichkeiten, wo sich ein großer Zusammenfluß vom Volke findet, genießt dieses auch eines Schauspieles, das es natürlicher Weise gerne sieht und das man ihm mit Unrecht versagen würde. (…) Die größte Menge Volks machte einen freien und leichten Umlauf, voller Ordnung.«26

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Mercier, L’an 2440 (1772, im gleichen Jahr dt.), zit.n. Swoboda 1972, S. 244.

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Während Justis Text eine mediale Organisation des Zusammenhangs entwirft – der freilich auch Menschen als Übermittler funktionsgenau einbezieht – und Mercier auf eine tumultfreie Choreographie des Volkes quer durch alle Stände zielt, so treffen sich doch beide in dem Verlangen nach einer gesellschaftlichen Glückseligkeit, in der die Bestrebungen des Herzens: das Bedürfnis nach Geselligkeit, und das Gesetz des Staates: die planmäßige Gestaltung der Gesellschaft, zusammengebracht werden. Kein Stammeln mehr, keine Blödigkeit, auch dann nicht, wenn die ständische Homogenität verlassen wird, weil beide ja in befriedigenden Vermittlungstechniken aufgehen; keine Zusammenstöße, kein Aufruhr mehr, weil sie von effektiven choreographischen Anordnungen des Volkes verhindert werden. Wezels Roman Belphegor beginnt mit einem Fußtritt. Der Held gleichen Namens wird von seiner Geliebten Akante recht nachdrücklich zur Tür hinausgeworfen. Das Ende seines Liebeslebens ist jäh: schon hier, auf der ersten Seite des Romans, wird er zum Krüppel geschlagen. Dies Ende der Übereinstimmung ist der Beginn einer Reise durch die Welt – und hier, außerhalb des engen, häuslichen Lebens- bzw. Liebeszusammenhanges könnte nichts so dienlich sein wie die Modelle der Glückseligkeit eines Justi oder Mercier, um die Attraktionen zwischen den Menschen zu systematisieren. Um solche Anziehungen und Leidenschaften kreist der Roman, dessen Held Belphegor das exakte Gegenstück zu Knaut, dem Fühllosen und Unempfindlichen ist. Mit der Figur dieses Enthusiasten, der »die Erfahrungen zu seinen Begriffen blos aus seinem guten Herzen und dem kleinen Kreis simpathisirender Freunde« hergenommen hatte (Wezel 1965, S. 7), dessen Produktionsweise von Weltanschauungen und Idealen der kulturellen Praxis der Geheimgesellschaften der Zeit gleichsam abgelauscht ist, – mit diesem begeisterten Schwärmer wird das Modell des privaten Begehrens in den öffentlichen, gesellschaftlichen Raum verlagert und transformiert. Die von Beginn an unfreiwillige Reise ist gekennzeichnet von einer Serie von Missgeschicken und Unglück: Aufstände, Diebstahl, Kriege, Mord, Totschlag, Intrige, Hunger, Verletzungen, Sklaverei, Despotie, gemeine Verführung, Vandalismus und was dergleichen mehr sein mag, verwickeln den nach Glück und Gerechtigkeit strebenden Helden und

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vervollkommnen seine körperliche Krüppelhaftigkeit ebenso wie die seiner beiden Mitreisenden Fromal und Medardus, von denen er auf seiner Reise durch vier Kontinente immer wieder getrennt wird, um sie unverhofft wieder zu treffen. Wezel inszeniert eine serielle Dramatik des Desasters, in der sich Belphegors Verbesserungs- und Gerechtigkeitseifer mit einem exzessiven Strafeifer unlöslich verbindet. In Ingomar von Kieseritzkys Roman Die ungeheuerliche Ohrfeige oder Szenen aus der Geschichte der Vernunft (1981) hat das aufklärerische Projekt, die Modalitäten des gesellschaftlichen Verkehrs nach den Maßstäben einer der Glückseligkeit der Menschen verpflichteten Vernunft zu beurteilen und zu regeln, einen ironischen Widerhall gefunden. Auch in diesem Roman ist die Reise (die hier anlässlich einer Ohrfeige beginnt) wie bei Wezel vom philosophischen Räsonnement der blessierten Protagonisten begleitet, denen der Gedanke des »Meliorisierens« am Herzen liegt. Kieseritzkys Roman kommuniziert auf eindrückliche Weise mit jenen aufklärerischen Optionen, die in der Verbindung von Glückseligkeitsstreben, rationaler Reflexion, den Entwürfen eines geregelten gesellschaftlichen Verkehrs und den Empfindungen des Herzens Gestalt annehmen und mit dem literarischen Modell der Reise und seinen Referenzen auf den Komplex universell zu realisierender Tugendhaftigkeit verbunden werden. Angesichts und trotz aller Widrigkeiten, auf die die Protagonisten außerhalb des häuslichen Kreises treffen, heißt die Devise: »Grundsätzlich aufklären, sagte er, heißt eben, unter allen Umständen und mit allen Mitteln aufklären; die Folgen sind nicht so wichtig.« (Kieseritzky 1981, S. 17) Diesen Satz aus Kieseritzkys Roman hätte auch Belphegor aussprechen können. Er hätte »Lust, ein Rebell wider Natur und Schicksal zu werden« (Wezel 1965, S. 151), tatsächlich wird er allenfalls zum »Märtyrer seines guten Herzens«, der gegenüber den Ursachen seines Missgeschicks blind ist, da, so kommentiert Wezel, er nicht erkennt: »die Menschen mußten ihn in seiner Ruhe stören, weil er sie im Laster und der Unterdrückung stören wollte.« (S. 22, 275) Wezel spürt hier die Ursachen gesellschaftlicher Friktionen und Konflikte im Herzen der Aufklärung selber auf, die deshalb nicht schuldlos ist, weil sie aufs Ganze geht und das private Ideal des harmonischen Zusammenhanges

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auf den öffentlichen Raum bruchlos, ohne den Horizont des Denkens zu verändern, appliziert. Dass der Nukleus der belphegorschen Welterfahrung die »böse Welt« ist, die man entweder »bessern oder strafen« muss (S. 287) – das ist keine Wirklichkeitserkenntnis, sondern die Illusion eines Enthusiasten27 , der die Traktate der idealen gesellschaftlichen Übereinstimmung rezitiert und einen Fußtritt als Antwort erhält. Die bisherige Forschung zu Wezels Belphegor focussierte vor allem die drei Reisenden Belphegor, Fromal und Medardus, mit der Zentrierung um Belphegor und nicht selten unter der Fragestellung, ob und in welchem der drei Protagonisten das Sprachrohr des Autors zu vermuten sei. Wezel selbst stellte seinem Roman eine Charakteristik der drei Figuren voran, in der er, dem Denken der Zeit Rechnung tragend, ihre divergierenden Temperamente – brausend und tätig, deklamierend (Belphegor); besonnen und kalt, räsonnierend (Fromal); leicht und fröhlich, leichtgläubig (Medardus) – erläutert und die dreifaltige Sicht der Welt in den Effektzusammenhang eines temperamentbestimmten Denkens rückt. (Wezel 1965, S. 7 ff.) In gewissem Sinne fügt der Roman seine Interpretation schon bei. Weder in der Forschung noch im Vorwort Wezels wird die vierte Figur der Reisenden genannt: jene Akante, mit deren Aktivität der Roman beginnt. Aber gerade in dieser Figur gewinnt die aufklärerische Leidenschaft, geordnete gesellschaftliche Übereinstimmungen unter den Bedingungen von Bewegung und Verkehr und die Bestrebungen des Herzens miteinander zu verbinden, eine eigene Dynamik. Akante ist in keinem geringeren Maße von den Desastern der Reise betoffen als die drei anderen Protagonisten. So sind ihr Nase, Wange, Hand und Ohr zerschlagen und mittels chirurgischer Kunstgriffe durch feines Papier ersetzt worden.28 Ihre Antwort auf das fehlende gesellschaftliche Glück folgt aber keinem der drei anderen

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S. hierzu die instruktive Arbeit von Knautz 1990. S. Wezel 1965, S. 63 ff. Kämmerer 1998 geht auf diese Verstümmelungen Akantes ein. In den Reaktionen der Protagonisten auf Akantes Erzählungen komme ein »Vergnügen am Schrecklichen« (S. 125) und »ein generelles (moralfreies) Interesse an Affekterregung« zum Ausdruck (S. 127); der Roman sei »keineswegs unter dem Blickwinkel traditioneller Satirekonzepte zu lesen« (S. 131).

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temperamentbestimmten Räsonniertypen, die gegen die Erfahrungen der Reise die Deklamationen ihrer Weisheiten als Pfade zum Besseren stellen. In der von Johann Georg Krünitz herausgegebenen 242-bändigen Enzyklopädie heißt es unter dem Stichwort Reise: »Gleichwohl macht das Reisen an sich weder klug noch gelehrt; es kann vielmehr oft eine Schule des Lasters seyn, wenn es ohne vernünftigen Zweck, ohne Überlegung und Anweisung geschieht.« (Krünitz 1773-1858, Bd. 122, S. 143) Dies trifft für Akante zu. Ihre Antwort auf die Erfahrungen der Reise setzt gerade nicht auf die Tugend als Mittel zur gesellschaftlichen Glückseligkeit, sondern verbindet das Laster mit dem Streben nach Glückseligkeit. Das Laster ist es, auf dessen Basis ein Plan gesellschaftlicher Verbindungen entworfen werden kann, in den private Bestrebungen konstituierend eingehen können. In der langen Erzählung von ihrer bisherigen ebenfalls unfreiwilligen Reise berichtet Akante den drei männlichen Protagonisten von ihren Verwicklungen in geheime Pläne, die sie als Mätresse von »Pabst Alexander« (und einer beträchtlichen Zahl anderer) mitverfolgt hat. Auf ihrer Reise und im Rahmen dieser geheimen Gesellschaft ist Akante »etwas politisch geworden«. (Wezel 1965, S. 56) Das Projekt dieser Gesellschaft zielte darauf, »nicht blos über den ganzen Erdboden, sondern auch über den Himmel, nicht blos über die Körper, sondern auch über den Verstand (zu) herrschen«; die »geheimen Absichten stiegen bis zur Universalmonarchie« (S. 56) – wenn man so will, bis zur Einrichtung einer globalen Zentralgewalt. Über dies Projekt wird im Konjunktiv, als Möglichkeit, nicht als Wirklichkeit berichtet, denn die politische Akante weiß: »bey der Ausführung (käme es) nur darauf an, daß einem Paar Millionen Menschen die Hirnschädel zerschlagen« würden. (S. 59) Dies wäre das öffentliche Vergehen, auf das die Tugend ihrerseits mit Strafund Besserungseifer antworten würde. Akante berichtet davon, wie die Vergehen des Lasters im Geheimen praktiziert werden: vergiften, ermorden, zu Tode ärgern – dies geschieht im kleinen, fast privaten Kreis jener Projektemacher, die auf Akantes »Schooße schliefen«; die Anzahl der Toten beträgt genau 138 – die einzige Stelle des an Toten nicht armen Romans, an der eine Zahl angegeben wird. (S. 59, 56)

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Akante entwickelt eine kritische Schärfe, weil sie alle Laster und Verbrechen unter den Prämissen der Rationalität, nicht aber unter denen des moralischen Enthusiasmus in den Blick nimmt. Was den männlichen Protagonisten als ständig beklagenswerte Unmenschlichkeit einer bösen Welt erscheint, der menschliche Tugend entgegenwirken soll oder muss, das erkennt Akante nun genau als Effekte eines Handelns, das im Namen einer besser geordneten Welt und eines bestmöglichen gesellschaftlichen Zusammenhanges den Leidenschaften des Lasters insgeheim verpflichtet ist. In einer flammenden Rede für die Befreiung der Frauen – freilich unter Opium-Einfluss, denn Akante ist nicht Kraft ihres natürlichen Temperamentes, sondern allenfalls künstlich berauscht – wird die Brüderlichkeit von unmenschlicher Tat und im Namen der Menschlichkeit formulierter Referenz auf Tugendhaftigkeit unzweideutig formuliert: ihr »macht, so oft es euch beliebt, die Erde zum Schlachtfelde und wißt euren unmenschlichen Thaten tausend schimmernde Mäntel umzuhängen und tausend glänzende Anstriche von Edelmuth, Großmuth, Menschenliebe, Patriotismus zu geben.« (S. 233) Die mit der Figur Akantes gegebene eigene Dynamik im Roman liegt darin, dass sie gleichsam die Seiten wechselt: mit der Tugend ist keine Gesellschaft zu machen, Staat ohnehin nicht. Die Figur Akantes tritt aus der Diskursgemeinschaft der Guten aus und verbündet sich mit dem Bösen. Mätresse verschiedenster Herrscher auf vier Kontinenten, Geliebte nicht nur Belphegors, sondern auch Fromals, wegen dessen bevorstehendem Besuch sie Belphegor hinauswarf, stiftet sie Verbindungen auf der Basis eines mehr oder minder geplanten sexuellen Verkehrs, ohne auf den Enthusiasmus der Menschenliebe und Modelle der Tugend zu rekurrieren. Am Ende des Romans schließlich heiratet sie Belphegor, aber hier handelt es sich nicht um eine Konversion. Vielmehr pflegt sie weiterhin die Gesellschaft des Lasters, die nur als geheime, nicht aber öffentliche denkbar ist, und leitet ein Bordell im eigenen Hause. Belphegors Erkenntnisfähigkeit stößt gegenüber Akantes aufklärerischer Amoralität an ihre Grenzen, er ist mit Blindheit geschlagen: er, »der mit seinem Kopfe immer auf

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irrendritterliche Fahrten ausgieng29 , konnte über dem Eifer, die ganze Welt zu bessern, nicht daran denken, sein Haus zu bessern, das durch die Geschäftigkeit seiner Frau einem Bordelle nicht unähnlich geworden war. Er merkte nicht das mindeste hiervon, sondern lebte nunmehr von der Einnahme seiner Frau«. (S. 280) Akante ist die »Kupplerin«, die im buchstäblichen Sinne des Wortes Verbindungen herstellt. Sie findet ihre Resonanz in de Sades Juliette, in eben jener Figur, die mit zur Aufklärung gehört, weil sie »grundsätzlich aufklärt« bis in die Abgründe des Lasters, das sich der Öffentlichkeit, der anderen Hälfte der Aufklärung, entzieht.30 Akante und Juliette schließen mit dem Laster ein Bündnis sowohl gegen die Tragik der Tugend als auch gegen den enthusiastischen, ständig enttäuschten Idealismus, der, wie Belphegor, die »Bande der Gesellschaft« beschwört, aber, in Gesellschaft geraten, ausruft: »ich erwarte einen Feind«. (Wezel 1965, S. 240 f.) Das Laster folgt nicht den Schismen der Feindschaft und des Konflikts, sondern den Logiken eines perversen Zusammenhanges. In Akante spiegelt sich früh jene Figur Juliettes, die später für Horkheimer und Adorno zur Verkörperung fehlgehender Aufklärung selber wurde. Es ist die böse Frau, unter deren Blick sich die Aufklärung über sich selber schließt, wenn sie versucht, die Gesetze der Rationalität über die Grenzen der Moralität hinaus auszudehnen. Am Ende des 18. Jahrhunderts geben diese bösen Frauen der Aufklärung noch einmal ihr volles Gewicht, aber in ihnen kündigt sich zugleich ein Denken an, dem es nicht mehr gelingt, die Welt in die Ruhe einer wohlgeordneten Rationalität zu integrieren, weil sie, so Michel Foucault über das Ende jener Epoche, die in Deutschland Aufklärung heißt, »von außen durch den enormen Schub einer Freiheit, eines Verlangens oder eines Wunsches beherrscht« wird. (Foucault 1974, S. 261) So, wie Wezel in den Komplexen

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Belphegor wird hier Don Quijote beiseitegestellt, jener Figur, in deren Imaginationen sich eine untergegangene Welt noch einmal erfindet. Die Parallelen zwischen Akante und Juliette sind unübersehbar. Freilich kann Wezel de Sades Justine und Juliette, deren Konzeption im Jahre 1788 in der Bastille entstand und die in einer vereinigten Ausgabe erstmals 1797 erschienen, zur Zeit der Abfassung des Romans nicht gekannt haben.

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der Vernunft, der Erziehung, der Gesellschaftskonzepte und in den Fragen der Moralität die zeitgenössischen Diskurse und kulturellen Praktiken durchbuchstabiert und ironisierend wiederholt, erscheint in ihnen Aufklärung als ein Denkmodus, der seine Stabilität verliert. Der Weise entdeckt die Abgründe der Vernunft im Inneren der eigenen Reflexion, die sich unendlich befragen kann; der Blöde, der zur vernünftigen Rede gebracht werden soll, erlernt sie bei genauerem Hinsehen nicht Kraft der Rationalität selbst, sondern durch die Achtsamkeit gegenüber biologisch-diätetischen Vorschriften; das Projekt gesellschaftlicher Glückseligkeit erscheint als Freisetzung eines Verlangens, in dem sich der Untergang vorbereitet; die privaten Begriffe von Tugend und Laster schließlich mutieren zu fatalen Strategien, sobald sie zum Ursprung für öffentliche Regulative werden. Folgt man Wezel, so vollzieht sich Aufklärung nur in ihrer ironischen Brechung. (Zuerst in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 77. Jg. Heft 4, 2003, S. 564-590. Leicht überarbeitet.)

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Schulz, Martin-Andreas. 2000. Johann Karl Wezel. Literarische Öffentlichkeit und Erzählen. Untersuchungen zu seinem literarischen Programm und dessen Umsetzung in seinen Romanen. Hannover: Wehrhahn. Spieß, Christian Heinrich. 1966. [1795/96]. Biographien der Wahnsinnigen. Neuwied und Berlin: Luchterhand. Stanitzek, Georg. 1989. Blödigkeit. Beschreibungen des Individuums im 18. Jahrhundert. Tübingen: Niemeyer. Steiner, Gerhard. 1979. Zerstörung einer Legende oder Das wirkliche Leben des Johann Karl Wezel. In Sinn und Form. 31/1979, 699-710. Strube, Rolf-Günter. 1980. Die Physiognomie der Unvernunft. Studien zur Rolle der Einbildungskraft im erzählerischen Werk Johann Karl Wezels. Sein Leben und seine Schriften. Heidelberg: Winter. Sulzer, Friedrich Gabriel. 1774. Versuch einer Naturgeschichte des Hamsters. Göttingen und Gotha: Dieterich. Sulzer, Johann Georg. 1771/1774. Allgemeine Theorie der schönen Künste. Leipzig: Weidmann und Reich. Swoboda, Helmut. 1972. Der Traum vom besten Staat. München: Deutscher Taschenbuchverlag. Thurn, Hans Peter. 1970. Der Roman der unaufgeklärten Gesellschaft. Untersuchungen zum Prosawerk Johann Karl Wezels. Diss. Univ. Köln. Tissot, Samuel Auguste André David. 1775. Von der Gesundheit der Gelehrten. Leipzig: Müller. Unzer, Johann August. 1770. Medicinisches Handbuch. Lüneburg und Hamburg: Gotthilf Christian Berth. Volney, Constantin François de. 1977. [1791, 1792]. Die Ruinen oder Betrachtungen über die Revolution der Reiche. Frankfurt a.M.: Syndikat. Wezel, Johann Karl. 1965. [1776]. Belphegor oder die wahrscheinlichste Geschichte unter der Sonne. Frankfurt a.M.: Insel. Wezel, Johann Karl. 1971 a. [1773-1776]. Lebensgeschichte Tobias Knauts, des Weisen, sonst der Stammler genannt. 4. Bde., Stuttgart: Metzler. Wezel, Johann Karl. 1971 b. [1784/85]. Versuch über die Kenntnis des Menschen. Frankfurt a.M.: Athenäum. Wezel, Johann Karl. 1990. Robinson Krusoe. Berlin: Rütten und Loening.

4. Hygiene der Frau. Aufklärerische Lektionen

Victor Hugo schreibt 1822 an seine Verlobte: »Ich habe Dir, meine geliebte Adèle, etwas zu sagen, das mich quält. Ich muß es Dir sagen, und ich weiß nicht, wie ich es Dir sagen soll (…) Ich möchte, Adèle, daß Du weniger fürchtest, Dein Kleid schmutzig zu machen, wenn Du auf der Straße gehst. Erst gestern habe ich, zu meiner Pein, bemerkt, welche Vorsichtsmaßnahmen Du ergreifst (…) Mir scheint, daß die Scham ein kostbareres Gut ist als ein Kleid«. (Zit.n. Wachtel 1963, S. 354) Was soll Vorrang haben: die Sauberkeit des Kleides oder die Reinheit der Scham? Verrät die Sorge um den Schmutz am Kleid einen tieferliegenden Mangel? Über was ist so schwer zu sprechen? Gibt es hier etwas, das vielleicht gar nicht zur Sprache kommen will? Die Frage nach der Hygiene der Frau ist ein Fall von Schmutz, Sauberkeit, Reinigung und Verhältnissen zu Krankheiten. Dabei wird es um verschiedene Problembereiche gehen müssen. Zunächst ist zu fragen nach dem, was der gesunde, der normale Körper der Frauen ist. Gibt es ihn? Bietet er einen Fixpunkt, an dem sich der Diskurs über die Frauenkörper brechen könnte? Weiter zu fragen ist nach dem reinen Körper, der zweiten Qualität, mit der sich Überlegungen zur Hygiene der Frau beschäftigt haben. Und schließlich danach, ob es eine Verbindung gibt zwischen der hygienischen Rede vom doppelt gefährdeten Körper – Gefährdung der Gesundheit und Gefährdung der Reinheit – und einem feministischen Gestus, der das Unentfremdete, das Eindeutige und eine identitäre Qualität freizulegen sucht. Dabei führt der Weg vom ausgehenden 18. Jahrhundert über Zeugnisse des 19. bis zu Spielarten eines gegenwärtigen Feminismus.

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Es ist möglich, dem Thema Schmutz, Sauberkeit und Reinigung auf anderen Feldern als dem der Hygiene der Frau nachzugehen. An die intime Beziehung zu Schmutz wie Sauberkeit, die die weiblichen Körper haben, heftet sich ja ein sehr breit angelegter Diskurs über sie, über die Gefahren, denen sie ausgesetzt sind, und die Chancen, diesen Gefahren zu begegnen. Die Mythen und religiösen Praktiken, die sich um weibliche Körper zentrieren, gehen um mit den Problemen von Reinheit, Schmutz und Gefährdung. Im Volks- und Aberglauben werden vielerlei Praktiken überliefert, die sich beispielsweise auf den Umgang mit Wasser, mit schmutziger Wäsche oder auf das Verhalten während der Menstruation beziehen. (Verdier 1982) Frauen- und Modezeitschriften sorgen sich um die weiblichen Körper ebenso wie die Werbung, das Fachgebiet für Schmutz und Reinheit schlechthin. Für den Komplex der Hygiene der Frau im hier interessierenden Sinn wird ein Typus von Literatur zu Rate gezogen, in dem Mediziner, Volksaufklärer und besorgte Hygieniker Frauen die Aufmerksamkeit gegenüber ihren Körpern nahelegen. Im Zentrum steht dabei zunächst ein Text aus dem ausgehenden 18. Jahrhundert. Die Hygieneliteratur kennt keine theoretischen Spitzenleistungen, und in der historischen Distanz scheinen wir es mit Kuriositäten zu tun zu haben. Wir werden sie hier nicht dafür halten, im Gegenteil, die Hygieneliteratur erteilt auch für unsere Gegenwart relevante aufklärerische Lektionen darüber, dass die Reinigung mehr ist als der einfache Effekt eines etwa aus Manipulationen entstandenen Putzfimmels. Die Verbindung zwischen hygienischer Reinigung und dem feministischen Verlangen nach dem Unentfremdeten und Eindeutigen wird ebenso wenig im Rückgriff auf exklusive Texte aufgewiesen, stattdessen ist gerade die feministische Massenliteratur ernst zu nehmen – dass durch »Häutungen«, so der Titel eines populären Selbstfindungsromans der Neuen Frauenbewegung bzw. Neuen Weiblichkeit – zum Wesentlichen zu gelangen sei, konnte hier programmatisch werden.

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Normaler Körper oder reiner Körper 1793/94 erscheint unter dem Titel Hygea eine »heilkundige Zeitschrift« speziell für Frauen. Sie beschäftigt sich sowohl mit dem gesunden wie mit dem reinen Körper. Wie wird der gesunde Körper beschrieben? Im Allgemeinen geht der gesunde Körper aus der Abgrenzung des Normalen vom Pathologischen hervor; dabei handelt es sich um ein allgemeines medizinisches Verfahren, das, wie Georges Canguilhem gezeigt hat, nur verschiedene Formen annimmt, was die Weisen der Beziehung zwischen Normalem und Pathologischem angeht. (Canguilhem 1974). Der gesunde weibliche Körper aber wird nicht im Kontext dieser Unterscheidung von Normalem und Pathologischem beschrieben. Nachdem der Verfasser der Hygea1 eine allgemeine Naturgeschichte des Menschen gegeben hat und die Gesundheit des menschlichen Körpers als den Zustand fasste, »in welchem der Mensch die ihm zukommenden Verrichtungen ohne Beschwerlichkeit ausüben kann« (Vogel 1793/94, 1. Teil, S. 11), folgt eine Naturgeschichte des weiblichen Körperbaus. Die weiblichen Körper haben nun keine Beziehung zu dem außerhalb liegenden Fixpunkt der »Beschwerlichkeit«, der eine Oppositionsbeziehung von Gesundem und Pathologischem begründen könnte, sie unterhalten vielmehr eine Beziehung zum männlichen Körper. Die Abweichung von ihm bestimmt die Rede über die Frauenkörper. Am normalen weiblichen Körper ist laut Hygea alles jeweils größer, kleiner, ragt mehr hervor, steht weniger voneinander ab, ist mehr zusammengedrückt, läuft mehr spitzig zu, ist dicker, zärter, weicher, mehr angefüllt, weniger sichtbar oder einfach beträchtlicher. Und so konstatiert der Autor der Hygea: »Fast jeder Blick auf einzelne Theile verrät Abweichung.« (2. Teil, S. 16 ff.) In späterer Hygieneliteratur geht es nicht weniger um die Differenz, wenn die Wahrnehmung der weiblichen Körper strukturiert werden soll. Günter Schultze, ein Oberarzt der Universitätsfrauenklinik in Berlin, schreibt 1935 in seiner Hygiene der Frau: »Es gilt

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Die Ausgabe der Zeitschrift nennt keinen Verfasser. Es handelt sich um August Vogel. Im Folgenden als »Vogel 1793/94«.

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als Erstes aufzuweisen, was den weiblichen Organismus in seinem anatomischen Bau und in seinen Funktionen vom männlichen unterscheidet.« Hier finden wir Abgerundeteres, Weicheres, Anpassungsfähigeres, Kürzeres und Breiteres, Vorgewölbteres, zuweilen aber auch geradezu Vorspringenderes.2 Mit dem Markieren der sexuellen Differenz beginnt die Rede über die Frauenkörper. Indem die Differenz vermessen wird, kann schließlich nicht die Gesundheit, sondern die Schönheit bestimmt werden und die Abweichung ein Maß erhalten. Die Hygea belehrt darüber, dass es jeweils drei lange, kurze, breite, enge, dicke oder kleine Schönheiten sind, mit denen ein »schönes Frauenzimmer bestellt seyn« muss. Die drei engen Schönheiten beispielsweise sind: »enger Mund, enge Taille, enger Fuß«. (Vogel 1793/94, 2. Teil, S. 94) Schönheit, als etwas Besonderes, bezieht sich auf Körperteile; feststellbar ist sie im Rekurs auf ein Maß, das Aussagen über die weiblichen Körper zu machen erlaubt. Das Pathologische bleibt unbewältigt, weil es nicht, wie beim männlichen Körper, als Differenz gilt. Das Pathologische rückt den Frauenkörpern nun aber ganz besonders nahe, denn es liegt ja nicht – als Differenzpunkt – außerhalb dieser Körper, sondern in ihnen. »Unter den Menschen hat das weibliche Geschlecht, vor dem männlichen, einen Vorzug zu Krankheiten«. Und, so der Autor der Hygea weiter: »Die Anlage zu häufigeren Krankheiten hat überhaupt ihren Grund in dem Baue des weiblichen Körpers selbst.« (Vogel 1793/94, 2. Teil, S. 67) Ebenso ist Schultze 1935 überzeugt: »Wir können die Erkrankungsfähigkeit der Frau als in ihrer Anlage verwurzeltes (konstitutionelles) Geschlechtsmerkmal bezeichnen.« (Schultze 1935, S. 16 f.) Außerhalb der Geschlechterdifferenz verliert sich jede Eindeutigkeit weiblicher Körper in dem Durcheinander von normal und pathologisch. Im Vorgriff sei hier eine Verbindungslinie gezogen zu explizit feministischen Problemstellungen. Das Durcheinander von normal und pathologisch scheint beruhigt werden zu müssen, doch schafft jede Beruhigung sogleich auch neues Durcheinander. Die intensive Versenkung 2

Schultze 1935, S. 9 ff. S. auch: Straßmann 1933, S. 11 ff; Ribbing 1891, S. 13.

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in die eigene Gebärmutter, die aufmerksame Hinwendung zum eigenen Körper, die seine Wahrheit in Erfahrung zu bringen trachtet, nötigte eine Autorin der Zeitschrift Emma schließlich doch auch zu der Frage, ob wir nicht längst verinnerlicht hätten, dass wir nicht ganz normal sind, und schließlich würde ja keine Männergruppe teilnahmsvoll gemeinsam das Wachstum ihrer Prostata verfolgen. (zur Nieden 1982, S. 13 f.) Der weibliche Körper bietet enorme diskursive Chancen, wenn in ihm das Durcheinander herrscht: normal – krank; feminin – doch patriarchalisch infiziert. Wäre dieser Körper nur normal: er fiele sehr weitgehend aus den feministischen Gegenstandsbereichen heraus. Aber vorerst bleibt es dabei, und die Hygiene-Diskurse haben es immer gewusst: die weiblichen Körper sind konstitutionell gefährdet. Gespannte Aufmerksamkeit gegenüber den weiblichen Körpern, Selbstbeobachtung auch der Frauen, ist vonnöten. Eine wesentliche und empfindliche Zone, von der die Gefährdung ausgeht, ist für den Autor der Hygea die richtige Konsistenz der Körpersäfte, besonders des Blutes. Das medizinische Paradigma der Säfte, das der Hygea zugrundeliegt, ist zweifellos ein allgemeines medizinisches Paradigma des 18. Jahrhunderts, aber es spielt, ebenso wie später das moderne Paradigma der Bakterien, für die Frauenkörper eine noch einmal besondere Rolle. Für den Menschen im Allgemeinen gilt 1792, wenn wir Tissot, dem vehementen Kämpfer gegen die Onanie, folgen: »Unsere Körper verlieren beständig. Könnten wir diese Verluste nicht ersetzen, so würden wir gar bald in eine tödtliche Schwachheit verfallen.« (Tissot 1792, S. 15) Die Frauenzimmer jedoch sind, wie Tissot erklärt, »außer allen bereits angeführten Zufällen (…) noch vielen besonderen Übeln ausgesetzt«. (S. 67) Die Hygea konkretisiert: bei den Frauen ist das »Blut zu größern Wallungen geneigter«, und es kann bei ihnen viel leichter zu einer »Vollblütigkeit, Dickblütigkeit und Unreinigkeit des Bluts (kommen als) bei Mannspersonen«. (Vogel 1793/94, 2. Teil, S. 67 f.) Die Menstruation erhält unter diesen Voraussetzungen eine besondere Bedeutung, als »monatliche Reinigung« nämlich. Der, wie es heißt, »gehörige Abgang« schafft die richtige Konsistenz der Säfte, fehlt er, so drohen laut Hygea »Stockungen des Blutes, Verhärtungen, Gestank, Schmerzen, Folter und Tod«. (1. Teil, S. 55 f.)

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Aber auch auf der Basis des medizinischen Paradigmas der Bakterien hat die Menstruation die Bedeutung der Reinigung und Entgiftung des weiblichen Körpers. Man spricht vom »monatlichen Aderlaß«, denn offenbar würden »mit dem Menstruationsblute Stoffe ausgeschieden, denen sich der Körper entledigen will.«3 Diese Deutung rückt die Reinigung selbst schon in die Nähe des Schmutzes – nicht nur in dem Sinne, dass das Reinigen Schmutz verursacht, sondern in einer noch zu erläuternden weiteren Hinsicht. Ob unter dem Gesichtspunkt der Säfte oder dem der Bakterien, die Menstruation nimmt auf jeden Fall eine zentrale Stelle in der Rede über die gefährdeten Frauenkörper ein. Sie bildet gleichsam den äußersten Punkt, an dem die konstitutionelle Neigung zum Pathologischen, und das wird immer auch heißen: zum Unreinen, offenbar wird, und diese Neigung besteht auch außerhalb der Menstruation. Als erstes Ergebnis der Analyse der Hygieneliteratur ist festzuhalten: Das Ziel eines gesunden Körpers wird transformiert in das Ziel eines reinen Körpers, und in diesem Sinne entspricht der reine weibliche Körper dem gesunden männlichen Körper. Aber bietet das neue Ziel eine feminine Eindeutigkeit? Lässt sich der weibliche Körper nun auf der Ebene der Reinheit beruhigen? Das Bewässerungs- und Kanalisationssystem der Tiefen, von dem die Hygea spricht und das die Grundlage der Reinigungsprozesse abgibt, ist seinerseits den vielfältigsten Störungen ausgesetzt. Die Frauenkörper sind porös, durchlässig für Einwirkungen mit pathologischem Effekt. Von Woche zu Woche sammelt sich naturgemäß der Schmutz, der in der »monatlichen Reinigung« wieder beseitigt werden muss. Es ist die Gebärmutter selbst, die, so klärt die Hygea auf, wegen ihrer »besondern schwammichten Bauart, und der darin enthaltenen unzähligen Blutgefäße, vor andern Theilen die Geschicklichkeit (besitzt), das überflüssige Blut aufzunehmen, und die schädlichen Wirkungen davon am ehesten zu empfinden.« (2. Teil, S. 71) Die weiblichen Körper ziehen den Schmutz an – sie sind so gebaut. Unter dem Paradigma der Bakterien wird gewarnt, dass es schnell, d.h. bei mangelnder Reinlichkeit der Frau, zu ei3

Schultze 1935, S. 58. S. auch Ribbing 1891, S. 19.

