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German Pages 1568 [1662] Year 2007
Roman Jakobson Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie Band I
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Roman Jakobson Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie Sämtliche Gedichtanalysen Kommentierte deutsche Ausgabe
Band I Poetologische Schriften und Analysen zur Lyrik vom Mittelalter bis zur Aufklärung
Gemeinsam mit Sebastian Donat herausgegeben von
Hendrik Birus
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Redaktion: Sebastian Donat Elisabeth Dobringer Stephan Packard Hendrik Birus Linguistische Fachberatung: Imke Mendoza
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-018362-7 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2007 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz: Giorgio Giacomazzi, Berlin Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin
Inhaltsverzeichnis Band 1 Vorbemerkung der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . IX Hendrik Birus: Der Leser Roman Jakobson – im Spannungsfeld von Formalismus, Hermeneutik und Poststrukturalismus . . XIII Die neueste russische Poesie . . . . . . . . . . . . . Unterschwellige sprachliche Gestaltung in der Dichtung . . Linguistik und Poetik . . . . . . . . . . . . . . . Polnische Illustrationen zu »Linguistik und Poetik« . . . . Sprache in Aktion . . . . . . . . . . . . . . . . . Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie . . . . Der grammatische Parallelismus und seine russische Spielart
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Anmerkungen zur Gestalt eines altjapanischen Gedichts: Das Abschiedsgedicht von 732 von Takapasi Musimarö . . . . . . Der Lobeshymnus in Ilarions »Rede über das Gesetz und die Gnade« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Komposition und Kosmologie des Klageliedes der Jaroslavna . . Die poetische Textur bei Martin Codax. Revidierte Fassung eines Briefs an Haroldo de Campos . . . . . . . . . . . . . (mit Paolo Valesio) Vocabulorum constructio in Dantes Sonett »Wenn Du meine Augen siehst« . . . . . . . . . . . . . . . Siluans Lobpreis auf den Hl. Sava . . . . . . . . . . . . . Siluans Lobpreis auf Simeon . . . . . . . . . . . . . . . »Die die Gottes-Kämpfer sind«. Der Wortbau des Hussiten-Chorals Die Poesie Dalmatiens am Ende des 15. Jahrhunderts: Dzˇore Drzˇic´s Gedicht »Auf der Jagd« . . . . . . . . . . . .
1 125 155 217 237 257 303
365 391 415 427 439 471 495 509 537
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Inhaltsverzeichnis
»Wenn unser Leben«. Betrachtungen zur Komposition und Struktur der Wörter in einem Sonett von Joachim Du Bellay . . . Die grammatische Textur eines Sonetts aus Sidneys Arcadia . . . (mit Lawrence G. Jones) Shakespeares Wortkunst in »Das Versprühen des Geistes« . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Das Leid jener, die beim Feuerholz erschlagen werden« . . . . Andrew Marvells Gedicht »An seine spröde Herrin« . . . . . . »Du möchtest wissen: Wer bin ich?« Eine Analyse der Tobolsker Verse Radisˇcˇevs . . . . . . . . . . . . . . . . . .
553 607 623 657 673 689
Band 2 Zur Wortkunst von William Blake und anderen Dichter-Malern . Derzˇavins letztes Gedicht und M. Halles erster literaturwissenschaftlicher Aufsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Faktur eines Vierzeilers von Pusˇkin . . . . . . . . . . R. C. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pusˇkins Verse über die Statue, die Bacchantin und die Demütige . Über die »Verse, verfaßt nachts während der Schlaflosigkeit« . . (mit Grete Lübbe-Grothues) Ein Blick auf »Die Aussicht« von Hölderlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Brief an Grete Lübbe-Grothues, 10. Oktober 1974 . . . . (mit Michael Franz) Die Anwesenheit von Diotima. Ein Briefwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (mit Claude Le´vi-Strauss) »Die Katzen« von Charles Baudelaire . Das letzte »Spleen«-Gedicht aus Les Fleurs du mal unter dem Mikroskop . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die grammatische Struktur von Janko Kra´ls Dichtung . . . . . »Vergangenheit« von Cyprian Norwid . . . . . . . . . . . »Gefühl« von Cyprian Norwid . . . . . . . . . . . . . . Die Struktur von Botevs letztem Gedicht . . . . . . . . . . (mit Boris Cazacu) Analyse des Gedichts »Wiedersehen« von Mihail Eminescu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1 45 55 63 77 121 139 238 239 251 289 319 355 375 395 433
Inhaltsverzeichnis
Lyrische Prophezeiungen Aleksandr Bloks . . . . . . . . . . Aus den kleinen Sachen Velimir Chlebnikovs: »Wind – Singen« . Ein slovenisches Beispiel der Schlüsselrolle unpersönlicher Sätze im poetischen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . (mit Peter Colaclides) Grammatische Bildlichkeit in Kavafis’ Gedicht »Gedenke, Körper…« . . . . . . . . . . . . . . Über die Wortkunst Kazimierz Wierzyn´skis . . . . . . . . . (mit Stephen Rudy) Yeats’ »Der Gram der Liebe« im Lauf der Jahre (mit Luciana Stegagno Picchio) Die dialektischen Oxymora von Fernando Pessoa . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Haroldo de Campos) Randbemerkungen zu einer Pessoa-Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der grammatische Bau des Gedichts von B. Brecht »Wir sind sie« (mit Linda R. Waugh) Einige Schlußfolgerungen aus einem Gedicht von Cummings – Sprache und Dichtung . . . . . . . . Nachtrag zur Diskussion um die Grammatik der Poesie . . . .
VII
453 493 517 527 555 571 631 669 687 717 733
Rhetorisches, metrisches und linguistisches Glossar . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
789 815 817
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
819 859
Vorbemerkung der Herausgeber Vor inzwischen fünfundzwanzig Jahren wurde Roman Jakobsons monumentales Alterswerk Poetry of Grammar and Grammar of Poetry, gebündelt im gleichnamigen dritten Band seiner Selected Writings (1981) und ergänzt in weiteren Bänden, der weltweiten wissenschaftlichen Öffentlichkeit vorgelegt. Betrüblicherweise hat es nie die ihm zukommende Aufmerksamkeit erfahren. Wichtige, wenngleich sehr begrenzte Auszüge daraus waren und sind Gegenstand intensiver literaturwissenschaftlicher Diskussionen,1 ja sie gehören mittlerweile zum philologischen ›Handwerkszeug‹, das in Deutschland und anderswo zumeist in Einführungsseminaren, ja selbst im Gymnasialunterricht vermittelt wird. Die völlig unterschiedliche, doch stets ganz selektive Rezeption von Jakobsons Gedichtanalysen in den einzelnen Philologien ist auf eine letztlich kontingente Ursache zurückzuführen: die sprachliche Unzugänglichkeit vieler Aufsätze und der in ihnen behandelten Gedichte für die Mehrzahl ihrer potentiellen Leser. Sind doch Jakobsons Gedichtanalysen allein in Band III der Selected Writings in nicht weniger als sechs Sprachen abgedruckt: Englisch, Russisch, Französisch, Deutsch, Polnisch und Tschechisch; ja, der Einzugsbereich der analysierten Gedichte ist noch bei weitem größer (zusätzlich: Altkirchenslawisch, Bulgarisch, Italienisch, Japanisch, Kroatisch, Neugriechisch, Portugiesisch, Rumänisch, Slowakisch und Slowenisch). Wer sich für Jakobsons Analysen interessierte, war also weitgehend – nur sehr wenige Gedichtanalysen liegen bisher in Übersetzungen vor – auf das sprachlich jeweils Nächstliegende beschränkt: die Anglisten auf seine Analysen zu Sidney, Marvell, Blake, Yeats und vor allem zu Shakespeare, die Romanisten auf die Studien zu Du Bellay und Baudelaire oder zu Martin Codax und Pessoa, die Germanisten auf die Brecht- und Hölderlin-Untersuchungen usw. Schon diese drei Philologien machen deutlich, in welchem Maße die rein sprachlich bedingte Auswahl es den jeweiligen Lesergruppen nahezu unmöglich gemacht hat, 1
Vgl. den Symposions-Band des Münchener Promotionsstudiengangs »Literaturwissenschaft«: Roman Jakobsons Gedichtanalysen. Eine Herausforderung an die Philologien, hg. v. Hendrik Birus, Sebastian Donat u. Burkhard Meyer-Sickendiek, Göttingen: Wallstein 2003 (= Münchener Komparatistische Studien, Bd. 3).
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einen adäquaten Eindruck von Methode und Leistungsfähigkeit der Analysen Jakobsons zu gewinnen. Denn sowohl die weitgehend uninspirierte, in ihrer mechanischen Befolgung eines Untersuchungsprogramms geradezu ›klappernde‹ Shakespeare-Analyse als auch die methodisch noch recht unartikulierte Studie zu Baudelaires Les chats und ganz und gar die ins Biographisch-Psychologische ausufernde Untersuchung von Hölderlins Die Aussicht sind Sonderfälle, die zu ihrer Einordnung in das poetologische Programm Jakobsons der Flankierung durch weitere, ›typischere‹ Analysen bedürfen. Diesen Mißstand in der Auseinandersetzung mit Roman Jakobson zu beseitigen – das zumindest strebt die vorliegende deutsche Ausgabe seiner sämtlichen Gedichtanalysen an. Sie bietet daher einerseits eine vollständige Präsentation dieses Textcorpus (keine, aus westeuropäischer Sicht noch so ›exotische‹ Sprache bzw. Literatur wurde ausgeschlossen) und andererseits seine weitgehende inhaltliche Erschließung für den deutschsprachigen Leser. Letzteres bedeutet, daß alle Aufsätze Jakobsons durch Spezialisten aus den jeweiligen Literaturwissenschaften kommentiert wurden, die den Lesern zusammen mit der philologischen Aufbereitung (von der Überprüfung und Ergänzung sämtlicher Literaturangaben und ihrer Umstellung auf moderne Ausgaben über von Fall zu Fall notwendige Emendationen bis hin zu einer Vielzahl von Querverweisen auf andere Analysen und Anschlüsse an die Forschungsdiskussion) durch die Einleitungstexte und die Kommentare auch eine Einstiegshilfe in bezug auf die jeweilige Sprache und Literatur sowie auf Person und Werk der Autoren bieten. Integraler Bestandteil der Ausgabe ist ferner die kommentierte Übersetzung der wichtigsten poetologischen Aufsätze aus Jakobsons Spätzeit sowie ihrer kühnen Antizipation in seinem Erstling Die neueste russische Poesie. Insgesamt umfaßt die vorliegende Ausgabe somit 46 Einzelaufsätze aus der Feder von Roman Jakobson (teilweise in Zusammenarbeit mit Kollegen aus den jeweiligen Philologien). In zwei Fällen konnten sie durch wichtige Ergänzungen komplettiert werden: Zum einen wird im Anhang zur Hölderlin-Analyse ein Brief Roman Jakobsons aus dem Jahr 1974 an seine spätere Ko-Autorin Grete Lübbe-Grothues mit Detailbeobachtungen zum zwei Jahre darauf gemeinsam analysierten HölderlinGedicht Die Aussicht abgedruckt; ergänzt wird dies durch seinen Briefwechsel mit Michael Franz, der sich nach dem Erscheinen der Analyse entspann und in dem einzelne Aspekte näher untersucht werden. Zum anderen wird im Anhang zur Pessoa-Analyse der ausführliche Kommentar
Vorbemerkung
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wiedergegeben, den der brasilianische Dichter und Kritiker Haroldo de Campos – ein wichtiger Gesprächspartner Jakobsons – zum ersten Entwurf dieser Analyse angefertigt hat. An der Übersetzung und Kommentierung der Aufsätze waren insgesamt 43 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beteiligt. Ein großer Teil von ihnen ist – sei es als Dozent oder als Doktorand – mit dem Promotionsstudiengang Literaturwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München verbunden. Nur in seinem Kontext hat sich das Vorhaben überhaupt realisieren lassen. Dazu trug nicht zuletzt ein Workshop des Promotionsstudiengangs im Januar 2005 in Kloster Seeon bei. Der spezifische Charakter des zu erschließenden Textcorpus – das immense Spektrum der behandelten Literaturen und die dezidiert linguistische Poetik Roman Jakobsons – stellte die Herausgeber vor besondere Anforderungen. Zum einen bedurfte die Ausgabe als Ganze einer intensiven Fachberatung. Für diese Aufgabe konnte glücklicherweise die slavistische Linguistin Imke Mendoza gewonnen werden, die sämtliche Texte und Kommentare einer abschließenden linguistischen Überprüfung unterzogen 2 und für das Glossar die sprachwissenschaftlichen Fachbegriffe erläutert hat. Zum anderen mußten die Herausgeber für die Vereinheitlichung und Vernetzung der einzelnen Beiträge Sorge tragen, wobei gleichwohl die individuelle Handschrift der Beiträger erhalten bleiben sollte. Jakobsons Analysen stellen auch im Hinblick auf ihre Präsentationsweise eine beträchtliche Herausforderung dar. Insbesondere betrifft dies die polyglotte Anlage und dementsprechend die Vielzahl an notwendigen Übersetzungen. Um alle Texte dem deutschsprachigen Leser nahezubringen, wurden sämtliche fremdsprachlichen Elemente – vom untersuchten Gedicht über Zitate aus der Forschungsliteratur bis zu Titeln von wissenschaftlichen Aufsätzen und Büchern (außer englischen und französischen) – übersetzt. Für die jeweils im Zentrum der Analysen stehenden Gedichttexte wurde ein zweistufiges Verfahren gewählt: Am Anfang der Untersuchungen folgt auf den Originaltext (und ggf. seine Transliteration) zunächst eine lexikalisch vorlagengetreue, dabei jedoch unmittelbar verständliche Zeilefür-Zeile-Übersetzung. Werden im weiteren Verlauf der Analyse einzelne Passagen aus dem untersuchten Gedicht angeführt, so erfolgt die deutsche Wiedergabe nach dem Prinzip der Wort-für-Wort-Übersetzung; sprachlich bedingte Hinzufügungen (z. B. Artikel, Hilfsverben oder alternative Übersetzungen) werden durch Klammern kenntlich gemacht. 2
Wo Imke Mendoza zur Erläuterung Fußnoten eingefügt hat, sind diese mit dem Kürzel [Anm. v. I.M.] gekennzeichnet.
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Hendrik Birus und Sebastian Donat
Hinzufügungen der Übersetzer und Kommentatoren sind durch ekkige Klammern gekennzeichnet. Spitze Klammern 〈…〉 stehen für Auslassungen von Jakobson und seinen Ko-Autoren. Originalfußnoten sind normalerweise nicht eigens als solche gekennzeichnet. Am Ende jedes Aufsatzes findet sich ein Verzeichnis der verwendeten Literatur. Dabei sind die im Original zitierten Werke durch ° markiert. Zur leichteren Erschließung der Analysen und gleichzeitig zur Entlastung der einzelnen Kommentare ist der Ausgabe ein Glossar beigegeben, das die wichtigsten linguistischen, poetologischen und metrischen Fachbegriffe in Kurzform erläutert. Auf dieses Angebot wird in den Aufsätzen immer dort hingewiesen, wo ein im Glossar enthaltener Begriff zum ersten Mal verwendet wird. Das entsprechende Wort ist dann mit einem Asterisk * versehen. Zur Realisierung der Ausgabe hat zusätzlich zu den Kommentatoren und Übersetzern eine Vielzahl von engagierten Mitarbeitern beigetragen. Besonderen Dank schulden die Herausgeber Elisabeth Dobringer und Stephan Packard, die in beträchtlichem Umfang an der Gesamtredaktion beteiligt waren und deren großer Arbeitsaufwand es auch ermöglicht hat, die Ausgabe mit einem detaillierten Sachregister auszustatten. Mit unterschiedlichen Aufgaben von der Literaturrecherche bis zur formalen Vereinheitlichung der Analysen waren betraut: Matilda Bagic´, Julia Chebotova, Hanna Endres, Nina Engelhardt, Ulrike Köppen, Ce´line Lößer, Elena Mironova, Silvia Murauer, Agnes Popp, Leeza Schmidt, Julia Stolz, Andrew Williams und Alexander Zimbulov. Der Verlag – insbesondere Heiko Hartmann als Cheflektor Sprachund Literaturwissenschaft und Angelika Hermann von der Abteilung Technische Herstellung – haben das Vorhaben von Anfang an engagiert unterstützt. Entschieden profitiert hat es schließlich von der Realisierung des Satzes und der Register durch Giorgio Giacomazzi. Allen am Gelingen dieses großen Projekts Beteiligten, den Genannten wie den Ungenannten, gilt an dieser Stelle unser herzlicher Dank. München, im Juli 2006 Hendrik Birus
Sebastian Donat
Hendrik Birus
Der Leser Roman Jakobson im Spannungsfeld von Formalismus, Hermeneutik und Poststrukturalismus
Er war ein Dichter und haßte das Ungefähre […]. Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge […] die rabiate Operettenweisheit: »So genau wolln wirs ja garnicht wissen.« (Benjamin-Archiv, Ms 658)
I Roman Jakobson hat in der Literaturwissenschaft der 1960–70er Jahre weltweit Schule gemacht. Doch leider kaum mehr als das; und diese Schulstube ist überdies mangels Interesse weitgehend verwaist. Denn ihr literaturwissenschaftliches Lehrpensum bestand zumeist aus nicht mehr als vier bis fünf Texten (bzw. Textauszügen): dem ersten Drittel der Programmschrift Linguistik und Poetik, der gekürzten Übersetzung des Vortrags Poesie der Grammatik – Grammatik der Poesie, der mit Le´vi-Strauss verfaßten Analyse von Baudelaires Les chats-Sonett und allenfalls noch ein, zwei weiteren Gedichtanalysen: Shakespeares im englischen Sprachraum, eines weiteren Baudelaire-Gedichts im französischen, Brechts und Hölderlins im deutschen… Angesichts dieser schmalen und verkarsteten Textbasis ist es kein Wunder, daß Jakobson heutzutage unter Literaturwissenschaftlern als Dogmatiker gilt, noch dazu als hoffnungslos veralteter. Es kann nicht darum gehen, dieses Vorurteil in einzelnen Punkten oder auch im Ganzen revidieren zu wollen, denn die Geschichte der geisteswissenschaftlichen Disziplinen kennt keine Berufungsinstanz. Wohl aber, gerade aus komparatistischer Sicht, einen ganz anderen Roman Jakobson zu
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Hendrik Birus
entdecken: den passionierten Leser. Und seine Gedichtanalysen weniger als programmatische Einübungen in die strukturalistische Methode zu lesen, sondern eher als polyglotte Lektüreprotokolle – mit sehr verschiedenen Vorgehensweisen und nicht minder verschiedenem Ertrag. Daher sollte man es nicht als bloße Koketterie abtun, wenn Jakobson im Alter bekannte: »Wir lernten von Dichtern« (SW II, S. VI) und dafür neben Mallarme´ vor allem Novalis anführte. Denn tatsächlich hatte er seinen Weg nicht nur als Linguist und Phänomenologe angetreten, sondern zugleich als avantgardistischer Poet und Poetologe. Aus seiner uneingeschränkten Bewunderung für den kühnsten zeitgenössischen Dichter, Velimir Chlebnikov, resultierte sein 1919 verfaßter ›Erster Entwurf‹ zur Neuesten russische Poesie (veröffentlicht: Prag 1921), in dem in nuce nicht nur seine spätere Begrifflichkeit, sondern vor allem seine exzessive Lektürepraxis angelegt ist. Ohne Kenntnis dieser Ouvertüre kann Jakobsons Alterswerk Poesie der Grammatik – Grammatik der Poesie nur mißverstanden werden. Was diese erste literaturkritische Arbeit Jakobsons auszeichnet, ist ihr kompromißloser Gegenwartsbezug und ihre Frontstellung gegen die aus der Furcht vor dem Neuen resultierende Auffassung, »ein Bild könne man erst im Museum betrachten, nämlich dann, wenn es vom Schimmel der Jahrhunderte bedeckt ist«, und gegen die Forderung, »die Sprache der Dichter der Vergangenheit und ihren Wortschatz, ihre Syntax und ihre Semantik als Norm verbindlich zu machen« (Bd. I, S. 49).1 Vielmehr sei inzwischen die traditionelle poetische Sprache erstarrt und werde nur noch als Ritual, als ›heiliger Text‹ erlebt, bei dem selbst die Schreibfehler als geheiligt gelten: »Die Sprache der Poesie überzieht sich mit Firnis, weder die Tropen noch die poetischen Freiheiten sagen dem Bewußtsein etwas.« (I, S. 46) So hatte schon der damalige Wortführer der russischen Formalisten, Viktor Sˇklovskij, in dem Aufsatz Die Auferweckung des Wortes (1914) erklärt: »Wir erleben und sehen das Gewohnte nicht, sondern erkennen es wieder. […] Die Werke der alten Wortkünstler erleiden das gleiche Schicksal wie das Wort. […] Man hört auf, sie zu sehen, und beginnt, sie wiederzuerkennen. Die Werke der Klassiker stecken für uns in gläsernen Panzern der Vertrautheit«.2 Jakobson zieht daraus nur die 1 2
Verweise auf die vorliegende Ausgabe erfolgen im laufenden Text unter einfacher Angabe der Bandnummer und Seitenzahl. Sˇklovskij, Viktor: »Die Auferweckung des Wortes«, übs. v. Inge Paulmann, in: Texte der russischen Formalisten, Bd. II: Texte zur Theorie des Verses und der poetischen Sprache, eingel. u. hg. v. Wolf-Dieter Stempel, Anm. u. Red.: Inge Paulmann, München: Fink 1972 (= Theorie und Geschichte der Literatur und der Schönen Künste. Texte und Abhandlungen, Bd. 6, 2. Halbbd.), S. 2–17, hier: S. 2 f. u. 8.
Der Leser Roman Jakobson
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naheliegende Konsequenz, wenn er behauptet, Pusˇkins Verse seien »als poetisches Faktum heutzutage unverständlicher und weniger einleuchtend als die Majakovskijs oder Chlebnikovs« (I, S. 4). Den Grund für diese Unverständlichkeit der Klassiker sieht Jakobson darin, daß wir jedes Faktum der poetischen Sprache notwendig in Konfrontation mit drei Momenten wahrnähmen: der vorhandenen poetischen Tradition, der praktischen Sprache der Gegenwart und der poetischen Tendenz der betreffenden Äußerung. »Wenn wir aber mit Dichtern der Vergangenheit umgehen, müssen diese drei Momente rekonstruiert werden, was nur mühsam und unvollkommen gelingt.« (I, S. 5) Wie nun für einen Großteil der Werke Chlebnikovs und Majakovskijs die ganz aktuelle Umgangssprache als Ausgangspunkt diene, so habe sich die russische Poesie seit dem 18. Jahrhundert immer wieder neue Elemente der lebendigen Rede zu eigen gemacht.3 Daher ermögliche »nur das Studium der Prozesse lebendiger Rede […] ein Eindringen in die Geheimnisse der erstarrten Sprachstruktur früherer Perioden« (I, S. 4). Deshalb war es auch kein Zufall, daß Jakobson seine literaturwissenschaftliche Programmschrift zur Neuesten russischen Poesie ausgerechnet im ›Moskauer Linguistischen Zirkel‹ zur Diskussion stellte und daß er lebenslang auf der notwendigen Verbindung von Linguistik und Poetik beharrte. Ja, indem er von der Dialektologie den »Hauptimpuls für die Aufdeckung linguistischer Grundgesetze« (I, S. 4) erwartete und dementsprechend forderte, daß »eine besondere poetische Dialektologie geschaffen wird« (I, S. 8), konnte es sich für ihn von vornherein nicht um die bloße – womöglich gar normative – Anwendung der Schulgrammatik auf poetische Texte handeln, sondern hier war wirkliche linguistische Feldforschung erforderlich. Und dies gerade bei Texten der Vergangenheit, da man die Elemente früherer Sprachsysteme »nicht in ihrer ganzen Fülle, sondern […] nur in Bruchstücken, annäherungsweise und stark rationalisierend« (I, S. 3) aufzunehmen in der Lage sei. Wie allein schon diese Zitate zeigen, handelte es sich für Jakobson von Anfang an nicht darum, irgendwelche sprachlichen Strukturen an 3
So hatte Sˇklovskij schon in einem der Gründungsaufsätze des russischen Formalismus, »Kunst als Verfahren« (1916), behauptet: »Pusˇkin verwendete die niedrige Umgangssprache als besonderes Verfahren, die Aufmerksamkeit festzuhalten«, und gerade wegen dieser damaligen Trivialität sei sein Stil den Zeitgenossen unerwartet schwierig erschienen (Texte der russischen Formalisten, Bd. I: Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, eingel. u. hg. v. Jurij Striedter, Anm. u. Red.: Witold Kos´ny, München: Fink 1969 [= Theorie und Geschichte der Literatur und der Schönen Künste. Texte und Abhandlungen, Bd. 6, 1. Halbbd.], S. 2–35, hier: S. 33).
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poetischen Texten nachzuweisen, ohne sich – wie ihm später Riffaterre, Culler und andere Kritiker entgegenhielten 4 – die Frage nach ihrer möglichen Wahrnehmbarkeit durch den Leser und seiner Wirkung auf ihn zu stellen. Welchen Sinn hätte sonst sein steter Gebrauch von Wendungen wie dem Bewußtsein etwas sagen, einleuchtend, verständlich (oder aber unverständlich) sein, oder aber aufnehmen, wahrnehmen, fühlen, erleben, in Geheimnisse eindringen etc.? Der ihm gern unterstellte Objektivismus wäre um so verwunderlicher, als das Phänomen der »poetischen und überhaupt der künstlerischen Wahrnehmung« 5 geradezu den theoretischen Ausgangspunkt des russischen Formalismus darstellte. Heißt es doch in Sˇklovskijs Kunst als Verfahren: gerade, um das Empfinden des Lebens wiederherzustellen, um die Dinge zu fühlen, um den Stein steinern zu machen, existiert das, was man Kunst nennt. Ziel der Kunst ist es, das Empfinden des Gegenstandes zu vermitteln, als Sehen, und nicht als Wiedererkennen; das Verfahren der Kunst ist das Verfahren der ›Verfremdung‹ der Dinge und das Verfahren der erschwerten Form, ein Verfahren, das die Schwierigkeit und die Länge der Wahrnehmung steigert, denn der Wahrnehmungsprozeß ist in der Kunst Selbstzweck und muß verlängert werden […].6
Wie für das Empfinden und Wahrnehmen der Realität gilt dies aber nicht minder für das der Kunst selbst; denn auch »das Leben eines dichterischen (künstlerischen) Werks führt vom Sehen zum Wiedererkennen«.7 Für beide Bereiche gilt daher gleichermaßen Sˇklovskijs Definition: »Künstlerisch ist eine Wahrnehmung, bei der die Form erlebt wird (vielleicht nicht nur die Form, aber die Form auf jeden Fall).« 8 Wie allerdings Jakobsons wichtigster philosophischer Gewährsmann, Edmund Husserl,9 die Frage nach den Gegenständen des Bewußtseins strikt anti-psychologistisch gestellt 4 5 6 7 8 9
Vgl. Jakobsons Replik in seinem »Nachtrag zur Diskussion um die Grammatik der Poesie«, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, bes. S. 756 u. 760. Sˇklovskij, »Die Auferweckung des Wortes«, S. 3. Sˇklovskij, »Kunst als Verfahren«, S. 15. Vgl. hierzu auch Lachmann, Renate: »Die ›Verfremdung‹ und das ›Neue Sehen‹ bei Viktor Sˇklovskij«, in: Poetica 3 (1970), S. 226–249. Sˇklovskij, »Kunst als Verfahren«, S. 15. Sˇklovskij, »Die Auferweckung des Wortes«, S. 3. Generell betont Derrida, »daß der moderne Strukturalismus in mehr oder weniger direkter und zugegebener Abhängigkeit von der Phänomenologie gewachsen und groß geworden ist« (Derrida, Jacques: »Kraft und Bedeutung«, in: ders., Die Schrift und die Differenz, übs. v. Rodolphe Gasche´, Frankfurt /Main: Suhrkamp 1976 [= suhrkamp taschenbuch wissenschaft (künftig: stw) 177], S. 9–52, hier: S. 48). Vgl. Holenstein, Elmar: Roman Jakobsons phänomenologischer Strukturalismus, Frankfurt /Main: Suhrkamp 1975 (= stw 116).
Der Leser Roman Jakobson
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hatte, so gab sich auch Jakobson von vornherein nicht mit ›reader responses‹ oder ähnlichen literaturpsychologischen Konzepten zufrieden,10 sondern fragte – gemäß der Maxime der Phänomenologie 11 – nach der Fundierung solcher psychologisch beschreibbaren Reaktionen in ›den Sachen selbst‹: nämlich in den sprachlichen Phänomenen. Dieser phänomenologische Anti-Psychologismus wurde aber für den jungen Jakobson noch durch seinen programmatischen Anschluß an die künstlerische Avantgarde bis an den Rand des A-Semantismus verschärft. Wenn Jakobson daher betonte, »daß im Kunstwerk vorzugsweise nicht mit Gedanken, sondern mit sprachlichen Fakten operiert wird« (I, S. 24), so war dies vornehmlich durch die von ihm besonders akzentuierte Tendenz der Poesie Chlebnikovs zur Gegenstandslosigkeit inspiriert (I, S. 78),12 die freilich schon in Mallarme´s berühmter Replik angelegt war: »Verse macht man nicht mit Ideen, mein lieber Degas. Man macht sie mit Worten.« 13 Ist aber Poesie ihrem Wesen nach als »Formung des selbstwertigen, ›selbstmächtigen‹ Wortes, wie Chlebnikov sagt« (I, S. 16) zu begreifen und die »Ausrichtung auf den Ausdruck, auf die Wortmasse« ihr 10 Vgl. Riffaterre, Michael: »Describing Poetic Structures: Two Approaches to Baudelaire’s Les Chats«, in: Yale French Studies 36/37: Structuralism (1966), S. 200– 242, bes. S. 213–216; vgl. auch Culler, Jonathan: Structural Poetics. Structuralism, Linguistics and the Study of Literature, Ithaca NY: Cornell University Press 1975, bes. S. 66–69. 11 Die vielzitierte Maxime »Zu den Sachen selbst!« geht zwar auf Husserl zurück (vgl. bes. Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Bd. 1: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie [1913], Den Haag: Martinus Nijhoff 1950 [= Husserliana, Bd. 3], S. 42 f. [§ 19]), ihre einprägsame Formulierung stammt aber von Heidegger (vgl. Heidegger, Martin: Sein und Zeit, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt /Main: Klostermann 1977 [= Gesamtausgabe, I. Abt., Bd. 2], S. 37). Vgl. hierzu Heidegger, Martin: »Über das Prinzip Zu den Sachen selbst«, in: Heidegger Studies 11 (1995), S. 5–8. 12 Vgl. hierzu und zum weiteren Kontext Hansen-Löve, Aage A.: Der russische Formalismus. Methodologische Rekonstruktion seiner Entwicklung aus dem Prinzip der Verfremdung, Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1978 (= Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philos.-hist. Kl., Sitzungsberichte, Bd. 336; Veröffentlichungen der Kommission für Literaturwissenschaft, Nr. 5), bes. S. 74–80 u. 99–114. 13 Vgl. Vale´ry, Paul: »Poe´sie et pense´e abstraite«, in: ders.: Œuvres I, hg. v. Jean Hytier, Paris: Gallimard 1980 (= Bibliothe`que de la Ple´iade, Bd. 127), S. 1314–1339, hier S. 1324; dt. Übs.: »Dichtkunst und abstraktes Denken«, übs. v. Werner Zemp, in: ders.: Zur Theorie der Dichtkunst und vermischte Gedanken, hg. v. Jürgen SchmidtRadefeldt, Frankfurt /Main: Insel 1991 (= Werke. Frankfurter Ausgabe in 7 Bänden, Bd. 5), S. 141–171, hier: S. 152; zit. in: Jakobson /Rudy: »Yeats’ ›Sorrow of Love‹ through the Years« (SW III, S. 600; dt. Übs.: in dieser Ausgabe, Bd. 2, S. 573 f.).
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einzig wesentliches Moment (I, S. 67), dann wird die kommunikative Funktion der Sprache – und damit auch ihr semantischer Gehalt – unvermeidlich auf ein Minimum reduziert (I, S. 15 f.). Und dies gilt keineswegs nur für die Avantgarde-Poesie, sondern: »In der Geschichte der Poesie aller Zeiten und Völker beobachten wir nicht selten, daß dem Dichter […] ›nur der Klang‹ wichtig ist.« (I, S. 112) Ja, nicht nur dem Dichter; bekannte doch Schönberg in dem Blauer Reiter-Aufsatz Das Verhältnis zum Text (1912): »Ich war vor ein paar Jahren tief beschämt, als ich entdeckte, dass ich bei einigen mir wohlbekannten Schubert-Liedern gar keine Ahnung davon hatte, was in dem zugrundeliegenden Gedicht eigentlich vorgehe.« 14 Doch diese Beschämung wendete sich für ihn in ihr Gegenteil, als er – in erstaunlicher Parallele zur futuristischen Idee des zaum (›Trans-Rationalen‹) – feststellte: »dass ich, ohne das Gedicht zu kennen, den Inhalt, den wirklichen Inhalt, sogar vielleicht tiefer erfasst hatte, als wenn ich an der Oberfläche der eigentlichen Wortgedanken haften geblieben wäre […]. So hatte ich die Schubert-Lieder samt der Dichtung bloss aus der Musik, Stefan Georges Gedichte bloss aus dem Klang heraus vollständig vernommen.« 15 Der frühe Jakobson zog aus dieser generellen Tendenz der radikalen Moderne wie speziell aus der in Chlebnikovs Dichtung immer entschiedener betriebenen »Bloßlegung des Verfahrens« (I, S. 23) die methodologische Konsequenz: »Wenn die Literaturwissenschaft eine Wissenschaft werden will, ist sie genötigt, das ›Verfahren‹ als ihren einzigen ›Helden‹ zu akzeptieren.« (I, S. 16) Doch dies war wohl das vergänglichste Moment seiner formalistischen Poetik. Denn damit begab er sich einerseits allzu offenkundig ins Schlepptau von Husserls berühmtem Logos-Aufsatz Philosophie als strenge Wissenschaft (1911),16 dessen szientifische Ausrichtung schon unter seinen eigenständigsten Schülern – man denke nur an Scheler, Heidegger, Levinas oder Sartre – keine Nachfolge finden sollte. Andererseits ließ sich die weitere Geschichte der modernen 14 Der Blaue Reiter, Herausgeber: (Wassily) Kandinsky. Franz Marc, 2. Aufl. München: Piper 1914, Repr. 1976, S. 27–33, hier: S. 31 f. – Wie wichtig dieser Aufsatz für Schönberg war, wird dadurch deutlich, daß er seine Übersetzung »The Relationship to the Text« an die Spitze seiner späten Aufsatzsammlung Style and Idea (hg. v. Dika Newlin, New York: Philosophical Library 1950, S. 1–6) stellte. 15 Schönberg, »Das Verhältnis zum Text«, S. 31–33. Die abschließende Wendung bezieht sich auf Schönbergs vier Jahre zuvor entstandene Komposition der Fünfzehn Gedichte aus »Das Buch der Hängenden Gärten« von Stefan George, op. 15. 16 Husserl, Edmund: Aufsätze und Vorträge (1911–1922), mit ergänzenden Texten hg. v. Thomas Neuon u. Hans Rainer Sepp, Dordrecht, Boston u. Lancaster: Martinus Nijhoff 1987 (= Husserliana, Bd. 25), S. 3–62.
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Kunst, ungeachtet Kandinskys und Mondrians methodischer Entfaltung der Entgegenständlichung, seit dem Ende des Ersten Weltkriegs zunehmend weniger als ein einliniger Prozeß mit dem Zielpunkt einer rein abstrakten Kunst begreifen. Jakobson hat daher seine Proklamation der ›Literarizität‹ als einzigen legitimen »Gegenstands der Literaturwissenschaft« (I, S. 16) und des ›Verfahrens‹ als ihres einzigen ›Helden‹ spätestens zu Beginn der dreißiger Jahre revidiert, indem er in dem Prager Vortrag Co je poezie? (›Was ist Poesie?‹) eine solche Separierung der poetischen Funktion mit den Verfahren der (mittlerweile nur noch von Epigonen betriebenen) kubistischen Malerei verglich und dies als einen Sonderfall bezeichnete, »der unter dem Gesichtspunkt der Dialektik der Kunst seine raison d’eˆtre hat, aber doch ein Spezialfall bleibt« (SW III, S. 750). War also in Jakobsons Erstling die »Bloßlegung des Reims« als »Emanzipation seiner lautlichen Valenz aus der Sinnbindung« (I, S. 103) gefeiert worden, so sollte die Wirkung dieses und anderer Verfahren der poetischen Sprache nun vor allem auf die Schärfung unserer Aufmerksamkeit für die Antinomie zwischen Zeichen und Gegenstand hinauslaufen, ohne die es keine Beweglichkeit der Begriffe und keine Beweglichkeit der Zeichen gebe und die Beziehung zwischen beiden automatisiert zu werden drohe: alle Aktivität käme so zum Stillstand, und das Realitätsbewußtsein stürbe ab (SW III, S. 750). Demgegenüber hatten sich anfangs die russischen Formalisten dank ihrer nahezu ausschließlichen Konzentration auf die ›Bloßlegung des Verfahrens‹ kaum für solche kommunikativ-semantischen Aspekte interessiert; ja Sˇklovskij hatte in seiner üblichen provokanten Manier erklärt: »Kunst war immer vom Leben unabhängig, und niemals spiegelte ihre Farbe die Farbe der Flagge, die über der Stadtfestung wehte«.17 Gemäß seinem Verständnis der »Seele eines literarischen Werks« als »Summe aller darin angewandten stilistischen Kunstgriffe« bzw. als »geometrisches Verhältnis von Quantitäten« 18 lief dann seine große Studie über den Zusammenhang zwischen den Verfahren der Sujetfügung und den allgemeinen Stilverfahren (1916) auf eine katalogartige Beispielsammlung solcher priemy (›Verfahren‹/›Kunstgriffe‹) aus der modernen wie der traditionellen Literatur, vor allem aber auch aus der Volkspoesie hinaus.19 Ja, noch 17 Sˇklovskij, Viktor: Chod konja [›Rösselsprung‹], Moskau u. Berlin: Helikon 1923, S. 39; dt. Übs. zit. nach Erlich, Victor: Russischer Formalismus, mit einem Geleitwort v. Rene´ Wellek, übs. v. Marlene Lohner, Frankfurt /Main 1973 (= stw 21), S. 85. 18 Sˇklovskij, Viktor: »Literatur ohne ›Sujet‹«, in: ders.: Theorie der Prosa, hg. u. übs. v. Gisela Drohla, Frankfurt /Main: S. Fischer 1966, S. 163–185, hier: S. 165. 19 Vgl. Texte der russischen Formalisten, Bd. I, S. 36–121.
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konsequenter konzentrierte sich Osip Briks Aufsatz Laut-Wiederholungen 20 (1917) völlig auf solche rein formalen Momente. Ganz auf dieser Linie und in derselben katalogartigen Manier verfolgte auch Jakobson in der Neuesten russischen Poesie die verschiedenen Spielarten der für Chlebnikov typischen »Bloßlegung des Verfahrens« (I, S. 103), was für ihn zugleich ein neues Licht auf die traditionelle Poesie warf. Denn beispielsweise sei das »Verfahren des ›falschen Erkennens‹ […] bereits in der klassischen Poetik kanonisiert« worden, aber: »Bei Chlebnikov tritt dieses Verfahren in reiner Form auf« (I, S. 45). Ja, im Gegensatz zu der von der Avantgardepoesie praktizierten ›Bloßlegung des Verfahrens‹ muß diese den Texten der Vergangenheit – dank der Verdeckungs- und Automatisierungstendenz der Tradition – überhaupt erst (wieder) abgerungen werden. In ähnlicher Weise unternahm es Schönberg nach der Ausarbeitung seiner »Methode der Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen« 21 in dem Aufsatz Brahms, der Fortschrittliche (1933/1947), mittels zahlreicher Einzelbeispiele von Haydn und Mozart bis zu Reger, Mahler und R. Strauss, vor allem aber aus Brahms’ Gesamtwerk, zu demonstrieren, welch kühner Neuerer dieser vermeintliche Traditionalist sowohl hinsichtlich der (gewöhnlich als Domäne seines Antagonisten Richard Wagner angesehenen) chromatischen Harmonik 22 als auch dank seiner generellen Tendenz zu asymmetrischen Konstruktionen 23 gewesen sei und worin »Brahms’ Beitrag zu einer uneingeschränkten musikalischen Sprache« 24 – Schönbergs eigener künstlerischer Zielstellung also – bestehe. Sein Schüler Anton v. Webern hat den »Weg zur Komposition mit zwölf 20 Brik, Osip Maksimovicˇ: »Zvukovye povtory« (1917), in: ders.: Two Essays on Poetic Language, Ann Arbor, Mich.: Department of Slavic Languages and Literatures 1964 (= Michigan Slavic Materials, Nr. 5), S. 1–46. 21 So Schönbergs eigene, so umständliche wie zutreffende Bezeichnung der ZwölfTon-Methode in seinem Aufsatz »Komposition mit zwölf Tönen«, in: Schönberg, Arnold: Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik, hg. v. Ivan Vojteˇch, Frankfurt / Main: S. Fischer 1976 (= Gesammelte Schriften, Bd. 1), S. 72–96, hier: S. 75. Vgl. auch Adorno, Theodor W.: »Zur Vorgeschichte der Reihenkomposition«, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann [u. a.], Bd. 16: Musikalische Schriften I–III: Klangfiguren (I) – Quasi una fantasia (II) – Musikalische Schriften (III), 2. Aufl. Frankfurt /Main: Suhrkamp 1990, S. 68–84. 22 Vgl. Schönberg, Stil und Gedanke, S. 35–71, hier: S. 38. 23 Vgl. a. a. O., S. 57. – »Asymmetrie, Kombinationen von Phrasen verschiedener Länge, Taktzahlen, die nicht durch acht, vier oder selbst zwei teilbar sind, d. h. ungerade Taktzahlen, und andere Unregelmäßigkeiten erscheinen schon in den frühesten Werken von Brahms.« (A. a. O., S. 51.) 24 A.a. O., S. 71.
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Tönen« dann mit einer bis zum Gregorianischen Choral des 12. Jahrhunderts zurückgehenden Beispielkette plausibel zu machen gesucht.25 Und vergleichbare, ja noch umfangreichere katalogartige Untersuchungen von bildnerischen Kunstgriffen und Verfahren finden sich in den frühen zwanziger Jahren im Kontext ihrer Lehrtätigkeit am Weimarer Bauhaus auch bei Kandinsky und Klee.26 So zuverlässig der frühe Jakobson damit in den formalästhetischen Mainstream des ersten Jahrhundertdrittels eingebettet scheint, so ungeschützt exponiert er sich zugleich dessen kulturwissenschaftlicher Kritik, etwa von seiten der Warburg-Schule. Denn Jakobson hat zwar unfehlbar die Lacher auf seiner Seite, wenn er zur Stützung seiner Proklamierung der »Literarizität« als einzig legitimen Gegenstands der Literaturwissenschaft 27 schreibt: Doch glichen die Literaturhistoriker bislang meist einer Polizei, die eine bestimmte Person verhaften will und zu diesem Zweck für alle Fälle alles und jeden, was sich nur in der Wohnung anfindet, samt den unbeteiligten Passanten auf der Straße mitnimmt. So kam denn auch den Literaturhistorikern alles zupaß – Soziales, Psychologie, Politik, Philosophie. Statt einer Literaturwissenschaft kam ein Konglomerat von hausbackenen Disziplinen zustande. Man vergaß gewissermaßen, daß diese Gebiete jeweils zu entsprechenden Wissenschaften gehören – zur Philosophiegeschichte, Kulturgeschichte, Psychologie usw., und daß diese natürlicherweise auch literarische Denkmäler als defekte und zweitrangige Dokumente verwenden können. Wenn aber die Literaturwissenschaft eine Wissenschaft werden will, ist sie genötigt, das »Verfahren« als ihren einzigen »Helden« zu akzeptieren. (I, S. 16)
Jakobson laboriert damit aber an derselben Problematik, wie sie Edgar Wind an Wölfflins und Riegls (vor allem gegen Burckhardts Konzept einer Kulturgeschichte gerichtetem) »Kampf um die Autonomie der Kunstgeschichte« 28 in drei Punkten deutlich gemacht hatte: (1) Dieser Kampf hat seinen vergänglichen »Antrieb […] aus dem künstlerischen 25 Vgl. Webern, Anton: »Der Weg zur Komposition in zwölf Tönen« (1932), in: ders.: Wege zur Neuen Musik, hg. v. Willi Reich, Wien: Universal Edition 1960, S. 45– 61; u. »Der Weg zur Neuen Musik« (1933), a. a. O., S. 9–44. 26 Vgl. Kandinsky, (Wassily): Punkt und Linie zu Fläche. Beitrag zur Analyse der malerischen Elemente [1926], mit einer Einführung v. Max Bill, 4. Aufl. Bern-Bümpliz: Benteli 1959; und Klee, Paul: Form und Gestaltungslehre, hg. v. Jürg Spiller, Bd. 1: Das bildnerische Denken, 3. Aufl. Basel u. Stuttgart: Schwabe 1971, u. Bd. 2: Unendliche Naturgeschichte, Basel, Stuttgart: Schwabe 1970. 27 S. o. S. XIX. 28 Wind, Edgar: »Warburgs Begriff der Kulturwissenschaft und seine Bedeutung für die Ästhetik« (1931), in: Warburg, Aby M.: Ausgewählte Schriften und Würdigungen,
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Empfinden einer Zeit, die überzeugt war, daß es zum Wesen der reinen Kunstbetrachtung gehöre, von allem Gegenständlichen im Kunstwerk abzusehen und sich auf das ›reine Sehen‹ zu beschränken«.29 Für die bildende Kunst und Literatur der Jahrhundertwende bedarf es hierfür kaum noch eines Belegs; doch bezeichnenderweise betonte auch Schönberg im Blauen Reiter: »diese Fähigkeit des reinen Schauens [sei] äusserst selten und nur bei hochstehenden Menschen anzutreffen«, wie es auch nur »relativ wenig Menschen [gebe], die imstande sind, rein musikalisch zu verstehen, was Musik zu sagen hat«.30 (2) Statt auf historisch gehaltvolle Begriffe stützt sich diese Autonomieerklärung der Kunstgeschichte auf bloße Reflexionsbegriffe, wie z. B. Wölfflins Gegensatz von Stoff und Form.31 Das gilt ohne Abstriche auch für den frühen russischen Formalismus insgesamt, ja bei aller Historisierung laborieren noch die strukturalen Gedichtanalysen Jakobsons an diesem Problem. (3) »Die Antithese von Stoff und Form findet so ihr logisches Gegenstück in der Theorie einer immanenten Kunstentwicklung, die den gesamten Prozeß der Entwicklung in die Form allein verlegt«: mit der Konsequenz einer »Parallelisierung der Kunstgattungen« und einer »Nivellierung ihrer Unterschiede« – ganz gleich, ob diese Entwicklung als »Geschichte des Sehens« (so Wölfflin) oder als »Geschichte des Kunstwollens« (so Riegl) konzeptualisiert wird.32 Und jene Parallelisierung läßt sich noch beim späten Jakobson beobachten: nicht nur in seinem Aufsatz über die »PoetPainters« Blake, Rousseau und Klee (II, S. 1–43), sondern auch, wenn er ein Sonett Dantes mit Giotto und der gleichzeitigen Plastik (I, S. 466–468) oder einen Hussitenchoral mit der Gotik (I, S. 283 f.) unmittelbar in Parallele setzt.
29 30 31 32
hg. v. Dieter Wuttke in Verb. m. Carl Georg Heise, 2., verbesserte u. bibliographisch ergänzte Aufl. Baden-Baden: Valentin Körner 1980 (= Saecvla Spiritalia, Bd. 1), S. 401–417, hier: S. 401. A.a. O., S. 401 f. Schönberg, »Das Verhältnis zum Text«, S. 29 u. 27. Vgl. Wind, »Warburgs Begriff der Kulturwissenschaft und seine Bedeutung für die Ästhetik«, S. 402. A.a. O., S. 402 f. – Auf Wölfflin bezieht sich (positiv) Boris E˙jchenbaum in seiner großen Bilanz »Die Theorie der formalen Methode« (1925), in: Eichenbaum: Aufsätze zur Theorie und Geschichte der Literatur, ausgewählt u. übs. v. Alexander Kaempfe, Frankfurt /Main: Suhrkamp 1959 (= edition suhrkamp [kuenftig: es] 119), S. 7–52, hier: S. 10; kritisch hierzu und zu Riegl: Medvedev, Pavel: Die formale Methode in der Literaturwissenschaft [1928], hg. u. übs. v. Helmut Glück, Vorw. v. Jurij Striedter, Stuttgart: Metzler 1976 (= Studien zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, Bd. 8), S. 64–67 u. 10 f.
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In einem allerdings stimmte Jakobson von vornherein mit Aby Warburg überein: in seiner Abneigung gegen ahistorische Rückprojektionen des modernen Ästhetizismus auf frühere Perioden. Forderte doch Warburg angesichts der vernichtenden Wahrheit von Goethes Urteilsspruch: »Was Ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist im Grund der Herren eigner Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln«,33 methodisch alles zu versuchen, »um den ›Geist der Zeiten‹ aus den eigenen Stimmen der Zeit selbst herzustellen« 34 und da, wo »der moderne Ästhetizismus in der Renaissancekultur entweder primitive Naivität oder den heroischen Gestus der vollzogenen Revolution zu genießen wünscht«, eine »historisch-analytische Behandlung« dieser Gegenstände vorzunehmen.35 So sehr nun Jakobson durch die zeitgenössische Kunst inspiriert war, so grenzte er sich doch unmißverständlich von den Gelehrten ab, die der Poesie der Vergangenheit »ihre ästhetischen Gewohnheiten aufzuoktroyieren und die gerade aktuellen Formen poetischer Produktion in sie hineinzuprojizieren« pflegen (I, S. 8). Und wie Warburg gegen das »pietätlose Dilettantentum« polemisierte, »das seine selbstgefällige Geschwätzigkeit da einschiebt, wo die Vergangenheit selbst durch die eigene Stimme wieder zu uns sprechen könnte«,36 so erklärte auch Jakobson kompromißlos: »die einzig wertvollen Zeugenaussagen sind die von Zeitgenossen« (I, S. 17). Ja, er forderte sogar schon in seiner 33 Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Texte, hg. v. Albrecht Schöne, 5., erneut durchges. u. erg. Aufl., Frankfurt /Main: Insel 2003, S. 40 (T. 1, v. 577–579). 34 Warburg, Aby M.: »Italienische Antike im Zeitalter Rembrandts« (Vortrag 1926), auszugsweise zitiert in: Warburg, Ausgewählte Schriften und Würdigungen, S. 618. 35 Warburg, Aby M.: »Francesco Sassettis letztwillige Verfügung« (1907), in: Warburg, Die Erneuerung der heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte der europäischen Renaissance, Repr. der v. Gertrud Bing unter Mitarb. v. Fritz Rougemont edierten Ausg. v. 1932, neu hg. v. Horst Bredekamp u. Michael Diers, Berlin: Akademie Verlag 1998 (= Gesammelte Schriften. Studienausgabe, 1. Abt., Bd I.1 u. 2), hier: Bd. I.1, S. 127–158, hier: S. 158. Im gleichen Jahr hatte Warburg in seinem Aufsatz »Arbeitende Bauern auf burgundischen Teppichen« darüber gehöhnt, daß hier »unser modernes unkritisches Renaissanceempfinden nur Offenbarungen bodenständiger Selbstherrlichkeit anzutreffen liebt« (a. a. O., S. 221–230, hier: S. 229). Ja, wie er schon 1902 in dem Aufsatz »Bildniskunst und florentinisches Bürgertum. I: Domenico Ghirlandajo in Santa Trinita: Die Bildnisse des Lorenzo de’ Medici und seiner Angehörigen« schrieb, »bedeutete Kunstinteresse für das Florenz des Magnifico etwas ganz anderes als die Aufraffung ermüdeter Kulturmenschen zum Rundgange durch einen Kunstbazar, durch dessen überreiche Fülle passive Aufmerksamkeit zur Kauflust gereizt oder gar zum Ankauf hingerissen werden soll« (a. a. O., S. 89–126, hier: S. 111). 36 So Warburg schon 1901, zit. in: Warburg, Ausgewählte Schriften und Würdigungen, S. 614.
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Erstlingsschrift einen Brückenschlag zwischen dem hier unter den Leitworten ›Literarizität‹ und ›Verfahren‹ proklamierten Formalismus und weitgespannteren kultur- und sozialwissenschaftlichen Fragestellungen, indem er einräumte: »Die Entwicklung einer Theorie der poetischen Sprache ist erst dann möglich, wenn die Poesie als soziales Faktum behandelt […] wird.« (I, S. 8) Unter den russischen Formalisten haben später vor allem Jurij Tynjanov und Boris E˙jchenbaum mit ihren Aufsätzen Das literarische Faktum (1924) 37 und Das literarische Leben (1929) 38 diesen Weg beschritten; doch auch Jakobsons Majakovskij-Gedenkartikel Von einer Generation, die ihre Dichter vergeudet hat (1930) 39 und seine auf tschechisch verfaßte Studie Socha v symbolice Pusˇkinove (›Die Statue in Pusˇkins poetischer Mythologie‹) (1937) 40 zeugen von seinem ernsthaften Interesse an solchen wesentlich über die reine Textanalytik hinausgehenden Fragen.
II Eines ist die Inventarisierung und Klassifizierung von ästhetischen Verfahren und Kunstgriffen, ein anderes die Analyse ihres Zusammenspiels im einzelnen Kunstwerk: eines Schönbergs Beispielkatalog für Brahms’ lebenslange »Tendenz zu asymmetrischer Konstruktion«,41 ein anderes Alban Bergs (eben an Schönberg geschulte!) mikrologische Untersuchung von Schumanns allbekannter, ganz kunstlos erscheinender und daher kaum zur Formanalyse einladender Träumerei (Nr. 7 der Kinderszenen, op. 15).42 So besteht auch der denkbar größte methodische Gegensatz 37 38 39 40
Texte der russischen Formalisten, Bd. I, eingel. u. hg. v. Jurij Striedter, S. 392–431. A.a. O., S. 462–481. Jakobson, Poetik, S. 158–191. Englische Übersetzung in: SW V, S. 237–280. Dieser Interpretationsansatz wird fortgesetzt in Jakobsons Analyse »Pusˇkins Verse über die Mädchen-Statue, die Bacchantin und die Demütige« (SW III, S. 356–377; dt. Übs. in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 77–120); vgl. hierzu Sebastian Donats Einleitung (a. a. O., S. 77 f.). 41 Schönberg, »Brahms, der Fortschrittliche«, S. 57. 42 Berg, Alban: »Die musikalische Impotenz der ›neuen Ästhetik‹ Hans Pfitzners« (1920), in: ders.: Glaube, Hoffnung und Liebe. Schriften zur Musik, hg. v. Frank Schneider, Leipzig: Reclam 1981, S. 191–204. – In den im Getreuen Korrepetitor (1963) versammelten Detailanalysen hat Adorno das Modell dieses Aufsatzes seines Kompositionslehrers Alban Berg auf (zumeist kürzere) musikalische Werke des Schönberg-Kreises übertragen (vgl. Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften, Bd. 15: Komposition für den Film. Der getreue Korrepetitor, hg. v. Rolf Tiedemann,
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zwischen den überbordenden Zitatkollagen in Jakobsons Frühwerk Neueste russische Poesie und dem strengen Funktionalismus seiner sechzig Jahre später verfaßten Analyse der Faktur eines Vierzeilers von Pusˇkin (II, S. 55–62). Wie konnte es zum Brückenschlag von dem einen zum anderen kommen? Rein theoriegeschichtlich läßt sich dies fraglos mit dem sich schon innerhalb des Russischen Formalismus anbahnenden Paradigmenwechsel zum Strukturalismus – etwa mit Tynjanovs Verständnis des literarischen Werks als »System« 43 statt als bloße Summe seiner Komponenten – in Zusammenhang bringen, an dessen literaturwissenschaftlicher Ausformung Jakobson, z. B. mit seiner Brünner Vorlesung über Die Dominante,44 wichtigen Anteil hatte. Das beantwortet freilich nicht die Frage nach dem sachlichen Ansatzpunkt einer solchen Umorientierung der literarischen Analysen. Doch dieser findet sich unauffällig bereits auf der ersten Seite der Untersuchung zur Neuesten russischen Poesie, wo Jakobson erklärt: »Das heutige Gespräch ist nicht nur für den Laien verständlicher als die Sprache des Stoglav, sondern auch für den Philologen.« (I, S. 4) Nicht die Sprache jenes altrussischen Moralkodex von 1551 ist dabei in diesem Zusammenhang von Interesse, sondern das ›heutige Gespräch‹ – und zwar als Kanon der Verstehbarkeit. Ganz in diesem Sinne hatte schon Friedrich Schleiermacher in seinen späten Akademieabhandlungen Über den Begriff der Hermeneutik betont: »Insbesondere aber möchte ich […] dem Ausleger schriftlicher Werke dringend anrathen die Auslegung des bedeutsameren Gesprächs fleißig zu üben.« 45 Und zwar mit der aufschlußreichen Begründung: ich ergreife mich sehr oft mitten im vertraulichen Gespräch auf hermeneutischen Operationen, wenn ich mich mit einem gewöhnlichen Grade des Verstehens nicht begnüge sondern zu erforschen suche, wie sich wol in dem Frankfurt /Main 1976, S. 157–402). Sie genauer mit Jakobsons strukturalen Gedichtanalysen zu vergleichen, könnte zu aufschlußreichen Ergebnissen führen. 43 Tynjanov, Jurij: »Über die literarische Evolution« (1927), in: Texte der russischen Formalisten, Bd. I, S. 432–461, hier: S. 437. Tynjanov betont in diesem Aufsatz: »daß das System keine gleichberechtigte Wechselwirkung aller Elemente bedeutet, sondern die exponierte Stellung einer Gruppe von Elementen (die ›Dominante‹) und die Deformation der übrigen Elemente voraussetzt« (a. a. O., S. 451). 44 Engl. Übs. v. H. Eagle in: SW III, S. 751–756; dt. Übs. v. Tarcisius Schelbert in: Poetik, S. 212–219. 45 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: »Über den Begriff der Hermeneutik. Erste Abhandlung (vorgetragen am 13. August 1829)«, in: ders.: Akademievorträge, hg. v. Martin Rössler unter Mitw. v. Lars Emersleben, Berlin u. New York: de Gruyter 2002 (= Gesamtausgabe, 1. Abt., Bd. 11), S. 599–621, hier: S. 610.
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Freunde der Uebergang von einem Gedanken zum andern gemacht habe, oder wenn ich nachspüre, mit welchen Ansichten Urtheilen und Bestrebungen es wol zusammenhängt, daß er sich über einen besprochenen Gegenstand grade so und nicht anders ausdrükt.46
Doch was Schleiermacher hier für die ›psychologische Interpretation‹ geltend macht, gilt nicht minder für die sprachbezogene ›grammatische Interpretation‹: Verstehen heißt für ihn generell »Nachconstruiren«.47 Ein eindringendes Verstehen kann sich nämlich nicht damit begnügen, einen Text als »Aggregat« 48 von Einzelmomenten – und wären es ›Kunstgriffe‹ im formalistischen Sinne – zu betrachten, sondern muß nach seinem »Zusammenhang«, seiner »Gliederung« und ihrer ›Dominante‹ fragen; 49 und das heißt: »überall wo es darauf ankommt zu wissen, wie genau man es mit einer Reihe von Säzen zu nehmen und aus welchem Gesichtspunkt man die Verknüpfung derselben zu betrachten hat, muß man zunächst das Ganze kennen dem sie angehören«.50 Ein solches ›Nachkonstruieren‹ ist aber bei poetischen Texten um so mehr am Platz, wenn man mit Sˇklovskij die poetische Sprache als »Konstruktions-Sprache« 51 begreift und mit Tynjanov das einzelne literarische Werk als »System«, bei dem nach der »konstruktiven Funktion« jeder seiner Komponenten zu fragen ist.52 46 A.a. O., S. 609. 47 Schleiermacher, Fr[iedrich] D[aniel] E[rnst]: Hermeneutik, nach den Handschriften neu hg. u. eingel. v. Heinz Kimmerle, 2., verb. u. erw. Aufl. Heidelberg 1974 (= Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Philos.-hist. Kl., Jg. 1959, 2. Abh.), S. 83 u. ö. – Vgl. hierzu meinen Aufsatz »Hermeneutik und Strukturalismus. Eine kritische Rekonstruktion ihres Verhältnisses am Beispiel Schleiermachers und Jakobsons«, in: Birus /Donat /Meyer-Sickendiek, S. 11–37 u. 309–317. 48 Schleiermacher, Friedrich: »Allgemeine Hermeneutik von 1809/10«, hg. v. Wolfgang Virmond, in: Internationaler Schleiermacher-Kongreß 1984, hg. v. Kurt-Victor Selge, Berlin u. New York: de Gruyter 1985 (= Schleiermacher-Archiv, Bd. 1), S. 1269– 1310, hier: S. 1296. 49 Vgl. Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: »Über den Begriff der Hermeneutik. Zweite Abhandlung (vorgetragen am 22. Oktober 1829)«, in: ders.: Akademievorträge, S. 623–641, hier: S. 626 f. – Der hier verwendete Begriff der ›Dominante‹ ist nicht etwa aus Tynjanovs oder Jakobsons Schriften der späten zwanziger und dreißiger Jahre eingeschmuggelt; vielmehr heißt es schon bei Schleiermacher – freilich im Hinblick auf den argumentativen Zusammenhang – ausdrücklich: »Für jede genauer zusammenhängende Gliederung von Säzen nämlich giebt es auf irgendeine Weise […] einen Hauptbegriff der sie dominirt« (a. a. O., S. 627). 50 Ebd. 51 Sˇklovskij, »Kunst als Verfahren«, S. 33. 52 Tynjanov, »Über die literarische Evolution«, S. 437 u. 439.
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Dies war ja gerade die Ausgangsüberlegung von Jakobsons erstem, noch rudimentärem Ansatz zu seinem Alterswerk Poesie der Grammatik – Grammatik der Poesie; nämlich: »anstatt ein paar Merkmale zu isolieren, die gesamte Selektion und Anordnung der grammatischen Kategorien in Marvells Gedicht einer stichhaltigen Analyse zu unterziehen« (I, S. 678) 53 und so durch eine »unvoreingenommene, aufmerksame, detaillierte und ganzheitliche Beschreibung die grammatische Struktur eines einzelnen Gedichts aufzudecken« (I, S. 272). Schon in dieser skizzenhaften Marvell-Analyse kann man bereits die wesentlichen Operationen der bald darauf einsetzenden Jakobsonschen Gedichtanalysen erkennen: die Aufzählung der radikalen Beschränkungen im Repertoire der im ganzen Gedicht verwendeten grammatischen Kategorien vor dem Hintergrund des sonst in dieser Sprache Üblichen; die Beschreibung der durch solche Restriktionen ermöglichten poetischen ›Aktualisierung‹ anderer grammatischer Kategorien; das Durchspielen möglicher Gliederungen des Gedichts unter metrischen, syntaktischen und sonstigen formalen Gesichtspunkten und der damit verbundenen Aussparung oder aber Akzentuierung grammatischer Kategorien in seinen so umschriebenen Teilen; Beobachtungen zur Klangtextur; schließlich die (hier unbeantwortet bleibende) Frage, inwiefern die »ausgewogene Wechselwirkung aller dieser grammatischen Merkmale« »bedeutsame Aufgaben im semantischen Textgewebe von Marvells Gedicht« erfülle (I, S. 686). Das wirklich Neue – und zugleich Schleiermachers kühne Ideen einer ›grammatischen Interpretation‹ Fortführende – an Jakobsons späten Gedichtanalysen liegt in seiner systematischen Einbeziehung formaler, grammatischer Bedeutungen in die Gesamtinterpretation. Begnügte er sich doch hier nicht mit einer Klassifikation der verschiedenen grammatischen Formen und der Deskription ihrer Häufigkeit, Verteilung etc. – der Erstellung ihres Pattern also –, sondern es ging ihm wesentlich auch um ihre semantische Interpretierbarkeit. Denn: »Strukturalist sein heißt, als erstes der Organisierung des Sinns […] Aufmerksamkeit zu schenken«.54 Die Suche nach einer semantischen Charakterisierung der Verbalkategorien,55 nach ›Gesamtbedeutungen‹ der verschiedenen Kasus,56 nach der Funktion der Code und Sprechsituation verknüpfenden 53 Hierzu und zum folgenden vgl. ausführlicher Birus, »Hermeneutik und Strukturalismus«, bes. S. 21–23 u. 30–33. 54 Derrida, »Kraft und Bedeutung«, S. 46. 55 Vgl. Jakobson, Roman: »Zur Struktur des russischen Verbums« (SW II, S. 3–15). 56 Jakobson, Roman: »Beitrag zur allgemeinen Kasuslehre. Gesamtbedeutungen der russischen Kasus« (a. a. O., S. 23–71).
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shifters,57 also nach der ›Semantik der Form‹: dies gehörte ja zu Jakobsons wichtigsten Beiträgen zur Sprachwissenschaft des 20. Jahrhunderts. Und er hat diese grammatische Invariantenforschung gerade für die Analyse ganz individueller Verwendungsweisen solcher grammatischen Kategorien in einzelnen Gedichten nutzbar gemacht – etwa im Hinblick auf die dominierende und dabei ganz unterschiedliche Rolle der Pronomina der 1. und 2. Person in Gedichten Dantes (I, S. 465), Pusˇkins (I, S. 276 f. u. 295) und Brechts (II, S. 699–708) oder aber ihrer Tilgung in Gedichten Hölderlins (II, S. 216 f.) und Bloks (II, S. 469). Beispielsweise stützt sich Jakobsons Analyse von Brechts Lehrgedicht Wir sind sie vor allem auf die Beobachtung des eigentümlichen quantitativen Verhältnisses zwischen den Wortklassen: besonders das Zurücktreten der normalerweise dominierenden Nomina mit selbständiger lexikalischer Bedeutung hinter den Personal- und Possessivpronomina, die in diesem Gedicht mehr als die Hälfte aller deklinierbaren Wörter ausmachen und deren formale Bedeutung darin besteht, eine Verbindung des bezeichneten Sachverhalts mit dem Redeakt und seinem Kontext herzustellen. So vermag er schließlich die ›pronominale Manier‹ dieses Gedichts auf Brechts Einstellung auf Sprechbarkeit und auf den Gestus zu beziehen, ja selbst noch auf die Umfunktionierung der Spieler in dem Lehrstück Die Maßnahme, in dessen Kontext dieses Gedicht ursprünglich gehört; um Jakobsons Formel zu gebrauchen: die shifters als Kunstgriff. – Ebenso behandelt er Hölderlins gegenläufige Rücknahme der Pronomina der 1. und 2. Person nicht als isoliertes Faktum, sondern im Zusammenhang mit dem Ausfall auch anderer grammatischer Klassen: dem alleinigen Erhalt der merkmallosen 3. Person, des Präsens und des Indikativs, verbunden mit dem Wegfall nicht nur der merkmalhaften 1. und 2. Person, sondern auch der Fragen, Bejahungen, Anrufe, Ausrufe sowie der verba dictionis in Hölderlins letzten Gedichten, schließlich deren Signierung mit einem fiktiven Sprechernamen und fiktiven Zeitangaben. Jakobson interpretiert dies als prinzipielle Verweigerung des Gesprächs und seiner deiktischen Bezugnahmen auf eine aktuelle Sprechsituation und ihre Substituierung durch ein ›hinweisfreies Nennen‹ mittels verallgemeinernder wenn-Aussagen und Ketten abstrakter Nomina: am Ende sei nur noch die monologische Kompetenz erhalten. Ja, selbst wo der interpretatorische Ertrag solcher grammatischen Analysen für das einzelne Gedicht als solches begrenzt ist, können sie doch 57 Jakobson, Roman: »Shifters, Verbal Categories, and the Russian Verb« (a. a. O., S. 130–147).
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aufschlußreiche Entsprechungen und Kontraste zu Gedichten anderer Sprachen, Epochen und ästhetischer Richtungen zutage bringen. So zeigt sich in Jakobsons Analysen des Hussitenchorals Ktozˇ jsu´ bozˇ´ı bojovnı´ci… (›Die die Gottes-Kämpfer sind…‹) und des Pusˇkinschen Liebesgedichts Cˇto v imeni tebe moem? (›Was liegt an meinem Namen Dir?‹), daß beide Gedichte mit einem doppelten Imperativ enden, der der 2. Person eine zweifache Replik suggeriert, die eine synthetische Antwort auf das anfängliche Ktozˇ (›Wer immer…‹) bzw. Cˇto (›Was…‹) darstellt (I, S. 295). Gerade vor dem Hintergrund dieser Gemeinsamkeit aber treten die Unterschiede, die der poetischen Grammatik beider Gedichte zugrunde liegen, besonders deutlich hervor. Denn wo in dem militanten Choral des ausgehenden Mittelalters eine strenge Architektonik der grammatischen Similaritäten und Oppositionen ins Auge fällt, da zeigt das Liebesgedicht des frühen 19. Jahrhunderts – ähnlich wie dann in extremem Maße Baudelaires Les chats – ein ständiges Gleiten zwischen benachbarten grammatischen Kategorien und damit einen ununterbrochenen Wechsel der perspektivischen Verkürzungen. Ähnliches gilt für die Dominanz der unaufgelösten Antithesen bei Du Bellay und ihrer raffinierten Modulationen bei Baudelaire oder für den ganz unterschiedlichen Gebrauch des Oxymorons bei Sidney und bei Pessoa, wodurch das für den späten Jakobson zentrale Problem des grammatischen Parallelismus als basalen poetischen Verfahrens grundlegend dynamisiert erscheint. Können daher selbst Kurzanalysen im Corpus der Jakobsonschen Gedichtinterpretationen aufschlußreich für historische Realisationsformen des poetischen Parallelismus sein, so gilt dies erst recht für seine zentralen Sonett-Analysen von Dante bis Baudelaire, in denen so etwas wie die Geschichte eines poetischen Genres durch das Prisma des grammatischen Baus einzelner Gedichte exemplarisch dargestellt wird. Hatte schon der Formalist Sˇklovskij vorgeschlagen, von einem einzigen Kunstgriff (z. B. dem Oxymoron) her ein Werk im ganzen zu begreifen,58 und rühmte Genette den Strukturalismus generell als die literaturwissenschaftliche Methode, »die Einheit eines Werkes wiederherzustellen, sein Kohärenzprinzip, das, was Spitzer sein geistiges Etymon nannte«,59 so erweisen sich Jakobsons Analysen vor allem dann als interpretatorisch ertragreich, wenn es ihm gelingt, das Ensemble der grammatischen Strukturen 58 Sˇklovskij, »Literatur ohne ›Sujet‹«, S. 174 f. 59 »Le structuralisme serait alors […] le moyen de reconstituer l’unite´ d’une œuvre, son principe de cohe´rence, ce que Spitzer appelait son etymon spirituel« (Genette, Ge´rard: »Structuralisme et critique litte´raire«, in: ders.: Figures I, Paris: E´ditions du Seuil 1976 [= Collection Points 74], S. 145–170, hier: S. 157).
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eines Gedichts aus einem formalen Einheitsgesichtspunkt heraus zu rekonstruieren: z. B. aus der Dominanz des antithetischen Cento als Gestaltungsform fremder Rede bei Du Bellay (I, S. 561–567), des monologischen Nennens beim späten Hölderlin (II, S. 211–216) oder der pronominalen Manier als Brechtschem Kunstgriff (II, S. 698–701). Und eine solche ›technische Interpretation‹ (im Schleiermacherschen Sinne) braucht sich keineswegs bloß auf die Gesamtcharakteristik dieser Gedichte zu beziehen, sondern kann auch zur Aufklärung der Wechselbeziehungen zwischen der schrittweisen Entfaltung ihres Themas und der strophenweisen Dominanz einzelner Wortarten und Redeteile dienen: wenn etwa in Dantes Sonett Se vedi li occhi miei… (›Wenn du meine Augen siehst…‹) das anfängliche Übergewicht der Pronomina, besonders der ersten Person, dem subjektiven Lyrismus der 1. Strophe entspricht, dann das der finiten Verben, Zeitadverbien und mehrfach subordinierten Teilsätze dem epischen Charakter der 2. Strophe, sowie das der Nomina, besonders der vier substantivierten Tropen, dem kontemplativen Charakter der 3. Strophe und schließlich die abschließende Häufung der Adjektive als Modifikatoren ganzer Teilsätze und erst recht die der Kontraste und Antonyme eine grammatische Entsprechung zu den beschwörenden Metamorphosen des Schlusses darstellt. So wichtig aber dieser strukturalistische Funktionalismus für Jakobsons Gedichtanalysen ist, so bestimmt er doch nicht ihr Gesamtbild. Denn oft wird dieses – man denke nur an die unglücklicherweise kanonisierte Les chats-Analyse – dermaßen von Einzelmomenten überbordet, daß man sich eher an die Detailbesessenheit von Jakobsons Neuester russischer Poesie erinnert fühlt denn an die asketischen Rekonstruktionen der Bauform mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Liebesgedichte von Martin Codax, Dzˇore Drzˇic´ und Sir Philip Sidney, des letzten Gedichts Derˇ upancˇicˇs. zˇavins, eines Pusˇkin-Vierzeilers oder einer Gedichtminiatur Z Vor allem in seinen zumeist späten, zu kleinen Monographien tendierenden Analysen von Gedichten Du Bellays, Shakespeares, Hölderlins oder Yeats’ hat Jakobson jene ans Chaotische grenzende Fülle durch eine rigide, geradezu didaktische Gliederung zu bändigen versucht. Freilich haben gerade diese Musteranalysen inzwischen vielleicht am meisten Rost angesetzt. Und dies, obwohl es keineswegs als abgetan gelten kann, wie Jakobson hier mit grammatischen Detailanalysen Spitzers platonistische Du Bellay-Interpretation in Frage stellt (I, S. 559–561) oder wie er die Behauptungen namhafter Kritiker widerlegt, Shakespeares Sonette entbehrten der logischen Organisation, seien bloß äußerlich in Quartette eingeteilt oder durch schieren Reimzwang geprägt (I, S. 648–650), oder
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wie er schließlich der opinio communis widerspricht, die letzten Gedichte aus Hölderlins Wahnsinnszeit seien »wunderliche, zwecklos zusammengewürfelte Worte«, zeugten von einer »Störung des Sprachgefühls«, seien lose aneinandergereiht und entbehrten jeglicher architektonischen Bezüge zwischen ihren Strophen (II, S. 200–204). Ja, im Gegensatz zur verbreiteten Klage über die Verschlimmbesserungen des späten Yeats vermag er die strenge Selektion und Komposition und das harmonische System der Korrelationen und Äquivalenz-Symmetrien der Umarbeitungen seiner Jugendlyrik unwidersprechlich vor Augen zu führen. Dennoch: der Überdruß der Zunft gerade an diesen Analysen ist unübersehbar. Es gibt aber in unserer Edition (wie bereits gesagt) noch einen anderen Jakobson zu entdecken: den passionierten Leser. Und dies im Gegenzug zu Gadamer, der in seiner Laudatio anläßlich der Verleihung des Hegel-Preises 1982 an Jakobson behauptet hatte, dieser nehme den poetischen Text »nicht um seiner selbst willen«, sondern »um des großen Rätsels der Sprache willen« zum Ausgangspunkt seiner Analysen.60 Wenn Gadamer nämlich dessen Hölderlin-Analyse entgegenhält: »Die Sprache selbst wird wahrnehmbar, und doch bewegt es uns, weil es etwas sagt«,61 so rennt er damit bei Jakobson offene Türen ein, der in seiner Les chatsAnalyse unmißverständlich die »semantische Fundierung« der »Phänomene der formalen Distribution« (II, S. 278) postuliert hatte. »Des Sprachforschers legitimes Interesse« am Vermögen der Sprache als solcher und »des Lesers Interesse […], teilzunehmen an dem, was das Gedicht sagt« 62: sie stehen in diesen Gedichtanalysen, anders als Gadamer unterstellt, keineswegs in einem Gegensatz. Hatte doch Jakobson ihre ein Jahr zuvor in den Selected Writings erschienene Sammlung bezeichnenderweise mit der Überschrift Readings (SW III, S. 155) versehen. Diese Überschrift ist ganz ernst zu nehmen. Denn über das strukturalistische Analyseprogramm hinaus zeugen viele dieser ›Lektüren‹ – darin Peter Szondis Lecture de Strette 63 vergleichbar – von einem intensiven 60 Gadamer, Hans-Georg: »Hegel und der Sprachforscher Roman Jakobson«, in: Jakobson, Roman, Hans-Georg Gadamer u. Elmar Holenstein: Das Erbe Hegels II, Frankfurt /Main: Suhrkamp 1984 (= stw 440), S. 13–20, hier: S. 18. Doch wie viel einsichtsvoller und toleranter ist Gadamer hier als Hugo Friedrich in seiner pauschalen, sich auf Gadamer berufenden Polemik gegen den sprach- und literaturwissenschaftlichen Strukturalismus (s. u. Anm. 124). 61 Gadamer, »Hegel und der Sprachforscher Roman Jakobson«, S. 20. 62 Ebd. 63 Szondi, Peter: »Lecture de Strette. Essai sur la poe´sie de Paul Celan«, in: Critique 288 (1971), S. 387–420; dt. Übs.: »Durch die Enge geführt. Versuch über die Verständlichkeit des modernen Gedichts«, in: ders., Schriften II, hg. v. Jean Bollack
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Interesse an der Verknüpfung von Inhalt und Faktur des Gedichts, darüber hinaus aber auch an seinem Kontext und seiner Gattungszugehörigkeit, an seinem Verhältnis zum Œuvre des Autors wie seinem literarhistorischen Ort und nicht zuletzt an seiner Rezeptions- und Forschungsgeschichte. Das beginnt werkchronologisch mit einem Abschiedsgedicht von Musimarö (732 n. Chr.), in dem Jakobson nicht nur der für die altjapanische Wortkunst charakteristischen »Verschmelzung von wirkungsvoller Vielförmigkeit und monumentaler Einfachheit in ihren Kompositionsprinzipien« (I, S. 367) nachgeht, sondern in dem er besonders die Parallelen zwischen dem der vertikalen Gesellschaftsstruktur entsprechenden System der sprachlichen Höflichkeitsformen unter den Protagonisten und den sich ebenso in der Landschaftsdarstellung des Gedichts zeigenden Spannungen von Nähe und Ferne wie von Horizontalität und »Auf und Nieder des vertikalen Stils« (I, S. 377) herausarbeitet – mit dem Ergebnis einer »verblüffenden Virtuosität, die auf einem echten Gleichgewicht zwischen den mannigfaltigen Konstituenten des Ganzen und auf einer packenden Kombination von kanonischer Regelmäßigkeit und kreativem Freiraum beruht« (I, S. 386). Und es endet mit dem Nachtrag Einige Schlußfolgerungen aus einem Gedicht von Cummings aus Jakobsons postum erschienenem Buch Die Lautgestalt der Sprache (mit Linda Waugh), der das fast nonsense-artige Liebesgedicht love is more thicker than forget… (aus den späten dreißiger Jahren) keineswegs nur unter phonologischen Gesichtspunkten analysiert und dabei besonders auf Sprachspiele achtet, »die die individuelle Erfindungsgabe von Kindern und Erwachsenen mit der Folklore teilt« (II, S. 726), sondern das »hervorstechende Thema« des Gedichts auf Sapirs gleichzeitige Untersuchung Grading (›Steigerung‹) bezieht (II, S. 721–724). Dabei berühren sich die Lektüren einiger der älteren Texte aufs engste mit Jakobsons Studien zur slavischen Epik (SW IV) und generell zum slavischen Mittelalter (SW VI). So analysiert er in letzteren den Lobpreis Konstantins des Philosophen auf Gregor den Theologen (zwischen 869 und 882) als »herausragendes Beispiel für die hohe literarische Meisterschaft, die das neu entstandene slavische Schrifttum von Byzanz übernommen hat« (SW VI/1, S. 207), und kommt zu dem Resümee: [u. a.], Red.: Wolfgang Fietkau, Frankfurt /Main 1978 (= stw 220), S. 345–389. – Nicht von ungefähr hatte Szondi kurz zuvor in dem Aufsatz »Poetry of Constancy – Poetik der Beständigkeit: Celans Übertragung von Shakespeares Sonett 105« einen Brückenschlag zwischen Derridas Disse´mination (s. u. S. XXXV-XXXVII) und Jakobsons Linguistics and Poetics unternommen (vgl. Szondi, Schriften II, S. 321– 344, bes. S. 329, 338 u. 342–344).
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Ungestüme Dramatik im konsequenten Gang der Verse auf die ersehnte Zukunft zu und das streng hermetische geometrische Muster der ineinander verschränkten Wörter und Bilder verbinden sich untrennbar im »Lobpreis« Konstantins des Philosophen auf Gregor den Theologen, der mit wahrhaft mosaikartiger Raffinesse und asketischer Ökonomie der künstlerischen Mittel facettiert ist. (A. a. O., S. 228.)
Ganz in diesem Sinne behandelt Jakobson Ilarions Rede über das Gesetz und die Gnade (kurz vor 1051), samt dem eingefügten ›Lobgesang‹, als »bemerkenswertes Beispiel der ältesten russischen Homiletik nicht nur im Hinblick auf die Tiefe der theologischen und geschichtsphilosophischen Symbolik, sondern auch und vielleicht sogar in erster Linie wegen der künstlerischen Meisterschaft, mit der sie die Einheitlichkeit im Aufbau geschickt mit der individuellen, fein differenzierenden Behandlung der Einzelteile und mit der minuziösen Aufmerksamkeit auf die kleinsten Details verbindet« (I, S. 392 f.). Doch ebenso ist Jakobsons Lektüre von Komposition und Kosmologie des Klageliedes der Jaroslavna aus dem altrussischen Igorlied (nach 1185) geprägt sowohl vom Interesse des Sprachforschers an den Details der poetischen Sprachverwendung wie von »des Lesers Interesse […], teilzunehmen an dem, was das Gedicht sagt« (Gadamer), wenn er das die ›Klage‹ bis ins Kleinste prägende »Prinzip der Dreiheit« zu den »drei Rängen des Weltgebäudes« (Himmel, Erde und Zwischenwelt) in Beziehung setzt, »die sich in die kosmologische Tradition der indoeuropäischen Völker eingeprägt haben« (I, S. 421 f.). (Ohne daß eigens darauf aufmerksam gemacht wird, hat dies eine erstaunliche Entsprechung und zugleich Differenz zu den beiden Bergen und dem Tal als den Wohnsitzen der Tiere, Götter und Menschen in Pauls Klees mehr als 700 Jahre jüngerem ›Achtzeiler‹ 64 [1903], dem Jakobson »eine erstaunliche Verbindung von strahlender Transparenz und meisterhafter Einfachheit mit vielförmiger Kompliziertheit«, von »Tiefe und Monumentalität« und einen »scharfen Sinn für Wechselbeziehungen zwischen dynamischen und statischen, hellen und dunklen, intensiven und extensiven, grammatischen und geometrischen Konzepten und schließlich von Regel und Regelüberschreitung« [II, S. 38 f.] bescheinigt.) Gemeinsam mit den Analysen der kirchenslavischen Eulogien Siluans Lobpreis auf den Hl. Sava und Siluans Lobpreis auf Simeon (14. Jhdt.) wie des Hussitenchorals Die 64 Zur Problematik dieser Gattungsangabe vgl. Donat, Sebastian: »Optische Rhythmen. Metriktheoretische Überlegungen zu Jakobsons Analyse einer Miniatur von Paul Klee«, in: Visuelle Kulturen, hg. v. Gertrud Lehnert u. Monika SchmitzEmans, Heidelberg: Synchron Wissenschaftsverlag der Autoren 2007 (i. E.).
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die Gotteskämpfer sind… (um 1620) sind sie »Teil eines allgemeineren Projekts, nämlich die künstlerischen Valeurs des Mittelalters und zumal der byzantinischen Kunst (auch der Ikonen und Fresken) für die Wahrnehmung seiner Zeitgenossen zu erschließen. Es gelte nicht nur die unerwarteten Versstrukturen aufzudecken, sondern die Geschichte einer großen Poesie zu entdecken.« 65 Und sie gleichberechtigt mit der poetischen Tradition des Westens, von den Troubadours und Dante bis zu den Petrarkisten und den ›Metaphysical Poets‹, zu behandeln. Oder wie Jakobson selbst zur Rechtfertigung seiner Einbeziehung von Avraamij Palicyns ersten Reimversuchen (1620) als einem der frühesten Belege für die Anfänge der schriftlich fixierten Dichtkunst im frühneuzeitlichen Rußland betont: Die Bewertung der scheinbar ungeschickten dichterischen Versuche der ›Zeit der Wirren‹ [1584 bzw. 1598 – 1613] aus der Sicht »unseres verwöhnten Geschmacks« [N. P. Popov] ist eine von vielen Erscheinungen eines künstlerischen Egozentrismus, der nur langsam aus der Welt geschafft werden kann und der einem Meister vergangener Zeiten ästhetische Neigungen aufbürdet, welche ihm völlig fremd sind. Die überheblichen Anstrengungen der Kritiker, das berechtigte Suchen und die Errungenschaften der altrussischen Ikonenmalerei einfach nur als hilflose Ausrutscher eines ungeschickten Ikonenklecksers zu beurteilen, gehören der Vergangenheit an. Heute erfordert auch die literarische Kunst der alten Rus’ eine aufmerksame Re-Analyse im Lichte ihrer eigenen, sich selbst genügenden Kriterien und Aufgaben. (I, S. 661) 66
Als Höhepunkt all dieser Lektüren erweisen sich aber die – durch zwei ganz außergewöhnliche Gedichte Radisˇcˇevs (1791) und Derzˇavins (1816) vorbereiteten – Analysen von nicht weniger als neun Gedichten Pusˇkins (aus dem Jahrfünft ab 1827), die gerade in ihrer Verschiedenheit dessen weltliterarischen Rang als Lyriker ganz unwidersprechlich ins Licht rükken. Zugleich aber zeigen sich Jakobsons Gedichtinterpretationen wohl nirgends inspirierter und konzentrierter als hier, wo ihn nicht so sehr Entdeckerfreude oder Widerspruchsgeist leiten als vielmehr der Wunsch, bis ins Detail zu demonstrieren, worin eigentlich die Klassizität des unstrittigen Klassikers der russischen Literatur besteht. – Eingeleitet von zwei Baudelaire-Analysen, findet dies seine Fortsetzung in der Präsentation von exemplarischen Texten der slowakischen, polnischen, bulgari65 So Erika Greber in ihrer Einleitung zu Jakobsons Analyse von Siluans Lobpreis auf den Hl. Sava (s. u. Bd. 1, S. 472). 66 Vgl. die ganz ähnlichen Stellungnahmen Warburgs und des frühen Jakobson gegen die unreflektierte Übertragung gegenwärtiger ästhetischer Wertmaßstäbe auf die Kunst früherer Epochen (s. o. S. XXIII).
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schen, slowenischen und russischen, aber auch der rumänischen und neugriechischen Lyrik des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, die schlagend vor Augen führt, an welchen lyrischen Schätzen ein westlicher Tunnelblick achtlos vorbeigeht. Tolle, lege 67: diese Worte des Hl. Augustinus könnten zugleich das Motto von Jakobsons Lektüren all dieser im Westen nahezu unbekannten Gedichte sein: Nimm sie, lies sie!
III Hatte Jakobson zwischen seiner frühen formalistischen Bestandsaufnahme von poetischen Kunstgriffen und seinen späten strukturalen Gedichtanalysen schon einmal eine methodologische Grenze überschritten, so geriet er in letzteren wiederum in die Nähe einer weiteren Grenzüberschreitung. Derrida hat diese in seiner Gadamer-Gedenkrede benannt, wenn er von der »unüberschreitbaren und doch stets schon mißbräuchlich überschrittenen Grenze« spricht, »zwischen einerseits formalen Herangehensweisen, die natürlich unerläßlich sind, aber selbst schon thematisch und polythematisch erscheinen und – wie es sich für jede Hermeneutik gehört – der Entfaltung expliziter wie impliziter Sinngehalte aufmerksam nachgehen«, und »andererseits einer disseminalen Lese- und Schreibpraxis [lecture-e´criture], die zwar versucht, all dies mitzubedenken […], sich aber auch noch auf einen Rest oder irreduziblen Überschuß erstreckt. Das Überschießende jenes Restes entzieht sich schlechthin jeder Zusammenstellung in einer Hermeneutik.« 68 Schon in seiner ersten literaturtheoretischen Publikation Force et signification (1963), die Jean Roussets Forme et signification 69 mittels eines einzigen Buchstabens eingreifend modifizierte, hatte Derrida den Strukturalismus einerseits als wichtige methodische Errungenschaft gefeiert, selbst wenn er oft vom »Triumphgeschrei der technizistischen Scharfsinnigkeit oder mathematischen Subtilität« begleitet ist.70 Andererseits äußerte er bereits hier grundsätzliche Vorbehalte gegen den Sinn67 Augustinus: Confessiones / Bekenntnisse. Lat. u. Dt., eingel., übs. u. erl. v. Joseph Bernhart, München: Kösel 1955, S. 414 f. (VIII, 12,29). 68 Derrida, Jacques: »Der ununterbrochene Dialog: zwischen zwei Unendlichkeiten, das Gedicht«, in: ders. u. Hans-Georg Gadamer: Der ununterbrochene Dialog, hg. u. mit einem Nachwort versehen v. Martin Gessmann, Frankfurt /Main: Suhrkamp 2004 (= es 2357), S. 7–50, hier: S. 29. 69 Rousset, Jean: Forme et signification. Essais sur les structures litte´raires de Corneille a` Claudel, Paris: Corti 1962. 70 Vgl. Derrida, »Form und Bedeutung«, S. 9 u. 11 f. (Zitat: S. 12).
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und Totalitäts-Anspruch des »Ultra-Strukturalismus« 71 wie gegen seine Gleichsetzung von ›schön‹ und formosus,72 ja erst recht gegen die Identifikation der so privilegierten Form mit Schemata wie Schleifen, Spiralen oder Schrauben.73 Vor allem in seiner großen Mallarme´-Studie La double se´ance (1970) gebrauchte dann Derrida programmatisch den Begriff der Disse´mination, der den »hermeneutische[n] Begriff Polysemie« ersetzen, die »Grenze des Thematismus« markieren und die »unmögliche Rückkehr zur wiederzusammengefügten, wiederaneinandergefügten Einheit eines Sinns« bezeichnen sollte.74 Worauf dies als Lektüreverfahren hinausläuft, zeigt eine über mehrere Seiten laufende Fußnote zu den »or-Lawinen« 75 in Mallarme´s Prosastück Or 76 [›Gold‹ / ›nun, also‹], die mit den Sätzen beginnt: OR, qui se condense ou se monnaie sans compter dans l’enluminure d’une page. Le signifiant OR (O + R) y est distribue´, e´clatant, en pie`ces rondes de toutes tailles: »dehORs«, »fantasmagORiques«, »tre´sOR«, »hORizon«, »majORe«, »hORs«, sans e´nume´rer les O, les ze´ROs, inverse nul de l’OR, nombre de chiffres arrondis et re´gulie`rement aligne´s »vers l’improbable«. […] 77 71 72 73 74
A.a. O., S. 29. A.a. O., S. 37. A.a. O., S. 34. Derrida, Jacques: »Die zweifache Se´ance«, in: ders., Dissemination, hg. v. Peter Engelmann, übs. v. Hans-Dieter Gondek, Wien: Passagen Verlag 1995, S. 193– 322, hier: S. 294, 296 u. 301. 75 Richard, Jean-Pierre: L’univers imaginaire de Mallarme´, Paris: Editions du Seuil 1961, S. 33. 76 Mallarme´, Ste´phane: Œuvres comple`tes, hg. u. komm. v. Henri Mondor u. G. JeanAubry, Paris: Gallimard 1984 (= Bibliothe`que de la Ple´iade, Bd. 65), S. 398 f. 77 Derrida, Jacques: »La double se´ance«, in: ders.: La Disse´mination, Paris: E´ditions du Seuil 1972, S. 295–297, Anm. 54. – Dt. Übs.: »OR, was sich verdichtet oder sich ausmünzt, ohne zu zählen, in der Buchmalerei einer Seite. Der Signifikant OR (O + R) wird darin, aufbrechend, in runden Stücken aller Größen verteilt: ›dehORs‹ [›draußen‹], ›fantasmagORiques‹ [›phantasmagorische‹], ›tre´sOR‹ [›Schatz(kammer)‹], ›hORizon‹ [›Horizont‹], ›majORe‹ [›erhöht‹], ›hORs‹ [›außerhalb‹], ohne die O’s, die ZeROs, die nichtige Umkehrung des OR, die Zahl von arrondierten und regelgemäß ›auf das Unwahrscheinliche hin‹ ausgerichteten Chiffren aufzuzählen.« (Derrida, »Die zweifache Se´ance«, S. 295–298, Anm. 55, hier S. 295.) Vgl. hierzu Frank, Manfred: »Vom unausdeutbaren zum undeutbaren Text. Zwei Vorlesungen zum Verhältnis von Hermeneutik und Poetik bei Derrida«, in: ders.: Was ist Neostrukturalismus?, Frankfurt /Main: Suhrkamp 1983 (= es 1203), S. 573–607, bes. S. 602–606; sowie Birus, Hendrik: »Beim Wiederlesen von Jacques Derridas Schibboleth – pour Paul Celan«, in: Wiederholen. Literarische Funktionen und Verfahren, hg. v. Roger Lüdeke u. Inka Mülder-Bach, Göttingen: Wallstein 2006 (= Münchener Komparatistische Studien, Bd. 7), S. 103–133, hier: S. 104–106.
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Oder das kondensierte Resümee zu dem Sonett A la nue accablante tu… 78: »La disse´mination y e´cume assez le vol d’une semence, perte blanche et vaine ou` le maˆt, pour qui le lit, s’abıˆme en perdition de voile et d’enfant. A /bo /lit. Le ›si blanc‹.« 79 Gewiß leisteten Jakobsons strukturale Gedichtanalysen dem von Derrida kritisierten ultra-strukturalistischen »Geometrismus« 80 einigen Vorschub: programmatisch mit seinem auf Spinoza und Stalin (!) gestützten Vergleich von Grammatik und Geometrie; 81 durch das Aufspüren des Gebrauchs verschiedener Symmetrieformen von Dante und Siluan über die »Dichter-Maler« Blake und Rousseau bis zu Blok, Chlebnikov und Brecht; durch die häufige Charakterisierung von Entsprechungen innerhalb der Gedichte als Netz von Horizontalen, Vertikalen, steigenden und fallenden Diagonalen, ja sogar – bei der Analyse des Hussitenchorals – von oberen und unteren, stehenden und hängenden Bögen; schließlich durch graphische Schemata als optische Zusammenfassung der Einzelbeobachtungen zu dem Hussitenchoral, aber auch zu Gedichten von Martin Codax und Kavafis. Diese Geometrisierungstendenz teilen Jakobsons Analysen aber nicht nur mit den verräumlichenden Schemata Roussets,82 sondern sie wird generell durch das strukturalistische Verständnis der ›Struktur‹ als einem »in sich selbst abgeschlossene[n] Transformationssystem« 78 Mallarme´, Œuvres comple`tes, S. 76. 79 Derrida, »La double se´ance«, S. 298 f. – Dt. Übs.: »Die Dissemination schöpft darin hinreichend den Flug /Diebstahl (vol) eines Samens ab, weißer und vergeblicher Verlust, in dem der Mast, für den der ihn liest / für welchen das Bett (pour qui le lit), im Untergang von Schleier /Segel und Kind zum Abgrund seiner selbst wird (s’abime). A /bo /lit. Le ›si blanc‹. [Niedergemacht. Das ›so weiße‹. – ›A /bo /lit‹ homonym mit ›a` beau lit‹, ›zu einem schönen Bett‹; ›si blanc‹ = ›so weiß‹, ›so leer‹, aber auch ›wenn weiß /leer‹].« (Derrida, »Die zweifache Se´ance«, S. 300.) 80 Derrida, »Kraft und Bedeutung«, S. 40. – Dagegen hat Todorov auf dem Höhepunkt des Strukturalismus an Jakobson zu rühmen gewußt, daß »die systematischste Untersuchung der räumlichen Ordnung im literarischen Aspekt der Sprache« von ihm geführt worden sei: »In seinen Analysen der Poesie hat er gezeigt, daß alle Schichten der Aussage, vom Phonem und seinen distinktiven Zügen bis hin zu den grammatischen Kategorien und den Tropen, in eine komplexe Organisation eingehen können, als Symmetrien, Gradationen, Antithesen, Parallelismen usw., die zusammen eine wahre räumliche Struktur bilden.« (Todorov, Tzvetan: »Poetik«, in: Einführung in den Strukturalismus, mit Beiträgen v. Oswald Ducrot [u. a.], hg. v. Franc¸ois Wahl, übs. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt /Main: Suhrkamp 1973 [= stw 10], S. 105–179, hier: S. 139.) 81 Vgl. Jakobson, »Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie«, sowie Sebastian Donats Anmerkung speziell zu seinem Stalin-Verweis, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 282. 82 S. o. S. XXXVI.
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mit den drei Eigenschaften »Ganzheit [totalite´], Transformationen und Selbstregelung« nahegelegt.83 Diese strukturelle Schließung wird allerdings durch die kaum je zu bändigende Detailfülle der meisten Jakobsonschen Gedichtanalysen geradezu sabotiert. So sind etwa Derridas typographische Hervorhebungen von einzelnen Buchstaben und Buchstabenkombinationen in poetischen Texten Mallarme´s 84 oder Celans 85 ein Kinderspiel, verglichen mit dem Kapitälchen-Gewimmel in Jakobsons Lektüren von Martin Codax, Dante und dem Hussitenchoral bis zu Baudelaire, Eminescu und Pessoa (oder den entsprechenden Fettungen in Gedichten Bloks und Chlebnikovs). Diese Idiosynkrasie hatte aber auch zusätzlich eine theoretische Motivierung erfahren. Denn nicht von ungefähr spricht Derrida bei der Einführung des Begriffs der ›Disse´mination‹ von einem »anagrammatischen […] Spiel«.86 Zwischen 1964 und 1970 waren nämlich von Jean Starobinski an verschiedenen Orten (darunter in der voluminösen JakobsonFestschrift 87 und in Tel Quel 88 ) Auszüge aus Saussures von seinen Schülern sorgfältig verheimlichten Anagramm-Heften publiziert worden.89 83 Piaget, Jean: Der Strukturalismus, übs. v. Lorenz Häfliger, Olten u. Freiburg i. B.: Walter-Verlag 1973, S. 8 f. Man könnte dies als die Begriffsbestimmung eines Außenseiters der strukturalistischen Bewegung abtun; doch nicht von ungefähr rühmt gerade Le´vi-Strauss gegen Ende seiner monumentalen Mythologiques (1971) dieses »hervorragende kleine Buch, das Piaget kürzlich dem Strukturalismus gewidmet hat« (Le´vi-Strauss, Claude: Mythologica IV: Der nackte Mensch 2, übs. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt /Main: Suhrkamp 1976 [= stw 170], S. 734). 84 Z.B. Derrida, »Die zweifache Se´ance«, S. 295–298 (»Or«), 299 f. (»A la nue accablante tu…«) u. 310 (»Sa fosse est ferme´e…«; in: Mallarme´, Œuvres comple`tes, S. 7– 10). 85 Derrida, »Der ununterbrochene Dialog«, S. 33 f. (»Große, glühende Wölbung…«; in: Celan, Paul: Gesammelte Werke in fünf Bänden, hg. v. Beda Allemann u. Stefan Reichert, unter Mitwirkung v. Rolf Bücher, Frankfurt /Main: Suhrkamp 1983, Bd. 2, S. 97). 86 Derrida, »Die zweifache Se´ance«, S. 291, Anm. 5 (Kursivierung von mir). 87 »Les mots sous les mots: Textes ine´dits des cahiers d’anagrammes de Ferdinand de Saussure«, hg. v. Jean Starobinski, in: To Honor Roman Jakobson, Bd. 3, Den Haag u. Paris: Mouton 1967, S. 1906–1917. 88 »Le texte dans le texte. Extraits ine´dits des Cahiers d’anagrammes de Ferdinand de Saussure«, hg. v. Jean Starobinski, in: Tel Quel 37 (1969), S. 3–33. 89 In Buchform gesammelt: Les mots sous les mots: Les anagrammes de Ferdinand de Saussure, hg. u. eingel. v. Jean Starobinski, Paris: Gallimard 1971; dt. Übs.: Starobinski, Jean: Wörter unter Wörtern. Die Anagramme von Ferdinand de Saussure, übs. v. Henriette Beese, Frankfurt /Main, Berlin u. Wien: Ullstein 1980 (= Ullstein Materialien. Ullstein Buch Nr. 35049). Ergänzend hierzu Kap. G.IV: »Aus den Anagramm-Studien«, in: Saussure, Ferdinand de: Linguistik und Semiologie: Notizen
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Sprachwissenschaftler und Literaturkritiker konnten darin zumeist nur einen »absurden Zeitvertreib«, eine »unglückliche Verirrung«, eine »rätselhafte Fehlleistung«, eine »kuriose Angelegenheit« sehen oder titelten »La folie de Saussure«.90 Ja, selbst einer der rigorosesten Modernisten der deutschen Nachkriegs-Poesie und -Poetologie, Helmut Heißenbüttel, sprach von einer »Obsession der Entzifferung«, die einen »schwindelerregende[n] Abgrund« sichtbar werden lasse: daß nämlich »der wissenschaftliche Ansatz unversehens in wahnhafte Verstrickung führen kann«.91 Ganz anders die zunehmend über den Strukturalismus hinausgehende Tel Quel-Gruppe um Philippe Sollers und Julia Kristeva – und in ihrem Gefolge Roland Barthes’ autobiographisches Bekenntnis (in der dritten Person): »er hatte viel Gewinn am Cours von Saussure gehabt, doch war ihm Saussure unendlich viel kostbarer geworden, seitdem er von diesem unsinnigen Hören auf die Anagramme wußte«,92 und sein Preis dieses »anderen Saussure«: dem der Anagramme, der aus der lautlichen und semantischen Überfülle der archaischen Verse bereits die Moderne heraushört: nun ist Schluß mit dem Vertrag, der Klarheit, der Analogie und dem Wert: anstelle des Goldes des Signifikats tritt das Gold des Signifikanten, das Metall der Poesie und nicht mehr das der Münzen. Man weiß, welche Panik dieser Klang in Saussure ausgelöst hat, dessen Leben somit offenbar zwischen der Angst um das verlorene Signifikat und der erschreckenden Rückkehr des reinen Signifikanten verlief.93
Starobinski hatte als Herausgeber selbst diese Spur gelegt, als er Saussures Anagramm-Studien zur »Kompositionsmethode von Raymond Roussel«
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aus dem Nachlaß. Texte, Briefe und Dokumente, gesammelt, übs. u. eingel. v. Johannes Fehr, Frankfurt /Main: Suhrkamp 1997, S. 436–477. Einzelnachweise in J. Fehrs »Einleitendem Kommentar« zu: Saussure, Linguistik und Semiologie, S. 15–226, hier: S. 213 f. Heißenbüttel, Helmut: »Der Wahn des Linguisten. Jean Starobinski auf den Spuren Ferdinand de Saussures«, in: Süddeutsche Zeitung, 7./8. 3. 1981, Nr. 55, S. 124. Barthes, Roland: Über mich selbst, übs. v. Jürgen Hoch, München: Matthes & Seitz 1978 (= Batterien 7), S. 174 (»Die dramatisierte Wissenschaft«). Barthes, Roland: »Saussure, das Zeichen und die Demokratie« (1973), in: ders., Das semiologische Abenteuer, übs. v. Dieter Hornig, Frankfurt /Main: Suhrkamp 1988 (= es 1441), S. 159–164, hier: S. 163. – Barthes assoziiert hier offenkundig einerseits den Vergleich von sprachlichen Werten mit Geldstücken in Saussures Cours de linguistique ge´ne´rale (dt. Übs.: Saussure, Ferdinand de: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, hg. v. Charles Bally u. Albert Sechehaye unter Mitw. v. Albert Riedlinger, übs. v. Herman Lommel, 2. Aufl. hg. v. Peter v. Polenz, Berlin: de Gruyter 1967, S. 137 f. u. 141 f.), andererseits die oben (S. XXXVI) zitierte Stelle zu Mallarme´s Prosastück »Or« aus Derridas Disse´mination.
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in Beziehung setzte,94 deren (einen Tag vor dem Selbstmord des Autors verfaßter) »Offenbarungstext«,95 Comment j’ai ´ecrit certains de mes livres,96 von Foucault als »die systematisch verschwisterte Erzählung seines Wahnsinns und seiner Schreibverfahren« charakterisiert worden war.97 Und in der Tat ist die Verfahrensähnlichkeit nicht von der Hand zu weisen: wie einerseits Saussure unterhalb der manifesten Textebene verborgene Eigennamen und Begriffe zu entdecken glaubte, deren Elemente vom Dichter »unter den Text gemischt« 98 seien, so daß Saussure vom ersten Stück des altindischen Rgveda sagt: »Diese Hymne dekliniert wirklich den Namen Agni«; 99 und˙ wie andererseits Roussel enthüllte, daß beispielsweise die beiden Phrasen: Les lettres du blanc sur les bandes du vieux billard… [›Die Buchstaben aus Weiß auf den Randstreifen des alten Billardtischs…‹] und Les lettres du blanc sur les bandes du vieux pillard [›Die Briefe des Weißen über die Banden des alten Plünderers‹] auf der Wahl zweier fast gleicher Wörter, billard und pillard, und der Hinzufügung von gleichlautenden, aber völlig bedeutungsverschiedenen Wörtern beruhten: »Waren die zwei Sätze gefunden, so ging es darum, eine Erzählung zu schreiben, die mit dem ersten Satz anfangen und mit dem zweiten aufhören konnte« etc.100 94 Starobinski, Wörter unter Wörtern, S. 129. Starobinski bezieht sich hierbei ausdrücklich auf die ›bewundernswerte Analyse‹ in: Foucault, Michel: Raymond Roussel [1963], übs. v. Renate Hörisch-Helligrath, Frankfurt /Main: Suhrkamp 1989 (= es 1559), bes. Kap. I–III. 95 So Foucault, Raymond Roussel, S. 15. 96 Roussel, Raymond: »Wie ich einige meiner Bücher geschrieben habe«, übs. v. Hanns Grössel, in: Raymond Roussel. Eine Dokumentation, hg. v. Hanns Grössel, München: edition text + kritik 1977, S. 78–97. 97 Foucault, Michel: »Der Wahnsinn, Abwesenheit eines Werkes«, in: ders., Schriften in vier Bänden / Dits et Ecrits, Bd. 1: 1954–1969, hg. v. Daniel Defert u. Franc¸ois Ewald unter Mitarb. v. Jacques Lagrange, übs. v. Michael Bischoff, Hans-Dieter Gondek u. Hermann Kocyba, Frankfurt /Main: Suhrkamp 2001, S. 539–550, hier: S. 549. 98 Starobinski, Wörter unter Wörtern, S. 45. 99 A.a. O., S. 29. – Vgl. die in ihrer Komplementarität besonders aufschlußreichen Übersetzungen dieser Hymne an den Götterboten Agni (sanskr. ›Feuer‹) in: Gedichte aus dem Rig-Veda, übs. u. erl. v. Paul Thieme, Stuttgart: Reclam 1983 [1. Aufl. 1964], S. 15 f.; u. in: Älteste indische Dichtung und Prosa: Vedische Hymnen, Legenden, Zauberlieder, philosophische und ritualistische Lehren, hg. v. Klaus Mylius, Leipzig: Reclam 1978, S. 7. 100 Roussel, »Wie ich einige meiner Bücher geschrieben habe«, S. 78. – Vgl. die knappe Zusammenfassung des Verfahrens als ganzen durch Leiris, Michel: »Konzeption und Realität bei Raymond Roussel« [1954], übs. v. H. Grössel, in: Raymond Roussel. Eine Dokumentation, hg. v. H. Grössel, S. 7–22, hier: S. 13 f. u. 15 f.
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Jakobson hatte als einer der ersten auf die 1964 beginnenden Publikationen aus Saussures Anagramm-Heften reagiert – und dies uneingeschränkt positiv: kein Tadel (oder umgekehrt: hymnisches Lob) des Scheiterns, des Unsinns, wenn nicht gar des Wahnsinns. Sondern er schreibt: In den letzten Jahren seiner wissenschaftlichen Tätigkeit begriff F. de Saussure vollständig, wie unerforscht und undurchsichtig die allgemeinen Fragen der Sprache […] und auch die Probleme der poetischen Textur sind. Die Theorie und Analyse der Lautfiguren (jeux phoniques), besonders der Anagramme, und ihrer Rolle in den verschiedenen indoeuropäischen Dichtungstraditionen, die von ihm gleichzeitig mit seinen berühmten Vorlesungen zur allgemeinen Linguistik ausgearbeitet wurden, dürfen sicherlich zu den kühnsten und hellsichtigsten Entdeckungen Saussures gerechnet werden.101
Und rückblickend bemerkt er, gerade im Blick auf Saussures Bemerkungen zur ersten Hymne des Rgveda, »die sich in gerade Zahlen für alle ˙ Konsonanten und in Vielfache von Drei für die Vokale auflöst und die der ›phonetisch-poetischen Analyse‹ eine wahrhaft ›grammatisch-poetische‹ Analyse hinzufügt«: 102 In diesen Untersuchungen eröffnet Saussure dem linguistischen Studium der Poesie ungeahnte Perspektiven. […] »Die Genialität der Intuition« des Forschers fördert die wesentlich und, so ist hinzuzufügen, universell polyphone und polyseme Natur der poetischen Sprache zutage und trotzt […] der gängigen Auffassung »einer rationalistischen Kunst«, anders gesagt, der leeren und lästigen Idee einer unfehlbar rationalen Dichtkunst.103 101 »In the last years of his scientific activity, F. de Saussure fully realized how unexplored and obscure are the general questions of language […], and the problems of poetic texture as well. The theory and analysis of the sound figures (jeux phoniques), particularly anagrams, and their role in the divers Indo-European poetic traditions as elaborated by him simultaneously with his renowned courses of general linguistics may certainly be counted among Saussure’s most daring and lucid discoveries.« (»Retrospect« [1966], in: SW IV, S. 635–704, hier: S. 685.) 102 »[…] qui se re´sout en nombres pairs pour toutes les consonnes et en des multiples de trois pour les voyelles, et qui surajoute a` cette ›analyse phonico-poe´tique‹ une ve´ritable analyse ›grammatico-poe´tique‹« (»La premie`re lettre de Ferdinand de Saussure a` Antoine Meillet sur les anagrammes. Publie´e et commente´e par Roman Jakobson«, in: SW VII, S. 237–247, hier: S. 246 f.). 103 »Dans ces recherches, Saussure ouvre des perspectives inouı¨es a` l’e´tude linguistique de la poe´sie. […] ›La ge´nialite´ de l’intuition‹ du chercheur met au jour la nature essentiellement et, faut-il ajouter, universellement polyphonique et polyse´mique du langage poe´tique et de´fie […] la conception ambiante ›d’un art rationaliste‹, autrement dit l’ide´e creuse et importune d’une poe´sie infailliblement rationelle.« (Ebd.)
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Diese literaturwissenschaftliche Nobilitierung von Saussures AnagrammStudien war allerdings mit einer wesentlichen Veränderung ihres theoretischen Rahmens verbunden. Für Saussure war es nämlich die alles entscheidende Frage gewesen, ob es seit den ältesten indoeuropäischen Zeiten eine »okkulte Tradition« gegeben habe, der zufolge es z. B. »in keiner Epoche und in keiner Gattung eine Art gegeben hat, lateinische Verse zu schreiben, die einfach darin bestanden hätte, dem Versmaß zu genügen; sondern daß die lautliche Paraphrase irgendeines Wortes oder Namens eine parallele Aufgabe ist, die dem Dichter neben dem Metrum sich stellte«; 104 oder ob es sich bei den von ihm beobachteten Klangwiederholungen womöglich um »einfache zufällige Koinzidenzen« handelte: »sind sie«, so fragte er erfolglos einen zeitgenössischen lateinischen Dichter, bei dem er anagrammatische Strukturen entdeckt hatte, »sind sie rein zufällig, oder sind sie gewollt und auf bewußte Weise angewendet?« 105 – Jakobson dagegen betonte: »Die entscheidende Rolle der latenten und unterschwelligen Intention bei der Schöpfung und Fortentwicklung der poetischen Strukturen anzuerkennen, würde jede ›Hypothese einer okkulten Tradition und eines wohlbewahrten Geheimnisses‹ mehr als überflüssig machen.« 106 Dennoch ist es bemerkenswert, daß sich Jakobsons erstes öffentliches Bekenntnis zu Saussures Anagramm-Studien eben in seinen Slavic Epic Studies (1966) findet, wo er ausführlich »die hervorragenden Zeilen F. de Saussures« über das zweite indoeuropäische Prinzip der Dichtung zitiert, die in die These münden: Um dieser zweiten Bedingung des carmen zu genügen – die völlig unabhängig von der Konstitution der Versfüße und der Ictus ist –, behaupte ich tatsächlich (was von nun an meine These ist), daß der Dichter sich mit der lautlichen Analyse der Wörter beschäftigte und diese Beschäftigung üblicherweise zum Beruf hatte: Eine solche Wissenschaft von der klanglichen Form der Wörter war es vielleicht, die seit den ältesten indoeuropäischen Zeiten die Überlegenheit, die besondere Eigenschaft des Kavı¯ bei den Hindus, des Va¯te¯s bei den Lateinern usw. ausmacht.107 104 Starobinski, Wörter unter Wörtern, S. 106 f. 105 A.a. O., S. 123. 106 »La reconnaissance du roˆle de´cisif de l’intention latente et subliminale, dans la cre´ation et dans le maintien des structures poe´tiques, rendrait plus que superflue toute ›hypothe`se d’une tradition occulte et d’un secret soigneusement pre´serve´‹.« (»La premie`re lettre de Ferdinand de Saussure a` Antoine Meillet sur les anagrammes«, in: SW VII, S. 245; das Zitat stammt aus Starobinski, Wörter unter Wörtern, S. 98.) Vgl. hierzu Jakobsons Aufsatz »Unterschwellige sprachliche Gestaltung in der Dichtung« (in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 124–153).
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Und im Anschluß daran identifiziert Jakobson vergleichbare Wort- und Namenspiele im Aufruf des archaischen Sängers epischer Heldenlieder, des »weisen Bojan«, im Prolog des altrussischen Igorlieds (1187) 108 – wie er ja wenige Jahre später in der »Klage der Jaroslavna« des Igorlieds die »kosmologische Tradition der indoeuropäischen Völker« (I, S. 421) wiederfinden sollte. Ja, im »Retrospect« der Slavic Epic Studies zeigt er an zahlreichen Beispielen aus der etwa den gleichen Zeitraum behandelnden Hypatios-Chronik und aus der lyrischen Heldendichtung Zadonsˇˇcina (Ende des 14. Jhdts.), daß »F. de Saussures eindringliche Bemerkungen zur archaischen ›Raserei des Lautspiels‹, die sich beharrlich in der poetischen Tradition verschiedener indoeuropäischer Völker findet und sich bis zur gemeinsamen Ursprache zurückverfolgen läßt, vollständig auf die altrussische Kunst des Epos übertragbar sind, wo jede Passage ›nur ein Gewimmel von Silben oder von Lautgruppen ist, die sich gegenseitig zum Echo werden‹«.109 Fast gleichzeitig hat Jakobson dies – mit explizitem Saussure-Bezug – auch für die Analyse des Parallelismus in russischen Volksliedern fruchtbar machen können.110 Daß sich aber Jakobson bei seinen eigenen Untersuchungen solcher Phänomene von vornherein nicht auf jene archaischen und folkloristischen Traditionen beschränken wollte, zeigt seine erste produktive Reaktion auf Saussures Anagramm-Studien: nämlich in der Analyse des Dante-Sonetts Se vedi li occhi miei… (I, S. 458–460), ohne daß dafür irgendeine indoeuropäische Filiation in Anspruch genommen würde.111 107 Jakobson, »Usˇcˇekotal skacˇa« [›Hättest du besungen, hüpfend‹] (1964), in: SW IV, S. 603–610, hier: S. 606 f. – Das Saussure-Zitat findet sich in: Starobinski, Wörter unter Wörtern, S. 28. 108 Jakobson, »Usˇcˇekotal skacˇa«, S. 607 f. 109 »F. de Saussure’s penetrating remarks on the archaic ›fureur du jeu phonique‹, tenacious in the poetic tradition of divers Indo-European peoples and traceable back to their common ancestral language, are entirely applicable to the ancient Russian epic art, where any passage ›n’est qu’un grouillement de syllabes ou de groupes phoniques qui se font e´cho‹« (Jakobson, »Retrospect«, S. 680–686, Zitat: S. 680). – Die Saussure-Zitate stammen aus seinen Briefen an Antoine Meillet vom 8. 1. 1908 und vom 23. 9. 1907 (abgedruckt in: »Lettres de Ferdinand de Saussure a` Antoine Meillet, publie´es par Emile Benveniste«, in: Cahiers Ferdinand de Saussure 21 [1964], S. 89–125, hier: S. 118 u. 110). 110 Vgl. Jakobson, »Der grammatische Parallelismus und seine russische Spielart«, in der vorliegenden Ausgabe: Bd. 1, S. 327–331 (Saussure-Zitat: S. 329). – Vgl. auch als letzte Zeugnisse das Kapitel »X. Saussure’s poe´tique phonissante seen from today« in Jakobson /Waugh: The Sound Shape of Language (SW VIII, S. 1–315, hier: S. 224 f.), sowie die Besedy (Dialogues) mit Krystyna Pomorska (a. a. O., S. 437– 582, hier: S. 521 f.).
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So findet sich dann auch in seiner Analyse von Shakespeares Wortkunst, als »vorsichtige Frage« formuliert, ein eigener Abschnitt »XI. Anagramme?« (I, S. 647 f.); und ebenso wird von Siluans Lobpreis auf Simeon (I, S. 505 f.) über Radisˇcˇev (I, S. 706 f.) und Hölderlin (II, S. 147–150 u. 233–236) 112 bis zu Botev (II, S. 426) immer wieder nach ›klassischen‹ Anagrammen von Personen- oder Ortsnamen gesucht. Doch als weit fruchtbarer erwies sich – analog zu Saussures Suche nach dem »Thema-Wort [›Mot-Theme‹]« 113 und seiner Verstreuung im Text – das Aufspüren von ›Schlüsselworten‹, so daß man beispielsweise in Siluans Lobpreis auf den Hl. Sava 114 das »ganze wohlgefügte Netz von Lautwiederholungen […] als eine Art Emanation des zentralen Wortbilds sveˇtilo [›Licht, Leuchten‹]« (I, S. 485) empfinde, daß in dem Hussitenchoral der explosive Labial der beiden Anfangssilben der »Schlüssel-Wortfügung« bozˇ´ı bojovnı´ci [›Gottes-Kämpfer‹] »sowohl stimmhaft wie stimmlos das Lied mit Alliterationen vom ersten bis zum letzten Vers« durchdringe (I, S. 511), während bei Norwid die Anfangs- und Schlußkonsonanten des »Schlüsselworts« czułos´´c [›Gefühl‹] antithetisch auf die beiden Terzette verteilt seien (II, S. 384), oder daß bei Palicyn das poetische »Schlüsselwort« drova [›Feuerholz‹] »seinen Widerhall in der Lexik und der Thematik des gesamten Trauerkontextes« finde und es dadurch in den auf das Gedicht folgenden Dialogen zu einer »Orgie lautlicher, genauer gesagt: lautbildlicher Wiederholungen« komme (I, S. 665 f.). Im Gegensatz zur traditionellen Rhetorik, aber auch anders als Saussure,115 hat Jakobson in seinen Analysen von Gedichten Baudelaires (II, S. 315 f.), Chlebnikovs 111 Von vornherein ausgeschlossen wäre dies hinsichtlich der vermuteten Anagrammatisierung des Dichternamens in dem japanischen Abschiedsgedicht des Takapasi Musimarö (373–375); vgl. hierzu auch Brigitte Raths Kommentar (ebd.). 112 Vgl. hierzu auch Jakobsons Briefwechsel mit Michael Franz (in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 239–242). 113 Saussure, Linguistik und Semiologie, S. 442. 114 Diese Analyse entstand bereits einige Jahre vor dem Erscheinen von Saussures Anagramm-Studien. Vgl. hierzu Erika Grebers Einleitung zu Jakobsons Analyse von Siluans Lobpreis auf den Hl. Sava (in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 473 f.) sowie das Anagramm-Kapitel in: Greber, Erika: Textile Texte: Poetologische Metaphorik und Literaturtheorie. Studien zur Tradition des Wortflechtens und der Kombinatorik, Köln, Weimar u. Wien: Böhlau 2002 (= Pictura et Poesis. Interdisziplinäre Studien zum Verhältnis von Literatur und Kunst, Bd. 9), S. 168–225. 115 So notierte Saussure: »Anagramm soll […] nur für jene Fälle gebraucht werden, wo es dem Autor gefällt, auf engem Raum, etwa in ein oder zwei Wörtern, alle Elemente des thematischen Wortes anzuhäufen, fast wie im ›Anagramm‹ nach der Definition – eine Figur, die unter den Phänomenen, welche sich der Untersuchung anbieten, nur eine sehr begrenzte Relevanz hat« (Starobinski, Wörter unter Wörtern, S. 24).
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(II, S. 503 f.), Zˇupancˇicˇs (II, S. 524 f.) und Pessoas (II, S. 648 f.) solche klanglichen »Anspielungen auf das ›Thema-Wort‹« (II, S. 315) ebenfalls als Anagramme bezeichnet. Während Jakobsons Anagramm-Suche jeweils von zentralen Worten oder Wortverbindungen ausgeht und dann deren klangliche Ausstrahlung auf den Text als ganzen oder auf seine Teile zu beschreiben sucht, geht er – wiederum in den Spuren Saussures, der »Lautharmonien« (»daß die Silben einander entsprechen, ohne sich indessen auf ein Wort zu beziehen«) grundsätzlich von der anagrammatischen »Reproduktion der Silben, die zum heiligen Namen gehören« unterschieden hatte 116 – in seiner Du Bellay-Analyse den umgekehrten Weg von der Beschreibung der »Lauttextur« als solcher (I, S. 593–596) zur Frage ihrer möglichen semantischen Ausmünzung. Oder er fragt im Abschnitt »XVI. Laute« seiner Yeats-Analyse – ausgehend von dessen Behauptung, alle Klänge erweckten »durch die ihnen innewohnenden Energien oder auf Grund langer Assoziierung unfaßbare und doch genaue Empfindungen« (II, S. 600) – beispielsweise nach den Konsonantenclustern und ihren unterschiedlichen ›phonologischen Assoziationen‹ in den mehr als dreißig Jahre auseinanderliegenden Fassungen seines Gedichts The Sorrow of Love (II, S. 600–604). Beide Untersuchungsrichtungen treten schließlich in dem Aufsatz Unterschwellige sprachliche Gestaltung auf faszinierende Weise zusammen, wo Jakobson zunächst zeigt, wie Chlebnikov erst nach Jahren bemerkt habe, daß in seinem 1908 (also etwa gleichzeitig mit Saussures Anagramm-Studien) verfaßten Gedicht Kuznecˇik [›Der Heuschreck‹] »im ersten, entscheidenden Satz […] jeder der Laute k, r, l und u fünfmal vorkommt, ›ohne irgendwelche Absicht seitens des Schreibers dieses Unsinns‹«, ja daß Chlebnikov auch später nicht »das weit größere Ausmaß dieser regelmäßigen phonologischen Wiederholungen« (die Jakobson detailliert aufzählt) erkannt habe (I, S. 130 f.). Erst nach weiteren Jahren habe der Dichter dann mit Entzücken das in dem eröffnenden Neologismus Krylysˇku´ja [›flügelnd‹] verborgene Anagramm entdeckt: »nach Chlebnikov steckt das Wort usˇku´j (›Piratenschiff‹, metonymisch für ›Pirat‹) in dem Gedicht ›wie im trojanischen Pferd‹: kry´lysˇku´ja ›flatternd‹ skry´l usˇku´ja derevja´nnyj ko´n’ ›den Piraten verbarg das hölzerne Pferd‹.« Und wieder vermag Jakobson dem eine Fülle weiterer Beobachtungen zu paronomastischen Verknüpfungen innerhalb dieses kurzen Gedichts hinzuzufügen, die Chlebnikov nie aufgefallen waren – worin Jakobson nur 116 A.a. O., S. 20 u. 28 f.
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seine Auffassung bestätigt sah, daß »die Metasprache des Dichters weit hinter seiner poetischen Sprache zurückbleiben« mag (I, S. 133–135). Ja, wenn Chlebnikov schließlich 1919 sein Heuschreck-Gedicht als »kleinen Auftritt des Feuergottes« bezeichnete, so sucht Jakobson diese rätselhafte Bemerkung durch folgende Überlegung plausibel zu machen: Die Zeile zwischen dem einleitenden Dreizeiler und dem abschließenden Anruf – pin’-pin’ tararachnul […] zinzive´r – erstaunt durch die Verbindung des heftigen, donnergleichen Getöns tararach mit dem schwachen Piepser pin’ und durch den Umstand, daß dieses Oxymoron dem Subjekt zinzive´r zugeordnet ist, das […] ein dem englischen ginger [›Ingwer‹] verwandtes Lehnwort ist, im Russischen aber ›Malve‹ bedeutet. Durch Chlebnikovs doppelte Lesart von krylysˇku´ja [›flügelnd‹] verlockt, könnte man eine ähnlich paronomastische Beziehung zwischen zinzive´r und dem donnernden Zeve´s ›Zeus‹: /z’inz’ive´r/ – /z’ive´s/ mutmaßen. (I, S. 135 f.)
Wie lassen sich solche Überlegungen verorten? ›Strukturalistisch‹ wird man sie gewiß nicht mehr nennen können, ›hermeneutisch‹ im Sinne eines methodischen Nachkonstruierens wohl auch nicht, und sie sind auch keine Rückkehr zum ›Formalismus‹ der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Vielleicht sollte man einmal Heißenbüttels Spur weiter verfolgen, der – über Starobinskis Verweis auf Roussel hinaus – Saussures Anagramm-Studien in Beziehung gesetzt hatte mit der »Herstellung von Rede nach den Gesetzen des Zufalls oder des I Ging, was auf dasselbe herauskommt, wie es der Komponist John Cage versucht hat«.117 Denn ähnlich wie sich der literaturwissenschaftliche Strukturalismus zunehmend dogmatisiert und formalisiert hatte, so näherte sich die gleichzeitige avantgardistische Musik, ausgehend von Schönbergs und Weberns ZwölfTon-Technik und Messiaens Mode de valeurs et d’intensite´s, immer mehr dem Ideal einer rationalen Organisation all ihrer Parameter (Tonhöhen, Zeitmaße, Lautstärken, Klangfarben etc.) an – man denke nur an Karlheinz Stockhausens Klavierstück XI und seine Zeitmaße (1956) oder auch an seinen programmatischen Aufsatz …wie die Zeit vergeht… 118 Ja, Ro117 Heißenbüttel, »Der Wahn des Linguisten«, S. 124. Vgl. hierzu etwa Cage, John: »Beschreibung der in Music for Piano angewandten Kompositionsmethode«, übs. v. Christian Wolff, in: Kommentare zur Neuen Musik 1, Köln: DuMont Schauberg 1960, S. 176–180. 118 Stockhausen, Karlheinz: Texte zur elektronischen und instrumentalen Musik, Bd. 1: Aufsätze 1952–1962 zur Theorie des Komponierens, hg. u. m. einem Nachw. versehen v. Dieter Schnebel, Köln: DuMont 1988, S. 99–139. (Dieser und der zuvor zitierte Aufsatz von John Cage waren zuerst in der Zeitschrift die Reihe. Information über serielle Musik, hg. v. Herbert Eimert unter Mitarb. v. Karlheinz Stockhausen, H. 3: Musikalisches Handwerk, Wien 1957, erschienen.)
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land Barthes hatte nicht gezögert, in seiner Proklamation der Strukturalistischen Tätigkeit »eine serielle Komposition« (z. B. von Henri Pousseur) und »eine Analyse von Le´vi-Strauss« gleichermaßen dem Strukturalismus zuzurechnen.119 In diese Situation des Seriellen platzte John Cage herein; sie erklärt die außerordentliche Wirkung, die er übte. Sein Zufallsprinzip, das, was Ihnen allen unter dem Namen Aleatorik geläufig ist, möchte aus dem totalen Determinismus, aus dem integralen, obligaten Musikideal der seriellen Schule, ausbrechen. […] György Ligeti hat mit Recht darauf aufmerksam gemacht, daß im Effekt die Extreme der absoluten Determination und des absoluten Zufalls zusammenfallen. […] Es ist das nicht zu überschätzende Verdienst von Cage, an der sich überschlagenden musikalischen Logik, am blinden Ideal vollkommener Naturbeherrschung in der Musik irre gemacht zu haben […].120
Der sich daran anschließende ›Postserialismus‹ Stockhausens, Boulez’ und ihrer Mitstreiter hat dieses Zufallsprinzip produktiv in sich aufnehmen können, ohne doch hinter das Formniveau der seriellen Musik zurückzufallen. Das gilt buchstäblich auch für die späten Gedichtanalysen Roman Jakobsons, die man in diesem Sinne ›poststrukturalistisch‹ nennen dürfte. Denn sie sind noch immer vom formalistischen Impuls seiner ersten Arbeiten getragen, beherrschen vollkommen das rekonstruktive Instrumentarium des Strukturalismus und nehmen sich doch die Freiheit, über ein rationalistisch verengtes Verständnis des Kunstwerks hinauszugehen und die Alternative von Autorintention und Zufall nonchalant zu unterlaufen. Ja, wie seine produktive Rezeption von Saussures AnagrammStudien die poetische Tradition der indoeuropäischen Völker und avantgardistische Praktiken der Texterzeugung – Archaik und Modernismus also – zusammenzwingt, das hat seine konträre Entsprechung in den Trakl- und George-Lektüren des späten Heidegger als Ahnherrn der poststrukturalistischen Dekonstruktion.121 Denn einerseits geht Heideggers 119 Barthes, Roland: »Die strukturalistische Tätigkeit«, übs. v. Eva Moldenhauer, in: Kursbuch 5 (Mai 1966), S. 190–196, hier: S. 193 u. 195 f. 120 Adorno, Theodor W.: »Schwierigkeiten. I. Beim Komponieren« (1964), in: ders., Musikalische Schriften IV: Moments musicaux – Impromptus, Frankfurt /Main: Suhrkamp 1982 (= Gesammelte Schriften, Bd. 17), S. 253–273, hier: S. 270 f. Vgl. hierzu Adornos programmatischen Aufsatz »Vers une musique informelle« (1961), in: ders., Musikalische Schriften I–III, S. 493–540. 121 Zu ihren prinzipiellen Gemeinsamkeiten und Differenzen vgl. Grotz, Stephan: Vom Umgang mit Tautologien: Martin Heidegger und Roman Jakobson, Hamburg: Meiner 2000 (= Topos Poietikos 2).
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Hendrik Birus
»Erörterung von Georg Trakls Gedicht« – Die Sprache im Gedicht 122 – zurück bis zu althochdeutschen, altgriechischen, ja indogermanischen Wortwurzeln, um so den Möglichkeitsspielraum von Trakls Gedicht auszuloten; andererseits überführt er die von ihm zitierten Verse und Versbruchstücke in ein dichtes Geflecht von spekulativen Wortfamilien, Korrespondenzen und Polysemien, das von vornherein jede diskursive Eindeutigkeit überbordet und faktisch schon Derridas ›Disse´mination‹ vorwegnimmt.123 Während aber Heidegger längst aller Wissenschaft – besonders der von ihm beargwöhnten »rechnende[n] Linguistik« und dem »Strukturalismus« als »vielleicht unaufhaltsame[r] Ausartung der ›Wissenschaft‹ im Sinne der science« 124 – grollend den Rücken gekehrt hatte, stehen auf Jakobsons Grabstein, außer Namen und Daten, zu Recht nur zwei Worte: Russkij filolog. Die Literaturwissenschaft könnte von ihm lernen: Lesen lernen.
122 Heidegger, Martin: »Die Sprache im Gedicht. Eine Erörterung von Georg Trakls Gedicht« (1952), in: ders., Unterwegs zur Sprache, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt /Main: Klostermann 1985 (= Gesamtausgabe, I. Abt., Bd. 12), S. 31–78. 123 Vgl. hierzu ausführlicher und mit Einzelnachweisen: Birus, »Beim Wiederlesen von Jacques Derridas Schibboleth – pour Paul Celan«, bes. S. 122; sowie vor allem den Heidegger gewidmeten Schlußteil von Derridas Aufsatz »Der Entzug der Metapher« (übs. v. Alexander G. Düttmann u. Iris Radisch), in: Die paradoxe Metapher, hg. v. Anselm Haverkamp, Frankfurt /Main: Suhrkamp 1998 (= es 1940), S. 197–234, bes. S. 212 u. 226–234. 124 So Martin Heidegger an Hugo Friedrich, 20. 3. 1971 (maschinenschriftliche Abschrift im Universitätsarchiv Freiburg i.Br., Nr. C 135/142; auszugsweise zitiert in: Hausmann, Frank-Rutger: »Man spricht hier bereits von Computer-Generationen. Vierzig Jahre Fortriß des Lebendigen: Der unbekannte Briefwechsel von Martin Heidegger mit seinem Freiburger Fakultätskollegen Hugo Friedrich«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23. 5. 2006, Nr. 119, S. 41). Wenn Heidegger hier »das Unvereinbare der informationstechnischen Definition des Dichters und des dichterischen Verlangens der Wiederholung des Gedichts« betont – »Bei der Wiederholung wäre zu unterscheiden zwischen der bloßen Iteration des Gleichförmigen und dem Wieder-holen des Einzigartigen« –, so beruft er sich auf Friedrichs polemischen Aufsatz »Strukturalismus und Struktur in literaturwissenschaftlicher Hinsicht. Eine Skizze« (in: Europäische Aufklärung. Herbert Dieckmann zum 60. Geburtstag, hg. v. Hugo Friedrich, München: Fink 1967, S. 77–86, hier S. 84 f.): eine schroffe Absage gegen jede Verbindung von Literatur- und Sprachwissenschaft und ein ganzer Köcher von Vorurteilen gegen den Formalismus und Strukturalismus, die nur in Unkenntnis von Jakobsons poetologischen Schriften und Gedicht-Lektüren eine gewisse Überzeugungskraft erlangen konnten.
Roman Jakobson
Die neueste russische Poesie. Erster Entwurf. Annäherungen an Chlebnikov 1 Übersetzung aus dem Russischen Rolf Fieguth u. Inge Paulmann
Kommentare Aage A. Hansen-Löve [A.H.-L.] und Anke Niederbudde [A.N.] Roman Jakobsons Studie unter dem nichtssagenden Titel »Die neueste russische Poesie« gehört zweifellos zu den fundamentalen Texten zur modernen Poetik insgesamt und zur Poetik der futuristischen Wortkunst Chlebnikovs im besonderen: Grundlegend ist sie für die gesamte analytische, formalistische und späterhin strukturalistische Literaturanalyse ebenso wie für eben jene epochemachende Transformation einer spezifisch futuristischen Avantgarde1
Als Vortrag 1919 im »Moskauer Linguistischen Zirkel« gehalten. Eine Dokumentation der Diskussionen dieses Vortrags von Jakobson bietet: Sˇapir (Hg.), »O poe˙ticˇeskom jazyke proizvedenij Chlebnikova: Obsuzˇdenie doklada R. O. Jakobsona v Moskovskom lingvisticˇeskom kruzˇke«. Erstmals veröffentlicht wurde der überarbeitete Vortrag in Prag 1921: Novejsˇaja russkaja poe˙zija. Nabrosok pervyj. Podstupy k Chlebnikovu, Prag: Tipografija Politika 1921. Die vorliegende Übers. ins Deutsche folgt (mit wenigen Korrekturen) der Ausgabe in: Texte der russischen Formalisten, Bd. II, hg. v. Wolf-Dieter Stempel, München: Wilhelm Fink Verlag 1972, S. 18– 135. Weitere Ausgaben des Textes auf Russisch: Jakobson, SW V, S. 299–354; Jakobson, Raboty po poe˙tike, S. 272–316 (Ausgabe leicht gekürzt); sowie vollständig in: Mir Velimira Chlebnikova. Stat’i issledovanija 1911–1998, S. 20–77, Kommentare: S. 758–761. Der Text wurde mit leicht variierenden Titeln veröffentlicht. Neben der hier gewählten ursprünglichen Titel-Variante: Novejsˇaja russkaja poe˙zija. Nabrosok pervyj. Podstupy k Chlebnikovu [›Die neueste russische Poesie. Erster Entwurf. Annäherungen an Chlebnikov‹], findet sich auch die Variante: Novejsˇaja russkaja poe˙zija. Nabrosok pervyj. Viktor Chlebnikov [›Die neueste russische Poesie. Erster Entwurf. Viktor Chlebnikov‹] (so die Veröffentlichung in: Texte der russischen Formalisten). [Anm. v. A.H.-L.]
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Roman Jakobson
Poetik (Chlebnikovs) zu einer allgemeinen Literatur- ja Kunsttheorie, in der die Grundideen aller weiteren poetologischen Arbeiten Jakobsons in nuce bereits enthalten sind. Neben dieser erstaunlichen Selbstvorwegnahme einer von Jakobson entscheidend mitgeschaffenen Jahrhundertpoetik gibt es aber auch Aspekte und Theoreme, die gerade für die futuristische und frühformalistische Poetik charakteristisch waren (man denke an das Verfahren der poetischen Etymologie, der realisierten *Metapher, der *Inversion von Wort- und Sujetsequenzen, um nur einige zu nennen), die in dieser Ausprägung in späteren Studien Jakobsons nicht mehr zu finden sind. Damit erfüllt sich aber auch das Ideal einer Literaturwissenschaft, die sowohl zeitgemäß und aktuell argumentiert, ja geradezu die Position der in Rußland immer besonders machtbewußten Literaturkritik einnimmt, als auch – in der damals noch utopischen Vorwegnahme einer allgemeinen Literatur- und Kunsttheorie – Anspruch auf Universalität und Zeitlosigkeit erhebt. Zwischen beiden Polen – der synchronen Spezifik und einer achronen Gültigkeit – bewegen sich auf eine für den Autor typisch spielerische, scheinbar wenig systematische, manchmal im Detail sich verlierende Weise die Argumente und eine überwältigende Fülle verbaler ›Massen‹, die allesamt letztlich doch von der Faszination am onomatopoetischen Kratylismus der Avantgardepoetik Chlebnikovs ebenso getragen werden wie von der nüchternen Einschätzung des professionellen Linguisten, der seine Wissenschaft der Kunst und Poetik ebenso öffnet wie diese jener: An zentraler Stelle verteidigt Jakobson etwa den Anspruch des Dichters, ja des kreativen Menschen, auf ein autonomes, eigengesetzliches »Sprach-Denken«, dessen verbale Realität und Evidenz Sigmund Freuds epochemachende Anerkennung der »psychischen Realität« zu duplizieren scheint. Beide großen Analytiker – jener der Sprache und dieser der Tiefenpsychologie – bestanden zwar uneingeschränkt auf der Wissenschaftlichkeit ihrer Methode, akzeptierten aber freudig das enorme kreative Potential all jener Sphären des nicht-rationalen, nicht-praktischen, nicht-bewußten, unzivilisierten, wilden Denkens, das / dem zwar eine(r) empirische(n) Rationalität der Wissenschaft widersprechen kann, das nichtsdestoweniger aber einen Realitätsstatus behauptet, der zur eigentlichen Quelle der verbalen, psychischen, ja existentiellen und kulturellen Kreativität erhoben wird. So kann eine »Volksetymologie« linguistisch ›falsch‹ sein, ihre Sprach-Wirklichkeit und -Wirksamkeit behält sie aber dennoch für den kollektiven oder individuellen Sprecher; gleiches gilt für alle Formen der nicht-rationalen Sprachbenützung: von der Kindersprache über jene der unbewußten, peripheren oder sonstwie extremen Bewußtseinszustände (Rausch, Ekstase, Emotionalisierung, Werbung, Erotik etc.), die sich eben nicht einer linguistischen »correctness« beugen wollen oder können. Von ihnen lernt der poetische Linguist und der linguistische Poetologe weniger die ›falschen Regeln‹
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als die richtigen Irregularitäten, deren ›Wahnsinn‹ eben ihre ›Methode‹ hat. Ihr zuliebe war man – Freud wie Jakobson – durchaus bereit, auf eine Wissenschaft als universitäre oder staatliche Institution zu verzichten: Sah man sich doch weniger als Schule oder Verein wissenschaftlicher Sittenwächter als vielmehr als Entwickler und Anwender von Methoden, die sich permanent in statu nascendi befinden sollten. Methoden aber gehören eher in die Praxis eines »strukturalen Handelns« (wie man es später im französischen Strukturalismus nennen sollte) als in die bloß spekulative Sphäre einer Theoriebildung, die geradezu kulturgesetzlich in der Gefahr stand, zu Selbstideologisierung und systematischer Hierarchisierung zu degenerieren. Darin besteht – neben all den anderen Ein- und Fernsichten – der weiterwirkende emanzipatorische, oder schlicht: befreiende Impuls jener ersten größeren Studie Jakobsons. Sie ist in jeder Hinsicht ›locker‹ verfaßt, gerötet noch vom Feuer ihres in sie eindringenden Objekts der Begierde (Chlebnikovs »Sprachweltkörper«), das ohne Umschweife zum Terrain einer methodischen Beschreitung erklärt wird. Beschreibend werden den verbalen Wirklichkeiten Regeln abgerungen, deren zunächst nur ad hoc erscheinende Geltungen jenen springenden Punkt bereithalten, aus dem heraus sich der gesamte Text der Analyse wie die Analyse des verbalen Textes quasi sprach-natürlich entfaltet. Als Pointe bietet das Finale dann jenen ironischen Zweifel, den Chlebnikov selbst der radikalen Variante seiner Universalsprache gegenüber nachdenklich äußerte: Ob denn jene ursprüngliche Evidenz und Erschütterung einer Sprach-Neuerfindung (er bezieht sich auf Echnatons Sterbeworte »mancˇ-mancˇ« aus seiner Prosa-Utopie »Ka«, s. u. S. 112) nicht den irdischen Weg alles Innovatorischen geht – nämlich den der Automatisierung und Gewöhnung, während jene Regeln, jene Grammatik und Morphologie das Werk selbst in seiner Archaik wie Aktualität überdauern, die unter tätiger Geburtshilfe des Linguisten das Licht einer poetischen Sprach-Wissenschaft erblicken. Aage A. Hansen-Löve
I Seit langem schon gibt sich die Linguistik nicht mehr mit dem Studium toter Sprachen und weit zurückliegender Sprachepochen zufrieden. Die Interpretation von Sprachsystemen der Vergangenheit fällt uns schwer: Wir erleben ihre Elemente nicht in ihrer ganzen Fülle, sondern nehmen sie nur in Bruchstücken, annäherungsweise und stark rationalisierend auf. Die Dokumente, aus denen wir alle unsere Kenntnisse über die Sprache der Vergangenheit beziehen, sind immer ungenau.
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Roman Jakobson
Infolgedessen tritt mit wachsender Dringlichkeit das Studium der modernen Mundarten in den Vordergrund. Die Dialektologie wird zum Hauptimpuls für die Aufdeckung linguistischer Grundgesetze, und nur das Studium der Prozesse lebendiger Rede gestattet ein Eindringen in die Geheimnisse der erstarrten Sprachstruktur früherer Perioden. Nur auf die moderne Sprache ist das Verfahren des synchronischen Schnitts uneingeschränkt anwendbar, die sogenannte statische Methode, die es ermöglicht, lebendige Prozesse von erstarrten Formen, produktive Systeme von »linguistischem Staub« (de Saussure) 2 zu trennen und nicht nur die linguistischen Gesetze zu betrachten, die sich herauskristallisiert haben, sondern auch Tendenzen, die sich abzeichnen. Handelt man über sprachliche Erscheinungen der Vergangenheit, so entgeht man schwerlich der Schematisierung und damit einer gewissen Mechanisierung. Das heutige Gespräch auf der Straße ist verständlicher als die Sprache des Stoglav 3, nicht nur für den Laien, sondern auch für den Philologen. Ebenso sind Pusˇkins Verse als poetisches Faktum heutzutage unverständlicher und weniger einleuchtend als die Majakovskijs oder Chlebnikovs.4 Jedes Faktum der zeitgenössischen poetischen Sprache nehmen wir notwendig in Konfrontation mit drei Momenten wahr – der vorhandenen poetischen Tradition, der praktischen Sprache der Gegenwart und der poetischen Tendenz, die der betreffenden Äußerung vorgezeichnet ist. 2
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Ferdinand de Saussures an der Universität Genf gehaltene Vorlesungen zur Linguistik wurden 1916 postum veröffentlicht: Saussure, Cours de linguistique ge´ne´rale, dt. Übers.: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, vgl. darin die Unterscheidung von synchroner und diachroner Sprachanalyse, die Jakobson hier anspricht – S. 114–140 (in der dt. Übers. S. 108–115). Der Terminus »poussie`re linguistique« [›Linguistischer Staub‹] findet sich hier jedoch nicht (so Percival, »Roman Jakobson and the Birth of Linguistic Structuralism«). Jakobson kannte die Ideen de Saussures – und offensichtlich auch den Begriff »poussie`re linguistique« – von seinem Kollegen Sergej Karcevskij, der in Genf studierte und v. a. die Vorlesungen von Charles Bally, Ferdinand de Saussures Nachfolger, hörte. 1917 kehrte Karcevskij nach Rußland zurück und machte die russischen Linguisten mit Saussures Theorien bekannt. Saussures Terminus »Linguistischer Staub« verwendet auch G. Vinokur 1923 in seinem Aufsatz: »Kul’tura jazyka (Zadacˇi sovremennogo jazykoznanija)«, S. 107. [Anm. v. A.H.-L.] Das Stoglav [›Buch der hundert Kapitel‹] umfaßt die Konzilsakten des 1551 in Moskau veranstalteten Konzils. Das Beispiel ist beliebig und steht für jegliches nicht mehr direkt nachvollziehbare Werk früherer Epochen. [Anm. v. A.H.-L.] Daher auch die Forderung der Futuristen 1912, Pusˇkin und die anderen Klassiker »vom Dampfer der Gegenwärtigkeit« (sovremennost’ ) zu werfen: David Burljuk (u. a.), »Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack«, 1912/13, dt. Übers. in: Ingold, Der
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Letzteres Moment charakterisiert Chlebnikov folgendermaßen: Kogda ja zamecˇal, kak starye stroki vdrug tuskneli, kogda skrytoe v nich soderzˇanie stanovilos’ segodnjasˇnim dnem, ja ponjal, cˇto rodina tvorcˇestva – budusˇcˇee. Ottuda duet veter bogov slova. (II, 8) 5 Als ich bemerkte, wie die alten Zeilen plötzlich verblaßten, als die in ihnen verborgene Zukunft zum Alltag wurde, begriff ich, daß die Heimat des Schaffens die Zukunft ist. Dorther weht der Wind der Götter des Wortes.
Wenn wir aber mit Dichtern der Vergangenheit umgehen, müssen diese drei Momente rekonstruiert werden, was nur mühsam und unvollkommen gelingt. Pusˇkins Verse waren zu ihrer Zeit nach dem Wort eines zeitgenössischen Journals »ein Phänomen in der Geschichte der russischen Sprache und Verskunst«, und der Kritiker sinnierte damals noch nicht über »Pusˇkins Weisheit« 6, sondern fragte: »Warum haben diese herrlichen Verse einen Sinn? Warum wirken sie nicht allein auf unser Gehör?« 7 Heutzutage ist Pusˇkin zum Gebrauchsgegenstand geworden, zum Quell einer Haus- und Privatphilosophie. Pusˇkins Verse werden als Verse heutzutage augenscheinlich auf Treu und Glauben akzeptiert, sie erstarren zum Kultobjekt. Bezeichnenderweise sind voriges Jahr Pusˇkinforscher wie Lerner und Sˇcˇegolev 8 der geschickten Fälschung eines jungen Dichters aufgesessen, die sie als authentisches Werk des Meisters ansahen.
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große Bruch, S. 307 f., hier: S. 307. – Die Kanonisierung der Klassiker ging – aus der Sicht der Formalisten-Futuristen und damit auch des frühen Jakobson – auf eine »Automatisierung ihrer Wahrnehmung« zurück (vgl. Hansen-Löve, Der russische Formalismus, S. 211–226). [Anm. v. A.H.-L.] Chlebnikov »Svojasi« [›Mein Eignes‹], in: Sobranie proizvedenij, II, S. 7–11. Die Chlebnikov-Textstellen werden von uns – wie von Jakobson – unter Angabe der Bandnummer und Seitenzahl nach den Sobranie proizvedenij, Bände I–V, Leningrad 1928–1933, zitiert. [Anm. v. A.N.] Als typisches Beispiel für eine Kanonisierung und damit Entästhetisierung und Entliterarisierung eines einstmals dominanten Autors zitiert hier Jakobson eine damals aktuelle Darstellung Pusˇkins als »Denker« (Pusˇkin – myslitel’ ), womit er eine gerade in Rußland gängige Verwertung der Literatur zu philosophisch-weltanschaulichen oder einfach ideologischen Zwecken kritisierte, wie es spätestens im historischen Realismus üblich geworden war. Bezug nimmt Jakobson auf Michail O. Gersˇenzons Schrift Mudrost’ Pusˇkina. [Anm. v. A.H.-L.] Der ›zeitgenössische Kritiker‹ konnte nicht ermittelt werden. Einen umfassenden Überblick über die Beurteilung von Pusˇkins Werk durch seine Zeitgenossen bieten die drei Bände Pusˇkin v prizˇiznennoj kritike. [Anm. v. A.N.] Pusˇkin-Experten zu Beginn des 20. Jahrhunderts, vgl. die Veröffentlichtungen Sˇcˇegolev, Pusˇkin. Ocˇerk und Lerner, Trudy i dni Pusˇkina. [Anm. v. A.N.]
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Pusˇkinähnliche Verse drucken sich heutzutage genauso leicht wie falsche Kerenskijnoten 9: sie haben keinerlei selbständigen Wert und sind lediglich anstelle klingender Münze in Umlauf. Wir sprechen gern von der Leichtigkeit und Unauffälligkeit des Technischen, die Pusˇkins charakteristische Besonderheit sei. Das ist ein perspektivischer Irrtum.10 Für uns ist Pusˇkins Vers ein Klischee; daher der natürliche Schluß, er sei einfach. Ganz anders für Pusˇkins Zeitgenossen. Nehmen wir einmal ihre Äußerungen, nehmen wir Pusˇkin selbst. Für uns beispielsweise ist der fünffüßige *Jambus ohne *Zäsur glatt und leicht. Pusˇkin dagegen fühlte ihn, d. h. er fühlte ihn als erschwerte Form,11 als Desorganisation der vorangegangenen Form: Prizna´t’sja vam, ja v pjatisto´pnoj stro´cˇke Ljublju´ cezu´ru na vtoro´j stope´, Ina´cˇe, stich to v ja´me, to na ko´cˇke, I chot’ lezˇu´ tepe´r’ na kanape´, Vse¨ ka´zˇetsja mne, bu´dto v trja´skom be´ge, Po me¨rzloj pa´ˇsne mcˇus’ ja na tele´ge. Euch’s zu gestehn, in der fünffüßigen Zeile Lieb ich die Zäsur nach dem zweiten Fuß. Sonst fährt der Vers über Stock und Stein, 9
Es handelt sich um die unter Kerenskij ausgegebenen Banknoten, die nach seinem Sturz wertlos geworden waren. Damit wird ein nicht nur in der Avantgarde immer wieder aufgestellter Vergleich zwischen der Ökonomie des Geldumlaufs und jener literarischer bzw. künstlerischer Valuten wieder aufgenommen – einer Ökonomie, die auch in der formalistischen bzw. frühstrukturalistischen funktionalen Werttheorie eine zentrale Rolle spielte (vgl. Grübel, Literaturaxiologie). [Anm. v. A.H.-L.] 10 Solchermaßen schaffen Automatisierung der Rezeption und die damit einhergehende Kanonisierung das falsche ästhetische Bewußtsein von Einfachheit und Verständlichkeit – eine Auffassung, die alle affirmativen Kultur- und Kunstsysteme dominiert. Die verfremdete, entautomatisierte Wahrnehmung der Klassiker ermöglicht dagegen überhaupt erst eine ästhetisch-künstlerische Erfahrung solcher kanonisierter Texte. Darin bestand eben die Hauptaufgabe der frühformalistischen diachronen bzw. historischen Poetik mit ihrer positiv-destruktiven Neulektüre gängiger Texte, deren einstige Avantgardistik wiederentdeckt wird, und einer vorwegnehmenden Konventionalisierung noch nicht kanonisierter Werke und Verfahren, die solchermaßen eine dominante Position im zeitgenössischen Literatursystem zugewiesen bekommen. [Anm. v. A.H.-L.] 11 Die »erschwerte Form« ist das eigentliche Instrument einer Verfremdungsästhetik der Futuristen wie der Formalisten der Zehnerjahre. Vgl. die Postulate bei Aleksej Krucˇenych und V. Chlebnikov »Das Wort als solches« (Moskva 1913), dt. Übers. in: Ingold, Der große Bruch, S. 324 f., hier: S. 324; so auch bei V. Sˇklovskij, »Die Auferweckung des Wortes« (1913), dt. Übers. in: Ingold, Der große Bruch, S. 316– 318. [Anm. v. A.H.-L.]
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Und lieg ich jetzt auch auf dem Kanapee, Scheint mir doch immer, daß in holperigem Lauf Über einen gefrorenen Acker ich im Pferdewagen sause.12
Eine Form existiert für uns nur so lange, als es uns schwerfällt, sie aufzunehmen, als wir den Widerstand des Materials fühlen, als wir schwanken: ist das Prosa oder Vers, solange uns »die Backenknochen schmerzen«, wie laut Pusˇkin dem General Ermolov bei der Lektüre von Griboedovs Versen.13 Indessen behandelt die Wissenschaft bis heute nur tote Dichter, und wenn sie zuweilen lebende erwähnt, dann nur solche, die ihren Frieden gefunden und literarisch ausgedient haben. Was in der Wissenschaft von der praktischen Sprache zur banalen Selbstverständlichkeit geworden ist, gilt in der Wissenschaft von der poetischen Sprache,14 die überhaupt einstweilen weit hinter der Linguistik hertrabt, immer noch als Häresie. 12 Zitat aus A. S. Pusˇkins Verserzählung »Domik v Kolomne« [›Das Häuschen in Kolomna‹]: Pusˇkin, Polnoe sobranie socˇinenij, Bd. 5, S. 84 (Strophe 6), dt. Übers.: Puschkin, Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 274. [Anm. v. A.N.] 13 Aleksandr S. Griboedov (1795–1829) wurde mit seiner Komödie Gore ot uma [›Verstand schafft Leiden‹] zu einem der Begründer des modernen russischen Dramas. Jakobsons Zitat stammt aus Pusˇkins »Putesˇestvie v Arzrum vo vremja pochoda 1829 goda« [›Reise nach Arzrum während des Feldzuges des Jahres 1829‹], in: Polnoe sobranie socˇinenij, Bd. 8, S. 441–483, hier: S. 446. Bei Pusˇkin bleibt freilich offen, ob dem General beim Lesen von Griboedovs Versen die Backenknochen aus Ärger, vor Lachen oder tatsächlich wegen der ungewohnten rhythmischen Form – wie Jakobson hier nahelegt – schmerzen. [Anm. v. A.N.] 14 Die Unterscheidung in eine »praktische« und eine »poetische Sprache« stand im Mittelpunkt zunächst der symbolistischen Poetik (hier v. a. bei Andrej Belyj und dem von Symbolisten wie Futuristen und Formalisten gleichermaßen rezipierten Literaturwissenschaftler A. A. Potebnja), darüber hinaus aber bildete diese Differenz auch den Kern einer strukturalen und damit funktionalen Unterscheidung beider Sprachsphären, wie sie im Formalismus dominierte und auch Jakobsons späterer an Karl Bühler orientierter Sprachfunktionenlehre zu Grunde lag. Der Unterschied zwischen den poetologisch orientierten Formalisten des OPOJAZ (Sˇklovskij, E˙jchenbaum, Tynjanov u. a.) einerseits und den Vertretern einer linguistischen Poetik des »Moskauer Linguistik-Zirkels« (zu denen Jakobson zählte) bestand eben darin, im ersten Fall die linguistischen Verfahren und *Strukturen einer Ästhetik bzw. Poetik unterzuordnen, wärend im anderen Fall genau umgekehrt die poetische Funktion als ein Teil im Insgesamt der Sprachfunktionen und damit der Linguistik angesehen wurde. Zwischen beiden Extrempositionen gab es freilich immer wieder Vermittlungsversuche – nicht zuletzt dann im Tschechischen Strukturalismus der 20er/30er Jahre. Vgl. Erlich, Der russische Formalismus, S. 36–57, und Hansen-Löve, Der russische Formalismus, S. 290 ff. Die im Moskauer Linguistik-Zirkel gängige Auffassung sah die »Linguistik als die Wissenschaft von jeglicher Sprache, darunter auch der künstlerischen« (Vinokur, Izbrannye raboty po russkomu jazyku, S. 255). Die radikale Gegenposition dazu vertraten die Formalisten i. e. S., die sich zunächst in Petrograd als
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Roman Jakobson
Die Gelehrten, die sich mit der Poesie der Vergangenheit befassen, pflegen dieser Vergangenheit ihre ästhetischen Gewohnheiten aufzuoktroyieren und die gerade aktuellen Formen poetischer Produktion in sie hineinzuprojizieren. Dies ist auch der Grund für die wissenschaftliche Unhaltbarkeit der Rhythmuslehre bei den Modernisten, die die heutige Deformation des syllabotonischen Verses in Pusˇkin hineinlesen. Die Vergangenheit wird hier unter dem Blickwinkel der Gegenwart gesehen und – mehr noch – bewertet; dabei ist eine wissenschaftliche Poetik erst dann möglich, wenn sie sich jeder Wertung enthält,15 denn ist es nicht für den eigentlichen Linguisten absurd, Dialekte nach ihrem relativen Wert einzustufen? 16 Die Entwicklung einer Theorie der poetischen Sprache ist erst dann möglich, wenn die Poesie als soziales Faktum behandelt, wenn eine besondere poetische Dialektologie geschaffen wird. So gesehen ist Pusˇkin das Zentrum der poetischen Kultur eines bestimmten Zeitpunkts mit bestimmter Einflußzone. Von da aus kann man die poetischen Dialekte einer Zone, die zum Kulturzentrum einer anderen tendieren, ähnlich den Mundarten der praktischen Sprache unterteilen: in Übergangsdialekte, die sich vom Gravitationszentrum eine Reihe von Kanones angeeignet, in Dialekte mit sich andeutendem Übergangscharakter, die vom Gravitationszentrum bestimmte poetische Tendenzen übernommen, und in Mischdialekte, die einzelne Fakten und Verfahrensweisen aus einem fremden Bereich eingeführt haben. Schließlich muß man die Existenz archaischer Dialekte mit konservativer Tendenz berücksichtigen, deren Gravitationszentren in der Vergangenheit liegen.17 OPOJAZ (d. h. als »Gesellschaft zum Studium der poetischen Sprache«) formierten – es waren dies v. a. Viktor Sˇklovskij, Jurij Tynjanov und Boris E˙jchenbaum: Für sie war genau umgekehrt die Linguistik zuständig für die »praktische Sprache« – die Poetik aber für die »poetische Sprache«, die ganz im Sinne der russischen Avantgarde der permanent an Automatisierung und Versteinerung leidenden Alltagssprache als Lebensnerv und verfremdende Innovatorik dient. [Anm. v. A.H.-L.] 15 Eine solche Epoche in Wertfragen wurzelt für Jakobson nicht zuletzt in Edmund Husserls Phänomenologie, die über die Vermittlung von Gustav Sˇpet im Rußland der 10er und 20er Jahre intensiv rezipiert, übersetzt und fortgedacht wurde. Vgl. dazu: Holenstein, Roman Jakobsons phänomenologischer Strukturalismus; ders., »Jakobson und Husserl«; Haardt, Husserl in Rußland. [Anm. v. A.H.-L.] 16 Eine vergleichbare Argumentation findet sich in Jakobsons Aufsatz »Linguistics and Poetics« (S. 20, dt. Übers. in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 159 f.). Auch dort fordert er eine objektive, wissenschaftliche Analyse von Wortkunst und verweist in diesem Zusammenhang auf die wertneutral-objektiven Forschungsmethoden der Sprachwissenschaft. [Anm. v. A.N.] 17 Der fragmentarische Charakter des Folgenden, das Fehlen einer strengen Lokalisierung disqualifiziert keinesfalls die Methode: Solange kein wissenschaftlich inter-
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II Man nennt Chlebnikov einen Futuristen. Seine Verse erscheinen in futuristischen Publikationen. Der Futurismus ist eine neue Bewegung in der europäischen Kunst.18 Ich will hier keine genauere Definition dieses Terminus erbringen. Das kann nur induktiv geschehen und zwar durch die Analyse einer Reihe komplexer künstlerischer Erscheinungen. Jede apriorische Formulierung muß hier dogmatisch geraten und zu einer künstlichen und verfrühten Einteilung in echten Futurismus, Pseudo-Futurismus usf. führen. Ich will nicht wieder in den methodologischen Fehler verfallen, den laut Pusˇkin seine Zeitgenossen machten, wenn sie entweder unter Romantik alle Werke subsumierten, die den Stempel des Melancholischen oder Träumerischen trugen, oder unter Romantik Neologismen und grammatikalische Fehler verstanden. Ich will nur auf ein einziges Merkmal eingehen, das einigen Kunstrichtern, die bei ihrer Analyse poetischer Fakten sachfremde Momente ins Spiel bringen, als wesentlich für den Futurismus erscheint. Dazu einige Zitate aus den Manifesten Marinettis: Wir werden besingen die großen, von der Arbeit, dem Vergnügen oder dem Aufstand bewegten Massen; die vielfarbenen und polyphonen Brandungen der Revolutionen in den modernen Hauptstädten; die nächtliche Vibration der Arsenale und Werften unter ihren starken elektrischen Monden; die gefräßigen Bahnhöfe, wenn sie die dampfenden Schlangen verschlingen; die Fabriken, die an den Seilen ihres Dampfes an die Wolken gehängt sind; die Brücken, die sich in gymnastischem Sprung auf die diabolische Messerfabrik sonnenblitzender Flüsse werfen; die abenteuerlichen Frachter, wenn sie den Horizont wittern; die Lokomotiven mit der breiten Brust, die auf den Schienen stampfen wie riesige Stahlpferde, gezäumt mit langen Rohren; den Gleitflug der Aeroplane, deren Luftschraube wirbelt wie Flaggenklatschen und die Beifallsstürme einer Enthusiastenmasse.19 pretiertes Material gesammelt ist, sind lediglich Arbeitsskizzen in der Art dialektologischer Randbemerkungen »zu Besonderheiten« möglich. 18 Zu Jakobsons futuristischer Phase vgl. die Publikation Jakobson-budetljanin. Sbornik materialov, hg. v. Jangfeldt. Vgl. hier auch Jakobson, »Der ›Zukunftianer‹ und die Wissenschaften«. In Jangfeldts Sammelband finden sich auch Jakobsons Briefe an den Futuristen Krucˇenych und sein ganz früher »Futurizm«-Aufsatz (1919); einen Rückblick in Interviewform liefert: Jakobson, Meine futuristischen Jahre. Vgl. auch Holenstein, Roman Jakobsons phänomenologischer Strukturalismus; Winner, »Roman Jakobson and Avantgarde Art«; Hansen-Löve, Der russische Formalismus, S. 99 ff.; ders., »Randbemerkungen zur frühen Poetik Roman Jakobsons«. [Anm. v. A.H.-L.] 19 Vgl. Marinetti, »Fondazione e Manifesto del Futurismo« [›Gründung und Manifest des Futurismus‹] 1909, in: ders., Teoria e invenzione futurista, S. 7 f. [Anm. v. R.J.] –
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Neue Fakten, neue Begriffe rufen in der Poesie der italienischen Futuristen eine Erneuerung der Mittel, eine Erneuerung der künstlerischen Form hervor, zum Beispiel entstehen so parole in liberta` 20 [›Worte in Freiheit‹]. Es handelt sich dabei um eine Reform auf dem Gebiet der Reportage, nicht aber auf dem Gebiet der poetischen Sprache.21 Ich vermerke in Klammern, daß ich hier nur den Theoretiker Marinetti meine. Für seine Poesie ist dies alles möglicherweise nur eine rechtfertigende Motivierung,22 eine praktische Anwendung des poetischen Faktums. In der Geschichte der Poesie finden sich dergleichen Erscheinungen in Fülle. So etwa die berühmt-berüchtigten philosophischen Erklärungen, die Gogol’ seinen Werken angedeihen ließ,23 oder Radisˇcˇevs Erläuterung: »man warf 〈…〉 dem Vers ›vo svet rabstva t’mu pretvori‹ [›in
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Vgl. die dt. Übers. in: Der Futurismus. Manifeste und Dokumente einer künstlerischen Revolution 1909–1918, S. 30–36, die von Jakobson zitierte Stelle: S. 34 (Manifest des Futurismus Nr. 11). Zur Bedeutung des italienischen Futuristen für die russischen Futuristen vgl. den Abschnitt »Manifesty ital’janskogo futuristov« in: Poljakov, Knigi russkogo kubofuturizma, S. 82–96. Allgemein zum Verhältnis des russischen zum italienischen Futurismus vgl. Ingold, Der große Bruch (dort weiterführende Literaturangaben auch zur sehr skeptischen Einschätzung des italienischen Futurismus durch die russische Avantgarde, worauf im weiteren auch Jakobsons MarinettiKritik indirekt Bezug nimmt). [Anm. v. A.H.-L.] Parole in liberta` heißt ein Manifest von Marinetti, aus dem Jakobson ebenfalls zitiert (vgl. unten S. 13). Auch in Marinettis »Manifesto tecnico« [›Technisches Manifest‹] (1912) findet sich das Schlagwort parole in liberta` [meist übersetzt mit ›befreite Worte‹]; exemplarisches Beispiel der parole in liberta` ist Marinettis ›Schlachtbeschreibung‹ mit dem Titel »Bataille. Poids + Odeur«, die das Schlachtgeschehen in einem auf Gedankenassoziationen beruhenden Telegrammstil (zerstörte Syntax, assoziative Anordnung von Substantiva etc.) nachzubilden sucht – vgl. Schmidt-Bergmann, Futurismus, S. 247 f. [Anm. v. A.N.] Zu Jakobsons Kritik des italienischen Futurismus im allgemeinen und zu seiner – wie etwa auch Kazimir Malevicˇs – Ablehnung einer »angewandten Avantgarde« im besonderen vgl. Hansen-Löve, »Randbemerkungen zur frühen Poetik Roman Jakobsons«; ders., »Malevicˇs verbaler Suprematismus als Kritik des russischen SprachFuturismus«. [Anm. v. A.H.-L.] »Motivierung« meint hier eine von außen kommende, nicht literarisch-künstlerische Determinierung des Einsatzes poetischer Verfahren. Die Formalisten unterschieden sonst klar zwischen einer kunstimmanenten »Motivierung« (motivirovka) und einer »Motivation« (motivacija), die externen Determinanten folgt (biographische, psychologische, ideologische, ökonomische Systemzwänge). Vgl. dazu Hansen-Löve, Der russische Formalismus, S. 197–200. [Anm. v. A.H.-L.] Gemeint sind etwa Gogol’s Rechtfertigungsschreiben nach der Aufführung seines Revizor-Stückes oder seine skandalösen Vybrannye mesta iz perepisok s druz’jami [›Ausgewählte Stellen aus dem Briefwechsel mit Freunden‹], 1847, dt. Übers.: Gogol, Sein Vermächtnis in Briefen. [Anm. v. A.H.-L.]
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Licht der Knechtschaft Dunkel verwandle‹] vor, er sei sehr hart und schwer auszusprechen, wegen der häufigen Wiederholung des Buchstabens T, und wegen des häufigen Zusammentreffens von Konsonanten ›bstva t’mu pretv‹; auf zehn Konsonanten kämen drei Vokale, und dabei könne man in der russischen Sprache ebenso süß schreiben wie in der italienischen 〈…〉 Einverstanden 〈…〉 wenn auch andere diesen Vers für geglückt hielten, da sie in der Härte des Verses die Schwierigkeit der Handlung selbst anschaulich ausgedrückt fanden 〈…〉«.24 Ebenso übersetzte der Geißlerprophet Varlaam Sˇisˇkov vor Gericht seine Zungenreden ins Russische.25 Doch zurück zu Marinettis Manifesten: Il nostro amore crescente per la materia, la volonta` di penetrarla e di conoscere le sue vibrazioni, la simpatia fisica che ci lega ai motori, ci spingono all’ uso dell’onomatopea 〈…〉 Vi sono diversi tipi di onomatopee: a) Onomatopea diretta imitativa elementare realistica, che serve ad arricchire di realita` brutale il lirismo, e gl’impedisce di diventare troppo astratto o troppo artistico. (Es.: pic pac pum, fucileria.) Nel mio »Contrabbando di guerra« i Zang tumb tumb, l’onomatopea stridente ssiiiiiii da` il fischio di un rimorchiatore sulla Mosa ed e` seguita dall’onomatopea velata ffiiiiii ffiiiiii, eco dell’ altra riva. Le due onomatopee mi hanno evitato di descrivere la larghezza del fiume, che viene cosı` definita dal contrasto delle due consonanti s ed f. b) Onomatopea indiretta complessa e analogica. Es.: nel mio poema »Dune«, l’onomatopea dum-dum dum-dum esprime il rumore rotativo del sole 24 Radisˇcˇev, Putesˇestvie iz Peterburga v Moskvu, S. 365 f. [Anm. v. R.J.] – Radisˇcˇev äußert sich hier zu seiner Ode »Vol’nost’« [›Freiheit‹]. Genau dieselbe Passage führt Jakobson in seiner 1965 entstandenen Radisˇcˇev-Analyse als Beispiel für die Entsprechung zwischen Lautgestalt und Thematik an; vgl. Jakobson, »›Ty chocˇesˇ’ znat’: kto ja?‹ Razbor tobol’skich stichov Radisˇcˇeva«, in: SW III, S. 321, sowie die dt. Übers. »›Du möchtest wissen: Wer bin ich?‹ Eine Analyse der Tobolsker Verse Radisˇcˇevs«, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 706 f. [Anm. v. A.N.] 25 Der Hinweis auf die Glossolalien, also das ekstatische Sprechen in Zungen der russischen Geißler-Sekten (Chlysten) taucht auf in Aleksej Krucˇenychs Manifest: »Novye puti slova« [›Die neuen Wege des Wortes‹], Petersburg 1913 (dt. Übers. in: Ingold, Der große Bruch, S. 327–33, hier: S. 329). Der Hinweis auf den Chlysten Sˇisˇkov und seine Glossolalie war Vorbild und Rechtfertigung der zaum’-Sprache der Futuristen. Zur Auseinandersetzung um die Legitimität einer solchen letztlich doch außerkünstlerischen ›Legitimierung‹ einer auf Ungegenständlichkeit und totaler Autonomie gerichteten Kunstsprache vgl. Hansen-Löve, »Randbemerkungen zur frühen Poetik Jakobsons«, S. 92 ff.; ders., »Die Kunst ist nicht gestürzt«, S. 266 ff. [Anm. v. A.H.-L.]
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africano e il peso arancione del cielo, creando un rapporto tra sensazioni di peso, calore, colore, odore e rumore 〈…〉 c) Onomatopea astratta, espressione rumorosa e incosciente dei moti piu` complessi e misteriosi della nostra sensibilita`. (Es.: nel mio poema »Dune«, l’onomatopea astratta ran ran ran non corrisponde a nessun rumore della natura o del macchinismo, ma esprime uno stato d’animo.) d) Accordo onomatopeico psichico cioe` fusione di 2 o 3 onomatopee astratte.26
Auch hier erscheint als entscheidender Anstoß für die Neuerung das Bestreben, von neuen Fakten in der physischen und psychischen Welt zu berichten. Eine ganz andere These stellte der russische Futurismus auf. Gibt es eine neue Form, so gibt es damit auch einen neuen Inhalt; die Form bedingt somit den Inhalt. Unser Sprachschaffen wirft auf alles ein neues Licht. Nicht neue Objekte des Schaffens machen seine wahre Neuheit aus. 26 Marinetti, »Lo splendore geometrico e meccanico e la sensibilita` numerica« [›Die geometrische und mechanische Leuchtkraft und die numerische Sensibilität‹] (1914), in: ders., Teoria e invenzione futurista, S. 90 f. [Anm. v. R.J.] – Dt. Übers. nach der dt. Fassung von Jakobsons Aufsatz in Texte der russischen Formalisten, Bd. II, S. 27: »Unsere wachsende Liebe zur Materie, der Wunsch, sie zu durchdringen und ihre Vibrationen zu erkennen, sowie unsere physische Verbundenheit mit den Motoren führen uns zum Gebrauch der Onomatopöie 〈…〉 Es gibt verschiedene Typen der Onomatopöie: a) Die direkte, imitative, elementare, realistische Onomatopöie, die dazu dient, die Lyrik mit brutaler Realität anzureichern, und sie davor bewahrt, zu abstrakt und zu artistisch zu werden (Beispiel: pic pac pum, Gewehrsalven). In ›Contrabbando di guerra‹ in »Zang tumb tumb« gibt die schrille Onomatopöie ssiiiiiii das Pfeifen eines Schleppers auf der Maas wieder; auf ssiiiiii folgt die verschleierte Onomatopöie ffiiiiii ffiiiiii, als Echo des anderen Ufers. Die zwei Onomatopöien haben es mir erspart, die Breite des Flusses zu beschreiben, die somit vom Kontrast der beiden Konsonanten s und f bestimmt wird. b) Die indirekte, komplexe und analogische Onomatopöie. Beispiel: In meinem Gedicht »Dune« drückt die Onomatopöie dum-dum-dum-dum-dum das rotierende Geräusch der afrikanischen Sonne und das orangefarbene Gewicht des Himmels aus, wobei sie Empfindungen von Schwere, Hitze, Farbe, Geruch und Geräusch in Beziehung setzt 〈…〉 c) Die abstrakte Onomatopöie als geräuschvoller, unbewußter Ausdruck der mehr komplexen und geheimnisvollen Bewegungen unseres Empfindens (Beispiel: In meinem Gedicht »Dune« entspricht die abstrakte Onomatopöie ran ran ran keinerlei Geräusch der Natur oder der Maschinenwelt, sondern bringt einen seelischen Zustand zum Ausdruck). d) Physisch-onomatopöetischer Zusammenklang, d. h. Fusion von zwei oder drei abstrakten Onomatopöien.« – Jakobson kritisiert an Marinettis Herleitung der Dichtersprache aus Onomatopöien primär deren Reduktion auf eine bloß mimetische Funktion als Laut- und Geräuschnachahmung (vgl. Hansen-Löve, »Randbemerkungen zur frühen Poetik Jakobsons«, S. 96 ff.). [Anm. v. A.H.-L.]
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Neues Licht, das auf die alte Welt geworfen wird, kann das wunderlichste Spiel ergeben. (Krucˇenych, Sammelband »Die Drei« 27 )
Hier wird die poetische Aufgabe klar erkannt, und gerade die russischen Futuristen sind die Begründer einer Poesie des »selbstmächtigen, selbstwertigen Wortes« 28 als des kanonisierten bloßgelegten Materials. So überrascht es nicht, daß in Chlebnikovs Poemen bald von der Mitte der Steinzeit, bald vom russisch-japanischen Krieg, bald von den Zeiten des Fürsten Vladimir oder vom Feldzug des Asparuch 29 und bald von der Zukunft der Welt die Rede ist. Noch ein letztes Marinettizitat (ich zitiere nach Sˇersˇenevicˇs Übersetzung): Lyrismus 〈…〉 ist die Fähigkeit, die Welt mit den speziellen Farben unseres wechselhaften Ich zu färben. Stellen Sie sich vor, ein Freund, der mit dieser lyrischen Fähigkeit begabt ist, befindet sich in einer Zone intensiven Lebens (Revolution, Krieg, Schiffbruch, Erdbeben usw.). Sofort danach kommt er zu Ihnen und erzählt Ihnen seine Eindrücke. Wissen Sie, was Ihr Freund ganz instinktiv tun wird, wenn er seine Erzählung beginnt? Er wird die Syntax brutal zerstören, er wird sich die Zeit für den Aufbau einer Periode schenken, wird die Interpunktion beseitigen und die Ordnung der Adjektive und wird Ihnen in aller Hast alle seine optischen, akustischen und Geruchsempfindungen nach der Willkür ihres sinnlosen Galopps in die Nerven schleudern. Das Ungestüm des Erregungsdampfs wird die Periodenröhre und das Ventil der sonst regelmäßig wie Bolzen angenieteten Interpunktionen und Adjektive sprengen. Auf diese Weise werden Sie eine Fülle von wesentlichen Worten haben, ohne jede feste Ordnung, weil Ihr Freund nur darum bemüht sein wird, alle Vibrationen seines Ich wiederzugeben 〈…〉. 30 27 Krucˇenych, »Novye puti slova« [›Neue Wege des Wortes‹], in: Manifesty i programmy russkich futuristov, S. 64–72, hier: S. 72. [Anm. v. R.J.] – Vgl. die dt. Übers. in: Ingold, Der große Bruch, S. 327–333, hier: S. 333. Der futuristische Almanach Troe [›Die Drei‹], aus dem Jakobson zitiert, erschien 1913. Dieses Zitat bringt die Kernthese der futuristisch-formalistischen Poetik und Kunsttheorie insgesamt auf den Punkt, wonach die »Form« den »Inhalt« determiniert und nicht umgekehrt (ausführlich dazu: Hansen-Löve, Der russische Formalismus, S. 114). [Anm. v. A.H.-L.] 28 Mit diesen Begriffen (samovitost’, samocel’nost’, samocennost’, d. h. Eigenmächtigkeit, Autotelie, Selbstwertigkeit) versahen die Futuristen den Anspruch auf Autonomie ihrer zaum’-Sprache (vgl. a. a. O., S. 99 ff.). [Anm. v. A.H.-L.] 29 Der protobulgarische Khan Asparuch eroberte die Dobrudscha von Byzanz und gründete das erste Bulgarische Reich (679 n. Chr.). Vgl. Chlebnikovs Poem »Asparuch« in: ders., Sobranie proizvedenij, IV, S. 195–199. [Anm. v. A.N.] 30 Manifesty ital’janskogo futurizma, vgl. Marinetti, »La parole in liberta´« [›Worte in Freiheit‹], in: ders., Teoria e invenzione futurista, S. 61. [Anm. v. R.J.] – Dt. Übers. in: Schmidt-Bergmann, Futurismus, S. 213. [Anm. v. A.N.]
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Wir sehen hier den Kult des reinsten Impressionismus, gewissermaßen ein Pendant zum »Telegrammstil der Seele«, der Peter Altenberg vorschwebte.31 D. h. wir haben es hier nicht mit einem poetischen, sondern mit einem emotionalen, affektiven Sprachsystem zu tun. Im normalen praktischen sprachlichen Denken werden nach der Formulierung Sˇcˇerbas das »Eintreffen der Empfindungen und das Resultat ihrer Assimilation vom Bewußtsein nicht als zwei zeitlich voneinander getrennte Momente unterschieden, anders gesagt, wir machen uns den Unterschied zwischen den objektiv gegebenen Empfindungen und dem Resultat der gegebenen Wahrnehmung nicht klar«.32 In der emotionalen und der poetischen Sprache 33 konzentrieren die sprachlichen Vorstellungen (die phonetischen wie die semantischen) größere Aufmerksamkeit auf sich, die Verbindung zwischen dem Lautmo31 Altenberg, »Selbstbiographie«, in: ders., Was der Tag mir zuträgt, S. 6. [Anm. v. R.J.] – Die Kleinprosa des Wiener Kaffeehauspoeten Peter Altenberg hatte in den Zehner Jahren gerade für die Versuche einer Avantgarde-Prosa (etwa bei der Dichterin Elena Guro) eine nicht unbeträchtliche Wirkung (vgl. Markov, Russian Futurism: A History, S. 20 u. 102). [Anm. v. A.H.-L.] 32 Sˇcˇerba, Russkie glasnye v kacˇestvennom i kolicˇestvennom otnosˇenii, S. 2. 33 Die frühe Lauttheorie des OPOJAZ (der »Gesellschaft zur Erforschung der poetischen Sprache«) in Petrograd lag gleichfalls ganz auf dieser Linie einer stark reduktionistischen Sicht der Zaum’-Haftigkeit als reine Lautdichtung, als radikale *»Einstellung auf die Mündlichkeit, den Laut« (ustanovka na ustnost’ ). Die »Halbverständlichkeit« (poluponjatnost’ ) als eine Bestimmung der Ästhetizität ex negativo verbindet sie mit allen anderen Formen der nicht-rationalen Sprachbenützung: Ausführlich dazu Jakubinskij, »Otkuda berutsja stichi«. Die »unverständlichen Wörter« erzeugen ein primäres Vergnügen, einen (spracherotischen) Lusteffekt – und nicht wie bei Chlebnikov einen autonomen »Sprach-Welt-Körper«. – In der emotionalaffektiven Rede (hier stand Karl Bühlers *»emotive« Sprachfunktion zweifellos Pate), ebenso wie in der poetischen Rede verschmelzen Signifikant (Laut) und Signifikat (Bedeutung) (a. a. O., S. 24); nach Sˇklovskij wird die affektiv-poetische Rede eben durch die Isolierung der Ausdrucksfunktion in der eigenwertigen »Bewegung der Sprachorgane« befähigt, »reine Emotionen«, unbegriffliche, »ungegenständliche« Vorstellungen zu suggerieren, ohne auf einen *Code von »Bildern« (bzw. *Symbolen) zurückgreifen zu müssen (oder zu wollen, wie das ja Chlebnikov auch tut): Diese Konzeption der »gegenstandslosen Emotionen«, die durch die ästhetische Intentionalität (ustanovka) ausgelöst werden, stammt zweifellos aus der zu jener Zeit enorm wirksamen Philosophie der Kunst Broder Christiansens. – Roman Jakobson stand, wie erwähnt, von allem Anfang an einer Gleichsetzung von poetischer und emotionaler (bzw. pathogener, nicht-normaler) Sprachfunktion äußerst skeptisch gegenüber, da sie seinem Grundprinzip der Autonomie der »poetischen Funktion« (auch gegenüber dem Emotional-Psychischen) fundamental zuwiderlief. Jakobson äußerte diese Kritik am Emotions-Konzept in seiner Chlebnikov-Studie; in seinen frühesten Äußerungen, als er noch unter dem Pseudonym Aljagrov fu-
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ment und der Bedeutung ist enger, intimer, und die Sprache ist infolgedessen revolutionärer, da nämlich die üblichen *Kontiguitätsassoziationen in den Hintergrund treten. Vgl. beispielsweise das an phonetischen und wortbildenden Variationen reiche Leben der Wort-Appelle, und von daher auch der Eigennamen überhaupt. Doch hierin erschöpft sich die Verwandtschaft zwischen der emotionalen und der poetischen Sprache. Wenn in ersterer der Affekt der verbalen Masse seine Gesetze diktiert, wenn eben »das Ungestüm des Erregungsdampfs die Periodenröhre sprengt«, so richtet sich die Poesie, die nichts anderes als eine Äußerung mit Ausrichtung auf den Ausdruck ist,34 sozusagen nach immanenten Gesetzen; die kommunikative Funktion, die sowohl der praktischen als auch der emotionalen Sprache zukommt, wird turistische Verse verfaßte, war er der Position Krucˇenychs jedoch durchaus nahe, wenn er diesem etwa über seine eigenen poetischen Versuche schreibt: »Das Wort ist bei mir nicht selbstwertig, denn das selbstwertige Wort setzt eine gewisse Statik im Autor voraus [d. h. eine emotionale Unbeteiligtheit] […] Im übrigen sind Sie ja gut bekannt mit der Poesie der Wahnsinnigen, und uneingeschränkt im Recht mit ihren Äußerungen über sie. […] Sie haben mich gefragt, wo ich auf Verse, die nur aus Vokalen bestehen, gestoßen wäre. Als Vorbilder dafür sind die magischen Formeln der Gnostiker von Interesse. Erinnern Sie sich, sie haben gesagt, daß eine beliebige Buchstabenreihe in linearer oder umgekehrter Reihenfolge Poesie sei und nannten dies einen dämonischen oder Untergrund-Standpunkt.« (Jakobson, »From Aljagrov’s letters«, S. 358). [Anm. v. A.H.-L.] 34 Eigentlich bildet diese These den Kern der gesamten formalistischen Poetik bzw. Ästhetik. Eben dieser Definition begegnen wir wieder in Jakobsons berühmter – auf Karl Bühler aufbauenden – Theorie der Sprachfunktionen, von denen die »poetische Funktion« sich dadurch auszeichnet, daß sich dabei die Sprache auf sich selbst bezieht: »Die Einstellung auf die Mitteilung als solche […] ist die poetische Funktion der Sprache« (Jakobson, »Linguistics and Poetics«, S. 25; in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 168). Vgl. die klare Zusammenfassung bei Holenstein, Roman Jakobsons phänomenologischer Strukturalismus, S. 59. – Genau in dieser Löschung von Determinanten und kausal-genetischen Herleitungen (der Formel ›Kunst → Leben‹) wurzelt die Kernthese der formalistisch-strukturalistischen Poetik oder Ästhetik, wonach das Ästhetische bzw. Poetische in einer funktionalen Einstellung (ustanovka) bzw. Perspektive besteht, die sich 1. vornehmlich auf die Signifikanten richtet (nach der Formel: Die poetische Sprache reduziert sich auf die »Einstellung auf den Ausdruck« und damit auf ihre »ästhetische Funktion«) und dadurch erst 2. eine eigene Semantik und Grammatik und damit ein spezifisches »Sprach-Denken« aufbaut. Auf die Ästhetisierung, d. h. der Demotivierung, Umfunktionierung, Verschiebung der »Einstellung« folgt die »Remotivierung« der Poetik als Noetik. Beide Akte gehören für Jakobson untrennbar zusammen – und in beiden Fällen geht es um die Reihenfolge der De- und Refunktionalisierungsschritte. Zum phänomenologischen Hintergrund des Begriffs ustanovka [›Einstellung‹, ›Intention‹] vgl. Hansen-Löve, Der russische Formalismus, S. 212–226. [Anm. v. A.H.-L.]
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hier auf ein Minimum reduziert.35 In bezug auf den Gegenstand der Aussage ist die Poesie indifferent, wie umgekehrt, entsprechend Sarans Formulierung, die Gebrauchsprosa, genauer die sachliche Prosa, in bezug etwa auf den *Rhythmus indifferent ist.36 Natürlich kann die Poesie die Methoden der emotionalen Sprache, verwandt wie diese ihr ist, für ihre Zwecke verwenden, und eine solche Verwendung ist für die Anfangsetappen der Entwicklung der einen oder anderen poetischen Schule, beispielsweise der Romantik, besonders charakteristisch. Aber es sind nicht die »Affektträger« (nach Sperbers Terminologie),37 nicht die Interjektionen, nicht die interjektionalisierten Worte der von den italienischen Futuristen dekretierten hysterischen Reportage, aus denen sich die poetische Sprache zusammensetzt. Wenn die bildende Kunst die Formung selbstwertigen Materials anschaulicher Vorstellungen ist, die Musik die Formung selbstwertigen Klangmaterials und die Choreographie die Formung des selbstwertigen Materials Gebärde, dann ist Poesie die Formung des selbstwertigen, »selbstmächtigen« Wortes, wie Chlebnikov sagt. Poesie ist Sprache in ihrer ästhetischen Funktion. Somit ist Gegenstand der Literaturwissenschaft nicht die Literatur, sondern die Literarizität, d. h. dasjenige, was das vorliegende Werk zum literarischen Werk macht. Doch glichen die Literaturhistoriker bislang meist einer Polizei, die eine bestimmte Person verhaften will und zu diesem Zweck für alle Fälle alles und jeden, was sich nur in der Wohnung anfindet, samt den unbeteiligten Passanten auf der Straße mitnimmt. So kam denn auch den Literaturhistorikern alles zupaß – Soziales 38, Psychologie, Politik, Philosophie. Statt einer Literaturwissenschaft kam ein Konglomerat von hausbackenen Disziplinen zustande. Man vergaß gewissermaßen, daß diese Gebiete jeweils zu entsprechenden Wissenschaften gehören – zur Philosophiegeschichte, Kulturgeschichte, Psychologie usw., und daß diese natürlicherweise auch literarische Denkmäler als defekte und zweitrangige Dokumente verwenden können. Wenn aber die Literaturwissenschaft eine Wissenschaft werden will, ist sie genötigt, das »Verfahren« als ihren einzigen »Helden« zu akzeptieren. 39 Daran anschlie35 Wenn wir eine solche Definition der Poesie akzeptieren, können wir die Forschungsmethode, die sich daraus ergibt, expressionistisch nennen. 36 Siehe Saran, Deutsche Verslehre, S. 7. 37 Siehe Sperber, Über den Affekt als Ursache der Sprachveränderung, S. 19 f. 38 Der russische Begriff »byt« ist mit »Soziales« unzureichend wiedergegeben: »byt« bezeichnet Alltägliches, Sitten und Bräuche etc. [Anm. v. A.H.-L.] 39 Diese berühmt gewordene Feststellung Jakobsons von den Verfahren als den eigent-
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ßend stellt sich grundsätzlich die Frage nach Anwendung und Rechtfertigung 40 des Verfahrens. Die Welt der Emotion, der seelischen Erlebnisse ist einer der natürlichsten Anwendungsbereiche, in diesem Fall genauer eines der gebräuchlichsten R e c h t f e r t i g u n g s m i t t e l der poetischen Sprache, sie eben ist der Lagerplatz, auf den alles geschüttet wird, was nicht gerechtfertigt, nicht praktisch verwertbar und nicht rationalisierbar ist. Wenn Majakovskij sagt: Ja sam otkro´ju slova´mi prosty´mi, kak mycˇa´nie, Va´ˇsi no´vye du´ˇsi, gulja´ˇscˇie kak fona´rnye du´gi… (»Vladimir Majakovskij. Tragedija«) 41 Ich entdecke euch mit Worten, einfach wie Gebrüll, Eure neuen Seelen, die dröhnen wie Lampenbögen… (»Vladimir Majakovskij. Eine Tragödie«)
dann sind die »Worte, einfach wie Gebrüll« ein poetisches, die Seele aber ein sekundäres, nebensächliches, nur hinzugefügtes Faktum. Die Romantiker werden immer als Pioniere der Seelenwelt, als Sänger seelischer Erlebnisse charakterisiert. Für die Zeitgenossen aber bedeutete die Romantik ausschließlich Formerneuerung und Zertrümmerung der klassischen Einheiten. Und die einzig wertvollen Zeugenaussagen sind die von Zeitgenossen. Bedürfen Einbildung und Gefühl, die rechtmäßigen Richter poetischen Schaffens, mathematischer Folgerichtigkeit und geradliniger Aufstellung der Gegenstände, um sie zu betrachten? Müssen die Gedanken numeriert aufeinander folgen, in ununterbrochener Reihenfolge, zum Addieren der vollstänlichen »Helden« der Literatur(wissenschaft) bezieht sich auf die in den vorhergehenden Passagen diskreditierte Fixierung der Literaturbetrachtung auf die Identifikation mit literarischen Helden zumal in realistischer Prosa. Der Begriff »Verfahren« (priem) war tatsächlich der eigentliche »Held« auch der formalistischen Literaturtheorie. Seine erste, klassisch gewordene Formulierung fand er in Viktor Sˇklovskijs Aufsatz: »Iskusstvo kak priem«, 1919. [Anm. v. A.H.-L.] 40 Der Begriff »Rechtfertigung des Verfahrens« (opravdanie) trägt im Formalismus vornehmlich eine kritisch-entblößende Funktion: Die Literaturanalyse entlarvt die praktischen, realistischen Motivationen als bloßen »Vorwand« für die Einfuhr von sprachlichem oder literarischem »Material« bzw. den Einsatz von »Verfahren«; die eigentliche Rechtfertigung liegt in einer innerliterarischen »Motivierung« (s. oben, Anm. 22), also in einer textimmanenten bzw. systemhaften Funktion der Kunstmittel. [Anm. v. A.H.-L.] 41 Majakovskij, »Vladimir Majakovskij. Tragedija« [›Vladimir Majakovskij. Eine Tragödie‹], in: ders., Polnoe sobranie socˇinenij, Bd. 1, S. 154; Übers. bzw. Nachdichtung in: Majakowski, Werke, Bd. 3, S. 7–26. [Anm. v. A.N.]
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digen, fehlerlosen Summe? Es erscheint genug, Tausender und Hunderter anzugeben, die Einer denkt man sich hinzu. Bin Reisender, der sich von oben herab am Bilde der Umgebung ergötzt, übergeht die Zwischenräume der Täler und umfaßt nur die malerischen Erhabenheiten des vor ihm ausgebreiteten Schauspiels. Der Maler, wenn er jenes Bild auf der Leinwand malt, folgt demselben Gesetze, er gehorcht den Wirkungen der Perspektive und schildert nur das ab, was aus der allgemeinen Masse hervorragt. Dieser Überlegung ist Byron in seinen Erzählungen gefolgt. Wenn er dabei aus der physischen in die sittliche Welt übergeht, fügt er dieser Regel noch eine weitere hinzu. Byrons Schöpfungen mußten, da er mehr als alle andern im Einklang mit seiner Epoche stand, auch dieses bedeutsame Merkmal zum Ausdruck bringen. Man kann nicht umhin, zuzustimmen, daß wir historisch nicht hätten erleben können, was wir in unserem Zeitalter erlebt haben, wenn die zeitgenössischen Begebenheiten wie ehemals allmählich sich entwickelten, ihren Uhrzeigerkreis um das alte Zifferblatt beschreibend: Heutzutage überspringt der Zeiger der Zeit gleichsam die Minuten und zählt nur noch die Stunden. Im klassischen Altertum belagerten die Heere eine Stadt zehn Jahre lang, und die Liedersänger führten in ihren Poemen Tag für Tag ein Kriegsjournal der Belagerung und der Taten eines jeden Kriegers im Besonderen; in der neueren romantischen Epoche übergeht man die Festungen auf dem Wege des Krieges und eilt geradewegs der Lösung, dem Resultat des Krieges entgegen; noch besser machen es die Poeten: sie singen nicht mehr Belagerung noch Einnahme von Städten. Ist es doch eines der charakteristischen Zeichen unserer Zeit, zu den Ergebnissen hinzustreben. In Wort und Tat überspringen wir die Verbindungsglieder langweiliger Einzelheiten und eilen den Resultaten entgegen, die es, nebenbei sei es gesagt, bei uns eigentlich nicht gibt, so daß wir unwillkürlich zu einem Gallizismus unsere Zuflucht nehmen, denn Auswirkung, Ergebnis, Schlußfolgerung geben nur ungetreu und unvollkommen den diesem Worte eigentümlichen Begriff wieder. Wie bei der wahren Geschichte, so ist es auch bei der erfundenen nicht mehr so, daß wir den Säugling aus dem Taufbecken heben und ihn bis ins hohe Alter und schließlich ans Grab geleiten, sorgfältig Tag für Tag das Frühstück, das Mittagessen, das Vesper- und das Abendbrot mit ihm teilend. Wir glauben dem Autor aufs Wort, daß sein Held oder seine Heldin essen und trinken wie wir anderen Sterblichen auch, und fordern von ihm, daß er sie uns nur in entscheidenden Augenblicken zeige; im übrigen wollen wir uns in ihre häuslichen Angelegenheiten nicht einmischen.42
42 Moskovskij Telegraf 1827, Teil 15, Nr. 10, S. 112. [ Anm. v. R.J.] – Jakobson zitiert aus einer (anonymen) Besprechung von Pusˇkins »Zigeunern«, die P. A. Vjazemskij zuzurechnen ist. Vgl. den Nachdruck in Pusˇkin v prizˇiznennoj kritike, 1820–1827: P. A. Vjazemskij, »›Cygany.‹ Poe˙ma Pusˇkina«, S. 317–322. Die von Jakobson zitierte Stelle findet sich hier auf S. 318. [Anm. v. A.N.]
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Die einförmige Genauigkeit in Geschäften und Begebenheiten, wie sie in Poemen beschrieben werden, die ermüdenden Schlachten, törichte Liebe, verkörperte Leidenschaften, die das Menschenherz wie eine Uhr zu bestimmter Zeit aufziehen, wenn der Held handeln soll, Zauberei oder höhere Gewalt, die sich immer dann einstellen, wenn sich der Autor einem fein gesponnenen Umstande entwinden muß, all diese Zugfedern sind vom übermäßigen Gebrauche allzu erschlafft, und eine große Anzahl von Poemen hat äußerst wenige Leser gefunden. Nicht weniger ermüdend sind die ewigen Eingänge zu den Liedern geworden, die Episoden, die umständlichen Beschreibungen der Ortslage und der Stammbäume der Helden, die ewigen Ausrufe: ich singe – oder die Anrufung der Muse. Mit einem Wort, die Menschen forderten vom Poem etwas anderes; sie fühlten, daß es etwas Besseres, Stärkeres, Anregenderes geben könne und warteten 〈…〉 Da begann Byron, das Erfordernis seines Zeitalters fühlend, in einer Sprache zu sprechen, die dem Herzen der Söhne des neunzehnten Jahrhunderts nahe war 〈…〉 Vollkommen die Erfordernisse seiner Zeitgenossen erfassend, schuf er eine neue Sprache zum Ausdruck neuer Formen. Die methodische, ausführliche Beschreibung, alle Erklärungen im Vorhinein, Einführungen, Herleitungen ab ovo gab Byron auf. Er begann die Erzählung der Begebenheiten in der Mitte oder am Ende, ohne sich im geringsten um die Zusammenfügung der Teile zu sorgen. Seine Poeme sind aus Bruchstücken geschaffen 〈…〉 43
Zweifellos wurde also hier ein bestimmtes literarisches Verfahren logisch gerechtfertigt – durch Heranziehung der zerrissenen titanischen Seele, der eigenmächtigen Einbildung. In embryonaler Gestalt finden wir dasselbe Verfahren bei den Sentimentalisten, motiviert beispielsweise durch die sogenannte sentimentale Reise.44 Ebenso sind die naturphilosophischen, mystischen Elemente des romantischen künstlerischen Credo lediglich Rechtfertigung einer irrationalen poetischen Struktur. Hierher gehören auch Träume, Fieberphantasien und andere pathologische Erscheinungen als poetisches Motiv. Eine charakteristische Illustration dieses Typs ist der Symbolismus. Nehmen wir die Scherzrede des Typs: »Sˇel ja, stoit izbusˇka, zasˇel, kvasˇnja zˇensˇcˇinu mesit, ja i usmechnul, a kvasˇne ne ponravilos’, ona chvatit pecˇ’ iz lopaty, chotela udarit’; ja cˇerez ˇstany skocˇil, da i porog vyrval, da 43 Syn Otecˇestva 1829, Teil 125, Nr. 15, S. 37 f. [Anm. v. R.J.] – Die Textstelle stammt aus einem anonym erschienenen Artikel: »Razbor poe˙my ›Poltava‹, socˇ. Aleksandra Sergeevicˇa Pusˇkina«; Autor war nach heutigen Erkenntnissen F. B. Bulgarin; ein Abdruck findet sich in: Pusˇkin v prizˇiznennoj kritike. 1928–1930, S. 132– 145; die von Jakobson zitierte Stelle: S. 133. [Anm. v. A.N.] 44 Zum russischen Sentimentalismus und vor allem zum konstruktiven Motiv der Reise vgl. Meyer, Romantische Orientierung. [Anm. v. A.H.-L.]
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i ubezˇal« 45 [›Ging fürbaß, steht ein Hüttchen, ging hinein, knetet der Teig die Frau, ich grinste, dem Teig gefiel es nicht, er packt den Ofen aus der Schaufel, will mich schlagen; ich sprang über die Hosen, und riß die Schwelle los, und entfloh‹] und vergleichen sie mit einem Abschnitt aus Gogol’: Vse v nem obratilos’ v neopredelennyj trepet, vse cˇuvstva ego goreli, i vse pered nim okinulos’ kakim-to tumanom. Trotuar nessja pod nim, karety so skacˇusˇcˇimi losˇcˇad’mi kazalis’ nedvizˇimi, most rastjagivalsja i lomalsja na svoej arke, dom stojal krysˇeju vniz, budka valilas’ k nemu navstrecˇu, a alebarda cˇasovogo, vmeste s zolotymi slovami vyveski i narisovannymi nozˇnicami, blestela, kazalos’, na samoj resnice ego glaz. I vse e˙to proizvel odin vzgljad, odin povorot chorosˇen’koj golovki. Alles in ihm verwandelte sich in ein unbestimmtes Zittern, alle seine Gefühle entbrannten, und alles vor ihm überzog sich mit einem Nebel; das Trottoir raste unter ihm dahin, die Kutschen mit den galoppierenden Pferden schienen unbeweglich, die Brücke dehnte sich aus und brach an ihrem Bogen, ein Haus stand mit dem Dach nach unten, das Schilderhäuschen schleuderte sich ihm entgegen, und die Hellebarde der Wache, zusammen mit den goldenen Worten der Aushängeschilder und der aufgemalten Schere glänzte, schien es, grad auf der Wimper seiner Augen. Und all dies hatte ein einziger Blick, eine einzige Wendung des hübschen Köpfchens bewirkt. (»Nevskij Prospekt«) 46
Das Verfahren, das in der Scherzrede durch humoristische Anwendung gerechtfertigt war, ist bei Gogol’ durch den Affekt motiviert. Bei Chlebnikov in dem Poem »Zˇuravl’« [›Der Kranich‹] sieht ein Knabe, wie Fabrikschornsteine zu tanzen anfangen, wie ein Aufstand der Dinge ausbricht: Na plo´ˇscˇadi v vla´gu vchodja´ˇscˇego ugla´, Gde zla´tom sija´jusˇcˇaja igla´ Pokry´la kla´dbisˇcˇe care´j, Tam ma´l’cˇik v u´zˇase ˇseptal: ej-ej! Smotrı´ zakacˇa´lis’ v chme´le tru´by – te! Bledne´li v u´zˇase zaiki guby, I vzo´r prikovan k vysote´. ˇ to´? mal’cˇik bre´dit na javu´? C Ja mal’cˇika zovu´. No o´n molcˇ´ıt i vdru´g bezˇ´ıt: 45 Oncˇukov, Severnye skazki, S. 74. 46 Gogol’, »Nevskij prospekt«, in: Polnoe sobranie socˇinenij, Bd. 3, S. 19; dt. Übers. in: Gogol, Sämtliche Erzählungen, S. 735–776. [Anm. v. A.N.]
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– Kakı´e stra´ˇsnye skacˇkı´! Ja me´dlenno dostaju´ ocˇki. i to´cˇno: tru´by podyma´li svoi ˇsei. (I, 76) 47 Auf dem Platz ins Naß einspringenden Winkels, Wo die goldglänzende Nadel Bedeckte den Friedhof der Zaren Dort der Knabe entsetzt Flüsterte: he – he! Sieh mal da kriegten das Wanken im Rausch Die Schlote – da! Es erbleichten im Schrecken dem Stottrer die Lippen Und sein Blick in die Höhe gebannt. Was? Der Knabe träumt im Wachen? Ich rufe den Knaben. Aber er schweigt und plötzlich rennt er: – Was für schreckliche Sprünge! Ich krame langsam die Brille vor. Und richtig die Schlote reckten die Hälse.
Hier haben wir die Realisierung derselben *Trope vor uns, die Projektion eines literarischen Verfahrens in künstlerische Realität, die Umwandlung einer poetischen Trope in ein poetisches Faktum, in eine Sujetstruktur.48 Aber diese Struktur ist hier immer noch teilweise logisch durch einen pathologischen Zustand gerechtfertigt. In einem anderen Poem Chlebnikovs jedoch, in der »Marquise Desaix«,49 entfällt auch diese Motivierung. In einer Ausstellung werden die Bilder, dann die übrigen Dinge lebendig, und die Menschen erstarren: No pocˇemu´ uly´bka s skro´mnost’ju ucˇenı´cy goto´va otve´tit’: ja´ iz ka´mnja i goluba´ja-s. No pocˇemu´ tak bezposˇcˇa´dno i bez nade´zˇdy 47 Chlebnikov, »Zˇuravl’« [›Der Kranich‹], 1910, dt. Übers. in: Chlebnikov, Werke, Bd. 1, S. 244–248; vgl. dazu Ingold, »Zur Komposition von Chlebnikovs KranichPoem (›Zˇuravl’‹)«. [Anm. v. A.H.-L.] 48 Dieses Verfahren der »Realisierung« einer Trope, d. h. einer semantischen Ausgangsfigur (*Metapher, *Metonymie, *Synekdoche etc.) zu einem narrativen Motiv deckt sich weitgehend mit dem von Jakobson hier erstmals klar formulierten textgenerativen Prinzip der »Entfaltung« (vgl. Hansen-Löve, »Entfaltung, Realisierung«; ders., Der russische Formalismus, S. 121–172). [Anm. v. A.H.-L.] 49 Chlebnikov, »Markiza De˙zes«, in: Sobranie proizvedenij, IV, S. 225–238. Dt. Übers. von Roland Erb in: Chlebnikow, Ziehn wir mit Netzen die blinde Menschheit, S. 29–41. [Anm. v. A.N.]
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Upa´li vdru´g s osnegı´znennych te´l ode´zˇdy. Se´rdce, koto´romu by´li dostu´pny vse´ cˇu´vstva dliny´, Vdru´g sta´lo ko´m bezu´mmoj glı´ny. Smeja´s’, urcˇa´ i gogocˇa´, Tvar’ vosstae¨t na bogacˇa´. Po´d ten’ju nezrı´moj pugacˇa´ Oni rabo´v zazˇglı´ mjate´zˇ. I kto´ ich zˇe´rtvy? My´ te zˇe lju´di, te´-zˇ. Sı´nie i kra´sno-zele´nye ku´ry Scho´djat s ˇslja´p i klu´jut uzde´l’e nemcˇu´ry. ˇ ervo´nnye zapla´ty zubo´v, C Stoja´ˇscˇich, ka´k vy´chodcy grobo´v. Von, ska´lja zu´by i peregonja´ja, skacˇet gornosta´ev sne´zˇnaja cˇeta´, Pokı´nuv plecˇi, i ja´rko-sı´ni kocˇeta´. Tam kolocı´tsja py´ˇsnym sno´pom ro´zˇ’. I lı´ca ljude´j peredaju´t ej dro´zˇ’. Sˇcˇegle´nok v’e´t gnezdo´ v cˇ’e´m-to izumle´nnom rte´. I vse¨ priblı´zilos’ k taı´nstvennoj cˇerte´. (IV, 234) Aber warum ist das Lächeln mit der Bescheidenheit der Schülerin bereit zu antworten: Ich bin aus Stein und blau, Aber warum so erbarmungslos und ohne Hoffnung Fielen plötzlich der verschneeigten Leiber Kleider. Das Herz, dem zugänglich waren alle Gefühlslängen, Wurde plötzlich ein Klumpen unvernünftigen Lehms. Lachend, knurrend und gackernd Steht die Kreatur gegen den Reichen auf. Unter dem unsichtbaren Schatten des Uhus Entfachten sie der Sklaven Aufstand. Und wer sind ihre Opfer? Wir dieselben Menschen, dieselben. Blaue und rotgrüne Hühner Kommen von den Hüten herunter und picken des Schwaben Handarbeit. Goldrote Flicken der Zähne, Die stehen wie Gräbern Entstiegene. Fort zähnefletschend, und überholend springt der Hermeline weißes Paar, Verlassend die Schultern und die grell-blauen Hähne. Dort jahrt sich in üppiger Garbe der Roggen. [Und von den Gesichtern der Menschen empfängt er ein Zittern.] Der junge Stieglitz baut sein Nest in jemandes verblüfftem Mund. Und alles hat sich der geheimnisvollen Grenze genähert.
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Eine analoge Realisierung und Bloßlegung des Verfahrens 50 von jeglicher logischen Motivierung finden wir in der »Tragödie« Majakovskijs (ein literarisches »Wunder«). I vdru´g Vse´ ve´ˇscˇi Kı´nulis’, Razdira´ja go´los, Skı´dyvat’ lochmo´t’ja izno´ˇsennych ime´n. Vı´nnye vitrı´ny, Ka´k po pa´lcu satany´, Sa´mi plesnu´li v dnı´ˇscˇa flja´zˇek. U o´bmersˇego portno´go Sbezˇa´li ˇstany´ I posˇlı´ – Odnı´ – Bez cˇelove´cˇ’ich lja´zˇek! P’ja´nyj – Razı´nuv cˇe´rnuju past’ – Vy´valilsja iz spa´l’ni komo´d: Korse´ty sleza´li, Boja´s’ upa´st’, Iz vy´vesok »Robes et modes«.51 Und plötzlich Alle Dinge Warfen sich, Die Stimme zerreißend, Abzuwerfen die Lampen abgetragener Namen. Die Schaufenster der Weinläden, Wie auf einen Wink Satans, Spritzten selbst in die Böden der Flaschen. Dem erstarrten Schneider Entwischten die Hosen und liefen – Allein. – 50 Gemeint ist mit »Bloßlegung des Verfahrens« (obnazˇenie priema) die Orientierung der Aufmerksamkeit bzw. Intention (ustanovka) des Autors wie des Lesers weg von den Signifikaten, den Gegenständen der Darstellung und Aussage – hin zu den Signifikanten, die solchermaßen überhaupt erst ›fühlbar‹ und damit auch reflektierbar werden. Es ist dies eine der Grundlagen des Verfremdungsprinzips überhaupt (Hansen-Löve, Der russische Formalismus, S. 197 ff.). [Anm. v. A.H.-L.] 51 Majakovskij, »Vladimir Majakovskij. Tragedija«, in: ders., Polnoe sobranie socˇinenij, Bd. 1, S. 163; dt. Übers.: Majakowski, Werke, Bd. 3, S. 18 f. [Anm. v. A.N.]
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Ohne menschliche Schenkel. Betrunken – Aufreißend den schwarzen Rachen – Wälzte sich aus dem Schlafzimmer die Kommode: Die Korsetts stiegen ab, In der Furcht, zu fallen Aus den Schildern »Robes et modes«.
Die Stadt liefert dankbares Faktenmaterial für die Ausfüllung des Scherzreden-Schemas und verwandter Schemata, wie aus den angeführten Beispielen aus Gogol’, Majakovskij und Chlebnikov ersichtlich ist. Eine Reihe poetischer Verfahrensweisen findet im »Urbanismus« Anwendung. Daher die urbanistischen Verse Majakovskijs und Chlebnikovs. Doch daneben finden wir bei Majakovskij: »Laßt die Städte, dumme Menschen« (»Ljubov’« [›Liebe‹], 1913).52 Oder bei Chlebnikov: Est’ ne´kij lako´mka i tolstja´k, koto´ryj lju´bit protyka´t’ ve´rtelom ´ımenno cˇelove´cˇeskie du´ˇsi, slegka´ naslazˇda´etsja ˇsipe´n’em i tre´skom, vı´dja blestja´ˇscˇie ka´pli, pa´dajusˇcˇie v ogo´n’, steka´jusˇcˇie vnı´z, i e˙tot tolstja´k – go´rod. (IV, 211) 53 Es gibt einen Näscher und Dickwanst, der liebt es, namentlich menschliche Seelen auf einen Bratspieß zu stecken, und freut sich leichthin am Zischen und Spritzen, wenn er die glänzenden Tropfen sieht, die ins Feuer fallen und hinabrinnen, und dieser Dickwanst ist die Stadt.
Was ist das – ein logischer Widerspruch? Überlassen wir es doch anderen, den Dichter auf die Gedanken festzulegen, die in seinen Werken ausgesprochen sind! Dem Dichter Ideen und Gefühle vorzuhalten ist genauso absurd wie das Verhalten des mittelalterlichen Publikums, das den Darsteller des Judas verprügelte, und ebenso unsinnig wie der Versuch, Pusˇkin des Mords an Lenskij zu beschuldigen. Warum soll der Dichter für ein Duell der Gedanken eher verantwortlich sein als für eines mit Schwertern oder Pistolen? Hier ist anzumerken, daß im Kunstwerk vorzugsweise nicht mit Gedanken, sondern mit sprachlichen Fakten operiert wird. Es ist hier noch nicht der Ort, sich ausführlich mit dieser bedeutsamen und schwierigen Frage auseinanderzusetzen. Nur zur Illustration führe ich Beispiele eines formalen *Parallelismus 54 an, der nicht von einem semantischen begleitet wird. 52 Vgl. Majakovskij, Polnoe sobranie socˇinenij, Bd. 1, S. 52. [Anm. v. A.N.] ˇ ortik« [›Das Teufelchen‹], Sobranie proizvedenij, IV, 211. [Anm. 53 Chlebnikov, »C v. A.N.] 54 Die formalistische Parallelismus- und Wiederholungstheorie im allgemeinen und
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Ne po ne´bu tu´cˇki cho´djat, Po nebe´snoj vysote´, Ne po de´vke pa´rni so´chnut, Po devı´ˇc’ej krasote. Nicht am Himmel Wölkchen ziehen, An der himmlischen Höhe, Nicht nach Mädchen Burschen verlangen, Nach Mädchenschönheit. ˇ astusˇka) 55 (C Ne tru´bon’ka trubı´t pa´no po utru´, Polikse´na pla´cˇet ra´no po kose´. Nicht Trompetchen trompetet früh am Morgen, Poliksena weint in der Früh um den Zopf.56 (Hochzeitslied) Boja´n” 〈…〉 rasteka´ˇsesja my´sliju po´ dre´vu, se´rym” vo´lkom” po zemlı´, ˇs´ızym” orlom” po´d” oblaky´. (Slovo o Polku Igoreve) Bojan 〈…〉 lief in Gedanken über den Baum, als grauer Wolf über die Erde, als graublauer Adler 57 unter den Wolken. (Igorlied ) 58
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jene der *Äquivalenz bei Jakobson geht auf Aleksandr Veselovskijs ParallelismusKonzeption zurück, die sich aus den Studien zu den Wiederholungsstrukturen der Folklore entwickelte. Immer wieder geht es darum, den »formalen« Parallelismus als Ursache für einen »inhaltlichen« bzw. »psychologischen Parallelismus« zu deuten. Im Grund wurde damit das für die Poetik zentrale Prinzip der Wiederholung bzw. Nachbarschaft von Äquivalenzen auf der Ebene der Signifikanten und deren Projektion auf jene der Signifikate etabliert (ausführlich dazu: Hansen-Löve, Der russische Formalismus, S. 242 ff.). Vgl. Jakobsons großen Parallelismus-Aufsatz: »Grammatical Parallelism and its Russian Facet«, in: SW III, S. 98–135; dt. Übers. in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 302–364. [Anm. v. A.H.-L.] ˇ astusˇka bezeichnet ein in der russischen Folklore geläufiges Spottlied in Gestalt C eines Vierzeilers, das in der Regel – wie auch andere folkloristische Kurzformen – über eine stark profilierte semantisch-syntaktische Struktur verfügt und sich daher ideal für Textanalysen eignet. Die Kursivsetzungen in den Zitaten markieren jeweils die äquivalenten *Lexeme oder Textteile. [Anm. v. A.H.-L.] Bei den kursiv wiedergegebenen Ausdrücken handelt es sich im Russischen jeweils um Fügungen mit der Präposition »po«. [Anm. d. Übs.] Im Russischen entspricht den kursiv wiedergegebenen Ausdrücken jeweils ein *Instrumental. [Anm. d. Übs.] Die Verse entstammen der Einleitungspassage des Igorlieds: Slovo o polku Igoreve, S. 9. [Anm. v. A.H.-L.]
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Kupec sprosil u matrosa: kak umer tvoj otec? Pogib na more. A ded? – Tozˇe. – Kak zˇe ty resˇaesˇ’sja ezdit’ po morju? – A kak umer tvoj otec? Na sobstvennoj krovati. – A ded? – Tozˇe. – Kak zˇe ty resˇaesˇ’sja lozˇit’sja spat’ v postel’? (Nravoucˇitel’nyj rasskaz). Der Kaufmann fragte den Matrosen: Wie starb dein Vater? Er kam auf See um. Und dein Großvater? – Ebenfalls. – Wie bringst du es da fertig, zur See zu fahren? – Und wie ist dein Vater gestorben? In seinem Bett.59 Und dein Großvater? – Ebenfalls. – Wie bringst du es da fertig, dich ins Bett schlafen zu legen? (Moralische Erzählung) 60
Alle diese Beispiele zeichnen sich in erster Linie dadurch aus, daß hier identische Kasusformen in unterschiedlichen Bedeutungen verwendet werden. So hat in der letzten Erzählung »auf See« nicht nur *lokative Bedeutung, wie »im Bett«, sondern auch eine kausative Färbung, was die formale Identität aber nicht hindert, die Moral zu bilden. So weisen theoretisierende Äußerungen von Dichtern oft logische Schwächen auf, da sie in unzulässiger Weise ein Wortgeflecht statt eines logischen Gedankengangs aus der Poesie in die Wissenschaft, in die Philosophie übertragen. Bevorzugtes Motiv von Chlebnikovs Poesie ist die Metamorphose 61. Zum Beispiel: By´li napo´lneny zvu´kom trusˇcˇo´by, Le´s zvene´l i stona´l, ˇ to´by C Zve´rja ocho´tnik kop’e´m dokona´l. Ole´n’, ole´n’, zacˇem on tja´zˇko V roga´ch glago´l ljubvı´ nese´t? Strely´ vsporchnu´la me´d’ na lja´zˇku, I ne osˇ´ıbocˇen rascˇe´t. Sejcˇas on slo´mit no´gi o´ zem’ I sme´rt’ uvı´dit prozorlı´vo, I ko´ni ska´cˇut govorlı´vo: »Ne´t, ne napra´sno stro´jnych vo´zim«. Napra´sno pre´lest’ju dvizˇe´nij I krasoto´j nemno´go de´v’ego lica´ Izbe´gnut’ ty stremı´lsja porazˇe´nij, 59 Im Russischen stehen hier zwei Fügungen mit der Präposition »na« (auf See – na more; im Bett – na krovati). [Anm. d. Übs.] 60 Textstelle konnte nicht verifiziert werden. [Anm. v. A.N.] 61 Jakobson bezeichnet mit Metamorphose einen Sonderfall der Realisierung bzw. Entfaltung semantischer *Figuren zu narrativen Motiven oder Texten (vgl. HansenLöve, Der russische Formalismus, S. 137 ff.). [Anm. v. A.H.-L.]
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Kop’e´m iska´vsˇich begleca´. Vse´ blı´zˇe ko´nskoe dycha´n’e, I nı´zˇe ro´g tvoı´ch vise´n’e, I cˇa´ˇscˇe lu´ka trepycha´n’e, Ole´nu ne´tu, ne´t spase´n’ja. No vdru´g u nego´ pokaza´las’ grı´va, I o´stryj l’vı´nyj ko´got’, I bezzabo´tno i igrı´vo On pokaza´l isku´sstvo tro´gat’. Be´z nesogla´s’ja i be´z krı´ka Onı´ leglı´ v svoı´ groby´, On zˇe stoja´l s osa´nkoju vlady´ki – By´li sozerca´emy ponı´ksˇie raby. (Izbornik, »Trusˇcˇoby«, II, 34) Waren erfüllt vom Klang die Dickichte, Der Wald dröhnte und stöhnte, Damit Das Wild der Jäger mit dem Spieß erlegte. Hirsch, Hirsch, warum er schwer Im Geweih das Liebeswort trägt? Des Pfeiles Kupfer stob auf den Schenkel, Und nicht gefehlt ist die Berechnung. Gleich wird die Läufe er einknicken an die Erde Und den Tod erblicken scharfsichtig, Und die Pferde werden sagen geschwätzig: »Nein, nicht umsonst die Schönen ziehen wir«. Vergebens durch den Reiz der Bewegungen, Und die Schönheit des etwas jungfräulichen Gesichts Zu fliehen suchtest du die Niederlagen, Die mit dem Spieß den Flüchtling Suchenden. Immer näher das Pferdeschnaufen, Und niedriger deines Geweihs Hängen, Und häufiger des Bogens Schwirren, Dem Hirsch ist nicht, nicht ist mehr Rettung. Doch plötzlich zeigte sich an ihm eine Mähne Und eine scharfe Löwenkralle, Und sorglos und spielerisch Zeigte er die Kunst zu rühren. Ohne Widerspruch und ohne Schrei Legten sie sich in ihre Särge Er aber stand mit der Haltung des Herrschers Es wurden geschaut gebeugte Knechte. (Sammlung, »Dickichte«) 62
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Wir charakterisierten oben die Metamorphose als Realisierung einer verbalen Struktur; gewöhnlich ist diese Realisierung die zeitliche Entfaltung eines umgekehrten Parallelismus (namentlich der *Antithese). Wenn der negative Parallelismus eine metaphorische Reihe zugunsten einer realen negiert, dann verneint der umgekehrte Parallelismus die reale Reihe zugunsten der metaphorischen.63 Z. B.: Te lesa´, cˇto´ stoja´t na cholma´ch, ne lesa´: to vo´losy, poro´ssˇie na kosma´toj golove lesno´go de´da. Pod ne´ju v vode mo´etsja boroda´, i pod borodo´ju i nad volosa´mi vyso´koe ne´bo. Te luga – ne luga´: to zele¨nyj po´jas, perepojasa´vsˇij poseredı´ne kru´gloe ne´bo 〈…〉 (Gogol’, »Strasˇnaja mest’«) 64 Diese Wälder, die auf den Hügeln stehen, sind keine Wälder: das sind Haare, die auf dem Zottelkopf des Waldgeists wachsen. Unter dem Kopf wird im Wasser der Bart gewaschen, und unter dem Bart und über den Haaren ist der hohe Himmel. Diese Wiesen sind keine Wiesen: das ist ein grüner Gürtel, der in der Mitte den runden Himmel umgürtet 〈…〉 (Gogol’, »Schreckliche Rache«) Vy´ du´maete – E˙to so´lnce ne´zˇnen’ko Tre´plet po ˇscˇe´cˇke kafe´. E˙to opja´t’ rasstre´livat’ mjate´zˇnikov Grjade´t genera´l Galife˙ (Majakovskij) 65 Ihr denkt, Da klopft die Sonne zärtlich Aufs Bäckchen dem Cafe. Da wieder, Rebellen zu erschießen, Schreitet General Galife´. (Majakovskij) 62 Das Gedicht wurde erstveröffentlicht in: Izbornik stichov, hg. v. A. Krucˇenych, Petersburg 1914. Dt. Übers. in: Chlebnikov, Werke, Bd. 1, S. 249. [Anm. v. A.N.] 63 Während im »umgekehrten Parallelismus« die »reale Reihe« auf die »figürlichmetaphorische Reihe« zurückgeführt wird, ist es im »negativen Parallelismus« genau umgekehrt (ausführlich: Hansen-Löve, Der russische Formalismus, S. 140 ff.). [Anm. v. A.H.-L.] 64 Gogol’, »Strasˇnaja mest’«, in: ders., Polnoe sobranie socˇinenij, Bd. 1, S. 244–282, hier: S. 246; dt. Übers.: Gogol, Sämtliche Erzählungen, S. 182. [Anm. v. A.N.] – Gerade dieser Erzählung hatte auch Andrej Belyj in seinem Werk Masterstvo Gogolja eine Analyse gewidmet, die Jakobsons bzw. formalistische Textanalytik mit symbolistischer verknüpft. [Anm. v. A.H.-L.] 65 Majakovskij, Oblako v ˇstanach [›Wolke in Hosen‹], in: ders., Polnoe sobranie socˇinenij, Bd. 1, S. 188. Dt. Übers. in: Majakowski, Werke, Bd. 3, S. 22 f. [Anm. v. A.N.]
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Vielfältige Beispiele für den umgekehrten Parallelismus hält u. a. die erotische Poesie bereit. Nehmen wir an: Gegeben ist ein reales Bild ›Kopf‹, dazu die Metapher ›Bierkessel‹. Ein negativer Parallelismus ist dann: »das ist kein Bierkessel, sondern ein Kopf«. Die Logisierung des Parallelismus ist der Vergleich: »Ein Kopf wie ein Bierkessel«. Ein umgekehrter Parallelismus: »Kein Kopf, sondern ein Bierkessel«. Und schließlich die zeitliche Entfaltung des umgekehrten Parallelismus – die Metamorphose –: »der Kopf wurde zum Bierkessel« (»der Kopf ist k e i n Kopf m e h r , sondern ein Bierkessel«). ˇ ortik« [›Das Teufelchen‹] erleben wir den RealisieIn Chlebnikovs »C rungsprozeß der verbalen Struktur gleichsam mit: Side´lec (s kru´zˇkoj v ruke´): »Napı´tok ocho´tno poda´m Prisˇe´dsˇim ko mne´ gospoda´m. Kraja´ pe´nnogo staka´na ˇsirokı´ i o´bly, O, ne chotı´te li, sfı´nksy, kuso´cˇka vo´bly? ´ vna i do Ra´ka, – Pı´vo vzojde´t do O O, ne ugo´dno li, sfı´nksy, ra´ka? Pı´vo ne doro´zˇe kope´ek pjatı´, Vzmetne´t do mle´cˇnogo putı´. V moe´m staka´ne zve´zdnaja pe´na, V obsˇ´ırnom ne´be uzna´t’ podno´s s pivno´j zaku´skoj – Oby´cˇaj no´vo-ru´sskij.« (Staka´n pı´va prinima´et razme´ry vsele´nnoj.) (IV, 223 f.) Der Schenk (mit dem Krug in der Hand): »Getränk gebe ich gern Den zu mir kommenden Herrn. Die Ränder des schäumigen Glases Sind breit und rund, – O wollt ihr Sphinxen nicht einen Bissen Fisch? Das Bier schäumt bis zum Widder und zum Krebs, – Ist nicht, Sphinxe, gefällig ein Krebs? Das Bier kostet nicht mehr als fünf Kopeken, Wirbelt empor zur Milchstraße. In meinem Glas ist Sternenschaum, Am weiten Himmel ist ein Tablett mit Imbiß zum Bier zu erkennen, Neurussische Sitte.« (Das Bierglas nimmt die Ausmaße des Weltenraums an.)
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Eben diesen Prozeß der Realisierung eines umgekehrten Parallelismus als Sujetstruktur haben wir in Gogol’s »Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen« 66 sowie in Sologubs Erzählung »In Gefangenschaft«.67 Ein Beispiel für die Realisierung eines direkten negativen Parallelismus: On uvı´del na Marı´nkinom te´remi, A sidja´t tu´to go´lub so golu´bkoju, Da noso´k k nosku´, sı´dja, liku´jutsja A pra´vil’nyma kryla´mi obnima´jutsja. Razgore´los’ u Dobry´ni retı´vo se´rdce, A natja´gal li Dobry´njusˇka svo´j tugo´j lu´k, I da nakla´dal li Dobry´nja kale´nu strelu´, Da strelja´l on tut vo go´luba s golu´bkoju, Ne popa´l tut on vo go´luba s golu´bkoju, A popa´l on ko Marı´nki vo vyso´k te´rem, Da vo to´ li to v oko´ˇsecˇko kosja´ˇscˇato. A razbı´l u nej oko´lenku steko´lcˇatu, A slomı´l u nej price´lenku sere´brjanu, A ubı´l on u Marinki druzˇka´ mı´logo, A i mlado´go Tuga´rina Zmı´evicˇa.68 Er sah auf Marinkas Turm, Sitzt dorten Taub und Täubchen, Und Nas’ an Naschen sitzen sie und küssen sich, Mit ihren Schwingen umarmen sie sich. Da entbrannte Dobrynja das heftige Herz, Spannte Dobrynjusˇka seinen starken Bogen Und legte Dobrynja einen geglühten Pfeil ein, Und schoß er hier nach Taub und Täubchen, Nicht traf er hier auf Taub und Täubchen, Traf auf Marinka in den hohen Turm, In das Fensterchen mit den Pfosten, Zerschlug ihr das Fensterlein, das gläserne, Brach ihr das Riegelchen, das silberne, Erschlug der Marinka den Freund den lieben, Auch den jungen Tugarin Zmeevicˇ. 66 Vgl. Gogol’ Polnoe sobranie socˇinenij, Bd. 3, S. 191–214; dt. Übers. in: ders., Sämtliche Erzählungen, S. 788–812. [Anm. v. A.N.] 67 Vgl. Sologub, »V plenu«. [Anm. v. A.N.] 68 Onezˇskie byliny, zapisannye A. F. Gil’ferdingom letom 1871 goda, Bd. 3, Nr. 227. [Anm. v. R.J.] – Die Textstelle entstammt der Byline »Dobrynja i Marinka« [›Dobrynja und Marinka‹], in der Ausgabe 1951, S. 214. [Anm. v. A.N.]
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Hier wird eine Formel folgenden Typs realisiert: Taube und Täubchen schnäbeln, Dobrynja schoß auf Taube und Täubchen: nicht zwei Tauben schnäbeln, er schoß nicht auf Taube und Täubchen, sondern schoß hin zu Marinka in den hohen Turm, – erschlug der Marinka den lieben Freund. Ein Beispiel für die Realisierung eines Vergleichs finden wir in Chlebnikovs Stück »Osˇibka smerti« [›Irrtum des Todes‹]. Fräulein Tod 69 sagt, ihr Kopf sei leer wie ein Glas. Ein Gast verlangt das Glas. Tod schraubt sich den Kopf ab (IV, 251 f.).70 Ein Beispiel, bei dem beide Glieder des Parallelismus realisiert werden, und zwar nicht nacheinander, sondern gleichzeitig: S brı´tym, chudy´m lico´m i v dlı´nnych volosa´ch probega´et ucˇe´nyj i kricˇ´ıt, ´ zˇas, ja vzja´l kuso´cˇek tka´ni, raste´nija, sa´mogo razryva´ja na sebe´ volosy´: »U obyknove´nnogo raste´nija, i vdrug po´d vooruzˇe´nnym gla´zom on, izmenı´v zlym u´myslom svoı´ ocˇerta´nija, sta´l Volynskim pereu´lkom s vychodja´ˇscˇimi i vchodja´ˇscˇimi lud’mı´, s poluzave´ˇsennymi za´navesjami o´knami, s cˇita´jusˇcˇimi i pro´sto sidja´ˇscˇimi dru´g za dru´gom usta´lymi lud’mı´, i ja ne zna´ju, kuda mne´ idtı´, – v kuso´cˇek raste´nija pod uvelicˇ´ıtel’noe steklo´, ilı´ v Voly´nskij pereu´lok, gde ja zˇivu´. Tak ne odı´n i to´t zˇe ja, ta´m i zde´s’, pod uvelicˇ´ıtel’nym steklo´m, v kuske´ raste´nija i v vecˇernem dvore´«. ˇ ortik«; IV, 200) (»C Mit bartlosem mageren Gesicht und langen Haaren läuft ein Gelehrter vorbei und schreit, sich die Haare raufend: »Entsetzlich, ich nahm ein Stück Gewebe von einer Pflanze, einer ganz gewöhnlichen Pflanze, und plötzlich änderte es unter dem bewaffneten Auge böswillig seine Züge und wurde zur Volhynischen Gasse mit kommenden und gehenden Menschen, mit halbverhängten Fenstern, mit lesenden und einfach beieinander sitzenden müden Menschen, und ich weiß nicht, wohin ich gehen soll, in das Stück Pflanze unter dem Vergrößerungsglas, oder in die Volhynische Gasse, wo ich wohne. So bin ich nicht ein und derselbe, dort und hier, unter dem Vergrößerungsglas, in dem Stück Pflanze und auf dem abendlichen Hof. (»Teufelchen«)
Realisierung einer Metapher: 69 Die Tatsache, daß im Russischen das Wort »Tod« (smert’ ) ein Femininum ist, spielt in der Mythopoetik der Folklore wie der Hochliteratur (zumal in Romantik und Symbolismus) eine bedeutsame Rolle (vgl. im Symbolismus Hansen-Löve, Der russische Symbolismus, Bd. 1, S. 395–407). [Anm. v. A.H.-L.] 70 Vgl. die dt. Übers. in: Fehler des Todes. Russische Absurde aus zwei Jahrhunderten, S. 235–242. [Anm. v. A.H.-L.]
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Bol’sˇo´mu i grja´znomu cˇelove´ku Podarı´li dva pocelu´ja. ˇ elove´k byl nelo´vkij, C Ne zna´l, ˇ to´ s nı´mi de´lat’, C Kuda´ ich det’. Go´rod, Ves’ v pra´zdnike, Voznosı´l v sobo´rach allilu´ja; Lju´di vychodı´li krası´voe nade´t’. A u cˇelove´ka by´lo cho´lodno, I v podo´ˇsvach dy´rocˇek ova´l’cy, On vy´bral pocelu´j, Koto´ryj pobo´l’sˇe, I nade´l, ka´k kalo´ˇsu. No moro´z chodı´l zlo´j, Ukusı´l ego´ za pa´l’cy. ˇ to´ zˇe«, – »C Rasserdı´lsja cˇelove´k, – »Ja e˙ti nenu´zˇnye pocelu´i bro´ˇsu« Bro´sil. I vdru´g U pocelu´ja vy´rosli usˇki, On sta´l verte´t’sja, To´nen’kim goloso´cˇkom krı´knul: »Ma´mocˇku«. Ispuga´lsja cˇelove´k. Obernu´l lochmo´t’jami dusˇ´ı svoe´j drozˇa´ˇscˇee te´l’ce, Pone´s domo´j, ˇ to´by vsta´vit’ v golu´ben’kuju ra´mocˇku. C Do´lgo ry´lsja v pylı´ po cˇemoda´nam (Iska´l ra´mocˇku). Ogljanu´lsja – Pocelu´j lezˇit na diva´ne, Groma´dnyj. Zˇ´ırnyj, Vy´ros, Smee´tsja, Be´sitsja. (»Vladimir Majakovskij. Tragedija«) 71 71 Majakovskij, Polnoe sobranie socˇinenij, Bd. 1, S. 167 f., dt. Übers.: Majakowski, Werke, Bd. 3, S. 19. [Anm. v. A.N.]
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Ein großer, schmutziger Mensch Bekam zwei Küsse geschenkt. Der Mensch war ungeschickt, Wußte nicht, Was er damit sollte, Wohin mit ihnen. Die Stadt, Ganz im Feiertag, Erhob in den Kathedralen ihr Halleluja; Die Leute führten ihre schönen Kleider aus. Aber dem Menschen war es kalt, In den Sohlen hatte er Ovälchen von Löchern, Er nahm den Kuß, Der größer war, Und zog ihn über wie eine Galosche. Aber es ging ein böser Frost, Biß ihn an den Zehen, »Was denn« – Erzürnte sich der Mensch – »Ich werfe diese nutzlosen Küsse weg«. Warf sie weg. Und plötzlich Wuchsen dem Kuß Öhrchen, Er begann sich zu rühren, Mit feinem Stimmchen rief er: »Mama«. Da erschrak der Mensch. Er umhüllte mit den Lumpen seiner Seele das zitternde Körperchen, Trug es nach Haus, Um es in ein blaues Rähmchen zu stellen. Lange wühlte er im Staub in den Koffern (Er suchte das Rähmchen). Sah sich um – Der Kuß liegt auf dem Sofa, Riesig, Fett, Ausgewachsen, Lacht, Tobt. (»Vladimir Majakovskij. Tragödie«)
Ein ähnliches Verfahren wurde einst humoristisch im »Satirikon« 72 72 Gemeint ist die Zeitschrift Satirikon, St. Petersburg 1908–1914. [Anm. v. A.H.-L.]
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verwendet: wie die Kinder die Sprache der Erwachsenen verstehen. Und eben diese Motivierung liegt Belyjs ganzem Roman »Kotik Letaev« 73 zugrunde. Vgl. ebenso die Realisierung von Metaphern in Bildillustrationen, z. B. in der byzantinischen Miniatur. Realisierung einer *Hyperbel: Ja´ lete´l kak ru´gan’. Druga´ja noga´ Esˇcˇe¨ dobega´et v sose´dnej u´lice. (»Vladimir Majakovskij. Tragedija«) Ich flog wie ein Geschimpfe. Das andere Bein Läuft noch nach in der Nebenstraße.74 (»Vladimir Majakovskij. Tragödie«) 75
Deutlich verbale Natur weist das realisierte *Oxymoron auf, denn während es eine Bedeutung hat, hat es nach der Definition der modernen Philosophie keinen eigenen Gegenstand (wie zum Beispiel »quadratischer Kreis«). Hierher gehört die Gogol’sche Nase, die Kovalev als Nase erkennt, während die Gestalt mit den Achseln zuckt, in voller Uniform usf.76 Ebenso in dem volkstümlichen Hochzeitslied: »Der Z… sprang heraus, ließ seine Augen vorquellen«.77 Vgl. auch das Legendenwunder in den »Brüdern Karamazov« (das humoristisch verwendet wird). Svjatogo mucˇili za veru, i kogda otrubili emu pod konec golovu, to on vstal, podnjal svoju golovu i ljubezno ee lobyzasˇe. Den Heiligen quälten sie um seines Glaubens willen, und als sie ihm am Ende den Kopf abschlugen, stand er auf, nahm seinen Kopf und küßte ihn liebevoll.78 73 Andrej Belyj, Kotik Letaev, zuerst Petrograd 1917/1918; eine dt. Übers. erschien 1993. Gerade in diesem Roman Belyjs ist das hier behandelte Verfahren der Entfaltung besonders reich ausgeprägt. [Anm. v. A.H.-L.] 74 Vgl. die alltagssprachliche Hyperbel: »Na – das eine Bein ist noch hier, das andere schon dort – (jetzt aber) fix!«. 75 Majakovskij, Polnoe sobranie socˇinenij, Bd. 1, S. 163; dt. Übers.: Majakowski, Werke, Bd. 3, S. 22. [Anm. v. A.N.] 76 Gogol’, »Nos« [›Die Nase‹] (1836), in: ders., Polnoe sobranie socˇinenij, Bd. 3, S. 47– 75; dt. Übers. in: Sämtliche Erzählungen, S. 563–593. Zur Entfaltung der nosologischen Metaphern vgl. Vinogradov, »Sjuzˇet i kompozicija povesti Gogolja ›Nos‹«. [Anm. v. A.H.-L.] 77 Textstelle konnte nicht verifiziert werden. [Anm. v. A.N.] 78 Dostoevskij, Brat’ja Karamazovy, Bd. 14, S. 42 (Buch 1, Kap. II); dt. Übers.: Dostojewski, Die Brüder Karamasoff, S. 73. [Anm. v. A.N.]
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Hier ist der Mensch eine traditionelle semantische Einheit, die alle ihre Eigenschaften bewahrt, d. h. die erstarrt ist. Die Aufhebung der Grenze zwischen realen und figürlichen Bedeutungen ist eine charakteristische Erscheinung der poetischen Sprache. Oft operiert die Poesie mit realen Bildern wie mit verbalen Figuren (das Verfahren der umgekehrten Realisierung), vgl. u. a. die *Calembours. 1) Gespräch des kranken Marquis mit dem Jesuitenpater (Dostoevskij, »Brüder Karamazov«): »Esli strogaja sud’ba lisˇila vas nosa, to vygoda vasˇa v tom, cˇto uzˇe nikto vo vsju vasˇu zˇizn’ ne osmelitsja vam skazat’, cˇto vy ostalis’ s nosom.« – »Otec svjatoj 〈…〉 ja byl by, naprotiv, v vostorge vsju zˇizn’ kazˇdyj den’ ostavat’sja s nosom, tol’ko by on byl u menja na nadlezˇasˇcˇem meste.« – »Syn moj 〈…〉 esli vy vopiete 〈…〉 cˇto s radost’ju gotovy by vsju zˇizn’ ostavat’sja s nosom, to i tut uzˇe kosvenno ispolneno zˇelanie vasˇe: ibo, poterjav nos, vy tem samym vse zˇe kak by ostalis’ s nosom« 〈…〉 »Wenn Euch ein hartes Schicksal der Nase beraubt hat, dann liegt Euer Vorteil darin, daß es niemand in Eurem Leben künftig wagen wird, Euch zu sagen, Ihr wäret der Genasführte.« – »Ehrwürdiger Pater 〈…〉 ich würde im Gegenteil mit Freuden mein ganzes Leben jeden Tag der Genasführte sein, wenn ich die Nase nur an ihrer Stelle hätte.« – »Mein Sohn 〈…〉 wenn Ihr wehklagt, 〈…〉 Ihr wäret gerne bereit, das ganze Leben der Genasführte zu sein, dann ist Euer Wunsch mittelbar bereits hier erfüllt: denn, indem Ihr Eure Nase verloren habt, seid Ihr gleichsam dennoch der Genasführte« 〈…〉 79 2) Ona 〈Anna Karenina〉 privezla s soboju ten’ Vronskogo, – skazala zˇena poslannika. – Da cˇto zˇe? U Grimma est’ basnja: cˇeloveka bez teni, cˇelovek lisˇen teni. I e˙to emu nakazanie za cˇto-to. Ja nikak ne mog ponjat’, v cˇem nakazanie. No zˇensˇcˇine, dolzˇno byt’, neprijatno bez teni. Da, no zˇensˇcˇiny s ten’ju obyknovenno durno koncˇajut 〈…〉 (L. Tolstoj). Sie 〈Anna Karenina〉 hat Vronskijs Schatten mitgebracht, – sagte die Frau des Gesandten. – Na und? Bei Grimm gibt es eine Fabel: der Mensch ohne Schatten, ein Mensch, dem sein Schatten genommen wurde. Das soll seine Strafe für etwas sein. Ich habe einfach nicht verstehen können, worin die Strafe liegt. Aber für eine Frau muß es ohne Schatten unangenehm sein. – Ja, aber Frauen mit einem Schatten nehmen gewöhnlich ein schlechtes Ende 〈…〉 (L. Tolstoj).80
79 Dostoevskij, Brat’ja Karamazovy, Bd. 15, S. 80 (Buch 11, Kapitel IX); dt. Übers.: Dostojewski, Die Brüder Karamasoff, S. 1055 f. [Anm. v. A.N.] 80 L. Tolstoj, Anna Karenina, Bd. 18, S. 134 (Teil 2, Kap. 6), dt. Übers.: L. Tolstoj, Anna Karenina, S. 167. [Anm. v. A.N.]
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Auf der Umwandlung realer Bilder in Tropen, auf ihrer Metaphorisierung beruht der Symbolismus als poetische Schule. In der Wissenschaft von der Malerei dringt die Vorstellung von der malerischen Bedingtheit des Raums und von einer ideographischen Zeit vor. Noch fremd ist jedoch der Wissenschaft die Frage nach Zeit und Raum als Formen der poetischen Sprache. Die Gewalt der Sprache über den literarischen Raum wird am Beispiel von Beschreibungen besonders deutlich, wo räumlich koexistente Teile in zeitlicher Aufeinanderfolge angeordnet werden. Lessing lehnt aufgrund dessen sogar die beschreibende Poesie ab oder aber realisiert das erwähnte sprachliche Übergewicht, indem er die zeitliche Abfolge der Erzählung mit der wirklichen motiviert, d. h. indem er eine Sache nach Maßgabe dessen beschreibt, wie sie geschaffen wird, ein Kostüm danach, wie es angezogen wird, usf.81 Was die literarische Zeit betrifft, so bietet das Verfahren der zeitlichen Verschiebung 82 ein weites Forschungsfeld. Ich habe oben bereits die Wor81 Vgl. Lessing, Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. [Anm. v. A.N.] 82 Für die kubo-futuristische Bildkunst war das Prinzip der »Verschiebung« (sdvig) – neben jenem der Montage und der Faktur (faktura) – die wichtigste intermediale Brücke zwischen ihr und den anderen Kunstformen – zumal der Poetik, die diese Konzepte und Begriffe zu ihren Hauptverfahren machte. (Hansen-Löve, Der russische Formalismus, S. 90–93). So etwa Krucˇenych in seinem Manifest »Novye puti slova« [›Neue Wege des Wortes‹], wo die futuristische Losung der »Weltvomende« auf alle Sprachebenen – von der des Wortes über die von Texten und ganzen narrativen oder mythischen Sujets – ausgedehnt wird: »Wir lernten, die Welt von hinten anzugehen, uns freut diese umgekehrte Bewegung (bezüglich des Wortes haben wir festgestellt, daß man es von hinten lesen kann und es dann einen tieferen Sinn bekommt! ).« (im Original in: Manifesty i programmy russkich futuristov, S. 71; dt. Übers. in: Ingold, Der große Bruch, S. 332); vgl. zur Sujet- und Zeitinversion bei Chlebnikov und Jakobson: Hansen-Löve, Der russische Formalismus, S. 145 f.; ders., »Diskursapokalypsen: Endtexte und Textenden. Russische Beispiele«. Von Krucˇenych stammt eine eigene »Verschiebungslehre« (sdvigologija) – vgl. so in seiner Schrift Sdvigologija russkogo sticha, oder in seiner durchaus anzüglichen Neuschrift von Pusˇkin-Zitaten, deren skatologischen Subtext er solchermaßen zutage fördern wollte (Krucˇenych, 500 novych ostrot i kalamburov Pusˇkina). Zur sdvig-Technik des Futurismus vgl. die Darstellung bei Andrej Schemschurin (Sˇemsˇurin), »Das Prinzip der Verschiebung (Beispiele aus der futuristischen Malerei und Poesie)« (1913, auszugsweise in dt. Übers. in: Ingold, Der große Bruch, S. 366–369). – Entscheidend für die neue methodologische Perspektive des frühen Formalismus-Strukturalismus ist die Homologie der Verfahren auf allen Sprach- und Textebenen. Gleiches gilt für die programmatische Schrift von Sˇklovskij: »Svjaz’ sjuzˇetoslozˇenija s obsˇcˇimi priemami stilja«. Chlebnikov hat die Entlinearisierung der Zeitsukzession zum Hauptprinzip seiner Geschichtsanalyse gemacht: Auch hier wird – ganz im Sinne von Henri Bergsons Kritik am räumlich-linearen Zeitbegriff – die starre Aufeinanderfolge der Ereignisse und Figuren aufgelöst und nach einem hoch spe-
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te des Rezensenten angeführt: »Byron begann die Erzählung einer Begebenheit in der Mitte oder am Ende.« 83 Oder vgl. z. B. »Smert’ Ivana Il’icˇa« [›Der Tod des Ivan Il’icˇ‹],84 wo die Lösung vor der eigentlichen Erzählung gegeben wird. Vgl. »Oblomov« 85, wo die zeitliche Verschiebung durch einen Traum des Helden gerechtfertigt ist, usw. Es gibt eine besondere Kategorie von Lesern, die dieses Verfahren jeglichem literarischen Kunstwerk aufoktroyieren, indem sie die Lektüre bei der Auflösung beginnen.86 Als Laboratoriumsverfahren finden wir die zeitliche Verschiebung bei Edgar Poe, in dem Gedicht »The Raven«; erst nach dessen Fertigstellung wurde gewissermaßen eine Umkehrung vorgenommen.87 Bei Chlebnikov beobachten wir die Realisierung einer zeitlichen Verschiebung, und zwar einer bloßgelegten, d. h. nicht motivierten Verschiebung. mirskonca 1 P o l j a : Podumaj tol’ko: menja, cˇeloveka uzˇe let 70 polozˇit’, svjazat’ i spelenat’, posypat’ mol’ju. Da kukla ja, cˇto li?
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kulativen Gesetz der Geschichts-Mathematik in immer neue Konfigurationen versetzt. Insofern könnte man von einer *›Anagrammatik der Geschichte‹ bei Chlebnikov sprechen (vgl. dazu: Hansen-Löve, »Diskursapokalypsen: Endtexte und Textenden. Russische Beispiele«). [Anm. v. A.H.-L.] Anon., »Razbor poe˙my ›Poltava‹, socˇ. Aleksandra Sergeevicˇa Pusˇkina«; zur Verfasserschaft dieser Rezension s. o., Anm. 43. [Anm. v. A.N.] L. Tolstoj, »Smert’ Ivana Il’icˇa« [›Der Tod des Ivan Iljicˇ‹] (1886), dt. Übers. in: Tolstoj, Die großen Erzählungen, S. 11–82. [Anm. v. A.N.] Jakobson bezieht sich auf die berühmten Kindheitserinnerungen des Helden in Ivan A. Goncˇarovs Roman Oblomov (1859): Der »Son Oblomova« [›Oblomovs Traum‹] führt im Sinne der Zeitinversion erst im neunten Kapitel in die Kindheit des Helden (in der dt. Übers.: Gontscharow, Oblomow, S. 129–188). [Anm. v. A.H.-L.] Das verwandte Phänomen des ›von hinten Schreibens‹ gilt gerade für spannungsorientierte Sujets wie den Kriminalroman oder die »Sujetnovelle«, wo die »Auflösung« (razgadka) des Sujetknotens, der Verrätselung (zagadka) erst am Ende des narrativen Textes angeboten wird: Die klassischen Analysen dieser Sujetinversion liefert V. Sˇklovskij in seinen Analysen der »Novella tajn« und des »Roman tajn« [wörtl.: ›Novelle bzw. Roman der Mystifikationen‹] (vgl. die dt. Übers.: Sˇklovskij, »Die Kriminalerzählung bei Conan Doyle«). Vgl. auch: E˙jchenbaum, »O. Genri i teorija novelly«, 1925, sowie die dt. Übers. »O. Henry und die Novellentheorie« (der Bezug zu E. A. Poe findet sich auch hier: S. 160 f.). [Anm. v. A.H.-L.] Vgl. Jakobsons Auseinandersetzung mit »The Raven« in »Linguistics and Poetics«, S. 43 f. (dt. Übers. in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 193–195) sowie in »Language in Operation« (dt. Übers. in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 237–255). [Anm. v. A.N.]
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O l j a : Bog s toboj! Kakaja kukla? P o l j a : Losˇadi v cˇernych prostynjach, glaza grustnye, usˇi ubogie. Telega medlenno dvizˇetsja, vsja belaja, a ja v nej, tocˇno ovosˇcˇ: lezˇi i molcˇi, vytjanuv nogi, da posmatrivaj za znakomymi, scˇitaj cˇislo zevkov u rodnych i na podusˇke nezabudki iz gliny, ˇsnyrjajut prochozˇie. Estestvenno, ja vskocˇil, – Bog s nimi so vsemi! – sel prjamo na izvozcˇika i poletel sjuda bez ˇsljapy i bez ˇsuby, a oni: »lovi! lovi!« O l j a : Tak i uechal? Net, ty posmotri, kakoj ty molodec! Orel, pravo, orel! P o l j a : Net, ty menja uspokoj, da sprjacˇ’ vot sjuda v ˇskaf. Vot e˙ti plat’ja, my ich vynem, zacˇem im zdes’ viset’? Vot ego ja nadel, kogda ja byl proizveden, – gm! gm! daj emu carstvo nebesnoe, – pri Egore Egorovicˇe v statskie sovetniki, to nadel ego i v nem predstavljalsja nacˇal’stvu, vot i ot zvezdy pomjatoe na sukne mesto, chorosˇee sukonce, takich teper’ ne najdesˇ’, a e˙to ot grazˇdanskoj ˇsasˇki mesto ostalos’, takoj slavnyj cˇelovek togda esˇcˇe na Morskoj portnoj byl, slavnyj portnoj. Ach, mol’! Vot zavelas’, lovi ee! (Lovjat, podprygivaja i chlopaja rukami…) Ach, ozornaja! (Oba lovjat ee.) Vse¨, byvalo, govoril: »Ja vam zdes’ kosˇelek prisˇ’ju iz samogo krepkogo cholsta, nikogda ne razorvetsja, a vy moj napolnite, daj Bog emu razorvat’sja!« Mol’! A e˙to vencˇal’nyj ubor, pomnisˇ’, golubusˇka, Vozdvizˇen’e? Tak my e˙to vse machorkoj posyplem i e˙toj drjan’ju, cˇto pachnet i plakat’ chocˇetsja ot nee, i v sunduk polozˇim, zaprem, znaesˇ’, pokrepcˇe i zamok takoj povesim chorosˇij, bol’sˇoj zamok, a sjuda, znaesˇ’, podusˇek pobol’sˇe, daj perinovych – ustal ja, znaesˇ’, sil’no, – cˇtoby sosnut’ mozˇno bylo, cˇto-to na serdce trevozˇno: znaesˇ’, takie kosˇki prichodjat i kogti opuskajut na serdce, sama vidisˇ’ – vse¨ neprijatnosti – koljaska, cvety, rodnye, pevcˇie – znaesˇ’, kak e˙to tjazˇelo! (Chnycˇet.) Tak, esli pridut, skazˇi: ne zachodil i voron kostej ne zanosil, i cˇto ne mog dazˇe nikak prijti, potomu cˇto vracˇ uzˇe skazal, cˇto umer, i bumazˇku e˙tu, znaesˇ’, sun’ im v samoe lico i skazˇi, cˇto na kladbisˇcˇe dazˇe uvezli prokljatye i cˇto ty ni pri cˇem i sama rada, cˇto uvezli, bumaga zdes’ glavnoe, oni, znaesˇ’, togo, pered bumagoj i spasujut, a ja… togo (ulybaetsja), sosnu. O l j a : Rodnoj moj, zaplakany glazki tvoi, obideli tebja, daj ja slezki tvoi e˙tim platocˇkom utru, . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Staraja usad’ba. Stoletnie eli, berezy, prud. Indjusˇki, kury. Oni idut vdvoem. P o l j a : Kak chorosˇo, cˇto my uechali! do cˇego dozˇili: v svoem domu priˇslos’ prjatat’sja… Poslusˇaj, ty ne krasisˇ’ svoich volos? O l j a : Zacˇem? a ty? P o l j a : Sovsem net, a pomnitsja mne, oni byli sedymi, a teper’ tocˇno stali cˇernymi. O l j a : Vot, slovo v slovo. Ved’ ty stal cˇernousym, tebe tocˇno let 40 sbrosili, a ˇscˇeki kak v skazkach: moloko i krov’. A glaza – glaza cˇisto ogon’, pravo!
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ˇ to za pritcˇa Ty pisanyj krasavec, kak govorili dedy v pesnjach starych! C takaja? P o l j a : Ty vidisˇ’, kstati, nasˇ sosed priechal k nam i ob estestvennom beseduet podbore s Nadjusˇej. Smotri da zamecˇaj: ne byt’ by chudu. O l j a : Da, da i ja primetila. A Pavlik b’et baklusˇi, pora ucˇit’sja otdavat’. P o l j a : K tovarisˇcˇam: puskaj sob’jut tolcˇkami i ˇscˇipkami puch nezˇnyj detstva. Ne daj Bog, cˇtob vyros mamen’kin synok. O l j a : Nu uzˇ, pozˇalujsta! Pomnisˇ’ ty begstvo bez ˇsljapy, izvozcˇika, druzej, rodnych, togda on vyros i konskij kolychalsja chvost, nad mednoj kaskoj, i chmurye glaza smotreli na voina lice ugrjumom, blestja ognem pecˇal’no dorogim, a teper’ puch cˇernyj na gube, edva-edva on vystupaet, kak sol’ skvoz’ glinu, – opasnaja pora: cˇut’-cˇut’ ne dogljadisˇ’, i koncˇeno! . . . . . . . 3 Lodka, reka. On vol’noopredeljajusˇcˇijsja. P o l j a : My tol’ko nezˇnye druz’ja i robkie iskateli sosedstv sebe, i zˇemcˇuga lovcy my v more vzora, my nezˇnye, i lodka plyvet, brosiv ten’ na tecˇen’e; my, naklonjajas’ nad kraem, lica uvidim svoi v veselych recˇnych oblakach, pojmannych nevodom vod, upavsˇich s dalekich nebes; i ˇsepcˇet nam polden’: O, deti! My, my – svezˇest’ polnocˇi. 4 S svjazkoj knig prochodit Olja i navstrecˇu idet Polja, on podymaetsja na lestnicu i proiznosit molitvu. O l j a : Grecˇeskij? P o l j a : Grek. O l j a : A u nas russkij 5 Polja i Olja s vozdusˇnymi ˇsarami v ruke, molcˇalivye i vazˇnye, proezzˇajut v detskich koljaskach. (IV, 239–245)
weltvomende 1 P o l j a : Denk nur, mich, einen Menschen von an die Siebzig hinlegen, binden, windeln und einmotten. Bin ich denn eine Puppe? O l j a : Du lieber Gott. Was heißt hier Puppe? P o l j a : Pferde in schwarzen Laken traurige Augen armselige Ohren. Der Wagen bewegt sich langsam, ganz weiß, und ich darin wie Grünzeug lieg und
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schweig, zieh die Beine an und schau nach den Bekannten, zähl die Zahl der Gähner bei den Verwandten, und auf dem Kissen die Vergißmeinnicht aus Lehm huschen Passanten natürlich sprang ich auf. Gott sei mit denen allen (setzte mich grad in eine Droschke und flog hierher ohne Hut und ohne Pelz, und die fang ihn fang ihn). O l j a : (und du bist wirklich abgefahren, nein schau du was du für ein Kerl bist ein Adler wahrlich ein Adler). P o l j a : Nein du beruhige mich und versteck mich hier in den Schrank hier diese Kleider wir nehmen sie heraus was sollen sie hier hängen, den hier hatte ich an als ich befördert wurde hm! hm! gib ihm das Himmelreich unter Egor Egorovicˇ zum Staatsrat da hatte ich ihn an und stellte mich darin der Obrigkeit vor hier ist vom Ordensstern eine zerknüllte Stelle im Tuch, ein gutes Tuch solche findet man heutzutage nicht, da ist vom Degen noch eine Stelle geblieben so ein großartiger Mensch damals noch auf der Morskaja der Schneider war ein großartiger Schneider. Ach die Motten! Die haben sich eingenistet fang sie (sie hüpfen und grapschen nach ihnen und klatschen die Hände zusammen. Ach die frechen Biester. Beide grapschen nach ihnen). Er pflegte immer zu sagen – »ich nähe Ihnen hier einen Geldsack hin aus dem stärksten Leinen wird niemals zerreißen und Sie werden meinen füllen gebe Gott, daß er zerreißt« die Motten! Und das ist der Hochzeitsanzug, weißt du noch Schätzchen, der Tag der Kreuzeserhöhung so werden wir das alles mit Machorka bestreuen und diesem Zeugs das stinkt und das Weinen kriegt man davon und wir legen’s in die Truhe und verschließen sie ganz fest weißt du und hängen so ein ganz schönes großes Schloß dran, und hierher weißt du gib mal mehr Kissen und neue Federbetten – weißt du ich bin sehr müde – daß man ein wenig schlafen kann, etwas unruhig ist es im Herzen weißt du so Katzen kommen und krallen sich ins Herz 88 du siehst ja selbst all die Unannehmlichkeiten die Kalesche die Blumen die Verwandten die Sänger du weißt doch wie schwer das ist (er schluchzt). Also wenn sie kommen dann sag ich bin nicht hergekommen und mein Gebein hat der Rabe auch nicht gebracht und daß ich auch gar nicht kommen konnte weil der Arzt schon gesagt hat daß ich gestorben bin und dies Papier weißt du das steckst du ihnen grad ins Gesicht und sagst daß sie mich sogar auf den Friedhof gebracht haben die Verfluchten und daß du nichts damit zu tun hast und froh bist daß sie mich weggebracht haben das Papier hier ist die Hauptsache weißt du ja und vor dem Papier werden sie passen und ich ja (er lächelt) ich leg mich aufs Ohr. O l j a : Mein Lieber verweint sind deine Äuglein man hat dich beleidigt laß mich deine Tränen mit dem Tüchlein abwischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Anspielung auf das russische Idiom kosˇki na serdce skrebut [wörtl. ›Katzen kratzen am Herzen‹], das einen Zustand der Trauer ausdrückt. [Anm. d. Übs.]
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2 Ein alter Hof. Hundertjährige Tannen Birken ein Weiher Truthähne Hühner. Sie gehen zu zweit. P o l j a : Wie gut daß wir weggefahren sind wie weit ist es mit uns gekommen in unserm Haus mußten wir uns verstecken hör mal färbst du dir nicht deine Haare? O l j a : Wieso und du? P o l j a : Überhaupt nicht aber ich weiß noch sie waren grau und jetzt sind sie ganz schwarz geworden. O l j a : Stimmt! Du bist doch schwarzbärtig geworden als ob du an die vierzig Jahre weniger hättest und Backen wie im Märchen Milch und Blut. Und Augen Augen reineweg Feuer wahrlich schön bist Du, wie die Ahnen in den alten Liedern sagten, schön wie gemalt. Was hat das zu bedeuten? P o l j a : Du siehst übrigens unser Nachbar ist zu uns gekommen und redet mit Nadjusˇa über die natürliche Auslese. Sieh zu und paß auf ob es kein Unglück gibt. O l j a : Ja ja ich hab’s auch gemerkt. Und Pavlik liegt auf der faulen Haut Zeit ihn wegzugeben daß er was lernt. P o l j a : Laß ihn zu Gefährten die werden ihm den zarten Flaum der Kindheit wegpuffen und -kneifen. Gebe Gott daß er nicht zum Muttersöhnchen heranwächst. O l j a : Also ich bitte dich. Weißt du noch die Flucht ohne Hut Kutscher Freunde Verwandte da ist er herangewachsen und der Pferdeschwanz schaukelte über dem Kupferhelm und finstere Augen blickten aus des Kriegers Gesicht düster glänzend in traurig teurem Feuer und jetzt ist schwarzer Flaum auf seiner Lippe kaum sichtbar noch tritt er hervor wie das Salz durch den Lehm eine gefährliche Zeit einen Augenblick paßt Du nicht auf und schon ist’s geschehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Kahn, Fluß. Er ein Freiwilliger. P o l j a : Wir sind nur zärtliche Freunde und suchen uns scheu Gesellschaft und Perlenfänger sind wir im Meer des Blicks wir Zärtlichen und der Kahn schwimmt, wirft einen Schatten auf den Strom, wir gebeugt über den Rand werden unsere Gesichter sehen in fröhlichen Flußwolken, die gefangen sind im Netz der Wasser und von fernen Himmeln gefallen und flüstert uns der Mittag zu o Kinder wir wir Frische der Mitternacht. 4 Mit einem Bücherbündel geht Olja vorbei und entgegen kommt Polja, er geht die Treppe hinauf und spricht ein Gebet.
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O l j a : Griechisch? P o l j a : Ja. O l j a : Und wir Russisch 5 Polja und Olja fahren mit Luftballons in der Hand in Kinderwagen vorbei, schweigsam und ernsthaft.89
Vgl. einen Film, der umgekehrt abgespielt wird.90 Hier liegt jedoch insofern eine Komplizierung der Struktur vor, als auf die erlebte Vergangenheit sowohl die reale Vergangenheit als auch die reale Zukunft bezogen ist. (Einerseits – »Eben noch wir, und jetzt sie dort 〈…〉«, andererseits »Weißt du noch die Flucht ohne Hut Kutscher Freunde Verwandte da ist er herangewachsen 〈…〉«) Oft wird in der Literatur eine solche Projektion der Zukunft in die Vergangenheit mit einer Vorhersage, einem prophetischen Traum usf. motiviert. Ein anderer Typ der zeitlichen Verschiebung, der Anachronismus, kommt bei Chlebnikov mehrfach vor. So z. B. »Ucˇilica« [›Schulrin‹] 91 (IV, 22–26),92 wo die Heldin Bestuzˇev-Kurse 93 besucht, der Held aber der Bojarensohn Volodimerko ist. So auch »Vnucˇka Malusˇi« [›Malusˇas Enkelin‹] (II, 63), die an Tolstojs Strom-Helden 94 erinnert, mit dem 89 Vgl. die dt. Übers. in: Chlebnikov, Werke, Bd. 2, S. 15–20. [Anm. v. A.H.-L.] 90 Ein entsprechendes Verfahren, angewendet nicht auf eine Sujetstruktur, sondern auf ein einzelnes Wort, findet sich z. B. bei Belyj, wo es mit Fieberwahn motiviert ist: »Unsere Räume sind nicht eure; alles verläuft dort umgekehrt 〈…〉 und da ist Ivanov einfach irgendein Japaner, denn dieser Name, rückwärts gelesen, ist japanisch: Vonavi.« (Petersburg) – Mit einer anderen Motivierung bei demselben Dichter: »Der Modernist stürzt mit dem Kopf nach unten; und mit ihm fliegt die Kritik der reinen Vernuft, die er von unten nach oben und von rechts nach links weiterliest: statt Vernunft liest er irgendeinen orientalischen Unsinn, hoffentlich keinen orientalischen Zauber, denn er liest ›Tfnunrev‹ 〈…〉« – Scheinbar schon ohne jede Rechtfertigung bei D. Burljuk: Ruesirf, Ttenibak [›Friseur, Kabinett‹]. [Anm. v. R.J.] – Das erste der beiden Belyj-Zitate findet sich in Peterburg, S. 299 (in der deutschen Übersetzung: Petersburg, S. 448); das zweite stammt aus Belyj, »Krizis kul’tury« [›Die Krise der Kultur‹], S. 282. Im Original steht ›amuzar‹ (statt ›Tfnunrev‹), also ein Anagramm von ›razum‹ (›Verstand‹). Das Burljuk-Zitat konnte nicht nachgewiesen werden. [Anm. v. A.N.] 91 »Ucˇilica« ist eine Neubildung, abgeleitet von »ucˇilisˇcˇe« [›Lehranstalt‹]. [Anm. d. Übs.] 92 Entstanden 1906/1908. [Anm. v. A.H.-L.] 93 Fortbildungskurse für Frauen Ende des 19. Jahrhunderts. [Anm. v. A.H.-L.] 94 Vgl. Aleksej K. Tolstojs Poem »Potok-bogatyr’« [›Der Strom-Held‹], 1871, in: ders., Polnoe sobranie stichotvorenij, S. 171–177. [Anm. v. A.N.]
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Unterschied nur, daß die zeitliche Verschiebung hier nicht logisch gerechtfertigt ist (vgl. unten über die nicht gerechtfertigten Vergleiche). In der Erzählung »Ka« 95 wird eine Reihe chronologischer Momente miteinander verflochten: Emu´ ne´t zasta´v vo vre´meni, Ka´ cho´dit iz sno´v v sny´, pereseka´et vre´mja i dostiga´et bro´nzy (bro´nzy vreme´n). V stole´tijach raspolaga´etsja udo´bno, ka´k v kacˇa´lke. Ne ta´k li i sozna´nie soedinja´et vremena´ vme´ste, ka´k kre´slo i stu´l’ja gostı´nnoj? (IV, 47) Für ihn gibt es keine Schlagbäume in der Zeit, Ka geht aus Träumen in Träume, durchschneidet die Zeit und erreicht die Bronze (die Bronze der Zeiten). In den Jahrhunderten läßt er sich bequem nieder wie auf einem Schaukelstuhl. Vereinigt nicht auch das Bewußtsein die Zeiten so wie Sessel und Stühle des Gastzimmers.
Es gibt bei Chlebnikov Werke, die nach der Methode freier Aneinanderˇ ortik« [›Das reihung verschiedenartiger Motive geschrieben sind. So »C 96 Teufelchen‹], so etwa »Deti Vydri« [›Kinder der Otter‹]. (Frei aneinandergereihte Motive gehen nicht mit logischer Notwendigkeit auseinander hervor, sondern werden nach dem Prinzip der formalen Analogie oder des *Kontrastes zusammengefügt; vgl. das Decameron, wo die Novellen eines Tages nach identischen Sujetgesichtspunkten zusammengefaßt sind.) Dieses Verfahren ist durch ein Alter von Jahrhunderten geheiligt, aber für Chlebnikov ist seine Bloßlegung charakteristisch – das Fehlen des rechtfertigenden Verbindungsstrangs. Wir haben verschiedentlich einen für Chlebnikov typischen Zug hervorgehoben – die Bloßlegung des Verfahrens.97 Ich führe noch einige Beispiele für die Bloßlegung des Sujet-Gerippes an. 1. Smu´gol, te´men i izja´ˇscˇen, Ne ot tebja´ li, neznako´mec, vcˇera´ S krı´kom – »Ma´men’ki! on stra´ˇsen!« – Razbezˇa´las’ detvora´? Ty podosˇe´l, gde´ devı´ca: »Pozvo´l’te predsta´vit’sja!« 95 Chlebnikov, »Ka«, in: ders., Sobranie proizvedenij, IV, S. 47–73 (1915/1916), dt. Übers.: Werke, Bd. 2, S. 127–144. [Anm. v. A.H.-L.] ˇ ortik«, in: ders., Sobranie proizvedenij, IV, S. 200–224, hier: S. 211. 96 Chlebnikov, »C Ders. »Deti Vydri«, 1914, a. a. O., II, S. 142–179 (dt. Übers. Chlebnikov, Werke, Bd. 2, S. 42–64). [Anm. v. A.H.-L.] 97 Zum Begriff »Bloßlegung des Verfahrens« (obnazˇenie priema) vgl. o. Fußnote 50. [Anm. v. A.H.-L.]
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Vzja´l tru´d poklonı´t’sja I nameknu´l s smesˇko´m: »Krasa´vica!« Ona´ zˇe, igra´ja pecˇa´tkoj, Tebja´ vdru´g sprosı´la luka´vo: »O su´dar’ s kra´snoju percˇa´tkoj, O va´s durna´ja ocˇe´n’ sla´va?« – »Ja ne zna´char’, ne kude´snik. Ve´rit’ mozˇno li molve´? Zna´jte de´va, ja rovesnik.« Ona´ zˇe: »Izvinı´te! Zadu´mcˇivyj kako´j!« Letja´t pau´cˇ’i nı´ti Na sı´nij vodopo´j. Posˇli po tro´pke dvo´e, I vzja´ta ´ımi lo´dka. I vsko´re dno´ morsko´e Usta´ celova´lo kraso´tke. (II, 28) 98 Gebräunt, dunkel und elegant, Nicht deinetwegen, Unbekannter, gestern Mit einem Schrei »Mammi! Er ist schrecklich!« Lief auseinander die Kinderschar? Du gingst hin, wo die Jungfrau war. »Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle.« Nahmst dir die Mühe einer Verbeugung Und gabst mit einem Lächeln zu verstehen »Du bist schön«. Sie aber, mit dem Siegel spielend, Fragte dich plötzlich listig: »O, mein Herr mit dem roten Handschuh, Sie stehen in sehr schlechtem Ruf?« – »Ich bin kein Quacksalber, kein Zauberer. Kann man dem Gerede glauben? Wisset Jungfrau ich bin gleich alt.« Sie aber: »verzeihen Sie. Welch ein Versonnener!« Es fliegen Spinnenweben An die blaue Tränke. Es gingen den Weg entlang zwei, Und genommen ward von ihnen ein Boot. Und bald der Meeresgrund Die Lippen küßte der Schönen. 98 Entstanden 1906/1908. [Anm. v. A.H.-L.]
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Dieses Sujet ist in der Weltliteratur sehr häufig behandelt worden, aber Chlebnikov behält nur das Schema bei: der Held begegnet der Heldin; sie kommt um. 2. In dem Poem »I i E˙« [›I und E˙‹] (I, 83–93) 99 bleiben die Grundmotive Kreuzweg, Heldentat, Belohnung ausnahmslos unbegründet. Wenn wir an den Handlungsablauf in den Werken älterer Dichter denken, so ist auch dort die Motivierung der Sujetentfaltung oft akzidentell, ephemer, wie es etwa Pisarev 100 in glänzender Weise für Onegins Streit mit Lenskij und andere Episoden des Onegin oder Tolstoj 101 für Shakespeares Tragödien gezeigt haben, doch war das Trugbild, der Anschein einer Motivierung dort immer noch vorhanden. Das sog. Verfahren des »falschen Erkennens« war bereits in der klassischen Poetik kanonisiert (vgl. z. B. Aristoteles’ Poetik, Kap. XVI).102 Es war aber immer mit einer Motivierung versehen. Bei Chlebnikov tritt dieses Verfahren in reiner Form auf: Zˇrec smo´trit glaza´mi bezu´mnymi i pecˇa´l’nymi i tı´cho ide´t, potu´pja bo´rodu, k prisˇe´l’cu. To´t smo´trit zaga´docˇno-otkry´to, i zˇre´c naklonja´etsja k nemu´ ˇsepta´t’ ta´jnu, i ˇ re´c pa´vdru´g, raschochota´vsˇis’, kasa´etsja ego´ u´st svoı´mi. No to´t smee¨tsja. Z daet, otkı´dyvajas’ naza´d, na ru´ki prislu´zˇnikov i umira´et. No ne´t, ˙etogo esˇˇc¨e net. E˙to esˇˇc¨e to´l’ko na´ˇse voobrazˇ´enie. Esˇcˇe¨ to´l’ko otosˇe´l ot kumı´ra zˇrec i ide´t mı´mo nepodvı´zˇno stoja´ˇscˇich de´vusˇek s plasˇcˇa´mi na golove´. K spoko´jno stoja´ˇscˇemu De´v’emu bo´gu ide´t on. I cˇto bu´det? Dal’sˇe cˇto´? Nese´t on s potu´plennymi glaza´mi smert’ i, ble´dnyj i smeju´ˇscˇijsja, bu´det, srazˇa´jas’, pa´dat’, vstre´tiv lobza´nie, ´ıli bezˇat’. Da, my vı´dim, tvoja blizka´ ka´zn’, i pra´vit goncˇich tvoja´ spu´tnica! Me´dlenno dvı´zˇetsja zˇre´c, zade´rzˇyvaemyj kako´j-to sı´loj. No uzˇe´ pricho´djat carı´, i uzˇe begu´t ubı´jcy. (»Devij bog«; IV, 193) 103 Der Priester blickt mit wahnsinnigen, traurigen Augen und geht sanft mit gesenktem Bart auf den Fremdling zu. 99 Entstanden 1913. [Anm. v. A.H.-L.] 100 Vgl. Dmitrij I. Pisarevs Aufsatz zu Pusˇkins Versroman Evgenij Onegin unter dem ˇ ast’ 1: Evgenij Onegin«. [Anm. v. A.N.] Titel: »Pusˇkin i Belinskij. C 101 Vgl. L. Tolstoj, »O Sˇekspire i o drame«. [Anm. v. A.N.] 102 Zur Bedeutung der Poetik Aristoteles für den Formalismus vgl. Ljubomir Dolezˇel, »Narrative Composition: A Link between German and Russian Poetics«, S. 82 f.; Hansen-Löve, Der russische Formalismus, S. 24–30. [Anm. v. A.H.-L.] 103 Vgl. Chlebnikov, »Devij Bog«, 1912, in: ders., Sobranie proizvedenij, Bd. IV, S. 164– 194, hier: S. 193. [Anm. v. A.H.-L.]
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Dieser blickt unergründlich offen, und der Priester beugt sich zu ihm, um ihm ein Geheimnis zuzuflüstern und plötzlich berührt er mit einem Gelächter seinen Mund mit dem eigenen. Aber jener lacht. Der Priester fällt hintenüber, in die Arme der Diener, und stirbt. Aber nein, so ist es noch nicht. Noch ist das nur unsere Einbildung. Noch ist der Priester vom Götzenbild nur weggegangen und geht an den bewegungslos stehenden Mädchen mit Umhängen auf dem Kopf vorbei. Auf den ruhig dastehenden Jungfrauengott geht er zu. Und was wird sein? Was weiter? Trägt er mit gesenkten Augen den Tod und wird er bleich und lachend im Kampf fallen, nachdem er den Kuß empfangen, oder wird er fliehen? Aber fliehen hätte er schon früher können, aber er hat keine Waffe. Ja, wir sehen, deine Hinrichtung ist nahe, und deine Gefährtin setzt die Meute ein. Langsam bewegt sich der Priester, von irgendeiner Kraft aufgehalten. Aber schon kommen die Zaren herbei und schon laufen die Mörder.104 (»Jungfrauengott«)
III Ein beträchtlicher Teil von Chlebnikovs Werken ist in einer Sprache geschrieben, als deren Ausgangspunkt die Umgangssprache diente. So sagte Mallarme´, er lege dem Bourgeois Wörter vor, wie dieser sie täglich in seiner Zeitung lese, jedoch verblüffend zusammengestellt.105 Erst auf dem Hintergrund des Bekannten kann das Unbekannte erfaßt werden und überraschen. Es tritt der Zeitpunkt ein, wo die traditionelle poetische Sprache erstarrt, nicht mehr gefühlt und allmählich als Ritual, als heiliger Text erlebt wird, bei dem selbst die Schreibfehler als geheiligt gelten.106 Die Sprache der Poesie überzieht sich mit Firnis, weder die Tropen noch die poetischen Freiheiten sagen dem Bewußtsein etwas. So wurde schon zu Zeiten Pusˇkins Lomonosovs gewagte Trope nicht mehr erlebt: 104 Vgl. die Roman-Schlüsse vom Typ: »den einen Berichten zufolge…«, »den anderen zufolge…«. 105 Vgl. Mallarme´s kritische Auseinandersetzung mit dem Journalismus in »Quant au livre«, in: Mallarme´, Œuvres comple`tes, S. 375 f.; dt. Übers. in: ders., Sämtliche Dichtungen, S. 296 f. [Anm. v. A.N.] 106 Berüchtigt dafür waren im Rußland an der Schwelle zur Neuzeit die Altgläubigen, deren Abspaltung von der offiziellen Kirche gerade durch das Festhalten an der Unverrückbarkeit von Signifikanten – und damit auch von Schreibweisen und Äußerlichkeiten von heiligen Texten und Ritualen – verursacht war (vgl. dazu Uspenskij, »Raskol i kul’turnyj konflikt XVII veka«). [Anm. v. A.H.-L.]
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Brega´ Nevy´ ruka´mi ple´ˇscˇut, Brega´ Baltı´jskich vo´d trepe´ˇscˇut. Die Ufer der Neva mit den Händen klatschen, Die Ufer der Baltischen Wasser zittern.107
Die Form beherrscht das Material, das Material deckt sich voll und ganz mit der Form, die Form wird zur Schablone und stirbt ab. Unerläßlich ist der Zustrom neuen Materials, frischer Elemente der praktischen Sprache, damit die irrationalen poetischen Strukturen wieder erfreuen, wieder erschrecken, wieder empfindlich treffen. Von Simeon Polockij über Lomonosov, Derzˇavin, Pusˇkin, bis hin zu Nekrasov und Majakovskij hat die russische Poesie sich immer wieder neue Elemente der lebendigen Rede zu eigen gemacht. Nicht umsonst entsetzten sich bei Pusˇkin die Kritiker so sehr vor: »mal’cˇisˇek radostnyj narod kon’kami zvucˇno rezˇet led 〈…〉« 108 [›der Knaben fröhliches Volk mit Schlittschuhen klangvoll schneidet das Eis 〈…〉‹] »na krasnych lapkach gus’ tjazˇelyj« 109 [›auf roten Füßen die schwere Gans‹] »〈…〉 moroznoj pyl’ju serebritsja ego bobrovyj vorotnik« 110 [›〈…〉 mit Froststaub versilbert sich sein Biberkragen‹]. Ohne noch die effektvollen Hyperbeln wahrzunehmen, gleiten wir mit den Augen über die für uns wohlklingenden, leichten Verse hin: Otrja´dy ko´nnicy letu´cˇej, Brazda´mi, sa´bljami zvucˇa´. Ssˇiba´jas’, ru´bjatsja s plecˇa´. Brosa´ja gru´dy te´l na gru´du, Sˇary´ cˇugu´nnye povsju´du Mezˇ nı´mi pry´gajut, razja´t, Pra´ch ro´jut i v krovı´ ˇsipja´t. Abteilungen der fliegenden Reiterei, Mit Pferdegeschirr und Säbeln klirrend, 107 Aus Michail Lomonosovs »Oda na pribytie Ee Velicˇestva velikija Gosudaryni Imperatricy Elizavety Petrovny iz Moskvy v Sanktpeterburg 1742 goda po koronacii« [›Ode auf die Ankunft Ihrer Hoheit der großen Herrscherin Elisaveta Petrovna aus Moskva nach St. Petersburg im Jahr 1742 zur Krönung‹], in: ders., Polnoe sobranie socˇinenij, Bd. 7, S. 82–102, hier: S. 82. [Anm. v. A.N.] 108 Die Zitatstelle stammt aus Pusˇkins Evgenij Onegin (Kap. 4, Strophe XLII): Pusˇkin, Polnoe sobranie socˇinenij, Bd. 6, S. 90. Dt. Übers.: Puschkin, Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 96. [Anm. v. A.N.] 109 Ebd. [Anm. v. A.N.] 110 Pusˇkin, Evgenij Onegin, Kap. 1, Strophe XVI, in: ders., Polnoe sobranie socˇinenij, Bd. 6, S. 11. Dt. Übers.: Puschkin, Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 15. [Anm. v. A.N.]
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Stoßen zusammen, hauen, was das Zeug hält, drein, Und häufen Körper auf Körper, Gußeiserne Kugeln überall Zwischen ihnen hüpfen und treffen, Wühlen den Staub auf und zischen im Blut.111
Brjusov stellte die Nüchternheit dieser Verse der trunkenen Poetik des frühen Modernismus entgegen.112 Doch der Zeitgenosse klagte: »Wenn eigene und feindliche Kavallerie aufeinander dreinschlagen, dann können Stückkugeln nicht dazwischenfahren und treffen, weil man in die Feindesmenge, unter die sich eigene Leute gemischt haben, nicht schießen wird. Stückkugeln können im Blut zischen, wenn sie glühend erhitzt sind, aber mit glühenden Stückkugeln schießt man nicht.« 113 Wir sprechen von der harmonischen Wortverbindung bei Pusˇkin, aber der Zeitgenosse fand, bei ihm winselten und heulten die Worte in ihrer unerwarteten Nachbarschaft. Das Absterben der künstlerischen Form betrifft nicht nur die Poesie. Analoge Fakten führt Hanslick für die Musik an: Wie viele Werke von Mozart erklärte man zu ihrer Zeit für das Leidenschaftlichste, Feurigste und Kühnste 〈…〉 Der Behaglichkeit und dem reinen Wohlsein, welches aus Haydns Symphonien ausströme, stellte man die Ausbrüche heftiger Leidenschaft, ernstester Kämpfe, bitterer, schneidender Schmerzen in Mozarts Musik gegenüber. Zwanzig Jahre bis dreißig Jahre später entschied man genau so zwischen Beethoven und Mozart. Die Stelle Mozarts als Repräsentanten der heftigen, hinreißenden Leidenschaft nahm Beethoven ein, und Mozart war zu der olympischen Klassizität Haydns avanciert. 〈…〉 114 Das berühmte Axiom, es könne das ›wahrhaft Schöne‹ (– wer ist Richter über diese Eigenschaft? –) niemals, auch nach längstem Zeitverlauf, seinen Zauber einbüßen, ist für die Musik wenig mehr als eine schöne Redensart. 111 Aus Pusˇkins Poem »Poltava« (Gesang 3): Pusˇkin, Polnoe sobranie socˇinenij, Bd. 5, S. 58. Dt. Übers.: Puschkin, Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 263. [Anm. v. A.N.] 112 Vgl. Brjusovs zahlreiche Artikel über Pusˇkin: »Stat’i o Pusˇkine« [›Aufsätze über Pusˇkin‹], in: Brjusov, Sobranie socˇinenij, Bd. 7, S. 7–196. [Anm. v. A.N.] 113 Syn otecˇestva, 1829, Teil 125, S. 109. [Anm. v. R.J.] – Das Zitat stammt aus F. B. Bulgarin, »Razbor poe˙my ›Poltava‹, socˇ. Aleksandra Sergeevicˇa Pusˇkina« [›Besprechung des Poems »Poltava«, eines Werkes Aleksander Sergeevicˇ Pusˇkins‹], Nachdruck in: Pusˇkin v prizˇiznennoj kritike, 1928–1930, S. 142. [Anm. v. A.N.] 114 Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen, S. 12 f. [Anm. v. R.J.] – Eduard Hanslick (1825–1904) war einer der führenden Musikkritiker der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts in Wien. Die Wirkung Hanslicks auf die russische Literaturwissenschaft und Ästhetik erfolgte im Zuge der Übersetzung und Übernahme von Ideen der deutschen Kunstwissenschaft (A. Hildebrand u. a.), hier v. a. der Kompositionstheorie (vgl. Hansen-Löve, Der russische Formalismus, S. 190 f.). [Anm. v. A.H.-L.]