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ner »von unten aufsteigenden Infektion kommen« kann. (Schultze 1935, S. 59) Das unglaubliche Ausmaß der Gefährdung der weiblichen Körper muss schließlich auch die Einbildungskraft anspornen. Und in der Tat weiß die Hygea davon zu berichten, dass Aufregung oder Entsetzen der Wöchnerin zu verdorbener Milch bei der Mutter und so zur Lebensgefahr für das Kind führen kann. (1. Teil, S. 58) Auch falsche Gedanken machen krank und unrein. Aber zugleich muss das Ausmaß, in dem die Einbildungskraft bei der Entstehung von Giften, Schmutz oder Abweichungen beteiligt ist, in Schranken gehalten werden. Das heißt: die Wirksamkeit der Einbildungskraft darf nur an den eigenen Körper der Frau, nicht aber an den fremden, den anderen heranreichen. Der Autor der Hygea berichtet von dem Aberglauben, dass »widernatürliche Abänderungen an dem Körper der Kinder« dadurch zustande kämen, dass die Vorstellungen einer Schwangeren zu einem bildlichen Abdruck beim Neugeborenen führen würden. Sich einen Buckligen vorzustellen – dies könnte einen anderen dazu machen. Dass der Autor der Hygea diesen Aberglauben ausdrücklich kritisiert, hat sicher auch seinen Grund in den aufklärerischen Zielen seiner Zeitschrift. Wichtiger aber ist das Argument, dass die Einbildungskraft hier so viel Macht nicht besitzen könne, als dass sie den anderen Körper veränderte (2. Teil, S. 49) Hat die Einbildungskraft nun zwar nicht den Effekt, den der Aberglaube ihr zuspricht, so ist sie doch unter Gesichtspunkten aufklärerischer Kritik keineswegs folgenlos. Dieser Aberglaube, so werden wir belehrt, sei schädlich, denn: wäre die Einbildungskraft der Frau gegenüber dem anderen Körper wirksam, so würde, vermutet der Verfasser, die Frau »sich darüber grämen, und dieser Gram kann für Mutter und Kind sehr nachteilig werden.« (2. Teil, S. 51) Die Regulationsstrategien betreffen nicht nur die Moderation der Einbildungskraft selbst, sondern auch die Vorstellungen, die sich die Frau von der Wirksamkeit ihrer Einbildungskraft macht. Das Ziel der Reinheit lässt nur eines zu: die Reinigung, sowohl der Körper wie der Vorstellungen. Die Reinigung kommuniziert mit der Gefährdung und sucht sie zu bannen. Wie auf der Ebene der Gedanken und der Einbildungskraft, so ist auch in den Ratschlägen, die sich direkt auf

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den Körper beziehen, die Idee der Tiefe, der tiefgreifenden Wirksamkeit präsent. Den gefährdeten Körpern könnten, so rät das Kosmetikon 1861, richtig angewandte Bäder helfen; sie »befördern die Abschuppung der Oberhaut«, das Wasser dringt »in das Innere des Körpers und reinigt die Säfte, stärkt Nerven und Muskeln«. (Beyse 1979, S. 33) Selbstverständlich kann diese Reinigung auch wieder gefährlich sein – während der »monatlichen Reinigung« nämlich. (Schultze 1936, S. 59 ff.) Ein zweites Resumée kann aus der Hygieneliteratur gezogen werden. Die weiblichen Körper besitzen keine Schranken, vor denen die Reinigung halt macht, so als gäbe es keine Haut. Es geht um ein Eindringen und Herausfließen, um sich Festsetzendes und die Prozesse der Lösung, und dies wiederum ist end- und schrankenlos. Der Zustand der Reinheit hat immer nur vorläufigen Charakter, zumal der Schmutz sich dadurch auszeichnet, dass er immer noch tiefer liegt als der, der schon sichtbar gemacht und weggesäubert wurde. Wo Reinigung und Schmutz Hand in Hand gehen, ist der Gedanke der Grenze strukturell unmöglich geworden. Wer weiß angesichts des Schmutzes im Inneren der weiblichen Körper schon genau, ob der Tiefenlöser die Tiefen auch wirklich erreicht hat? Und wie schwierig ist es, den fasertiefen Schmutz überhaupt zu Gesicht zu bekommen. Die Reinigung ist zu verstehen als ein unendlicher Regress, der fortschreitet, weil ihm der Traum von einem Zustand der Reinheit zugrundeliegt. Warum diese endlose Arbeit, deren Ergebnis doch immer sogleich zunichte gemacht wird? Immerhin jedenfalls erlaubt die endlose Reinigung, eine Vorstellung von den weiblichen Körpern zu entfalten, derzufolge sie aus vielen Schichten bestehen, deren jede Verweischarakter besitzt und um der dahinterliegenden, wesentlicheren willen abgetragen werden muss. Es gäbe dann so etwas wie einen reinen, wahrhaftigen Kern im Inneren der Frauenkörper.

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Feministischer Putzfimmel Schichten abzutragen, sich zu durchdringen, neu zu schaffen, Altes abzuschälen, über die Haut als Grenze hinauszugehen und in die Tiefen zu gelangen: dieser Gestus ist nicht nur eine Angelegenheit medizinisch aufklärerischer Hygieneliteratur. Er spielt – man könnte von einer longue durée diskursiver Formatierungen sprechen – im Denken von Frauen eine Rolle, wenn es um die Auswirkungen des Patriarchats auf die Frauen und die Kritik an ihm geht. Auf den ersten Blick mag die hygienische Reinigung mit der intellektuellen wenig gemein haben. Aber es ist mehr als eine nur metaphorische Verbindung, wenn in Verena Stefans 1975 erst- und vielmals später erschienenem populären Roman mit dem Titel Häutungen zu lesen ist: »Die Männergesellschaft sitzt uns allen unter der Haut«. (Stefan 1981, S. 88). Ursula Krechel lokalisiert die »patriarchlische(n) Strukturen in uns, über uns und um uns«, und da es schwerfalle, »die am eigenen Körper erfahrene Geschlechtsunterdrückung in anderen politischen und soziologischen Kategorien der Differenz zu erklären«, könne Feminismus nicht Denkgebäude, nicht Theorie sein, sondern vielmehr eine »Grundstruktur des Bewußtseins«. (Krechel 1975, S. 39) Und weiter heißt es: »Infiziert« sein könnten die Frauen, die herrschende Ideologie stecke in ihren Köpfen, und man höre nur allzu oft nicht ihre Ansichten, sondern die anderer, wenn sie glaubten, die ihrigen vorzubringen. (S. 27, 42) Wenn es so ist, dass Frauen es mit einem endlosen Prozess von Eindringlichkeiten zu tun haben, der sie zum durchdrungenen Opfer patriarchaler Gesellschaften macht, ist dann auch für den feministischen intellektuellen Gestus die Struktur des unendlichen Regresses maßgebend? Da die alte Haut sich nicht von allein löst, sei der Eintritt in den Prozess der Häutungen notwendig. Und was fördert die intellektuelle Reinigung von den Eindringlichkeiten des Patriarchats zutage? Dass wir uns »neu schaffen«, sehen, »wie mein Körper wirklich ist und wie ich bin«, dass »wir zu uns selber gelangen« und »einander wirklich begegnen und erkennen«, dass wir »wirklich bei dem Menschen dahinter anlangen«. (Stefan 1981, S. 98, 84, 79, 80, 45) Und schließlich: »dahinter sitze ich.« (S. 73) Hinter all den Häuten – neun sind es, schenkt man dem

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Volksmund Glauben – kommt schließlich die erste zum Vorschein. Der Volksmund weiß aber auch, dass die anderen acht heruntergeprügelt werden müssen. (Bächthold-Stäubli 1927, Sp. 1746) Sollte daraus zu entnehmen sein, dass das Wesentliche, die erste Haut, nur zum Vorschein kommt, nachdem ein gewaltsamer Prozess durchlaufen wurde? Die Unentfremdetheit der wahrhaftigen Eindeutigkeit einer vom Fremden nicht infizierten Frau, diese reine Haut dürfte kaum ein fraglos als glücklich zu schätzendes Ergebnis sein. Anstelle einer Hoffnung auf solche Wahrhaftigkeit bleibt zu fragen: Wie lässt sich eine Verbindung zwischen der hygienischen Sorge um das saubere Weib und der verbreiteten feministischen Sehnsucht nach Authentizität denken? Schon die Hygea macht darauf aufmerksam, dass zum reinen Frauenkörper auch die Achtsamkeit gegenüber dem Denken und seinen Folgen gehört – sie war also gar nicht ausschließlich nur am Waschen orientiert. Verena Stefan berichtet von dem Gefühl, »tatsächlich lebendig zu sein« und »jede Pore der Haut, die meinen Körper umschloß«, zu spüren, als sie sich abends in der Küche wusch. (Stefan 1981, S. 9) »Neu geschaffen zu werden«, dazu gehört also auch das Waschen. Es gibt Verbindungen zwischen hygienischer Sorge und Authentizitätssehnsucht in der Weise, dass Hygieniker an der Reinheit der Gedanken interessiert sind und der feministische Gestus der Authentizitätssuche nicht ohne den Rekurs auf den Körper denkbar ist. Aber entscheidender als solche inhaltlichen Querverbindungen ist eine strukturelle Gemeinschaft, eine Gemeinsamkeit, die weit über eine nur metaphorisch geartete Verbindung hinausweist. Beide gehen um mit dem Problem der Signifikanz und mit der Schwierigkeit, die die Produktion einer Eindeutigkeit der weiblichen Körper bereitet. Weil an dem Ziel einer Signifikanz – ob in Gestalt des Reinen oder in Gestalt des Authentischen – festgehalten wird, entsteht der unendliche Regress der Säuberungen. Da alles weggewaschen, weggesäubert, weggehäutet werden muss, steht allerdings an seinem Ende nicht viel. Der Wunsch, die feminine Eindeutigkeit zu produzieren, wird unter der Hand zum Wegsäubern – und umgekehrt: wo gereinigt, weggeputzt wird, dort steht die Signifikanz des Geschlechts an erster Stelle.

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Ursula Krechel phantasiert: »Es könnte ja auch sein, dass wir, wenn wir immer tiefer in unserem Selbst graben, nichts finden« – aber: dies Nichts soll doch immerhin noch Etwas bleiben, Zugefügtes nämlich: »nur Trümmer, Gerümpel, in Tausenden von Jahren der Männerherrschaft in uns abgestellt«; oder aber, was auch noch einen Effekt macht, und so schließt der Satz: »eine gähnende Leere, die angstvoll mit schnellen Sätzen zugedeckt werden muß.« (Krechel 1975, S. 48) Der Wille zur Reinheit und die Idee der Tiefe mobilisieren den Diskurs über die Körper von Frauen. Roland Barthes hat darauf aufmerksam gemacht, dass ihnen eine »Art epischer Vorstellung des Innern« korreliert. (Barthes 1970, S. 47) Die Struktur des Reinigens provoziert das Bedürfnis, das Innere so zur Schau zu stellen, dass es dem unendlichen Regress zugleich entzogen werden soll. In diesem Sinne ist die Reinigung der Vorstellung von der unentfremdeten, wahrhaftigen Authentizität verschwistert. Genau dies ist der Mechanismus, mit dem Frauen – wenn wir das Wort benutzen wollen – zu Opfern werden. Es ist ein Wort mit einem problematischen Hof. An das Opfer knüpfen sich vielerlei Vorstellungen: religiöse, machtpolitische, geschichtliche, auch Gedanken an gezielten Verzicht. Dem soll hier nicht weiter nachgegangen werden, wichtiger ist, dass die Rede von Opfern immer auch eine diskurspolitische Relevanz hat. Sie ist immer auch eine Selbstdeutung, zumindest aber setzt sie die Identifikation desjenigen, der spricht, mit demjenigen voraus, der als das Opfer begriffen oder bezeichnet wird. Wenn ich sage, die Frauen würden zu Opfern, weil ihre Suche nach der Unentfremdetheit immer affiziert ist vom Reinigen, Wegsäubern, vom Verschwinden, dann begreife ich sie als Machtlose, als Unterworfene. Opfer zu sein, heißt immer, sich in einem Zwangszusammenhang zu situieren, dem man sich nicht entziehen kann. Und das Opfer hat gewissermaßen einen Bonus: den desjenigen, der Besseres will. Die Selbstdeutung als Opfer baut darauf, dass sie den Charakter des Vorwurfs annehmen kann aufgrund einer Tabustruktur: das Opfer soll es nicht geben – aber die entscheidende Frage ist, wer es ist. Und derjenige, der sich als solches deutet, hat immerhin doch die Chance, dass ihm, als Opfer, zumindest zugehört werden muss, er also zur Sprache kommen kann.

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Die Rede vom Opfer hat diskurspolitisch darüber hinaus den Sinn zu vereindeutigen. Sieht man davon ab, dass eine Vereindeutigung diskurspolitisch durchaus bedenklich sein könnte, kann die Zentrierung auf die Eindeutigkeit des Opfer-Seins die Erkenntnis der Tatsache verstellen, dass das Opfer partizipiert an dem, als dessen Opfer es begriffen werden muss. In dem hier interessierenden Zusammenhang heißt das, dass das Verlangen nach weiblicher Signifikanz ein aufgezwungenes ist, dass feministische Kritik aber gleichwohl von ihm zehrt. Wenn man die diskurspolitisch vereindeutigende Rede vom Opfer-Sein verlässt, dann findet sich im unendlichen Regress des Reinigens eine Wahrheit, die zu affirmieren schwerfällt. Jacques Lacan notiert unmissverständlich: »Es gibt nicht Die Frau, weil sie in ihrem Wesen nicht jede ist.« »LA femme n’existe pas.« (Lacan 1976, S. 161) Die Frauen besitzen keine allgemeine Signifikanz; diese gälte also für jede »besonders«? Aber was wäre das für eine Signifikanz, die niemals eine allgemeine werden kann? Das Problem ist, genau besehen, nicht die Signifikanz oder ihre Herstellung, sondern die Tatsache, dass sie für wesentlich erachtet wird und auf die Vorstellung und Auszeichnung eines Identitären hinausläuft. Solange dies so ist, wird das Putzen, Waschen und Reinigen mit einer Kultur massiver Demütigungen einhergehen und darauf verweisen, dass den porösen weiblichen Körpern die Signifikanz, ihr sauberes IdentischSein immer fehlen muss, so sehr sie sie auch herzustellen bereit sind, indem sie Schicht auf Schicht von sich abtragen. Die Spiritualisierung der Hygiene der Frau in der Rede vom Unentfremdeten, Authentischen, was Frauen an sich freizulegen hätten, um den Eindringlichkeiten des Patriarchats zu entkommen, entgeht diesem Zusammenhang nicht. Zum Sagen zu zwingen, darin sieht Roland Barthes den faschistischen Charakter der Sprache. (Barthes 1980, S. 19) Frauen werden immer zur Suche nach der femininen Eindeutigkeit gezwungen sein und sich selbst auf die Suche begeben, solange das Bild von Der Frau entworfen wird. Hygienische und intellektuelle Reinigung setzen da, um es pointiert zu formulieren, eine Maschine in Gang, die von selbst laufen wird. Schmutz wird immer aufzufinden sein, und auch die Authentizität muss immer noch im Verdacht stehen, doch noch nicht die wirkliche, echte zu

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sein. Und wo der Verdacht herrscht, dort muss gesäubert und gereinigt werden. Nehmen wir schließlich noch kurz an, diese Signifikanz wäre gefunden. Was dann? Noch immer wäre jede Beruhigung fehl am Platze. Verena Stefan schreibt über die Männer: »sie wollen das echte, ursprüngliche, die quelle.« (Stefan 1981, S. 74) Auch sie also. Nicht die auftretende Erscheinung, sondern das Wahre wird von beiden Geschlechtern verlangt. Wie wäre aus diesem Problem herauszukommen? Man kann nur fragen: Worin unterscheidet sich der weibliche Wille nach weiblicher Signifikanz vom männlichen Willen nach weiblicher Signifikanz? Und will man so fragen, so müssen wir wieder beginnen, die Frau aus der Geschlechterdifferenz zu strukturieren – so, wie die Hygieneliteratur es getan hat. Was das 18. Jahrhundert über die Frauen auszusagen wusste, hat seine Widerhall bis heute keineswegs verloren, und es sei erinnert an das, was Victor Hugo seiner Verlobten zu sagen hatte: »Ich möchte, Adèle, daß Du weniger fürchtest, Dein Kleid schmutzig zu machen, wenn Du auf der Straße gehst. Erst gestern habe ich, zu meiner Pein, bemerkt, welche Vorsichtsmaßnahmen Du ergreifst (…) Mir scheint, daß die Scham ein kostbareres Gut ist als ein Kleid«. (Zuerst als »Saubere Weiber – authentische Frauen« in: Frauen Macht. Konkursbuch 12. Zeitschrift für Vernunftkritik, Tübingen: Konkursbuchverlag 1984, S. 147-157.)

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5. Theater zwischen Religion und Anthropologie

Als das 18. Jahrhundert die Anthropologie und Psychologie entdeckt und die Natur des Menschen in ihren Äußerungsformen und Spielarten zu untersuchen beginnt, bleibt von diesem Interesse kaum ein Gegenstand ausgenommen. Die Kenntnis des Menschen gewinnt ihre Bedeutung für den Fortschritt der Wissenschaften insgesamt, für die Pädagogik und Diätetik, die Staatskunst, die Ökonomie, umfasst die äußeren und inneren Empfindungen, die Pathologien, Temperamentenlehren, soziale Gefühle, klimatische Umstände, Sinnestätigkeiten bis hin zu den Affektationen der Seele und den Bewegungen des Geistes. Es ist nach wie vor beeindruckend, mit welcher Energie sich die Zeitgenossen auf all diesen Gebieten an die Arbeit gemacht haben. (Schings 1994) Das Verlangen nach dem Wissen vom Menschen, nicht stillstellbar, hat sich seitdem in den Humanwissenschaften weiter ausdifferenziert, andere Systematiken und diskursive Ordnungen erhalten. Im Unterschied zum Zeitalter der »Repräsentation« des Wissens vom Menschen auf den Gebieten Arbeit, Leben und Sprache orientieren sich die mit dem 19. Jahrhundert einsetzenden Humanwissenschaften am »Gesichtspunkt der Norm, der Regel und des Systems« und damit an einem »Hervorbringen von Elementen oder Organisationen, die niemals als solche dem Bewußtsein gegeben werden«. (Foucault 1974, S. 433) Es sind nicht diese Verschiebungen in den Weisen, auf die eine diskursive Ordnung in das Wissen vom Menschen gebracht wird, die hier interessieren, es ist eine andere Frage: Was ist das Problem, auf das das aufklärerische Interesse am Menschen die Antwort gewesen ist? Für oder gegen was sollte es helfen,

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den »ganzen Menschen« zu erforschen? Um die These vorwegzunehmen: Anthropologie und Psychologie sind Voraussetzungen und Mittel einer Selbsterkenntnis und Selbstregierung, die nach der Erfahrung der europäischen Bürgerkriege mit ihren blutig ausgetragenen Glaubenskämpfen die Gewalt der Schismen zu zivilisieren erlauben. Fragen an das Zeitalter aufklärerischen Denkens führen ins Gebiet der Religion, und Antworten auf Umgangsweisen mit dem Komplex der Religion führen zum Theater als dem energetischen Mittel, die Leidenschaften zu moderieren und den Fanatismus im Glauben zu depotenzieren. Zu denjenigen, die eine solche Moderierung zur Aufgabe der Kunst gemacht haben, gehört Gotthold Ephraim Lessing mit seinen aus spitzer Feder hervorgegangenen Dramen und Überlegungen zum Theater. Dass von Religion keine Befriedung zu erwarten ist, sie ganz im Gegenteil zerstörerisches Potential entfesseln kann, hatten die Glaubenskriege gelehrt. Dass damit ein langer Weg beginnt, der zur Ausbildung eines neuen Religionstypus führt, hat Wolfgang Eßbach in seiner umfangreichen Religionssoziologie gezeigt. Dieser neue Typus, die »Rationalreligion«, wendet sich gegen die dogmatisch und kirchenrechtlich als »Bekenntnisreligionen« verankerten Konfessionen, um den Streit zwischen sich widersprechenden Offenbarungsinhalten zu beenden. »Das prophetische Wort und das sinnlich-übernatürliche Wort, diese beiden Offenbarungsmodi boten keine Garantie dafür, dass sich nicht doch der Religionsstreit erneuert. Wo Propheten auftreten, treten auch falsche Propheten auf.« Wenn Prophetie und Wunderglaube als zuverlässige Modi der Offenbarung göttlicher Gesetze ausfallen, ist das, was bleibt, »das natürliche Wort Gottes, die gottgegebene Fähigkeit des Menschen zur gesunden Vernunft. Sie ist allgemein, auf sie kann man bauen, (…) und weil sie verallgemeinerbar ist, können an der gottgegebenen Fähigkeit zur natürlichen Vernunft nun auch alle anderen partikularen Offenbarungsinhalte und Formen gemessen werden.« (Eßbach 2014, S. 163) Gegenüber einem allein auf die Bekenntnisreligion eingeschränkten Begriff von Religion handelt es sich um die »aus der Aufklärung der Bekenntnisreligionen hervorgegangene Stiftung einer Rationalreligion, deren Anhänger an das vernünftige Wort Gottes glauben« und die »als ein eigenständiger Typus europäischer Religio-

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nen genommen werden muß.« (Eßbach 2014, S. 145) Das Proprium dieser natürlichen Religion ist das lumen naturale, das menschliche Vermögen, sich der gottgegebenen Vernunft zu bedienen. Dieses allen Menschen mit ihrem Geborensein gleichermaßen gegebene Geschenk ist die Garantie dafür, dass der Mensch als ein frei handelndes Wesen etwas aus sich machen kann. Unter den Prämissen einer aufklärerischen Rationalreligion kommt es deshalb zu einer Verschiebung von religiöser Dogmatik hin zur Anthropologie: dem Interesse am Menschen, an seiner Bildung und dem Wissen um die Möglichkeiten und Voraussetzungen seiner Selbstregierung. Dazu gehört auf der einen Seite eine »Diskursverknappung bei Aussagen über Gott« und die Zurückhaltung bei öffentlichen Glaubensdemonstrationen, und auf der anderen Seite ein »Diskurs, mit dem das Vertrauen in die der menschlichen Natur innewohnende Tugend und Aufrichtigkeit gestärkt werden konnte.« (Eßbach 2014, S. 238) Keine gesicherte Lehre, sondern das Bemühen um Wahrheit, der Wille zum Wissen ist die Hebamme der Anthropologie. Lessing notiert: »Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit, und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte, und spräche zu mir: wähle! Ich fiele ihm mit Demut in seine Linke, und sagte: Vater, gib! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!« (Lessing 1979, S. 33) Einen besonderen Raum für die Stärkung des Diskurses über den ganzen Menschen eröffnet die Kunst, speziell das Theater als ästhetisch eingehegter Ort des Disputs und der erweiterten Aussagemöglichkeiten. »Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer«, betitelte Goya das 43. Bild seiner »Caprichos«. Um diese Erkenntnis zu gewinnen, muss man, statt in die Kirche, ins Theater gehen, weshalb Lessing nach seinem Streit mit dem Hamburger Hauptpastor Goeze denn auch daran gelegen ist, auf seiner »alten Kanzel, auf dem Theater wenigstens, noch ungestört will predigen lassen«.1

1

Gotthold Ephraim Lessing, Brief an Elise Reimarus vom 6.9.1778, zit.n.: Kommentar zu Lessings Werken, Werke Bd. 9: 1778-1780, S. 734.

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Vier Dramen Lessings interessieren hier, um den rationalreligiösen Weg zum Theater des ganzen Menschen in einer paarweisen Konstellation aufzufalten: zum einen »Die Juden« von 1749 und »Nathan der Weise« von 1779 mit ihrem Bestreben der Bändigung religiöser Streitigkeiten; zum anderen »Der Freigeist« und »Ernst und Falk«, auch jeweils von 1749 bzw. 1778/80, mit ihrer Entfesselung aufklärerischer Disputierlust. Zwischen beiden Paarbildungen stehen Überlegungen zu den Aufgaben des Theaters am Beispiel der »Hamburgischen Dramaturgie«.

Jenseits von Bekenntnissen Lessings frühe Komödie »Die Juden« von 1749 wurde von seinem Freund Christian Nikolaus Naumann zunächst unter dem Titel »Der Jude« als bald erscheinend angekündigt.2 Der Titel legt, auch in seiner Pluralform, Assoziationen an die seinerzeit beliebte sächsische Typenkomödie nahe, in der Figuren mit einer speziellen schlechten Eigenschaft in der Darstellung dieser menschlichen Schwäche dem Lachen preisgegeben werden. Im Vergleich zu deren Muster ist das anthropologische Interesse in »Die Juden« weitaus breiter angelegt und durch einen anderen gedanklichen Hintergrund motiviert. Dem Konfliktpotential, das Offenbarungsreligionen mit ihren divergierenden Glaubensinhalten bergen, wird rationalreligiös der Bezug auf den Menschen gegenübergestellt, der Dank einer göttlichen Gabe mit Vernunft ausgestattet ist, derer er sich grundsätzlich, natürlich auch in Sachen Religion, bedienen soll. Von diesem Begriff des Menschen unterscheidet sich jedoch der ganze Mensch, der, anders als der Mensch mit seinem lumen naturale, kein Ideal ist, sondern in seiner ganzen empirischen Vielseitigkeit gegeben und durchaus aus »krummem Holz« gemacht ist. Im Begriff des Menschen liegt das Vermögen eines Subjekts verkapselt, während der ganze Mensch das Objekt anthropologischen Interesses ist – und nicht nur eine verschrobene Eigenschaft, die zu belachen ist. Im Lichte des 2

S. hierzu den Kommentar zu »Die Juden« in: Lessing: Werke Bd. 1: 1743-17, S. 1152.

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lumen naturale wird die Erkundung des ganzen Menschen zur Sache des Theaters, das anthropo- und psychologisch sein Verhalten, seine Motive, Emotionen oder Überzeugungen dramatisiert. Bezogen auf »Die Juden« geht es nicht um Religionsinhalte, sondern darum, wie sich empirische Menschen zu Religion verhalten – was am »Nathan« anschließend noch ein Stück weitergeführt wird. Das Verzeichnis der dramatis personae von Lessings Komödie nennt Juden weder im Singular noch im Plural, noch finden sich Dialoge zwischen ihnen, die bekenntnisreligiöse Glaubensinhalte betreffen. In dieser Hinsicht scheinen die Juden in »Die Juden« geradezu abwesend zu sein. Sieben Personen bestreiten die Handlung. Der Baron wird in der Nähe seiner Güter von zwei vermummten Räubern (namens Martin Krumm und Michel Stich) überfallen, aus dieser Gefahr von einem Reisenden gerettet, den der Baron zusammen mit dessen Diener Christoph aus Dankbarkeit bei sich beherbergt und den er gern mit seiner damit mehr als einverstandenen Tochter verheiratet sähe, während auf der Dienerseite Christoph und Lisette ein Auge aufeinander werfen. Der Verdacht hinsichtlich der Täter wird von einem der Räuber, der sich wie sein Kompagnon für den Überfall als Jude verkleidet hatte, zunehmend auf die Juden gelenkt, in deren Verachtung sich auch Baron und Dienstpersonal einig sind, um schließlich in der Folge eines Diebstahls des Räubers Krumm an dem Reisenden aufgeklärt zu werden, der notgedrungen am Ende bekennt, er sei Jude, weshalb er die Tochter des Barons – dem damaligen Verbot der Ehe zwischen Christen und Juden entsprechend – nicht heiraten kann. Nimmt man den Titel der Komödie ernst, so sind die Juden allein in der Verkleidung derjenigen anwesend, die keine sind und die vom Hören-Sagen das Bild des Juden für die unter ihrer Maskerade verborgenen Übeltaten in Anspruch nehmen. Der Reisende, der sich in sechzehn von insgesamt 23 Auftritten auf der Szene befindet (die anderen sieben sind dem Dienstpersonal, seinen Verwicklungen und Aufklärungsaufgaben vorbehalten), verkörpert zwar die zentrale Figur, dies aber nicht unter dem Attribut des Juden. Im Blick auf den Plural sind »die Juden« allein in den Bildern und Vorstellungswelten derer, die es nicht sind, »anwesend«, im Blick auf

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die singuläre Person, die ein Jude ist, führt »Die Juden« vor, dass deren Selbstdefinition nicht im Rekurs auf das Jude-Sein besteht. Zwei Aspekte sind, neben der Vorurteilskritik, für das Verständnis dieser Komödie besonders wichtig: die Figur des Reisenden und die Bedeutung einer gestohlenen Tabaksdose.3 Der Reisende erklärt, ausgerechnet im Dialog mit einem der beiden Räuber namens Krumm, die Motive für seine den Baron rettende Tat: »Die allgemeine Menschenliebe verband mich darzu. Es war meine Schuldigkeit, und ich müßte zu Frieden sein, wenn man es auch für nichts anders, als dafür angesehen hätte. Ihr seid allzugütig, Ihr lieben Leute, daß Ihr Euch dafür bei mir bedanket, was Ihr mir, ohne Zweifel, wenn ich in dergleichen Gefahr gewesen wäre, mit eben so vielen Eifer würdet erwiesen haben.« (Lessing 1989 b, S. 451) Als der Baron dem Reisenden seine Dankbarkeit bezeugt, erwidert er: »Aufs höchste bin ich ein Mensch, der seine Schuldigkeit mit Vergnügen getan hat. Die Schuldigkeit an sich selbst ist keiner Dankbarkeit wert. Daß ich sie aber mit Vergnügen getan habe, dafür bin ich genugsam durch Ihre Freundschaft belohnt.« (S. 459) Unmittelbar darauf folgen in beiden Szenen Krumms und des Barons Beschuldigungen und Verachtungen der Juden, auf die der Reisende mit größter Zurückhaltung reagiert und nur bemerkt, er sei »kein Freund allgemeiner Urteile über ganze Völker«. (S. 461) Seine eigenen Urteile sind von Skepsis begleitet, sei es, dass er jemandem »Unrecht täte«, sich irren könnte oder sich im Urteilen »schimpflich übereilt«. (S. 476, 479, 484) Über die am Begriff des Menschen gewonnene Tugendhaftigkeit hinaus ist der Reisende auch in Sachen Literatur überaus gebildet, seine Reisebibliothek »besteht aus Lustspielen die zum Weinen, und aus Trauerspielen die zum Lachen bewegen, aus zärtlichen Heldengedichten, aus tiefsinnigen Trinkliedern, und was dergleichen neue Siebensachen mehr sind« (S. 467) – also aus den Schriften der neuesten Literatur mit ihrer Vorliebe für die Mixtur traditioneller Gattungsordnungen. Insgesamt verkörpert der Reisende eine Figur ohne Fehl und Tadel. Ein zeitgenössischer Rezensent kritisierte an »Die Juden« die »Unwahrscheinlichkeit« dieses Charakters, denn: »Der unbekannte Reisen3

Zu darüber hinausgehenden Aspekten s. Barner 1982.

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de ist in allen Stücken so vollkommen gut, so edelmütig, (…) gebildet, daß es zwar nicht unmöglich, aber doch allzu unwahrscheinlich ist, daß unter einem Volke (…) ein solches edles Gemüt sich gleichsam selbst bilden könne.«4 Juden wird, weil sie Juden sind, jede Bildungsfähigkeit von Seiten des Rezensenten abgesprochen. »Bey den Grundsätzen der Sitten-Lehre, welche zum wenigsten der grosse Theil desselben (Volkes) angenommen hat, ist auch eine allgemeinere Redlichkeit kaum möglich.« In seiner Replik schreibt Lessing, die Überzeugung, wonach »Reichtum, bessere Erfahrung, und ein aufgeklärter Verstand nur bei einem Juden keine Wirkung haben könnten«, sei »eben das Vorurteil (…), welches ich durch mein Lustspiel zu schwächen gesucht habe«, und er fügt im Blick auf den Vorwurf der Unwahrscheinlichkeit hinzu, dass, wäre der Reisende ein Christ, dieser Charakter gleichermaßen »sehr selten sein« würde. (Lessing 1989 c, S. 491 f.) Über eine Kritik an Vorurteilen und Feindschaften zwischen den Anhängern der Offenbarungsreligionen hinausgehend, führt »Die Juden« vor, dass die Juden – wie alle – mit der natürlichen Gabe der Vernunft ausgestattet sind. Lessing verwahrt sich denn auch ausdrücklich dagegen, »die Juden alsdenn bloß als ein unterdrücktes Volk« auf die Bühne zu bringen. (S. 497) Während in der Figur des Reisenden das Prinzip allgemeiner Menschenliebe und mögliche Sittlichkeit verkörpert ist, wird Aufklärung, in diesem Fall einer Übeltat, anläßlich eines gestohlenen Dings zur Sache eines Prozesses, der interpersonal vermittelt ist. Die Dynamik dieses Prozesses entfaltet sich über eine Tabaksdose, die durch viele Hände geht. Unter dem Vorwand, dem Reisenden die Geschicklichkeit eines jüdischen Diebes zu demonstrieren, stiehlt ihm der Räuber Krumm unbemerkt dessen Tabaksdose, schenkt sie in der Hoffnung auf Liebesgewinn weiter an Lisette, die sie ihrerseits für eine Auskunft über die Herkunft des Reisenden wie aus Zuneigung an dessen Diener

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Rezension von Johann David Michaelis in den Göttingischen Anzeigen vom 13.6. 1754, zitiert nach: Kommentar zu »Die Juden«, in: Lessing, Werke Bd. 1, 1743-1750, S. 1246-1249, hier: S. 1248. Die Neigung, den Gläubigen anderer Religionen die Fähigkeit zu aufgeklärter Vernunftfähigkeit abzusprechen, persistiert weit über Lessings Zeiten hinaus.

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weitergibt, der sie nach dem Geständnis seiner für die Dose erfundenen Herkunftsgeschichte seinem Herrn freimütig zurückgibt, woraufhin dieser zur Entgeltung seiner Verdächtigung des Dieners als Dieb ihm das, »was Euch Lisette vorhin hat schenken« wollen, überlässt. (Lessing 1989 b, S. 487) Bemerkenswert an diesem Prozess in der Kombination seiner Elemente ist die Freiheit von aller zielgerichteten Intentionalität oder der regierenden Kraft eines einzigen Prinzips. Man kann nicht einmal behaupten, dass diejenigen, die an ihm beteiligt sind, ihr Handeln programmatisch an einem aufklärerischen Prinzip oder irgendeinem sei es verbindlichen, sei es umstrittenen moralischen Regelkanon orientiert hätten. Abgesehen vom Startpunkt der Dosenwanderung ist bei allen weiteren Stationen, selbst im Falle des Räubers gegenüber Lisette, Zuneigung im Spiel. In Gestalt der Tabaksdose wird ein kostbares Ding, das von Hand zu Hand geht, zum Medium, das Erkenntnis von sich und den anderen bei den handelnden Personen hervor- und das Verbrechen ans Licht bringt. Nimmt man beide Momente, die im Reisenden verkörperte Vernunfttätigkeit und den über die Tabaksdose vermittelten interpersonalen Prozess zusammen, so liegt ihre Gemeinsamkeit darin, dass sich hier keine Thematisierungen bekenntnisreligiöser Inhalte in den Dialogen der Personen finden, die ihr Handeln bestimmen würden; deren Begründungskraft für die Lebensführung des einzelnen tritt ebenso zurück wie ihre Bindungskraft für soziale Kohärenz. Wenn die Tochter des Barons auf den kurzen Satz des Reisenden »Ich bin ein Jude« – mehr als das sagt er nicht über seine Religion – antwortet: »Was hat das zu bedeuten? Deswegen können Sie mich doch wohl nehmen«, und wenn der Diener des Reisenden auf die Frage Lisettes, ob »er wohl gar auch ein Jude« sei, mit dem letzten Satz der Komödie feststellt: »Das ist zu neugierig für eine Jungfer gefragt! Komm Sie nur« (Lessing 1989 b, S. 486, 488), dann werden solche Religionsfragen diskursiv verknappt und zum Geheimnis des Herzens heruntergestimmt. Es gibt eine Reihe von Ähnlichkeiten zwischen Lessings »Die Juden« und dem »Nathan«, zumal, was die jeweilige Hauptfigur betrifft, aber auch die Figuren der Barontochter und Recha oder die Verkörperungen

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religiöser Dogmatik.5 Mit »Nathan« kommen zwei Momente hinzu, die über die Vorurteilskritik hinaus die rationalreligiöse Orientierung auf die Bühne bringen: das Verwandtschaftsprinzip und das religionskritische Betrügertheorem der Ringparabel. Die Personnage des »Nathan« ist mit ihren Angehörigen der drei monotheistischen Religionen bemerkenswert überschaubar: Sultan Saladin, seine Schwester Sittah und der Derwisch, die für den Islam stehen; der junge Tempelherr, der Patriarch von Jerusalem, ein Klosterbruder sowie die im Hause Nathans lebende Daja auf Seiten des Christentums; schließlich der Jude, der dem Stück den Titel gibt; dessen Pflegetochter Recha könnte eine Jüdin sein, weil sie von ihrer Gesellschafterin Daja bekehrt werden soll. Das Handlungsgerüst, angesiedelt im Jahre 1192 während des Waffenstillstands nach dem dritten Kreuzzug, ist ebenso überschaubar. Nach einer Geschäftsreise zurückkehrend, erfährt Nathan von Rechas Rettung vor dem Feuertod durch einen vom Sultan gerade begnadigten Tempelherren, der trotz seiner Schroffheit schließlich den Dank für seine Tat und die Freundschaft Nathans wie seine Zuneigung zu Recha anerkennt. Nathan erfüllt die Bitte des Sultans um Hilfe aus seinen Geldnöten – und damit könnte das Stück ein gutes Ende nehmen, wäre aber übergebührlich mit einer solchen Skizze verkürzt. Die Dynamik dieses »Gedichts«, dem das Attribut »dramatisch« beigegeben ist, liegt weniger in der äußeren Handlung als vielmehr in den von den verschiedenen dramatis personae bei sich selber vollzogenen Erkenntnisprozessen und dem Austausch darüber. Die Personen sind, zunächst ohne dies zu wissen, miteinander eng verbunden. Es gibt drei Schlüsselszenen mit Ähnlichkeitserfahrungen, die sich geradezu einem physiognomischen Blick à la Lavater verdanken und die mit Erinnerungen an abwesende Personen verbunden sind, die im Drama deshalb auch eine wesentliche Rolle spielen. Der Sultan entdeckt im Gesicht des

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Lessing schreibt am 11. August 1778, also noch vor dem Erscheinen des »Nathan«, er habe vor vielen Jahren schon ein Schauspiel entworfen, das nun erscheinen solle, und damals, zur Zeit der Abfassung von »Die Juden«, Boccaccios »Dekamerone« gelesen. Für Kant war der »Nathan« der zweite Teil der »Juden«. S. Niewöhner 1988, S. 30, 55.