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Die Tonkunst macht es wie die Natur, welche mit jedem Herbst eine Welt voll Blumen zu Moder werden läßt, aus dem neue Blüten entstehen. Alle Tondichtung ist Menschenwerk, Produkt einer bestimmten Individualität, Zeit, Kultur und darum stets durchzogen von Elementen schnellerer oder langsamerer Sterblichkeit 〈…〉 Publikum wie Künstler fühlen einen berechtigten Trieb nach Neuem in der Musik, und eine Kritik, welche nur Bewunderung für das Alte hat und nicht auch den Mut der Anerkennung für das Neue, untergräbt die Produktion. (Vom Musikalisch-Schönen) 115
An solcher Furcht vor dem Neuen krankt gegenwärtig in Rußland besonders die symbolistische Literaturkritik. »Man soll Lyrik nur werten, nachdem der Lebensweg des Dichters beendet ist«, sagen die Symbolisten.116 »Es ist schwer, einen Schriftsteller zu werten und zu beurteilen, der seinen Weg noch nicht zu Ende gegangen ist. Wir haben ein ganz anderes Verhältnis zum Werther als die Zeitgenossen seiner ersten Veröffentlichung, die nicht wußten, daß Goethe noch die zwei Teile des Faust und den West-östlichen Divan schreiben würde.« 117 Da ist dann die Folgerung ganz natürlich, ein Bild könne man erst im Museum betrachten, nämlich dann, wenn es vom Schimmel der Jahrhunderte bedeckt ist. Auch taucht dann naturgemäß die Forderung auf, die Sprache der Dichter der Vergangenheit zu konservieren und ihren Wortschatz, ihre Syntax und ihre Semantik als Norm verbindlich zu machen. Die Poesie verwendet »ungewöhnliche Worte«. Ungewöhnlich ist insbesondere die Glosse (Aristoteles).118 Hierher gehören der Archaismus, der Barbarismus und der Provinzialismus. Aber die Symbolisten vergessen, was Aristoteles bewußt war – »ein und derselbe Name kann sowohl eine Glosse sein, als auch allgemein gebräuchlich, nicht aber bei denselben Menschen« 119; sie vergessen, daß Pusˇkins Glosse in der poetischen Sprache der Gegenwart keine Glosse mehr ist, sondern ein Stereotyp. Und Vjacˇeslav Ivanov geht so weit, jungen Dichtern die Verwendung vornehmlich Pusˇkinscher Wörter zu empfehlen: wenn ein Wort bei Pusˇkin vorkomme, sei das ein Kriterium seiner Poetizität.120 115 116 117 118
Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen, S. 84 f. Sidorov, »V zasˇcˇitu knigi«, S. 71. Brjusov, Dalekie i blizkie, S. 54. Aristoteles, Poetik, Kap. XXI, S. 64. Vgl. auch Hansen-Löve, Der russische Formalismus, S. 26 ff. [Anm. v. A.N.] 119 Aristoteles, Poetik, Kap. XXI., S. 64. [Anm. v. A.N.] 120 Die Textstelle konnte nicht verifiziert werden. Zu Vjacˇeslav I. Ivanov, einem der Hauptvertreter des mythopoetischen Symbolismus, vgl. Murasˇov, Im Zeichen des Dionysos. [Anm. v. A.N.]
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Ein Beispiel für die poetische Formung neuen praktischen Materials: Na dnja´ch ja plasa´l. Na e˙toj nede´le. Kako´go dnja´? Sreda´, cˇetve´rg ´ıli voskrese´n’e. V sidja´cˇej zˇ´ızni e˙to spase´n’e. Znako´mye, prija´teli, rodnja´. Usta´l, vspote´l, uzˇ otchozˇu´. Ka´k vdru´g kako´j-to vo´in: Postrı´cˇ’sja vam pora´-s! Skaza´l i ny´r v tolpu´. Ja du´mal: vo´t te ra´z. Ja uzˇe´ posla´t’ emu´ sobra´lsja vy´zov, No ne nasˇe´l v tolpe´ nacha´la. Kro´me togo´, zde´s’ nuzˇno by´lo perejtı´ kaku´ju-to mezˇu. Ja v sozerca´n’e usˇe´l cˇ’ego-to opacha´la Iz pe¨rysˇek golu´ben’kich i sı´zych. Nau´ka to bo´l’no prosta´: Snacˇa´la – mı´lostivyj gosuda´r’, A poto´m svinco´m voz’mı´ da uda´r’. A poto´m gljadı´ˇs’, i pa´rnja Nesu´t kromsa´t’ v trupa´rnju. D e´ l k i n : Cha-cha´. Kuda´ on gne´t! Zaba´vnik! I ne morgne´t! P e r c h o´ v s k i j : Nu´, ja ne tru´ˇsu. E˙to i ne stra´nno. Lico´m ime´ja gru´ˇsu… (»Markiza De˙zes«; IV, 225) Neulich tanzte ich. In dieser Woche. An welchem Tag? Mittwoch, Donnerstag oder Sonntag. Bei der sitzenden Lebensweise ist das ein Segen. Bekannte, Freunde, Verwandtschaft. Bin müde. Schwitzig. Komm schon zu mir. Da plötzlich ein Krieger: Sie sollten ins Kloster. Sagte es und schwupp in die Menge. Ich dachte: na warte. Ich wollte ihm schon eine Forderung schicken Aber fand in der Menge den Flegel nicht. Außerdem mußte man hier irgendeinen Grenzstrich überschreiten Ich versank in Betrachtung von jemandes Fächer Aus blauen und taubengrauen Federn. Die Lehre war sehr einfach: erst – verehrter Herr, Und dann mit Bled nimm und schlag. Ja… Und dann, siehst du und den Burschen Bringen sie zum Zerschneiden ins Leichenhaus. D e l k i n . Ha ha. Worauf will er hinaus. Spaßvogel. Und wird nicht rot dabei.
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P e r c h o v s k i j . Na ich bin nicht feig. Das ist nicht seltsam. Als Gesicht eine Birne… (»Marquise Desaix«) 121
Derartige Verse von Chlebnikov faßte Gumilev humoristisch auf.122 Die Rechtfertigung durch Humoristik, eine komische Auffassung kann dem Werk vom Leser aufgezwungen werden, häufig aber wird ein neues künstlerisches Verfahren tatsächlich humoristisch gerechtfertigt.
IV C h l e b n i k o v s S y n t a x (Einzelbemerkungen). Im Russischen ist die Wortstellung als Träger formaler Bedeutung nahezu ohne Belang. Etwas anders verhält es sich in der Poesie, wo die Intonation der praktischen Rede deformiert ist. Im Vergleich zur praktischen Sprache läßt sich in der Poesie der Pusˇkin-Schule eine deutliche syntaktische Verschiebung beobachten. Bei der umfassenden rhythmischen Reform Majakovskijs handelt es sich wieder um die gleiche Erscheinung. Was die Poesie Chlebnikovs betrifft, so ist sie in dieser Hinsicht wenig charakteristisch. Chlebnikovs Syntax zeichnet sich durch die häufige Verwendung des Lapsus, des Sprachfehlers aus. So die syntaktische *Metathese: umwunden mit dem Strauß der Feder; gebeugt in der Flamme des Heiligtums (II, 196). 123 »O, posˇcˇadi menja´, pany´cˇ!« No to´t: »Ne´ mo´zˇet«, govorju´. (II, 192) 124 »O schone mich, junger Herr«, Aber dieser »er kann nicht« sage ich. ˇ ’ı´ vzo´ry i gu´by isto´m ne te´. (II, 248) 125 C Wessen Blicke und Lippen der Schlaffheiten sind nicht jene. 121 Vgl. auch die dt. Übers. von Roland Erb in: Chlebnikow, Ziehn wir mit Netzen die blinde Menschheit, S. 29–41. [Anm. v. A.N.] 122 Die Chlebnikov-Rezension des Akmeisten Gumilevs erschien in der den späten Symbolisten und Akmeisten nahestehenden Zeitschrift Apollon unter der Rubrik: »Pis’ma o russkoj poe˙zii«, Gumilev, Sobranie socˇinenij, Bd. 4, S. 323 f. [Anm. v. A.N.] 123 Chlebnikov, »Mavka«, in: ders., Sobranie proizvedenij, II, S. 196. [Anm. v. A.N.] 124 Chlebnikov, »Vojna – smert’« [›Krieg – Tod‹], a. a. O., II, S. 187–192. [Anm. v. A.N.] 125 Chlebnikov, »Vojna v mysˇelovke« [›Krieg in der Mausefalle‹], a. a. O., II, S. 244– 258. [Anm. v. A.N.]
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Ocˇnu´lsja ja ina´cˇe vno´v’, Okı´nuv vas vo´ina o´kom. (II, 96; II, 258) 126 Ich erwachte anders, aufs Neue Euch Krieger mit dem Auge umfassend. (statt – erwacht seiend, warf ich zu).
Beispiele für Kontamination: Vorcˇa´, reve´t’ umo´lknut pu´ski. (I, 135) 127 Brummend, zu brüllen verstummen die Kanonen. Ona´ draznja´ p’e¨t sok bere´zy, A u ovcy´ zˇe ble´ˇscˇut sle´zy. (I, 122) 128 Sie trinkt aufreizend den Saft der Birke, Dem Schaf aber glänzen die Tränen.
Anakoluth: Se´rnoj vspry´gnuv na ute´s, Ty´ grozisˇ’, cˇto´b odino´k Sta´l ute´s. (I, 87) 129 Wie eine Gemse auf den Fels gesprungen, Du drohst, daß einsam Würde der Fels.
Besonderheiten in der Kongruenz der *Numeri: Iscˇe´zli tru´d, iscˇe´zlo de´lo. (I, 122) Es entschwanden Arbeit, es entschwand die Tat. Sı´nij le´n splestı´ chotja´t Streko´z re´jusˇcˇee sta´do. (I, 124) 130 126 Chlebnikov »Mracˇnoe« [›Finsteres‹], a. a. O., II, S. 96, und Chlebnikov, »Vojna v mysˇelovke« [›Krieg in der Mausefalle‹], a. a. O., II, S. 244–258. Diesen Abschlußzeilen von »Vojna v mysˇelovke« hat Jakobson später eine eigene Studie gewidmet: »Aus den kleinen Sachen Velimir Chlebnikovs: Wind – Singen«, in dieser Ausgabe, Bd. 2, S. 492–515. [Anm. v. A.N.] 127 Chlebnikov, »Sel’skaja druzˇba« [›Ländliche Freundschaft‹], in: ders., Sobranie proizvedenij, I, S. 135–142. [Anm. v. A.N.] 128 Chlebnikov, »Vila i lesˇij« [›Nixe und Waldschrat‹], a. a. O., I, S. 122–134. [Anm. v. A.N.] 129 Chlebnikov, »I i E˙« [›I und E‹], a. a. O., I, S. 83–93. [Anm. v. A.N.] 130 Beide Beispiele aus Chlebnikov, »Vila i lesˇij« [›Nixe und Waldschrat‹], a. a. O., I, S. 122–134. [Anm. v. A.N.]
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Blauen Flachs spinnen wollen Der Libellen schwirrende Schar. Ma´luju Medve´dicu povele´l Osta´vit’ ot no´g podo´ˇsvy (II, 244) 131 Die Kleine Bärin befahl er Wegzuschieben von der Sohle der Füße.
eÆnallagh [›Enallage´‹]: Alcˇa´k chranı´t svjatu´ju ta´jnu Ee¨ uzˇa´stnogo konca´. (Svja´to chranı´t tajnu). (II, 53) 132 Alcˇak hält das heilige Geheimnis Ihres entsetzlichen Endes. (Hält das Geheimnis heilig)
Besonderheiten in der Kongruenz der *Kasus: Po le´su vı´den smu´tnyj muzˇ. (II, 54) 133 Durch den Wald ist sichtbar ein trauriger Mann. I v otve´t na pro´s’bu k gonkam. (II, 51) 134 Und als Antwort auf die Bitte an die Jagden. Za grı´vu gustu´ju zve´rja Vpilı´s’, ve´rja, ru´cˇki tu´zˇe. (II, 72) 135 Hinter die dichte Mähne des Tieres Klammerten glaubend die Händchen fester. 131 Chlebnikov, »Vojna v mysˇelovke« [›Krieg in der Mausefalle‹], a. a. O., II, S. 244– 258. [Anm. v. A.N.] 132 Chlebnikov, »Alcˇak«, a. a. O., II, S. 50–53. [Anm. v. A.N.] 133 Chlebnikov, »Lesnaja deva« [›Waldjungfrau‹], a. a. O., II, S. 54–58. Die hier verwendete Präposition »po« (mit Dativ) wird im Russischen zur Bezeichnung einer Bewegung auf der Oberfläche gebraucht (auf die Frage wo?). So heißt z. B. »Ja guljaju po lesu« – ›Ich spaziere durch den Wald‹. In Chlebnikovs Konstruktion »Po lesu viden« [›Durch den Wald sichtbar‹] ist diese Bedeutung der Präposition (Bewegung auf einer Fläche) unmöglich. Assoziiert werden daher andere Bedeutungen der Präposition »po« (insbes. die Verwendung zur Angabe eines Merkmals nach dem Muster »Ja uznal ego po golosu« – ›Ich erkannte ihn an der Stimme‹), die jedoch ebefalls keinen korrekten Satz ergeben. [Anm. v. A.N.] 134 Chlebnikov, »Alcˇak«, a. a. O., II, S. 50–53. Die Wendung »na pros’bu k« [›auf die Bitte an‹] erfordert ein belebtes Substantiv, »gonki« [›Rennen‹, d. h. z. B. Jagdrennen etc.] ist jedoch unbelebt. [Anm. v. A.N.] 135 Chlebnikov, »Vnucˇka malusˇi« [›Malusˇas Enkelin‹], a. a. O., II, S. 63–76. [Anm. v. A.N.]
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Ja´ ucˇu´s’ slove´so. (II, 271) 136 Ich lern des Worts. Onı´ ka´zˇutsja zaso´chsˇee de´revo. Onı´ prosly´li golubkı´. (I, 137) 137 Sie scheinen vertrockneten Baums. Sie galten als der Tauben.
Durch die häufige Anwendung der instrumentalen Beziehung wird die Mechanik der Ergänzung aufgehoben, so daß das grammatikalische Subjekt hervortritt. Diese Praxis wird hauptsächlich durch die Zerstörung der praktischen Intonation bewirkt; die angeschlossene Ergänzung hängt ˇ ukovskijs 138 Zitat aus einem dann gewissermaßen in der Luft, wie in C übersetzten Roman: »on ˇsel s glazami opusˇcˇennymi v zemlju i s rukami slozˇennymi na grudi« [›er ging, die Augen gesenkt zu Boden und die Arme gefaltet auf der Brust‹], wo man nicht weiß, ob sich die Ergänzungen auf das Subjekt oder auf das Prädikat beziehen sollen.139 Usta´mi be´lyj balagu´r. (II, 69) 140 Der mundweise Spaßvogel. Glaza´mi ble´dnymi luka´v. (II, 80) 141 Blaßaugen – tückisch. 136 Chlebnikov, »Miroosi dannik zvezdnyj« [›Der Weltachse Sterngeber‹], a. a. O., II, S. 271. »Sloveso« [›Wort‹] (Akk. Sing.) ist der veralteten Pluralform »slovesa« [›Worte‹] nachgebildet; das Verbum »ucˇus’« [›ich lerne‹] fordert den Dativ, bei Chlebnikov steht stattdessen der Akkusativ. [Anm. v. A.N.] 137 Chlebnikov, »Sel’skaja druzˇba« [›Ländliche Freundschaft‹], a. a. O., I, 135–142. Die Verben »kazat’sja« [›scheinen‹] und »proslyt’« [›gelten‹] erfordern im Russischen den Instrumental, bei Chlebnikov steht nach ihnen ein Substantiv im Akkusativ. [Anm. v. A.N.] ˇ ukovskij, Vysokoe iskusstvo. O principach chudozˇestvennogo perevoda, S. 170. 138 Vgl. C 139 Die Funktionen des russischen Instrumentals bei Ergänzungen im Satz können im Deutschen u. a. von zusammengesetzten Adjektiven, Adverbialkonstruktionen usf. übernommen werden. Die Übers. der nachfolgenden Beispiele kann die Deformierung der russischen Syntax so nur ganz annäherungsweise erkennen lassen. Zur Verdeutlichung werden die im Original im Instrumental stehenden Nomina in der Übers. kursiv wiedergegeben. [Anm. d. Übs.] 140 Chlebnikov, »Vnucˇka malusˇi« [›Malusˇas Enkelin‹], in: Sobranie proizvedenij, II, S. 63–76. [Anm. v. A.N.] 141 Chlebnikov, »Peterburgskij ›Apollon‹« [›Petersburger »Apollon«‹], a. a. O., II, S. 80– 82. [Anm. v. A.N.]
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Kto´-to cˇernı´l’nicej vzglja´dov nedo´bryj. (II, 252) 142 Jemand im Tintenfaß der Blicke Schlechter. Cholo´dnoj sta´la vzo´rom te´m’. Blick-kalt ward die Finsternis.143 Ser’go´ju vozdu´ˇsnaja ol’cha´.144 Die ohrring-luftige Erle. Ja roga´t, stoja´ˇscˇij vy´ˇskami, Ja kosma´t, visja´cˇij mysˇkami. (IV, 228) 145 Ich gehörnt söller-stehend, Ich zottig mäuschen-hängend. Koso´ju cˇe´rnaja. (I, 123) 146 Zopf-schwarze. Vzo´rami nebe´snaja Vedu´n’ja vzo´rami prele´stnaja. (II, 196) 147 Blicke-himmlische. Blicke-herrliche Zauberin. Pogo´nsˇcˇik skota´ Tverdisla´v Guba´mi stoı´t molozˇa´v. (II, 24) 148 Der Viehtreiber Tverdislav Steht lippenjung.
142 Chlebnikov, »Vojna v mysˇelovke« [›Krieg in der Mausefalle‹], a. a. O., II, S. 244– 258. [Anm. v. A.N.] 143 Textstelle konnte nicht verifiziert werden. [Anm. v. A.N.] 144 Chlebnikov, »V lesu« [›Im Wald‹], in: ders., Tvorenija, S. 86. Dt. Übers.: Chlebnikov, Werke, S. 262 f. [Anm. v. A.N.] 145 Chlebnikov, »Markiza De˙zes« [›Marquise Desaix‹], in: ders., Sobranie proizvedenij, IV, S. 225–238. Dt. Übers. von Roland Erb in: Chlebnikow, Ziehn wir mit Netzen die blinde Menschheit, S. 29–41. [Anm. v. A.N.] 146 Chlebnikov, »Vila i lesˇij« [›Nixe und Waldschrat‹], in: ders., Sobranie proizvedenij, I, S. 122–134. [Anm. v. A.N.] 147 Chlebnikov, »Mavka«, a. a. O., II, S. 196 f. [Anm. v. A.N.] 148 Chlebnikov, »Pogonsˇcˇik skota, sozˇrannyj im« [›Viehtreiber, von ihm aufgefressen‹], a. a. O., II, S. 24 f. [Anm. v. A.N.]
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I lico´m prekra´snym smu´gol Bo´g blista´et serebro´m. (IV, 197 f.) 149 Und schöngesichtig braun Silberglänzt Gott. Stoja´la ne´gi dsˇcˇer’, Plecˇ sla´baja steno´j. (II, 57) 150 Stand der Lust Tochter Der Schultern wand-schwach. Ja glaza´mi v brovja´ch ja´sen. Konca´mi kryla´ golubo´j. (I, 88) 151 Ich bin den Brauen augen-klar. Flügel-enden-blau. Chrebto´m prekra´snaja sidı´t. (I, 126) 152 Rückgratig sitzt die Herrliche.
Vgl. bei Majakovskij: Vse´ e˙ti provalı´vsˇiesja nosa´mi zna´jut 〈…〉 Gde´ mo´rdoj pereko´ˇsennyj, razmale´vannyj sa´zˇej Na ca´rstvo baza´rov korono´van ˇsum. Alle diese Nasen-Gescheiterten wissen 〈…〉 Wo der schnauzen-verzerrte, ruß-beschmierte Lärm zum Reich der Basare gekrönt.153
Zerstörung des syntaktischen Gleichgewichts; zwei parallele Glieder sind qualitativ nicht äquivalent: Ach, stano´visˇcˇe zemno´e Dne´j i be´dnoe dlino´ju. (I, 85) 154 Ach, Lagerstätte irdische Der Tage und arm an Länge. 149 150 151 152
Chlebnikov, »Asparuch«, a. a. O., IV, S. 195–199. [Anm. v. A.N.] Chlebnikov, »Lesnaja deva« [›Waldjungfrau‹], a. a. O., II, S. 54–58. [Anm. v. A.N.] Chlebnikov, »I i E˙« [›I und E‹], a. a. O., I, S. 83–93. [Anm. v. A.N.] Chlebnikov, »Vila i lesˇij« [›Nixe und Waldschrat‹], a. a. O., I, S. 122–134. [Anm. v. A.N.] 153 Vgl. Majakovskij, »Sˇumiki, ˇsumy i ˇsumisˇcˇi«, in: ders., Polnoe sobranie socˇinenij, Bd. 1, S. 54. [Anm. v. A.N.] 154 Chlebnikov, »I i E˙« [›I und E‹], in: ders., Sobranie proizvedenij, I, S. 83–93. [Anm. v. A.N.]
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Gljadı´t kova´rno, zlo´ i ry´s’ju. (II, 122) 155 Er schaut tückisch, boshaft und im Trab [oder: als Luchs]. Chotja by´l krası´vyj i ju´n. Smo´trit prja´mo i sucha´. (II, 51) 156 War er gleich ein schöner und jung. Sie blickt gerad und trockene. Ja beloru´kaja, ja beloko´zˇaja, Rucˇ’jam au´kaja, na ˇscˇu´k pocho´zˇaja, O ze´mlju stu´kaja, dosu´g trevo´zˇu ja. (I, 125) 157 Ich weißhändige, ich weißhaarige, Den Bächen zurufend, einem Hecht ähnliche, An die Erde klopfend, die Muße beunruhige ich.
Zwei Glieder einer Parallele sind quantitativ nicht äquivalent: My´ – obzˇiga´teli syry´ch glı´n cˇelovecˇestva v kuvsˇ´ıny vre´meni i bala´kiri 〈…〉 (III, 17) 158 Wir Brenner der rohen Lehme der Menschheit zu Krügen der Zeit und Tonhäfen 〈…〉
Vgl. die Zerstörung des semantischen Gleichgewichts: I isstrepa´la by ee¨ nenaglja´dnye ko´sy, e´sli by ne lubı´la pu´ˇscˇe otca´ ma´teri, pu´ˇscˇe osta´tka dne´j, ee¨, zolotu´ju, i zolotu´ju do pja´t kosu´. (IV, 165 f.) 159 Und sie hätte ihre herzliebsten Zöpfe gerauft, wenn sie nicht mehr als Vater Mutter, mehr als den Rest ihrer Tage, ihren goldenen, und bis zu den Fersen goldenen Zopf geliebt hätte. 155 Chlebnikov, »Igra v adu« [›Spiel in der Hölle‹], a. a. O., II, S. 119–135. [Anm. v. A.N.] 156 Chlebnikov, »Alcˇak«, a. a. O., II, S. 50–53. [Anm. v. A.N.] 157 Die Besonderheit des Beispiels besteht darin, daß die fünfmal verwendete Endung -aja durchgehend eine auf das weibl. Subjekt bezogene Adjektivendung zu sein scheint, sich aber in zwei Fällen als Endung eines Gerundiums erweist; dadurch entsteht eine syntaktische Scheinäquivalenz der Parallelglieder. [Anm. d. Übs.] – Die Textstelle entstammt: Chlebnikov, »Vila i lesˇij« [›Nixe und Waldschrat‹], a. a. O., I, S. 122–134. [Anm. v. A.N.] 158 Chlebnikov, »Tol’ko my, svernuv vasˇi tri gody vojny…« [›Nur wir, die wir eure drei Kriegsjahre…‹], a. a. O., III, S. 17–23. Dt. Übers.: Chlebnikov, Werke, Bd. 2, S. 258–263. [Anm. v. A.N.] 159 Chlebnikov, »Devij-Bog« [›Jungfraungott‹], in: ders., Sobranie proizvedenij, IV, S. 164–194. [Anm. v. A.N.]
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P e ˇs k o v s k i j : »Die Verbalität ist die Grundform unseres sprachlichen Denkens. Das Verb als Prädikat ist das wichtigste Glied des Satzes und unserer Rede überhaupt.« 160 Für die poetische Rede ist häufig die Tendenz zur Verblosigkeit charakteristisch. So die berühmten verblosen Experimente Fets, die Chlebnikov zu unmittelbarer Nachahmung anregten (Sˇopot, ropot, negi ston, kraska temnaja styda [›Geflüster, Gemurr, der Wonne Gestöhn, Dunkelröte der Scham‹] usw.).161 Experimente einer Kanonisierung der Verblosigkeit gibt es bei den italienischen Futuristen, aber ebenso in der neuen russischen Poesie (z. B. das Poem Mariengofs »Konditerskaja solnc« [›Konditorei der Sonnen‹] 162 ). Für Chlebnikov sind zwei Methoden der Entverbalisierung charakteristisch: 1. Die Handlung des Gegenstands wird in Form eines *Adverbialpartizips oder Partizips dargestellt: Vy´ zde´s’, cˇto´ de´laja? (II, 85) 163 Sie hier, was tuend? ˇ to´ zˇe da´l’sˇe bu´dut de´laja, C S va´mi dsˇcˇe´ri se´j stra´ny? (II, 116) 164 Was aber werden weiter tuend sein Mit euch die Töchter dieses Landes? Ty ve´s’ drozˇ´ıˇs’? Ty ve´s’ drozˇa? (IV, 235) 165 Du zitterst ganz? Du zitternd ganz? 160 Pesˇkovskij, Russkij sintaksis v naucˇnom osvesˇˇcenii, S. 119 u. 117. 161 Prätext für Chlebnikov ist das berühmteste Gedicht von Afanasij A. Fet (1820– 1892), »Sˇepot, robkoe dychan’e, Treli solov’ja. […]« [wörtlich: ›Flüstern, schüchternes Atmen, Triller der Nachtigall (…)‹], 1850, in: Fet, Polnoe sobranie stichotvorenij, S. 211. Die Berühmtheit des Gedichtes beruht nicht zuletzt auf dem von Jakobson behandelten Phänomen des Nominalstils, also einer asyntaktischen Montage von Nomina, wie sie für den lyrischen Impressionismus Fets charakteristisch war. Die Zeile »Sˇopot, ropot…« findet sich in: Chlebnikov, »Gonimyj – kem, pocˇemu ja znaju?« [›Gejagte – von wem, woher es wissen?‹], in: ders., Sobranie proizvedenij, II, S. 113. Dt. Übers.: Chlebnikov, Werke, Bd. 1, S. 220. [Anm. v. A.H.-L.] 162 Anatolij B. Mariengof (1897–1962) war führendes Mitglied der Gruppe der Imaginisten (vgl. dazu: Lauer, Geschichte der russischen Literatur, S. 603 ff.). [Anm. v. A.H.-L.] – Das Gedicht ist abgedruckt in: Mariengof, Neizvestnyj Mariengof, S. 27–31. [Anm. v. A.N.] 163 Chlebnikov, »Pamjatnik« [›Denkmal‹], in: ders., Sobranie proizvedenij, II, S. 85– 88. [Anm. v. A.N.] 164 Chlebnikov, »Semero« [›Sieben‹], a. a. O., II, S. 116–118. [Anm. v. A.N.]
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Naro´d svo´j u´zˇas velicˇa´jusˇcˇij, Pucˇ´ıny re´v i zvu´k sercˇa´jusˇcˇij. (I, 100) 166 Das Volk ist seinen Schrecken preisend, Des Abgrunds Geheul und der Klang sich ärgernd. Lju´di, kogda´ onı´ lju´bjat, De´lajusˇcˇie dlı´nnye vzglja´dy, I ispuska´jusˇcˇie dlı´nnye vzdo´chi. Zve´ri, kogda oni lju´bjat, Naliva´jusˇcˇie v glaza´ mu´t’. I de´lajusˇcˇie udı´la iz pe´ny. So´lnca, kogda´ onı´ lju´bjat, Zakryva´jusˇcˇie no´gi tka´n’ju iz zeme´l’ I ˇse´stvujusˇcˇie s plja´skoj k svoemu´ dru´gu. Bo´gi, kogda´ onı´ lju´bjat, Zamyka´jusˇcˇie v me´ru tre´pet vsele´nnoj, Ka´k Pusˇkin zˇa´r ljubvı´ go´rnicˇnoj Volko´nskogo. (II, 45) Menschen, wenn sie lieben, Sind machend lange Blicke Und ausstoßend lange Seufzer. Tiere, wenn sie lieben, Sind strömen lassend in die Augen Trübe, Und machend ein Gebiß aus Schaum. Sonnen, wenn sie lieben, Sind bedeckend ihre Füße mit Gewebe aus Erden Und tanzschreitend zu ihrem Freund. Götter, wenn sie lieben, Sind einschließend ins Versmaß das Beben des Weltalls, Wie Pusˇkin das Liebesfeuer von Volkonskijs Zimmermädchen.
2. Die Handlung des Gegenstandes wird als Merkmal des qualitativen Merkmals (Adverbialpartizip mit prädikativem Adjektiv) dargestellt: Ty prekra´sna, nocˇ’ju le¨zˇa. (II, 286) 167 Du bist schön nachts liegend.
165 Chlebnikov, »Markiza De˙zes« [›Marquise Desaix‹], a. a. O., IV, S. 225–238. [Anm. v. A.N.] 166 Chlebnikov, »Gibel’ Atlantidy« [›Der Untergang von Atlantis‹], a. a. O., I, S. 94– 102. [Anm. v. A.N.] 167 Chlebnikov, »Ty bogynja molod[ezˇi]…« [›Du bist die Göttin der Jugend…‹], a. a. O., II, S. 286. [Anm. v. A.N.]
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Ta´k tocˇna´, lı´vsˇis’, krov’. (II, 188) 168 Genau so bist du, fließend, Blut. On by´l, pla´cˇa tı´cho, zˇa´lok. (II, 52) 169 Er war, weinend leise, bedauernswert.
V * E p i t h e t a . Das euphonische Prinzip der Zuordnung von Epitheta. I, preodoleva´ja stra´nnyj stra´ch Po prostra´nnoj vzbega´et on le´stnice 〈…〉 (I, 68) 170 Und überwindend den sonderbaren Schrecken Läuft er die geräumige Treppe hinauf 〈…〉 Kacˇa´jutsja sta´roju stre´lkoj cˇasy´ 〈…〉 (I, 69) 171 Es schwingt mit dem alten Zeiger die Uhr 〈…〉 Buru´n zakry´l mladu´ju mel’ 〈…〉 (II, 195) 172 Die Welle bedeckte die junge Sandbank 〈…〉 I s po´lnym pla´menem v ocˇa´ch 〈…〉 (II, 55) 173 Und mit voller Flamme in den Augen 〈…〉 Vla´gi vo´l’nye gro´ba (II, 52) 174 Freie Feuchten des Sarges 〈…〉 V certo´gach stro´gich morsko´j pesˇcˇe´ry 〈…〉 Sryva´tel ja´snyj vo sne´ ode´zˇd 〈…〉 (II, 50) 175
168 Chlebnikov, »Vojna – smert’« [›Krieg – Tod‹], a. a. O., II, S. 187–192. [Anm. v. A.N.] 169 Chlebnikov, »Alcˇak«, a. a. O., II, S. 50–53. [Anm. v. A.N.] 170 Chlebnikov, »Marija Vecˇora«, a. a. O., I, S. 67–70. [Anm. v. A.N.] 171 Ebd. [Anm. v. A.N.] 172 Chlebnikov, »Sˇabasˇ« [›Genug damit‹], a. a. O., II, S. 193–195. [Anm. v. A.N.] 173 Chlebnikov, »Lesnaja deva« [›Waldjungfrau‹], a. a. O., II, S. 54–58. [Anm. v. A.N.] 174 Chlebnikov, »Alcˇak«, a. a. O., II, S. 50–53. [Anm. v. A.N.] 175 Ebd. [Anm. v. A.N.]
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In den strengen Gemächern der Meerhöhle Der helle Abreißer im Schlaf der Kleider 〈…〉 Uzˇ´ej zˇele´znyj sno´p 〈…〉 (II, 103) 176 Eiserner Nattern Garbe 〈…〉 Kak sne´znyj sno´p sija´jut lo´pasti 〈…〉 (II, 111) 177 Wie eine Schneegarbe gläntzen die Schaufeln 〈…〉 Glaza´ gru´stnye, u´ˇsi ubo´gie 〈…〉 (IV, 239) 178 Traurige Augen, armselige Ohren 〈…〉 Na cho´chot mo´rja molodo´go 〈…〉 (I, 115) 179 Auf das Lachen des jungen Meers 〈…〉 Zorko kra´snye gu´bki 〈…〉 (II, 85) 180 Die scharfsichtig roten Lippchen 〈…〉 S ne´ju rja´dom stra´ˇsno sı´dja, Stra´stny re´cˇi lepecˇa´ 〈…〉 (II, 52) 181 Mit ihr zusammen schrecklich sitzend, Leidenschaftliche Reden lallend 〈…〉
Anmerkung. Ich betrachte das poetische Adverb als Epitheton des Merkmals. Oft ist es die Funktion des Epithetons, lediglich die Ausrichtung auf das Attribut als syntaktisches Faktum zu geben, mit anderen Worten, wir haben hier eine Bloßlegung des Attributs vor uns. In der Pusˇkinschen Plejade wurde diese Funktion einerseits, wie O. M. Brik 182 richtig bemerkt, 176 Chlebnikov, »Gibel’ Atlantidy« [›Untergang von Atlantis‹], a. a. O., I, S. 103. [Anm. v. A.N.] 177 Chlebnikov, »Gonimyj – kem, pocˇemu ja znaju?« [›Gejagte – von vom, woher es wissen?‹], a. a. O., II, S. 111–113. Dt. Übers.: Chlebnikov, Werke, 1, S. 220. [Anm. v. A.N.] 178 Chlebnikov, »Mirskonca« [›Weltvomende‹], in: ders., Sobranie proizvedenij, IV, S. 239. [Anm. v. A.N.] 179 Chlebnikov, »Chadzˇi Tarchan«, a. a. O., I, S. 115–121. [Anm. v. A.N.] 180 Chlebnikov, »Pamjatnik« [›Denkmal‹], a. a. O., II, S. 85–88. [Anm. v. A.N.] 181 Chlebnikov, »Alcˇak«, a. a. O., II, S. 50–53. [Anm. v. A.N.] 182 Brik, »Ritm i sintaksis« (Novyj Lef [27], Nr. 4, S. 29). [Anm. v. R.J.] – Zu den
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»durch indifferente Epitheta« 183 (vom Typ »reiner Schönheit«, »herrlichen Haupts«, oder sogar »der und der Zar in dem und dem Jahr«) erfüllt, andererseits durch willkürliche Epitheta, die nach dem Ausspruch eines Pusˇkinschen Zeitgenossen »keinen ersichtlichen Bezug auf ihre Substantive« hatten, durch Epitheta, für die dieser Kritiker die Bezeichnung »Anklebenomina« vorschlägt.184 Der letztere Epitheta-Typ ist auch für Chlebnikov bezeichnend. Beispiele: Chı´trych lepestko´v zlato´j veno´k 〈…〉 (II, 55) 185 Schlauer Blütenblättchen güldener Kranz 〈…〉 Lepe¨ˇski mu´drye 〈…〉 Tverdı´m usta´mi ko´snymi 〈…〉 186 Weise Flädchen 〈…〉 Wir behaupten mit trägem Mund 〈…〉 V u´mnych lesa´ch prave´n lesovoj, V mı´lych vo´dach sile´n vodjano´j, i t. p. (II, 264) 187 In klugen Wäldern ist befugt der Waldgeist, In lieben Wassern ist stark der Wassermann, usf.
183
184
185 186 187
»indifferenten Epitheta« vgl. die zweisprachige kommentierte Ausgabe dieses Aufsatzes innerhalb der Texte der russischen Formalisten, Bd. II, S. 189–191. [Anm. v. A.H.-L.] Osip Brik gehörte dem Moskauer Linguistikzirkel an. Jakobson bezieht sich hier auf seinen dortigen Vortrag zur Rolle der Epitheta. In die Phase des Moskauer Linguistik-Zirkels gehört auch Osip Briks bahnbrechender Aufsatz »Zvukovye povtory«; vgl. dazu Hansen-Löve, Der russische Formalismus, S. 128–132; S. 331 ff. Die Epitheta (ornatia), also die stereotypen, sich wiederholenden Attribute schon in der antiken Epik (zumal bei Homer), aber auch in der Folklore, bildeten einen wichtigen Ausgangspunkt für die formalistische Theorie der Automatisierung (vgl. a. a. O., S. 44, S. 51). [Anm. v. A.H.-L.] Siehe Atenej, 1828, »Evgenij Onegin« Artikel V. [Anm. v. R.J.] – Der Artikel erschien unter dem Kürzel »V«. Autor war offensichtlich M. A. Dmitriev; ein Nachdruck findet sich in: Pusˇkin v prizˇiznennoj kritike. 1828–1830, S. 47–55; die von Jakobson zitierte Textstelle hier auf S. 55. [Anm. v. A.N.] Chlebnikov, »Lesnaja deva« [›Waldjungfrau‹], in: ders., Sobranie proizvedenij, II, S. 54–58. [Anm. v. A.N.] Chlebnikov, »Slucˇaj« [›Fall‹], in: ders., Tvorenija, S. 115. [Anm. v. A.N.] Chlebnikov, »Porucˇejnoe« [›Aufgetragenes‹], in: ders., Sobranie proizvedenij, II, S. 264. [Anm. v. A.N.]
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Zarja´ slepo´tstvuet nemlı´vo, Morja jaro´tstvujut stydlı´vo.188 Die Himmelsröte blindet stummhaft Das Meer grimmigt schamhaft.
In den frühen (impressionistischen) Stücken von Chlebnikov ergibt sich das Epitheton zuweilen aus der Situation, z. B. I vecˇe´rnee vino´, I vecˇe´rnie zˇensˇcˇiny Spleta´jutsja v edı´nyj veno´k. (II, 30) 189 Und der abendliche Wein, Und die abendlichen Frauen Verflechten sich zu einem Kranz.
(d. h. eine Art eÆnallagh [›Enallage´‹]). Ve r g l e i c h e . Die Frage des poetischen Vergleichs bei Chlebnikov ist sehr vielschichtig. Ich kann hier nur Richtpunkte angeben. Was ist ein poetischer Vergleich? Abstrahieren wir ihn von seiner symmetrischen Funktion, können wir den Vergleich charakterisieren als eine der verfügbaren Methoden, eine Reihe von Fakten in poetischen Umlauf zu setzen, die sich nicht aus dem logischen Gang der Erzählung ergeben. Bei Chlebnikov werden Vergleiche kaum durch einen wirklichen Eindruck von Ähnlichkeit der Objekte gerechtfertigt, sondern sie fallen in den Aufgabenbereich der Komposition. Benutzen wir die bildliche Formulierung Chlebnikovs, es gebe Worte, mit denen man sehen kann, Wortaugen, und Worthände, mit denen man handeln kann,190 und übertragen wir diese Formulierung auf den Vergleich, so bemerken wir: Bei Chlebnikov sind insbesondere die Vergleiche – Hände. Charakteristisch ist für Chlebnikov die Kontamination von Gegenüberstellungen. 188 Die Textstelle konnte nicht verifiziert werden. [Anm. v. A.N.] 189 Chlebnikov, »Mne vidny – Rak, Oven« [›Mir sind sichtbar – Krebs, Widder‹], in: ders., Sobranie proizvedenij, II, S. 30. [Anm. v. A.N.] 190 Aus Chlebnikovs Erzählung »Ka«: »Er [= Ka] lehrte, daß es Wörter gibt, mit denen man sieht – Wörter-Augen, und Wörter-Hände, mit denen man etwas tut« (Chlebnikov, Werke, 2, S. 128). Russisch: Chlebnikov, Sobranie socˇinenij, IV, S. 48. [Anm. v. A.N.] – Zu Chlebnikovs slova glaza, slova-ruki vgl. Hansen-Löve, »Velimir Chlebnikovs Onomatopoetik. Name und Anagramm«. [Anm. v. A.H.-L.]
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Slo´vno cˇe´rnym pa´rusom be´loe mo´re, svire´pye zracˇkı´ ko´so pereseka´li glaza´: Stra´ˇsnye be´lye glaza podyma´lis’ k brovja´m golovo´j me¨rtvogo, pove´ˇsennoj za kosu´. (»Esir«; IV, 95) 191 Gleichsam wie ein schwarzes Segel das weiße Meer, durchschnitten wütende Pupillen schräg die Augen: Schreckliche weiße Augen erhoben sich zu den Brauen einem Totenkopf gleich, der am Zopf aufgehängt ist.
(Kontaminiert werden die Farbcharakteristik schwarz mit weiß und die Linearcharakteristik Segel mit Meer.) Pyla´et vzo´rov sı´nij ko´los 〈…〉 (II, 54) 192 Es lodert der Blicke blaue Ähre 〈…〉 I v my´ kak de´n’ potu´sk Lete´li tı´ˇsi ja´zvy 〈…〉 (II, 261) 193 Und in wir wie der Tag ertrübt Es flogen die Geschwüre der Stille 〈…〉 Zele´noe mo´re, kak nı´va rakı´t. (II, 86) 194 Das grüne Meer wie eine Flur von Bruchweiden.
Das Vergleichssubjekt wird oft nicht nur danach gewählt, inwieweit es dem Vergleichsobjekt ähnlich ist, sondern innerhalb eines anderen, weiteren Bereichs. Kak te´ vide´n’ja tı´chich vo´d, ˇ to iscˇeza´jut, lisˇ’ ja´ bry´znu, C Kak go´los cˇe´j-to v be´dstvij go´d: Pastu´ˇska, vsta´n’, spası´ otcˇ´ıznu. Vid spo´ra mo´lnij s zˇ´ızn’ju musˇki Sokry´t v tvoı´ch krası´vych vzo´rach, I pe´red dla´niju pastu´ˇski, Vorcˇa´, reve´t’ umo´lknut pu´ˇski, I lja´zˇet smı´rno ko´pij vo´roch. Ta´k v prja´zˇe taı´nstvennoj s scˇa´st’em i be´dami, Prekra´sny, smely´ i neve´domy, 191 Vgl. die dt. Übers. in: Chlebnikov, Werke, Bd. 2, S. 169–183. [Anm. v. A.N.] 192 Chlebnikov, »Lesnaja deva« [›Waldjungfrau‹], in: ders., Sobranie proizvedenij, II, S. 54–58. [Anm. v. A.N.] 193 Chlebnikov, »Vremenel’« [›Zeitweise‹], a. a. O., II, S. 261; dt. Übers.: Chlebnikov, Werke, Bd. 1, S. 97. [Anm. v. A.N.] 194 Chlebnikov, »Pamjatnik« [›Denkmal‹], in: ders., Sobranie proizvedenij, II, S. 85– 88. [Anm. v. A.N.]
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Ju´nosˇej dvo´e javı´los’ odnazˇdy. (»Sel’skaja druzˇba«; I, 135) Wie jene Gesichte stiller Wasser, Die verschwinden, kaum spritze ich, Wie jemands Stimme in der Nöte Jahr: Hirtin, steh auf rette das Vaterland. Der Anblick des Streits des Blitzes mit dem Leben des Mückleins Ist verborgen in deinen schönen Blicken, Und vor der Hand der Hirtin Brummend zu brüllen verstummen die Kanonen, Und legt sich friedlich der Speere Haufen. So in geheimnisvollem Gespinst mit Glück und Leiden Schön kühn und ungekannt Zwei Jünglinge erschienen einst. (»Ländliche Freundschaft«) V te´be, ljubı´myj go´rod, staru´ˇski cˇto-to e´st’. Use´las’ na svo´j ko´rob i du´maet poe´st’. Kosy´nkoj zamachnu´las’ – kosy´nka ne prosta´ja: ´ t i do´ kra´ja letı´t ptı´c cˇe¨rnych staja. (II, 27) 195 O In dir, geliebte Stadt, von einer Greisin etwas ist: Hat sich auf ihren Korb gesetzt und will was essen, Mit dem Kopftuch fängt sie an zu winken, das Kopftuch ist nicht einfach, Vom und bis zum Rand fliegt der schwarzen Vögel Schwarm.
Chlebnikov stellt hier ein komplexes Netz von Analogien her. Raum und Zeit, optische und akustische Wahrnehmungen, Figuren und Handlung werden miteinander konfrontiert. Uzˇasna e˙ta ochota, gde osoka – gody, gde dicˇ’ – pokolenija. (IV, 217) 196 Schrecklich diese Jagd, wo das Ried die Jahre, wo das Wild die Generationen sind. A vzor tvoj e˙to – chata, gde zˇmut vereteno dve macˇechi i prjachi. (II, 236) 197 Aber Dein Blick ist eine Hütte, wo zwei Stiefmütter und Spinnerinnen die Spindel drehen.
195 Chlebnikov, »Vy pomnite o gorode…« [›Ihr erinnert Euch an die Stadt…‹], a. a. O., II, S. 26 f. [Anm. v. A.N.] ˇ ortik« [›Teufelchen‹], a. a. O., IV, S. 200–224. [Anm. v. A.N.] 196 Chlebnikov, »C 197 Chlebnikov, »Lasok…«, a. a. O., II, S. 236. [Anm. v. A.N.]
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V glaza´ch ubijstvo i nocˇle´g, Ka´k za zanave´skoj zˇe¨ltoj sso´ru Procˇe´st’ ume´l by cˇelove´k. (II, 109) 198 In den Augen Mord und Nachtlager Wie hinter gelbem Vorhang den Streit Zu lesen vermöchte ein Mensch. Ona´ stoja´la sko´rbno, stra´nno, Kak ble´dnyj dozˇd’ v cholo´dnom le´te. (II, 57) 199 Sie stand wehmutssonderbar Wie bleicher Regen im kalten Sommer. Iscˇe´zla ra´znica Ljude´j i ˇsa´losti.200 Es entschwand der Unterschied Der Menschen und der Schelmerei. No sme´rcˇ uly´bok prolete´l lisˇ’, Kogtja´mi krı´kov chochocˇa´.201 Aber eine Windhose von Lächeln flog vorbei nur Mit Klauen von Schreien lachend. Zele¨nyj lesˇij – bu´ch lesı´nyj… Poma´zal me¨dom ko´ncik dnja´. (II, 92) 202 Ein grüner Waldschrat krachte waldig… Bestrich mit Honig das Endchen des Tages.
Beispiel für eine vielschichtige Analogienkomposition: Iz u´licy u´l’ja Pu´li ka´k pcˇe¨ly Sˇata´jutsja stu´l’ja Bledne´et vese¨lyj 198 Chlebnikov, »Zmei poezda – begstvo« [›Zugschlangen – Flucht‹], a. a. O., II, S. 106– 110. [Anm. v. A.N.] 199 Chlebnikov, »Lesnaja deva« [›Waldjungfrau‹], a. a. O., II, S. 54–58. [Anm. v. A.N.] 200 Textstelle konnte nicht verifiziert werden. [Anm. v. A.N.] 201 Chlebnikov, »Usad’ba nocˇ’ju…« [›Gehöft bei Nacht…‹], in: ders., Tvorenija, S. 99. Dt. Übers.: Chlebnikov, Werke, Bd. 1, S. 265. [Anm. v. A.N.] 202 Chlebnikov, »Zelenyj lesˇij…« [›Grüner Waldgeist…‹], in: ders., Sobranie proizvedenij, II, S. 92. [Anm. v. A.N.]
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Po u´lice dlı´nnoj ka´k pu´li pole¨t Opja´t’ puleme¨t Ko´sit, mete¨t Pu´ljami lı´stvennyj ve´nik Gnete¨t Pastucho´v de´neg. (III, 162) 203 Aus der Straße Bienenkorb Kugeln wie Bienen Es schwanken die Stühle Erblaßt der Fröhliche Auf der Straße lang wie der Kugel Flug Wieder ein Maschinengewehr Mäht, fegt Mit Kugeln der (den) Laubbesen Bedrückt Die Hirten der Gelder.
In den ersten beiden Versen wird hier eine lautlich-bildliche Parallele angelegt (ulica – ulej, puli – pcˇely [›Straße – Bienenkorb, Kugeln – Bienen‹]), wobei das Subjekt der ersten Vergleichung mit dem Subjekt der zweiten und ebenso das Objekt der ersten mit dem Objekt der zweiten durch entsprechende Stellung verbunden sind. Im fünften Vers wird zwischen den Subjekten des ersten und zweiten Verses eine lautlich-bildliche Parallele angelegt (po ulice – puli polet [›auf der Straße – Kugeln Flug‹]).
VI Diese Ausrichtung auf den Ausdruck, auf die Wortmasse, die ich als das für die Poesie einzig wesentliche Moment qualifiziere, richtet sich nicht nur auf die Form der Wortverbindung, sondern auch auf die Form des Wortes. Eine mechanische Kontiguitätsassoziation zwischen Laut und Bedeutung entsteht umso schneller, je üblicher sie ist. Daher die konservative Haltung der praktischen Rede. Die Form des Wortes stirbt bald ab. In der Poesie ist die Rolle der mechanischen Assoziation auf ein Minimum reduziert, während die Dissoziation verbaler Elemente ganz besonderes Interesse gewinnt. Die Bruchstücke der Dissoziationen lassen sich leicht zu neuen Verbindungen kombinieren. Tote *Affixe gewinnen neues Leben. 203 Abschlußverse aus: Chlebnikov, »Sestry-Molnii« [›Schwestern des Blitzes‹], a. a. O., III, S. 155–162. [Anm. v. A.N.]
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Eine Dissoziation kann auch willkürlich sein und neue Suffixe schaffen (ein auch in der praktischen Sprache bekannter Prozeß – vgl. das Wort golubcˇik [›Täubchen‹] –, der hier aber größere Intensität erlangt). Z. B. sochrun, mokrun 204 im Abzählvers der Kinder. Das Spiel mit Suffixen ist der Poesie seit langem bekannt, wird aber erst in der neuen Poesie, insbesondere bei Chlebnikov, zum bewußten, legalisierten Verfahren. Vgl. bei Pusˇkin: a molodicy-molodusˇki, cvetiki-cvetocˇki.205 In der russischen Folklore, z. B. im Märchen: »Chleby´ chlebı´sty, ja´ricy jarı´sty, psˇenı´cy psˇenı´sty, rzˇ´ı kolosı´sty« 206 [›Getreidige Getreide, kornige Korne, weizige Weizen, ährige Roggen‹]
In Rätseln: »Na zare´ zarja´nskoj stoı´t ˇsa´r vertlja´nskij« 207 [›Auf der himmelrötigen Himmelsröte steht eine drehige Kugel.‹] (Dal’, Wörterbuch). »Dre´vo drevoda´nskoe, lı´st’ja lichocha´nskie« 208 [›Bäumiger Baum, blätterige Blätter‹]. »Begu´t begu´ncˇiki, revu´t revu´ncˇiki« 209 [›Es laufen Läuferle, es heulen ˇ ety´re choHeulerle‹]. »Zˇiva´ja zˇivu´leczka« 210 [›Lebendiges Lebendrichen‹]. »C
204 Das Wort »mokrun« [›der Nasse‹, ›Bettnässer‹] existiert: »sochrun« ist eine willkürliche Analogiebildung zu »mokrun«, abgeleitet von »suchoj« [›trocken‹] und aus Reimgründen zu »sochrun« deformiert; »sochrun« meint das Gegenteil von »mokrun«. [Anm. d. Übs.] 205 Ableitung von »molod-« [›jung‹] und »cvet-« [›Blume‹]. [Anm. d. Übs.] – Die Passage »A molodicy-molodusˇki« stammt aus Pusˇkins Gedicht »Gusar« [›Husar‹] aus dem Jahr 1833, in: Pusˇkin, Polnoe sobranie socˇinenij, Bd. 3, S. 300 (dt. Übers.: Puschkin, Gesammelte Werke, Bd. 1, S. 374–378); »cvetiki-cvetocˇki« stammt aus seinem Gedicht »Solovej« [›Nachtigall‹], Polnoe sobranie socˇinenij, Bd. 3, S. 354. [Anm. v. A.N.] 206 Afanas’ev, Russkie narodnye skazki, Bd. 5, S. 238. [Anm. v. R.J.] – Die Beispiele sind aus Afanas’evs Sammlung von »Pribautki« [›Scherzreden‹] entnommen. [Anm. v. A.N.] 207 Dal’, Tolkovyj slovar’ zˇivogo velikorusskogo jazyka, Bd. 1, S. 628. [Anm. v. R.J.] – Das Beispiel findet sich unter dem Stichwort »zarevo« [›Morgenrot‹], jedoch in einer anderen Variante als der von Jakobson angeführten: »Po zare zarjanskoj katilsja ˇsar vertljanskij« [›Auf der himmelrötigen Himmelsröte fuhr eine drehige Kugel‹]. [Anm. v. A.N.] 208 Siehe Skazanija russkogo naroda. [Anm. v. R.J.] – Das Zitat findet sich a. a. O., S. 182. [Anm. v. A.N.] 209 A. a. O., S. 183. [Anm. v. A.N.] 210 A. a. O., S. 182. [Anm. v. A.N.]
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dosta´, dva´ bodosta´« 211 [›Vier Gangeriche, zwei Stoßeriche‹]. »Begu´n’ki begu´t, skrypu´l’li skripja´t, rogo-va´tiki vezu´t, machova´tiki kolo´tjat« 212 [›Läufle laufen, Quietscherle quietschen, Horntichte fahren, Schwenktichte schlagen‹]. »Na bo´cˇke kiva´lo, na kiva´le zeva´lo, na zeva´le miga´lo« 213 [›Auf der Tonne nickte es, auf dem Nickten gähnte es, auf dem Gähnten flimmerte es‹].
In der Kinderfolklore: »Potjagu´nusˇki-potjagunusˇki. Popere¨k tolstu´nusˇki, a v no´zˇki chodu´-nusˇki, a v ru´cˇki chvatu´nusˇki« 214 [›Verzieherle Verzieherle. Entgegen dem Dickerle, in die Füßchen Gängerle, in die Händchen Geckerle‹]. »Postrigu´li-pomigu´li« 215 [›Schertenchen blitztenchen‹]. »Pivro´ˇska-drugo´ˇska«. »Perve´ncˇiki-druge´ncˇiki« 216 [›Erschterla zwaderla‹ ›Ersterchen zweiterchen‹]. »Perve´liki-druge´liki« 217 [›Ersterke zweterke‹]. »Pervı´ncˇiki-drugı´ncˇiki ubı´li golubı´ncˇiki« 218 [›Erstereinichen zweitereinichen murksten sie Täubileinichen‹]. »Katu´n-ladu´n« [›Rollerer Ordnerer‹].
In Zaubersprüchen: »Trı´ toskı´ tosku´cˇie, trı´ rydy´ rydu´cˇie« 219 [›Drei Sorgen sorgende, drei Heuler heulende‹].
ˇ astusˇki«: Ko´lja ko´listyj.220 In den »C Chi-cha-chı´, chi-cha-chı´, Sjuda´ idu´t ebacˇ´ı. Cha´-chi, cha´-chi, cha´-chi, cha´-chi, Sjuda´ idu´t raz”eba´ki.221 Hi-ha-her, hi-ha-her Hier kommen die …erer 222 Ha-hi ha-hi ha-hi ha-hi Die …erer 223 da kommen sie. 211 212 213 214 215 216 217 218 219 220 221 222 223
A. a. O., S. 188. [Anm. v. A.N.] A. a. O., S. 189. [Anm. v. A.N.] A. a. O., S. 193. [Anm. v. A.N.] Siehe P. V. Sˇejn, Velikoruss v svoich pesnjach, obrjadach, obycˇajach, verovanijach, skazkach, legendach, Bd. 1; P. A. Bessonov, Detskie pesni. [Anm. v. R.J.] – Das Zitat findet sich bei Sˇejn unter Nr. 33, S. 10. [Anm. v. A.N.] A. a. O., Bd. 1, Nr. 259, S. 43. [Anm. v. A.N.] A. a. O., Bd. 1, Nr. 239, S. 41. [Anm. v. A.N.] A. a. O., Bd. 1, Nr. 249, S. 42. [Anm. v. A.N.] A. a. O., Bd. 1, Nr. 240, S. 41. [Anm. v. A.N.] Afanas’ev, Poe˙ticˇeskie vozzrenija slavjan na prirodu, Bd. 1, S. 454. [Anm. v. A.N.] Dt. etwa hänsliger Hansl. [Anm. d. Übs.] ˇ astusˇka konnte nicht verifiziert werden. [Anm. v. A.N.] Diese C »Ebacˇ´ı« ist ein ins Deutsche nicht übersetzbares Schimpfwort. [Anm. v. A.N.] »Raz”eba´ki« ist ein ins Deutsche nicht übersetzbares Schimpfwort. [Anm. v. A.N.]
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In den Bylinen: A u e´j by´lo cja´do Vavı´lo, A posˇe´l Vavı´lusˇko na nı´vu, On ved’ nı´vusˇku svoju´ ora´ti.224 Und bei ihr war Knecht Vavilo, Und ging Vavilusˇko aufs Feld, Ging er, sein Feldchen zu pflügen.
Die Hervorhebung der Stammeszugehörigkeiten sowie der formalen Zugehörigkeiten in den Wörtern geschieht auf dem Wege psychischer Assoziation dieser Elemente des betreffenden Wortes mit entsprechenden Elementen in andern Kombinationen bzw. Wörtern. Wo Chlebnikovs Verse wortschöpferisch sind, findet gewöhnlich eine Zusammenstellung von Neologismen mit identischer Stammzugehörigkeit und verschiedenen formalen Zugehörigkeiten oder umgekehrt mit identischer formaler Zugehörigkeit statt,225 doch vollzieht sich hier die Dissoziation nicht innerhalb des sprachlichen Systems eines bestimmten Zeitpunkts, wie wir es in der praktischen Sprache sehen, sondern im Rahmen eines bestimmten Gedichts, das gewissermaßen selbst ein geschlossenes System bildet. Hierzu einige Beispiele: 1) Die Stammzugehörigkeit ist identisch, die formalen Zugehörigkeiten sind verschieden, anders gesagt, es liegt eine komplexe tautologische Struktur, d. h. die bloßgelegte »Ableitung« (*Paregmenon 226) der 224 Archangel’skie byliny i istoricˇeskie pesni, Bd. 1, S. 376. (Hier ist mit einer bestimmten rhythmischen Lokalisierung ein bestimmtes Suffix verbunden). [Anm. v. R.J.] – In dem Nachdruck 2002 auf S. 377. Aus der Byline: »Putesˇestvie Vavily so skomorochami« [›Die Reise Vavilas mit den Skomorochen‹]. [Anm. v. A.N.] 225 Diese zwei Typen der Wortneubildung organisieren das gesamte Feld der Neologismen Chlebnikovs: Entweder die Wurzelmorpheme sind neu bzw. erfunden und die grammatischen *Morpheme (zumal Prä- und Suffixe) sind (im Russischen) vorhanden – oder umgekehrt: die Wurzelmorpheme sind vorhanden und die grammatischen Morpheme sind neu. Es gibt aber auch viele Fälle, in denen sowohl die Wurzel- als auch die grammatischen Morpheme im Russischen vorhanden sind: Durch die Kombination dieser Morpheme werden nicht-usuelle, okkasionelle, also lexikalisch »mögliche«, aber unübliche Lexeme generiert. Genau diese Form der Kombinatorik war denn auch bei Majakovskij besonders produktiv und für seine Popularität maßgeblich (vgl. Hansen-Löve, Der russische Formalismus, S. 126 ff.; ders., »Velimir Chlebnikovs Onomatopoetik. Name und Anagramm«). Zum Vergleich der Neologistik bei Chlebnikov und Majakvoskij vgl. Vinokur, Majakovskij – novator jazyka. Zur poetischen Grammatik Chlebnikovs und seinen Neologismen vgl. Grigor’ev, Budetljanin; Percova, Slovar’ neologizmov Velimira Chlebnikova. [Anm. v. A.H.-L.]
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klassischen Rhetorik, vor. Die Ableitung ohne logische Rechtfertigung wird von Chlebnikov weitgehend auch unabhängig von der Einführung der Neologismen angewandt. O, rassme´jtes’ smechacˇ´ı! O, zasme´jtes’ smechacˇ´ı! ˇ to smeju´tsja sme´chami, cˇto smeja´nstvujut smeja´l’no, C O, zasme´jtes’ usmeja´l’no! O, rassmesˇisˇcˇ nadsmeja´l’nych – sme´ch usme´jnych smechacˇe´j! O, issme´jsja rassmeja´l’no, smech nadsme´jnych smejacˇe´j! Sme´jevo, sme´jevo, Usme´j, osme´j, sme´ˇsiki, sme´ˇsiki, Smeju´ncˇiki, smeju´ncˇiki. O, rassme´jtes’ smechacˇ´ı! O, zasme´jtes’ smechacˇ´ı! (II, 35) O, entlacht, Lacherer. O, erlacht, Lacherer. Daß sie Gelächter lachen, daß sie lachantern lachal. O erlacht lächeral O, überlachaler Entlächtrichte – Gelächter lächerlicher Lacherer. Lacherein, lacherein, Lächle, lächerle, Lacheli, Lacheli, Lachelanten, Lachelanten, O, entlacht Lacherer. O, erlacht, Lacherer! 227
2) Die formale Zugehörigkeit ist identisch, die Stammeszugehörigkeiten sind unterschiedlich. Oft reimen diese Formen gleichsam der modernen Poesie zum Trotz, in der die Tendenz zum *Reim nicht identischer Redeteile auf die Spitze getrieben wurde. Das Wesen des Reims, der nach einer Formulierung Sˇcˇerbas das Erkennen rhythmisch wiederkehrender ähnlicher Gruppen phonetischer Elemente ist, liegt hier in der Hervorhebung der identischen formalen Zugehörigkeiten, was die Dissoziation erleichtert. 226 Das Paregmenon ist eng verwandt mit der *Figura etymologica und bezeichnet in jedem Fall die Herleitung eines Wortes als Serie von Lexemen, die zusammen einen Text(Abschnitt) bilden: Auch hier wird das Wortbildungsprinzip zu einem solchen der Textgenerierung transformiert – wie im Falle der »Entfaltung« (s. o., Anm. 48). [Anm. v. A.H.-L.] 227 Es ist dies wohl Chlebnikovs berühmtestes und am meisten übersetztes Gedicht; vgl. Chlebnikov, Werke, Bd. 1, S. 19–23 (Übers. der »Beschwörung durch Lachen« [1910] u. a. von Hans Magnus Enzensberger, Franz Mon, Gerhard Rühm, Peter Urban). [Anm. v. A.H.-L.]
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Beispiele: a) Alle Glieder der Zusammenstellung 228 sind Neologismen. Svine´c sogla´sno nenavı´dim, Siju´ zˇele´znuju leta´vu, Za to´, cˇto v mı´gach me¨rtvych vı´dim Zvonko-bagrı´muju meta´vu. Leta´ja, ne´bu ra´d zorı´r’ Sla´dok, du´maet gorı´r’ Ljude´j s navı´noj edine´ben, Ot le´t mlady´ch, mlady´ch sumne´ben I mno´gich sı´l’nych stol’ gine´ben. (»Vojna-smert’«; II, 187/190) Blei einträchtig hassen wir, Diese eiserne Rase¯te, Dafür daß in toten Augenblicken sehen wir Dröhngluhige Fege¯te. Im Flug ist des Himmels froh Rotolf Süß, denkt Branntolf Der Menschen mit Beschuld einzlich Seit jungen jungen Jahren zweiflich Und vielen starken so derbnislich. (»Krieg-Tod«) Volnoba´ volchvo´bnogo vı´ra, Zvenoba´ nemo´bnogo ja´ra 〈…〉 Poju´nnosti ryda´l’nych sklo´nov, Znaju´nnosti sija´l’nych zvo´nov V veno´k skrutı´lis’. (»Nega-negol’«; II, 16 f.) Welltum des zaubertümlichen Strudels Dröhntum des taubtümlichen Abhangs 〈…〉 Singenkeiten heulaler Hänge Wissenkeiten glänzaler Klänge Wurden zum Kranz geflochten. (»Lust-Lusteich«)
b) Ein Teil der Glieder sind Wörter der praktischen Sprache. V tuma´ne grezoby vosstali grezogi, V tumannych trevogach vosstali cˇertogi. (»Nega-negol’«; II, 16) 228 Gemeint ist damit das Kompositum, im vorliegenden Fall die Wortneubildung, die hier ausschließlich aus Neologismen, d. h. aus erfundenen Silben bzw. Morphemen besteht. [Anm. v. A.H.-L.]
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Im Nebel der Träumach aufstanden die Träumächer In nebelhaften Ungemächern aufstanden die Prunkgemächer. (»Lust-Lusteich«) Vezde´ presle´duet mogu´n, Vezde´ presle´duem begu´n. [Pecˇa´l’ny me¨rtvych ulybe´li,] Sija´l’ny ne´ba golube´li. (»Te-li-le«) 229 Überall verfolgt der Könnäufer Überall verfolgen wir der Läufer. [Traurig der Toten Lächlauten,] Glitzaurige Himmel blauten. Tebe´ poe¨m, Rodun, Tebe´ poe¨m, Byvu´n, Tebe´ poe¨m, Radu´n, Tebe´ poe¨m, Vedu´n, Tebe´ poe¨m, Sedu´n, Tebe´ poe¨m vladu´n, Tebe´ poe¨m koldu´n. (Tvorenija [›Werke‹]; II, 271) 230 Dir Dir Dir Dir Dir Dir Dir
singen singen singen singen singen singen singen
wir, Rodun wir, Byvun, wir, Radun, wir, Vedun, wir, Sedun, wir Vladun, wir Koldun.231
Ökonomie der Worte ist der Poesie fremd, es sei denn sie ergibt sich aus einer speziellen künstlerischen Absicht. Der Neologismus 232 bereichert die 229 Aus dem Gedicht »Vojna« [›Krieg‹], welches in dem von A. Krucˇenych und V. Chlebnikov herausgegebenen lithographischen Sammelband Te˙-li-le˙ (Petersburg 1914) erschien; abgedruckt findet sich das Gedicht bei Chardzˇiev, Stat’i ob avangarde, Bd. 2, S. 241. [Anm. v. A.N.] 230 Das Gedicht wurde zuerst veröffentlicht in der Sammlung Tvorenija, hg. v. D. Burljuk 1914 in Moskau. Nachdruck in Chlebnikov, Sobranie proizvedenij, II, S. 271.[Anm. v. A.N.] 231 »Koldun« bedeutet im Russischen »Zauberer«; diesem Muster und dem Muster von Götternamen wie »Perun« entsprechen die Prägungen Rodun bis Vladun. [Anm. d. Übs.] 232 Zur linguistischen Analyse der Neologismen bei Chlebnikov vgl. Vroon, Velimir Chlebnikovs Shorter Poems. [Anm. v. A.H.-L.]
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Poesie in drei Hinsichten: 1. Er schafft einen grellen euphonischen Fleck da, wo alte Wörter auch phonetisch verfallen, sich vom häufigen Gebrauch abnutzen und, was die Hauptsache ist, nur teilweise in ihrem Lautbestand wahrgenommen werden. 2. Es geschieht leicht, daß die Form der Wörter in der praktischen Sprache nicht mehr bewußt empfunden wird, sie erstarrt, versteinert, während die Wahrnehmung der Form eines poetischen Neologismus, der sozusagen in statu nascendi erscheint, für uns zwingend ist.233 3. Die Bedeutung eines Wortes ist in jedem Moment jeweils mehr oder weniger statisch, die Bedeutung des Neologismus aber wird zu einem beträchtlichen Grad durch den Kontext bestimmt und hält andererseits den Leser zu etymologischem Denken an. Überhaupt spielt die Etymologie durchweg eine bedeutende Rolle in der Poesie, wobei zwei Kategorien von Fällen möglich sind: a) die Erneuerung der Bedeutung. Vgl. z. B. tucˇnye tucˇi 234 bei Derzˇavin. Eine solche Erneuerung kann außer durch Zusammenstellung von wurzelgleichen Wörtern auch durch die Verwendung eines Wortes in seiner Grundbedeutung, wenn es in der Praxis nur in übertragener Bedeutung vorkommt, erreicht werden. Vgl. Jazykovs 235 Verse: »Groma´da nepogo´dy 〈…〉 molnieno´sna i cˇerna´« [›Die Riesenwand des Ungewitters 〈…〉 ist blitzetragend und schwarz‹] 236 (Beispiel Bobrovs 237), »i de´n’ vostorgnu´lsja, i de´n’ vosstae¨t« [›und der Tag riß sich empor 238, und der Tag wird aufstehen‹] (Chlebnikov 239 ). b) die poetische Etymologie.240 Eine Parallele dazu ist die Volksetymologie der praktischen Sprache. Sehr interessante Beispiele aus der let233 Ebenfalls in statu nascendi wird bei Dostoevskijs »Wörtlein«, die sich auf ganzen Romanseiten moussierend entfalten, die Erneuerung der Semantik vorgeführt. 234 Wörtl. ›fette Wolken‹; durch die Kombination tucˇnye tucˇi wird eine – eventuell tatsächlich bestehende – etymologische Verwandtschaft der beiden Wörter suggeriert. [Anm. d. Übs.] – Die Textstelle stammt aus dem Gedicht »Grom« [›Donner‹], in: Derzˇavin, Stichotvorenija, S. 311 f. [Anm. v. A.N.] 235 Aus dem Gedicht »Trigorskoe« [›Dreibergiges‹], in: Jazykov, Polnoe sobranie stichotvorenij, S. 272. [Anm. v. A.N.] 236 »Molnienosnyj« bedeutet wörtlich ›blitzetragend‹, hat in der praktischen Sprache aber die Bedeutung ›blitzschnell, blitzartig‹. [Anm. d. Übs.] 237 Vgl. die versologische Arbeit des Futuristen Sergej P. Bobrov, Zapiski stichotvorca, 1916. [Anm. v. A.N.] 238 »Vostorgnut’sja« – wörtl. ›sich emporreißen‹ – hat heute in der praktischen Sprache die Bedeutung ›sich begeistern‹. [Anm. d. Übs.] 239 Texststelle konnte nicht verifiziert werden. [Anm. v. A.N.] 240 Die »poetische Etymologie« operiert – ebenso wie der vom bloßen Verfahren komischer Genres zum poetischen Prinzip nobilitierte »Kalauer« (kalambur) – mit der
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tischen Folklore führt der tschechische Linguist Zubaty´ an.241 So etwa in sinnentsprechender russischer Übertragung des Originals: pjat’ volkov volka voloklo.242 Auf der poetischen Etymologie gründet ein großer Teil der Calembours, das *Wortspiel usf. Beispiele aus der russischen Poesie: »Cˇud’ nacˇudila, da Merja namerila« [›Die Finnen verhielten sich kauzig und Merja maß ab‹] (Blok).243 »Ran’sˇe zˇral odin rot, a teper’ obzˇirajut rotoj« [›Früher fraß bloß der Mund, jetzt fressen sie als Rotte auf‹] (Majakovskij).244 »Osoka naklonila os’« [›Das Ried neigte die Achse‹] (Chlebnikov).245 »Ochvacˇena osen’ju osinka« [›Erfaßt ward vom Herbst die Espe‹] (Guro).246 Bei Chlebnikov treten nicht selten Neologismen auf, die aus poetischen Etymologien hervorgehen.
241 242 243 244 245 246
Transformation »formaler Parallelismen« zwischen Lexemen bzw. Wortteilen auf phonetisch-morphologischer Ebene zu »semantischen Parallelismen«, womit die »Inhaltlichkeit der Form« (soderzˇatel’nost’ formy) erkennbar und wirksam wird. Insoferne ist die (formalistische) Poetik zugleich auch eine Noetik im Sinne eines »Sprach-Denkens« (jazykovoe mysˇlenie). Vgl. ausführlich Hansen-Löve, Der russische Formalismus, S. 128 ff. Der Begriff »poetische Etymologie« rekurriert somit auf dem geläufigen der »Volksetymologie« in einem sehr umfassenden Sinne: Die linguistisch-sprachhistorisch »falsche Etymologie« wird umgedeutet zu einer zwar fehlerhaften aber zugleich wirkmächtigen »Sprachwirklichkeit«, deren Evidenz für alle Bereiche der nicht-rationalen Sprachfunktionen (Sprache des Unbewußten, des Traumes, der Kinder, der Affekte, der Werbung, der Ekstatik etc.) nicht zum Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Analyse, wohl aber zu deren Gegenstand und Ziel erklärt wird. Vgl. auch Jakobson, »Unterschwellige sprachliche Gestaltung in der Dichtung«, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 124–153. [Anm. v. A.H.-L.] Siehe Zubaty´, »O alliteraci v pı´snı´ch lotysˇsky´ch a litevsky´ch«. Wörtl.: ›Fünf Wölfe zogen einen Wolf‹. Dt. Entsprechung dazu etwa: »Fünf Ziegen zogen eine Ziege«. [Anm. d. Übs.] Aus dem Gedicht »Rus’ moja, zˇizn’ moja…« [›Mein Rußland, mein Leben…‹] aus dem Sammelband »Rodina« [›Heimat‹]: Blok, Polnoe sobranie socˇinenij, Bd. 3, S. 176. Dt. Übers.: Block, Ausgewählte Werke, Bd. 1, S. 200. [Anm. v. A.N.] Aus: Majakovskij, »Misterija buff« [›Mysterium buffo‹], 1918, in: ders., Polnoe sobranie socˇinenij, Bd. 2, S. 204. [Anm. v. A.N.] Chlebnikov, »Vila i lesˇij« [›Nixe und Waldschrat‹], in: ders., Sobranie proizvedenij, I, S. 129. [Anm. v. A.N.] Guro, »Nebesnye verbljuzˇata« [›Himmlische Kameljunge‹], in: dies., Socˇinenija, S. 235. Auf die »Nebesnye verbljuzˇata« von Guro nimmt Jakobson später in seiner Analyse eines Gedichts von Cummings – allerdings unter dem Aspekt der für Kinderverse typischen Lautwiederholungen – wieder Bezug. Vgl. Jakobson, »Einige Schlußfolgerungen aus einem Gedicht von Cummings – Sprache und Dichtung«, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 729. [Anm. v. A.N.]
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Vremysˇ´ı – kamysˇ´ı Na o´zera bre´ge Gde ka´menja vre´menem Gde vre´mja ka´men’em 〈…〉 (II, 275) 247 Zeitiede – Riede An des Sees Ufer Wo der Steineit Zeit Wo die Zeit Stein ist 〈…〉
Vgl. die epidemische Begeisterung an der poetischen Etymologie, die Te˙ffi 248 konstatiert hat (warum »do-svidanija« 249 und nicht »do-svi-sˇvecija« – usf.).250 Außerdem werden durch Wortneuerung neue, kleinere semantische Einheiten geschaffen. Sie sind überflüssig und zu beweglich, zu unbestimmt in ihren Konturen für logische Operationen. Vgl. besonders ˇ ernotvorcˇeskie vestucˇki« [›Zaubertätige Sprüchlein‹]. Die Chlebnikovs »C praktische Sprache braucht fast keine Synonyme. In »Gospozˇa Lenin« [›Frau Lenin‹] (IV, 246 ff.) haben wir es mit einem anderen Typ einer kleinen semantischen Einheit zu tun. Hier wollte Chlebnikov nach eigener Aussage die unendlich kleinen Größen des künstlerischen Wortes finden.251 Eine Person gibt es nicht. Sie ist in ihre Grundstimmen zerlegt: die Stimme des Sehens, des Gehörs, des Verstands, des Schreckens usf. Es ist dies eine besondere Realisierung von *Synekdochen. Vgl. auch die Erzählung »Ka« (IV, 47 ff.), wo die Seele in die Teilpersonen Ka, Chu und Ba zerfällt. Die semantische Deformation ist in der Poesie sehr vielgestaltig. Parallel zu ihr läuft die phonetische Deformation des Wortes. Vgl. z. B. die Zerlegung der Worte: a) die rhythmische Aufteilung (Horaz, Annenskij, Majakovskij), b) die Einsprengung eines Wortes in ein anderes – ein 247 Dt. Übers.: Chlebnikov, »Zeitkreise-Schilfweise«, in: ders., Werke, Bd. 1, S. 80. Zu diesem kurzen Gedicht vgl. Haroldo de Campos, »Randbemerkungen zu einer Pessoa-Analyse«, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 673. [Anm. v. A.N.] 248 Nadezˇda A. Te˙ffi (Künstlername Nadezˇda A. Lochvickaja) veröffentlichte Gedichte (1910 Sammelband Sem’ ognej [›Sieben Feuer‹]), humoristische Erzählungen und Dramen. Nach der Revolution lebte sie in der Pariser Emigration. [Anm. v. A.N.] 249 »Do svidanija« bedeutet ›Auf Wiedersehen‹, »Danija« ist ›Dänemark‹, »Sˇvecija« ›Schweden‹. [Anm. d. Übs.] 250 Wie Gor’kij mir mitteilte, liebte Tolstoj solche Hyperetymologisierungen. »Stolkovalsja« [›stieß zusammen‹; derselbe Silbenstand ergibt auch bei: ›Der Tisch wurde geschmiedet‹ (stol kovalsja)] sagte einmal ein Arbeiter. »Stol-strogalsja« [›der Tisch wurde gehobelt‹] korrigierte Tolstoj erbost. 251 Vgl. Chlebnikov, Sobranie proizvedenij, II, S. 10. [Anm. v. A.H.-L.]
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Verfahren, das dem poetischen Denken Chlebnikovs nicht fremd ist (so seine Etymologie po-do-l, ko-do-l 252 ), in seiner Poesie aber fehlt. Dieses Verfahren haben lateinische Dichter verwendet, z. B. Ennius: cere comminuit brum.253
In der modernen russischen Poesie kann man es bei Majakovskij nachweisen, mit einem gewissen Anteil an logischer Rechtfertigung: Vy´govorili na trotua´re »Po´cˇPerekı´nulos’ na ˇsiny Ta«. (»V avto«) 254 Sie sprachen aus auf dem Trottoir »PoEs sprang über auf Schienen St«. (»Im Auto«)
Zur phonetischen Deformation gehört auch die Akzentverschiebung. Vgl. in der Folklore: To´nju tja´nu` Ry´bu lo´vlju` V ko´ˇsel kla´du` Do´mo`j ne´su`.255 Einen Netzzug mach ich Fisch fang ich In einen Korb leg ich Nach Haus trag ich.
In der modernen Poesie – my`sle´j, neve`sty´ 256 [›Gedanken‹, Gen. Pl.; 252 »pol« = ›Geschlecht‹; »do« = ›bis, zu‹; »podol« heißt ›Schoß‹ und wird hier ›etymologisch‹ als Kontamination aus »pol« und »do« erklärt. »Kol« = ›Pfahl‹; »kodol« ist ein Neologismus. [Anm. d. Übs.] 253 Ennius, The Annals of Q. Ennius, S. 138 (Fragment 609). Das Wort »cerebrum« [›Gehirn‹] ist hier in zwei Teile geteilt (»cere« und »brum«); auf diese Weise wird das Thema »zerteilen, zerschmettern« auf der Signifikanten-Ebene vorgeführt: »Saxo cere comminuit brum« = »Saxo cerebrum comminuit« [›Er zerteilte sein Gehirn mit einem Stein‹]. [Anm. v. A.N.] 254 Majakovskij, »V avto«, in: ders., Polnoe sobranie socˇinenij, Bd. 1, S. 58. [Anm. v. A.N.] 255 Sˇejn, Velikoruss v svoich pesnjach, obrjadach, obycˇajach, verovanijach, skazkach, legendach, Bd. 1, Nr. 41, S. 11. [Anm. v. A.N.] 256 Hier wie im vorangehenden Beispiel kennzeichnet der (von Jakobson eingetragene) Akut (´) die Akzente, wie sie für den Vortrag dieser Texte charakteristisch sind, der Gravis (`) die abweichende korrekte Betonung der Wörter. [Anm. v. A.N.]
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›Braut‹, Gen. Sg.] (Krucˇenych).257 Häufig verwendet die Poesie für dieses Verfahren vorhandene Betonungsdoubletten: Kaby po´ mostu po mo´stu po ˇsirokomu mostu´ 〈…〉 Ty leti, leti soko´l vysoko´ i daleko´, I vyso´ko i dale´ko, na cˇuzˇuju storonu 〈…〉 Wenn über die Brücke über die Brücke über die breite Brücke 〈…〉 Du flieg, flieg Falke hoch und weit, Und hoch und weit in fremdes Land 〈…〉 258
Ähnliche hochinteressante Beispiele einer »Akzentdissimilation« aus der altindischen und altgriechischen Poesie bringt van Ginneken in seinem Versuch einer psychologischen Linguistik.259 Vgl. ebenfalls Minors Neuhochdeutsche Metrik.260 Die oben gesammelten Muster semantischer und phonetischer Deformation des poetischen Wortes sind sozusagen mit bloßem Auge zu sehen, aber im Grunde genommen ist jedes Wort der poetischen Sprache im Vergleich zur praktischen Sprache sowohl phonetisch als auch semantisch deformiert. Eine wichtige Möglichkeit des poetischen Neologismus ist die Gegenstandslosigkeit. Wohl wirkt das Gesetz der poetischen Etymologie, wohl wird die innere und äußere Wortform erlebt, aber es fehlt das, was Husserl den dinglichen Bezug nennt.261 Ein Beispiel für die Realisierung eines »gegenstandslosen« Neologismus: 257 258 259 260 261
Die Textstelle konnte nicht verifiziert werden. [Anm. v. A.N.] Die Textstelle konnte nicht verifiziert werden. [Anm. v. A.N.] Siehe Ginneken, Principes de linguistique psychologique. Minor, Neuhochdeutsche Metrik, Kap. III (»Der Accent«), S. 64–134. Bis zu einem gewissen Grad ist jedes poetische Wort gegenstandslos. Dies meinte der französische Dichter, der sagte, in der Poesie gebe es Blumen, die in keinem Strauß vorkämen. (Mallarme´, »Crise du vers«.) [Anm. v. R.J.] – Jakobson bezieht sich hier auf Mallarme´, »Crise du vers«, in: ders., Œuvres comple`tes, S. 368; dt. Übers. in: Mallarme´, Sämtliche Dichtungen, S. 287. – Der Begriff der Gegenstandslosigkeit bzw. Ungegenständlichkeit (bespredmetnost’ ) wurde erstmals durch Andrej Belyj im Rahmen seiner symbolistischen Kunstphilosophie verwendet (1907 Belyj, »Budusˇcˇee iskusstvo«), wo sich die Welt, unter dem Zeichen der Apokalypse betrachtet, als ungegenständliches und damit energetisches wie imaginatives Energiefeld zeigt. Verwendung fand er aber vor allem in Kazimir Malevicˇs suprematistischer Kunstlehre (vgl. dazu Malevicˇ, »Die Welt als Ungegenständlichkeit«, vgl. HansenLöve, »Die Kunst ist nicht gestürzt«, S. 280 ff.). – Die zentrale Formel der Avantgarde lautete: Durch Entgegenständlichung zum »Ding«, durch Verdinglichung der Signifikanten, der konstruktiven Strukturen – zum Werk. »Gegenstand« meint in diesem Sinne immer schon ein (ehemaliges) Ding (an sich), das übersetzt und
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U omera mirju´cˇie berega´. Mirı´ny roslı´ zdes’ i ta´m, be´lye skvo´z’ gne¨zda voro´na. Niz zˇe zaro´s grustnjako´m 〈…〉 Smertnobro´vyj te´terev ne usatva´l tokova´t’, vzleta´ja na morı´nu. Krugo´m zaroslo´ krasivnjako´m i myslo´koj 〈…〉 Milove´l’ stoja´l v pu´ˇscˇach. Mı´ristye zvo´nko raspeva´lis’ pe´sni. Prileta´li neve´domo otku´da miriste´jusˇcˇie ptı´cy, i, upa´v na ve´tku, nacˇina´li miriste´t’ 〈…〉 Gordotja´zˇkij proleta´l mire¨l 〈…〉 (»Pesn’ Mirjazja«; IV, 9 f.) Der Fee hat friedende Ufer. Friedinen wuchsen hier und dort weiß durch die Nester des Raben. Unten aber war er mit Trübling bewachsen 〈…〉 Der todesbrauige Auerhahn hörte nicht auf zu balzen und flog auf die Faulärche. Ringsum wucherte Schönling und Klugoker 〈…〉 Liebkelei stand in den Dickichten. Friedisch erschollen laut die Lieder. Es kamen unbekannt woher verfriedischende Vögel geflogen, fielen auf einen Zweig und begannen zu verfriedischen 〈…〉 Stolzschwer flog ein Friedol vorbei 〈…〉 (»Lied des Friedürsten«) O lebedı´vo! O ozarı´! (»Kuznecˇik«; II, 37) 262 O Schwanunder! O erleuchte! (»Heuschrecke«)
Vgl. die Poetik der Beschwörungen.
semiotisiert wurde zu einem Kultur-Objekt (einer »Realie«) bzw. zu einem Gebrauchs-Gegenstand, der in einem bestimmten System von Zwecken funktioniert. Die Dinge sind dagegen un-bedingt, autonom, zweckfrei und eigenwertig. In diesem Status gehören sie – auch in der Welt Malevicˇs – zur (ungegenständlichen) Sphäre der Natur, des Absoluten und des Nichts. Umgekehrt verkörpert die Dinglichkeit der Farben und Malflächen, die »faktura« der Material-Sprache, die Signifikanten und Formen, die an die Stelle traditioneller Themen und Sujets treten, ja zum eigentlichen und einzigen Thema – dem der Selbstreferenz – aufsteigen. »Verdinglichung« im Rahmen einer generellen Verfremdung der Wahrnehmungsund Denkperspektive meint hier – anders als der marxistische Begriff – Aufhebung von jener Entfremdung, die das Bild erfaßt, wenn es primär der Referenz auf Außerbildnerisches, auf eine Natur etc. dient. – Jakobson hat immer wieder darauf hingewiesen, daß die Idee einer Lockerung oder Aufhebung des Dingbezuges der Zeichen von Edmund Husserls Phänomenologie und ihrer Rezeption in Rußland durch den Husserl-Schüler Gustav Sˇpet herrühre (vgl. dazu Holenstein, Roman Jakobsons phänomenologischer Strukturalismus, S. 55 ff.) vgl. zu Ding und Gegenstand bzw. Entgegenständlichung und Verdinglichung Hansen-Löve, Der russische Formalismus, S. 175 ff.; zu Husserl vgl. Haardt, Husserl in Rußland. [Anm. v. A.H.-L.] 262 Zum »Heuschreck«-Gedicht Chlebnikovs vgl. ausführlich Jakobson, »Unterschwellige sprachliche Gestaltung in der Dichtung«, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 130–135. [Anm. v. A.H.-L.]
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VII In der poetischen Sprache gibt es ein elementares Verfahren – die Annäherung zweier Einheiten. Im Bereich der Semantik finden wir folgende Modifikationen dieses Verfahrens: den Parallelismus, den Vergleich – einen Sonderfall des Parallelismus, die Metamorphose, d. h. den in der Zeit entfalteten, und die *Metapher, d. h. den auf einen Punkt geführten Parallelismus. Im Bereich der Euphonik 263 sind der Reim, die *Assonanz und die *Alliteration (oder Lautwiederholung) Modifikationen des Verfahrens der Zusammenstellung 264. Es sind Verse möglich, die vornehmlich ihre Ausrichtung 265 auf die Euphonik charakterisiert. Ist die Ausrichtung auf die Euphonik eine Ausrichtung auf die Laute? Wenn ja, haben wir es mit einer Variante vokaler Musik, und zwar mit defekter vokaler Musik zu tun. Die Euphonik operiert aber nicht mit Lauten, sondern mit *Phonemen, d. h. mit akustischen Vorstellungen, die geeignet sind, sich mit Sinnvorstellungen zu assoziieren. Die Form des Wortes wird von uns nur aufgrund ihrer Wiederkehr innerhalb des jeweiligen sprachlichen Systems wahrgenommen. Die vereinzelte Form stirbt ab; so wird auch die Lautkombination im jeweiligen Gedicht (gewissermaßen einem sprachlichen System in statu nascendi) zu einer »lautlichbildlichen« (ein Terminus Briks) 266, und wird lediglich infolge ihrer ständigen Wiederkehr wahrgenommenen. In der modernen Poesie, wo sich die Aufmerksamkeit ausschließlich auf die Konsonanten richtet, wirkt oft poetische Etymologie auf Wiederholungen besonders vom Typ AB, ABC usf. derart ein, daß sich mit den wiederkehrenden Konsonantenkomplexen die Vorstellung einer Stamm263 Der Begriff »Euphonik« umfaßt alle Verfahren und Strukturen der Phonästhetik, d. h. der lautlich-prosodischen Merkmale eines poetischen Textes. [Anm. v. A.H.-L.] 264 Gemeint ist die neologistische Schaffung von Komposita. [Anm. v. A.H.-L.] 265 Der russische Begriff ustanovka bezeichnet – ausgehend von Husserls Phänomenologie – die »Einstellung« bzw. »Ausrichtung« der Intention auf einen bestimmten Wahrnehmungsbereich der Dingwelt (vgl. zu diesem zentralen Begriff des formalistischen Phänomenalismus: Hansen-Löve, Der russische Formalismus, S. 175– 188). [Anm. v. A.H.-L.] 266 S. Brik, »Zvukovye povtory. Analiz zvukovoj struktury teksta«. [Anm. v. R.J.] – Der Begriff zvuko-obraz, d. h. ›Laut-Bild‹, entstammt eigentlich der symbolistischen Poetik Andrej Belyjs, der seinerseits auf die von Humboldt geprägte Poetik Aleksandr A. Potebnjas zurückgreift (dazu Lachmann, »Der Potebnjasche Bildbegriff als Beitrag zu einer Theorie der ästhetischen Kommunikation«). [Anm. v. A.H.-L.]
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bedeutung verbindet und die wechselnden Vokale gleichsam zur Flexion des Stamms werden, indem sie die formale Bedeutung einer Wortbildung oder Flexion beisteuern. Ein wertvolles Dokument, das die poetische Etymologie als Faktum des sprachlichen Denkens charakterisiert, ist folgende Überlegung Chlebnikovs: Slychal li ty, odnako, pro vnutrennee sklonenie slov? Pro padezˇi vnutri slova? Esli roditel’nyj padezˇ otvecˇaet na vopros otkuda, a vinitel’nyj i datel’nyj na vopros kuda i gde, to sklonenie po e˙tim padezˇam osnovy dolzˇno pridavat’ vozniksˇim slovam obratnye po smyslu znacˇenija. Takim obrazom, slovarodicˇi dolzˇny imet’ dalekie znacˇenija. E˙to opravdyvaetsja. Tak, bobr i babr, oznacˇaja bezobidnogo gryzuna i strasˇnogo chisˇcˇnika i obrazovannye vinitel’nym i roditel’nym padezˇami obsˇcˇej osnovy bo, samym stroeniem svoim opisyvajut, cˇto bobra sleduet presledovat’, ochotit’sja za nim kak za dobycˇej, a bobra sleduet bojat’sja, tak kak zdes’ sam cˇelovek mozˇet stat’ predmetom ochoty so storony zverja. Zdes’ prostejsˇee telo izmereniem svoego padezˇa izmenjaet smysl slovesnogo postroenija. V odnom slove predpisyvaetsja, cˇtoby dejstvie boja bylo napravleno na zverja (vinitel’nyj – kuda?), a v drugom slove ukazyvaetsja, cˇto dejstvie boja ischodit iz zverja (roditel’nyj – otkuda?). Beg byvaet vyzvan bojazn’ju, a bog – susˇcˇestvo, k kotoromu dolzˇna byt’ obrasˇcˇena bojazn’. Takzˇe slova les i lysyj ili esˇcˇe bolee odinakovye slova lysina i lesina, oznacˇaja prisutstvie i otsutstvie kakoj-libo rastitel’nosti – ty znaesˇ, cˇto znacˇit lysaja gora, ved’ lysymi gorami zovutsja lisˇennye lesa gory ili golovy, – voznikli cˇerez izmenenie napravlenija prostogo slova la skloneniem ego v roditel’nom (lysyj) i datel’nom (les) padezˇach 〈…〉 Kak i v drugich slucˇajach, e i y sut’ dokazatel’stva raznych padezˇej odnoj i toj zˇe osnovy. Mesto, gde iscˇeznul les, zovetsja lysinoj. Takzˇe byk est’ to, otkuda sleduet zˇdat’ udara, a bok – to mesto, kuda sleduet napravit’ udar. Hast du von der inneren Flexion der Wörter gehört? Über die Kasus innerhalb des Wortes? Wenn der Genitiv auf die Frage woher, der Akkusativ und Dativ auf die Frage wohin und wo steht, dann muß die Flexion des Stamms nach diesen Kasus den entstehenden Wörtern dem Sinn nach entgegengesetzte Bedeutungen geben. Somit müssen verwandte Wörter weit auseinanderliegende Bedeutungen haben. Das läßt sich begründen. So beschreiben bobr [›Bieber‹] und babr [›Jaguar‹], die einen harmlosen Nager und einen schrecklichen Räuber bezeichnen und durch den Akkusativ und den Genitiv der gemeinsamen Wurzel »bo-« gebildet sind 267, allein schon durch ihre 267 Chlebnikov stellt hier seine Theorie der »inneren Flexion« bzw. »inneren Deklination« (vnutrennoe sklonenie) dar. Chlebnikov – der im Unterschied zu Ferdinand de Saussure nicht von einer Arbitrarität, sondern von einer Motiviertheit der Laute /Worte ausgeht – glaubt, eine Semantik der Vokale aus der russischen Sprache eruieren zu können. Ausgangspunkt ist die Deklination russischer Substantiva, in
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Struktur, daß man »bobra [Akk.-Gen.] […] presledovat’« [›den Biber (…) verfolgen‹], ihm als einer Beute nachjagen und »babra [Gen.] […] bojat’sja« [›den Jaguar (…) fürchten‹] muß, weil hier der Mensch selbst Jagdobjekt des Tieres werden kann. Hier ändert der einfachste Wortkörper durch den Wechsel seines Kasus den Sinn der Wortstruktur. Im einen Wort wird vorgeschrieben, daß die Kampfhandlung auf das Tier (Akk. wohin) gerichtet sei, im anderen Wort wird angezeigt, daß die Kampfhandlung von dem Tier ausgeht (Gen. woher). Beg [›die Flucht‹] wird durch Furcht hervorgerufen, aber das Wesen, auf das die Furcht gerichtet sein muß, ist bog [›Gott‹]. Ebenso sind die Wörter les [›Wald‹] und lysyj [›kahl‹], oder die noch stärker übereinstimmenden Wörter lysina [›Glatze‹, ›Lichtung‹] und lesina [Baumstamm], die Anwesenheit oder Fehlen eines Gewächses bezeichnen – du weißt, was lysaja gora [›kahler Berg‹] bedeutet, so heißen nämlich des Waldes [lesa] beraubte Berge oder Köpfe –, über die Richtungsänderung des einfachen Wortes entstanden, das einmal im Genitiv [lysyj] und einmal im Dativ [les] steht 〈…〉 So sind auch in anderen Fällen e und y Hinweise auf die verschiedenen Kasus ein und desselben Stamms. Die Stelle, an der les [›der Wald‹] verschwunden ist, heißt lysina [›Lichtung‹]. Ebenso ist byk [›der Ochse‹] das, woher man einen Stoß zu erwarten hat und bok [›die Seite‹, ›Flanke‹] die Stelle, wohin der Stoß geführt werden muß.268 (V, 171 f.) 269
Die Flexion von Wurzeln finden wir gelegentlich auch in der alten Poesie. Vgl. z. B.: Ke´sar’ moj svjato´j kosa´r’ Kaiser mein heiliger Schnitter (Batjusˇkov 270) der ein Kasus (Nom., Gen., Dat. usw.) in der Regel durch unterschiedliche Endvokale angezeigt wird (so steht etwa die Endung -o für Nom./Akk. Neutr., die Endung -a für Gen. Neutr., die Endung -u für Dat. Neutr. in der I. Deklination / Neutr.). Die Bedeutung der Endvokale in der Deklination überträgt Chlebnikov auf die Binnenvokale in Wörtern, er interpretiert also den Unterschied von Wörtern wie bobr [›Bieber‹] und babr [›Jaguar‹] als »innere Deklination« von bo. Wie Jakobson feststellt, handelt es sich um poetische (nicht um wirkliche) Etymologien, die in der Kunst (nicht nur Chlebnikovs) einen hohen Stellenwert besitzen. [Anm. v. A.N.] 268 bo-/ba- etc. nach der o-Deklination (-o Nom./Akk.; -a Gen.); le-/ly- etc. nach der a-Deklination (-y Gen.; -e Dat.). [Anm. d. Übs.] 269 Chlebnikov »Ucˇitel i ucˇenik« [›Lehrer und Schüler‹]; dt. Übers.: Chlebnikov, Werke, 2, S. 70 f. Der Text erschien zuerst in der Zeitschrift Sojuz molodezˇi [›Bund der Jugend‹] der gleichnamigen Künstlergruppe in Petersburg. Die Gruppe umfaßte viele der damals führenden Mitglieder der Avantgardemalerei und -richtung in Rußland: Michail Larionov, Natal’ja Goncˇarova, Kazimir Malevicˇ, Majakovskij, die Brüder Burljuk etc. (vgl. dazu Gray, Das große Experiment, S. 105 ff.; vgl. auch Markov, Russian Futurism, S. 38 ff.). [Anm. v. A.H.-L.] 270 Vgl. Batjusˇkov, Polnoe sobranie stichotvorenij, S. 323. [Anm. v. A.N.]
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Beispiele aus Chlebnikov: Vojna´ i me´ˇc, vy cˇa´sto to´l’ko mja´ˇc’ Lapto´ju za´njatych more´j. (»Chadzˇi-Tarchan«; I, 119) Krieg und Schwert [mecˇ ], ihr seid oft nur ein Ball [mjacˇ ] Der Schlagball spielenden Meere. O, procho´zˇij, na´ˇsi ve´zˇi ˇ etyre pticy«; II, 222) Me´ˇc zaby´li dlja´ mjacˇa´. (»C O Vorübergehender, unsere Zelte Das Schwert [mecˇ ] vergaßen für den Ball [mjacˇ ]. (»Vier Vögel«) Ja lisˇ’ krol’ik puglı´vyj i dı´kij, A ne koro´l’ gosuda´rstva vreme¨n 〈…〉 Sˇa´g nebol’sˇo´j, to´l’ko »ik« I upa´vsˇee o, kol’co´ zoloto´e, ˇ to´ katı´tsja po´ po´lu. C (»Vojna v mysˇelovke«; II, 246) Ich bin nur ein Kaninchen [krolik] schreckhaft und wild Und kein König [korol’ ] des Staates Zeiten 〈…〉 Bin Schritt, ein kleiner, nur ein »chen« Und gefallenes o, Ringlein goldenes, Das über den Boden rollt. (»Krieg in der Mausefalle«) Go´re vam, go´re vam, zˇ´ıteli pa´zuch Mı´ra i mo´ra glubo´kich morsˇˇc´ın. (»Vojna v mysˇelovke«; II, 248) Weh euch, weh euch, Bewohner der Busen Des Friedens [mira] und der Pest [mora] tiefer Falten [morsˇˇcin]. (»Krieg in der Mausefalle«) De´vicy dı´vjatsja. (»Igra v adu«; II, 124) Die Jungfrauen wundern sich. (»Spiel in der Hölle«) Idı´ zˇe v no´zˇny, ty´ ne nu´zˇen. (»Gibel’ Atlantidy«; I, 99) Geh doch in die Scheide [nozˇny], du bist nicht nötig [nuzˇen]. (»Untergang von Atlantis«) Tolpu´ ume´l li kto´ ponja´t’? Tolpe´ ume´l li kto´ penja´t’?
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Vermochte die Menge einer zu verstehen [ponjat’ ] Vermochte der Menge einer Schuld zu geben [penjat’ ]. (»Vojna-Smert’« [›Krieg-Tod‹]) [II, 189] Su´mnaja u´mnost’ recˇ´ej Zy´bko koly´ˇset rucˇ´ej. (»Nega-negol’«; II, 17 f.) Die traurige [sumnaja] Klugheit [umnost’ ] der Reden [recˇej] Schwankend wiegt den Bach [rucˇej]. (»Lust-Lusteich«) Pla´cha plocha´ tol’ko te´m, ˇ to na ne´j ru´bjat go´lovy lju´djam. C (»Manifest predsedatelej zemnogo ˇsara«; III, 19) 271 Das Schafott [pla´cha] ist schlecht [plocha´] nur darin, Daß man darauf den Menschen die Köpfe abschlägt. (»Manifest der Vorsitzenden des Erdkreises«) Bose´zˇ i bese´zˇ Na zele¨noj tra´vusˇke – To bogı´nja, to begı´nja, Gde cvetu´t kupa´vusˇki. (II, 22) 272 Barbein [bosezˇ ] und Babbelgosch [besezˇ ] Auf der grünen Wiese – Bald Göttin [boginja] bald Läufin [beginja] Wo die Wassernymphen blühen. Poka´ usta´ ko´pej kipe´li 〈…〉 O mcˇ´ı mecˇ´ı nasˇ krı´k begu´ˇscˇij. Solange die Münder der Schächte [kopej] kochten [kipeli] 〈…〉 Gegen Schwerter [O mcˇi] die Schwerter [mecˇi] unser fliehender Schrei.273 Mı´loj oby´densˇcˇinoj Napo´ena mgla´ V e˙tu no´cˇ’ ljubı´t’ I mogı´la mogla´. (II, 30) 274 271 Chlebnikov, »Tol’ko my, svernuv vasˇi tri gody vojny…« [›Nur wir, die wir eure drei Kriegsjahre…‹], in: ders., Sobranie proizvedenij, III, S. 17–23. Dt. Übers.: Chlebnikov, Werke, Bd. 2, S. 258–263. [Anm. v. A.N.] 272 Chlebnikov, »Greziroj iz kamnja nemot…«, in: ders., Sobranie proizvedenij, II, S. 21 f. [Anm. v. A.N.] 273 Die Textstelle konnte nicht verifiziert werden. [Anm. v. A.N.] 274 Chlebnikov, »Mne vidny – Rak, Oven…« [›Mir sind sichtbar – Krebs, Widder‹], in: ders., Sobranie proizvedenij, II, S. 30. [Anm. v. A.N.]
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Mit liebem Alltag Ist getränkt der Nebel [mgla] In dieser Nacht lieben Konnte [mogla] auch ein Grab [mogila] Po´solon’ sla´va! (»Boevaja«; II, 23) Sonnenauf Ruhm! (»Die Kämpferische«) To vı´dim i ve´rim cu´ja i ca´ja. (II, 250) 275 Das sehen wir und glauben wir merkend und hoffend. Cˇ´eln o vo´lny bı´lsja va´lok Bı´las’ vo´l’naja volna´ On byl pla´cˇa tı´cho zˇa´lok Ona´ gru´st’ju polna´ I poto´m ucho´dit go´rdo Popravlja´ja volosa´ Po tropı´nke go´rnoj tve¨rdo 〈…〉 276 (»Alcˇak«; II, 52) Das Boot schlug an die Wellen schwankend Es schlug die freie Welle Es war weinend leise kläglich Sie war der Trauer voll Und entschreitet dann stolz Sich richtend die Haare Auf dem Bergpfad rüstig 〈…〉 Bu´rnogo le¨ta leta´. (»Kamennaja baba«; III, 35) Stürmischen Flugs die Jahre. (›Steinweib‹) Ja vı´del Vy´del Ve¨sen V o´sen’ Zna´ja Zno´j Sı´nej So´ni 〈…〉 (III, 27) 275 Chlebnikov, »Vojna v mysˇelovke« [›Krieg in der Mausefalle‹], a. a. O., II, S. 244– 258. [Anm. v. A.N.] 276 In den Zusammenstellungen: »volna«, »vol’naja«, »volosa«, »gordo«, »gornoj« liegt ein anderer Typ von Etymologie vor.
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Ich sah Den Teil Der Lenze Im Herbst Kennend Die Gluten Der blauen Sonja 〈…〉 ˇ ertik«; IV, 202) Ka´nt… Ko´nt… Ke´nt… Kı´n… (»C Kant… Comte… Kent… Kean… (»Teufelchen«)
Dieses Verfahren wird bei Aseev und Majakovskij popularisiert. Kogda´ zemno´e sklo´nit le´n’, Vycho´dit le¨gkim ˇsa´gom la´n’. S vetve´j sorve¨tsja mja´gko lu´n’, Plesne¨t strue¨ju cˇe¨rnoj lin’. I cˇe´j-to sta´n kole´blet sto´n To mo´zˇet – Pa´n, a mo´zˇet – pe´n’, Iz tı´ny – te´n’, iz sı´ni – so´n, Poka´ na Do´n ne lja´zˇet de´n’. (Aseev, »Moskovskie mastera« 277 ) Wenn Irdisches beugt die Trägheit, Tritt leichten Schritts hervor die Hindin. Von den Zweigen reißt sich sanft die Weihe, Es spritzt mit schwarzem Strahl die Schleie. Und jemands Gestalt erschüttert ein Stöhnen Vielleicht ist’s – Pan, vielleicht ein Stumpf, Aus dem Schlamm – Schatten, aus der Bläue – Schlaf, Solange auf den Don sich nicht legt der Tag. Nasˇ bo´g be´g 〈…〉 Ze´len’ju lja´g lu´g 〈…〉 Le´t bystrole¨tnym ko´njam 〈…〉 Ra´dosti pe´j. Po´j.278 (Majakovskij, »Nasˇ Marsˇ« 279 ) 277 Nikolaj N. Aseev gehörte zunächst der futuristischen »Centrifuga«-Gruppe an, in den 20er Jahren den Konstruktivisten. Das Gedicht, das 1916 in dem Gedichtband Moskovskie mastera [›Moskauer Meister‹] (Moskva: Vesna) erschienen ist, findet sich abgedruckt in: Aseev, Stichotvorenija. Poe˙my. Vospominanija. Stat’i, S. 42. [Anm. v. A.N.] 278 Bei »pit’ – pet’« [›trinken – singen‹] handelt es sich um eine traditionelle etymologische Figur. Vgl. ebenso bei dem bulgarischen Dichter Botev – »piem, peem«.
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Unser Gott Flucht 〈…〉 Wiese leg dich grün 〈…〉 Der Jahre schnellfliegenden Pferden 〈…〉 Freuden trink. Sing. (Vgl. bei E. Guro: »De´n’ skvoz’ o´blako – dju´na« [›Tag durch die Wolke – eine Düne‹]) 280
Ein interessantes Muster einer lautlichbildlichen Struktur ist die Kontamination zweier Strukturglieder in einem dritten. Folkloristische Beispiele: Sı´la solo´mu lo´mit. Kraft bricht Stroh. (Sprichwort) 281
Im Kreis Vereja erzählte mir ein alter Märchenerzähler, wie ein Bauer aus Rache seinen Herrn [barina] mit List ins Bad [banju] lockte und ihn dort halbtot prügelte, abtrommelte [otbarabanil]. »Barina da v bane da otbarabanil! Lovko!« [›Den Herrn und im Bad und abgetrommelt! Geschickt!‹] fiel begeistert einer der zuhörenden Burschen ein. Bei Chlebnikov: Ty zna´esˇ’: pu´t’ izme´nit prja´, I sta´nem ve´rny, o Peru´ne 〈…〉 Tak ty´ oko´ncˇil Perune´pr. (»Perunu«; II, 198 f.) Du weißt den Weg verändert der Zwist [prja] Und wir werden treu, oh Perun 〈…〉 So hast du beendet den Perunepr. (»An Perun«) I de´va vekı´nja, vekı´nja v veka´ch, Veku´ja svoj ve´k v ognele¨tnych venka´ch. Na do´levo za´revo brosa´ju ja se´n’ I gla´som bez ma´reva klı´knula de´n’ I de´n’ vostorgnu´lsja, i de´n’ vosstae¨t, I de´n’ svoe ve´no vekı´ne nese¨t. (»Bogotekum«; II, 265) [Anm. v. R.J.] – Vgl. Jakobsons Analyse von Christo Botevs »Obesvaneto na Vasil Levski« [›Die Erhängung Vasil Levskis‹] in: »Die Struktur von Botevs letztem Gedicht«, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 395–431. [Anm. v. A.N.] 279 Majakovskij, »Nasˇ marsˇ« [›Unser Marsch‹], in: ders., Polnoe sobranie socˇinenij, Bd. 2, S. 7; dt. Übers. in: Majakowski, Werke, Bd. 1, S. 34 f. [Anm. v. A.N.] 280 Guro, »Nebesnye verbljuzˇata« [›Himmlische Kameljunge‹], in: dies., Socˇinenija, S. 249. [Anm. v. A.N.] 281 Slovar’ russkich poslovic i pogovorok, S. 298. [Anm. v. A.N.]
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Und die Jungfrau Ewigkeitin [vekinja vekinja] in Ewigkeiten [vekach] Lebend [vekuja] ihr Leben [vek] in feuerflügigen Kränzen [venkach] Auf Tales-Röte werfe ich Schatten Und mit einer Stimme ohne Dunst rief sie den Tag Und der Tag riß sich empor und der Tag steht auf Und der Tag seine Gabe [veno] der Ewigkeiten [vekine] bringt [neset]. Moı´ch druze´j lete´li so´nmy. Ich se´mero, ich se´mero, ich sto´. I po´sle ispustı´li sto´n my 〈…〉 (III, 25) Es flogen die Schwärme [sonmy] meiner Freunde Es waren ihrer sieben [semero], ihrer sieben [semero], ihrer hundert [sto]. Und danach stießen aus einen Seufzer wir [ston my] 〈…〉
Der Anfangslaut, sagt Chlebnikov, hat eine andere Natur als seine Gefährten. Der erste Laut eines Wortes befehligt die übrigen. Wörter, die mit demselben Konsonanten beginnen, haben eine gemeinsame Richtung, wie Sternschnuppenschwärme. Auf der poetischen Valenz des Anfangslauts eines Wortes beruht die Alliteration im engeren Sinne. Beispiele für komplexe Konsonantenstrukturen bei Chlebnikov: I v uto´nnych ne´gach sne´ga By´lych be´lych gre¨z zarı´.282 Und in zerflossenen Schneewonnen Gewesener weißer Träume der Himmelsröte. I v de´brjach goluby´ch stona´lo so´lnce Ljubrı´ go´lubri ne´bo rassypa´lo.283 Und in blauen Dickichten stöhnte die Sonne Liebichte blauichte der Himmel zerstob. Sme´chlye usta´ sme´rt’ protjanu´la celu´jusˇcˇaja Do´chla i pusta´ tve´rd’ protjanu´las’ celu´emaja. (II, 272) Lachlichen Mund streckte der Tod aus küssend Schwächlich und leer das Himmelszelt streckte sich aus geküßt. Golubote´laja oduvancˇikoko´saja ˇ ’i vo´losy zo´lota vo´losy C 282 Abgedruckt bei Chardzˇiev, Stat’i ob avangarde, Bd. 2, S. 243. [Anm. v. A.N.] 283 Ebd. [Anm. v. A.N.]
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Ove´klye sle¨zy ostekljane´lye cˇ’ı´ go´losy vo´lody go´losa (II, 272) Blauleibig löwenzahnzopfig Deren Haare Goldes Haare Eingekorbte Tränen erglaste deren Stimmen Riesen der Stimme Zasty´li netle´nnymi Zove¨m ich slepy´e vsele´nnymi vsele´nnymi 〈…〉 (II, 272) Erstarrten unvergänglich Nennen wir blinde sie Weltalle Weltalle 〈…〉
Im ersten Vierzeiler treten folgende Lautwiederholungsreihen auf: 1. B-L – bylych, belych, ljubri, golubri. Bylych-belych als flektierende Reihe. Ljubri-golubri – die Form wird wahrgenommen über die Zusammenstellung zweier Neologismen mit der gleichen formalen Zugehörigkeit und weiter über die Zusammenstellung mit Wörtern derselben Zugehörigkeit in Bezug auf Stamm und Form, die aber keine Neologismen sind: debrjach golubych. 2. S-T-N-L – utonnych, snega, solnce, Kontamination: stonala. 3. N-G – negach, snega. 4. R-Z – grez, zari. Der fünfte und der sechste Vers laufen in der jeweils zweiten Hälfte syntaktisch, morphologisch und euphonisch parallel: smert’ – tverd’, protjanula – protjanulas’, celujusˇˇcaja – celuemaja. Die jeweils ersten Hälften sind nur euphonisch parallel und enthalten in den parallelen Silben des syllabischen Schemas gleiche Konsonantenˇ astusˇki: gruppen (chl, st). Vgl. eine ähnliche Erscheinung in den C Plyve´t lo´dka ve¨sel vo´sem’ Moj mile¨nok bro´sil v o´sen’.284 Fährt ein Kahn von Rudern acht Mein Liebster verließ [mich] im Herbst.
Bei »Vo´losy zo´lota vo´losy – go´losy vo´lody go´losa« [›Haares Goldes Haare – Stimmen Riesen der Stimmen‹] handelt es sich um eine euphonischsyntaktische *Metathese. Die letzten Verse ergeben folgende Wiederholungsreihen: 1. S-L – vo´losy, sle¨zy, go´losy, slepy´e, vsele´nnymi. 2. T-L – golubote´laja, zo´loto, netle´nnymi. Die Kontamination beider Reihen ergibt: zasty´li ostekljane´lye. ˇ astusˇka Nr. 4988. [Anm. v. A.N.] 284 Sbornik velikorusskich ˇcastusˇek, S. 409, C
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3. V–L – vo´losy, ove´klye, vo´lody. 4. K-L – ove´klye, ostekljane´lye. V po´ru kogda´ v vy´rej Vremire´j umcˇa´lis’ sta´i Ja vre´musˇkom-ka´musˇkom ´ıgryvalo I vre´musˇek-ka´musˇek kı´nulo I vre´musˇko-ka´musˇko ka´nulo I vremy´nja kry´l’ja proste¨rla. (II, 271) Zu der Zeit da nach Zauberland Enteilten die Schwärme der Zeitfriedole Ich mit Zeitlein-Steinlein spielte es Und Zeitlein-Steinlein warf es Und Zeitlein-Steinlein sank Und die Zeitin breitete die Flügel aus.
Das Gedicht ist aufgebaut auf der Gegenüberstellung von vr und dem Anfangslaut k. Vyrej, vrem-, igryvalo; kogda, kamusˇ-, kinulo-, kanulo, kryl’ja. Die übrigen Konsonantengruppen – pr (poru), st (stai), rl (kryl’ja) werden im Schlußwort (prosterla) kontaminiert. Tebja´ poju´ moj sı´nij so´n I te´ni sane´j zoloty´e Zimy´ sedo´j i sı´zyj sto´n I te´ni te´mi 〈…〉 (II, 277) Dich singe ich mein blauer Schlaf Und die goldenen Schlittenschatten Des silbrigen Winters und den graublauen Seufzer Und die Schatten der Finsternis 〈…〉
Hier findet eine Verflechtung von *Zischlauten (6 s, 8 z) und *dentalen *Verschlußlauten (6 t und 1 d) auf einem Hintergrund von *Nasalen (6 n und 3 m) statt; das kontaminierende Wort lautet: ston. Die praktische Sprache kennt den Ersatz eines Anfangskonsonanten durch einen anderen aufgrund einer Analogie (z. B. devjat’ [›neun‹] unter dem Einfluß von desjat’ [›zehn‹]); noch charakteristischer ist diese Erscheinung für Lapsus; so die Fälle einer Antizipation des Anfangslauts eines der begleitenden Wörter. Z. B. skap stoit oder umgekehrt lesa lostut.285 In Chlebnikovs Versen wird diese Erscheinung als poetisches Verfahren verwendet: Der Anfangskonsonant wird durch einen aus anderen poetischen Wurzeln stammenden ersetzt. 285 Bogorodickij, Lekcii po obsˇˇcemu jazykovedeniju, S. 190. [Anm. v. R.J.] – Statt »sˇkap stoit« [›der Schrank steht‹] und »lesa rostut« [›die Wälder wachsen‹]. [Anm. d. Übs.]
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Das Wort erhält gleichsam eine neue Lautcharakteristik, die Bedeutung gerät ins Schwanken, das Wort wird wahrgenommen wie ein Bekannter mit unversehens unbekanntem Gesicht, oder wie ein Unbekannter, in dem man Bekanntes ahnt. Sija´jusˇcˇaja vo´l’za Zˇela´emych resnı´c I la´skovaja do´l’za Laska´jusˇcˇich desnı´c ˇ ezo´ri goluby´e C I nro´vi svoenra´vija O mra´vo. Moja morole´va Na oze´re sı´nem – moro´l’ Nı´cˇ’ tru´sy – tuda´ Gde pla´cˇet zoro´l’.286 Glänzender Wutzen Ersehnter Wimpern Und liebevoller Dutzen Liebkosender Hände Gensterne blaue Und Nrauen des Eigensinns O Medit. Meine Mönigin Auf dem blauen See – der Mönig Nieder Feiglinge – dorthin, Wo der Sönig weint.
Das Erfassen wird erleichtert erstens durch die Zusammenstellung zweier Substituta des Anfangskonsonanten in demselben Wort (vol’za – dol’za, morol’ – zorol’ ); zweitens durch das übereinstimmende Substitutum in zwei benachbarten Wörtern (mravo – moroleva); durch die Nachbarschaft des Wortes, dem der Anfangskonsonant entnommen ist, mit dem deformierten Wort (nrovi svoenravie). Eine ähnliche Substitution finden wir in künstlichen Berufssprachen. Tolstoj, der die Familiennamen der Helden von »Krieg und Frieden« nicht von der Wirklichkeit isolieren wollte, bemühte sich darum, daß sie »in gewissem Maße bekannt und in russischen aristokratischen Kreisen 286 ›Erraten‹ werden sollen in diesem Gedicht in den Formen »vol’za«, »dol’za« das Wort »pol’za« [›Nutzen‹], in der Form »nrovi« das Wort »brovi« [›Brauen‹], in der Form »mravo« das Wort »pravo« [›Recht‹], in den Formen »moroleva« bzw. »morol’«, »zorol’« die Worte »koroleva« [›Königin‹] bzw. »korol’« [›König‹]. [Anm. d. Übs.] – Ein Nachdruck von »Sijajusˇcˇaja vol’za« (1918) findet sich in: Chlebnikov, Tvorenija, S. 110. [Anm. v. A.N.]
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natürlich klängen«, vermochte aber nach eigener Aussage nicht, »diese Schwierigkeit anders zu umgehen, als aufs Geratewohl die dem russischen Ohr bekanntesten Familiennamen zu nehmen und in ihnen einige Buchstaben zu ändern.« Vgl. z. B. Bolkonskij, Drubeckoj.287 »Ich würde es sehr bedauern«, sagt Tolstoj, »wenn die Ähnlichkeit der erdachten Namen mit den wirklichen jemanden auf den Gedanken bringen sollte, ich wollte die eine oder andere wirkliche Person beschreiben«.288 Ein analoges sprachliches Phänomen stellen auch die sogenannten Reimwörter dar, allerdings mit dem Unterschied, daß das deformierte Wort in diesen Fällen mit der ursprünglichen Lautung verbunden bleibt. Viele Beispiele gibt es in den Scherzreden, an denen, nach Sˇejns Worten, mutwillige Kinder ihren Spaß haben, oft ganz ohne Grund, allein um des Wortvergnügens willen.289 287 Die entsprechenden russischen Familiennamen lauten Volkonskij, Trubeckoj. [Anm. d. Übs.] 288 Vgl. L. Tolstoj, »Neskol’ko slov po povodu knigi Vojna i mir«, S. 384. [Anm. v. A.N.] 289 Diese hochinteressanten Bildungen sind noch nicht erforscht und nicht einmal systematisiert worden, wenn man von flüchtigen Bemerkungen M i r z a - D zˇ a f a r s , D u r n o v o s , K r y m s k i j s und Sˇ k l o v k i j s zu dieser Frage absieht. Interessant wäre es, die phonetischen Gesetze, die den Reimwörtern in den verschiedenen Sprachen zugrundeliegen, ebenso wie auch ihre Funktionen und ihren Verbreitungsgrad zu vergleichen. Bei russischen Reimverbindungen, die aus einem Wort (A) + gleichem Wort bei Substitution des Anfangskonsonanten (A1) bestehen, ist das Substitutum m, wenn das Wort nicht mit einem *Labial beginnt; im letzteren Fall ist m unmöglich, offensichtlich infolge der Dissimilationstendenz; dann nimmt das Wortpaar die Gestalt A1 + A an, wobei in A1 der Anfangslabial durch einen Dental ersetzt ist (gewöhnlich Palatal-Dental). Es ist nicht ausgeschlossen, daß diese Regel durch die Analogie mit Reimwörtern vom Typ ˇsagom-magom bedingt ist. Trotz des am Anfang stehenden Labials beginnt A1 bei Neubildungen mit einem m und steht an zweiter Stelle. So pikniki-mikniki und weiterhin Wörter, die mit f beginnen, einem Phonem, das dem Russischen fast unbekannt ist, z. B. fedja-medja, figli-migli, farasei (farisei)marasei. – Beispiele für Kombinationen A + A1: kudy-mudy, karakulja-marakulja, kostrjuk-mostrjuk, koljada-moljada, koren’-molen’ (mit Liquidadissimilation), guslimusli, gogol’-mogol’, diochol-mochol; sachar-machar, ˇsagom-magom, zakon-makon, zarevo-marevo, tatarin-mamarin (hier wird tata als Reduplikation empfunden), den’gamen’ga usf. – Beispiele für Kombinationen A1 + A: turja-burja, turkat’-burkat’, ˇsurdaburda, ˇsaltaj-baltaj, ˇsalovat’-balovat’, ˇceremja-beremja, taran-baran (in Analogie zum Typ A + A1 entsteht auch baran-maran), ˇsersten’-persten’, sen’-pen’, ˇsejna-vojna, ˇsert’vert’, ˇsisˇel-vysˇel, dikin’-vykin’, ˇsatyl’-motyl’ usf. – In Analogie zu den Kombinationen A1 + A nehmen in Einzelfällen auch die Verbindungen A + A1 einen labialen *Obstruenten an, z. B. chor’ki-borki, kotik-botik (bei der Dichterin Guro), ˇcizˇik-pyzˇik und weiterhin Vanja-banja [›Hänschen-Bad‹] (hier wurde dem ani-bani des Abzählreims der Kinder eine Bedeutung verliehen). – In Analogie zu den aufgeführten Reim-
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VIII Das Spiel mit Synonymen ist gleichsam eine teilweise Emanzipation der Worte von ihren Bedeutungen, d. h. ein neues Wort hat nicht auch eine neue Bedeutung zur Folge; andererseits ist eine neue Differenzierung semantischer Nuancen möglich. Beispiele: On go´l i na´g. (»Vila i lesˇij«; I, 129) Er ist nackt und bloß. (»Nixe und Waldschrat«) Zna´j i ve´daj. (»Gibel’ Atlantidy«; I, 97) Kenne und wisse. (»Untergang von Atlantis«) Kto´ nam tova´risˇcˇ i dru´g? (III, 17) 290 Wer uns Genosse und Freund? wörtern entstehen Konstruktionen aus zwei existierenden, doch ebenso auch Verbindungen aus zwei sinnlosen, onomatopoetischen Reimwörtern. – Erstere bestehen aus einem Wort mit Nichtlabial am Anfang + einem Wort, das mit einem Labial (meist m) beginnt; nicht m ist natürlich nur nach Dentalen möglich (Einfl. des Typs A1 + A). Beispiele: kalina-malina, katusˇka-matusˇka, Dar’ja-Mar’ja, ˇsil’ce-myl’ce, ˇsilamyla, ˇsataetsja-motaetsja, Sasˇki-Masˇki, po solodu-po molodu, suslo-maslo, celuet-miluet, travka-muravka, ˇsestom-pestom, zain’ka-pain’ka, zˇil-byl, ˇsaroch-varoch, ne trosˇ’-ne vorosˇ, seju-veju, sito-vito. Onomatopoetische Kombinationen unterliegen dem gleichen Gesetz, das heißt, das erste Glied beginnt mit einem Hinter- (bzw. Mittel-)gaumenlaut, das zweite mit m, bzw. das erste mit Dental (meist ˇs ), das zweite mit m oder häufiger mit b – in Analogie zu den Kombinationen A1 + A). Beispiele: kildi-mildi, kalecˇina-malecˇina, kiki-miki, kuchtarka-muchtarka, kulaga-malaga, kundy-mundy (Ausnahme: kidra-vidra), ˇsisˇel-mysˇel, ˇcuchry-muchry, ˇcikirej-mikirej, saldy-baldy, ˇsurom-burom, ˇsurki-burki, ˇsate˙r-bate˙r, ˇsadra-badra, ˇsuni-buni, zˇalty-balty, trynka-brynka, vgl. auch Dobcˇinskij-Bobcˇinskij. Immer mit b beginnen solche Kombinationen auch, wenn das erste Glied mit Vokal beginnt. Beispiele: aty-baty, ani-bani, akirbakir, as-bas, eni-beni. – Zuweilen haben unter für mich unklaren Bedingungen Wortpaare verschiedener Typen die Substituta j, r, l. So etwa: solomina-jalomina, koloben’-e¨loben’; ˇsurki-jurki; jajce-rajce, ˇsochan-rochan, ravlik-pavlik, pjadun-ladun, ˇsugi-lugi. – Die angeführten Gesetze sind auch bei analogen Konstruktionen mit Zwischenräumen wirksam. So in dem Tanzlied: Ach ty kalina moja [›Ach du, mein Schneeballstrauch‹], ach ty malina moja [›ach du meine Himbeere]. Die umgekehrte Reihenfolge ist unmöglich. Vgl. ebenso die Scherzrede: »dysˇ-dysˇ, provalilsja v pizdu mysˇ« [›schnauf, schnauf, verschwunden ist… die Maus‹]. 290 Chlebnikov, »Tol’ko my, svernuv vasˇi tri gody vojny…« [›Nur wir, die wir eure drei Kriegsjahre …‹], in: ders., Sobranie proizvedenij, III, S. 17–23. Dt. Übers.: Chlebnikov, Werke, Bd. 2, S. 258–263. [Anm. v. A.N.]
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My´, pastuchı´ ljude´j i cˇelove´cˇestva. (»Vremennik 2–oj; III, 17) 291 Wir Hirten der Menschen und Menschheit. (»Jahrbuch zwei«) Lico´ otmsˇcˇe´n’ja i vozme´zdij. (»Gibel’ Atlantidy«; I, 101) Das Antlitz der Rache und Vergeltungen. (»Untergang von Atlantis«) Smerte´j i gı´beli placˇe´vnye uzo´ry. (»Zmej poezda«; II, 107) Der Tode und des Untergangs klägliche Ornamente. (»Der Eisenbahndrache«)
Die umgekehrte Erscheinung, das Spiel mit *Homonymen, beruht ebenso wie das Spiel mit Synonymen auf der Nichtübereinstimmung von Bedeutungs- und Worteinheit – eine Parallele ist das Verfließen der Farben in der Malerei. Beispiele: Kosa´ to ukrasˇa´et te´mja, spuskajas’ na ple´cˇi, to ko´sit travu´. Me´ra to polna´ ovsa´, to volchvu´et slo´vom. (II, 93) 292 Kosa [›Zopf‹, ›Sense‹] schmückt bald den Scheitel und fällt auf die Schulter, bald mäht [kosit] sie das Gras. Mera [›Maß‹, *›Metrum‹] ist bald voll von Hafer, bald zaubert es mit dem Wort.
Vgl. in Bloks »Balagancˇik« [›Das Schaubudchen‹] 293: »Pojavlja´etsja 〈…〉 de´vusˇka 〈…〉 Za plecˇa´mi lezˇit zaple´tennaja kosa´. Mı´stiki: – Prı´byla! 〈…〉 Za plecˇa´mi kosa´. E˙to – sme´rt’«. [›Es erscheint 〈…〉 ein Mädchen 〈…〉 auf ihren Schultern liegt der geflochtene Zopf (kosa) 294. Die Mystiker: Gekommen ist sie! 〈…〉 Auf den Schultern die Sense (kosa). Das ist der Tod.‹] Kakı´e prekra´snye knı´gi osta´vleny e´ju zde´s’. Ce´laja kucˇa. Vse¨ Ko´nt da Ka´nt. Esˇcˇe¨ Knu´t. Izvo´zcˇik, ne nu´zˇen li tebe´ knu´t? ˇ ertik«; IV, 202) – A? U menja´ svo´j e´st’. (»C 291 Chlebnikov, »Vozzvanie predsedatelej zemnogo ˇsara« [›Aufruf der Vorsitzenden des Erdballs‹], in: ders., Tvorenija, S. 609–614; dt. Übers: Chlebnikov, Werke, Bd. 2, S. 256–258. [Anm. v. A.N.] 292 Chlebnikov, »Son to sosed snega vesnoj…« [›Traum ist der Nachbar des Schnees im Frühling …‹], Sobranie proizvedenij, II, S. 93. [Anm. v. A.N.] 293 Vgl. Blok, »Balagancˇik«, 1905/6, in: ders., Sobranie socˇinenij v vos’mi tomach, Bd. 4, S. 7–21, hier: S. 12. Dt. Übers.: Block, Ausgewählte Werke, Bd. 2, S. 11. [Anm. v. A.N.] 294 Das Motiv der kosa findet gerade im russischen Symbolismus eine reich verzweigte Verbreitung, zumal es im Sinne der Goetheschen Idee des »Gegensinns der Ur-
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Was für herrliche Bücher sie hiergelassen hat. Einen ganzen Stoß. Alles Kont (Comte) und Kant.295 Und Knut. Kutscher, brauchst du keine Knut’? – Wieso? Ich hab doch selber eine. (»Teufelchen«) I svo´dy nadme´nnye vzvı´lis’ – Zako´ny podze´mnoj gur’by´. (»Igra v adu«; II, 119) Und svody [›Gewölbe‹, ›Kodizes‹] hochmütige schwangen sich empor Gesetze des unterirdischen Haufens. (»Spiel in der Hölle«)
Vgl. bei Majakovskij: »Lı´ˇs’ zlo´bno zabı´vsˇis’ pod svo´dy zako´nov, zˇivu´t uny´lye su´d’i« [›Nur boshaft unter den svody (Kodizes, Gewölben) der Gesetze verkrochen leben die trübsinnigen Richter.‹] 296 Ein beliebtes Verfahren moderner Dichter ist die gleichzeitige Verwendung eines Wortes in seiner buchstäblichen und seiner metaphorischen Bedeutung. Ty´ (Fonta´nka) ot dvorco´v perepolze¨ˇs’ Pod ploskogo´r’em Klo´dta, Ne´vskij I skvo´z’ rjaby´e cˇernysˇi Dotja´nesˇsja, kak Dostoe´vskij, Do dna´ prostu´zˇennoj dusˇi. (B. Livsˇic 297) Du (Fontanka) wirst von den Palästen her, Unter Klodts Plateau, hinüber zum Nevsikij kriechen, Und durch die blatternarbigen Dunklen Wirst Du dich hinziehen /hinabgreifen [dotjanesˇ’sja], wie Dostoevskij, Bis an den Grund der erkälteten Seele.
Beispiele für die Realisierung eines Spiels mit Synonymen, wenn die Synonyme gleichsam selbständige Personen werden. worte« einerseits das Erosmotiv des weiblichen »Zopfes« bezeichnet, anderseits das Thanatosmotiv der »Sichel« bzw. »Sense«, die von dem im russischen femininen »Tod« (smert’ ) geführt wird. Zu kosa im Symbolismus – hier v. a. im Kontext der Luna-Symbolik – vgl. Hansen-Löve, Der russische Symbolismus, Bd. 1, S. 248, 366; Bd. 2, S. 90 f. u. 154 ff. [Anm. v. A.H.-L.] 295 Der Kalauer »Comte«-»Kant« (Kont – Kant) etc. findet sich auch in Andrej Belyjs Roman Peterburg, S. 119 (in der dt. Ausgabe: Petersburg, S. 173). [Anm. v. A.H.-L.] 296 Majakovskij, »Gimn sud’e« [›Hymnus auf den Richter‹], in: ders., Polnoe sobranie socˇinenij, Bd. 1, S. 77; dt. Übers. in: Majakowski, Werke, Bd. 1, S. 13 f. [Anm. v. A.N.] 297 Das Zitat entstammt dem Gedicht: »Fontanka« (1914), in: Livsˇic, Polutoraglazyj strelec. Stichotvorenija. Perevody, S. 68. [Anm. v. A.H.-L.]
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So´n cho´dit po la´vke, Dremo´ta po izbe´, So´n-to govorı´t: – Ja spa´t’ chocˇu´, Dremo´ta govorı´t: – Ja drema´ti chocˇu´.298 Der Schlaf läuft auf der Bank Der Schlummer durch die Hütte, Der Schlaf sagt: – Ich will schlafen, Der Schlummer sagt: – Ich will schlummern. So´n cho´dit po se´njam, Dre¨ma po no´vym, So´n u dre¨my vse¨ vyspra´ˇsivaet 〈…〉 299 Der Schlaf geht umher in der Diele Der Schlummer in einer neuen. Der Schlaf fragt aus dem Schlummer alles heraus 〈…〉
Hier liegt zweifellos eine *Personifizierung der beiden Glieder eines formalen Parallelismus vor vom Typ: De´vica cho´dit po se´njam, Kra´snaja cho´dit po no´vym. Das Mädchen geht umher in der Diele, Die Schöne umher in der neuen.
D. h. in Vers A wird ein Definiendum gegeben, in Vers B, der A parallel ist – das Epitheton, oder als Sonderfall – ein Synonym als Definiens. Ka´k na Va´niny imenı´ny Ispeklı´ my karava´j Vot tako´j ˇsiriny´ Vot tako´j uzˇiny´ Vot tako´j vysˇiny´ Vot tako´j nizˇiny.300 Wie auf Vanjas Namenstag Einen Rundlaib wir rausbackten, 298 Sˇejn, Velikoruss v svoich pesnjach, obrjadach, obycˇajach, verovanijach, skazkach, legendach, Bd. 1, Nr. 1, S. 3. 299 A. a. O., Bd. 1, Nr. 7, S. 4. 300 Die Textstelle konnte nicht verifiziert werden. [Anm. v. A.N.]
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Grad von der Breite, Grad von der Enge Grad von der Höhe Grad von der Tiefe (Kinderspiellied) Vscho´dit me´sjac obnazˇe¨nnyj Pri lazo´revoj lune´. (Brjusov) 301 Geht der Mond [mesjac] auf entblößt Beim lasurenen Mond [luna] Gde tu´cˇ i o´blaka mezˇa´ (Chlebnikov; I, 101) 302 Wo der Wolken [tucˇ ] und der Wolke [oblaka] Grenze Zacˇe´m ote´cˇestvo sta´lo ludoe´dom A ro´dina ego´ zˇeno´j. [III, 19] 303 Warum wurde das Vaterland [otecˇestvo, n.] zum Menschenfresser Und die Heimat [rodina, f.] seine Frau.
Das letzte Beispiel ist insofern charakteristisch, als es die Notwendigkeit der sprachlichen Genuskategorie für das verbale Bild zeigt. Personifiziert werden feminine Nomina zu Personen weiblichen Geschlechts, maskuline und neutrale Nomina zu solchen männlichen Geschlechts. So stellt sich z. B. der Russe die Wochentage als Personen folgendermaßen vor: »ponedelnik« [›Montag‹] und »voskresenie« [›Sonntag‹] als Männer, »sreda« [Mittwoch] als ›Frau‹. Interessant ist, daß Repin 304 nicht verstehen konnte, warum die Sünde [russ. »grech«, m.] bei Stuck 305 als Frau dargestellt ist. 301 Aus Brjusovs Gedicht »Tvorcˇestvo« [›Schöpfertum‹], in: ders., Stichotvorenija i poe˙my, S. 70. [Anm. v. A.N.] 302 Chlebnikov, »Gibel’ Atlantidy« [›Der Untergang von Atlantis‹], in: ders., Sobranie proizvedenij, I, S. 94–102. [Anm. v. A.N.] 303 Chlebnikov, »Tol’ko my, svernuv vasˇi tri gody vojny…« [›Nur wir, die wir eure drei Kriegsjahre …‹], a. a. O., III, S. 17–23. Dt. Übers.: Chlebnikov, Werke, Bd. 2, S. 258–263. [Anm. v. A.N.] 304 Zu Il’ja E. Repin, dem Maler des russischen Realismus, vgl. Gray, Das große Experiment, S. 14 ff. [Anm. v. A.H.-L.] 305 Gemeint ist wohl Franz von Stuck (1863–1928) – so etwa seine Gemälde »Die Sünde« (1893), »Salome« (1906), »Judith und Holofernes« (1926), vgl. Delevoy, Der Symbolismus in Wort und Bild, S. 104 ff. Vgl. den Ausstellungskatalog: Femmes Fatales. 1860–1910. Das Problem der Differenz zwischen grammatischem und ›natürlichem‹, eigentlich müßte man sagen: kulturspezifischem – Geschlecht zeigt sich in diesem Zusammenhang nicht nur im erwähnten russischen smert’ (weiblich)
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Vgl. die analoge Verbindlichkeit des grammatischen *Genus beim Gattungsadjektiv im Kinderliedchen: Na Na Na Na
ba´b’ju ro´zˇ’, muzˇ´ıcˇij ove¨s, de´vicˇ’ju gre´cˇu, ma´licˇ’e pro´so.306
Auf Auf Auf Auf
den Weiberroggen [russ. fem.], den Mannshafer [russ. mask.], den Mädchenbuchweizen [russ. fem.], die Kinderhirse [russ. neutr.]
Beliebtes Synonymenmaterial sind Wörter aus andern Sprachen und Dialekten: Ta´m poluboja´znenno sto´nut: Bo´g, Tam ˇse´pcˇut tı´cho: Go´t, Tam sto´nut kra´tko: D’e´. (Chlebnikov, »Markiza Dezes«; IV, 235) Dort stöhnen sie halbfurchtsam: Bog, Dort flüstern sie leise: Gott, Dort seufzen sie kurz: Dieu. (»Marquise Desaix«) Sko´l’ko sku´ki v sko´ke ska´lki O de´n’, i dı´n’, i dze´n’. O no´cˇ’, nuo´cˇ’ i nı´cˇ’. Morsko´j pribo´j vseo´bsˇcˇego edı´nstva. (»Dety vydry«; II, 168) 307 Wieviel Langeweile im Sprung des Seils Oh Tag, und Tach und Dag. Oh Nacht, und Nocht und Nohcht. Meeresbrandung der umfassenden Einheit. (»Kinder der Otter«)
(»Nuocˇ’« und »nicˇ’« sind kleinrussische phonetische Varianten, »dzen’« ist weißrussisch, »din’« ist dialektal weißrussisch). und »der Tod« (maskulin im Deutschen), sondern auch in dem für den Symbolismus in Rußland zentralen Doppelbegriff von »der Mond« in weiblicher Form als Luna und in männlicher als mesjac (vgl. dazu Hansen-Löve, Der russische Symbolismus, Bd. 2, S. 147–172). [Anm. v. A.H.-L.] 306 Sˇejn, Velikoruss v svoich pesnjach, obrjadach, obycˇajach, verovanijach, skazkach, legendach, Bd. 1, Nr. 134, S. 28. – In Krylovs Übersetzungsfabel »Die Libelle und die Ameise« gewann das grammatische Geschlecht die Oberhand über die reale Bedeutung. La cigale [russ. kuznecˇik, mask.] wurde zur Libelle [strekoza, fem.], bewahrte aber dennoch alle Merkmale der Grille (Springerin, sie sang). [Anm. v. R.J.]. – Vgl. Krylov, »Strekoza i Muravej«, in: ders., Stichotvorenija, S. 110 f. [Anm. v. A.N.] 307 Dt. Übers.: Chlebnikov, Werke, Bd. 2, S. 42–64. [Anm. v. A.N.]
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Vgl. bei Majakovskij: V cˇe´st’ Tvoego´-sija´tel’nyj-sa´naBr-r-a´-vo. E˙vı´va. Banza´j. Ura´. Go´ch. Gip-gı´p. Vı´v. Osa´na. Zur Ehre Deiner – Erlauchter – Würde – Br-r-a-vo. Evviva. Banzai. Ura. Hoch. Hip, hip. Vive. Hosanna.308
Ausländische Wörter finden überhaupt reichliche Verwendung in der Poesie, weil ihr Lautbestand überrascht und die Bedeutung abgedämpft ist. So auch Chlebnikovs Neologismen aus Eigennamen: O, dostoje´vskimo begu´ˇscˇej tu´cˇi, O, pusˇkino´ty mle´jusˇcˇego po´ldnja, Nocˇ’ smo´tritsja, ka´k Tju´tcˇev, Bezme´rnoe zamı´rnym po´lnja. (»Mirskonca«; II, 89) O Dostoevskijmo fliehender Wolke [tucˇi] O Pusˇkintümer mahlenden Mittags, Nacht wird betrachtet wie Tjutcˇev, Unendliches mit Oberweltlichem füllend. (»Weltvomende«) Usa´d’ba no´cˇ’ju, cˇingischa´n’! Sˇumı´te, sı´nie bere¨zy. Zarja nocˇna´ja, zaratu´str’! A ne´bo sı´nee, mo´cart’! I su´mrak o´blaka, bu´d’ Go´jja! ˇ etyre pticy«; II, 217) Ty nocˇ’ju, o´blako, roo´ps’! (»C ˇ elovek« [›Der Mensch‹], in: ders., Polnoe sobranie socˇinenij, Bd. 1, 308 Majakovskij, »C S. 252 f. [Anm. v. A.N.]
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Hof nachts, dschingiskhane dich! Rauscht, blaue Birken. Röte [zarja] nächtliche, zarathustre dich! Doch Himmel blau mozarte dich! Und Dämmer der Wolke, sei Goya. Du nachts, Wolke, ropse 309 dich! (»Vier Vögel«)
Hier, wie in den meisten Fällen, erweist sich die humoristische Poesie als Vorreiterin. Vgl. bei Pusˇkin: »küchelbeckerlich« 310, »ogoncˇarovan« 311. Bei Kol’cov schon außerhalb einer humoristischen Anwendung: »pilatit’«.312 Eigennamen, Familiennamen sind in der praktischen Sprache Etiketten, die mit dem genannten Objekt nur durch Kontiguitätsassoziation verbunden sind und normalerweise keinerlei Worterlebnisse hervorrufen. Anders verhält es sich mit der emotionalen Sprache und in der Poesie. In letzterer beobachten wir erstens: eine Erneuerung der Bedeutung – in humoristischer Anwendung bei Pusˇkin: Veselı´sja, Ru´s’! Nasˇ Glı´nka – Uzˇ ne glı´nka, a farfo´r. Freu dich, Reußenland! Unser Glinka – Ist kein Töpferton [glinka] mehr, sondern Porzellan.313
Bei Chlebnikov: »Iz Pusˇkina trupov kumirnych pusˇek nadelaem sna« [›Aus Pusˇkins Leichen abgöttischer Kanonen (pusˇek) werden wir Schlaf machen.‹] 314 Bei Majakovskij: Sy´t, kak Sy´tin.315 Satt wie Sytin. 309 Abgeleitet vom Namen des Malers Fe´licien Rops (1833–1898), belgischer Maler und Graphiker des Symbolismus (vgl. Delevoy, Der Symbolismus in Wort und Bild, S. 60 f., S. 127). [Anm. v. A.H.-L.] 310 Aus dem Gedicht »Za uzˇinom ob”elsja ja…« [›Beim Abendessen habe ich mich übergessen…‹], 1819, in: Pusˇkin, Polnoe sobranie socˇinenij, Bd. 2, S. 487. [Anm. v. A.N.] 311 Es handelt sich hier um eine Kontamination aus dem Eigennamen »Goncˇarov« und »ocˇarovan« [›bezaubert‹]. [Anm. d. Übs.] 312 »Pilatit’« klingt außer an »Pilatus« auch an »pila« [›Säge‹] an. [Anm. d. Übs.] – Das Wort stammt aus Kol’covs Gedicht »Russkaja pesnja« [›Russisches Lied‹], in: ders., Polnoe sobranie stichotvorenij, S. 1945. [Anm. v. A.N.] 313 Aus dem Gedicht »Kanon v cˇest’ M. I. Glinki« [›Kanon zu Ehren M. I. Glinkas‹] aus dem Jahr 1836, in: Pusˇkin, Polnoe sobranie socˇinenij, Bd. 3, S. 490. [Anm. v. A.N.] 314 Die Textstelle konnte nicht verifiziert werden. [Anm. v. A.N.]
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Zweitens die poetische Etymologie: O Tju´tcˇev tu´cˇ. (Chlebnikov; IV, 233) 316 Oh Tjutcˇev der Wolken.
IX Ähnlich den semantischen Zusammenstellungen ist der Reim als euphonische Zusammenstellung in der modernen Poesie sehr approximativ (Übereinstimmendes auf dem Hintergrund des Kontrastierenden). Für den Lautbestand des Chlebnikovschen Reims und überhaupt für den Reim in der neuen russischen Poesie ist charakteristisch: 1. Die Konsonanten haben größere Valenz als die Vokale. Dies ist überhaupt ein Zug moderner Euphonik. Der literarisch Altgläubige Andreevskij 317 beklagte sich über den desorganisierten Vokalismus in den Versen des Modernistenvorläufers Slucˇevskij. Bereits nach Meinung Aleksej Tolstojs haben die unbetonten Vokale keinerlei Bedeutung: »Allein die Konsonanten zählen; sie allein bilden den Reim«.318 Für den modernen Poeten sind Pusˇkinsche Reime wie menja – moja [›mich – meine‹], sebja – ja [›sich – ich‹], ljubvi – moi [›der Liebe – meine‹], ona – sosˇla [›sie – ging fort‹] usf. (s. Brjusovs Artikel »Pusˇkins Verstechnik« 319 ) vollkommen undenkbar. 2. Der Unterschied zwischen *palatalisierten und nichtpalatalisierten Konsonanten ist in bedeutendem Maße entschärft. Die Vokale sind akustisch durch die Höhe des Grundtons charakterisiert, und der akustische Unterschied zwischen palatalisierten und nichtpalatalisierten Konsonanten ist ebenfalls ein Unterschied in der Höhe des Grundtons. Die Evolution der poetischen Euphonik verläuft also parallel zur modernen Musik – vom Ton zum Geräusch. 315 Majakovskij, »Moe k e˙tomu otnosˇenie« [›Mein Verhalten hierzu‹], in: ders., Polnoe sobranie socˇinenij, Bd. 1, S. 99. Dt. Übers. in: Majakowski, Werke, Bd. 1, S. 18 f. [Anm. v. A.N.] 316 Chlebnikov, »Markiza De˙zes« [›Marquise Desaix‹], in: ders., Sobranie proizvedenij, IV, S. 225–238. [Anm. v. A.N.] 317 Die Kritik Andreevskijs an Slucˇevskij und den russischen Symbolisten findet sich in: Andreevskij, »Vyrozˇdenie rifmy (zametki o sovremennoj poe˙zii)«. [Anm. v. A.N.] 318 Die Textstelle konnte nicht verifiziert werden. [Anm. v. A.N.] 319 Siehe Brjusov, »Stichotvornaja technika Pusˇkina«. [Anm. v. R.J.] – In der Ausgabe der Werke Brjusovs findet sich die Passage an folgender Stelle: Brjusov, Sobranie socˇinenij v semi tomach, Bd. 7, S. 91. [Anm. v. A.H.-L.]
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3. Die Pusˇkin-Schule kultivierte am Reim die Schlußlaute, die moderne Poesie die Stützlaute, die Laute am Schluß brauchen nicht übereinzustimmen. 4. Konsonanten brauchen nicht identisch, sondern nur akustisch ähnlich zu sein. 5. Die Reihenfolge der Konsonanten braucht nicht identisch zu sein (Reim-Metathese). 6. Die Betonung in den Reimwörtern braucht nicht übereinzustimmen. Wenn der Reim genetisch eine rhythmische Fixation war, eine Legalisierung, gleichsam die Kristallisierung eines einzelnen euphonischen Strukturtyps, dann kommt der moderne Reim auch von einer Reihe anderer Typen her, z. B. von den Lautwiederholungen des Typs CBA. Offenkundig erklären sich die Angriffe von Dichtern verschiedener Schulen und Perioden gegen den Reim zu einem beträchtlichen Teil daraus, daß er die Abstraktion nur eines Typs ist, daß er eine Verarmung bedeutet im Vergleich zu der »kunstvollen Wahl der Vokale oder Konsonanten beim Redefluß selbst«, die Semen Bobrov 320 gegen den Reim verfocht. Diese Bereicherung des Reims konnte in einem Augenblick realisiert werden, in dem die Aufmerksamkeit stärker auf die euphonische Struktur des Verses fixiert wurde, in dem die Strukturen, die es auch vorher, allerdings verdeckt (latent), gab, schließlich ins helle Licht des Bewußtseins rückten. Auf dem Gebiet der Wiederholung, der einzigen von den euphonischen nicht kanonisierten Verfahrensweisen der russischen Poesie, der eine befriedigende Arbeit gewidmet worden ist,321 machten sich die russischen Poeten der Vergangenheit nur den Typ AB bewußt. Nur auf diesen Typ verweisen sie in ihren Äußerungen zum Vers. Pusˇkin spricht von der Musikalität der Laute »vla-vla« 322, Semen Bobrov notiert bei Lomonosov die kunstvolle Zeile: To´l’ko mutı´lsja peso´k, lisˇ’ be´laja pe´na kipe´la. Bloß wallte auf der Sand, nur der weiße Schaum kochte.323
320 Bobrov, Chersonida, S. 7. 321 Brik, »Zvukovye povtory«. 322 Pusˇkin in einem Brief an P. A. Vjazemskij vom 14. und 15. August 1825, abgedruckt in: Pusˇkin, Polnoe sobranie socˇinenij, Bd. 13, S. 209. [Anm. v. A.N.] 323 Aus Lomonosovs verstheoretischem Text »Pis’ma o pravilach rossijskogo stichotvorstva« [›Briefe über die Regeln des russischen Gedichtschaffens‹] (1731–40), in: Lomonosov, Polnoe sobranie socˇinenij, Bd. 7, S. 11. [Anm. v. A.N.]
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Radisˇcˇev empörte sich über Tred’jakovskijs kakophonischen Vers: Knı´ga derzˇ´ıma im by´la sobra´niem ´ımnov. Das von ihm gehaltene Buch war eine Sammlung von Hymnen.324
Der Reim, der in euphonischer Hinsicht seine *Symmetrie ganz oder teilweise wahrt, nimmt in der russischen Poesie seinen historischen Weg von der semantischen, syntaktischen und morphologischen Symmetrie zunächst zur syntaktischen, dann zur morphologischen Asymmetrie. Morphologische Symmetrie hat sich nur in der Poesie des Neologismus erhalten, wovon oben bereits die Rede war. Eine charakteristische Variante des modernen asymmetrischen, bloßgelegten Reims ist der zusammengesetzte Reim, der ursprünglich natürlich ein Monopol der humoristischen Poesie war (die sog. Kalauer-Reime, Minaev 325 usw.). Die Bloßlegung des Reims ist die Emanzipation seiner lautlichen Valenz aus der Sinnbindung. In dieser Richtung kann man in der Geschichte der russischen Poesie folgende Etappen feststellen (obwohl zu jedem Zeitpunkt, gleichsam an der Peripherie der Poesie, alle Etappen vorhanden sein können). 1. Reimwörter werden vor allem im Hinblick auf den Sinn verbunden und zusammengestellt. 2. Reimwörter werden nicht in bedeutungsmäßige Verbindung miteinander gebracht, aber nach ihrem Bedeutungsgewicht, nach ihrem Bedeutungsakzent gewissermaßen, zusammengestellt. 3. Als Reimträger werden künstlich Worte hervorgehoben, die durch das Wesen der Sache und die Interessen der Erzählung nicht bedingt und für den Sinn unwesentlich sind (z. B. Epitheta). 4. Es reimen Wörter, die mit dem Text logisch fast nicht verbunden sind und ad hoc herangezogen werden. Vgl. Ajchenval’ds 326 Äußerung über Brjusovs Reime. Auf diese Weise tritt der euphonische Wert des Reims zutage. In verdeckter Form ist gerade das Reimen von ad hoc herangezogenen Wörtern charakteristisch für die Poesie überhaupt. Richet: »Der Reim ruft das Gedicht hervor. Der Geist arbeitet mit Wortspielen.« 327 324 Die Textstelle konnte nicht verifiziert werden. [Anm. v. A.N.] 325 Dmitrij D. Minaev (1835–1889) war ein für seine Kalauerreime berühmter Dichter. [Anm. v. A.H.-L.] 326 Ajchenval’d, Valerij Brjusov. Opyt literaturnoj charakteristiki, S. 20 f. 327 Die Textstelle konnte nicht verifiziert werden. [Anm. v. A.N.]
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In der modernen Poesie ist dieses Verfahren bloßgelegt. Eine ähnliche Bloßlegung eines Reims vgl. bei Pusˇkin, wo sie humoristisch gerechtfertigt ist. Frigı´jskij ra´b, na ry´nke vzja´v jazy´k, Svarı´l ego´… (u gospodı´na Ko´pa koptja´t ego). E˙zop ego poto´m Prine¨s na sto´l… Opja´t’, zacˇem E˙zo´pa Ja vple¨l s ego´ vare¨nym jazyko´m ˇ to vsja´ procˇla Evro´pa, V moı´ stichı´? C Net nu´zˇdy vno´v’ bese´dovat’ o to´m. Nası´lu-to, rifma´cˇ ja bezrassu´dnyj, Otde´lalsja ot se´j okta´vy tru´dnoj.328 Ein phrygischer Sklave, der auf dem Markt sich eine Zunge nahm Sott sie (bei Herrn Kopen Räuchert [koptjat] man sie). Äsop sodann Bracht’ sie zu Tisch… Erneut, wozu hab ich Äsopen Hineingebracht mit seiner gesottenen Zunge In meine Verse? Was gelesen ward von ganz Europen, Braucht’s nicht, daß man von neuem davon schwätzt. Mit Ach und Krach, ich unvernünftiger Reimer, Entledigte ich dieser schwierigen Oktave mich.
Durch seine Bloßlegung wird der Reim gewissermaßen unterstrichen, was in den Fällen sehr wichtig ist, in denen der Vers durch die rhythmischen Konstanten schwach abgegrenzt ist. Deshalb kultiviert in der mündlichen Poesie gerade der Erzählvers den bloßgelegten Reim; ein solcher Reim kommt nicht selten auch in den *syllabischen »virsˇi« 329 vor und wurde natürlich von den Schöpfern der tonischen Verskunst abgelehnt. Tred’jakovskij bemerkt zu einem anonymen Poem über das Jüngste Gericht, das er als charakteristisches Beispiel russischer syllabischer Verskunst anführt: »So sehr wird der Reim für notwendig gehalten in den Versen, daß, mag auch das Reimwort nichts bedeuten und letztendlich beschädigt oder absichtlich ersonnen sein, wenn es nur mit dem Reim des vorangehenden Verses hervorragend zusammenklingt, ein solches Wortungeheuer nicht nur nicht geringgeschätzt, sondern auch noch im Vers für den Reim vorgezogen wird.« 330 Beispiel: 328 Pusˇkin, »Domik v Kolomne« [›Das Häuschen in Kolomna‹], Textstelle aus einer früheren Redaktion (von Kap. XVIII), in: Polnoe sobranie socˇinenij, Bd. 5, S. 381. [Anm. v. A.N.] 329 »Virsˇi« sind Verse im syllabischen Versmaß; das Wort ist aus dem Polnischen entlehnt, wo wiersz ›Gedicht‹ bedeutet. [Anm. v. A.N.] 330 Tred’jakovskij, »O drevnem, srednem, i novom stichotvorenii rossijskom« [›Über
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– Sosta´vy, ko´sti trepe´ˇscˇut, I vla´sy gla´v ich kleke´ˇscˇut. – Vse´ i zve¨zdy naipa´cˇe ˇ ´ısti, svetlozra´cˇni v zra´cˇe. C – Ta´ko zˇe minu´et i pro´tcˇich; ´ gn’ vossija´et v gorja´cˇich. O ´ nyj emu´ est’ svetı´l’nik, –O Troı´mi vra´ty vchodı´l’nik. – Vse´ vese´lie ducho´vno, Vsju´du gla´s ra´dosti zo´vno. – Knja´z’, knjagı´ni, knjazˇa´ny, Voevo´dy, potenta´ny, Voennacˇa´l’niki morskı´, Suchopu´tn, velı´k, malo´vski. – Vse´m dadu´tsja vency´ dra´gi, Ode´zˇdy, zlatosvetovla´gi. – Die Gelenke, die Knochen zittern [trepesˇˇcut] Und die Haare ihrer Häupter schreien [klekesˇˇcut] Alle Sterne auch allerbesonderst [naipacˇe] Sind rein, lichtblickend im Antlitz [vzracˇe]. – So auch umgeht er die übrigen [protcˇich] Feuer glänzt auf in den Feuerstellen [gorncˇich]. – Jenes ist ihm Leuchter [svetil’nik] Mit drei Toren ein Eingang [vchodil’nik]. – Alle Heiterkeit geistlich [duchovno] Oberall die Stimme der Freude schallend [zovno]. – Fürst, Fürstinnen, Fürstaner [knjazˇane] Heerführer, Potentanen [potentany], Feldherren zur See [morski] Zu Lande, groß, kleinische [malovski] – Allen werde gegeben Kränze kostbare [dragi] Gewänder, goldlichtfließend [zlatosvetovlagi].331
Vgl. auch die zusammengesetzten etymologischen Reime bei Simeon Polockij (»Pluton – plut on« [›Pluton – er ist ein Schuft‹] usf.).332 Der vers die alte, mittlere und neue russische Verskunst‹], in: ders., Socˇinenija Tred’jakovskogo, Bd. 1, S. 766. [Anm. v. R.J.] – Nachdruck in: ders., Izbrannye proizvedenija, S. 425–450, hier: S. 431. [Anm. v. A.N.] 331 Jakobson entnimmt die Beispiele Tred’jakovskijs Artikel: »O drevnem, srednem, i novom stichotvorenii rossijskom« [›Über die alte, mittlere und neue russische Verskunst‹], in: ders., Socˇinenija Tred’jakovskogo, Bd. 1, S. 766. Nachdruck in: Izbrannye proizvedenija, S. 431. [Anm. v. A.N.] 332 Die Textstelle konnte nicht verifiziert werden. [Anm. v. A.N.]
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libre stellte mit neuem Nachdruck die Ausrichtung auf den Reim in den Vordergrund. Die Lautwiederholung wird bei Chlebnikov ebenfalls bis zu einem gewissen Grade bloßgelegt, d. h. die wiederholungsbildenden Wortfügungen sind oft logisch kaum begründet. Polna´ sobla´zna i be´la Ona zaby´la pro belı´la (»Mavka«; II, 196) Voll verführerisch und weiß Vergaß sie die Schminke. Takı´e nra´vy i drova´ V strane´ uso´psˇich vstre´ˇci! Iz sle¨z, cˇto kogda´-libo lilis’, Ute¨sy stoja´t i stolby´ 〈…〉 Tech vlastelı´nov ve´sel sbro´d 〈…〉 Il’ vy´zvat’ sto´n luka´voj cha´ri Pod vı´zg vercho´vnyj kolesa´ 〈…〉 V ocˇka´ch side´li zde´s’ kosy´e, Chvosto´m pod my´ˇskoj ˇsˇcekocˇa´ 〈…〉 I vzvı´lsja vve´rch vese¨lyj tu´z 〈…〉 I vse¨ nevo´l’no zagude´lo, V glaza´ch izme´ny sla´dkoj tru´by, Sredı´ zimy´ tecˇe¨t Neva´ 〈…〉 Ona´ posˇla´, daby sgore´t’, Vysoko´, posˇlo´ i bespla´tno 〈…〉 (»Igra v adu«; II, 119 ff.) Solche Sitten und Brennholz Im Land wo der Entschlafenen Begegnung! Aus Tränen die einst irgendwann geflossen Felsen stehen und Säulen 〈…〉 Das Gesindel, jener Herrscher froh 〈…〉 Oder hervorrufen das Stöhnen der tückischen Fratze Unter das obere Quietschen des Rades 〈…〉 Bebrillt saßen hier die Schielenden, Mit dem Schwanz unter dem Arm kitzelnd 〈…〉 Und es schlang sich empor das fröhliche As 〈…〉 Und alles begann unwillkürlich zu dröhnen, In den Augen süßen Verrates Röhren, Inmitten des Winters fließt die Neva 〈…〉 Sie ging um zu verbrennen 〈…〉 Hoch gemein und kostenlos 〈…〉 (»Spiel in der Hölle«)
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Ty´… My´-s, mja´som te¨plym na´s ne´zˇi. (»Vojna-Smert’«; II, 188) Du… wir, mit warmem Fleisch uns päpple. (»Krieg-Tod«)
Dort, wo das Sinn-Moment geschwächt ist, haben wir es mit einer besonderen euphonischen Verdichtung zu tun. Vgl. z. B. die sujetlosen Cˇastusˇki des Typs: Ma´mka, ma´mka, vzdu´j ogo´n’ Ja popa´l v govno´ nogo´j.333 Mama, Mama, blas Feuer an. Ich bin geraten in Scheiße mit dem Fuß.
Vgl. bei Pusˇkin: Cˇto´? peresta´t’ ili pustı´t’ na pe´? Prizna´t’sja vam, ja v pjatisto´pnoj stro´ˇcke 〈…〉 Wie nun? Aufhören oder es bei p lassen? Euch zu gestehen, in der fünffüßigen Zeile 〈…〉 334
(Lautwiederholung prstt – psttnp pr – ptstpn – str). Bei Chlebnikov: Putevo´dnoj ra´d sleze´ Ne protı´vilsja steze´ (»I i E˙«; I, 87) Ich freute mich der geleitenden Träne Ich widerstrebte nicht dem Weg (»I und E«)
Die beiden letzten Verse bilden eine durchgehende Lautwiederholung. ˇ astusˇka aus ›Eine Ohrfeige dem Chlebnikov selbst sagt: »Hier eine C öffentlichen Geschmack‹ 335: Krylysˇku´ja zolotopis’mo´m Toncˇa´jsˇich zˇ´ıl Kuzne´cˇik v ku´zov pu´za ulozˇ´ıl Pribre´zˇnich mno´go tra´v i ve´r 〈…〉 Flügleinend mit der Goldschrift Feinster Adern Heuschrecke in den Korb des Wanstes legte Viel Ufer-Gräser und Ried 〈…〉 336 ˇ astuska konnte nicht verifiziert werden. 333 Diese C 334 Aus Pusˇkins Poem »Domik v Kolomne« [›Das Häuschen in Kolomna‹], in: Pusˇkin, Polnoe sobranie socˇinenij, Bd. 5, S. 84. [Anm. v. A.N.] 335 Das Manifest Posˇˇcecˇina obsˇˇcestvennomu vkusu [›Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack‹], Moskva 1912, war eines der provokantesten der russischen Futuristen (dt. in: Ingold, Der große Bruch, S. 307 f.). [Anm. v. A.H.-L.]
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Darin wiederholen sich in 4 Zeilen, vom Verfasser dieses Unsinns nicht beabsichtigt, die Laute u, k, l, r jeweils fünfmal.« 337 Vgl. auch: V sono´gach mecˇto´gach Pocˇ´ıl on, pocˇemu´ u ˇcerty´. V cˇerto´gach grezo´gach Pocˇ´ıl on, pocˇ´ıl u mecˇty´. (»Nega-negol’«; II, 16) In Schlafächer, Traumächern Ruhte er, warum beim Strich. In Gemächern Trugächern Ruhte er, ruhte er beim Traum. (»Lust-Lusteich«)
Im vierten Vers findet im Vergleich zum zweiten eine *Metathese statt: mcˇr – lmcˇ. Bloßlegung der Metathese bei naturgemäßer Schwächung des SinnMoments in Chlebnikovs »Pereverten’« [›Umdreher‹] 338: Ko´ni, to´pot, ´ınok No ne re´cˇ’, a cˇe¨ren o´n Idem mo´lod, do´lom me´di ˇ ´ın zva´n mece¨m na´vznicˇ’. C Go´lod cˇe´m mecˇ do´log. Pa´l a no´rov chu´d i du´ch vo´rona la´p. A cˇto´, ja lo´v. Vo´lja o´tcˇa. Ja´d, ja´d, dja´dja. Idı´, idı´ 〈…〉 (II, 43) Pferde, Getrampel, Mönch, aber nicht Rede, sondern schwarz ist er Wir gehen jung, durch das Tal des Kupfers Der Rang gerufen rücklings mit dem Schwert. Der Hunger als das Schwert lang. 336 Chlebnikov, »Kuznecˇik« [›Heuschrecke‹], in: ders., Sobranie proizvedenij, II, S. 37; (dt. Übersetzungsvarianten in: Chlebnikov, Werke, Bd. 1, S. 77–79; vgl. Jakobsons Analyse des Gedichts in: »Unterschwellige sprachliche Gestaltung in der Dichtung«, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 130–135. [Anm. v. A.H.-L.] 337 Chlebnikov, »Razgovor Olega i Kazimira« [›Gespräch von Oleg und Kazimir‹] (1913), in: ders., Sobranie proizvedenij, V, S. 191 f. (dt. Übers. in: Chlebnikov, Werke, Bd. 2, S. 89 f.). [Anm. v. A.H.-L.] 338 Chlebnikov, »Pereverten’«, dt. Übers. in: Chlebnikov, Werke, 1, S. 307. Als pereverten’ bezeichnete Chlebnikov seine *Palindrome. Vgl. dazu die umfassende Darstellung der Anagrammatik in der russischen Avantgarde bei: Greber, Textile Texte, S. 141 ff. (zu Jakobsons Poetizitätstheorie und Wortflechten); S. 171 ff. zum Palindrom. [Anm. v. A.H.-L.]
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Gefallen aber das Gemüt ist schlecht und der Geist der Krähenfüße. Was aber, ich ein Fang. Wille väterlich. Gift, Gift, Onkel. Geh, geh 〈…〉
Vgl. die sog. Krebse des Kiever Dichters Velycˇkovskyj aus dem 18. Jahrhundert: A´nna mi ma´ti i ta´ mi ma´nna A´nna pita´ mja ja´ ma´ti pa´nna A´nna da´r i mne se´n’ mı´ra da´nna.339 Anna ist mir Mutter und diese ist mir Manna Anna nährt mich, ich bin Mutters Fräulein Anna ist Gabe und mir ist das Firmament gegeben.
Besonders charakteristisch sind die euphonischen Verdichtungen, das Lautornament bei Einsatz und Refrain.340 Beispiel eines Einsatzes bei Chlebnikov: V ˇsa´li ˇsa´lyj ˇse¨l Im Schal ein Rasender ging (Lied der Toten aus »Osˇibka smerti« [›Irrtum des Todes‹]; IV, 251)
Bei einer Reihe von Verfahrensweisen der Poesie Chlebnikovs begegnet uns dieselbe Erscheinung: Abdämpfung der Bedeutung und Eigenwert der euphonischen Konstruktion. Von hier ist es nur ein Schritt zur willkürlichen Sprache. »Den Zauberstein der Umwandlung aller slavischen Wörter ineinander zu finden, ohne den Kreis der Wurzeln zu durchbrechen«, sagt Chlebnikov, »die slavischen Wörter in freien Fluß zu bringen – das ist die erste Art meiner *Einstellung zum Wort. Dieses selbstmächtige Wort steht außerhalb aller Lebensbezüge und aller Nützlichkeit. Zu erkennen, daß die Wurzeln nur Trugbilder sind, hinter denen die Saiten des Alphabets stehen, und überhaupt die auf den Einheiten des Alphabets beruhende Einheit der Weltsprachen zu finden – das ist die zweite Art meiner Einstellung zum Wort. Der Weg hin zur sinnüberschreitenden Weltsprache.« (II, 9) 341 339 Die »Raki Velicˇkovskogo« [›Krebse Velycˇkovskyjs‹] des ukrainischen Barockdichters Ivan Velycˇkovskyj (gest. 1827) sind abgedruckt in: Velicˇkovs’kij, Tvori, S. 134. [Anm. v. A.N.] 340 Mit »Zacˇin i refren« [›Einsatz und Refrain‹] meint Jakobson an dieser Stelle Versanfang und -ende. [Anm. v. A.N.] 341 Chlebnikov, »Svojasi« [›Mein Eignes‹], in: Sobranie proizvedenij, II, S. 7–11, dt. Übers. in: Chlebnikov, Werke, Bd. 2, S. 9–12. [Anm. v. A.H.-L.]
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Solche willkürliche Wortneubildung kann sich formal mit der russischen Sprache assoziieren. So Bol’sˇakovs 342 Verse: Esme´rami verdo´mi vesna´ lilie´lit 〈…〉 343
Bei Chlebnikov: Von ta´m na doro´zˇke be´lyj vsta´l i stoı´t videnne´ga. Ve´cˇer li de´revo l’ prı´chot’ moja´? A´ch, pozvo´l’te mne e˙to slo´vo v vı´de ne´gi. (»Opyt zˇemannogo«; II, 101) Da hinten auf dem Pfad stand auf ein Weißer und steht eine Gespenstlust. Ist Abend oder Baum meine Marotte? Ach, gestatten Sie mir dieses Wort als Lust. (»Versuch eines Gezierten«) Tarara´chnul zinzive´r (»Kuznecˇik«; II, 37) Polterte der Zinziver. (»Heuschrecke«)
Diese Worte suchen sich geradezu eine Bedeutung. In diesem Fall kann man wohl nicht vom Fehlen einer Semantik sprechen. Es handelt sich genauer um Worte mit negativer innerer Form, so wie beispielsweise der Nominativ dom [›Haus‹] laut Fortunatov 344 ein Wort mit negativer Form der Flexion ist. Der zweite Typ der willkürlichen Wortneubildung will sich mit der vorgegebenen praktischen Sprache überhaupt nicht koordinieren lassen.345 So z. B. die Zungenreden der Sektierer, die von ihren Erfindern für fremde Sprachen gehalten werden.346 Bei Chlebnikov sind die sinnüberschreitenden 347 Werke z. B. als Vogelsprache (»Mudrost’ v silke« [›Weisheit in 342 Konstantin A. Bol’sˇakov gehörte zur Gruppe der Egofuturisten (vgl. Markov, Russian Futurism, S. 110 ff., 172–175, 257 ff.). Die Textstelle konnte nicht verifiziert werden. [Anm. v. A.H.-L.] 343 »Vesna« bedeutet ›Frühling‹. Die übrigen Worte dieses Verses sind unübersetzbare Neologismen. [Anm. v. A.N.] 344 Fortunatov, Izbrannye trudy, Bd. 1, S. 137 f. 345 Aber in dem Maße wie letztere existiert, wie eine phonetische Tradition vorliegt, ist die sinnüberschreitende Sprache mit vorsprachlichen Onomatopöien nicht zu vergleichen, ebenso wenig wie ein entblößter Europäer von heute mit einem nackten Troglodyten. 346 Die ekstatischen Glossolalien wurden von den Futuristen, zumal Aleksej Krucˇenych in seinem Manifest »Novye puti slova« [›Die neuen Wege des Wortes‹] (dt. in: Ingold, Der große Bruch, S. 329), als historische Rechtfertigung für den Einsatz der zaum’-Sprache verwendet (vgl. zur Verbindung von Sektenwesen und Avantgarde: Hansen-Löve, »Allgemeine Häretik, russische Sekten und ihre Literarisierung in der Moderne«, S. 230 ff.). [Anm. v. A.H.-L.]
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der Schlinge‹]), Affensprache (»Ka«) oder Teufelssprache (»Nocˇ’ v Galicii« [›Eine Nacht in Galizien‹], wo Chlebnikov ausführlich russische Beschwörungen verwendet) motiviert.348 Die Motivierung selbst kann sinnüberschreitend sein. Bobe˙o´bi pe´lis’ gu´by Ve˙e˙o´mi pe´lis’ vzo´ry Lie˙e´e˙j pe´lsja o´blik Gzi-gzi-gze´o pe´las’ ce´p’. Tak na cholste´ kakı´ch-to sootve´tstvij Vne protjazˇe´nija zˇilo´ lico´. (II, 36) 349 Bobe˙obi sangen die Lippen Ve˙e˙omi sangen die Blicke Lie˙e˙e˙j sang das Antlitz Gsi-gsi-gze˙o sang die Kette. So auf der Leinwand gewisser Entsprechungen Ohne Dimensionen lebte das Gesicht.
Für die sinnüberschreitende Rede dieses Typs sind Lautverbindungen charakteristisch, die der praktischen Rede fremd sind. So finden wir bei Chlebnikov: 1. *Hiatus (»lie˙e˙e˙j« usf.); 2. Härte von Konsonanten vor e (»ve˙e˙omi« usf.); 3. ungewöhnliche Konsonantengruppen (vgl. besonders »Mudrost’ v silke« [›Weisheit in der Schlinge‹] und »Ka«). 347 Die Übers. von »zaumnyj« mit »sinnüberschreitend« ist unbefriedigend. Za-um bedeutet jenseits der Vernunft, des rationalen Verstandes befindlich (za = jenseits im Sinne von »trans«, »meta«; umnyj = vernünftig). [Anm. v. A.N.] 348 Der frühe, kleine dramatische Text »Mudrost’ v silke. (Utro v lesu)« [›Weisheit in der Schlinge. (Ein Morgen im Wald)‹] präsentiert eine Lautschrift (zvukopis’ ) der Vogelsprache (russ. in: Chlebnikov, Sobranie proizvedenij, II, S. 180, dt. Übers.: Chlebnikov, Werke, Bd. 1, S. 62). In Zangezi bildet eine Variante des Volgelgesprächs aus »Mudrost’ v silke« die »Ebene 1« (zu den »Vogelstimmen« bei Chlebnikov vgl. Kursell, Schallkunst, S. 299–326). In »Ka« redet Echnaton in Affensprache (Chlebnikov, Sobranie proizvedenij, IV, S. 65 f., dt. Übers.: Chlebnikov, Werke, Bd. 2, S. 142). In »Nocˇ’ v Galicii« [›Eine Nacht in Galizien‹] sprechen die Hexen Beschwörungsformeln: Chlebnikov, Sobranie proizvedenij, S. 200 f., dt. Übers.: Chlebnikov, Werke, Bd. 1, S. 60 f. [Anm. v. A.N.] 349 Dt. Übers. in: Chlebnikov, Werke, Bd. 1, S. 57. Es ist dies eines der meistinterpretierten Gedichte Chlebnikovs, da hier auf ideale Weise das Thema des Textes und seine verbale bzw. prosodische Hervorbringung eine untrennbare Einheit bilden. Daher konnte der Formalist Jurij Tynjanov in seinem Aufsatz »Illjustracii« [›Illustrationen‹] (1923) genau jenes Gedicht Chlebnikovs – zusammen mit Beispielen der grotesken Prosa Nikolaj Gogol’s – als Beispiel für die rein verbale Medialität der Wortkunst und damit ihre prinzipielle Nichtvisualisierbarkeit bzw. Nicht-Illustrierbarkeit verwenden. [Anm. v. A.H.-L.]
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An einer Reihe von Beispielen haben wir gesehen, wie das Wort in Chlebnikovs Poesie seine Gegenständlichkeit, weiter seine innere, schließlich sogar seine äußere Form verliert. In der Geschichte der Poesie aller Zeiten und Völker beobachten wir nicht selten, daß dem Dichter, nach einer Formulierung Tred’jakovskijs, »nur der Klang« 350 wichtig ist. Die poetische Sprache strebt als einer Grenze dem lautlichen, genauer – insofern eine entsprechende Ausrichtung vorliegt – dem euphonischen Wort, der sinnüberschreitenden Rede zu. Aber zu eben dieser Grenze bemerkt Chlebnikov bezeichnenderweise: »Als ich Echnatons Sterbeworte schrieb – mancˇ, mancˇ [aus »Ka«], übten sie auf mich eine unerträgliche Wirkung aus. Jetzt fühle ich sie nicht mehr. Wieso – weiß ich nicht.« (II, 9) 351
Literatur Jakobsons eigene Literaturangagen sind mit ° gekennzeichnet. ° Afanas’ev, Aleksandr Nikolaevicˇ: Russkie narodnye skazki [›Russische Volksmär-
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Unterschwellige sprachliche Gestaltung in der Dichtung 1 Übersetzung aus dem Englischen Wolfgang Klein
Kommentar Aage A. Hansen-Löve [A. H.-L.] und Anke Niederbudde [A. N.] Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der *Struktur des Unbewußten (als Sprache) und der poetischen Sprachbenützung stellt sich schon in der formalistischen bzw. strukturalistischen Frühphase von Jakobsons Auseinandersetzung mit den Grundlagen der Poetik. Dabei ist entscheidend, daß die Analogie zwischen dem Sprachcharakter des Unbewußten und dem unterbewußten Charakter der (kreativen, poetischen) Sprache auf der Ebene der langue liegt (also in die Sphäre des *Kodes gehört) und nicht so sehr, wie das dann in der postfreudianischen Synthese von Psychoanalyse und Linguistik bei Lacan und seinen Nachfolgern der Fall ist: als Phänomen der Rede bzw. des Diskurses angesehen wird. 2 Jakobsons Einschätzung der Psychologie (auch in bezug auf 1
Vorlage: Jakobson, Roman Osipovicˇ: »Subliminal Verbal Patterning in Poetry«, in: SW III, S. 136–147. Deutsche Übersetzung Wolfgang Klein, unter dem Titel: »Unterbewußte sprachliche Gestaltung in der Dichtung«, in: LiLi: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 1 (1971), S. 101–112; unveränderter Abdruck in: Jakobson, Poetik, S. 311–325. Die hier wiedergegebene Übersetzung von Wolfgang Klein wurde insgesamt übernommen – bis auf die Ersetzung des Begriffs »unterbewußt« durch »unterschwellig« (s. Einleitung). Offensichtliche Übersetzungsfehler wurden stillschweigend korrigiert. [Anm. v. A.H.-L.] – Die erste Fassung von »Subliminal Verbal Patterning in Poetry« wurde 1970 veröffentlicht in: Studies in general and oriental linguistics. Presented to Shiroˆ Hattori on the occasion of his sixtieth birthday, hg. v. Roman Jakobson u. Shigeo Kawamoto, Tokyo: TEC Corp. for Language and Educational Research 1970, S. 302–308. Die von uns als Vorlage gewählte Fassung aus SW III ist eine Erweiterung dieser ersten, bedeutend kürzeren Fassung. [Anm. v. A.N.]
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Sprache und Kunst) war zeitlebens geprägt von der Skepsis gegenüber allen außerkünstlerischen Determinationen, besonders aber gegen eine Psychologisierung der Kunst bzw. Dichtung. 3 Genau dieser Antipsychologismus kennzeichnet schon die Frühphase der russischen Avantgarde sowie des Formalismus. Die Frage jedenfalls, die Jakobson einleitend stellt, ob nämlich Dichtung »rational geplant« bzw. beim Schaffensakt »wirklich bewußt« sei, wird im Verlauf des Artikels nicht direkt beantwortet. Indirekt freilich versucht Jakobson – ohne auf die schaffenspsychologische Frage näher einzugehend – eine möglicherweise vorbewußte Ebene zu konstruieren, in deren Rahmen die Entfaltung bestimmter Merkmal-Strukturen, um die es im weiteren gehen wird, hoch selektiv und kombinatorisch vollzogen wird, ohne daß dabei ein bewußter Gestaltungswille oder ein geplantes Kunstwollen direkt wirksam würde. Insofern ist die übliche Übersetzung von »subliminal verbal patterns« mit »unterbewußte sprachliche Gestaltung« nicht ganz zutreffend. Zum einen bezeichnet »subliminal« nicht dasselbe wie »unterbewußt« – dann hätte Jakobson den entsprechenden Ausdruck »subconscious« verwendet – sondern eben im wörtlichen Sinne »unterschwellig«: Damit ist nichts ausgesagt über eine analoge oder homologe Struktur des Unbewußten als Sprache oder was immer, sondern bloß, daß es sich um Selektions- und Kommunikationsakte handelt, die vor oder unter einem bewußten bzw. rationalen Eingreifen sich gleichsam von selbst einstellen, von der (verbalen) Sprache quasi vorstrukturiert aufgedrängt werden. Darüber hinaus handelt es sich dabei nicht um Strukturen im Sinne von streng geregelten, systemhaften (Sprach- oder Text-)Funktionen, sondern um »patterns«, also gewissermaßen etwas weniger Mechanisch-Strenges. Gerade der »pattern«-Begriff war ja an der Schwelle zum Strukturalismus (auch in der angelsächsischen Welt, besonders aber im amerikanischen New Criticism) besonders beliebt und bezeichnet eine »Musterung«, die über einen eher organisch-naturhaften bzw. ornamentalen Charakter verfügt. 4 Ein »pattern« ergibt sich somit wie »von selbst« – vergleichbar der ornamentalen Konfiguration von Eisenspänen durch die Schwingungen, in die sie auf einer Metallplatte durch einen Geigenbogen versetzt werden oder die Muster von morphologischen Ober2 3 4
Vgl. dazu Hansen-Löve, Der russische Formalismus, S. 161–163; zu Lacans Rezeption des Strukturalismus s. S. u. H. Goeppert, Sprache und Psychoanalyse, S. 102 ff. [Anm. v. A.H.-L.] Vgl. Rancour-Laferriere, »Why the Russian Formalists had no theory of the literary person«, S. 327–338; Hansen-Löve, »Zur psychopoetischen Typologie der Russischen Moderne«. [Anm. v. A.H.-L.] Zum Zusammenhang von New Criticism und Strukturalismus bzw. Formalismus vgl. Erlich, Russischer Formalismus, S. 256, 282, 307–310, und Jameson, The Prison-House of Language, S. 43 ff. [Anm. v. A.H.-L.]
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flächenphänomenen in der Biosphäre (Maserungen von Blättern, Schmetterlingsflügeln, Dünen, elektronenmikroskopischen Aufnahmen von Zellen, Makrostrukturen von urbanistischen Szenerien etc.). 5 Wir bewegen uns also bei diesen »pattern« zwischen der Aleatorik eines Zufalls und der stringenten Regelhaftigkeit einer vorhersehbaren »Struktur«. Dabei macht Jakobson keine Angaben darüber, welche Verteilung zwischen den Vorgaben der Sprache selbst in ihrer Potentialität und der »subliminalen« Strukturierung durch das Vorbewußte des Sprachschöpfers (geschweige denn seines Rezipienten) besteht, wenn es darum geht, bestimmte sprachliche Phänomene der *Äquivalenz mit bestimmten thematischen Motiven bzw. Sujets einer Dichtung in Zusammenhang zu bringen. Eben dieser Sprung zwischen den fundamentalen sprachlichen Verfahren unterhalb der Wort- und Satzebene und der Ebene der Aussagen und Sujets hatte den Formalismus bzw. frühen Strukturalismus von Anfang an beschäftigt, und dazu provoziert, eine Brücke zu schlagen zwischen Fragen des »Stils« bzw. der verbalen Signifikanten und solchen des »Sujets« bzw. der semantischen und pragmatischen Mitteilungsintentionen eines (literarischen) Textes. 6 Aage A. Hansen-Löve
Que le critique d’une part, et que le versificateur d’autre part, le veuille ou non. Ferdinand de Saussure 7
Wann und wo auch immer ich mich über das phonologische und grammatische Gefüge von Dichtwerken äußere, welcher Sprache und Zeit die untersuchten Gedichte auch angehören mögen – stets taucht eine bestimmte Frage unter den Lesern oder Hörern auf: Ist der Bauplan des 5 6 7
Vgl. dazu beispielhaft: Struktur in Kunst und Wissenschaft – mit Beispielen aus der Biologie, Architektur, Kommunikationstheorie, der »konkreten Malerei« etc.; vgl. auch solche Publikationen wie: Albarn, The Language of Pattern. [Anm. v. A.H.-L.] Vgl. Sˇklovskij, »Svjaz’ sjuzˇetoslozˇenija s obsˇcˇimi priemami stilja«, S. 21–55; allgemein dazu Erlich, Russischer Formalismus, S. 256–259, und Hansen-Löve, Der russische Formalismus, S. 207–211, 242–253. [Anm. v. A.H.-L.] Das Motto ist Ferdinand de Saussures Anagrammstudien entnommen, und zwar aus der »Notiz aus einem Heft über Homer« (»Dans l’un cahiers sur Home`re«). Saussure äußert hier die Überzeugung, daß *Anagramme kein zusätzliches Spiel der Versifikation, sondern Grundlage der Versifikation sind, »ob der Kritiker einerseits und der Versemacher andererseits es will oder nicht« (»Que le critique d’une part, et que le versificateur d’autre part, le veuille ou non«), Starobinski, Les mots sous les mots, S. 30; deutsch: Starobinski, Wörter unter Wörtern, S. 23. [Anm. v. A.N.]
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Dichtwerks, wie ihn die linguistische Analyse enthüllt, im Schaffensakt des Dichters überlegt und rational geplant und ist er sich seiner wirklich bewußt? Wahrscheinlichkeitsberechnungen 8 wie auch ein präziser Vergleich poetischer Texte mit anderen Arten sprachlicher Nachrichten beweisen, daß die ins Auge fallenden Besonderheiten in der poetischen Auswahl, Anhäufung, Nebeneinanderstellung, Verteilung und dem Ausschluß verschiedener phonologischer und grammatischer Klassen nicht als vernachlässigbare, unwesentliche Gegebenheiten angesehen werden dürfen, die der Zufall bestimmt. Jedes nennenswerte Dichtwerk, gleich ob improvisiert oder Frucht langer und sorgsamer Arbeit, setzt eine zielgerichtete Auswahl aus dem Sprachmaterial voraus. Vor allem beim Vergleich der verbliebenen Varianten eines Gedichts stellt man fest, wie wichtig der phonematische, morphologische und syntaktische Rahmen für den Verfasser ist.9 Was die Verknüpfungspunkte dieses Netzes 10 sind, braucht ihm durchaus nicht bewußt zu werden und wird es auch sehr oft nicht, aber auch ohne die jeweils einschlägigen Hilfsmittel namhaft machen zu können, nehmen der Dichter und seine aufnahmefähigen Leser spontan den künstlerischen Vorrang eines mit diesen Komponenten ausgestatteten Kontextes vor einem ähnlichen, dem sie abgehen, wahr. 8
Die statistische Versanalyse hat gerade in Rußland eine starke Tradition, die auf A. Belyj und B. V. Tomasˇevskij zurückgeht. Jakobson verweist darauf in: »Boris Viktorovicˇ Tomasˇevskij«. In den 60er und 70er Jahren wird diese Traditionslinie in der Sowjetunion neu belebt und zwar von Mathematikern und Literaturwissenschaftlern gleichermaßen. Auf Initiative des Mathematikers A. Kolmogorov beschäftigten sich damals in Moskau verstärkt auch Mathematiker mit linguistischen und verstheoretischen (statistische Klassifizierung rhythmischer Varianten des *Metrums), aber auch mit semiotischen Fragestellungen (vgl. Uspenskij, »Predvarenie dlja cˇitatelej«). Jakobson hat diese wissenschaftliche Richtung mit Interesse verfolgt, wie sich umgekehrt auch Kolmogorov und seine Leute an Jakobsons Forschungen orientierten. Zu Jakobsons Beschäftigung mit den Forschungen von A. Markov, der schon 1913 seine Wahrscheinlichkeitstheorie an A. Pusˇkins Evgenij Onegin entwickelt hatte, vgl. Kursell, »Sequenz, Akkord, Kette. Roman Jakobsons Verskalküle«. [Anm. v. A.N.] 9 Vgl. Jakobsons Yeats-Analyse, in der es um den Vergleich zweier Fassungen eines Gedichtes geht: Jakobson /Rudy, »Yeats’ ›Sorrow of Love‹ through the Years«, und die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 570–630. [Anm. v. A.H.-L.] 10 Gerade diese Begrifflichkeit von Verknüpfungspunkt und Netz gehört eher in die »weiche« organische, bioästhetische Sphäre von »pattern« als der »harte« Strukturbegriff mit seinen eher an Raster und Gitter gemahnenden Architektonik. Zu textus, Flecht- und Gewebemetaphorik vgl. Greber, Textile Texte. [Anm. v. A.H.-L.]
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Der Dichter vermag relativ leicht jene sprachlichen Fügungen und vor allem jene Regeln des Versbaus 11 herauszusondern, die er für unabdinglich hält, während ein fakultatives, abwandelbares Gestaltungsmittel nicht so leicht für sich zu interpretieren und zu definieren ist. Zweifellos gibt es auch Fälle, in denen sich bewußte Überlegungen geltend machen und eine vorteilhafte Rolle im dichterischen Schaffensprozeß spielen, wie Baudelaire mit Blick auf Edgar Allan Poe hervorgehoben hat.12 Doch ist auch hier die Frage, ob nicht in gewissen Fällen ein intuitiv erfaßtes latentes Wirken der Sprache selbst derartigen vom Wissen getragenen Erwägungen vorangeht und zugrundeliegt. Das rationale Erfassen (prise de conscience) des Baues selbst mag beim Verfasser ex post facto oder auch nie erfolgen. Schillers und Goethes Austausch wohlfundierter Feststellungen können nicht ohne weiteres übergangen werden. Nach Schillers Erfahrung, wie er sie in seinem Brief vom 27. März 1801 schildert, beginnt der Dichter nur mit dem Bewußtlosen.13 In seiner Antwort vom 3. April äußert Goethe: ich gehe noch weiter. Er behauptet, daß die wahre Schöpfung eines wirklichen Dichters unbewußt geschehe, während alles, was rational nach gepflogener Überlegung getan wird, nur so nebenbei vorkomme. Goethe glaubt nicht, daß die zusätzliche Reflektion eines Dichters angetan wäre, sein Werk zu berichtigen und zu verbessern.14 11 Die »Regeln des Versbaus« – *Metrik wie *Rhythmik – vermitteln auf ideale Weise zwischen linguistischen und poetologischen Strukturen und Funktionen; daher waren sie im Strukturalismus auch eine reguläre Domäne der Linguistik, während die linguistische Poetik, wie sie Jakobson repräsentierte, mit narrativen Textstrukturen kaum etwas zu tun hatte. [Anm. v. A.H.-L.] 12 Edgar Allan Poe schreibt in »Die Philosophie der Komposition« über sein Gedicht »The Raven«: »Meine Absicht ist es, zu verdeutlichen, daß nicht ein einziger Punkt in seiner [des ›Rabens‹] Komposition entweder dem Zufall oder der Intuition allein zugeschrieben werden kann – daß die Arbeit Schritt für Schritt mit der Präzision und der strengen Konsequenz eines mathematischen Problems bis zu seiner Vollendung vonstatten ging.« (Poe, »Die Philosophie der Komposition«, S. 764.) In »Neue Anmerkungen zu Edgar Poe« bezieht sich Baudelaire auf diese Textstelle (Baudelaire, »Notes nouvelles sur Edgar Poe«, S. 637; deutsche Übersetzung: »Neue Anmerkungen zu Edgar Poe«, S. 360). [Anm. v. A.N.] – Vgl. dazu auch Jakobsons Studie »Language in Operation« sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 237–255, wo es mit direktem Bezug auf Poe ganz zentral um diese Frage geht. [Anm. v. A.H.-L.] 13 Schiller setzt sich in einem Brief an Goethe vom 27. März von Schellings Behauptung ab, daß »in der Natur von dem Bewußtlosen angefangen werde um es zum Bewußten zu erheben, in der Kunst hingegen man vom Bewußtseyn ausgehe zum Bewußtlosen«. (Schiller, Werke und Briefe, S. 562 f.) Nach Schiller entsteht die Poesie aus dem Bewußtlosen, sie »besteht eben darin, jenes Bewußtlose aussprechen und mittheilen zu können, d. h. es in ein Object zu übertragen« (ebd.). [Anm. v. A.N.] 14 Goethes Briefe, Bd. 2, S. 415. [Anm. v. A.N.]
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Als Velimir Chlebnikov 15 (1885–1922), der größte russische Dichter aus unserem Jahrhundert, sich nach einigen Jahren sein um 1908 verfaßtes kurzes Gedicht »Kuznecˇik« [›Die Heuschrecke‹] 16 wieder vornahm, bemerkte er plötzlich, daß im ersten, entscheidenden Satz – ot tocˇki do tocˇki »von Punkt zu Punkt« – jeder der Laute k, r, l und u fünfmal vorkommt, »ohne irgendwelche Absicht seitens des Schreibers dieses Unsinns« (pomimo zˇelanija napisavsˇego ˙etot vzdor), wie er selbst in seinen Aufsätzen von 1912–1913 bekannte,17 und schloß sich damit all jenen 15 Nicht zufällig hat Roman Jakobson seine erste größere Studie zur linguistischen Poetik jener des russischen Futuristen Velimir Chlebnikov gewidmet: »Novejsˇaja russkaja poe˙zija«, vgl. die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 1–123. Ein Dokumentationsband zu Jakobsons »futuristischen Jahren« stammt von Jangfeldt, Jakobson-budetljanin. Jangfeldt liefert nicht nur eine historische Einleitung zu Jakobsons Moskauer Jahren, sondern auch Gedichte Jakobsons und seine frühesten Artikel zum Futurismus im russischen Original: »Futurizm« [›Futurismus‹], »Zadacˇi chudozˇestvennoj propagandy« [›Aufgaben der künstlerischen Propaganda‹], »Novoe iskusstvo na zapade« [›Neue Kunst im Westen‹], »Dada«; vgl. auch Jangfeldts Interviews mit dem späten Jakobson: Jakobson, Meine futuristischen Jahre. Zu Jakobson und Chlebnikov allgemein vgl. zuletzt Hansen-Löve, »Randbemerkungen zur frühen Poetik Roman Jakobsons«. [Anm. v. A.H.-L.] 16 Das Gedicht »Kuznecˇik« [›Die Heuschrecke‹] erschien 1912 im Rahmen des futuristischen Almanachs Posˇˇcecˇina obsˇˇcestvennomu vkusu; das vollständige Gedicht lautet: » рылышку¤ золотописьмом тончайших жил, узнечик в кузов пуза уложил ѕрибрежных много трав и вер. ѕинь, пинь, пинь! тарахнул зинзивер. ќ лебедиво. ќ озари!« Transliteration: »Krylysˇku´ja zolotopis’mo´m toncˇa´jsˇich zˇ´ıl, Kuzne´cˇik v ku´zov pu´za ulozˇ´ıl Pribre´zˇnych mno´go tra´v i ve´r. Pin’, pin’, pin’! tara´chnul zinzive´r. O lebedı´vo. O ozarı´!« (Chlebnikov, Sobranie proizvedenij, II, S. 37.) Deutsche Übersetzung: »Flitternd mit der Goldschrift aus feinsten Äderchen legte der Grashüpfer in seinen Bauchkorb Schilf und allerlei Ufergräser Pin, pin, pin! polterte der Zinziver. Oh beschwan. O erscheine!« (Chlebnikov, Werke, Bd. 1, S. 77.) – Das Gedicht findet sich auch in den neuen, besser kommentierten Ausgaben: Chlebnikov, Tvorenija, S. 55; Chlebnikov, Sobranie socˇinenij, I, S. 104. (Kommentar: S. 464.) – Weitere Übersetzungsvarianten bietet die deutsche Ausgabe: Chlebnikov, Werke, Bd. 1, S. 77–79; einige Kommentare und Worterklärungen von Rosemarie Ziegler zu diesem Gedicht enthält Chlebnikov, Werke, Bd. 2, S. 408 f. Vgl. dazu auch die Studie von Stahl-Schwaetzer, »Räuber in Worthöhlen: Velimir Chlebnikovs Kuznecˇik und Das Heupferdchen Paul Celans«. [Anm. v. A.H.-L.] 17 Jakobson zitiert aus »Razgovor Olega i Kazimira«, in: Chlebnikov, Sobranie proizvedenij, V, S. 191 f. (deutsche Übersetzung: Chlebnikov, »Gespräch von Oleg und Kazimir«, in: Werke, Bd. 2, 89 f.) [Anm. v. A.N.] – Chlebnikov ist vor allem in seiner Frühphase immer wieder auf die biologische, historische, mathematische und poetisch-linguistische Rolle der Fünfzahl zu Sprechen gekommen: »Die Zahl Fünf [ pjat’ ] kann man aus dem Wort Fußtritte [ pinki], Kreuzigen [raspjat’, raspinat’ ] herleiten«. (Chlebnikov, »Gespräch zwischen zwei Personen«, in: Werke, Bd. 2, S. 83; Sobranie proizvedenij, V, S. 185.) Die 5 Finger der Hand und einiger Seesterne (Chlebnikov, Werke, Bd. 2,
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Dichtern an, die anerkannten, daß in ihrem Werk ein verwickelter sprachlicher Bauplan stecken kann, ganz unabhängig davon, ob sie seiner gewahr werden oder ihn beabsichtigt haben (que 〈…〉 le versificateur 〈…〉 le veuille ou non) oder, um William Blakes Zeugnis anzuführen, – »without Premeditation and even against my Will«.18 Doch erkannte Chlebnikov auch bei seinen späteren Überlegungen nicht das weit größere Ausmaß dieser regelmäßigen phonologischen Wiederholungen. Tatsächlich weisen alle Konsonanten und Vokale, die zu dem dreisilbigen Stamm des einleitenden pittoresken von kry´lysˇko »Flügelchen« 19 abgeleiteten Neologismus krylysˇku´ja [›flügelnd‹] gehören, dieselbe »Fünferstruktur« auf, so daß dieser Satz, den der Dichter bald in drei, bald in vier Zeilen unterteilte, 5 /k/, 5 *Vibranten /r/ und /r’/, 5 /l/, 5 *kompakte 20 (/zˇ/, /sˇ/) und 5 *diffuse 21 *Sibilanten (/z/, /s’/), 5 /u/ und innerhalb jedes der beiden Teilsätze 5 /i/ in den zwei verschiedenen (vorderen und hinteren) kontextuellen Varianten des gegebenen *Phonems enthält: рылушку¤ золотописьмом тончайших жил, узнечик в кузов пуза уложил ѕрибрежных много трав и вер. Krylysˇku´ja zolotopis’mo´m toncˇa´jsˇich zˇ´ıl, Kuzne´cˇik v ku´zov pu´za ulozˇ´ıl Pribre´zˇnych mno´go tra´v i ve´r.22
18 19
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S. 90), vor allem aber die 5er Strukturen in Gedichten unterstreichen die Bedeutung dieser Zahl: Neben dem Gedicht »Kuznecˇik« [›Die Heuschrecke‹] führt Chlebnikov noch andere Texte an, in denen er die Fünferstruktur erkennt: So etwa die 5 o in der Strophe »Sˇopot, ropot, negi ston« aus dem Gedicht »Gonimyj – kem, pocˇem ja znaju?« [›Gejagt – von wem, woher es wissen?‹] (Chlebnikov, Tvorenija, S. 77 f., deutsche Übersetzung: Chlebnikov, Werke, Bd. 1, S. 220–222). Chlebnikovs Schlußfolgerung lautet: »Also hat das selbsthafte Wort eine fünfstrahlige Struktur, und der Klang ordnet sich zwischen Punkten an, am Gerippe des Gedankens, mit fünf Achsen, wie die Hand und die Seesterne (einige).« (Chlebnikov, Werke, Bd. 2, S. 90.) [Anm. v. A.H.-L.] Aus einem Brief von William Blake an Mr. Butts vom 25. April 1803 (in: Blake, The complete poetry and prose, S. 729). [Anm. v. A.N.] Das Wort krylysˇko [›Flügelchen‹] liefert die Grundlage für die Transformation in ein Verbum: krylysˇkuja, d. h. das Bewegen eines Flügelchens als Gerundium; vgl. auch die erwähnten Übersetzungsvarianten in Chlebnikov, Werke, Bd. 1, S. 77–79, sowie die Kommentare zu den russischen Ausgaben: Sobranie proizvedenij, II, S. 37, (der Kommentar, V, S. 303, vermerkt die sehr frühe Entstehungszeit dieses Schlüsselgedichts Chlebnikovs im Jahr 1906/1908) und Chlebnikov, Tvorenija, S. 55, (hier: Kommentar auf S. 661). [Anm. v. A.H.-L.] Im engl. Original hushing [continuants] ›alveolare Dauerlaute‹. [Anm. v. I.M.] Im engl. Original hissing continuants ›dentale Dauerlaute‹. [Anm. v. I.M.] Vgl. vor allem Chlebnikov, Sobranie proizvedenij, V, S. 191.
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Flatternd mit der Goldschrift feinster Adern Füllte die Heuschrecke ihres Wanstes Korb Mit vielen am Ufer gelegenen Gräsern und Glauben.
Jede der drei Zeilen in dem angeführten Tristichon, das aus einer ununterbrochenen Folge von 16 zweisilbigen Versfüßen auf *trochäischer Grundlage besteht, ist mit vier betonten Silben versehen. Bei den betonten Phonemen stehen fünf dunkle 23 (*gerundete) Vokale,24 3 /u´/ plus 2 /o´/, den entsprechenden fünf hellen 25 (ungerundeten), 2 /ı´/ plus 3 /e´/, gegenüber; in anderer Hinsicht wiederum lassen sich diese zehn nichtkompakten Phoneme in fünf diffuse (hohe) Vokale, 3 /u´/ plus 2 /ı´/, und die entsprechenden fünf nicht-diffusen (mittleren), 2 /o´/ plus 3 /e´/, untergliedern. Die beiden kompakten /a´/ nehmen jeweils die zweitletzte Position unter den betonten Vokalen der ersten und letzten Zeile ein und beiden geht jeweils ein /o´/ voraus: pis’mo´m tonc´a´jsˇich – mno´go tra´v. Die fünf *Oxytona des Dreizeilers, die alle fünf mit einer geschlossenen Silbe enden, vervollständigen das Fünfermaß. Die Reihe von Fünfereinheiten, die die phonologische Strukturierung dieser Stelle beherrscht, kann weder zufällig noch poetisch belanglos sein. Nicht nur der Dichter selbst, dem dieser zugrundeliegende Kunstgriff zunächst gar nicht bewußt war, sondern auch seine aufnahmefähigen Leser bemerken spontan die erstaunliche Insichgeschlossenheit der angeführten Zeilen, auch ohne ihre Grundlage zutage zu fördern. Bei der Erörterung von Beispielen für die »selbstschöpferische Rede« 26 (samovitaja recˇ’ ), die eine Vorliebe für eine »fünfstrahlige Struktur« (pja23 Im engl. Original flat *›erniedrigt‹. [Anm. v. I.M.] 24 Auffällig ist, daß sich Chlebnikov eher selten mit Fragen der Vokale beschäftigt, während sein Hauptaugenmerk auf der universalsprachlichen Semantik der Konsonanten lag (vgl. erstmals systematisch dazu: Jakobson, »Die neueste russische Poesie«, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 1–123, und »Iz melkich vesˇcˇej Velimira Chlebnikova: ›Veter – penie‹« sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 492–515). Im Zusammenhang mit dem Gedicht »Kuznecˇik« [›Die Heuschrecke‹] drängt sich aber die Frage nach der »Fünfstrahligkeit« als generelles Sprachphänomen schon deshalb auf, weil auch im Russischen die Zahl der Vokale mit fünf begrenzt ist. Chlebnikov ordnet in »Predlozˇenija« jedem Vokal eine Zahl zu (a = 1, u = 2, o = 3, e = 4, i = 5): »Fünfzahlordnung«. (Chlebnikov, »Vorschläge«, in: Werke, Bd. 2, S. 228; russisch: Chlebnikov, »Predlozˇenija«, in: Sobranie proizvedenij, V, S. 158). [Anm. v. A.H.-L.] 25 Im engl. Original nonflat ›nicht-erniedrigt‹. [Anm. v. I.M.] 26 Der Begriff samovitaja recˇ’ begegnet in den futuristischen Manifesten (und ihren formalistischen Verwissenschaftlichungen) häufig synonym mit zaumnyj, d. h. jenseits der praktischen Sprache befindlich (za = jenseits im Sinne von »trans«, »meta«; umnyj = vernünftige): Die »Selbsthaftigkeit« bezeichnet nichts anderes als eine »au-
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tilucˇevoe stroenie) 27 zeigen, fiel Chlebnikov diese Tendenz im Anfangssatz seiner früher (übrigens gleichzeitig mit Saussures gewagten Studien über dichterische Anagramme) verfaßten »Heuschrecke« auf, doch beachtete er nicht die leitende Rolle, die in diesem Zusammenhang das Gerundium Krylysˇku´ja [›flügelnd‹], die das Gedicht einleitende Neubildung, spielt. Erst als er sich in einem späteren Aufsatz (1914) 28 wiederum den gleichen Zeilen zuwandte, fand der Verfasser sein Entzücken an dem in dem Gerundium verborgenen Anagramm: nach Chlebnikov 29 steckt das Wort tonome«, eigenständige, eigengesetzliche Sprache, die von der »praktischen Sprache« mehr oder weniger fundamental abweicht. Diese Abweichung ist nicht mehr bloß stilistischer Art, sondern in der (futuristischen) Avantgarde auch auf den Kernbereich der Sprache, auf Grammatik und semantischen Kode (Lexik) ausgedehnt. Insofern besteht die zaum’-Sprache aus grammatikalischen wie semantischen Neologismen. [Anm. v. A.H.-L.] 27 Der Begriff pjatilucˇevoe stroenie [›fünfstrahliger Aufbau‹] verweist auf die energetische Dimension der russischen Avantgarde, wie sie sich etwa in der Strahlenmalerei Michail Larionovs manifestierte, die er mit dem Begriff Lucˇizm (übersetzt oft auch als »Rayonism«) bezeichnet (um 1912/13). Vgl. dazu Larionovs Manifest »Lucˇizm« von 1913, deutsche Übersetzung: »Strahlenkunst«, in: Ingold, Der große Bruch, S. 375–377. [Anm. v. A.H.-L.] 28 Chlebnikov, Sobranie proizvedenij, V, S. 194. [Anm. v. R.J.] – Jakobson bezieht sich hier auf Chlebnikovs Aufsatz »!Budetljanskij«. In der deutschen Übersetzung (Chlebnikov, »!Zukünftler«, in: Werke, Bd. 2, S. 120–122) fehlt die Stelle. [Anm. v. A.N.] 29 Die Vorstellung, daß ein Wort teilweise oder ganz in einem anderen Wort »steckt« bzw. verborgen ist – passend ist hier nicht nur die Piratenmetapher, sondern auch die des Trojanischen Pferdes! – entspricht auch Ferdinand de Saussures Idee des Anagramms als *Kryptogramm. Auffällig ist die Nähe zwischen Saussure und Chlebnikov in der von beiden verwendeten *Metapher der Gliederpuppe für das Anagrammwort: Saussure bezeichnet mit mannequin eine begrenzte Gruppe von Wörtern, deren Anfang und Ende dem Anfang und Ende des thematischen Wortes entsprechen (Starobinski, Les mots sous les mots, S. 45–53). Chlebnikov führt in seinen kunsttheoretischen Text »Nasˇa osnova« das Motiv der »Lautpuppe« (zvukovaja kukla) ein. Er vergleicht hier das Sprachschaffen des Künstlers mit dem Spiel eines Kindes. Wie das Kind sich beim Spielen einbilden kann, dass der Stuhl, auf dem es sitzt, ein echtes Pferd aus Fleisch und Blut ist (der Stuhl ersetzt beim Spiel das Pferd), so ersetzt in der Sprache das Wort (Chlebnikovs Beispiel ist das russische Wort für Sonne – solnce) den Gegenstand. Es ist dem Menschen möglich, die Sonne über die »Klangpuppe« (zvukovaja kukla) »an Ohren und Schnurrbart zu reißen«. »Wenn man aber eine Zusammensetzung dieser Klänge und Laute in freier Anordnung nimmt, zum Beispiel: bobeobi oder dyr bul ˇscˇel, oder mantsch! mantsch! tschi breo so!, – so gehören diese Wörter zu keiner, überhaupt keiner Sprache, aber sagen dennoch etwas, irgend etwas nicht Faßbares, aber dennoch Bestehendes. […] Aber da gerade sie [die Wortfetzen] nichts zu Bewußtsein geben (nicht zum Puppenspiel taugen), so werden diese neuen Zusammensetzungen, das Spiel der Stimme jenseits der Wörter, Zaum-Sprache genannt. Zaum-Sprache bedeutet jenseits der Grenzen
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usˇku´j (»Piratenschiff«, *metonymisch für »Pirat«) in dem Gedicht, »wie im trojanischen Pferd«: krylysˇku´ja »flatternd« skry´l usˇku´ja derevja´nnyj ko´n’ »den Piraten verbarg das hölzerne Pferd«. Der Titelheld kuznecˇik hinwieder ist *paronomastisch mit usˇku´jnik »Pirat« 30 verknüpft, und die mundartliche Bezeichnung der Heuschrecke, konjo´k »Pferdchen«, muß Chlebnikovs Analogie zum trojanischen Pferd gestützt haben. Die lebendigen Beziehungen zwischen den verwandten Wörtern kuznecˇik, wörtlich »Schmiedlein«, kuznec »Schmied«, ko´zni »Ränke«, ko´vat’, kuju´ »schmieden« und kova´rnyj »listig« vertiefen die Bildlichkeit, und eine verborgene Triebfeder Chlebnikovscher Schöpfungen wie die poetische Etymologie 31 verbindet kuzne´ˇcik [›Heuschrecke‹] mit ku´zov »Korb, Höhlung, Karosserie«, gefüllt mit vielen am Ufer gelegenen Gräsern und Glauben oder vielleicht geheimen fremden Eindringlingen. Der in der das Gedicht beschließenden Neubildung beschworene Schwan – O lebedı´vo – O ozarı´! »Sende Licht!« scheint ein weiterer Hinweis auf die homerische Unterlage seiner vieldeutigen Bildlichkeit: ein Anruf an den göttlichen Schwan, der die trojanische Helena zeugte. Lebed-ı´vo ist nach ogn-ı´vo »Feuerstahl« gebildet, da die Metamorphose des Zeus in einen brennenden Schwan die Vorstellung vom Wandel des Feuersteins in Feuer wachruft. Die im ersten Entwurf der »Heuschrecke« auftretende Form ljubedi war eine andeutungsreiche Verschmelzung von le´bedi »Schwäne« mit der Wurzel ljub»liebe«, einer Wurzel, die Chlebnikovs Wortprägungen besonders begündes Verstandes befindlich […] Daß in Beschwörungsformeln, Zaubersprüchen die Zaum-Sprache herrscht und die Vernunftsprache verdrängt, beweist, daß sie eine besondere Macht über das Bewußtsein hat.« (Chlebnikov, »Unsere Grundlage«, in: Werke, Bd. 2, S. 327 f., russisch: »Nasˇa osnova«, in: Sobranie proizvedenij, V, S. 234 f.) [Anm. v. A.H.-L.] 30 Nicht zufällig hat einer der produktivsten Nachfolger Chlebnikovs, A. Tufanov, einen seiner Gedichtbände mit dem Titel Usˇkujniki [›Freibeuter‹] versehen. [Anm. v. A.H.-L.] 31 Das Prinzip der »poetischen Etymologie« liegt nach Jakobson der gesamten neologistischen Sprache Chlebnikovs, ja der gesamten (avantgardistischen) Wortkunst zugrunde (»Die neueste russische Poesie«, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 74–79 u. Anm. 240.): Gemeint ist damit die Freiheit des Dichters, jene Sprachvorstellungen, die aus linguistischer, etymologischer Sicht falsch sein mögen, dennoch gelten zu lassen, da sie – wie die Volksetymologie oder die idiosynkratischen Idiolekte des Kindes oder des Unterbewußten – über eine zwar wissenschaftlich zweifelhafte, psychisch aber umso relevantere Wirklichkeit verfügen. Dieses Anerkennen bzw. Ernstnehmen der Sprachwirklichkeit bei Jakobson markiert eine vergleichbare kopernikanische Wende wie Sigmund Freuds, Anerkennung der »psychischen Realität« als eigenständige Evidenz, die über eine Eigengesetzlichkeit verfügt – ohne an die wissenschaftlich-empirischen Fakten gebunden zu sein. [Anm. v. A.H.-L.]
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stigte. Krylysˇku´ja [›flügelnd‹], das Schlüsselwort des Gedichts, muß spontan, »in reinem Wahn« 32 (v ˇcistom nerazu´mii), seine ganze Gestaltung angeregt und gelenkt haben. Die Metasprache des Dichters mag weit hinter seiner poetischen Sprache zurückbleiben, und Chlebnikov beweist das nicht nur durch die wesentlichen Lücken in seinen Beobachtungen zur Fünferform des untersuchten Dreizeilers, sondern auch wenn er im nächsten Satz desselben Aufsatzes das Fehlen einer solchen Anordnung in seinem kriegerischen Vierzeiler – Bu´d’te gro´zny kak Ostra´nica, Pla´tov i Bakla´nov, Po´lno vam kla´njat’sja Ro´zˇe basurma´nov 33 – beklagt und so erstaunlicherweise seine sechs Fünferanordnungen übersieht: fünf metrisch und sprachlich betonte a; fünf dunkle 34 (gerundete) Vokale, /o´/, /u´/ und unbetontes /u/; fünf *labiale *Verschlußlaute, alle im Anlaut, /b/, /p/; fünf *velare Verschlußlaute, /g/, /k/; fünf *dentale Verschlußlaute, /t/, /t’/, und fünf dentale Sibilanten, /z/, /s/, /c/. So hat fast die Hälfte dieser Phonemkette am »fünfstrahligen« Bau teil; und zu den angeführten Vokalen und Verschlußlauten 35 kommt hinzu, daß die *sonoren Zungenlaute des Vierzeilers eine ausgefeilte *Symmetrie aufweisen – /r n r n’ l l n l n l n’ r r n/ – und alle sonoren Laute dieses Vierzeilers gleichmäßig in acht *Liquidae und acht *Nasale zerfallen. Im Vorwort von 1919 zu seinen geplanten Gesammelten Schriften 36 betrachtete Chlebnikov die kurze »Heuschrecke« als »kleinen Auftritt des Feuergottes« (malyj vychod boga ognja).37 Die Zeile zwischen dem einlei32 In »Svojasi« schreibt Chlebnikov, er habe »in reinem Wahn« (v ˇcistom nerazumenii) den Text »Pereverten’« [›Umdreher‹] geschrieben: »[…] da erkannte ich sie [die Verse] als vom unbewußten ›Ich‹ an den Himmel der Vernunft zurückgeworfene Strahlen der Zukunft.« (Chlebnikov, »Svojasi«, in: Sobranie proizvedenij, II, S. 8; deutsch: »Mein Eignes«, in: Werke, Bd. 2, S. 10.) [Anm. v. A.H.-L.] 33 Die Zitate der *»metasprachlichen« Reflexionen entstammen Chlebnikovs Schrift: »Razgovor dvuch osob«, in: Sobranie proizvedenij, V, S. 183–186; deutsch: »Gespräch zwischen zwei Personen«, in: Werke, Bd. 2, S. 81–85) Der »kriegerische Viervers« bzw. Vierzeiler entstammt dem Gedicht »My zˇelaem zvezdam tykat’« [›Wir wünschen die Sterne zu duzen‹], in: Chlebnikov, Werke, Bd. 1, S. 219. Dort lautet die Übersetzung von Rosemarie Ziegler der entsprechenden Zeilen: » […] Seid schrecklich wie Ostranica, Platov und Baklanov, Hört auf, euch zu verneigen Vor der Fratze der Ungläubigen.« (vgl. dazu den Kommentar a. a. O., S. 419.) [Anm. v. A.H.-L.] 34 S. Anm. 23. [Anm. v. I.M.] 35 Im engl. Original *obstruents ›Obstruenten‹. [Anm. v. I.M.] 36 Chlebnikov, »Svojasi« [›Mein Eignes‹], in: ders., Sobranie proizvedenij, II, S. 7–11, hier: S. 8. 37 Vgl. den Kommentar a. a. O., II, S. 301, sowie die deutsche Übersetzung: Chleb-
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tenden Dreizeiler und dem abschließenden Anruf – Pin’-pin’ tararachnul 38 (ursprünglich Tararapin’pin’knul) zinzive´r – erstaunt durch die Verbindung des heftigen, donnergleichen Getöns tararach mit dem schwachen Piepser pin’ und durch den Umstand, daß dieses *Oxymoron dem Subjekt zinzive´r zugeordnet ist, das wie andre mundartliche Varianten zenzeve´r, zenzeve´l, zenzeve´j ein dem englischen ginger [›Ingwer‹] verwandtes Lehnwort ist, im Russischen aber »Malve« bedeutet. Durch Chlebnikovs doppelte Leseweise von krylysˇku´ja [›flügelnd‹] verlockt, könnte man eine ähnlich paronomastische Beziehung zwischen zinzive´r und dem donnernden Zeve´s »Zeus«: /z’inz’ive´r/ – /z’ive´s/ mutmaßen.39 Als Chlebnikov die Neigung zu den häufigen fünffachen Lautwiederholungen in der Dichtung, insbesondere in ihren freien, überbewußten (zaumnye) 40 Spielarten, beobachtete und untersuchte, veranlaßte ihn diese Erscheinung zu Vergleichen mit den fünf Fingern oder Zehen und mit der ähnlichen Aufmachung von Seestern und Wabe. Wie fasziniert wäre der verblichene Dichter und ewige Sucher weitreichender Analogien gewesen, hätte er erfahren, daß die verblüffende Frage vorzüglich fünffältiger Symmetrien bei Blumen und menschlichen Gliedmaßen jüngst Diskussionen unter Naturwissenschaftlern hervorrief, und in Victor Weisskopfs zusammenfassendem Aufsatz 41 heißt es: »eine statistische Untersuchung der Gestalt von Blasen in Schaum hat gezeigt, daß die Polygone, die an jeder Blase durch die Berührungslinien mit den angrenzenden Blasen gebildet werden, meist Fünfecke oder Sechsecke sind. Und zwar ist
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nikov, Werke, Bd. 2, S. 10. Auf diese Selbstdarstellung Chlebnikovs, deren Titel von Jakobson stammt, wurde von diesem auch andernorts verwiesen (vgl. Jakobson, »Iz melkich vesˇcˇej Velimira Chlebnikova: ›Veter – penie‹«, sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 492–515, hier: S. 511 f.). [Anm. v. A.H.-L.] Es fällt auf, daß Chlebnikovs onomatopoetische Formulierung tararach auch in Aleksandr Bloks berühmtem Poem »Dvenadcat’« [›Die Zwölf‹] als Lautnachahmung von Gewehrfeuer aufscheint. (Blok, Sobranie socˇinenij, III, S. 353; deutsch: Block, Ausgewählte Werke, Bd. 1, S. 241.) [Anm. v. A.H.-L.] Zu zinziver vgl. auch: Stahl-Schwätzer, »Räuber in Worthöhlen: Velimir Chlebnikovs Kuznecˇik und Das Heupferdchen Paul Celans«, S. 196–208. [Anm. v. A.H.-L.] Die Übersetzung von zaumnyj als »überbewußt« bei Klein ist nicht eben glücklich gewählt: zaum’ meint wörtlich eine Dichtung bzw. deren Sprache, die sich »jenseits« (za) der »Vernunft« (um) bzw. des rationalen Verstandes und damit der »praktischen Sprache« des Alltags befindet. Der Begriff »überbewußt« würde gerade der Intention Jakobsons (und der Futuristen) entgegenlaufen, die »subliminal pattern« einer vor- oder gar unterbewußten Sprache zu entwickeln. [Anm. v. A.H.-L.] Weisskopf, »The Role of Symmetry in Nuclear, Atomic, and Complex Structures« (Beitrag zum Nobel-Symposium vom 26. August 1968).
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die durchschnittliche Eckenzahl dieser Polygone 5,17. Eine Ansammlung von Zellen könnte eine ähnliche Struktur haben, und es ist ein anregender Gedanke, daß von Kontaktpunkten spezielle Wachstumsprozesse ausgehen, die vielleicht die Symmetrie in der Anordnung dieser Punkte wiedergeben.« 42 Die Folklore 43 liefert uns besonders sprechende Beispiele für eine stark ausgeprägte und höchst wirksame sprachliche Struktur, obgleich ihr gewöhnlich jegliche Kontrolle durch das abstrakte Denken abgeht. Sogar so unabdingbare Aufbauelemente wie die Silbenzahl in einer *syllabisch geordneten Zeile,44 die konstante Position der Pause oder die regelmäßige Verteilung *prosodischer Merkmale werden vom Träger der mündlichen Tradition nicht erlernt und als solche erkannt. Hat der Erzähler oder Hörer zwei Fassungen einer Zeile vor sich, deren eine den metrischen Standard mißachtet, so mag er die abweichende Variante als weniger geeignet oder gänzlich unannehmbar bezeichnen, aber gewöhnlich zeigt er sich nicht in der Lage, den springenden Punkt bei der gegebenen Abweichung zu bestimmen.45 42 A. a. O., S. 300. Genau diese organizistische Motivation der Sprach-Muster als Analogon zu den Naturmustern hat hier Jakobson im Auge, wenn er Victor Weisskopf zitiert. Der Vergleich von Mustern der Bio- und der Semiosphäre war schon seit der Jahrhundertwende sehr beliebt – am meisten im Bereich von ganzheitlichen, synthetischen Richtungen einer »Positiven Ästhetik« auf der Grundlage eines pythagoreisch fundierten harmonikalen »Kosmismus«. Vgl. dazu die klassische Darstellung bei Weyl, Symmetry und o., S. 127, Anm. 5. [Anm. v. A.H.-L.] 43 Neben der Linguistik war es die große Schule der Folkloristik, aus der nicht nur Jakobson, sondern der gesamte frühe Formalismus bzw. Strukturalismus sein Anschauungsmaterial bezog. Dies lag vor allem daran, daß man in den Genres der Folklore auf besonders prägnant strukturierte Texturen bzw. Textstrukturen stieß, die typisch sind für das, was Claude Le´vi-Strauss als »erkaltete Kulturen« bezeichnet. (Vgl. Hansen-Löve, Der russische Formalismus, S. 260–263; Le´vi-Strauss, »Die Struktur und die Form. Reflexionen über ein Werk von Vladimir Propp«, S. 181– 213.) Zur Bedeutung der Folkloristik vgl. die zusammenfassende Darstellung bei: Jakobson /Bogatyrev, Slavjanskaja filologija v Rossii za gody vojny i revoljucii. [Anm. v. A.H.-L.] 44 Das versologische System der Syllabik wurde in der russischen Verskunst des 18. Jahrhunderts – unter starkem polnischen Einfluß – eingeführt, obwohl das linguistische System der russischen Prosodie mit ihrer starken Orientierung am Wortakzent eine reine Syllabik als etwas durchaus Künstliches erscheinen ließ; ausführlich dazu: Gasparov, Sovremennyj russkij stich. Metrika i ritmika, S. 39 ff.; Scherr, Russian Poetry: Meter, Rhythm and Rhyme, S. 33–39. [Anm. v. A.H.-L.] 45 Vgl. dazu Jakobsons Studie »Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie« (in der vorliegenden Ausgabe Bd. 1, S. 256–301, hier: S. 273, Anm. 64). [Anm. v. A.N.]
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Ein paar aus den Kurzformen 46 der russischen Folklore herausgegriffene Belege zeigen uns feste lautliche und grammatische Fügungen in enger Verbindung mit einer eindeutig unterbewußten Gestaltungsweise. Ўла свинь¤ из ѕитера, вс¤ спина истыкана.47 Sˇla´ svin’ja´ iz Pı´tera, vsja´ spina´ isty´kana. Kam ein Schwein aus Petersburg, Ganz durchbohrt den Rücken.
Napjo´rstok »Fingerhut« ist die Antwort in diesem Volksrätsel, die deutliche semantische Hinweise nahelegen: der Artikel kommt aus der industriellen Metropole aufs Land und hat eine rauhe, zernarbte Oberfläche wie die Schwarte eines Schweins. Eine strenge phonologische Symmetrie 48 verbindet fest die beiden siebensilbigen Zeilen: die Verteilung der *Wortgrenzen und der Akzente ist genau gleich (– / – / – ); zumindest sechs der sieben aufeinanderfolgenden Vokale sind identisch (/a´ i a´ i ´ı.a/); von dem Gleitlaut /j/ in /sv’in’ja´/ abgesehen ist die Anzahl der konsonantischen Phoneme vor jedem der sieben Vokale in beiden Folgen dieselbe (2 . 2 . 1 . 0 . 2 . 1 . 1 .), wobei die parallelen Segmente zahlreiche Züge teilen: vorkonsonantische Dauerlaute im Anlaut /s/ und /v/; zwei Paare vorkonsonantischer /s/ (/sv’i/ – /sp’ı´/ und /sp’i/ – /stı´/); zwei Paare stimmloser Verschlußlaute, die /i/ umgeben (/p’ı´t’/ – /tı´k/); zwei Sonoren, /r/ und /n/, vor dem abschließenden /a/. Grammatische Entsprechungen: die Feminina ˇsla´ – vsja´ [›kam – ganze‹]; feminine Substantive als Subjekte, 46 Die »Kurzformen« wurden in der russischen Folkloristik und Literaturwissenschaft schon seit dem 19. Jahrhundert heftig untersucht; im 20. Jahrhundert entfaltete sich eine regelrechte Forschungsrichtung, die sich unter dem Titel »Parömiologie« den verbalen Kurzforme(l)n widmete. Bedeutend war hier vor allem die Schule um Permjakov, Ot pogovorki do skazki (zametki po obsˇˇcej teorii klisˇe); vgl. auch den Sammelband zu »Parömiologie« von Eismann /Grzybek, Semiotische Studien zum Rätsel. [Anm. v. A.H.-L.] 47 Jakobson entnimmt dieses – wie auch die folgenden – Volksrätsel aus der (erstmals 1876 herausgegebenen) Sammlung von Sadovnikov, Zagadki russkogo naroda, S. 93. Die englische Übersetzung (Riddles of the Russian people) enthält ein Vorwort von Ann C. Bigelow mit Angaben zur Bedeutung und Einordnung des Werkes. [Anm. v. A.N.] 48 Fragen der phonologischen, syntaktischen, semantischen »Symmetrie« spielen im Rahmen von Jakobsons Äquivalenzforschung überhaupt eine zentrale Rolle: vgl. Meyer, »Das Kreuz als Figur und Grenzfall der ›Poetischen Funktion der Sprache‹«. [Anm. v. A.H.-L.]
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svin’ja´ – spina´ [›Schwein – Rücken‹]; Präposition und Präfix iz [›aus‹ bzw. ›zer-‹]. Die anlautenden Konsonantenverbindungen der beiden alliterierenden Subjekte werden in der jeweils anderen Zeile wiederholt: /sp’/ in spina´ und iz Pı´tera, /sv’/ – /vs’/ in svin’ja´ und vsja´ mit *Metathese der Konsonanten und Erhaltung der Diesis 49 (*Palatalisierung) im zweiten, vorvokalischen Konsonanten. Das Lösungswort steckt anagrammatisch im Text des Rätsels.50 Jede Halbzeile der zweiten Zeile endet mit einer dem Präfix /na-/ der Antwort entsprechenden Silbe: /sp’ina´/ und /istı´kana/. Die Wurzel /p’orst-/ und die zweite Halbzeile der ersten Zeile des Rätsels /isp’ı´t’ira/ weisen eine entsprechende Menge von Konsonanten in vertauschter Reihenfolge auf: A) 1 2 3 4; B) 3 1 4 2 (die ersten beiden Phoneme der Folge A entsprechen den geraden Phonemen der Folge B und die letzten beiden Phoneme von A den ungeraden Phonemen von B). In der letzten Halbzeile des Rätsels /istı´kana/ tönt die in der ersten Silbe der Antwort enthaltene Konsonantenfolge wieder /-stak/. Offensichtlich wurde Piter 51 unter den anderen geeigneten Städtenamen eben wegen seines anagrammatischen Wertes ausgewählt. Solche Anagramme sind den Volksrätseln vertraut; vgl. ˇcjo´rnyj ko´n’ pry´gaet v ogo´n’ »schwarzes Pferd springt ins Feuer«: wie O. M. Brik in seinem epochemachenden Aufsatz über die Lautgestaltung russischer Dichtung aufzeigte,52 treten alle drei Silben der Antwort kocˇerga´ »Schürhaken« mit den passenden automatischen Alternationen zwischen betonten Formen /ko´/, /cˇo´r/, /ga´/ und ihren unbetonten Gegenstücken auf. Weiterhin führen die vorvokalischen Phoneme aller vier betonten Silben des Rätsels auf die vier konsonantischen Phoneme der Antwort: /cˇo´/ – /ko´/ – /rı´/ – /go´/. Das dichte phonologische und grammatische Gefüge der Volksrätsel ist im allgemeinen sehr beeindruckend. Zwei grammatisch und prosodisch parallele und reimende Dreisilber (– –) – ko´n’ stal’no´j, chvo´st l’njano´j »stählern Pferd, flachsner Schwanz« (= Nadel mit Faden) – zählen je drei identische Vokale /o´ a o´/ zumindest in jener vorherrschenden 49 Hier ist das *Merkmal *»erhöht« gemeint. [Anm. v. I.M.] 50 Zu anagrammatischen »Lösungsworten« in den Gattungen der »Kryptogramme« vgl. Hansen-Löve, »Velimir Chlebnikovs Onomatopoetik«. [Anm. v. A.H.-L.] 51 Piter umgangssprachlich für St. Petersburg. [Anm. v. A.N.] 52 Brik, »Zvukovye povtory. Analiz zvukovoj struktury teksta«, S. 59. [Anm. v. R.J.] – Dieses vielzitierte Anagramm – es entstammt der Sammlung Zagadki russkogo naroda, S. 58, – wurde nicht nur vom Formalisten Osip Brik in einer seiner frühen Studien analysiert, sondern zuletzt auch bei Erika Greber als Paradebeispiel für folkloristische Anagrammatik zitiert: Textile Texte, S. 172. [Anm. v. A.N.]
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Spielart des Russischen, die vortoniges /a/ in Formen wie /l’n’ano´j/ bewahrt; in den anderen Dialekten ist die Äquivalenz der beiden unbetonten Vokale nur auf morphonologischer Ebene erhalten. Beide Zeilen beginnen mit einem stimmlosen Velar. Den Zwischenraum zwischen den beiden betonten Vokalen füllen in jeder Zeile fünf identische konsonantische Phoneme: /n’st.l’n/ (123.45) – /stl’n’.n/ (2341.5). Die Stellung des /n’/ bildet den einzigen Unterschied in der Anordnung zwischen den beiden Folgen. Ein typisches syntaktisches Merkmal, das sich häufig in russischen Rätseln und Sprichwörtern findet, ist das Fehlen des Verbs, und dieses Fehlen bringt den Unterschied zwischen Prädikativen mit Nullkopula und Attributen zum Verschwinden. Ein weiteres Rätsel mit dem gleichen Thema und einem ähnlichen metaphorischen Gegensatz zwischen Körper und Schwanz des Tiers weist zwei Paare reimender Zweisilber auf – Zvero´k s versˇo´k, a chvo´st sem’ vjo´rst »Ein Tierchen von einem versˇok [altes Längenmaß, 4,5 cm], aber ein Schwanz von sieben Werst [7,5 km]«.53 Diese vier Kola variieren eine Folge von /v/ oder /v’/ und /o´/ oder unbetontes /e/ mit einem postvokalischen /r/ nach einem prävokalischen /v’/; unter dem Ton schließt diese Reihe mit der Konsonantengruppe /st/, während sie in einer unbetonten Silbe mit einem diffusen Zischlaut 54 beginnt: /zv’er/ – /sv’er/ – /vost/ – /v’o´rst/. All diese Rätsel ersetzen das unbelebte Substantiv der Antwort durch ein belebtes Substantiv vom entgegengesetzten *Genus: mask. napjo´rstok »Fingerhut« durch fem. svin’ja´ »Schwein« und umgekehrt fem. igla´ »Nadel« durch mask. ko´n’ »Pferd« oder zvero´k »Tierchen«, ganz entsprechend fem. nit’ »Faden« durch mask. chvo´st »Schwanz«, eine sich auf ein belebtes Wesen beziehende *Synekdoche. Man vergleiche etwa auch die Wiedergabe von fem. gru´d’ »Busen« durch lebed’ »Schwan«, ein belebtes Maskulinum, am Anfang des Rätsels Be´lyj le´bed’ na blju´de ne´ byl »der weiße Schwan war nicht auf einer Schüssel«,55 in dem palatalisierte und nichtpalatalisierte 56 /b/ und /l/ systematisch vertauscht werden: /b’.l./ – /l’.b’.d’./ – /n.bl’.d’./ – /n’.b. l./. In dieser Anordnung weisen die zwölf Belege der vier im Gedicht enthaltenen konsonantischen Elemente ein 53 Das Beispiel mit dem »stählernen Pferd« entstammt gleichfalls Zagadki russkogo naroda, S. 92. [Anm. v. A.N.] 54 Vgl. Anm. 21. [Anm. v. I.M.] 55 Zagadki russkogo naroda, S. 92. [Anm. v. A.N.] 56 Im engl. Original sharp ›erhöht‹ und plain ›nicht-erhöht‹. Die Begriffe ›palatalisiert‹ und ›nicht-palatalisiert‹ bezeichnen die artikulatorischen Entsprechungen der durch akustische Eigenschaften definierten distinktiven Merkmale. [Anm. v. I.M.]
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Geflecht symmetrischer Beziehungen auf: sechs (4 + 2) Belege der beiden Sonoren und sechs (4 + 2) der beiden Geräuschlaute; drei dieser vier Archiphoneme sind gleich häufig als palatalisiert und als nichtpalatalisiert 57 realisiert: 2 /l’/ und 2 /l/, 1 /n’/ und 1 /n/, 2 /b’/ und 2 /b/, während der helle (dentale) Verschlußlaut nur in der palatalisierten 58 Variante auftritt – einmal stimmhaft und einmal mit kontextuell bedingtem Verlust seiner morphonologischen Stimmhaftigkeit (le´bed’). Keiner, der Volksrätsel stellt oder rät, macht solche Bauelemente ausfindig wie etwa das Vorhandensein aller drei Silben der Antwort in den drei das Schürhakenrätsel einleitenden Wörtern selbst (in der Reihenfolge 2 1 3), das Zweiermaß mit dem Akzent jeweils an Anfang und Ende beider Zeilen des *Distichons, die drei /o/ mit den drei darauf folgenden dentalen Nasalen (1 2 4) und den vorvokalischen velaren Verschlußlauten in jedem der drei Wörter, mit denen das gesamte Rätsel endet (2 3 4). Aber jeder würde fühlen, daß der Ersatz von ˇcjo´rnyj ko´n’ [›schwarzes Pferd‹] durch das synonyme vo´ron ko´n’ [›Rappe‹, wörtl. ›schwarzes Pferd‹] oder durch zˇele´znyj ko´n’ »eisernes Pferd« die epigrammatische Wucht dieser poetischen Fügung nur verringern könnte. Ein Aufscheinen prosodischer Symmetrien, Lautwiederholungen und ein wörtliches Substrat – les mots sous les mots (eine glückliche Formulierung J. Starobinskis) 59 – schlagen durch auch ohne so etwas wie theoretische Einsicht in die dabei angewandten Verfahrenstechniken. Sprichwörter liegen gleichauf mit Rätseln in ihrer geschliffenen Kürze und ihrer sprachlichen Ausgefeiltheit: Serebro´ v bo´rudu, be´s v rebro´ 60 »Silber (eine Metapher für graues Haar, das seinerseits eine Metonymie für Alter ist) in den Bart, Teufel (Begierde) in die Rippe (eine Anspielung auf die biblische Beziehung zwischen Adams Rippe und der Entstehung der Frau)«. Die beiden Substantivpaare bilden einen festgefügten grammatischen *Parallelismus 61: entsprechende Kasus in vergleichbaren syntakti57 58 59 60
Vgl. Anm. 56. [Anm. v. I.M.] Vgl. ebd. [Anm. v. I.M.] Starobinski, Les mots sous le mots – vgl. o., S. 127, Anm. 7. [Anm. v. A.N.] Jakobson verwendet hier eine Abwandlung des gebräuchlichen Sprichwortes »Sedina v borodu, bes v rebro« [›Silber im Bart, Teufel in der Rippe‹]. (Vgl. Poslovicy russkogo naroda, S. 355.) [Anm. v. A.N.] 61 Die Auseinandersetzung mit dem Phänomen des grammatischen bzw. allgemein »formalen Parallelismus«, der in poetischen in der Literatur bzw. ästhetisch funktionierenden Texten (der Folklore) auch einen »semantischen bzw. inhaltlichen Parallelismus« provoziert, steht im Mittelpunkt des Kunst-Denkens nicht nur bei Jakobson und dem Formalismus-Strukturalismus, sondern auch der Avantgarde insgesamt. Grundlegend dafür waren die noch positivistischen Studien von Ve-
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schen Funktionen. Gegen diesen Hintergrund stechen die *kontrastierenden Genera besonders in die Augen: das belebte Maskulinum be´s [›Teufel‹] gegenüber dem unbelebten Neutrum serebro´ [›Silber‹] und auf der andern Seite das unbelebte Neutrum rebro´ [›Rippe‹] gegenüber dem unbelebten Femininum bo´rodu [›Bart‹], und diese Genera geraten in einen wunderlichen Widerstreit zur männlichen *Konnotation von bo´rodu [›Bart‹] und zum weiblichen Symbolgehalt von be´s [›Teufel‹]. Das ganze bündige Sprichwort ist eine paronomastische Kette; 62 vgl. die Reimwörter serebro´ – rebro´, letzteres in ersterem enthalten; die vollständige Umstellung ähnlicher Phoneme, die den Anfang des Sprichworts mit seinem Ende verknüpfen: serebro´ v – be´s v rebro´; im einleitenden Teilsatz die Entsprechung zwischen Ende des ersten und Anfang des zweiten Substantivs: serebro´ – bo´rodu. Die erlesene prosodische Gestalt des Sprichworts beruht auf einem zweifachen Gegensatz zwischen den beiden Teilsätzen: der erste umgibt zwei nebeneinanderstehende betonte Silben durch zwei Paare unbetonter Silben, während der andere Teilsatz eine einzige unbetonte Silbe durch zwei einzelne betonte Silben umgibt und so einen *antisymmetrischen Teiler 63 des ersten Teilsatzes darstellt. Metrisch gleichbleibend in beiden Teilsätzen ist das Vorhandensein zweier Akzente: –– – – selovskij, dessen Parallelismus-Theorie für die formalistische Narratologie und Poetik ebenso bestimmend war (hier v. a. für V. Sˇklovskij) wie für Jakobsons Äquivalenztheorie (vgl. zusammenfassend Holenstein, Roman Jakobsons phänomenologischer Strukturalismus, S. 38 ff.). [Anm. v. A.H.-L.] 62 Die Paronomasie spielt für Jakobson eine zentrale Rolle in der futuristischen Wortkunst ebenso wie in der Folklore und der Poetik allgemein: Ausführlich beschäftigt er sich damit in seiner Chlebnikov-Studie »Neueste russische Poesie« bei seinen Ausführungen zum *»Paregmenon« bzw. der morphologischen Ableitung von Neologismen (in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 70 f.). Die Wortneubildung, also die »Neologistik« basierte für die russische Avantgarde auf einem onomatopoetischen Prinzip, das neben der Konventionalität der Zeichenbegründung (ihrer uslovnost’, d. h. System- und Kodebedingtheit) eben jenes Vor- und Unterbewußte der Sprachkreativität beherrscht, das auch Sigmund Freud in seinen Spekulationen zur Sprachlichkeit des Unterbewußten bzw. nichtrationaler Sprachverwendungen konstatiert: Hier werden dann »Sprachfakten« zu »Sachfakten« (vgl. zu diesem Komplex Hansen-Löve, Der russische Formalismus, S. 161–172; konkret zu Chlebnikov: ders., »Velimir Chlebnikovs Onomatopoetik«). [Anm. v. A.H.-L.] 63 Gemeint ist damit, daß bei Umkehrung des Vorzeichens die Abfolge im ersten Vers (2 unbetonte – 2 betonte – 2 unbetonte Silben) ein Vielfaches (genauer: das Doppelte) der Abfolge im zweiten Vers (1 betonte – 1 unbetonte – 1 betonte Silbe) darstellt (Hinweis von Sebastian Donat). [Anm. v. A.N.]
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Der bekannte polnische Anthropologe K. Moszyn´ski bewunderte »die große formale Verdichtung« 64 des lustigen russischen Sprichworts: “абак да бан¤, кабак да баба – одна забава.65 Taba´k da ba´nja, kaba´k da ba´ba – odna´ zaba´va. Tabak und Badehaus Kneipe und Frau einziger Spaß.
(Fällt allerdings ein stärkerer Akzent auf odna´ oder zaba´va, anstatt daß gleiche Akzente auf den beiden Wörtern der Schlußzeile liegen, dann nimmt diese Zeile die Bedeutung »derselbe Spaß« im ersten und »nichts als Spaß« im zweiten Fall an.) Ein straffer Zusammenhalt des ganzen Dreizeilers wird durch verschiedene Mittel erreicht. Seine beharrlich gleichförmige rhythmische Form, 3 · ( – – ), umfaßt fünfzehn durchdringende /a/, die abwechselnd betont und unbetont sind (man beachte den südrussischen Vokalismus /adna´/!). Der Beginn der drei Zeilen unterscheidet sich von allen folgenden Silben: die letzte Zeile beginnt mit einem Vokal, während den anderen 14 Vokalen des Dreizeilers ein Konsonant vorangeht; die beiden vorherigen Zeilen beginnen mit stimmlosen Konsonanten, die die beiden einzigen nicht stimmhaften Segmente unter den 32 Phonemen des Sprichworts zu sein scheinen (man beachte, daß /k/ vor /d/ regelmäßig stimmhaft wird!). Die beiden einzigen Dauerlaute seiner 17 Konsonanten treten in den unbetonten Silben des abschließenden, prädikativen Substantivs auf. Das beschränkte grammatische Inventar dieses Werks, das sich mit fünf Substantiven und einem Fürwort, alle sechs im Nominativ, sowie einer einzigen und wiederholt gebrauchten Konjunktion begnügt, 64 Moszyn´ski, Kultura ludowa Słowian, II, Teil 2, S. 1384. [Anm. v. R.J.] – Zur Bedeutung von Moszyn´ski als Ethnologen vgl. Klodnicki, »Die ethnographische Methode Kazimiersz Moszynskis«, S. 99–114. [Anm. v. A.N.] 65 Zum »Tabak da banja«-Zitat als idealem Beispiel für das Jakobsonsche ÄquivalenzPrinzip vgl. Holenstein, Roman Jakobsons phänomenologischer Strukturalismus, S. 150. Darüber hinaus figuriert das folkloristische ba-ba als reduplikatives Urwort – wie Mama, Papa etc. und bildet mit die eigentliche Basis einer Textgenerierung durch Entfaltung von fundamentalen Reduplikationsstrukturen auf der *Lexembzw. *Morphemebene (vgl. auch Jakobson, »Why ›mama‹ and ›papa‹?«). [Anm. v. A.H.-L.]
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ist ein auffallendes Beispiel eines sorgsamen syntaktischen Stils, wie er Sprichwörtern zu eigen ist und in einem treffenden kurzen Aufsatz von P. Glagolevskij 66 gestreift, aber seither nie mehr weiter untersucht worden ist. Die mittlere Zeile bringt die beiden entscheidenden Substantive – zunächst kaba´k, in sich ein *Palindrom, und danach ba´ba mit der verdoppelten Silbe /ba/; kaba´k reimt mit dem vorausgehenden taba´k, während ba´ba annähernd einen Reim mit dem abschließenden zaba´va bildet und sein /ba´/ mit allen Substantiven des Sprichworts teilt: fünf /ba´/ insgesamt. Wiederholungen und geringfügige Abwandlungen der übrigen Konsonanten laufen gemeinsam mit demselben Vokal durch den gesamten Dreizeiler: 1 1
/ta/ – /da/ – 2 /da/ – 3 /ad/ – /za/; 1 /a´k/ – 2 /ka/ – /a´k/; und /n’a/ – 3 /na´/.
All diese vielfach wiederholten, durchgängigen Merkmale verknüpfen die vier aufgeführten Freuden miteinander und verankern die chiastische Anlage 67 ihrer beiden Paare: Mittel zum Genuß, taba´k [›Tabak‹] und ba´ba [›Frau‹], stehen neben Vergnügungsstätten, kaba´k [›Kneipe‹] und ba´nja [›Badehaus‹]. Der metonymische Charakter dieser Substantive anstelle von unmittelbaren Bezeichnungen für die Genüsse wird erzeugt durch kontrastive Nachbarschaft innerhalb der Zeile von örtlichen und instrumentalen Begriffen, die zudem durch die Unähnlichkeit maskuliner Oxytona und femininer *Paroxytona unterstrichen wird. Volkslieder unterscheiden sich in der Wahl der Verfahren zwar von den Sprüchen, offenbaren aber hinwieder eine eigentümliche und vielgestaltige Sprachstruktur. Zwei Vierzeiler eines polnischen Liedes aus der volkstümlichen Überlieferung des Landsitzes mögen ein geeignetes Beispiel abgeben: Ty po´jdziesz go´ra˛. a ja dolina˛, 66 Glagolevskij, »Sintaksis jazyka russkich poslovic«. 67 Der *Chiasmus ist eine der wichtigsten Variationsmöglichkeiten des Parallelismus: Er verkehrt im Sinne der *Inversion bzw. Permutation die vorgegebenen parallel gesetzten Elemente im zweiten Glied des Parallelismus (vgl. zu diesem fundamentalen syntagmatischen Verfahren in der formalistischen Erzähl- und Texttheorie: Hansen-Löve, Der russische Formalismus, S. 242–246). Grundlegend dafür waren die Arbeiten von Aleksandr Veselovskij, »Epicˇeskie povtorenija, kak chronologicˇeskij moment« und »Psichologicˇeskij parallelizm v otrazˇenijach poe˙ticˇeskogo stilja«. Ausführlich zur Rolle des Parallelismus in Folklore und Hochliteratur vgl. auch Jakobson, »Die neueste russische Poesie«, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 1– 123. [Anm. v. A.H.-L.]
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ty zakwitniesz ro´z˙a˛ a ja kalina˛. Ty be˛dziesz pania˛ we wielkim dworze, a ja zakonnikiem w ciemnym klasztorze.68 Du wirst über den Hügel gehn und ich durch das Tal, Du wirst wie eine Rose blühn und ich wie ein Wasserholunder. Du wirst eine Dame sein an einem großen Hofe, und ich ein Mönch in einem dunklen Kloster.
Mit Ausnahme der dritten, sechssilbigen Zeile der Vierverse zählen alle Zeilen fünf Silben, und die geraden Zeilen reimen miteinander. Beide *Strophen offenbaren eine strenge Auswahl der benutzten grammatischen Kategorien. Jede Zeile endet auf ein Substantiv in einem marginalen *Kasus 69, *Instrumental oder *Lokativ, und sonst gibt es im Text keine Substantive. Jedes der beiden einzigen Pronomina, von denen eins in der ersten, eins in der zweiten *Person steht, kommt dreimal vor, und im Gegensatz zu den marginalen Kasus und der Endstellung der Substantive sind alle diese Pronomina im Nominativ und alle erscheinen am Zeilenanfang: ty »du« in der ersten Silbe der ungeraden Zeilen 1 – 3 – 5, ja »ich«, dem regelmäßig die *adversative Konjunktion a vorangeht, macht die zweite Silbe der Zeilen 2 – 4 – 7 aus. Die drei Verben, alle in der zweiten Person Singular des *perfektivischen Präsens mit futurischer Bedeutung, folgen unmittelbar auf das Pronomen ty [›du‹], während die entsprechenden Verbformen der ersten Person nach dem Pronomen ja [›ich‹] elliptisch weggelassen sind. Neben den acht Substantiven (sechs im Instrumental und zwei im Lokativ), den sechs Belegen der Personalpronomen im Nominativ, den drei finiten Verbformen, und der dreifach wiederholten Konjunktion a enthält der Text zwei kontextuelle Varianten der Präposition »in« (6 we, 8 w) und zwei Adjektivattribute bei den Lokativformen der Substantive. 68 Aus dem polnischen Volkslied »We˛zme˛ ja kontusz« [›Nehm’ ich den Kontusz (= altpolnischer Oberrock)‹], vgl. Gloger, Pies´ni ludu, S. 192. [Anm. v. A.N.] 69 Marginaler Kasus = *Randkasus. [Anm. v. I.M.]
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Den drei Teilsatzpaaren liegt ein *antithetischer Parallelismus 70 zugrunde: den Zeilen 1–2 und 3–4 in der ersten Strophe und den beiden Doppelversen in der zweiten Strophe. Diese drei Paare sind hinwieder durch einen engen formalen und semantischen Parallelismus miteinander verbunden. Alle drei stellen die höheren und freundlicheren Aussichten der Angeredeten den düsteren persönlichen Erwartungen des Sprechers gegenüber und verwenden zunächst den symbolischen Gegensatz von Hügel und Tal, dann den metaphorischen Kontrast zwischen Rose und Wasserholunder. In der überlieferten Bildwelt der westslawischen Folklore ist kalina [›Wasserholunder‹] (dessen Name auf gemeinslawisch kaluˇ »Schlamm« zurückgeht) angeblich mit sumpfigem Land verknüpft; vgl. die Einleitungsverse eines polnischen Volksliedes: Czego, kalino, v dole stoisz? Czy ty sie˛ letniej suszy boisz! 71 »Warum, Wasserholunder, stehst du im Tal? Fürchtest du dich vor des Sommers Dürre?« Das verwandte moravische Lied versieht dasselbe Motiv mit reichen Lautfiguren: procˇ, kalino, v struze stoji´sˇ? Snad se tuze sucha boji´sˇ? 72 »Warum, Wasserholunder, stehst du in einem Bach? Fürchtest du dich sehr vor des Sommers Trockenheit?« Die dritte Antithese weissagt der Angeredeten einen hohen Stand und dem Sprecher eine dunkle Zukunft; gleichzeitig geben die Personenbezeichnungen im Femininum und im Maskulinum das Geschlecht der beiden Figuren an. Der ständig im Gegensatz zu den unveränderlichen Nominativen ty [›du‹] und ja [›ich‹] benutzte Instrumental läßt all diese gegensätzlichen Substantive als bloße Zufälligkeiten erscheinen, die die unter einem Unstern Stehenden trennen werden bis zu ihren posthumen Gesprächen über die »getrennte Liebe« (niezla˛czona milosˇˇc), wenn sie im gemeinsamen Grab ruhen. Die drei Paare antithetischer Teilsätze mit ihren abschließenden Instrumentalen bilden zusammen einen ausgeformten dreigliedrigen Parallelismus breiter und komplexer grammatischer Konstruktionen, und vor dem Hintergrund ihrer kongruenten Bauteile hebt sich die bedeutende funktionale Verschiedenheit der drei paarigen Instrumentale ab. In dem ersten Doppelvers übernimmt der sogenannte Instrumental des Weges – go´ra˛ [›(über den) Hügel‹] und dolina˛ [›(durch das) Tal‹] – die Funktion adverbialer Beifügungen; im zweiten Doppelvers erfüllen die Instrumentale des Vergleichs – ro´za˛ [›(wie eine) Rose‹] und kalina˛ [›(wie ein) Was70 Zum antithetischen und negativen Parallelismus vgl. Jakobsons Studien »Die neueste russische Poesie« (in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 1–123, hier: 28–31) und »Grammatical Parallelism and its Russian Facet« sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 302–364. [Anm. v. A.H.-L.] 71 Gloger, Pies´ni ludu, S. 143. [Anm. v. A.N.] 72 Siehe Susˇil, Moravske´ na´rodnı´ pı´sneˇ, S. 321.
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serholunder‹] – die Aufgabe zusätzlicher Prädikate, während im zweiten Vierzeiler die Instrumentale pania˛ [›Dame‹] und zakonnikiem [›Mönch‹] in Verbindung mit der *Kopula ziesz [be˛dziesz = ›du wirst sein‹] und dem elliptisch ausgelassenen be˛de˛ [›ich werde sein‹] tatsächliche Prädikate bilden. Das Gewicht dieses Kasus nimmt stetig zu bei seinem Übergang von den beiden Ebenen des metaphorischen Pilgerpfades über einen Vergleich beider Personen mit Blumen ungleicher Vorzüge und ungleicher Höhe bis zur faktischen Stellung der beiden Helden auf zwei verschiedenen Stufen der gesellschaftlichen Stufenleiter. Doch bewahrt der Instrumental in all diesen drei verschiedenen Anwendungen sein durchgängiges semantisches Merkmal bloßer Randstellung und wird erst besonders faßbar im Kontrast zu den sich aus dem Kontext ergebenden Variationen. Das Medium, durch das sich der Träger der Handlung bewegt, wird als Instrumental des Weges bestimmt; der Instrumental des Vergleichs läßt das Vergleichbare nur für eine einzige Erscheinungsweise der Subjekte gültig sein, nämlich ihr Blühen in dem angeführten Kontext. Schließlich erstreckt sich der prädikative Instrumental auf einen einzigen, als vorübergehend angesehenen Aspekt, den das Subjekt einnimmt; er nimmt die Möglichkeit eines weiteren Wechsels, wenn auch hier post mortem, vorweg, der die getrennten Liebenden zusammenführen wird. Während das letzte Instrumentalpaar diesem Kasus jegliche adverbiale Nebenbedeutung nimmt, versehen beide Doppelverse der zweiten Strophe das zusammengesetzte Prädikat jeweils mit einer neuen adverbialen Beifügung, nämlich mit zwei eingrenzenden und statischen Aufenthaltsorten – we wielkim dworze [›an (einem) großen Hofe‹] und w ciemnym klasztorze [›in (einem) dunklen Kloster‹] – die in fühlbarem Widerspruch zu den dynamischen Instrumentalen des Weges scheinen, die im einleitenden Doppelvers angeführt werden. Die enge Verbindung zwischen den ersten beiden der drei Parallelismen wird durch die zusätzliche *Assonanz der Zeilen 1 und 3 (go´ra˛ – ro´z˙a˛) gekennzeichnet, die sich der traditionellen polnischen Form unvollständiger Reime fügt, d. h. Reimen, die stimmhafte Geräuschlaute neben Sonoren und insbesondere /z˙/ neben /r/ stellen, unter Berücksichtigung des Umstands, daß letzteres mit /z˙/ < /rˇ/ alterniert. Die beiden letzten Parallelismen beginnen und enden mit einander entsprechenden Phonemgruppen: 3 /zakv’itn’esˇ/ – 7 /zakon’ik’em/ und mit Metathese: 4 kalina˛ /kal/ – 8 klasztorze /kla/ (vgl. auch die Entsprechung zwischen 6 wielkim /lkim/ und 8 ciemnym klasztorze /imkl/). Die dem dunklen Schicksal der ersten Person gewidmeten Zeilen unterscheiden sich fühlbar von ihren erfreulichen Gegenstücken. Unter dem *Wortakzent bringen die Instrumentale in den Zeilen, die sich mit
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der Angeredeten befassen, einen hinteren Vokal (1,3 /u/, 5 /a/), zeigen aber ausschließlich /i/ in den Zeilen, die von dem augenscheinlich herabgesetzten und geschmälerten Sprecher handeln: dolina˛, kalina˛, zakonnikiem. Alle vier dem Mädchen zugeschriebenen Substantive sind zweisilbig – go´ra˛, ro´z˙a˛, pania˛, dworze – im Gegensatz zu den längeren und gewichtigeren Substantiven der autobiographischen Zeilen – dolina˛, kalina˛, zakonnikiem, klasztorze. Daher haben die Zeilen der zweiten Person eine Pause vor der Penultima, die der ersten nicht. Phonologie und Grammatik mündlicher Dichtung bezeugen ein System komplexer und ausgeprägter Entsprechungen, die erscheinen, wirken und durch die Generationen weitergegeben werden, ohne daß jemandem die Regeln bewußt würden, die dieses verwickelte Gefüge beherrschen. Das unmittelbare und spontane Erfassen von Wirkungen ohne rationales Herausarbeiten der Vorgänge, von denen sie hervorgebracht werden, ist nicht auf die mündliche Überlieferung und ihre Übermittler beschränkt. Die Intuition mag als wichtiger, nicht selten sogar einziger Gestalter dieser verwickelten phonologischen und grammatischen Strukturen in den Schriften einzelner Dichter auftreten. Solche auf der Ebene des Unbewußten besonders wirksame Strukturen können auch ohne Unterstützung durch logisches Urteil und klare Einsicht wirken – im schöpferischen Werk des Dichters ebenso wie in seinem Erfassen durch den feinfühligen Leser oder Autorenleser, wie es Eduard Sievers,73 jener kühne Erforscher der Lautgestalt der Dichtung, mit einer treffenden Wortprägung nannte. 73 Der »Autorleser« ist der naive Leser: »Er erwartet nichts von seinem Autor, er läßt sich nur durch ihn treiben«. Er reagiert »instinktiv und ohne zu wissen warum und wie«. (Sievers, Rhythmisch-Melodische Studien, Vorträge und Aufsätze, S. 82 f.) Demgegenüber ist der »Selbstleser« ein bewußter Leser, der an den Autor analysierend herantritt (a. a. O., S. 83). Die »Ohrenphilologie« Sievers hatte großen Einfluß auf die Lauttheorie des frühen Formalismus (vgl. Hansen-Löve, Der russische Formalismus, S. 105). Jakobson hat sich sowohl in seinen sprachwissenschaftlichen als auch in seinen literaturwissenschaftlichen Arbeiten wiederholt auf Sievers’ Arbeiten bezogen (vgl. »Linguistics and Poetics«, S. 38, und die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 185; »An Instance of Interconnection between the distinctive Features«, S. 60). Daß Jakobson in »Unterschwellige sprachliche Gestaltung in der Dichtung« einen Verweis auf Sievers an den Schluß stellt, ist in zweifacher Hinsicht bemerkenswert: zum einen verrückt er damit die Perspektive vom Autor auf den Leser (Rezipienten), zum anderen verlagert er den Schwerpunkt vom geschriebenen Text (dem Gebiet der Anagramme) auf die gesprochene Rede: Sievers’ Forschungen zur Melodik und Rhythmik gesprochener Sprache treten hier als Gegenpol zu de Saussures Anagramm-Studien in Erscheinung, die den zentralen Bezugspunkt von Jakobsons Text bilden. [Anm. v. A.N.]
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Editorische Notiz Geschrieben 1968 in Cambridge, Mass. und veröffentlicht in: Studies in General and Oriental Linguistics, presented to Shiroˆ Hattori (Tokyo, 1970).74 Die hier veröffentlichte erweiterte Version von »Subliminal Verbal Patterning in Poetry« erschien unter dem Titel »Unterbewußte sprachliche Gestaltung in der Dichtung« zuerst in deutscher Übersetzung in LiLi: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 1 (1971).
Literatur Jakobsons eigene Literaturangaben sind mit ° gekennzeichnet. Albarn, Keith u. a.: The Language of Pattern. An inquiry inspired by Islamic decoration, London: Thames and Hudson 1974. Baudelaire, Charles: »Neue Anmerkungen zu Edgar Poe«, in: Sämtliche Werke, Briefe in acht Bänden, Bd. 2: Vom Sozialismus zum Supranationalismus. Edgar Allan Poe 1847–1857, hg. v. Friedhelm Kemp u. Claude Pichois, München u. Wien: Hanser 1983, S. 341–362. — »Notes nouvelles sur Edgar Poe«, in: Curiosite´s esthe´tiques. L’Art romantique et autres Œuvres critiques, hg. v. Henri Lemaitre, Paris: Garnier 1962, S. 619– 639. Blake, William: The complete poetry and prose of William Blake, Newly Revised Edition, hg. v. David V. Erdman, New York u. a.: Doubleday 1988. Block, Alexander: »Die Zwölf«, Ausgewählte Werke, Bd. 1, Gedichte. Poeme, hg. v. Fritz Mierau, München: Hanser 1978, S. 234–246. Blok, Aleksandr Aleksandrovicˇ: »Dvenadcat’« [›Die Zwölf‹], in: ders.: Sobranie socˇinenij v vos’mi tomach, Bd. 3, Moskva u. Leningrad: Chudozˇestvennaja literatura 1960. ° Brik, Osip Maksimovicˇ: »Zvukovye povtory. Analiz zvukovoj struktury teksta« [›Lautwiederholungen. Analyse der Lautstruktur des Textes‹], in: Poe˙tika. Sborniki po teorii poe˙ticˇeskogo jazyka, Petrograd: Gos. Tipografija 1919, S. 58–100. Chlebnikov, Velimir Vladimirovicˇ: Neizdannye proizvedenija [›Unedierte Werke‹], hg. v. N. Chardzˇiev u. T. Gric, Moskva: Gosudarstvennoe izdatel’stvo »Chudozˇestvennaja literatura« 1940 (Reprint: Sobranie socˇinenij, Bd. 4, München: Wilhelm Fink Verlag 1971). 74 Der enge wissenschaftliche Kontakt zu dem japanischen Linguisten Shiroˆ Hattori regte Jakobson auch zur Beschäftigung mit japanischer Literatur an; vgl. seine Studie »Notes on the Contours of an Ancient Japanese Poem: The Farewell Poem of 732 by Takapasi Musimarö« (deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 365–390; zu Jakobson und Hattori vgl. die Anmerkung von Brigitte Rath, S. 366, Anm. 3). [Anm. v. A.N.]
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° — Sobranie proizvedenij [›Gesammelte Werke‹], 5 Bde., hg. v. J. Tynjanov u. N.
Stepanov, Leningrad: Izdatel’stvo pisatelej 1928–1933, (Reprint: Sobranie socˇinenij, 3 Bde., München: Wilhelm Fink Verlag 1968–1972). — Sobranie socˇinenij [›Gesammelte Werke‹], 6 Bde., hg. v. R. V. Duganov, Bd. 1–4, Moskva: Nasledie 2000–2003. — Tvorenija [›Werke‹], hg. v. M. Ja. Poljakov, V. P. Grigor’ev u. A. E. Parnis, Moskva: Sovetskij pisatel’ 1986. — Werke, hg. v. Peter Urban, 2 Bde., Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1972. Eismann, Wolfgang u. Peter Grzybek: Semiotische Studien zum Rätsel, Bochum: Studienverlag Dr. Norbert Brockmeyer 1987 (= Simple Form Reconsidered II). Erlich, Victor: Russischer Formalismus, Frankfurt /Main: Suhrkamp 1973. Gasparov, Michail Leonovicˇ: Sovremennyj russkij stich. Metrika i ritmika [›Der moderne russische Vers. Metrik und Rhythmik‹], Moskva: Nauka 1974. ° Glagolevskij, Pavel Petrovicˇ: »Sintaksis jazyka russkich poslovic« [›Die Syntax der Sprache russischer Sprichwörter‹], in: Zˇurnal Ministerstva narodnogo Prosvesˇˇcenija, cˇast’ 156 (1871), S. 1–45. Gloger, Zygmunt: Pies´ni ludu [›Volkslieder‹], Krakau: Nakładem Autora 1892 [gesammelt von Zygmunt Gloger in den Jahren 1861–1891]. Goeppert, Sebastian u. Herma C.: Sprache und Psychoanalyse, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1973. [Goethe, Johann Wolfgang von:] Goethes Briefe, Bd. II: Briefe der Jahre 1786– 1805, hg. u. komm. v. Karl Robert Mandelkow, Hamburg: Christian Wegner Verlag 1964. Greber, Erika: Textile Texte. Poetologische Metaphorik und Literaturtheorie. Studien zur Tradition des Wortflechtens und der Kombinatorik, Köln, Weimar u. Wien: Böhlau Verlag 2002 (= Pictura et poesis, Bd. 9). Hansen-Löve, Aage A.: Der russische Formalismus. Methodologische Rekonstruktion seiner Entwicklung aus dem Prinzip der Verfremdung, Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1978. — »Randbemerkungen zur frühen Poetik Roman Jakobsons«, in: Birus /Donat /Meyer-Sickendiek, S. 89–120. — »Velimir Chlebnikovs Onomatopoetik. Name und Anagramm«, in: Kryptogramm. Zur Ästhetik des Verborgenen, hg. v. Renate Lachmann u. Igor’ P. Smirnov, Wien: Gesellschaft zur Förderung slawistischer Studien 1988 (= Wiener Slawistischer Almanach, Bd. 21), S. 135–224. — »Zur psychopoetischen Typologie der Russischen Moderne«, in: Psychopoetik. Beiträge zur Tagung »Psychologie und Literatur«, hg. v. A. Hansen-Löve, Wien: Gesellschaft zur Förderung slawistischer Studien 1992 (= Wiener Slawistischer Almanach, Sonderbd. 31), S. 195–287. Holenstein, Elmar: Roman Jakobsons phänomenologischer Strukturalismus, Frankfurt /Main: Suhrkamp 1975. Ingold, Felix Philipp: Der große Bruch. Rußland im Epochenjahr. Kultur. Gesellschaft. Politik, München: Verlag C. H. Beck 2000.
Unterschwellige sprachliche Gestaltung in der Dichtung
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Roman Jakobson
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Roman Jakobson
Linguistik und Poetik 1 Übersetzung aus dem Englischen Stephan Packard 2
Kommentar Hendrik Birus Jakobsons bedeutendster Beitrag zur Literaturtheorie entstand – für ihn nicht untypisch – eher improvisiert: als eine der ›Schlußbemerkungen‹ zu einer Konferenz über »Stil in der Sprache«, die später für den Berichtsband ausformuliert und für die Werkausgabe nochmals erheblich erweitert wurde. Jakobson bestimmt hier die Poetik als integralen Teil der Linguistik, ja der Semiotik, und verortet die weit über die Dichtung hinausgehende ›Literarizität‹ 3 als Resultat einer spezifischen Überblendung der semiotischen Grundoperationen von Selektion und Kombination im Rahmen eines sechsteiligen Kommunikations- und Funktionsmodells der Sprache. Damit wurde er bahnbrechend für die strukturalistischen Literatur- und Kunsttheorien der sechziger und siebziger Jahre. 1
2
3
Vorlage: Jakobson, Roman Osipovicˇ: »Linguistics and Poetics«, in: SW III, S. 18– 51. Erweiterte Version des Erstdrucks: Jakobson, Roman Osipovicˇ: »Closing Statement: Linguistics and Poetics«, in: Style in Language, Cambridge, Mass., New York u. London: Technology Press of Massachusetts Institute of Technology u. Wilney 1960, S. 350–377. [Anm. d. Komm.] Auf der Grundlage der Übersetzungen von Heinz Blumensath u. Rolf Kloepfer in: Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven, Band II/1: Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft, I, hg. v. Jens Ihwe, Frankfurt /Main: Athenäum 1971, S. 142–178, und von Elmar Holenstein u. Tarcisius Schelbert in: Poetik, S. 83–121. [Anm. d. Übs.] Vgl. Jakobson, Novejsˇaja russkaja poe˙zija. Nabrosok pervyj: Podstupy k Chlebnikovu (1919), bes. S. 305; dt. Übs.: Die neueste russische Poesie. Erster Entwurf. Viktor Chlebnikov, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 16. [Anm. d. Komm.]
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Zugleich enthält dieser Aufsatz, ausgehend von Gerard Manley Hopkins, grundlegende Beiträge zur vergleichenden Metrik, zur Erforschung des poetischen Parallelismus sowie zur Rolle der Klangsymbolik in der poetischen Sprache, um abschließend das Thema der ›Poesie der Grammatik‹ und der ›Grammatik der Poesie‹ zu exponieren, das alle strukturalen Gedichtanalysen Jakobsons verbindet. Hendrik Birus
Glücklicherweise haben wissenschaftliche und politische Konferenzen nichts miteinander gemein. Der Erfolg einer politischen Versammlung hängt von der allgemeinen Zustimmung der Mehrheit oder der Gesamtheit aller Teilnehmer ab. Der wissenschaftlichen Diskussion hingegen ist der Einsatz von Voten und Vetos fremd, da verschiedene Meinungen hier im allgemeinen produktiver sind als Einstimmigkeit. Meinungsverschiedenheiten erschließen Antinomien und Spannungen in dem behandelten Fachgebiet und fordern uns zu neuen Forschungsreisen in dieses Gebiet auf. Nicht die politische Konferenz, sondern vielmehr die Südpolexpedition ist wissenschaftlichen Versammlungen vergleichbar: Internationale Experten aus verschiedenen Disziplinen bemühen sich gemeinsam, eine unbekannte Region zu kartographieren und die größten Hindernisse für Expeditionen ausfindig zu machen, die unüberwindbaren Höhen zu markieren. Die Erstellung einer solchen Karte war wohl das wesentliche Anliegen bei unserer Konferenz, und unter diesem Blickwinkel war die Arbeit recht erfolgreich. Wir haben doch feststellen können, welche Probleme am wichtigsten und am meisten umstritten sind? Und wir haben doch auch gelernt, wie wir unsere Codes einsetzen müssen, welche Termini wir erläutern oder ganz vermeiden müssen, um Mißverständnisse mit jenen Leuten möglichst auszuschließen, die den Jargon einer anderen Fachabteilung gewohnt sind? Ich meine, derartige Fragen sind den meisten Teilnehmern an dieser Konferenz, wenn auch nicht allen, heute etwas klarer, als sie es noch vor drei Tagen waren. Ich bin gebeten worden, einige zusammenfassende Bemerkungen über die Poetik in ihrer Beziehung zur Linguistik zu machen. Die Poetik verhandelt vornehmlich die Frage: Was macht eine sprachliche Botschaft [verbal message] zum Kunstwerk? Weil das Hauptgebiet der Poetik in dieser differentia specifica liegt, durch die sich die Wortkunst [verbal art] gegenüber anderen Künsten und gegenüber anderen Formen sprachlichen Verhaltens auszeichnet, gebührt der Poetik die Führungsrolle in der Literaturwissenschaft.
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Die Poetik verhandelt Fragen der sprachlichen *Struktur, gerade so wie die Analyse eines Gemäldes sich mit der piktorialen Struktur beschäftigt. Da die Linguistik die umfassende Wissenschaft von den sprachlichen Strukturen ist, können wir die Poetik insgesamt als einen Teil der Linguistik betrachten. Die Argumente gegen einen solchen Anspruch sind sorgfältig zu prüfen. Es ist offensichtlich, daß viele der Verfahren, die die Poetik untersucht, nicht auf die Wortkunst beschränkt sind. Wir könnten darauf hinweisen, daß man aus Wuthering Heights 4 einen Spielfilm, aus mittelalterlichen Legenden Freskos und Miniaturen, aus L’apre`s-midi d’un faune 5 ein Musikstück, ein Ballett oder ein graphisches Kunstwerk machen kann. So lächerlich wir den Gedanken an die Ilias oder Odyssee als Comic auch finden mögen, bleiben doch bestimmte Struktureigenschaften des Plots über das Verschwinden der sprachlichen Gestalt hinaus erhalten. Die Frage, ob W. B. Yeats recht tat, als er William Blake als »den einen perfekt geeigneten Illustrator für das Inferno und Purgatorio« 6 bestätigte, ist ein Beweis für die Vergleichbarkeit der verschiedenen Künste. Aspekte des Barock oder eines beliebigen anderen historischen Stils sind nicht auf den Rahmen einer einzelnen Kunst beschränkt. Wenn wir uns mit der *Metapher im Surrealismus beschäftigen, können wir die Bilder von Max Ernst und Luis Bun˜uels Filme Der andalusische Hund und Das goldene Zeitalter 7 kaum außer acht lassen. Kurz, viele poetische Merkmale gehören nicht nur in die Wissenschaft von der Sprache, sondern in die Theorie von den Zeichen überhaupt, das heißt also in die Allgemeine Semiotik. Aber dieselbe Behauptung gilt nicht nur für die Wortkunst, sondern für alle Spielarten der Sprache, da die Sprache viele Merkmale mit bestimmten anderen Zeichensystemen oder sogar mit allen (pansemiotische Merkmale) gemein hat.8 4 5
6 7 8
›Sturmhöhe‹: Roman von Emily Bronte¨ (1847). [Anm. d. Komm.] ›Der Nachmittag eines Fauns‹: Ekloge von Ste´phane Mallarme´, in der Erstausgabe (1876) mit zwei Holzschnitten von Edouard Manet; diente als Anregung für Claude Debussys gleichnamiges symphonisches »Pre´lude« (1894), getanzt von Nijinsky in den »Ballets russes« in Paris (1911). [Anm. d. Komm.] Yeats, »William Blake and his Illustrations to the Divine Comedy« (1879), S. 144. – Dt. Übs.: »William Blake und seine Illustrationen zur ›Göttlichen Komödie‹«, S. 138. [Anm. d. Komm.] Un chien andalou (1929) und L’Aˆge d’Or (1930), Filme Luis Bun˜uels, unter Mitwirkung von Salvador Dalı´. [Anm. d. Komm.] Vgl. hierzu Jakobsons Aufsätze »Linguistics in Relation to Other Sciences« (1967), dt. Übs.: »Die Linguistik und ihr Verhältnis zu anderen Wissenschaften«; »Language in Relation to Other Communication Systems« (1968); u. »A Glance at the
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Ebenso enthält noch ein zweiter Einwand nichts, das spezifisch gerade auf die Literatur zuträfe: Die Frage nach den Beziehungen zwischen *Wort und Welt betrifft nicht nur die Wortkunst, sondern eigentlich alle Arten von Diskurs.9 Die Linguistik wird wohl alle denkbaren Probleme der Beziehung zwischen dem Diskurs und dem »Diskursuniversum« 10 erforschen: was in diesem Universum in einem gegebenen Diskurs zu Sprache wird und wie es zu Sprache wird. Aber die Wahrheitswerte,11 sofern sie – wie die Logiker sagen – außersprachliche Einheiten sind, überschreiten offenbar die Grenzen der Poetik und die der Linguistik überhaupt. Manchmal hören wir, die Poetik beschäftige sich im Gegensatz zur Linguistik mit Bewertungen. Diese Trennung der beiden Gebiete basiert auf einem zur Zeit üblichen, aber fehlerhaften Verständnis des Unterschieds zwischen der Struktur von Dichtung und anderen Arten von sprachlichen Strukturen: Die letzteren stünden demnach wegen ihrer ›beiläufigen‹, ungeplanten Natur im Gegensatz zum ›nicht beiläufigen‹, absichtsvollen Charakter der poetischen Sprache. Tatsächlich aber ist jeDevelopment of Semiotics« (1975), dt. Übs.: »Ein Blick auf die Entwicklung der Semiotik«. [Anm. d. Komm.] 9 Daß Jakobsons Diskurs-Begriff kaum etwas mit dem Foucaultschen gemein hat, zeigt seine Kritik an der damals gängigen Begrenzung der Linguistik auf den Satz als komplexesten Untersuchungsgegenstand: »Superior wholes, namely utterances, which may embrace a higher integer of sentences, and the discourse, which normally is an exchange of utterances, remained outside the scope of linguistic analysis.« (»Parts and Wholes in Language« [1963], S. 280.) / »Übergeordnete Ganze, nämlich Äußerungen, die eine größere Zahl von Sätzen umfassen können, und die Rede (discourse), die im allgemeinen ein Austausch von Äußerungen ist, blieben außerhalb des Gesichtskreises der linguistischen Analyse.« (»Teil und Ganzes in der Sprache«, S. 38.) [Anm. d. Komm.] 10 In seinem Aufsatz »Metalanguage as a Linguistic Problem« (1956) betont Jakobson »the linguistic relevance of the notion Universe of Discourse, introduced by A. De Morgan and applied by Peirce: ›At one time it may be the physical universe, at another it may be the imaginary »world« of some play or novel, at another a range of possibilities.‹ Whether directly referred to or merely implied in an exchange of messages between interlocutors, this notion remains the relevant one for a linguistic approach to semantics.« (S. 120.) Vgl. De Morgan, Formal Logic: or, The Calculus of Inference, Necessity and Probable, S. 37–41 u. 55; Peirce, Collected Papers, Bd. 2, S. 326 f. (2.536); sowie Quine, Methods of Logic, S. 89 u. 95 f. – in der deutschen Übersetzung (Quine, Grundzüge der Logik, S. 127 u. 135) wird universe of discourse mit »Bereich der Rede« bzw. »Individuenbereich« wiedergegeben. [Anm. d. Komm.] 11 Dies ist ein Schlüsselbegriff in Freges Aufsatz »Funktion und Begriff«, bes. ab S. 26; vgl. Quine, Methods of Logic, S. 8 / dt. Übs., S. 33 (§ 2). [Anm. d. Komm.]
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des sprachliche Verhalten zielgerichtet, nur die Absichten sind jeweils verschieden; und die Übereinstimmung der verwendeten Mittel mit dem beabsichtigten Effekt ist ein Problem, das die Forscher, die die verschiedenen Arten sprachlicher Kommunikation untersuchen, immerzu beschäftigt.12 Es besteht eine enge Korrespondenz, viel enger als die meisten Kritiker glauben, zwischen der Frage nach der räumlichen und zeitlichen Ausdehnung linguistischer Phänomene und der Verbreitung von literarischen Modellen in Zeit und Raum. Sogar noch jene diskontinuierliche Verbreitung, die stattfindet, wenn unbeachtete oder vergessene Dichter wiederbelebt werden – zum Beispiel Emily Dickinson (gest. 1886) und Gerard Manley Hopkins (gest. 1889), die nach ihrem Tode entdeckt und schließlich in den Kanon aufgenommen wurden, Lautre´amont (gest. 1870), der erst verspätet unter den surrealistischen Dichtern zu Ruhm gelangte, und Cyprian Norwid (gest. 1883), der die moderne Dichtung Polens wesentlich beeinflußte, zuvor aber ignoriert wurde –, findet ihre Parallele in der geschichtlichen Entwicklung von Standardsprachen, in denen ältere, manchmal längst vergessene Modelle bisweilen neues Leben erhalten. So verhielt es sich etwa mit dem literarischen Tschechisch, das gegen Anfang des neunzehnten Jahrhunderts eine Tendenz zu Modellen aus dem sechzehnten Jahrhundert zeigte. Unglücklicherweise führt die terminologische Verwechselbarkeit von ›literary studies‹ [›Literaturwissenschaft‹] und ›criticism‹ [›Literaturkritik‹; auch: ›Literaturwissenschaft‹] den Literaturforscher in Versuchung, die Beschreibung der intrinsischen Werte, die einem literarischen Werk innewohnen, durch ein subjektives, zensierendes Urteil zu ersetzen. Einen Forscher im Gebiet der Literatur als ›literary critic‹ [›Literaturkritiker‹] zu etikettieren ist ebensowenig richtig, wie einen Linguisten als einen ›grammatical (or lexical) critic‹ [›Grammatik- (oder Lexik-)Kritiker‹] zu bezeichnen. Syntaktische und morphologische Forschung läßt sich nicht durch eine normative Grammatik ersetzen, und ebensowenig vermag irgendein Manifest, das der schöpferischen Literatur den persönlichen 12 Entsprechend heißt es schon in der von Jakobson verfaßten 1. These des ›Prager Linguistik-Kreises‹ für den Ersten Slavistenkongreß 1929: »Produit de l’activite´ humaine, la langue partage avec cette activite´ le caracte`re de finalite´. […] Aussi doiton, dans l’analyse linguistique prendre e´gard au point de vue de la fonction. De ce point de vue, la langue est un syste`me de moyens d’expression approprie´s a` un but.« (›Als Produkt der menschlichen Tätigkeit teilt die Sprache mit dieser Tätigkeit den Charakter der Zielgerichtetheit. […] In der linguistischen Analyse muß man so auch den Gesichtspunkt der Funktion berücksichtigen. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Sprache ein System von Ausdrucksmitteln, das einem Zweck angemessen ist.‹) (Travaux du Cercle Linguistique de Prague 1, S. 7.) [Anm. d. Komm.]