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Tempelherren Ähnlichkeiten mit seinem Bruder Assad. Nathan findet sie zwischen dem Tempelherren und seinem alten Freund Wolf von Filneck. Schließlich bestehen Ähnlichkeitsahnungen zwischen Recha und dem Tempelherren. Das Ergebnis der fortschreitenden Aufklärung ist die Rekonstruktion eines Stammbaumes. Die zentrale Figur ist Wolf von Filneck, der auch Assad heißt, ein Freund Nathans war, Bruder von Saladin und Sittah ist und als Muslim mit Frau von Stauffen, einer Christin, zwei Kinder hat, Blanda und Leu von Filneck, die identisch mit Recha und dem Tempelherren sind. Sittah und Saladin sind also Tante und Onkel von Blanda/Recha und Leu/dem Tempelherren. Leu wurde vom Bruder der Frau von Stauffen, ebenfalls ein alter Freund Nathans, erzogen, Blanda kam über den Klosterbruder, der das Kind aus den Wirren des Kreuzzuges gerettet hatte, zu Nathan, der seinerseits freundschaftliche Beziehungen zu Christen und Muslimen pflegt und über den es heißt: »Jud’ und Christ/Und Muselmann und Parsi, alles ist/Ihm eins« (Lessing 1993, S. 524) – alles in allem ein in allseitiger Umarmung endendes Stück, das die Züge einer Komödie trägt. Die doppelstöckige Struktur der Komödie als Verarbeitungsform der Tragödie6 wird im »Nathan« allerdings noch einmal potenziert. Zur überschaubaren Personnage und Handlung kommt die Schicht der Verwandtschaftlichkeiten hinzu, und diese Schicht wird mit der Parabel, plaziert in der Mitte des Stücks, auf eine religionskritische Ebene verschoben, sodass die internen Verweisstrukturen zwischen den Ebenen – wie im Falle eines Spiels im Spiel – die Stillstellung der Reflexion auf einer Ebene verhindern, um sich stattdessen gegenseitig zu kommentieren. In der komödiantischen Befriedung des bekenntnisreligiösen Krieges über Verwandtschaftsbeziehungen und den Rekurs auf den Stammbaum liegt zugleich eine Umdeutung, die auf die noachidische Religion als lex naturalis verweist, wie sie Lessing, nicht zuletzt über die von ihm

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S. Simon 2001. Gegenüber der Tragödie habe die Komödie »den Vorteil einer größeren Problemlösungskompetenz«, sie »ist Beobachtung der Tragödie«, ihre durch Metahandlung geschichtete Struktur erlaubt Reflexion und Distanz gegenüber dem Sog des Tragischen (S. 54 f.).

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herausgegebenen Schriften von Hermann Samuel Reimarus und die Bezüge auf Uriel da Costa bekannt war.7 Der Gedanke ist von bestechender Einfachheit: Wenn es den gegründeten Offenbarungsreligionen nicht gelungen ist, miteinander in Frieden zu leben, so dürfte dies von einer vierten kaum zu erwarten sein, weshalb sich die Frage nach einer vor diesen Religionen liegenden anderen, ursprünglichen Religion, die auch heute noch Gültigkeit haben könnte, stellt. Hierfür steht die noachidische Religion. Nachdem die von Adam und Eva abstammende Menschheit in der Sintflut vernichtet wurde, ist es allein Noah und seinen Söhnen Sem, Ham und Japhet aufgegeben, für ihren zweiten Neuanfang zu sorgen, was deshalb ganz in ihrer Hand liegt, weil Gott versprochen hat, demnächst von solch strafendem Gericht Abstand zu nehmen. Die noachidischen Gesetze dieses Neuanfangs »bestehen in sechs Verboten und einem Gebot. Die Verbote sind außer der Lästerung Gottes und dem Götzendienst: Blutschande, Mord, Raub und Genuss eines Gliedes von einem lebenden Wesen. Und das Gebot betrifft die Einsetzung von Gerichten. Es sind also, abgesehen von der Sicherung des Monotheismus im Lande gegen die Verführung durch den Götzendienst und durch Gotteslästerung, nur Gebote der Sittlichkeit, die vom Noachiden gefordert werden. Der Glaube an einen jüdischen Gott wird nicht gefordert.« (Cohen 1929, S. 142) Dieses minimalistische Gesetzesprogramm kommt ohne alle Darbietungen öffentlich vollzogener Riten oder Bekenntnisse aus, es geht stattdessen hinter die Bekenntnisreligionen zurück, um die Verwandtschaftlichkeit aller Brüder und Schwestern im Geiste einer ihnen innewohnenden natürlichen Religion vernünftiger Sittlichkeit, die das natürliche Gefühl einschließt, an ihre Stelle zu setzen. Den Weg vom göttlichen zum natürlichen Gesetz

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Dort »feiert Reimarus auch die noachidischen Gesetze als den ›kurzen Inbegriff der vernünftigen Religion und des Naturgesetzes‹«; er »hat wenigstens einen Traktat De tribus Impostoribus gekannt«, und Lessing hatte aus dessen Bibliothek ein Manuskript erhalten. Niewöhner 1988, S. 323 ff. Reimarus beruft sich ebenso auf den jüdischen Philosophen Maimonides, auf dessen Schriften in Lessings 1747 erschienenem Lustspiel »Der junge Gelehrte« in der ersten Szene des ersten Aktes verwiesen wird.

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haben die Figuren im »Nathan« in dem Moment beschritten, in dem sie Ähnlichkeiten entdecken und ihnen aus dem Gesicht des anderen eine Verwandtschaftslehre entgegenleuchtet; so wäre dann statt Krieg »Die Liebe zu gewärtigen, womit/Der Schöpfer Mann und Männin ausgestattet!« (Lessing 1993, S. 517) Man wird sich fragen können, warum Lessing seinen Nathan die Ringparabel, die zum Gemeingut von Interpretationen geworden ist8 , überhaupt noch hat erzählen lassen. Die vertraute Seite der Ringparabel ist ihr Toleranzgebot, versinnbildlicht in den kostbaren Ringen mit ihren Zauberkräften, die wegen der unmöglichen Diagnose der (Un-)Echtheit einander gleichgeordnet sind. Die weniger vertraute Seite liegt im Betrugstheorem. Es ist »keine Erfindung der Aufklärungszeit«. (Nisbet 1984, S. 227) Lessing greift mit seiner Parabel eine alte Erzählung auf, die ins 12. Jahrhundert zu den Schriften des Maimonides (der u.a. Hofarzt des Sultans Saladin in Ägypten war) führt und die des Weiteren mit Namen wie Boccaccio, Friedrich II, Uriel da Costa, Spinoza und etlichen anderen verbunden ist und auf ein religionskritisches Gedankengut verweist, das unter dem Titel, besser: Topos »De tribus Impostoribus« die Zeitgenossen seit dem Mittelalter beschäftigt hat. Der Topos von den drei Betrügern, womit Moses, Jesus und Mohammed gemeint sind, ist eher als klandestine, aus islamisch-jüdischen Quellen stammende

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So z.B. der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizäcker anläßlich des 275. Jahrestages von Lessings Geburtstag. Mit »Nathan« eröffnete das deutsche Theater nach 1945 wieder seine Pforten. Lessing konnte »zum Zeugen des ›anderen Deutschlands‹ avancieren«; »›Botschaft der Toleranz‹, ›Lehrstück‹ – das sind die Worthülsen und Schablonen: in der Theaterrezeption des ›Nathan‹ sind sie allgegenwärtig«, so Stadelmaier 1980, S. 101, 108. Ausführlich zur Rezeption Lessings: Steinmetz 1969; in der Einleitung (S. 13-35) ein instruktiver Überblick über wiederkehrende Muster der Lessing-Darstellungen. »Die in Deutschland durchweg gängige Vorstellung vom Dichter verbindet sich mit Attributen wie Gefühl, Gemüt, Vision, Tiefe, Seele, Innerlichkeit, Einfalt. Wie wenig ist davon bei Lessing zu erkennen!« (S. 22)

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Denkfigur anzusehen; nach einem realen Buch dieses Titels mit einem definitiven Verfasser wurde eher gefahndet als dass es vorlag.9 In Lessings Parabel wird der Vater zum ersten Betrüger gemacht, indem er falsche Ringe für echte ausgibt – eine Verschiebung gegenüber dem überlieferten Topos, denn während »im Schrifttum ›De tribus Impostoribus‹ die drei Religionsstifter immer belastet werden, werden sie in Lessings Parabel entlastet – doch zu Lasten Gottes.« (Niewöhner 1988, S. 53) Die zu Betrogenen gemachten Söhne allerdings werden ihrerseits zu Betrügern durch eine Beweisführung des Richters. Da man sagt, »der rechte Ring/Besitzt die Wunderkraft beliebt zu machen«, fragt er: »Nun; wen lieben zwei/Von euch am meisten?«, erhält als Antwort nur ein Schweigen und urteilt daraufhin: »O so seid ihr alle drei/Betrogene Betrieger!« (Lessing 1993, S. 558 f.) Am Glauben an die Kraft des rechten Ringes festhaltend, überspringen die drei Brüder kontrafaktisch ihr eigenes Wissen und die Erkenntnis, die aus dem Prozess der richterlichen Beweisführung und der Reflexion auf das eigene Verhalten hervorgeht. Diese Wendung geht deutlich über die verbreitete Priestertrugsthese, wonach die Gläubigen von Religionsvertretern bewusst und willentlich getäuscht werden, hinaus, weil jeder der drei Vertreter der Offenbarungsreligionen in der Parabel tatsächlich an den einen rechten Glauben glaubt, obwohl sich ein solcher nicht erweisen ließ und erweisen lässt. In der Paarung von Betrug und Toleranz, wie sie Lessing in der Parabel ausgearbeitet hat, zeigt sich, dass Toleranz das Ergebnis der Erkenntnis eines vorgängigen Betruges ist. Nathan hat sich mit dieser Geschichte aus einer prekären Lage bekenntnisreligiöser Herausforderung durch den Sultan gerettet – eine Herausforderung, die an jeden bekenntnisreligiösen Gläubigen ergehen

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Ausführlich zur verschlungenen Rezeptionsgeschichte: Friedrich Niewöhner 1988 sowie Nisbet 1984. Zwar machten »seit dem Spätmittelalter (…) Gerüchte die Runde, Handschriften des Traktats seien gesichtet worden«, doch: »Die erste zweifelsfreie Bezeugung von De tribus impostoribus stammt aus dem Jahre 1688.« Der Verfasser des lateinischen Textes ist der Hamburger Jurist Johann Joachim Müller; eine Übersetzung des Traktats (Berlin 1761) stammt von Johann Christian Edelmann, so Schröder 1999, S. 10,13.

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und auf den ersten Blick von jedem auch in dieser Form gekontert werden könnte. Warum legt Lessing die Parabel einem Juden in den Mund? Hier geht es um die theologische Fundierung rationalreligiöser Überwindung des Religionsstreits und um die Zukunft der Vernunft. »Nur ein Jude kann die Ringparabel erzählen, weil nur ein Jude glaubt, daß das Kommen des Messias noch aussteht. Der Christ, der glaubt, daß Jesus der Messias sei, kann die Parabel nicht erzählen, weil er durch diesen Glauben schon ›festgelegt‹ ist. Er lebt nicht in der Vorläufigkeit auf das Ereignis, in dem sich die Wahrheit ereignet, sondern er ›hat‹ diese Wahrheit schon.« (Niewöhner 1988, S. 266) Was den Islam betrifft, so sorgt das Siegel des Propheten für die Beendigung jeder Vorläufigkeit.10 Messianische Erwartung provoziert Skepsis gegenüber jedem abgeschlossenen religiösen Vokabular und einer »Realpräsenz« von Gewissheit, sie ruft den kritischen Geist der Vernunft gegen mögliche Betrügereien wach. Nathans Rettung aus seiner misslichen Lage vollzieht sich durch einen Platzwechsel der Rede: von institutionalisierter bekenntnisreligiöser Redeordnung zu einer literarischen Weise des Aussagens, oder, mit Lessing: von der Kanzel zum Theater.

Dramaturgie des ganzen Menschen In den ersten Stücken der 1767 bis 1769 als Rezensionszeitschrift des Hamburger Theaters erschienenen »Hamburgischen Dramaturgie«, die sich zunehmend zu grundsätzlichen dramentheoretischen Überlegungen auswachsen wird, findet sich ein unmissverständlicher »Rat: – man ließe alle bisherige christliche Trauerspiele unaufgeführet.« (Lessing 1985, S. 193) Anlaß dieses Rats ist die Tragödie »Olint und Sophronia« von Johann Friedrich von Cronegk, der eine »kleine rührende Erzehlung« aus Tassos »Gerusalemma liberata« zugrundeliegt. Anders als bei Tasso

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Dass »Lessing den Islam womöglich am nächsten an einem intendierten natürlichen Religionsverständnis wähnt« (Schmaus 2020, S. 176), dürfte angesichts der theologischen Grundierung der Rationalreligion mit einem Fragezeichen zu versehen sein.

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ist, so moniert Lessing, »die Religion (…) in Cronegks Bearbeitung das Hauptwerk geworden«, ihre Titelhelden »haben nichts als das Märtertum im Kopfe«. (Lessing 1985, S. 188 f.) Das ist nicht viel, und dies Wenige passt allenfalls zu jenen »schwächern Gemütern (…), die, ich weiß nicht welchen Schauder empfinden, wenn sie Gesinnungen, auf die sie sich nur an einer heiligen Stätte gefasst machen, im Theater zu hören bekommen.« Der Idee eines Stückes, »in welchem einzig der Christ als Christ uns interessiert«, setzt Lessing die rhetorische Frage entgegen: »Ist der Charakter des wahren Christen nicht etwa ganz untheatralisch?« (S. 193) Zum Theater gehört Gesinnungslosigkeit im präzisen Sinne der Abwesenheit feststehender Dogmen oder allgemeiner moralischer Maximen, weil die in dramatische Form gebrachten Aussagen an personale Handlungslogiken und interpersonale Konfliktdynamiken rückgebunden sind und darin keinen allgemeinen Charakter haben können. Die »Gesinnungen müssen in dem Drama dem angenommenen Charakter der Person, welche sie äußert, entsprechen; sie können also das Siegel der absoluten Wahrheit nicht haben; genug, wenn sie poetisch wahr sind, wenn wir gestehen müssen, daß dieser Charakter, in dieser Situation, bei dieser Leidenschaft, nicht anders als so habe urteilen können.« (S. 195 f.) Statt einen (Ideal-)Typus, sei es in Gestalt des Guten oder des Bösen, auf die Bühne zu bringen, plädiert die »Hamburgische Dramaturgie« für eine »Vermischung der Leidenschaften, welche mit der vornehmsten oder herrschenden Leidenschaft zusammen den menschlichen Charakter ausmachen; und diese Vermischung muß sich in jedem dramatischen Gemälde von Sitten finden, weil es zugestanden ist, daß das Drama vornehmlich das wirkliche Leben abbilden soll.« »Und das heißt denn«, so Lessing weiter, »die Natur schildern, welche uns kein Beispiel von einem Menschen giebt, der ganz und gar in eine einzige Leidenschaft verwandelt wäre.«11 Einheit des Mannigfaltigen, Absage an den eindimensionalen Menschen: dies gilt auch für die Schauspielkunst selbst, deren Aufgabe in der »Mischung von Feuer und Kälte« und dem gegenläufigen Wech11

Lessing, 1985, S. 641 f. S. auch 69. Stück. Später werden Psychologie und Psychoanalyse die Pathologie entmischter Leidenschaft behandeln.

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sel zwischen Raisonnement und Affekt besteht. (Lessing 1985, S. 200 f.) Die theatrale Wirkungsästhetik der Mischungen als Sozialisationskonzept für Verstand und Emotion umfasst über die Konzeption der Dramen hinaus auch die Modalitäten ihrer Darstellung durch die Akteure auf der Bühne. Moralcodices sind als Regulative solcher Moderierung höchst unzureichend. Obwohl Lessing das Theater als »die Schule der moralischen Welt« bezeichnet (S. 192), handelt es sich um alles andere als ein Theater, aus dem sich allgemeine moralische Maximen mit nach Hause tragen lassen sollten.12 Anlässlich der Rezension eines Stückes, dessen Prolog das Schauspiel zu einem »Supplement der Gesetze« gemacht hat, insistiert Lessing auf dem gesetzlosen Raum des Theaters, denn es sei »doch unstreitig, daß das Schauspiel überhaupt einen Vorwurf entweder diesseits oder jenseits der Gesetze wählet, und die eigentlichen Gegenstände desselben nur in so fern behandelt, als sie sich entweder in das Lächerliche verlieren, oder bis in das Abscheuliche verbreiten.« (S. 217) Im Außerhalb der Gesetze etabliert das Theater ein Gesetz: die Verpflichtung, im Namen des Menschen als dem Referenzpunkt der Rationalreligion dem Publikum im geschützten Raum der Fiktion den ganzen Menschen in seiner empirischen Gestalt vor Augen zu führen; seine »schulische« Aufgabe ist Menschenkenntnis zur Beförderung einer verfeinerten Moralität. Die Figur eines großen, außergewöhnlichen Helden kann zu einer Mischungsdramaturgie des empirischen Menschen kaum passen, weil diese ihre Kraft aus »unserer Ähnlichkeit mit der leidenden Person«, die wir auf der Bühne sehen, bezieht. (Lessing 1985, S. 556) In den vielzitierten Abschnitten 74 bis 78 der »Hamburgischen Dramaturgie«, in denen die Auseinandersetzung mit Aristotelesʼ Tragödienkonzeption geführt wird, begegnet das Ähnlichkeitspostulat wieder, das im »Nathan« auf

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Der Beifall, mit dem Sentenzen wie: »Wer schlimm von andern denkt, ist selbst ein Bösewicht« oder »Der Himmel kann verzeihn, allein ein Priester nicht« vom Publikum aufgenommen wurden, weil man denken könne, »man liebt hier die Moral«, erscheint Lessing, wie die Sentenzen selbst, »schielend«, »falsch«, »anstößig«. Lessing 1985, S. 195. Bekanntlich eignet sich Schiller besser für Maximenbergbau.

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einer anderen Ebene eine Rolle spielte. Während in der antiken Tragödie der mit dem Einbruch übermächtiger Gewalten verbundene Schrecken die schicksalsgebundenen Taten eines unerhörten Helden herausfordert, der kaum unser Nachbar sein könnte, geht es nun darum, dass der Dichter »ihn mit uns aus gleichem Schrot und Korne schildere«. Der große antike Schrecken wird herabgemildert zur Furcht, »daß unser Schicksal gar leicht dem seinigen eben so ähnlich werden könnte, als wir ihm zu sein uns selbst fühlen« – weshalb denn auch die Furcht »das auf uns selbst bezogene Mitleid« ist, seinerseits eine »vermischte Empfindung«. (S. 559, 557, 563) Hannah Arendt hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Lessingsche Umdeutung des aristotelischen phobos zu Furcht als einer »Abart des Mitleids« sich einem »gesteigerte(n) Realitätsbewußtsein« verdankt und den Eindruck hervorruft, »als sollte hier die Weltflucht der Furcht rückgängig gemacht werden, um auch sie noch als Leidenschaft zumindest zu retten, als einen Affekt nämlich, in dem wir von uns selbst so affiziert sind wie sonst von anderen Menschen in der Welt.« (Arendt 1969, S. 487 f.) Es liegt in der Konsequenz dieser Wirkungsästhetik, dass jeder das Theater voraussetzungslos und unvorbereitet besuchen kann, weil zum einen die Fähigkeit des Mitleids einem jeden eignet und zum anderen die »Umstände« der Figuren der Dramen »den unsrigen am nächsten kommen« sollen. (Lessing 1985, S. 251) Anders als im höfischen Theater, dessen Publikum in den Grenzen seines Standes mit dem kanonischen Fundus der Tradition gebildet ist, geht es hier um ein zu bildendes Publikum, dem im Moment der Rezeption das gegeben werden muss, was es zum Verständnis des theatralen Geschehens braucht. Plötzliche Überraschungen, undurchschaubare Verwicklungen sind hier nur störend, stattdessen, so zitiert Lessing den geschätzten Diderot: »Für den Zuschauer muß alles klar sein. Er ist der Vertraute jeder Person; er weiß alles was vorgeht, alles was vorgegangen ist«; und es mag sogar sein, dass »die Personen alle einander nicht kennen, wenn sie nur der Zuschauer alle kennet.« (S. 420) Man wird in diesem Konzept, wonach für das Pu-

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blikum alle Verständnishindernisse aus dem Weg geräumt werden, die Geburtsstunde der voraussetzungslosen Kunstrezeption sehen dürfen.13 Wenn der Theaterbesucher in rezeptionsästhetischer Hinsicht keine Voraussetzungen mitbringen muss, so gehört zum Theater selbst eine andere Voraussetzungslosigkeit, die die Vernunfttätigkeit moderiert: die Aufkündigung eines präskribierten Denksystems und des Ideals der Widerspruchslosigkeit mit sich selbst. Die »Hamburgische Dramaturgie« soll »nichts weniger als ein dramatisches System enthalten«, ihre Blätter sind »nichts als Fermenta cognitionis«, deren Gedanken sich durchaus »widersprechen« können. (Lessing 1985, S. 655) Eine solche Voraussetzungslosigkeit mit ihrem Systemvorbehalt setzt das Denken in Bewegung, verwandelt es in einen Prozess der Auseinandersetzung, der ein doppeltes Objekt hat, weil es sich auf die Vorstellungswelten anderer wie auf die eigenen bezieht und noch »mißtrauischer gegen alle ersten Gedanken« ist, als es »der alte Shandy« des Lawrence Sterne gewesen ist. (S. 681) Gerichtet gegen den Geniegedanken von der prometheischen Schöpferkraft eines selbstherrlichen Subjekts wie gegen die einsetzende »Bewegung« des Sturm und Drang notiert Lessing – gerade auch im Blick auf sein literarisches Werk –, »daß ich es einzig und allein der Critik zu verdanken habe«. Wenn hier von »Critik« die Rede ist, so ist darunter nicht ein mit diesem Wort häufig verbundener Gestus zu verstehen, der darauf zielt, das Objekt der Beurteilung in seiner Nichtigkeit bloßzustellen. Zur »Critik« gehört es, so heißt es an der zitierten Stelle weiter, »fremde Schätze bescheiden zu borgen, an fremdem Feuer mich zu wärmen, und durch die Gläser der Kunst mein Auge zu stärken.« (S. 680) In der »Hamburgischen Dramaturgie« hat die »Critik« mit ihrem dialogischen Verfahren und dem »Wildern« in fremden Gärten, das immer wieder andere Autoren zu Wort kommen lässt, als Theaterkritik ihre Form gefunden. Neben dieser Kritik am Theater steht für Lessing die Kritik auf dem Theater, in den Stücken selbst, denn es ist die theatrale Gattung, die sich vornehmlich dazu eignet, 13

In den Produkten der Unterhaltungsindustrie werden sich später etliche Elemente, von der Vermischung der Leidenschaften über das einfühlende Mitleidskonzept bis zum bedingungslosen Konsum, trivialisiert wiederfinden.

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den Dialog, das Gespräch mit anderen bis hin zum formgebundenen polemos gegen die festen Stellungen des Denkens im öffentlichen Raum verflüssigend in Szene zu setzen.

Ein Wort gibt das andere Am Beispiel von Lessings frühem Lustspiel »Der Freigeist« und »Ernst und Falk. Gespräche für Freimäurer« von 1779 lässt sich zeigen, wie hier eine aufklärerische Disputierlust zum Zuge kommt, die über die thematische Bindung an die bekenntnisreligiöse Problematik deutlich hinausreicht und den Verstand ebenso in Bewegung setzt wie die Emotionen, um den Wechsel zwischen Raisonnement und Affekt (Lessing 1985, S. 200) auf die Bühne zu bringen. Das Spiel mit Polaritäten und ihre Verarbeitung lässt sich am besten über eine Strukturanalyse erschließen, denn was den Handlungsplot angeht, so geschieht nicht sonderlich viel, in »Ernst und Falk« noch weniger als in »Der Freigeist«. In »Der Freigeist« liegen Heiratspläne klar auf der Hand. Juliane, eine ernste und gewissenhafte Person, ist dem Theologen Theophan versprochen, ihre Schwester Henriette, lustig und leichtfertig, dem Adrast, einem rationalistischen Kritiker des Klerus, der dem Temperament Henriettes harmoniert – also Ehestiftung aus dem Geist charakterlicher Ähnlichkeit. Anstelle der projektierten Separierung von Gegensätzlichkeiten in je für sich bestehende homogene Einheiten (»Blasen«, könnte man heute sagen) entfaltet sich im Stück ein Spektrum von Polaritäten. Zwei Szenen sind hierfür exemplarisch: die erste Szene des ersten Akts, der mit dem Disput zwischen Theophan und Adrast startet, und die parallel komponierte Szene des zweiten Akts, in der die Schwestern miteinander streiten. Mit Adrast und Theophan stehen sich ein Freigeist und ein Mann des Glaubens gegenüber, eine Unversöhnlichkeit von Positionen, wie sie auch von den Zeitgenossen wahrgenommen wurde. Wie sich im Verlauf des Streitgesprächs herausstellen wird, gibt es weder auf der einen noch auf der anderen Seite die Kohärenz einer geschlossenen Argumentation, sondern Austauschprozesse zwischen polaren Struktu-

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ren und Argumentationen. Theophan trägt seinem künftigen Schwager zum wiederholten Male die Freundschaft an und wird erneut zurückgewiesen in einem Disput, bei dem es um die Gegenüberstellung von Herz und Verstand als verschiedenen Grundlagen einer möglichen Freundschaft geht. Theophan insistiert gegenüber Adrast: »Ihr Herz also, ist das beste, das man finden kann. Es ist zu gut, Ihrem Geiste zu dienen, den das Neue, das Besondere geblendet hat«. Dass Adrast ein »Freidenker, starker Geist, Deist« ist, sogar »ein Ungeheuer, es ist die Schande der Menschheit«, wie Theophan in aller »Freimütigkeit« sagt, ist dennoch von geringerem Gewicht als eben jenes Herz, »welches unendlich besser ist, als es Ihr Witz, der sich in gewisse groß scheinende Meinungen verliebt hat, vielleicht wünschet.« Adrast sieht in der Referenz auf Herz nichts als »Schwachheiten«: »Ich hasse die Lobsprüche, Theophan, und besonders die, welche meinem Herze auf Unkosten meines Verstandes gegeben werden.« (Lessing 1989 a, S. 364 f.) Das Lob des Herzens seitens des Theologen erscheint stattdessen als eine Unaufrichtigkeit, eine Verstellung angesichts seiner Verachtung von Freidenkern – als ein »Geschwätze«. (S. 368) Der Disput läuft darauf hinaus, dass dem anderen gegenüber jeweils das gelobt und betont wird, was dieser nicht schätzt. Lessing hat die Szene nicht in der Stillstellung dieser Fronten zwischen Theologen und Freidenker belassen. Im weiteren Streit um die Basis einer möglichen Freundschaft geraten sie durcheinander. Während der Theologe auf der christlichen Lehre »zu einer Freundschaft gegen die ganze Welt« besteht, ist dem Freidenker »nichts Freundschaft, als jene Übereinstimmung der Temperamente, jene angeborene Harmonie der Gemüter, jener heimliche Zug gegeneinander, jene unsichtbare Kette, die zwei einerlei denkende, einerlei wollende Seelen verknüpfet«. Adrast findet sich unversehens auf der Seite derjenigen wieder, die die natürliche Harmonie der Gleichgestimmtheit des Herzens zum sozialen Regulativ machen. Theophan, der Mann des Herzens, insistiert auf einer »edlere(n) Freundschaft (…), welche jenes blinden Hanges, den auch die unvernünftigen Tiere nicht missen, entbehren kann«, die »sich nicht von der Natur lenken läßt, sondern welche die Natur selbst lenket«. (Lessing 1989 a, S. 367 f.) Die feste Stellung der Unterschiede wird entmach-

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tet, wenn der Theologe sich auf Vernunft, der Freigeist auf Natur bezieht und die zum jeweiligen »Typus« gehörenden Eigenschaften im streitbaren Austausch der Worte vertauscht werden. Die Handlungsführung der Komödie wird schließlich darauf hinauslaufen, dass es statt des ursprünglichen Heiratsplanes zum Frauen- bzw. Männertausch kommt. In der ersten Szene des zweiten Akts ist es der Disput zwischen den beiden Schwestern, der diesen Prozess dynamisiert. Der Streit verschiebt sich von Fragen einer möglichen Freundschaft zu solchen der möglichen Liebe, wobei die strukturelle Ähnlichkeit zwischen beiden Szenen genau darin besteht, dass auch hier Wertschätzungen und Abneigungen die Ordnung der Polaritäten so durchkreuzen, dass sich jede Figur auf der anderen Seite wiederfindet. Die Schwestern führen eine »neue Art Zanks«, indem sie nicht die Vorzüge des eigenen künftigen Ehemannes, sondern die des der Schwester zugedachten und die Schwächen des eigenen herausstellen. Juliane, die Theophan heiraten soll, nennt Henriettes zukünftigen Mann Adrast den »wohlgemachtesten Mann« und »macht ihren armen Theophan herunter, als wenn es ein kleines Ungeheuer wäre.« Henriette, die Adrast heiraten soll, erklärt: »Was für ein Stolz, was für eine Verachtung aller andern blickt dem Adrast aus jeder Miene? (…) Dein Theophan hingegen hat das liebenswürdigste Gesicht von der Welt.« (Lessing 1989 a, S. 379 f.) Diese »neue Art Zanks« gewinnt ihre besondere Dramatik dadurch, dass die Kritik, die jede der beiden Schwestern an den ihnen jeweils zugedachten Ehemännern übt, eine Kritik an eben dem Mann ist, dem jeweils die tatsächliche Liebe der anderen Schwester gilt. Am Ende der Komödie, in der auch noch ein uneingelöster Wechsel eine Rolle spielt, wechseln die Paare ihre Partner und der Vater als Ehestifter seiner beiden Töchter erklärt: »Ich wollte jedem zu seinem Rocke egales Futter geben; aber ich sehe wohl, euer Geschmack ist bunt. Der Fromme sollte die Fromme, und der Lustige die Lustige haben: nichts; der Fromme will die Lustige, und der Lustige die Fromme.« (S. 443) In »Der Freigeist« führt Lessing vor, dass das soziale Regulativ für Bindungen zwischen Menschen nicht die Gleichgesinntheit in Sachen des Denkens, Glaubens oder Charakters, die natürliche Harmonie ist, sondern die Möglichkeit ihrer Verbindungen auf der Anerkennung und

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der Attraktion ihrer Unterschiedlichkeit basiert. In der gezähmten Agonalität des Disputs liegt das Potential, Polaritäten zu verarbeiten, die hier in komödiantischer Versöhnung enden. Den Titel »Der Freigeist« wird man schwerlich kurzerhand Adrast auf den Leib schreiben können – auch wenn er karikaturhafte Züge eines starrsinnigen Exemplars seiner Gattung trägt. Weitaus eher dürfte der Freigeist als ein Ideal der Beweglichkeit des Denkens und Argumentierens zu verstehen sein, das in die festen Stellungen geglaubter Überzeugungen interveniert und bekenntnisreligiöse Fixierungen distanziert. Wenn wir, dieses Kapitel abschließend, »Ernst und Falk«, die »Gespräche für Freimäurer«, heranziehen, um der aufklärerischen Disputierlust und ihrem Räsonnement ein besonderes Gewicht zu verleihen, so nicht, um gegenüber dem im »Freigeist« gezeichneten Bild eines Freidenkers eine »wahrere« oder andere Freimaurerei zu konturieren (was auch eine lohnenswerte Aufgabe wäre), sondern um der Bedeutung und den Gründen dieser Debattenlust eine weitere Dimension hinzuzufügen. Es geht in »Ernst und Falk« so wenig um Glaubensinhalte wie im »Freigeist« – aber auch hier ist eine Antwort auf die Religionsproblematik zu finden. Von seiner Form her liegt der Text mit seinen beiden Sprechern vor der Erfindung des eigentlichen Theaters mit der Einführung eines dritten Schauspielers; er steht eher den sokratischen Dialogen nahe, geleitet, so Lessing in seiner »Duplik«, von dem »einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit«. (Lessing 1979, S. 33) Aber er verkündet keine Wahrheiten oder Gewissheiten. In der »Vorrede eines Dritten« zu »Ernst und Falk« verweist Lessing darauf, dass es »viele und gute Christen gegeben hat, die ihren Glauben auf eine verständliche Art weder angeben konnten, noch wollten« (Lessing 2001, S. 12) – eine antidogmatische Parallelaktion zur nachfolgenden Freimaurer-Debatte. Das Gespräch wird eröffnet mit der Frage Ernsts an Falk, ob dieser ein Freimaurer sei. Statt ein Bekenntnis abzulegen, antwortet Falk: »Die Frage ist eines der keiner ist« und fügt hinzu, er »glaube es zu sein«. Auf Ernsts Einwand, er müsse »ja wohl wissen, ob und wenn und wo und von wem du aufgenommen worden«, lautet die Replik: »Das weiß ich allerdings; aber das würde so viel nicht sagen wollen«. Nach der erstaunten Rückfrage Ernsts: »Nicht?« fügt er hinzu: »Wer nimmt nicht auf, und wer

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wird nicht aufgenommen!« (Lessing 2001, S. 14 f.) Die Antworten fallen ausweichend aus, zweifelhafte Ausdrucksweisen stehen anstelle inhaltlicher Gewissheiten, bis hin zu rätselhaften und paradoxalen Antworten, etwa auf die Frage nach den »guten Taten« der Freimaurer, wenn Falk erklärt: »die wahren Taten der Freimäurer zielen dahin, um größten Teils alles, was man gemeiniglich gute Taten zu nennen pflegt, entbehrlich zu machen.« (S. 21) Die Art, wie das Gespräch geführt wird, unterminiert die Produktion feststehender Gewissheiten. Ernst entzieht sich dem nicht, lässt sich auf Diskussionen, Zweifel, Reflexion und Widersprüche ein. Im zweiten, umfangreichsten Gespräch, in dessen Zentrum weniger die Freimaurerei, sondern die »Welt« in Gestalt der »bürgerlichen Gesellschaft« steht, wird entwickelt, wie diese Gesellschaft entgegen ihrer Absicht, Menschen zu vereinigen, stets neue Trennungen erzeugt – auf der Ebene der Staaten, der Religion und der Stände, sodass »nicht mehr ein bloßer Mensch einem bloßen Menschen, die vermöge ihrer gleichen Natur gegen einander angezogen werden, sondern ein solcher Mensch (…) einem solchen Menschen (begegnet), die ihrer verschiednen Tendenz sich bewußt sind«. (S. 28) Im Verlauf dieser Debatte bemerkt Falk: »Weißt du, Freund, daß du schon ein halber Freimäurer bist?«, denn dieser weiß: »Eine Wahrheit, die jeder nach seiner eigenen Lage beurteilet, kann leicht gemißbraucht werden.« (S. 25) Dass die Freimaurerei eine Antwort auf jene Trennungen darstellt, indem sie dem Prinzip folgt, »jeden würdigen Mann von gehöriger Anlage, ohne Unterschied des Vaterlandes, ohne Unterschied der Religion, ohne Unterschied seines bürgerlichen Standes, in ihren Orden aufzunehmen« (S. 40), ist Gegenstand des dritten Gesprächs, das Ernst veranlasst, Freimaurer zu werden. Dies »Grundgesetz der Freimäurer« ist das einzige, von dem überhaupt in aller Klarheit in diesem Dialog die Rede ist – es erinnert an das einzige Gebot der noachidischen Religion, Gerichte einzusetzen, die aber ansonsten keine weiteren Bekenntnisinhalte kennt. Lessing hat 1780 zwei weitere Gespräche auf die ersten drei folgen lassen, in denen Ernst von seinen enttäuschenden freimaurerischen Erfahrungen berichtet, denn er habe dort nur Schwärmerei, Geisterbeschwörung, Alchimie, Privilegien, Religions- und Standesunter-

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scheidungen gefunden. Diesem »Logenwesen« wird die Freimaurerei entgegengesetzt, »weil Loge sich zur Freimäurerei verhält wie Kirche zum Glauben«. (S. 53) Institutioneller Fixierung zum »Schema der Freimäurerei« (S. 54) steht die Praxis eben des offenen Räsonnements gegenüber, das in den Gesprächen zwischen Ernst und Falk Gestalt angenommen hatte, sodass Ernst mit seiner Logenkritik nun als ganzer Freimaurer anzusehen ist. Die Disputierlust, die sich – wie Falk mit seinen ausweichenden Aussagen, der sich »nicht gern (…) jemandem gerade in den Weg stellen mag« (S. 15) – nicht an bestimmte Inhalte oder explizit gemachte Lehren heftet, sondern eine Formsache aus rationalreligiösem Prinzip ist, begleitet den Weg von der Religion zur Anthropologie des bloßen oder ganzen Menschen, von der Kanzel zum Theater. »Ernst und Falk« führt deren Bedeutung als Form, in der sich Vernunft betätigt, exemplarisch vor. (Originalbeitrag)

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6. Ökonomie und Ironie. Eine romantische Affäre

Dichter mögen Staatskonzepte literarisch entwerfen, an der Erziehung des Menschengeschlechts arbeiten, die Bildung einer Nation durch Kultur und Poesie literarisch unterfüttern oder sich Fragen nach einem möglichen oder unmöglichen Aufbruch zu Idealen stellen – sie sind immer auch darauf angewiesen, gelesen und gehört zu werden und ihr Publikum zu finden. Solange es fürstliche Mäzenaten, Gönner und Wohltäter gibt, können Dichter, zwar personell greifbar abhängig, doch aber ihr Auskommen finden. Mit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts setzt ein Prozess ein, in dem eine neue, schwer fassbare Gestalt: das Publikum zum »Gönner« wird und »sich der begrenzte Büchermarkt der ständischen Gesellschaft zum literarischen Markt« der Moderne wandelt. »Dabei spielt die Dichtung eine entscheidende Rolle«; ihr Anteil an der gesamten Buchproduktion steigt von 8,7 % im Jahre 1750 auf 27,3 % im Jahre 1800. (Bosse 1981, S. 84) Je mehr Bücher aus dem Gebiet der Dichtung auf dem Markt erscheinen, um so schwieriger wird die Lage für den Poeten in der prekären Balance zwischen der Orientierung am Publikumsgeschmack einerseits und andererseits dem eigenen Anspruch, der auch seine Geltung erlangen soll. Als zwei Seiten derselben Medaille des Marktes werden nun »die Heiligkeit und die Wirtschaftlichkeit der Poesie« ein Paar (Bosse 1981, S. 81), und der Dichter findet sich in einem Schwebezustand zwischen konträren Polen, ohne zu wissen, welcher Wert sich denn auf dem Markt wird realisieren lassen können. Wenn die heilige Poesie sich in der Ungewissheit des Marktes behaupten muss, kann man in einer gedanklichen

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Umkehrung danach fragen, welche Auswirkungen solche Ökonomisierung auf Vorstellungen von dem, was Literatur sein soll, hat, ob und wie sie sich reflexiv zur Problematik des Marktes und der Unsicherheit angesichts der Stabilität ihres Wertes verhält. »O schaun Sie, schaun Sie doch die vielen Leute!/Was für ein Stück giebt man denn heute?« – so fragt jemand aus dem Publikum, der mit anderen Theaterbesuchern auf der Bühne sitzt. Die Antwort: »Der Himmel weiß, ich darf es nicht entdecken,/Vielleicht: Irrthum an allen Ecken.« (Tieck 1966 b, S. 244) Der Dialog ist in Ludwig Tiecks Komödie »Ein Prolog« [1796] zu hören. Dieses Stück sowie ein weiteres mit dem Titel »Der Autor« [1800] soll zunächst skizziert werden im Blick auf zwei Aspekte: die Marktverwiesenheit sich autonomisierender Literatur und die literarische Gestalt der Ironie. In der Auseinandersetzung mit Schlegels eher philosophischem Entwurf von romantischer Ironie wird dann versucht, eine Interpretation dieses romantischen Denkstils zu geben, um schließlich die Hauptthese zu entwickeln, wonach es sich bei der romantischen Ironie um einen Reflexionsmodus handelt, der im Problemzusammenhang der Marktwirtschaft, wie er bei Adam Smith, Johann Gottlieb Fichte und Adam Müller ausgearbeitet wird, zu situieren ist.

Dichtung auf dem Markt Tiecks Theaterstück trägt den Titel »Ein Prolog«. Die Bedeutung eines Prologs liegt im Allgemeinen darin, ein auf ihn folgendes dramatisches Geschehen anzukündigen und in es einzuführen. Er hat den Charakter des Vorläufigen. In Tiecks Stück aber stellt sich der Prolog selbst als das Theaterstück heraus. Es bleibt bei der Vorläufigkeit – und die ist endgültig. Der Bühnenschauplatz ist ein dunkles Parterre, die dramatis personae sind die auf welches Stück auch immer wartenden Zuschauer. Was nun folgt, ist kein Theater im Sinne eines realisierten anderen Stückes, sondern ein Gespräch über die Frage, ob es denn überhaupt gerechtfertigt sei, ein solches Stück zu erwarten. Umstritten ist etwa, ob der Auftritt des Lampenputzers als Signal für den baldigen Spielbeginn zu deu-

6. Ökonomie und Ironie. Eine romantische Affäre

ten sei oder ob ein Direktor, ja überhaupt ein Autor existiere. Der Skeptiker Anthenor hält zwar die Idee, wonach es einen Direktor geben müsse, für »recht schön; Allein wer soll sie executieren?« Das Publikum ist es, das das Stück exekutiert, sein Akteur ist: »Wir zahlen, so mein’ ich, unsre Gebühren Und sitzen dann hier und dichten und trachten; Und das ist schon für ein Stück zu achten.« (Tieck 1966 b, S. 247) Romantische Ironie als Stilmittel zu interpretieren, das darauf ziele, Illusionen zu zerstören, gehört zum Bestand der Romantikforschung1 . Hier wird aber die Illusion, die das Publikum von der Bühne erwartet, nicht einfach zerstört, sondern zum Gegenstand theatraler Aufführung, und das Publikum wird seinerseits als ein Illusionen erwartendes illusioniert, denn ihm wird ja nun sein Bühnenauftritt gegeben, der vom realen Publikum im Theater wiederum angeschaut wird. Das Publikum erhält seine Erwartungen, für die es bezahlt hat, vom Dichter zurück, es hat das theatralische Spiel tatsächlich für sich erworben und kann seinen Auftritt erleben. Die Ironie, die das Stück exekutiert, liegt darin, dass die Illusion, die vom Dichter verlangt wurde, wider Willen zum Eigentum des Zuschauers wurde. Soweit lässt sich das Stück »Ein Prolog« verstehen, und man könnte darin, dass die Zuschauer nun das Theater am eigenen Leibe vollziehen, durchaus eine endgültige Botschaft sehen. Aber die Lage wird dadurch komplizierter, dass das Stück mit dem Titel »Ein Prolog« seinerseits noch einen Prolog aufweist.2 Der Vorläufigkeit des Prologs als Stück wird eine weitere Vorläufigkeit vorangestellt; der Vorredner erklärt: dass »Jedweder Vorredʼ nur zu einer Vorredʼ macht«. Und im Prolog zu »Ein Prolog« heißt es dann weiter: »Hofft Ihr nun doch, statt kalter Küche Braten, Statt den Prologs ein durchgeführtes Stück, 1 2

Zur kritischen Auseinandersetzung mit dieser Konvention s. Immerwahr 1985. Dies ist in der sonst luziden Interpretation von Szondi 1985 unbemerkt geblieben. Zu Tiecks Dramen unter den Aspekten von Ironie, Mannigfaltigkeit und Unendlichkeit s. Szafarz 1997.

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So ist Euch warlich nicht zu rathen (…) Ihr müßt Euch nach der Poesie bequemen, Metaphern nicht gleich ernstlich nehmen, Sonst seht Ihr Schätze und es sind nur Scherben, Ihr taugt gleich schlecht zum Lesen, Leben und Sterben.« (Tieck 1966 b, S. 242) Der Autor präsentiert nicht nur sein literarisches Werk, er präsentiert vor allem in einer virtuell unendlichen Bewegung seine Rede über es. Ingrid Strohschneider-Kohrs (1960) hat in dieser ironischen Geste ein Mittel zur Selbstrepräsentation der Kunst gesehen. Das ist zweifellos zutreffend, zumal damit auch die rationale Dimension des Ironischen als Reflexionshaltung mit getroffen ist. Aber man dürfte in dieser Potenzierung vielleicht auch noch einen anderen Aspekt hervorheben. Wie jemand, der sein Produkt auf dem Markt anbietet, darüber nicht schweigen darf, sondern über es sprechen muss, um die Aufmerksamkeit auf es zu lenken, so sorgt der Poet mit Hilfe der ironischen Reflexion dafür, dass er sein Werk besprechen kann. In der Verdopplung des Prologs werden auch die Kunst und ihr Konsum literarisch thematisiert. So entsteht eine in sich gebrochene Selbstdarstellung. Die romantische Ironie3 ist möglich, weil Rolle, Bedeutung und Wert der Kunst keine fraglose Gewissheit, die zur Bewunderung veranlasst, haben, oder, um es mit Hegel zu sagen, es ist mehr als fraglich geworden, dass wir unser Knie noch vor ihr beugen. Diesem Zweifel kommt die Ironie zuvor, indem sie ihn für sich ästhetisch reklamiert. Ganz unmissverständlich wird im Prolog zu »Ein Prolog« ausgesprochen, dass man in der Kunst keine Schätze mehr sehen könne. Schätze sprechen für sich selber, sie müssen nicht angepriesen werden, sondern machen verstummen. Der romantische Poet muss sein Werk zum Objekt der ironischen 3

In seiner materialreichen Begriffsgeschichte weist Papiór 1989 darauf hin, dass – trotz des häufigen Gebrauchs bei den Romantikern – der Begriff Ironie noch im 19. Jahrhundert »nur Sprachgut der hochgebildeten Schichten (war), und das auch nur in einem sehr geringen Umfange.« Ironie lexikalisiert sich sehr langsam und wird erst um die Wende zum 20. Jahrhundert in die Wörterbücher aufgenommen. S. 17 f.

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Reflexion machen, weil die Evidenz des fraglos faszinierenden Schatzes nicht mehr gegeben ist; denn: »es sind nur Scherben«. Der romantische Ironiker wendet die historisch neue Möglichkeit einer Verkennung des Wertes der Kunst um, indem er ihn in die ironische Potenzierung investiert. Nicht wörtlich zu nehmen, das kann nun heißen, in dem, was präsentiert wird, auch noch etwas anderes zu sehen und seine Bedeutung zu verschieben. Ironie produziert Offenheit nach vorn: die Vorläufigkeit und den Hinweis auf kommende Vollständigkeit. Am Ende von »Ein Prolog« wird schließlich Hanswurst um eine Äußerung zur Debatte des Publikums gebeten, und er scheint eine finale Deutung der theatralischen Dispute zu geben: »Das ist noch nichts und zeigt von keinen Gaben, Irgend eine lumpige Meinung zu haben, Doch das, dünkt mich, verräth Geschick (…) In jedem Unsinn Wahrheit auch zu finden, Und alles zu einem Ganzen zu verbinden. (…) Es muß uns allenthalben glücken, Von einem zum andern zu legen Brücken (…) Ich dächte, das wäre der beste Schwank, Und die Zeit würde uns so am wenigsten lang.« (Tieck 1966 b, S. 265 f.) Hanswurst formuliert hier das Programmangebot eines Potpourris, das dem Bestreben der romantischen Ironie, gerade nach dem Verlust fragloser Kunstschätze die Stücke oder Fragmente nicht als voneinander getrennte zu behandeln, sondern auf ein Ganzes hin zu perspektivieren4 und auch das Heterogenste nebeneinander bestehen zu lassen, bemerkenswert nahekommt. Hanswurst wird, so sagt er, von allen vorgetragenen Positionen und Meinungen »ein bischen« hineinnehmen, »So vermeidʼ ich dadurch der Einseitigkeit Schein«. Er bietet, ganz der Volkstümlichkeit dieser Figur entsprechend, ein Theater für alle an, gleichsam

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Vgl. Japp 1983, wonach die romantische Ironie als »Anverwandlung« »im Dienst einer Idee des Ganzen (steht), die Schlegel gegen das Trennende seiner Zeit geltend machte.« (S. 190).

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seine Massentauglichkeit als ein theatre on demand. Aber die programmatische Äußerung Hanswursts wird sogleich wieder ironisch gebrochen. Denn Tieck lässt das Publikum auf das romantische Programm der Versöhnung des Stückwerks im Ganzen antworten: »Ja, ja, das ist die beste Methode,/Wir sind schon alle in der Mode.« (Tieck 1966 b, S. 266) Im Fall des »Fasnachts-Schwanks« mit dem Titel »Der Autor« haben wir es nicht mit einem Theater der Rezeption, sondern mit einem der Produktion zu tun. Sein Protagonist, der Autor, beklagt eine missliche Lage: »Statt aller frohen freien Natur,/Druckfehler um mich in Korrektur,/Gewöhne mich alles zu korrigiren«; er ist »unter der Presse«, leidet »schlimmen Druck«, wird »verhandelt auf der Messe«. (Tieck 1966 a, S. 269 f.) Als Besucher des Autors treten nacheinander auf: ein Fremder, die Muse (die über etwa ein Drittel des Stückes im Verborgenen, Trost spendend, anwesend bleibt), ein Schauspieler, der Rezensent, ein Alter Mann, Lessing, ein Bewunderer, ein Weltmann, der Altfrank, der falsche und der wahre Ruhm. Sie verwickeln den Autor in Gespräche über die Literatur im Allgemeinen und auf dem Markt, die Bedeutung und gegenwärtige Verfasstheit der Dichtung, ihre programmatischen Aufgaben, möglichen Funktionen und die Chancen und Risiken der Popularität. Zum weiteren Themenkatalog der Gespräche gehört, um nur Einiges zu nennen: die Bedeutung des für jedermann Interessanten, die Anpassung an die Leser und ihre Verachtung, die poetische Produktion nur für andere Dichter, gesinnungs- oder gefühlsgeleitete Dichtung, die Literaturkritik, der Antagonismus von Sittlichkeit und Witz, Verständlichkeit, Welthaltigkeit oder Innerlichkeit der Phantasieproduktion, der Zustand von Handel und Wandel im Gebiet der Literatur und ihrer Messen, das Schweben der Poesie in einer Mitte zwischen Nichtigkeit und Größe, ihre geschmeidige Vielseitigkeit oder altdeutsche Derbheit. Der Autor sieht sich angesichts des Ansturms von Erwartungen und Nachfragen in Bedrängnis: »Mir fällt mein ganzes Bewußtsein um, Steht auf dem Kopf und macht mich dumm, Da treten die Leute nur flugs herein, Und schreien mir zu: so sollst du sein!« (Tieck 1966 a, S. 318)

6. Ökonomie und Ironie. Eine romantische Affäre

Einen Ausweg aus dem Dilemma schlägt zunächst die Figur Falscher Ruhm vor mit dem Rat, der »Gottheit Stimme«, nämlich der »Menge« zu folgen und zum »Hans Dampf« zu werden. Die Figur Ruhm hingegen erklärt: »Nicht Lohn und Gold hat sich als Ruhm erwiesen«, und der Autor bemerkt: »Was thuts, wenn Pöbel hinter mir auch schreitet,/Sein Wüthen mir den Weg verkümmern will,/Von einem süßen Licht bin ich geleitet.« (S. 331 ff.) Tieck hat seinen Protagonisten-Autor zu einer Figur gemacht, die alle ihr von den Agenten des Literaturmarktes angetragenen Autorfunktionen zum Anlass und Objekt ihrer poetischen Reflexionen nimmt und die schließlich als ein souveräner Verwerter fungiert, der mit all den Ansinnen an die Kunst auf der Ebene des Stückes spielerisch schalten und walten kann. Kurz darauf wird diese souveräne Position aber wieder fraglich, weil über der Selbsterhebung über den Markt in einer weiteren Drehung die Selbsterhebung über der Selbsterhebung installiert wird, wenn es heißt: »Dann bitt ich noch: nicht Spaß für Ernst zu halten«. (Tieck 1966 a, S. 334) Dem Vergnügen des Lachens räumen die beiden Stücke Tiecks denn auch genügend Raum ein; von vielen anderen Komödien aber unterscheiden sie sich darin, dass die Reflexionsfigur der Ironie in sie eingeführt wird. Was sie hingegen durchaus mit anderen Komödien, mit der Komödie als spezifischer Gattung verbindet, ist eine »Strukturhomologie von Komödie und Geldwesen«, wie Daniel Fulda (2005, S. V, 23 ff.) für den Zeitraum der Entstehung der Marktwirtschaft vom frühen 17. bis zum späten 18. Jahrhundert gezeigt hat. Beide Stücke Tiecks sind im strengen Sinne inhaltsleere Dramen. Ihr Interesse richtet sich auf Vermittlungsweisen von Dichtung, und sie umkreisen die Problematik einer Literatur, die sich autonomisiert hat und nun auf dem Markt behaupten muss, und sie tun dies im Modus einer ironischen Reflexionshaltung. Einige ihrer wesentlichen Merkmale sind: die Literatur des Prologs; eine sich potenzierende Reflexion, die sich gleichsam stets erneut von außen betrachtet; der Aufschub von Bedeutungen in aufeinander gehäuften Vorläufigkeiten; die Koexistenz von Argument und Gegenargument im Gespräch; das distanzierte Spiel mit dem poetischen Vermögen; der Verzicht auf den unwiderruflichen Ernst einer Sache. Die These, die hier zu erläutern ist, lautet: die

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romantische Ironie steht im Problemzusammenhang der deutschen Rezeption des westlichen Liberalismus und Individualismus, und sie ist eine ins ästhetische und reflexive Vermögen des Dichters verlagerte Verinnerung des Phänomens des Marktes.

Überbieten und entwerten Beziehungen zwischen romantischer Literatur und Ökonomie sind – sieht man von der durchaus lange gepflegten Überzeugung, wonach die Romantik sich gerade durch ihre antiökonomische Haltung auszeichne, einmal ab – in vielfältiger Hinsicht untersucht worden, sei es als eine Ausprägung spezifisch deutscher, an einem organischen Ganzheitsmodell orientierter Volkswirtschaftslehre, im Blick auf die Ordnungen des Wissens von Ökonomie, wie sie dann auch in literarischen Werken aufzufinden sind, oder im Sinne einer allgemeinen Strukturhomologie von Sprache und Geld, und schließlich insbesondere als Verknüpfung von Ökonomie und Staatstheorie, womit die Frage danach einhergeht, ob es sich bei der romantischen Ökonomie um eine rückwärtsgewandte Modernisierungsgegnerschaft oder um eine Vorwegnahme späterer Kapitalismus- und Liberalismuskritik handele.5 Uns interessiert hier nicht das kompakte Gebiet der Ökonomie, in das sehr verschiedene Sachverhalte und Probleme fallen, sondern wir konzentrieren uns hier vornehmlich auf Markt und Tausch, dem Sachverhalt durchaus entsprechend, dass sich »der Prozess einer Aufwertung der Tauschsphäre im 18. Jahrhundert dynamisiert und zum Ende des Jahrhunderts hin als abgeschlossen zu gelten hat«.(Saller 2007, S. 32) Diese Seite der Ökonomie wird dabei nicht nur als ein in der romantischen Literatur thematisierter Objektbereich des Wissens aufgesucht, vielmehr geht es um romantische Denkfiguren, die über die Gegenstandsthematisierung oder -reflexion im Sinne von Repräsentationsweisen hinausragen, aber als intellektuell-poetische Aktion mit dem Denken dieser ökonomischen

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S. hierzu den ausführlichen Forschungsüberblick von Saller 2007, S. 54-84.

6. Ökonomie und Ironie. Eine romantische Affäre

Sphäre von Markt und Tausch verschwistert sind.6 Deren Ort ist die romantische Ironie. Dazu ist zunächst an Schlegels Überlegungen zur Ironie zu erinnern. In einer kleinen Notiz hat Friedrich Schlegel das Kunstwerk skizziert, wie es sein soll: »Ein vollkommener Roman müßte auch weit mehr romantisches Kunstwerk sein als der Wilhelm Meister; moderner und antiker, philosophischer und ethischer und poetischer und politischer, liberaler, universeller, gesellschaftlicher.«7 Abgesehen davon, dass der Erwerb eines solchen Buches zweifellos lohnend ist, weil man gleich mehrere verschiedene in einem erhält, ist an dieser Charakteristik die Fülle der Komparative auffällig: nicht liberal, liberaler; nicht poetisch, sondern poetischer usw. Jede Qualität, die gegeben ist, wird noch einmal überboten. Darin folgen die Künstler einem Gebot: sie müssen »frei genug (sein), sich selbst über ihr Höchstes zu erheben« (KA 2, S. 157, L 87). Es handelt sich um eine Bewegung des permanenten Überbietens, in der das »Leben des universellen Geistes (…) eine ununterbrochene Kette innerer Revolutionen (ist)« (KA 2, S. 255, A 451). Wie die Poesie von der »Poesie der Poesie« übertroffen wird (KA 2, S. 204, A 238), so der Dichter von sich, indem er »sich über sich selbst hinweg(setzt)« (KA 2, S. 160, L 108). Das Pendant der Überbietung ist die Entwertung. Wir müssen, schreibt Schlegel in seiner Kritik des »Wilhelm Meister«, »was wir anbeten, in Gedanken vernichten können«. (KA 2, S. 131) Wie die Geste des Überbietens, so löst auch die der Entwertung jede Fixierung in der je augenblicklichen Bewegung auf. Schlegel sieht hierin das Moment 6

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Es liegt darin ein Unterschied zu der von Saller 2007 im Rückgriff auf Benjamin (Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik) getroffenen Unterscheidung zwischen einem Denken der Ökonomie als außerliterarischem Gegenstand romantischer Literatur (»Wissen«) auf der einen Seite und dem Denken des ökonomischen Denkens als »Poetisierung der Ökonomie« im Sinne erkenntnistheoretisch imprägnierter Reflexion und Selbstreflexion (»Denken«) auf der anderen Seite. S. S. 85 ff. Schlegel, Fragmente zur Litteratur und Poesie. In Kritische Ausgabe seiner Werke, hg. v. Ernst Behler, Paderborn (Schöningh) 1962, Bd. 16, S. 108. Im Folgenden als KA mit Bandangabe im Text zitiert.

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der Freiheit: »Alles, was sich nicht selbst annihiliert, ist nicht frei und nichts werth.« (KA 18, S. 82, Phil. Frag. 628) Die Festsetzung des Werts ist für Schlegel undenkbar, kollidierte sie doch mit einer Freiheit, die sich gerade darin zeigt, ihm eine feste Gestalt zu entziehen. Da immer überboten oder entwertet werden kann, wäre jede eindeutige Wertbestimmung nichts als eine Täuschung, die die Bewegung der Freiheit verkennt. Genau genommen ist es sogar unmöglich, den Wert von etwas auch nur einen Moment lang wirklich zu bestimmen, denn, so Schlegel in einer paradoxen Formulierung: »Alles was etwas werth ist, muß zugleich dieß sein und das Entgegengesetzte.« (KA 18, S. 82, Phil. Frag. 633) Diese Paradoxie und Antithetik setzen zweifellos jene »Gymnastik des Geistes« voraus, die Schlegel gefordert hat (KA 18, S. 308, Phil. Frag. 369), und in der Ironie findet sie ihre Gestalt. Man hat bisher romantische Überbietung und Entwertung politisch kritisiert oder ästhetisch gefeiert – was man jedoch weithin übersehen hat, ist aber, dass sie zugleich ökonomisch als eine Beschreibung des Austauschprozesses gelesen werden kann, in dem sich allererst Werte realisieren.8 Es steht, so Marx, »dem Werte nicht auf der Stirn geschrieben, was er ist.« (Marx 1970, S. 88) Erst daran, dass etwas ein fremdes Bedürfnis befriedigt, erweist sich sein Wert; aber eben auch dies ist ungewiss. »Jeder Warenbesitzer will seine Ware nur veräußern gegen andre Ware, deren Gebrauchswert sein Bedürfnis befriedigt. (…) Andrerseits will er seine Ware als Wert realisieren, also in jeder ihm beliebigen andren Ware von demselben Wert, ob seine eigne Ware nun für den Besitzer der andren Ware Gebrauchswert habe oder nicht.« (Marx 1970, S. 101) Meine Ware kann sich also, so sehr ich auch an ihren Wert, der sich soll realisieren lassen, glaube, als wertlos erweisen. Sie kann alles sein, sich

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Wegmann 2002 schreibt im Hinblick auf die Figur der Vermittlung als zentralem Bestandteil romantischer Ästhetik, »das Vermittlungskonzept selbst aber (ist) nicht frei von Analogien zum Kaufmännischen und damit zur Sphäre des Ökonomischen«, was »in der Forschung – zumindest bis dato – eher eine exeptionelle Position« darstelle. S. 217. Untersucht werden sowohl ökonomische wie nicht-ökonomische Tauschbeziehungen als Vermittlungsagenten von Individualisierungsprozessen.

6. Ökonomie und Ironie. Eine romantische Affäre

in alles beliebige Andere verwandeln, und sie kann nichts sein, aus der Welt der Werte herausfallen. Das ist verhext. Die Parallelen zur romantischen Ironie sind offensichtlich. Schlegel hat diese eigentümliche Bewegung des Werts, die Unmöglichkeit seiner Stillstellung in einer Bestimmung, zum Reflexionsmodus des Subjekts gemacht, das sich seiner Freiheit in vorauseilenden Umwertungen vergewissert. Die romantische Ironie ist eine philosophische Praxis, Abstand vom höchsten Wert zu halten.9 Zwar ist die romantische Poesie bezogen auf ein Höchstes, Unbedingtes, Absolutes, Unbegrenztes, in dem sich alle isolierten Phänomene in einer Synthese vereinigen sollen, aber dieses Höchste ist, wie Schlegel im »Gespräch über die Poesie« bemerkt, unaussprechlich (KA 2, S. 324). Die »progressive Universalpoesie«, von der das berühmte 116. Athenäums-Fragment spricht, stellt diesen Abstand gerade auf Dauer im ironischen Reflexionsmodus, der sich dadurch auszeichnet, dass jede Position, die der menschliche Geist einnehmen kann, von ihrem Widerspruch aufgestört wird, um ihre Relativität herauszustellen. Das »Erstaunen des menschlichen Geistes über sich selbst, was sich so oft in ein leises Lächeln auflöst«, bezeichnet Schlegel als Ironie. Eine »innre Zwiefachheit und Duplicität (ist) in unserm Bewußtsein eingewurzelt, daß wir selbst dann, wenn wir allein sind, oder allein zu seyn glauben, immer eigentlich noch zu Zweyen denken«. (KA 10, S. 352 f.) Ganz in der Tradition der sokratischen Ironie der platonischen Dialoge und Nietzsches Perspektiven umstellendem Denken durchaus verwandt, wird die Gültigkeit einer jeden Setzung aufgeschoben, weil sie von ihrem Gegensatz affiziert wird, ja, ohne ihren Gegensatz gar nicht möglich wäre. Ernst Behler hat diesen Reflexionsmodus als »antithetische Geistesbildung« bezeichnet, als ein Denken, das »zwischen absoluten Gegensätzen zu operieren« versucht. (Behler 1988, S. 62) Zum Ausdruck kommt darin ein Skeptizismus gegenüber jeder Stabilität

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Vgl. auch Strohschneider-Kohrs 1960 sowie Fulda 2005 mit der speziell auf Friedrich Schlegel bezogenen Feststellung, wonach die »Freisetzung von Normen (…) hier der Poesie eine ähnliche Dynamik (verleiht), wie sie Adam Smith dem wirtschaftlichen Leben zuspricht«. (S. 470)

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von Wahrheit. Es handelt sich dabei aber nicht, wie noch immer, dem Diktum Lukácsʼ von der Zerstörung der Vernunft folgend, interpretiert wird, um die »genuin romantische Form einer Depotenzierung der Vernunft«, um eine »Attitüde, hinter der sich in Wahrheit eine ruinöse Selbstgefährdung und existentielle Haltlosigkeit menschlicher Subjektivität verbirgt.« (Hühn 1996, S. 395, 399) Diese Interpretation verkennt die rationalistische Komponente des ironischen Abstandhaltens als einer Bewegung des Verstandes, der sich nicht von einem Inhalt faszinieren lässt, sondern ihn in einer weiteren Reflexion zum Objekt macht, das aus der Distanz heraus gesehen wird.10 Die lenkende, gesetzgebende Macht sei der Verstand als gleichsam oberstes lenkendes Prinzip, erklärt Schlegel im Aufsatz über das Studium der griechischen Poesie. Die Ironie zeitigt all die beschriebenen Effekte – aber sie ist dennoch nicht ohne weiteres zu bestimmen. (Allemann 1970, S. 16 f.) So sehr sie als eine bestimmte Redeweise zu verstehen ist – die Ironie kann nicht einfach eine Reihe ironischer Sätze sein. Textlinguistische Untersuchungen können zwar die ironische Redeweise nach verschiedenen rhetorischen Figuren typisieren und klassifizieren und Komponenten der Ironie erkennbar machen (Müller 1994), aber die Kompilation ironischer Sätze kann völlig unironisch sein. Beda Allemann spricht von einem »Spannungsfeld«, von einem »Spielraum«, die von der Ironie eröffnet werden. (Allemann 1970, S. 30) Jede geistige Tatsache wird in dieses Spannungsfeld inseriert. »Eine Idee«, so bestimmt das 121. Athenäums-Fragment, »ist ein bis zur Ironie vollendeter Begriff, eine absolute Synthesis absoluter Antithesen, der stete sich selbst erzeugende Wechsel zwei streitender Gedanken.« (KA 2, S. 184, A 121) Dennoch zielt die romantische Ironie darauf, Zusammenhang zu stiften: »Verbindet die Extreme, so habt ihr die wahre

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Schlegel gibt folgenden Rat: »Um über einen Gegenstand gut schreiben zu können, muß man sich nicht mehr für ihn interessieren, der Gedanke, den man mit Besonnenheit ausdrücken soll, muß schon gänzlich vorbei sein, einen nicht mehr eigentlich beschäftigen. So lange der Künstler erfindet und begeistert ist, befindet er sich für die Mitteilung wenigstens in einem illiberalen Zustande.« (KA 2, S. 151, L 37).

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Mitte.« (KA 2, S. 263, I 74) Jene Mitte ist der ironische Zustand des Schwebens, in dem man »auf den Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben, diese Reflexion immer wieder potenzieren und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfachen« kann. (KA 2, S. 182 f., A 116) Ironie führt zur Synthesestiftung des Moments, in dem zwei divergierende Entitäten miteinander einig werden; der liberale Zustand beruht darauf, dass sie sich als heterogene in einem gemeinsamen Medium realisieren.

Poetische Philosophie – Politische Ökonomie Diese Denkfiguren der romantischen Ironie korrespondieren den Auffassungen von Markt und Tausch, wie wir sie in der Politischen Ökonomie von Adam Smith finden, den sowohl Friedrich Schlegel zur Kenntnis genommen hat (KA 2, S. 289) wie auch Johann Gottlieb Fichte und Adam Müller in ihren Auseinandersetzungen mit dessen Schriften.11 Man kann hier geradezu von einer intellektuellen Parallelaktion von poetischer Philosophie und politischer Ökonomie sprechen. Um dies zu zeigen, beziehen wir uns nicht auf biographisch verbürgte Beziehungen oder Affinitäten der jeweiligen Autoren oder eine »Geschichte« der literarischen und politischen Romantik bzw. ihrer Vertreter mit den Kontinuitäten und Umbrüchen ihrer Weltanschauungen, wie sie z.B. im Blick auf die frühe und späte Romantik konzipiert wird, sondern interessieren uns für strukturelle Analogien des Denkens der Ökonomie und der Dichtung, und dies speziell im Blick auf die Phänomene von Markt und Tausch. Wie bei Adam Smith der Mechanismus des Marktes nicht dadurch erhellt werden kann, dass man all die verschiedenen Werte, die sich auf ihm zeigen und austauschen, zusammenstellt, da es eine »invisible hand« ist, die ihn regiert, so ist die romantische Ironie durchaus als ein vergleichbares regulatives Prinzip zu verstehen, das Austauschprozesse zwischen geistigen Tatsachen ermöglicht – sie also nicht bloß sammelt und zusammenstellt. 11

Zur Rezeption von Adam Smith in Deutschland s. Saller 2007, S. 21-28.

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»Kraft und Hang zum Tauschen und Wechseln« suspendieren uns den vielzitierten Formulierungen von Adam Smith zufolge von der knechtischen Unterwerfung unter das Wohlwollen anderer. Im Unterschied zu den Tieren sind den Menschen »die unähnlichen Anlagen einander von Nutzen, indem die verschiedensten Produkte ihrer respektiven Talente durch den allgemeinen Hang zu tauschen, zu verhandeln und auszuwechseln so zu sagen zu einem Gesammtvermögen werden, woraus ein Jeder den Theil des Produktes von anderer Menschen Talenten kaufen kann, dessen er benöthigt ist.« (Smith 1846, Bd. 1, S. 28) Für die Bildung eines Zusammenhanges im Austausch bedarf es des Zusammentreffens gerade des Unähnlichsten, und dies wiederum ist nur dann möglich, wenn dem Handel keine Grenzen gezogen werden und sich alles mit allem austauschen kann. Alle Beschränkungen des Güterverkehrs kritisiert Smith als vollends unvernünftig. »Einem ganzen Volke aber verbieten, aus seinen eigenen Produkten Alles zu machen, was es daraus machen kann, oder sein Kapital oder seine Industrie so anzuwenden, wie es ihm am Vortheilhaftesten zu sein scheint: – das ist eine offenbare Verletzung der heiligsten Rechte der Menschheit.« (Smith 1846, Bd. 3, S. 226) Hier duldet der Handel ebensowenig ein Gesetz über sich wie der ironische Poet. Adam Smith sucht den Reichtum der Nationen zu bestimmen – und hier ist der Unterschied von Geld und Markt besonders wichtig. Der Reichtum liegt nicht »in den unverzehrbaren Schätzen des Geldes«, sondern in den verzehrbaren Gütern. (Smith 1846, Bd. 3, S. 354) Allein um deren Austausch geht es. Smith verwirft die zu seiner Zeit unter den Ökonomen verbreitete Auffassung, wonach »aller Reichtum in Gold und Silber bestehe, und daß es die große Aufgabe der Gewerbsamkeit und des Handels einer Nation sei, jene Metalle zu vermehren.« (Bd. 3, S. 30) Smiths Bestimmung des Reichtums setzt auf die Beweglichkeit von Gütern, nicht auf das Horten von Schätzen oder Geld. Deshalb hat der Markt gegenüber jeder Geldpolitik vorrangige Bedeutung. Was sich in den Mechanismen des Marktes niederschlägt, das sind die Wirkungen der Urteile und Meinungen der Menschen, denen zufolge sie ihre Positionen in den Bewegungen des Austausches einnehmen.