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Geschmack und die Ansicht eines Kritikers auflädt, die Stelle einer objektiven, wissenschaftlichen Analyse von Wortkunst einzunehmen. Diesen Standpunkt sollte man nicht mit dem quietistischen Prinzip des laissez faire verwechseln; jede sprachliche Kultur schließt auch programmatische, planende, normative Unternehmungen ein. Doch warum macht man einen klaren Unterschied zwischen reiner und angewandter Linguistik oder zwischen Phonetik und Orthoepie,13 nicht aber zwischen Literaturwissenschaft und -kritik? Die Literaturwissenschaft, und die Poetik als ihr Schwerpunkt, besteht wie die Linguistik aus zwei Mengen von Problemen: solchen der Synchronie und solchen der Diachronie.14 Eine synchronische Beschreibung führt nicht nur die Literaturproduktion einer bestimmten gegebenen Stufe vor Augen, sondern auch jene Teile der literarischen Tradition, die für die fragliche Stufe lebendig geblieben oder wieder lebendig geworden sind.15 So sind zum Beispiel einerseits Shakespeare und andererseits Donne, Marvell, Keats und Emily Dickinson in der heutigen englischsprachigen Dichtungswelt erfahrbar, während die Werke von James Thomson und Longfellow gegenwärtig nicht zu den lebendigen künstlerischen Werten zählen. Die Selektion der Klassiker und ihre Neuinterpretation durch eine neue Strömung ist ein wesentliches Problem der synchronischen Literaturwissenschaft. Synchronische Poetik, wie auch synchronische Linguistik, darf nicht mit einer statischen Betrachtungsweise verwechselt werden; 16 jede Stufe unterscheidet konservativere und 13 »Lehre von der korrekten, als Norm geltenden Aussprache« (griech.) (Bußmann [Hg.], Lexikon der Sprachwissenschaft, S. 488.) [Anm. d. Komm.] 14 Zu dieser Opposition vgl. Teil 2 u. 3 von Ferdinand de Saussures Cours de linguistique ge´ne´rale; dt. Übs.: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Vgl. dagegen bereits die 4. These von Jurij Tynjanovs und Jakobsons »Problemen der Literatur- und Sprachforschung« (1928): »Die Gegenüberstellung von Synchronie und Diachronie war eine Gegenüberstellung von Systembegriff und Evolutionsbegriff. Sie verliert ihr prinzipielles Gewicht, sofern wir anerkennen, daß jedes System notwendig als Evolution vorliegt und andererseits die Evolution zwangsläufig Systemcharakter besitzt.« (Engl. Übs., S. 4; dt. Übs., S. 64.) Ebenso protestiert Jakobson am Schluß seiner »Prinzipien der historischen Phonologie« (1930) gegen »die schädliche Illusion einer Kluft zwischen den Problemen der Synchronie und der Diachronie« (S. 267; entsprechend SW I, S. 220). [Anm. d. Komm.] 15 So heißt es schon in der 5. These von Tynjanovs und Jakobsons »Problemen der Literatur- und Sprachforschung«: »Der Begriff des literarischen synchronischen Systems stimmt nicht mit der naiven Vorstellung von der chronologischen Epoche überein, da er nicht nur chronologisch zusammengehörige, sondern auch Kunstwerke aus anderssprachigen Literaturen und älteren Epochen in seinen Systemkreis einbezieht.« (SW III, S. 4; Poetik, S. 64.) [Anm. d. Komm.]
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innovativere Formen. Jede zeitgenössische Stufe wird in ihrer temporalen Dynamik erfahren, und umgekehrt beschäftigt sich der historische Ansatz in Poetik und Linguistik nicht nur mit den Veränderungen, sondern auch mit kontinuierlichen, anhaltenden, statischen Faktoren. Eine gründliche und umfassende historische Poetik oder Sprachgeschichte ist eine Superstruktur, die aus einer Reihe sukzessiver synchronischer Beschreibungen zu errichten ist. Es scheint nur dann gerechtfertigt, Poetik und Linguistik scharf zu trennen, wenn das Feld der Linguistik in unangemessener Weise eingeschränkt wird, etwa wenn einige Linguisten den Satz als die größte analysierbare Konstruktion betrachten 17 oder wenn das Feld der Linguistik allein auf die Grammatik oder ausschließlich auf nichtsemantische Fragen der äußeren Form oder auf eine bloße Bestandsaufnahme denotierender Verfahren ohne Erwähnung ihrer freien Variationen 18 eingeschränkt wird. Voegelin hat klar auf jene beiden Aufgaben hingewiesen, die in der strukturalen Linguistik am wichtigsten sind und die auch miteinander in Verbindung stehen: nämlich die Revision »der monolithischen Hypothese von der Sprache« und die Beschäftigung mit »der gegenseitigen Abhängigkeit verschiedener Strukturen in einer Sprache«.19 Zweifellos hat jede Sprachgemeinschaft, jeder Sprecher, eine einheitliche Sprache, aber dieser übergeordnete *Code stellt ein System untereinander verknüpfter Subcodes dar; jede Sprache umfaßt mehrere gleichzeitig wirksame Muster, von denen ein jedes durch andere Funktionen gekennzeichnet ist. 16 Eben diese Gleichsetzung von »synchronisch« und »statisch« stammt von Saussure; vgl. Cours de linguistique ge´ne´rale, T. 1, Kap. 3. Dagegen heißt es schon in Jakobsons »Prinzipien der historischen Phonologie«: »Die Veränderung kann im selben Grade wie die unveränderlichen Sprachelemente zum Gegenstand der synchronistischen Forschung werden. Es wäre der größte Fehler, die Statik und die Synchronie als Synonyme zu betrachten. Der statische Schnitt ist eine Fiktion […]« (S. 264; entsprechend »Principes de phonologie historique«, S. 218). [Anm. d. Komm.] 17 S. o. Anm. 9. [Anm. d. Komm.] 18 Vgl. die Unterscheidung von »invariant oppositions« und »variants dependent on different contexts or on different subcodes (styles of language)« in Jakobsons Aufsatz »Implications of Language Universals« (1961; S. 587). Als »freie (auch: fakultative) Varianten« bezeichnet man seit Trubetzkoy die »Varianten eines Phonems, die ohne Bedeutungsveränderung für einander substituiert werden, d. h. frei vorkommen können« (Bußmann, Lexikon der Sprachwissenschaft, 2. Aufl., S. 237); ›freie Varianten‹ gibt es allerdings auch in der Morphologie. [Anm. d. Komm.] 19 Voegelin, »Casual and Noncasual Utterances within Unified Structures«, S. 59. [Anm. v. R.J.] – Entsprechend betont Jakobson in »Linguistics and Communication Theory« (1961): »Language is never monolithic; its overall code includes a set of subcodes […]« (S. 574). [Anm. d. Komm.]
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Selbstverständlich müssen wir Sapir zustimmen, wenn er sagt, daß im großen und ganzen »Ideation 20 die Sprache regiert 〈…〉«,21 aber dieses Regiment ermächtigt die Linguistik nicht, die »sekundären Faktoren« außer acht zu lassen. Die *emotiven Elemente der Rede, die, wie Joos glauben will, nicht »in einer endlichen Anzahl absoluter Kategorien« gefaßt werden können, werden bei ihm als »nicht-linguistische Elemente der wirklichen Welt« klassifiziert. Deshalb blieben diese Elemente für uns »vage, proteische, fluktuierende Phänomene, die wir«, so schließt er, »nicht bereit sind, in unserer Wissenschaft zu tolerieren«.22 Joos ist wirklich ein brillanter Experte in Reduktionsexperimenten, und seine nachdrückliche Forderung nach der »Austreibung« der emotiven Elemente »aus der linguistischen Wissenschaft« ist ein radikales Experiment in Sachen Reduktion – eine reductio ad absurdum. Man muß die Sprache in der ganzen Vielfalt ihrer Funktionen untersuchen. Bevor wir über die poetische Funktion reden, müssen wir ihren Platz unter den anderen Funktionen der Sprache definieren. Um diese Funktionen zu skizzieren, benötigen wir eine genaue Übersicht der Faktoren, die für jedes Redeereignis, für jeden Akt sprachlicher Kommunikation konstitutiv sind. Der *Adressant richtet eine Botschaft an den Adressaten. Um zu wirken, benötigt die Botschaft einen Kontext, 23 auf den sie sich bezieht (in einer anderen, etwas ambigen Nomenklatur: der ›Referent‹), dieser muß für den Adressaten verständlich und entweder selbst sprachlicher Natur oder in Sprache übersetzbar sein; weiterhin wird ein Code benötigt, der ganz oder wenigstens teilweise dem Adressanten und dem Adressaten (oder in anderen Worten, dem Codierer und dem Decodierer dieser Botschaft) gemein sein muß; und schließlich braucht es einen Kontakt, den physischen Kanal und die psychologische Verbin20 21 22 23
›Begriffsbildung‹. [Anm. d. Komm.] Sapir, Language. An Introduction to the Study of Speech, S. 40. Joos, »Description of Language Design«, S. 701–708. »Als umfassender Begriff der Kommunikationstheorie bezeichnet K[ontext] alle Elemente einer Kommunikationssituation, die systematisch die Produktion und das Verständnis einer Äußerung bestimmen. Man kann drei elementare K.-Typen unterscheiden: (a) den allgemeinen K. der Sprechsituation, z. B. Ort, Zeit, Handlungszusammenhang der Äußerung; (b) den persönlichen und sozialen K. der Beziehung zwischen Sprecher und Hörer, ihren Einstellungen, ihren Interessen und ihrem Wissen bzw. ihren wechselseitigen Wissensannahmen, sowie (c) den sprachlichen K., der (begleitet vom non-verbalen mimisch-gestischen K.) die Ausdrücke grammatisch und semantisch verknüpft und gleichzeitig durch *Deixis oder pragmatische Indikatoren wie Modalpartikel in den situativen K. einbettet […].« (Bußmann [Hg.], Lexikon der Sprachwissenschaft, S. 374.) [Anm. d. Komm.]
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dung von Adressant und Adressat, der es beiden ermöglicht, die Kommunikation aufzunehmen und aufrecht zu erhalten. Die Gesamtheit dieser Faktoren, die unveräußerlich in jeder sprachlichen Kommunikation eine Rolle spielen, kann in folgendem Schema dargestellt werden: Adressant
Kontext Botschaft
Adressat
.........................................................
Kontakt Code
Jeder dieser sechs Faktoren bestimmt eine andere Funktion der Sprache. Obwohl wir diese sechs grundlegenden Aspekte der Sprache voneinander unterscheiden, könnten wir schwerlich eine sprachliche Botschaft finden, die nur eine dieser Funktionen erfüllte. Die Vielfalt liegt nicht in einem Monopol irgendeiner dieser Anzahl von Funktionen, sondern in ihrer je verschiedenen Hierarchie. Die sprachliche Struktur einer Botschaft hängt primär von der jeweils dominierenden Funktion ab. Aber auch wenn eine *Einstellung 24 auf den Referenten, eine Orientierung am Kontext – kurzum, die sogenannte referentielle, ›denotative‹, ›kognitive‹ Funktion – die vornehmliche Aufgabe zahlreicher Botschaften ist, muß der aufmerksame linguistische Beobachter auch auf den noch hinzukommenden Anteil der anderen Funktionen an solchen Botschaften achten. Die sogenannte emotive oder ›expressive‹ Funktion 25 ist auf den Adressanten zentriert und zielt auf einen direkten Ausdruck der Haltung des Sprechers zu dem Sachverhalt, über den er sich äußert. Diese Funktion ruft meist den Eindruck einer bestimmten Emotion hervor, ob sie nun tatsächlich vorliegt oder vorgetäuscht wird; deshalb hat sich der Terminus ›emotiv‹, den Marty 26 erstmals vertreten hat, der Bezeichnung ›emotional‹ 24 Im Original in Klammern deutsch, als Synonym zu »set«. Zum Begriff der »Einstellung« vgl. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Bd. 1, bes. »Einleitung« (S. 1–3) u. §§ 27–32, 50 f., 53 u. 62. Zur Schlüsselrolle des Begriffs der ustanovka (›Einstellung, Ausrichtung‹) in der frühen formalistischen Literaturtheorie vgl. Hansen-Löve, Der russische Formalismus, bes. S. 80, 111 u. 212–215. [Anm. d. Komm.] 25 Während es in Jakobsons und Morris Halles grundlegendem Aufsatz »Phonology and Phonetics« (1956) heißt: »Expressive features (or emphatics) […] suggest the emotional attitudes of the utterer« (S. 469), wird in Georg Friedrich Meiers Übersetzung (1960) »emphatisch auf Wunsch der Übersetzer emotiv übersetzt«: »Die expressiven (oder emotiven) Merkmale […] deuten die emotionelle Einstellung des Sprechers an« (Aufsätze zur Linguistik und Poetik, S. 60 u. 100). [Anm. d. Komm.] 26 Marty, Untersuchungen zur Grundlegung der allgemeinen Grammatik und Sprachphilosophie, Bd. 1, S. 363 f.
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als überlegen erwiesen. Die rein emotive Schicht innerhalb der Sprache stellen die Interjektionen dar. Sie unterscheiden sich von den Mitteln der referentiellen Sprache sowohl durch ihr Lautmuster (eigenartige Lautfolgen, bisweilen sogar Laute, die sonst ungewöhnlich wären), als auch durch ihre syntaktische Rolle (es sind nicht Komponenten von, sondern Äquivalente zu Sätzen). »Tut! Tut! sagte McGinty« 27: die vollständige Äußerung, die Conan Doyles Figur hier tut, besteht aus zwei Schnalzlauten. Die emotive Funktion, die in den Interjektionen offengelegt wird, färbt bis zu einem gewissen Grad alle Äußerungen auf der lautlichen, der grammatischen und der lexikalischen Ebene. Wenn wir die Sprache nach dem Gesichtspunkt der transportierten Informationen analysieren, können wir den Begriff der Information nicht auf den kognitiven Aspekt der Sprache beschränken. Wer mit expressiven Sprachmerkmalen seine zornige oder ironische Stimmung ausdrückt, vermittelt sichtlich Informationen, und ein solches Sprachverhalten kann selbstverständlich nicht mit derartig nichtsemiotischen, nahrhaften Handlungen gleichgesetzt werden wie dem ›Essen einer Grapefruit‹ (trotz der Kühnheit von Chatmans Vergleich 28 ). Der Unterschied zwischen [bIg] und dem betonten gelängten Vokal in [bI:g] ist ein konventionelles, im Code enthaltenes linguistisches Merkmal ganz wie der Unterschied zwischen kurzen und langen Vokalen in Paaren von tschechischen Wörtern wie [vi] ›du‹ und [vi:] ›er weiß‹, nur daß beim letzteren Paar die differenzierende Information phonematisch ist, während sie im ersten Fall emotiv ist.29 Wenn wir uns für die Invarianz von *Phonemen interessieren, erscheinen im Englischen /i/ und /i:/ als bloße Varianten ein und desselben Phonems; aber wenn wir auf emotive Einheiten sehen, ist das Verhältnis zwischen Invarianten und Varianten umgekehrt: Länge und Kürze sind die Invarianten, die in verschiedenen Phonemen realisiert werden können. Saportas Vermutung, wonach diese emotiven Unterschiede ein nichtlinguistisches Merkmal seien, »das der Umsetzung der Botschaft und nicht der Botschaft selbst angehört«,30 beschränkt willkürlich das Informationspotential der Botschaft. 27 Doyle, The Valley of Fear, S. 974. Das wiederholte Zungenschnalzen dient als Ausdruck für die Verwunderung und intellektuelle Anspannung der Figur. [Anm. d. Komm.] 28 Wo? In seinem »Comment« auf S. 426 von Style in Language spricht Chatman nur von »nonlinguistic signs« und gebraucht auch nicht den zitierten ›kühnen Vergleich‹. [Anm. d. Komm.] 29 »Die Ausdrucksfähigkeit der emotionellen Rede wird durch breite Ausbeutung der in der gegebenen Sprache vorhandenen außerphonologischen lautlichen Unterschiede erworben« (Jakobson, »Prinzipien der historischen Phonologie«, S. 266; entsprechend: Jakobson, »Principes de phonologie historiques«, S. 219). [Anm. d. Komm.] 30 Saporta, »The Application of Linguistics to the Study of Poetic Language«, S. 88.
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Ein früherer Schauspieler an Stanislavskijs Moskauer Theater erzählte mir, wie ihn der berühmte Regisseur für sein Vorsprechen aufgefordert habe, vierzig verschiedene Botschaften aus der Phrase Segodnja vecˇerom [›heute abend‹] zu machen, indem er den Tonfall expressiv variierte. Er machte sich eine Liste von etwa vierzig emotionalen Situationen und wiederholte dann die vorgegebene Phrase passend zu jeder dieser Situationen, die das Publikum einzig an der veränderten Klanggestalt derselben zwei Wörter erkennen mußte. Für unsere Forschungsarbeit zur Beschreibung und Analyse des zeitgenössischen Standardrussisch (unter der Schirmherrschaft der Rockefeller Foundation) wurde dieser Schauspieler gebeten, Stanislavskijs Prüfung noch einmal zu wiederholen. Er notierte etwa fünfzig Situationen, in deren Rahmen derselbe elliptische Satz vorkam, und machte daraus fünfzig entsprechende Botschaften für eine Tonbandaufnahme. Die meisten Botschaften wurden von Moskauer Zuhörern richtig in Bezug auf ihre Umstände hin decodiert. Lassen Sie mich hinzufügen, daß sich solche emotiven Hinweise in recht einfachen linguistischen Analysen erschließen lassen. Die Orientierung am Adressaten, die *konative Funktion, findet ihren reinsten grammatischen Ausdruck im Vokativ und im Imperativ, die syntaktisch, morphologisch, und oft sogar in ihren Phonemen von den anderen Nominal- und Verbalkategorien abweichen. Sätze im Imperativ unterscheiden sich wesentlich von Aussagesätzen: Die letzteren unterliegen einem Wahrheitstest, die ersteren nicht. Wenn Nano in O’Neills Drama The Fountain (»in heftigem Befehlston«) sagt: »Trink!« 31 – dann kann der Imperativ nicht mit der Frage: »Ist das wahr oder falsch?« konfrontiert werden, was freilich vollkommen passen würde nach Sätzen wie »jemand trank«, »jemand wird trinken«, »jemand will trinken«. Im Gegensatz zu den Imperativsätzen lassen sich die Aussagesätze in Interrogativsätze überführen: »trank jemand?«, »wird jemand trinken?«, »will jemand trinken?«. Im herkömmlichen Modell der Sprache, wie es besonders Bühler 32 ausgeführt hat, gab es nur diese drei Funktionen – emotiv, konativ, und referentiell 33 – und die drei Aufhängepunkte dieses Modells – die erste *Person als der Adressant, die zweite Person als der Adressat, und die 31 O’Neill, The Fountain. A Play in Eleven Scenes, S. 221. [Anm. d. Komm.] 32 Bühler, »Die Axiomatik der Sprachwissenschaften«. [Anm. v. R.J.] – Vgl. ferner Bühler, Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, S. 24–33. [Anm. d. Komm.] 33 Bei Bühler heißen diese Funktionen: Ausdruck (ursprünglich: Kundgabe) – Appell – Darstellung (vgl. Sprachtheorie, S. 28). [Anm. d. Komm.]
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›dritte Person‹, genauer: jemand oder etwas, von dem die Rede ist. Einige weitere sprachliche Funktionen können leicht aus diesem dreiteiligen Modell gewonnen werden. So ist die magische, beschwörende Funktion in erster Linie eine Art von Verwandlung, bei der eine abwesende oder unbelebte ›dritte Person‹ in den Adressaten einer konativen Botschaft verwandelt wird. »Möge dieses Gerstenkorn eintrocknen, pfui, pfui, pfui, pfui [tfu, tfu, tfu, tfu]« (litauischer Zauberspruch).34 »Wasser, Königin Fluß, Tagesanbruch! Sendet Gram durch die blaue See, auf den Seegrund, wie ein grauer Stein, der nimmer vom Seegrund aufsteigt, soll Gram nimmer kommen, das leichte Herz von Gottes Diener zu beschweren, soll Gram weggenommen sein und fortsinken«. (So eine nordrussische Beschwörung.35 ) »Sonne, stehe still zu Gibeon, und Mond, im Tal Ajalon! da stand die Sonne still, und der Mond verharrte 〈…〉« (Jos. 10,12). Wir sehen aber noch drei weitere konstitutive Faktoren für die sprachliche Kommunikation und entsprechend noch drei Funktionen der Sprache. Es gibt Botschaften, die vor allem dazu dienen, die Kommunikation herzustellen, aufrechtzuerhalten oder abzubrechen, die Funktionstüchtigkeit des Kanals zu überprüfen (»Hallo, hören Sie mich?«), die Aufmerksamkeit des Gesprächspartners zu erregen oder seine fortgesetzte Aufmerksamkeit zu bestätigen (»Hören Sie zu?«, oder in shakespearescher Diktion: »Lend me your ears!« 36 [›Leiht mir euer Ohr!‹] – und am anderen Ende der Leitung: »M-hm!«). Diese Einstellung auf den Kontakt, oder in Malinowskis Terminologie die phatische Funktion,37 kann sich in einem reichen Austausch von ritualisierten Formeln zeigen, durch ganze Dialoge, die keinen anderen Zweck haben, als die Kommunikation fortzusetzen. Dorothy Parker hat einige vielsagende Beispiele aufgeschrieben: »›Also!‹ sagte der junge Mann. ›Also!‹ sagte sie. ›Also, da sind wir jetzt‹, sagte er. ›Da sind wir‹, sagte sie, ›nicht wahr?‹ ›Und ob, da sind wir‹, sagte er, ›Jupp! Da sind wir.‹ ›Also!‹ sagte sie. ›Also!‹, sagte er, ›also.‹« 38 Das Bemühen, Kommunikation zu beginnen und aufrechtzuerhalten, ist typisch für sprechende Vögel; 39 so daß die phatische Funktion der Sprache die einzige ist, 34 Mansikka, Litauische Zaubersprüche, S. 69. [Anm. v. R.J.]. – Kursivierung von Roman Jakobson. Übrigens lautet der pragmatische Kontext: »(In die Augen spukkend.)« (Ebd.) [Anm. d. Komm.] 35 Rybnikov, Pesni, Bd. 3, S. 217 f. 36 Shakespeare, Julius Caesar III, ii, 79. [Anm. d. Komm.] 37 Malinowski, »The Problem of Meaning in Primitive Languages«. 38 Parker, »Here We Are«, S. 52. [Anm. d. Komm.] 39 Vgl. Jakobsons entsprechende Bemerkungen zu Poes The Raven in »Language in Operation«, S. 8 f., dt. Übs. in diesem Band S. 241. [Anm. d. Komm.]
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die sie mit den Menschen teilen. Es ist auch die erste sprachliche Funktion, die Säuglinge erlernen, weil sie kommunizieren wollen, bevor sie in der Lage sind, informative Botschaften zu senden oder zu empfangen.40 Man hat in der modernen Logik zwei Ebenen der Sprache unterschieden: Die ›Objektsprache‹, die von Gegenständen redet, und die ›Metasprache‹, die von Sprache redet.41 Aber die Metasprache ist nicht nur ein notwendiges Werkzeug, das Logiker und Linguisten brauchen; sie spielt auch in der Alltagssprache eine wichtige Rolle. Wie Molie`res Monsieur Jourdain, der Prosa verwendete, ohne davon zu wissen,42 gebrauchen wir alle Metasprache, ohne uns des *metasprachlichen Charakters unseres Vorgehens bewußt zu sein. Wann immer der Adressant und /oder der Adressat nachprüfen muß, ob beide denselben Code verwenden, wird die Rede auf den Code zentriert: Sie erfüllt dann eine metasprachliche (d. h. glossierende) Funktion. »Ich kann dir nicht folgen – was meinst Du damit?« fragt der Adressat, oder in shakespearescher Diktion: »What is’t thou say’st?« [»Was sprichst du da?«].43 Und der Adressant nimmt solche Rückfragen schon voraus: »Weißt du, was ich meine?« Stellen Sie sich so einen ermüdenden Dialog vor: »Den Sophomore hat’s rausgehauen.« »Was heißt denn rausgehauen?« »Rausgehauen heißt soviel wie durchgefallen.« »Und durchgefallen?« »Durchfallen heißt eine Prüfung nicht bestehen.« »Und was heißt Sophomore?« fragt der Fragepartner weiter, dem der Wortschatz der Studenten fehlt. »Ein Sophomore ist (oder heißt soviel wie) ein Student im zweiten Semester.« Alle diese identifizierenden Sätze vermitteln Informationen, die von nichts als vom lexikalischen Code der gewählten Sprache handeln; ihre Funktion ist streng metasprachlich. Jeder Spracherwerb, insbesondere der Erwerb der Muttersprache beim Kleinkind,44 gebraucht solche metasprachlichen Verfahren in vielfacher Weise; und Aphasie läßt sich häufig definieren als der Verlust einer Befähigung für metasprachliche Funktionen.45 40 Vgl. Jakobson, »Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze«, S. 338. [Anm. d. Komm.] 41 Der Terminus wird eingeführt bei Tarski, Poje˛cie prawdy w je˛zykach nauk dedukcyjnych, u. in: ders., »Der Wahrheitsbegriff in den formalisierten Sprachen«. [Anm. v. R.J.] – Der folgende Abschnitt ist weiter ausgeführt in Jakobsons Vortrag »Metalanguage as a Linguistic Problem« (1956/1976). [Anm. d. Komm.] 42 Vgl. Molie`re, Le Bourgeois gentilhomme, II 4. [Anm. d. Komm.] 43 Shakespeare, The Tragedy of Anthony and Cleopatra, V, i, 13. [Anm. d. Komm.] 44 Vgl. Jakobson, »Anthony’s Contribution to Linguistic Theory« (1962) u. »On the Linguistic Approach to the Problem of Consciousness and the Unconscious« (1979), bes. S. 157–160. [Anm. d. Komm.] 45 Vgl. Jakobson, »Aphasia as a Linguistic Topic« (1955), bes. S. 235 f. [Anm. d. Komm.]
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Wir haben nun alle sechs Faktoren behandelt, die in sprachlicher Kommunikation eine Rolle spielen, außer der Botschaft selbst. Die Einstellung auf die Botschaft als solche,46 die auf die Botschaft um ihrer selbst willen zentriert ist, ist die poetische Funktion der Sprache. Diese Funktion kann nicht mit Erfolg erforscht werden, wenn sie von den allgemeinen Fragen der Sprache getrennt wird, und umgekehrt bedarf die Untersuchung der Sprache einer genauen Beachtung ihrer poetischen Funktion. Jeder Versuch, die Sphäre der poetischen Funktion auf Dichtung oder Dichtung auf die poetische Funktion zu reduzieren, wäre eine allzu vereinfachende Augenwischerei. Die poetische Funktion ist nicht die einzige Funktion der Wortkunst, sondern nur ihre dominante, bestimmende Funktion, 47 während sie in allen anderen sprachlichen Handlungen als nachgeordnete, zusätzliche Konstituente auftritt. Indem diese Funktion die Greifbarkeit der Zeichen verstärkt, vertieft sie die grundlegende Dichotomie zwischen den Zeichen und den Gegenständen.48 Deshalb kann sich die Linguistik, wo sie die poetische Funktion behandelt, nicht auf das Feld der Dichtung beschränken. »Warum sagst du immer Joan und Margery, aber niemals Margery und Joan? Ziehst du Joan ihrer Zwillingsschwester vor?« »Überhaupt nicht, das klingt nur glatter.« In einer Sequenz aus zwei koordinierten Namen, deren Rangfolge keine Probleme macht, gefällt dem Sprecher (ohne daß er es selbst verstünde) diejenige Fassung besser, die den kürzeren Namen vorzieht, da sie die schöner geordnete Gestalt für seine Botschaft bietet.49 Ein Mädchen sprach immer von »the horrible Harry« [›dem schrecklichen Harry‹]. »Warum horrible?« »Weil ich ihn nicht mag.« »Aber warum dann nicht dreadful, terrible, disgusting [›furchtbar, gräßlich, ekelhaft‹]?« »Ich weiß nicht warum, aber horrible paßt besser zu ihm.« Ohne es zu merken, hielt sie sich an das poetische Verfahren der *Paronomasie.50 46 Im Original: »set (Einstellung)«; mit »Botschaft« (engl. »message«) ist weder bloß der Inhalt noch die Form gemeint. Schon in seiner frühen Schrift Novejsˇaja russkaja poe˙zija (S. 305; dt. Übs. in diesem Band S. 15) hatte Jakobson die »ustanovka na vyrazˇenie« (›Einstellung, Ausrichtung auf den Ausdruck‹) in den Mittelpunkt seiner poetologischen Überlegungen gestellt. Vgl. hierzu Hansen-Löve, Der russische Formalismus, S. 175–188. [Anm. d. Komm.] 47 Vgl. Jakobsons Aufsatz »Die Dominante« (1935/1971). [Anm. d. Komm.] 48 In Jakobsons Aufsatz »Co je poezie?« (1933–34) wird diese Erkenntnis vor allem der modernen Phänomenologie zugeschrieben (vgl. engl. Übs., S. 749; dt. Übs.: »Was ist Poesie?«, S. 77). [Anm. d. Komm.] 49 Dieses »Gesetz der wachsenden Glieder« findet sich zuerst formuliert und vielfältig exemplifiziert in: Behaghel, Deutsche Syntax. Eine geschichtliche Darstellung, Bd. 3, S. 367 f. (§ 1051), u. Bd. 4 passim. [Anm. d. Komm.]
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Der politische Slogan »I like Ike« /ay layk ayk/ [›Ich mag Ike‹],51 geschickt gebaut, besteht aus drei Einsilbern und zählt drei Diphthonge /ay/, jeder von ihnen *symmetrisch gefolgt von einem konsonantischen Phonem /…l…k…k/. Die drei Wörter ergeben eine Variation: keine konsonantischen Phoneme im ersten Wort, zwei auf beiden Seiten des Diphthongs im zweiten, ein letzter am Schluß des dritten. Eine ähnliche Dominanz des Nukleus /ay/ hat Hymes in einigen *Sonetten von Keats festgestellt.52 Die beiden Kola der dreisilbigen Formel »I like / Ike« reimen aufeinander, und das zweite der beiden Reimwörter ist im ersten vollständig enthalten (Echoreim), /layk/ – /ayk/: ein paronomastisches Bild einer Emotion, die ihr *Objekt vollkommen einschließt. Die beiden Kola alliterieren, und das erste der beiden alliterierenden Wörter ist im zweiten enthalten: /ay/ – /ayk/: ein paronomastisches Bild eines liebenden Subjekts, das vom geliebten Objekt vollkommen eingeschlossen wird.53 Die sekundäre, poetische Funktion des Wahlkampfslogans verstärkt seine Eindrücklichkeit und Wirksamkeit. Wie wir schon sagten, muß die linguistische Forschung über die poetische Funktion die Grenzen der Dichtung verlassen, und andererseits kann sich die linguistische Untersuchung der Dichtung nicht auf die poetische Funktion beschränken. Die Besonderheiten verschiedener Genres in der Dichtung implizieren, daß die anderen sprachlichen Funktionen nach der dominanten poetischen Funktion jeweils in verschiedenen Rangfolgen an der Botschaft teilhaben. Epische Dichtung, die auf die dritte Person zentriert ist, weist der referentiellen Funktion der Sprache eine starke Rolle zu; Lyrik, die auf die erste Person ausgerichtet ist, ist eng mit der emotiven Funktion verbunden; die Dichtung der zweiten Person ist durchdrungen von der konativen Funktion und besteht entweder aus einer Anflehung oder einer Aufforderung, je nachdem, ob die erste Person der zweiten untergeordnet ist oder die zweite der ersten.54 50 Vgl. hierzu Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, S. 322–325 (§§ 637 f.); sowie Wagenknechts Reallexikon-Artikel *»Wortspiel«. [Anm. d. Komm.] 51 Wahlslogan der republikanischen Eisenhower-Anhänger bei der amerikanischen Präsidentenwahl 1953. [Anm. d. Komm.] 52 Hymes, »Phonological Aspects of Style. Some English Sonnets«, S. 123–126. 53 In seiner Radisˇcˇev-Analyse arbeitet Jakobson eine sehr ähnliche Struktur heraus. Vgl. Jakobson, »›Ty chocˇesˇ’ znat’: kto ja?‹ Razbor tobol’skich stichov Radisˇcˇeva«, S. 320, sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 705 f. [Anm. d. Komm.] 54 Vgl. schon Jakobsons »Randbemerkungen zur Prosa des Dichters Pasternak« (1935) (SW V, S. 419, u. Poetik, S. 196). [Anm. d. Komm.]
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Da unsere rasche Beschreibung der sechs basalen Funktionen sprachlicher Kommunikation damit mehr oder weniger vollständig ist, können wir unser Schema mit den grundlegenden Faktoren durch ein entsprechendes Schema der Funktionen ergänzen: emotiv
referentiell poetisch
konativ
.........................................................
phatisch metasprachlich
Was ist das empirische linguistische Kriterium für die poetische Funktion? Genauer gesagt, welches unabdingbare Merkmal wohnt jedem dichterischen Werk inne? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir auf die zwei grundlegenden Ordnungsweisen zurückkommen, die in sprachlichem Verhalten Verwendung finden: die Selektion und die Kombination.55 Wenn das Thema einer Botschaft ›Kind‹ lautet, selektiert der Sprecher eines der vorhandenen, mehr oder weniger ähnlichen, Nomina wie Kind, Knirps, Jugendlicher, Wanst, die alle in einer bestimmten Hinsicht *äquivalent sind; und dann wird er, um etwas über dieses Thema zu sagen, eines von mehreren semantisch verwandten Verben selektieren – schläft, döst, schlummert, ruht. Die beiden ausgewählten Wörter werden in der Sprechkette kombiniert. Die Selektion findet auf der Grundlage von Äquivalenz, von *Similarität und Dissimilarität, Synonymie und *Antonymie statt, während die Kombination, die Zusammenfügung zur Sequenz, auf *Kontiguität basiert. Die poetische Funktion bildet das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination ab. Die Äquivalenz wird dabei zum konstitutiven Verfahren für die Sequenz erhoben. In der Dichtung wird die eine Silbe irgendeiner zweiten Silbe in derselben Sequenz angeglichen; Wortbetonung gleich Wortbetonung und unbetont gleich unbetont; prosodische Länge paßt zu prosodischer Länge, und die Kürze zur Kürze; *Wortgrenze gleich Wortgrenze,56 keine Grenze gleich keine Grenze; syntaktische Pause gleich syntaktische Pause, keine 55 Vgl. Kap. 2 von »Two Aspects of Language and Two Types of Aphasic Disturbances« (1956), S. 241–244; dt. Übs.: »Zwei Seiten der Sprache und zwei Typen aphatischer Störungen«, in: Aufsätze zur Linguistik und Poetik, S. 119–122. [Anm. d. Komm.] 56 Zur versifikatorischen Bedeutung der Wortgrenzen vgl. das Kapitel »Slovorazdel i ego rol’ v stiche« [›Die Wortgrenze und ihre Funktion im Vers‹] in Jakobsons früher Monographie O ˇcesˇskom stiche – preimusˇˇcestvenno v sopostavlenii s russkim, S. 27–33, sowie die deutsche Übersetzung Über den tschechischen Vers. Unter besonderer Berücksichtigung des russischen Verses, S. 36–43. [Anm. d. Komm.]
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Pause gleich keine Pause. Silben werden in Maßeinheiten verwandelt, und Moren 57 oder Betonungen ebenso.58 Man mag einwenden, daß die Metasprache ebenfalls sequentiellen Gebrauch von äquivalenten Einheiten macht, wenn sie synonyme Ausdrücke zu einem identifizierenden Satz kombiniert: A = A (»Die Stute ist das Weibchen beim Pferd«). Dichtung und Metasprache sind einander jedoch genau entgegengesetzt: In der Metasprache wird die Sequenz zum Bau einer Gleichung verwendet, während in der Dichtung die Gleichung verwendet wird, um eine Sequenz zu bauen. In der Dichtung, und bis zu einem gewissen Grad auch in latenten Manifestationen der poetischen Funktion, werden von Wortgrenzen umfaßte Sequenzen kommensurabel, ob sie als von gleicher Dauer oder als Steigerung wahrgenommen werden. An »Joan und Margery« haben wir das poetische Prinzip der steigenden Silbenzahl gesehen, dasselbe Prinzip, das für den Schluß serbischer Volksepen zu einem verpflichtenden Gesetz erhoben worden ist.59 Wären nicht die Daktylen in beiden Wörtern, die Kombination »innocent bystander« [›unbeteiligter Beobachter‹] wäre kaum ein Allerweltsausdruck geworden. Die Symmetrie dreier zweisilbiger Verben mit identischem Anfangskonsonant und identischem Schlußvokal bewirkt den zusätzlichen Glanz in Caesars lakonischer Siegesmeldung: »Veni, vidi, vici.« 60 Die Abmessung von Sequenzlängen ist ein Verfahren, das außerhalb der poetischen Funktion nirgendwo in der Sprache angewendet wird. Nur in der Dichtung, mit ihren regelmäßig wiederholten äquivalenten Einheiten, wird die Zeit des Redeflusses erfahrbar, wie es auch bei der 57 Von lat. mora ›Zeitraum‹: »Phonologische Maßeinheit für eine kurze Silbe, die aus einem kurzen Vokal und höchstens einem Konsonanten besteht.« (Bußmann [Hg.], Lexikon der Sprachwissenschaft, S. 448.) [Anm. d. Komm.] 58 »The principle of similarity underlies poetry; the metrical parallelism of lines, or the phonic equivalence of rhyming words prompts the question of semantic similarity and contrast; there exist, for instance, grammatical and anti-grammatical but never agrammatical rhymes.« (»Two Aspects of Language and Two Types of Aphasic Disturbances«, Kap. V, S. 258 f.) / »Das Prinzip der Similarität bildet für die Poesie die Grundlage; der metrische Parallelismus der Verszeilen oder die lautliche Gleichartigkeit der Reimwörter legt die Frage nach der semantischen Similarität und Gegensätzlichkeit besonders nahe: es gibt grammatische und antigrammatische, aber nie agrammatische Reime.« (»Zwei Seiten der Sprache und zwei Typen aphatischer Störungen«, S. 138.) [Anm. d. Komm.] 59 Maretic´, Metrika narodnih nasˇih pjesama, § 81–83. 60 Vgl. Jakobson, »Quest for the Essence of Language« (1965), S. 350; dt. Übs.: »Suche nach dem Wesen der Sprache«, S. 85. [Anm. d. Komm.]
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musikalischen Zeit 61 der Fall ist – um ein anderes semiotisches Muster anzuführen. Gerard Manley Hopkins, ein hervorragender Forscher in der Wissenschaft von der poetischen Sprache, hat den *Vers definiert als »eine Rede, die ganz oder teilweise dieselbe Lautfigur wiederholt«.62 Hopkins’ anschließende Frage: »aber ist jeder Vers Dichtung?« findet eine definitive Antwort, sobald die poetische Funktion nicht mehr willkürlich auf die Domäne der Dichtung beschränkt wird. Merkverse, die Hopkins zitiert (wie »Thirty days hath September« [›Dreißig Tage hat September‹]), moderne Werbeliedchen und mittelalterliche Gesetzestexte in Versform, wie Lotz sie erwähnt,63 oder schließlich wissenschaftliche Sanskrit-Abhandlungen in Versen, die in der indischen Tradition streng von eigentlicher Dichtung (ka¯vya) geschieden werden – alle diese metrischen Texte gebrauchen die poetische Funktion, ohne ihr aber je die zwingende, bestimmende Rolle zuzuweisen, die sie in der Dichtung erhält. So reicht der Vers tatsächlich über die Grenzen der Dichtung hinaus, doch zugleich impliziert jeder Vers stets die poetische Funktion. Und es scheint, als hätte keine menschliche Kultur ganz auf Versifikation verzichtet, obgleich es viele Kulturformen ohne ›angewandten‹ Vers gibt; und sogar in jenen Kulturen, die sowohl den reinen als auch den angewandten Vers kennen, erscheint der letztere als ein sekundäres, fraglos vom ersteren abstammendes Phänomen. Die Verwendung poetischer Mittel für bestimmte andersgeartete Zwecke kann ihr primäres Wesen nicht verbergen, geradeso wie Elemente der emotiven Sprache, wenn sie in der Dichtung eingesetzt werden, weiterhin ihre emotive Färbung beibehalten. Ein Filibuster 64 rezitiert vielleicht Hiawatha,65 weil es lang ist, aber die Poetizität bleibt doch die vornehmliche Absicht des Textes selbst. Ganz selbstverständlich entfernt die bloße Existenz von versifizierter, musikalischer und piktorialer Werbung die Fragen des Verses oder der musikalischen oder der piktorialen Form nicht aus den Fachbereichen, die für die Erforschung der Dichtung, Musik oder bildenden Kunst zuständig sind. 61 Der englische Ausdruck »musical time« kann sich auch einfacher auf den bereits rhythmisierten ›Takt‹ in der Musik beziehen. [Anm. d. Übs.] 62 Hopkins, »Poetry and Verse«, in: ders., The Journals and Papers, S. 289 f., hier S. 289. [Anm. v. R.J.] – Dt. Übs.: »Dichtung und Vers«, in: ders., Gedichte – Schriften – Briefe, S. 263–265, hier S. 263. [Anm. d. Komm.] 63 Lotz, »Metric Typology«, in: Style and Language, S. 135–148, hier S. 137. 64 Amerikanische Bezeichnung für einen parlamentarischen Verschleppungstaktiker, der durch langatmige Reden die Abstimmung über einen mißliebigen Mehrheitsantrag zu verhindern sucht. [Anm. d. Komm.] 65 Longfellow, The Song of Hiawatha (Verserzählung, 1855). [Anm. d. Komm.]
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Lassen Sie mich zusammenfassen: Die Analyse von Versen gehört ganz in den Kompetenzbereich der Poetik, und die letztere läßt sich als derjenige Teil der Linguistik definieren, der die poetische Funktion in ihrem Verhältnis zu den anderen Funktionen der Sprache behandelt. Poetik im weiteren Sinne befaßt sich mit der poetischen Funktion nicht nur dort, wo sie in der Dichtung den anderen Funktionen der Sprache übergeordnet ist, sondern auch außerhalb der Dichtung, wo eine andere Funktion der poetischen übergeordnet ist. Die wiederholte ›Lautfigur‹, in der Hopkins das konstitutive Prinzip für den Vers sah, läßt sich noch weiter spezifizieren. Eine solche Figur verwendet immer wenigstens einen (oder mehr als einen) *binären *Kontrast zwischen einer relativ höheren und einer relativ geringeren Prominenz,66 die den verschiedenen Abschnitten der Phonemsequenz zukommt. Innerhalb einer Silbe ist der prominentere, silbische Kern, der den Silbengipfel bildet, den weniger prominenten, nichtsilbischen Rand-Phonemen entgegengesetzt. Jede beliebige Silbe enthält ein silbisches Phonem, und das Intervall zwischen zwei aufeinander folgenden silbischen Einheiten ist, in manchen Sprachen ausschließlich und in anderen in der überwältigenden Mehrheit der Fälle, durch randständige, nichtsilbische Phoneme gefüllt. In der sogenannten *syllabischen Versifikation ist die Anzahl der silbischen Einheiten in einer vom *Metrum begrenzten Kette (einer Zeitfolge) 67 konstant, während die Anwesenheit eines oder mehrerer gehäufter nichtsilbischer Phoneme zwischen je zwei silbischen Einheiten einer metrischen Kette nur in den Sprachen konstant ist, in denen unausweichlich nichtsilbische Einheiten zwischen den silbischen vorkommen, und darüber hinaus in denjenigen Verssystemen, in denen der Hiat verboten ist. Eine weitere Ausformung der Tendenz zu einem gleichförmigen syllabischen Modell ist die Vermeidung geschlossener Silben am Ende einer Zeile, wie wir es zum Beispiel in serbischen epischen Gesängen kennen. Der italienische syllabische Vers neigt dazu, Sequenzen von Vokalen ohne trennende konsonantische Phoneme als eine einzige metrische Silbe zu behandeln.68 66 Vgl. Jakobson, »Phonology and Phonetics«, S. 477 f.; dt. Übs.: »Phonologie und Phonetik«, S. 70 f. [Anm. d. Komm.] 67 Engl. »time series«; vgl. Anm. 61. [Anm. d. Übs.] 68 Levi, »Della versificazione italiana«, S. 490–516. [Anm. v. R.J.] – Zum ›organischen Hiat‹ (iato organico) heißt es hier (S. 491): ›Entweder sind die zwei zusammenstoßenden Vokale so miteinander verbunden, daß sie eine einzige Silbe bilden, d. h. Diphthonge sind, oder sie sind voneinander getrennt, d. h. sie sind zweisilbig.‹ [Anm. d. Komm.]
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In manchen Versifikationsmustern ist die Silbe die einzige konstante Einheit im *Versmaß, und grammatische Grenzen sind die einzigen konstanten Trennlinien zwischen den gemessenen Sequenzen, während in anderen Mustern die Silben selbst wiederum in prominentere und weniger prominente aufgeteilt werden und /oder zwei Ebenen von grammatischen Grenzen ihrer metrischen Funktion nach unterschieden werden, nämlich Wortgrenzen 69 und syntaktische Pausen. Abgesehen von den Spielarten des sogenannten freien Verses, die allein auf zusammenhängenden Betonungen und Pausen beruhen, verwendet jedes Metrum die Silbe wenigstens in bestimmten Abschnitten des Verses als Maßeinheit. So kann im reinen *akzentuierenden Vers (im »sprung rhythm« [›Sprungrhythmus‹] nach Hopkins’ Nomenklatur) die Anzahl der Silben in der *Senkung (»Slack« [›Puffer‹] nennt Hopkins das 70 ) variieren, aber die *Hebung (*Iktus) enthält konstant eine einzelne Silbe. In jedem akzentuierenden Vers entsteht der Kontrast zwischen höherer und geringerer Prominenz zwischen den betonten und den unbetonten Silben. Die meisten akzentuierenden Muster arbeiten in erster Linie mit dem Kontrast zwischen Silben mit und ohne Wortbetonung, aber manche Spielarten des akzentuierenden Verses verwenden syntaktische Phrasenbetonungen, die Wimsatt und Beardsley als »die großen Betonungen der großen Wörter« 71 anführen und die in ihrer Prominenz Silben ohne solche großen, syntaktischen Betonungen entgegengesetzt sind.72 69 Während die syntaktischen Pausen auch in den westeuropäischen Metriktheorien große Beachtung finden, gehört die Berücksichtigung der Wortgrenzen als nur potentiell realisierter Pausen zu den Besonderheiten der formalistischen Verstheorie; vgl. Erlich, Russischer Formalismus, S. 240–244. Freilich gab es auch anderswo ähnliche Versuche, wie z. B. Klopstocks »Wortfüße«, die sich aber in der deutschen Verslehre nicht allgemein durchsetzen konnten. Dagegen spielen in Jakobsons Gedichtanalysen (z. B. zu Shakespeare, Hölderlin oder Wierzyn´ski) die Wortgrenzen – mehr noch als die syntaktischen Pausen – eine wichtige Rolle bei der Beschreibung des Versrhythmus. [Anm. d. Komm.] 70 Hopkins, The Poems, S. 45. [Anm. v. R.J.] – Vgl. die dt. Übs.: »Vorwort des Verfassers«, in: Hopkins, Gedichte – Schriften – Briefe, S. 703–708, hier S. 704. [Anm. d. Komm.] 71 Wimsatt u. Beardsley, »The Concept of Meter: an Exercise in Abstraction«, S. 592. 72 In ähnlichem Sinne schreibt Wolfgang Kayser (Kleine deutsche Versschule, S. 102) über Goethes »Das Wasser rauscht, das Wasser schwoll« (Der Fischer): »Die Verswissenschaft nennt solche Verse, in denen je zwei ›Füße‹ eine merkliche Einheit bilden, dipodisch. Die Einheit bekundet sich im deutschen Vers nicht nur durch die Einschnitte um die Gruppe, sondern auch ihre Unterordnung unter einen Hauptakzent.« [Anm. d. Komm.]
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In *quantitierenden (*›chronemischen‹) Versen sind lange und kurze Silben einander wechselweise als mehr und weniger prominent entgegengesetzt. Dieser Kontrast wird meist in den Silbenkernen verwirklicht, die phonematisch lang oder kurz sind. Aber in metrischen Mustern wie denen des Altgriechischen 73 und des Arabischen, in denen ›Positionslängen‹ mit ›Naturlängen‹ gleichgesetzt werden,74 stehen minimale Silben aus einem konsonantischen Phonem und einem einmorigen Vokal Silben mit einem Überschuß (einer zweiten More oder einem Schlußkonsonanten) gegenüber, weil sie als die einfacheren und weniger prominenten Silben gegenüber den komplexeren und prominenteren betrachtet werden. Es bleibt eine offene Frage, ob es neben dem akzentuierenden und dem chronemischen Vers noch einen »tonemischen« Versifikationstyp in denjenigen Sprachen gibt, in denen Unterschiede in der Silbenintonation Wortbedeutungen voneinander unterscheiden.75 In der klassischen chinesischen Dichtung 76 stehen modulierte Silben (auf Chinesisch tseˆ ›Konturtöne‹) den nichtmodulierten Silben (p’ing ›Registertöne‹ 77 ) gegenüber, aber es scheint, als läge dieser *Opposition ein chronemisches Prinzip zugrunde, wie schon Polivanov 78 vermutet, was Wang Li scharfsinnig ausgearbeitet hat; 79 in der traditionellen chinesischen Metrik zeigt sich, daß die Registertöne gegen die Konturtöne als lange tonale Silbenspitzen gegen kurze stehen, so daß der Vers auf der Opposition von Länge und Kürze aufgebaut ist. Joseph Greenberg 80 hat mich auf eine weitere Spielart der tonemischen Versifikation aufmerksam gemacht – den Vers von Efik 81 – Rätseln, der auf 73 Vgl. Jakobson, »On Ancient Greek Prosody« (1937). [Anm. d. Komm.] 74 In quantitierenden Metren gilt ein von Natur aus kurzer Vokal als ›positionslang‹ (lat. positione v. griech. thesei ›durch Festsetzung, Übereinkunft‹), wenn ihm 2 oder mehrere Konsonanten folgen. [Anm. d. Komm.] 75 Jakobson, »O cˇesˇkom stiche preimusˇcˇestvenno v sopostavlenii russkim«. [Anm. v. R.J.] – In »On Ancient Greek Prosody« (S. 264) weist Jakobson auf den cˇakavischen Dialekt des Serbokroatischen hin, der alle drei ›Prominenzkriterien‹ (Länge, Akzent und Intonation) verwendet. Er gibt allerdings keine Auskunft darüber, ob das auch versifikatorisch genutzt wird. [Anm. d. Komm.] 76 Bishop, »Prosodic Elements in T’ang Poetry«. 77 In Tonsprachen kann die Tonhöhe (Registerton) oder der Tonhöhenverlauf (Konturton) distinktiv sein. [Anm. v. I.M.] 78 Polivanov, »O metricˇeskom charaktere kitajskogo stichoslozˇenija«. 79 Wang, Li: Han yu shi lü xue. Vgl. inzwischen Jakobson, »The Modular Design of Chinese regulated Verse«. 80 Siehe Greenberg, »A Survey of African Prosodic Systems«. Die prosodischen Wortspiel- und Reimkorrespondenzen zwischen Frage und Antwort in den verschiedenen Spielarten der afrikanischen Klangrätsel oder zwischen Teilen eines Vergleichs
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dem Register-Merkmal 82 basiert. In dem Beispiel, das Simmons zitiert,83 bilden Frage und Antwort zwei Achtsilber mit gleich verteilten hohen und tiefen syllabischen Einheiten; darüber hinaus stellen die letzten drei der vier Silben in jedem Halbvers ein identisches tonemisches Muster dar: thht / thht // thht /hhht //. Während die chinesische Versifikation ein besonderer Fall des quantitierenden Verses zu sein scheint, ist der Vers der Efik-Rätsel mit dem gewöhnlichen akzentuierenden Vers durch die jeweilige Opposition zweier Prominenzgrade (Stärke oder Höhe) des Stimmtons verbunden. So kann ein metrisches Versifikationssystem nur auf der Opposition von syllabischen Spitzen und Tiefen basieren (syllabischer Vers), auf dem relativen Niveau der Spitzen (akzentuierender Vers) oder auf der relativen Länge der syllabischen Spitzen oder ganzer Silben (quantitierender Vers). In Literaturlehrbüchern begegnen wir manchmal einer abergläubischen Gegenüberstellung des Syllabismus als einer bloß mechanischen Silbenzählerei mit dem lebendigen Pulsschlag des akzentuierenden Verses. Wenn wir jedoch die binären Metren der strikt syllabischen und zugleich akzentuierenden Versifikation genau untersuchen, sehen wir zwei gleichartige Abfolgen von wellenartig angeordneten Spitzen und Tälern. Von diesen zwei wellenförmigen Kurven enthält die syllabische Kurve Nukleusphoneme in den Scheitelpunkten und unten meistens Randphoneme. In der Regel wechselt die akzentuierende Kurve, die die syllabische Kurve überlagert, zwischen betonten und unbetonten Silben in den Scheiteln bzw. in den unteren Extrema. Zum Vergleich mit den englischen Metren, die wir ausführlich miteinander besprochen haben, will ich Sie auf die ähnlichen binären Versformen des Russischen aufmerksam machen, die in den letzten fünfzig Jahren erschöpfend untersucht worden sind.84 Die Versstruktur kann sehr
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in analogen Sprichwortformen müssen, je genauer wir sie betrachten, sorgfältig unterschieden werden von Fragen nach den Versifikationsmustern. Vgl. auch Pike, »Tone Puns in Mixteco«, u. ders., »Phonemic Pitch in Maya«. Stamm in Nigeria. [Anm. d. Komm.] Vgl. Jakobson, »Phonology and Phonetics«, S. 479; dt. Übs.: »Phonologie und Phonetik«, S. 72. [Anm. d. Komm.] Simmons, »Specimens of Efik Folklore«, S. 423. Siehe auch seine Beiträge »Cultural Functions of the Efik Tone-Riddle« u. »Erotic Ibibio Tone Riddles«. [Anm. v. R.J.] – Das (von Jakobson fälschlich auf S. 228 verlegte) Rätsel lautet (hohe Silben mit, tiefe Silben ohne Akzentzeichen): »Query: afa´k kɔk ke´ta´k u´tɔŋ – putting chew-stick under ear. Response: esı´n ´enyin ke´ŋkp o´wo – putting eyes in thing of person«. [Anm. d. Komm.] Taranovski, Ruski dvodelni ritmovi I–II. Vgl. Bailey, »Some Recent Developments in the Study of Russian Versification«.
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genau beschrieben und in Bezug auf Übergangswahrscheinlichkeiten interpretiert werden. Abgesehen von der vorgeschriebenen Wortgrenze zwischen den Zeilen, die für alle russischen Metren invariant ist, erkennen wir im klassischen Muster des russischen syllabischen akzentuierenden Verses (»syllabo-tonisch« in der einheimischen Nomenklatur) die folgenden Konstanten: (1) Die Anzahl der Silben pro Zeile von ihrem Anfang bis zur letzten Hebung ist stabil; (2) auf dieser letzten Hebung liegt immer eine Wortbetonung; (3) eine betonte Silbe kann nicht auf eine Senkung fallen, wenn die Hebung von einer unbetonten Silbe derselben *Worteinheit gefüllt wird (so daß eine Wortbetonung nur dann auf eine Senkung fallen kann, wenn sie zu einer einsilbigen Worteinheit gehört). Neben diesen Charakteristika, die für alle Zeilen, die in einem bestimmten Metrum verfaßt sind, verbindlich sind, gibt es einige Eigenschaften, die mit hoher Wahrscheinlichkeit auftreten, ohne ständig präsent zu sein. Neben den Signalen, die sicher auftreten (»Wahrscheinlichkeit eins«), kommen weniger wahrscheinliche Signale (»Wahrscheinlichkeiten kleiner als eins«) beim Metrum ins Spiel. Gemäß Cherrys Beschreibung der menschlichen Kommunikation könnten wir sagen, der Leser von Dichtung könne zwar offensichtlich »nicht in der Lage sein, numerische Häufigkeiten« für die einzelnen Konstituenten des Metrums festzustellen, aber insofern er die Versgestalt wahrnimmt, erhalte er unversehens einen Eindruck von ihrer »Rangfolge«.85 In russischen binären Metren sind für gewöhnlich alle ungeradzahligen Silben, rückwärts von der letzten Hebung gezählt – kurz, alle Senkungen –, durch unbetonte Silben gefüllt, außer einem sehr kleinen Prozentsatz von betonten Einsilbern. Alle geradzahligen Silben, wieder rückwärts von der letzten Hebung an gezählt, zeigen eine starke Präferenz für Silben mit Wortbetonung, aber die Wahrscheinlichkeiten für das Auftreten dieser Wortbetonungen sind ungleich über die aufeinander folgenden Hebungen der Zeile verteilt. Je höher die relative Häufigkeit einer Wortbetonung bei einer bestimmten Hebung, desto geringer ist der Durchschnitt bei der vorausgehenden Hebung. Da die letzte Hebung stets betont ist, hat die vorletzte den geringsten Prozentsatz an Wortbetonungen; bei der vorausgehenden Hebung ist die Anzahl wieder höher, ohne das Maximum zu erreichen, das die letzte Hebung aufweist; bei der Hebung, die dem Zeilenanfang wiederum eins näher liegt, sinkt die Zahl der Betonungen nochmals, ohne dabei das Minimum der vorletzten Hebung zu erreichen; und so weiter. Die Verteilung der Wortbetonungen über die 85 Cherry, On Human Communication. A Review, a Survey, and a Criticism, S. 38 f.
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Hebungen in der Zeile, die Aufteilung in starke und schwache Hebungen, ergibt so eine regressive Wellenkurve,86 die den wellenförmigen Wechsel von Hebungen und Senkungen überlagert. Übrigens gibt es da auch noch eine fesselnde Frage bezüglich des Verhältnisses von starken Hebungen und Phrasenbetonungen.87 Die binären Metren im Russischen zeigen eine geschichtete Anordnung von drei Wellenkurven: (I) dem Wechsel von Silbenkernen und -rändern; (II) der Aufteilung der Silbenkerne auf die abwechselnden Hebungen und Senkungen; und (III) dem Wechsel von starken und schwachen Hebungen. Zum Beispiel kann der *männliche jambische Vierheber des neunzehnten und des zwanzigsten Jahrhunderts wie in Abbildung 1 wiedergegeben werden, und ein ähnliches dreiteiliges Muster taucht auch in den entsprechenden Formen im Englischen auf.
Abb. 1
In Shelleys jambischem Vers »Laugh with an inextinguishable laughter« 88 entbehren drei von fünf Hebungen die Wortbetonung. In dem folgenden Vierzeiler aus Pasternaks später Dichtung in jambischen Vierhebern, Zemlja (›Erde‹), sind sieben von sechzehn Hebungen ohne Betonung: I u´lica za panibra´ta S oko´nnicej podslepova´toj,
86 Zur ›regressiven Akzentdissimilation‹ siehe das Standardwerk: Gasparov, Ocˇerk istorii russkogo sticha. Metrika. Ritmika. Rifma. Strofika, S. 138–140 (§ 64). [Anm. d. Komm.] 87 Vgl. Wagenknecht, Deutsche Metrik, S. 31–33. [Anm. d. Komm.] 88 Shelley, Prometheus Unbound. A Lyrical Drama in Four Acts / Der entfesselte Prometheus. Lyrisches Drama in vier Akten (IV, v. 334), in: ders., Ausgewählte Werke, S. 262–455, hier S. 436 f. [Anm. d. Komm.]
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I be´loj no´cˇi i zaka´tu Ne razminu´t’sja u rekı´.89
Da die überwältigende Mehrheit der Hebungen mit Wortbetonungen zusammenfällt, rechnet der Zuhörer oder Leser bei russischen Versen mit einem hohen Grad von Wahrscheinlichkeit in jeder geradzahligen Silbe einer jambischen Zeile mit einer Wortbetonung, aber ganz zu Beginn von Pasternaks Vierzeiler bescheren ihm die vierte und, einen Fuß weiter, die sechste Silbe, sowohl in der ersten als auch in der folgenden Zeile eine enttäuschte Erwartung. Der Grad einer derartigen ›Enttäuschung‹ ist höher, wenn die Betonung auf einer starken Hebung fehlt, und fällt ganz besonders auf, wenn zwei aufeinander folgende Hebungen unbetonte Silben tragen.90 Zwei benachbarte unbetonte Hebungen werden noch weniger wahrscheinlich und machen den größten Eindruck, wenn davon ein ganzer Halbvers betroffen ist, wie es in einer späteren Zeile im selben ˇ toby za gorodsko´ju gra´n’ju« [sˇtəbyzəgardcko´ju Gedicht der Fall ist: »C gra´n’ju].91 Die Erwartungshaltung hängt von der Behandlung einer bestimmten Hebung in dem Gedicht und allgemeiner in der gesamten vorhandenen metrischen Tradition ab. In der vorletzten Hebung können die unbetonten Silben allerdings die betonten überwiegen.92 So tragen in diesem Gedicht nur 17 von 41 Zeilen eine Wortbetonung auf der sechsten Silbe. Aber in einem solchen Fall führt die Trägheit des Wechsels zwischen betonten geradzahligen und unbetonten ungeradzahligen Silben zu einer gewissen Erwartungshaltung für eine Betonung auch auf der sechsten Silbe des jambischen Vierhebers. Natürlich war es gerade Edgar Allan Poe, dieser Dichter und Theoretiker der enttäuschten Erwartung, der metrisches und psychologisches Verständnis für das Gefühl von Belohnung aufbrachte, das der Mensch 89 ›Und die Straße ist verbrüdert Mit dem kurzsichtigen Fensterrahmen. [Und] weiße Nacht und Sonnenuntergang Verfehlen sich nicht am Fluß.‹ (Pasternak, Doktor Zˇivago. Roman, S. 534 f., Nr. 21: »Zemlja«, Str. 3; dt. Übs. in: Pasternak, Doktor Schiwago. Roman, S. 632: »Erde«.) [Anm. u. Übs. d. Komm.] 90 Das gilt so nur für bestimmte Epochen der russischen Versgeschichte. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beispielsweise war der ›rahmende‹ Rhythmustyp mit realisierter erster und vierter Hebung charakteristisch. Vgl. Sebastian Donats Kommentar zu Jakobsons Derzˇavin-Analyse, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 50. [Anm. d. Komm.] 91 ›Damit hinter der Stadtgrenze‹ (Pasternak, Doktor Zˇivago, S. 535: »Zemlja«; dt. Übs.: Doktor Schiwago, S. 632: »Erde«, v. 34). Jakobson hat diese Analyse weiter ausgeführt im »Retrospect« zu SW V (S. 589–592). [Anm. u. Übs. d. Komm.] 92 Vgl. die versstatistischen Tabellen in: Gasparov, Ocˇerk istorii russkogo sticha, S. 319, Tab. 7. [Anm. d. Komm.]
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angesichts des Unerwarteten im Erwarteten empfindet, die beide nicht ohne das andere denkbar wären, »as evil cannot exist without good« [›wie das Böse nicht ohne das Gute existieren kann‹].93 Wir könnten hier leicht die Formel Robert Frosts aus »The Figure a Poem Makes« [›Die Figur, die ein Gedicht beschreibt‹] heranziehen: »The figure is the same as for love.« [›Es ist dieselbe Figur wie in der Liebe.‹] 94 Die sogenannten verschobenen Wortbetonungen in mehrsilbigen Wörtern von der Hebung zur Senkung (»reversed feet« [›umgekehrte Versfüße‹]), die die Standardversformen im Russischen nicht kennen, kommen in englischer Dichtung ganz gewöhnlich nach metrischen und / oder syntaktischen Pausen vor.95 Ein bemerkenswertes Beispiel bietet die rhythmische Variation desselben Adjektivs in Miltons »Infinite wrath and infinite despair« [›Endlosem Zorn und unendlicher Verzweiflung‹].96 In der Zeile »Nearer, my God, to Thee, nearer to Thee« 97 [›Näher, mein Gott, zu Dir, näher zu Dir‹] taucht die betonte Silbe ein und desselben Worts zweimal in der Senkung auf, zuerst am Zeilenanfang und dann zu Beginn einer neuen Phrase. Diese *Lizenz,98 über die Jespersen 99 gearbeitet hat und die genauso noch in vielen Sprachen vorkommt, läßt sich umfassend erklären durch den besonderen Beitrag des Verhältnisses zwischen einer Senkung und der unmittelbar vorausgehenden Hebung. Wo dieser unmittelbare Übergang durch die Einfügung einer Pause geschwächt wird, wird die Senkung zu einer Art syllaba anceps.100 Abgesehen von den Regeln, die den obligatorischen Eigenschaften der Versdichtung zugrunde liegen, gelten auch solche Regeln für die Metrik, 93 Poe, »Marginalia. March 1846«, S. 86. 94 Frost, »The Figure a Poem Makes« (1939), S. 1. [Anm. d. Komm.] 95 Ähnlich im Deutschen: »Im Blankvers kann bekanntlich der erste *Jambus durch einen anderen Fuß (einen *Trochäus oder Spondeus) ersetzt werden.« (Wagenknecht, Deutsche Metrik, S. 111, vgl. auch a. a. O. S. 64.) [Anm. d. Komm.] 96 Milton, Paradise Lost, IV, v. 74; dt. Übs.: Das verlorene Paradies, S. 105, v. 104. [Anm. d. Komm.] 97 Kirchenlied von Sarah F. Adams (1841), in: The Handbook to the Lutheran Hymnal, S. 376. [Anm. d. Komm.] 98 »Konvention der Suspendierung einer metrischen Regel im Einzelfall. Solche Lizenzen gestatten beispielsweise die Verwendung unreiner Reime und die Einmischung unvorschriftsmäßiger Versfüße.« (Wagenknecht, Deutsche Metrik, S. 133.) [Anm. d. Komm.] 99 Jespersen, »Cause psychologique de quelques phe´nome`nes de me´trique germanique«, u. ders., »Notes on Metre«. 100 »Position in Versmaßen der antiken (auch: antikisierenden) Metrik: Platzhalter für eine lange oder eine kurze Silbe« (Wagenknecht, Deutsche Metrik, S. 128). [Anm. d. Komm.]
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die fakultative Charakteristika bestimmen. Wir sind versucht, solche Phänomene wie fehlende Betonungen auf einer Hebung oder eine Betonung auf einer Senkung als Abweichungen zu bezeichnen, aber es sei daran erinnert, daß es sich um erlaubte Oszillationen handelt, Ausreißer, aber noch innerhalb der Grenzen des Gesetzes. Im britischen Parlament würde man sagen: Es ist keine Opposition gegen seine Majestät das Metrum, sondern die Opposition seiner Majestät. Was nun echte Verstöße gegen metrische Gesetze angeht, so erinnert die Diskussion um solche Übertretungen an Osip Brik, den vielleicht mutigsten aller russischen Formalisten, der zu sagen pflegte, daß politische Verschwörer nur für gescheiterte Anläufe zu einem gewaltsamen Aufstand vor Gericht gestellt und verurteilt werden, weil bei einem erfolgreichen Coup die Verschwörer selbst die Rolle der Richter und der Ankläger übernehmen. Wenn die Verstöße gegen die Metrik Halt gewinnen, werden sie selbst zu metrischen Regeln. Das Metrum – oder expliziter: der Verstyp [verse design] – ist durchaus kein abstraktes Schema der Theorie, sondern die Grundlage jeder einzelnen Zeile – oder, mit einem logischen Terminus, jeder einzelnen Versrealisierung [verse instance].101 Typ und Realisierung gehören als Begriffe zusammen. Der Verstyp legt die invarianten Eigenschaften der Versrealisierungen und die Grenzen für die Variationen fest. Wer unter den serbischen Bauern Ependichtung vorträgt, wird manchmal zigtausend Zeilen auswendig lernen, vortragen und zu einem großen Teil improvisieren, und die Metrik dieser Zeilen ist in seinem Geist lebendig. Außerstande, die Regeln zu abstrahieren, bemerkt und bemängelt er nichtsdestoweniger noch den kleinsten Verstoß.102 In der serbischen Epik enthält jede Zeile genau zehn Silben, gefolgt von einer syntaktischen Pause. Weiterhin ist eine Wortgrenze vor der fünften Silbe vorgeschrieben und vor der vierten und der zehnten Silbe verboten. Darüber hinaus weist dieser Vers auch signifikante quantitative und akzentuierende Merkmale auf.103 101 »Der einzelne Vers, als Segment eines Verstextes, ist zunächst von den speziellen Regeln, nach denen er gebildet ist, seinem Metrum (oder Versmaß ), zu unterscheiden. Roman Jakobson hat für diese beiden Größen die Ausdrücke ›verse instance‹ und ›verse design‹ vorgeschlagen. Ihr Verhältnis entspricht etwa dem zwischen Performanz und Kompetenz in Chomskys Grammatik-Theorie.« (Wagenknecht, Deutsche Metrik, S. 13.) [Anm. d. Komm.] 102 Vgl. hierzu Jakobson, »Poe˙zija grammatiki i grammatika poe˙zii«, S. 71, dt. Übs. in diesem Bd. S. 272 f.; und »On the So-Called Vowel Alliteration in Germanic Verse« (1963), S. 195 f., dt. Übs.: »Zur sogenannten Vokal-Alliteration im germanischen Vers«, S. 191 f. [Anm. d. Komm.] 103 Jakobson, »Slavic Epic Verse: Studies in Comparative Metrics«. Vgl. auch »Über den Versbau der serbokroatischen Volksepen«.
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Diese *Zäsur in der serbischen Epik – und noch viele ähnliche Beispiele, wie sie die vergleichende Metrik zu bieten hat – dient uns als eindrückliche Warnung, die Zäsur nicht fälschlich mit einer syntaktischen Pause gleichzusetzen.104 Die vorgeschriebene Wortgrenze darf hier nicht mit einer Pause kombiniert werden und soll nicht einmal hörbar sein. In der Analyse phonographisch dokumentierter serbischer Epengesänge lassen sich keine vorgeschriebenen akustischen Hinweise auf die Zäsur nachweisen, und dennoch wird jeder versuchsweise Verzicht auf die Wortgrenze vor der fünften Silbe mittels einer ganz insignifikanten Veränderung in der Reihenfolge der Wörter vom Erzähler sofort verurteilt. Daß die vierte und die fünfte Silbe tatsächlich zu verschiedenen Worteinheiten gehören, reicht für die Wahrnehmung der Zäsur aus. Insofern reicht der Verstyp über bloße Fragen der Lautgestalt hinaus; es handelt sich um ein viel weiter angelegtes sprachliches Phänomen und öffnet sich keiner isoliert phonetischen Untersuchung. Ich sage ›ein sprachliches Phänomen‹, obwohl Chatman meint, »daß die Metrik als ein eigenes System außerhalb der Sprache existiert«.105 Ja, Metrik kommt auch in anderen Künsten vor, die mit zeitlichen Abfolgen arbeiten. Es gibt viele linguistische Probleme – zum Beispiel die Syntax –, die ebenso die Grenzen der Sprache überschreiten und verschiedenen semiotischen Systemen gemein sind. Wir könnten sogar von einer Grammatik der Verkehrszeichen sprechen. Es gibt einen Signalcode, in dem ein gelbes Licht, wenn es mit einem grünen verbunden wird, davor warnt, daß die Vorfahrt gleich endet; und wenn es mit einem roten kombiniert wird, die bevorstehende Wiederkehr der Vorfahrt ankündigt; so stellt das gelbe Signal eine enge Analogie zu zusätzlichen Verbaspekten dar. Die Metrik der Dichtung weist aber so viele eigentlich linguistische Details auf, daß sie sich am bequemsten aus einer rein linguistischen Perspektive beschreiben läßt. Lassen Sie mich hinzufügen, daß keine linguistische Eigenschaft beim Verstyp außer acht gelassen werden sollte. So wäre es etwa ein ganz ungeschickter Fehler, den konstitutiven Wert der Intonation für die englische Metrik zu verneinen. Ganz ohne ihre grundlegende metrische Rolle bei solchen Meistern des englischen freien Verses wie bei Whitman ins Spiel zu bringen: die metrische Signifikanz der Pausenintonation (»final juncture« [›nach dem letzten Glied in der Zeile‹]), ob nach einer *»Kadenz« 104 S. o. Anm. 69. Im übrigen unterscheidet Jakobson hier nicht zwischen Zäsur und *Diärese. [Anm. d. Komm.] 105 Chatman, »Comparing Metrical Styles«, S. 158.
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oder einer »Antikadenz«,106 ist in Gedichten wie »The Rape of the Lock«,107 in dem *Enjambements gezielt vermieden werden, kaum zu übersehen. Aber auch dort, wo Enjambements vehement gehäuft auftreten, bleibt ihr abweichender Status als eine Variation sichtbar; sie stören allemal das normale Zusammentreffen von syntaktischer Pause und Pausenintonation mit der metrischen Grenze. Wie ein Vortragender diese Stellen auch liest, die Anstrengung, die das Gedicht der Intonation auferlegt, bleibt wirksam. Die spezifischen Intonationskonturen bestimmter Gedichte, Dichter und Dichterschulen gehören zu den interessantesten Themen, die die russischen Formalisten in die Diskussion eingebracht haben.108 Der Verstyp wird in den Versrealisierungen verkörpert. Gewöhnlich wird die freie Variation in diesen Realisierungen mit dem etwas ungenauen Etikett *»Rhythmus« bezeichnet. Die Variation der Versrealisierungen innerhalb eines vorliegenden Gedichts ist von den verschiedenen Vortragsrealisierungen streng zu unterscheiden. Die Absicht, »die Verszeile zu beschreiben, wie sie tatsächlich vorgetragen wird«, ist für die synchronische und historische Analyse der Dichtung weniger nützlich als für die Untersuchung des Dichtungsvortrags in Gegenwart und Vergangenheit. Indessen ist die Wahrheit klar und einfach: »Es gibt viele Vortragsweisen zu einem Gedicht – mit zahlreichen Unterschieden untereinander. Ein Vortrag ist ein Ereignis, aber das Gedicht selbst, wenn es überhaupt so etwas wie ein Gedicht gibt, muß eine Art stabiler Gegenstand sein.« 109 Die Weisheit dieser Einsicht gehört wahrhaftig zu den wichtigsten Sätzen moderner Metrik. In Shakespeares Versen fällt die zweite, betonte Silbe des Wortes »absurd« für gewöhnlich auf eine Hebung, aber einmal, im dritten Akt von Hamlet, fällt sie auf eine Senkung: »No, let the candied tongue lick absurd pomp«.110 Beim Vortrag kann man das Wort »absurd« in dieser Zeile mit einer Anfangsbetonung auf der ersten Silbe skandieren oder mit einer Schlußbetonung der Standardakzentuierung Rechnung tragen. Man kann 106 Karcevskij, »Sur la phonologie de la phrase«. [Anm. v. R.J.] – Karcevskij nennt hier (S. 200) den Tonverlauf am Satzende »cadence«, »anti-cadence« hingegen die Stimmhebung am Ende von (internen) Satzteilgrenzen. [Anm. d. Komm.] 107 Pope, Der Lockenraub. Ein komisches Heldengedicht (1712/14). [Anm. d. Komm.] 108 E˙jchenbaum, »Melodika russkogo liricˇeskogo sticha«, u. Zˇirmunskij, Voprosy teorii literatury. Stat’i 1916–1926. 109 Wimsatt u. Beardsley, »The Concept of Meter«, S. 587. 110 ›Nein, Die Honigzunge lecke dumme Pracht‹ (III, ii, 60 – Shakespeare, Hamlet, S. 291; dt. Übs. v. August Wilhelm Schlegel: Hamlet, Prinz von Dänemark, S. 321). [Anm. d. Komm.]
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auch die Wortbetonung des Adjektivs der starken syntaktischen Betonung des folgenden Bezugsworts unterordnen, wie Hill vorschlägt: »No´, le`t the˘ caˆndı˘ed to´ngue lıˆck a˘bsu`rd po´mp«,111 wie in Hopkins’ Fassung des englischen *Antispast 112 – »regre´t ne˝ver«.113 Und schließlich gibt es noch die Möglichkeit, die Emphase entweder durch eine schwebende Betonung 114 zu modifizieren, die beide Silben umfaßt, oder durch eine exklamatorische Verstärkung der ersten Silbe (a`b-su´rd). Aber welche Lösung ein Vortragender auch wählt, die Verschiebung der Wortbetonung ohne vorausgehende Pause führt doch zu einer Verzögerung, und das Moment der enttäuschten Erwartung bleibt wirksam. Wo der Vortragende den Akzent auch setzt, die Diskrepanz zwischen der englischen Wortbetonung auf der zweiten Silbe von »absurd« und der Hebung auf der ersten Silbe ist immer ein konstitutives Merkmal in der Versrealisierung. Die Spannung zwischen Iktus 115 und üblicher Wortbetonung ist dieser Zeile inhärent, unabhängig davon, wie verschiedene Schauspieler und Leser sie verwirklichen. Wie Gerard Manley Hopkins im Vorwort zu seinen Gedichten bemerkt, »laufen gleichsam zwei Rhythmen nebeneinander her«.116 Seine Beschreibung eines solchen kontrapunktischen Ablaufs kann neu interpretiert werden. Die Überlagerung der Wortfolge durch das Äquivalenzprinzip, oder mit anderen Worten: der Ritt der metrischen Form auf der gewöhnlichen Form der Rede, führt notwendigerweise dazu, daß jeder, der Sprache und Versbau kennt, eine doppelte, ambige Gestalt wahrnimmt. Sowohl die Konvergenzen als auch die Divergenzen zwischen beiden Formen, sowohl die bestätigten als auch die enttäuschten Erwartungen, vermitteln diese Wahrnehmung. 111 Hill, Rez. v. Helge Kökeritz, Shakespeare’s Pronunciation. 112 Antikes Versmaß: – – . [Anm. d. Komm.] 113 Hopkins, »Rhythm and the Other Structural Parts of Rhetoric – Verse«, in: ders., The Journals and Papers, S. 267–288, hier S. 276. 114 »Mittel des Vortrags von Versen: Ausgleichung der sprachlichen Gewichte benachbarter Silben im Falle gegenläufiger Setzung« (Wagenknecht, Deutsche Metrik, S. 136). [Anm. d. Komm.] 115 »Iktus = *Versakzent«: »In fußmetrisch geregelten Versen: die metrische Auszeichnung der Hebungs-Stellen (wie etwa der festen Längen im Hexameter). Kann bei skandierendem Vortrag notfalls unter Tonbeugungen auch phonetisch repräsentiert werden.« (a. a. O., S. 132 u. 139.) [Anm. d. Komm.] 116 Hopkins, Poems, S. 46. [Anm. v. R.J.] – Dt. Übs. in: Hopkins, Gedichte – Schriften – Briefe, S. 703–708, hier S. 705: »so laufen gleichsam zwei Rhythmen nebeneinander her, und wir haben etwas, was dem Kontrapunkt in der Musik entspricht, wo zwei oder mehrere Tonreihen gleichzeitig fortgeführt werden; und dies ist dann der Kontrapunkt-Rhythmus.« [Anm. d. Komm.]
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Wie eine bestimmte Versrealisierung in einer bestimmten Vortragsrealisierung verwirklicht wird, hängt vom Vortragstyp des Sprechers ab; er kann sich an einen streng skandierenden Stil halten, eher zu prosaischer *Prosodie tendieren oder frei zwischen diesen beiden Polen oszillieren. In acht nehmen müssen wir uns vor den binären Vereinfachungen, die zwei Paare in einen einzigen Gegensatz pressen, indem sie entweder die hauptsächliche Unterscheidung zwischen Verstyp und Versrealisierung (und auch die zwischen Vortragstyp und Vortragsrealisierung) fallen lassen oder fälschlich Vortragsrealisierung und Vortragstyp mit Versrealisierung und Verstyp gleichsetzen. »But tell me, child, your choice; what shall I buy You?« – »Father, what you buy me I like best.« »So sag mir doch, Kind, deine Wahl; was soll ich dir Kaufen?« – »Vater, was Ihr mir kauft, ist mir das Liebste.« 117
Diese beiden Zeilen aus Hopkins’ »The Handsome Heart« 118 enthalten ein starkes Enjambement, bei dem die Versgrenze vor einen Schlußeinsilber am Ende einer Phrase, eines Satzes, einer Äußerung gesetzt wird. Der Vortrag dieser Fünfheber kann streng nach dem Metrum erfolgen, mit einer Pause zwischen »buy« und »you« und einer unterdrückten Pause nach dem *Pronomen. Oder ein prosa-naher Stil könnte im Gegensatz dazu die Zeile ohne jede Trennung zwischen den Wörtern »buy you« und einer markierten Pausenintonation am Ende der Frage lesen. Keine dieser Arten der Rezitation kann jedoch die absichtliche Diskrepanz zwischen der metrischen und der syntaktischen Aufteilung vertuschen.119 Die Versgestalt des Gedichts bleibt völlig unabhängig von den verschiedenen Lesungen, womit ich keineswegs die reizvolle Frage nach Autorenleser und Selbstleser abweisen möchte, die Sievers aufgeworfen hat.120 117 »Das holde Herz. Auf eine anmutige Antwort«, in: a. a. O., S. 106 f. [Anm. d. Komm.] 118 Vgl. Meyer, »G. M. Hopkins’ Lyrik und Meta-Lyrik und /als die kulturelle Provokation der ›poetic function of language‹ und der ›message as such‹«. [Anm. d. Komm.] 119 Vgl. Jakobson, »Polish Illustrations to ›Linguistics and Poetics‹«, S. 52, sowie die deutsche Übersetzung in diesem Bd., S. 218 f. [Anm. d. Komm.] 120 Sievers , »Ziele und Wege der Schallanalyse«. [Anm. v. R.J.] – Jakobson bezieht sich auf Sievers durchaus positiv in »Phonology and Phonetics« (S. 470 f.; dt. Übs.: »Phonologie und Phonetik«, S. 62) und in »Linguistics in Relation to Other Sciences« (S. 682 f.; dt. Übs.: »Die Linguistik und ihr Verhältnis zu anderen Wissenschaften«, S. 201 f.); kritischer im Gedenkartikel »Boris Michajlovicˇ E˙jchenbaum (4 oktjabrja 1886 – 24 nojabrja 1959)« (1963), bes. S. 552. [Anm. d. Komm.]
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Zweifellos ist der Vers in erster Linie eine wiederholte »Lautfigur«.121 Immer in erster Linie, aber nie ausschließlich. Alle Versuche, solche dichterischen Konventionen wie Metrik, *Alliteration oder *Reim auf die lautliche Ebene zu beschränken, sind spekulative Erörterungen ohne jede empirische Rechtfertigung. Die Abbildung des Gleichungs-Prinzips [equational principle] auf die Sequenz hat eine viel tiefere und weiterreichende Signifikanz. Vale´rys Sichtweise von der Dichtung als einem »Zögern zwischen Laut und Sinn« 122 ist viel realistischer und wissenschaftlicher als jedes Vorurteil zugunsten eines phonetischen Isolationismus. Obwohl der Reim per definitionem auf der regelmäßigen Wiederkehr äquivalenter Phoneme oder Phonemgruppen beruht, wäre es eine unhaltbare Vereinfachung, den Reim einzig vom Standpunkt des Klangs aus zu behandeln.123 Reim beinhaltet notwendigerweise eine semantische Beziehung der reimenden Einheiten zueinander (»rhyme-fellows« [›Reimfreunde‹] in Hopkins’ Nomenklatur).124 Wenn wir einen Reim genauer untersuchen, sehen wir uns vor die Frage gestellt, ob es sich um ein *Homoioteleuton 125 handelt, das ähnliche Ableitungs- und /oder Beugungssuffixe (congratulations – decorations) einander gegenüberstellt, oder ob die Reimwörter zur selben oder zu verschiedenen grammatischen Kategorien gehören. So besteht etwa Hopkins’ vierfacher Reim 126 aus zwei übereinstimmenden Nomina – »kind« und »mind« –, die beide in Kontrast zu dem Adjektiv »blind« und zu dem Verb »find« stehen. Gibt es eine se121 Anspielung auf Hopkins’ Bestimmung des Verses als »Rede, die ganz oder zum Teil die gleiche Klangfigur wiederholt« (»Poetry and Verse«, in: Hopkins, The Journals and Papers, S. 289 f.; dt. Übs.: »Dichtung und Vers«, in: ders., Gedichte – Schriften – Briefe, S. 263–265, hier S. 264); vgl. Anm. 62. [Anm. d. Komm.] 122 Vale´ry, The Art of Poetry. [Anm. v. R.J.] – Inzwischen: Vale´ry, Rhumbs, S. 637; dt. Übs.: Windstriche, S. 236. Auch von Heidegger in einer Vorbemerkung zu »Hölderlins Himmel und Erde« (1959) emphatisch zitiert (Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, S. 153). Auf Vale´ry anspielend, spricht Jakobson im »Retrospect« (1962) zu SW I (S. 658) vom »indissoluble bound between Sound and Meaning as the two integral parts of language«. Siehe auch Jakobsons postum erschienene »Six lec¸ons sur le son et le sens« (1942/43). [Anm. d. Komm.] 123 Zum Folgenden vgl. ausführlicher Jakobson, »Polish Illustrations to ›Linguistics and Poetics‹«, S. 52–54, dt. Übs. in diesem Bd., S. 219–222. [Anm. d. Komm.] 124 Hopkins, »Rhythm and the Other Structural Parts of Rhetoric – Verse«, in: ders., The Journals and Papers, S. 285. 125 »Das Homoeoteleuton besteht im gleichtönenden Ausklang aufeinanderfolgender Kola« (Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, Bd. 1, S. 361–363, §§ 725– 728, hier S. 361). [Anm. d. Komm.] 126 In dem Gedicht »My own heart let me more have pity on…« (Hopkins, Poems, S. 18; dt. Übs.: Gedichte – Schriften – Briefe, S. 154). [Anm. d. Komm.]
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mantische Nähe, eine Art Vergleichbarkeit zwischen aufeinander reimenden lexikalischen Einheiten, wie bei dove – love [›Taube – Liebe‹], light – bright [›Licht – hell‹], place – space [›Ort – Raum‹], name – fame [›Name – Ruhm‹]? Erfüllen die reimenden Glieder dieselbe syntaktische Funktion? Auf den Unterschied zwischen der morphologischen Klasse und ihrer syntaktischen Verwendung kann man durch einen Reim hinweisen. So etwa in den Zeilen von Poe: »While I nodded, nearly napping, suddenly there came a tapping. As of someone gently rapping« [›Als ich schlief, und beinah döste, kam plötzlich ein Klopfen. Wie von einem leise Trommelnden‹].127 Die drei Reimwörter sind morphologisch ähnlich, aber alle drei sind syntaktisch verschieden. Sind ganz oder teilweise *homonyme Reime verboten, werden sie toleriert oder gar vorgezogen? Solche vollständigen Homonyme etwa wie son – sun [›Sohn – Sonne‹], I – eye [›ich – Auge‹], eve – eave [›Abend – Sims‹], und andererseits solche Echoreime wie December – ember [›Dezember – Asche‹], infinite – night [›infinit – Nacht‹], swarm – warm [›Schwarm – warm‹], smiles – miles [›Lächeln – Meilen‹]? Wie steht es mit zusammengesetzten Reimen (wie bei Hopkins »enjoyment – toy meant« [›Vergnügen – Spielzeug gemeint‹] 128 oder »began some – ransom« [›begann einige – Lösegeld‹] 129 ), wo eine Worteinheit auf eine Wortgruppe paßt? Ein Dichter oder eine Dichterschule mag sich für oder gegen den *grammatischen Reim entscheiden; Reime sind immer entweder grammatisch oder antigrammatisch; 130 ein agrammatischer Reim, der gegenüber der Beziehung von Klang und grammatischer Struktur indifferent bliebe, wäre wie jeder Agrammatismus ein Fall für die Sprachpathologie. Wenn ein Dichter grammatische Reime vermeidet, dann gibt es für ihn, wie Hopkins sagte, »zwei Elemente in der Schönheit, die der Reim dem Geist bietet, die Ähnlichkeit oder Gleichheit im Klang und die Unähnlichkeit und Ungleichheit in der Bedeutung«.131 Wie das Verhältnis zwischen Klang und Bedeutung in verschiedenen Reimarten auch beschaffen ist, es haben notwendigerweise beide Sphären daran teil. Nach Wimsatts 127 Poe, »The Raven«, S. 94, v. 5–7. [Anm. d. Komm.] 128 »Morning Midday and Evening Sacrifice«, v. 12 u. 14 (Hopkins: Poems, S. 24; dt. Übs.: Gedichte – Schriften – Briefe, S. 100 f.). [Anm. d. Komm.] 129 »Felix Randal«, v. 6 f. (a. a. O., S. 86/110). [Anm. d. Komm.] 130 Vgl. Jakobson, »Poe˙zija grammatiki i grammatika poe˙zii«, S. 77, dt. Übs. in diesem Bd. S. 281; sowie Jakobson u. Pomorska, »Besedy (Dialogues)«, S. 527; dt. Übs.: Dialoge, S. 99 f. [Anm. d. Komm.] 131 Hopkins, »Rhythm and the Other Structural Parts of Rhetoric – Verse«, in: ders., The Journals and Papers, S. 286.
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erhellenden Beobachtungen zur Bedeutsamkeit des Reims 132 und den raffinierten modernen Studien zu slavischen Reimmustern kann ein Student der Poetik kaum mehr behaupten, daß Reime bloß in irgendeiner vagen Weise etwas bezeichneten. Der Reim ist nur ein besonderer, verdichteter Fall einer viel allgemeineren, wir könnten sogar sagen: einer viel grundlegenderen Problematik in der Dichtung, nämlich der des *Parallelismus. Hier hat wiederum Hopkins, in seinen studentischen Schriften von 1865, einen erstaunlichen Einblick in die Struktur der Dichtung geboten: Der künstlerische Teil der Dichtung – vielleicht können wir zu Recht sagen: alle Kunstfertigkeit – beschränkt sich auf das Prinzip des Parallelismus. Die Struktur der Dichtung ist die eines fortgesetzten Parallelismus, von den technischen sogenannten Parallelismen der hebräischen Dichtung und den Antiphonen der Kirchenmusik zu den verwickelten Versen im Griechischen, Italienischen oder Englischen. Aber Parallelismus gibt es notwendigerweise in zwei Arten – eine, bei der die Gegenüberstellung klar markiert ist, und eine, bei der sie eher transitorisch oder chromatisch ist. Nur die erste Art, also die des markierten Parallelismus, betrifft die Struktur des Verses – im Rhythmus, der Wiederkehr bestimmter Silbenfolgen, im Metrum, der Wiederkehr bestimmter Rhythmusfolgen, in der Alliteration, der *Assonanz und dem Reim. Nun liegt die Kraft der Wiederkehr darin, eine zweite Wiederkehr oder einen zweiten Parallelismus der Wörter oder der Gedanken hervorzurufen, und, grob gesprochen und eher der Tendenz als einem unabänderlichen Resultat entsprechend, ruft der deutlicher markierte Parallelismus in einer Struktur, ob durch Wortwahl oder Betonung, den deutlicher markierten Parallelismus in den Wörtern und im Sinn hervor. 〈…〉 Zur markierten oder abrupten Sorte des Parallelismus gehören die Metapher, der Vergleich, die Parabel, und so weiter, bei denen die Wirkung durch eine Ähnlichkeit zwischen den Dingen gesucht wird, und die *Antithese, der Kontrast, und so weiter, bei denen sie durch Unähnlichkeit gesucht wird.133
Kurz, eine Äquivalenz im Klang, deren Abbildung auf die Sequenz deren konstitutives Prinzip darstellt, schließt unweigerlich auch eine semantische Äquivalenz mit ein, und auf jeder linguistischen Ebene provoziert jede Konstituente einer solchen Sequenz eine der beiden korrelierenden Erfahrungen, die Hopkins ganz einfach als »Vergleich durch Ähnlichkeit« und »Vergleich durch Unähnlichkeit« definiert.134 132 Wimsatt, »One Relation of Rhyme to Reason«. 133 Hopkins, »Poetic Diction«, in: ders., The Journals and Papers, S. 84 f.; dt. Übs.: »Die poetische Diktion«, in: ders.: Gedichte – Schriften – Briefe, S. 260 f. [Anm. d. Komm.] 134 A. a. O., S. 106 [in der dt. Übs. weggelassen].
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Die Folklore bietet die am klarsten gebauten und die am meisten stereotypen Formen von Dichtung,135 die sich für eine strukturale Untersuchung am meisten eignen (wie Sebeok an tscheremissischen Beispielen gezeigt hat).136 Jene mündlichen Traditionen, die aufeinanderfolgende Zeilen mit grammatischen Parallelismen verbinden, wie zum Beispiel einige finno-ugrische Versmuster 137 und zu einem hohen Grad auch die russische Volksdichtung, öffnen sich fruchtbaren Analysen auf allen linguistischen Ebenen – der phonologischen, der morphologischen, der syntaktischen und der lexikalischen: So finden wir heraus, welche Elemente als äquivalent wahrgenommen werden und wie eine Ähnlichkeit auf bestimmten Ebenen mit auffälligen Unterschieden auf anderen Ebenen abgestimmt wird. Durch solche Formen können wir Ransoms weise Vermutung bestätigen, wonach »der Metrum-und-Bedeutungs-Prozeß die organische Handlung der Dichtung ist, die alle ihre wichtigen Merkmale einschließt«.138 Diese klar gebauten traditionellen Strukturen könnten Wimsatts Zweifel, ob man eine Grammatik des Wechselspiels zwischen Metrum und Sinn oder des Baus von Metaphern schreiben könne,139 vielleicht schnell ausräumen. Sobald der Parallelismus zum Kanon erhoben wird, hören die Interaktion zwischen Metrum und Sinn und der Bau von *Tropen auf, »freie, individuelle und unvorhersagbare Teile der Dichtung« 140 zu sein. Erlauben Sie mir, einige typische Zeilen aus russischen Hochzeitsliedern zu übersetzen, die die Erscheinung des Bräutigams beschreiben: Ein wackerer Recke näherte sich dem Tor, Vasilij ging zum Anwesen.
Die Übersetzung ist wörtlich; die Verben stehen allerdings bei beiden russischen Teilsätzen am Schluß (Dobroj mo´lodec k se´nicˇkam privora´ˇcival, // Vası´lij k te´remu pricha´zˇival). Syntaktisch und morphologisch entsprechen die Zeilen einander ganz. Beide prädikativen Verben haben diesel135 Zum Folgenden vgl. Jakobson, »Polish Illustrations to ›Linguistics and Poetics‹«, S. 54 f., dt. Übs. in diesem Bd., S. 223 f.; sowie ders., »Poe˙zija grammatiki i grammatika poe˙zii«, S. 66–69, dt. Übs. in diesem Bd., S. 264–270. [Anm. d. Komm.] 136 Sebeok, »Decoding a Text: Levels and Aspects in a Cheremis Sonnet«. [Anm. v. R.J.] – Die Tscheremissen (eigener Name: Mari) sind ein finno-ugrisches Volk an der mittleren Wolga. [Anm. d. Komm.] 137 Austerlitz, Ob-Ugric Metrics. The Metrical Structure of Ostyak and Vogul Folk-Poetry, u. Steinitz, Der Parallelismus in der finnisch-karelischen Volksdichtung. 138 Ransom, The New Criticism, S. 295. 139 Siehe Wimsatt in »Comments to Part Five« in: Style in Language, S. 205. 140 Zitat nicht ermittelt. [Anm. d. Komm.]
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ben Präfixe und Suffixe und denselben alternierenden Vokal im Stamm; sie gleichen sich in *Aspekt, *Tempus, *Numerus und *Genus; und mehr noch, sie sind synonym. Beide Subjekte, das *Appellativum und der Eigenname, beziehen sich auf dieselbe Person und bilden eine Appositionsgruppe. Die beiden räumlichen *Modifikatoren werden durch identische Präpositionalkonstruktionen ausgedrückt, und die erste steht in einer *synekdochischen Beziehung zur zweiten. Diese Verse folgen manchmal auf eine weitere Zeile von ähnlichem grammatischen (syntaktischen und morphologischen) Bau: »Kein heller Falke flog über die Hügel« oder »Kein wildes Pferd galoppierte in den Hof«. Der »helle Falke« und das »wilde Pferd« treten in diesen Varianten in eine metaphorische Beziehung zu dem »wackeren Kerl«. Das ist der traditionelle negative Parallelismus im Slavischen – die Zurückweisung des metaphorischen Sachverhalts (vehicle) zugunsten des tatsächlichen Sachverhalts (*tenor). Die Verneinung ne kann jedoch auch ausgelassen werden: Jasjo´n sokol za´ gory zaljo´tyval (›Ein heller Falke flog über die Hügel‹) oder Retı´v kon’ ko´ dvoru priska´kival (›Ein wildes Pferd galoppierte in den Hof‹). Im ersten dieser beiden Beispiele bleibt die metaphorische Beziehung erhalten: ein wackerer Kerl erschien beim Tor wie ein heller Falke von der anderen Seite der Hügel. Im anderen Fall dagegen wird die semantische Verbindung ambig. Es bietet sich ein Vergleich zwischen dem erscheinenden Bräutigam und dem galoppierenden Pferd an, aber zugleich antizipiert der Halt des Pferdes auf dem Hof tatsächlich den Gang des Helden zu dem Anwesen. So ruft dieses Lied vor der Einführung des Reiters und des Anwesens seiner Verlobten die benachbarten, metonymischen Bilder von Pferd und Hof auf: Besitzer für Besitztum, Außenraum für Innenraum. Die Exposition des Bräutigams kann in zwei konsekutive Momente aufgeteilt werden, sogar ohne das Pferd durch den Reiter zu ersetzen: »Ein wackerer Kerl galoppierte in den Hof, // Vasilij ging zum Tor«. So fungiert das »wilde Pferd«, das in der vorausgehenden Zeile an einem metrisch und syntaktisch ähnlichen Platz auftaucht wie der »wakkere Kerl«, zugleich als Ähnlichkeit zu und als repräsentatives Eigentum von diesem Kerl, im eigentlichen Sinn – als ein *pars pro toto für den Reiter. Das Bild des Pferds befindet sich an der Grenze zwischen *Metonymie und Synekdoche. Aus diesen suggestiven *Konnotationen des »wilden Pferdes« ersteht eine metaphorische Synekdoche: In den Hochzeitsliedern und anderen Spielarten des erotischen Volksguts im Russischen wird der maskuline retiv kon’ zu einem latenten oder sogar zu einem offenen Phallussymbol.
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Schon in den 1880er Jahren hat Potebnja,141 ein bemerkenswerter Forscher in Sachen slavischer Dichtung, darauf hingewiesen, daß in der Volksdichtung *Symbole gewissermaßen verdinglicht (ovesˇˇcestvlen) werden, in einen Teilaspekt der Umgebung eingehen.142 Obschon noch Symbol, werden sie doch in Verbindung mit der Handlung gebracht. So wird ein Vergleich in Gestalt einer zeitlichen Sequenz präsentiert. In Potebnjas Beispielen aus der slavischen Folklore dient eine Weide, unter der ein Mädchen entlanggeht, zugleich als Bild für sie; der Baum und das Mädchen sind beide zugleich in demselben sprachlichen simulacrum der Weide anwesend. Ganz ähnlich bleibt das Pferd aus den Liebesliedern ein Potenzsymbol, nicht nur, wenn das Mädchen von dem jungen Mann gebeten wird, sein Pferd zu füttern, sondern auch dann noch, wenn es gesattelt oder an einen Baum gebunden wird. In der Dichtung strebt nicht nur die phonologische Sequenz, sondern ebenso jede Sequenz aus semantischen Einheiten nach der Etablierung einer Gleichung. Die Überlagerung der Kontiguität durch die Similarität verleiht der Dichtung ihr durchgängig symbolisches, vielfältiges, polysemantisches Wesen, wie es Goethe wunderschön in seinem »Alles Vergängliche Ist nur ein Gleichnis« 143 angedeutet hat. In fachgerechteren Worten ausgedrückt, ist alles, was aufeinander folgt, ein Gleichnis. In der Dichtung, wo Similarität die Kontiguität überlagert, ist jede Metonymie ein wenig metaphorisch, und jede Metapher hat eine metonymische Färbung.144 Ambiguität ist ein intrinsischer, unveräußerlicher Charakterzug jeder auf sich selbst zentrierten Botschaft, kurz, eine Begleiterscheinung der Dichtung. Erlauben Sie mir, das nochmals in Empsons Worten zu sagen: »Die Verwirrspiele der Ambiguität gehören zu den Wurzeln der Dichtung 141 Aleksandr Potebnja (1835–91), der aus der Tradition Hegels und W. v. Humboldts stammte, war dank seines Verständnisses der Dichtung als »Sprache in ihrer schöpferischen Möglichkeit« einer der wichtigsten Anreger der russischen Formalisten, wegen seiner Bestimmung der Dichtung als »Denken in Wortbildern« aber auch eine ihrer polemischen Zielscheiben. Vgl. Erlich, Russischer Formalismus, bes. S. 24– 28. [Anm. d. Komm.] 142 Siehe Potebnja, Ob”jasnenija malorusskich i srodnych narodnych pesen’, Bd. I, S. 160 f. u. 179 f., und Bd. II: Koljadki i Sˇˇcedrovki. 143 Goethe, Faust, S. 464, v. 12104 f. [Anm. d. Komm.] 144 Vgl. die schlagenden Beispiele in Jakobsons »Polish Illustrations to ›Linguistics and Poetics‹«, S. 55 f., dt. Übs. in diesem Bd., S. 224 f.; sowie ders., »Two Aspects of Language and Two Types of Aphasic Disturbances«, S. 254–259, dt. Übs.: »Zwei Seiten der Sprache und zwei Typen aphatischer Störungen«, S. 133–139. [Anm. d. Komm.]
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selbst.« 145 Nicht nur die Botschaft selbst, sondern auch ihr Adressant und Adressat werden ambig.146 Neben dem Autor und dem Leser gibt es das ›Ich‹ des lyrischen Helden oder des fiktiven Erzählers und das ›Du‹ des angeblichen Adressaten in Theatermonologen, Gebeten und Briefen. Zum Beispiel wird das Gedicht »Wrestling Jacob« vom Titelhelden an den Erlöser gerichtet und dient zugleich als subjektive Botschaft des Dichters Charles Wesley (1707–88) an seine Leser. Nachgerade jede dichterische Botschaft ist ein quasi-zitierter Diskurs,147 mit all jenen besonderen und verwickelten Problemen, die die »Rede in der Rede« dem Linguisten bereitet. Der Vorrang der poetischen vor der referentiellen Funktion räumt die Referenz nicht aus, er macht sie ambig. Die doppel-sinnige Botschaft korrespondiert, einem gespaltenen Adressanten, einem gespaltenen Adressaten und einer gespaltenen Referenz, wie sie überzeugend im Vorspann von Märchen verschiedener Völker ausgedrückt ist, zum Beispiel im üblichen *exordium 148 der Geschichtenerzähler auf Mallorca: »Aixo` era y no era« (›Es war, und es war nicht‹).149 Die Wiederholbarkeit,150 die aus der Übertragung des Äquivalenzprinzips auf die Sequenz resultiert, macht nicht nur die konstitutiven Sequenzen der poetischen Botschaften, sondern auch die Botschaft als ganzes wiederholbar. Diese Eignung zur unmittelbaren oder aufgeschobenen Wiederholung, diese Verdinglichung der poetischen Botschaft und ihrer Bestandteile, diese Umwandlung der 145 Empson, Seven Types of Ambiguity, S. 5. 146 Durch die Dominanz einer der sprachlichen Funktionen (s. o. S. 165) werden die übrigen zwar nicht ausgelöscht, aber virtualisiert. [Anm. d. Komm.] 147 »Quasi-quoted«: das läuft auf eine Neutralisierung der von Searle im Namen der Sprechakt-Theorie gegen Derrida reklamierten Opposition von »use« und »mention«, von ernsthaftem ›Behaupten‹ und bloßem ›Zitieren‹, hinaus (vgl. Derrida, Limited Inc, bes. S. 79 f. u. 98). [Anm. d. Komm.] 148 Der Eröffnungsteil einer Rede – vor narratio, argumentatio und peroratio (vgl. Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik, Bd. 1, S. 148–163, §§ 262–288). [Anm. d. Komm.] 149 Giese, »Sind Märchen Lügen? Ein Beitrag zur rumänischen und albanischen Märchenkunde«, S. 139. 150 Indem er ein Jahrzehnt später auf der Iterierbarkeit aller Äußerungen insistiert (die »Möglichkeit des Heraushebens oder des zitationellen Pfropfreises [gehört] zur Struktur eines jeden gesprochenen oder schriftlichen Zeichens [marque]«), generalisiert Derrida die hier von Jakobson aus der Wiederholbarkeit abgeleitete Ambiguität poetischer Rede zu einer generellen »Ausschaltung der Autorität des Codes als geschlossenen Systems von Regeln« und zugleich zur »radikale[n] Zerstörung eines jeden Kontextes als Protokoll des Codes« (Derrida, »Signatur Ereignis Kontext«, S. 304 u. 298 f.). [Anm. d. Komm.]
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Botschaft in ein dauerhaftes Ding, all dies ist in der Tat eine inhärente und wirkungsvolle Eigenschaft der Dichtung. In einer Sequenz, in der die Similarität die Kontiguität überlagert, werden zwei ähnliche Phonemsequenzen, die nahe beieinander liegen, leicht eine paronomastische Funktion entwickeln.151 Wörter, die einander lautlich ähneln, werden in der Bedeutung aneinander gerückt. Es ist wahr, daß die erste Zeile der letzten *Strophe in Poes »Raven«, wie Vale´ry bemerkt hat,152 vielfältige wiederholte Alliterationen einsetzt, aber der »überwältigende Effekt« 153 dieser Zeile und der ganzen Strophe verdankt sich in erster Linie der Macht der poetischen Etymologie.154 And the Raven, never flitting, still is sitting, still is sitting On the pallid bust of Pallas just above my chamber door; And his eyes have all the seeming of a demon’s that is dreaming, And the lamp-light o’er him streaming throws his shadow on the floor: And my soul from out that shadow that lies floating on the floor Shall be lifted – nevermore! Und der Rabe rührt’ sich nimmer, sitzt noch immer, sitzt noch immer auf der bleichen Pallas-Büste überm Türsims wie vorher; und in seinen Augenhöhlen eines Dämons Träume schwelen, und das Licht wirft seinen scheelen Schatten auf den Estrich schwer; und es hebt sich aus dem Schatten auf dem Estrich dumpf und schwer meine Seele – nimmermehr.155
Der Sitz des Raben, »the pallid bust of Pallas«, ist durch die *›sonore‹ Paronomasie /pæ´ləd/ – /pæ´ləs/ zu einem organischen Ganzen verschmolzen (ähnlich wie in Shelleys wohlgeformtem Vers »Sculptured on alabaster obelisk« 156 [›Gemeißelt auf alabasternem Obelisk‹] /sk.lp/ – /l.b.st/ – 151 Vgl. Jakobson, »Polish Illustrations to ›Linguistics and Poetics‹«, S. 56–58, dt. Übs. in diesem Bd., S. 225–228. [Anm. d. Komm.] 152 Vale´ry, The Art of Poetry, S. 319. [Anm. v. R.J.] – Das Zitat stammt aus Vale´rys (hier als Appendix [S. 313–323] zweisprachig abgedrucktem) erstem Artikel, »Sur la technique litte´raire« (1889): »Il pre´voit, a` coup suˆr, l’effet accablant d’un morne refrain, d’allite´rations fre´quentes: ›And the Raven, never flitting, still is sitting still is sitting‹« (S. 1832); dt. Übs.: »Mit Sicherheit vermag er die niederdrückende Wirkung eines düsteren Kehrreims vorauszusehen, oder häufiger Alliterationen: […]« (»Über die literarische Technik«, S. 14). [Anm. d. Komm.] 153 Ebd. [Anm. d. Komm.] 154 Hierzu und zum folgenden vgl. die ausführliche Behandlung des Gedichts in Jakobsons Aufsatz »Language in Operation«, dt. Übs. »Sprache in Aktion«, in diesem Band. [Anm. d. Komm.] 155 Deutsche Übersetzung nach: Poe, Der Rabe, übs. v. H. Wollschläger, S. 23. [Anm. d. Übs.]
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/b.l.sk/). Die beiden gegenübergestellten Wörter waren bereits vorher in einem anderen *Epitheton zu derselben Büste – placid /plæ´sıd/ – ein poetisches ›portmanteau word‹,157 und die Verbindung zwischen dem Sitzenden und dem Sitz ist wiederum durch eine Paronomasie befestigt worden: »bird or beast upon the 〈…〉 bust« [›Vogel oder Biest auf der 〈…〉 Büste‹]. Der Vogel »is sitting // On the pallid bust of Pallas just above my chamber door« [›sitzt auf der bleichen Büste der Pallas gerade über meiner Zimmertüre‹], und der Rabe auf seinem Sitz ist, trotz des Imperativs des Liebhabers: »take thy form from off my door« [›nimm deine Gestalt von meiner Tür‹], durch die Wörter /ˇ´st əb´v/ am Platz festgenagelt, wobei beide Wörter in /b´st/ überblendet sind. Der endlose Aufenthalt des grimmigen Gasts wird durch eine Kette ingeniöser Paronomasien ausgedrückt, eine teil inverse Kette, wie wir es von einem so absichtsvollen Experimentator in Sachen eines regressiven modus operandi,158 einem solchen Meister im »Rückwärtsschreiben« 159 wie Edgar Allan Poe erwarten. In der Anfangszeile dieser letzten Strophe taucht »raven«, in Kontiguität zu dem düsteren Refrainwort »never«, wieder als verkörpertes Spiegelbild dieses »never« auf: /n.v.r/ – /r.v.n/. Treffende Paronomasien verbinden die beiden Embleme immerwährender Verzweiflung: erst »the Raven, never flitting« zu Beginn der allerletzten Strophe und zum zweiten in ihren letzten Zeilen den »shadow that lies floating on the floor«, und »shall be lifted – nevermore«: /ne´vər flı´tı´ŋ/ – flo´tı´ŋ/ 〈…〉 /flɔ´r/ 〈…〉 /lı´ftəd ne´vər/. Die Alliterationen, die Vale´ry auffielen,160 ergeben eine paronomastische Kette: /sti´ … / – /si´t … / – /sti´ …/ – 156 Shelley, »Alastor: or the Spirit of Solitude« / »Alastor oder Der Geist der Einsamkeit«, v. 113, in: ders., Ausgewählte Werke, S. 210–261, hier S. 222. Weitere metrische Detailanalysen v. a. zu Shelleys Poem »Alastor« finden sich im »Retrospect« zu SW V, S. 592–599. [Anm. d. Komm.] 157 »In der Wortbildung Vorgang und Ergebnis der Kreuzung bzw. Verschmelzung zweier Ausdrücke zu einem neuen Ausdruck.« (Bußmann [Hg.], Lexikon der Sprachwissenschaft, S. 373, Art. »Kontamination«.) Der Ausdruck geht zurück auf Carroll, Through the Looking Glass (S. 276): »Well, ›slithy‹ means ›lithe and slimy‹. […] You see it’s like a portmanteau – there are two meanings packed up into one word.« (Kap. 6: »Humpty Dumpty«.) / »Nun ›glaß‹ heißt ›glatt und naß‹. Das ist wie eine Schachtel, verstehst du: zwei Bedeutungen werden dabei zu einem Wort zusammengesteckt.« (Carroll, Alice hinter den Spiegeln, S. 200.) [Anm. d. Komm.] 158 Poe, »The Philosophy of Composition«, S. 195; dt. Übs.: »Die Methode der Komposition«, S. 533. Zur Herkunft des scholastischen Terminus verweist Panofsky auf Thomas von Aquins Summa Theologiae (qu. 89, art. 1, c) (vgl. Panofsky, Gothic Architecture and Scholasticism, S. 27 f.; dt. Übs.: S. 22). [Anm. d. Komm.] 159 Vgl. Poe, »Secret Writing [Addendum III]«, S. 140–149. [Anm. d. Komm.] 160 Vgl. oben Anm. 152. [Anm. d. Komm.]
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si´t … /. Die Invarianz in dieser Gruppe wird durch ihre Reihenfolge nochmals betont. Die beiden Lichteffekte im Zwielicht – die »fiery eyes« [›feurigen Augen‹] des Schwarzgefiederten und die Stehlampe, die »his shadow on the floor« [›seinen Schatten auf den Boden‹] wirft – werden aufgerufen, um die Düsternis des Gesamtbildes zu verstärken und sind wiederum durch die »lebendige Wirkung« 161 von Paronomasien zusammengebunden: /ɔ´lðə sı´mıŋ/ 〈…〉 /dı´mənz/ 〈…〉 /Iz drı´mıŋ/ – /ɔrım stri´mıŋ/. »That shadow that lies /la´yz/« bildet ein Paar mit den »eyes« /a´yz/ des Raben in einem wirkungsvoll falsch plazierten Echoreim. In der Dichtung wird jede auffällige lautliche Similarität mit Bezug auf Similarität und /oder Dissimilarität in der Bedeutung bewertet. Aber Popes alliterierendes Diktum an die Dichter – »the Sound must seem an Eccho of the Sense« [›der Klang muß wie ein Echo der Bedeutung erscheinen‹] 162 – ist noch weitergehend anwendbar. In der referentiellen Sprache ist die Verbindung zwischen signans und signatum in der überwältigenden Mehrheit der Fälle ihrer im Code festgelegten Kontiguität geschuldet, die häufig etwas konfus als »Arbitrarität des sprachlichen Zeichens« 163 etikettiert wird. Die Relevanz des Laut-Bedeutungs-Nexus 164 ist ein simples Korrelat zur Überlagerung der Kontiguität durch die Similarität. Lautsymbolismus besteht aus einer unbezweifelbar objektiven Relation, die aufgrund einer Verbindung zwischen verschiedenen Sinneswahrnehmungen auf der Ebene der Phänomene hergestellt wird, besonders zwischen visuellen und auditiven Erfahrungen.165 Wenn die Forschungsergebnisse aus diesem Bereich manchmal vage oder kontrovers erschienen, liegt das in erster Linie an mangelnder Sorgfalt im Umgang mit den Methoden psychologischer und /oder linguistischer Forschung. Besonders aus der linguistischen Perspektive ist das Bild oft durch mangelnde Aufmerksamkeit auf den phonologischen Aspekt von Sprachlauten oder durch unvermeidlich verfehlte Operationen an komplexen Phonemeinheiten statt an ihren letzten Bestandteilen verzerrt worden. Aber wenn wir zum Beispiel solche Phonemoppositionen wie dunkel vs. hell prüfen, indem wir uns 161 Wohl freie Variation des in Anm. 152 nachgewiesenen Zitats. [Anm. d. Komm.] 162 Pope, »An Essay on Criticism«, S. 281 (v. 365). [Anm. d. Komm.] 163 »[…] le signe linguistique est arbitraire« (Saussure, Cours de linguistique ge´ne´rale, S. 100); »das sprachliche Zeichen ist beliebig« (Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, S. 79). [Anm. d. Komm.] 164 Vgl. Genette, Mimologiken, bes. S. 362–372. [Anm. d. Komm.] 165 Vgl. Jakobson: »Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze«, S. 386–388 (§ 27); ders., »Six lec¸ons sur le son et le sens«; Reichard, Jakobson u. Werth, »Language and Synesthesia«; sowie Jakobson u. Waugh, The Sound Shape of Language, bes. S. 191–198 (dt. Übs.: Die Lautgestalt der Sprache, S. 207–214). [Anm. d. Komm.]
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fragen, ob /i/ oder /u/ dunkler sei, dann werden zwar einige Versuchspersonen antworten, daß diese Frage ihnen sinnlos erscheine, aber kaum eine wird behaupten, daß /i/ der dunklere Laut sei. Die Dichtung ist nicht der einzige Bereich, wo Lautsymbolismus spürbar wird, aber sie ist ein Feld, wo die innere Verbindung zwischen Laut und Bedeutung nicht mehr latent ist, sondern offenbar wird und sich am fühlbarsten und intensivsten manifestiert, wie Hymes in seinem anregenden Beitrag bemerkte.166 Eine überdurchschnittliche Anhäufung einer bestimmten Klasse von Phonemen oder eine kontrastive Zusammenfügung zweier gegensätzlicher Klassen im lautlichen Gewebe einer Zeile, einer Strophe oder eines Gedichts verhalten sich wie eine »Unterströmung an Bedeutung«, um Poes malerischen Ausdruck aufzunehmen.167 Bei zwei polar entgegengesetzten Wörtern kann die phonemische Beziehung mit der semantischen Opposition übereinstimmen, wie bei den russischen Wörtern /d,en,/ ›Tag‹ und /nocˇ/ ›Nacht‹, wo helle Vokale und Konsonanten im Tagesnamen und der korrespondierende dunkle Vokal im Nachtnamen zu finden sind. Weiter verstärkt wird dieser Kontrast, wenn das erste Wort von hellen Phonemen umgeben wird, in Gegenüberstellung zu einer dunklen Phonemnachbarschaft um das zweite Wort, wodurch das Wort zu einem genauen Echo seiner Bedeutung wird. Aber im französischen jour ›Tag‹ und nuit ›Nacht‹ ist die Verteilung dunkler und heller Vokale umgekehrt, so daß Mallarme´s Divagations seiner Muttersprache eine hinterhältige Perversion vorwerfen, da sie dem Tag ein dunkles Timbre und der Nacht ein helles zuweise.168 Whorf sagt: Wenn ein »Wort eine akustische Ähnlichkeit mit seiner eigenen Bedeutung [hat], […] dann fällt uns das leicht auf. Liegt jedoch das Gegenteil vor, so bemerkt es niemand.« 169 Dichtungssprache aber, und besonders die französische Dichtung, wenn es um die Kollision zwischen Laut und Bedeutung geht, die Mallarme´ entdeckte, sucht sich entweder eine phonologische Alternative zu einer solchen Diskrepanz und ertränkt die ›verkehrte‹ Verteilung der Vokaleigenschaften, indem sie nuit mit dunklen 166 Hymes, »Phonological Aspects of Style«. 167 Poe, »The Philosophy of Composition«, in: ders., Complete Works, Bd. 14, S. 193– 208, hier S. 208 (Im Original: »undercurrent of meaning«); dt. Übs.: »Die Methode der Komposition«, in: Poe, Werke IV, S. 547. [Anm. d. Komm.] 168 Mallarme´, »Crise de vers«, in: ders., Divagations, S. 235–251. [Anm. v. R.J.] – Inzwischen in: Mallarme´, Œuvres comple`tes, S. 363 f.; dt. Übs.: »Vers-Krise«, in: Mallarme´, Kritische Schriften, S. 219. Vgl. hierzu Genette, Mimologiken, S. 300– 326. [Anm. d. Komm.] 169 Whorf, »Language, Mind, and Reality«, S. 268; dt. Übs.: »Sprache, Geist und Wirklichkeit«, S. 71. [Anm. d. Komm.]
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und jour mit hellen Phonemen umgibt, oder sie behilft sich mit einer semantischen Verschiebung und ersetzt in ihren Bildern von Tag und Nacht die Bilder von hell und dunkel durch andere synästhetische Korrelate der Phonemopposition dunkel /hell, und stellt etwa einen prallen, warmen Tag einer luftigen, kühlen Nacht gegenüber; denn die Menschen scheinen »die den Wörtern ›hell, kalt, scharf, hart, hoch, leicht, schnell, eng‹ usw. entsprechenden Erfahrungen in einer langen Reihe miteinander zu assoziieren und ebenso, in einer anderen Reihe, die den Wörtern ›dunkel, warm, nachgebend, weich, stumpf, niedrig, schwer, langsam, weit‹ etc. entsprechenden Erfahrungen«.170 So wirksam die betonte Wiederholung in der Dichtung auch ist, das Lautgewebe ist doch keineswegs auf Zahlenspielereien beschränkt, und ein Phonem, das nur einmal, aber in einem Schlüsselwort, an entscheidender Stelle, vor einem kontrastiven Hintergrund vorkommt, kann eine bemerkenswerte Signifikanz entwickeln. Wie die Maler früher sagten: »Un kilo de vert n’est pas plus vert qu’un demi kilo.« [›Ein Kilo Grün ist nicht grüner als ein halbes Kilo.‹] Jede Analyse eines poetischen Lautgewebes muß die phonologische Struktur der jeweiligen Sprache und, neben ihrem übergeordneten Code, auch die hierarchische Ordnung der phonologischen Distinktionen in der jeweiligen dichterischen Konvention in Rechnung stellen. So erlaubt der unreine Reim bei den slavischen Völkern in der mündlichen und in einigen Epochen der schriftlichen Tradition ungleiche Konsonanten in den Reimgliedern (z. B. im Tschechischen boty, boky, stopy, kosy, sochy [›Schuhe, Seite, Spuren, Sensen, Statuen‹]), aber wie Nitsch bemerkte, sind keine wechselseitigen Entsprechungen zwischen stimmhaften und stimmlosen Konsonanten erlaubt,171 so daß die eben zitierten tschechischen Wörter nicht auf body, doby, kozy, rohy [›Punkte, Zeiten, Ziegen, Ecken‹] reimen könnten. In den Liedern einiger amerikanischer Indianervölker, etwa bei den Pima-Papago und den Tepecano, steht laut Herzog – dessen Beobachtungen nur teilweise gedruckt zugänglich sind 172 – an der Stelle der Phonemdistinktion zwischen stimmhaften und stimmlosen Plosiven sowie zwischen diesen und den *Nasalen eine freie Variation, während die Unterscheidung zwischen *Labialen, *Dentalen, *Velaren und *Palatalen streng aufrechterhalten wird. Also verlieren die Konsonanten in der Dichtung dieser beiden Sprachen zwei ihrer vier *distinktiven Merkmale, 170 A. a. O., S. 267/70. 171 Nitsch, »Z historii polskich rymo´v«. 172 Herzog, »Some Linguistic Aspects of American Indian Poetry«, S. 82.
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stimmhaft /stimmlos und nasal /oral, und bewahren die anderen beiden, hell /dunkel und *kompakt/*diffus.173 Die Selektion und die hierarchische Anordnung der je gültigen Kategorien ist ein Faktor von oberster Wichtigkeit für die Poetik, sowohl auf der phonologischen als auch auf der grammatischen Ebene. Die altindische und die mittellateinische Literaturtheorie haben zwei Pole der Wortkunst scharf unterschieden, die im Sanskrit Pa¯n˜ca¯lı¯ und Vaidarbhı¯ hießen und entsprechend im Lateinischen ornatus difficilis und ornatus facilis,174 wobei der letztere Stil offensichtlich linguistisch viel schwerer zu analysieren ist, weil in solchen literarischen Formen die sprachlichen Verfahren unauffällig sind und die Sprache wie ein beinahe durchsichtiges Gewand erscheint. Aber mit Charles Sanders Peirce müssen wir feststellen: »Dieses Kleid kann nie vollkommen abgelegt werden, man kann es nur durch ein durchsichtigeres ersetzen.« 175 »Versloses Dichten«, wie Hopkins die prosaische Spielart der sprachlichen Kunst nennt – in der der Parallelismus nicht so streng markiert und nicht so streng regelmäßig eingesetzt wird wie im »fortgesetzten Parallelismus« der Dichtung und in der die Lautfigur nicht dominant ist 176 – stellt die Poetik vor verwickeltere Probleme, wie es auch jeder andere Übergangsbereich in der Linguistik tut. In diesem Fall handelt es sich um den Übergang von streng poetischer zu streng referentieller Sprache. Aber Propps Pionierarbeit zur Struktur des Märchens 177 zeigt uns, wie ein einheitlich syntaktischer Ansatz sogar bei der Klassifikation der traditionellen Plots und bei der Suche nach jenen verwirrenden Gesetzen eine erhebliche Hilfe sein kann, die der Zusammenstellung und der Selektion dieser Plots zugrunde liegen. Die jüngsten Studien von Le´vi-Strauss 178 demonstrieren einen viel tiefergehenden, aber im wesentlichen doch ähnlichen Ansatz für dasselbe Konstruktionsproblem. 173 Vgl. die Oppositionspaare VIII u. III sowie X u. IV der Liste der distinktiven Merkmale in »Phonology and Phonetics«, S. 484–486; dt. Übs.: »Phonologie und Phonetik«, S. 78–81. [Anm. d. Komm.] 174 Arbusow, Colores rhetorici, S. 17–20. 175 Peirce, Collected Papers, Bd. 1, S. 171 (1.339). 176 Hopkins, »Rhythm and the Other Structural Parts of Rhetoric – Verse«, in: ders., The Journals and Papers, S. 267; sowie »On the Origin of Beauty«, a. a. O., S. 108. [Anm. v. R.J.] – Im Original: »continuous structural parallelism«. [Anm. d. Komm.] 177 Propp, Morphology of the Folktale. [Anm. v. R.J.] – Zu Propp und Le´vi-Strauss vgl. Jakobsons »Retrospect« zu SW IV, S. 646 f. [Anm. d. Komm.] 178 Le´vi-Strauss, »L’analyse morphologique des contes russes«; La Geste d’Asdival; und »The Structural Study of Myth«.
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Es ist kein bloßer Zufall, daß metonymische Strukturen nicht so weitgehend erforscht sind wie das Feld der Metapher.179 Lassen Sie mich noch einmal meine alte Beobachtung wiederholen, daß die wissenschaftliche Forschung zu Tropen in der Dichtung sich vor allem der Metapher gewidmet hat und daß die sogenannte realistische Literatur, die im engsten Verhältnis zum metonymischen Prinzip steht, sich der Interpretation noch immer entzieht, obwohl dieselben linguistischen Methoden, mit denen die Poetik den metaphorischen Stil der romantischen Dichtung analysiert, voll und ganz auf das metonymische Gewebe der realistischen Prosa anwendbar wären.180 Die Lehrbücher glauben, daß es Gedichte ohne Bilder gibt, aber in Wirklichkeit wird jede Armut an lexikalischen Tropen durch prachtvolle grammatische Tropen 181 und *Figuren ausgeglichen. Das poetische Material, das in der morphologischen und syntaktischen Struktur der Sprache verborgen liegt, – kurz, die Poesie der Grammatik und ihr literarisches Produkt, die Grammatik der Poesie 182 –, ist von Kritikern nur selten erkannt und von den Linguisten meist nicht beachtet worden, aber die Schriftsteller haben es in ihren Schöpfungen geschickt gemeistert. Die hauptsächliche dramatische Kraft von Antonius’ exordium zu seiner Grabrede auf Caesar 183 gewinnt Shakespeare aus einem Spiel mit grammatischen Kategorien und Konstruktionen.184 Mark Antonius gibt Brutus’ Rede dem Spott preis, indem er die vorgegebenen Gründe für die Ermordung Caesars in bloße linguistische Fiktionen 185 verwandelt. Brutus’ 179 Vgl. Jakobson, »Two Aspects of Language and Two Types of Aphasic Disturbances«, S. 258; dt. Übs.: »Zwei Seiten der Sprache und zwei Typen aphatischer Störungen«, S. 138. [Anm. d. Komm.] 180 Jakobson, »The Metaphoric and Metonymic Poles«, in: »Two Aspects […]«, a. a. O., S. 254–259. [Anm. v. R.J.] – Dt. Übs.: »Die Polarität zwischen Metaphorik und Metonymik«, in: »Zwei Seiten der Sprache […]«, a. a. O., S. 133–139. Zur Opposition von Metapher und Metonymie vgl. schon Jakobsons »Randbemerkungen zur Prosa des Dichters Pasternak« (1935). [Anm. d. Komm.] 181 Vgl. Jakobson, »›Czułos´c´‹ Cypriana Norwida«, S. 516, Anm. 12; dt. Übs. in dieser Ausgabe Bd. 2, S. 387, Anm. 46. [Anm. d. Komm.] 182 Vgl. Jakobsons Vortrag »Poe˙zija grammatiki i grammatika poe˙zii«; dt. Übs. in diesem Bd., S. 256–301. [Anm. d. Komm.] 183 Shakespeare, Julius Caesar III, ii, 79–257 (künftig zitiert unter einfacher Versangabe). [Anm. d. Komm.] 184 Zum Folgenden vgl. das Mickiewicz-Beispiel in Jakobsons »Polish Illustrations to ›Linguistics and Poetics‹«, S. 58–61; dt. Übs. in diesem Bd., S. 228–232. [Anm. d. Komm.] 185 Zu diesem Begriff Jeremy Benthams vgl. Jakobson, »Poe˙zija grammatiki i grammatika poe˙zii«, S. 65 f.; dt. Übs. in diesem Band, S. 262. [Anm. d. Komm.]
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Anklage gegen Caesar, »as he was ambitious, I slew him« [v. 28 f.: ›weil er herrschsüchtig war, brachte ich ihn um‹] wird einer Reihe von Transformationen unterworfen. Zunächst reduziert Antonius den Satz zu einem bloßen Zitat, wodurch die Verantwortung für diese Behauptung auf den zitierten Sprecher übergeht: »The noble Brutus // Hath told you 〈…〉« [83 f.: ›Der edle Brutus hat es euch gesagt 〈…〉‹]. In der Wiederholung gerät dieser Verweis auf Brutus durch das *adversative »but« [92: ›aber‹] in eine Opposition zu Antonius’ eigenen Beteuerungen, und das konzessive »yet« [99, 104: ›doch‹] zieht ihn noch weiter hinab. Der Verweis auf die Ehrenhaftigkeit desjenigen, von dem die Behauptung stammt, rechtfertigt die Behauptung nicht mehr, nachdem das zunächst kausale »for« [88: ›denn‹] in der Wiederholung durch das bloß *kopulative »and« [100: ›und‹] ersetzt worden ist und nachdem der Verweis schließlich durch die boshafte Einführung des modalen »sure« [105: ›gewiß‹] in Frage gestellt wurde: The noble Brutus Hath told you Caesar was ambitious; For Brutus is an honourable man, But Brutus says he was ambitious, And Brutus is an honourable man. Yet Brutus says he was ambitious, And Brutus is an honourable man. Yet Brutus says he was ambitious, And, sure, he is an honourable man. [83–105] Der edle Brutus Hat euch gesagt, Caesar war ehrgeizig; Denn Brutus ist ein ehrenwerter Mann, Aber Brutus sagt, er war ehrgeizig, Und Brutus ist ein ehrenwerter Mann. Doch Brutus sagt, er war ehrgeizig, Und Brutus ist ein ehrenwerter Mann, Doch Brutus sagt, er war ehrgeizig, Und, gewiß, er ist ein ehrenwerter Mann.
Das folgende *Polyptoton 186 – »I speak 〈…〉 Brutus spoke 〈…〉 I am to speak« [106 f.: ›Ich spreche 〈…〉 Brutus sprach 〈…〉 Ich will sprechen‹] – 186 Zumeist *anaphorische Wortwiederholung mit Lockerung der Flexionsform von Nomina und Pronomina sowie Adverbialbildung von Adjektiven und Pronominalstämmen (vgl. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, Bd. 1, S. 325– 329, §§ 640–648); von Jakobson hier im weiteren Sinne auch auf verbale Veränderungen angewandt. [Anm. d. Komm.]
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vertritt die wiederholte Behauptung als bloß indirekte Rede und nicht als Faktenbericht. Die Wirkung, würde man in der Modallogik 187 sagen, liegt in dem obliquen Zusammenhang der angeführten Argumente, wodurch sie zu unbeweisbaren Glaubenssätzen werden 188: I speak not to disprove what Brutus spoke, But here I am to speak what I do know. [106 f.] Ich spreche nicht, zu widerlegen, was Brutus sagte, Aber hier bin ich zu sagen, was ich weiß.
Der wirkungsvollste Kunstgriff von Antonius’ Ironie ist der Wechsel vom modus obliquus der Brutus-Paraphrase in den modus rectus,189 wodurch all diese verdinglichten Zuschreibungen als reine linguistische Fiktionen enthüllt werden. Auf Brutus’ Ausspruch »he was ambitious« [28: ›er war herrschsüchtig‹] antwortet Antonius zunächst, indem er das Adjektiv vom Agens zur Handlung transferiert (»Did this in Caesar seem ambitious?« [96: ›Schien das an Caesar herrschsüchtig?‹]), dann, indem er das *abstrakte Nomen »ambition« [›Herrschsucht‹] aufruft und es zum Subjekt einer konkreten Passivkonstruktion wendet: »Ambition should be made of sterner stuff« [98: ›Herrschsucht sollte aus härterem Stoff gemacht sein‹], und schließlich zum Prädikatsnomen im Fragesatz: »Was this ambition?« [103: ›War das Herrschsucht?‹] – Brutus’ Aufruf »hear me for my cause« [13 f.: ›hört mich um meiner Sache willen‹] wird mit demselben *Nomen in recto beantwortet, dem unterstellten Subjekt der interrogativen Aktivkonstruktion: »What cause withholds you 〈…〉?« [109: ›Welche Sache hält euch 〈…〉?‹]. Während Brutus ruft: »awake your senses, that you may the better judge« [17 f.: ›weckt eure Sinne, daß ihr besser urteilen könnt‹], wird das abstrakte Substantiv zu »judge« [›urteilen‹] der angesprochene Agens in Antonius’ Bericht: »O judgment, thou art fled to brutish beasts 〈…〉« [110: ›Oh Urteil, du bist zu rohen Tieren entflohen 〈…〉‹]. Übrigens erinnert diese Anrede mit ihrer mörderischen Paronomasie Brutus – brutish [›Brutus – roh‹] an Caesars letzten Ausruf: »Et tu, Brute!« 190 Eigenschaften und Handlungen werden in recto präsentiert, während ihre Träger in obliquo erscheinen (»withholds you« [109], »to brutish beasts« [110], »back to me« 187 Zweig der modernen Logik, in dem modale Kategorien (z. B. die der Möglichkeit, der Notwendigkeit oder der Kontingenz) untersucht werden. [Anm. d. Komm.] 188 D. h.: Die Argumente werden als oblique (›indirekte‹) Rede angeführt; ihre Wahrheit wird nicht behauptet, sondern daß der Sprecher ihre Wahrheit behauptet, wird festgestellt. [Anm. d. Komm.] 189 Aussageweise der indirekten Rede vs. der direkten Rede. [Anm. d. Komm.] 190 Shakespeare, Julius Caesar II, 1, 77. [Anm. d. Komm.]
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[113]) oder als Subjekte negativer Handlungen (»men have lost« [111: ›die Männer verloren‹], »I must pause« [113: ›ich muß innehalten‹]): You all did love him once, not without cause; What cause withholds you then to mourn for him? O judgment, thou art fled to brutish beasts, And men have lost their reason! [108–111] Ihr alle liebtet ihn einst, nicht ohne Grund; Welcher Grund hält euch dann ab, um ihn zu trauern? Oh Urteil, du bist zu wilden Tieren entflohen, Und die Menschen haben ihren Verstand verloren!
Die letzten beiden Zeilen in Antonius’ exordium zeigen die auffällige Unabhängigkeit dieser grammatischen Metonymien. Das stereotype »Ich trauere um den-und-den« und das figurative, aber weiterhin stereotype »der-und-der ist im Sarg, und mein Herz ist bei ihm« oder »gehört ihm« weichen in Antonius’ Rede einer kühn durchgeführten Metonymie; 191 die Trope wird ein Teil der dichterischen Realität: My heart is in the coffin there with Caesar, And I must pause till it come back to me. [112 f.] Mein Herz ist in dem Sarg dort bei Caesar, Und ich muß innehalten, bis es zu mir zurückkehrt.
In der Dichtung gewinnt die interne Form eines Namens, das heißt: das semantische Gewicht seiner Bestandteile, ihre Relevanz zurück.192 »Cocktails« können ihre längst ausgeräumte Verwandtschaft mit dem Geflügel [cock ›Hahn‹] wieder annehmen. Ihre Farben werden in den Zeilen von Mac Hammond lebendig: »The ghost of a Bronx pink lady // With orange blossoms afloat in her hair« [›Der Geist einer Bronx pink lady, // orangene Blüten schweben in ihrem Haar‹], und die etymologische Metapher erfährt ihre Verwirklichung: »O, Bloody Mary, // The cocktails have crowed, not the cocks!« [›Oh, Bloody Mary, // die Cocktails krähten, nicht die Hähne!‹] (»At an Old Fashion Bar in Manhattan«).193 In 191 S. o. Anmerkung 142. [Anm. d. Komm.] 192 Zum Folgenden vgl. Jakobson, »Polish Illustrations to ›Linguistics and Poetics‹«, S. 61 f., dt. Übs. in diesem Bd., S. 232–234. [Anm. d. Komm.] 193 Das von Mac Hammond (1926–97), einem früheren Doktoranden und Assistenten Jakobsons, in keinen seiner vier Gedichtbände aufgenommene Gedicht wird in der Poetry /Rare Books Collection der Universitätsbibliothek der State University of New York at Buffalo aufbewahrt; vgl. hierzu und besonders zu den von Hammond wortspielerisch verwendeten und inzwischen zumeist veralteten Cocktail-Namen: Edmunds, »Roman Jakobson and Mac Hammond«. [Anm. d. Komm.]
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T. S. Eliots Komödie The Cocktail Party 194 wird die Evokation von Cocktails mit finsteren zoologischen Motiven verwoben. Das Spiel beginnt mit Alex’ Ausruf: You’ve missed the point completely, Julia: There were no tigers. That was the point. Du hast die Pointe ganz verpaßt, Julia: Da war kein Tiger. Das war die Pointe. [353/177]
Julia erinnert sich an den einzigen Mann, den sie je getroffen hat, »who could hear the cry of bats« [›der Fledermäuse schreien hören konnte‹ (355/180)]. Einen Augenblick später verkündet sie: »Now I want to relax. Are there any more cocktails?« [›Jetzt will ich mich entspannen. Gibt es noch Cocktails?‹ (355/181)]. Und im letzten Akt fragt Julia Alex noch einmal: »You were shooting tigers?« [›Du hast Tiger gejagt?‹]. Und Alex antwortet: There are no tigers, Julia, In Kinkanja 〈…〉 Though whether the monkeys are the core of the problem Or merely a symptom, I am not so sure. 〈…〉 The majority of the natives are heathen: They hold these monkeys in peculiar veneration 〈…〉 Some of the tribes are Christian converts, 〈…〉 They trap the monkeys. And they eat them. The young monkeys are extremely palatable 〈…〉 I invented for the natives several new recipes. Es gibt keine Tiger, Julia, In Kinkanja 〈…〉 Doch ob die Affen der Kern des Problems sind Oder bloß ein Symptom, bin ich mir nicht sicher. 〈…〉 Die Mehrzahl der Eingeborenen sind Heiden: Sie zeigen den Affen eine eigenartige Ehrerbietung 〈…〉 Einige Stämme sind zu Christen konvertiert, 〈…〉 Die fangen die Affen. Und sie essen sie. Die jungen Affen sind äußerst schmackhaft. 〈…〉 Ich erfand für die Eingeborenen eine Reihe neuer Rezepte. [427 f./286 ff.]
Was die Heiden angeht, »instead of eating monkeys, / They are eating Christians. / Julia: Who have eaten monkeys 〈…〉« [›statt Affen zu essen, / 194 Eliot, The Cocktail Party; dt. Übs.: Die Cocktail Party. Komödie (künftig zitiert mit einfacher Angabe der Seitenzahlen). [Anm. d. Komm.]
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essen sie Christen. / Julia: Die Affen gegessen haben 〈…〉‹ (ebd.)]. Plötzlich ruft sie: Somebody must have walked over my grave: I’m feeling so chilly. Give me some gin. Not a cocktail. I’m freezing – in July! Jemand muß über mein Grab gelaufen sein: Ich friere so. Gib mir von dem Gin. Keinen Cocktail. Ich erfriere – im Juli!‹ [429/290]
Wallace Stevens’ Gedicht »An Ordinary Evening in New Haven« 195 belebt das Hauptwort im Stadtnamen erst durch eine diskrete Anspielung auf heaven [›Himmel‹] und dann durch eine direkte wortspielartige Konfrontation fast wie in Hopkins’ »Heaven-Haven«.196 The dry eucalyptus seeks god in the rainy cloud. Professor Eucalyptus of New Haven seeks him in New Haven 〈…〉 The instinct for heaven had its counterpart: The instinct for earth, for New Haven, for this room 〈…〉. Der trockne Eukalyptus sucht Gott in der Regenwolke. Professor Eukalyptus aus New Haven sucht ihn in New Haven 〈…〉 Der Trieb zum Himmel hat sein Gegenstück: Der Trieb zur Erde, zu New Haven, zu diesem Raum 〈…〉.
Das Adjektiv »New« [›Neu‹] im Stadtnamen wird durch eine Verkettung von Gegenteilen bloßgelegt: The oldest-newest day is the newest alone. The oldest-newest night does not creak by 〈…〉. Der ältest-neueste Tag ist der neueste allein. Die ältest-neueste Nacht kommt nicht vorbei 〈…〉.
Als der Moskauer Linguistenzirkel 1919 darüber diskutierte, wie man epitheta ornantia 197 definieren und ihre Reichweite festlegen solle, wies uns der Dichter Majakovskij mit den Worten ab, für ihn sei jedes Adjektiv, das in einem Gedicht vorkomme, schon darum ein dichterisches Epitheton, sogar »groß« in Großer Bär oder »groß« und »klein« in solchen Moskauer Straßennamen wie Bol’sˇaja (›große‹) Presnja und Malaja (›klei195 Stevens, »An Ordinary Evening in New Haven«, in: ders., Collected Poetry & Prose, S. 397–417. [Anm. d. Komm.] 196 Hopkins, Poems, S. 19; dt. Übs.: »Himmels-Hafen«, in: Gedichte – Schriften – Briefe, S. 218 f. [Anm. d. Komm.] 197 Schmückendes Beiwort ohne zusätzlichen Informationswert (griech.). [Anm. d. Komm.]