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Schlegels Ironie kommuniziert – sofern man bereit ist, in strukturellen Analogien zu denken – an eben der Stelle mit dem Wirtschaftsliberalismus von Adam Smith, wo sie das Spiel des Verschiedensten in die subjektiven Wechselfälle des Meinens und Urteilens überführt und dies zum regierenden Vermögen der Synthetisierungen macht. Aber es wäre nicht ganz zutreffend, die Ironie allein in den Horizont eines angelsächsischen Liberalismus einzurücken. Die Politische Ökonomie der Romantik hat in der Auseinandersetzung mit Adam Smith bei Johann Gottlieb Fichte und Adam Müller eine noch einmal besondere Gestalt gewonnen.12 Fichte geht es in Der geschloßne Handelsstaat von 1800 darum, dem »Widerstreite der freien Kräfte« und der »Handelsanarchie«, ihrer blinden Naturgewalt abzuhelfen. (Fichte 1979, S. 14, 90) Marktmechanismen sind für Fichte nicht die Wirkungen von Urteilen und Meinungen von Menschen, sondern Resultat von Planungsentscheidungen. Sein Entwurf staatlicher Steuerungsmechanismen zur Regelung von Produktion und Handel (etwa die Begrenzung von Handelslizenzen, das Plädoyer für den Fünf-Jahres-Plan u.a.) hat ihn zum Vorläufer sozialistischer Planwirtschaft werden lassen. Der Imperativ der Planung lautet: »das Gleichgewicht muß fortdauernd gehalten werden.« (Fichte 1979, S. 24) Angebot und Nachfrage, Kosten und Nutzen sollen einander gleich sein, Ware und Preis gleichwertig, das Verhältnis von Warenwert und Geldwert dauerhaft festgesetzt sein. Damit dies gelingt, muss der Handelsstaat nach außen geschlossen sein: »Aller Verkehr mit dem Ausländer muß den Untertanen verboten sein, und unmöglich gemacht werden.« (S. 33) In Hinsicht auf die romantische Ironie könnte man, wenn diese Formulierung gestattet ist, sagen, dass der romantische Poet in seiner deutschen Variante den Verkehr mit sich selbst pflegt. Die romantische »Symphilosophie«, in der alles Wechselwirkung sein soll und die Unendlichkeit denkbarer Kombinationen im geselligen Austausch der Gruppenmitglieder ihren Ort findet, dürfte durchaus hierher gehören.

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S. hierzu die instruktive Arbeit von Harada 1989.

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Aber auch innerhalb der nationalen Grenzen sind regulative Eingriffe zur Bändigung des Chaos des Marktes vonnöten. Denn nicht der Markt gestattet Freiheit, sondern allein ein zum Ausgleich gebrachter Markt, der weder von Konkurrenzen noch durch Initiativen irritiert wird. Die Freiheit sieht Fichte darin verbürgt, dass das Recht gesichert wird, »andere von einer gewissen uns allein vorbehaltenen freien Tätigkeit auszuschließen«. (Fichte 1979, S. 58) Der Tausch findet unter den Bedingungen der Geschlossenheit statt. Eben dies erfordert eine Unterscheidung, deren polit-ökonomische Qualität uns in der Literatur der Romantik wieder begegnen wird. Fichte unterscheidet zwischen »Landesgeld« und »Weltgeld«. (S. 47) Das Weltgeld besteht aus Gold oder Silber. Das Landesgeld hingegen »muß so wenig als möglich wahren inneren Wert haben«, es fungiert als »bloße(s) Zeichen«, in dem sich der Wert aller zirkulierenden Waren ausdrückt. (S. 101, 46, 48 f.) Im Unterschied zur Substanzhaltigkeit des Weltgeldes, das auch der Schatzbildung dienen kann, fungiert das Landesgeld ausschließlich als Tauschmittel, dessen Substanzlosigkeit in eine Wertgarantie umschlägt. Im staatlich regulierten Landesgeld drückt sich der Wert aller Dinge gegeneinander und seine Berechenbarkeit im Tausch auf dem Markt aus. Die Spaltung in Welt- und Landesgeld sorgt für eine Beruhigung der Wertproblematik. Adam Müller hat Fichtes Geschlossenen Handelsstaat außerordentlich kritisch rezensiert (Müller 1812) und auf der Notwendigkeit einer »Welthaushaltung, eine(r) große(n) ökonomische(n) Gemeinschaft der Staaten dieser Erde« insistiert. (Müller 1922, S. 80) In seiner Neuen Theorie des Geldes, geschrieben 1811 in Wien, wo sich auch Friedrich Schlegel aufhielt, geht es um Handel, Tausch und Wertbestimmung. Das Band, das alles miteinander vermittelt, ist das Geld, das »recht eigentlich nichts anders sey, als die Eigenschaft der Geselligkeit, welche in größerem oder geringerem Grade allen Dingen innewohne«. (Müller 1922, S. 139) Dieses »Centrum« kann »nur ein unsichtbares, bloß empfundenes Wesen seyn«, es kann nicht »von einer vergänglichen handgreiflichen Sache, von einem Universalmonarchen oder von einem Völkerrathe dargestellt werden. Hier gibt es weiter keine Repräsentation, hier muß der Glaube an den Mittelpunct, an die unendliche Vermittlung (mediation) oder

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an den Mittler selbst zum Mittelpuncte werden.« (S. 84) Müller trifft in Hinsicht auf das Geld eine Unterscheidung, die auch bei Fichte begegnet, aber aus anderen Gründen: die zwischen Metallgeld und Papiergeld. Während sie bei Fichte mit dem Gegensatz von Welt- und Landesgeld gleichgesetzt wird, dient dieser Unterschied bei Müller dazu, den Tausch zur wirklich universalen Vermittlung zu machen, und dafür ist die Rolle des Papiergeldes sowohl im Binnen- wie Außenhandel höher einzuschätzen als die des Metallgeldes, denn »dem Metall fehlt die für so große Geschäfte nothwendige Elasticität«. (S. 225 f.) Zudem können die Edelmetalle kein absoluter Maßstab sein, weil der Wert der Substanz der geprägten Münze nicht stabil bleibt, sondern vom Marktpreis der Metalle abhängig ist und es so zu Münzverschlechterungen kommen kann. (S. 187 ff.) »Die Dauerhaftigkeit und Festigkeit der edlen Metalle ist bloßer Trug und Schein«, der »große Irrthum des gemeinen Mannes«, womit »die Sachen zu Götzen, zu Tyrannen des Menschen erhoben (werden)«. (S. 261, 164. 151) Demgegenüber besteht das »Wesen des Papiergeldes« darin, »ein idealisches Geld« zu sein. (Müller 1922, S. 196) Wenn Müller hinsichtlich des Papiergeldes auch von »Wortgeld« spricht, so wird damit die Prädominanz des Idealischen über das bloß Dingliche noch einmal besonders hervorgehoben.13 Für die romantische Theorie ist das Geld »vor allem Tauschmittel, wobei diese Funktion im weitesten Sinne zu verstehen ist«. (Lieser 1922, S. 309) Im Tausch überhaupt verkörpert und verwirklicht sich Gesellschaftlichkeit, nicht auf der Ebene der Dinglichkeit, sondern als ein allgemeines und ideelles Prinzip gesellschaftlicher Beziehungen und Verhältnisse, das als solches seinen Wert hat, ohne dass es irgendeine Referenz auf einen anderweitigen fixen Wertmaßstab

13

Dass Müllers Kritik der politischen Ökonomie »viel radikaler als die Marxsche« ist, verdankt sich diesem idealischen Moment, das Weiß 1992 mit der Entfremdungskritik des jungen Marx in Verbindung setzt (S. 107). Abgesehen von Müller bescheinigt Weiß der »romantischen Bewegung« generell ein »überwiegend aversive(s) Verhältnis zur Ökonomie« (S. 97). Zur Bedeutung der mittelalterlichen Ständeordnung bei Müller einerseits und der des Staatsinterventionismus über die Vergabe von Krediten andererseits s. Harada 1989.

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gäbe, weil jeder Maßstab »selbst sich bewegt« und seine Festigkeit »nur eine relative Festigkeit seyn (kann).«14 Die um den Tausch zentrierte Politische Ökonomie von Fichte und Müller weist bemerkenswerte Parallelen zu den Denkfiguren der romantischen Ironie auf. Dabei stiftet die Auseinandersetzung mit Adam Smith und seiner Orientierung an einem strikten Marktliberalismus, der im Prinzip ohne weitere Institutionen auskommt, sowie im Übrigen auch der Abweis seiner auf die materielle Produktion ausgerichteten Arbeitswertlehre, noch einmal eine besondere Nähe zwischen Politischer Ökonomie und Ironie. Denn wenn im Falle von Fichte und Müller der Staat, wenn auch auf verschiedene Weise, zum Garanten der Idee einer universellen Vermittlung im Tausch gemacht wird, so ist es im Falle der Ironie der literarische Souverän. Dessen ironische Tätigkeit erstreckt sich nicht nur auf die Thematisierung der Marktverwiesenheit sich autonomisierender Literatur, wie wir sie explizit in den beiden Stücken Tiecks finden, sie ist darüber hinaus das Medium, in dem alle Gegensätzlichkeit in Austausch unter der Bedingung der Relativität und Beweglichkeit des Wertes des Ausgetauschten verwandelt wird. Man könne, so Schlegel, »nicht wieder aus der Ironie herauskommen«. (KA 2, S. 369 f.) Sie ist jenes unsichtbare Regulativ, das den Widerstreit von Interessen, Handlungen, Ideen und Werten so regelt, dass wir sie alle fraglos und frei austauschen können. Nun sind Konnotationen mit dem Gebiet der Ökonomie in der Romantikforschung bisweilen, wenn auch auf andere Weise, entfaltet worden. So ist bemerkt worden, dass Tiecks Runenberg von den verborgenen Schätzen der Erde und vom faszinierenden Glanz des Goldes handelt; in Novalisʼ Lehrlingen zu Sais tönen die Steine von in ihnen verkörperten unendlichen Kostbarkeiten, für deren Erfahrung der Mensch sich öffnen

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Müller 1922, S. 175. In diesem Zusammenhang wäre des Weiteren Adam Müllers Schrift »Die Lehre vom Gegensatz« (Müller 1967) heranzuziehen, zu der kritische Rezensenten bemerkt haben, in ihr werde alles »Beziehliches«, laufe auf »Unbestimmtheit« hinaus und Identität sei dem Verfasser »etwas bloß Hypothetisches«. Zitate aus den Rezensionen Bd. 2, S. 538 f., 542.

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soll.15 Man hat diese romantischen Motive als Thematisierung des Geldkomplexes interpretiert. So sieht Jochen Hörisch im Fetisch des Allgemeinäquivalentes Geld den Nukleus, von dem aus die romantische Literatur und Denkform aufzuschließen ist. (Hörisch 1983, S. 109) Manfred Frank (1978) hat in seiner Interpretation die Motive des Schatzes und des Goldes in Anschlag gebracht. Eine wesentliche Frage ist es aber, ob der Unterschied zwischen Gold und Geld stark gemacht wird oder nicht. Hält man sich an Fichte und Müller mit ihren Geldtheorien, so kommt man an diesem Unterschied nicht vorbei, zumal er sich in der romantischen Literatur selbst ausprägt.16 Denn Gold oder Schatz stehen nicht unbedingt in den Bewegungen des Austauschs, an ihnen haften Fragen des Glücks oder Unglücks, die Kostbarkeiten können von höchst fraglicher, blendender Faszinationskraft sein, sie sind verborgen in den Tiefen der Erde, versteckt von einer Natur, die das Glück des Findens gewähren kann oder nicht. Nicht zufällig kommt dem Bergbau in der Romantik eine Schlüsselstellung zu (Eßbach 1982); doch endet die Hortung des Schatzes oder Goldes nicht selten fatal. Der mineralischen Versteinerung und dem Seltenheitswert der edlen Metalle steht mit dem ironischen Vermögen die Verflüssigung von Substanzen im Tausch und eine allseits praktizierbare Vermittlung auf dem Markt gegenüber. Der Markt ist kein Schatz. Gold oder Geld: in diesem Unterschied artikuliert sich das romantische Verhältnis zur anbrechenden Moderne. Ohne die Parallelitäten zwischen dem Denken der Ökonomie und der Geisteshaltung der Ironie in der Dichtung überstrapazieren zu wollen, fallen doch eine Reihe markanter Affinitäten und Verwandtschaften ins Auge, die sich der zeitgenössischen Auseinandersetzung von Schriftstellern und Intellektuellen mit dem Anbruch und der Expansion von Markt und Tausch als Charakteristikum moderner Gesellschaften verdanken. Der Verflüssigung fester Substanzen in wertrelativierenden

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S. hierzu auch Kloppmann 2003 zum Bergmann-Kapitel in »Heinrich von Ofterdingen«. S. Vogl 1998 speziell auch im Hinblick auf Regierungswissen und Staatskonzepte.

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Prozessen des Wechselns korrespondiert, dass nun der Tausch als Medium von Gesellschaftlichkeit ausgezeichnet wird. Hier werden gewohnte Bestandsgarantien ebenso fraglich wie die Werte all dessen, was auf dem Markt gehandelt wird. Verwiesen auf Markt und Tausch, muss jeder, der sich hier bewegt, so auch der Dichter, den Wert seines Angebots anpreisen und wenn möglich das der anderen so entwerten, dass er es überbieten kann. Vielleicht ist es deshalb wenig überraschend, dass zu diesem Markt und Tausch der beginnenden Moderne auch die Entstehung der »heiligen Poesie« gehört, die sich zwischen wahrem und falschem Ruhm, zwischen Marktgängigkeit und Wertanspruch in Strategien kompetitiver Überbietungen neu erfindet und dafür als Medium die ironische Geisteshaltung gewählt hat. (Zuerst als »Markt, Moderne und romantische Ironie. Zu Ludwig Tiecks Dramen ›Ein Prolog‹ und ›Der Autor‹« in: Blütenstaub. Jahrbuch für Frühromantik. Bd. 7, Würzburg: Königshausen und Neumann 2020, S. 227-243. Überarbeitet.)

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7. Historio-politische Romantik: Achim von Arnims Roman Die Kronenwächter

In der Spannung zwischen den Erfahrungen der Französischen Revolution und der Restaurationszeit kommt es in den europäischen Ländern zum erfolgreichen Aufstieg eines neuen Typus von Literatur: dem historischen Roman, einer Krisenreflexion im Gewand der Geschichte. Sein Interesse gilt nicht der Bildungsgeschichte eines individuellen Helden zur Reife einer Persönlichkeit, sondern ist angetrieben von der Auseinandersetzung mit den Fragen politischer Legitimität von Herrschaft und ihrer Begründung, nach den Kräften, die geschichtliche Entwicklungen tragen, den Modalitäten der Nations- oder Reichsbildung. Im Unterschied zu den Staatsromanen mit ihren Entwürfen eines künftig mehr oder minder aufgeklärten Absolutismus befindet sich der historische Roman, der einen vergangenen geschichtlichen Augenblick zum Bezugspunkt der politischen Reflexion in der Gegenwart macht, in einer doppelten Frontstellung. Er zehrt von den Freiheitsforderungen, die die Französische Revolution auf die Tagesordnung gesetzt hatte, um sie gegen den neuen Absolutismus zu wenden, aber zugleich gibt es einen ausgeprägten Vorbehalt gegenüber einer politischen Revolution, wie man sie mit der französischen erfahren hatte. Revolution und Restauration: zwei Seiten einer Medaille von Übel. In diesem Zusammenhang steht Arnims Roman Die Kronenwächter, zentriert um die staufischen Kaisersagen von der Wiederkehr eines gerechten und legitimen Königs und den damit verbundenen chiliastischen Erwartungen. Karl der Große, Friedrich Barbarossa und Maximilian I., die in Gestalt von Sagenfiguren ihre »Gegenwart« im Roman gewinnen, markieren Anfang, Mitte und Un-

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tergang des mittelalterlichen Kaisertums, und insofern steht der Roman quer zu einer literarischen Stauferverherrlichung, die in ihnen und ihrer Geschlechtermythologie die Zukunft von Reich oder Nation sieht. Weitaus eher handelt es sich um einen Roman, der auf diese Volksphantasien zurückgreift, um sie, nicht zuletzt mit den Mitteln romantischer Ironie, als künftiges politisches Regulativ zu entmachten oder zumindest kritisch zu distanzieren.

»Man kann keinen Glauben dazu fassen« In der Neujahrsnacht von 1475 wird am Wachtturm von Waiblingen ein Findling übergeben. Er wird nach seinem Ziehvater auf einen identischen Vor- und Zunamen getauft: Berthold Berthold. Eine nicht recht greifbare und mit heutigen Worten als terroristische Vereinigung zu bezeichnende Geheimgesellschaft sucht, dem ius sanguinis folgend, Nachfahren der Staufer für ihr Ziel der Gründung eines neuen idealen Reiches zu gewinnen. Ein solcher Nachkomme ist Berthold. Erziehung und Bildung durch Abgesandte der geheimen Gesellschaft binden ihn ans staufische Geschick. Er erwirbt den Palast des Barbarossa, baut ihn zur Tuchfabrik um und wird, wenn nicht König, so doch Bürgermeister Waiblingens. Gedankenvoll in unglücklicher Liebe und gelehrt mit Büchern und Geschichte lebend, wird er krank. Am Neujahrstag 1518 wird er von Doktor Faust kuriert. Faust tauscht das Blut Bertholds mit dem des herkuleischen, aber kranken Malers Anton aus, der ebenfalls dem Stauferstamme angehört. Angeregt von seiner Lektüre, will Berthold nun seine adlige Ausbildung nachholen. Berthold übt sich, zunächst auf dem Holzpferd, in ritterlicher Kunst. Doch sein Verhältnis zur geheimen Gesellschaft ist höchst ambivalent; obwohl er von ihren Greueln spricht, empfängt er ihren Abgesandten immer wieder. Zugleich unterhält er Beziehungen zum kaiserlichen Hof Maximilians. Er ist umgeben von Personen, deren jeder eine zweite komplementär entspricht – zwei Ziehväter, zwei Mütter, zwei Geliebte, zwei mal zwei Berater –, und zudem mit den Banden des Blutes gebunden an Anton, den Künstler.

7. Historio-politische Romantik: Achim von Arnims Roman Die Kronenwächter

Von den Bürgern Waiblingens wegen seiner intriganten Politik um die Reichsfreiheit der Stadt als Verräter beschuldigt, stirbt er im Mai 1519 in der Staufergruft zu Lorch, während Anton im Gemenge eines Kampfes so verletzt wird, dass ihm, wie Berthold, das Blut dort aus den Adern fließt, wo Faust sie geöffnet hatte. Das ist, kurz umrissen, die Geschichte von Arnims Roman Die Kronenwächter, und zwar die des sogenannten »Berthold-Romans«, dem ein zweiter Band, der »Anton-Roman« folgt. Die Entstehungsgeschichte der Kronenwächter kann inzwischen als weitgehend geklärt angesehen werden. 1817 erschien, von Arnim veröffentlicht, Die Kronenwächter. Erster Band. Bertholds erstes und zweites Leben. Ihm folgte 1854 ein von Bettina aus dem Nachlass edierter zweiter Band, der sogenannte AntonRoman. Inzwischen ist sich die Arnim-Forschung darüber einig, dass dieser Anton-Roman keine Fortsetzung des Berthold-Romans darstellt, sondern von Bettina aus den Restbeständen einer ersten Fassung, einem »Ur-Kronenwächter« zusammengestellt wurde, die Arnim nach eigenen Worten mehrfach so umgearbeitet hat, dass aus ihr der Berthold-Roman hervorgegangen ist, der den Anton-Roman ersetzt.1 Die Kronenwächter. Erster Band ist mit diesem werkhistorischen Nachweis einer von ihrer Fortsetzung unabhängigen Interpretation zugänglich geworden. Zur Rezeption des Romans gehört eine bemerkenswerte Strittigkeit in den Reaktionen. Sie wird manifest in den divergierendsten Interpretationen, die der Roman bislang erfahren hat. Vor allem aber steht das zeitgenössische Urteil Jacob Grimms wie ein unsterblicher Begleiter an der Seite der Kronenwächter. Seine kritischen Kommentare zum Roman sind heute lesbar als ein Modell, das noch in gegenwärtigen Interpretationen – freilich mit veränderten Vorzeichen – wirksam geblieben ist. Grimm schrieb zu den Kronenwächtern im Juli 1817 an Arnim: es fehle »den Dingen darin an einem natürlichen Maß, sodass man keinen Glauben dazu fassen kann. (…) Nicht gerade, dass es zu viele oder zu wunderbare (Begebenheiten) seien, sondern sie wissen sich nicht zu vermitteln, darüber geht alles feine Anlegen und Überlegen verloren.« Zu vieles werde 1

Vgl. Ricklefs 1990 a, S. 137 ff. sowie Hoermann 1990.

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»anders gedreht«, und er, Grimm, wolle »eben für die heilige Haltung der Grenze jenes Ganzen sprechen«. (Steig/Grimm Bd. 3, S. 390 f.) 1819 schreibt Jacob Grimm an Arnim: »Du bist Dir immer in Deiner Eigenthümlichkeit gleich geblieben«, und fährt fort: »Du legst Deinen Plan gut und klug an, aber hernach lässest Du meinem Gefühl nach wieder Contrepläne zu, die den ersten überwachsen. Der eingelegte Samen gehet herrlich und erfreuend auf, bald aber scheint Dir der Platz nicht zu gefallen, wo die Pflanze steht, und Du setzest sie mehrmals um, wodurch ihre Kraft beeinträchtigt wird.« So gefalle dann wohl auch das erste Drittel immer mehr als der Schluß, da »unpractische oder unnatürliche Ueberladung und Verwickelung« im Verlauf des Romans zunehmen. (Steig/ Grimm, Bd. 3, S. 457) Was Jacob Grimm als fehlende Stimmigkeit des Ganzen kritisierte, diagnostiziert Roswitha Burwick (1989, S. 335, 323) als »Wechselwirkung der polaren Gegenkräfte« und »unauflöslichen Dualismus«, Ulfert Ricklefs (1990 a, S. 167, 127) als »sichtbar werdendes dualistisches Konzept« innerhalb einer »Polyphonie und Vielschichtigkeit, ja Unabsehbarkeit dieses dichterischen Zusammenhangs« und Christof Wingertszahn (1990, S. 312) als einen »Polyperspektivismus«, der widersprüchliche Aussagen im Ungewissen lasse. Polyvalenz und paradoxe Heterogenität ohne einheitliches Zentrum stellt auch Martin Neuhold (1994, S. 139 f., 263 ff., 326) als Struktureigentümlichkeit der Kronenwächter heraus und sieht in ihnen die Realisation von Arnims dichtungstheoretischer Position zwischen exoterischer Didaktik und esoterischer Hermetik. Die Konzeption des Romans bereitet ganz offensichtlich Schwierigkeiten hinsichtlich einer Ausdeutung eindeutiger Botschaften. Man trifft denn auch, nach den durch Wilhelm Scherer angeregten positivistischen Studien zu den Quellen der Kronenwächter, auf ein Potpourri widersprüchlichster Interpretationen. Die Kronenwächter wurden gelesen als Dichtung der deutschen Volksgemeinschaft (Lenz 1938), als Erzählung von großer deutscher Vergangenheit (Fechter 1941, S. 404), als dichterische Geschichtstheologie (Göres 1956) oder romantischer Künstlerroman (Schneider 1953). Diese älteren hochgradig divergierenden, aber je für sich eindeutig ausdeutenden und finalisierenden Interpretationen werden inzwischen abgelöst von jenen Analysen, die

7. Historio-politische Romantik: Achim von Arnims Roman Die Kronenwächter

die Heterogenität des Werkes selber exponieren. Sie kommunizieren hingegen mit eben der von Jakob Grimm als Kritik formulierten Beobachtung, wonach der Roman eine artefizielle Konstruktion ohne regierendes Zentrum darstellt. Verschoben hat sich hingegen die Wertung dieser Beobachtung: galten Überfülle und Verpflanzungen von Stoffen und Motiven, ihre Dezentrierung der ersten Kritik als Zeichen eines unausgereiften Kunstwerks, so werden jene Eigentümlichkeiten des Romans inzwischen mit weitaus positiveren Vorzeichen versehen.2 Der Grund hierfür liegt zweifellos in einer veränderten literaturwissenschaftlichen und ästhetischen Theoriebildung, die explizit oder implizit auch auf diesen Roman ihre Anwendung findet.3 Auf diese Weise wurden die Kronenwächter auf dem Hintergrund veränderter Theoriebildung, freilich in subkutaner Kommunikation mit ihrer Wahrnehmung durch Jakob Grimm, lesbar. Wenn sie überhaupt gelesen wurden. Denn Arnim galt ja kaum als Romantiker par excellence, nur Heine meinte von jenseits des Rheins, Arnim sei einer der »originellsten Köpfe der romantischen Schule«. Wenn man jedoch einer Charakterisierung Hans Mayers (1963) folgt, derzufolge es sich bei der Romantik um eine Bewegung der manifesten Widersprüche handelt, deren epochale Einheit selbst auf dialektischem Wege allenfalls gewaltsam hergestellt werden kann, dann dürften Arnims Kronenwächter auf intime Weise mit den Signaturen und Optionen der romantischen Zeit kommunizieren – eine Weise freilich, die schon den Zeitgenossen nicht ganz geheuer war. In ihrer Stellung zur Romantik wird das, was in der Rezeption und Interpretation nur als Widersprüchlichkeit, Heterogenität, Überfülle und Unstimmigkeit diagnostizierbar war, einer Erklärung zugänglich, die auch Arnims etwas außenseiterische Position innerhalb der Epochenkonturierung der Romantik ein Stück weit erhellen mag. Die Interpretation möchte folgendes zeigen: Der Roman gibt ein Tableau der Optionen romantischen Denkens und Dichtens, ein Kom2 3

Ein guter Überblick über die Arnim-Forschung findet sich bei Hoffmann 1973. So bezieht sich z.B. Wingertszahn 1990 ausdrücklich auf Bachtin, Neuhold 1994 auf die Relevanz von Intertextualität für die Analyse.

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pendium jener Elemente, die sich zum »romantisch« Genannten verbinden; hier ist Arnim Romantiker. Aber der Roman distanziert die Elemente und Komplexe des Romantischen, er entmachtet ihre leitende Programmatik und nimmt den romantischen Optionen die Gesinnung zur Totalität und sinnstiftender Einheit. Das heißt: Arnim steht ganz im Horizont romantischer Optionen, aber er ist zugleich als ein großer Ironiker zu verstehen, in dem die Romantik selbstreflexiv wird. Der historische Roman Die Kronenwächter gewinnt damit eine Doppelbödigkeit, die ihn von anderen historischen Romanen wie etwa Walter Scotts oder Alessandro Manzonis unterscheidet. Er rekurriert auf das sagenhafte politische Programm in Gestalt der alten Kaisersagen, um es im historio-politischen Bewusstsein der eigenen Gegenwart mit den Kunstgriffen der Ironie vom Ernst seiner Mythisierungen ein Stück weit zu befreien. Ironie ist nicht nur eine Angelegenheit in Sachen Literatur, sondern auch in politicis. Jacob Grimm, dessen Schatten auch diese Ausführungen weiter begleitet, hat mit seiner deutlichen Kritik an Formlosigkeit, Überfülle und entkräftenden Verpflanzungen von Stoffen, Motiven, Sagen und Geschichte eine durchaus zutreffende Beobachtung formuliert. Versetzung, Deplazierung, Verdoppelung: diese romantischen Strategien der Kronenwächter erstrecken sich auch auf die Aufnahme und den Umgang mit den Elementen des Romantischen, und dies in mehrfacher Hinsicht. Arnim bezieht sich, in der Aufnahme des Staufer-Mythos, auf die prophetische Botschaft der Dichtung und ihre Einsetzung ins Leben; was der Roman darstellt, das ist das Scheitern dieser Programmatik der Veräußerlichung. Es handelt sich um einen Roman, der explizit Geschichte aufnimmt, sie aber als phantasmatischen Imaginationsraum behandelt, der Geschichtsbilder verinnerlicht. Der Roman konzipiert zwar einen Dichter-Souverän, aber dieser steht außerhalb heilsgeschichtlicher Orientierung oder projektierter Erlösung. Arnim knüpft an die romantische Konjunktur des Doppelgängerischen an, vermehrt aber die Doubletten auf eine Weise, dass der Gedanke der Stiftung einer Einheit entmachtet wird.

7. Historio-politische Romantik: Achim von Arnims Roman Die Kronenwächter

Geschichtsimaginationen Arnims Roman beschwört die Realisation von Dichtungen im Leben und demontiert sie doch zugleich als Programmatik. Speziell bezogen ist er auf den Staufer- bzw. Barbarossa-Mythos. Das »Hausmärchen«, zentral plaziert im Roman, ist die Sage eines von mythischen Mächten geleiteten Königs, der schließlich zum Stifter der Reichseinheit wird; in den Mund gelegt wird sie von Arnim dem Abgesandten der Kronenwächter. Für die Kronenwächter stellt dieses Märchen ein handlungsleitendes Modell zur Wiedererweckung eines neuen Kaisers dar, es gilt ihnen als prophetische Botschaft, ein Wahr-Sagen, dem das Fleisch-Werden des Wortes gewiss ist. In der Figur Bertholds, dem, so Werner Vordtriede (1965, Sp. 798), »ersten Anti-Helden der deutschen Literatur«, zerbricht dies Modell der Inkarnation. Die Verlebendigung gerät ihm zum Theater, die Welt seiner Imaginationen stellt sich als Welt von Requisiten heraus. Beispielhaft ist eine zentrale Stelle des Romans, in der Arnim das Projekt der Erweckung von Figuren der Bücher zu lebendiger Gegenwart mit dem Bezug auf literarische Werke verbindet, die ihrerseits die Belebung von Buchstaben thematisieren. Nachdem Berthold neues Blut zugeführt wurde, plagt ihn ein Verlangen nach Belebung. Unzufrieden damit, die Erzählungen der Bücher bloß mit Spielfiguren nachzustellen, bemerkt nun Berthold: »unsre Chriemhilde scheint mir nicht mehr so lebendig wie sonst, und Siegfried wird so steif und unbehülflich in seinem Wesen, daß ich lieber einmal selbst ihn vorstellen möchte.« Er wünscht zu reiten. Fingerling, treuer Freund, will diesen Wunsch befriedigen. »Da fiel ihm Berthold um den Hals und konnte kaum ruhen, bis die Sache ausgeführt war, ja er schlug vor, gleich nach dem Rathause zu gehen, wo von einem Komödienspiele, worin die Waiblinger sehr ausgezeichnet waren, ein trojanisches, hölzernes Pferd stehen geblieben, um Sitz und Haltung vorläufig zu üben. So taten auch die beiden Freunde, schützten Geschäfte vor und verschlossen sich in dem Rathaussaale, wo das hölzerne Pferd stand. Fingerling zeigte, so gut er es wußte, wie die Zügel und der Steigbügel zum Aufsteigen gefaßt sein wolle – mit einem Schwung

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saß Berthold oben und freute sich der Höhe. ›Nun gebt die Spornen, dann gehtʼs fort‹, rief Fingerling, ›aber haltet die Zügel, daß es nicht durchgeht, nicht zu fest und nicht zu wenig.‹ Auch das tat Berthold, bemerkte aber plötzlich solche Bewegung in dem Rosse, daß er die Zügel immer stärker anzuhalten für nötig fand, was aber alles nicht half, denn unaufhaltsam stürzte der stolze, von der Sonne ausgetrocknete Holzbau zusammen«. (Arnim 1989, S. 124) Diese Szene umfasst mehrere Zitate und Anspielungen, die sich gegenseitig kommentieren. In ihr wird das Heldenepos der Deutschen, das Nibelungenlied nachgestellt; sie enthält den Verweis auf das hölzerne Pferd der Troja-Dichtung (Anton kommt hier aus seinem Bauch) und auf die Phantasmagorien Don Quijotes. Schließlich ist sie als szenische Illustration von Hölderlins Gedicht »An die Deutschen« zu lesen, wo es heißt: »Spottet ja nicht des Kindes, wenn es mit Peitschʼ und Sporn/Auf dem Rosse von Holz mutig und groß sich dünkt,/Denn, ihr Deutschen, auch ihr seid/Tatenarm und gedankenvoll.//Oder kömmt, wie der Strahl aus dem Gewölke kömmt,/Aus Gedanken die Tat? Leben die Bücher bald?« Bertholds Verlangen nach Inkarnation, das er mit den Kronenwächtern teilt, erhält mit seiner Erfüllung die Züge komödiantischer Theatralik, aber keinen erlösenden Sitz im Leben. Der mit dem »Hausmärchen« formulierten Prophetie wird eine Kunstveranstaltung entgegengesetzt, die bestenfalls den Schein einer Verlebendigung erzeugen kann. Damit ist dem Märchen jener Sinn entzogen, den die Kronenwächter in ihm sehen. Dekomponiert wird die lebendige Kraft dieser einfachen Form, zumal die in ihr ausgesprochene Botschaft von der Wirkmächtigkeit mythischer Mächte. Darin dürfte eine kritische Antwort auf die romantische Option für die poetischkreative Natur der Volkspoesie liegen, deren Erweckung zu neuem Leben in der Figur des Anti-Helden eklatant scheitert. Darüberhinaus wird die heilsgeschichtliche Botschaft einer Erweckung des Wortes deplaziert: es bleibt bloßes Theater – eben »words, words, words«. Dass die Kronenwächter in der zu Beginn des 19. Jahrhunderts einsetzenden Konjunktur des Staufer-Mythos keine Aufnahme fanden, hat in der Arnimschen Entmythologisierung dieser Botschaften sicherlich einen Grund.

7. Historio-politische Romantik: Achim von Arnims Roman Die Kronenwächter

Man kann die Kronenwächter als eine Dichtung der Geschichte bezeichnen, die den romantischen Glauben an die Geschichte mit den Imaginationen anlässlich der Geschichte konfrontiert. Arnim soll zwar, einer Mitteilung Bettinas zufolge, den Plan gehabt haben, »Geschichte, Sitten und Gebräuche von ganz Deutschland in vier Bänden« zu schreiben4 , aber die Kronenwächter bewegen sich keineswegs auf der Ebene einer, wenn auch fiktionalisierten, historischen Darstellung im Sinne etwa Walter Scotts. Geschichtsfülle, scheinbar gesichert gegeben wie in einem aufgeschlagenen Buch, bildet, durchaus antiaristotelisch, nicht den Orientierungsrahmen für Arnims Zugang zu Geschichte. Zwar liegen die »Geschichten« »neben der Karte von Schwaben vor uns«, aber sogleich ist die Rede hingegen von den »Lüken in der Geschichte«, vom »Bild im Rahmen der Geschichte«. (Arnim 1989, S. 15) Es sind diese Lücken, die die Einbruchsstellen für die Vorstellungen davon abgeben, wie es gewesen sein könnte, Lücken, die den Imaginationsraum der Bilder ermöglichen. Eben hier setzt Dichtung ein. Der dreifache Anfang des Romans geht programmatisch vom Begriff der Geschichte über Geschichten, die »vor uns liegen«, zur Bühne, zur szenischen Darstellung – eine fast postmodern anmutende Komposition, die den emphatischen Singular auffaltet in ein Tableau von Figurationen und Konstellationen. Dichtung, die sich auf Geschichte bezieht, schreibt also von den Einbildungen, die diese mit sich führt; Dichtung spricht eben vom »Bild im Rahmen der Geschichte«. Sie steht, weil sie Geschichten erzählt, unter der Herrschaft des Konjunktivs: Es könnte so gewesen sein. Und diesem Modell folgt der Roman. Kaum erfährt der Leser historische Begebenheiten direkt; von ihnen wird aus der Perspektive anderer erzählt, die ihrerseits häufig gehörte Geschichten weitergeben. Lüge, Gerede, gar Scherz stehen damit im Rahmen der Geschichte. Dazu ein Beispiel. Der Berater Kaiser Maximilians teilt Berthold mit: Der Kaiser »›wünscht von Euch Nachforschung über die geheimen Führer

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So im Nachtrag zum zweiten, von Bettina herausgegebenen Band der »Kronenwächter«. Man wird diesen Hinweis jedoch mit Skepsis aufnehmen müssen, da Bettinas Interesse an der Fortsetzung des ersten Bandes bei weitem größer als Arnims Interesse war.

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des Bauernaufruhrs, der im Jahre 1514 um Waiblingen bei Beutelspach scheinbar wegen Maß und Gewicht ausbrach, eigentlich aber wohl von der Brüderschaft des Armen Konrad, worunter Konradin von Schwaben gemeint, angestiftet worden sei.‹ Berthold lächelte und meinte: ›(…) so viel ich damals gehört, so hat dieser Konrad nichts mit Konradin zu tun, es war ein Bauernscherz, sie wußten sich keinen Rat, wer sie führen sollte, da keiner gern seinen Hals daran setzen mochte, darum nannten sie ihren unsichtbaren Führer Keinrat, daraus wurde in ihrer Aussprache Konrad. Die Sage bildet gern etwas Zweideutiges in der Geschichte, so wurde auch dieser Name, wie die Orakel der Alten, zweifach ausgelegt.‹« (Arnim 1989, S. 168 f.) Konrad – Keinrat: selbst der Name figuriert als Einbruchsstelle für Imaginationen anlässlich der Geschichte; seine Mehrdeutigkeit ist der Effekt seines Gebrauchs – des Aussprechens in diesem Fall. An anderer Stelle muss Berthold feststellen, dass es der – im wahrsten Sinne profane – Gebrauch der Geschichte ist, der sie verdeckt. Zur Abdichtung einer Lattenwand werden Blätter der Chronik Waiblingens benutzt, sodass ausgerechnet der Chronist Berthold, einer der Ziehväter Bertholds, feststellen muss, dass »ein gut Stück Geschichte zugeklebt« ist. (S. 28) Die geschichtliche Quelle ist, im ganzen Doppelsinn des Wortes, unrein, sodass auch die Rückkehr zum Ursprung verstellt ist. Weder der Rekurs auf Geschichte noch der auf Geschichten stellt einen Versicherungsort ursprünglicher Wahrheit bereit.5 Jakob Grimm hat dies, auf seine Weise, durchaus zutreffend bemerkt, wenn er feststellt, Armin brauche die vielen alten Bücher zu 5

Paul Michael Lützeler hebt im Kommentar zu den »Kronenwächtern« Arnims poetischen Umgang mit der »Sage« hervor, in dem alte Sagen aufgenommen, historische Berichte als Sage behandelt und neue Sagen erfunden würden, sodass von einer, freilich nur in diesem Werk vorliegenden Gattung der »romantischen Kunstsage« zu sprechen sei (Arnim 1989, s. bes. S. 650 ff, z.T. ausführlicher im Nachwort zur Reclam-Ausgabe der »Kronenwächter«). Die Entkräftung der sagenhaften Imaginationen anläßlich der Geschichte sieht Lützeler speziell bezogen auf die Staufer-Sage bzw. das Hausmärchen der Kronenwächter, weniger als poetische Praxis, die sich gegen romantische Geschichtsnutzungen wendet. Eine solche gattungspoetische Interpretation unterstellt dem Roman aber eben das als Intention, was zugleich der Gegenstand seiner Kritik ist.

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den seinen, und deshalb sei ihm, Grimm, er müsse wünschen, Arnim hätte sie nicht gelesen. (Steig/Grimm 1904, Bd. 3, S. 192) Wenn Arnim mit seinen Geschichten eben der Geschichte keine Treue hält, so darf man darin, bei aller Aufnahme der Historie und insbesondere der zweifachen Rückwärtsgewandtheit im Roman, eine Verlagerung des romantischen Geschichtsbezuges sehen, wie er insbesondere in den Referenzen auf die mittelalterliche Welt als ein geschichtsträchtiges Modell künftiger Zeiten Kontur gewonnen hatte. Aus einer dem Konjunktiv, jenem Freund verpasster Gelegenheiten zugeführten Geschichte lässt sich kein Telos der Geschichte machen. Gewiss erfährt die Dichtung bei Arnim eine Ermächtigung. Aber Arnim wäre ein schlechter Ironiker der Romantik, erführe nicht auch die Positionierung der Dichtung als Souverän eine eigentümliche Wendung. Zwar schreibt Arnim in der Einleitung zum Roman, die Dichtung betreffend: »Es gab zu allen Zeiten eine Heimlichkeit der Welt, die mehr Wert in Höhe und Tiefe der Weisheit und Lust, als alles, was in der Geschichte laut geworden.« (Arnim 1989, S. 13) Aber es handelt sich bei diesem Dichtungskonzept um, wie es Ulfert Ricklefs (1990 b, S. 48 ff.) mit einer Arnim entlehnten Formulierung bezeichnet, das Konzept einer »getäuschten Täuschung«. Das heißt: Dichtung führt vor, wie jener, der täuscht, seinerseits so getäuscht wird, dass er selbst an seine Täuschung glaubt. Die seltsame oder »andere« Wahrheit der Dichtung liegt darin, dass sie die Macht der in Geschichte einbrechenden Einbildungskraft erhellt.

Poetische Maskeraden und Doubletten In der einzigen Dichterfigur des Romans, Grünewald, offenbart sich ein von den genieästhetischen Optionen romantischen Denkens entkleidetes Konzept des Poeten. Die souveräne Position des Dichters, dessen, wie es im 116. Athenäumsfragment heißt, »Willkür kein Gesetz über sich leide«, wird fortgeschrieben und zugleich verlagert von seiner eigentlichen Inthronisation zur karnevalesken. Grünewald, die vielleicht groteskeste Figur in diesem figurenreichen Roman, wird als lustiger,

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ältlicher Sänger beschrieben, der in manche Händel verwickelt ist. Er dichtet für Geld, singt dem reichen Fugger ein Lied vom großzügigen Mäzen, und dieser tut, wie ihm gesungen wurde. (Arnim 1989, S. 234 ff.) Der arme Sänger tritt verkleidet auf, vor allem im Kostüm einer jungen Tirolerin, doch auch in »schimmernden Hofkleidern als Geschäftsmann« (S. 278), als Wahrsagerin und gar als spukendes Gespenst und Prostituierte. Maskierungen nutzend, verkörpert er Öffentlichkeit, das Gegenstück zur geheimen Gesellschaft. Es heißt: »er ließ sich mit allen Leuten ein und hatte gar kein Geheimnis«, und sprach »über alles mit jedem, ohne zu beachten, ob es schade«. (S. 296, 302) Der in die öffentliche Maskerade plazierte »heilige Dichter«, ein »Seher«, so Arnim (S. 14), verkörpert die Ausführung eines geheimnislosen Täuschungskonzepts. Er, der selber täuscht, kann erkennen, dass er Täuschungen erliegt. In Grünewald findet sich die figurale Ausführung eines nun freilich veröffentlichten Täuschungskonzepts. Der Karneval ist das aus heilsgeschichtlicher Orientierung ausbrechende Fest der Verwandlung. Arnim widerspricht darin der Neigung seiner Zeit, »die ihr Zeitliches überheiligen möchte mit vollendeter, ewiger Bestimmung« (Arnim 1989, S. 13) – eine mehr als deutliche Anspielung auf Novalis, mit der Arnim davon Abstand nimmt, die Welt romantisieren zu wollen. Grünewalds Lied formuliert hier unmissverständlich den Abschied vom geheimen Telos als Prinzip des Zeitenwandels, wie es in der architektonischen Gestalt als Kronenburg von den Kronenwächtern beschworen wird: »Nun ade, du altes Schloß,/ Das da über mit gehangen,/All mein Hoffen und Verlangen,/War auch nur ein Wolkenschloß,/Nun ade, ihr ew’gen Quellen,/Die ich gähnend angesehn«. (S. 274) Mit Grünewalds Verwandlungskunst, die ins Karnevaleske6 gerückt ist, erhält der Dichter die Züge des Profan-Öffentlichen. Zwar kennt die Maskerade ebensowenig ein Gesetz über sich wie der romantische Poet, aber sie ist eine sehr brüchige Konzeption des Dichter-Souveräns, in die 6

Wingertszahn 1990 macht zu Recht darauf aufmerksam, dass die »Karnevalisierung« ein durchgängiges Gestaltungsprinzip der »Kronenwächter« ist (S. 333). In der Figur Grünewalds aber ist es zudem explizit an den Dichter gebunden.

7. Historio-politische Romantik: Achim von Arnims Roman Die Kronenwächter

sich keine auf Dauer gestellte Stifterfunktion einschreiben lässt.7 Die Sicherheit des Genialischen, das die Disparatheiten der Welt unter sein Gesetz zu bringen und ihre schließliche Einheit zu versprechen vermag, ist Grünewald so fremd wie das unendliche Sehnen. Vielleicht liegt ein populistisch-demokratischer Zug in der karnevalesken Depotenzierung eines im Dichter verkörperten legislativen Telos. Dass Grünewald jedenfalls dem Erkenntnisanspruch erhabenen Schöpfertums nicht fraglos folgen kann, wird schließlich offensichtlich in der Tätigkeit des Poeten, dem sich auch das, was er sagen will, unwillkürlich verwandelt. Grünewald erschrickt einmal beim Dichten, als er bemerken muss: »das Wort hatte sich ihm im Munde umgedreht.« (Arnim 1989, S. 317) Verwandlungen außerhalb des Zugriffsbereichs eines regierenden Souveräns: das ist die karnevaleske Situation, in der auch der Dichter steht. Freilich leiten all seine Verwandlungen kaum auf die schließliche Enthüllung eines Wesentlichen, das sich auf Dauer stellen ließe: sie bleiben dessen Verstellung. Der Roman nimmt ein zentrales romantisches Motiv auf, den Doppelgänger, aber er verwandelt dieses Motiv in ein formales Konstruktionsprinzip des Romans. Das auf einen Protagonisten bezogene und im personalen Seelenleben gründende Zerbrechen des Persönlichkeitsbewusstseins, die schizoide Spaltbarkeit der Identität in einem doppelten Bewusstsein, wird in den Kronenwächtern zu einer Struktur, die jenseits der Psychologie eines Subjekts steht und dem Leser die Leistung der Einfühlung verbaut. Mit Strukturen kann man sich nicht identifizieren. Exorbitant vermehrte Doppelungen bestimmen den Roman. Schon der Name des Protagonisten ist eine Doppelung: Berthold Berthold. Das betrifft des Weiteren die personale Ausstattung des Romans insgesamt. Im Verhältnis von Doubletten stehen, um nur einige zu nennen, die beiden Pflegeväter Bertholds sowie seine beiden Mütter, die Geheimgesellschaft der Kronenwächter und die der Freimaurer, Faust und Luther, der 7

Insoweit dürfte weniger von einer »Auflösung« bzw. »Demontage« des Künstler-Subjekts zu sprechen sein (so Dunker/Lindemann 1993), sondern von einer dezidiert anders gelagerten Positionierung, einer Verstellung des Poeten.

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Dichter Grünewald und Konrad, der unzuverlässige, schurkige Stauferabkömmling. Ausgedehnt wird die Komposition mit Doubletten zum anderen auf die Motivik und Konfigurationen des Romans, so etwa in den Verweisungen zwischen Bertholds Bau am »Vereinigungsbrunnen« und dem Bau des Straßburger Münsters, den Webkünsten von Bertholds totem leiblichen Vater und der Tuchfabrik des Sohnes, der Motivik des Blutes, das sowohl mit Geschlechtermystik wie mit dem Blut des Staates, dem Geld, konnotiert wird, und schließlich, zentral im Roman, in der Konstellation von Kronenburg und Schloss Hohenstock. Alle diese Doppelungen stehen im Zeichen von Gegensätzen. Aber sie bilden keinen Widerspruch, der sich nach einer positiven und einer negativen Seite hin fassen ließe, etwa im Widerstreit von Idealem und Realem, Gutem oder Bösen. Die Struktur der Doppelung in den Kronenwächtern sprengt die Konnotation des Doppelgängerischen mit festen allegorischen Sinngebungen in der Folge eines dualistischen ethischen Prinzips der festen Verteilung von Gut und Böse. Sie sprengt ebenfalls ein interpretierendes Raster, das die vermehrten Doppelungen subjektpsychologisch als Ausdruck eines hochgradig fragilen persönlichen Selbstbewusstseins auszudeuten unternähme. Das Prinzip der Doppelung als tragende Struktur der ästhetischen Komposition fungiert vielmehr als ein Auslegungskonzept mittlerer Reichweite: es führt das Unzutreffende von Auslegungen vor, die, auf Eindeutigkeit zielend, ihr begleitendes Doppel glauben eliminieren zu können. Es wird hingegen »zweifach ausgelegt« (Arnim 1989, S. 169), d.h. die implizite Hermeneutik der Ästhetik der Doppelung macht Halt auf halber Strecke – dort, wo eine Setzung ihre Gegensetzung zum Verschwinden zu bringen droht. Am Beispiel von Schloss Hohenstock und der Kronenburg lässt sich die spezifische Leistung der Ästhetik der Doppelung erläutern. Während die Kronenburg als ein wohlgestalteter, irgendwo über der Welt erbauter gläserner Palast beschrieben wird, betritt der Leser Hohenstock, das irdische Pendent, einen in Sümpfen gelegenen Bau, der, so bemerkt Berthold, »gar seltsam verwirrt scheine, die Gebäude lägen in allerlei spitzen Winkeln, selbst in Krümmungen aneinander«. Zwar ist die irdische Ausführung des die Krone bergenden Baus mehr als enttäuschend, doch zugleich wird Hohenstock auch als Paradies beschrieben: »bei uns da ist

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alles im Überfluß, was sich ein Mensch wünschen kann«. (Arnim 1989, S. 261 f.) Die ideale Kronenburg hingegen ist, ihrer ästhetischen Qualitäten ungeachtet, zugleich jener Ort, an den geraubte Kinder entführt und von martialischen Wächtern gefangengehalten werden; man weiß auch, dass dort manch abgeschlagener Kopf liegt. Die gegensätzliche Stellung lässt sich hier nicht vereindeutigen, in der Doublette bleiben die beiden Pole des Widerstreits koexistent.8 Sie erfahren keine Hierarchisierung, die es erlauben würde, die Doppelungen so zu vereinheitlichen, dass sie zu einem Sinn bereinigt würden. Die Kronenburg kann, und dies gilt auch für die Umkehrung der Beziehung, keine dominante Stellung gegenüber ihrem Gegensatz einnehmen. D.h.: die Struktur der Doppelung expliziert, dass eine jede Setzung unausrottbar eine Gegensetzung mit sich führt, deren Ausschließung Arnim verweigert. Dies gilt auch für andere Facetten des Widerstreits, wie sie in Doubletten expliziert werden, etwa krank und gesund oder geheim und öffentlich. Jede Figur oder Motivik des Romans wird in einer anderen gespiegelt und zugleich ein Stück weit parodiert. Diese Struktur multipler Verdoppelungen mag insbesondere dazu geführt haben, dass Erzählstrukturen und Charakterkonstellationen in Arnims Roman sowohl den Zeitgenossen wie heutigen Interpreten die wiederkehrende Bemerkung abnötigen, dass der Zugang zum Werk erschwert sei.9 Die Ästhetik der Doppelung leistet die Deplazierung von Setzungen und meidet darin die Herrschaft einer den Gegensatz regierenden Position. Was die romantische Angst vor unaufhebbaren Spaltungen war, erhält bei Arnim das zivilisierte Gesicht der ironischen Entmachtung der Herrschaft des Einen durch sein Double. Insoweit darf man die Kronenwächter vielleicht einen modernen Roman in der Romantik nennen, dem, spät für

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Neuhold 1994, S. 251 stellt hinsichtlich der »Grundoppositionen« im Roman fest, dass sich »bei allen Gegensätzen auch Gemeinsamkeiten (finden)«, zieht daraus aber keine Schlußfolgerungen für die Stellung der Kronenwächter zu den Optionen romantischen Denkens. Vgl. hierzu die Bemerkungen im Vorwort zum von Burwick und Fischer 1990 herausgegebenen Überblick über Neue Tendenzen der Arnim-Forschung.

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die Romantik, doch früh für die Problematik der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts, die Gesinnung zur Totalität abhandengekommen ist. Die Komplexe, die die Stellung der Kronenwächter zu den Optionen romantischen Denkens und Dichtens erhellen, zusammengefasst: Arnim stellt die Inkarnation des Wortes als den Schein einer Verlebendigung dar und macht mit seinem Bezug auf Geschichte die Imaginationen anlässlich von Geschichte zum Thema. Der Dichter-Souverän wird in den öffentlichen Raum karnevalesker Verwandlung gerückt, und die Ästhetik der Doppelung erweist sich als Konzept mit detotalisierender Wirkung. Diese Strategien antworten auf romantische Optionen, indem sie sie ironisch wenden und einer Selbstreflexion öffnen. Leitende Konturen romantischen Denkens – die »Verwirklichung« der Poesie, den Rekurs auf Geschichte, die Inthronisation des Dichters, die unheimliche Zweiseitigkeit sowohl der Erfahrung wie der Interpretation – nimmt der Roman zwar auf, aber sie sind nicht das tragende Gerüst einer poetischen Explikation, die sie gleichsam nur illustrieren würde. Der Roman macht sie vielmehr zu seinem Gegenstand, d.h. er rückt sie in Distanz, ohne sie zu eliminieren. Wenn Ulfert Ricklefs (1990 a, S. 211) zu Recht bemerkt, es handele sich bei den Kronenwächtern um ein »entideologisierendes Buch«, das Geschichte entmythologisiere, so wird man diesen Befund ausdehnen können auf Arnims Umgang mit dem romantischen Denken seiner Zeit. Dass die Kronenwächter in der Romantikforschung eine eher marginale Rolle innehatten, dürfte seinen Grund in jener Dekomposition von Ideologie haben, zu der die Forschung erst langsam gefunden hat, die aber von Jakob Grimm in seiner Bemerkung über das Verfahren von »Verpflanzungen« so hellsichtig formuliert worden war. Insoweit sind die Kronenwächter lesbar als ein bemerkenswert moderner literarischer Kommentar zur Romantik, in dem der »originellste Kopf der romantischen Schule« das, was ihr bekanntestes Prinzip gewesen ist, die Ironie, auf sie selber angewandt hat. (Zuerst unter dem Titel »Achim von Arnims Roman ›Die Kronenwächter‹ in seiner Stellung zur Romantik« in: Athenäum. Jahrbuch für Romantik 5. Jg. Hg. v. Ernst

7. Historio-politische Romantik: Achim von Arnims Roman Die Kronenwächter

Behler, Jochen Hörisch, Günter Oesterle, Paderborn, München 1995: Schöningh, S. 101-115. Überarbeitet.)

Literatur Arnim, Achim von. 1989. Die Kronenwächter. Achim von Arnim Werke in sechs Bänden. Bd. 2. Hg. v. Paul Michael Lützeler. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. Burwick, Roswitha. 1989. Dichtung und Malerei bei Achim von Arnim. Berlin, New York: de Gruyter. Burwick, Roswitha, Bernd Fischer. Hg. 1990. Neue Tendenzen der ArnimForschung. Bern, Frankfurt a.M.: Lang. Dunker, Axel, Annette Lindemann. 1993. Achim von Arnim und die Auflösung des Künstler-Subjekts. Alchimistische und ästhetische Zeichensysteme in der Erzählung »Die drei liebreichen Schwestern und der glückliche Färber«. In Zeitschrift für deutsche Philologie. 112. Bd. Sonderheft 1993, S. 65-78. Fechter, Peter. 1941. Geschichte der deutschen Literatur. Berlin: Knaur. Göres, Jörn. 1956. Das Verhältnis von Historie und Poesie in der Erzählkunst Achim von Arnims. Heidelberg: Diss. Hoermann, Roland. 1990. Achim von Arnims 1854 »Kronenwächter«text. Bettina’s Forgery or Berthold’s Forerunner, start of a sequel or end of an ›Ur-Kronenwächter‹?. Stuttgart: Akademie. Hoffmann, Volker. 1973. »Die Arnim-Forschung 1945-1972«. In Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Jg. 47. Sonderheft, S. 271-342. Stuttgart, Weimar: Metzler. Lenz, Hans-Uffo. 1938. Das Volkserlebnis bei Ludwig Achim von Arnim. Berlin: Ebering. Mayer, Hans. 1963. Zur deutschen Klassik und Romantik. Pfullingen: Neske. Neuhold, Martin. 1994. Achim von Arnims Kunsttheorie und sein Roman »Die Kronenwächter« im Kontext ihrer Epoche. Tübingen: Niemeyer. Ricklefs, Ulf. 1990 a. Kunstthematik und Diskurskritik. Das poetische Werk des jungen Arnim und die eschatologische Wirklichkeit der »Kronenwächter«. Tübingen: Niemeyer.

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Ricklefs, Ulf. 1990 b. Magie und Grenze. Arnims »Päpstin Johanna«-Dichtung. Mit einer Untersuchung zur poetologischen Theorie Arnims und einem Anhang unveröffentlichter Texte. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht. Schneider, Reinhold. 1953. Die Sendung Achim von Arnims. In: Über Dichter und Dichtung. Ausgewählte Werke. Bd. 3. Köln und Olten: Hegner. Steig, Reinhold; Grimm, Hermann (Hg). 1904. Achim von Arnim und die ihm nahestanden. 3 Bde., Bd. 3. Stuttgart: Cotta. Vordtriede, Werner. 1965. Die Kronenwächter. In Kindlers Literaturlexikon, Zürich: Kindler. Wingertszahn, Christof. 1990. Ambiguität und Ambivalenz im erzählerischen Werk Achim von Arnims, St. Ingbert: Röhrig.

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Dichter und Intellektuelle haben sich nicht nur immer wieder die politische Frage nach Deutschland vorgelegt oder, wie Achim von Arnim in seinem Roman Die Kronenwächter, den Stiftungsmythos einer neuen Reichseinheit ins literarische Visier genommen. Sie haben auch ihre Ideen und Fragen im Blick auf Europa formuliert und literarisiert, und dies insbesondere anlässlich der Erfahrungen historischer Brüche und Umwälzungen, in denen Europas Masse, seine Länder und Leute nach Konturen suchen.1 Hier interessieren solche Thematisierungen von Europa und seiner politischen Masse in zwei historischen Lagen: um 1800 und um 2000 im deutsch-europäischen Spannungsfeld.

Bevölkerungen, Territorien Am Ende seiner 1803 erschienenen Abhandlung Germanien und Europa schreibt Ernst Moritz Arndt: »Diesen Traum habe ich vollendet am 22. November 1802, er ist mir aber nicht bloß Traum. Ich habe Germanien darüber geschrieben, daß man mein Urtheil verstehe und richte aus meinem Volke und nach meinem Volke; ich habe Europa darüber geschrieben, nicht prahlerisch, sondern weil die Haupttheile Europens mit in die Fläche meines politischen Spiegels fielen.« (S. 434) 1

Ein Durchgang durch die politische Ideengeschichte bei Münkler 1996. Europa habe »in fast allen großen Konflikten immer wieder selbst zur Disposition gestanden bzw. ist zur Disposition gestellt worden.« (S. 113). Zur vorwiegend schriftstellerischen Essayistik: Lützeler 1994.

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Wenn Arndt von einem politischen Spiegel spricht, so hat dies einen präzisen Grund. Denn Arndt setzt sich damit von jenen Fürstenspiegeln ab, die, wie wir im zweiten Kapitel untersucht haben, als ein dem 18. Jahrhundert geläufiges Textgenre den Souverän darüber zu belehren suchten, wie dieser denn seinen Staat am besten einzurichten und zu regieren hätte. Fürstenspiegel sind Ratgeberliteratur für der Tugend verpflichtete Herrscher und Konzepte des Politischen, die von der Spitze aus denken. Ihr Traum umkreist die geistig-moralische Höhe des Herrschers. Arndts politischer Spiegel hingegen denkt von unten. Er spricht von den »größeren Menschenmassen, die man Staaten nennt«. (Arndt 1803, S. 87 f.) Der Staat, so heißt es, »ist ja nichts als viele Menschen«. (S. 3) Die Inkorporation des Staates in der Figur des Herrschers kommt bestenfalls der »Verwechslung des einzelnen Menschen und des ganzen Staates« gleich. (S. 2) Ihr setzt Arndt die Referenz auf die »vielen Menschen« entgegen. In der Deklination von Volk zu Bevölkerung ist die eine Seite dessen zu sehen, was als Phänomen der Masse in den Horizont von Arndts Denken tritt. Die zweite Dimension von Masse in Germanien und Europa ist die geographische. Und auch hier wird von unten gedacht, von der Landmasse und dem Territorium her, auf dem sich jene Menschenmassen finden. Bevölkerung und Territorium stellen die beiden Ausformungen des Problems der Masse dar, das in seiner ganzen irdischen Schwere von Arndt zur Geltung gebracht wird. Vor diesem Hintergrund reflektiert der politische Spiegel Germanien und Europa, entwirft die Bedingungen des politischen Umgangs mit jenem Phänomen der Masse. Eine solche im doppelten Sinne zu verstehende Masse kann kritisch werden, und dies in einem wiederum zweifachen Sinne: sie kann als Masse selbst einen kritischen Zustand erreichen, und sie kann als kritisches Potential einen Zustand oder Prozess irritieren, befördern oder blockieren. Für Deutschland und Europa heißt dies in unserer Gegenwart einmal das Erreichen einer kritischen Masse in den Diskussionen um die Erweiterung der Europäischen Union bzw. ihre Grenzen, und das andere Mal z.B. die Ablehnungen des EU-Verfassungsvertrages in den Referenden in Frankreich und den Niederlanden im Jahre 2005. Die Reflexion Europas hat sich, folgt man den langen Linien seiner Ge-

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schichte, keineswegs auf die Rahmung des politischen Denkens durch die Fixierungen auf Souveräne oder den nationalstaatlichen Horizont beschränkt. Europas kritische Masse weist darüber hinaus. Das Thema Deutschland und Europa ist bei Arndt als eine zweiseitige Problematik entwickelt. Der Traum, von dem er spricht, enthebt von dieser Spannung nicht. Im Gegenteil: dort, wo sich die Frage nach Deutschland stellt, ist die nach Europa nicht weit – was auch umgekehrt gilt; es handelt sich um eine Reflexion des einen im anderen. Zum einen verdankt sich die Referenz auf Europa und auf die Wege dorthin nicht zuletzt dem Wunsch, verfahrenen Wegen der eigenen Nation zu entkommen. Europa-Debatten fungieren nicht nur bei Arndt immer auch als Lösungs- und Erlösungsdiskurse im Blick auf die eigene Nation.2 Arndts Abhandlung verweist zum anderen auf ein weiteres Charakteristikum von Europa-Debatten. Denn so sehr man auch feststellen kann, dass sich diese Debatten spätestens seit dem 17. Jahrhundert etwa mit den Memoiren des Herzogs von Sully bis heute hinziehen, so sehr ist mit Paul Michael Lützeler zu diagnostizieren, dass Europa-Reflexionen vor allem mit der Erfahrung von Revolutionen eine diskursive Konjunktur gewinnen.3 Die wichtigsten Daten dürften hier 1789, 1830, 1848 und 1989 sein. Wenn Arndt 1802 über Germanien und Europa schreibt, so ist dies eine Antwort auf die Erfahrung der Französischen Revolution. Europas kritische Masse, d.h. das Denken Europas von unten, impliziert zwei Vorstellungen von Masse, das eigene Territorium im Großraum Europa, wie immer man seine Grenzen zieht, und die Menschenmassen mit ihrem Verhalten in den europäischen Umbruchssituationen. Hier stehen Werke im Zentrum, die die europäische Frage im Verbund mit der deutschen vor dem Erfahrungshintergrund von 1789 und 1989 reflektieren und die jeweils einige Jahre nach diesen Umbruchsda-

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S. die einen breiten historischen Rahmen aufspannenden Beiträge in dem von Degler 2008 hgg. Band. Zur Europa-Frage nach 1989: Segebrecht/Conter 2003. Lützeler 1992, S. 28 f. Europa-Diskurse im 20. Jahrhundert behandeln die einzelnen Aufsätze in Delvaux/Papiór 1996.

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ten geschrieben wurden.4 Dabei hat es die Literaturwissenschaftlerin nicht leicht, sofern sie hier auch fiktionale Literatur befragen will. Denn die Schriftsteller haben sich, wie Intellektuelle und Philosophen auch, in beachtlichem Umfang sowohl zu Deutschland wie zu Europa geäußert, aber sie haben dies vorzugsweise in der Form des Essays getan. (Keller/ Rakusa 2003) Für die fiktionale Literatur hingegen scheint zu gelten, dass Europa vor allem in den Variationsformen des Mythos erscheint. Sollte Europa – vom System der textuellen Verfasstheit gesehen – nur begrenzt literarisierbar sein, sofern es um die literarische Fiktion geht? Von Seiten der Schriftsteller selbst wie in den zahlreichen sekundärliterarischen Untersuchungen zu deren Eurovisionen liegt der Focus des Interesses in der Tat vor allem auf staatspolitischen Entwürfen und jüngst in besonderer Weise auf den Konstruktionen oder Dekonstruktionen dessen, was kulturelle Identität genannt wird. Lenkt man dagegen den Blick von den essayistischen Selbstpositionierungen der Schriftsteller in den EuropaDebatten auf ihre Werke, so stößt man bei der Suche nach kritischen Massen Europas auf theatralische Formen, Bevölkerungen auf die Bühne zu bringen.5 Die Verbindung von schriftstellerischer Eurovision und dem Diskurs über die Masse ist bislang nur am Rande behandelt worden.6 Dies hat sozial- und diskurshistorische Gründe, an die kurz zu erinnern ist. Der Aufstieg der Masse, die zuvor Volk, Plebs oder Pöbel war, findet im Zuge

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Zu den Resonanzen zwischen 1789 und 1989 s. auch: Eßbach/Karpenstein-Eßbach 2005. Einen Bedeutungsgewinn der Masse in der Literatur nach 1990 stellt Gamper 2005 fest. Zur Wiederbelebung chorischer Elemente im Theater der neunziger Jahre s. die Beiträge von Haß, Kurzenberger und Heeg in: Fischer-Lichte/ Kolesch 1999. Baur 1999 legt das Wiederaufleben des Chores im postdramatischen Theater dar, mit Schwerpunkt auf den dramaturgisch-technischen Mitteln. Zum Konnex von Chor und Gemeinschaft: Kuberg 2021. Dagegen sind »Volk« oder »Nation« auf der einen und Konzepte von »Weltbürgertum« auf der anderen Seite häufiger behandelt worden. S. Bormann 1998; Bolz/Kittler/Zons 2000; Thielking 2000.

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der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts statt. Zunächst klassenanalytisch bei Marx gefasst, wird Masse am Ausgang des 19. Jahrhunderts mit Gustave Le Bon, später mit Sigmund Freud, Ortega y Gasset und anderen eine Frage der Massenpsychologie. Masse erweist sich in der geschichtlichen Entwicklung ihrer Theoretisierung als ein Phänomen, in dem sich Modernisierungsfragen und Entdifferenzierungsprozesse miteinander verschränken.7 Die Verachtung der Massen, die durchaus im Sinne des doppelten Genitivs zu verstehen ist, ist denn auch vor allem in einem kulturpessimistischen Diskurs zu Buche geschlagen, dessen Denkhorizont immer schon durch das Schisma von Kollektivität und Individualität geprägt ist.8 Wenn im Folgenden Europa unter dem Gesichtspunkt seiner kritischen Masse behandelt werden soll, so nicht, um gegen kulturpessimistische Massenverachtung ihre popular-kulturelle Rehabilitierung zu betreiben. Die Einlagerung des Begriffs der Masse in den Theoriezusammenhang von Kulturindustrie und Massenmedien hat aber lange verdeckt, dass Gliederungen der Masse und ihr Kritisch-Werden im Blick auf die europäische Konstellation zu verhandeln sind. Auf der Ebene massenmedial induzierter Prozesse wird Europa ebenso zu kurz gedacht wie aus der Perspektive auf eine europäische Identität. Europas kritische Masse im Anschluss an 1789 und an 1989 wird essayistisch, aber auch in literarischen Werken verhandelt. Für den Essay gilt, dass wir es mit einer expliziten oder impliziten Thematisierung der

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Einen Überblick, in dem auch die Fragen politischer Macht und Organisationsformen der Masse aus der Perspektive von Historikern behandelt werden, geben die Beiträge in Lappenküper/Scholtyseck/Studt 2003. Eine umfassende Aufarbeitung der Sozialgeschichte der Masse und insbesondere der Massendiskurse bei König 1992. König weist darauf hin, dass der »große kulturkritische Schwung«, mit dem insbesondere nach 1945 in Deutschland »über die negative Bedeutung der Masse in der Geschichte geredet wird«, nicht zuletzt dazu diente, dass »über den Nationalsozialismus geschwiegen werden« konnte. (S. 248) Zur psycho-historischen Dynamik der Masse: Sloterdijk 2000. Zu den ideologischen Frachten von Großgruppenbezeichnungen und ihren historischen Transformationen s. Eßbach 2005.

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Masse zu tun haben, für die Literatur hingegen, dass es sich hier um eine Frage ihrer darstellenden Gestaltung handelt. Der literarische Ort, an dem die Massen ins Spiel kommen, ist das Theater.9 Im Chor darf man das klassische Gestaltungsmittel der Repräsentation von Bevölkerung sehen, in den Auftritten jener namenlosen Figuren, die nicht für sich, sondern für ihre Zahl stehen, eine weitere Verkörperung der Masse. Wir werden uns deshalb, ganz dem Denken von unten entsprechend, auf zwei Theaterstücke konzentrieren, die nicht mit ihren Helden, sondern mit dem Auftritt der Massen starten: auf Schillers Wallensteins Lager von 1800 und auf Botho Strauß’ Schlußchor von 1991. Neben Arndts Abhandlung von 1802 werden wir für die Reflexionslage nach 1989 Peter Sloterdijks von ihm so genannte »Gedanken zum Programm einer Weltmacht am Ende des Zeitalters ihrer politischen Absence« von 1993 heranziehen, die den Obertitel Falls Europa erwacht tragen – nicht allein, weil auch hier ein Traum bzw. eine Abwesenheit aufgerufen werden, sondern vor allem, weil sich einige markante Verschiebungen in der doppelten Perspektivierung der Massen abzeichnen werden.

Politische Mengenlehren, ideell oder irdisch Nachdem man seit 1789 mit der Revolutionsbereitschaft der Massen in Europa rechnen muss, beginnt Schiller im Oktober 1796 mit der Arbeit am Wallenstein und ruft damit jenen ersten europäischen Bürgerkrieg auf, in dem sich die Kämpfe um Religion mit den Konkurrenzen staatlicher Souveränitäten unauflöslich ineinander verschränkt hatten. Schiller eröffnet die Trilogie, indem er die Massen auf die Bühne stellt, nicht aber den titelgebenden Helden und nicht ohne die Zuschauer schon im Prolog aufzuklären: »Sein Lager nur erkläret sein Verbrechen«. (Schiller 2004, S. 273)

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Hervorzuheben ist im Hinblick auf das Theater die Untersuchung von Schlaffer 1972. Graczyk 1993 bemerkt: »in der Literaturwissenschaft gibt es so gut wie keine Untersuchung zur ästhetischen Entwicklung der Massenvorstellung« (S. 33).