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ne‹) Presnja. Vgl. Majakovskijs Gedicht aus dem Jahre 1915, »Ich und Napoleon«,198 das mit den Worten beginnt: Ja zˇivu na Bol’sˇoj Presne, /34,24/ 〈…〉: ›Ich lebe auf der Großen Presnja, 34, 24. Offenbar ist es nicht meine Sache, daß irgendwo auf der stürmischen Welt Leute hingingen und den Krieg erfanden‹. Und das Gedicht endet wie folgt: ›Der Krieg hat noch einen getötet, den Dichter in der Großen Presnja (poe˙ta v Bol’sˇoj Presni)‹. Kurz, Poetizität ist keine Ergänzung der Rede durch rhetorischen Schmuck, sondern eine vollkommene Neubewertung der Rede und all ihrer Komponenten jeglicher Art. Ein Missionar warf seiner afrikanischen Gemeinde vor, daß sie ohne Kleider herumliefen. »Und was ist mit dir?«, zeigten sie auf sein Gesicht, »bist du nicht auch an manchen Stellen nackt?« »Gut, das ist aber mein Gesicht.« »Doch bei uns«, erwiderten die Eingeborenen, »ist überall Gesicht.« Genauso wird in der Dichtung aus jedem sprachlichen Element eine Figur der dichterischen Rede. Mein Versuch, den Anspruch und die Pflicht der Linguistik zu verteidigen, was die erste Stelle bei der Untersuchung der Wortkunst und aller Dinge in ihrem Umfeld angeht, mag mit demselben Refrain enden, der meinen Bericht von der Konferenz im Jahre 1953 hier an der Indiana University zusammenfaßte: »Linguista sum; linguistici nihil a me alienum puto«.199 [›Ich bin Linguist; ich meine, mir sei nichts Linguistisches fremd.‹] Wenn der Dichter Ransom recht hat (und das hat er), daß »die Dichtung eine Art Sprache ist«,200 dann kann und muß der Linguist, dessen Gebiet jede Art von Sprache abdeckt, die Dichtung in seine Studien miteinbeziehen. Erinnern wir uns an das weise Gebot von Paul Vale´ry: la Litte´rature est, et ne peut ˆetre autre chose qu’une sorte d’extension et d’application de certaines proprie´te´s du Langage [›die Literatur ist und kann nichts anderes sein als eine Art von Erweiterung und Anwendung bestimmter Eigenschaften der Sprache‹].201 Die gegenwärtige Konferenz 198 Majakovskij, Polnoe sobranie socˇinenij v trinadcatij tomach, Bd. 1: 1912–1917, S. 72– 74: »Ja i Napoleon«. [Anm. d. Komm.] 199 Jakobson, »Results of a Joint Conference of Anthropologists and Linguists«, S. 555. [Anm. v. R.J.] – Anspielung auf Terenz’ »Heautontimoroumenos« (I, i, 25): »Homo sum; humani nil a me alienum puto.« [›Ich bin ein Mensch; nichts Menschliches ist mir fremd.‹] [Anm. d. Komm.] 200 Ransom, The World’s Body, S. 235. 201 Vale´ry, »De l’enseignement de la poe´tique au Colle`ge de France«, in: ders., Varie´te´ V, S. 289. [Anm. v. R.J.] – Wiederabdruck: »L’enseignement de la poe´tique au Colle`ge de France«, in: Vale´ry, Œuvres I, S. 1440. Dt. Übs.: »daß die Literatur nichts anderes ist und sein kann als eine Art Erweiterung und Anwendung gewisser Eigentümlichkeiten der Sprache« (»Poetik-Unterricht am Colle`ge de France«, S. 114). [Anm. d. Komm.]
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hat klar gezeigt, daß die Zeit, in der sowohl die Linguisten als auch die Literaturhistoriker den Fragen nach der poetischen Struktur auswichen, heute sicher hinter uns liegt. Wie Hollander richtig sagte, »scheint es keinen Grund zu geben, die Literaturwissenschaft von der weiteren Linguistik abzutrennen«.202 Falls einige Kritiker noch immer bezweifeln, daß die Linguistik über die Kompetenz verfüge, das Feld der Poetik zu begreifen, dann vermute ich, daß da die poetische Inkompetenz einiger bigotter Linguisten mit einer Unzulänglichkeit der linguistischen Wissenschaft selbst verwechselt wurde. Alle, die wir hier sind, verstehen aber, daß es sich bei einem Linguisten, der gegen die poetische Funktion der Sprache taub ist, und einem Literaturwissenschaftler, der an linguistischen Problemen kein Interesse hat und der die Methoden der Linguistik nicht kennt, um gleichermaßen krasse Anachronismen handelt. Editorische Notiz Erstmals als Vortrag auf der Conference on Style an der Indiana University im Frühjahr 1958 gehalten, dann in Stanford, California, 1959 zum schriftlichen Beitrag ausgearbeitet und in Style in Language, hg. v. T. A. Sebeok (Cambridge, Mass. 1960) veröffentlicht.
Literatur Jakobsons eigene Literaturangaben sind mit ° gekennzeichnet. ° Arbusow, Leonid: Colores rhetorici. Eine Auswahl rhetorischer Figuren und Ge-
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Roman Jakobson
Polnische Illustrationen zu »Linguistik und Poetik« 1 Übersetzung aus dem Polnischen Sylwia Grzesinska, Anna Auguscik und Imke Mendoza
Kommentar Imke Mendoza und Małgorzata Zemła Der erste Aufenthalt Jakobsons in Polen fand im Oktober 1958 statt. Im September 1958 hatte er auf dem IV. Internationalen Slavisten-Kongreß in Moskau Kontakte zu polnischen Literaturwissenschaftlern geknüpft und wurde daraufhin vom Instytut Badan´ Literackich in Warschau zu einer Tagung in Krynica (17.–20. Oktober) eingeladen. Dort stellte Jakobson einem erlesenen Gremium von polnischen Literaturwissenschaftlern u. a. den Beitrag »Linguistik und Poetik« vor. Die außergewöhnlich gute, schaffensfreudige Atmosphäre dieses Treffens inspirierte Jakobson dazu, seine Ideen aus »Linguistik und Poetik« anhand polnischer Beispiele zu illustrieren, es entstand der vorliegende Aufsatz. Die Umstände, denen wir die »Polnischen Illustrationen zu ›Linguistik und Poetik‹« verdanken, waren der Beginn einer intensiven Zusammenarbeit mit der polnischen Literaturwissenschaft. Dem ersten Besuch folgten weitere Besuche in Polen. So nahm Jakobson 1960 an der Internationalen PoetikKonferenz teil, auf dem sein berühmtes Werk »Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie« seine Premiere erlebte. Denkwürdig war diese Konferenz auch durch die methodologischen Auseinandersetzungen zwischen Jakobson und Ingarden. 1
Vorlage: Jakobson, Roman Osipovicˇ: »Polish Illustrations to ›Linguistics and Poetics‹«, in: SW III, S. 52–62. Erstfassung: »Poetyka w ´swietle je˛zykoznawstwa«, in: Pamie˛tnik Literacki 51 (1960), S. 431–473. [Anm. d. Komm.]
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Um Jakobson scharte sich eine Gruppe von Studenten, die später als Warschauer Strukturalisten bekannt wurden (u. a. Michał Głowin´ski, Aleksandra Okopien´-Sławin´ska und Janusz Sławin´ski). Diesem Kreis stand auch Jakobsons spätere Ehefrau Krystyna Pomorska nahe. 2 Jakobson und seine Arbeiten übten einen nachhaltigen Einfluß auf die polnische Metrik-Schule 3 mit ihren wichtigsten Vertreterinnen Teresa Dobrzyn´ska, Zdzisława Kopczyn´ska und Lucylla Pszczołowska 4 aus. Jakobsons engste Mitarbeiterin und Herausgeberin in Polen war Maria Renata Mayenowa. Insgesamt steht die lebhafte Rezeption von »Linguistik und Poetik« und der Arbeiten zur Metrik mit ihren Anwendungen auf die polnische Lyrik in Polen in einem seltsamen Gegensatz zu der sehr viel zurückhaltenderen Aufnahme von Jakobsons Einzelanalysen zu Norwid. 5 Imke Mendoza und Małgorzata Zemła
1 – »Nabij i zabij!«- krzyki dwa… a wie˛cej Co´z˙?… Niezachwiany cyrkiel i rutyna; – »Schlage und töte!« Zwei Schreie… und noch Was?… Unbeugsamer Zirkel und Routine;
Diese zwei Verse aus Norwids »Fulminant« 6 enthalten ein starkes *Enjambement, das eine *Wortgrenze vor dem einsilbigen, die Phrase abschließenden Wort schafft. Die Rezitation dieser zwei Verse kann strikt metrisch sein, mit einer Betonung der Pause zwischen den Wörtern wie˛cej [›noch‹] und co´z˙ [›was‹] und einer Aufhebung der Pause nach dem Pronomen. Umgekehrt kann das Gedicht auch prosaähnlich wiedergegeben werden, ohne Trennung der Wörter wie˛cej – co´z˙ [›noch – was‹] und mit einer nachdrücklichen intonatorischen Pause am Ende der Fra2 3 4 5 6
Vgl. dazu Głowin´ski, »Roman Jakobson v Pol’sˇe«. [Anm. d. Komm.] Vgl. die Arbeiten aus der Reihe Słowian´ska metryka poro´wnawcza. [Anm.d. Komm.] Vgl. Pszczołowska, »Roman Jakobson’s Concepts and Thoughts as Applied and Continued in the Series ›Comparative Slavic Metrics‹«. [Anm. d. Komm.] Vgl. Jakobson, »›Vergangenheit‹ von Cyprian Norwid« und »›Gefühl‹ von Cyprian Norwid«, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 354–374 u. 375–394 [Anm. d. Komm.] Norwid, »Fulminant. Rapsod«, in: Poematy, S. 307. [Anm. d. Komm.]
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ge. Dennoch kann weder die eine noch die andere Art der Rezitation die beabsichtigte Widersprüchlichkeit zwischen der syntaktischen und der metrischen Gliederung in diesen zwei Versen Norwids, oder im ähnlichen Fall des berühmten Enjambements aus Racines »Phe`dre«, verbergen: Mais tout n’est pas detruit et vous en laissez vivre Un… Votre fils, Seigneur, me de´fend de poursuivre.7 Doch alles ist nicht vertilgt, und leben lassen Sie noch Eins – Ihr Sohn, mein Herr, verwehrt mir fortzufahren.
2 Obwohl sich der *Reim ex definitione auf eine reguläre Wiederholung *äquivalenter *Phoneme oder Phonemgruppen stützt, wäre es eine übermäßige und ungesunde Vereinfachung, ihn nur unter lautlichem Gesichtspunkt zu betrachten. Ein Reim zieht unvermeidlich semantische Relationen zwischen den Reimeinheiten nach sich. Bei der Untersuchung des Reimes stehen wir vor dem Problem, ob er (als Ganzes oder nur in den Endkomponenten) ein *Homoioteleuton darstellt, in dem ähnliche Wortbildungssuffixe und Endungen nebeneinandergestellt werden, oder nicht, d. h. einen *grammatischen Reim, wie in den vierzeiligen Epigrammen von Kochanowski: mys´liła – zniewoliła [›würdest denken – würdest einnehmen‹], mianujesz – folgujesz [›nennst – frönst‹] (»Do paniej« [›An (die) Frau‹]), sobie – tobie [›sich – dich‹], jaki – taki [›welcher – solcher‹] (»Do Walka« [›An Walek‹]) 8 oder einen halbgrammatischen Reim, wie bei Mickiewicz: trwoga – droga [›Angst – Weg‹], pokropił – zatopił [›(er) hat bespritzt – (er) hat (sich) versenkt‹], widziadłem – posiadłem 9 [›(dem) Trugbild – (ich) habe erlangt‹]. Eine formale Übereinstimmung wird zuweilen darauf reduziert, daß die Grenze zwischen Stamm und Suffix gleich ist: gromad-a – pradziad-a [›(die) Schar – (des) Urahns‹], z Rus-i – mus-i [›aus Ruthenien – (er) muß‹], niesi-e – po lesi-e [›trägt – im Wald‹], za re˛c-e – pos´wie˛c-e˛ 10 [›an (den) Händen – (ich) werde opfern‹].11 Eine andere Art grammatischer Reime als solche »formalen« Reime sind »konzeptuelle« grammatische 7 8 9 10 11
Racine, »Phe`dre«, in: ders., The´aˆtre complet, S. 625, V. 1445 f. [Anm. d. Komm.] Kochanowski, Fraszki. [Anm. d. Komm.] Vgl. Budkowska, Słownik rymo´w Adama Mickiewicza. [Anm. d. Komm.] Der Buchstabe »e˛« wird im Auslaut häufig [e] ausgesprochen. [Anm. d. Komm.] Angabe der Morphemgrenzen durch einen Trennungsstrich von uns. [Anm. d. Komm.]
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Reime, wo sich die grammatische Übereinstimmung der sich reimenden Wörter auf die Identität einer morphologischen Kategorie beschränkt, z. B. bei Norwid: sposo´b [Nom. Sg. masc. ›Weise‹] – oso´b [Gen. Pl. fem. ›Personen‹] (zwei Substantive), w słowie [Lok. Sg. neutr. ›im Wort‹] – obłokowie [Nom. Pl. m. ›Wolken‹] (dito), grot [Nom. Sg. m. ›Großsegel‹] – grzmot [Nom. Sg. m. ›Donner‹] (gleicher Kasus), chmur [Gen. Pl. f. ›Wolke‹] – go´r [Gen. Pl. f. ›Berg‹] – pio´r [Gen. Pl. f. ›Federn‹] (dito). Im Gegensatz zu allen Arten von grammatischen Reimen gibt es auch sozusagen antigrammatische Reime, die keine gemeinsamen morphologischen Eigenschaften besitzen, wie z. B. bei Norwid: bladszy – zapatrzy [›blässer – verguckt‹], Sorrento – kre˛to [›Sorrento – gewunden‹], dopo´ty – zepsuty [›so lange – entzwei‹], ło´dz´ – wro´´c [›Boot – kehre um‹], tym – rym [›diese – Reim‹], znak – tak [›Zeichen – so‹], z˙al – chwal [›schade – lobe‹], sta˛p – do pomp [›tritt auf – zu (den) Pumpen‹], pra˛d – blond [›Strom – blond‹], krzyk – zwykł 12 [›Geschrei – gewöhnt‹] 13. Bei der Untersuchung des Reims stoßen wir ständig auf das Problem, daß sich die Sprachebenen überschneiden. Gibt es zum Beispiel eine semantische Verwandtschaft, eine Art banale Ähnlichkeit zwischen den sich reimenden, lexikalischen Einheiten in so gewöhnlichen Reimen wie groby – z˙ałoby [›Gräber – Trauerkleidung‹], ojczyzna – blizna [›Heimat – Narbe‹], serce – w rozterce [›Herz – im Zwiespalt‹], głe˛boki – wysoki [›tief – hoch‹], jedyna – dziewczyna [›einzige – Mädchen‹], lud – cud [›Volk – Wunder‹], z˙al – dal [›Trauer – Ferne‹]? Haben die sich reimenden Glieder die gleiche syntaktische Funktion? Der Unterschied zwischen dem morphologischen Typ und der syntaktischen Funktion kann sich gerade im Reim zeigen. So ist in den ersten drei Versen von Norwids Gedicht »W Weronie« [›In Verona‹] jedes der drei halbgrammatischen, morphologisch identischen Reimpaare in syntaktischer Hinsicht differenziert: Nad Kapuletich i Montekich domem Spłukane deszczem, poruszone gromem, Łagodne oko błe˛kitu: Patrzy na gruzy nieprzyjaznych grodo´w, na rozwalone bramy do ogrodo´w i gwiazde˛ zrzuca ze szczytu – 14 12 Der Buchstabe »ł« wird nach Verschlußlauten häufig nicht ausgesprochen. [Anm. d. Komm.] 13 Vgl. Jez˙owski, Słownik rymo´w Cypriana Norwida. [Anm. d. Komm.] 14 Norwid, Vade-mecum. Podobizna autografu z przedmowa˛ W. Borowego, S. 13. Jakobson zitiert die zwei ersten von insgesamt vier Dreizeilern dieses Gedichts. In Norwids Manuskript sind die Strophen römisch numeriert. [Anm. d. Komm.]
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Über der Capulets und Montagues Haus Gespült vom Regen, bewegt vom Donner, Das milde Auge von Azur: Schaut auf Ruinen unfreundlicher Burgen, Auf zerstörte Tore von Gärten Und wirft einen Stern ab aus der Höhe –
Der präpositionalen adverbialen Bestimmung des Ortes, die den ersten Vers beschließt, entspricht ein Agens-Objekt beim Passivpartizip im zweiten Vers, das Genitivattribut des vierten Verses reimt sich auf das präpositionale Attribut im fünften Vers, und das des dritten Verses auf die adverbiale Bestimmung des Ortes im sechsten Vers. Sind ganz oder partiell *homonyme, gleichlautende Reime verboten, toleriert oder favorisiert? Z. B. vollständige Homonyme, also »Homoreime« oder »Scheinreime«, wie die polnischen Dichter unlängst vergangener Zeiten sie getauft haben 15 wie do woli [›zur Genüge‹] – woli (Verb) [›bevorzugt‹] aus dem Epigramm Kochanowskis »Do snu« 16 [›An (den) Traum‹] (was, genauer gesagt, ein halbgrammatischer Stammreim, aber kein Suffixreim ist), rzeke˛ (Verb) [›(ich) sage‹] – rzeke˛ (Substantiv) [›(den) Fluß‹] – in »Z˙ona uparta« [›Sture Frau‹] von Mickiewicz 17, wierze˛ [›(ich) glaube‹] – wiez˙e [›Türme‹] in »Balladyna« von Słowacki 18, aber auch die von Tuwim zitierten scherzhaften, *männlichen Reime von Kazimierz Wroczyn´ski 19 wie no´z˙ [›Messer‹] – nuz˙ [›wenn doch‹], ust [›(des) Mundes‹] – uzd [›(des) Halfters‹], tautologische Reime wie ruinami – ruinami [›mit Ruinen‹] in dem raffinierten »Post Scriptum« Norwids oder in Galczyn´skis Gedichten: Ta pelargonia: to poko´j i te wiersze: to poko´j [›Diese 15 Tuwim, Pegaz de˛ba, S. 7. [Anm. v. R.J.] – Pegaz de˛ba beinhaltet Beiträge, die Tuwim in der Zwischenkriegszeit für die Zeitschrift Wiadomos´ci Literackie schrieb. Es ist eines der wichtigsten poetologischen Werke jener Zeit und wird oft mit den programmatischen Artikeln des polnischen Avantgarde-Papstes Tadeusz Peiper verglichen. Dabei zeigt sich Tuwim darin mit Vorliebe nicht nur als poeta doctus, sondern auch als poeta ludens und unterminiert die eigene Programmatik, indem er zu skurrilen Themen und Quellen greift und Begriffe wie »homorymy« erfindet. Mit großer Gelehrsamkeit und viel Humor behandelt Tuwim in Pegaz de˛ba Fragen zur Metrik, Translatorik und zur poetischen Etymologie sowie der poetischen zaum’-Sprache. Dabei ist die Verwandtschaft und Abhängigkeit Tuwims, des Liebhabers russischer Poesie, dem wir auch zahlreiche schöne Übersetzungen verdanken, von den russischen Futuristen und der Theorie der Formalisten (v. a. Viktor Sˇklovskijs) unübersehbar. [Anm. d. Komm.] 16 Kochanowski, Fraszki. [Anm. d. Komm.] 17 Mickiewicz, »Z˙ona uparta«, in: ders., Wiersze, S. 417 f. [Anm. d. Komm.] 18 Vgl. Jez˙owski, Słownik rymo´w Juliusza Słowackiego. [Anm. d. Komm.] 19 Tuwim, Pegaz de˛ba, S. 7. [Anm. d. Komm.]
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Geranie das ist das Zimmer und diese Gedichte das ist das Zimmer‹]; auf der anderen Seite Semi-Homoreime, also Echoreime wie die folgenden bei Norwid: ´smiechom [Dat. Pl. von ›Lachen‹] – echom [Dat. Pl. von ›Echo‹], Eden – jeden [›einer‹], idzie [›geht‹] – piramidzie [›der Pyramide‹], idzie [›geht‹] – o wstydzie [›über (die) Scham‹], ona [›sie‹] – obwiniona [›Beschuldigte‹], opo´r [›Widerstand‹] – topo´r [›Beil‹], ostry [›spitz‹] – siostry [›Schwestern‹ oder ›(der) Schwester‹], głe˛bokiem 20 [›(den) tiefen‹] – okiem [›mit (dem) Auge‹], oczy [›Augen‹] – warkoczy [›(der) Zöpfe‹], uczem [›(ich) lerne‹] – kluczem [›(mit dem) Schlüssel‹], urnie [›(der) Urne‹] – powto´rnie 21 [›erneut‹], gadam [›(ich) rede‹] – Adam, atom [›Atom‹] – kwiatom [›(den) Blumen‹], atomie [›(dem) Atom‹] – tomie [›(dem) Band‹], ´cwiekiem [›(mit dem) Reißnagel‹] – wiekiem [›(mit dem) Alter‹], łamał [›brach‹] – kłamał [›log‹], style [›Stile‹] – tyle [›so viel‹], z˙ywy [›lebendig‹] – grzywy [›Mähnen‹ oder ›(der) Mähne‹], sie˛ga [›greift‹] – ksie˛ga [›Buch‹], licha [›schlecht‹] – kielicha [›(des) Kelches‹], Mojz˙esza – [›(von) Moses‹], rzesza [›Schar‹], Kimryso´w [›(der) Kymren‹] – ryso´w [›(der) Züge‹], podnosiły [›(sie) erhoben‹] – siły [›Kräfte‹ oder ›(der) Kraft‹], serafinowych [›(der) seraphischen‹] – nowych [›(der) neuen‹]. Einer Analyse bedürfen auch Spaltreime wie z. B. bei Norwid nie ty [›nicht du‹] – komety [›Kometen‹ oder ›(des) Kometen‹], ja wiem [›(ich) weiß‹] – pawiem [›(mit dem) Pfau‹], z´renic [›(der) Pupillen‹] – gdzie nic [›wo nichts‹], co wiek [›jedes Jahrhundert‹] – człowiek [›Mensch‹], Nilowej 22 [›(des) Nil-‹] – jako wy [›wie ihr‹] oder bei Wacław Potocki: granic [›(der) Grenzen‹] – nie ma nic [›es gibt nichts‹], gorzałka [›Schnaps, Branntwein‹] – ge˛ba łka [›(das) Maul schluchzt‹], odkryje dno [›eröffnet (den) Abgrund‹] – w jedno [›in einem‹], w grzechu z˙yc´ [›in Sünde leben‹] – dłuz˙yc´ [›lange werden‹], wo ein einzelnes Wort mit einer Wortgruppe übereinstimmt, oder auch mit einer nicht ganz vollständigen Wortgruppe, wie i na 〈sieroctwo〉 [›und in 〈die Verwaisung〉‹] – syna [›(des) Sohnes‹] bei Potocki, wo der zusammengesetzte Reim gebrochen ist; dies entspricht auch völlig einigen Reimen von Majakovskij: pierina [›Federbett‹] – i na 〈niejo〉 [›und auf 〈sie〉‹] und machina [›Koloß‹] – i na 〈drugije〉 [›und auf 〈andere〉‹].
20 Veraltete Form, heute: głe˛bokim. [Anm. d. Komm.] 21 Aussprache: [pofturn’e]. [Anm. d. Komm.] 22 Bei Norwid wohl Nilowe´j, mit dem sog. »geneigten e« (e pochylone), dessen engere Aussprache dem [y] näher ist und sich somit besser reimt. [Anm. d. Komm.]
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3 Auf einem mehrschichtigen *Parallelismus sind die typischen Zweizeiler in der slavischen Volkskunst aufgebaut: Szumiała leszczyna, kiedym przez nia˛ jechał, Płakała dziewczyna, kiedym ja˛ zaniechał. Das Haselwäldchen rauschte, als ich durch es fuhr, Das Mädchen weinte, als ich es verließ.
Die beiden Verse werden von koordinierten Sätzen gebildet, beide mit einer übergeordneten Äußerung im ersten, sechssilbigen Halbvers und einer abhängigen Aussage im zweiten, ebenfalls sechssilbigen Halbvers. Alle vier Segmente im zweiten Vers ähneln den vier Segmenten im ersten Vers bezüglich ihrer syntaktischen Funktion, ihren grammatischen Kategorien und ihren Suffixen, dagegen ist der dritte Abschnitt der beiden Verse tautologisch (kiedym); jedes Segment im zweiten Vers hat genauso viele Silben, wie das ihm entsprechende Segment im ersten Vers (3 + 3 + 2 + 4) und ist mit ihm durch einen zweisilbigen Reim verbunden: szumiała [›rauschte‹] – płakała [›weinte‹], leszczyna [›Haselwäldchen‹] – dziewczyna [›Mädchen‹], kiedym [›als‹] – kiedym 23 [dass.], przez nia˛ jechał [›durch es fuhr‹]– ja˛ zaniechał [›es verließ‹]. Die abschließenden Segmente zeigen bei einer prinzipiellen Äquivalenz einen sehr hohen Differenzierungsgrad: Der betonten Silbe in dem Abschlußreim gehen jeweils Gruppen von Phonemen voraus, die hinsichtlich ihres Bestandes ähnlich, aber hinsichtlich der Anordnung der Phoneme unterschiedlich sind, nämlich: /zn´o˛j/ – /jo˛z.n´/. Der Reihe Präposition + Pronomen (przez nia˛) entspricht eine Verbindung von eben diesem Pronomen mit dem folgenden Präfix. Eine deutliche grammatische *Opposition bilden die beiden Verben – das *intransitive, *imperfektive Verb jechał [›fuhr‹] und das *transitive, *perfektive Verb zaniechał [›verließ‹]. Der faktisch zeitlichen Bedeutung des ersten kiedym [›als‹] entspricht das zweite kiedym mit einer kausalen Bedeutung: das Mädchen weinte, weil es verlassen wurde. Die Bedeutung der Beziehung zwischen den beiden Versen bleibt ausgesprochen doppeldeutig: begleitet das Rauschen des Haselwäldchens den Weggang des Jungen von dem verlassenen Mädchen oder bezieht es sich noch auf die Zeit ihrer Liebe? Anders ausgedrückt, hier ist sowohl die *Kontiguität von gleichzeitigen Erscheinungen, als auch die Kontiguität 23 Die eigentliche Konjunktion ist kiedy, das -m ist die Präteritalendung des Verbs, die im Polnischen beweglich ist. [Anm. d. Komm.]
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aufeinanderfolgender Glieder einer zeitlichen Kette möglich. Im ersten Fall evoziert das Rauschen des Haselwäldchens mit dem dreimaligen onomatopoetischen alveolaren *Frikativ /sˇ/ im ersten Vers den Vergleich mit dem Weinen des Mädchens; im zweiten Fall dagegen evoziert der Weg durch das Haselwäldchen die traditionelle folkloristische *Metapher des Liebesakts.
4 In der Poesie, wo Ähnlichkeit auf Kontiguität aufgebaut ist, wird jede *Metonymie leicht metaphorisch, und jede Metapher enthält eine metonymische Färbung. Sequenzielle Kontiguität und metrische Übereinstimmung bewirken das Empfinden einer semantischen Ähnlichkeit. So bildet z. B. in der bekannten Satire Gałczyn´skis 24 aus dem Jahr 1936 der zweite Vers in jedem Vierzeiler einen Refrain (skumbrie w tomacie skumbrie w tomacie [›Makrelen in Tomatensoße Makrelen in Tomatensoße‹]), ebenso wie der vierte Vers (skumbrie w tomacie pstra˛g [›Makrelen in Tomatensoße Forelle‹]), und diese Refrains unterscheiden sich von den restlichen Versen des Gedichtes durch ihre Konsonantenfrequenz (aus vier nichtsilbenbildenden Lauten bestehende Gruppen wie /mbrj/ und /pstr/ und fünfzehn nichtsilbenbildende Laute gegenüber sechs silbenbildenden in jedem abschließenden vierten Vers), als auch durch eine entfernte, der Fabel fremde Thematik. Jedoch schafft die Koppelung von geraden Versen mit ungeraden Refrainversen einen grotesken Vergleich der Redaktion der nicht existierenden Zeitung »Słowo Niebieskie« [›Das himmlische Wort‹] wie auch von ganz Polen der damaligen Zeit mitsamt seiner Ordnung mit den kopflosen, in einer herben Soße marinierten, in Blechdosen eingeschlossenen Fischchen. Die Abneigung von Władysław Łokietek, »lange in dieser Grotte« [»długo w tej grocie«] zu bleiben 25, kann man mit dem Quälen der Ma24 Gałczyn´ski, »Skumbrie w tomacie«, in: ders., Poezje, S. 395 f. [Anm. d. Komm.] 25 Władysław Łokietek (»Ellenbogenlang«, etwa 1260–1333) gelang es, die Mehrheit der polnischen Gebiete unter seiner Herrschaft zu vereinigen, nachdem diese beinahe 200 Jahre lang von regionalen Fürsten aus der Piasten-Dynastie regiert wurden. Am schwierigsten erwies sich für Łokietek die Eroberung Kleinpolens mit der Hauptstadt Krakau. Łokietek mußte dort unter anderem mit dem tschechischen König Wenzel II rivalisieren. Einer Legende zufolge versteckte sich Łokietek mit seinem Gefolge um 1300 in einer Grotte in der Nähe von Ojco´w (die bis heute seinen Namen trägt) vor seinen tschechischen Rivalen oder vor dem rebellierenden deutschen Bürgertum Krakaus. Einer anderen Legende zufolge war Łokietek dage-
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krelen in Tomatensoße assoziieren, und in diesem Fall wird das Bild unmittelbar auf den Haupttext zurückgeführt: »ich kann nicht mehr 〈…〉 Makrelen in Tomatensoße!« [»dłuz˙ej nie moge˛ 〈…〉 skumbrie w tomacie!«]. Anstatt des Blutes, das floß, um »die Fehler des Systems wieder gut zu machen« [»naprawic´ błe˛dy systemu«], und das schon trocknen konnte, fließen die Tränen von Łokietek, und durch die Kontiguität zu den »Vorspeisen« [»zaka˛skami«] im Refrain wird die Zeitungsredaktion mit einer Kneipe assoziiert, so daß der König »in der Redaktion die Serviette mit Tränen benetzt hat« [»łzami w redakcji zalał serwete˛«]. Władysław verzichtet auf den Anspruch, »Ordnung zu schaffen« [»robienia porza˛dku«] und ist sich dessen bewußt, daß er »zur Felsenhöhle zurückkehren« [»wracac´ do groty«] muß, um dort »zu leiden« [»pocierpiec´«] wie die Makrelen in Tomatensoße, während das Ergebnis seiner edlen Unternehmung am Ende des Refrains durch ein Wort – »Forelle« [»pstra˛g«] – ausgedrückt wird, das eine Assoziation mit dem ironischen Ausruf »nichts« [»pstro«] hervorruft. Im nächsten Vers, der die letzte *Strophe eröffnet, werden die unglückseligen Makrelen in den grundlegenden Inhalt des Gedichts eingeführt, um die Metaphorik der Fischkonserven in dem ihm bezüglich des Reims entsprechenden, letzten der ungeraden Verse zu bekräftigen: Skumbrie w tomacie, skumbrie w tomacie (skumbrie w tomacie skumbrie w tomacie) Chcielis´cie Polski, no to ja˛ macie (skumbrie w tomacie pstra˛g) Makrelen in Tomatensoße, Makrelen in Tomatensoße (Makrelen in Tomatensoße Makrelen in Tomatensoße) Wolltet ihr Polen, so habt ihr es (Makrelen in Tomatensoße Forelle)
In einer Reihe, wo die Ähnlichkeit auf Kontiguität aufbaut, können zwei ähnliche, dicht aufeinanderfolgende Phonemgruppen eine *paronomastische Funktion bekommen. Wörter, die sich lautlich ähnlich sind, werden dadurch auch semantisch verbunden. O! nieszcze˛´sliwa! O! uciemie˛z˙ona Ojczyzno moja – raz jeszcze ku tobie Otworze˛ moje krzyz˙owe ramiona, gen auf der Flucht vor dem Liebhaber der eigenen Ehefrau. Vor allem letztere Legende ergänzt das Porträt des kleinwüchsigen Mannes und herausragenden Herrschers Łokietek, der 1320 in der Kathedrale am Wawel-Hügel in Krakau zum polnischen König gekrönt wurde und auf dessen Konto der erste größere Sieg über den Deutschen Orden geht (Płowce 1331), um interessante Details. [Anm. d. Komm.]
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wszakz˙e spokojny, bo wiem, z˙e masz w sobie Słon´ce z˙ywota.26 Oh! Du unglückliche, Oh unterdrückte Meine Heimat – noch mal Dir entgegen Öffne ich meine Arme zum Kreuz 27, doch beruhigt, denn ich weiß, daß du in dir hast die Sonne des Lebens.
Dieses Gedicht von Słowacki, das aus vier vollständigen Versen (5 + 6 Silben) mit *Kreuzreimen (a+b+a+b) und einem halben Vers (5 Silben), nämlich dem fünften, besteht, der wiederum eine *Assonanz mit dem ersten und dritten Vers bildet, beginnt mit der Interjektion o!, die in das ganze Gedicht ein vokalisches Leitmotiv einführt. Unter den neunundvierzig Vokalen des Gedichts gibt es nur sieben geschlossene Vokale (i und u), und bei den offenen Vokalen ist das durch ein dunkles Timbre charakterisierte o am häufigsten, vor allem (in dreizehn Fällen) unter dem *Wortakzent. Der Vokal o charakterisiert die vorletzte Silbe in jedem Vers, das heißt, den Anlaut des Reimes. Derselbe Vokal charakterisiert sowohl die erste, als auch die vierte, vorletzte Silbe im ersten Halbvers, und dort, wo in der ersten Silbe (vierter Vers) bzw. in der vierten Silbe (erster Vers) das o fehlt, erscheint es dafür in der ersten Silbe des zweiten Halbverses. Die Expressivität dieses Leitmotivs wird noch verstärkt. Die beiden Hälften des ersten Verses beginnen mit derselben Interjektion o!, und der zweite und dritte Vers beginnen, ähnlich wie der erste, unmittelbar mit dem Vokal o, in einem Fall in Verbindung mit j und im zweiten mit t, und diese zwei Kombinationen, mit denen die zwei Schlüsselwörter des ganzen Gedichts beginnen, das Substantiv ojczyzno [›Vaterland!‹] und das Verb otworze˛ [›öffne (ich)‹], wiederholen sich mit Variationen und bilden lautbildende Ketten: ojczyzno [›Vaterland‹] – moja [›meine‹] – moje [›mein‹] – spokojny [›beruhigt‹]; ku tobie [›Dir entgegen‹] – otworze˛ [›öffne (ich)‹] – z˙ywota [›(des) Lebens‹]. Jeder Halbvers enthält je ein Wort mit einem oder zwei alveolaren *Sibilanten: nieszcze˛´sliwa [›unglückliche‹], uciemie˛z˙ona [›unterdrückte‹]; ojczyzno« [›Heimat‹], jeszcze [›noch‹]; otworze˛« [›öffne (ich)‹], krzyz˙owe« [›Kreuz-‹]; wszakz˙e« [›doch‹], masz [›hast‹]; z˙ywota [›des Lebens‹], und jeder volle Vers enthält je drei, *symmetrisch angeordnete alveolare Sibilanten. Diese sich wiederholenden Sibilanten 26 Słowacki, »O nieszcze˛´sliwa! O uciemie˛z˙ona…«, in: ders., Liryki i inne wiersze, S. 287. [Anm. d. Komm.] 27 Wörtl.: »Kreuzarme«, gemeint ist das seitliche Ausstrecken der Arme, so daß der ganze Körper ein Kreuz bildet. [Anm. d. Komm.]
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bilden wiederum zusammen mit den sie umgebenden Phonemen enge Übereinstimmungen in den Wörtern nieszcze˛´sliwa – jeszcze, uciemie˛z˙ona – krzyz˙owe ramiona, die den vokativischen Adressaten des Gedichts mit dem übergeordneten Aussagesatz assoziieren, der das einzige aktive Prädikat (otworze˛ [›öffne (ich)‹]) in dem ganzen Monolog enthält, das sich auf den Dichter bezieht, der einzigen aktiven Person (die noch dazu nur potentiell, zukünftig ist) innerhalb dieses völlig subjektlosen Zeitraums. Diese zentrale Aussage, ganz vom Leitmotiv o durchdrungen (〈…〉 ku tobie otworze˛ moje krzyz˙owe ramiona) und eingerahmt durch eine auffällige Silben-Alliteration (raz 〈…〉 ramiona), ist mit der hierarchischen Reihung abhängiger Äußerungen benachbart, wo nach dem emotionalen wszakz˙e spokojny [›doch beruhigt‹] und dem sich auf die Erkenntnis beziehenden bo wiem [›denn (ich) weiß‹] der abschließende Ergänzungssatz, niedriger in Bezug auf den syntaktischen Rang und kulminierend in Bezug auf die Bedeutung, in dem letzten, abgeschnittenen Vers dieser einsamen Strophe, sein direktes *Objekt, das höchste *Symbol des Gedichts, słon´ce z˙ywota [›die Sonne des Lebens‹], präsentiert. Dieser Abschluß wiederholt dank des zweifachen deutlichen Aufeinandertreffens von on´ den Anfang des Gedichts o! nieszcze˛´sliwa 〈…〉 słon´ce. Das Abschlußsymbol entspricht auch einem zweiten christologischen Bild, ebenfalls als direktes Objekt gegeben und vom zentralen Aussagesatz vorgebracht: das finale /zˇivota/ [›(des) Lebens‹] ist mit seinem Lautbestand eine Art Kontamination der lautähnlichen Wörter des dritten Verses – /otvozˇe/ [›öffne (ich)‹] und /kzˇizˇove/ [›Kreuz-‹]. Der ganze Fünfzeiler bildet auf der lautlichen, syntaktischen und semantischen Ebene ein untrennbares Ganzes. Die *Einstellung auf die Paronomasie ist für das lyrische Schaffen von Słowacki allgemein charakteristisch, zum Beispiel für die erste Strophe des Briefgedichtes »Do Ludwiki Bobro´wny« [›An Ludwika Bobro´wna‹]: Gdy na ojczyzne˛ spojrza˛ oczy Lolki Karmione złotem i te˛czowa˛ czczos´cia˛, Niechajz˙e patrza˛ tak, jak oczy Polki, Spokojnie – ale z ogniem i miłos´cia˛.28 Wenn Lolkas Augen auf die Heimat schauen Genährt mit Gold und regenbogenfarbiger Leere Sie sollten schauen, so wie die Augen einer Polin, Ruhig – aber mit Feuer und Liebe. 28 Słowacki, »Do Ludwiki Bobro´wny«, in: ders., Liryki i inne wiersze, S. 139. [Anm. d. Komm.]
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Auch dieser Abschnitt wird mit Hilfe des dunklen o instrumentiert (neunzehn o und a˛29 ). Dieser Vokal erscheint durchgängig in jedem Vers unter den letzten zwei Wortakzenten und im zweiten Vers überall unter dem Wortakzent. Im ersten Vers ist ojczyzna [›Vaterland‹] sozusagen eine Kontamination der nachfolgenden Wörter: spojrza˛ oczy [›schauen Augen‹]. Letzterem entspricht das zweimalige /cˇo/ mit Inversion in der Verbindung te˛czowa˛ czczos´cia˛ [›mit regenbogenfarbiger Leere‹], und die Anfangsphoneme /ten/ des Wortes te˛czowa˛ verbinden es mit dem unmittelbar vorhergehenden złotem. Das lautliche Thema des ersten Verses wird in der zweiten Hälfte der Strophe durch die charakteristischen Worte – jak oczy Polki, spokojnie 〈…〉 z ogniem [›so wie die Augen einer Polin 〈…〉 mit Feuer‹] aufgenommen und entwickelt. Das für Słowacki zentrale Wort spokojnie [›ruhig‹] wiederum verbindet durch sein lautliches Gewebe das benachbarte z ogniem [›mit Feuer‹] mit dem anfänglichen spojrza˛ [›schauen‹]. Diese phonematischen Auflösungen spitzen die Bedeutung des Briefes an Bobro´wna zu.
5 30 Die Stärke des dramatischen Ausdrucks in seinem Gedicht »Ge˛by za lud krzycza˛ce« [›Mäuler, die für das Volk schreien‹] erreichte Mickiewicz hauptsächlich dank des Spiels mit grammatischen Kategorien und Konstruktionen: Ge˛by za lud krzycza˛ce sam lud w kon´cu znudza˛, I twarze lud bawia˛ce na kon´cu lud znudza˛. Re˛ce za lud walcza˛ce sam lud poobcina. Imion miłych ludowi lud pozapomina. Wszystko przejdzie. Po huku, po szumie, po trudzie Wezma˛ dziedzictwo cisi, ciemni, mali ludzie.31 Mäuler, die für das Volk schreien, werden das Volk letztlich langweilen, Und Gesichter, die das Volk unterhalten, werden am Ende das Volk langweilen. Hände, die für das Volk kämpfen, wird das Volk abschneiden. Namen, die dem Volk genehm waren, wird das Volk vergessen. 29 Der Buchstabe »a˛« wird vor *Verschlußlauten und Affrikaten als Kombination von [o] und einem homorganen, d. h. gleich gebildeten Nasalkonsonanten (also [om] oder [on]) ausgesprochen, vor [w] und [l] als [o], ansonsten als hinterer Nasalvokal. [Anm. d. Komm.] 30 Im Original irrtümlicherweise »6«. [Anm. d. Komm.] 31 Mickiewicz, »Ge˛by za lud krzycza˛ce«, in: ders., Wiersze, S. 378 f. [Anm. d. Komm.]
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Alles wird vorbei sein. Nach dem Knall, nach dem Lärm, nach der Mühe Werden die stillen, tumben 32, kleinen Menschen das Erbe übernehmen.
Der Name des zentralen Protagonisten in dem Gedicht ist das Kollektivum lud [›Volk‹], das in verschiedenen Kasus und Konstruktionen erwähnt wird, einmal in jedem Halbvers der ersten vier Verse, so daß ein auffälliges *Polyptoton entsteht: 1) Akkusativ mit und ohne Präposition; 2) zweimal Akkusativ ohne Präposition; 3) Akkusativ mit Präposition und Nominativ; 4) Dativ und Nominativ. Der sekundäre, vielgestaltige Protagonist – die Befreier des Volkes – tritt nur *synekdochisch auf: Erwähnt werden nur ge˛by za lud krzycza˛ce [›Mäuler, die für das Volk schreien‹], twarze lud bawia˛ce [›Gesichter, die das Volk unterhalten‹], das heißt, Gesichter von Demagogen und re˛ce za lud walcza˛ce [›Hände, die für das Volk kämpfen‹], d. h. Hände der Demiurgen im engeren Sinne dieses Wortes, und dann allgemein – imiona miłe ludowi [›Namen, die dem Volk genehm waren‹], ganz gleich ob es sich um Demiurgen oder Demagogen handelt. In den ersten drei Versen wird die Opposition von Subjekt und direktem Objekt nur durch den *Numerus des Verbs erreicht, weil Akkusativ und Nominativ hier gleich sind. Die wiederholte Form znudza˛ [›werden langweilen‹], die einen eigenartigen tautologischen Reim im ersten Zweizeiler bildet, präsentiert lud [›das Volk‹] als grammatisches Objekt, im Gegensatz zum Subjekt – Mäuler und Gesichter der lauten Demagogen – ein abhängiges Glied, wohingegen die syntaktische Abhängigkeit im dritten Vers umgedreht wird: lud selbst wird zum Subjekt und re˛ce za lud walcza˛ce [›Hände, die für das Volk kämpfen‹] zum Objekt, das aktiv durch das metaphorische Prädikat poobcina [›wird abschneiden‹] vernichtet wird. Diese syntaktische Umstellung wird besonders vor dem Hintergrund der großen Ähnlichkeit zwischen dem ersten und dritten Vers spürbar (.e˛..za lud… cza˛ce sam lud ). Im vierten Vers bleiben von den Erlösern nur noch die Namen übrig, noch dazu im Genitiv, der im Vergleich zum vorherigen Akkusativ begrenzend ist 33, die Hände hören dank des frequentativen Perfektivums pozapomina [›wird vergessen‹] auf, eine Rolle zu spielen. Alle diese Präsensformen perfektiver Verben, die zur Aufhebung imperfektiver Partizipien in eben diesem *Tempus aus den ersten Halbversen aufgerufen sind, werden in dem Satz 32 Im poln. Original ciemni 1. ›dunkel‹, 2. ›unwissend‹. [Anm. d. Komm.] 33 Vgl. Jakobsons Kasustheorie, der zufolge der Genitiv zu den *Umfangskasus gehört, d. h. zu den Kasus, die den Umfang des Gegenstandes einschränken, der Akkusativ jedoch nicht (s. Jakobson, »Beitrag zur allgemeinen Kasuslehre, S. 65 und passim). [Anm. d. Komm.]
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Wszystko przejdzie [›Alles wird vorbei sein‹] zusammengefaßt, der ein kollektives Subjekt im Neutrum enthält, das das einzige Pronomen mit substantivischer Funktion im ganzen Gedicht ist. Hier verschwindet der Parallelismus der ersten vier Verse. Die *Zäsur nach der siebten Silbe bildete darin eine syntaktische Pause, die in den ersten drei Versen noch durch ein Homoioteleuton (krzycza˛ce – bawia˛ce – walcza˛ce) betont wurde, und außerdem kam in allen vier Versen nach der vierten Silbe eine Wortgrenze vor, ohne durch eine syntaktische Pause unterstützt zu werden. Die beiden Wortgrenzen werden auch im fünften Vers beibehalten, aber mit der umgekehrten syntaktischen Hierarchie. Die vierte Silbe fällt mit dem Ende des Satzes zusammen, und nach der siebten (und zehnten) Silbe folgt eine kleine Pause, die die koordinierten Konstituenten Po huku, po szumie, po trudzie [›Nach (dem) Knall, nach (dem) Lärm, nach (der) Mühe‹] trennt. Während alle vorhergehenden Verse mit einem Satzzeichen enden, hebt sich der fünfte Vers durch ein ausdrucksvolles Enjambement ab: der Vers, der durch einen Punkt zweigeteilt wird, hat am Ende kein Satzzeichen. Dieser Vers schließt, obwohl er den Satz nicht beendet, semantisch mit dem Vergessen des Ruhmes der Erlöser: dem ein Ende signalisierenden Präfix po- des dritten und vierten Verses entspricht im fünften Vers dreimal die Präposition po [›nach‹]; sie fixiert das Ende des Knalls der schreienden Mäuler, den Lärm rund um die Gesichter, die das Volk unterhalten, und der Arbeit der kämpfenden Hände, und wandelt entsprechend die drei Synekdochen in den drei Anfangsversen in drei metonymische Reflexe, huk [›Knall‹], szum [›Lärm‹] und trud [›Mühe‹], um, alle drei mit u in der Wurzel, das vor dem lautähnlichen Hintergrund der festen *Alliteration der fünf Anfangskonsonanten des ganzen Gedichts, sowie der Wurzel lud im ersten und letzten Reim 34 des Gedichts, wo sich eben dieser Vokal wiederholt, besonders *dunkel erscheint. Der sechste, abschließende Vers ersetzt das Kollektivum lud [›Volk‹] durch den Plural des Substantivs von derselben Wurzel, ludzie [›Menschen‹]. Dem synekdochischen Charakter des Anfangssubjekts wird ein zweiter Plural gegenübergestellt – das einfache, nicht figurale Subjekt ludzie [›Menschen‹] ganz am Ende des Gedichts. Die zukünftigen Machthaber sind durch ein dreifaches *Epitheton charakterisiert, das mit drei Synkedochen und drei entsprechenden Metonymien kontrastiert: cisi [›(die) stillen‹] – im Unterschied zu huk [›Knall‹] –, ciemni [›(die) tum34 Formal gesehen ist ludzie ›Leute‹ ein Plural zu lud ›Volk‹. Vgl. auch unten. [Anm. d. Komm.]
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ben‹] – als Gegengewicht zu den grellen twarze [›Gesichter‹] der Erlöser – und schließlich mali [›(die) kleinen‹] – ausgehend vom Vergleich mit früheren Kriegern, die unermüdlich für das Volk gearbeitet haben. Die Epitheta im letzten Halbvers – ciemni, mali ludzie [›(die) tumben, kleinen Menschen‹] – sind durch die Verteilung von *weichen und harten Konsonanten (mn´, m, l) direkt den entsprechenden Konsonanten im vierten Vers gegenübergestellt, der wiederum als einziger ein Adjektiv enthält und die Namen der ehemaligen Lieblinge des Volkes begräbt: imion miłych ludowi lud pozapomina [›dem Volk genehme Namen wird das Volk vergessen‹]. Das Schlußwort des ganzen Gedichts, ludzie [›Menschen‹], ist das erste personale 35 Substantiv im ganzen Gedicht und außerdem das erste belebte Substantiv. Es kontrastiert deutlich mit den unbelebten Substantiven desselben Numerus – ge˛by [›Mäuler‹], twarze [›Gesichter‹], re˛ce [›Hände‹], imiona [›Namen‹] – wie auch mit den *Abstrakta und Kollektiva, den einzigen Wörtern, die im Singular vorkommen und darüber hinaus ausschließlich in diesem Numerus vorkommen: lud [›Volk‹], huk [›Knall‹], szum [›Lärm‹], trud [›Mühe‹], dziedzictwo [›Erbe‹]. Dem ingressiven Verb im letzten Vers werden in allen vorangegangenen Versen terminative Verben 36, ebenfalls im perfektiven Aspekt, gegenübergestellt – znudza˛ [›werden langweilen‹], poobcina [›wird abschneiden‹], pozapomina [›wird vergessen‹], przejdzie [›wird vorbei sein‹] – und auch die *Struktur des letzten Verses wiederholt diesen *Kontrast: In den ersten fünf Versen liegt eine Wortgrenze vor der fünften Silbe, im sechsten Vers nach der fünften Silbe, ebenso wie nach allen folgenden ungeraden Silben des Gedichts, wodurch sich die Betonung auf die geraden Silben verteilt und der einzige Vers mit einem deutlich *jambischen Verlauf entsteht, im Gegensatz zu der kapriziösen und heterogenen Verteilung von Wortgrenze und Betonung in der zweiten Hälfte aller anderen Verse. Die auffallende Gegenüberstellung des Gedichtanfangs mit seinem Schluß wird außerdem durch ihre unterschiedliche lautliche Textur modelliert, und zwar durch eine Fülle an silbenschließenden Nasalkonsonanten 37 (1138 ) 35 Im Polnischen gibt es das (Sub)genus der Personalmaskulina: *Lexeme, die männliche Personen oder Gruppen mit mindestens einer männlichen Person bezeichnen, haben eine besondere Form im Nom. Pl., der Akk. Pl. hat die Form des Gen. Pl. [Anm. d. Komm.] 36 »Terminativ« und »ingressiv« sind sog. *Aktionsarten, d. h. durch bestimmte Morpheme ausgedrückte Bedeutungskomponenten von Verben. [Anm. d. Komm.] 37 Vgl. o. Anm. 29 zur Aussprache von a˛; ˛e wird vor Verschlußlauten und Affrikaten als [en] bzw. [em] ausgesprochen. [Anm. d. Komm.]
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in den drei Anfangsversen, sowie an prävokalischen »harten« *Affrikaten (10), und besonders durch die Verbindung ersterer mit letzeren (6) – krzycza˛ce [›schreiende‹], [w] kon´cu [›letztlich‹], bawia˛ce [›unterhaltende‹], [na] kon´cu [›am Ende‹], re˛ce [›Hände‹], walcza˛ce [›kämpfende‹] – bei einer fast vollständigen Abwesenheit von Phonemen dieser Art in den folgenden Versen; aber auf der anderen Seite ist für die zwei Abschlußverse die Häufung der »weichen« Affrikaten dz´ und ´c (7) charakteristisch, die bis auf poobcina [›wird abschneiden‹] im vorhergehenden Vierzeiler fehlen. In Übereinstimmung mit der grammatischen Semantik des interpretierten Gedichts hat die Gegenwart kein reales Agens; vielmehr wird es auf die selbständigen Synekdochen verteilt: es schreien, locken, kämpfen nicht die Protagonisten, sondern autonome Mäuler, Gesichter, Hände. Nicht ein Individuum, sondern der zahlreiche Held der Zukunft, der erste, an den der Dichter charakterisierende Attribute verteilt, ist dazu berufen, das ununterbrochene Schauspiel von Bruchstücken und kollektiven Abstraktionen zu beenden und »wzia˛c´ dziedzictwo« [›(das) Erbe (zu) übernehmen‹]. In der Dichtung erreicht die »innere Form« des Wortes, d. h. die semantische Besetzung der *Morpheme, die Bestandteil des Wortes sind, ihren Wert 39 aufs neue. Die etymologische Beziehung der Wörter wło´kno [›Faden‹] und obłok [›die Wolke‹], die in der polnischen Umgangssprache nicht mehr spürbar ist, wird durch die Angrenzung und bildliche Annäherung in Wierzyn´skis Gedicht Wło´kno [›Der Faden‹] wiederbelebt: Jeden drobniutki obłok Białym wło´knem sie˛ pali.40 Eine kleine Wolke Brennt als weißer Faden.
Nach den Worten des Protagonisten »Be˛de˛ cie˛ kochał« [›(Ich) werde dich lieben‹] in Les´mians »Piła« [›Säge‹] 41 »Zazgrzytała od rozkoszy« [›knirschte vor Genuß‹] seine dämonische Geliebte und belebt auf diese Weise die verlorengegangene Beziehung zwischen den verwandten Wörtern kochac´ 38 Es ist nicht ganz klar, auf welche Größe sich diese Zahl bezieht. In den ersten drei Versen gibt es insgesamt 12 Nasalkonsonanten, 9 davon sind silbenschließend, im ganzen Gedicht gibt es 11 silbenschließende Nasalkonsonanten. [Anm. d. Komm.] 39 Wert ist hier im strukturalistischen Sinne zu verstehen, d. h. der spezifische Wert, den ein Element innerhalb eines Systems hat und der durch die benachbarten Elemente bestimmt wird. [Anm. d. Komm.] 40 Wierzyn´ski, »Wło´kno«, in: ders., Poezje zebrane, S. 179. [Anm. d. Komm.] 41 Les´mian, »Piła«, in: ders., Poezje zebrane, S. 211 f. [Anm. d. Komm.]
Polnische Illustrationen zu »Linguistik und Poetik«
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[›lieben‹] und rozkosz [›Genuß‹] (vgl. das alttschechische »Pies´n´ Kunhuty« 42 [›Kunhutas Lied‹]: »je roskosˇneˇ kochaju´ci« [›sie 43 wonnevoll liebend‹] und »v roskosˇi seˇ kochaju´ce« 44 [›mit Wonne sich liebend‹]); in der Antwort auf seine parallele Versicherung »be˛de˛ ciebie tak całował« [›ich werde dich so küssen‹] hat sie »Całowała go ze˛bami na dwoje, na troje« [›ihn mit Zähnen in zwei und in drei geküßt‹], »poszarpała go pieszczota˛ na niero´wne cze˛´sci« [›hat ihn unter Liebkosungen in ungleiche Stücke gerissen‹] und frischt so mit Hilfe eines besonderen *Oxymorons die ursprüngliche Bedeutung der Wurzel cał 45 in dem Verb całowac´ [›küssen‹] auf – im Kontrast zu den adverbialen Bestimmungen »na dwoje« [›in zwei‹], »na troje« [›in drei‹] und »na niero´wne cze˛´sci« [›in ungleiche Stükke‹]. Eine andere Variante einer solchen Annäherung der zwei verwandten Wörter bei demselben Dichter ist: »Gdym twe dłonie w wiosennej całował zamroczy 〈…〉 A kochałem twe dreszcze i dusze˛, i oczy. I ´swiat cały – i usta – i znowu ´swiat cały!« [›Als (ich) deine Hände küßte in (der) Frühlingsdämmerung 〈…〉 Und liebte dein Schaudern und (deine) Seele und Augen. Und die ganze Welt – und Lippen – und wieder die ganze Welt!‹] (Zmierzch bezpowrotny 46 [›Unwiederbringliche Dämmerung‹]). Die wörtliche Bedeutung des Verbs »ope˛tac´« [›ergreifen‹] spielt mit der übertragenen Bedeutung [›betören, bezaubern‹] in Les´mians Ogro´d zakle˛ty 47 [›(Der) verzauberte Garten‹]: I mo´w mi, w jaka˛ wioda˛ strone˛ Warkocze twoje nieskon´czone – Bo mnie na wiek, na wiek juz˙ cały Warkocze twoje ope˛tały.48 Und sag mir, in welche Richtung führen Deine unendlichen Zöpfe – Weil mich für die Ewigkeit, schon für die ganze Ewigkeit Deine Zöpfe ergriffen haben.
»Osoba« [›Person‹] kann ihre erloschene Verwandtschaft mit dem Stamm sob- 49 durch einen Homoreim von Norwid erneuern: »Sieni tej drzwi 42 »Modlitba Kunhutina«, in: Nejstarsˇi ˇceska´ duchovnı´ lyrika, S. 76–81. [Anm. d. Komm.] 43 Pl. [Anm. d. Komm.] 44 A. a. O., S. 76 und 81. [Anm. d. Komm.] 45 Vgl. poln. cały ›ganz‹. [Anm. d. Komm.] 46 Les´mian, »Zmierzch bezpowrotny«, in: Poezje zebrane, S. 343. [Anm. d. Komm.] 47 Les´mian, »Ogro´d zakle˛ty«, in: a. a. O., S. 113–115. [Anm. d. Komm.] 48 A. a. O., S. 114 f. [Anm. d. Komm.] 49 Zum entsprechenden Reflexivpronomen, vgl. sobie, soba˛ etc. [Anm. d. Komm.]
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otworem poza soba˛ Zostaw – wzlec´my juz˙ dalej!… Tam gdzie jest Nikt i jest Osoba˛ 〈…〉« [›Des Flures Tür offen hinter Dir Laß – fliegen wir schon weiter!… Dort, wo Niemand ist und (wo er) eine Person ist 〈…〉‹]. Schon Ignacy Fik unterstrich in »Uwagi nad je˛zykiem Cypriana Norwida« [›Bemerkungen über Cyprian Norwids Sprache‹] dessen »Zurückführung der Bedeutungen der Wörter auf ihren etymologischen Inhalt: ›Bo pie˛kno na to jest, by zachwycało Do pracy‹ [›Weil Schönheit dazu dient, für die Arbeit zu begeistern‹] (Promethidion 50 ), wo ›zachwycac´‹ [›begeistern‹] neben der heutigen Bedeutung für Norwid auch eine ursprüngliche Bedeutung hat: verursachen nach etwas ›chwycic´‹ [›(zu) greifen‹]«.51 Außer diesen erneuerten, historischen Etymologien entstehen auch rein poetische Etymologien, kalauerhafte Zusammenstellungen, wie zum Beispiel in »Nerwy« 52 [›Nerven‹] von Norwid, wo wir eine ironische Gegenüberstellung der romantischen »Pani Baronowa« [›Frau Baronin‹], »kto´ra przyjmuje bardzo pie˛knie, Siedza˛c na kanapce atłasowej« [›die sehr schön empfängt, auf dem Seidensofa sitzend‹] und eine drastische Auflösung haben: »Zwierciadło pe˛knie, : Kandelabry sie˛ skrzywia˛ na realizm« [›Der Spiegel bricht, : die Kandelaber verziehen das Gesicht beim Anblick des Realismus‹]. Mit dem Reim der zwei quasi-Alternanten pie˛knie – pe˛knie [›schön – bricht‹] kann man eine ähnliche paronomastische Wortbildung im *»Sonet« [›Sonett‹] von Słowacki 53 vergleichen: »Ledwo słon´ce na wschodzie odsłoni swe lica« [›Kaum enthüllt die Sonne im Osten ihre Wangen‹]. Editorische Notiz Geschrieben in Warschau im Herbst 1959, für die polnische Version von »Linguistik und Poetik« als »Poetyka w ´swietle je˛zykoznawstwa«, in: Pamie˛tnik Literacki 51 (1960), S. 431–473.
50 51 52 53
Norwid, »Promethidion«, in: ders., Poematy, S. 216. [Anm. d. Komm.] Fik, Uwagi nad je˛zykiem Cypriana Norwida, S. 67. [Anm. d. Komm.] Norwid, »XCV. Nerwy«, in: ders., Wiersze, S. 663 f. [Anm. d. Komm.] Słowacki, »Sonet«, in: ders., Liryki i inne wiersze, S. 26. [Anm. d. Komm.]
Polnische Illustrationen zu »Linguistik und Poetik«
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Literatur Jakobsons eigene Literaturangaben sind mit ° gekennzeichnet. Budkowska, Janina: Słownik rymo´w Adama Mickiewicza [›Reimwörterbuch zu Adam Mickiewicz‹], Wrocław u. a.: Zakład Narodowy im. Ossolin´skich – Wydawnictwo 1970. ° Fik, Ignacy: Uwagi nad je˛zykiem Cypriana Norwida [›Bemerkungen zur Sprache von Cyprian Norwid‹], Krako´w: Wydawane z zasiłku ministerstwa W. R. I. O. B. 1930. (= Prace historyczno-literackie, Nr. 34). Gałczyn´ski, Konstanty Ildefons: Poezje [›Gedichte‹], hg. v. Ziemowit Fedecki u. a., Warszawa: Czytelnik 1957 (= Dzieła w pie˛ciu tomach, 5 Bde., hg. v. Ziemowit Fedecki u. a., Bd. 1). Głowin´ski, Michał: »Roman Jakobson v Pol’sˇe« [›Roman Jakobson in Polen‹], in: Roman Jakobson: teksty, dokumenty, issledovanija, hg. v. Henryk Ba´ran u. a., Moskva: Rossijskij gosudarstvennyj gumanitarnyj universitet 1999, S. 254–261. Jakobson, Roman Osipovicˇ: »Beitrag zur allgemeinen Kasuslehre. Gesamtbedeutungen der russischen Kasus«, in: SW II, S. 23–71. — »›Vergangenheit‹ von Cyprian Norwid«, übs. v. Sylwia Grzesinska, Anna Auguscik u. Imke Mendoza, komm. v. Imke Mendoza u. Małgorzata Zemła, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 354–374. — »›Gefühl‹ von Cyprian Norwid«, übs. v. Sylwia Grzesinska, Anna Auguscik u. Imke Mendoza, komm. v. Imke Mendoza u. Małgorzata Zemła, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 375–394. — »Poetyka w ´swietle je˛zykoznawstwa« [›Die Poetik im Licht der Sprachwissenschaft‹], in: Pamie˛tnik Literacki 51 (1960), S. 431–473. — »Polish Illustrations to ›Linguistics and Poetics‹«, in: SW III, S. 52–62. Jez˙owski, Marian: Słownik rymo´w Cypriana Norwida [›Reimwörterbuch zu Cyprian Norwid‹], Lublin: Towarzystwo Naukowe Katolickiego Uniwersytetu Lubelskiego 1998. — Słownik rymo´w Juliusza Słowackiego [›Reimwörterbuch zu Juliusz Słowacki‹], Lublin: Towarzystwo Naukowe Katolickiego Uniwersytetu Lubelskiego 2002. Kochanowski, Jan: Fraszki [›Scherzgedichte‹], hg. v. Jan Pelc, Wrocław-Krako´w: Zakład Narodowy im. Ossolin´skich – Wydawnictwo 1957 (= Biblioteka Narodowa, Bd. I/163). Les´mian, Bolesław: Poezje zebrane [›Gesammelte Gedichte‹], hg. v. Aleksander Madyda, Torun´: Algo 1995. Mickiewicz, Adam: Wiersze [›Gedichte‹], hg. v. Wacław Borowy u. a., Warszawa: Spo´łdzielnia Wydawnicza Czytelnik 1955 (= Dzieła, 16 Bde., hg. v. Julian Krzyz˙anowski, Bd. 1). Nejstarsˇi ˇceska´ duchovnı´ lyrika [›Älteste tschechische geistliche Lyrik‹], hg. v. Antonı´n Sˇkarka, Praha: Matice cˇeska´ Orbis 1949.
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Norwid, Cyprian: Vade-mecum. Podobizna autografu z przedmowa˛ W. Borowego [›Vade-mecum. Faksimile des Autographs mit einem Vorwort von W. Borowy‹], Warszawa: Towarzystwo Naukowe Warszawskie 1947. — Poematy [›Poeme‹], hg. v. Juliusz W. Gomulicki, Warszawa: Pan´stwowy Instytut Wydawniczy 1968 (= Pisma wybrane, 5 Bde., hg. v. Juliusz W. Gomulicki, Bd. 2). — Wiersze [›Gedichte‹], hg. v. Juliusz W. Gomulicki, Warszawa: Pan´stwowy Instytut Wydawniczy 1966 (= Cyprian Norwid: Dzieła zebrane, 2 Bde., hg. v. Juliusz W. Gomulicki, Bd. 1). Pszczołowska, Lucylla: »Roman Jakobson’s Concepts and Thoughts as Applied and Continued in the Series ›Comparative Slavic Metrics‹«, in: Roman Jakobson: teksty, dokumenty, issledovanija, hg. v. Henryk Ba´ran u. a., Moskva: Rossijskij gosudarstvennyj gumanitarnyj universitet 1999, S. 691–695. Racine, Jean: The´aˆtre complet, hg. v. Jacques Morel u. Alain Viala, überarbeitete Neuauflage, Paris: Classique Garnier 1995. Słowacki, Juliusz: Liryki i inne wiersze [›Lyrik und andere Gedichte‹], hg. v. Julian Krzyz˙anowski, Wrocław: Wydawnictwo Zakładu Narodowego im. Ossolin´skich 1952 (= Dzieła, 14 Bde., hg. v. Juliusz Krzyz˙anowski, Bd. 1). ° Tuwim, Julian: Pegaz de˛ba [›Der bockige Pegasus‹], Warszawa: Czytelnik 1950, Nachdr. hg. v. Jadwiga Sawicka, München: Verlag Otto Sagner 1986 (= Specimina philologiae Slavicae, Bd. 66). Wierzyn´ski, Kazimierz: Poezje zebrane [›Gesammelte Gedichte‹], Bd. 2, hg. v. Waldemar Smaszcz, Białystok: Wydawnictwo Łuk 1994.
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Sprache in Aktion 1 Übersetzung aus dem Englischen und Kommentar Raoul Eshelman »Sprache in Aktion« ist ein gutes Beispiel für die immer noch währende Aktualität von Jakobsons linguistisch begründeter Analysetechnik. Der Aufsatz ist dem wohl bekanntesten amerikanischen Gedicht überhaupt, Poes »The Raven«, gewidmet, dessen aufdringliche *Binnenreime, *sonore Lautlichkeit und düstere Grundstimmung jedem amerikanischen Durchschnittsleser sattsam bekannt sind. Jakobsons Beitrag hebt sich von der Masse rein thematischer Besprechungen und oberflächlicher Würdigungen durch die sorgfältige, linguistisch genau abgesicherte Behandlung der Lautsemantik, der Grammatik und der kommunikativen Eigenart des Gedichts ab. Auffällig im Vergleich zu den späteren, fast rein textimmanenten Textanalysen der amerikanischen Schaffensphase ist Jakobsons Betonung des Gedichts als Auslöser einer komplexen Kette von kommunikativen Handlungen; hier setzt sich die offene, den Kontext berücksichtigende Seite seines strukturalistischen Denkens vorteilhaft ins Szene. Bemerkenswert ist auch, wie Jakobson die vielfach belächelte Eigeninterpretation des »Raben« in Poes Essay »Philosophy of Composition« ernst nimmt, er identifiziert sich lebhaft mit dem ihm offensichtlich nahestehenden Anspruch des Dichters, Metasprache von poetischer Sprache reflektierend zu trennen. In »Sprache in Aktion« zeigt Jakobson, wie eine linguistische Funktionsanalyse fähig ist, neue Facetten eines bekannten, scheinbar vertrauten Textes mit geradezu spielerischem Elan freizulegen. Raoul Eshelman
1
Vorlage: Jakobson, Roman Osipovicˇ: »Language in Operation«, in: SW III, S. 7– 17. Erstfassung in: Me´langes Alexandre Koyre´ I: L’aventure de l’esprit, Paris: Hermann 1964, S. 269–281. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Then the bird said »Nevermore.« 2 Dann sagte der Vogel, »Nimmermehr«‹ (Z. 60) Edgar Allan Poe
Neulich im Zug bekam ich einen Gesprächsfetzen zu hören. Ein Mann sagte einer jungen Dame, »Man hat ›Der Rabe‹ im Radio gespielt. Eine alte Aufnahme von einem längst gestorbenen Schauspieler aus London. Ich wünschte mir, du hättest sein nimmermehr hören können.« Obwohl ich nicht der Adressat dieser mündlichen Botschaft eines Fremden war, habe ich sie dennoch empfangen und später in handgeschriebene, dann in gedruckte *Symbole umgesetzt. Nun ist sie Teil eines neuen Rahmens geworden – meine Botschaft an den zukünftigen Leser dieser Seiten. Der Fremde hat auf ein literarisches Zitat zurückgegriffen, das anscheinend auf eine emotionale Erfahrung anspielte, die er mit seiner Gesprächspartnerin geteilt hatte. Er bezog sich auf eine Aufführung, die angeblich über den Rundfunk ausgestrahlt wurde. Ein toter britischer Schauspieler war der ursprüngliche Absender dieser Botschaft, die an ›wen auch immer‹ gerichtet war. Der Schauspieler hatte seinerseits die literarische Botschaft von Edgar Allan Poe aus dem Jahre 1845 lediglich reproduziert. Darüber hinaus hatte der amerikanische Dichter angeblich nur das Bekenntnis eines »Liebenden, der um seine verstorbene Geliebte trauert«,3 wiedergegeben – vielleicht des Dichters selbst, vielleicht eines anderen Mannes, ob real oder vorgestellt. Innerhalb dieses Monologs wird das Wort nevermore [›nimmermehr‹] einem sprechenden Vogel zugeschrieben; ferner wird angenommen, der Rabe habe bei irgendeinem unglücklichen Besitzer […] jenes eine Wort aufgefangen, das zur melancholischen Bürde dessen gewohnheitsmäßiger Klagen geworden war. Auf diese Weise wurde dasselbe Wort jeweils in Gang gesetzt durch den hypothetischen Besitzer, durch den Raben, durch den Liebenden, durch den Dichter, durch den Schauspieler, durch den Radiosender, 2
3
Keine Quellenangabe im Original. Jakobson folgt aber wohl der von Poe 1850 korrigierten, geläufigen Endfassung des Gedichts, die z. B. der von Stedman und Woodberry herausgegebenen Gesamtausgabe von 1895 hätte entstammen können. Diese Ausgabe zieht Jakobson auch beim Zitieren anderer Texte heran. [Anm. d. Übs./Komm.] Poe, »The Philosophy of Composition«, S. 36. Alle englischsprachigen Zitate aus dem Gedicht »The Raven« sind im Text kursiv gesetzt. [Anm. v. R.J.] – Deutsche Zitate richten sich nach: Poe, »Die Methode der Komposition«; hier: S. 540. Die Übersetzung wurde an einigen Stellen stillschweigend an das Original angepaßt. [Anm. d. Übs./Komm.]
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durch den Fremden im Zug und schließlich durch den Autor dieser Zeilen. Der Besitzer hat wiederholt den elliptischen Ein-Wort-Satz seiner inneren Rede, nevermore, veräußerlicht; der Vogel ahmte die Lautsequenz nach; der Liebende speicherte sie in seinem Gedächtnis und berichtete über die Rolle des Raben einschließlich dessen vermeintlichen Ursprungs; der Dichter schrieb und veröffentlichte die Geschichte des Liebenden, wobei er eigentlich die Rollen des Liebenden, des Raben, und des Besitzers erfand; der Schauspieler las dies und ließ jenen Teil davon aufnehmen, den der Dichter dem Liebenden zuteilte und der Liebende dem Raben zuschrieb; der Radiosender wählte die Schallplatte aus und brachte sie auf Sendung; der Fremde hörte zu, erinnerte sich und zitierte die Botschaft samt deren Quellen; und der Linguist notierte dieses Zitat, rekonstruierte die ganze Sequenz von Absendern und erfand vielleicht gar die Rollen des Fremden, des Radiosenders und des Schauspielers. Es handelt sich um eine Kette von wirklichen und fiktiven Absendern und Empfängern, von denen die meisten eine und dieselbe Botschaft lediglich weitergeben und größtenteils absichtlich zitieren; mit dieser Botschaft waren zumindest einige der Absender vorher vertraut. Manche der Teilnehmer in diesem einseitig verlaufenden Kommunikationsvorgang sind in Zeit bzw. Raum weit voneinander getrennt, und diese Lücken werden durch verschiedene Arten der Aufnahme- und Sendetechnik überbrückt. Die ganze Sequenz bietet ein typisches Beispiel dafür, wie ein komplexer Kommunikationsprozeß funktioniert. Sie unterscheidet sich erheblich vom trivialen Muster des Sprechkreislaufs, das man in den einschlägigen Handbüchern graphisch dargestellt bekommt: A und B sprechen einander direkt an, so daß ein imaginärer Faden durch A’s Gehirn und durch seinen Mund zum Ohr und Gehirn von B verläuft, und durch dessen Mund wiederum zurück zu A’s Ohr und Gehirn. »The Raven« ist ein Gedicht, das für den Massenkonsum geschrieben wurde, oder, um Poes eigenen Ausdruck zu benutzen, ein Gedicht, »das ausdrücklich dafür geschaffen wurde, in Umlauf zu kommen«,4 was in der Tat gelang. In dieser an einem Massenpublikum orientierten poetischen Äußerung, wie der Autor sehr wohl verstanden hat, ist die wiedergegebene Rede des Vogelhelden »der Angelpunkt der ganzen *Struktur«.5 Diese Botschaft innerhalb einer Botschaft führte tatsächlich »zu einer Sensation«, und Leser fühlten sich angeblich »vom Wort nevermore« auf 4 5
The Letters of Edgar Allan Poe, S. 287. Poe, »The Philosophy of Composition«, S. 37. [Anm. v. R.J.] – Poe, »Die Methode der Komposition«, S. 537. [Anm. d. Übs./Komm.]
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unheimliche Weise »verfolgt«.6 Der Schlüssel dazu, der vom Schriftsteller selbst nachträglich geliefert wurde, liegt im kühnen Experimentieren mit den Verfahren der Kommunikation und mit deren grundlegendem Dualismus: »das großartige Element des Unerwarteten« wird gerade mit seinem Gegenteil verknüpft. »So wie das Böse nicht ohne das Gute existieren kann, so muß sich das Unerwartete aus dem Erwarteten ergeben«.7 Als der ungewöhnliche Gast in die Kammer des Hausherrn einschwebt, ahnt dieser nicht, was der Eindringling sagen wird, ja ob dieser denn überhaupt spricht. Der Hausherr hat überhaupt keine Erwartungen: So stellt er seine Frage »im Scherz und ohne eine Antwort zu erwarten«.8 Daher findet er sich Startled at the stillness broken by reply so aptly spoken [›erschrocken durch die Stille, die durch die so treffend ausgesprochene Antwort unterbrochen wurde‹, Z. 61]. Der »kontinuierliche Gebrauch des Wortes ›Nevermore‹« 9 zeigt allerdings, daß what it utters is its only stock and store [›das, was er (der Vogel) ausspricht, ist das Einzige, was er vorrätig hat‹, Z. 62]. Sobald dies bekannt ist, verkehrt sich die Lage von der einer totalen Unsicherheit in die einer vollständigen Vorhersagbarkeit. In ähnlicher Weise besteht keine Wahlfreiheit, wenn ein Offizier der vierten Husarendivision einen Befehl entgegennimmt: Die einzige zulässige Antwort ist »Sir!«. Dennoch kann, wie Churchill in seinen Memoiren bemerkt,10 diese Replik ein breites Spektrum an emotionalen Modulationen aufweisen,11 während »ein unvernünftiges sprechfähiges Wesen«,12 das vermutlich das Wort durch blinde Nachahmung gelernt hatte, es monoton ohne jegliche Variation wiederholt. Daher fehlt es der Äußerung sowohl an kognitiven als auch an *emotiven Informationen. Das automatische Sprechen des ungainly fowl [›unbeholfenen Vogels‹, Z. 49] sowie der Sprecher selbst entbehren jeglicher Individualität: der Rabe erscheint sogar geschlechtslos. Dies anzuzeigen ist der Zweck solcher Formeln wie Sir or Madam [›Herr oder Frau‹, Z. 20] oder with mien of lord or lady 6 7 8
Keine Quellenangabe im Original. [Anm. d. Übs./Komm.] Poe, »Marginalia«, sec. 10, S. 492. Poe, »The Philosophy of Composition«, S. 45. [Anm. v. R.J.] – Poe, »Die Methode der Komposition«, S. 546. [Anm. d. Übs./Komm.] 9 Poe, »The Philosophy of Composition«, S. 38. [Anm. v. R.J.] – Poe, »Die Methode der Komposition«, S. 539. [Anm. d. Übs./Komm.] 10 Churchill, My Early Life, S. 84. 11 Vgl. Jakobsons Erläuterung der emotiven Funktion in »Linguistics and Poetics«, S. 23, sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd, 1, S. 165 [Anm. d. Übs./Komm.] 12 Poe, »The Philosophy of Composition«, S. 38. [Anm. v. R.J.] – Poe, »Die Methode der Komposition«, S. 539. [Anm. d. Übs./Komm.]
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[›mit dem Benehmen eines hohen Herrn oder einer Dame‹, Z. 40], die manche Kritiker als bloße Füllwörter abgetan haben. Jedes Mal aber, wenn das nevermore nicht den gleichgültigen Äußerungen des Raben, sondern den leidenschaftlichen Schwärmereien des Liebenden zugeordnet wird, wird ein Ausrufezeichen, das eine emotive Intonation symbolisiert, für den zu erwartenden Punkt eingesetzt. Das Wort selbst soll »die denkbare größte Pein und Verzweiflung mit sich bringen« 13, doch die sensorische Gleichheit der Botschaft, die von den beiden Kreaturen, Mann und Vogel, ausgeht, erweckt das eigentümliche, genußvolle Gefühl einer erleichterten, ›durchbrochenen‹ Einsamkeit. Der Genuß nimmt zu, sofern diese Gleichstellung denkbar unähnliche Gesprächspartner miteinander verbindet – zwei sprechende Zweifüßler, von denen der eine befiedert ist und der andere nicht. Wie der Autor erzählt, »bot sich ganz natürlich in erster Linie ein Papagei an, den aber sogleich ein Rabe 〈…〉, als ebenfalls sprechbegabt und ungleich passender für die beabsichtigte Tonart, verdrängte«.14 Die Überraschung darüber, daß ein solcher Austausch überhaupt stattfindet, wird durch die Ähnlichkeit des grim, ungainly, ghastly, gaunt, and ominous [›grimmigen, unbeholfenen, gräßlichen, hageren und unheilversprechenden‹, Z. 71] Charakters des Sprechers mit seiner obsessiven Botschaft konterkariert. Bei jeder Wiederholung der stereotypen Replik des Vogels wird der trauernde Liebende diese umso mehr vorausahnen können, so daß er seine Fragen dem anpaßt, was Poe als »das erwartete ›Nevermore‹« 15 definiert. Poe, der die multiplen Funktionen, die in verbaler Kommunikation gleichzeitig ausgeführt werden, erstaunlich gut begriffen hat, schreibt, daß diese Fragen »halb aus Aberglauben und halb aus jener Art von Verzweiflung, die sich in Selbstquälerei gefällt«,16 gestellt werden. Bei sprechenden Vögeln jedoch, wie deren Erforscher Mowrer bemerkte,17 stellt die Vokalisierung in erster Linie ein Mittel dar, um die Kommunikation des menschlichen Gesprächspartners mit ihnen aufrechtzuerhalten und somit tatsächlich kein sign of parting [›Abschiedszeichen‹, Z. 97] zu geben. 13 Poe, »The Philosophy of Composition«, S. 40. [Anm. v. R.J.] – Poe, »Die Methode der Komposition«, S. 541. [Anm. d. Übs./Komm.] 14 Poe, »The Philosophy of Composition«, S. 38 f. [Anm. v. R.J.] – Poe, »Die Methode der Komposition«, S. 539. [Anm. d. Übs./Komm.] 15 Poe, »The Philosophy of Composition«, S. 40. [Anm. v. R.J.] – Poe, »Die Methode der Komposition«, S. 541. [Anm. d. Übs./Komm.] 16 Poe, »The Philosophy of Composition«, S. 40. [Anm. v. R.J.] – Poe, »Die Methode der Komposition«, S. 540. [Anm. d. Übs./Komm.] 17 Mowrer, Learning Theory and Personality Dynamics, S. 688 f.
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In dieser eigentümlichen Spielart des Gesprächs, das hier an seine äußerste Grenze geführt wird, wird jede Frage durch die darauf folgende Antwort im voraus bestimmt: die Antwort liefert den Stimulus, und die Frage ist die Reaktion darauf. Im Übrigen stellen diese Echo-Fragen eine umgekehrte Analogie zur Interpretation des Echos als eine Replik an den Fragenden dar; Poe, der sehr empfindlich auf Interpunktionsveränderungen im Vers reagierte, hat in die Korrekturfahne dieser *Strophe hartnäkkig immer wieder Fragezeichen eingefügt: And the only word there spoken was the whispered word, »Lenore?« This I whispered, and an echo murmured back the word, »Lenore!« (Z. 29) 18 Und das einzige Wort, das dort ausgesprochen wurde, war das geflüsterte Wort »Lenore?« Das habe ich geflüstert, und ein Widerhall gab das Wort »Lenore!« leise zurück.
Das Umkehrspiel mit Antwort und Frage ist typisch für die innere Rede, wobei das Subjekt von vornherein die Antwort auf die Frage weiß, die er sich selbst stellt. Poe läßt die Möglichkeit einer solchen Interpretation dieses Quasi-Dialogs mit dem Raben offen: »die Absicht, ihn zum Sinnbild trauervoller und nie endender Erinnerung zu machen«,19 soll laut Poe gegen das Ende des Gedichts »eindeutig [zu] erkennen« 20 sein. Der Liebende bildet sich den Vogel und dessen Antworten vielleicht nur ein. Die Schwankung zwischen den faktischen und *metaphorischen Ebenen wird durch wiederholte Anspielungen auf ein Vor-Sich-Hindösen erleichtert (While I nodded, nearly napping 〈…〉 dreaming dreams [›Während ich einnickte, fast beim Einschlafen 〈…〉 Träume träumend‹]) sowie durch »die Verschiebung des eigentlichen Einschlafpunktes in den Bereich des Erinnerten« 21 (Ah, distinctly I remember [›Ach, wie deutlich ich mich erinnere‹]). Alle Züge der verbalen Halluzination – wie z. B. in Lagaches Monographie 22 aufgezählt – kehren im Bekenntnis von Poes Liebendem wie18 Siehe Poe, The Raven, and Other Poems, S. 2. Die Ausgabe ist eine FaksimileReproduktion der L. Graham-Kopie der Edition von 1845, die Poes eigene Korrekturen enthält. 19 Poe, »The Philosophy of Composition«, S. 46. [Anm. v. R.J.] – Poe, »Die Methode der Komposition«, S. 548. [Anm. d. Übs./Komm.] 20 Ebd. 21 Poe, »Marginalia«, sec. 16, S. 495. 22 Lagache, Les hallucinations verbales et la parole.
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der: verminderte Wachsamkeit, seelischer Schmerz, Entfremdung von der eigenen Rede, die einem Fremden zugeschrieben wird, begleitet durch »eine enge Begrenzung des Raums«.23 Poes Geschick beim Suggerieren der empirischen Plausibilität eines unnatürlichen Ereignisses wurde bewundert und gelobt von Dostoevskij,24 der es in Ivan Karamazovs Alptraum wieder aufgreift. Hier interpretiert der phantasierende Held seine Erfahrung abwechselnd als seinen eigenen halluzinatorischen Monolog oder als das Eindringen eines »unerwarteten Gastes«. Der Fremde wird von Ivan als »Teufel« angesprochen, von Poes Helden als bird or devil [›Vogel oder Teufel‹]; beide Männer sind sich unsicher, ob sie wach sind oder schlafen. »Nein, du bist nicht ein Ding für sich, du bist – ich« beteuert Ivan; »ich rede selbst, und nicht du«; 25 und der Eindringling stimmt zu: »ich bin auch nur deine Halluzination«.26 Der gelegentliche Gebrauch von Personalpronomen der ersten und zweiten Person durch beide ›Sprecher‹ offenbart allerdings die Ambiguität des Themas. Laut Poe gibt es ohne eine solche Spannung zwischen der »Ober-« und »Unterströmung« 27 an Bedeutung »stets eine gewiße Härte oder Nacktheit, die den künstlerischen Blick stören«.28 Hier werden die zwei grundlegenden und komplementären Züge des Sprechverhaltens herausgekehrt: daß innere Rede im wesentlichen ein Dialog ist, und daß eine jede indirekte Rede vom Zitierenden angeeignet und umgestaltet wird, ob es sich um das Zitat eines alter oder einer früheren Phase des ego (said I [›sagte ich‹]) handelt. Poe hat Recht: Es ist die Spannung zwischen diesen zwei Aspekten des Sprechverhaltens, die »The Raven« – und, so darf man hinzufügen, dem Schluß der Brüder Karamazov – deren poetische Reichhaltigkeit verleiht. Diese Antinomie verstärkt eine andere, analoge Spannung – die Spannung zwischen dem Ich des Dichters und dem Ich des fiktiven Erzählers: I betook myself to linking fancy unto fancy 〈…〉 [›Ich fand Zuflucht darin, Fantasie mit Fantasie zu verknüpfen 〈…〉‹, Z. 69 und 70]. 23 Poe, »The Philosophy of Composition«, S. 46. [Anm. v. R.J.] – Poe, »Die Methode der Komposition«, S. 543. [Anm. d. Übs./Komm.] 24 Siehe Dostoevskij, »Tri rasskaza E˙dgara Poe˙«; vgl. Dostoevskij, Polnoe sobranie chudozˇestvennych proizvedenij, Bd. 13, S. 523 f. 25 Keine Quellenangabe im Original. Die einschlägigen Zitate beziehen sich auf Teil 4, Buch 11, Kapitel 9, »Der Teufel. Iwan Fjodorowitschs Alptraum« in: Dostoevskij, Die Brüder Karamasoff, S. 1035–1064; hier: S. 1049. [Anm. d. Übs./Komm.] 26 A. a. O., S. 1044. [Anm. d. Übs./Komm.] 27 Poe, »The Philosophy of Composition«, S. 46. [Anm. v. R.J.] – Poe, »Die Methode der Komposition«, S. 547. [Anm. d. Übs./Komm.] 28 Poe, »The Philosophy of Composition«, S. 45 f. [Anm. v. R.J.] – Poe, »Die Methode der Komposition«, S. 547. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Wenn in einer Sequenz ein vorausgehender Moment auf einen späteren angewiesen ist, sprechen Linguisten von einer regressiven Aktion. Wenn z. B. im Spanischen und im Englischen das erste /l/ des Wortes colonel das /l/ am Schluß vorwegnimmt und sich in ein /r/ verwandelt, weist diese Verwandlung eine regressive Dissimilation auf. R. G. Kent berichtet über den typischen Versprecher eines Radioansagers, in dem sich die Phrase »the convention was in session« [›die Versammlung tagte‹] zu »the confession was in session« [›das Geständnis tagte‹] verwandelte; das Schlußwort bewirkte eine regressive Assimilation beim eigentlichen Wort »convention«.29 In ähnlicher Art ist die Frage in »The Raven« auf die Antwort angewiesen. Ebenfalls wird der imaginäre Gesprächspartner nachträglich aus dessen Replik nevermore deduziert. Die Äußerung ist inhuman, sowohl in ihrer beharrlichen Grausamkeit als auch in ihrer automatischen, sich wiederholenden Monotonie. So wird ein redegewandtes, aber nicht-menschliches Wesen als Sprecher unterstellt, und zwar ein Rabenvogel. Dies geschieht nicht nur wegen des düsteren Aussehens und des »verhängnisvollen Rufs« 30 des Vogels, sondern auch weil das Substantiv raven [›Rabe‹] bezüglich der meisten seiner *Phoneme einfach eine Umkehrung des unheilverkündenden never [›nie‹] darstellt. Poe signalisiert diese Verbindung, indem er die zwei Worte nebeneinander setzt: Quoth the Raven »Nevermore« [›Sagte der Rabe: »Nimmermehr«‹]. Diese Gegenüberstellung wird besonders auffällig in der Schlußstrophe: 31 And the Raven, never flitting, still is sitting, still is sitting On the pallid bust of Pallas just above my chamber door; And his eyes have all the seeming of a demon’s that is dreaming, And the lamp-light o’er him streaming throws his shadow on the floor: And my soul from out that shadow that lies floating on the floor Shall be lifted – nevermore! Und der Rabe, nie herumflatternd, sitzt immer noch, sitzt immer noch Auf der bleichen Büste der Pallas gerade oberhalb meiner Kammertür; 29 Kent, »Assimilation and Dissimilation«, S. 252 f. 30 Poe, »The Philosophy of Composition«, S. 40. [Anm. v. R.J.] – Poe, »Die Methode der Komposition«, S. 540. [Anm. d. Übs./Komm.] 31 Vgl. die lautliche Analyse der Schlußstrophe von »The Raven« in »Linguistics and Poetics«, S. 43 f., sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 193–195. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Und seine Augen haben den ganzen Anschein eines träumenden Dämons, Und das über ihn strömende Lampenlicht wirft seinen Schatten auf den Boden: Und meine Seele wird sich aus jenem Schatten, der schwebend auf dem Boden liegt, nimmermehr erheben! (Z. 103–108)
Hier wird das Wortpaar Raven, never durch eine Reihe anderer, sich gegenseitig entsprechender Lautsequenzen hervorgehoben, die aufeinander bezogen werden, um die Affinität zwischen bestimmten Schlüsselworten zu erzeugen und deren semantische Verbundenheit miteinander zu unterstreichen. Der einführende Teilsatz, der mit der Reihe still – sit – still – sit endet, wird mit dem abschließenden Teilsatz durch die Kette flit – float – floor – lift verknüpft, und beide Scharniere dieser Relation werden einander in offensichtlicher Weise gegenübergestellt: never flitting, still is sitting. Das *Wortspiel mit pallid und Pallas wird durch den launigen *Reim pallid bust – Pallas just bekräftigt. Die anlautenden *Dentale /s,d/ der korrespondierenden Sequenzen seeming und demon (*trochäische Versfüße mit demselben vokalischen Segment, auf das ein /m/ und in beiden Fällen ein auslautender *Nasal folgen) werden mit geringfügigen Variationen in den Gruppen is dreaming /zd/ und streaming /st/ vermengt. In den einleitenden Bemerkungen zur Erstveröffentlichung dieses Gedichts, die entweder vom Dichter selbst oder auf seine Veranlassung hin geschrieben wurden, wird »der gezielte Gebrauch einzelner Laute an ungewöhnlichen Stellen« 32 als Hauptverfahren hervorgehoben. Vor dem Hintergrund regelmäßig wiederkehrender, in gleichmäßigem Abstand plazierter Reime führt Poe absichtlich solche Reime ein, die so aus der Reihe fallen, daß sie »den ganzheitlichen Effekt des Unerwarteten« 33 erzielen. Regelmäßig wiederholte Lautsequenzen in solchen gewohnten Reimen wie remember – December – ember oder morrow – borrow – sorrow werden durch »Umkehrungen« ergänzt (um einen Ausdruck Edmund Wilsons zu benutzen): lonely /lo´unli/ – only /o´unli/ – soul in /so´ul In/. Der regressive Aspekt der Sprechsequenz steht hier im Mittelpunkt, und diese Variation dient dazu, das Thema »never = ending« [›nie = zu Ende gehend‹] des Raven, sitting lonely [›des Raben, einsam sitzend‹, Z. 55] mit dem entgegengesetzten Thema der lost Lenore /lino´r/ [›der verlorenen Lenore‹, Z. 83] zu verquicken. 32 The Works of Edgar Allan Poe, Bd. 10, S. 156. 33 Poe, »Marginalia«, sec. 10, S. 492.
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Nicht nur die vom verzweifelten Liebenden gestellten Fragen, sondern auch das ganze Gedicht wird durch die Replik nevermore am Schluß vorbestimmt; das Gedicht wurde in direkter Vorwegnahme seines Endes entworfen, wie der Autor in »The Philosophy of Composition« (1846), seinem eigenen Kommentar zu »The Raven«, darlegt: »das Gedicht nahm seinen Anfang – am Ende«.34 Es ist heute in der Tat schwer, die fortwährende Ablehnung von Poes Selbstanalyse zu verstehen: Man nannte sie eine irreführende Mystifikation, eine inszenierte Farce, eine unvergleichliche Frechheit und eine schelmische Kaprice, welche die Kritiker leimen sollte. Obwohl Poes Brief an seinen Freund Cooke vom 9. August 1846 den Kommentar als »bestes Muster einer Analyse« 35 empfahl, pflegte man eine angebliche mündliche Äußerung des Schriftstellers posthum zu zitieren: Es handelt sich um ein angebliches Geständnis, dem zufolge er den Aufsatz nie ernst gemeint haben soll. Französische Dichter jedoch, die Poes Gedichte und Aufsätze zur Poetik bewunderten, haben sich überlegt, in welchem Fall er sich wohl einen Scherz erlaubt hatte: im Falle des großartigen Kommentars oder im Falle von dessen Leugnung, die er vorschob, um eine sentimentale Interviewerin zu beschwichtigen. Doch eigentlich hat der Autor von »The Raven« die Beziehung zwischen der poetischen Sprache und ihrer Übersetzung in das, was man heute die Metasprache wissenschaftlicher Analyse nennen würde, perfekt formuliert. In seinen Marginalia erkannte Poe, daß sich die zwei Aspekte gegenseitig ergänzen: Er sagt, daß wir »die Maschinerie« eines jeden Kunstwerks »deutlich sehen« und diese gleichzeitig genießen können, »aber nur in dem Maße, als wir den vom Künstler entworfenen legitimen Effekt nicht genießen«.36 Um bereits geäußerte sowie künftige Einwände gegen seine Analyse von »The Raven« zu entkräften, fügt er darüber hinaus dazu, daß »unser analytisches Reflectiren über Kunst eigentlich bloß dem Spiegel-Werke im Tempel zu Smyrna gleicht, welches auch das holdeste Bild nur als ein verzerrtes zurückwirft«. (1849) 37 Laut Poe verlangt die Wahrheit eine Präzision, die dem Hauptzweck der poetischen Fiktion 34 Poe, »The Philosophy of Composition«, S. 40. [Anm. v. R.J.] – Poe, »Die Methode der Komposition«, S. 541. [Anm. d. Übs./Komm.] 35 The Letters of Edgar Allan Poe, Bd. 2, S. 329. [Anm. v. R.J.] – Poe, Werke III. Rezensionen, Briefe, S. 704. [Übersetzung wurde dem Original angepaßt, Anm. d. Übs./Komm.] 36 Poe, »Marginalia«, sec. 72, S. 521. [Anm. v. R.J.] – Poe, Werke IV. Gedichte. Drama. Essays. Marginalia, S. 758. [Übersetzung wurde dem Original angepaßt, Anm. d. Übs./Komm.] 37 Ebd.
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absolut entgegengesetzt ist; doch als er die Sprache der Kunst in die Sprache der Präzision übersetzte, hielten die Kritiker seinen Versuch für eine bloße Fiktion, die gegen diese Wahrheit verstößt. Poes Darstellung der Komposition von »The Raven«, die Kritiker in der Vergangenheit zur Wortakrobatik oder zum riesigen Betrug am Leser erklärten, wurde neulich von Denis Marion als ein Akt der Selbsttäuschung beschrieben.38 Doch mit gleicher Berechtigung darf man sie vor den Hintergrund der intimen Geschichte von Poes Leben mit Virginia Clemm stellen, das »in stündlicher Erwartung ihres Verlustes« 39 verlief. Die Abwechslung zwischen dem illusorischen Hoffnungsschimmer in den Fragen des Liebenden und der Endgültigkeit der »erwarteten Antwort« Nevermore wird benutzt, um ihm »ein Übermaß an Pein 〈…〉 einzubringen«, bis die unausweichliche Replik des Raben auf »die letzte Frage des Liebenden« die Endgültigkeit des Verlustes verkündet und ihm die »extreme Befriedigung 〈…〉 dieser Selbstquälerei« ermöglicht.40 Einige Monate nach Virginias Tod schrieb Poe an George Eveleth: Six years ago, a wife, whom I loved as no man ever loved before 〈in »The Raven« we read of terrors never felt before〉, ruptured a blood-vessel in singing. Her life was despaired of. I took leave of her forever and underwent all the agonies of her death. She recovered partially and I again hoped. At the end of a year the vessel broke again – I went through precisely the same scene. Again in about a year afterward. Then again – again – again and even once again at varying intervals. Each time I felt all the agonies of her death – and at each accession of the disorder I loved her more dearly and clung to her life with more desperate pertinacity. 〈…〉 I became insane, with long intervals of horrible sanity. 〈…〉 I had indeed nearly abandoned all hope of a permanent cure when I found one in the death of my wife. This I can and do endure as becomes a man – it was the horrible, never-ending oscillation between hope and despair which I could not longer have endured without the total loss of reason.41 Vor sechs Jahren erlitt meine Frau, die ich liebte, wie kein Mann noch je geliebt 〈in Der Rabe lesen wir von »nie zuvor erlebten Schreckenserlebnissen«〉 42, beim Singen einen Blutsturz. Man gab ihr Leben verloren. Ich nahm Abschied von ihr auf immer und litt alle Qualen ihres Todeskampfes mit. Dann erholte sie sich zum Teil wieder, und ich hoffte erneut. Doch nicht ein 38 Marion, La me´thode intellectuelle d’Edgar Poe, S. 97–99. 39 Keine Angabe im Original. [Anm. d. Übs./Komm.] 40 Poe, »The Philosophy of Composition«, S. 45. [Anm. v. R.J.] – Poe, »Die Methode der Komposition«, S. 546. [Anm. d. Übs./Komm.] 41 The Letters of Edgar Allan Poe, Bd. 2, S. 356. 42 Im Englischen handelt es sich um einen deutlichen *Parallelismus. [Anm. d. Übs./ Komm.]
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Jahr ganz ging darüber hin, da platzte das Blutgefäß abermals – ich machte ganz dieselbe Szene durch. Und abermals ein Jahr danach. Und wieder – wieder – wieder und noch einmal wieder, in wechselnden Abständen. Bei jedem Mal empfand ich alle Qualen ihres Sterbekampfs und bei jedem Anfall ihres Leidens liebte ich sie inniger und klammerte mich verzweifelter an ihr Leben. 〈…〉 Ich verlor den Kopf – nicht ohne mich zwischendurch immer wieder auf lange Strecken hin bei schauerlicher Vernünftigkeit zu befinden. 〈…〉 Tatsächlich hatte ich nahezu alle Hoffnung auf dauerndes Genesen aufgegeben, als ich’s doch fand – im Tode meines Weibes. Den konnte ich ertragen und ertrag ich, wie’s einem Manne geziemt – es war die grauenvolle, nie enden-wollende Oszillation zwischen Hoffnung und Verzweiflung, die ich nicht länger hätte ertragen können, ohne vollends den Verstand zu verlieren.43
In beiden Fällen, in »The Raven« sowie in dem im Brief enthaltenen Bekenntnis, ist der erwartete Ausgang einer der fortwährenden Trauer: Virginias Tod nach Jahren sich hinziehender Qual sowie die Hoffnungslosigkeit des Liebenden, Lenore wieder zu begegnen – und sei es in einer anderen Welt«. »The Raven« erschien am 29. Januar 1845; »The Philosophy of Composition« wurde im April 1846 veröffentlicht; Poes Frau starb am 30. Januar 1847. »Das erwartete ›Nevermore‹«, das im Essay als ein zentrales Motiv des Gedichts erscheint, befindet sich auch im Einklang mit dem biographischen Hintergrund. In Poes Aufsatz werden allerdings die Umstände, welche auf den Dichter einwirken, als irrelevant für die Betrachtung des Gedichtes selbst abgetan. Das Thema des »trauernden Liebenden« 44 macht sich vor Virginias Krankheit bemerkbar und durchzieht in der Tat Poes ganze Poesie und Prosa. In »The Raven« weist dieses Thema ein besonderes »Gewicht des Kontrastes« 45 auf, das sich in einem pointierten romantischen *Oxymoron ausdrückt: Das Gespräch zwischen dem Liebenden und dem Vogel ist ein anomaler Akt des Kommunizierens über den Abbruch jeglicher Kommunikation. Dieser Pseudodialog ist auf tragische Weise einseitig: Es gibt keinen echten Austausch. Auf seine verzweifelten Fragen und Appelle erhält der Held nur Scheinantworten – vom Vogel, vom Echo und von den Bänden der forgotten lore [›vergessenen Überlieferungen‹]; sein eigener Mund »ist am besten geeignet« 46 für einen eitlen Monolog. Hier wird ein 43 Poe, Werke III. Rezensionen, Briefe, S. 712 f. [Anm. d. Übs./Komm.] 44 Poe, »The Philosophy of Composition«, S. 39. [Anm. v. R.J.] – Poe, »Die Methode der Komposition«, S. 540. [Anm. d. Übs./Komm.] 45 Poe, »The Philosophy of Composition«, S. 43. [Anm. v. R.J.] – Poe, »Die Methode der Komposition«, S. 544. [Anm. d. Übs./Komm.] 46 Poe, »The Philosophy of Composition«, S. 39. [Anm. v. R.J.] – Poe, »Die Methode der Komposition«, S. 540. [Anm. d. Übs./Komm.]
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weiteres Oxymoron, ein neuer Widerspruch, vom Dichter lanciert: Er schreibt dieser einsamen Rede den überaus breiten Wirkungsbereich des offenen Kommunizierens zu, erkennt aber gleichzeitig, daß diese exhibitionistische Erweiterung des Appells »die psychologische Realität des Bildes des erweiterten Selbst in deren Konfrontation mit dem Nicht-Selbst gefährden könnte«,47 wie Edmund Sapir es später formulierte. Man darf daran erinnern, daß der überragendste Effekt von »The Raven« in dessen kühnem Experimentieren mit komplexen Fragen der Kommunikation liegt. Das dominante Motiv des Gedichts ist der endgültige Kontaktverlust des Liebenden mit der rare and radiant maiden [›seltenen und strahlenden Jungfer‹, Z. 95]; danach wird kein gemeinsamer Kontext mit ihr vorstellbar, weder auf dieser Erde noch within the distant Aidenn [›im fernen Eden‹, Z. 93] (die phantasievolle Schreibweise wird als Echo für maiden gebraucht). Für Poes poetisches Credo ist es irrelevant, ob das Verlustgefühl des Liebenden aus dem Tod der Jungfer erfolgt oder ob es sich um eine eher hausbackene und prosaische, aber dennoch endgültige Botschaft von der Art I will not see you again [›Ich werde dich nie wieder sehen‹] handelt, die man an jenes düstere Zimmer im Norden der Stadt New York überbracht hatte, das in »The Raven« angeblich dargestellt wird; es geht um eine bloße »Anordnung der Umstände«,48 die für die »Maschinerie« 49 des Werks irrelevant ist. Nichts an der Heldin außer ihrer Abwesenheit und immerwährenden Namenlosigkeit ist von Belang für den Zweck des Gedichts; sein Gedicht wird »im genauen Verhältnis zu dessen Nüchternheit poetisch sein«.50 Um sich jedoch dem »allgemeinen Geschmack« 51 anzupassen und vielleicht auch, um die eigenen verdrängten Ängste und Wünsche zu beschwichtigen, entschied sich der Dichter für eine tote Jungfer – der Tod ist »der melancholischste Gegenstand« 52 – und übernahm den sonoren Namen Lenore von der berühmten Ballade, in der eine lebendige Braut einen Toten ehelicht.53 47 Sapir, »Communication«, S. 108. 48 Poe, »The Philosophy of Composition«, S. 45. [Anm. v. R.J.] – Poe, »Die Methode der Komposition«, S. 547. [Anm. d. Übs./Komm.] 49 Poe, »Marginalia«, sec. 72, S. 521; Poe, Werke IV. Gedichte. Drama. Essays. Marginalia, S. 758. [Anm. d. Übs./Komm.] 50 Poe, »Marginalia«, S. 493. 51 Poe, »The Philosophy of Composition«, S. 34. [Anm. v. R.J.] – Poe, »Die Methode der Komposition«, S. 534. [Anm. d. Übs./Komm.] 52 Poe, »The Philosophy of Composition«, S. 39. [Anm. v. R.J.] – Poe, »Die Methode der Komposition«, S. 539. [Anm. d. Übs./Komm.] 53 Gemeint ist Gottfried August Bürgers Ballade »Lenore« (1774). [Anm. d. Übs./ Komm.]
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Poes Einsicht in die »Räder und Getriebe« 54 der Wortkunst und der Wortstrukturen im allgemeinen, die Einsicht eines Künstlers und eines Analysten zugleich, ist in der Tat frappierend. Sowohl sein geschickter Gebrauch im Vers als auch seine linguistische Untersuchung des Refrains nevermore sind besonders relevant, denn gerade hier wird »die Empfindung der Identität« 55 in Frage gestellt, sowohl hinsichtlich des Klangs als auch der Bedeutung. Das unausweichliche Nevermore ist immer gleich und immer anders: Einerseits wird der Klang durch expressive Modulationen variiert, andererseits verleiht die »Variation in der Anwendung« 56, d. h. die Vielförmigkeit der Kontexte, dem Wort eine jeweils andere *Konnotation bei jeder Wiederholung. Ein Wort außerhalb eines Kontextes läßt eine unbestimmte Anzahl von Lösungen zu, und der Leser ist engaged in guessing [›damit beschäftigt zu erraten‹, Z. 73], was das isolierte nevermore bedeutet. Doch innerhalb des Kontextes des Dialogs löst eine Bedeutung die andere ab: Nimmermehr wirst du Trost finden; nimmermehr wirst du sie umarmen; nimmermehr werde ich dich verlassen. Darüber hinaus kann dasselbe Wort als ein Eigenname, ein emblematisches Substantiv dienen, das der Liebende seinem nächtlichen Besucher zuschreibt: a bird above his chamber door 〈…〉 with such name as »Nevermore« [›ein Vogel über seiner Kammertür 〈…〉 mit einem solchen Namen wie »Nevermore«‹, Z. 54]. Poe gestaltet diese Gebrauchsvariante besonders effektiv, indem er »im Ganzen die Monotonie des Klangs beibehielt« 57 – d. h., er zog es vor, emotive Modulationen bewußt zu unterdrücken. Wie groß auch immer die Vielfalt der kontextuellen Bedeutungen sein mag, behält das Wort nevermore – wie auch jedes andere Wort – dieselbe allgemeine Bedeutung in all seinen verschiedenen Anwendungen bei. Die Spannung zwischen dieser grundsätzlichen Einheit und der Vielfalt der kontextuellen oder situationsbezogenen Bedeutungen stellt das Schlüsselproblem der linguistischen Disziplin der Semantik dar, während sich die Disziplin der Phonemik mit der Spannung zwischen Identität und Variation auf der Lautebene der Sprache beschäftigt. Das zusammengesetzte Wort nevermore steht für eine Negierung, eine auf die Zukunft für 54 Poe, »The Philosophy of Composition«, S. 33. [Anm. v. R.J.] – Poe, »Die Methode der Komposition«, S. 533. [Anm. d. Übs./Komm.] 55 Poe, »The Philosophy of Composition«, S. 37. [Anm. v. R.J.] – Poe, »Die Methode der Komposition«, S. 538. [Anm. d. Übs./Komm.] 56 Poe, »The Philosophy of Composition«, S. 39. [Anm. v. R.J.] – Poe, »Die Methode der Komposition«, S. 538. [Anm. d. Übs./Komm.] 57 Ebd. [Anm. d. Übs./Komm.]
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immer bezogene Verweigerung, im Gegensatz zu einer Verweigerung in bezug auf die Vergangenheit. Selbst die Verwandlung des temporalen Adverbs in einen Eigennamen hält einen metaphorischen Bezug zu diesem allgemeinen semantischen Wert aufrecht. Eine für immer gültige Verleugnung von etwas scheint unvorstellbar, und der Volksmund versucht sie mit witzigen Widersprüchen wie den folgenden zu bannen: »a neverday when the owl bares its rump« [›ein Nimmerleinstag, wenn die Eule ihren Hintern entblößt‹] und »when Hell freezes over« [›wenn die Hölle zufriert‹] oder andere ähnliche Wendungen, die Archer Taylor untersucht hat.58 Eigentümlicherweise offenbarte sich im selben Jahr, als Poe »The Raven« schrieb, zum ersten Mal ein wissenschaftliches Interesse an Wendungen für ›nie‹ und ›nimmermehr‹, und zwar ausgehend von dem deutschen Dichter Uhland.59 Mehr als irgendein anderer hat Baudelaire, in seinen Notizen zu Poes Gedicht, die besondere konzeptuelle und emotive Angespanntheit dieses »profunden und mysteriösen« 60 Wortes begriffen, das Endgültigkeit mit Endlosigkeit verschmelzt. Das Wort stellt das Zukünftige dem Vergangenen gegenüber, das Ewige dem Vergänglichen, die Negierung der Affirmierung, und stellt in sich selbst einen starken Kontrast zum tierischen Wesen des Sprechers dar, der unzertrennlich mit der fühlbaren Gegenwart von Zeit und Raum verbunden ist. Zunächst eine Herausforderung, wurde Poes provokatives Oxymoron zum Klischee, und in einem populären Lied des vorrevolutionären Rußlands »schreit ein Papagei jamais, jamais, immer jamais« [»jamais« = ›nie‹].61 Um den Endrefrain vorwegzunehmen und seine Wichtigkeit zu unterstreichen, benutzt Poe eine besondere *etymologische Figur. Semantisch bereitet der Autor uns auf die unbegrenzte Negierung nevermore dadurch vor, daß er die restriktive Verneinung merely this and nothing more [›bloß dies und nichts mehr‹, Z. 30] wiederholt; die Verneinung des Wortes balm [›Salbe‹, Z. 89] in der Zukunft wird durch die Verneinung von vergleichbaren phantastischen Schreckenserlebnissen in der Vergangenheit vorweggenommen; schließlich geht der verneinten Behauptung 58 59 60 61
Taylor, »Locutions for Never«. Keine Quellenangabe im Original. [Anm. d. Übs./Komm.] Baudelaire on Poe, S. 156. Jakobson zitiert – wohl aus dem Gedächtnis – das Lied »Popugaj Flobert« [›Papagei Flaubert‹] des populären russischen Schauspielers, Sängers und Komponisten Aleksandr Vertinskij (1889–1957). Im Original heißt es richtig: »On govorit: ›jamais‹, on vse tverdit: ›jamais‹, ›jamais‹, ›jamais‹, ›jamais‹ I placˇet po francuzski.« [›Er sagt »jamais«, er sagt immer wieder: »jamais«, »jamais«, »jamais«, »jamais« und weint auf französisch.‹] Vgl. Pesni Aleksandra Vertinskogo. [Anm. d. Übs./Komm.]
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will be 〈…〉 nevermore [›wird 〈…〉 nimmermehr‹, Z. 108] die Verzweiflung der behaupteten Verneinung nameless here for evermore [›namenslos hier für immer und ewig‹, Z. 12] voraus. Äußerlich zerlegt das Gedicht die Einheit nevermore in ihre grammatischen Bestandteile, indem es more [›mehr‹], ever [›immer‹], und no [›nein‹] (mit seiner Alternante, die vor einem Vokal erscheint: n-ever, n-aught, n-ay, n-either, n-or) in neue Kontexte hineinverlegt, von denen die meisten hinsichtlich des *Metrums und des Reims übereinstimmen: Only this and nothing more [›Nur dies und nichts mehr‹, Z. 6]; Nameless here for evermore [›Namenslos hier für immer und ewig‹, Z. 12]; terrors never felt before [›nie zuvor erfahrene Schreckenserlebnisse‹, Z. 14]; ever dared to dream before [›nie vorher zu träumen wagte‹, Z. 26]; and the darkness gave no token [›und die Dunkelheit gab kein Zeichen‹, Z. 27]. Des weiteren kann die Einheit more [›mehr‹] in Wurzel und Suffix aufgelöst werden, wenn sie dem Wort most [›am meisten‹] bzw. den Steigerungsformen anderer Adjektive gegenübergestellt wird, wie z. B. in der Wendung somewhat louder than before [›etwas lauter als zuvor‹, Z. 32]. Die Sprachkomponenten, die sich aus der Aufteilung all dieser Einheiten in kleinere Bruchteile ergeben, sind selbst bar jeglicher Bedeutung. Diese Komponenten der Lauttextur werden durch die Gleichheit und Vielfalt der Phoneme in dem durchgehenden im Stil von Byron gestalteten Reim bloßgelegt: bore – door – core – shore – wore – yore – o’er usw., wobei das Wort more jede Strophe abschließt. Zusätzlich zu den Reimen nehmen interne Phonemgruppen in der vorausgehenden Zeile auch das Schlußwort nevermore vorweg. So bereitet der Halbvers from thy memories of Lenore [›von deinen Erinnerungen an Lenore‹, Z. 82] (sowie der Halbvers take thy form from off my door [›entferne deine Gestalt von meiner Tür‹, Z. 101]) den Schluß vor, in dem sich die Nasale /m,n/, die *labialen Daueralaute /f,v/ und das durch den Buchstaben r dargestellte Phonem anhäufen: Quoth the Raven: ›Nevermore‹ [›sprach der Vogel: »Nimmermehr«‹, Z. 48]. Die Lauttextur unterstreicht die Konfrontation zwischen den Relikten der Vergangenheit und dem auf die Zukunft hinweisenden Omen. Solche wortspielartigen, pseudo-etymologischen Figuren betonen durch die Verbindung lautähnlicher Worte deren semantische Affinität. So treten in der Zeile Whether Tempter sent, or whether tempest tossed thee here ashore [›Ob von einem Versucher geschickt, oder von einem Sturm hierher an den Strand gespült‹, Z. 86] beide ähnlich-klingenden Substantive als Derivate derselben Wurzel auf, die zwei Spielarten einer bösen Macht darstellt. In seiner Eigenschaft als *Epitheton der Statue von Pallas erscheint das Adjektiv Pallid [›bleich‹] als quasi-verwandt mit dem Namen
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der Göttin. In der Zeile the Raven, sitting lonely on that placid bust [›der Rabe, der einsam auf jener stillen Büste sitzt‹, Z. 55] evoziert das Adjektiv placid die fehlende Referenz zu Pallas. Der Ausdruck beast upon the sculptured bust [›Bestie auf der modellierten Büste‹, Z. 53] suggeriert eine rätselhafte Beziehung zwischen dem Sitzenden und dem Sitzplatz, die beide durch Alternanten ›derselben‹ Wurzel angezeigt werden. Diese Neigung, eine Bedeutungsverbindung auf Grund einer Lautähnlichkeit anzunehmen, veranschaulicht die poetische Funktion der Sprache. Am Anfang dieses Essays, als ich eine junge Dame erwähnte, der ich im Zug begegnete, wurde das Wort lady [›Dame‹] einfach dafür verwendet, um den gemeinten Gegenstand zu signalisieren; doch im Satz »›Lady‹ ist ein zweisilbiges Substantiv« wird dasselbe Wort verwendet, um sich selbst zu signalisieren. Die poetische Funktion verstrickt das Wort in beide Verwendungen zugleich. In »The Raven« denotiert die Vokabel lady eine vornehme Frau, sowohl im Gegensatz zu lord [›hoher Herr‹], einem vornehmen Mann, als auch zu solchen Frauen, die nicht vornehm sind. Gleichzeitig nimmt sie an einem spielerischen Reim teil und signalisiert das Ende eines Halbverses (But, with mien of lord or lady) [›Aber, mit dem Benehmen eines hohen Herrn oder einer Dame‹, Z. 40] und weist teilweise eine lautliche Identität mit ihren Gegenstücken made he und stayed he auf; darüber hinaus zeigt sie im Gegensatz zu diesen eine syntaktische Unteilbarkeit an: /me´id-i/ – /ste´id-i/ – /le´idi/. Ein Laut oder eine Lautsequenz, die auffällig genug ist, um durch ein Schlüsselwort und die umgebenden Vokabeln hervorgehoben zu werden, kann sogar über die Auswahl eines solchen Wortes entscheiden, wie Poe selbst zugab. So ist sein Hinweis darauf, daß der Dichter Worte auswählt, die bestimmte intendierte Laute »verkörpern«,62 völlig berechtigt. Bevor wir uns der systematischen Analyse von Laut und Bedeutung in ihrer Wechselbeziehung zuwenden, haben wir versucht, einen Sondierungsgang bis in den Kern der verbalen Kommunikation vorzunehmen. Zu diesem Zweck scheint es am zweckmäßigsten, ein Beispiel wie »The Raven« zu wählen, das sich diesem Vorgang in dessen ganzer Komplexität und Entblößtheit nähert. »Die mysteriöse Affinität, die Laut und Sinn miteinander verbindet« 63 – eine Affinität, die in poetischer Sprache 62 Poe, »The Philosophy of Composition«, S. 38. [Anm. v. R.J.] – Poe, »Die Methode der Komposition«, S. 538. [Anm. d. Übs./Komm.] 63 Keine Quellenangabe im Original. Urheber und Quelle dieses Zitats lassen sich nicht rekonstruieren; es kommt in den poetologischen Hauptschriften von Poe nicht vor und stammt womöglich gar nicht von Poe selbst. Poe spricht immerhin in einer Marginalie aus dem Jahr 1844 vom »Prinzip der Eintracht zwischen Laut
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überaus fühlbar ist und die von Edgar Allan Poe leidenschaftlich verfochten wurde, hat unsere Wahl bedingt, denn »Ziele«, wie er sagt, »sollten durch Mittel erreicht werden, die dafür am besten geeignet sind«.64 Editorische Notiz Der Aufsatz wurde 1949 geschrieben und als Einführungskapitel zu einem geplanten [aber nie realisierten] Buch mit dem Titel Sound and Meaning konzipiert. Zuerst veröffentlicht in: Me´langes Alexandre Koyre´ I: L’aventure de l’esprit, Paris: Hermann 1964, S. 269–281.
Literatur Jakobsons eigene Angaben sind mit ° gekennzeichnet. ° Baudelaire, Charles: Baudelaire on Poe, übs. u. hg. v. Lois u. Francis Hyslop,
State College: Bald Eagle Press 1952.
° Churchill, Winston: My Early Life. A Roving Commission, London: Butterworth
1930.
° Dostoevskij, Fjodor Michailovicˇ: Die Brüder Karamasoff, übs. von E. K. Rahsin, München: Piper 1989 (= Sämtliche Werke in zehn Bänden, Bd. 10). ° — Polnoe sobranie chudozˇestvennych proizvedenij [›Vollständige Sammlung der
Werke‹], hg. v. Boris Tomasˇevskij und K. Chalabaev, Leningrad: Gosudarstvennoe izdatel’stvo 1930 (= Polnoe sobranie chudozˇestvennych proizvedenij, Bd. 13). ˙ dgara Poe˙« [›Drei Erzählungen von Edgar Poe‹] in: Vremja ° — »Tri rasskaza E 1861. Jakobson, Roman Osipovicˇ: »Language in Operation«, in: Me´langes Alexandre Koyre´ I: L’aventure de l’esprit, Paris: Hermann 1964, S. 269–281. — »Language in Operation«, in: SW III, S. 7–17. — »Linguistics and Poetics«, in: SW III, S. 18–51. – »Linguistik und Poetik«, übs. v. Stephan Packard, komm. v. Hendrik Birus, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 154–216. ° Kent, R. G.: »Assimilation and Dissimilation«, in: Language 12 (1936), S. 245– 258. ° Lagache, Daniel: Les hallucinations verbales et la parole, Paris: Fe´lix Alcan 1934. ° Marion, Denis: La me´thode intellectuelle d’Edgar Poe, Paris: Edition de Minuit 1952. und Sinn« [›the concord of sound-and-sense principle‹], vgl. Poe, Essays and Reviews, S. 1339. [Anm. d. Übs./Komm.] 64 Poe, »The Philosophy of Composition«, S. 36. [Anm. v. R.J.] – Poe, »Die Methode der Komposition«, S. 536. [Anm. d. Übs./Komm.]
Sprache in Aktion
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° Mowrer, Orval Hobart: Learning Theory and Personality Dynamics, New York:
Wiley 1950. Poe, Edgar Allan: Essays and Reviews, New York: Library of America 1984. ° — »Marginalia«, in: ders.: The Works of the Late Edgar Allan Poe, Vol. 3, New York: Redfield 1855–1856 (= The Works of the Late Edgar Allan Poe, 1855– 56, 4 Bde., Bd. 3). ° — The Letters of Edgar Allan Poe, 2 Bde., hg. v. John Ward Ostrom, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 1948. ° — »The Philosophy of Composition«, in: The Works of Edgar Allan Poe, 10 Bde., hg. v. Edmund Stedman u. George Woodberry, Chicago: Stone & Kimball 1895 f., Bd. 6, S. 31–46. – »Die Methode der Komposition«, in: ders.: Werke IV. Gedichte. Drama. Essays. Marginalia, übs. v. Richard Kruse u. a., Olten u. Freiburg im Breisgau: Walter-Verlag 1973 (= Werke, 4 Bde., hg. u. übs. v. Richard Kruse u. a., Bd. 4), S. 531–548. ° — The Raven, and Other Poems, New York: Columbia University Press 1942. — The Works of Edgar Allan Poe, 10 Bde., hg. v. Edmund Stedman u. George Woodberry, Chicago: Stone & Kimball 1895 f. — Werke III. Rezensionen, Briefe, übs. v. Richard Kruse u. a., Olten u. Freiburg im Breisgau: Walter-Verlag (= Werke, 4 Bde., hg. u. übs. v. Richard Kruse u. a., Bd. 3). — Werke IV. Gedichte. Drama. Essays. Marginalia, übs. v. Richard Kruse u. a., Olten u. Freiburg im Breisgau: Walter-Verlag 1973 (= Werke, 4 Bde., hg. u. übs. v. Richard Kruse u. a., Bd. 4). ° Sapir, Edward: »Communication«, in: Selected Writings in Language, Culture, and Personality, hg. v. David G. Mandelbaum, Berkeley: University of California Press 1949, S. 104–109. ° Taylor, Archer: »Locutions for Never«, in: Romance Philology 2 (1948–1949), S. 103–134. Vertinskij, Aleksandr: Pesni Aleksandra Vertinskogo [›Die Lieder Aleksandr Vertinskijs‹], gesungen v. Boris Grebensˇcˇikov, Kurrica Records 1994.
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Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie 1 Übersetzung aus dem Russischen und Kommentar Sebastian Donat »Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie« gehört neben »Linguistik und Poetik« zweifellos zu Jakobsons bedeutendsten literaturtheoretischen Grundlagenaufsätzen. Ebenfalls aus einem Kongreßvortrag hervorgegangen (1 st International Conference of Work-in-Progress devoted to the Problems of Poetics, Warschau 1960), ist er diesem sowohl zeitlich als auch hinsichtlich des Allgemeinheitsanspruchs nachgeordnet. Ging es in »Linguistik und Poetik« um die Positionsbestimmung der Poetik als Teil der Linguistik und um die Definition der Literarizität auf der Basis sprachlicher Funktionen (sechsteiliges Kommunikationsmodell) und Grundoperationen (Selektion und Kombination), so konzentriert sich Jakobson nun auf die für ihn zentrale Ausprägungsform poetischer *Äquivalenzen: die grammatischen *Figuren. Die vier Teile des Aufsatzes sind kreuzförmig miteinander verbunden: In Teil I und III dominiert die theoretisch-abstrakte Herangehensweise: Ausgehend von der Unterscheidung zwischen materialen und relationalen Vorstellungen in der Sprache rückt Jakobson den zum zweiten Bereich gehörenden, bisher weitgehend vernachlässigten grammatischen Bau der Texte ins Zentrum. Vor allem im Rückgriff auf Folklorebeispiele zeigt er das poetische 1
Vorlage: Jakobson, Roman Osipovicˇ: »Poe˙zija grammatiki i grammatika poe˙zii«, in: SW III, S. 63–86. – Vgl. den Erstdruck in: Poetics. Poetyka. Poe˙tika, Warszawa: Pan´stwowe Wydawnictwo Naukowe u. s’Gravenhage: Mouton 1961, S. 397–417, sowie die deutsche Übertragung von Herta Schmid in: Poetik, S. 233–263. Einige Jahre später veröffentlichte Jakobson eine stark gekürzte und überarbeitete englische Fassung: »Poetry of Grammar and Grammar of Poetry« (vgl. SW III, S. 87–97), die auch ins Deutsche übersetzt wurde (vgl. »Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie«, übs. v. Randi Agnete Hartner u. Wolfgang Raible, in: Aufsätze zur Linguistik und Poetik, S. 247–258). – Die hier vorgelegte verdankt den vorausgegangenen Übersetzungen viele wertvolle Anregungen. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Potential des grammatischen *Parallelismus auf (Teil I) und weist in Analogie zur Rolle der Geometrie in der Bildenden Kunst nachdrücklich auf die obligatorische Beteiligung der relationalen Sprachebene am Textganzen hin (Teil III). Teil II und IV sind parallel und dabei komplementär angelegt: In beiden Abschnitten wird anhand der Analyse eines Pusˇkin-Gedichts vorgeführt, wie umfangreich und maßgeblich grammatische *Strukturen an der künstlerischen Qualität kanonischer Gedichte beteiligt sind. Dabei liefert der bilderlose Achtzeiler »Ja vas ljubil« [›Ich liebte Sie‹] ein Paradebeispiel für die überwältigende Dominanz der relationalen Sprachebene (Teil II), während das Gedicht »Cˇto v imeni tebe moem?« [›Was liegt an meinem Namen dir?‹] illustriert, daß grammatische Strukturen auch in *tropenreicher Poesie eine wichtige Rolle in der künstlerischen Organisation übernehmen. Sebastian Donat » глагольных окончаний колокол ћне вдали указывает путь 〈…〉 O. Mandel’sˇtam 2
I. Grammatischer Parallelismus 3 Ende der dreißiger Jahre zeigte mir die redaktionelle Arbeit an der Ausgabe der Werke Pusˇkins in tschechischer Übersetzung, wie Verse, die sich scheinbar eng dem Text des russischen Originals, seinen Bildern und 2
Als Motto wählt Jakobson den Anfang eines Achtzeilers, den der bedeutende akmeistische Dichter Osip E˙mil’evicˇ Mandel’sˇtam (1891–1938) während seines Studiums in Sankt Petersburg verfaßt hat. Nachfolgend der gesamte Text und eine deutsche Übersetzung: »I glago´l’nych okoncˇa´nij koloko´l Mne vdalı´ uka´zyvaet pu´t’, ˇ to´by v ke´l’e skro´mnogo filo´loga Ot moı´ch pecˇa´lej otdochnu´t’. Zabyva´esˇ’ tja´gosti C i go´resti, I menja´ presle´duet vopro´s: Prirasˇcˇe´n’e nu´zˇno li v ao´riste I kako´j zalo´g ›pepajdevko´s‹?« [›Und der Verb-Endungen Glocke Zeigt mir in der Ferne den Weg, Um mich in der Mönchszelle des bescheidenen Philologen Von meinen Sorgen zu erholen. Du vergißt Lasten und Kümmernisse, Und mich verfolgt die Frage: Ist ein Augment im Aorist nötig Und welches *Genus ist »pepaideukos«?‹] (Mandel’sˇtam, Polnoe sobranie stichotvorenij, S. 436). – Das Gedicht stammt von 1912/13 und hängt unmittelbar mit Mandel’sˇtams Studium an der historisch-philosophischen Fakultät der Petersburger Universität zusammen. Die Erinnerungen seines damaligen Kommilitonen Konstantin Mocˇul’skij zur Entstehungsgeschichte (hier gleich in deutscher Übersetzung) bestätigen die besondere Eignung dieser Verse als Motto für Jakobsons Grundlagenaufsatz: »[Mandel’sˇtam] mußte ein Examen in Griechisch ablegen, und ich bot ihm meine Hilfe an. Er kam wiederholt mit unge-
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seiner Lautmuster annähern, aufgrund der Unfähigkeit oder der Unmöglichkeit, den grammatischen Bau des übersetzten Gedichts wiederzugeben, häufig den höchst störenden Eindruck einer tiefen Diskrepanz zum Original hervorrufen.4 Es wurde immer klarer: In der Dichtung Pusˇkins tritt die wegweisende Bedeutung des morphologischen und syntaktischen Gewebes in eine Verbindung und Konkurrenz mit der künstlerischen Rolle der Wort-Tropen, erringt nicht selten die Herrschaft über die Verse und wird zum hauptsächlichen, ja sogar einzigen Träger ihrer verborgenen Symbolik. Dementsprechend habe ich im Nachwort zum tschechischen Band der Lyrik Pusˇkins angemerkt, daß »mit der verschärften Aufmerksamkeit gegenüber der Bedeutung eine auffallende Aktualisierung der grammatischen *Oppositionen verbunden ist, die sich besonders deutlich in den Verbal- und Pronominalformen Pusˇkins zeigt. *Kontraste, Ähnlichkeiten und Nachbarschaftsbeziehungen der unterschiedlichen *Tempora und *Numeri, *Verbalaspekte und *Genera verbi erlangen tatsächlich die führende Rolle in der Komposition einzelner Gedichte; die aufgrund wechselseitiger Gegenüberstellung in den Vordergrund gerückten grammatischen Kategorien wirken ähnlich wie poetische Bilder; beispielsweise wird der kunstvolle Wechsel der grammatischen *Personen zum Mittel spannungsreicher Dramatik. Man kann kaum ein Beispiel für eine ausgesuchtere Nutzung der Flexionsmittel finden.« 5
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heuerer Verspätung zu den Stunden, zutiefst erregt von den Geheimnissen der griechischen Grammatik, die sich ihm eröffneten. Er ruderte mit den Armen, lief im Zimmer umher und deklamierte in singendem Ton Deklinationen und Konjugationen. Die Lektüre Homers verwandelte sich in ein märchenhaftes Ereignis; Adverbien, *Enklitika, Pronomina verfolgten ihn bis in den Schlaf, und er baute rätselhafte persönliche Beziehungen zu ihnen auf. Als ich ihm mitteilte, daß das Partizip Perfekt zum Verb ›paideuo‹ (erziehen) ›pepaideukos‹ lautet, stockte ihm vor Erregung der Atem, und er konnte an diesem Tag die Studien nicht fortsetzen. Zur nächsten Stunde kam er mit einem schuldbewußten Lächeln und sagte: ›Ich habe nichts vorbereitet, sondern ein Gedicht geschrieben.‹ Und ohne den Mantel abzulegen, begann er es vorzutragen.« (Mocˇul’skij, zit. a. a. O., S. 661.) [Anm. d. Übs./Komm.] Zum beträchtlichen Umfang und Stellenwert der Beschäftigung Jakobsons mit dem Parallelismus vgl. das Kapitel »XI. Der Parallelismus«, in: Dialoge, S. 89–97. (Vgl. die russische Originalfassung: Jakobson /Pomorska, Besedy, S. 517–525.) [Anm. d. Übs./Komm.] In den Dialogen mit Krystyna Pomorska hebt Jakobson die Arbeit an der tschechischen Pusˇkin-Übersetzung als wichtigsten Anlaß für seine Beschäftigung mit dem Problem der Grammatik in der Poesie heraus. Vgl. Dialoge, S. 98 f., sowie die russische Originalfassung: Jakobson /Pomorska, Besedy, S. 526 f. [Anm. d. Übs./Komm.] Jakobson, »Na okraj lyricky´ch ba´snı´ Pusˇkinovy´ch«, S. 263. Vgl. die englische Fassung »Marginal Notes on Pusˇkin’s Lyric Poetry«, S. 284.
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Die Erfahrung im Seminar zu Mednyj vsadnik [›Der eherne Reiter‹] 6 und seinen Übersetzungen in andere slavische Sprachen erlaubte es uns beispielsweise, die konsequente Gegenüberstellung von *imperfektivem und *perfektivem Aspekt 7 in dieser »Petersburger Erzählung« 8 zu charakterisieren als ausdrucksstarke grammatische Projektion des tragischen Konflikts zwischen der grenzenlosen Macht, die dem »derzˇavcu polumira« 9 [›Herrscher der halben Welt‹] auf ewig verliehen ist, und der schicksalhaften Begrenztheit aller Taten des gesichtslosen Evgenij, der es durch ein beschwörendes »Uzˇo tebe!« 10 [›Jetzt reicht es!« 11 ] gewagt hat, dem wundertätigen Baumeister eine Grenze zu setzen.12 Die Fragen des Verhältnisses zwischen Grammatik und Poesie erfordern dringend eine systematische Klärung. Wenn wir solche Beispiele wie mat’ obizˇaet docˇ’ [›die Mutter beleidigt die Tochter‹] und kosˇka lovit mysˇ’ [›die Katze fängt die Maus‹] vergleichen, 6 7
Verserzählung Pusˇkins aus dem Jahr 1833. [Anm. d. Übs./Komm.] Zu den Verbalaspekten vgl. Jakobson, »Zur Struktur des russischen Verbums«, S. 6, sowie ders., »Shifters, Verbal Categories, and the Russian Verb«, S. 137 f., und die deutsche Übersetzung »Verschieber, Verbkategorien und das russische Verb«, S. 43 f. [Anm. d. Übs./Komm.] 8 Untertitel der Verserzählung »Der eherne Reiter«. [Anm. d. Übs./Komm.] 9 Vgl. Pusˇkin, »Mednyj vsadnik. Peterburgskaja povest’«, S. 148, v. 168. – Vgl. die deutsche Übersetzung von Wolfgang E. Groeger in: Puschkin, Gesammelte Werke in sechs Bänden, Bd. 2, S. 287–304, hier: S. 303. [Anm. d. Übs./Komm.] 10 Vgl. Pusˇkin, »Mednyj vsadnik. Peterburgskaja povest’«, S. 148, v. 179. [Anm. d. Übs./Komm.] 11 Die russische Phrase ist schwer zu übersetzen. Jakobson selbst paraphrasiert sie auf englisch folgendermaßen: »Evgenij’s ›protest‹ means simply, ›All right, wonderworking builder! There’ll be a finish to you yet!…‹« (Jakobson, »The Kernel of Comparative Slavic Literature«, S. 16.) [Anm. d. Übs./Komm.] 12 Jakobson, »Socha v symbolice Pusˇkinoveˇ«, S. 20; vgl. die Übersetzung »The Statue in Pusˇkin’s Poetic Mythology«, S. 271; ders., »The Kernel of Comparative Slavic Literature«, in: Harvard Slavic Studies 1 (1953), S. 1–71, hier: S. 15–18. [Anm. v. R.J.] – Vgl. den Wiederabdruck in SW VI, S. 1–64, hier: S. 14–16. Die kontrastive Verwendung von perfektivem und imperfektivem Aspekt wird dort folgendermaßen beschrieben: »The limitation implied by the Russian perfective aspect is inapplicable to the actions of Peter, either as emperor or idol. No declarative sentence portraying him uses a finite perfective form […]. The story of Evgenij’s rebellion, however, is told entirely in a rush of shortbreathed perfectives […].« (A. a. O., S. 15.) – Victor Erlich hat die Bedeutung von Jakobsons Beobachtungen zur Verbalstruktur im »Mednyj vsadnik« hervorgehoben: »In fact, his dissection of the verbal dynamics of Pushkin’s narrative masterpiece, The Bronze Horseman, remains to the day one of the most straightforward and persuasive applications of the method under discussion.« (Erlich, »Roman Jakobson: Grammar of Poetry and Poetry of Grammar«, S. 3). [Anm. d. Übs./Komm.]
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dann fühlen wir nach Edward Sapir »instinktiv, ohne den geringsten Versuch einer bewußten Analyse, daß beide Sätze genau demselben Modell folgen, daß sie wirklich ein und denselben Basissatz darstellen, der sich nur in der materialen Ausstattung unterscheidet. Anders gesagt, sie drücken identische Relationsvorstellungen auf identische Weise aus.« 13 Umgekehrt können wir den Satz oder seine einzelnen Wörter »auf rein relationaler, nicht-materialer Ebene« 14 ändern, ohne die ›materialen Accessoires‹ zu berühren. Die Veränderungen können die syntaktischen Beziehungen betreffen (vgl. mat’ obizˇaet docˇ’ [›die Mutter beleidigt die Tochter‹] und docˇ’ obizˇaet mat’ [›die Tochter beleidigt die Mutter‹]) oder aber lediglich die morphologischen Beziehungen (mat’ obidela docˇerej [›die Mutter hat die Töchter beleidigt‹] mit Modifikation von Tempus und Aspekt beim Verb sowie des Numerus beim zweiten Nomen). Ungeachtet der Existenz von Grenz- und Übergangsbildungen unterscheidet die Sprache klar zwischen materialen und relationalen Vorstellungen, die ihren Ausdruck zum einen auf der lexikalischen, zum anderen auf der grammatischen Ebene der Rede finden. Die wissenschaftliche 15 Linguistik übersetzt die tatsächlich in der Rede vorhandenen grammatischen Vorstellungen in ihre technische ›Metasprache‹, ohne dem untersuchten Sprachsystem willkürliche oder fremdsprachige Kategorien aufzuzwingen. Häufig findet ein Unterschied in den *grammatischen Bedeutungen keine Entsprechung in den realen Erscheinungen, die in der Rede behandelt werden. Wenn jemand sagt, daß mat’ obidela docˇ’ [›die Mutter die Tochter beleidigt hat‹], ein anderer aber gleichzeitig behauptet, daß docˇ’ byla obizˇena mater’ju [›die Tochter von der Mutter beleidigt wurde‹], kann man beiden Zeugen keine widersprüchlichen Aussagen vorwerfen – ungeachtet der Gegensätzlichkeit der grammatischen Bedeutungen, die mit dem Unterschied bei Genus verbi und Kasus verbunden sind. Es ist ein und derselbe faktische Zusammenhang, der durch die folgenden Sätze widergespiegelt wird: »lozˇ’ (ili lgan’e¨ ) – grech« [›die Lüge (oder das Lügen) 13 Sapir, Language. An Introduction to the Study of Speech, Kap. V. [Anm. v. R.J.] – Die zitierte Passage findet sich auf S. 89. Sie lautet im Original: »We feel instinctively, without the slightest attempt at conscious analysis, that the two sentences fit precisely the same pattern, that they are really the same fundamental sentence, differing only in their material trappings. In other words, they express identical relation concepts in an identical manner.« [Anm. d. Übs./Komm.] 14 Vgl. ebd. [Anm. d. Übs./Komm.] 15 ›Wissenschaftlich‹ dient hier als Abgrenzungssignal von anderen, nach Jakobsons Maßstäben ›unwissenschaftlichen‹ linguistischen Umgangsweisen mit dem Problem der »grammatischen Vorstellungen«, die den genannten Kriterien nicht gerecht werden. [Anm. d. Übs./Komm.]
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ist eine Sünde‹], »lozˇ’ grechovna« [›die Lüge ist sündhaft‹], »lgan’e¨ grechovno« [›das Lügen ist sündhaft‹], »lgat’ grech (ili gresˇno)« [›zu lügen ist Sünde (oder sündhaft)‹], »lgat’ – gresˇit’ (ili solgat’ – sogresˇit’ )« [›zu lügen heißt zu sündigen‹ 16 ], »lzˇecy (ili lzˇivye ili lgusˇˇcie) – gresˇniki (ili gresˇny ili gresˇat) [›Lügner (oder Verlogene oder Lügnerische) sind Sünder (oder sündhaft oder sündigen)], »lzˇec (i. t. d.) – gresˇnik (i. t. d.)« [›der Lügner (usw.) ist ein Sünder (usw.)‹]. Der Unterschied liegt nur in der Form der Mitteilung. Das im Wesen der Sache identische Urteil kann operieren mit Benennungen einerseits der handelnden Personen im Plural oder im verallgemeinernden Singular (lzˇecy, gresˇniki [›die Lügner, die Sünder‹] oder lzˇec, gresˇnik [›der Lügner, der Sünder‹]) oder andererseits der Handlungen selbst (lgat’, gresˇit’ [›lügen, sündigen‹]). Die Handlungen können ihrerseits als unabhängig und abstrakt (lgan’e, pregresˇen’e [›Lügen, Versündigung‹]), ja sogar vergegenständlicht dargestellt werden (lozˇ’, grech [›Lüge, Sünde‹]); schließlich können sie als Eigenschaften auftreten, die einem Subjekt zugeschrieben werden (gresˇen [›sündhaft‹] u. ä.). Wortarten spiegeln Sapir zufolge zusammen mit anderen grammatischen Kategorien vor allem unsere Fähigkeit wider, die Wirklichkeit in verschiedenartige formale Muster einzuordnen.17 Bentham hat als erster die Vielfalt der ›sprachlichen Fiktionen‹ aufgedeckt, die dem grammatischen Bau zugrunde liegen und in der Sprache eine breite und notwendige Anwendung finden. Diese Fiktionen darf man weder der umgebenden Wirklichkeit noch der schöpferischen Einbildungskraft der Sprachwissenschaftler zuschreiben, und Bentham hat recht mit seiner Behauptung, daß »sie in ihrer unwahrscheinlichen und gleichzeitig unvermeidlichen Existenz gerade und nur der Sprache verpflichtet sind«.18 16 Der Unterschied zwischen lgat’ und solgat’ bzw. gresˇit’ und sogresˇit’ liegt im Aspekt: lgat’ und gresˇit’ sind imperfektiv, solgat’ und sogresˇit’ sind perfektiv. [Anm. d. Übs./ Komm.] 17 In der englischen Version des Aufsatzes folgt an dieser Stelle eine Erläuterung (hier gleich in der deutschen Übersetzung): »In seinen Vorbemerkungen zu den geplanten Foundations of language skizzierte Sapir später, im Jahre 1930, die grundlegenden Typen von Referenten, die als ›eine natürliche Basis für die Wortklassen‹ dienen. Für Sapir sind dies die existents, die ihren sprachlichen Ausdruck im Nomen finden; occurrents, die vom Verb ausgedrückt werden; und schließlich modes of existence and occurrence, die in der Sprache durch das Adjektiv bzw. das Adverb dargestellt werden.« (Jakobson, »Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie«, übs. v. Hartner /Raible, S. 248; vgl. ders., »Poetry of Grammar and Grammar of Poetry«, S. 88.) [Anm. d. Übs./Komm.] 18 Ogden, Bentham’s Theory of Fictions, S. 15. [Anm. v. R.J.] – Die Passage lautet im
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Die notwendige und zwangsläufige Rolle, die den grammatischen Bedeutungen in der Rede zukommt und die ihr charakteristisches unterscheidendes *Merkmal ausmacht, ist gründlich von Linguisten aufgezeigt worden, insbesondere von Boas, Sapir und Whorf.19 Wenn auch die Diskussion über die kognitive Rolle und den kognitiven Wert der grammatischen Bedeutungen sowie über den Grad des Widerstands des wissenschaftlichen Denkens gegenüber dem Druck der grammatischen Schablonen noch nicht abgeschlossen ist, so steht doch eines fest: Von allen Bereichen der sprachlichen Tätigkeit läßt gerade das poetische Schaffen den ›sprachlichen Fiktionen‹ die größte Bedeutung zukommen. Wenn gegen Ende des Poems Chorosˇo [›Gut‹] Majakovskij schreibt »i zˇizn’ chorosˇa, i zˇit’ chorosˇo « 20 [›sowohl (das) Leben (ist) gut, als auch (zu) leben (ist) gut ‹], dann wird man kaum nach einem kognitiven Unterschied zwischen beiden koordinierten Sätzen suchen. In der poetischen Mythologie jedoch wächst die sprachliche Funktion der substantivierten und dadurch vergegenständlichten Tätigkeit an zu einem Bild des Prozesses an sich, des Lebens als solchem, einer Tätigkeit, die sich *metonymisch von den Trägern der Tätigkeit isoliert hat. »Das Abstrakte steht anstelle des Konkreten«, wie im dreizehnten Jahrhundert der Engländer Galfred diese Spielart der Metonymie in einem bedeutenden lateinischen Traktat über die Dichtung bestimmt hat.21 Im Unterschied zum ersten Satz mit seinem Substantiv und dem kongruenten femininen Adjektiv, der leicht einer *Personifizierung zugänglich ist, gibt der zweite der beiden koordinierten Sätze mit dem Infinitiv des imperfektiven Aspekts und der prädikativen Form im unpersönlichen Neutrum einen fließenden Prozeß wieder, der keine Anspielung auf eine Begrenzung oder Vergegenständlichung enthält und die Möglichkeit suggeriert, einen ›dativus agentis‹ zu vermuten oder einzusetzen.22
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Original: »To language, then – to language alone – it is, that fictitious entities owe their existence; their impossible, yet indispensable, existence.« [Anm. d. Übs./ Komm.] Jakobson, »Boas’ View of Grammatical Meaning«; Sapir, Language, Kap. V; Whorf, Language, Thought, and Reality. Majakovskij, »Chorosˇo! Oktjabr’skaja poe˙ma«, S. 322. – Vgl. die deutsche Übersetzung von Hugo Huppert »Gut und schön! Ein Oktober-Poem«, S. 414. [Anm. d. Übs./Komm.] Faral, Les Arts poe´tiques du XII e et du XIII e sie`cle, S. 195 u. 227. Betrachtet man die Verwendung des zentralen *Lexems »chorosˇo« [›gut‹] im Verlauf des (knapp 3200 Verse umfassenden!) Poems, so zeigt sich, daß die von Jakobson angeführten Verse in bezug auf das gesamte Werk eine Schlüsselposition einnehmen. Der zweimalige Gebrauch des Wortes zu Beginn des letzten Kapitels stellt
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Die wiederholte »grammatische Figur«, die Gerard Hopkins, der geniale Neuerer nicht nur in der Poesie, sondern auch in der Poetik, gemeinsam mit der »Lautfigur« als grundlegendes Prinzip des Verses ansah,23 zeigt sich besonders anschaulich in solchen Gedichtformen, in denen der grammatische Parallelismus, der benachbarte Zeilen zu Verspaaren und fakultativ zu Gruppen größeren Umfangs vereinigt, einer metrischen Konstante nahekommt. Die oben angeführte Sapirsche Bestimmung läßt sich völlig auf solche parallele Reihen anwenden: »sie [stellen] wirklich ein und denselben Basissatz dar […], der sich nur in der materialen Ausstattung unterscheidet.« 24 Unter den Monographien, die sich mit literarischen Beispielen des regelmäßigen Parallelismus, z. B. der Frage der paarweisen Wortverbindungen in der altindischen Dichtung,25 im chinesischen 26 und im biblischen Vers 27, beschäftigen, kommen die Arbeiten von Steinitz 28 und Austerlitz 29 zur finno-ugrischen Folklore wie auch die neueste Arbeit von Poppe 30 über den Parallelismus in der mündlichen mongolischen Dichtung, die eng mit der Herangehensweise von Wolfgang Steinitz verbunden ist, der linguistischen Problematik des Parallelismus am nächsten. Steinitz’ Buch, das voller neuer Beobachtungen und Schlüsse ist, hat den Forschern eine Reihe neuer prinzipieller Fragen gestellt. Indem wir die Folkloresysteme einer Analyse unterziehen, die den Parallelismus mit größerer oder geringerer Konsequenz als grundlegendes Mittel zur Verbindung der Verse benutzen, erfahren wir, welche grammatischen Klassen und Kategorien geeignet sind, einander in parallelen Zeilen zu entspre-
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(abgesehen von einer uneigentlichen Verwendung in Kapitel 7) die erste Wiederaufnahme des Titels dar und leitet zugleich die euphorische Identifizierung von Dichter und Vaterland ein. [Anm. d. Übs./Komm.] Hopkins, The Journals and Papers, S. 84 f., 105 f. u. 267. Vgl. o. S. 261. [Anm. d. Übs./Komm.] Vgl. Gonda, Stylistic Repetition in the Veda. Vgl. Tchang Tcheng-ming, Le Paralle´lisme dans le vers du Chen King. Vgl. Newman /Popper, Studies in Biblical Parallelism, und Popper, Parallelism in Isaiah. Vgl. Steinitz, Der Parallelismus in der finnisch-karelischen Volksdichtung; Jakobson, »Aktuelle Aufgaben der Bylinenforschung«. [Anm. v. R.J.] – Vgl. den Wiederabdruck in SW IV, S. 61–63. In diesem kurzen Forschungsbericht hatte Jakobson die Monographie von Steinitz einerseits als »bahnbrechenden Versuch einer ›Grammatik des Parallelismus‹« gerühmt (S. 62), andererseits aber Kritik an Steinitz’ Systematik und dem zu engen Einzugsbereich seiner Untersuchung geübt. [Anm. d. Übs./Komm.] Vgl. Austerlitz, Ob-Ugric Metrics. Vgl. Poppe, »Der Parallelismus in der epischen Dichtung der Mongolen«.
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chen und folglich von der gegebenen Sprachgemeinschaft als nah oder äquivalent eingeschätzt werden.31 Die Untersuchung der poetischen Freiheiten in der Technik des Parallelismus liefert, ähnlich wie die Analyse der Regeln des annäherungsweisen Reims, objektive Aussagen über die strukturellen Besonderheiten der gegebenen Sprache (vgl. z. B. die Bemerkungen Steinitz’ über die häufigen Gegenüberstellungen von Allativ und Illativ 32 sowie von Präteritum und Präsens in paarweisen karelischen Zeilen und umgekehrt über nicht-vergleichbare Kasus und Verbalkategorien). Die Wechselbeziehung der syntaktischen, morphologischen und lexikalischen Übereinstimmungen und Divergenzen, die verschiedenen Formen der semantischen Ähnlichkeiten und Angrenzungen,33 der synonymischen und *antonymischen Konstruktionen und schließlich die Typen und Funktionen der ›isolierten Zeilen‹ – alle diese Erscheinungen verlangen nach einer systematischen Untersuchung. Die semantische Begründung des Parallelismus und seine Rolle in der Komposition des künstlerischen Ganzen sind vielfältig. Ein besonders einfaches Beispiel: In den endlosen Wander- und Angelliedern der Kolalappen führen zwei benachbarte Personen identische Handlungen aus und dienen gewissermaßen als Kernstück für die automatische und sujetlose Aufreihung solcher selbstgenügsamer paarweiser Formeln: я ” ” ”
атерина ¬асильевна, ты атерина —еменовна, мен¤ кошелек с деньгами, у теб¤ кошелек с деньгами, мен¤ сорока узорчата¤, у теб¤ сорока узорчата¤, мен¤ сарафан с хазами, у теб¤ сарафан с хазами 34
31 Vgl. die Wiederaufnahme dieses Arguments in Jakobsons Aufsatz »Grammatical Parallelism and its Russian Facet«, S. 98 f. (Deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 302–364, hier: S. 305.) [Anm. d. Übs./Komm.] 32 Allativ: Kasus, der das Ziel angibt; Illativ: Kasus zur Bezeichnung der Bewegung in etwas hinein (beide in finno-ugrischen Sprachen). [Anm. d. Übs./Komm.] 33 Vgl. Jakobsons Grundlagenaufsatz zu den zwei Seiten der Sprache, in dem er ebenfalls anhand von Folkloretexten mit hochgradigem Parallelismus auf den unterschiedlichsten Sprachebenen eine Differenzierung zwischen *metaphorischen und metonymischen Verfahren vornimmt. (Jakobson, »Two Aspects of Language and Two Types of Aphasic Disturbances«, S. 254–259; vgl. die deutsche Übersetzung »Zwei Seiten der Sprache und zwei Typen aphatischer Störungen«, S. 133–139.) Bereits 1936 hatte Jakobson eine »Unterscheidung der inneren (metaphorischen) und äußeren (metonymischen) Relation der Parallelgestalten« vorgeschlagen. (»Aktuelle Aufgaben der Bylinenforschung«, S. 63.) [Anm. d. Übs./Komm.] 34 Charuzin, Russkie lopari, S. 393. [Anm. v. R.J.] – Die Interpunktion wurde der bei Charuzin angepaßt. – Genau diese Verse hatte Jakobson bereits 1936 als Paradebeispiel für den von Steinitz vernachlässigten »entblössten Parallelismus […] ver-
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Roman Jakobson
Ja U U U
Katerı´na Vası´l’evna, ty Katerı´na Seme¨novna, menja´ kosˇele¨k s de´n’gami, u tebja´ kosˇele¨k s de´n’gami, menja´ soro´ka uzo´rcˇataja, u tebja´ soro´ka uzo´rcˇataja, menja´ sarafa´n s cha´zami, u tebja´ sarafa´n s cha´zami
Ich Ich Ich Ich
bin Katerina Vasil’evna, du bist Katerina Seme¨novna, habe eine Börse mit Geld, du hast eine Börse mit Geld, habe eine gemusterte Haube 35, du hast eine gemusterte Haube, habe einen Rock mit Borte, du hast einen Rock mit Borte
usw. In der russischen Erzählung und dem Lied über Foma und Ere¨ma dienen beide vom Pech verfolgten Brüder als humoristische Motivierung für eine Kette von paarweisen Wendungen, die den Parallelismus, wie er typisch für die russische Volksdichtung ist, parodieren. Sie legen seine *Pleonasmen frei und geben eine scheinbar differenzierende, tatsächlich aber tautologische Charakterisierung der beiden erbärmlichen Recken, indem sie synonyme Ausdrücke oder parallele Verweise auf eng benachbarte und sehr ähnliche Erscheinungen zusammenstellen 36: ≈рему ≈рема ≈рему ≈рему ≈рему ≈рема
в шею, а ‘ому в толчки! ушел, а ‘ома убежал, в овин, а ‘ому под овин, сыскали, а ‘ому нашли, били, а ‘оме не спустили, ушел в березник, а ‘ома – в дубник.37
Ere¨mu v ˇse´ju, a Fomu´ v tolcˇkı´! Ere¨ma usˇe¨l, a Foma´ ubezˇa´l, Ere¨ma v ovı´n, a Foma´ pod ovı´n, Ere¨mu syska´li, a Fomu´ nasˇlı´, Ere¨mu bı´li, a Fome´ ne spustı´li, Ere¨ma usˇe¨l v bere¨znik, a Foma´ – v dubnı´k. Ere¨ma wurde hinausgeschmissen, und Foma wurde hinausgestoßen! Ere¨ma ging weg, und Foma lief weg, Ere¨ma in die Korndarre, und Foma unter die Korndarre, breiteter lappischer Lieder« angeführt. (»Aktuelle Aufgaben der Bylinenforschung«, S. 62 f.) [Anm. d. Übs./Komm.] 35 Altertümlicher, teilweise sehr reich verzierter und wertvoller Kopfschmuck für Frauen, der in der Form an eine Elster erinnert und deshalb im Russischen auch mit demselben Wort wie dieser Vogel (»soroka«) bezeichnet wird. [Anm. d. Übs./Komm.] 36 Vgl. die Übersicht zu den Varianten in Aristov, »Povest’ o Fome i Ereme«. 37 A. a. O., S. 361. Die Interpunktion wurde der bei Aristov angepaßt. [Anm.d. Übs./ Komm.]
Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie
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Ere¨ma machten sie ausfindig, und Foma fanden sie, Ere¨ma schlugen sie, und Foma ließen sie nicht ohne Bestrafung, Ere¨ma ging weg in den Birkenwald, und Foma in den Eichenwald.
Die Unterschiede zwischen den zusammengestellten Auftritten der beiden Brüder sind bedeutungslos, die elliptische Phrase »Foma v dubnik« [›Foma in (den) Eichenwald‹] wiederholt die komplette Phrase »Ere¨ma usˇel v bereznik« [›Ere¨ma ging weg in (den) Birkenwald‹]. Beide Helden sind gleichermaßen in den Wald gelaufen, und wenn einer von ihnen einen Birken-, der andere dagegen einen Eichenhain bevorzugt hat, dann allein deswegen, weil Ere¨ma und bere´znik beides *Amphibrachen und Foma´ und dubnı´k beides *Jamben sind. Prädikate wie »Ere¨ma ne dokinul, Foma cˇerez perekinul« 38 [›Ere¨ma warf nicht bis zum Ziel, Foma warf über das Ziel hinaus‹] erweisen sich ihrerseits im Grunde genommen als Synonyme, die auf den gemeinsamen Nenner »er traf nicht« hinauslaufen. In Form des synonymischen Parallelismus werden nicht nur die Brüder beschrieben, sondern auch alles, was sie umgibt: »Odna utocˇka belesˇen’ka, a drugaja-to cˇto sneg« 39 [›Ein Entchen ist wunderbar weiß, und das andere wie Schnee‹]. Schließlich dringen dort, wo die Synonymie wegfällt, *paronomastische Reime ein: »Seli oni v sani, da poechali sami« 40 [›Sie setzten sich in den Schlitten, und fuhren selbst‹]. In der großartigen nordrussischen Ballade »Vasilij i Sof’ja« [›Vasilij und Sof’ja‹] 41 wird der binäre grammatische Parallelismus zur Triebfeder der dramatischen Handlung. Die Kirchenszene zu Beginn dieser kurzen Byline 42 stellt in Form eines *antithetischen Parallelismus den Gebetsruf aller Gemeindemitglieder »Gospodi Bozˇe!« [›Herr Gott!‹] der versehentlich entschlüpften inzestuösen Äußerung der Heldin »Vasil’jusˇko, bratec moj!« [›Vasil’jusˇko, mein Brüderchen 43!‹] gegenüber. Die Einmischung 38 A. a. O., S. 362. Dieser Vers findet sich in einer anderen Variante des Liedes über Foma und Erema. [Anm. d. Übs./Komm.] 39 Ebd. [Anm. d. Übs./Komm.] 40 Ebd. [Anm. d. Übs./Komm.] 41 Vgl. die Variantenreihe bei Sobolevskij (Velikorusskie narodnye pesni, hg. v. Sobolevskij, S. 82–88) und Astachova sowie ihr Verzeichnis weiterer Niederschriften (Byliny Severa, hg. v. Astachova, S. 708–711). [Anm. v. R.J.] – Bei Sobolevskij finden sich an der von Jakobson angegebenen Stelle keine Varianten der Ballade »Vasilij i Sof’ja«. [Anm. d. Übs./Komm.] 42 ›Bylinen‹: Russische Heldenlieder im Umfang von einigen hundert reimlosen Versen, die im Sprechgesang, begleitet auf der Gusli (eine Art Zither), mündlich tradiert wurden. Vgl. die deutsche Auswahlausgabe Ilja und der Räuber Nachtigall. [Anm. d. Übs./Komm.] 43 »Bratec« ist die Diminutivform zu »brat« [›Bruder‹], wird aber auch jenseits von
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der böswilligen Mutter eröffnet eine Kette von Verspaaren, die beide Liebende mittels einer strengen Übereinstimmung zwischen jeder Zeile über den Bruder und der folgenden Zeile über die Schwester verbinden: Die Mutter »na grivenku kupila zelena vina« [›kaufte für ein Zehnkopekenstück grünen Wein‹] (für Vasilij), »na druguju kupila zel’ja ljutogo« 44 [›für ein weiteres einen grausamen Trank 45‹] (für Sof’ja). Die Verkettung der Schicksale von Bruder und Schwester wird durch einen wiederholten *Chiasmus verstärkt: »“ы ¬асильюшко, пей да —офеи не давай, ј —офеюшка, пей, ¬асилью не давай.« ј ¬асильюшко пил и —офеи подносил, ј —офеюшка пила и ¬асилью поднесла. »Ty Vası´l’jusˇko, pe´j da Sofe´i ne dava´j, A Sofe´jusˇka, pe´j, Vası´l’ju ne dava´j.« A Vası´l’jusˇko pı´l i Sofe´i podnosı´l, A Sofe´jusˇka pila´ i Vası´l’ju podnesla´. »Du, Vasil’jusˇko, trinke und gib Sofeja nicht, Und Sofejusˇka, trinke, gib Vasilij nicht.« Und Vasil’jusˇko trank und bot Sofeja an, Und Sofejusˇka trank und bot Vasilij an.
Die eng benachbarten Bilder der paarweisen Verse nähern sich äußerlich den stereotypen Konstruktionen des pleonastischen »Wortflechtens« 46 bei den Lappen: ¬асильюшко говорит, что головушка болит, а —офе¤ говорит: ретиво сердце щемит. Verwandtschaftsbeziehungen als vertrauliche Anrede (etwa: »Mein Lieber«) gebraucht. [Anm. d. Übs./Komm.] 44 Dieser genaue Wortlaut findet sich in zwei der fünf bei Astachova angeführten Varianten der Byline. Vgl. »U vdovusˇki vdovy«, in: Byliny Severa, S. 119 f., hier: S. 119, v. 13 f., sowie »O Vasil’i i Sofii«, a. a. O., S. 455 f., hier: S. 455, v. 3 f. [Anm. d. Übs./Komm.] 45 »Zel’e« [›Trank‹] ist etymologisch verwandt mit »zelenyj« [›grün‹] – im Zentrum des lexikalischen Feldes, dem beide Wörter angehören, liegt die Bedeutung ›grün‹, aber auch ›Gras‹ und ›Kraut‹. Vgl. Vasmer, E˙timologicˇeskij slovar’ russkogo jazyka, Bd. 2, S. 92. [Anm. d. Übs./Komm.] 46 Zum Motiv und Begriff des Wortflechtens bei Jakobson vgl. Greber, »Text als ›texture‹«. Dort werden auch die beiden besonders einschlägigen Analysen Jakobsons im Zusammenhang mit dem Wortflechten behandelt: »Siluanovo Slavoslovie Sv. Savve« sowie »Slavoslovie Siluana Simeonu« (vgl. die Übersetzungen in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 471–493 und 494–508). [Anm. d. Übs./Komm.]
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ќни оба вдруг переставились и оба вдруг переславились. ¬асиль¤ несут на буйных головах, ј —офею несут на белых руках. ¬асиль¤ хоронили по праву руку, ј —офею хоронили по леву руку. Vası´l’jusˇko govorı´t, cˇto golo´vusˇka bolı´t, a Sofe´ja govorı´t: retı´vo se´rdce ˇscˇemı´t. Onı´ o´ba vdru´g peresta´vilis’ i o´ba vdru´g peresla´vilis’. Vası´l’ja nesu´t na bu´jnych golova´ch, A Sofe´ju nesu´t na be´lych ruka´ch. Vası´l’ja choronı´li po pra´vu ru´ku, A Sofe´ju choronı´li po le´vu ru´ku. Vasil’jusˇko sagt, daß der Kopf schmerzt, und Sofeja sagt: mir ist es sehr schwer ums Herz. Sie beide starben plötzlich und beide wurden plötzlich gerühmt. Vasilij tragen sie auf ungestümen Köpfen, Und Sofeja tragen sie auf weißen Händen. Vasilij begruben sie zur rechten Hand, Und Sofeja begruben sie zur linken Hand.
In einzelnen Varianten der Byline kehrt eine kreuzförmige Konstruktion wieder. Zwei Bäume wuchsen auf den Gräbern: eine verba [›Weide‹] (feminin) auf dem Grab des Bruders, ein kiparis [›Zypresse‹] (maskulin) auf dem Grab der Schwester. Das Thema der Verbindung der Helden und ihrer Schicksale geht wegen der *Kontiguität und der Ähnlichkeit auf beide Bäume über: Ќа ¬асильи выростала золота верба, Ќа —офеи выростало кипарис-древо. ќни вместо вершочками свивались и вместо листочками слипались. Na Vası´l’i vyrosta´la zolota´ ve´rba, Na Sofe´i vyrosta´lo kiparı´s-dre´vo. Onı´ vme´sto versˇo´cˇkami sviva´lis’ i vme´sto listo´cˇkami slipa´lis’. Auf Vasilijs wuchs eine goldene Weide, Auf Sofejas wuchs ein Zypressen-Baum. Sie wanden sich mit den Wipfeln ineinander und verklebten sich mit den Blättern ineinander.
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In anderen Varianten fehlt der Chiasmus: Ein männlicher Baum wächst auf dem Grab des Bruders und ein weiblicher auf dem der Schwester. Dieselbe Mutter, die »Sofeju izvela da Vasil’ja izvela« [›Sof’ja umgebracht hat und Vasilij umgebracht hat‹]: ипарично деревцо она повырубила, золотую вербу она повырвала.47 Kiparı´cˇno de´revco ona´ povy´rubila, zolotu´ju ve´rbu ona´ povy´rvala. Den Zypressenbaum holzte sie ab, die goldene Weide riß sie heraus.
Die abschließende Verbindung der paarigen Sätze wiederholt auf diese Weise metaphorisch und metonymisch das Motiv des Untergangs der Liebenden. Gelehrte Bemühungen, eine scharfe Grenze zwischen Metaphorik und faktischer Szenerie in der Dichtung zu ziehen,48 lassen sich kaum auf diese Ballade anwenden, und überhaupt ist der Kreis der dichterischen Werke und Schulen, für die diese Grenze tatsächlich existiert, äußerst beschränkt. Im Dialog »Über den Ursprung der Schönheit« 49 (1865), einem überaus wertvollen Beitrag zur Dichtungstheorie, bemerkt Hopkins, daß wir uns bei all unserer Vertrautheit mit dem kanonischen Parallelismus des biblischen Prototyps nicht über die wichtige Rolle im klaren sind, die der Parallelismus in unserem dichterischen Schaffen spielt: »Ich denke, sie wird jeden überraschen, wenn sie zum ersten Mal aufgezeigt werden wird.« 50 Trotz vereinzelter Erkundungsstreifzüge in das Gebiet der poetischen Grammatik 51 stellt die Rolle der ›grammatischen Figur‹ in der Dich47 Dieser genaue Wortlaut findet sich in einer der fünf bei Astachova angeführten Varianten der Byline. Vgl. »Devjat’ docˇerej i odinakoj syn«, in: Byliny Severa, S. 285 f., hier: S. 286, v. 31 f. [Anm. d. Übs./Komm.] 48 Vgl. z. B. Brooke-Rose, A Grammar of Metaphor. 49 Vgl. Hopkins: »On the Origin of Beauty. A Platonic Dialogue«, in: ders., The Journals and Papers, S. 86–114. [Anm. d. Übs./Komm.] 50 Hopkins, The Journals and Papers, S. 106. [Anm. v. R.J.] – Vgl. den Wortlaut des Originals: »Hebrew poetry, you know, is structurally only distinguished from prose by its being paired off in parallelisms, subdivided of course often into lower parallelisms. This is well-known, but the important part played by parallelism of expression in our poetry is not so well-known: I think it will surprise anyone when first pointed out.« [Anm. d. Übs./Komm.] 51 Vgl. z. B. Davie, Articulate Energy; Berry, Poet’s Grammar; Pospelov, Sintaksicˇeskij stroj stichotvornych proizvedenij Pusˇkina. [Anm. v. R.J.] – Vgl. aber Jakobsons kritische Auseinandersetzung mit Berry als Anhänger des »outdated dogma of ›Clas-
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tung der Welt zu allen Zeiten nach wie vor eine Überraschung für die Literaturwissenschaftler dar, obwohl der erste Hinweis schon vor knapp einhundert Jahren von Hopkins gegeben wurde. In antiken und mittelalterlichen Versuchen der Unterscheidung zwischen lexikalischen Tropen und grammatischen Figuren gibt es zwar Hinweise auf die Frage der poetischen Grammatik, aber diese zaghaften Anfänge wurden später vergessen. Unterdessen beherrscht der sprachliche Parallelismus, der die Mutter, die die Tochter bestraft, entweder einerseits in der Reihenfolge des *Isokolons (Parisosis) mit einer Katze vergleicht, die eine Maus fängt, oder mit einer Maschine, die Wäsche wäscht, oder andererseits in der Form des *Polyptotons mit einer Mutter, die von der Tochter bestraft wurde, in raffinierten und bizarren Erscheinungsweisen nach wie vor die Gedichte. Gemäß der Formulierung, die ich in meiner jüngsten Untersuchung über die Poetik im Lichte der Linguistik 52 vorgeschlagen habe, erhebt die Poesie, indem sie die Ähnlichkeit auf die Kontiguität überträgt, die Äquivalenz zum Prinzip der Kombination. Die symmetrische Wiederholung und der Kontrast der grammatischen Bedeutungen werden hier zu künstlerischen Verfahren. Im Zusammenhang mit der vorliegenden Darstellung wurden einige charakteristische und auffällige Beispiele aus der Dichtung verschiedener Epochen und Völker einer detaillierten Analyse unterzogen: der bekannte Hussitenchoral vom Anfang der zwanziger Jahre des 15. Jahrhunderts,53 die Gedichte der großartigen englischen Lyriker Philip Sidney 54 (16. Jahrhundert) und Andrew Marvell 55 (17. Jahrhundert), zwei klassische Beispiele der Lyrik Pusˇkins aus dem Jahr 1829,56 eines der Meisterwerke der
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sical Grammarians‹« in seiner Marvell-Analyse: Jakobson, »Andrew Marvell’s Poem ›To His Coy Mistress‹«, S. 342, sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 678. [Anm. d. Übs./Komm.] Jakobson, »Linguistics and Poetics«, S. 27. [Anm. v. R.J.] – Vgl. die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 170. [Anm. d. Übs./Komm.] Vgl. Jakobson, »›Ktozˇ jsu´ bozˇ´ı bojovnı´ci‹: Slovnı´ stavba Husitske´ho chora´lu« sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 509–535. [Anm. d. Übs./Komm.] Vgl. Jakobson, »The Grammatical Texture of a Sonnet from Sir Philip Sidney’s ›Arcadia‹« sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 607–621. [Anm. d. Übs./Komm.] Vgl. Jakobson, »Andrew Marvell’s Poem ›To His Coy Mistress‹« sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 672–687. [Anm. d. Übs./ Komm.] ˇ to v imeni Gemeint sind Pusˇkins Gedichte »Ja vas ljubil« [›Ich liebte Sie‹] und »C tebe moem« [›Was liegt an meinem Namen dir‹], die Jakobson im weiteren Verlauf dieses Aufsatzes analysiert. [Anm. d. Übs./Komm.]
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slavischen Dichtung aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, »Przeszłos´c´« [›Vergangenheit‹] von Norwid,57 das letzte Gedicht des größten bulgarischen Dichters Christo Botev 58 und aus dem Schaffen der ersten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts »Devusˇka pela v cerkovnom chore« [›Ein Mädchen sang im Chor der Kirche‹] (1906) von Aleksandr Blok 59 und »Voz’mi na radost’ iz moich ladonej« [›Nimm zur Freude aus meinen Händen‹] (1920) von Osip Mandel’sˇtam.60 Wenn die unvoreingenommene, aufmerksame, detaillierte und ganzheitliche Beschreibung die grammatische Struktur eines einzelnen Gedichts aufdeckt, dann kann das Bild der Auswahl, Verteilung und Wechselbeziehung der verschiedenen morphologischen Klassen und syntaktischen Konstruktionen den Beobachter durch unerwartete, auffallend symmetrische Anordnungen, proportionale Konstruktionen, kunstvolle Anhäufungen äquivalenter Formen und grelle Kontraste in Erstaunen versetzen.61 Charakteristisch sind ebenfalls radikale Einschränkungen im Repertoire der verwendeten grammatischen Kategorien: Mit der Aussparung der einen gewinnen die anderen an poetischer Einprägsamkeit. Die Wirksamkeit solcher Verfahren unterliegt keinerlei Zweifel, und jeder beliebige feinsinnige Leser empfindet, wie Sapir sagen würde, instinktiv den künstlerischen Effekt dieser grammatischen Bewegungen, »ohne den geringsten Versuch einer bewußten Analyse«; 62 und in dieser Beziehung erweist es sich häufig, daß der Dichter einem solchen Leser ähnlich ist. Der geübte Zuhörer oder Vortragende von Volksdichtung, die auf einem mehr oder weniger konstanten Parallelismus aufgebaut ist, erfaßt dementsprechend Abweichungen von dieser Norm, obwohl er unfähig ist, sie zu analysieren – genauso, wie 57 Vgl. Jakobson, »›Przeszłos´c´‹ Cypriana Norwida« sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 354–374. [Anm. d. Übs./Komm.] 58 Vgl. Jakobson, »K strukture poslednich stichov Chr. Boteva« sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 395–431. [Anm. d. Übs./ Komm.] 59 Vgl. Jakobson, »Stichotvornye proricanija Aleksandra Bloka« sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 452–491. [Anm. d. Übs./ Komm.] 60 Die meisten dieser Versuche sind in den dritten Band der Selected Writings aufgenommen worden. [Anm. v. R.J.] – Die einzige Ausnahme bildet die Analyse zum angeführten Mandel’sˇtam-Gedicht, die offensichtlich unpubliziert geblieben ist. [Anm. d. Übs./Komm.] 61 Zur Kritik an dieser Kernaussage und ihrer Relativierung siehe Birus, »Hermeneutik und Strukturalismus«, S. 19–21. Vgl. auch Bradford, Roman Jakobson, S. 41, sowie Werth, »Roman Jakobson’s verbal analysis of poetry«, S. 21–25. [Anm. d. Übs./ Komm.] 62 Vgl. o., Anm. 13. [Anm. d. Übs./Komm.]
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serbische Guslaren 63 und ihr Publikum jedwede Abweichung vom Silbenschema der epischen Gesänge und von der unveränderlichen Position der sogenannten *Zäsur bemerken und häufig tadeln, obwohl sie nicht in der Lage sind zu bestimmen, worin der Fehler liegt.64 Häufig unterstreichen Kontraste im grammatischen Bestand die strophische Gliederung eines Gedichtes, wie z. B. im oben erwähnten Choral »Ktozˇ jsu´ bozˇ´ı bojovnı´ci« [›Die die Gottes-Kämpfer sind‹], oder aber sie gliedern das Gedicht selbständig in kompositorische Teile. So besteht beispielsweise Marvells *Epistel »To His Coy Mistress« aus drei grammatisch verschiedenen Teilen, die sich ihrerseits in drei charakteristische Einheiten untergliedern; und jede dieser Untereinheiten – Eingangsteil, Kern und Abschlußteil – verfügt über das gesamte Gedicht hinweg über ihre eigenen unterscheidenden grammatischen Züge.65 Zu den grammatischen Kategorien, die für Entsprechungen auf der Basis von Ähnlichkeit und Kontrast genutzt werden, gehören in der Dichtung alle Klassen der flektierbaren und nicht-flektierbaren Wortarten, Numeri, Genera, Kasus, Tempora, Aspekte, Modi, Genera verbi, die Klassen der *Abstrakta und *Konkreta, Negationen, finite und nicht-finite Verbformen, definite und indefinite Pronomina oder Artikel sowie schließlich die verschiedenen syntaktischen Einheiten und Konstruktionen.
63 Bezeichnung für die Vortragenden epischer Gesänge im südslavischen Bereich, abgeleitet vom einsaitigen Streichinstrument Gusla, mit dem sie sich selbst begleiten. [Anm. d. Übs./Komm.] 64 Vgl. Jakobson, »On the So-Called Vowel *Alliteration in Germanic Verse«, S. 195 f., sowie die deutsche Übersetzung dieser Passage von Tarcisius Schelbert als Anhang zu Jakobson, »Unterbewußte sprachliche Gestaltung in der Dichtung«, S. 325– 327. Eine detaillierte Analyse des von den Guslaren verwendeten komplexen Verses, des ›deseterac‹, nimmt Jakobson im Aufsatz »Über den Versbau der serbokroatischen Volksepen« vor. [Anm. d. Übs./Komm.] 65 In der überarbeiteten englischen Fassung zeigt Jakobson hier eine Parallele zum Filmschnitt auf (hier gleich in der deutschen Übersetzung): »Die Nebeneinanderstellung kontrastierender grammatischer Begriffe läßt sich vergleichen mit dem sogenannten ›dynamischen Schnitt‹ in der Filmmontage, einer Art des Schnitts, welche z. B. nach Spottiswoodes Definition die Aneinanderreihung kontrastierender Aufnahmen oder Folgen dazu verwendet, im Geist des Zuschauers Eindrücke hervorzurufen, die die betreffenden Aufnahmen oder Folgen für sich allein genommen gar nicht enthalten.« (Jakobson, »Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie«, übs. v. Hartner /Raible, S. 253 f.; vgl. ders., »Poetry of Grammar and Grammar of Poetry«, S. 83.) – Vgl. Bradford, Roman Jakobson, S. 44–46. [Anm. d. Übs./Komm.]
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II. Bilderlose Dichtung Nach dem Zeugnis Veresaevs schien es ihm manchmal, daß »das Bild nur ein Surrogat der echten Dichtung ist«.66 Die sogenannte ›bilderlose Dichtung‹ 67 oder ›Gedankenlyrik‹ verwendet in großem Umfang die ›grammatische Figur‹ anstelle der unterdrückten Tropen. Sowohl der Kriegschoral der Hussiten als auch Pusˇkins »Ja vas ljubil« [›Ich liebte Sie‹] stellen anschauliche Muster für das Monopol der grammatischen Verfahren dar, während als Beispiele für die komplexe Beteiligung beider Elemente das oben erwähnte Gedicht von Marvell oder die mit Tropen gesättigten ˇ to v imeni tebe moem« [›Was liegt an meinem *Strophen 68 Pusˇkins »C 66 Veresaev, »Zapisi dlja sebja. Fragmenty iz knigi«, S. 156. [Anm. v. R.J.] – Die Formulierung stammt aus einer der erst postum von Ju. Babusˇkin herausgegebenen Notizen und Tagebuchaufzeichnungen des russischen Prosaschriftstellers, Publizisten und Übersetzers Vikentij Vikent’evicˇ Veresaev (1867–1945). Da sie nicht unbeträchtliche Relevanz für Jakobsons Argumentation besitzt, wird sie hier komplett in deutscher Übersetzung wiedergegeben: »Bei Pusˇkin in den Varianten zu ›Graf Nulin‹ [Verserzählung Pusˇkins aus dem Jahr 1825]: ›On ve´s’ kipı´t kak samova´r… Il’ kak otve´rstie vulka´na Ili – sravne´nij pod ruko´j U nas dovo´l’no – no sravne´nij Ne lju´bit moj stepe´nnyj ge´nij, Zˇive´j bez nı´ch rasska´z prosto´j…‹ [›Er kocht wie ein Samowar… Oder wie die Öffnung eines Vulkans Oder – Vergleiche haben wir Genug zur Hand – aber Vergleiche Liebt mein würdevoller Genius nicht, Lebendiger ist ohne sie eine einfache Erzählung…‹] Das ist wirklich eine charakteristische Besonderheit Pusˇkins: Er liebt Bilder und Vergleiche nicht. Deshalb ist er irgendwie besonders einfach, und deshalb ist seine fesselnde Kraft besonders rätselhaft. Mir scheint es manchmal, daß das Bild nur ein Surrogat der echten Dichtung ist, daß ein Dichter dort, wo seine Kräfte nicht ausreichen, einen Gedanken einfach auszudrücken, Zuflucht zum Bild nimmt. Eine solche Ansicht ist natürlich Ketzerei, und es ist nicht schwer, sie anzufechten. Damit würde unter anderem die gesamte orientalische Dichtung durchgestrichen. Aber es steht außer Zweifel, daß das Bild jeder Art von Verschnörkelung und Geziertheit besonders freien Lauf läßt.« [Anm. d. Übs./Komm.] 67 Hier sei auf ein implizites *Wortspiel hingewiesen, das ein verschärfendes Licht auf den Anfang des zweiten Kapitels wirft. Wenn hier der Begriff »bezo´braznaja poe˙zija« [›bilderlose Dichtung‹] verwendet wird, dann drängt sich für den russischen Leser die homographe (nur durch die Verschiebung des *Wortakzents differierende) Lesart »bezobra´znaja poe˙zija« [›häßliche /abscheuliche Lyrik‹] auf, die gleichzeitig die Auffassung versinnbildlicht, nach welcher die künstlerische Meisterschaft und damit Schönheit eines Gedichtes sich vor allem in seinen Tropen zeigt – genau die Position also, gegen die sich Jakobson in seinem Aufsatz wendet. Jakobson hat dies erst im Wiederabdruck im Band 3 der Selected Writings mittels Akzentzeichen desambiguiert, dadurch freilich umso mehr auf die ausgeschlossene zweite Lesart hingewiesen. [Anm. d. Übs./Komm.] 68 Jakobson verwendet hier den Begriff »stansy«, der spezifischer als »Strophen« ist, jedoch andererseits keinesfalls mit dem auf die italienische Strophenform der ottave rime beschränkten deutschen Wort »Stanzen« (achtzeilige Strophen mit dem Reim-
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Namen dir‹] dienen können. Letztere kontrastieren in dieser Beziehung mit dem Gedicht »Ja vas ljubil« [›Ich liebte Sie‹], obwohl beide Episteln im gleichen Jahr verfaßt wurden und offenbar gleichermaßen Karolina Soban’skaja gewidmet waren.69 Nicht selten erweist sich der metaphorische Grundriß eines Gedichtes seinem faktischen Grundriß entgegengesetzt durch einen klar durchgehenden Kontrast zwischen dem grammatischen Bestand beider Reihen: Genau auf einem solchen Kontrast ist Norwids »Przeszłos´c´« [›Vergangenheit‹] aufgebaut. Das Gedicht »Ja vas ljubil« [›Ich liebte Sie‹] ist häufig von Literaturwissenschaftlern als klares Beispiel für bilderlose Lyrik angeführt worden. In der Tat findet sich in seiner Lexik nicht eine einzige lebendige Trope, und die tote, in den alltäglichen Sprachgebrauch eingegangene Metapher »ljubov’ ugasla« [›(die) Liebe (ist) erloschen‹] zählt hierbei natürlich nicht. Dafür ist der Achtzeiler mit grammatischen Figuren gesättigt, doch genau diesem wesentlichen Zug seiner Faktur hat man nicht die gebührende Aufmerksamkeit gewidmet. 1 2 3 4 5 6 7 8 1 2 3 4 5 6 7 8
я вас любил: любовь еще, быть может, ¬ душе моей угасла не совсем; Ќо пусть она вас больше не тревожит; я не хочу печалить вас ничем. я вас любил безмолвно, безнадежно, “о робостью, то ревностью томим; я вас любил так искренно, так нежно, ак дай вам Ѕог любимой быть другим.70 Ja vas ljubı´l: ljubo´v’ esˇcˇe¨, byt’ mo´zˇet, V dusˇe´ moe´j uga´sla ne sovse´m; No pu´st’ ona´ vas bo´l’sˇe ne trevo´zˇit; Ja ne chocˇu´ pecˇa´lit’ vas nicˇe´m. Ja vas ljubı´l bezmo´lvno, beznade´zˇno, To ro´bost’ju, to re´vnost’ju tomı´m; Ja vas ljubı´l tak ´ıskrenno, tak ne´zˇno, Kak da´j vam Bo´g ljubı´moj byt’ drugı´m.
schema abababcc) wiedergegeben werden kann. Vgl. die folgende Begriffsbestimmung (hier gleich in deutscher Übersetzung): »Stanzen: […] in der Dichtung des 18.–19. Jahrhunderts elegisches Gedicht in Strophen von geringem Umfang (üblicherweise Vierzeiler, am häufigsten in vierhebigen Jamben), mit obligatorischer Pause (Punkt) am Strophenende; der Inhalt ist zumeist meditativ […], seltener auch Liebesthematik.« (Gasparov, Art. »Stansy«.) [Anm. d. Übs./Komm.] 69 Vgl. Cjavlovskaja, »Dnevnik A. A. Oleninoj«, S. 289–292. 70 Vgl. Pusˇkin, Stichotvorenija 1826–1836. Skazki, Bd. 3.1, S. 188. [Anm. d. Übs./ Komm.]
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Ich liebte Sie 71: die Liebe ist vielleicht noch immer In meiner Seele nicht ganz erloschen; Doch sie soll Sie nicht mehr beunruhigen; Ich will Sie durch nichts betrüben. Ich liebte Sie sprachlos, hoffnungslos Einmal von Schüchternheit, einmal von Eifersucht gequält; Ich liebte Sie so aufrichtig, so zärtlich, Wie Gott Ihnen geben möge von dem /einem anderen geliebt zu werden.72
Das Gedicht verblüfft schon durch die bloße Auswahl der grammatischen Formen. Es enthält 47 Wörter, darunter insgesamt 29 flektierbare, von denen 14, d. h. fast die Hälfte, auf Pronomina entfallen, 10 auf Verben und nur die fünf restlichen auf Substantive abstrakten, spekulativen Charakters. Im gesamten Werk gibt es nicht ein Adjektiv, während die Zahl der Adverbien zehn erreicht. Die Pronomina als durchwegs grammatische, rein relationale Wörter, die über keine eigentlich lexikalische, materielle Bedeutung verfügen, sind klar den übrigen flektierbaren Wortarten gegenübergestellt.73 Alle drei handelnden Personen werden im Gedicht einzig durch Pronomina bezeichnet: ja [›ich‹] in recto und vy [›Sie‹] sowie drugoj [›ein anderer /der andere‹] in *obliquo. Das Gedicht besteht aus zwei Vierzeilern mit *Kreuzreim. Das Personalpronomen der ersten Person, das immer die erste Silbe des Verses einnimmt, kommt insgesamt viermal, und zwar je einmal in jedem Verspaar, vor: in der ersten und vierten Zeile der ersten Strophe sowie in der ersten und dritten der zweiten. Ja [›ich‹] tritt hier nur im Nominativ auf, nur in der Rolle des Subjekts und dabei nur in Verbindung mit der Akkusativform vas [›Sie‹]. Das Pronomen vy [›Sie‹], das ausschließlich im Akkusativ und Dativ erscheint (d. h. in den sogenannten *Bezugskasus), figuriert im gesamten Text sechsmal, jeweils einmal pro Vers außer der zweiten Zeile beider 71 Die Höflichkeitsanrede erfolgt im Russischen durch das Personalpronomen der zweiten Person Plural: vy und die entsprechenden flektierten Formen. Hier und im folgenden wird dies nicht wortwörtlich durch ›Ihr‹, sondern durch das deutsche Äquivalent ›Sie‹ und seine flektierten Formen wiedergegeben. [Anm. d. Übs./Komm.] 72 Vgl. die Nachdichtung von Friedrich Bodenstedt in: Russische Lyrik. Gedichte aus drei Jahrhunderten, S. 60. [Anm. d. Übs./Komm.] 73 Vgl. Jakobsons Wiederaufnahme dieser Formulierung in einer seiner späteren Pusˇkin-Analysen: »O ›Stichach, socˇinennych nocˇ’ju vo vremja bessonicy‹«, S. 387, sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 135. – Zur Unterscheidung zwischen grammatischen und *lexikalischen Wörtern vgl. auch Jakobson, »Der grammatische Bau des Gedichts von B. Brecht ›Wir sind sie‹«, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 699 f. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Strophen, dabei jedesmal in Verbindung mit einem beliebigen anderen Pronomen. Die Form vas [›Sie‹], ein direktes Objekt, befindet sich immer in (direkter oder indirekter) Abhängigkeit von einem pronominalen Subjekt. Als solches dient in vier Fällen ja [›ich‹] und in einem das *anaphorische ona [›sie‹, 1. Pers. weibl. Sg. Nom.], d. h. ljubov’ [›(die) Liebe‹] von Seiten der ersten Person. Unterdessen ist das dativische vam [›Ihnen‹], das im letzten, syntaktisch untergeordneten Vers das *direkte Objekt vas [›Sie‹] ablöst, mit einer neuen Pronominalform verbunden: drugim [›durch einen /den anderen‹], und dieser *Randkasus, der *»Instrumental des Urhebers der Handlung« bei einer gleichermaßen *peripheren Dativform 74 führt in den Schlußteil der Abschlußzeile den dritten Teilnehmer des lyrischen Dramas ein, der dem nominativischen ja [›ich‹] gegenübergestellt ist, mit dem der Anfangsvers beginnt. Sechsmal wendet sich der Autor 75 der achtzeiligen Epistel an die Heldin, und dreimal wird die Schlüsselformel ja vas ljubil [›ich Sie liebte‹] wiederholt, die zunächst die erste Strophe und dann das erste und zweite Verspaar der Schlußstrophe eröffnet und in den zweistrophigen Monolog eine traditionelle Dreiergliederung einführt: 4 + 2 + 2. Der dreigliedrige Aufbau entfaltet sich alle drei Male auf verschiedene Weise. Die erste Strophe entwickelt das Thema des P r ä d i k a t s : Die *etymologische Figur setzt anstelle des Verbs ljubil [›liebte‹] das abstrakte Nomen ljubov’ [›Liebe‹] ein und gibt ihm den Anschein der unabhängigen, selbständigen Existenz. Trotz der *Einstellung auf das Präteritum wird in der Entwicklung des lyrischen Themas nichts als abgeschlossen gezeigt. Hier vermeidet Pusˇkin, der unübertroffene Meister der dramatischen Kollisionen zwischen den Verbalaspekten, Indikativformen des perfektiven Aspekts, und die einzige Ausnahme – 1 ljubov’ esˇˇce, byt’ mozˇet, 2 V dusˇe mojej ugasla 76 ne sovsem 74 Vgl. Sˇachmatov, Sintaksis russkogo jazyka, S. 341, § 445; Jakobson, »Morfologicˇeskie nabljudenija nad slavjanskim skloneniem (Sostav russkich padezˇnych form)«, S. 158. 75 Auch an anderer Stelle differenziert Jakobson nicht – wie heute üblich – zwischen dem realen Autor und dem Sprecher eines Gedichts. Vgl. Jakobson, »›Ty chocˇesˇ’ znat’: kto ja?‹ Razbor tobol’skich stichov Radisˇcˇeva«, S. 317, sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 701, und ders., »O ›Stichach, socˇinennych nocˇ’ju vo vremja bessonnicy‹«, S. 383, sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 130. [Anm. d. Übs./Komm.] 76 Das Verb ›ugasnut’‹ (perfektiv) / ›ugasat’‹ (imperfektiv) läßt den Bedeutungsunterschied zwischen den russischen Verbalaspekten im Präteritum sehr deutlich hervortreten: Während die perfektive Form (ljubov’ ugasla) den Abschluß eines einmaligen Geschehens bezeichnet (die Liebe ist erloschen), hebt die imperfektive Form (ljubov’ ugasala) den Prozeßcharakter und /oder die Mehrmaligkeit des Geschehens
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[›1 Liebe noch, sein kann, 2 In Seele meiner erlosch nicht ganz‹] – unterstützt diese Regel eigentlich, weil die umgebenden Funktionswörter – esˇˇce, byt’ mozˇet 〈…〉 ne sovsem [›noch, sein kann 〈…〉 nicht ganz‹] – das fiktive Thema des Endes annullieren. Nichts ist abgeschlossen, und dem InZweifel-Ziehen des perfektiven Aspekts antwortet auf der anderen Seite, im Anschluß an die *adversative Konjunktion no [›doch‹], die Verneinung der Gegenwart sowohl an sich (4 ja ne chocˇu [›ich nicht will‹]) als auch im Zuge des deskriptiven Imperativs (3 No pust’ ona vas bol’sˇe ne trevozˇit [›Doch möge sie Sie mehr nicht beunruhigen‹]). Überhaupt gibt es im Gedicht keine positiven Wendungen mit finiten Formen im Präsens. Der Anfang der zweiten Strophe, der die Schlüsselformel wiederholt, entwickelt das Thema des S u b j e k t s . Sowohl die adverbalen Adverbien als auch die Instrumentalformen beim sekundären passiven Prädikat, das sich auf dasselbe Subjekt Ja [›Ich‹] bezieht, dehnen die offensichtlich oder innerlich (latent) negativen Termini auch auf die Vergangenheit aus, die in der ersten Strophe die Gegenwart im Ton der untätigen Selbstverleugnung einfärbten. Der letzte Vers schließlich ist nach der dritten Wiederholung der Anfangsformel ihrem O b j e k t gewidmet: 7 Ja vas ljubil 〈…〉 8 Kak daj vam Bog ljubimoj byt’ drugim [›7 Ich Sie liebte 〈…〉 8 Wie gebe Ihnen Gott geliebt (zu) werden (von dem /einen) anderen‹] (mit einem pronominalen Polyptoton: vas – vam [›Sie – Ihnen‹]). Hier klingt erstmals der wahre Kontrast zwischen den beiden Momenten der dramatischen Entwicklung an: Die beiden miteinander reimenden Verse sind auch syntaktisch ähnlich, denn beide enthalten die Verbindung eines Passivs und eines Instrumentals – 6 revnost’ju tomim [›(von) Eifersucht gequält‹] – 6 ljubimoj byt’ drugim [›geliebt (zu) werden (durch den /einen) anderen‹]. Doch die Anerkennung drugogo [›(eines /des) anderen‹] durch den Autor widerspricht der vorherigen quälenden Eifersucht, und das Fehlen des Artikels in der russischen Sprache erlaubt es nicht, auf die Frage zu antworten, ob sich die frühere Eifersucht und die jetzige Segnung auf verschiedene »andere« oder auf ein und denselben beziehen. Die zwei Imperativkonstruktionen in den Strophen – 3 No pust’ ona vas bol’sˇe ne trevozˇit [›Doch möge sie Sie mehr nicht beunruhigen‹] und 8 Kak daj vam Bog ljubimoj byt’ drugim [›Wie gebe Ihnen Gott geliebt (zu) werden (von dem /einen) anderen‹] – ergänzen einander gewissermaßen. Übrigens läßt die Epistel offensichtlich den Weg frei für zwei verschiedenartige Interpretationen hervor (die Liebe war am Erlöschen bzw. die Liebe erlosch immer wieder). [Anm. d. Übs./Komm.]
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des letzten Verses. Er kann verstanden werden als beschwörende Lösung der Epistel. Auf der anderen Seite aber kann die erstarrte Redewendung »daj vam Bog« [›gebe Ihnen Gott‹], die ungeachtet des Imperativs merkwürdig in einen Nebensatz verschoben ist,77 als ein gewisser ›nicht realer Modus‹ interpretiert werden, der besagt, daß die Heldin ohne eine übernatürliche Einmischung kaum noch die Gelegenheit haben dürfte, eine zweite solche Liebe zu treffen. Im letzteren Fall kann man den letzten Satz der Strophen als ein Beispiel für eine ›gemeinte Negation‹ entsprechend der Erklärung und Terminologie Jespersens ansehen,78 und er fügt sich ein in den Kreis der verschiedenartigen Beispiele für Negationen in diesem Gedicht. Abgesehen von einigen negativen Konstruktionen stellt das Präteritum des Verbs ljubit’ [›lieben‹] das gesamte Repertoire an finiten Verben im vorliegenden Werk. Ich wiederhole: Unter den flektierten Wörten herrschen hier die Pronomina vor, während es wenige Substantive gibt, welche alle der abstrakten Sphäre angehören, die – abgesehen von dem beschwörenden Appell an Gott – die psychische Welt der ersten Person charakterisiert. Am häufigsten und gesetzmäßigsten im Gedicht verteilt ist das Wort vy [›Sie‹]: Es ist das einzige, das im Akkusativ und Dativ und nur in diesen Kasus auftritt. Eng mit ihm verbunden ist das zweithäufigste Wort Ja [›Ich‹], das ausschließlich in der Rolle des Subjekts und ausschließlich am Versanfang verwendet wird. Ein Teil der Prädikate, die mit diesem Subjekt verbunden sind, ist mit Adverbien ausgestattet, und die sekundären, nicht-finiten Verbformen werden von Objekten im Instrumental begleitet: 4 pecˇalit’ vas nicˇem [›betrüben Sie (durch) nichts‹]; 6 to robost’ju, to revnost’ju tomim [›einmal (von) Schüchternheit, einmal (von) Eifersucht gequält‹]; 8 ljubimoj byt’ drugim 77 Slonimskij, Masterstvo Pusˇkina, S. 119. [Anm. v. R.J.] – Hier die Passage bei Slonimskij, auf die sich Jakobson bezieht, in deutscher Übersetzung: »Es gibt scheinbar keine Abweichung von der syntaktischen Norm, doch dieses ›daj vam bog‹ [›gebe Ihnen Gott‹] (mit obligatorischem Akzent auf ›daj‹) scheint sich auf irgend eine andere Konstruktion zu beziehen (zu erwarten gewesen wäre: ›Wie Sie kein anderer lieben wird‹ o. ä.). Dies hängt damit zusammen, daß die entschiedene Form des Hauptsatzes (mit dem druckvollen ›tak – tak‹ [›so – so‹]) plötzlich unter der Einwirkung einer ausbrechenden Emotion im Nebensatz in eine modale (wünschende) Form übergeht.« (Ebd.) [Anm. d. Übs./Komm.] 78 Jespersen, The Philosophy of Grammar, Kap. XXIV. [Anm. v. R.J.] – Jakobson bezieht sich auf den Abschnitt »Implied Negation« (S. 336 f.). Diese Form der Negation wird von Jespersen folgendermaßen charakterisiert: »As in other provinces of grammar, we have here cases of disagreement between the notional meaning and the grammatical expression. A notional negation is often implied though the sentence contains no negative proper.« (S. 336.) [Anm. d. Übs./Komm.]
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[›geliebt (zu) werden (von dem /einen) anderen‹]. Es gibt in den Strophen weder Adjektive noch überhaupt adnominale Formen. Präpositionale Konstruktionen fehlen fast völlig. Die Bedeutsamkeit all dieser Umverteilungen in Bestand, Anzahl, gegenseitiger Beziehung und Anordnung der verschiedenen grammatischen Kategorien der russischen Sprache ist so offensichtlich, daß es kaum detaillierter semantischer Kommentare bedarf.79 Es genügt, die Übersetzung von Julian Tuwim zu lesen – »Kochałem pania˛ – i miłos´c´i mojej Moz˙e sie˛ jeszcze resztki w duszy tla˛« 80 [›(Ich) liebte Sie 81 – und Liebe 82 meiner Kann sein noch Reste in (der) Seele glimmen‹], um sich mit eigenen Augen davon zu überzeugen, daß sogar ein so virtuoser Meister des Verses, sobald er auf die grammatische Ordnung der Pusˇkinschen Strophen verzichtete,83 nicht anders konnte, als ihre künstlerische Kraft zu annullieren. 79 Eine besonders starke These Jakobsons. Denn sie nimmt nicht nur die im ersten Abschnitt geäußerte Behauptung von der ›instinktiven Wahrnehmung des künstlerischen Effekts‹ der grammatischen Struktur wieder auf, sondern geht deutlich darüber hinaus. Nimmt man Jakobson hier beim Wort, so kann jeder ›feinfühlige‹ Leser das Gedicht nur auf eine einzige Art und Weise verstehen, nämlich auf die, welche durch die grammatische Struktur vorgegeben wird. [Anm. d. Übs./Komm.] 80 Tuwim, Z rosyjskiego, Bd. 1, S. 198. [Anm. v. R.J.] – Im folgenden der komplette Text von Tuwims Übersetzung: »Kochałem pania˛ – i miłos´ci mojej Moz˙e sie˛ jeszcze resztki w duszy tla˛, Lecz niech to pani juz˙ nie niepokoi, Nie chce˛ cie˛ smucic´ nawet mys´la˛ ta˛. Kochałem bez nadziei i w pokorze, W me˛ce zazdros´ci, nies´miałos´ci, trwo´g, Tak czule, tak prawdziwie – z˙e daj Boz˙e, Aby cie˛ inny tak pokochac´ mo´gł.« [Anm. d. Übs./Komm.] 81 Die höfliche Anrede im Polnischen geschieht mit ›pan‹ (mask.) / ›pani‹ (fem.). [Anm. d. Übs./Komm.] 82 Im Polnischen sprechen triftige sprachliche Gründe dafür, zwei verschiedene Wortstämme zu verwenden. Die zum Verb kochac´ [›lieben‹] existierende Substantivierung kochanie [›Lieben‹] besitzt prozessuale Bedeutung und gibt das Abstraktum ljubov’ [›Liebe‹] der Vorlage nicht wieder. Eine Verwendung des Verbs miłowac´, das vom selben Stamm wie miłos´´c [›Liebe‹] gebildet wird, wäre nur um den Preis einer stilistischen Inhomogenität möglich, weil die Verbform im Gegensatz zum Substantiv einen Archaismus darstellt (und z. B. im religiösen Kontext gebraucht wird). [Anm. d. Übs./Komm.] 83 Dieses Argument Jakobsons ist mißverständlich: Wie aus den vorangehenden Anmerkungen ersichtlich, sind die Differenzen zwischen russischer Vorlage und polnischer Übersetzung zum großen Teil sprachbedingt: Von einem willentlichen Verzicht des Dichter-Übersetzers Tuwim auf die grammatische Ordnung des Originals kann also keine Rede sein. – Vgl. auch die Analyse und Kritik von Tuwims »Mednyj vsadnik«-Übersetzung in Jakobson, »The Kernel of Comparative Slavic Literature«, S. 15 f., sowie die parallele Instrumentalisierung einer ›schlechten‹, dort russischen Übersetzung am Ende der Botev-Analyse, um die poetischen Qualitäten des bulgarischen Originals hervorzuheben (Jakobson: »Zur Struktur des letzten Gedichts
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III. Grammatik und Geometrie Der obligatorische Charakter der grammatischen Bedeutungen zwingt den Dichter dazu, sie zu berücksichtigen: Entweder strebt er nach Symmetrie und hält sich an diese einfachen, wiederkehrenden und klaren Schemata, die auf einem *binären Prinzip beruhen, oder er wendet sich auf der Suche nach einem ›organischen Chaos‹ von ihnen ab. Wenn wir sagen, daß das Prinzip des Reims bei einem Dichter entweder grammatisch oder antigrammatisch, aber nie agrammatisch ist,84 dann kann dieser Gedanke auch auf die allgemeine Art der Einstellung des Dichters gegenüber der Grammatik erweitert werden. Hier läßt sich eine tiefe Analogie zwischen der Rolle der Grammatik in der Dichtung und der Komposition in der Malerei beobachten, die auf einer offensichtlichen oder verborgenen geometrischen Ordnung oder aber auf dem Widerstand gegenüber der Geometrie beruht. Wenn in den Prinzipien der (eher topologischen als metrischen 85 ) Geometrie gemäß den überzeugenden Darlegungen der Kunstwissenschaftler eine ›schöne Notwendigkeit‹ für die Malerei und die anderen bildenden Künste verborgen ist, so finden die Linguisten eine ähnliche ›Notwendigkeit‹ für die literarische Tätigkeit in den grammatischen Bedeutungen. Der Vergleich zwischen beiden Sphären findet seinen Platz im Syntheseversuch des scharfsinnigen Sprachwissenschaftlers B. L. Whorf, den er im Jahr 1941, kurz vor seinem Tod, verfaßt hat: Indem er die allgemeinen abstrakten »Muster von Satz-Strukturen« einzelnen Sätzen und dem Wortschatz als »ziemlich rudimentärem und unselbständigem Teil« 86 des Sprachbaus gegenüberstellt, entwickelt er die Idee einer »›Geometrie‹ von Formprinzipien, die jeweils für eine Sprache gelten und für sie charakteristisch sind«.87 Einen ähnlichen Vergleich, jedoch in einer weiter
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von Chr. Botev«, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, 423 f.). – Zu den engen beruflichen und persönlichen Beziehungen zwischen Jakobson und Tuwim vgl. Pomorska, »Nachwort«, S. 155. (Vgl. die russische Originalfassung: Pomorska, »Posleslovie«, S. 578.) [Anm. d. Übs./Komm.] Vgl. »Linguistics and Poetics«, S. 39, sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 187, ferner Jakobson /Pomorska, Dialoge, S. 99 f., sowie die russische Originalfassung: Jakobson /Pomorska, Besedy, S. 527. [Anm.d. Übs./ Komm.] In der Mathematik beschäftigt sich die topologische Geometrie mit der qualitativen, die metrische Geometrie hingegen mit der quantitativen Beschreibung von Formen. [Anm. d. Übs./Komm.] Whorf, Language, Thought, and Reality, S. 253. Deutsche Übersetzung: Whorf, Sprache – Denken – Wirklichkeit, S. 54. [Anm. d. Übs./Komm.] Whorf, Language, Thought, and Reality, S. 257. [Anm. v. R.J.] – Deutsche Über-
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entwickelten und nachdrücklicheren Form, lieferte vor zehn Jahren Stalin in seinen Bemerkungen zum abstrakten Charakter der Grammatik: Die charakteristische Besonderheit der Grammatik besteht darin, daß sie die Regeln für die Beugung der Wörter gibt, wobei sie nicht konkrete Wörter, sondern die Wörter überhaupt, ohne Konkretheit im Auge hat, sie gibt die Regeln für die Bildung von Sätzen, wobei sie nicht irgendwelche konkreten Sätze, sagen wir ein konkretes Subjekt, ein konkretes Prädikat und dergleichen, im Auge hat, sondern überhaupt alle beliebigen Sätze, unabhängig von der konkreten Form dieses oder jenes Satzes. Folglich nimmt die Grammatik, die sowohl bei den Wörtern als auch bei den Sätzen vom Besonderen und Konkreten abstrahiert, das Allgemeine, das den Beugungen der Wörter und der Verbindung der Wörter zu Sätzen zugrunde liegt, und leitet daraus grammatikalische Regeln, grammatikalische Gesetze ab. 〈…〉 In dieser Hinsicht erinnert die Grammatik an die Geometrie, die eigene Gesetze aufstellt, indem sie von den konkreten Gegenständen abstrahiert, die Gegenstände als Körper betrachtet, die von allem Konkreten losgelöst sind, und die Beziehungen zwischen ihnen nicht als konkrete Beziehungen zwischen den und den konkreten Gegenständen definiert, sondern als Beziehungen zwischen den Körpern schlechthin, die von allem Konkreten losgelöst sind.88 setzung nach Whorf, Sprache – Denken – Wirklichkeit, S. 58. [Anm. d. Übs./ Komm.] 88 Stalin, Marksizm i voprosy jazykoznanija, S. 20. [Anm. v. R.J.] – Übersetzung nach der deutschen Ausgabe: Stalin, Der Marxismus und die Fragen der Sprachwissenschaft, S. 29 – In der überarbeiteten englischen Version des Aufsatzes liefert Jakobson eine Information zum Hintergrund der Beschäftigung Stalins mit diesem Thema (hier gleich in der deutschen Übersetzung): »Wie mir V. A. Zvegincev mitteilte, rührt Stalins Gegenüberstellung von Grammatik und Geometrie von den Ansichten V. Bogorodickijs her, eines hervorragenden Schülers des jungen Baudouin de Courtenay und von Mikołai Habdank Kruszewski.« (Jakobson, »Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie«, übs. v. Hartner /Raible, S. 255; vgl. ders., »Poetry of Grammar and Grammar of Poetry«, S. 95.) – Auch wenn die punktuelle Übereinstimmung der Positionen beider hinsichtlich des weitgehend unveränderlichen Charakters der Grammatik als grundlegender Sprachstruktur offensichtlich ist, bleibt Jakobsons vorbehaltlose Bezugnahme ausgerechnet auf Stalin als sprachwissenschaftliche Kapazität irritierend. Vgl. dagegen die satirische ›Rekonstruktion‹ der Entstehung von Stalins Aufsatz in Aleksandr Isaevicˇ Solzˇenicyns Roman V kruge pervom (Kap. 23: »Jazyk – orudie proizvodstva«) sowie die deutsche Übersetzung: Solschenizyn, Im ersten Kreis, Kap. 23: »Die Sprache – ein Produktionsinstrument«, S. 167–173. Zum linguistischen, ideologischen und historischen Kontext von Stalins Schrift vgl. H. P. Gentes deutsche Neuausgabe von 1968 Marxismus und Fragen der Sprachwissenschaft, die auch eine Schrift des Begründers der nun von Stalin bekämpften vulgärmarxistischen linguistischen Schule des Marrismus, Nikolaj Marrs »Über die Entstehung der Sprache«, enthält. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Die Abstraktionsarbeit des menschlichen Denkens, die aus der Perspektive beider zitierter Autoren der Geometrie und Grammatik zugrunde liegt, erlegt der Welt der einzelnen Gegenstände in der Malerei und den konkreten lexikalischen ›Gerätschaften‹ der Wortkunst einfache geometrische und grammatische Figuren auf. Die wichtige Rolle, die die verschiedenartigen Klassen der Pronomina in der grammatischen Faktur der Dichtung spielen, ist gerade bedingt durch den ausnahmslos grammatischen, relationalen Charakter, der die Pronomina von allen anderen autonomen Wörtern unterscheidet.89 Das Verhältnis der pronominalen und nichtpronominalen Wörter ist häufig mit dem Verhältnis von geometrischen und physikalischen Körpern verglichen worden.90 Neben den allgemein verbreiteten Verfahren erscheinen in der grammatischen Faktur der Dichtung auch differenzierende Züge, die für die Literatur eines gegebenen Volkes oder für eine begrenzte Periode, für eine bestimmte literarische Strömung, für einen individuellen Autor oder schließlich für ein einzelnes Werk typisch sind. So läßt sich die ausgesuchte grammatische Komposition des agitatorischen Kriegschorals der hussitischen Revolution,91 dem jeglicher dekorativer Ornamentalismus fremd ist, leicht vor dem allgemeinen Hintergrund der gotischen Epoche interpretieren. Wir bezeichnen jede Strophe mit einer entsprechenden römischen und jedes Glied einer Strophe mit einer hochgestellten arabischen Ziffer. Das Lied aus drei dreigliedrigen Strophen (I1 + I2 + I3 + II1 + II2 + II3 + III1 + III2 + III3) ist in seinem grammatischen Bau durch ein 89 In der überarbeiteten englischen Version ergänzt Jakobson (hier gleich in der deutschen Übersetzung): »und neben *substantivischen und *adjektivischen Pronomina müssen wir in dieser Gruppe auch adverbiale Pronomina und die sogenannten substantivischen (oder besser pronominalen) Verben wie sein und haben einschließen.« (Jakobson, »Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie«, übs. v. Hartner /Raible, S. 256; vgl. ders., »Poetry of Grammar and Grammar of Poetry«, S. 95.) [Anm. d. Übs./Komm.] 90 Vinogradov, Russkij jazyk, S. 323; Zareckij, »O mestoimenii«, S. 17. [Anm. v. R.J.] – Jakobson verweist hier auf Kap. IV, § 3: »Mestoimenija kak osobyj leksiko-semanticˇeskij tip slov« (›Pronomen als besonderer lexikalisch-semantischer Worttyp‹) in Vinogradovs Buch. Dort wird folgende Passage aus Zareckijs Aufsatz zitiert (hier gleich in deutscher Übersetzung): »Scharfsinnig wird zuweilen das Verhältnis von pronominalen zu nichtpronominalen Wörtern mit dem Verhältnis des geometrischen Körpers zum physikalischen verglichen. Vielleicht kann man es mit dem Verhältnis einer variablen Größe zu einer konstanten vergleichen.« [Anm. d. Übs./Komm.] 91 Vgl. Jakobson, »›Ktozˇ jsu´ bozˇ´ı bojovnı´ci‹: Slovnı´ stavba Husitske´ho chora´lu« sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 509–535. [Anm. d. Übs./Komm.]
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komplexes System symmetrischer Entsprechungen charakterisiert, für die man folgende Bezeichnung vereinbaren kann: drei Reihen vertikaler Entsprechungen (I1 – I2 – I3 usw.) und drei Reihen horizontaler Entsprechungen (I1 – II1 – III1 usw.), zwei Diagonalen: eine fallende (I1 – II2 – III3) und eine steigende (I3 – II2 – III1), weiterhin zwei hängende (I1 – II2 – III1 und I2 – II3 – III2) und zwei stehende Bögen (I2 – II1 – III2 und I3 – II2 – III3).92 Dieselben charakteristischen Züge – geometrische Proportionalität, stufenförmige Gliederung und das Spiel von Entsprechungen und Kontrasten – finden Forscher (insbesondere P. Kropa´cˇek) in der tschechischen Malerei der Hussitenepoche.93 Und schließlich sind alle Kompositionsprinzipien, die ihren vollgültigen Ausdruck in der grammatischen Organisation dieses Chorals finden, tief in der historischen Entwicklung der ganzen gotischen Kunst und des scholastischen Denkens verwurzelt, die in der Studie von Erwin Panofsky glänzend miteinander verglichen wurden.94 Das tschechische Beispiel erlaubt uns, daß wir uns dem spannenden Problem der Entsprechung zwischen den Funktionen der Geometrie in den bildenden Künsten und der Grammatik in der Dichtung nähern. Neben der phänomenologischen Frage nach der inneren Verwandtschaft zwischen beiden Faktoren stellt sich hier die Aufgabe konkreter historischer Ermittlungen über die konvergente Entwicklung und über die wechselseitigen Einflüsse der sprachlichen und der bildenden Kunst. Weiterhin wirft die Analyse der poetischen Grammatik ein neues Licht auf die Problematik künstlerischer Schulen und Traditionen. Insbesondere soll der Forscher sich fragen: Wie wendet ein dichterisches Werk das traditionelle Inventar künstlerischer Mittel für neue Ziele an und wertet sie im Licht der veränderten Aufgaben um? Wie übernahm der Feldzugschoral der hussitischen Revolution aus dem reichen Bestand der gotischen künstlerischen Formen beide Spielarten des grammatischen Parallelismus – in Hopkins’ Terminologie »den Vergleich um der Ähnlichkeit willen« und »den Vergleich um der Unähnlichkeit willen«,95 – und wie gab die kunstfertige Verbindung beider 92 Vgl. die Diagramme im Anschluß an die Analyse des Chorals (SW III, S. 226–231) sowie Birus, »Hermeneutik und Strukturalismus«, bes. S. 23 f., und die Abbildungen (S. 309–317). [Anm. d. Übs./Komm.] 93 Kropa´cˇek, Malı´ˇrstvı´ doby husitske´. 94 Panofsky, Gothic Architecture and Scholasticism. [Anm. v. R.J.] – Vgl. die deutsche Übersetzung: Gotische Architektur und Scholastik. [Anm. d. Übs./Komm.] 95 Hopkins, The Journals and Papers, S. 106. [Anm. v. R.J.] – Die Passage bei Hopkins lautet folgendermaßen: »[…] there are practically only these two kinds of comparison in poetry, comparison for likeness’ sake, to which belong metaphor, simile, and things of that kind, and comparison for unlikeness’ sake, to which belong antithesis, contrast, and so on.« [Anm. d. Übs./Komm.]
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grammatischen Verfahren dem Dichter die Möglichkeit, den harmonisch zusammenhängenden, überzeugenden Übergang vom einleitenden geistlichen Lied über die kriegerische Argumentation der zweiten, didaktischen Strophe zu den Kriegsbefehlen und Schlachtrufen im Schlußteil des Chorals auf so kühne Weise zu verwirklichen?
IV. Grammatische Eigenart Vom grammatischen Standpunkt aus kann und muß die brennende literaturwissenschaftliche Frage nach der Individualität und vergleichenden Charakteristik von Gedichten, Dichtern und dichterischen Schulen gestellt werden. Bei aller Gemeinsamkeit in der grammatischen Ordnung der Dichtung Pusˇkins ist jedes seiner Gedichte individuell und unwiederholbar in der künstlerischen Auswahl und Verwendung des grammaˇ to v imeni tischen Materials. So weisen beispielsweise die Strophen »C tebe moem« [›Was liegt an meinem Namen dir‹], die hinsichtlich der Zeit und der Situation dem Achtzeiler »Ja vas ljubil« [›Ich liebte Sie‹] nahestehen, gleichzeitig eine Vielzahl unterscheidender Züge auf. Ich möchte versuchen, an wenigen Beispielen vorzuführen, worin sich dieser ›nichtgemeinsame Ausdruck‹ zeigt, und zum anderen die Albumstrophen Pusˇkins, die untrennbar mit den dichterischen Experimenten der russischen 96 und westeuropäischen Romantik verbunden sind, dem fremdartigen und weit entfernten gotischen Kanon gegenüberstellen, der im Choral der ˇ izˇka 97 durchscheint. Mitkämpfer von Jan Z 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
◊то в имени тебе моем? ќно умрет, как шум печальный ¬олны, плеснувшей в берег дальный, ак звук ночной в лесу глухом. ќно на пам¤тном листке ќставит мертвый след, подобный ”зору надписи надгробной Ќа непон¤тном ¤зыке. ◊то в нем? «абытое давно ¬ волнень¤х новых и м¤тежных, “воей душе не даст оно ¬оспоминаний чистых, нежных.
96 Im Original ›vaterländischen‹. [Anm. d. Übs./Komm.] ˇ izˇka von Trocnov (um 1370 – 1424) war der erste militärische Führer der 97 Jan Z Hussitenkriege (1420–1434). [Anm. d. Übs./Komm.]
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Ќо в день печали, в тишине, ѕроизнеси его тоску¤, —кажи: есть пам¤ть обо мне, ≈сть в мире сердце, где живу ¤.98 ˇ to v ´ımeni tebe´ moe´m? C Ono´ umre´t, kak ˇsu´m pecˇa´l’nyj Volny´, plesnu´vsˇej v be´reg da´l’nyj, Kak zvu´k nocˇno´j v lesu´ glucho´m. Ono´ na pa´mjatnom listke´ Osta´vit me´rtvyj sle´d, podo´bnyj Uzo´ru na´dpisi nadgro´bnoj Na neponja´tnom jazyke´. ˇ to v ne´m? Zaby´toe davno´ C V volne´n’jach no´vych i mjate´zˇnych, Tvoe´j dusˇe´ ne da´st ono´ Vospomina´nij cˇ´ıstych, ne´zˇnych. No v de´n’ pecˇa´li, v tisˇine´, Proiznesı´ ego´ tosku´ja, Skazˇ´ı: est’ pa´mjat’ o´bo mne, Est’ v mı´re se´rdce, gde zˇivu´ ja. Was liegt Dir in /an meinem Namen? Er wird sterben wie das traurige Geräusch Einer Welle, die geplätschert ist an das ferne Ufer, Wie ein nächtlicher Laut in einem dichten 99 Wald. Er wird auf dem Erinnerungsblatt Eine tote Spur hinterlassen, ähnlich Dem Muster einer Grabinschrift In einer unverständlichen Sprache. Was liegt in /an ihm? längst vergessen In neuen und stürmischen Aufregungen, Wird er Deiner Seele nicht geben Reine, zärtliche Erinnerungen.
98 Vgl. Pusˇkin, Stichotvorenija 1826–1836. Skazki, Bd. 3.1, S. 210. [Anm. d. Übs./ Komm.] 99 Das Adjektiv »gluchoj« bedeut zunächst ›taub‹, darüber hinaus aber auch ›dumpf‹ und ›abgelegen‹. »Gluchoj les« läßt sich also paraphrasieren als Dickicht bzw. als unerforschter, entlegener, dichter Wald, in dem sich der Laut verliert. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Aber am Tag der Trauer, in der Stille, Sprich ihn sehnsüchtig aus, Sage: es gibt ein Andenken an mich, Es gibt in der Welt ein Herz, wo ich lebe.100
Hier stehen im Unterschied zum Gedicht »Ja vas ljubil« [›Ich liebte Sie‹] die insgesamt 12 Pronomina der Anzahl nach sowohl hinter den Substantiven (20) als auch hinter den Adjektiven (13) zurück, spielen aber dennoch weiterhin eine Hauptrolle. Sie stellen drei der vier selbständigen Wörter 101 des ersten Verses: Cˇto v imeni tebe moem? [›Was (liegt) in /an Namen dir meinem?‹] In der Autorrede sind alle Subjekte der Hauptsätze rein grammatisch und werden durch Pronomina besetzt: 1 Cˇto [›Was‹], 102 2 Ono [›Es‹ ], 5 Ono [›Es‹], 9 Cˇto [›Was‹]. Doch anstelle der Personalpronomina des oben untersuchten Gedichts überwiegen hier interrogative und anaphorische Formen, während sowohl das Personal- als auch das Possessivpronomen der zweiten Person in der ersten und der dritten Strophe der Epistel nur in dativischer Verwendung erscheint. Es bleibt bloßer Adressat und wird nicht zum unmittelbaren Thema der Epistel (1 tebe [›dir‹], 11 Tvoej dusˇe [›Deiner Seele‹]). Erst in der letzten Strophe tritt die Kategorie der zweiten Person in den Verben auf, und zwar in den beiden paarigen Imperativformen: 14 Proiznesi [›Sprich aus‹], 15 Skazˇi [›Sage‹]. Beide Gedichte beginnen und enden mit Pronomina, aber im Gegensatz zum Achtzeiler »Ja vas ljubil« [›Ich liebte Sie‹] wird der *Adressant 100 Vgl. die Nachdichtung von Michael Engelhard in: Puschkin, Die Gedichte. Russisch und deutsch, S. 709. [Anm. d. Übs./Komm.] 101 Die Unterscheidung zwischen ›selbständigen‹ und ›unselbständigen Wörtern‹ erfolgt hier vermutlich nach prosodischen Kriterien: Unselbständige Wörter, wie z. B. einige Präpositionen, bilden danach immer eine Einheit mit dem dazugehörigen Substantiv. In seinem Aufsatz »Slavic Epic Verse« definiert Jakobson die prosodische *›Worteinheit‹ (»word unit«) als mittleren der drei sprachlich basierten Segmentierungsgrade, die (gemeinsam mit den metrischen Segmentierungsgraden) im Vers zur Anwendung kommen, folgendermaßen: »The accented syllable, together with the subordinated unaccented syllables, if any, form a segment termed a w o r d u n i t . It embraces the accented word (i. e. the one that contains the accented syllable), together with the preceding *proclitics and subsequent *enclitics, if any.« (S. 452). In der deutschen Metriktheorie entspricht dem der Begriff des ›Wortfußes‹ bei Schlawe (Neudeutsche Metrik, S. 47–49). – Vgl. Jakobson, »›Ty chocˇesˇ’ znat’: kto ja?‹ Razbor tobol’skich stichov Radisˇcˇeva«, S. 313, und die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 695, sowie ders., »Stichi Pusˇkina o deve-statue, vakchanke i smirennice«, S. 359, und die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 84. [Anm. d. Übs./Komm.] 102 Das russische Wort für Name: ›imja‹ ist ein Neutrum. Deshalb taucht hier auch das Personalpronomen im Neutrum auf. [Anm. d. Übs./Komm.]
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dieser Epistel weder mit einem Personalpronomen noch durch Verben der ersten Person bezeichnet, sondern nur durch das Possessivpronomen, das sich jedoch ausschließlich auf den Namen des Autors bezieht, und zwar so, daß jeder mögliche Sinn dieses Namens für den Adressaten des Gedichts in Zweifel gezogen wird: 1 Cˇto v imeni tebe moem? [›Was (liegt) in / an Namen dir meinem?‹] Zwar findet sich eine Zeile vor Ende des Gedichts ein Pronomen der ersten Person zuerst in indirekter, vermittelter Form – 15 est’ pamjat’ obo mne [›(es) gibt (ein) Andenken an mich‹] –, und schließlich gibt sich in der letzten, *hyperkatalektischen Silbe des Schlußverses erstmalig das den vorausgehenden unbelebten und unbestimmten Subjekten (cˇto [›was‹] und ono [›es‹]) scharf entgegengesetzte, unerwartete Subjekt der ersten Person mit dem entsprechenden verbalen Prädikat zu erkennen: 16 Est’ v mire serdce, gde zˇivu ja [›(Es) gibt in (der) Welt (ein) Herz, wo lebe ich‹], während »Ja vas ljubil« [›Ich liebte Sie‹] umgekehrt mit Ja [›Ich‹] beginnt. Doch auch diese abschließende Selbstbestätigung kommt keineswegs dem Autor zu, sondern wird dem Adressaten vom Autor souffliert: Das abschließende ja [›ich‹] wird der Heldin der Epistel zugewiesen, während der Autor bis zum Ende wiedergegeben wird sei es in metonymischen (1 v imeni [›im Namen‹], sei es in *synekdochischen (16 est’ v mire serdce [›(es) gibt in (der) Welt (ein) Herz‹] unpersönlichen Termini oder in wiederkehrenden anaphorischen Verweisen auf eine fallengelassene Metonymie (5, 11 ono [›es‹]) und in sekundären metonymischen Widerspiegelungen (nicht der Name selbst, sondern sein 6 mertvyj sled 5 na pamjatnom listke [›6 tote Spur 5 auf (dem) Erinnerungsblatt‹]) oder aber schließlich in metaphorischen Repliken auf metonymische Bilder, die zu komplexen Vergleichen entfaltet werden (2 kak 〈…〉 4 Kak 〈…〉 6 podobnyj 〈…〉 [›2 wie 〈…〉 4 Wie 〈…〉 6 ähnlich 〈…〉‹]. Durch den Reichtum an Tropen, ich unterstreiche dies noch einmal, unterscheidet sich diese Epistel wesentlich vom Gedicht »Ja vas ljubil« [›Ich liebte Sie‹]. Während dort die grammatischen Figuren die ganze Last tragen, sind hier die künstlerischen Rollen zwischen der poetischen Grammatik und der Lexik aufgeteilt. Das Prinzip des proportionalen Schnittes, das im Hussitenchoral mit so strenger Konsequenz durchgeführt wird, tritt auch hier deutlich auf, aber in einer weitaus komplexeren und merkwürdigeren Erscheinung. Der Text teilt sich in zwei Achtzeiler, beide mit der gleichen Einleitungsfrage, die anscheinend auf eine Einladung reagiert, seinen Namen in ein Erinnerungsalbum zu schreiben (1 Cˇto v imeni tebe moem? [›Was (liegt) in /an Namen dir meinem?‹] – 9 Cˇto v nem? [›Was (ist /liegt) in /an ihm?‹]), und mit einer Antwort auf die eigene Frage. Das zweite Strophenpaar geht
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vom *Blockreim der ersten beiden Vierzeiler zum Kreuzreim über und provoziert dadurch das ungewöhnliche Aufeinanderstoßen zweier zu verschiedenen Reimen gehörender *männlicher Verse (〈…〉 8 jazyke [›〈…〉 Sprache‹] und 〈…〉 9 davno [›〈…〉 längst‹]). Vom metaphorischen Grundriß der ersten beiden Strophen überführen die letzten beiden die Entwicklung des lyrischen Themas auf die Ebene der buchstäblichen, direkten Bedeutungen; und entsprechend löst eine verneinende Konstruktion – 11 ne dast ono 12 Vospominanij [›11 nicht gibt es (bzw. er: der Name) 12 Erinnerungen‹] – die positiven Konstruktionen der metaphorischen Ordnung ab. Es ist interessant, daß die erste Strophe, die den Namen des Dichters mit dem sterbenden »sˇumom volny« [›Geräusch (der) Welle‹] vergleicht, in der dritten Strophe in der verwandten, aber verblichenen lexikalisierten Metapher der »volnenij 103 novych i mjatezˇnych« [›Aufregungen neuen und stürmischen‹] widerhallt, denen es scheinbar beschieden ist, den sinnlos gewordenen Namen zu verschlingen. Doch gleichzeitig wird das gesamte Gedicht einer anderen, ihrerseits dichotomischen Aufteilung unterzogen: Die Abschlußstrophe ist durch ihren gesamten grammatischen Bestand ausdrucksvoll den ersten drei Strophen gegenübergestellt. Dem nicht-präteritalen (der Bedeutung nach futurischen) Indikativ der perfektiven 104 Trauerverben, die die ersten drei Strophen beherrschen – 2 umret [›stirbt‹], 6 Ostavit mertvyj sled [›Hinterläßt (eine) tote Spur‹], 11 ne dast 〈…〉 vospominanij [›nicht gibt 〈…〉 Erinnerungen‹] –, stellt die Schlußstrophe den Imperativ zweier wiederum perfektiver Verben des Sprechens gegenüber (14 Proiznesi [›Sprich aus‹], 15 Skaz ˇi [›Sage‹]), die eine direkte Rede anordnen. Und diese Rede annulliert alle imaginierten Verluste durch die abschließende Behauptung unaufhörlichen Lebens, indem sie der bis dahin angehörten Tirade des Autors die erste Verbform des Gedichts im imperfektiven Aspekt gegenüberstellt. Entsprechend ändert sich die gesamte Lexik des Gedichts: Die Heldin ist aufgefordert, auf die früheren Begriffe umret [›wird sterben‹], mertvyj [›tot‹], nadgrobnoj [›Grab-‹] zu antworten: Est’ v mire serdce, gde zˇivu ja [›(Es) gibt in (der) Welt (ein) Herz, wo lebe ich‹] mit einer Anspielung auf die traditionelle Paronomasie neumirajusˇˇcij mir [›unsterbliche Welt‹]. Die vierte Strophe widerspricht den ersten drei Strophen: Für dich ist mein Name tot, aber möge er dir als lebendes Zeichen meines unveränderlichen Gedenkens an dich dienen. Gemäß der späteren 103 »Volna« [›Welle‹] und »volnenie« [›Aufregung‹] besitzen dieselbe Wurzel. [Anm. d. Übs./Komm.] 104 Die Präsensformen perfektiver Verben haben im Russischen Futurbedeutung. [Anm. v. I.M.]
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Formulierung: »I ˇslesˇ’ otvet; Tebe zˇ net otzyva…« [›Und schickst eine Antwort; Dir jedoch wird kein Widerhall…‹] (1831).105 Über denselben Namen hatte die erste Strophe prophezeit – 2 ono umret, kak ˇsum pecˇal’nyj 〈…〉, 4 Kak zvuk nocˇnoj [›2 er stirbt, wie (das) Geräusch traurige 〈…〉, 4 Wie (ein) Laut nächtlicher‹], und zu genau diesen Bildern kehrt die letzte Strophe zurück. Aber nicht in der Nacht, wenn der Laut sich verliert 4 v lesu gluchom [›im Wald dichten‹], wie die lexikalisierte, von Pusˇkin wiederbelebte Metapher besagt, sondern 13 v den’ pecˇali [›am Tag (der) Trauer‹], und nicht unter dem ˇsum volny [›Geräusch (einer) Welle‹], sondern 13 v tisˇine [›in (der) Stille‹] soll der vergessene Name erklingen. Symbolisch ist nicht nur die Ersetzung von Nacht durch Tag sowie von Geräusch durch Stille, sondern auch die grammatische Verschiebung in der letzten Strophe. Nicht ohne Grund fungieren anstelle der Adjektive der ersten Strophe – pecˇal’nyj [›traurig‹] und nocˇnoj [›nächtlich‹] – in der letzten Strophe Substantive – 13 v den’ pecˇali, v tisˇine [›am Tag (der) Trauer, in (der) Stille‹]. Überhaupt fehlen im Gegensatz zur Fülle an attributiven Adjektiven und Partizipien, die für die ersten drei Strophen charakteristisch ist (je fünf in jeder Strophe), diese Satzglieder völlig, so wie sie auch im Gedicht »Ja vas ljubil« [›Ich liebte Sie‹] fehlen, wo es andererseits reichlich Adverbien gibt, die im hier untersuchten Gedicht gänzlich fehlen. Der abschließende Vierzeiler bricht mit dem ausgeschmückten, verzierten Stil der ersten drei Strophen, der dem Text »Ja vas ljubil« [›Ich liebte Sie‹] völlig fremd ist. Somit zeichnet sich die Antithese der Epistel, die letzte Strophe, eingeleitet durch ein adversatives no [›aber‹], der einzigen koordinierenden Konjunktion im Verlauf des ganzen Gedichts, wesentlich durch ihren grammatischen Bau aus: durch den wiederholten Imperativ, welcher dem durchgehenden Indikativ der drei ersten Vierzeiler entgegengestellt ist, durch das *Adverbialpartizip, das mit den vorausgehenden adnominalen Partizipien kontrastiert. Im Unterschied zum vorausgehenden Text führt die Antithese eine fremde Rede ein, ein zweifaches prädikatives est’ [›es gibt‹], die erste Person des Subjekts und Prädikats, einen vollständigen Nebensatz und schließlich den imperfektiven Verbalaspekt nach der langen Reihe perfektiver Formen. Trotz der quantitativen Disproportion zwischen dem ersten, indikativischen und dem zweiten, imperativischen Teil (zwölf Anfangsverse gegen105 V. 10 f. von Pusˇkins Gedicht »E˙cho« [›Echo‹]. Vgl. Pusˇkin, Stichotvorenija 1826– 1836. Skazki, S. 276, sowie die Nachdichtung von Kai Borowsky in Russische Lyrik, S. 68. [Anm. d. Übs./Komm.]
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über den vier Abschlußversen) bilden beide gleichermaßen drei weitere Stufen von Unterteilungen in parataktische Paare unabhängiger syntaktischer Gruppen. Der erste, sich über drei Strophen erstreckende Teil umfaßt zwei syntaktisch parallele Frage-Antwort-Konstruktionen wiederum ungleicher Ausdehnung (acht Anfangsverse gegenüber den vier Zeilen der dritten Strophe). Entsprechend enthält der zweite Teil des Gedichts, seine Abschlußstrophe, zwei parallele Sätze, die thematisch eng beieinander liegen. Beide Frage-Antwort-Konstruktionen des ersten Teils bestehen aus dem gleichen Fragesatz und einer Antwort mit ein und demselben anaphorischen Subjekt. Dieser sekundären Gliederung des ersten Teils entspricht im nächsten Teil der binäre Charakter des zweiten Imperativsatzes, der eine direkte Rede enthält und somit in eine einführende Bemerkung (skazˇi: [›sage:‹]) und das Zitat selbst zerfällt (est’ 〈…〉 [›(es) gibt 〈…〉‹]). Schließlich zerfällt die erste der Antworten in zwei parallele Sätze metaphorischen Charakters mit eng benachbarter Thematik, beide mit einem *Zeilensprung (Enjambement) in der Mitte der Strophe (I Ono umret, kak ˇsum pecˇal’nyj Volny 〈…〉 [›Er stirbt, wie (das) Geräusch traurige (Der) Welle 〈…〉‹], II Ono 〈…〉 Ostavit mertvyj sled, podobnyj Uzoru 〈…〉 [›Er 〈…〉 Hinterläßt (eine) tote Spur, ähnlich (Dem) Muster‹]). Von dieser Art ist die letzte der drei konzentrischen Formen der *Parataxe im ersten Teil des Gedichts, und dem entspricht im zweiten Teil die Einteilung der zitierten Rede in parallele, thematisch ähnliche Sätze (Est’ pamjat’ 〈…〉 [›(Es) gibt (ein) Andenken 〈…〉‹]; Est’ 〈…〉 serdce [›(Es) gibt 〈…〉 (ein) Herz‹]). Während die letzte Strophe ebenso viele unabhängige parataktische Paare enthält wie alle drei vorausgehenden Vierzeiler zusammen genommen, gehören umgekehrt von den sechs abhängigen Gruppen (drei konjunktionalen Adverbialsätzen und drei ›attributiv-prädikativen Bestimmungen‹, wie sie Sˇachmatov nennt 106 ) drei zur ersten, am reichsten mit Metaphern ausgestatteten Strophe (〈…〉 , kak 〈…〉, 〈…〉, plesnuvsˇej 〈…〉 〈…〉, kak 〈…〉 [›〈…〉, wie 〈…〉, 〈…〉, geplätschert 〈…〉 〈…〉, wie 〈…〉‹]), während auf die drei übrigen Vierzeiler regelmäßig ein Beispiel von *Hypotaxe entfällt (II 〈…〉, podobnyj 〈…〉 : III Zabytoe 〈…〉 : IV 〈…〉, gde 〈…〉 [›II 〈…〉, ähnlich 〈…〉 : III Vergessen 〈…〉 : IV 〈…〉, wo 〈…〉‹]). Als Ergebnis aller dieser Aufteilungen tritt am deutlichsten der vielfältige Kontrast zwischen der ersten und der letzten Strophe hervor, d. h. zwischen der Schürzung und der Lösung des Knotens des lyrischen Themas, während gleichzeitig eine enge Gemeinsamkeit zwischen ihnen 106 Vgl. Sˇachmatov: Sintaksis russkogo jazyka, S. 291–294, § 393 u. 394.
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besteht. Wie der Kontrast, so findet auch die Gemeinsamkeit ihren Ausdruck auch in der lautlichen Faktur. Unter den betonten Vokalen, die auf eine *Hebung fallen, überwiegen in der ersten Strophe die *dunklen (*labialisierten), ihre Zahl sinkt konsequent in den folgenden Strophen und erreicht in der vierten Strophe das Minimum (I : 8; II : 5; III : 4; IV : 3). Unterdessen fällt die maximale Anzahl der betonten *diffusen (geschlossenen) Vokale (u und i) auf beide Randstrophen – auf die erste (6) und die vierte (5) – und stellt diese den beiden inneren Strophen gegenüber (II : 0; III : 2).107 Verfolgen wir kurz den Themenverlauf von der Schürzung bis zur Lösung, der in der Behandlung der grammatischen Kategorien, insbesondere der Kasus, deutlich zum Ausdruck kommt. Wie die einleitenden Strophen zu verstehen geben, wurde dem Dichter vorgeschlagen, seinen Namen in ein Erinnerungsbuch einzutragen. Der innere Dialog, in dem Fragen und Antworten einander abwechseln, dient als Absage an diesen imaginierten Vorschlag. Der Name wird der *intransitiven Konstruktion der ersten Strophe zufolge spurlos verklingen, umret [›wird sterben‹], in der nur im metaphorischen Bild der volny, plesnuvsˇej v bereg dal’nyj [›Welle, geplätschert an (das) Ufer ferne‹] der präpositionale Akkusativ einen Hinweis auf die Suche nach dem Objekt fallen läßt. Die zweite Strophe, in der der Name durch sein schriftliches Abbild ersetzt wird, führt die *transitive Form Ostavit 〈…〉 sled [›Hinterläßt 〈…〉 Spur‹] ein, doch das *Epitheton mertvyj [›tot‹] beim direkten Objekt führt uns zum Thema der Zwecklosigkeit zurück, das in der ersten Strophe entwickelt wurde. Mit einem Dativ des Vergleichs wird die metaphorische Ebene der zweiten Strophe eröffnet (podobnyj Uzoru [›ähnlich (Dem) Muster‹]) und gewissermaßen das Auftreten des Dativs in seiner hauptsächlichen Rolle vorbereitet: Die dritte Strophe bringt ein Substantiv im Dativ des Nutzens (Tvoej dusˇe [›Deiner Seele‹]), doch wiederum annulliert der Kontext – diesmal das verneinende ne dast [›nicht gibt‹] – den Nutzen. Der Lautcharakter der letzten Strophe ähnelt den diffusen Vokalen der Anfangsstrophe, und die Thematik der vierten Strophe kehrt vom schriftlichen Abbild zum klingenden Namen der ersten Strophe zurück. 107 Zu Jakobsons System der distinktiven Phonemmerkmale (darunter: dunkel vs. hell und kompakt vs. diffus) vgl. Jakobson /Halle, »Phonology and Phonetics«, S. 478– 486, sowie dies., »The Revised Version of the List of Inherent Features«, sowie die deutsche Übersetzung »Phonologie und Phonetik«, S. 71–81. Vgl. auch Jakobson / Waugh, The Sound Shape of Language, S. 95–113, sowie die deutsche Übersetzung: Die Lautgestalt der Sprache, S. 100–120. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Mit dem verstummenden Klang des Namens hat die Erzählung begonnen, mit seinem Klang v tisˇine [›in der Stille‹] endet sie. Entsprechend ähneln sich in der Lautgestalt des Gedichts die dumpfen, diffusen Vokale beider Randstrophen. Doch die Lösung modifiziert die Rolle des Namens beträchtlich. Auf die unausgesprochene, aber aus dem Kontext klar ersichtliche Einladung, seinen Namen in ein Album einzutragen, antwortet der Dichter der Besitzerin des Albums mit einer Aufruf: Proiznesi ego toskuja [›Sprich ihn sehnsüchtig aus‹]. An die Stelle des Nominativs ono [›es‹ bzw. er (der Name)], der in jeder der drei ersten Strophen (I2, II1, III3) auf den Namen verweist, tritt der Akkusativ desselben anaphorischen Pronomens (IV2) bei der zweiten Person des Imperativs, der an die Heldin gerichtet ist. Diese verwandelt sich auf diese Weise gemäß dem Willen des Autors aus der inaktiven Adressatin tebe [›dir‹] in eine handelnde oder, genauer, zum Handeln aufgerufene Person. Indem sie das dreifache ono [›es‹] der ersten drei Strophen und die lautliche Variation im Umkreis dieses Pronomens in der dritten Strophe – die vierfache Verbindung von n und o mit nachfolgendem oder vorausgehendem v – aufgreift, beginnt die vierte Strophe, die dieses Subjekt abschafft, *calembourartig mit derselben Verbindung: Cˇto v ne¨m? Zabytoe davno V volnen’jach novych i mjatezˇnych, Tvoej dusˇe ne dast ono Vospominanij ˇcistych, nezˇnych. No v den’ pecˇali, v tisˇine, 〈…〉
Der Name, im Verlauf der ersten drei Strophen in völliger Isolation von der fühllosen Umgebung präsentiert, wird der Heldin in den Mund gelegt zusammen mit einer Rede, die, freilich nur emblematisch, aber dennoch zum ersten Mal einen Hinweis auf den Träger des Namens enthält: Est’ v mire serdce 〈…〉 [›(Es) gibt in der Welt (ein) Herz‹]. Es ist interessant, daß das »ja« [›ich‹] des Autors im Gedicht nicht genannt wird; und wenn die letzten Zeilen der letzten Strophe endlich zum Pronomen der ersten Person greifen, dann geht dieses ein in die der Heldin durch den Imperativ des Autors aufgezwungene direkte Rede und bezeichnet nicht den Autor, sondern die Heldin. Dem Verlust der Erinnerungen an mich – den Autor – steht hier in der antonymischen Rahmung das unwandelbare Gedenken an mich – an die gedächtnislose Besitzerin des ›Erinnerungsblatts‹ – gegenüber. Ihre Selbstbehauptung durch den Appell an den Namen des Autors, den ihr der Autor selbst vorgeschrieben hat, wird von demselben Spiel
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mit den Schwankungen und Verschiebungen der Kasusbedeutungen vorbereitet, das dieses ganze Gedicht so intensiv ausgenutzt hat. Auf seine zahlreichen präpositionalen Konstruktionen 108 muß man die theoretischen Bemerkungen Benthams 109 über den engen Kontakt und die gegenseitige Durchdringung der beiden Sprachschichten, der materialen und der abstrakten, anwenden. Das zeigt sich zum Beispiel in den Schwankungen solcher Präpositionen wie »v« [›in‹] zwischen der hauptsächlichen, materialen, lokalisierenden Bedeutung auf der einen und der immateriellen, abstrakten auf der anderen Seite. Insbesondere das Schwanken zwischen den beiden Funktionen der Verbindung des *Lokativs mit den Präpositionen v [›in‹] und na [›auf‹] in jeder der ersten drei Strophen wird von Pusˇkin in absichtlich zugespitzter Form präsentiert. In der ersten Strophe sind die Cˇto v imeni tebe moem? [›Was (liegt) in /an Namen dir meinem‹] und Kak zvuk nocˇnoj v lesu gluchom [›Wie Laut nächtlicher in Wald dichtem‹] durch einen *grammatischen Reim miteinander verbunden. Ein und dieselbe Präposition ist in der ersten der beiden Zeilen mit einer abstrakten Bedeutung ausgestattet und in der zweiten mit einer konkret-lokalisierenden. Die dem einschließenden v [›in‹] gegenübergestellte äußerliche Präposition na [›auf‹] tritt in Übereinstimmung mit dem Übergang vom klingenden Namen zu seiner schriftlichen Form ihrerseits in zwei parallelen, durch einen grammatischen Reim miteinander verbundenen Versen der zweiten Strophe auf – das erste Mal mit einer lokalisierenden Bedeutung (na pamjatnom listke [›auf (dem) Erinnerungsblatt‹]), das zweite Mal in einer abstrakten Rolle (na neponjatnom jazyke [›in (einer) unverständlichen Sprache‹]). Dabei erfährt die semantische Gegenüberstellung beider reimenden Zeilen eine calembourhafte Zuspitzung: ono na pamjatnom – na neponjatnom [›er auf (dem) Erinnerungs(blatt) – in (einer) unverständlichen‹]. In der dritten Strophe folgt die Gegenüberstellung zweier Verbindungen mit der Präposition v [›in‹] im allgemeinen dem Schema der ersten Strophe, doch die elliptische Wiederholung der Frage Cˇto v nem? [›Was (ist /liegt) in /an ihm?‹] eröffnet die Möglichkeit einer zweifachen Interpretation – einer abstrakten (Was bedeutet er für dich?) und einer konkret lokalisierenden (Was enthält er denn in sich?). Entsprechend dieser Verschiebung nähert sich die vierte Strophe der eigentlichen Bedeutung derselben Präposition an (v tisˇine [›in (der) Stille‹]; est’ v mire [›(es) gibt in (der) Welt‹]). Auf die Frage 108 Im Original: ›predlozˇnye konstrukcii‹, was sowohl ›präpositionale Konstruktionen‹ als auch ›Konstruktionen im *Präpositiv bzw. Lokativ‹ heißen kann. [Anm. d. Übs./Komm.] 109 Vgl. Ogden, Bentham’s Theory of Fictions, S. 62.
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des Anfangsverses – Cˇto v imeni tebe moem [›Was (liegt) in /an Namen dir meinem‹] – wird der Heldin der Strophen vorgeschlagen, eine Replik zu geben, die vom Autor selbst souffliert wird und die die einschließende Präposition dreimal mit ihrer ursprünglichen, materialen Bedeutung ausstattet: im Namen, der für sie geschrieben und von ihr als Antwort flehend ausgesprochen wird, ist das Zeugnis enthalten, daß es in der Welt einen Menschen gibt, in dessen Herz sie 110 weiterleben wird. Der Übergang vom nächtlichen ono umret [›er stirbt‹] zum zˇivu ja [›lebe ich‹] am Tage wird wiederholt im allmählichen Wechsel von den dunklen zu den hellen Vokalen. Es ist interessant, daß sowohl Pusˇkins Strophen als auch der Hussitenchoral gleichermaßen mit einem doppelten Imperativ enden, der der zweiten Person eine zweifache Replik souffliert, eine synthetische Antwort auf das anfängliche Fragewort Cˇto [›Was‹] der Pusˇkinschen Epistel (Proiznesi 〈…〉 Skazˇi: est’ 〈…〉 Est’ 〈…〉 [›Sprich aus 〈…〉 Sage: (es) gibt 〈…〉 Es gibt 〈…〉‹]) und auf das relativ-interrogative »Ktozˇ« [›Die, welche‹], mit dem das tschechische Lied beginnt: A s tiem vesele krˇikneˇte ˇrku´c: »Na neˇ, hr na neˇ!« branˇ svu´ rukama chutnajte, »Bo´h pa´n na´ˇs!« krˇikneˇte! 111 Und damit schreit frohgemut, ausrufend: »Auf sie, los, auf sie!« Eure Waffe packt [wörtl.: schmeckt] mit den Händen, »Gott ist unser Herr!« schreit! 112
Aber gerade vor dem Hintergrund dieser Gemeinsamkeit werden die Unterschiede in den Grundlagen der poetischen Grammatik besonders deutlich, beispielsweise das Pusˇkinsche Gleiten zwischen benachbarten grammatischen Kategorien, z. B. unterschiedlichen Kasus oder verschiedenen kombinatorischen Bedeutungen ein und desselben Kasus, mit einem Wort: der ununterbrochene Wechsel der Perspektivierungen, der das Problem des grammatischen Parallelismus keineswegs aufhebt, sondern es unter einem neuen, dynamischen Gesichtspunkt aufwirft.
110 Im Original irrtümlich »ono« [›es‹ bzw. ›er‹, der Name]. [Anm. d. Übs./Komm.] 111 Vgl. Jakobson, »›Ktozˇ jsu´ bozˇ´ı bojovnı´ci‹: Slovnı´ stavba Husitske´ho chora´lu«, S. 215 f. [Anm. v. R.J.] – Vgl. die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 509–535. [Anm. d. Übs./Komm.] 112 Übersetzung nach a. a. O., S. 513. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Editorische Notiz Ursprünglich präsentiert als Vortrag auf der International Conference for Poetics in Warschau 1960 und erstmals publiziert im Tagungsband dieser Konferenz Poetics Poetyka Poe˙tika (Warschau 1961), S. 397–417.
Literatur Jakobsons eigene Literaturangaben sind mit ° gekennzeichnet. ° Aristov, N.: »Povest’ o Fome i Ereme« [›Die Erzählung über Foma und Ere¨ma‹],
in: Drevnjaja i novaja Rossija 2 (1876), Nr. 4, S. 359–368.
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Roman Jakobson
Der grammatische Parallelismus und seine russische Spielart 1 Übersetzung aus dem Englischen und Russischen Tarcisius Schelbert, Sebastian Donat, Stephan Packard und Elena Skribnik
Kommentar Elena Skribnik und Sebastian Donat In diesem Aufsatz – noch vor kurzem als »landmark study« gerühmt 2 – analysiert Roman Jakobson theoretische und praktische Aspekte des grammatischen *Parallelismus 3 anhand des russischen Volkslieds »Och v gore zˇit’ nekrucˇinnu byt’« [›Ach, im Gram leben, sich nicht härmen‹] aus der Sammlung von Kirsˇa Danilov (18. Jh.), teilweise im Vergleich mit der »Povest’ o Gore i Zlocˇastii« [›Geschichte vom Gram und Unglück‹] (17. Jh.). Strukturell besteht der Aufsatz aus sechs Paragraphen, die sich eigentlich in drei Teilen anordnen lassen: In den ersten drei Paragraphen führt Jakobson den Begriff Parallelismus ein und faßt die Geschichte seiner Erforschung 1
2 3
Dank für ihre Hilfe schulde ich den Professoren F. M. Cross, M. Halle, J. R. Hightower, A. Schenker und K. Taranovski, sowie meiner Assistentin Alice Iverson. [Anm. v. R.J.] – Vorlage: Jakobson, Roman Osipovicˇ: »Grammatical parallelism and its Russian facet«, in: SW III, S. 98–135. Erstdruck in: Language 42: presented to Yuen Ren Chao (1966), S. 399–429. Deutsche Übersetzung von Tarcisius Schelbert: »Der grammatische Parallelismus und seine russische Spielart« in: Poetik, S. 264–310. Russische Übersetzung von A. I. Poltorackij: »Grammaticˇeskij parallelism i ego russkie aspekty«. Weitere Diskussion: Fox, »Roman Jakobson and the comparative study of parallelism«; Ivanov, »Poe˙tika Romana Jakobsona«; Krongauz, »Semantika slovoobrazovatel’nogo parallelisma«. [Anm. d. Komm.] Vgl. Luthy, »Early Finnish Number Parallelism and Classical Hebrew Analogs«, S. 181. [Anm. d. Komm.] Siehe auch Jakobson, »Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie«, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 256–301. [Anm. d. Komm.]
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zusammen, erst anhand der semitischen und chinesischen Dichtung (I), danach anhand der uralischen und altaischen Volksdichtung (II); im dritten Paragraphen (III) dokumentiert er zunächst ähnliche Beobachtungen in der Erforschung der russischen Volkspoesie. Der zweite Teil ist der Analyse des russischen Liedes »Och v gore zˇit’ nekrucˇinnu byt’« [›Ach, im Gram leben, sich nicht härmen‹] gewidmet. Im Paragraphen IV werden grammatische und phonetische Korrespondenzen analysiert, in V metrische. Paragraph VI enthält eine zusammenfassende Definition des Parallelismus und als weitere Lektüre noch eine kurze Analyse des Sechszeilers 4,8 im Hohenlied. Die Erforschung des Parallelismus in Jakobsons Arbeiten basiert einerseits auf der Berücksichtigung *paradigmatischer und *syntagmatischer Beziehungen zwischen Elementen im Sprachsystem und im literarischen Text, andererseits auf der Korrelation zwischen Invarianten und Varianten im Parallelismus. »Der durchgehende Parallelismus aktiviert unvermeidlich alle Ebenen der Sprache: Die *distinktiven Merkmale, inhärente wie *prosodische, die morphologischen und syntaktischen Kategorien und Formen, die lexikalischen Einheiten und ihre semantischen Klassen […].« 4 Dementsprechend umfaßt die Untersuchung alle Aspekte dieses Textes, von der Phonologie über Morphologie und Syntax bis hin zu semantischen *Strukturen – mit besonderer Aufmerksamkeit hinsichtlich seiner prosodischen und grammatischen Eigenschaften – und zeigt viele Zusammenhänge mit Jakobsons linguistischen Arbeiten. Man kann diesen Aufsatz auch im Rahmen eines breiteren Interessengebietes Jakobsons betrachten: 5 der allgemeinen Theorie der *Symmetrie und ihrer Anwendung in der Kunst und Literatur (vgl. seine Arbeiten zur funktionalen Asymmetrie des Gehirns). Elena Skribnik
I Wer sich des linguistischen Problems 6 des grammatischen Parallelismus annimmt, steht vor der unwiderstehlichen Versuchung, immer wieder jene bahnbrechende Studie zu zitieren, die der junge Gerard Manley Hopkins vor jetzt genau einhundert Jahren schrieb: 7 4 5 6
Siehe unten, S. 346 f. [Anm. d. Komm.] Vgl. Ivanov, »Poe˙tika Romana Jakobsona«, S. 18 f. [Anm. d. Komm.] Die von Jakobson verwendete Formulierung ›linguistisches Problem‹ anstelle des zu erwartenden ›sprachliches Problem‹ ist bezeichnend für seine wissenschaftstheoretische Position, derzufolge die Poetik als integraler Bestandteil der Linguistik anzusehen ist. Vgl. Jakobson, »Linguistics and Poetics«, S. 18, sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 157 [Anm. d. Übs.]
Der grammatische Parallelismus und seine russische Spielart
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Der künstlerische Teil der Dichtung, vielleicht können wir zu recht sagen: alle Kunstfertigkeit, läßt sich auf das Prinzip des Parallelismus zurückführen. Die Struktur der Dichtung ist die eines fortgesetzten Parallelismus, von den terminologisch so bezeichneten Parallelismen der hebräischen Dichtung und den Antiphonen 8 der Kirchenmusik bis zur Kompliziertheit griechischer, italienischer oder englischer Verse.
Wir haben gelernt, wie suggestiv die Etymologie der Begriffe Prosa und Vers ist – erstere als oratio prosa < prorsa < proversa »nach vorwärts gekehrte Rede«, und letzterer als versus »Rückkehr«.9 Wir müssen daher alle Folgerungen aus der offenbaren Tatsache annehmen, daß auf jeder sprachlichen Ebene das Wesen dichterischer Kunstfertigkeit aus wiederholter Wiederkehr besteht. Wenn phonetische Qualitäten und Sequenzen, morphologische ebenso wie lexikalische, syntaktische wie *phraseologische Einheiten an Stellen auftauchen, die einander im *Metrum oder in der *Strophe entsprechen, so werfen sie zwangsläufig die bewußten oder unterbewußten Fragen auf: ob, wie weit und worin sich die positionell entsprechenden Einheiten ähneln. Poetische Strukturen, bei denen gewisse Ähnlichkeiten zwischen sukzessiven verbalen Sequenzen verpflichtend oder besonders bevorzugt sind, scheinen in den Sprachen der Welt weit verbreitet zu sein, und für Untersuchungen zur poetischen Sprache wie für linguistische Analysen erweisen sie sich als besonders ertragreich. Solche traditionellen Typen eines kanonischen Parallelismus erschließen uns die mannigfaltigen Beziehungen zwischen den verschiedenen Aspekten der Sprache und geben eine Antwort auf die einschlägige Frage: Welche verwandten grammatischen oder phonologischen Kategorien können innerhalb eines gegebenen Musters als *Äquivalente fungieren? 10 Man kann folgern, daß solche Kategorien im sprachlichen Kode der jeweiligen Sprachgemeinschaft einen gemeinsamen Nenner haben. 7
Hopkins, »Poetic Diction«, S. 84. [Anm. v. R.J.] – Dt. Übs.: »Die poetische Diktion«, S. 260. [Anm. d. Komm.] 8 Antiphon (gr. antiphonos – ›gegentönend, antwortend‹): einstimmiger Wechselgesang zweier Chöre, ursprünglich beim Singen von Psalmen, entsprechend dem Parallelismus membrorum dieser Dichtungen, siehe Metzler-Literatur-Lexikon, S. 19. [Anm. d. Komm.] 9 Vgl. Jakobson /Valesio, »Vocabulorum constructio in Dante’s Sonnet ›Se vedi li occhi miei‹«, S. 176, sowie die deutsche Übersetzung, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 439–470, hier: S. 441. [Anm. d. Komm.] 10 Genau dieses Argument bringt Jakobson (in einer sehr ähnlichen Formulierung) bereits im Aufsatz »Poe˙zija grammatiki i grammatika poe˙zii«, S. 66 f., vgl. die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 256–301 hier: S. 264 f. [Anm. d. Komm.]
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Von diesen Systemen stand der biblische parallelismus membrorum als erster im Blickfeld der westlichen Forschung. Robert Lowth entwarf in »The Preliminary Dissertation« [›Die einleitende Abhandlung‹] zu seiner 1778 erstmals veröffentlichten Übersetzung des Buchs Jesaja die Grundlagen einer systematischen Untersuchung der Sprachtextur der althebräischen Poesie und übernahm den Begriff »Parallelismus« für die Poetik: The correspondence of one Verse, or Line, with another, I call Parallelism. When a proposition is delivered, and a second is subjoined to it, or drawn under it, equivalent, or contrasted with it, in Sense; or familiar to it in the form of Grammatical Construction; these I call Parallel Lines; and the words or phrases answering one to another in the corresponding Lines, Parallel Terms. Parallel Lines may be reduced to Three sorts; Parallels Synonymous, Parallels Antithetic, and Parallels Synthetic 〈…〉. It is to be observed that the several sorts of Parallels are perpetually mixed with one another; and this mixture gives a variety and beauty to the composition.11
Nach Lowth haben »diese drei Arten der Parallelen ihren speziellen Charakter und eigenen Effekt«.12 Synonyme Zeilen »entsprechen einander, indem sie denselben Sinn in verschiedenen, aber äquivalenten Ausdrükken darstellen; wenn nämlich eine Aussage vorgebracht und unmittelbar ganz oder teilweise wiederholt wird, wobei der Ausdruck variiert wird, aber der Sinn sich ganz oder teilweise deckt«.13 Zwei *antithetische Zeilen »entsprechen einander durch eine Gegenüberstellung 〈…〉 manchmal auf der Ausdrucksebene, manchmal lediglich auf der Sinnebene. Entsprechend nimmt sich der Grad der Antithese verschieden aus; von einer 11 Lowth, Isaiah, S. X–XI. Vgl. auch seine Schrift De sacra poesi Hebraeorum. Lowths Doktrin inspirierte nicht nur weitere Forschungen, sondern auch die Dichtung. Christopher Smarts parallelistisches Gedicht von 1759–63 »stellt einen Versuch dar, einige der Prinzipien des hebräischen Verses, die Bischof Robert Lowth in seiner Untersuchung darstellte, auf den englischen Vers zu übertragen«, wie William H. Bond in seiner Ausgabe von Smarts Jubilate agno, S. 20, bemerkt. [Anm. v. R.J.] – Dt. Übs.: ›Die Entsprechung eines Verses oder einer Zeile mit einer anderen nenne ich Parallelismus. Wenn eine Aussage vorgebracht wird und eine zweite mit ihr verknüpft oder ihr untergeordnet wird und sich dabei dem Sinn nach gleichwertig verhält oder mit ihr kontrastiert; oder wenn sie mit ihr formal bezüglich der grammatischen Konstruktion verwandt ist; so spreche ich von parallelen Zeilen; und die Wörter oder Wortgruppen, die in den entsprechenden Zeilen aufeinander antworten, nenne ich parallele Ausdrücke. – Die parallelen Zeilen lassen sich in drei Sorten fassen: synonyme Parallelen, antithetische Parallelen und synthetische Parallelen 〈…〉. Man beachte, daß diese Kategorien immer vermischt auftreten, und aus dieser Mischung ergibt sich die Mannigfaltigkeit und Schönheit der Komposition.‹ [Anm. d. Komm.] 12 Lowth, Isaiah, S. XXVII. 13 A. a. O., S. XI.
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genauen Kontraposition, die Wort für Wort durch den ganzen Satz reicht, bis zu einer allgemeinen Ungleichheit, mit einer gewissen Gegensätzlichkeit, zwischen den beiden Aussagen«.14 Diesen beiden Typen stellt Lowth rein grammatische Kongruenzen gegenüber, die er »synthetisch oder konstruktiv« nennt und »in denen der Parallelismus nur aus einer formal ähnlichen Konstruktion besteht«. Die Verse werden durch eine bloße »Entsprechung zwischen verschiedenen Aussagen« aneinander gebunden, »hinsichtlich Gestalt und Verlauf des ganzen Satzes sowie seiner Bausteine; so gesellt sich Nomen zu Nomen, Verb zu Verb, Satzglied zu Satzglied, Negation zu Negation und Fragesatz zu Fragesatz«.15 Newmans und Poppers genaue kritische Übersicht 16 ebnete den Weg für die jüngste wesentliche Revision grundlegender Fragen, die mit dem Wesen und der Geschichte des biblischen Parallelismus zusammenhängen.17 Die intensive Forschung der letzten Jahrzehnte wirft ein neues Licht auf die enge Beziehung zwischen der metrisch-strophischen Form der hebräischen und ugaritischen 18 Poesie mit ihrem »wiederkehrenden Parallelismus« (ein Begriff der heutigen semitistischen Forschung). Die prosodische und verbale Organisation, der man hauptsächlich in den urältesten biblischen Gedichten und kanaanäischen 19 Epen begegnet, zeugt von ihrem Ursprung in einer archaischen kanaanäischen Tradition mit einem gewissen akkadischem 20 Einschlag. Die Rekonstruktion und philologische Deutung früher biblischer poetischer Fragmente ist eine staunenswerte Leistung moderner Forschung. Im Lichte dieser Arbeiten muß nun die Struktur des Parallelismus, die der biblischen und ugaritischen Dichtung zugrunde liegt, einer strengen linguistischen Analyse unterzogen werden; und die scheinbar endlose Vielfalt der vorliegenden Parallelen muß einer präzisen und umfassenden Typologie weichen. Lowths 14 15 16 17
A. a. O., S. XIX. A. a. O., S. XXI. Vgl. Newman /Popper, Studies in Biblical Parallelism. Siehe besonders Ginsberg, »The Rebellion and Death of Ba’lu«; ders., The Legend of King Keret ; Albright, »The Old Testament and the Canaanite Language and Literature«; ders. »A Catalogue of Early Hebrew Lyric Poems (Psalm LXVIII)«; ders., »The Psalm of Habakkuk«; Cross /Freedman, »The Blessing of Moses«; Cross, »Notes on a Canaanite Psalm in the Old Testament«; Gevirtz, Patterns in the Early Poetry of Israel. 18 Ugarit: Handelsmetropole und Kulturzentrum im heut. Syrien, ca. 2400–1200 v. Chr.; Ugaritisch: eine nordsemitische Sprache. [Anm. d. Komm.] 19 Kanaan: im Alten Testament das Land westlich des Jordans; kanaanäische Sprachen: nordwestsemitische Sprachen (die amurritische Sprache, das Hebräische, das Phönikische, das Moabitische, vielleicht auch das Ugaritische). [Anm. d. Komm.] 20 Akkadisch: die semitische Sprache Babyloniens und Assyriens. [Anm. d. Komm.]
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kühne, aber unabgeschlossene Leistung muß auf einer neuen Ebene wiederaufgenommen werden. Seine Forschungen dienten dem ersten westlichen Versuch als Beispiel, um noch eine andere literarische Urtradition zu untersuchen, die am Parallelismus als zentralem poetischen Verfahren stets festgehalten hat. In dem Vortrag »On the Poetry of the Chinese« [›Über die Dichtung der Chinesen‹], den J. F. Davis im Jahre 1829 auf einer Tagung der Royal Asiatic Society gehalten hatte, erklärte er den Parallelismus zur interessantesten Eigenschaft im Aufbau der chinesischen Dichtung, »da er eine erstaunliche Entsprechung mit der hebräischen Poesie aufweist«.21 Davis zitierte ausführlich aus der Abhandlung Bischof Lowths, folgte dessen Spuren in der Darstellung dreier Arten von Entsprechungen und stellte fest, daß die dritte Art der Parallele, die Lowth die synthetische oder konstruktive nennt, »bei weitem die häufigste Form des Parallelismus bei den Chinesen ist«. Die beiden anderen Arten »werden gewöhnlich von dieser letzten begleitet – die Entsprechung im Sinn, sei es nun eine Äquivalenz oder *Opposition, wird fast immer von einer Entsprechung in der Konstruktion unterstützt; die letztere findet sich oft ohne die ersteren, während das Gegenteil selten vorkommt. Sie zieht sich durch die ganze chinesische Dichtung hindurch, bildet ihre wichtigste charakteristische Eigenschaft und ist die Quelle eines großen Teils ihrer künstlerischen Schönheit.« 22 Diese Definitionen und klassifikatorischen Kategorien liegen einer Reihe von späteren Studien zugrunde, die besonders auf eine adäquate Übersetzung chinesischer Dichtung abzielten.23 Inzwischen ist das Bedürfnis nach einer genaueren und gründlicheren Beschreibung deutlich geworden. Hightower übersetzte zwei chinesische Stücke aus dem fünften und sechsten Jahrhundert, die in »paralleler Prosa« abgefaßt sind, oder genauer, in Zeilen mit einem fließenden gleitenden Metrum, und untersuchte das zugrundeliegende Organisationsprinzip.24 Der Notwendigkeit eingedenk, alle Spielarten des Parallelismus zu betrachten, greift der Forscher zurück auf die einheimische chinesische Tradition von Untersuchungen 21 Davis, »Poeseos Sinensis Comentarii«. 22 A. a. O., S. 414 f. Lowth wies auch darauf hin, daß in biblischen Verspaaren, die weder äquivalente noch gegensätzliche Ausdrücke aufweisen, »ein ebenso deutlicher, und beinahe ebenso auffälliger, Parallelismus erscheint, der auf der ähnlichen Form und Gleichwertigkeit der Zeilen, auf der Entsprechung ihrer Glieder und ihrer Konstruktion beruht« (Lowth, Isaiah, S. XXV). 23 Siehe z. B. Saint-Denys, Poe´sies de l’e´poque des Thang; Schlegel, La loi du paralle´lisme en style chinois; Tchang Tcheng-Ming, Le paralle´lisme dans les vers du Chen King. 24 Hightower, »Some Characteristics of Parallel Prose«.
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in diesem Gebiet, welche die ausländische Forschung an Alter und Akribie übertreffen. Insbesondere zitiert er ausführlich Ku¯kais 25 Zusammenstellung früherer chinesischer Quellen, Bunkyoˆ hifuron,26 eine literartheoretische Abhandlung aus dem neunten Jahrhundert, in der neunundzwanzig Arten des Parallelismus aufgezählt werden.27 Hightower selbst arbeitet mit sechs Typen des einfachen Parallelismus – Wiederholung, Synonymie, *Antonymie, »Gleichheiten« (lexikalische und grammatische Ähnlichkeit),28 »Ungleichheiten« (grammatische ohne lexikalische Ähnlichkeit) und »formale Paare« (»weithergeholte Verknüpfungen« der lexikalischen Semantik ohne grammatische Ähnlichkeit).29 Er bringt dazu noch die Probleme des komplexen Parallelismus und die metrischen, grammatischen und lautlichen Parallelen ins Spiel. –. ј. Boodbergs sinologische »Cedules«,30 die von den mannigfaltigen Aspekten des – grammatischen, lexikalischen und prosodischen – Parallelismus handeln, sowie von der Polysemie der Parallelwörter und -zeilen vor allem in Verbindung mit den Feinheiten beim Übersetzen chinesischer Dichtung, sind scharfsinnige Prolegomena zu einer noch ausstehenden systematischen linguistischen Untersuchung des Gerüsts dieser glänzenden dichterischen Tradition. Boodberg hat gezeigt, daß eine Funktion der zweiten Zeile eines Verspaares darin besteht, »den Schlüssel für den Bau der ersten zu liefern« und die unterschwellige Hauptbedeutung der konfrontierten Wörter herauszuschälen. Er hat deutlich gemacht, daß »der Parallelismus nicht einfach ein Stilmittel im Sinne einer formelhaften syntaktischen Duplikation ist; er soll ein Resultat erzielen, das an binokulares Sehen erinnert: die Überlagerung von zwei syntaktischen Bildern, die diesen Festigkeit und Tiefe verleiht, wobei die Wiederholung des Musters bewirkt, daß *Syntagmen miteinander verbunden werden, die auf den ersten Blick eher lose zusammenhängen«.31 25 Ku¯kai (774–835, postumer Ehrenname Ko¯bo¯ Daishi) – japanischer buddhistischer Mönch und Gelehrter, Gründer der Sekte Shingon-Shu¯ [›Wahres Wort‹]. [Anm. d. Komm.] 26 Zur Übersetzung des Titels vgl. Bodman, Poetics and Prosody in early mediaeval China, S. 13: »As its title indicated […], the ›Bunkyoˆ hifuron‹ was both a ›guide for composition‹ (bunkyoˆ) and a ›thesaurus of valuable expressions‹ (hifu).« [Anm.d. Komm.] 27 Professor Hightower hat mir freundlicherweise eine detaillierte englische Zusammenfassung von Ku¯kais Liste zur Verfügung gestellt. 28 Vgl. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, Bd, 1, S. 374, § 750: similitudo. 29 Vgl. Hightower, »Some Characteristics of Parallel Prose«, S. 62 f. [Anm.d. Komm.] 30 Boodberg betitelte seine Privatdrucke von Aufsätzen mit der ziemlich ausgefallenen französischen Bezeichnung Cedules (v. mlat. schedula ›Blättchen Papier, Zettel‹). [Anm. d. Komm.]
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Dies deckt sich im Grunde mit Herders Bewertung des biblischen Parallelismus in seiner berühmten Antwort auf Lowths lateinisch verfaßte Untersuchung: »Die beiden Glieder bestärken, erheben, bekräftigen einander«.32 Nordens Versuch, die beiden poetischen Kanones zu trennen und den chinesischen »Parallelismus der Form« dem hebräischen »Parallelismus des Gedankens« gegenüberzustellen, läßt sich, obwohl oft zitiert, kaum halten.33 Die grammatischen und lexikalischen Entsprechungen der chinesischen Verse sind, was ihren semantischen Gehalt angeht, dem biblischen Parallelismus nicht unterlegen. Wie Chmielewski gezeigt hat, kann Chinas linguistischer Parallelismus 34 »von dem der logischen Struktur eingeholt werden« und übernimmt so eine »potentiell positive Rolle im spontanen logischen Denken«.35 Nach Jabłon´ski, einem andern hervorragenden polnischen Sinologen, zeigt der verschiedengestaltige Parallelismus, der das hervorstechendste Merkmal des chinesischen Sprachstils bildet, eine harmonische, enge Beziehung »avec la conception chinoise du monde, conside´re´ comme un jeu de deux principes alternants dans le temps et oppose´s dans l’espace. II faudrait dire plutoˆt des sexes que des principes, car on croit plutoˆt voir le monde divise´ en des paires d’objets, d’attributs, d’aspects a` la fois accouple´s et oppose´s«.36 Norden hatte seine Einteilung auf den Eindruck eines überwiegend *metaphorischen Parallelismus der biblischen Dichtung und auf das bekannte Vorurteil gegründet, daß die *metonymischen Entsprechungen – wie etwa die Aufteilung in und Aufzählung von Einzelheiten –, die die »parallel konstruierten« Zeilen miteinander verknüpfen,37 bloß kumulativ und nicht integrativ seien.38 31 Boodberg, »On crypto-parallelism in Chinese poetry« und »Syntactical metaplasia in stereoscopic parallelism«. 32 Herder, Vom Geist der Ebräischen Poesie, S. 23. [Anm. v. R.J.] – Herder, Schriften zum Alten Testament, S. 685. [Anm. d. Komm.] 33 Norden, Die antike Kunstprosa, Bd. 2, S. 816 f. 34 Vgl. oben, Anm. 6. [Anm. d. Übs.] 35 Chmielewski, »Notes on early Chinese logic«. 36 Jabłon´ski, Les »Siao-ha(i-eu)l-yu« de Pe´kin, S. 20 f. [Anm. v. R.J.] – Dt. Übs.: ›mit dem chinesischen Konzept der Welt, die als ein Spiel von zwei Prinzipien aufgefaßt wird, die in der Zeit wechseln und im Raum einander entgegengesetzt sind. Man würde besser von »Geschlechtern« als von Prinzipien reden, denn man glaubt, die Welt eher in Paare von Gegenständen, Attributen, Aspekten geteilt zu sehen, die gleichzeitig vereinigt und einander entgegengesetzt sind‹. [Anm. d. Komm.] 37 A. a. O., S. 27 f.; Lowth, Isaiah, S. XXIII. 38 Vgl. Jakobson /Halle, Fundamentals of Language, S. 76 f.; Wiederabdruck: Jakobson, »Two Aspects of Language and Two Types of Aphasic Disturbances«, S. 254–259. [Anm. v. R.J.] – Dt. Übs.: »Die zwei Seiten der Sprache und zwei Typen aphati-
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Der symmetrische »Carmenstil«,39 der mit dem parallelismus membrorum verwandt ist, wird von zahlreichen Beispielen im Veda 40 bezeugt, und Gondas umfassende Monographie untersucht detailliert die typischen Verfahren der Repetition, die mit dieser Ausdrucksform zusammenhängen.41 Freilich kann die Neigung des Altindischen zu symmetrischen Entsprechungen nicht mit den oben angeführten Mustern des kanonischen durchgehenden Parallelismus gleichgesetzt werden.
II Der grammatische Parallelismus gehört zum poetischen Kanon zahlreicher Volksdichtungen. Gonda hat sich auf verschiedene Länder in unterschiedlichen Teilen der Welt mit vorwiegend *»binären Strukturen« von einander grammatisch und lexikalisch entsprechenden Zeilen in traditionellen Gebeten, Exorzismen, Zauberliedern und anderen Formen des mündlichen Verses bezogen.42 Insbesondere hat er die Aufmerksamkeit seiner Leser auf die Litaneien und Balladen von Nias 43 (westlich von Sumatra) gelenkt, »die in der Form eines Paars von parallelen, streng synonymen Gliedern abgefaßt sind«.44 Dennoch ist unser Wissen über die Verteilung des Parallelismus in der Folklore der Welt und seinen Charakter in verschiedenen Sprachen noch immer spärlich und bruchstückhaft. So müssen wir uns vorerst vor allem auf die Forschungsergebnisse zu den parallelistischen Liedern der ural-altaischen Region beschränken.
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scher Störungen«, S. 133–139 (Kap. 5: »Die Polarität zwischen Metaphorik und Metonymik«). [Anm. d. Komm.] Carmenstil: Bezeichnung für den Stil archaischer Kultlieder, Zaubersprüche, Beschwörungsformeln usw., die sich als älteste Dichtungsformen in fast allen Sprachen nachweisen lassen. Die Bezeichnung wurde geprägt von dem niederländischen Indologen J. Gonda in Anlehnung an die Bezeichnung der altlateinischen Vertreter (Carmen – Kultlieder, rituelle Gebete), siehe Metzler-Literatur-Lexikon, S. 75. [Anm. d. Komm.] Sanskrit ›Wissen‹; auch Bezeichnung des umfangreichen literarischen Corpus, in dem das altindische religiöse Wissen seinen Niederschlag gefunden hat. [Anm. d. Komm.] Gonda, Stylistic repetition in the Veda. A. a. O., S. 27–31. [Anm. v. R.J.] – Die Formulierung »binary structures« findet sich a. a. O., S. 28. [Anm. d. Komm.] Nias: Insel im Indischen Ozean. [Anm. d. Komm.] Siehe Steinhart, Niassche teksten. [Anm. v. R.J.] – Das (von Jakobson geringfügig veränderte) Zitat stammt aus Gonda, Stylistic repetition in the Veda, S. 30, der sich bei seinen Beobachtungen zu den Litaneien und Balladen von Nias auf Steinharts kommentierte zweisprachige Ausgabe stützt. [Anm. d. Komm.]
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In seiner grundlegenden Monographie über den Parallelismus in der finnisch-karelischen Volksdichtung hat Steinitz 45 die Anfänge des wissenschaftlichen Interesses an diesem Problem nachgezeichnet.46 Es ist äußerst bemerkenswert, daß die frühesten Verweise auf den dichterischen Parallelismus im Finnischen aus einem Vergleich mit der biblischen Dichtung hervorgingen und daß die frühesten Aussagen über die Ähnlichkeit beider Muster von Cajanus und Juslenius lange vor Lowths Hebraica gemacht wurden.47 Trotz der wachsenden Begeisterung für die finnische Folklore in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts fiel ihre verbale Struktur aus dem Gesichtskreis der einheimischen und westlichen Forschungsinteressen heraus. Der Dichter Longfellow dagegen erfaßte in Anton Schiefners deutscher Übertragung der Kalevala 48 (1852) 49 den parallelistischen Stil des Originals und benutzte ihn in seinem Song of Hiawatha (1855).50 45 Wolfgang Steinitz (1905–1967), Finnougrist mit dem Schwerpunkt ostjakische (chantische) Sprache und Folklore, langjähriger Freund von Roman Jakobson (Bekanntschaft im schwedischen Exil, 1940–1941); vgl. Leo, Leben als Balance-Akt. Wolfgang Steinitz. Kommunist, Jude, Wissenschaftler. R. Jakobson hat das Geleitwort zum 1. Band seiner Ostjakologischen Arbeiten geschrieben und die Analyse »Der grammatische Bau des Gedichts von B. Brecht Wir sind sie« für seine Festschrift verfaßt. [Anm. d. Komm.] 46 Steinitz, Der Parallelismus in der finnisch-karelischen Volksdichtung, S. 14 f. 47 Cajanus, Linguarum ebraeae et finnicae convenientia, S. 12 f.; Juslenius, »Oratio de convenientia linguae Fennicae cum Hebraea et Graeca«, S. 163: »Inprimis notabilis est Hebraicorum et Fennorum carminum concentus, consistens qua poe¨sin in Periodi cujusvis divisione in duo Hemistichia, quorum posterius variata phrasi, sensum cum priori continet eundem, vel etiam emphatiko´teron. Si vero contingit plura poni membra, aut partium est enumeratio, aut gradatio orationis« [›Besonders bemerkenswert ist die Übereinstimmung der hebräischen und der finnischen Lieder, die, sofern man überhaupt von Dichtung sprechen kann, in der Teilung jedweder Periode in zwei Halbverse besteht, von denen der spätere Teil unter Variation des Ausdrucks den selben Sinn wie der frühere hat, oder sogar denselben Sinn mit mehr Nachdruck ausdrückt. Wenn es dazu kommt, daß mehrere Glieder gesetzt werden, ist es entweder eine Aufzählung von Teilen oder eine Steigerung der Rede.‹] Diese Beobachtungen wurden fortgeführt von Porthan, De poe¨si fennica. 48 Kalevala: das finnische Nationalepos, zusammengestellt und literarisch überarbeitet von Elias Lönnrot aufgrund der von ihm gesammelten Volksdichtung (erste Auflage 1835, erweiterte Fassung 1849). Besteht aus mehr als 22000 Versen, die sich in 50 Gesänge gliedern. Kalevala stellte einen Wendepunkt für die finnischsprachige Kultur dar und wurde zu einer bedeutenden Komponente der finnischen Nationalidentität. Weitere künstlerische Bearbeitung u. a. in der Musik von Jan Sibelius (1865– 1957) oder in den Jugendstil-Illustrationen des Malers Akseli Gallen-Kallella (1865– 1931). Als beste deutsche Übersetzung gilt die von Lore und Hans Fromm: Kalevala. Das finnische Epos des Elias Lönnrot. Siehe auch: DuBois, Finnish folk poetry and the Kalevala; Fromm, Art. »Kalevala«; Kaukonen, »Die dichterische Welt des Kalevala«;
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In den sechziger Jahren rückte das Wesen der dichterischen Sprache des Finnischen wieder in das Blickfeld der Forschung. Die grammatische Komposition der parallelistischen Verspaare der Kalevala kam in Ahlqvists 51 Dissertation »Die finnische Poetik aus linguistischer Perspektive« zu einem Zeitpunkt zur Darstellung, als noch kein anderes System des Parallelismus eine ähnliche Behandlung erfahren hatte.52 Doch Steinitz war siebzig Jahre später der erste, der eine durchgehend wissenschaftliche »Grammatik des Parallelismus« vollendete, wie er selbst die Aufgabe seiner Untersuchung der epischen, lyrischen und magischen Lieder des berühmten finnisch-karelischen Sängers Arhippa Perttunen umschrieben hatte.53 Es handelt sich um eine Pionierleistung nicht nur auf dem finnisch-ugrischen Gebiet, sondern auch, und ganz besonders, für die Methode der strukturalen Analyse des grammatischen Parallelismus.54 Die syntaktischen und morphologischen Aspekte dieses poetischen Verfahrens werden in Steinitz’ Monographie bündig dargestellt, während ihre Verknüpfungen und die diversen semantischen Assoziationen zwischen den parallelisierten Zeilen und ihrer Komponenten nur flüchtig betrachtet werden. Der Forscher enthüllte die Mannigfaltigkeit der grammatischen Beziehungen zwischen den parallelisierten Versen, aber die Verknüpfung der struktural verschiedenen Verspaare und ihrer charakteristischen Funktionen innerhalb eines größeren Kontextes verlangt eine selbständige und in sich geschlossene Behandlung eines gegebenen Liedes in seiner Gesamtheit, wodurch die als ungepaart angesehenen, isolierten Zeilen ebenso eine neue und nuanciertere Deutung bezüglich ihrer Stellung und ihrer Rolle erfahren würden.
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Schellbach-Kopra, »Kalevalametrum und Kalevalasprache als Charakteristika des Finnischen«; The Kalevala and the world’s traditional epics; u. a. [Anm. d. Komm.] Kalewala: das National-Epos der Finnen, nach der zweiten Ausg. ins Deutsche übertragen v. Anton Schiefner, Helsingfors: Frenckell 1852. [Anm. d. Komm.]. »The Song of Hiawatha« [›Das Lied von Hiawatha‹]: Versepos von Henry Wadsworth Longfellow (1807–1882) in ungereimten trochäischen Vierhebern nach dem Vorbild von Kalevala komponiert, der Hauptheld genannt nach dem historischen Indianerhäuptling. [Anm. d. Komm.] Ahlqvist, August Engelbrekt (1826–1889) – bedeutender finnischer Sprachwissenschaftler und Dichter, Nachfolge Lönnrots auf dem Lehrstuhl für finnische Sprache und Literatur. [Anm. d. Komm.] Ahlqvist, Suomalainen runousoppi kielelliseltä kannalta; eine revidierte und verbesserte Version – »Suomalainen runo-oppi« – wurde aufgenommen in sein Werk Suomen kielen rakennus I. Steinitz, Der Parallelismus in der finnisch-karelischen Volksdichtung, S. XII. Vgl. Jakobsons Behandlung von Steinitz’ Parallelismus-Buch im Rahmen seiner Sammelrezension »Aktuelle Aufgaben der Bylinenforschung«, bes. S. 62 f. [Anm.d. Komm.]