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Das Lager verkörpert ein Modell des Politischen unter den Bedingungen des kriegerischen Ausnahmezustandes und der Formierung von Massen. In Massenpsychologie und Ich-Analyse hat Sigmund Freud das Heer als eine Ordnung der Masse untersucht, die einen hochorganisierten und künstlichen Charakter hat. Ältere Elemente politischer Ordnung wie territoriale Bindung oder Geburt und Herkunft sind außer Kraft gesetzt, sie werden abgelöst durch einen Raum kriegerischer Politik, dessen Struktur nach Funktionszusammenhängen gebildet wird, um die Massen in ihn einzubinden, und der sich auf der Grundlage der organisierten Masse selbst trägt. Das Lager bei Schiller versammelt eine zusammengewürfelte Masse aus allen Gegenden Europas und des Reiches und aus allen sozialen Schichten. So beginnt das Stück mit dem Vorhaben des Bauern, sein Glück mit dem Würfeln zu versuchen. Der Erste Jäger fragt rhetorisch: »Lief ich darum aus der Schul’ und aus der Lehre, Daß ich die Fron und die Galeere Die Schreibstub’ und ihre engen Wände In dem Feldlager wiederfände? – Flott will ich leben und müßiggehn, Alle Tage was Neues sehn, Mich dem Augenblick frisch vertrauen, Nicht zurück, auch nicht vorwärts schauen – « (Schiller 2004, S. 284 f.) Im Prozeß dieser Entbindung und Entdifferenzierung formiert sich zugleich eine neue Einheit, die nicht allein militärisch, sondern ebenso politisch zu verstehen ist. Der Wachtmeister stellt fest: »Nun! Und wer merkt uns das nun an, Daß wir aus Süden und aus Norden Zusammengeschneit und -geblasen worden? Sehn wir nicht aus wie aus einem Span?« (S. 301 f.) Die neue Einheit derer, die Schiller auf der Bühne versammelt und zu denen sich der Zuschauer sechzigtausend hinzu imaginieren muss (S. 300), stellt sich – so wird auch im Stück immer wieder betont – über ihren Feldherrn Wallenstein her, den Souverän, dem sie ergeben sind,

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da er, so der Wachtmeister, »absolute Gewalt hat« (S. 303). Dass aber die Souveränität unter den Bedingungen einer sich im Ausnahmezustand formierenden und formierten Masse keineswegs stabil ist, zeigt das ganze dramatische Gedicht. So bemerkt der Wachtmeister über die »kitzligten Ohren« des Feldherrn: »Und wenn der Hahn kräht, so macht’s ihm Grauen.« (S. 296) Der Hahn, der dem Jünger Petrus signalisiert, dass er seinen Herrn verraten hat, und der gallische Hahn als ein Weckruf der Revolution fusionieren mit Gerüchten und Meldungen über die konkurrierenden Ansprüche des Kaisers. Bei näherem Hinsehen auf die Organisationsform des Lagers erweist sich denn auch, dass der Anspruch, den Wallenstein geltend macht, nämlich »Europas großem Besten« zu dienen« (S. 332) – übersetzt: an der europäischen Neuordnung nach 1789 mitzuwirken –, keine Angelegenheit eines personifizierbaren, unumschränkten Herrschers ist, zumal Wallenstein auch noch in seiner ganzen Unberechenbarkeit dargestellt wird. Wallensteins »Ordre« ist vielmehr eine Ordnung auf der Ebene des Lagers. Ihre Regulationsprinzipien sind »Wirtschaftlichkeit, Leistungsfähigkeit und Effektivität«, freier Warentausch und freie Konkurrenz, Glaubens-, Gedanken- und Redefreiheit.10 Hier sind alle gleich. Der Zusammenhang der Vielen vermittelt sich nicht über konfessionelle Dogmatiken oder geistig-moralische Orientierungen, was die Massen mäßigt und lenkt, ist in der irdischen Sphäre der Kalkulation mit ihren Interessen angesiedelt. Noch bevor Wallenstein überhaupt als Figur in den Problemkreis der Entscheidung eintritt, hat das Lager schon für ihn entschieden, wenn ein »Pro memoria« von allen verfasst wird, in dem sie bekennen: »Daß wir zusammen wollen bleiben« (S. 308). Jetzt hat Wallenstein die Massen, die nicht von ihm lassen. Die »Soldaten aus dem Hintergrunde« treten auf und formieren sich, sich bei den Händen haltend, zum Chor, dem theatralen Medium der Masse schlechthin. In Abwandlung von Carl Schmitts berühmtem Diktum, wonach souverän sei, wer über den Ausnahmezustand bestimmt, gilt in Schillers »Wallenstein«, dass hier der Ausnahmezustand bestimmt, dass und wie die Masse auftritt. Vor dem Hintergrund des europäischen 10

Steinhagen 1990, S. 89. Zu »Wallensteins Lager« s. auch Heselhaus 1977.

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Bürgerkrieges wird sie von Schiller als eine entwurzelte, transnationale Menge auf die Bühne gestellt, die mit ihrem Pro memoria ein neues Modell politischer Massenorganisation entwirft. Die Masse in »Wallensteins Lager« kann im Hinblick auf ihre Quantität nicht kritisch werden, im Gegenteil: je größer ihre Zahl, um so besser ist ihr Erhalt. Kritisch werden kann sie hingegen in anderer Hinsicht: auf ihre Loyalität und Gehorsamsbereitschaft sowie ihre Interessen, die sich auf Geld und Güter beziehen. Erhalt oder Zerfall der territorial entbundenen Masse sind abhängig von den Formierungskräften der ökonomischen Kalkulation, der Organisation nach Funktionszusammenhängen und der Psychologie der Unterwerfung. Auch Ernst Ludwig Arndts Germanien und Europa ist eine Antwort auf die Französische Revolution. Doch was sich in Schillers Drama als Aufstieg einer neuen, gleichsam modernisierten Ordnung abzeichnet, in der eine entbundene Masse Europa zum Feld macht und im Sturm eines neuen heroischen Weltzustandes in eben dieses Feld zieht, wird in Arndts Essay Gegenstand einer spezifischen Kritik. Wenn auf der Seite 77 der Name Europas zum ersten Mal fällt, so in einem bemerkenswerten Zusammenhang. Es heißt: »In diesem Jahrhundert (gemeint ist das 18.) hat Europa zuerst den Begriff von Polizei aufgefaßt.« Die praktischen Wissenschaften wie auch die Philosophie wurden »vom Geist ergriffen«. Und weiter heißt es: »Das Höchste, was der Geist auf diesem einsamen Wege finden konnte, war Zweckmäßigkeit und Ordnung; er hatte nur Künstlichkeit, keine Kunst – Maschinerie allenthalben, aber kein ganzes, volles Leben. Die Edleren und Besseren arbeiteten also allenthalben für die Subordination, für die Disciplin der Staaten und der Menschheit«. (Arndt 1803, S. 77 ff.) Arndts kritischer Gedanke ist der, dass Europa nicht aus dem Geist oder ideellen Regulationsprinzipien entstehen kann, wie sie Kameralistik und Polizeywissenschaft projektierten. Denn: der Geist »ist ein Proteus, der ohne Schmerz sich alle Augenblicke in eine neue Gestalt verwandeln kann, weil er selbst keine Gestalt hat, oder sich doch mit einer Gestalt zu verbinden nicht immer das Bedürfnis hat, ist kalt und erbarmungslos, und kann im ewigen leichtfertigen Spielen und Umschaffen eine ganze Welt ausbrennen und eine neue aus der Asche heraufblasen«. (S. 72)

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Die »Teufelei des transcendierenden Geistes« (S. 216) führt nicht allein zur rationalistischen Überhöhung des Staates, der »bloße Polizeigesetze (…) unter der Sanktion der Göttlichkeit zu ersten gemacht« (S. 285) und »fast in allen Staaten Europens eine Zuchthausordnung« etabliert hat (S. 91 f.), sondern auch zu einem Expansionismus etwa eines Friedrichs II., dessen »höchste Idee (es) war, aus einem kleinen Staate was Großes zu machen« (S. 101) – was von Arndt natürlich auch gegen Napoleon und jeden Feldherrn als Reichsstifter geschrieben ist. Arndt entwickelt seine europäische Gegenwartsdiagnostik im großen Rahmen einer historischen Entwicklung der Menschen und der Staaten, die er nach den Verhältnissen und wechselnden Dominanzen der drei Hauptkräfte von Leib, Seele und Geist entfaltet. Da man spätestens mit der Französischen Revolution »ganz den festen Boden der Erde vergessen (hatte), worauf man stehen sollte«, geht es Arndt nun um die »physischen und bloß irdischen Elemente, die in jedem Staate sind«. (S. 217) An die Stelle eines politischen Denkens von der bloßen Idee her, das »Himmelsstürmer und Sklaven« zu zwei Seiten derselben Medaille macht, tritt das Bild von der Leiter Jakobs, der den Himmel von der Erde aus erstiegen hat. (S. 265) Arndts »Grundgesetze auf Erden sind also: ›Sicherheit des Leibes und des Besitzes‹«. (S. 303) Dementsprechend wird Europas Gliederung von seinen Territorien und den auf ihnen lebenden Menschen her gedacht. Das sind quantitative und qualitative Dimensionen: geographische Beschaffenheiten und Grenzen, Differenzen der Klimate, Modifikationen der Sitten, Unterschiede der Sprachen, Ausdehnungen von Gebieten, Maße des Bodens, Entfernungen und Bevölkerungsmengen. Vieles von Herders kulturtopographischem Denken findet sich bei Arndt wieder, sofern man nur bei Kultur auch an ihren Bezug auf irdische Schwere denkt. Die Auflösung all dieser Vielfalt von oben kann jedenfalls nicht zum politischen Programm gemacht werden. Im Blick auf den ethnischen Gesichtpunkt notiert Arndt: »Ist es gut, daß sich die Racen zuweilen durchkreuzen, so muß dies doch nicht fortwährend seyn.« (S. 364) Arndts Denken von der Vielfalt und Verschiedenheit her erlaubt kein universalistisches Konzept des Politischen. Im Gegenteil,

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er schreibt: »Es muss aber zum Glück der ganzen Welt, wie zum Glücke eines jeden einzelnen Volkes keine Universalität des Volkes seyn, sey es durch Eroberung oder durch andere unnatürliche Verbindungen, die das Verschiedenartige zu enge verknüpfen, worin das Verderben ist.« (S. 352) Dezidiert weist er denn auch alle Verschränkungen von Staat, Religion und Gesetz zurück: der Staat »darf keinen bestimmten Kultus verachten, oder zum herrschenden erheben« (S. 307). Das ist entschieden gegen Novalis’ Essay Die Christenheit oder Europa von 1799 geschrieben, in dem gegen die große Spaltung der »vakante Universalstuhl« wieder besetzt werden soll. (Novalis 1986, S. 513) Erst jenseits des irdischen politischen Feldes kann »im Gebiet der Kunst und Wissenschaft, im freieren Fluge jeder schöneren Thätigkeit die Universalität beginnen«. (Arndt 1803, S. 353) Für die Gliederung Europas gibt es bestimmte allgemeine Prinzipien, die sich ganz auf die gewichtige Masse im Sinne von Territorium und Bevölkerung beziehen. Das eine betrifft die Größe und die Menge: »Staaten von 100 bis 150 Meilen Breite und Länge (sind) in gutes irdisches Maß«, und sie sollten eine »Bevölkerung von 15 bis 40 Millionen Menschen« haben. (S. 335) Das andere betrifft die Lage: »jedes Land (…) muß sein Meer haben«, denn im Meer sieht Arndt mit Georg Forster »die Wiege der Humanität«. (S. 327) Unerträglich ist für Arndt, dass Polen sein Meer verloren hat und Ungarn nie zu ihm gelangte. Arndt scheut sich denn auch nicht zu träumen oder zu phantasieren, wie die europäische Landkarte beschaffen wäre, wenn sich die Staaten in den Zugang zum Meer teilen würden. Wie verhält es sich mit der Schweiz oder mit den jenseits aller Meere gelegenen Staaten, die von Ungarn bis Zentralasien reichen, könnte der Europäer heute weiterfragen. Europas irdische Gliederung würde sich jedenfalls nicht in einem »allgemeinen Reiche«, sondern genau dann vollenden, wenn der Zuschnitt seiner vielfältigen Staaten nicht allein terrestrisch, sondern auch maritim Gestalt annähme. So wird verständlich, warum sich Arndts Traum auf ein »Zusammenfließen auf Erden« richtet, das als ein »Zerfließen« bezeichnet wird, »also ein politischer und moralischer Tod der verschiedenen Nationen wird«. (S. 423 f.) Und so schenkt er denn zum Schluss »dem unter-

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gehenden Teutschen eine Thräne«, denn: »Es regt sich allenthalben in Europa, vorzüglich aber im teutschen Lande, ein neuer lebendiger Geist«. (S. 429) Europas kritische Masse erscheint bei Arndt vorrangig in den quantitativen Dimensionen von Maß, Proportion und Lage, also diesseits aller qualitativen Differenzen und Hierarchisierungen. Der politische Begriff der Nation als ideelles Gliederungs- und Konstitutionsprinzip kann deshalb auch verabschiedet werden – durchaus vergleichbar mit Schiller, bei dem er noch gar nicht auftauchte.

Neu-alte Mythen und Massen Nach 1989 intensivieren sich die Europa-Debatten beachtlich. Allerdings hatte es schon vor dem Ende der bipolaren Weltordnung eine breite Diskussion um die Konzepte eines Mitteleuropa als einer dritten Dimension zwischen den beiden Weltmächten gegeben, die für die Auflösung des Ostblocks eine kaum zu überschätzende Bedeutung gehabt haben dürfte.11 Mit den Ereignissen von 1989 verschiebt sich jene Debatte jedoch stärker zu einer gesamteuropäischen. Im Unterschied zur gängigen politikwissenschaftlichen Wahrnehmung, die die mit den Römischen Verträgen einsetzende europäische Einigung als zentrales Geschehen deutscher Außenpolitik hervorkehrt, bezeichnet Peter Sloterdijk die Zeit von 1945 bis 1989 als die eines »europäischen Vakuums«, die mit den Diskursen über eine »Wiederkehr Europas« beendet werde. (Sloterdijk 1994, S. 14 f.) Bis 1989 diagnostiziert Sloterdijk eine politische Absence, einen Schlaf und ein »Gefühl der Bodenlosigkeit« in Hinsicht auf das Denken Europas. (S. 20) Dieses Denken sah sich einem »Dezentrierungsschock« in der Folge spätestens des Zweiten Weltkrieges ausgesetzt, der Europa seiner Zentralität beraubte und zwischen die Blöcke plazierte. Das zweite relevante Datum des europäischen Schlafes ist für Sloterdijk 1917: der Aufstieg der Sowjetunion zur zweiten Vormacht in der Welt sowie 11

Lützeler 1992, S. 443 ff. S. auch Konrád 1992, Reich 1992. Rückblickend Schirrmacher 1990.

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das Datum der Entscheidung des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson, »in eklatantem Bruch mit der isolationistischen Tradition seines Landes (…) den Kreuzzug nach Europa zu tragen«. (S. 40) »Falls Europa erwacht« ist für Sloterdijk eine Potentialität, die im Bereich von imperialen Konstellationen angesiedelt ist. Sein Essay zielt auf eine Kritik des Reichsgedankens. Sloterdijk behandelt die Frage des Wiedererwachens Europas nun nicht auf der Ebene politischer Institutionen, die Europa von oben in Kraft setzen, sondern als einen mythischen Komplex, der Europa konstituiert und der vermöge seiner mythischen Kraft der Idee Europa von unten eine Anschlusskapazität auf breiter Basis verschaffen kann. Territoriale bzw. geographische Ordnungsfiguren oder Funktionszusammenhänge politischer Ordnungen spielen bei Sloterdijks Überlegungen kaum eine Rolle. Es geht um die mobilisierende und enthusiasmierende »politische Einbildungskraft der Europäer«, wie sie im Mythos »offensiv anspringen« kann. (S. 47) Sloterdijk spricht deshalb von einer »europäischen Mythomotorik« (S. 40), d.h. von dem, was Massen in Bewegung zu setzen vermag und so auch fatale Dynamiken mit sich führen kann. Seine Frage lautet: »Welche Szenen spielen die Europäer in ihren historisch entscheidenden Momenten? Welches sind ihre bewegenden Ideen oder aktivierenden Illusionen?« (S. 33) Wer zu Europa gehört – geographisch, kulturell oder modernisierungstheoretisch gedacht – ist demgegenüber gleichgültig. Sloterdijk ist befasst mit der »Optik eines Dramaturgen (…), um das europäische Spiel in seinen Umrissen klar zu erkennen«. (S. 33) Um in der Sprache des Theaters zu verbleiben: die Frage ist, welchen Text der Chor in Szene setzt. Die Mythomotorik des europäischen Theaters entspringt für Sloterdijk der Problematik des Reichs – womit nicht nur das dritte gemeint ist. »Europa setzt sich in Gang und hält sich in Bewegung in dem Maß, in dem es ihm gelingt, das Reich, das vor ihm war, das römische, zu reklamieren, zu re-inszenieren und zu transformieren; Europa ist somit ein Theater für Imperium-Metamorphosen; die Leitidee seiner politischen Einbildungskraft ist eine Art Seelenwanderung des römischen Imperiums durch die maßgeblichen und geschichtsmächtigen europäischen Völker.« (S. 34)

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Die politische Masse Europas und deren Dynamik gewinnt ihre Form als Ganzes im Prozess der translatio imperii, einer Machtübertragung, die die europäische Mythomotorik historisch immer wieder mobilisiert. Genau dieser Prozess macht Europa allerdings insgesamt zu einer kritischen Masse, denn dem »Idealbild einer effektiven imperialen Kohärenz«, dem »singulären sacrum Imperium« steht der Plural von »Neu-Reichen«, eine »Manege voller Nationen« (S. 36 f.) gegenüber, die »miteinander in Wettbewerb treten, so daß dynastische, territoriale und nationale Differenzen gegenüber den Einungsmotiven eines Zentrums stets die Oberhand gewinnen«. (S. 35 f.) In den Weltkriegen wie in den Revolutionen, als deren Mutter Europa anzusehen sei (S. 58), sieht Sloterdijk Ausdrucksformen der mythomotorischen Konkurrenzen und Verwicklungen der translatio imperii als einer Spezifik von Eurogenese. Mit dem Datum von 1989 kommen nun »die Grundfragen europäischer Mythomotorik mit einer unvermuteten Heftigkeit wieder auf die Vorderbühne«. (S. 45) Die Antwort auf diese Konstellation liegt nicht in den von Sloterdijk kritisierten »heute tonangebenden Ideologien der Vielfalt und der Durchmischung« oder den »Leerformeln«, wonach Europa »als ›die Einheit seiner Differenzen‹ oder als ›Ensemble seiner Widersprüche‹ zu denken« sei (S. 32), sondern im Abschied vom Modell der translatio imperii. Nach 1989 können sich die europäischen Völker kaum noch als »Epigonen der Römer« verstehen, denn diese Form des politischen Theaters hat sich von Europa weg verschoben. »Im US-Imperium schaut das moderne Europa die veräußerlichte Gestalt seines eigenen Wesens an.« (S. 39) Will man Europas kritische Masse, wie sie in Sloterdijks Essay zu Tage tritt, genauer bestimmen, so liegen die Ursachen ihres Kritisch-Werdens nicht schon selbst in geographischen oder Bevölkerungsdimensionen, sondern darin, dass Geographie und Bevölkerung vom Enthusiasmus und Imperialismus des Reichs-Gedankens ergriffen und überzogen werden. Europa ist, so Sloterdijk, einfach »zu klein« (S. 38), um seine Länder und Menschen der Konkurrenz um Inszenierungen des Reichs auszusetzen. Eine Rückübersetzung der »Vereinigten Staaten von Ame-

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rika« in »Vereinigte Staaten von Europa« hat nach 1989 keine Zukunft mehr. Als Antidot gegen neorömische oder karolingische Ambitionen liegt stattdessen Europas »Chance in der Übertragung des Reichs auf ein Nicht-Reich, eine neue Union politischer Einheiten« (S. 59), die für Sloterdijk in einem »großeuropäischen Staatenbund« oder einem »Bund aus Bünden« (S. 54) bestehen würde. In der Idee des Reichs ist keine Erlösung vom Nationalismus zu sehen. Zweihundert Jahre nach der Französischen Revolution stellt sich die Masse erneut als ein mythomotorisches Problem dar, weil auch im Namen eines europäischen Reichs mobilisierte Bevölkerungen letztlich aufgrund so vieler verschiedener, möglicherweise kritisch werdender Massen wieder dem Nationalismus zufließen werden. Dass die Masse »gegenwärtig in die politische und gesellschaftliche Arena zurück(kehrt)«12 , zeichnet sich auch im Theater ab. »Sie sind – Sie alle, wie Sie da stehen und eine beliebige Anzahl bilden – Sie sind ein einziges Wesen, ein Wesen mit einem völlig n e u e n Gesicht. Ja! Ja!« (Strauß 1996, S. 28) Diese Sätze fallen in Botho Strauß’ 1991 uraufgeführtem Theaterstück mit dem Titel Schlußchor. Ein Fotograf richtet sie an eine Schar von fünfzehn Frauen und Männern13 , die mit eingeschränkter Bewegungsfreiheit in vier Stufenreihen zu einem Gruppenfoto aufgestellt sind. Die Rückkehr der Massen schlägt sich durchaus auch in einer neuen Aktualität des Chores im Theater nieder.14 Während Einar Schleef den Chor im Rahmen eines dramaturgischen Gesamtkonzeptes – dies auch in der Folge von 1989 – retheatralisiert15 , spielt Botho Strauß’ Stück genau am 9. November 1989 und macht den Chor selbst zum raumgreifenden Protagonisten eines historischen Geschehens. Sein Auftritt umfasst den ganzen ersten Akt des dreiteiligen Stückes.

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König 1992, S. 266. S. hierzu auch: Klein/Nullmeier 1999. In der Uraufführung waren es mehr, nämlich 24. Zum »Chortheater des ausgehenden 20. Jahrhunderts« s. die instruktive Monographie von Kuberg 2021. Zu »Schlußchor« ebd., S. 64-72. Schleef 1997; Dreysse Passos de Cavalho 1999.

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Die Akte sind überaus lose verbunden, aber ein zentrales Motiv, das der Fotograf formuliert: »Bedenken Sie aber: Sein ist gesehen werden« (Strauß 1996, S. 28), wird in den folgenden Akten aufgegriffen und variiert. So spielt der zweite Akt in einem Vorraum zu den »Gesellschaftsräumen«, in dem an der Bühnenrückwand ein großer, gekippter Spiegel aufgehängt ist, in dem sich nicht allein die auftretenden Personen, sondern virtuell auch – über den Spiegel für Fürsten hinaus – das Publikum reflektieren kann. Der dritte Akt ist situiert in einem Restaurant, dessen zahlreiche Besucher durch einen »Deutschland«-Rufer von der Maueröffnung und der Ankunft der anderen Massen erfahren, die von einem lesenden Restaurantbesucher »als das neueste Blendwerk (…) da draußen« bezeichnet wird (S. 89), sodass das Sehen hier als kollektives »Versehen« thematisch wird.16 Vielleicht darf man in dieser Anlage des Stückes auch den Auftritt des Chores in dreierlei Gestalt vermuten, wie es ein Rezensent der Uraufführung nahelegt. (Henrichs 1991) Anders als im antiken Chor geht hier seinem Auftritt kein Ereignis voraus, er ist dieses Ereignis selbst schon. Er ist kein Kommentator, sondern zeichnet sich durch eine eigentümliche Aktivität der Selbstbezüglichkeit aus. So formiert die Masse auf der Bühne aber auch auftritt, so amorph erscheint sie zugleich in ihrer Äußerungsform. Die Regieanweisung lautet: »Man kann nur ein Wort in die Schar werfen und hoffen, daß sich der Richtige angesprochen fühlt. Ungewiß, wer zu wem gehört, und wenn: für wie lange? Manchmal nur die Spitze einer Verständigung, so wie ein Mensch im Schlaf auflacht.« Die Personen sind unter »F« für Frau und »M« für Mann durchnumeriert; ihre Sätze stehen beziehungslos nebeneinander. So beginnt das Stück mit den folgenden Sätzen, gesprochen jeweils von einer anderen Nummer: »Warum nicht jetzt?« »Jetzt noch nicht.« »Kopf hoch!« »Je pose…« »Warten wir noch einen Augenblick.« »Schlank oder voll?« »Siehst du doch.« »Ich seh gar nichts. Ich starre ins Auge des Reptils.« (S. 9) Eine spätere Sequenz formuliert eine Reihe von Imperativen: »Das Häuflein denken!« »Das Häuflein achten!« »Das Häuflein sein!« »Viele in einem. Einer in vielen.« (S. 20) 16

Strauß 1996, S. 73. Erhellend ist eine Parallel-Lektüre des »Schlußchors« und der Chronik der laufenden Ereignisse 1988/89, die Menge 1990 aufgezeichnet hat.

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Die Formulierung eines »Pro memoria« im Sinne der Soldaten Wallensteins gelingt aber offensichtlich nicht mehr. »Werden wir uns je auf Bildern wiedersehen?«, fragt F 7, um im gleichen Augenblick ihren Oberkörper zu entblößen und sich in aller Nacktheit ansichtig zu machen, was allerdings wegen der Frontalaufstellung der Menge »niemand beim Geradaussehen« sieht. (S. 20 f.) Das Formierungsmedium für die Masse kommt von außen in Gestalt des Fotografen. »Ich fotografiere euch so lange, bis ihr e i n Gesicht seid. Ein Kopf – ein Mund – ein Blick. Ein Antlitz!« (S. 28) Und der Fotograf weiß: »Sie, werte Damen, Herren, verzehren sich nach dem einen Auge, das Sie überblickt, das Ihre wahre Gestalt ans Licht befördert! Erkannte wollen Sie sein!«17 Um das Bild der Masse zu erzeugen, bemüht sich der Fotograf um ein richtiges Arrangement: »Ich habe euch nicht richtig gebaut! Frau vierte rechts außen wechselt mit Frau zweite links außen. Die ganze Gesellschaft: Zusammenrücken! Mann erste rechts wechselt mit Mann vierte rechts zwei …« (S. 27). Die Masse jedoch rührt sich nicht von der Stelle18 , und sie will sich auch nicht im Spiegel des Kamera-Objektivs zu Erkannten machen lassen. Im Dunkel der Bühne wird der Fotograf unter lauten Befehlen zur choreographischen und abbildungstechnischen Gestaltung der Masse entmachtet und vielleicht auch zerfetzt, da allein seine Kleider und Schuhe auf der Bühne zurückbleiben. Strauß lässt danach jedoch eine junge Frau auftreten, die vom Chor sogleich ersucht wird, diesen zu fotografieren, sodass der Schlusschor von neuem beginnen könnte, kommentiert von F 1, die bemerkt: »Bei der wird es etwas länger dauern, bis sie in der Schlinge steckt.« (S. 32) Die Masse, die darauf insistiert: »Wir sind der Chor…« (S. 30), entzieht sich in Strauß’ Stück ihrer bildgebenden bzw. symbolischen Repräsentation durch deren Fest-Stellung im Bild, indem das Medium ihrer Repräsentation zerstört wird. Wer, außerhalb der Masse stehend, dieser Masse ihr Bild geben sollte, wird

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Strauß 1996, S. 28. Zur medialen Vermitteltheit der Sichtbarkeit der Masse s. Lüdemann 2002. Vergleichbar äußert Thomas Rosenlöcher 1990 in seinem Dresdener Tagebuch Die verkauften Pflastersteine, dass er wie die anderen »auf dem nämlichen Fleck« stehe (S. 106 f.).

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in einer endlosen Wiederholung zum Opfer, das diese Masse erwartet und einfordert, um sich als solche zu erhalten. Die »Vereinigungsbemühungen« des Fotografen machen aus dem Chor »eine feindselige Horde«, was »man als Kritik an der Wiedervereinigung auffassen« könne. (Kuberg 2021, S. 72) Vor allem aber wird der Chor zur kritischen Masse durch die wiederholte Evokation und Zerstörung der Imago von Gemeinschaft. Dieser Gedanke wird im zweiten und dritten Akt strukturell vergleichbar variiert. Im zweiten erblickt der Architekt Lorenz den nackten Mythos in Gestalt von Delia, die wiederum mit Germania parallelisiert wird, wenn Lorenz an den »Deutschland«-Rufer die Frage richtet: »Welch hübschen Körperteil, was meinen Sie, wird uns die freizügige Germania als nächstes entblößen?« (Strauß 1996, S. 50) Der Spezialist für wohlgeordnetes Bauen allerdings, der »wie gelähmt vor dem Reichtum meines Deutschs (steht)« (S. 47), erreicht diese mythische Verkörperung der Masse nicht und bezahlt ebenfalls mit dem Leben. Der dritte Akt schließlich endet, nachdem mehrmals »Deutschland« im Restaurant ausgerufen wurde, damit, dass der im Zoo befindliche Steinadler, der »reichlich abgemattet« ist und sich nicht rührt (S. 95), sich dann in dem Gewebe der Kleidung einer verrückten Frau namens Anita verfängt, so umgarnt erstickt und niederstürzt. Fotograf, DeliaGermania, Steinadler: in drei Variationen führt Strauß vor, dass die mediale, symbolische und mythische Formierung der Masse in den Figurenlehren ihrer Repräsentation nicht gelingt. Strauß’ Masse hat als Schlusschor das erste und das letzte Wort. Ihre kritische Dimension liegt genau darin, dass ihre Formgebung im Zeichen von irgendetwas scheitert, während sie zugleich weiter bestehen bleibt. Man kann den Schlusschor auf eine spezifisch deutsche Problematik beziehen. Dennoch dürfte dies zu kurz gedacht sein. Denn Strauß schreibt sein Theaterstück in eben dem historischen Moment, in dem mit der Auflösung der bipolaren Weltordnung die Gliederungsprinzipien von Europas Masse neu verhandelt werden und mit der Vereinigung Deutschlands zugleich die Frage nach einenden europäischen Leitideen, die für seine Völker bindenden Charakter haben könnten, diskutiert wird. Dass deren Bindungskraft spätestens nach dem Jahr 2004,

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in dem zehn Staaten der Europäischen Union beitreten, verbunden mit einem Bevölkerungszuwachs von ca. 75 Millionen, mit einer transideellen Existenz europäischer Massen als kritischem Potential auf der politischen Bühne zu rechnen hat, führt der Schlusschor gerade in europäischer Hinsicht vor. Die Masse hat im Schlusschor jeden tieferen Sinn verloren und grenzt an das Absurde. Nimmt man die essayistischen und dramatischen Thematisierungen der Masse abschließend in den Blick, so lassen sich zwei Linien ziehen, auf denen sie kritisch werden kann. Die eine betrifft die irdische, territorial-geographische Dimension, die bei Arndt als eine Bindung nach quantitativen Kriterien gefasst wird, bei Schiller als eine Ent-Bindung von diesen Dimensionen, der dann die lagermäßige Organisation des Zusammenhalts der Masse entspricht. Die andere Linie betrifft die qualitativen Dimensionen der ideellen Kräfte, ihrer Formierung bzw. ihres Zerfalls, bei Sloterdijk als drohende Dramatik der Mobilisierung von Massen gefasst, bei Strauß als absurde Entleerung ihrer symbolisch-mythischen Repräsentation. Das Problem der Masse in den europäischen Konstellationen hat im Vergleich der Texte nach 1789 und nach 1989 eine Verschiebung erfahren. In der Folge von 1789 ist Europas Masse eine Funktion ihrer Territorialisierung bzw. Deterritorialisierung und funktionalen Formierung – gerade so, als ob man den Ideen nicht mehr traut, unter denen sie sich aufführen könnte. Nach 1989 treten ihre irdischen Dimensionen zurück gegenüber der Frage nach den mobilisierenden Ideen, Illusionen und Mythen, mit denen der »vakante Universalstuhl« noch besetzt werden könnte. Verschiebt man den Blick von den beiden Umbruchssituationen hin zu den Thematisierungsweisen von Europa und Masse im Essay und im Drama, so wird ein bemerkenswerter Unterschied erkennbar. Die essayistische Reflexion ist zentriert um den Gedanken Europas und den Entwurf bzw. die Kritik von Masterplänen zu dessen Gestalt. Die theatralische Darstellung hingegen gibt dem Phänomen Masse und ihrer Dynamik Raum. Dabei erweist sich die Aufstellung der Masse gerade im Zeichen ideeller Ambitionen als instabil, prekär oder sogar als absurd. Schillers Masse ist ein zusammengewürfelter Haufen, dem das momentane Glück mehr als Himmel oder Hölle gilt. Im »Schlußchor«

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setzt die Masse ihren eigenen Abgesang auf eine kommunizierbare Einheit in Szene und kritisiert damit selbst die Idee der Masse. Vielleicht hat diese Masse bei Strauß auch nur einen Ausflug gemacht. Zurück bleibt die reine Körperlichkeit ihrer Präsenz, deren Gestalt in keinem europa-essayistischen Masterplan aufgehen will. Das Wissen der Literatur um Europas kritische Masse fällt im Essay und im Drama höchst verschieden aus. Es ist abhängig von der Form, in der es sich artikuliert. (Zuerst in: Europa/Erzählen. Zu Politik, Geschichte und Literatur eines Kontinents, hg. v. Frank Degler, St. Ingbert 2008: Röhrig Universitätsverlag, S. 225-247. Leicht überarbeitet.)

Literatur Arndt, Ernst Moritz. 1803. Germanien und Europa. Altona: J. F. Hammer. Baur, Detlev. 1999. Der Chor im Theater des 20. Jahrhunderts. Typologie des theatralen Mittels Chor. Tübingen: Niemeyer. Bolz, Norbert, Friedrich Kittler, Raimar Zons. Hg. 2000. Weltbürgertum und Globalisierung. München: Fink. Bormann, Alexander von. Hg. 1998. Volk – Nation – Europa. Zur Romantisierung politischer Begriffe. Würzburg: Königshausen und Neumann. Degler, Frank. Hg. 2008. Europa/Erzählen. Zu Politik, Geschichte und Literatur eines Kontinents. St. Ingbert: Röhrig. Delvaux, Peter, Jan Papiór. Hg. 1996. Eurovisionen. Vorstellungen von Europa in Literatur und Philosophie. Amsterdam, Atlanta: Rodopi. Dreysse Passos de Cavalho, Miriam. 1999. Szene vor dem Palast. Die Theatralisierung des Chors im Theater Einar Schleefs. Frankfurt a.M., Berlin: Lang. Eßbach, Wolfgang. 2005. Elemente ideologischer Mengenlehren: Rasse, Klasse, Masse. In Grenzen des Menschseins. Probleme einer Definition des Menschlichen. Hg. v. Justin Stagl, Wolfgang Reinhard. 727-755. Wien, Köln, Weimar: Böhlau. Eßbach, Wolfgang, Christa Karpenstein-Eßbach. 2005. Zweimal ’89. Bicentenaire und Mauerfall in der deutschen Literatur. In Intellek-

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9. Gebrochene Herkünfte: Heinrich Heine, Friedrich Nietzsche

Heinrich Heine und Friedrich Nietzsche Seite an Seite zu stellen, mag nicht selbstverständlich, vielleicht sogar eher befremdlich erscheinen – nicht nur, weil der eine unter die Dichter, der andere unter die Philosophen fällt, sondern vor allem deshalb, weil ihrer beider Rezeption von den Antagonismen politischer Zuordnungen gezeichnet ist. Von den Zeitgenossen eher unverstanden, sorgte die Einordnung in politische Lager dafür, die Beunruhigung stillzustellen, die von Heines wie Nietzsches ausgeprägter Neigung zu rückhaltloser Kritik und ironischer Selbstbefragung provoziert werden könnte. Heine wurde von links vereinnahmt und zum Vorläufer eines literarischen Protests im Namen der Unterdrückten promoviert, und wenn Heine dazu unpassende Ansichten formuliert hatte, so ließ sich das damit erklären, dass er die theoretische Klarheit eines Karl Marx noch nicht gewonnen hatte. Nietzsche wurde von rechts vereinnahmt, seine Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche diente sein Werk den völkischen Gruppen und später den Nationalsozialisten an, als ihr Bruder sich dagegen nicht mehr wehren konnte, und eben dies sorgte schließlich dafür, dass auch im postfaschistischen Deutschland Nietzsche entweder als Protonazi gelten konnte oder seinen Schriften jene wirre Zusammenhanglosigkeit bescheinigt wurde, die die Schwester bei der Herausgabe seiner Werke an den Tag gelegt hatte. In dieser Rezeptionsgeschichte liegt der Grund, warum beide in einer politischen Gegenstellung verdeutscht wurden, während dies in anderen Ländern, insbesondere in Frankreich, anders ausfiel.

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Lässt man den Fundamentalismus politischer Funktionalisierungen beiseite, dann eröffnet sich der Blick für Affinitäten und Resonanzen zwischen Heine und Nietzsche. Nietzsche hat seine Vorliebe für Heine selbst an verschiedenen Stellen deutlich gemacht. Im »Ecce homo« folgt auf den begeisterten Ausruf: »Und wie er das Deutsche handhabt!« die Feststellung: »Man wird einmal sagen, dass Heine und ich bei weitem die ersten Artisten der deutschen Sprache gewesen sind – in einer unausrechenbaren Entfernung von Allem, was blosse Deutsche mit ihr gemacht haben.«1 Dass die Sprache des »blosse(n) Deutsche(n)« roh und ungeschliffen sei, ist auch in Heines »Atta Troll« zu lesen, wo es über den Bären heißt: »Ich verstehe seine Reden!//Sonderbar! wie wohlbekannt/Dünkt mir diese Bärensprache!/Hab ich nicht in teurer Heimat/ Früh vernommen diese Laute?« (Heine 1978, Bd. 4, S. 502) Auf die Frage von Kindern in einem Dorf der Pyrenäen: »Wer ich sei und was ich triebe?« lautet die Antwort: »Und ich wurde Bärenjäger.« (S. 528) Die beiden »Artisten der deutschen Sprache« schreiben im Abseits eines von ihnen verlassenen Deutschland und entfalten einen Stil, der sich der verschiedensten Redeweisen bedienen kann: der Poesie, der gelehrten Abhandlung, des Aphorismus, der Polemik, des ekstatischen und hymnischen Sprechens ebenso wie des Pathos und der Ironie oder der publizistischen Intervention und Invektive.2 Hier sollen es Gedichte sein, die in ihrer Konstellation Auskunft über Affinitäten zwischen Heine und Nietzsche geben können, und dies nicht allein im Blick auf ihr außenseiterisches Verhältnis zu Deutschland, sondern auch auf vergleichbare Denkmotive und Zonen der Kritik. Wenn Heine, der widerwillige Hegelianer, seine Poesie philosophisiert, so poetisiert Nietzsche seine Philosophie, indem er Gedichte in sie inseriert.

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Nietzsche 1980, Bd. 6, S. 286. S. auch: »Nietzsche contra Wagner«, Bd. 6, S. 427, wo es heißt: »L’adorable Heine«, sowie »Jenseits von Gut und Böse«, Bd. 5, S. 202. Resonanzen zwischen Heine und Nietzsche haben untersucht: Spencer 1972; Grimm 1985; Friedl 1990; Höhn 2000; sowie unter performativtheoretischer Perspektive die Dissertation von Wortmann 2011. Instruktiv speziell zur Lyrik ist das Kapitel zu Heine und Nietzsche in Hillebrand 2010.

9. Gebrochene Herkünfte: Heinrich Heine, Friedrich Nietzsche

Heimat. Lyrische Dialoge Die ersten beiden Gedichte, die hier miteinander in Beziehung gesetzt werden sollen, umkreisen die Erfahrung von Fremdheit, Heimatverlust und deren Deutung. In Heines Sammlung der »Neuen Gedichte« findet sich unter der Überschrift »In der Fremde« ein Gedicht, das aus drei mit römischen Zahlen versehenen, je mehrstrophigen Teilen besteht. Während der dritte Gedichtteil mit seinem ersten Vers »Ich hatte einst ein schönes Vaterland« zum kurrenten Zitationsbestand gehört, interessiert hier der mittlere. Hier spricht eine lyrische Stimme eine andere Person an: »Du bist ja heut so grambefangen,/Wie ich dich lange nicht geschaut!« Es folgt die fragende Vermutung des Heimwehs: »Denkst du der Heimat, die so ferne,/So nebelferne dir verschwand?« (Heine 1978, Bd. 4, S. 369) In sechs der insgesamt sieben Strophen dieses Teils werden diesem »Du« all die mit der fernen Heimat verbundenen Erinnerungen und Gefühle und die Verlusterfahrungen vor Augen geführt: eine Geliebte, die Freunde, die Familie, schließlich auch die Schönheit der Natur. Bis zum Ende der sechsten Strophe wäre hier ein in sich versunkenes, melancholisches lyrisches Ich zu vermuten, das sich, vermittelt über das »Du«, selbst anspricht. Aber in diesen aufgerufenen Erinnerungsraum bricht in der letzten Strophe die Gegenwart ein, in der sich ein »Ich« zu Worte meldet. Sie lautet: »Es ist schon spät. Die Nacht ist helle, Trübhell gefärbt vom feuchten Schnee. Ankleiden muß ich mich nun schnelle/ Und in Gesellschaft gehen. O weh!« An die Stelle der gedehnten Zeit heimatverbundener Erinnerungen tritt der Druck der Zeit – »es ist schon spät« –, an die Stelle gemütvoller Einsamkeit die Gesellschaftlichkeit mit ihren Friktionen – »o weh!«, und dieses nun mit einer eigenen Stimme versehene Ich beendet die an es zuvor adressierte Ansprache. Eine solche Zweistimmigkeit findet sich auch in Nietzsches Gedicht »Der Freigeist« aus den nachgelassenen Fragmenten des Jahres 1884. Die ersten sechs Strophen tragen die Überschrift »Abschied«, die beiden

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letzten die Überschrift »Antwort«. Leicht sind die Anführungszeichen zu übersehen, die die ersten sechs Strophen umfassen, von denen die erste und die sechste in ihren ersten drei Zeilen gleich lauten: »Die Krähen schrei’n Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt: Bald wird es schnei’n – Wohl dem, der jetzt noch – Heimat hat!« Die vierten und jeweils letzten Zeilen variieren, aus »Wohl dem, der jetzt noch – Heimat hat!« wird »Weh dem, der keine Heimat hat!«, laufen aber, einmal aus der Perspektive einer hoffnungsvoll getönten Sehnsucht, dann aus der einer klagenden Verlusterfahrung, auf das gleiche hinaus: den Wunsch nach Heimat und der mit ihr verbundenen behaglichen Sicherheit. In den vier Strophen zwischen der ersten und der sechsten, die allesamt als wörtliche Rede markiert sind, wendet sich diese Rede des lyrischen Ich an ein »Du«, mit dem es sich selbst anzusprechen scheint und das zweimal als Narr bezeichnet wird: »Was bist du Narr/Vor Winters in die Welt – entflohn?« und die Aufforderung ausspricht: »Versteckʼ, du Narr/Dein blutend Herz in Eis und Hohn!« (Nietzsche 1980, Bd. 11, S. 329 f.) Die elende Lage des Heimatvertriebenen ist unüberhörbar: »Wer Das verlor, Was du verlorst, macht nirgends Halt. Nun stehst du bleich, Zur Winter-Wanderschaft verflucht«. Auf diese Rede folgt die Erwiderung eines tatsächlichen »Du«, das nun seine Stimme erhebt und in der zweistrophigen »Antwort« die vorausgegangene Rede schroff zurückweist: »D e r meint, ich sehnte mich zurück/ In’s deutsche Warm,/In’s dumpfe deutsche Stuben-Glück!«. Die Unterstellung von Heimatverlust und Heimweh erscheint geradezu als Freiheitsberaubung: »Mein Freund, was hier Mich hemmt und hält ist d e i n Verstand,

9. Gebrochene Herkünfte: Heinrich Heine, Friedrich Nietzsche

Mitleid mit d i r! Mitleid mit deutschem Quer-Verstand!« Während der »Freigeist« explizit die Rede eines Deutschen zurückweist, darf man dies für Heines Gedicht immerhin vermuten. Gemeinsam ist beiden Gedichten die Polemik gegen den Habitus von Heimatverbundenheit oder, heutiger gesagt, gegen eine hermeneutische Haltung, in der das Fremde vom je eigenen Horizont oder Standort aus verstanden wird und die Referenz auf Herkunft die Selbstund Fremddeutungen leitet. Die Zweistimmigkeit beider Gedichte sorgt dafür, einen Bruch in diese Herkunftsreferenzen zu inserieren, die Souveränität des sprechenden Ich ihnen gegenüber zu behaupten und wenn nicht auf einer glücklichen, so doch aber auf einer unaufhebbaren Fremde zu insistieren. Während die erste Stimme eines Deutschen die gemütvolle Empathie mit demjenigen bekundet, der in Deutschland nicht bleiben konnte und wollte, dessen Stimme dort nicht gehört werden sollte, und der so Angesprochene damit erneut in die Stummheit und Passivität seines Leidens an Deutschland verbannt zu werden droht, kehrt die zweite die Perspektive um und macht die Rede des ersten zum leeren Geschwätz. Beide aber gewinnen ihr Gewicht erst im Bezug aufeinander, sodass »Herkunft« in der Perspektive einer doppelten Gebrochenheit erscheint: zum einen ist die gebrochene Herkunft eine erlittene Erfahrung Heines und Nietzsches, zum anderen artikulieren die Gedichte beider den selbst vollzogenen Bruch mit ihren Herkünften. Wo nicht mit einer Stimme gesprochen wird, geraten Aussagen in Spannungsverhältnisse, verlieren ihre spontane Evidenz, provozieren ihre Reflexion, geraten unter einen fremden Blick von außen, eröffnen sich Perspektiven der Verkehrung und Umwertung. Es mag sein, dass Außenseiter mit doppelt gebrochenen Herkünften eine besondere Affinität zu intellektuellen Praxen dieser Art haben – aber sie erwachsen keineswegs bei allen Außenseitern kurzerhand aus ihrer Biographie. Heines Leben im Exil und Nietzsches unstetes Leben grundieren unübersehbar ihre Literatur und Philosophie, sind aber dennoch nicht deren alles zentrierende Thematik. Ihre Diskurse der Spannungsver-

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hältnisse, Verkehrungen und Umwertungen ergreifen das literarische und philosophische Denken insgesamt.

Bewegungsfiguren der Freiheit Es gibt in Heines und Nietzsches Gedichten Bewegungsfiguren, die die ganze Leiblichkeit irdischen Daseins mit der ihr eigenen Schwerkraft und Gebundenheit ebenso ins Spiel bringen wie den Gedanken der Emanzipation von ihr im freien Genuss des Lebens und die sich der schroffen Alternative von Materialismus und Idealismus zu widersetzen suchen. Es sind Gedichte körperlicher Spannungs- und intellektueller Diskrepanzerfahrungen. 1882 erscheinen Nietzsches »Idyllen aus Messina«, acht Gedichte, von denen sechs z.T. überarbeitet in den vierzehn Gedichte umfassenden Anhang der »Lieder des Prinzen Vogelfrei« der zweiten Auflage der »Fröhlichen Wissenschaft« von 1887 übernommen werden. Unter den »Idyllen aus Messina« findet sich, sie eröffnend, das auch für die »Fröhliche Wissenschaft« programmatische Gedicht »Prinz Vogelfrei«. Das Wort »vogelfrei« bezeichnet einen Zustand völliger Recht- und Schutzlosigkeit, in einem älteren Sinne den Sachverhalt, den Vögeln zum Fraß freigegeben zu sein wie ein Gehenkter. Der Titel des Gedichts verleiht dieser Bedeutung ein aristokratisches Prädikat und verwandelt das Elend eines solchen Vogelfreien in die Position eines Privilegierten. Vom Dasein eines Vogels geht geradezu eine Verführungskraft aus, wie es in der ersten der jeweils fünfzeiligen fünf Strophen heißt: »So hang ich denn auf krummem Aste Hoch über Meer und Hügelchen: Ein Vogel lud mich her zu Gaste – Ich flog ihm nach und rastʼ und raste Und schlage mit den Flügelchen.« (Nietzsche 1980, Bd. 3, S. 335) Für das Ich, das zum Vogel geworden ist, verlieren irdisches Leid, Zwecke, Ziele, Gesetzes- und Moralvorgaben ihre Kraft, Leben und Denken

9. Gebrochene Herkünfte: Heinrich Heine, Friedrich Nietzsche

zu bestimmen: »Es schläft mir jedes Weh und Ach./Vergessen hab ich Ziel und Hafen,/Vergessen Furcht und Lob und Strafen«. Zur die Schwerkraft überwindenden physischen Freiheit kommt die intellektuelle hinzu. Die Orientierung an Regeln der Vernunft ist nicht nur ungenügend, der frei gewordene Geist nimmt ihre Modalitäten mit Abstand wahr. »Vernunft? – das ist ein bös Geschäfte:/Vernunft und Zunge stolpern viel!« Deren geradezu motorischer Ungeschicklichkeit wird am Ende des Gedichts die Kunst entgegengesetzt, genauer »Gesang und Scherz und Liederspiel«, also eine Kunst der Leichtigkeit und Geselligkeit als Gegenstück zur Einsamkeit des Denkens. Anders als beispielsweise bei Rousseau wird hier kein Weg in die Natur ausgezeichnet. In luftigen Höhen angekommen, werden die Vögel aufgefordert, ihr Zwitschern vor der Kunst und dem singenden Philosophen zurückzustellen. »So horcht mir denn auf meine Weise/Und setzt euch still um mich im Kreise,/Ihr schönen Vögelchen, herum!« Der Vogelfreie wird nicht das Opfer ihres Fraßes. Nietzsches Gedicht spricht von Bewegungen der Freiheit, in denen das Ich auf seiner ihm eigenen Souveränität insistiert. Es gibt kein leitendes Ideal zielgerichteten Strebens und deshalb auch keinen Absturz in die Desillusionierung oder einen drohenden Nihilismus, dem Nietzsche auch in diesem Gedicht seinen Widerstand entgegensetzt. Deshalb lässt sich das Gedicht auch nicht im Rückgriff auf die Differenz von Idealismus und Materialismus verstehen, sondern sucht eben dieser Alternative in der Figur eines Souveräns der Überwindung sowohl physischer wie intellektueller Begrenztheiten zu entkommen. Freilich gibt es auch Gedichte Nietzsches, in denen es nicht um die Flughöhe des souveränen Menschen geht, sondern um eine elende Lage. Im »Lied eines Ziegenhirten«, der von seiner Geliebten versetzt wurde, heißt es zu Beginn: »Da lieg ich, krank im Gedärm – Mich fressen die Wanzen. Und drüben noch Licht und Lärm: Ich hör’s, sie tanzen.« (Nietzsche 1980, Bd. 3, S. 337)

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In der pathischen Erfahrung, die dieses Gedicht ausspricht, schwingt jener Heine-Ton mit, der es vermeidet, eine elende Lage mit Tragik zu unterfüttern, weil keine Transzendenzbezüge die Diskrepanzen zwischen idealem Leben und profaner Wirklichkeit beruhigend vermitteln könnten. »Nichts mag ich essen schier,/Lebt wohl, ihr Zwiebeln!«, sagt der verlassene Ziegenhirt. Pathos als Artikulationsform des Erleidens und Ironie als Modus der Distanzierung und Überwindung sind intellektuelle Haltungen, die bei Heine und Nietzsche gleichermaßen zu finden sind und die die Fernen zwischen dem Höchsten und Niedrigsten, zwischen Oben- und Unten-Sein, eben zwischen Zwiebeln und unglücklicher Liebe ausmessen. Insofern sind beide Denker in Vertikalen. Eine solche Bewegung in der Vertikalen wird von Heine häufiger in einem Gedicht als Fall und Desillusionierung ausgearbeitet, im Unterschied zu Nietzsche, dessen Denken vor der eigenen Desillusionierung weitgehend gefeit ist, weil es sein philosophisches Geschäft ist, sie unentwegt zu betreiben. Im zweiten Buch des »Romanzero« von 1852 ist Heines Gedicht »Rückschau« zu finden. Es beginnt mit den wohlbekannten Zeilen: »Ich habe gerochen alle Gerüche In dieser holden Erdenküche; Was man genießen kann in der Welt, Das hab ich genossen wie je ein Held!« (Heine 1978, Bd. 6/I, S. 105 f.) Auf dieses vierzeilige Entrée folgt in den nächsten sechzehn Zeilen die Aufzählung der irdischen Genüsse: Kaffee und Kuchen, »manche schöne Puppe«, feine Kleider, Geld und Ruhm, komfortable Wohnlichkeiten, eine freundliche Natur, schlaraffenländisches Paradies, ausgestattet mit Engeln und Champagner – himmlische Freuden in sinnlicher Erdenlust. Mit einem Bruch in der Mitte des Gedichts werden sie als »Visionen, Seifenblasen« bezeichnet, und die mit ihm einsetzenden ebenfalls sechzehn Zeilen geben eine Auflistung irdischer Leiderfahrung: Armut, Krankheit, Lüge, unwirtliche und grausame Natur, Wanzen, Sorgen und Seelennot. Die eröffnende Rede von »alle(n) Gerüche(n) in dieser holden Erdenküche« entpuppt sich in ihrer ganzen ironischen Gebrochenheit: zu allen Gerüchen gehört nun auch der Gestank. Wenn es dann in den

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letzten Zeilen heißt: »Lebt wohl! Dort oben, ihr christlichen Brüder,/Ja, das versteht sich, dort sehn wir uns wieder«, so wird man dies kaum als Glaubensbekenntnis zur himmlischen Erlösung interpretieren können. Wie in Nietzsches »Prinz Vogelfrei« werden hier physisch-sinnliche Erfahrungen mit Geisteshaltungen und emotionalen Zuständen verbunden. Aber anders als dort entsteht die vertikale Bewegung im Gedicht Heines allein auf der Basis sinnlicher Erfahrung. Sie dementiert zunächst Vorstellungen vom irdischen Glück als bloße Visionen und setzt ihnen den Materialismus einer anderen Erfahrung entgegen. Diese wiederum macht den Blick auf ein »Dort oben« und die mit ihm verbundene Hoffnung gut feuerbachianisch als projektiven Effekt sozialen Elends kenntlich. Dessen Überwindung verkehrt das Gedicht von einer himmlischen zu einer irdischen Angelegenheit. Nimmt man den Titel »Rückschau« nicht im Sinne einer biographischen Erzählung, sondern als Bewegungsfigur innerhalb des Gedichts selbst, so führt sein Schluss den Blick zurück auf die anfänglich vorgestellte innerweltliche Glückseligkeit. Wenn das Ich dieses Gedichts aus den Illusionen auf den nüchternen Boden der Realität fällt, so darf man darin einen Widerstand gegen den Idealismus, namentlich den deutschen, sehen, der Heine und Nietzsche verbindet. Heine freilich setzt nicht wie Nietzsche zum Flug an, sondern poetisiert eine Desillusionierung jenseits tragischer Töne.

Nach dem Ende der Vorstellung: Auftritte des Dichters Nietzsche hatte im »Ecce homo« geschrieben, den »höchsten Begriff vom Lyriker hat mir Heinrich Heine gegeben. (…) Er besass jene göttliche Bosheit, ohne die ich mir das Vollkommene nicht zu denken vermag« (Nietzsche 1980, Bd. 6, S. 286) – ein Kompliment immerhin, das den Wert der Poesie nach ihrer überirdischen Ungefälligkeit und dem Talent des Unartigen misst. So gebrochen die Schönheit der Poesie ist, so problematisch ist die Stellung des Dichters. Zwei Gedichte reflektieren dessen Lage in einer bestimmten Situation – wenn das Licht schwächer wird oder erlischt: Nietzsches Gedicht »Nur Narr! Nur Dichter!«, das die Diony-

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sos-Dithyramben eröffnet, und Heines Gedicht »Sie erlischt« aus dem zweiten Buch des »Romanzero«. In Heines Gedicht spricht ein Ich, bei dem es sich um einen Dichter handeln dürfte, nach dem Ende einer Theatervorstellung: »Der Vorhang fällt, das Stück ist aus« (Heine 1978, Bd. 6/I, S. 119), es herrschen Stille und Dunkelheit und »sind verschwunden Lust und Lichter« – also die übliche Situation am Ende einer Vorstellung. Das Gedicht könnte damit schließen, dass es eine gewisse melancholische Stimmung nach einer Theateraufführung lyrisiert. Die zweite Strophe setzt ihr ein »Doch horch!« entgegen und erklärt: »ein schollernd schnöder Klang/Ertönt unfern der öden Bühne« – Verse immerhin mit einem fast betörenden Klang. Die Lautquellen sind nun Töne des Realen, mit denen möglicherweise keine Kunst mehr zu machen ist, denn: »Vielleicht daß eine Saite sprang/An einer alten Violine«; das Rascheln rührt von Ratten her und die letzte Öllampe verbreitet einen ranzigen Geruch – also andere Klänge und anderes Licht, expliziert in Worten wie »schnöde«, »öde«, »ranzig«, »rascheln«, »ächzen«. Sie sprechen vom Ende der Kunst und des Dichters. Die abschließenden Zeilen lauten: »Die letzte Lampe ächzt und zischt/Verzweiflungsvoll und sie erlischt./Das arme Licht war meine Seele.« Genau genommen, existiert die Seele des Dichters allein in der Welt der wirklichen Fiktionen, wie sie mit dem Theater aufgerufen wird. Aber das lyrische Ich, der Dichter spricht ja noch nach dem Ende der Vorstellung weiter bis ins Dunkel hinein und unbeseelt vom hellen Glanz der aufgeführten Dichtung. Nach dem Theater kommt die Lyrik, Dichtung ohne Publikum. Dem widerwilligen Hegelianer Heine dürfte Hegels Diktum vom Ende der Kunst und ihrer Aufhebung in Religion und Philosophie vertraut, aber kaum mehr ein gangbarer Ausweg gewesen sein. Bei einsetzender Dunkelheit dennoch weiterzusprechen, mag man zwar mit Heines »Matratzengruft« in Verbindung bringen, aber darüberhinaus spricht aus diesem Gedicht noch immer eine lyrische Stimme nach dem Ende einer glanzvollen und öffentlich wertgeschätzten Kunst. Entwertung und Umwertung der Dichtung sind Thema von Nietzsches längerem Gedicht »Nur Narr! Nur Dichter!«. (Nietzsche 1980, Bd. 6, S. 377 ff.) Es beginnt am Abend: »Bei abgehellter Luft,/wenn schon des

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Thaus Tröstung/zur Erde nierderquillt«, erinnert sich ein Ich, das sich selbst zunächst mit »du« anspricht, an ein »boshaftes« Licht und »blendende Sonnen-Gluthblicke«, die dieses Ich verhöhnen, weil es nicht der Wahrheit, sondern der Lüge verbunden, eben »nur ein Dichter« ist, »auf Lügen-Regenbogen/zwischen falschen Himmeln/herumschweifend, herumschleichend – «. Der Einsatz der höhnischen Rede des Lichts ist mit Anführungszeichen markiert, nicht aber ihr Ende, sodass es zu keiner deutlichen konfrontativen Struktur von Rede und Gegenrede kommt. Vielmehr verwandelt sich das sich des Weiteren mit »du« anredende Ich dieser Missachtung an und kehrt sie um, indem die hegelianische Feststellung, wonach wir das Knie vor der Kunst nicht mehr beugen, in einer neuen Auffassung von der Dichtung umgewertet wird. »Nicht still, starr, glatt, kalt, zum Bilde worden, zur Gottes-Säule, nicht aufgestellt vor Tempeln, eines Gottes Thürwart: nein! feindselig solchen Tugend-Standbildern« ist die Dichtung, die nun zugunsten des wilden Vitalismus von Katzen, Adlern, Panthern auf die Stärkung der Dichtung durch Idealisches, Moralisches oder Religiöses verzichtet. Die Dichtung, der Dichter – »grimmig gram Allem, was blickt/tugendhaft, schafmässig, krauswollig,/dumm, mit Lammsmilch-Wohlwollen…« – bezieht seine Kraft aus sich selbst. »Also adlerhaft, pantherhaft sind des Dichters Sehnsüchte, sind d e i n e Sehnsüchte unter tausend Larven, du Narr! du Dichter!« Die entwertende Rede vom »n u r Narr! n u r Dichter!« ist an dieser Stelle aufgehoben.

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Wie weiter zu lesen ist, verdankt sich diese Umwertung veränderten Lichtverhältnissen, also dem Vergehen ihrer erhellend aufklärerischen Kräfte. Am Beginn der letzten Passage wird die Eingangszeile »Bei abgehellter Luft« wieder aufgenommen, aber nun steht nicht mehr die Sonne, sondern der Mond am Himmel – »dem Tage feind«, »krank vom Lichte«, so bezeichnet sich dieses Ich nun in der ersten Person Singular und erinnert sich an einen Zustand, in dem es »von Einer Wahrheit/verbrannt und durstig« war. Die »Tages-Sehnsüchte« nach der »Einen Wahrheit« – also dem Gipfel der Philosophie – haben sich nicht erfüllt. Davon, dass dieser Gipfel unbesetzt ist, spricht der Dichter. Im Spiel mit dem Auslassen eines einzigen Buchstabens macht Nietzsche die Lage klar. Das ehemals durstende Ich war »von Einer Wahrheit verbrannt«, nun stellt es fest, »d a s s  i c h  v e r b a n n t  s e i / v o n  a l l e r  W a h rh e i t!« Die Schlusszeile: »N u r Narr! N u r Dichter!…« ist nicht mehr als höhnischer, platonisch getönter Vorwurf an den Dichter zu lesen, sondern als eine Affirmation, mit der der Narr die Wahrheit spricht. Nimmt man diese beiden Gedichte von Heine und Nietzsche – bei all ihrer Unterschiedlichkeit – zusammen, dann sprechen sie davon, wie Dichtung nach dem gebrochenen Licht von Aufklärung und Idealismus dennoch weitergehen kann, der eine weitab von einer Position in der Loge eines erleuchteten Theaters der wirklichen Fiktionen, der andere weitab von allen denkbaren Tempelkünsten mit Wahrheitsverlangen. Zurück bleibt in beiden Fällen die Stimme eines Dichters, der seine Stütze am Publikum verloren hat. Legt man die hier vorgestellten Gedichte nebeneinander, so lassen sich drei Denkmotive finden, in denen die Affinitäten von Heine und Nietzsche kenntlich werden. Im Bruch mit Herkunftsreferenzen insistieren beide auf einer unaufhebbaren Fremde. In leiblichen und intellektuellen Diskrepanzerfahrungen werden Bewegungsfiguren der Freiheit und des Glücks ausgemessen. Schließlich geht es um die Stellung des Dichters und um den Abschied von der Vorstellung einer Dichtung, die idealischer Lichtmetaphorik verbunden ist. Es ist die Lyrik, die nach diesem Ende der Kunst zur höchsten Form der Mitteilung aufsteigt. In ihr mischen sich, bei Heine wie bei Nietzsche, Pathos und Ironie zu einem auch in sich gebrochenen lyrischen Klang.

9. Gebrochene Herkünfte: Heinrich Heine, Friedrich Nietzsche

In Heines und Nietzsches Schriften verkörpern sich Gebrochenheiten, die weit über die Komplexe des Deutschen und seiner Heimatfragen hinaus- und in veränderte, neue Bedingungen und Konturen des Denkens und Dichtens hineinragen. Dem einen, dem skeptischen Romantiker und romantischen Skeptiker Heine, ist die Souveränität des Dichters ebenso abhandengekommen wie dem anderen, dem Philosophen und Altphilologen Nietzsche, die Gewissheit regierender Denksysteme. Die schönen Tage sind vorüber, an ihre Stelle ist das wache Bewusstsein der Dekadenz getreten, das Wissen um den Sturz der Ideale. Das alte Bild von Ikarus, dessen gewachste Flügel von blendender Sonnenglut verbrannt wurden, sodass er auf die Erde niederstürzte, erhält bei ihnen seine intellektuell bestimmende Gegenwärtigkeit. Am Epigonentum führt hier kein Weg mehr vorbei, nachdem die geschichtsphilosophische Unterfütterung eines zukunftsverheißenden Zeitpfeiles des Fortschritts fragwürdig geworden ist. Aber es ist ein Epigonentum der Gebrochenheiten, denn diese Denker in Vertikalen, die wie der arme Woyzeck auf den zunehmend Recht und Bedeutung beanspruchenden Boden von Stoff und Materie gefallen sind, haben den Blick nach oben, auf alte Ideale nicht aufgegeben, sondern – als Epigonen – auch zum Gegenstand der Dichtung wie Philosophie gemacht und den Aufflug in die fragil gewordenen Welten der Ideale nicht gescheut. Zu diesem in Heine und Nietzsche sich verkörpernden Aufbruch der Dichtung und des Denkens und den Einschnitten, die mit ihm einhergehen, gehören Pathos und Ironie gleichermaßen, denn es sind Aufbrüche ohne sicheren Boden. Wenn der eine, Nietzsche, unermüdlich daran arbeitet, den Nihilismus aufzuhalten, und der andere, Heine, mit den neuen, besseren Liedern, die er singen will, darauf insistiert, den Bildern eines besseren Lebens ihren Raum zu erhalten, darf man in ihrer beider Schriften und ihrem Epigonentum eine eigentümliche Aktualität entdecken. (Zuerst in: Exil – Transfer – Gedächtnis. Exil – Transfert – Mémoire. Deutschfranzösische Blickwechsel/Regards croisés franco-allemand, hg. v. Marion Picker, Dorothee Kimmich, Frankfurt a.M. 2016: Peter Lang, S. 243-253. Überarbeitet.)

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Poesie und Reflexion zwischen 1755 und 1848

Literatur Friedl, Herwig. 1990. Heinrich Heine und Friedrich Nietzsche. In Heinrich Heine im Spannungsfeld von Literatur und Wissenschaft. Symposion anläßlich der Benennung der Universität Düsseldorf nach Heinrich Heine. Hg. v. Wilhelm Gössmann, Manfred Windfuhr. 195-214. Hagen: Reimar Hobbing. Grimm, Reinhold. 1985. Antiquity as Echo and Disguise: Nietzsches »Lied eines theokritischen Ziegenhirten«, Heinrich Heine and the Crucified Dionysos. In: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung. Bd. 14. 201-249. Berlin, New York: de Gruyter. Heine, Heinrich. 1978. Sämtliche Schriften. Hg. v. Klaus Briegleb. München, Wien: Deutscher Taschenbuch Verlag. Hillebrand, Bruno. 2010. Gesang und Abgesang Deutscher Lyrik von Goethe bis Celan. Göttingen: V&R unipress. Höhn, Gerhard. 2000. »Farceur« und »Fanatiker des Ausdrucks«. Nietzsche, Heineaner malgré lui?. In Heinrich Heine. Wege der Forschung. Hg. v. Christian Liedke. 198-215. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft. Nietzsche, Friedrich. 1980. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in fünfzehn Bänden. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München, Berlin, New York: Deutscher Taschenbuch Verlag, de Gruyter. Spencer, Hanna. 1972. Heine and Nietzsche. In Heine Jahrbuch 1972, 11. Jg. 126-161. Hamburg: Hoffmann und Campe. Wortmann, Simon. 2011. »das Wort will Fleisch werden«. Körper-Inszenierungen bei Heinrich Heine und Friedrich Nietzsche. Stuttgart: Metzler.

Schluss

Es sind, sieht man von der selbstverständlichen Liebe zur Literatur (auch der skurrilen) ab, eine Reihe von Interessen, Ideen und Absichten, die diese Studien motiviert und begleitet haben. So faszinierend die literarischen Fiktionswelten im Einzelnen auch immer sein mögen: hier ging es darum, sie auf die Reflexionszusammenhänge hin zu öffnen, die sich in ihnen abspielen. Oftmals sagen sie selbst etwas darüber aus, was der Problemhorizont ist, in dem sie sich bewegen oder auf den sie antworten. Insofern steckt in ihnen schon eine Referenz auf etwas, das außerhalb des bloßen Faszinosums ihrer Fiktionen liegt. So ist es beispielsweise kaum schwierig, bei Lessing den Aufruf zu religiöser Toleranz zu finden, bei Johann Karl Wezel einen gewissen Misanthropismus oder in romantischer Ironie das Streben nach unendlichen Vermittlungen heterogener Elemente zu einem möglichen Ganzen. Aber in diesen Studien ging es nicht darum, sich im Inneren der Werke kommentierend einzuhausen, auf etwas andere Weise das noch einmal zu sagen, was der Text selbst schon gesagt hat. Die Arbeit an und mit den einzelnen Werken lässt sich wohl am besten als Geste der Zerlegung beschreiben. Zerlegt wurden die geschlossenen Fiktionswelten der Werke in Elemente, die ihre Denkfiguren, notorische Problemzonen und den Horizont bzw. die Interessen ihres Wissens und Erkennens betreffen. Dies war die Voraussetzung dafür, Beziehungen und Relationen nicht nur zwischen Werken der Literatur, sondern auch zu außer-literarischen Diskursen herzustellen, um Muster und Konjunkturen von Themen und Gegenständen zu entdecken, die in einer bestimmten Gegenwart für die Zeitgenossen relevant waren.

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Poesie und Reflexion zwischen 1755 und 1848

Solche Muster ließen sich in einer vorwiegend synchronen Konstellation literarischer Werke finden, wie etwa in Fall der Staatsromane mit ihren Gesellschaftskonzepten und Menschenfassungen. Synchrone Konstellationen führten darüberhinaus auch immer wieder in Gebiete, die mit Literatur im strengen Sinne gar nichts zu tun haben, in Gebiete außerliterarischen Wissens wie Diätetik, Pädagogik oder Ökonomie, um zuweilen erstaunliche Affinitäten zwischen literarischen Imaginationswelten und theoretischen und praktischen Erkenntnisinteressen zu entdecken. Erweitert um eine diachrone Perspektive ließen sich Persistenzen, aber auch Verschiebungen solcher Denkinteressen und Problemlagen aufweisen, die zuweilen bis in unsere Gegenwart hineinragen. Dass Poesie und Reflexion auf diese Weise zueinander finden konnten, hat sich einer kulturwissenschaftlichen Orientierung verdankt, die die intellektuellen und kulturellen Energien von Literatur in den Blick nehmen kann. So sehr in diesem Verfahren der Relationierung und Kontextualisierung eine Gefahr liegen mag, weil die Grenzen von Kontexten kaum zu bestimmen sind und zudem alle Themen und Gegenstände als irgendwie kulturell bedeutsam ausgezeichnet werden könnten – wir haben uns bemüht, uns nicht auf dem uferlosen Ozean der Kontexte zu verlieren. Es sind bestimmte Themenkomplexe gewesen, um die sich diese Studien zentriert haben: es ging um die diversen Entfaltungen der anthropologischen Frage; um die Modalitäten, in denen sich das Denken des Politischen, des Staates und der gesellschaftlichen Vermittlungen formiert; um Gebiete nicht-literarischen Wissens, die in den Diskursen einer Zeit Konjunktur haben und die für die Literatur, sei es implizit oder explizit, eine Rolle spielen, weil sie zum Horizont ihrer Gegenwart gehören. Diese drei Komplexe waren so etwas wie Leitlinien, die die Kontextualisierungsoffenheiten begrenzt und die Seitensprünge in kulturwissenschaftlicher Absicht orientiert haben. Es ist der Besonderheit von Literatur als Kunst geschuldet, dass wir solche Bezüge, die über die Geschlossenheit ihrer Imaginationswelten hinaus- und in die Gebiete der Reflexion hineinreichen, herstellen konnten. Denn im Unterschied zu anderen Künsten hat Literatur eine starke Mitteilungsfunktion, die sich zwar von einer realen Mitteilung, bei der

Schluss

die sachliche Bezogenheit auf Wirklichkeit von Belang ist, unterscheidet – aber weil diese sachliche Bezogenheit, die bloße Richtigkeit der Mitteilung hinter dem im weitesten Sinne ästhetischen Charakter der literarischen Aussage zurücktritt, haben wir es mit erweiterten Wirklichkeitsbezügen und erweiterten Aussagemöglichkeiten zu tun. Das, was Poeten und ihre Zeitgenossen im Blick auf den Erfahrungsdruck ihrer Gegenwart, die kulturellen Selbstverständnisse, Denkweisen, sozialen Bindungen oder Konflikte umtreibt, findet seinen diskursiven Ort in der Literatur, weil diese Kunst von der Dehnung ihrer Aussagemöglichkeiten lebt. Den beziehungsträchtigen Resonanzraum, der Literatur mit zeitgenössischen Problemzonen verbindet, aufzufalten, ist das Anliegen dieser Studien gewesen.

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