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Angeregt von Steinitz’ Forschungen,55 richtet Austerlitz in seiner sorgfältigen Untersuchung der ostjakischen und wogulischen 56 Metrik, die Hauptaufmerksamkeit auf »parallele Strukturen«. Doch während Steinitz in seinem Werk von 1934 Fragen offen ließ, war Austerlitz’ Analyse des ob-ugrischen Parallelismus, wie er sagt, »automatisch auf die formalen Eigenschaften des Materials beschränkt« und weckte folglich nicht die Erwartung, »Semantik oder alles, was jenseits der Grammatik liegt, zu enthalten«.57 Die ebenso automatische Beschränkung der Untersuchung auf die unmittelbare kontextuelle Umgebung schafft eine künstliche Kluft zwischen den zusammenhängenden und den angeblich isolierten Zeilen, was nach der scharfsinnigen Bemerkung eines Kritikers hätte vermieden werden können, »wenn die Anordnung der Zeilen innerhalb des Baus eines Gedichtes als Ganzes in der Präsentation dominiert hätte«.58 Austerlitz’ Bemerkungen zu den ungarischen Spuren des dichterischen Parallelismus 59 und Steinitz’ Bezugnahmen auf ähnliche Verfahren in der westfinnischen und mordwinischen 60 mündlichen Dichtung [oral poetry] 61 erlauben Vermutungen zu einer gemeinsamen finnisch-ugrischen oder sogar uralischen Tradition, wie es Lotz in seiner Deutung eines sajan-samojedischen 62 Liedes nahelegt.63 Die mündliche Dichtung verschiedener Turkvölker demonstriert einen streng parallelistischen Kanon, der vermutlich gemeinsamen Urˇ irmunskijs 64 weitläufige Darstellungen sprungs ist, wofür Kowalskis und Z 55 Steinitz, Der Parallelismus in der finnisch-karelischen Volksdichtung, und ders., Ostjakische Volksdichtung und Erzählungen aus zwei Dialekten, Bd. 1 u. Bd. 2, Nr. 1. 56 Ostjaken (heutige Selbstbenennung: Chanten, ca. 22.000) und Wogulen (Mansen, ca. 8.000): in Sibirien auf dem Fluß Ob lebende Völker, deren Sprache zusammen mit dem Ungarischen den ugrischen Zweig der finnisch-ugrischen Sprachfamilie bilden. [Anm. d. Komm.] 57 Austerlitz, Ob-Ugric Metrics S. 8. Vgl. »die methodologische Frage« eines Rezensenten zur Scheu, »semantische Kriterien« in die »Analyse der strukturalen Rekurrenz und des Parallelismus« einzubeziehen: Fischer [Rez.], Ob-Ugric Metrics, S. 339 f. 58 Hymes [Rez.], Ob-Ugric Metrics, S. 575. 59 Austerlitz, Ob-Ugric Metrics, S. 125. 60 Mordwinen: ein finnougrisches Volk im Wolgaraum. [Anm. d. Komm.] 61 Steinitz, Der Parallelismus in der finnisch-karelischen Volksdichtung, § 3, S. 13. 62 Sajan-samojedisch: Kamassisch und Matorisch, ausgestorbene Sprachen des südlichen Zweiges der samojedischen Sprachen, nach dem Sajangebirge genannt. Die samojedischen Sprachen bilden zusammen mit den finnougrischen die uralische Sprachfamilie. [Anm. d. Komm.] 63 Lotz, »Kamassian Verse«. ˇ irmunskij, Viktor Maksimovicˇ (1891–1971) – russischer Germanist und Turko64 Z loge mit dem Schwerpunkt Sprach- und Literaturwissenschaft. [Anm. d. Komm.]
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einleuchtende Zeugnisse anführen.65 Das älteste Zeugnis dieser Volksepik, das oghusische 66 Kitab-i Dede Qorqut [›Das Buch des Dede Korkut‹], stammt aus dem sechzehnten Jahrhundert.67 Je älter die Eigenschaften sind, die wir in den kulturellen Mustern eines Turkvolks beobachten, um so stabiler ist das parallelistische Fundament der einheimischen mündlichen Dichtung, besonders im Epischen. Obwohl diese bindende Matrix der Turksprachen viele gemeinsame Züge mit den finnisch-ugrischen Systemen aufweist, gibt es ebenso frappante Unterschiede. Eine intensive strukturale Analyse des Parallelismus in seiner Funktion für die Folklore einzelner Turkvölker ist eine dringende linguistische Aufgabe. In einem Bericht, der durch zahlreiche Beispiele belegt wird und der sich an Steinitz’ Klassifikation des finnisch-karelischen Materials orientiert, hat Poppe 68 gezeigt, daß der Parallelismus auch in der mündlichen Dichtung aller mongolischen Völker 69 auftritt, obwohl diese Eigenschaft von Erforschern der mongolischen Literatur und Folklore gewöhnlich übersehen worden ist. Somit zeigt der Großteil des ausgedehnten uralaltaischen Gebiets eine mündliche Tradition, die auf dem grammatischen Parallelismus basiert, und sowohl die konvergenten wie die divergenten Züge müssen durch eine tiefgreifende vergleichende Studie seiner regionalen Varianten herausgeschält werden.
III Die einzige lebendige mündliche Tradition in der indo-europäischen Welt, die den grammatischen Parallelismus als grundlegenden Modus einsetzt, um aufeinanderfolgende Verse miteinander zu verketten, ist die russische Volksdichtung, und zwar Lieder wie Rezitative.70 Dieses Bauprinzip ˇ irmunskij, »Ritmiko-sin65 Kowalski, Ze studjo´w nad forma˛ poezji ludo´w tureckich; Z taksicˇeskij parallelism kak osnova drevnetjurskogo narodnogo e˙picˇeskogo sticha«, und eine deutsche Version des letzteren Aufsatzes: Schirmunski, »Syntaktischer Parallelismus und rhythmische Bindung im alttürkischen epischen Vers«. 66 Oghusisch: der südwestliche Zweig der Turksprachen. [Anm. d. Komm.] ˇ irmunskij, »Oguzskij geroicˇeskij e˙pos i ›Kniga Korkuta‹«. 67 Z 68 Poppe, Nikolaj Nikolajevicˇ / Nikolaus (1897–1991): einer der größten Altaisten des 20. Jh., Autor von ca. 50 Monographien und Hunderten Aufsätzen zu mongolischen, türkischen und mandschu-tungusischen Sprachen und deren Folklore. [Anm. d. Komm.] 69 Poppe, »Der Parallelismus in der epischen Dichtung der Mongolen«. 70 In der Folklore anderer slavischer Völker nimmt der Parallelismus einen viel beschränkteren Platz ein, trotz seiner Relevanz in bestimmten dichterischen Genres wie etwa in den ukrainischen dumy oder in den südslavischen lyrischen Liedern; vgl. Peukert, Serbokroatische und Makedonische Volkslyrik, S. 146–58.
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der russischen Folklore wurde zuerst in einem Aufsatz über die Kalevala 71 erwähnt, der unter »Miszellen« anonym in einer populären Petersburger Zeitschrift 1842 mit einem beredten Untertitel veröffentlicht wurde: »Die Identität der Grundlagen im hebräischen, chinesischen, skandinavischen und finnischen Versbau und gleichermaßen in der Verskunst der russischen Folklore – der Parallelismus«.72 Vom finnischen Kanteletar 73 heißt es, daß es »in *Rhythmus und Aufbau« (ladom i skladom) stark den russischen Volksweisen gleiche.74 Der »Aufbau« des Verses ist vollkommen derselbe wie in den archaischen russischen Liedern. 〈…〉. Anscheinend hat bisher niemand die äußerst interessante Tatsache bemerkt, daß der »Aufbau« unserer Volkslieder zu den ursprünglichsten Erfindungen der Menschheit im Gebiet der Wortmusik 71 Anon., »Kalevala, finskaja jazycˇeskaja e˙popeija«. Frau Dagmar Kiparsky machte uns freundlicherweise darauf aufmerksam, daß dieser Artikel bezüglich der Thematik der finnischen Volkslieder und der Feststellung der Schwierigkeit bei ihrer Übersetzung Xavier Marmiers Grundriß »De la poe´sie finlandaise« [›Über die finnische Poesie‹] folgt; dieser legt freilich keine vergleichende Studie des Parellelismus vor, sondern beschränkt seine Beobachtungen zum finnischen Verfahren auf die folgende kurze Bemerkung: »Ces vers sont, en outre, compose´s en grande partie par un proce´de´ de paralle´lisme, c’est-a`-dire que le second vers de chaque strophe re´pe`te en d’autres termes ou repre´sente avec d’autres nuances la pense´e ou l’image trace´e dans le premier, et il y a parfois dans ces deux vers, qui sont comme le double e´cho d’un meˆme sentiment, qui se fortifient l’un par l’autre et s’en vont sur la meˆme ligne sans se confondre un charme inde´finissable et impossible a` rendre« (S. 96). [Anm. v. R.J.] – Dt. Übs.: ›Diese Verse sind unter anderem zum großen Teil nach dem Verfahren des Parallelismus komponiert, d. h. der zweite Vers jeder Strophe wiederholt in anderen Worten oder repräsentiert mit anderen Nuancen die Gedanken oder Bilder, die im ersten skizziert werden, und manchmal gibt es in diesen zwei Versen, die wie ein doppeltes Echo desselben Gefühls sind, die einander verstärken und die auf derselben Linie voranschreiten ohne durcheinander zu geraten, einen schwer definierbaren und unübersetzbaren Zauber‹. [Anm. d. Komm.] 72 Jakobson übersetzt den Untertitel recht frei ins Englische und gibt ihn zudem nicht vollständig wieder. Hier der komplette Text (gleich in möglichst originalgetreuer deutscher Übersetzung): ›Die Identität der skandinavischen, finnischen, nordslavischen und litauischen Mythologie. – Die Identität der Anfänge /Grundlagen im hebräischen, chinesischen, skandinavischen, finnischen und volkstümlich russischen Versbau. – Der Parallelismus. – Die Alliteration.‹ (Anon., »Kalevala, finskaja jazycˇeskaja e˙popeija«, S. 33.) [Anm. d. Komm.] 73 Die Kanteletar taikka Suomen kansan vanhoja lauluja ja virsiä [›Kanteletar, oder alte Lieder und Choräle des finnischen Volks‹] sind eine 1840 veröffentlichte Sammlung finnischer lyrischer und lyrisch-epischer Volkslieder, nach Kalevala das zweite kompilatorische Hauptwerk von Elias Lönnrot. Vgl. Kaukonen, »Elias Lönnrots Kanteletar«. [Anm. d. Komm.] 74 Anon., »Kalevala, finskaja jazycˇeskaja e˙popeija«, S. 59.
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gehört und sich einerseits eng mit der Poetik der skandinavischen Skalden und finnischen Rhapsoden (bjarmskich bajanov), anderseits mit dem Versbau der alten Hebräer und der heutigen Chinesen verbindet. Bis zur Einführung der gelehrten Wortmusik, also des Taktmaßes 〈…〉, bildeten, wie es scheint, zwei natürlich harmonische Prinzipien die Grundlage des Gesangs, der Parallelismus und die *Alliteration.75 Als Parallelismus wurde anfangs eine besondere Eigenschaft bezeichnet, die den Bibelkommentatoren im hebräischen Versbau aufgefallen war, und die darin besteht, daß der zweite oder dritte Vers einer Strophe fast immer eine Deutung oder eine Paraphrase oder eine einfache Wiederholung eines Gedankens, einer *Figur oder einer Metapher darstellt, die im ersten Vers oder in den ersten Versen enthalten ist. Nirgends kann man bessere Beispiele für diese ursprüngliche Methode des Versbaus in einer solchen Fülle finden als in unseren russischen Liedern, deren Aufbau völlig auf dem Parallelismus beruht.76
Der Verfasser fügt einige Beispiele und Kommentare zu ihrem teils metaphorischen, teils synonymen Aspekt an; er bemerkt, daß solche Konstruktionen, die in der russischen Volksdichtung zu Tausenden zu finden sind, ihr Wesen schlechthin ausmachen. »Das ist keineswegs eine Laune oder ein Barbarismus, sondern es handelt sich um die geistreiche Beachtung der inneren, unauflöslichen Verbindung zwischen Gedanke und Laut; oder vielleicht besser um ein unbewußtes, vom Instinkt des ursprünglichen Menschen eingegebenes Gefühl für eine musikalische Logik der Gedanken und eine musikalische Logik der Laute, die ihnen entsprechen.« 77 Dieser Aufsatz ist besonders bemerkenswert, weil er einer Epoche angehört, die den finnischen Parallelismus gewöhnlich außer acht ließ, der sogar noch in Elias Lönnrots 78 Vorwort in der Erstausgabe der Kalevala von 1835 unbedacht blieb.79
75 Das zitierte skandinavische Analogon betrifft anscheinend nur die Alliteration. 76 Anon, »Kalevala, finskaja jazycˇeskaja e˙popeija«, S. 60 f. [Anm. v. R.J.] – Die Übersetzung gibt möglichst genau den Wortlaut des russischen Originals wieder; Jakobsons englische Übersetzung der Passage ist an einigen Stellen ungenau. [Anm. d. Komm.] 77 A. a. O., S. 62. [Anm. v. R.J.] – Auch hier richtet sich die Übersetzung der Passage (im Unterschied zu Jakobsons relativ freier englischer Übertragung) möglichst genau nach dem russischen Original. [Anm. d. Komm.] 78 Lönnrot, Elias (1802–1884) – eine der bedeutendsten Figuren in der Zeit des nationalen Erwachens Finnlands: Arzt, Schriftsteller, Lexikograph, der erste Sekretär der 1831 gegründeten Finnischen Literaturgesellschaft (Suomalaisen Kirjallisuuden, SKS), Schöpfer des finnischen Nationalepos Kalevala und der Sammlung finnischer Volkslieder Kanteletar. [Anm. d. Komm.] 79 Steinitz, Der Parallelismus in der finnisch-karelischen Volksdichtung, S. 17.
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Dreißig Jahre später führte Olesnickij in einer Arbeit über den Rhythmus und das Metrum im Alten Testament in Zusammenhang mit Lowths Theorie des parallelismus membrorum weitere orientalische Belege der gleichen architektonischen Gestaltung an, die sich in ägyptischen Inschriften, in vielen Stellen des Veda und mit besonderer Beständigkeit in chinesischer Dichtung beobachten lassen. Er beschloß seine Übersicht mit einer beiläufigen Bemerkung über »den reichhaltigen Parallelismus, der in allen unseren Volksweisen und Bylinen 80 begegnet«, und zitierte als Beispiel zwei längere Stellen aus russischen Historienliedern.81 In seinen detaillierten Untersuchungen zum Sprachbau der russischen Volksweisen griff Sˇafranov 82 Olesnickijs Ansicht an, daß der Parallelismus nicht zu den poetischen Formen gehöre 83 und kehrte zur Unterscheidung des anonymen Autors zwischen Rhythmus (lad ) und Bau (sklad ) des russischen Liedes zurück, wobei er dem Bau rhetorische, dem Rhythmus musikalische Grundlagen zuwies 84 und auf dem relativ autonomen Charakter beider Faktoren bestand.85 Er entdeckte in der musikalischen Folklore des Russischen zwei miteinander verbundene konstitutive Eigenschaften – Wiederholung und Parallelismus, letzterer beinahe so zentral wie in der frühhebräischen Lyrik 86 – und skizzierte eine kurze und näherungsweise linguistische Aufzählung verschiedener parallelistischer Muster.87 Sˇtokmars Einwurf, daß in einigen Genres des russischen Volksliedes, besonders in den Bylinen, »Wiederholungen und Parallelismus keine so bemerkenswerte Rolle spielen«, ist verfehlt, da der Parallelismus gerade in der Struktur der Epen und in der Verknüpfung ihrer Verse eine vorherrschende Rolle spielt.88 Es mag erstaunlich scheinen, daß in den mehr als fünfundachtzig Jahren, die uns von Sˇafranovs Entwurf trennen, keine systematische Anstrengung unternommen wurde, um das System des russischen grammaˇ irmunskijs Monographie über die tischen Parallelismus auszuloten. In Z Geschichte und Theorie des Reims behandelt das Kapitel »Der Reim in 80 Byline [wörtl. ›Ereignis (der Vergangenheit)‹]: Gattungsbezeichnung russischer Heldenlieder. [Anm. d. Komm.] 81 Olesnickij, »Rifm i metr v vetchozavetnoj poe˙zii«. 82 Sˇafranov, »O sklade narodno-russkoj pesennoj recˇi, rassmatrivaemoj v svjazi s napevami«. 83 A. a. O., Bd. 202, S. 233 f. 84 A. a. O., Bd. 202, S. 256 f. 85 A. a. O., Bd. 205, S. 99. 86 A. a. O., Bd. 205, S. 84 f. 87 A. a. O., Bd. 205, S. 101–104. 88 Sˇtokmar, Issledovanija v oblasti russkogo narodnogo stichoslozˇenija, S. 116.
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der Byline« das *Homoioteleuton, ein typisches Nebenprodukt des morphologischen, speziell epiphorischen Parallelismus, ohne die allgemeinen Probleme der parallelistischen Textur in der russischen epischen Folklore zu betrachten, obwohl auslautende phonemische Entsprechungen nur in diesem Rahmen eine gründliche Behandlung erfahren können.89 Die Statistik gereimter Zeilen 90 ist ohne numerische Daten zu allen Formen des Parallelismus in den Bylinen kaum informativ. Ich habe andernorts die mannigfaltigen semantischen Bezüge zwischen zwei parallelen Teilsätzen in den russischen Hochzeitsliedern nachgewiesen.91 Die Synonymie in parallelen Versen wurde in Evgen’evas kürzlich erschienenem Buch über die Sprache der mündlichen Dichtung berührt.92 Doch gewöhnlich unterschätzt oder mißachtet man im gegenwärtigen Schrifttum über die russische Folklore noch immer die Funktion, die dem grammatischen Parallelismus im semantischen und formalen Bau der mündlichen Epen und Gedichte zukommt. Vor dem Versuch einer methodischen Abhandlung über die ganze Reichweite dieses Themas unter besonderer Berücksichtigung der spezifischen Aspekte, die in bestimmten dichterischen Genres hinzukommen, muß man die komplexe parallelistische Textur eines einzelnen Liedes untersuchen, um das konkrete Zusammenspiel der mannigfaltigen Verfahrensweisen mit ihren je besonderen Aufgaben und Zielen aufzuzeigen.
IV Die berühmte Sammlung russischer, meist epischer Volkslieder, die von dem oder durch den ansonsten unbekannten Kirsˇa Danilov im 18. Jahrhundert irgendwo in Westsibirien aufgezeichnet wurde, enthält einen ˇ irmunskij, Rifma, ee istorija i teorija, S. 263–296. 89 Z 90 A. a. O., S. 264. 91 Jakobson, »Linguistics and poetics«, S. 40 f.; vgl. auch ders., »Poe˙zija grammatiki i grammatika poe˙zii«, S. 67–69 sowie »Poetry of Grammar and Grammar of Poetry«, S. 91 f., wo eine russische Volksparodie auf den parallelistischen Stil (»Foma und Ere¨ma«) und die Beförderung des antithetischen Parallelismus zwischen Zeilen zum Konstituenten der Handlung einer Ballade besprochen wird (»Vasilij und Sofija«). [Anm. v. R.J.] – Vgl. die deutschen Übersetzungen: »Linguistik und Poetik«, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 189 f., »Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie«, übs./komm. v. Donat, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 265–270, sowie »Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie«, übs. v. Hartner /Raible, S. 251 f. [Anm. d. Komm.] 92 Evgen’eva, Ocˇerki po jazyku russkoj ustnoj poe˙zii v zapisjach XVII–XX vv., S. 277– 281.
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knappen Liedtext Och v gore zˇit’ nekrucˇinnu byt’ (›Ach, in Gram leben, sich nicht härmen‹), der hier ohne die orthographischen Schwankungen des Manuskripts transliteriert wird und möglichst wörtlich übersetzt ist.93 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21
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A i go´re go´re – goreva´n’ice! A v go´re zˇit’ – nekrucˇinnu byt’, Nago´mu chodı´t’ – ne stydı´tisja, A i de´neg ne´tu – pered de´n’gami, Pojavı´las’ grı´vna – pered zly´mi dnı´. Ne byva´t’ plesˇa´tomu kudrja´vomu, Ne byva´t’ gulja´ˇscˇemu boga´tomu, Ne otro´stit’ de´reva suchove´rchogo, Ne otko´rmit’ ko´nja suchopa´rogo. Ne ute´ˇsiti ditja´ bez ma´teri, Ne skroı´t’ atla´su bez ma´stera. A go´re, go´re goreva´n’ice! A i ly´kom go´re podpoja´salos’, Mocˇala´mi no´gi izopu´tany. A ja´ ot go´rja v temny´ lesa´, A go´re 〈…〉 prezˇde ve´k zasˇe¨l; A ja´ ot go´rja v pocˇe´stnoj pı´r, A go´re zasˇe¨l, – vperedı´ sidı´t; A ja´ ot go´rja na care¨v kaba´k, A go´re vstrecˇa´et – pı´va tasˇcˇ´ıt; Ka´k ja na´g to sta´l, nasmeja´lsja o´n. Und Gram, Gram – kleiner Gram! Und in Gram leben – sich nicht härmen, Nackt gehen – sich nicht schämen, Und wenn es kein Geld gibt – ist es vor dem Geld, Wenn eine Münze erschien – ist es vor der Not. Unmöglich für einen Glatzkopf, lockig zu sein, Unmöglich für einen Herumtreiber, reich zu sein, Unmöglich einen Baum mit vertrockneter Spitze wieder wachsen zu lassen, Unmöglich einen dürren Gaul aufzupäppeln, Unmöglich ein Kind ohne Mutter zu trösten, Unmöglich Atlas ohne Meister zu schneiden.
93 Evgen’eva /Putilov (Hgg.), Drevnie rossijskie stichotvorenija sobrannye Kirsˇeju Danilovym, S. 256 u. 474. Vgl. die Kommentare der Herausgeber zu dieser Sammlung und die einzige erhaltene Abschrift, die auf das Ende des 18. Jahrhunderts zurückgeht, S. 514–565 u. 575–586.
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Und Gram, Gram, kleiner Gram! Und mit Streifenbast 94 der Gram gegürtet, Mit Bastfasern 95 die Füße umwunden. Und ich (floh) vor dem Gram in dunkle Wälder, Und der Gram 〈…〉 war immer schon vorher angekommen; Und ich (floh) vor dem Gram zum Ehren-Festmahl, Und der Gram war schon angekommen, – vorne sitzt er; Und ich (floh) vor dem Gram in des Zaren Schenke,96 Und der Gram begrüßt, – trägt Bier aus. Als ich ganz nackt wurde, lachte er (mich) aus.
Die Geschichte eines unglücklichen Burschen (oder Mädchens) 97, der von einem *personifizierten, mythologisierten Gram verfolgt wird, erscheint in vielen russischen lyrisch-epischen Liedern, einige davon vorwiegend episch und andere lyrisch, wie Kirsˇas Version. Die russische Literatur des 17. Jahrhunderts versuchte, die Grenze zwischen geschriebener und mündlicher Literatur zu verwischen. Poetische Texte, die man bis dahin nur von Mund zu Mund weitergegeben hatte, brachte man zu Papier, und so entstanden verschiedene hybride Werke auf der Grenzlinie zwischen Folklore und schriftlicher Literatur, insbesondere die lange »Geschichte vom Gram und Unglück« (Povest’ o Gore i Zlocˇastii), die in einem einzigen Manuskript aus eben diesem späten 17. Jahrhundert erhalten ist.98 Man kann den Erforschern dieses erstaunlichen, in der Versform der mündlichen Epen abgefaßten Gedichtes nur zustimmen, insbesondere Rzˇiga, der den Text bis ins einzelne mit Volksweisen zum Thema Gram 99 verglichen hat, daß nämlich diese Povest’ von der mündlichen Dichtung das alte Motiv immerwährenden Grams übernimmt und es in eine komplexe artistische Synthese von Buchliteratur und Folklore 94 Das russische Wort lyko bezeichnet den streifenförmigen Bast junger Linden, der in Rußland traditionell zur Anfertigung von Kleidungsstücken verwendet wurde. [Anm. d. Komm.] 95 Das russische Wort mocˇalo bezeichnet die durch Einweichen und Zerkleinern des Bastes älterer Linden hergestellten Fasern, aus denen Säcke, aber auch Kleidungsstücke angefertigt wurden. [Anm. d. Komm.] 96 »Des Zaren Schenke«: Redewendung mit Bezug auf das Staatsmonopol auf den Alkoholverkauf. [Anm. d. Komm.] 97 Eigentlich kann der Held des Liedes nur maskulin interpretiert werden – vgl. kak ja na´g to stal ›als ich nackt wurde‹: stal ist 3. Pers. Sg. Prät. mask. (fem.: stala). [Anm. d. Komm.] 98 Siehe Simoni, Povest’ o Gore i Zlocˇastii. Meine Zitate beziehen sich auf den Text S. 74–88. 99 Rzˇiga, »Povest’ o Gore i Zlocˇastii i pesni o Gore«.
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verwandelt.100 Möglicherweise hatte ihrerseits die schriftliche Geschichte aus dem 17. Jahrhundert einen gewissen Effekt auf die Volksweisen dieses Zyklus, obwohl alle Eigenschaften, die die Povest’ mit einigen dieser Lieder teilt, typisch für folkloristische Poetik sind und keines der buchtypischen Elemente, die in dem Manuskript aus dem 17. Jahrhundert vorkommen, in den mündlichen Epen oder Gedichten widergespiegelt wird. Und so ist die Annahme eines starken Einflusses der Volksdichtung auf die schriftliche Geschichte unvergleichlich besser fundiert als die Vermutungen über eine umgekehrte Einflußnahme. Insbesondere ist Rzˇigas Annahme, daß Kirsˇas Variante eine lyrische Komposition sei, die von der Povest’ ausgelöst worden ist,101 ziemlich unwahrscheinlich. Man kann schwerlich zustimmen, daß dort, wo dieses Lied mit der Povest’ übereinstimmt, das erstere »eine klare Ableitung« des letzteren ist.102 Im Gegenteil sind die Eigenschaften, die dieses Lied mit der Povest’ teilt, mit dem ganzen Kontext organisch verbunden und basieren auf traditionellen Prinzipien der mündlichen Poetik, während sie sich in der Povest’ viel sporadischer und inkonsequenter ausnehmen, wobei die gemeinsamen Stellen einem fremden Kontext angepaßt sind. Die folkloristischen Formeln, um die es hier geht, müssen von den Literaten des 17. Jahrhunderts aus der mündlichen Tradition entlehnt worden sein. Einige dieser epigrammatischen Formeln fanden den Weg auch ins Repertoire der Volkssprichwörter. Man vergleiche die Zeilen 1 und 2 des Liedes mit dem von Dal’ angeführten Sprichwort: V go´re zˇit’ – nekrucˇinnu byt’; nagomu chodit’ – ne soromit’sja [›Im Gram leben – sich nicht härmen; nackt gehen – sich nicht schämen‹].103 Außerdem weist Kirsˇas Variante gewisse Motive auf, die sie mit anderen Volksweisen über dasselbe Thema teilt, welche jedoch in der Povest’ fehlen. Der parallelistische Kanon, dem in diesen Beispielen der Gram-Folklore streng gefolgt wird, leidet offensichtlich unter dem Transfer der mündlichen Tradition in den Rahmen der schriftlichen Erzählung und zeigt viele Lücken, heterogene Retouchen und Abweichungen von gewohnten Versformen und ihren Verknüpfungen.104 100 A. a. O., S. 314 f. 101 A. a. O., S. 313. 102 Jakobson bezieht sich auf folgende Formulierung Rzˇigas (hier gleich in deutscher Übersetzung): »In den […] Übereinstimmungen stellt die Liedvariante zweifellos die abgeleitete Erscheinung dar, die Povest’ dagegen die zugrundeliegende.« (A. a. O., S. 312.) [Anm. d. Komm.] 103 Dal’, Tolkovyj slovar’ zˇivogo velikorusskogo jazyka, Bd. 4, S. 276. 104 Es besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen dem durchgehenden, kanoni-
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Hightowers Abriß des chinesischen Parallelismus läßt sich auch auf die russische Volksdichtung anwenden. In beiden Sprachen ist das Verspaar die fundamentale Struktureinheit, und »die erste Wirkung der anderen Spielarten des Parallelismus liegt darin, das wiederholte Muster zu verstärken. Gerade auf diesem zugrundeliegenden Muster bzw. dieser Reihe von Mustern führen die subtileren Formen des grammatischen und lautlichen Parallelismus ihren Kontrapunkt ein, nämlich eine Reihe von Betonungen und Spannungen«.105 Die typische Eigenschaft chinesischer parallelistischer Texte, die der zitierte Sinologe analysiert – die gelegentlichen »isolierten Einzeiler«, die hauptsächlich Anfang und Ende eines ganzen Textes oder seiner Abschnitte signalisieren 106 – kommt ebenso in der russischen Volksdichtung und insbesondere in Kirsˇas Lied vor. Hightower bezeichnet als Abschnitt eine größere Struktureinheit, »die sich dadurch auszeichnet, daß sie sowohl Stufen in der Entwicklung der Handlung markiert als auch gewissermaßen die Form der Doppelverse bestimmt, aus denen er besteht«.107 Ähnliche Beobachtungen über unpaarige Verse zu Beginn der Lieder oder der selbständigen Teile machte Ahlqvist 108 in den finnisch-karelischen Runen.109 Nach Steinitz beginnen zehn von neunzehn epischen Kalevala-Liedern, die um 1830 von dem wichtigsten karelischen Rhapsoden Arhippa Perttunen aufgezeichnet wurden, mit einer nichtparallelen Zeile.110 In der biblischen Dichtung, besonders in den Psalmen, werden »einzelne Zeilen oder monosticha«, wie Driver formuliert, »nur selten angetroffen und dienen dann hauptsächlich dazu, einen Gedanken mit einigem Nachdruck zu Beginn oder manchmal am Ende eines Gedichts auszudrücken«.111 Kirsˇas Lied enthält 21 Zeilen, drei davon ohne angrenzendes Gegenstück. Von diesen drei Zeilen leitet 1 das Lied ein und 21 beschließt es, während 12 den zweiten Abschnitt eröffnet, der sich vom ersten thematisch und durch die grammatische Textur stark abhebt. Obwohl die Zeilen 1 und 12, die die Last des Liedes tragen, variieren, halten sie dennoch
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schen Parallelismus in der russischen mündlichen Tradition und den fakultativen parallelistischen Konstruktionen, die in der frühen russischen Literatur, zum Teil unter dem Einfluß des Psalters, vorkommen. Vgl. Lichacˇev, »Stilisticˇeskaja simmetrija v drevnerusskoj literature«. Hightower, »Some Characteristics of Parallel Prose«, S. 69. A. a. O., S. 61. A. a. O., S. 68. [Anm. d. Komm.] Ahlqvist, Suomalainen runousoppi, S. 177. Bezeichnung für finnische Volkslieder. [Anm. d. Komm.] Steinitz, Der Parallelismus in der finnisch-karelischen Volksdichtung, §11. Driver, An introduction to the literature of the Old Testament, S. 364.
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an dem parallelistischen Muster der ganzen Komposition fest: Die Eingangszeile des ersten Abschnittes hängt nicht mit irgendeiner andern Zeile dieses Abschnittes zusammen, stimmt jedoch mit der fast identischen Eröffnung des nächsten Abschnittes überein. Diese beiden Zeilen weisen darüber hinaus einen internen, grammatischen Parallelismus in ihren Halbversen auf, ein Verfahren, das die dazwischenliegenden Zeilen, also alle Zeilen des ersten Abschnittes, miteinander teilen. Die wiederholte *Apostrophe gleicht jenem Typ der Einzelverse, deren Vorherrschaft Steinitz gesehen hat,112 und der aus einem Nomen im Nominativ mit einer Apposition besteht. Solche Substantive sind meistens »Eigennamen, persönliche oder mythologische«, und go´re goreva´n’ice [›Gram kleines Grämen‹] nähert sich der letzteren Kategorie.113 Die syntaktische Unabhängigkeit der Zeilen 1 und 2 lenkt die Aufmerksamkeit auf die interne Struktur des Verses, vor allem auf den Parallelismus seiner Halbverse. Die Beschwörung des Grams, der sich dann zur Hauptfigur des Liedes entwickelt, eröffnet die erste Zeile, und der interne Parallelismus wird durch die Reduplikation go´re go´re [›Gram Gram‹] und die *etymologische Figur (*Paregmenon) verstärkt, welche die Apposition goreva´n’ice mit dem Bezugselement go´re verbindet.114 Tautologische Varianten dieses Nomens treten im Russischen bei *emotiver Rede häufig 112 Steinitz, Der Parallelismus in der finnisch-karelischen Volksdichtung, §§ 12 u. 14. 113 Zu Gore als »eine[r] mythologische Figur« in der Povest’ und in den Liedern siehe Kostomarov, »O mificˇeskom znacˇenii Gorja-Zlocˇastija«, und Harkins, »The Mythic Element in the Tale of Gore-Zlocˇastie«. Die beiden Synonyme gore ›Gram‹ und zlocˇastie ›Unglück‹ werden durch die Konjunktion i ›und‹ im Titel der Povest’ verbunden, nur um die Bedeutung des Paars zu verstärken: 292 A mne, go´rju i zlocˇa´stiju, ne v puste´ zˇe zˇit’ [›Und ich, Gram und Unglück, darf nicht umsonst leben (d. h. ich muß jemanden quälen)‹]. Vgl. Evegen’eva, Ocˇerki po jazyku russkoj ustnoj poe˙zii, S. 271. Das zweite Synonym ist eine Apposition zum ersten (273 podslu´ˇsalo go´re-zlocˇastie [›Das Gram-Unglück hat (es) belauscht‹], 394 ute´ˇsil on go´re-zlocˇastie [›er hat das Gram-Unglück getröstet‹]), zu einem *Epitheton abwandelbar – 378, 438, 463 go´re zlocˇastnoe [›unglücklicher Gram‹] – oder umgekehrt – 351 zlocˇastie gorı´nsko´e [›vergrämtes Unglück‹] – oder zu einem einfachen Adjektiv: 298, 315 Ino ZLo to gore IZLukavilos’ [›Dann wurde dieser böse Gram hinterlistig‹] und 432 a ˇcto ZLOe gore napered’ ZasˇLO [›und daß der böse Gram noch früher ankam‹]. Andererseits lassen sich gekoppelte Synonyme leicht in zwei unabhängige personae aufspalten: 280 i ja´ ich, go´re, peremu´drilo [›und ich, Gram, habe sie überlistet‹], 281 ucˇinı´sja im zlocˇa´stie velı´koe [›Da passierte ihnen das große Unglück‹]; oder 288 i ja´ ot nich, go´re, minova´losja [›Und ich, Gram, wich ihnen aus‹], 289 a zlocˇa´stie na ich v 〈sic〉 mogile osta´losja [›Das Unglück ist auf /in ihrem Grab geblieben‹]. 114 Austerlitz, Ob-Ugric Metrics, S. 80, skizziert eine »wichtige Unterklasse« unpaariger Zeilen, »welche die etymologische Figur enthalten«.
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auf: go´re go´r’koe, go´re gorju´ˇcee, go´re-go´rjusˇko, etc.; Povest’: 296 Govorı´t sero go´re gorı´nskoe [›Da sagt der graue vergrämte Gram‹]. Das denominative Verb goreva´t’ ›[sich] grämen‹ von go´re ›Gram‹ erzeugte seinerseits ein *deverbatives Nomen goreva´n’e ›das [sich] Grämen‹, das hier in der diminutiven Form goreva´n’ice auftritt, was dem virtuellen nomen agentis ein weicheres, fast liebkosendes *nomen actionis gegenüberstellt.115 Und so wird die *oxymorale Färbung, die sich in den folgenden Versen offenbart, gleich zu Beginn nahegelegt. Jeder Kenner von Sergej Esenins Dichtung begreift sofort, weshalb diese sich widersprechende Phrase zu seiner Lieblingslosung werden konnte (eseninskoe slovco).116 Der Nominativ go´re [›Gram‹], verbunden durch ein Paregmenon mit der abgeleiteten, ebenso nominativischen Form goreva´n’ice derselben Zeile, wird anderseits durch ein *Polyptoton mit dem *Lokativ v go´re [›im Gram‹] verbunden, das dieselbe metrische Stellung in der zweiten Zeile einnimmt wie das einleitende go´re in der ersten. Der Gram, im Finale des Liedes als eine unüberwindliche böse Macht porträtiert, wird in den einleitenden Versen, die diese Erscheinung (go´re-go´re) zuerst in einen bloßen Prozeß (goreva´n’ice [›kleines Grämen‹]) und dann in eine einfache Adverbialbestimmung der Art und Weise (v go´re [›im Gram‹]) verwandeln, eher minimiert. Diese stufenweise Abschwächung des kummervollen Themas wird eingesetzt, um das Oxymoron 2 v go´re zit’ – nekrucˇ´ınnu byt’ ›in Gram leben – sich nicht härmen‹ zu rechtfertigen. Gore-krucˇina [›Gram-Kummer‹], s go´rja – s krucˇ´ıny [›aus Gram – aus Kummer‹] kommen im Russischen als gepaarte Synonyme häufig vor: vgl. Povest’ 358: u go´rja u krucˇ´ıny [›beim Gram, beim Kummer‹]. Die Konfrontation der Antonyme ist ein charakteristisches Verfahren des Parallelismus. Diese in den Worten Ku¯kais »geradlinigen Parallelen« nehmen in seinen 29 Typen des Parallelismus den ersten Platz ein und werden von ihm dem Anfänger empfohlen, bevor er sich an andere Arten wagt. Eine Antonymie verbindet jeweils die beiden Halbverse in den Zeilen 2, 3 und 6, 7 und wird in diesem Paar von Doppelversen durch zwei verschiedene Arten der Opposition repräsentiert.117 Die Halbverse in 2 115 Nomen actionis (lat. actio ›Handlung‹): Bezeichnung eines Geschehens, einer Tätigkeit; Nomen agentis (lat. agens ›der Handelnde‹): Bezeichnung des Täters oder Trägers eines Geschehens. Jakobson bezeichnet gore wegen der Personifizierung als ›virtuelles nomen agentis‹, obwohl es eher einen Zustand bezeichnet. [Anm. d. Komm.] 116 Siehe Nikitina, »Iz vospominanij Anatolija Mariengofa«, S. 158. 117 Ihren Unterschied zum Chinesischen hat Janusz Chmielewski eingehend besprochen, »Je˛zyk starochin´ski jako narze˛dzie rozumowania«, S. 125 ff. Vgl. Tchang, Le paralle´lisme dans les vers du Chen King, S. 78–83.
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und 3 stellen Kontradiktorisches 118 einander gegenüber, während die Antonymie der Halbverse 6, 7 auf Konträrem 119 beruht: 120 6 plesa´tomu : kudrja´vomu [›für einen Glatzkopf : lockig‹], 7 gulja´ˇsˇcemu : boga´tomu [›Herumtreiber : reich‹]. 121 Wie Harkins betont, »beschreibt go´re einen physischen, und krucˇ´ına den entsprechenden psychologischen Zustand«.122 Die Möglichkeit oder sogar Notwendigkeit einer subjektiven Gleichgültigkeit gegenüber einer enttäuschenden Realität wird in den Zeilen 2 und 3 bewußt proklamiert, und zwar als eine Einheit von Kontradiktorischem in scharfem *Kontrast zur Unvergleichbarkeit des Konträren, das in den Zeilen 6 und 7 vorgestellt wird. Nekrucˇ´ınnu [›unbekümmert‹] könnte leicht durch ve´selu ›fröhlich‹ oder ra´dostnu ›freudig‹ ersetzt werden (vgl. Povest’ 194: krucˇinovat [›bekümmert‹], sko´rben [›traurig‹], nera´dosten [›nicht freudig‹]), doch verlangt der graduelle, glatte Übergang von der anfänglichen Prahlerei zum Thema des unvermeidlichen Verhängnisses einzelne, negative Ausdrücke und die Litotes, welche die Zeilen 2 und 3 beschließt und eine Stellung zwischen dem abgeschwächten goreva´n’ice [›kleines Grämen‹] (eine typische ›Minution‹ oder ›Meiosis‹ in den Begriffen der lateinischen und griechischen Rhetorik) und dem zunehmend negativen Wortlaut der weiteren Maximen einnimmt.123 Zeile 4 und, in umgekehrter Anordnung, Zeile 5 spielen mit zwei gegensätzlichen Begriffen: Abwesenheit und Anwesenheit von Geld. Mittellosigkeit wird in der ersten Zeile dieses Doppelverses als Teil einer
118 Zwei Begriffe sind kontradiktorisch, wenn sie sich gegenseitig ausschließen, wenn es keine dritte Möglichkeit gibt. Bsp.: ›tot‹ vs. ›lebendig‹, ›Mann‹ vs. ›Frau‹. [Anm. v. I.M.] 119 Zwei Begriffe sind konträr, wenn sie zwei entgegengesetzte Enden einer Skala bezeichnen und somit eine dritte Möglichkeit gegeben ist. Bsp.: ›warm‹ vs. ›kalt‹. [Anm. v. I.M.] 120 Vgl. die wichtige Rolle des Begriffspaars konträr /kontradiktorisch in Jakobson / Stegnano-Picchio, »Les oxymores dialectiques de Fernando Pessoa«, S. 644–647 (dt. Übs. in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 643 u. 647). [Anm.d. Komm.] 121 Sowohl Lowth (De sacra Poesi Hebraeorum, S. XX), in Anwendung auf die Sprüche Salomons, wie in seiner Folge auch später Davis (»Poeseos Sinensis Commentarii«, S. 412), in bezug auf chinesische Maximen, bemerkten, daß sich der antithetische Parallelismus »besonders 〈…〉 für Sprichwörter, Aphorismen und losgelöste Sentenzen eignet«. Nach Lowth rührt »ihre Eleganz, Schärfe und Kraft großenteils aus der antithetischen Form, der Gegenüberstellung der Diktion und des Gefühls«. 122 Harkins, »The mythic element in the tale of Gore-Zlocˇastie«, S. 202. 123 Vgl. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, Bd. 1, S. 145 f. u. 304 f., §§ 259 u. 586–588; Gonda, Stylistic repetition in the Veda, S. 93 f.
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Kontradiktion und in der zweiten Zeile als Teil eines konträren Verhältnisses behandelt: 4 de´neg ne´tu ›kein Geld‹ und 5 zly´mi dnı´ ›Not‹ (vgl. die beiden miteinander verknüpften, parallelen Antithesen von Kontradiktorischem im Sprichwort De´n’gi k boga´tomu, zly´dni k ubo´gomu [›Geld (kommt) zum Reichen, Not zum Armen‹]). Also gehört Zeile 4 zu den vorausgehenden Versen, die auf Kontradiktorischem aufbauen, während Zeile 5 den Gebrauch von Konträrem mit dem nächsten Verspaar teilt. Der ständige Wechsel von gegensätzlichen Begriffen im Verspaar 4–5 dient als Zwischenglied zwischen 2 und 3, mit ihrer tröstenden Einheit von Gegensätzen, und der düsteren, unversöhnlichen Kontrarität der Halbverse in 6 und 7. Der zweite Halbvers von 4 – pered de´n’gami [›vor dem Geld‹] – ist mit dem fröhlichen Ende von 2 und 3 verwandt, während das traurige Vorzeichen – pered zly´mi dnı´ [›vor der Not‹] – Zeile 5 mit den folgenden pessimistischen Propositionen verbindet. Im Verspaar 2–3 sind beide Zeilen, und innerhalb jeder Zeile beide Halbverse, syntaktisch und morphologisch parallel. Alle vier Halbverse schließen mit (oder bestehen aus) einem Infinitiv in einer ähnlichen syntaktischen Funktion. Im Russischen wird die traditionelle Gegenüberstellung zˇ´ıt’ da by´t’ [›leben und sein‹] durch die semantische Verwandtschaft der Verben, durch ihr Homoioteleuton und durch die Formel zˇ´ıl byl [›lebte, war‹] 124 hervorgebracht, die ein uminterpretiertes Überbleibsel des Plusquamperfekts ist.125 Ein gewisser Kontrast der parallelen Formen wird durch den *kopulativen Gebrauch von 2 byt’ [›sein‹] im Gegensatz zu den streng lexikalischen Vollverben 2 zˇit’ [›leben‹] und 3 stydı´tisja [›sich schämen‹] eingeführt. Die reflexive Form des letzten bildet ein weiteres Variationselement. Der Parallelismus wird unterstützt 1) durch die Negation ne, die in beiden Zeilen die zweiten Halbverse eröffnet, 2) durch die phonematische Ähnlichkeit zwischen den Anfängen dieser Zeilen: /avgo´r’e/ ∼ /nago´mu/, und 3) durch das /i/ in allen fünf anderen betonten Silben und dieselbe Sequenz /d’it’/ in beiden Halbversen von 3 (/chod’i´t’/ ∼ /styd’i´t’isa/). In dem von Dal’ zitierten Sprichwort wird diese Lautfigur durch die Entsprechung /nago´mu/ ∼ /soro´m’itca/ ersetzt. Die positional kongruenten und phonematisch identisch betonten Silben 124 Märcheneingangsformel, vgl. »Es war einmal…«. [Anm. d. Komm.] 125 Das Plusquamperfekt im Russischen im 13.–14. Jh. wurde als eine Zusammensetzung des l-Partizips des Hilfverbs byt’ [›sein‹] und des l-Partizips des Vollverbs gebildet; es verschwand im 16.–17. Jh. Die Formel zˇ´ıl byl [›lebte, war‹] und die Partikel bylo [›beinahe‹] sind die Überbleibsel des Plusquamperfekts in der modernen russischen Sprache; dabei interpretiert man heute das ehemalige Hilfsverb als Vollverb ›sein‹, d. h. als Synonym zu zˇ´ıt’ ›leben‹. [Anm. d. Komm.]
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von 2 v go´re und 3 nago´mu gehören zu syntaktisch äquivalenten Ausdrücken: Beide sind adverbiale Bestimmungen in Infinitivkonstruktionen. Das Bild des Grams in der ersten Zeile des Verspaares paßt in der zweiten zu dem ähnlichen und kontiguierenden Motiv der Armut (vgl. das Sprichwort Lı´cho zˇ´ıt’ v nu´zˇe, a v go´re i togo´ chu´zˇe [›Es ist schlecht, in Not zu leben, aber noch schlechter in Gram‹]) und insbesondere zu einem *synekdochischen Bild der Nacktheit. Die semantisch signifikante Entsprechung zwischen go´re [›Gram‹] und nago´mu [›nackt‹] erfährt eine anologe *paronomastische Behandlung in der Povest’: 311 /zanagı´m to go´r’e n’epogo´n’itca/, 312 /da n’ikto´ knago´mu n’epr’iv’a´zˇetca/ [›311 Gram wird einen Nackten nicht verfolgen, 312 und niemand wird einem Nackten auf den Leib rücken‹]. Das Verspaar 2–3 zeigt nach dem Ausdruck Hightowers einen »doppelten Parallelismus«,126 indem es die wechselseitige Symmetrie der Zeilen mit der internen Symmetrie der Halbverse kombiniert. Diese beiden Formen des Parallelismus werden durch eine dritte und noch weitergehende Entsprechung zwischen dem zweiten Halbvers in der ersten Zeile des Verspaares und dem ersten Halbvers in seiner zweiten Zeile ergänzt: 2 nekrucˇ´ınnu by´t’ [›sich nicht grämen‹] und 3 nago´mu chodı´t’ [›nackt gehen‹] bilden eine enge morphologische *Anadiplosis, während auf dieser grammatischen Ebene die Kongruenz der beiden Halbverse in jeder einzelnen Zeile und der entsprechenden Halbzeilen innerhalb des Verspaares hauptsächlich *epiphorisch ist (zum Beispiel hat 3 nago´mu [›nackt‹] weder im zweiten Halbvers derselben Zeile noch im ersten Halbvers von 2 eine morphologische Entsprechung). Die Anadiplosis (styk in der russischen Terminologie), die in der Byline und anderen Arten der russischen Volksdichtung gängig ist, macht aus der zweiten Hälfte des Paares eine Art Fortsetzung der ersten Hälfte: Der Mann, der im Gram leichtherzig wirkt, kann es sich leisten, in Lumpen einherzugehen, ohne sich zu schämen.127 Das entsprechende Verspaar in der Povest’ – 366 a v go´re zˇ´ıt’ – nekrucˇ´ınnu byt’, a krucˇ´ınnu v go´re – pogı´nuti ›Und (wenn einer) in Gram leben muß – muß er sich nicht härmen, Und (wenn er sich) härmt in Gram – (muß einer) untergehen‹ – das auf *chiastischen Antonymen aufbaut (zˇ´ıt’ ∼ pogı´nuti [›leben – sterben‹]; nekrucˇ´ınnu 126 Vgl. Hightower, »Some Characteristics of Parallel Prose«, S. 65. 127 Vgl. in Kirsˇas Byline zum Vol’ch Vseslav’evicˇ: »A vta´pory knjagı´nja pono´s ponesla´, pono´s ponesla´ i ditja´ rodila´« [›Und dann wurde die Fürstin schwanger (wörtl. trug das Tragen), wurde schwanger und gebar ein Kind‹]. Sˇafranov, »O sklade narodno-russkoj pesennoj recˇi«, vergleicht diese Konstruktion mit dem Glied einer Kette, das mit dem vorangehenden und dem nachfolgenden Ring verknüpft ist (Bd. 205, S. 85).
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∼ krucˇ´ınnu [›nicht grämend – grämend‹]), begründet die vorausgehende Zeile durch eine kausale Motivation: ›weil man sonst untergehen würde‹. Im Verspaar 4–5 besteht der zweite Halbvers beider Zeilen aus der gleichen Präposition pered [›vor‹], gefolgt von einer *instrumentalen Pluralform. Diese morphologische und phonematische Entsprechung – /d’e´n’gam’i/ ∼ /zly´m’i dn’i´/ – wird durch die Paronomasie /d’e´n’gi/ ∼ /d’e´n’/, /dn’ı´/ verstärkt.128 Beide Halbverse von 4 sind durch das Polyptoton de´neg / de´n’gami miteinander verknüpft. Die ersten, zueinander antithetischen Halbverse von 4 und 5 enthalten die Synonyme de´n’gi [›Geld‹] und grı´vna [›Münze‹] (*pars pro toto). Die *metathetischen Klangfiguren innerhalb dieser Halbverse – 4 /d’e´n’ek n’e´tu/, 5 /pojav’i´las gr’i´vna/ – stimmen mit dem chiastischen Charakter des ganzen Verspaares überein.129 Unter den ersten sieben Zeilen des Liedes ist die fünfte die einzige, der ein interner Parallelismus abgeht. Dieser Mangel wird durch die außergewöhnliche Kohäsion der beiden Halbverse mit je einem Paar identischer betonter Vokale aufgewogen: zwei /ı´/ ∼ zwei /ı´/. Die Gleichheit aller betonter Vokalphoneme charakterisiert auch die umgebenden Zeilen 4, 6 und 7, doch ist in diesen die Zahl der betonten Vokale auf drei begrenzt; zwei /e´/ + ein /e´/ in 4; zwei /a´/ + ein /a´/ in 6 und 7. Im Verspaar 6–7 stimmt die zweite Zeile syntaktisch und morphologisch vollkommen mit der ersten überein. Jede Zeile enthält die Negation ne und den Infinitiv byva´t’ [›sein (frequentativ)‹], gefolgt von zwei maskulinen Adjektiven im Dativ. Der grammatische Parallelismus der beiden Halbverse gründet auf diesen Adjektiven, die morphologisch äquivalent sind, aber unähnliche syntaktische Funktionen erfüllen. Die vier Dativformen sind durch chiastische Reime untereinander verbunden, 6 plesˇa´tomu [›glatzköpfig‹] ∼ 7 boga´tomu [›reich‹] und 6 kudrja´vomu [›lokkig‹] ∼ 7 gulja´ˇsˇcemu [›sich herumtreibender‹]; im zweiten Paar geht dem praetonischen /u/ ein anlautender *velarer *Verschlußlaut voraus und dem 128 Man könnte hier eine weitere paronomastische Assoziation – welche drei ungerade Halbverse verknüpft – vermuten: 2 /avgo´r’e/ ∼ 3 /nago´mu/ ∼ 5 /gr’ı´vna/. Man erinnere sich hier an Saussures Richtlinie: »Mais si ce doute peut a` tout instant s’e´lever, de ce qui est le mot-the`me et de ce qui est le groupe re´pondant, c’est la meilleure preuve que tout se re´pond d’une manie`re ou d’une autre dans les vers 〈…〉«; siehe Starobinski, »Les anagrammes de Ferdinand de Saussure«, S. 255. [Anm. v. R.J.] – Inzwischen in: Starobinski (Hg.), Les mots sour les mots, S. 123; dt. Übs.: Wörter unter Wörtern, S. 97: »Aber wenn sich jeden Augenblick dieser Zweifel erheben kann, welches das thematische Wort ist und welches die antwortende Gruppe, so ist dies der beste Beweis dafür, daß auf die eine oder andere Weise in den Versen alles einander entspricht«. [Anm. d. Komm.] 129 Weyl, Symmetry, S. 43, definiert dieses Verfahren als ›reflexive Kongruenz‹.
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betonten /a´/ eine *palatalisierte *Liquida. Die semantische Verbindung beider Zeilen besteht aus dem parallelen Hinweis auf zwei unvereinbare konträre Oppositionen, doch während sich die konträre Opposition von ›glatzköpfig‹ und ›lockig‹ von selbst erklärt, wird die verborgenere Antithese von ›faul‹ und ›reich‹ durch den formalen Parallelismus mit der vorangehenden Zeile verstärkt. Die entsprechende Stelle in der Povest’ schwächt den formalen Parallelismus und das typisch folkloristische Spiel mit Antonymen und verwandelt das Verspaar in eine moralisierende Lektion: 410 ne byva´ti bra´zˇniku boga´tu, 411 ne byva´ti kostarju´ v sla´ve do´broj ›Unmöglich für einen Zecher, reich zu sein, Unmöglich für einen Würfelspieler, einen guten Namen zu haben‹. Die beiden Zeilen der Verspaare 8–9 und 10–11 zeigen eine identische syntaktische Kombination der gleichen morphologischen Kategorien. *Genera sind die einzig zugelassenen Variablen, und diese Variation wird ständig ausgenützt: unbelebt neutr. dereva [›Baum‹] ∼ belebt mask. ko´nja [›Pferd‹]; das außergewöhnliche belebte Neutrum ditja´ [›Kind‹] ∼ unbelebt mask. atla´su [›Atlas‹]; belebt fem. ma´teri [›Mutter‹] ∼ belebt mask. ma´stera [›Meister‹]. Jedes Verspaar alterniert zwischen zwei grammatischen Objekten, wobei sich eines auf Belebtes, eines auf Unbelebtes bezieht, und alle vier metaphorischen Bilder bauen das Thema des düsteren Schicksals des Helden auf: 8 und 9 handeln von der Unheilbarkeit kranker Organismen, beide charakterisiert durch zusammengesetzte Adjektive mit der gleichen ersten Komponente sucho- ›trocken-‹; 10 und 11 vergleichen das der Mutter beraubte Kind mit einem Stück edlen Stoffes ohne Meister, und die Lauttextur unterstreicht die Intimität beider abwesender Bindungen durch eine kindlich gefärbte Häufung palatalisierter *Dentale – /n’e ut’e´ˇsit’i d’it’a´ b’ez ma´t’er’i/ 130 – und durch den paronomastischen Bau der zweiten Zeile: 11 /n’eskroı´t’ atla´su b’ezma´st’era/. Der Wortlaut dieser Zeile in der Povest’ – 408 /sˇto n’e kla´st’i skarla´tu b’ez ma´st’era/ ›es ist unmöglich, scharlachrotes Tuch ohne Meister zu schneiden‹ – spiegelt höchstwahrscheinlich den ursprünglichen Wortlaut des fraglichen Verses wider. Rzˇiga behauptet, daß diese beiden Zeilen in Kirsˇas Lied »für sich genommen Verwunderung erregen, weil es unverständlich ist, weshalb sie auf Kind, Mutter und Atlas hinweisen«.131 Er glaubt, die Erklärung in der Povest’ gefunden zu haben, wo der Bursche dieses Verspaar einführt, indem er sich daran erinnert, wie er in der Kindheit von seiner Mutter 130 Die ältere Form in der Povest’, 409 /d’et’a´t’i/, gehört sicherlich zur ursprünglichen Version dieser Zeile. 131 Rzˇiga, »Povest’ o Gore i Zlocˇastii i pesni o Gore«, S. 313.
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gekleidet und bewundert wurde. Doch diese psychologische Rechtfertigung der beiden typischen metaphorischen Zeilen, die auf der grammatischen, semantischen und phonematischen Ebene streng parallel verlaufen (/d’it’a´ b’ezma´t’er’i/ ∼ /atla´su b’ezma´st’era/) und die sich mit dem ganzen Kontext von Kirsˇas Lied unzertrennlich verkettet zeigen, stellt eindeutig eine sekundäre Erfindung dar, die der mündlichen Tradition fremd und anscheinend durch den Schreiber und Leser im 17. Jahrhundert hinzugefügt worden ist. Der Parallelismus benachbarter Halbverse sticht im Verspaar 2–3 mit seinem doppelten Infinitiv in jeder Zeile besonders heraus. Das zweite Paar der Konditionalsätze mit seiner chiastischen Komposition liegt der inneren Symmetrie des Verspaares 4–5 zugrunde. Jede der sechs Zeilen innerhalb der drei folgenden Verspaare enthält nur einen Teilsatz, verteilt hingegen zwei morphologisch äquivalente Formen auf seine beiden Halbverse: die beiden adjektivischen Dative auf 6 und 7, die Genitive des Objekts und des ›prädikativen Attributs‹ auf 8 und 9 (de´reva suchove´rchogo [›Baum mit vertrockneter Spitze‹], ko´nja suchopa´rogo [›Gaul dürrer‹]),132 und die Genitive – einer mit, der andere ohne Präposition – auf 10 und 11 (ditja´ bez ma´teri [›Kind ohne Mutter‹], atla´su bez ma´stera [›Atlas ohne Meister‹]). Die beiden Abschnitte des Liedes unterscheiden sich spürbar in ihrer grammatischen Komposition. Der erste Abschnitt (Zeilen 1–11) enthält zehn Infinitive und nur ein finites Verb (das Präteritum 5 pojavı´las’ [›erschien‹]) gegenüber neun finiten Formen und keinem Infinitiv im zweiten Abschnitt (12–21). Es gibt keine Pronomen in § I und fünf Personalpronomen in § II. Sieht man von den drei Nominativen im ›anakrustischen‹ Eingangsvers 133 zu jedem der beiden Abschnitte ab (1 und 12), so kommen in § II zehn Nominative vor – fünf substantivische und fünf pronominale – und in § I nur einer: 5 pojavı´las’ grı´vna ›eine Münze erschien‹ (um von der Armut verschlungen zu werden). Unter den fünf Verspaaren in § I ist dies der einzige Satz, der nicht ostentativ negativ ist. Der negative Charakter des Diskurses intensiviert sich allmählich. Dem negierten Adjektiv am Ende von 2 folgt ein negiertes Verb am Ende von 3 (eine spezielle Negation durch eine Nexusnegation, wie Otto Jespersen sagen würde) 134. Im ersten Halbvers von 4 fungiert die Negation ne´tu als 132 Opredelenie attributivno-predikativnoe, in den Begriffen von Sˇachmatov, Sintaksis russkogo jazyka, S. 393 f. 133 Jakobson verwendet hier den metrischen Begriff Anakrusis [›Auftakt‹] für die beiden (im Druckbild eingerückten) Verse 1 und 12, die gewissermaßen den Auftakt der beiden Abschnitte bilden. [Anm. d. Komm.]
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Prädikat, und 5 könnte man, wie bereits erwähnt, als implizierte Negation bezeichnen. Alle Sätze der Zeilen 6–11 beginnen mit der Negation ne; überdies beginnen Zeilen 10 und 11 ihren zweiten Halbvers mit der negativen Präposition bez ›ohne‹. In § I werden acht Adjektive verwendet, sechs davon erscheinen ohne Substantiv und zwei fungieren als nachgestellte prädikative Attribute, während alle drei Adjektive von § II vorangestellte Epitheta sind. In § I sind alle sieben Verben der ersten drei Verspaare *intransitiv im Gegensatz zu den vier *transitiven Verben der anderen zwei Verspaare. Die vier Infinitive der letzteren Verspaare sind *perfektiv, alle sechs Infinitive der ersteren Verspaare *imperfektiv. Jede Zeile der fünf Verspaare bezeichnet die Relation zwischen einem gewissen Zustand und dessen Auswirkung, entweder offen: in den *asyndetischen Konditionalsätzen der ersten beiden Verspaare, oder verdeckt: in den drei weiteren Verspaaren, die durch sechs *anaphorische Negationen gekennzeichnet sind (wenn einer glatzköpfig ist, dann…; wenn der Baum eine vertrocknete Spitze hat, dann…; wenn das Kind keine Mutter hat, dann…). Während alle Zeilen der drei ersten Verspaare die *Protasis in ihre ersten Halbverse und die *Apodosis in die zweite verlegen, kehren die letzten beiden Verspaare diese Anordnung um. Die Infinitivkonstruktionen dieser beiden Verspaare lassen das Agens aus, bezeichnen aber hartnäckig das Patiens durch den Genitiv der Substantive. Keine Substantive, sondern nur Dativformen von Adjektiven werden mit den intransitiven Infinitiven der vorausgehenden Verspaare kombiniert. Neben dem Nominativ sind die *merkmalhaltigen *Kasus 135 in den beiden Abschnitten im Lied Kirsˇas unterschiedlich verteilt. Der Akkusativ, der in § I nicht vorkommt, ist in § II durch drei präpositionale Konstruktionen mit Nomen und ihren adjektivischen Attributen vertreten. Es gibt keinen Dativ in § II, während dieser Kasus in § I sechsmal vorkommt und komplett von unabhängigen Adjektiven beansprucht wird, die ihrerseits nur im Dativ erscheinen. Der Instrumental figuriert nur mit einer Präposition in § I und nur ohne Präposition in § II. In § I 134 Hier nimmt Jakobson Bezug auf das klassische Werk von Otto Jespersen (1860– 1943), The philosophy of grammar (1924). Mit Nexus (lat. ›Zusammenknüpfen‹) bezeichnet Jespersen die prädikative Verknüpfung, die er von einem zweiten Typ der Dependenzsyntagmen, nämlich der Junktion (d. h. der attributiven Verknüpfung), unterscheidet. [Anm. d. Komm.]. 135 Merkmalhaltige Kasus: die Kasus, die im Unterschied zum Nominativ bestimmte distinktive Merkmale tragen, siehe Jakobson, »Beitrag zur allgemeinen Kasuslehre«, S. 32 u. 65 f. [Anm. d. Komm.]
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nimmt der Genitiv an negativen Konstruktionen teil, und zwar fünfmal ohne und zweimal mit einer Präposition, während in § II – außer dem adverbialisierten prezˇde ve´k [›immer vorher‹] – dieser Kasus einmal in partitiver Bedeutung und dreimal mit der Präposition ot ›von‹ figuriert. Der einzige Lokativ im Lied, 2 v go´re [›im Gram‹], wird dem Nominativ 1 go´re-go´re gegenübergestellt und trägt den syntaktischen und morphologischen Kontrast zwischen diesen beiden Fällen, von denen einer zwangsläufig präpositional, der andere stets ohne Präposition auftritt. In § I werden keine Ereignisse berichtet; das einzige Thema besteht in den explizit negativen Situationen, die ständig wiederkehren (4–5) oder die sich zwingend aus den unglücklichen Prämissen ergeben. Die unabhängigen Infinitive, entweder direkt negiert oder begleitet von negativen Elementen, stehen für Unerträglichkeit, Unvorstellbarkeit und Unmöglichkeit.136 Die Person, die in diese Infinitivkonstruktionen verstrickt ist, wird von den vielen Dativformen als ein bloßer Adressat gefällter Verdikte eingeführt; er bleibt ungenannt und wird nur adjektivisch umschrieben. Wenn in den beiden letzten Verspaaren dieses Abschnittes echte transitive Handlungen eingeführt werden, wird kein Täter enthüllt; nur das Ziel der Handlung wird durch metaphorische Nomina angegeben. Die vorgestellte Erfüllung dieser perfektivierten Handlungen wird negiert, und ihre Ziele tragen den strengen Genitiv der Negation, der die Nomina in § I insgesamt dominiert; das beiläufige, ephemerische grı´vna [›Münze‹] bildet die einzige Ausnahme unter den Nomina, die durch den Singular individualisiert werden, während Pluralformen im marginalen Instrumental mit der vorwegnehmenden Präposition pered [›vor‹] erscheinen. Das grammatische Bild grausamer Zerstörung erreicht hier seinen Höhepunkt. Im Gegensatz zum sentenziösen Stil von § I schlägt das erste Verspaar in § II von Anfang an einen neuen, narrativen Ton an. Jeder der parallelisierten Sätze enthält ein Nomen im Nominativ als Subjekt und ein verbales Prädikat mit einem *Modifikator im Instrumental. Der *Numerus dient als eindrückliche Variable: Der Plural der drei Wörter in 14 (mocˇala´mi no´gi izopu´tany [›(mit) Bastfasern (die) Füße umwunden‹]) wird mit dem Singular der entsprechenden Formen in 13 (ly´kom go´re podpoja´salos’ [›(mit) Streifenbast (der) Gram gegürtet‹]) kontrastiert, und diese Variation wird durch den Unterschied zwischen zwei verwandten *Diathesen ergänzt, der reflexiven und der passiven. Beide synekdochischen 136 Pesˇkovskij, Russkij sintaksis v naucˇnom osvesˇˇcenii, S. 381 f., würde den infinitiven Nebensätzen in 2–3 ›eine *Konnotation subjektiver Notwendigkeit‹ und in 6–11 ›eine Konnotation objektiver Notwendigkeit‹ zuschreiben.
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Ausdrücke von Elend (nagota´ i bosota´ bezme´rnaja ›ein grenzenloser Mangel an Gewand und Schuhwerk‹) 137werden durch *Kontiguität und Ähnlichkeit verbunden. Die traditionelle Assoziation zwischen den beiden Instrumentalen wird durch das populäre Sprichwort Ly´ki da mocˇa´ly, a tuda´ zˇ pomcˇa´li [›Streifenbaste und Bastfasern, laufen aber auch mit dorthin‹] 138; belegt. Die symmetrischen Bilder dieses Verspaares tauchen in den verschiedenen Liedern desselben Zyklus immer wieder auf, der von Rzˇiga im Überblick dargestellt wurde, während die Povest’ den grammatischen und lexikalischen Parallelismus verletzt und die Porträtierung des go´re schwächer macht, indem ein negativer Satz die suggestiven Eigenschaften verdrängt, die in der Volksdichtung die Personifizierung des Grams bewirken: 361 bo´so, na´go, ne´t na go´re ni nı´tocˇki, 362 esˇˇce ly´ˇckom go´re podpoja´sano [›Barfuß, nackt, den Gram (bedeckt) kein Fädchen, und mit einem Weidenbästchen ist der Gram gegürtet‹]. Beide Abschnitte des Kirsˇa-Liedes beginnen mit demselben Monostich und zeigen eine deutliche Entsprechung zwischen ihren ersten Verspaaren. Besonders das Zusammenfließen zwischen Gram und Armut, das in 2–3 herausgearbeitet wird, inspiriert die Bilder in 13–14, wo das Elend des vom Gram Befallenen jedoch durch eine metonymische *Trope von dem, der sich grämt, auf den Gram selbst übertragen wird. Aleksandr Pusˇkin, ein aufmerksamer Leser der Lieder Kirsˇas, hob den bildlichen Ausdruck ly´kom go´re podpoja´salos’ [›(mit) Streifenbast (hat sich der) Gram umgürtet‹] als eine »treffende Darstellung des Elends« heraus.139 Die zweite Zeile dieses Verspaares lautet zweideutig no´gi [›Füße‹], ohne Possessiv; durch ›des Grams Füße‹ entstünde eine gewaltsame Katachrese, während ›des Vergrämten Füße‹ die allmähliche Einführung der ›fictio personae‹ 140 hemmen würde. Die Personifizierung vollzieht sich 137 Wortwörtliche Übersetzung: ›grenzenlose Nacktheit und Barfüßigkeit‹. [Anm. d. Komm.] 138 Streifenbast und Bastfasern als besonders billige Ausgangsmaterialien für die Anfertigung von Kleidung und Schuhwerk stehen für Armut. Das Sprichwort ließe sich somit folgendermaßen paraphrasieren: ›Obwohl jemand sehr arm ist, will er bei Anlässen dabei sein, von denen er seinem sozialen Status nach ausgeschlossen ist.‹ Eine Teiläquivalenz besteht zum deutschen Sprichwort »Schuster, bleib bei deinen Leisten«. [Anm. d. Komm.] 139 Jakobson bezieht sich hier auf Pusˇkins Notiz »Starinnye poslovicy i pogovorki« [›Alte Sprichwörter und Redensarten‹], in der sich folgende Passage findet: »Gore lykom podpojasano – razitel’noe izobrazˇenie nisˇcˇety« [›Mit Streifenbast ist der Gram umgürtet – eine treffende Darstellung des Elends.‹]. Vgl. Pusˇkin, Sobranie socˇinenij v desjati tomach, Bd. 7, S. 201. [Anm. d. Komm.] 140 »Die fictio personae ist die Einführung nichtpersonhafter Dinge als sprechender
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vielmehr schrittweise. Die dreizehnte Zeile ist die erste, die den Gram als handelnde Person präsentiert, indem go´re ein Prädikat zugeordnet wird; dieses neutrale Präteritum hingegen unterstreicht das Neutrum – ein eminent unbelebtes Genus – des Subjekts. Die drei Wörter dieser Zeile, einschließlich des neutralen Modifkators ly´kom [›(mit) Streifenbast‹], betonen dieses Genus vor dem Hintergrund des durchgehenden Femininums in 14 mocˇala´mi no´gi izopu´tany [›(mit) Bastfasern (die) Füße umwunden‹]. Erst die weiteren Sätze mit dem Subjekt go´re werden das neutrale Reflexivum 13 podpoja´salos’ [›sich gegürtet‹] durch das maskuline Aktiv 16, 18 zasˇ¨el [›kam an‹] ersetzen; und als weiterer Schritt in dieser Aktivierung werden die Prädikate zu go´re durch transitive Verben realisiert werden, 20 vstrecˇa´et ›begrüßt‹ und tasˇˇcit ›trägt aus‹. Den Höhepunkt bildet die Einsetzung des maskulinen Pronomens o´n [›er‹] für go´re am Schluß der letzten Zeile. Die Beziehung zwischen den Zeilen 12 und 13 muß noch näher untersucht werden. In der Reduplikation go´re, go´re, die die Anfangszeile in beiden Abschnitten eröffnet, steht das erste der identischen Wörter 1 /go´r’e go´r’e/ in positionaler Entsprechung zu 2 /v go´r’e/, während es das zweite Vorkommen [von go´re] in Zeile 12 ist, das 13 /lı´kom go´r’e/ entspricht. Diese Divergenz legt eine verschiedene Phrasierung der Zeilen 1 und 12 nahe. In 1 und den folgenden Zeilen liegt die Grenze () zwischen den beiden ›Sprechtakten‹ (›speech measures‹) 141 zwischen dem zweiten und dritten der drei Hauptakzente und fällt so mit der Grenze () der beiden Halbverse zusammen: i a i go´re go´re goreva´n’ice! 2 a v go´re zˇit’ nekrucˇ´ınnu byt’, 3 nago´mu chodı´t’ ne stydı´tisja. , etc. In 13 und 14 hingegen fällt die Grenze zwischen den beiden Sprechtakten nicht mit der Grenze zwischen den beiden Halbversen zusammen. In diesen Zeilen stehen die Modifikatoren 13 ly´kom [›(mit) Streifenbast‹] und 14 mocˇala´mi sowie zu sonstigem personhaftem Verhalten befähigter Personen […]. Die fictio personae ist eine durch Übersteigerung der schöpferischen Phantasie […] erzeugte hochpathetische Figur.« (Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, Bd. 1, S. 411, § 826.) [Anm. d. Komm.] 141 Siehe Jakobson, »A New Outline of Russian Phonology«, S. 535. [Anm. v. R.J.] – In dieser Rezension schlägt Jakobson folgende prosodische Konstituentenhierarchie vor: ›speech-measure‹ < ›breath-group‹ (colon) < sentence. Vgl. die Erklärung des Begriffs speech-measure in »Slavic Epic Verse«, S. 443 f., Anm. 68, im Rückgriff auf R.-M. S. Heffner und D. Jones: »The conventional term sense group (groupe d’e´nonciation) or speech measure (Sprechtakt) is used to describe units of a kind between which ›the speaker may pause considerably or ad libitum, without destroying the distinctness of his utterance‹ but which ›are not capable of being further subdivided by pauses‹«. [Anm. d. Komm.]
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[›(mit) Bastfasern‹] vor den Subjekten 13 go´re [›Gram‹] und 14 no´gi [›Füße‹] und werden so von den Prädikaten 13 podpoja´salos’ [›hat sich umgürtet‹] und 14 izopu´tany [›umwunden‹] abgetrennt. Dieses Hyperbaton (Trennung zweier syntaktisch zusammengehörender Wörter) bedeutet, daß die Sprechtaktgrenze zwischen Modifikator und Subjekt fällt, d. h. zwischen den ersten und den zweiten der drei Hauptakzente. Diese Phrasierung greift dann ebenfalls auf die Eingangszeile über: 12 a go´re, go´re goreva´n’ice, 13 a i Iy´kom go´re podpoja´salos’, 14 mocˇala´mi no´gi izopu´tany. 142 Die Wurzel von go´re oder das ganze Wort, das dreimal entweder wörtlich oder mit synonymen Varianten wiederkehrt, ist gewöhnlich an den gleichen Kontext in Volksweisen desselben Tenors gebunden. Zum Beispiel heißt es in Sreznevskijs Sammlung von Klageliedern: K emu go´rjusˇko, go´re go´r’koe, iz-pod mo´sticˇku go´re, s-pod kalı´novogo, iz-pod ku´stysˇku, s-pod rakı´tovogo, vo oto´pocˇkach go´re vo lozo´ven’kich, vo obo´rocˇkach go´re vo mocˇa´l’nen’kich; mocˇa´loj go´re priopu´tavsˇi, ono ly´kom go´re opoja´savsˇi [›(Es kommt) zu ihm (das) Grämchen, (der) vergrämte Gram, unter (dem) Brückchen (her kommt der) Gram, unter (dem) Schneeballstrauch(brückchen her), unter (dem) Büschchen (her), unter (dem) Bruchweiden(büschchen), in abgetragenem Schuhwerk (geht der) Gram, in Ruten, in Lumpen (geht der) Gram, in Bast; (mit) Bastfaser (ist der) Gram umwickelt, er (ist mit) Streifenbast, (der) Gram, gegürtet‹].143 In einer Variante aus der Region Saratov lautet die entsprechende Stelle: Oj ty, go´re moe, go´re, go´re se´roe, lycˇkom svja´zannoe, podpoja´sannoe [›Ach du mein Gram, Gram, grauer Gram, (mit einem) Weidenbästchen gebunden, gegürtet‹], und in einer anderen Saratov-Variante: Och ti, gore, toska´-pecˇal’ [›Ach du Gram, Traurigkeit-Kummer‹].144 Vgl. die traditionelle Formel: Ach ja be´dnaja gorju´ˇsa gorego´r’kaja [›Ach ich arme Vergrämte gram-vergrämte‹].145 Während zu Beginn des Kirsˇa-Liedes die dreifache Evokation von go´re als syntaktisch separate Apostrophe agiert, tritt die gleiche Sequenz in § II als ein vorwegnehmendes, repetitives Subjekt in bezug auf den Teilsatz 13 go´re podpoja´salos’ [›Gram ist gegürtet‹] wieder auf. Wie immer der 142 Vom pragmatischen Gesichtspunkt führt die Plazierung der rhematischen Glieder ly´kom und mocˇala´mi in der satz-initialen Position vor den thematischen Gliedern go´re und no´gi zu einer besonderen kontrastiven Betonung der ersteren; siehe oben zur ›typischen Darstellung des Elends‹. [Anm. d. Komm.] 143 Varencov [Hg.], Sbornik russkich duchovnych stichov, S. 131. 144 Sobolevskij [Hg.], Velikorusskija narodnyja pesni, Bd. 1., S. 533 u. 536. 145 Istomin /Djutsˇ, Pesni russkago naroda, S. 60.
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ursprüngliche Wortlaut von 11 (siehe oben) gewesen sein mag: Kirsˇas Variante offenbart eine paronomastische Verknüpfung zwischen 11 /atla´su/ und 13 /potpoja´salos/; Rinde verdrängt den kostbaren Satin. Das Wort go´re in Zeile 1 wurde vom abgeschwächten 146 2 v go´re [›im Gram‹] wiederaufgenommen und blieb in den weiteren Zeilen von § I ungenannt, während in § II beinahe jede Zeile von diesem Nomen durchsetzt ist. Der metrische Ort des Nominativs go´re, den Zeile 13 mit dem z w e i t e n go´re in 12 teilt, bleibt durch den Genitiv 15, 17, 19 go´rja erhalten, während der Nominativ 16, 18, 20 go´re seinerseits seine Stellung mit dem e r ö f f n e n d e n go´re in 12 teilt. Eine weitreichende Symmetrie verbindet die beiden Abschnitte miteinander. Ihre Eingangsverspaare, im Einklang mit dem Diminutiv goreva´n’ice [›kleines Grämen‹] am Ende der Eingangszeile, versuchen den Gram herunterzuspielen. Der Vergrämte und Arme scheint seinen Gram und sein Elend zu mißachten; sie werden zum Gespött (2–3), und von der Armut heißt es, sie verginge genauso schnell wie Reichtum (4–5). Es ist nicht der von Gram Gepeinigte, sondern der Gram selbst, der sich als armselig erweist (13–14 ). Diese Bemühungen, das tragische Thema abzuweisen, ergeben in beiden Abschnitten sechszeilige Gruppen, in denen verzweifelt von allgegenwärtiger und ewiger Verdammung die Rede ist. Eine anaphorische Konstante bindet alle Zeilen der beiden Sechszeiler zusammen; in der Kette 6–11 beginnt jede Zeile mit der Negation ne, verbunden mit einem Infinitiv, und in der Kette 15–20 mit der repetitiven Konjunktion a [›aber‹], gefolgt von einem Nominativ.147 Dasselbe *Konnektiv a, allein oder kombiniert mit i [›und‹], eröffnet den Monostich beider Abschnitte und ebenso jedes separate Verspaar außerhalb dieser serialisierten Sechszeiler, während die zweite Zeile jedes separaten Verspaars keine Konnektive kennt. Der doppelte Konnektiv a i und das einzelne a alternieren regelmäßig: 1 a i, 2 a, 4 a i, 12 a, 13 a i, 15–20 a. Der Sechszeiler 15–20 baut auf dem Parallelismus dreier vollständiger Verspaare auf. »Parallele Ausdrücke in alternierenden Zeilen« nehmen den zweiten Platz in Ku¯kais Klassifikation ein. Allen drei ungeraden Zeilen des Sechszeilers ist der erste Halbvers 15, 17, 19 a ja´ ot go´rja [›und ich vor Gram‹] und das grammatische Muster der zweiten Halbzeile gemeinsam – die lokale Präposition 15, 17 v [›in‹] oder 19 na [›auf‹] mit einem Nomen im Akkusativ und vorgestelltem Epitheton. Alle drei geraden Zeilen des Sechszeilers beginnen mit a go´re und enden mit einem finiten Verb: 146 Jakobson bezieht sich hier auf den syntaktischen Rang. [Anm. d. Komm.] 147 Siehe Sˇapiro, Ocˇerki po sintaksisu russkich narodnych govorov, S. 71.
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16 zasˇ¨el [›kam an‹] – 18 sidı´t [›sitzt‹] – 20 tasˇˇc´ıt [›trägt aus‹]. Auf diese Weise werden die drei ungeraden Zeilen des Sechszeilers einerseits und seine drei geraden Zeilen andererseits durch zwei Arten der Entsprechung miteinander verknüpft: Der anaphorische Parallelismus ist wörtlich wiederkehrend, während der epiphorische Parallelismus auf einer bloßen Ähnlichkeit der grammatischen und *lexikalischen Bedeutung basiert. Zeilen 18 und 20 weisen am Ende beider Halbverse eine finite Form auf und zeigen damit einen internen Parallelismus; in 16 scheint das Ende der ersten Halbzeile zu fehlen, und man kann vermuten, daß hier, wie in den beiden anderen geraden Zeilen, der Halbvers einen vollständigen Satz enthielt, zum Beispiel, a go´re 〈uzˇ tam〉, [›und (der) Gram (ist) 〈schon da〉‹].148 Dieser Sechszeiler hält den Vergrämten und den Gram selbst deutlich auseinander. Der erste, wiederholte Halbvers der ungeraden Zeilen – a ja´ ot go´rja [›und ich vor Gram‹] – legt ein Zusammenspiel zweier verschiedener semantischer Interpretationen nahe: ›gepeinigt von‹ und ›weg von‹ Gram. Im Sprichwort Ot go´rja bezˇa´l, da v bedu´ popa´l ›lief vor dem Gram weg, aber geriet in Schwierigkeiten‹ 149 wird die abstrakte Bedeutung des ›Grams‹ durch die Gegenüberstellung mit ›Schwierigkeiten‹ gestützt, und die konkreten Prädikate fungieren hier als verbale Metaphern. Die Richtungsmodifikatoren ›in den Wald‹, ›zum Festmahl‹, ›in eine Schenke‹ ließen noch immer die Interpretation von Gram als Zustand des sich Grämenden zu, die geraden Zeilen hingegen messen dem Gram eindeutig eine Persönlichkeit bei. Die Konfrontation des genitivus separationis 150 15, 17, 19 ot go´rja [›vom Gram weg‹] und des Nominativs 16, 18, 20 go´re in Form eines Polyptotons führt eine grelle semantische Antithese der Flucht vor dem Gram und in die Arme des allgegenwärtigen Grams ein. Zeile 18 a go´re zasˇ¨el – vperedı´ sidı´t [›Und (der) Gram war (schon) angekommen, – vorne sitzt (er)‹] ist in ihrer ›Bifunktionalität‹ besonders charakteristisch: vperedı´ [›vorne‹] bedeutet gleichermaßen zeitliche und hier148 Eine andere mögliche Konjektur wäre a go´re pre´zˇde 〈da v〉 ve´k zasˇ¨el ›und Gram kam vorher und für immer‹; der Parallelismus der Halbzeilen würde dann auf den zwei temporalen Adverbien pre´zˇde [›früher, davor‹] und vve´k (vove´k? nave´k?) [›immer‹] beruhen. Vgl. den entsprechenden Ausdruck in der Povest’, 437 ne na ˇcas ja k tebe go´re zlocˇastnoe privjaza´losja [›nicht für eine kurze Stunde hänge ich, der unglückliche Gram, dir an‹], und im lyrisch-epischen Lied des Gram-Zyklus, aufgezeichnet von Hilferding, Onezˇskija byliny, Nr. 177: I ne na ˇcas ja k tebe Go´re privjaza´losi [›Und nicht für eine kurze Stunde hänge ich, der Gram, dir an‹; S. 640, V. 27] und A ja tut na´ vek Go´re rozstava´losi [›Aber hier blieb Gram für immer‹; S. 640, V. 43]. 149 Deutsches Äquivalent: Vom Regen in die Traufe kommen. [Anm. d. Komm.] 150 »Genitiv der Trennung«, siehe Jakobson, »Beitrag zur allgemeinen Kasuslehre«, S. 44. [Anm. d. Komm.]
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archische Priorität (mestnicˇestvo).151 Dem Teufelskreis, der sich in jedem der drei Verspaare abzeichnet, wird vorgegriffen durch die grammatische Antonymie zwischen den Halbversen jeder ungeraden Zeile, wo der Genitiv ot go´rja [›vor Gram‹] in seiner *ablativischen Funktion der allativischen Funktion der Akkusative 152 v lesa´ [›in Wälder‹], na pı´r [›zum Mahl‹], v kaba´k [›in (die) Schenke‹] gegenübersteht. In I ist der Parallelismus der Halbverse antonymisch im Gegensatz zu den synonymen Parallelismen der Vollzeilen; im Sechszeiler von II nimmt sich die Übereinstimmung zwischen alternierenden Versen synonymisch aus, während sie sich unter den anstoßenden Versen antonymisch verhält. Was den Parallelismus der Halbverse in diesem Sechszeiler betrifft, so ist er innerhalb der geraden Zeilen synonymisch und innerhalb der ungeraden Zeilen antonymisch komponiert.153 Die organischen Teile dieser dreifach parallelen Struktur, mit ihrer zunehmenden Spannung und dem Bild der Schenke als der letzten Hoffnung auf Zuflucht sind anscheinend in der ganzen Povest’ zerstreut und ohne Zusammenhalt; vgl. 170 prisˇ¨el molode´c na ˇc´esten pı´r [›(da) kam (der) brave Bursche zum Festmahl‹] und 305 Ty pojdı´, molode´c, na care¨v kaba´k [›Du geh, braver Bursche, zur Zarenkneipe‹]; auch 353 Ino kı´nus’ ja mo´lodec v bystru´ reku´ [›Oder werfe ich (mich), braver Bursche, in (den) schnellen Fluß‹]. Die Handlungsszene wird bestimmt und begrenzt durch drei ablativische Präpositionalkonstruktionen mit Genitiven und durch drei Allative, die ebenfalls Präpositionalkonstruktionen mit Akkusativen sind, die zusätzlich durch epitheta ornantia charakterisiert werden. Der Abschnitt ist reich an grammatischen Subjekten und eröffnet nach der Einführung zweier Nomina mit verbalen Prädikaten den Sechszeiler mit dem Nominativ ja ›ich‹ in einer wiederkehrenden verblosen Phrase – das erste Vorkommen eines Pronomens im Lied. Die Prädikate von go´re in § II vergrößern die bezeichnete Sphäre und die Wirkung der Handlung immer mehr; vom Reflexiv (13) schreitet sie zum Aktiv (16–20) und vom perfektiven Präteritum (13, erste Hälfte von 18) zum imperfektiven Präsens, 151 Vgl. die Anspielung in der Povest’: beim Fest wurde der Bursche gesetzt 181 ne v bo´l ˇsee mesto, ne v me´nsˇee [›nicht auf den zu hohen Platz, nicht auf den zu niedrigen (im sozialen Sinn)‹]. 152 Bedeutung der Gerichtetheit des präpositionalen Akkusativs, siehe Jakobson, »Beitrag zur allgemeinen Kasuslehre«, S. 32. [Anm. d. Komm.] 153 Austerlitz, »Parallelismus«, bemerkt: »Die Spannung, welche zwischen synonymen oder antonymen Parallelwörtern herrscht, verleiht dem Text eine Art von semantischen Rhythmus« (S. 441). Die Spannung zwischen parallelen Synonymen und Antonymen spielt ihrerseits eine wirkungsvolle Rolle.
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das Handlungen von unbegrenzter Dauer bezeichnet (zweite Hälfte von 18, 20). Die intransitiven Verben (13–18) weichen zwei transitiven Verben (20), wobei das erste ohne Objekt erscheint (vstrecˇa´et [›begegnet, grüßt‹]) und das zweite einen partitiven Genitiv 154 regiert (pı´va tasˇˇc´ıt [›Bier bringt‹]). Es gibt im Lied kein direktes Akkusativobjekt, während die Povest’ das Bild der vollkommenen Herrschaft des Grams über den Burschen kennt: 349 Achti mne´, zlocˇa´stie gorinskoe! 350 do bedy´ menja mo´lodca domy´kalo, 351 umorı´lo menja mo´lodca sme´rt’ju golo´dnoju [›349 Weh mir, gramvolles Unglück! 350 Bis zum Elend hat es mich, braven Burschen, herumgetrieben, 351 hat mich, braven Burschen, durch den Hungertod getötet‹]. Der Wechsel von den intransitiven zu den transitiven Verben stellt wieder eine Verbindung zwischen dem Ende beider Abschnitte her. Der mittlere der drei Hauptakzente fällt in allen Versen von 12 bis 19 auf /o/, außer der unvollständigen Zeile 16: 12,13 go´re ∼ 14 no´gi ∼ 15, 17 go´rja ∼ 18 zasˇ¨el ∼ 19 go´rja. Eine *spiegelsymmetrische Beziehung in der Lauttextur verknüpft die erste Zeile des Sechszeilers mit der ersten Zeile des separaten Verspaares – 13 /li´kom go´r’e potpoja´salos/∼ 15 /ja´ odgo´r’a ft’emni´ l’esa´/. Das letzte Wort von 13, paronomastisch verschränkt mit 11 (wie oben gezeigt), wird in den Schlußwörtern der beiden folgenden Zeilen wieder aufgenommen – 13 /potpoja´salos/ ∼ 14 /izopu´tani/ ∼ 15 /l’esa´/. Die stete Steigerung der Aktivität des Grams findet ihren beredten Ausdruck in der lexikalischen und phonematischen Verteilung im Sechszeiler. Die beiden Ränder von 16 – a go´re 〈…〉 zasˇ¨el – werden im ersten Halbvers von 18 wiederholt und verdichtet – a go´re zasˇ¨el –, während der zweite Halbvers, geeint durch die Wiederholung der betonten Silbe – /fp’er’ed’i´ s’id’i´t/ – sein Echo im doppeltem /i/ des entsprechenden Halbverses von 20 – /p’i´va tasˇˇc´it/ – findet. Die betonten Vokale des dreimal wiederkehrenden Halbverses a ja´ ot go´rja werden in der zweiten Hälfte von 19 na care¨v kaba´k und wiederum im anstoßenden Halbvers von 20 a go´re vstrecˇa´et umgekehrt: /a´o´/ ∼ /o´a´/ ∼ /o´a´/. Der abschließende Monostich des Liedes, 21 ka´k ja nag to sta´l, nasmeja´lsja o´n [›Als ich ganz nackt wurde, lachte er (mich) aus‹], unterscheidet sich grammatisch und (siehe unten) auch metrisch vom Rest des Textes. Denn er beinhaltet zwei verschiedene Subjekte mit zwei verschiedenen Prädikaten, die die einzigen hypotaktischen Teilsätze des Liedes sind, und das letzte Wort dieser Zeile ist das einzige anaphorische Pro154 Semantische Variante des russischen Genitivs zum Ausdruck der partiellen Betroffenheit des Objekts, siehe Jakobson, »Beitrag zur allgemeinen Kasuslehre«, S. 38 u. 60–65. [Anm. d. Komm.]
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nomen. Diese unpaarige Zeile zeigt einen inneren chiastischen Parallelismus: Ein perfektives maskulines Präteritum folgt dem Subjekt im ersten Halbvers und geht ihm im zweiten voraus. Die Lauttextur verknüpft das Finale mit dem Eingangsvers des benachbarten Verspaares: 19 /kaba´k/ ∼ 21 /kak ja na´k/; und beide Halbverse der Schlußzeile sind sichtbar miteinander verschränkt: /ja´ na´k to sta´l/ ∼ /nasm’eja´lsa/. Gewöhnlich ist die Konfrontation der beiden Halbverse in dieser unabhängigen Zeile besonders hervorstechend. Zum erstenmal werden die Subjekte, die beide Helden bezeichnen, unmittelbar miteinander konfrontiert. Ihre Ungleichheit ist augenfällig. Ja [›ich‹], im Gegensatz zu o´n [›er‹], fällt auf eine *Senkung und gehört zu einem untergeordneten Teilsatz. Nur hier dient ja als Teil eines Verbalsatzes; dieses Verb ist jedoch seinerseits eine bloße *Kopula, die das Subjekt mit einem neuen prädikativen Adjektiv versieht, während sieben autonome Vollverben sich als Prädikate auf ›Gram‹ beziehen. Keine *Tätigkeitsverben und keine Nomina werden im Lied seinem einzigen menschlichen Helden zugeordnet, dessen lyrisches Ich seinen besonderen Ausdruck in den unpersönlichen gnomischen Verspaaren von § I und dann in der epischen, nüchternen Geschichte der Verfolgung findet. Alle einfachen und finiten Formen der Vollverben haben Subjekte in der dritten *Person Singular: 5, 13, 16, 18, 20, 21. Das Motiv der Nacktheit erscheint zum drittenmal: 3 nago´mu chodit’ ›nackt gehen‹; das Bild des Unbekleidetseins in 13–14; und jetzt 21 ka´k ja na´g to sta´l ›als ich nackt wurde‹. Während der nackte Grämling ursprünglich gezwungen war, über seinen eigenen Gram und Elend zu spotten, und dann später behauptete, daß eigentlich der Gram verflucht und entkleidet sei, verhöhnt jetzt schließlich der Gram selbst (›qui rira le dernier‹ [›wer zuletzt lacht‹]) die Entblößung des elenden Sich-Grämenden, und zwar mit einer transparenten paronomastischen Reminiszenz an den Bastgürtel: 13 /potpoja´salos/ ∼ 21 /nasm’eja´lsa/. Der Kreis, eröffnet mit dem dreifachen Anruf von go´re, schließt sich mit dem Pronomen 21 o´n, das auf dieselbe schicksalshafte Erscheinung hinweist.
V Der Vers in Kirsˇas Lied verwendet das mündliche epische Metrum mit seiner traditionellen Tendenz zum *Trochäus und sechs *Hebungen, zwischen denen fünf Senkungen liegen.155 Die Eingangshebung und die fol155 Vgl. Jakobson, »Slavic Epic Verse«, S. 434–444 (Kap. 8 »The Verse of the Russian Stariny«).
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gende Senkung bilden den *Auftakt (Anakrusis) der Zeile, die letzte Hebung und die vorausgehende Senkung bilden den Schlußtakt (Koda), und die Folge von der ersten inneren Hebung bis zur letzten inneren Hebung ist als Versstamm bezeichnet worden. Die schwachen, äußeren Hebungen, also der letzte Schlag der Koda und besonders die Eingangssilbe des Auftakts werden größtenteils mit unbetonten oder schwach betonten Silben besetzt. Von den inneren (Stamm-)Hebungen sind die erste und die letzte die schwersten, denn beide werden fast durchwegs durch stark betonte Silben besetzt. Die regressive geschwungene Kurve, die russischen Versen inhärent ist,156 bestimmt die Verteilung der Betonungen unter den inneren Hebungen, schwächt die vorletzte und verstärkt die drittletzte, so daß die dritte innere Hebung nur selten eine betonte Silbe aufweist, und die zweite dieser Hebungen ist überwiegend mit einer Wortbetonung versehen. Daher tragen die erste, zweite und vierte der inneren Hebungen die drei Hauptakzente des Verses. Die erste Zeile von Kirsˇas Lied – A i { go´re go´re goreva´n’} ice (mit dem Versstamm in Schweifklammern) – folgt streng dem skizzierten metrischen Design. Von den einundzwanzig Zeilen folgen zehn dem elfsilbigen Muster, sechs werden auf zehn Silben, und drei auf neun reduziert; in Zeile 8 wird eine zwölfte Silbe eingeschoben, während die achtsilbige Zeile 16 offensichtlich unvollständig ist. In der überwältigenden Mehrheit der Zeilen (14 von 21) geht der dritten der vier inneren Hebungen unmittelbar eine *Wortgrenze voraus; 157 entsprechend enden diese Zeilen mit einem fünfsilbigen Segment (zum Beispiel goreva´n’ice). Die Variationen des metrischen Designs sind eng mit der Komposition des Liedes und seiner Einteilung in parallelisierte Zeilengruppen verbunden. Nachdem die erste Zeile den Gram eingeführt hat, verkürzt jede neue Erwähnung von go´re [›Gram‹] oder von ja [›ich‹] in der unmittelbaren Umgebung von go´re eingangs des Versstammes den Auftakt emphatisch auf eine Silbe: 2 a v go´re, 12, 16, 18, 19 a go´re, 15, 17, 19 a ja´ ot go´rja. Die gleiche Verkürzung in 3 nago´mu [›nackt‹] ist eine Folge des phonematischen Parallelismus mit 2 a v go´re. Die übrigen Zeilen bewahren den disyllabischen Auftakt. Man kann hier eine Eigentümlichkeit des 156 Zur sogenannten regressiven Akzentdissimilation im russischen Vers vgl. Jakobson, »Linguistics and Poetics«, S. 32 f., sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 177 f. [Anm. d. Komm.] 157 Zur versifikatorischen Bedeutung der Wortgrenzen vgl. das Kapitel »Slovorazdel i ego rol’ v stiche« [›Die Wortgrenze und ihre Funktion im Vers‹] in Jakobsons früher Monographie O ˇcesˇskom stiche – preimusˇˇcestvenno v sopostavlenii s russkim, S. 27–33, sowie die deutsche Übersetzung: Über den tschechischen Vers, S. 36–43. [Anm. d. Komm.]
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russischen Verses beobachten, daß es nämlich viele Fälle gibt, wo das silbische Schema bewahrt wird, die Betonungen hingegen vom metrischen Muster abweichen: 3 nago´mu chodı´t’, 8 ne otrostı´t’, 9 ne otkormı´t’ konja´; man darf zwar sicherlich die dialektalen Akzente otro´stit’, otko´rmit’ und ko´nja annehmen,158 doch eine gesuchte Diskrepanz zwischen den Ikten und *Wortakzenten muß in solchen Beispielen wie 18 a go´re zasˇ¨el oder der elfsilbigen Zeile 20 a go´re vstrecˇa´et, pı´va tasˇˇc´ıt zugestanden werden, wo ein Skandieren gore´ und piva´ zur Folge hätte. Die drei eröffnenden Verspaare des Liedes werden durch unähnliche Schlüsse der Anfangshalbverse in sich geschlossen und voneinander differenziert. Das komplette Versmuster der einführenden Modellzeile (1) wird vom zweiten dieser drei Verspaare (4–5) streng befolgt; die beiden vorausgehenden Zeilen verkürzen ihre erste Halbzeile durch eine *männliche *Kadenz – 2 zˇit’ ∼ 3 chodı´t’ – und entsprechend im Versende 2 by´t’. Umgekehrt erweitert das letzte der drei Verspaare den ersten Halbvers der beiden Zeilen auf sieben Silben, und zwar durch eine *daktylische Kadenz, die die dritte, vorletzte Hebung des Versstammes umfaßt, und verkürzt entsprechend den zweiten Halbvers auf vier Silben. Das folgende Verspaar kehrt wieder zum fünfsilbigen Muster der letzten Halbzeile zurück, hält aber in 8 nichtsdestoweniger das siebensilbige Schema der Eingangshalbzeile aufrecht, wie es die Zeilen 6 und 7 nahelegen, während in 9 das sechssilbige *Versmaß wieder aufgenommen wird. Die ersten Halbverse beider Zeilen dieses Verspaares weisen möglicherweise auch eine Verschiebung der Betonungen auf (vgl. oben). Im letzten Verspaar des ersten Abschnitts (10–11) nimmt die geradzahlige Halbzeile die gleiche viersilbige Form an wie im drittletzten Verspaar (6–7 ), während sich das vorletzte (8–9) und viertletzte (4–5) Verspaar an die fünfsilbige Form hält. Die rhythmische Neuheit des Verspaares 10–11 liegt im Schluß der ungeradzahligen Halbzeile, die in 10 die einzige im ganzen Lied ist, welche die Wortbetonung von der zweiten inneren Hebung auf die dritte verlagert (Ne ute´ˇsiti ditja´), während in 11 die Silbe, welche die dritte innere Hebung besetzen sollte, ausfällt. Das episch gefärbte Eingangsverspaar des zweiten Abschnittes (13– 14 ) mit seiner narrativen Präteritumskonstruktion – 13 A i ly´kom go´re podpoja´salos’ [›Und (mit) Streifenbast (der) Gram gegürtet‹] – folgt der standardisierten epischen Form der tonangebenden Zeile 1 und des Vers158 Siehe Selisˇcˇev, Dialektologicˇeskij ocˇerk Sibiri, S. 137: ro´stit’ etc., und Obnorskij, Imennoe sklonenie v sovremennom russkom jazyke, Bd. 1, S. 244: ko´nja; ko´nju. Eine dialektale Betonung auf der letzen Silbe ist höchst wahrscheinlich in 14 mocˇala´mi; vgl. a. a. O., Bd. 2, S. 384 f.
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paares 4–5, des einzigen Verspaars im ersten Abschnitt mit einem Verb im Präteritum, und entwickelt genau das Schlußmotiv dieses Verspaares: das Thema drohender Armut. Diese beiden verwandten Verspaare und die einführende Zeile 1 sind die einzigen des ganzen Liedes, die mit der Anakrusis a i (Kirsˇas Manuskript schreibt ai) beginnen, die für die Bylinen typisch ist. Der Sechszeiler 15–20 hebt sich deutlich vom vorhergehenden Text ab. Die Endsilbe jeder der sechs Zeilen trägt eine syntaktisch relevante Wortbetonung, die in fünf Fällen auf zweisilbige Wörter und nur einmal auf einen Einsilber fällt (17 pı´r).159 Die beiden Beispiele für eine Endbetonung in den früheren Zeilen gehören zu schwachen Einsilbern, virtuellen *Enklitika: die Kopula in 2 nekrucˇ´ınnu by´t’ [›sich nicht härmen‹] und der zweite Teil des lockeren Kompositums zly´dni ›Geldnot‹,160 das eine Deklination beider Komponenten erlaubt – 5 pered zlymi dnı`. Der verkürzte Auftakt dieser Zeilen und die eigentümliche Spannung zwischen dem *syllabischen und akzentuellen Muster ist oben erörtert worden. Die Auslassung einer Grenzsilbe zwischen den Halbzeilen fällt in den Zeilen 15 und 17–19 auf. Der hohe Anteil an betonten Silben hebt diesen Sechszeiler und noch auffallender den abschließenden Monostich des Liedes hervor. Beide äußeren Hebungen – ka´k und o´n – werden durch betonte Einsilber verwirklicht. Drei der elf Silben weisen in der ersten Zeile des Liedes betonte Hebungen auf, wie auch fünf der zehn Silben in der letzten Zeile. Hier weicht der slavische und besonders der russische epische Vers, der auf einer internen Asymmetrie beruht, einem vollkommenen metrischen Parallelismus fünfsilbiger Halbzeilen.161 Der ungeradzahlige Halbvers, der in den Hebungen und Senkungen ausschließlich aus Einsilbern besteht – Ka´k ja na´g to sta´l (alle fünf werden in Kirsˇas Manuskript getrennt geschrieben, wo *Proklitika immer zum angrenzenden Wort gerückt werden) – signalisiert den Ausgang der rhythmischen Entwicklung. Die treibende Kraft verebbt langsam, der mächtige Kontrast zwischen Höhen und Tiefen verblaßt.162 Die bewegende Dramatik und 159 Zur Unterscheidung zwischen schwachen und starken Betonungen in Abhängigkeit vom Silbenumfang der Wörter vgl. Jakobson, »Ob odnoslozˇnych slovach v russkom stiche«. [Anm. d. Komm.] 160 Das Wort ist ein Kompositum: zly´ dni ›böse Tage‹. [Anm. d. Komm.] 161 Vgl. Jakobson, »Slavic Epic Verse«, S. 425. 162 Eine ähnliche Glättung des Versrhythmus durch die massierte Verwendung einsilbiger Wörter beobachtet Jakobson in seiner Radisˇcˇev-Analyse. Vgl. Jakobson, »›Ty chocˇesˇ’ znat’: kto ja?‹ Razbor tobol’skich stichov Radisˇcˇeva«, S. 314, sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 688–710. [Anm. d. Komm.]
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bunte Vielfalt an rhythmischen Figuren kommt unter den mörderischen Lästerungen des allgegenwärtigen Verfolgers zu einem jähen Ende. Man könnte diese kursorischen Bemerkungen zum metrischen Parallelismus in Kirsˇas Lied mit einer nochmaligen Erinnerung an Hightowers Beobachtungen zur chinesischen Poetik beschließen: »Gerade auf diesem zugrundeliegenden Muster bzw. auf dieser Reihe von Mustern führen die subtileren Formen des grammatischen und lautlichen Parallelismus ihren Kontrapunkt ein, nämlich eine Reihe von Betonungen und Spannungen«.163
VI Hightower eröffnet seine tentative Probeübersetzung chinesischer parallelistischer Kompositionen, indem er deren Lektüre als eine »Übung in verbaler Polyphonie« bezeichnet.164 »Die außerordentliche Üppigkeit in Quantität wie Vielfalt des repetitiven Parallelismus im Deborah-Lied [Ri 5,1–31]« war in Albrights Untersuchung »The Psalm of Habakkuk« herausgestrichen und ihre Herkunft aus einem »kanaanitischen Rokoko« vermutet worden, »das etwa in der ersten Hälfte des zwölften Jahrhunderts v. Chr. beliebt gewesen sein mag«.165 Das »Übermaß an Parallelismen und Endlautkorrespondenzen« in der verbalen Meisterschaft des Erzählers (skazitel’ ) Kalinin, dessen Bylinen Hilferding schriftlich festgehalten hat, legte Zˇirmunskij eine Assoziation des Barock-Stils nahe.166 Solche Beispiele könnte man leicht vermehren, und sie stehen im Widerstreit mit der falschen, aber unausrottbaren Sicht des Parallelismus als bloßen Überbleibsels eines urtümlich unbeholfenen, zungenlahmen Ausdrucksmittels. Selbst Miklosich erklärte die repetitiven parallelistischen Verfahren in der epischen Tradition des Slavischen mit der Unfähigkeit des Sängers »des Naturepos«, sich sofort von einer Idee lösen zu können, und mit der daraus resultierenden Notwendigkeit, »einen Gedanken oder ganze Gedankenreihen mehr als einmal« zu äußern, wobei er als typisches Beispiel den finnischen Parallelismus anführte.167 Die Suche nach dem Ursprung des Parallelismus in der antiphonischen 168 Technik gepaarter Zeilen wird durch die überwältigende Mehrheit der parallelistischen Systeme kompliziert, die keine Spuren einer 163 164 165 166 167 168
Vgl. o., S. 323. [Anm. d. Komm.] Hightower, »Some Characteristics of Parallel Prose«, S. 69. Albright, »The Psalm of Habakkuk«, S. 6. [Anm. d. Komm.] ˇ irmunskij, Rifma, ee istorija i teorija, S. 337. Z Miklosich, Die Darstellung im slavischen Volksepos, S. 7 f. Griech. antiphonos ›gegentönend, antwortend‹. [Anm. d. Komm.]
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Technik des Wechselgesanges aufweisen. Die wiederholten Anstrengungen, den Parallelismus aus einem mentalen Automatismus herzuleiten, der jedem mündlichen Stil zugrunde liege, oder aus mnemotechnischen Prozessen, auf die sich der mündliche Sänger stützen müsse,169 werden einerseits durch die große Zahl sowohl kompletter Volkstraditionen widerlegt, die überhaupt keinen durchgehenden Parallelismus kennen, als auch verschiedener dichterischer Genres, die innerhalb eines folkloristischen Systems durch die Anwesenheit oder Abwesenheit dieser Technik einander gegenübergestellt sind. Anderseits hält sich eine jahrtausendalte schriftliche Dichtung, wie etwa die chinesische, an parallelistische Regeln, die in der einheimischen Folklore etwas weniger streng gehandhabt werden.170 Herder, der sich selber als »große[n] Verfechter des Parallelismus« bezeichnete,171 griff die später oft vertretene Auffassung scharf an, der Parallelismus sei monoton und stelle eine permanente Tautologie dar,172 und daß, wenn man alles zweimal sagen müsse, die erste Aussage folglich nur halb gelungen und unvollständig sei.173 Herders scharfsinnige Erwiderung: »Haben Sie noch nie einen Tanz gesehen?«, gefolgt von einem Vergleich der hebräischen Poesie mit solch einem Tanz,174 versetzt den grammatischen Parallelismus aus der Klasse genetischer Schäden und ihrer Gegenmittel in die richtige Kategorie der zielgerichteten poetischen Verfahren. Oder um einen andern Meister und Theoretiker der poetischen Sprache, G. M. Hopkins, zu zitieren: Das dichterische Kunstwerk »läßt sich auf das Prinzip des Parallelismus zurückführen«: 175 Äquivalente Entitäten werden miteinander konfrontiert, indem sie in äquivalenten Stellungen erscheinen. Jede Form des Parallelismus ist eine Abwägung von Invarianten und Variablen. Je strenger die Verteilung der Invarianten, desto größer die Wahrnehmbarkeit und Wirksamkeit der Variationen. Der durchgehende Parallelismus aktiviert unvermeidlich alle Ebenen der Sprache: Die distinktiven Merkmale, inhärente wie prosodische, die morphologischen und syntaktischen Kategorien und Formen, die lexikalischen Einheiten 169 Siehe z. B. Jousse, E´tudes de psychologie linguistique, Kap. X, XII, XV–XVIII; Gevirtz, Patterns in the early poetry of Israel, S. 10. 170 Jabłon´ski, Les »Siao-ha (i-eu) l-yu« de Pe´kin, S. 22. 171 Herder, Vom Geist der Ebräischen Poesie, S. 24. [Anm. v. R.J.] – Inzwischen: Herder, Schriften zum Alten Testament, S. 686. [Anm. d. Komm.] 172 A. a. O., S. 6. [Anm. v. R.J.] – Schriften, S. 674 f. [Anm. d. Komm.] 173 A. a. O., S. 21. [Anm. v. R.J.] – Schriften, S. 684. [Anm. d. Komm.] 174 Ebd. [Anm. d. Komm.] 175 Hopkins, »Poetic Diction«, S. 84 [Anm. v. R.J.] – Dt. Übs. S. 260. [Anm. d. Komm.]
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und ihre semantischen Klassen in ihren Konvergenzen wie Divergenzen erhalten alle einen autonomen poetischen Wert. Diese Fokussierung auf phonologische, grammatische und semantische Strukturen in ihrer vielfältigen Wechselwirkung bleibt nicht auf parallele Zeilen beschränkt, sondern weitet sich durch deren Verteilung über den gesamten Kontext aus; die Grammatik der parallelistischen Teile wird dabei besonders wichtig. Die Symmetrien der gepaarten Zeilen beleben ihrerseits die Frage nach Kongruenzen in den engeren Grenzen der gepaarten Halbverse und in dem größeren Rahmen aufeinanderfolgender Verspaare. Das dem Zeilenpaar zugrundeliegende dichotome Prinzip kann sich zu einer symmetrischen Dichotomie viel längerer Stränge, wie der beiden Abschnitte von Kirsˇas Lied, entwickeln. Der durchgehende Parallelismus der mündlichen Dichtung erreicht eine solche Verfeinerung der »verbalen Polyphonie« und ihrer semantischen Spannung, daß der Mythos einer primitiven Armut und eines Mangels an Kreativität einmal mehr seine Untauglichkeit verrät.176 Gonda hat recht, wenn er erklärt, daß in all diesen symmetrischen Kompositionen »reichlich Spielraum für Vielfalt ist«.177 Die Auswahl und Hierarchie 178 von gebundeneren und variableren sprachlichen Elementen sind von System zu System verschieden. Spekulative Modelle einer allmählichen Auflösung des kanonischen Parallelismus auf dem Weg vom Primitivismus zu hoch entwickelten Formen sind nichts als willkürliche Konstrukte. Der durchgehende Parallelismus, der Verssequenzen aufbaut, muß streng von einzelnen Vergleichen unterschieden werden, die das Thema lyrischer Lieder transportieren. Veselovskij führte eine saubere Trennung durch zwischen dem ersteren, »in hebräischer, chinesischer und finnischer Poesie beliebten« Verfahren, genannt »rhythmischer Parallelismus«, und dem letzteren, das er einen »psychologischen« oder »bedeutungstragenden« (soderzˇatel’nyj) »Parallelismus« nannte.179 Es gibt jedoch Inkonsistenzen in Veselovskijs Abgrenzung der verschiedenen Arten des Parallelismus. Obwohl Vergleiche, die Naturszenerien und menschliches Leben zusammenbringen, in durchgehenden parallelistischen Mustern der Dichtung beliebt sind, betrachtet Veselovskij jede solche Parallele als typischen Fall 176 Vgl. Le´vi-Strauss, La pense´e sauvage. [Anm. v. R.J.] – Dt. Übs.: Le´vi-Strauss, Das wilde Denken. [Anm. d. Komm.] 177 Gonda, Stylistic repetition in the Veda, S. 49. 178 Hierarchie meint hier wohl ›Dominanz‹. [Anm. d. Komm.] 179 Veselovskij, »Psichologicˇeskij parallelizm i ego formy v otrazˇenijach poe˙ticˇeskogo stilja«, S. 142.
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eines »bedeutungstragenden« Parallelismus, während jedes »Nachlassen erkennbarer Korrelationen zwischen den Komponenten der Parallelen« als Dekadenz und Dekomposition des ursprünglich bedeutungstragenden Parallelismus abgestempelt wird. Das Resultat, so wird behauptet, sei »eine Menge rhythmischer Sequenzen ohne jegliche bedeutungsvolle Entsprechung anstatt einer wechselnden Abfolge von innnerlich verbundenen Bildern«.180 Das Vorurteil über eine genetische Filiation beider Spielarten des Parallelismus ruft unausweichlich Widerspruch hervor, auch gegen Veselovskijs Beispiele für ein bloß »rhythmisch-musikalisches« Gleichgewicht, speziell was das tschuwaschische 181 Lied angeht, das von ihm als wichtigste Illustration angeführt wird: »Die Woge schwillt, um ans Ufer zu gelangen, das Mädchen schmückt sich, um dem Bräutigam zu gefallen, der Wald wächst, um hoch zu werden, die Freundin wächst, um reif zu werden, sie schmückt ihr Haar, um hübsch zu sein.« Verben des Wachstums und der Vervollkommnung werden hier als zielgerichtet auf das höchste Ziel hin dargestellt. Diese Zeilen würden sich als eindeutiger Fall eines bedeutungstragenden metaphorischen Parallelismus erweisen, wenn Veselovskij hier sein scharfsinniges Kriterium angewandt hätte, das später in Propps Untersuchung der Strukturgesetze traditioneller Märchen 182 seine Einschlägigkeit bewies: »Was zählt, ist nicht die Identifikation des menschlichen und natürlichen Lebens und nicht der Vergleich, der ein Verweilen auf der Verschiedenheit der verglichenen Dinge voraussetzt, sondern ein Nebeneinander [Juxtaposition], das auf der Basis der Handlung geschieht 〈…〉. Der parallelistische Vergleich in Volksliedern findet zunächst und vor allem in der Kategorie der Handlung statt«.183 Der parallelistische Vergleich wird nicht so sehr von den an dem Vorgang Beteiligten bestimmt, als durch ihre syntaktisch ausgedrückte gegenseitige Beziehung. Das erwähnte tschuwaschische Lied ist eine Warnung vor der Vernachlässigung latenter Kongruenzen. Invarianten, die sich vor dem Beobachter hinter Oberflächenvariablen verstecken, nehmen in der Topologie parallelistischer Transformationen einen gewichtigen Platz ein. Bei all ihrer Verwickeltheit wird die Struktur der parallelistischen Dichtung durchsichtig, sobald sie einer genauen linguistischen Analyse 180 A. a. O., S. 142 u. 163. 181 Tschuwaschen – ein Turkvolk im Wolgaraum. [Anm. d. Komm.] 182 Propp, Morfologija skazki; engl. Übs.: Morphology of the Folktale. [Anm. v. R.J.] – Dt. Übs.: Morphologie des Märchens. [Anm. d. Komm.] 183 Veselovskij, »Psichologicˇeskij parallelizm i ego formy v otrazˇenijach poe˙ticˇeskogo stilja«, S. 131 u. 157.
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unterworfen wird, und zwar sowohl ihrer parallelen Verspaare wie ihrer Beziehung zu einem größeren Kontext. Der Sechszeiler 4,8 im Hohenlied Salomos, den Bertholet 184 und Albright 185 kommentiert haben, soll »Anspielungen enthalten, die unverwechselbar kanaanäischen mythologischen Ursprungs sind«, und soll zu den archaischsten poetischen Texten der Bibel gehören.186 Die folgende Transkription wird von einer Übersetzung begleitet, die sich fast gänzlich mit Albrights Wortlaut deckt. 1. 2. 3. 4. 5. 6.
’ittı¯ mil-ləba¯no¯n kalla¯h ’ittı¯ mil-ləba¯no¯n ta¯bo¯’ı¯ ta¯ˇsu¯rı¯ me¯-ro¯’sˇ ’a˘ma¯na¯h me¯-ro¯’sˇ ´sənı¯r wəhermo¯n ˙¯yo¯t mim-mə‘o¯no¯t ’a˘ra me¯-harəre¯y nəme¯rı¯m
Mit-mir vom-Libanon, Braut, Mit-mir vom-Libanon, komm! Zieh-fort vom-Gipfel des-Amana, Vom-Gipfel des-Senir und-Hermon, Von-den-Höhen der-Löwen, Von-den-Bergen der-Pardel! 187
Der komplette Sechszeiler wird durch das sechsmalige Vorkommen der Präposition ›von‹ 188 [min] und durch ein Nomen als zweite *Worteinheit jeder Zeile zusammengeschweißt. Jedes der drei Verspaare hat seine eigenen auffälligen strukturalen Eigenschaften. Das erste ist das einzige, das Wörter an identischen metrischen Positionen wiederholt. Das erste Wortpaar findet in 2 sein Echo; und während die dritten Wörter der beiden Zeilen verschiedenen Wortarten angehören, folgen sie immer noch dem parallelistischen Muster, da die vokative Funktion des Nomens am Ende von 1 und die imperative Funktion des Verbes am Ende von 2 ein und dieselbe *konative Ebene der Sprache repräsentieren.189 So erfüllt das erste Verspaar als einziges in diesem Fragment das Hauptschema des althebräischen Parallelismus: abc – abc (oder genauer abc1 – abc2). Ganz ähnlich behandelt das russische Volkslied Imperative als Parallelen zu vokativen 184 Bertholet, »Zur Stelle Hoheslied 48«. 185 Albright, »The Psalm of Habakkuk«, S. 7. 186 Zur nachfolgenden Analyse vgl. Czoik /Lauer, »Parallelismus und Poetizität«. [Anm. d. Komm.] 187 Um das unten (S. 351) gegebene Silben-Schema der Verspaare nachvollziehen zu können, werden von uns – wie bei dem folgenden Amos-Beispiel von Jakobson selbst – die *Lexeme mit Bindestrich verbunden, die im Hebräischen zusammengeschrieben werden. [Anm. d. Komm.] 188 Hebr. min, hier assimiliert zu mil-/mim- bzw. zu me¯-. [Anm. d. Komm.] 189 Vgl. Jakobson, »Linguistics and Poetics«, S. 23: »Orientation toward the addressee, the conative function, finds its purest grammatical expression in the vocative and imperative«. [Anm. v. R.J.] – Vgl. die deutsche Übersetzung, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 165: »Die Orientierung am Adressaten, die konative Funktion, findet ihren reinsten grammatischen Ausdruck im Vokativ und im Imperativ«. [Anm. d. Komm.]
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Ausdrücken; zum Beispiel Solove´j ty moj solove´jusˇko! Ne vzviva´jsja ty vysoko´chon’ko! [›Nachtigall, du meine kleine Nachtigall! Schwebe du nicht so hoch!‹] 190 ›Nachtigall!‹ und ›Schwebe nicht!‹, ›Onkel!‹ und ›Komm!‹, ›Bruder!‹ und ›Reite!‹ spielen in den binären Formeln russischer Hochzeitslieder eine Rolle. Alle folgenden vier Verse sind syntaktisch verbunden und unterscheiden sich vom ersten Verspaar durch das Vorhandensein von Nomina im status constructus.191 Das zweite Verspaar zeigt charakteristische Verschiebungen in der Wortstellung. Die zwei Verben des Sechszeilers stechen deutlich gegen den Hintergrund seiner zwölf Nomina ab; beide sind morphologisch und syntaktisch ähnlich und verhalten sich innerhalb derselben semantischen Klasse polar zueinander – ›kommen‹ mit allativer und ›weichen‹ mit ablativer Bedeutung. Sie bilden zusammen eine Anadiplose: Das erste Verspaar endet mit dem einem Verb, und das zweite beginnt mit dem andern; dem ersteren Verb geht eine Präpositionalkonstruktion voraus, dem letzteren folgt eine. Das mittlere me¯-ro¯’sˇ [›vomGipfel‹] in Zeile 3 wird am Beginn von 4 wiederholt. In dieser Verschiebung findet die zentrale Stellung, die das zweite Verspaar in dem Sechszeiler einnimmt, ihren scharf umrissenen Ausdruck: In einem Wechselspiel zwischen Dichotomie und Trichotomie ist dieselbe Präposition ›von‹, welche die drei abschließenden, siebensilbigen, durchgehend nominalen Zeilen eröffnet, als Präfix dem mittleren Wort in den drei längeren Anfangszeilen vorangestellt. Diese Verschiebung ist mit einer signifikanten stilistischen Eigenschaft verbunden, die Bharatas Na¯ttyas´a¯stra,192 das auf das zweite Jahr˙ nennt, einen ›verdichteten Aushundert n. Chr. zurückgeht, »dı¯paka« druck‹, und sie gemeinsam mit drei anderen Redefiguren anführt – Vergleich, Metapher und Wiederholung. In seiner Erörterung von typischen Beispielen solcher Satzkontraktion, wie sie in der vedischen Dichtung geschickt eingesetzt wird, bemerkt Gonda, daß »wenn die verbale Idee zweier aufeinanderfolgenden Einheiten identisch ist, das Verb sehr oft ausgelassen wird«.193 Gerade eine solche abgekürzte Wiederholung kon190 Sˇejn, Velikoruss v svoich pesnjach, Nr. 1659. 191 In den semitischen Sprachen die Verbindung eines Nomens mit einem Genitivattribut. [Anm. d. Komm.] 192 Vgl. Bharata, The Na¯ttyas´a¯stra. A treatise on Hindu dramaturgy and histrionics. ˙ [Anm. d. Komm.] 193 Gonda, Stylistic repetition in the Veda, S. 397–399, Zitat: S. 397, vgl. a. a. O., S. 66 u. 226. Vgl. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, Bd. 1, S. 366 f., § 737: ein *Isokolon, nach dem Schema q(a1b1/a2 b2), wobei q »den klammerartigen gemeinsamen Satzteil« bezeichnet.
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stituiert die biblischen »unvollständigen Parallelismen« in den Zeilenpaaren, die Newman aus Amos [2,11a] zitiert,194 wie zum Beispiel: »Und-ichhabe-erweckt einige-von-euren-Söhnen zu-Propheten, und einige-voneuren-Jünglingen zu-Nasiräern [d. i. Geweihten]«. Einleuchtenderweise kann diese Variation von Parallelen »unvollständig« genannt werden (abc-bc), doch nur, wenn das elliptische *Nullverb (a°) der Zeilen 4, 5, 6 nicht zu den einander entsprechenden Ausdrücken gezählt wird.195 Vom metrischen Standpunkt aus wäre Zeile 4 in bezug auf 3 natürlich ohne die ›Kompensation‹ mangelhaft, die durch die Aufspaltung eines Nomens in zwei koordinierte Formen erreicht wird (mit der einzigen Konjunktion [wa] im ganzen Sechszeiler: abc1-bc 2c 3), während die Zeilen des dritten Verspaares metrisch binomisch, aber syntaktisch trinomisch bleiben, das Nullverb miteingeschlossen: (ta¯ˇsu¯rı¯ ) mim-mə‘o¯no¯t ’a˘ra¯yo¯t [›(Zieh-fort) Von-den-Höhen der-Löwen‹] usw. Gerade in dieser Spaltung zwischen dem metrisch Binomischen und dem virtuell grammatisch Trinomischen liegt die Besonderheit des letzten Verspaares, das darüber hinaus seine vier Plurale den zwölf Singularformen (fünf davon Eigennamen) in den ersten beiden Verspaaren gegenüberstellt. Die formal identische Verknüpfung zwischen dem Bezugssubstantiv und seinem nominalen Modifikator im mittleren und letzten Zeilenpaar unterscheidet sich semantisch: Der TeilGanzes-Beziehung in 3 und 4 stellen die Zeilen 5 und 6 eine Unterscheidung zwischen Wohnung und Bewohner gegenüber. Schließlich enthält jede Zeile genau zwei benachbarte Konstituenten, die isosyllabische Entsprechungen in der parallelen Zeile haben, wobei sich aber sowohl ihre Stellung in der Zeile als auch ihre Silbenzahl von Verspaar zu Verspaar ändert: I 24
2 3
3 2
II 23
III 43
Beide silbischen Asymmetrien – zwei gegen drei im ersten Verspaar und drei gegen zwei im zweiten – gründen auf einer Konfrontation dreisilbiger Verben mit zweisilbigen nominalen Formen. Die auffallende Eigenschaft der Lauttextur ist die Fülle an *Nasalen (21) und ihre symmetrische Verteilung: drei in jeder der ersten drei Zeilen, vier in jeder der drei folgenden Zeilen. Man hat den Reim wiederholt als einen verdichteten Parallelismus charakterisiert. Doch ein strenger Vergleich zwischen Reim und durchgehendem Parallelismus zeigt, daß es einen fundamentalen Unterschied 194 Newman /Popper, Studies in biblical parallelism, S. 152. 195 Jakobson, »Signe ze´ro«, S. 211 f.
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gibt. Die phonematische Äquivalenz der Reimwörter ist verpflichtend, während die sprachliche Ebene irgendeiner Korrespondenz zwischen zwei parallelisierten Ausdrücken der freien Wahl unterliegt. Die wechselnde Verteilung verschiedener sprachlicher Ebenen zwischen Variablen und Invarianten verleiht der parallelistischen Poesie einen hochgradig abwechslungsreichen Charakter und bietet ihr reiche Möglichkeiten, die Teile zu individualisieren und sie in bezug auf das Ganze zu gruppieren. Gegen einen Hintergrund aus vollkommen kongruenten Zeilen wirkt das sporadische Zusammentreffen einer Äquivalenz auf einer sprachlichen Ebene mit einer Verschiedenheit auf einer anderen Ebene als starker Kunstgriff.196 In dem populären Verspaar eines russischen Volksliedes 197 ersetzt der negative Parallelismus das Bild der Trompete, die frühmorgens (ne tru´bon’ka tru´bit ra´no po´ utru) oder nach dem Morgentau (ra´no po´ rose) erschallt, durch das Bild eines Mädchens, das um seinen Zopf weint ( pla´ˇcet ra´no po´ kose).198 Sowohl Po utru bzw. po rose als auch po kose sind Dativkonstruktionen mit der gleichen Präposition po; ihre syntaktische Funktion nimmt sich hingegen ganz verschieden aus. Mit einer anderen vorausgehenden Zeile erscheint die gleiche zweite Zeile in einem Verspaar, das Veselovskij zitiert: Pla´vala vu´tica po´ rose, pla´kala Ma´ˇsin’ka po´ kose ›Das Entchen schwamm nach dem Morgentau, Maˇsin’ka weinte um ihren Zopf‹.199 Der syntaktische Parallelismus endet bei dem letzten Wort, während in der morphologischen Struktur, der Silbenzahl und der Verteilung der Betonungen und Wortgrenzen eine vollkommene Entsprechung vorliegt, und außerdem eine auffallende phonematische Gleichheit der beiden Randwörter: pla´vala ∼ pla´kala, po´ rose ∼ po´ kose. Beide Zeilen wiederholen die Konsonanten /v/ und /k/, die ihre Anfangswörter voneinander unterscheiden: pla´vala ∼ vu´tica; pla´kala ∼ Ma´ˇsin’ka ∼ po´ kose. Die Bildwelt der ersten Variante, ein Kontrast zwischen Bildern des Hörens – Blasen und Weinen – weicht hier einer herkömmlichen Kette von Bildern des Flüssigen: nämlich Wasser, auf das durch die schwimmende Ente angespielt wird, Tau und die Tränen des Mädchens. 196 Genau dieses Prinzip der ›wechselnden Wiederholungseinheiten‹ ist in der russischen Verstheorie mit direktem Bezug auf Jakobson einer positiven Wesensbestimmung der Freien Verse zugrunde gelegt worden. Vgl. Donat, »Es klang aber fast wie deine Lieder…«, S. 380–400. [Anm. d. Komm.] 197 Sˇejn, Velikoruss v svoich pesnjach, Lieder Nr. 1510, 2128. 198 Hier wird Bezug genommen auf eine Sitte, derzufolge eine verheiratete Frau keinen Zopf mehr tragen darf. [Anm. d. Komm.] 199 Veselovskij, »Psichologicˇeskij parallelizm i ego formy v otrazˇenijach poe˙ticˇeskogo stilja«, S. 166.
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Eine konsequente linguistische Analyse des durchgehenden Parallelismus schränkt die Zahl einander nicht entsprechender Ausdrücke innerhalb der Verspaare ein; ja, viele anscheinend ungepaarte Zeilen erweisen sich überdies als Entsprechungen. Die beiden Ausdrücke in ihrer syntaktischen Übereinstimmung bilden offensichtlich ein zusammenhängendes Paar. Diese Art des Parallelismus, die Gevirtz an der biblischen Dichtung beobachtet hat und die er »epithetisch« nannte,200 ist in russischen Volksliedern sehr häufig. Evgen’eva zitiert ein typisches Beispiel: Za´in’ka, popyta´jsja u voro´t, Se´ren’koj, popyta´jsja u novy´ch, wörtlich, ›Häschen, versuch’s beim Tor, Grauchen, versuch’s bei dem neuen [Tor]‹. Ebenso scheinen die regierenden und regierten Ausdrücke als symmetrische Formen zu fungieren, »wenn sie solide in einen sonst makellos parallelen Kontext eingebettet sind«, falls man Hightowers treffenden Ausdruck 201 auch für solche Gegebenheiten gebrauchen darf. Drivers Bemerkung zur zweiten Zeile, die »auf verschiedene Weisen« die erste Zeile des Verspaares »ergänzt oder vervollständigt«, trifft auf die Beziehung zwischen Bezugselementen und ihren Modifikatoren zu, aber das Etikett »synthetischer oder konstruktiver Parallelismus«, das er dieser Definition beifügt, tritt hier in einem Sinn auf, der nichts mit der ursprünglichen Bedeutung zu tun hat, wie sie Lowth und seine Anhänger mit diesem Doppelbegriff verbanden.202 Eine Zeile mit zwei synonymen Prädikaten, die einer Zeile von zwei fast synonymen Akkusativen – einem direkten Objekt und seiner Apposition – in einem Verspaar einer nordrussischen Brautklage entspricht, stellt ein typisches Beispiel eines Parallelismus dar, der auf der Rektion beruht: Ugljadı´la, uprimı´tila Svoego´ kormı´l’cja ba´tjusˇka ›Ich sah, ich bemerkte Meinen Vormundsvater‹.203 Ein anderes Verspaar mit einem direkten Objekt in der zweiten Zeile gehört jedoch nicht zu diesem Typ: Tut side´la kra´sna de´vica I ˇcesa´la ru´sy ko´son’ki ›Da saß ein hübsches 200 Gevirtz, Patterns in the early poetry of Israel, S. 26 u. 49. 201 Hightower, »Some characteristics of parallel prose«, S. 63. 202 Driver, An introduction to the literature of the Old Testament, S. 363. ›Climactic‹ parallelism ist nach der Definition Drivers, der diese Begriffe lancierte, anscheinend eine bloße Kombination der repetitiven Form mit der oben zitierten Art, die in der zweiten Zeile die erste ›vervollständigt‹. Im Beispiel, das er Psalm 29,8 entnimmt, »Die Stimme des Herrn erschüttert die Wüste, Der Herr erschüttert die Wüste von Kades«, greift der erste Teil der zweiten Zeile den Schlußteil der ersten Zeile auf und fügt ›Kades‹ hinzu. Das repetitive Verfahren kann entweder auf eine Anadiplose wie in obigem Beispiel oder auf eine *Anapher begrenzt werden, wie es in anderen von Driver angeführten Beispielen des ›klimaktischen‹ Parallelismus der Fall ist. 203 Sokolov /Sokolov, Skazki i pesni belozerskogo kraja, Lied Nr. 73.
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Mädchen Und kämmte seine dunkelblonden Locken (wörtl.: Zöpfe)‹. Beide Nomina und ihre Epitheta fungieren als morphologische Parallelen, mit einer bemerkenswerten Äquivalenz ihrer beiden direkten Kasus – des Nominativs und des Akkusativs. Nicht nur Kongruenz oder Rektion, sondern auch die Beziehung zwischen dem Subjekt und dem Prädikat liegt manchmal parallelen Zeilen zugrunde: K tebe´ idu´t da zˇa´lujut Tvoi mı´lye podru´zˇen’ki ›Zu dir kommen und ehren dich Deine lieben Brautjungfern‹.204 Auf der semantischen Ebene haben wir beobachtet, daß Parallelen entweder metaphorisch oder metonymisch sein können, also entweder auf Ähnlichkeit oder auf Kontiguität beruhen. Ebenso liefert der syntaktische Aspekt des Parallelismus zwei Typen von Paaren: Entweder stellt die zweite Zeile ein Muster dar, das dem vorangehenden ähnlich ist, oder die Zeilen ergänzen einander als zwei kontiguierende Bestandteile einer grammatischen Konstruktion. Abschließend kann sich eine isolierte Zeile, die von parallelen Verspaaren umgeben wird, bei genauerer Betrachtung als ›monomische Parallele‹ erweisen, wie Veselovskijs anscheinend paradoxe Bezeichnung lautet.205 Ein solcher Monostich kann entweder die Tatsache widerspiegeln, daß ein Vergleich auf einen bloßen metaphorischen Ausdruck reduziert ist, unter vollständigem Verzicht auf seinen erratbaren, gewöhnlich bekannten Schlüssel, oder daß eine Doppelformel unter elliptischer Unterdrückung eines ihrer Glieder wiederholt wird. Die klagende Braut wendet sich zuerst an ihren Vater: Podojdu´ ja, molode¨ˇsen’ka, Ja sprosˇu´, gorju´cha be´nnaja ›Ich werde kommen, ich die Jugendliche, Ich werde fragen, ich die arme Vergrämte‹, und richtet sich dann an ihre Mutter mit einer weiteren Klage: Ja esˇˇco´, gorju´cha be´nnaja, Pogljazˇu´ da, molode¨ˇsen’ka ›Nun werde ich, ich die arme Vergrämte, Mich umsehen, ich die Jugendliche‹. Doch später, wenn sie ihre Brüder und dann ihre Schwestern anfleht, verkürzt sie dieselbe Formel auf eine Zeile: Ja esˇˇco´ pojdu´, molode¨ˇsen’ka ›Jetzt gehe ich, ich die Jugendliche‹.206 Solche Monostichen, die auf eine Kontiguitätsassoziation zu ihrem vollständigen Kontext angewiesen sind, sind die stärkste Abkürzung von Bharatas dı¯paka, ›verdichtetem Ausdruck‹. Als er einem Philologendisput über die Frage zuhörte, welche Arten von Attributen in der Dichtung als Epitheta gelten können, warf Vladimir Majakovskij ein, daß für ihn jedes Attribut schlechthin, wenn es in 204 Sˇejn, Velikoruss v svoich pesnjach, Nr. 1470. 205 Veselovskij, »Psichologicˇeskij parallelizm i ego formy v otrazˇenijach poe˙ticˇeskogo stilja«, S. 205. 206 Sokolov /Sokolov, Skazki i pesni belozerskogo kraja, Lieder Nr. 73–76.
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der Dichtung auftauche, spontan zu einem Epitheton werde.207 Auf ähnliche Weise kann jedes Wort oder jeder Satz, wenn sie in ein Gedicht eintreten, das auf durchgehenden Parallelismus aufbaut, unter dem Druck dieses Systems sofort in die Fangarme der zusammenhängenden grammatischen Formen und semantischen Werte geraten. Das metaphorische Bild von ›verwaisten Zeilen‹ ist eine Erfindung, die ein abseits stehender Betrachter zu Hilfe nimmt, weil ihm die Wortkunst unausgesetzter Entsprechungen ästhetisch fremd bleibt. Verwaiste Zeilen in einer durchgehenden parallelistischen Dichtung sind ein logischer Widerspruch, da, was immer der Status einer Zeile ist, ihre ganze Struktur und alle ihre Funktionen unlösbar mit der näheren und ferneren Wortumgebung verklammert sind; und die Aufgabe einer linguistischen Analyse besteht darin, die Ebenen dieser Zusammenwirkung aufzudecken. Wenn man sie aus dem Inneren des parallelistischen Systems betrachtet, verwandelt sich die vermutete Verwaisung, wie jeder andere Status einer Komponente, in ein Netz von vielschichtigen zwingenden Verwandtschaften.208 Editorische Notiz Geschrieben in Dubrovnik, Jugoslawien, im Herbst 1965, und veröffentlicht in Language, XL (1966).
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Roman Jakobson
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Roman Jakobson
Anmerkungen zur Gestalt eines altjapanischen Gedichts: Das Abschiedsgedicht von 732 von Takapasi Musimarö 1 Übersetzung aus dem Englischen und Kommentar Brigitte Rath 2 Jakobson demonstriert in dieser Analyse eines Gedichts aus einer »räumlich und zeitlich weit entfernten« Kultur, nämlich aus dem Japan des achten Jahrhunderts, den Universalitätsanspruch der strukturalistischen Methode. Diese stellt er in der Einleitung pointiert der traditionellen Herangehensweise an japanische Poesie gegenüber; seine Analyse entwickelt eine formale Beschreibung zahlreicher Phänomene, die auch die traditionelle Herangehensweise in den Blick nimmt, führt weitere Beschreibungskategorien ein und erarbeitet so eine neue Interpretation. Die Textanalyse zerfällt in zwei Teile: Der erste Teil zeigt, wie räumliche und hierarchische Abstände im Text konstituiert und thematisiert und am Ende des Gedichts in einer Begegnung von Sprecher und Angesprochenem aufgehoben werden; der zweite Teil segmentiert den Text zunächst in kleine Einheiten und begründet dann Gliederungsvorschläge vor allem durch die Analyse von Handlungsstrukturen, Sprechweisen und verschiedenen *Parallelismen. Den Anspruch auf universelle Gültigkeit und Anwendbarkeit der strukturalistischen Methode verdeutlichen auch Jakobsons kurze Überlegungen zu einem möglicherweise in dem vorliegenden Text verborgenen *Anagramm, die die von Saussure in indoeuropäischer Poesie vermutete produktive Struktur wie selbstverständlich auf ein altjapanisches Gedicht übertragen. 1 2
Vorlage: Jakobson, Roman Osipovicˇ: »Notes on the Contours of an Ancient Japanese Poem: The Farewell Poem of 732 by Takapasi Musimarö«, in: SW III, S. 157– 164. [Anm. d. Übs./Komm.] Mit herzlichem Dank an Jutta Haußer für die äußerst hilfsbereite Unterstützung bei japanologischen Fragen. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Roman Jakobson
Problematisch ist die Form des Gedichttextes. Jakobson arbeitet nicht mit dem Text in Schriftzeichen, sondern mit einer Transkription, die eine phonetische Wiedergabe des Textes suggeriert, obwohl sie diese nicht leisten kann: Die phonetische Struktur des Altjapanischen ist noch nicht vollständig rekonstruiert und das verwendete Transkriptionssystem bevorzugt zudem überwiegend eine formale Systematik gegenüber einer notwendigerweise spekulativen phonetischen Annäherung. Brigitte Rath Dieser Aufsatz ist ein spätes Echo auf fesselnde Unterhaltungen mit dem großen japanischen Linguisten Shiroˆ Hattori 3 und auf die herrlichen Lektionen, die ich von ihm während unserer gemeinsamen, inspirierenden Reise von Tokyo nach Kyoto und Nara im August 1967 erhielt, während der mein bewunderter Freund Wunder weiser Gelehrsamkeit und unerreichter japanischer Gastfreundschaft vollbrachte. Wenn ich mich hier gegenwärtig daran wage, die Ernte unserer gemeinsamen sorgfältigen Lektüre eines japanischen Gedichts aus dem achten Jahrhundert einzubringen, dann im vollen Bewußtsein meiner beträchtlichen Schuld gegenüber diesem echten Experten für das unermeßliche Feld der altjapanischen 4 3
4
Shiroˆ Hattori (1908–1995). Bedeutender japanischer Linguist, mit Forschungsschwerpunkten in der Genealogie, Dialektologie und diachronen Phonologie des Japanischen, in der Semantik und in den altaischen Sprachen. 1949–1969 Professor an der Universität Toˆkyoˆ. Mitherausgeber eines achtbändigen Lexikons zur Linguistik, Nihon no gengogaku. Die von Jakobson mitherausgegebene Festschrift zu Hattoris 60. Geburtstag, Studies in General and Oriental Linguistics, enthält eine kurze Biographie und eine vollständige Bibliographie (bis 1969); Jakobson bezieht sich in der Widmung seines Beitrags zu dieser Festschrift, »Subliminal Verbal Patterning in Poetry«, direkt auf den vorliegenden Aufsatz: »Ich freue mich besonders darüber, diesen Aufsatz Shiroˆ Hattori zu widmen, dem Gelehrten mit erlesenem Gefühl für Sprache und Wortkunst, der mich liebenswürdigerweise in die bezaubernde Welt der altjapanischen Poesie eingeführt hat.« Studies in General and Oriental Linguistics, hier: S. 308; vgl. die deutsche Übersetzung »Unterschwellige sprachliche Gestaltung in der Dichtung« in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 124–153. In den SW III, S. 136–147 ist der Aufsatz ohne Widmung abgedruckt. Shiroˆ Hattori ist mit dem Beitrag »The Sense of Sentence and the Meaning of Utterance« in der Jakobson-Festschrift To Honor Roman Jakobson, Bd. 2, S. 850– 854, vertreten. Vgl. zu Shiroˆ Hattori weiter die ihm gewidmete Gedenknummer der Zeitschrift Gengo Kenkyuˆ. Journal of the Linguistic Society of Japan 108 (1995) mit Biographie und Auswahlbibliographie. [Anm. d. Übs./Komm.] Die Entwicklung des Japanischen wird üblicherweise in Anlehnung an die Geschichtsepochen in folgende Perioden unterteilt: Altjapanisch (630–794) – klassisches Japanisch (794–1192) – Mitteljapanisch (1192–1603) – Neujapanisch
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Sprache und Literatur. Ich bin mir auch sehr wohl des großen Umfangs des Beitrags bewußt, den die einheimische und internationale Forschung zu japanischer historischer Poetik und, im besonderen, zu der Entwicklung ihrer traditionellen Form von *Tropen und *Figuren (den berühmten »Kopfkissenwörtern« – makura-kotoba 5) geleistet hat.6 Dennoch könnte man vielleicht vor dem Hintergrund unserer beharrlich strukturalen Herangehensweise an poetische Texturen, die von den fernöstlichen Mustern recht weit entfernt sind und in mancher Hinsicht sogar im Gegensatz zu ihnen stehen, einige unbemerkte Errungenschaften einer sowohl räumlich als auch zeitlich weit entfernten künstlerischen Hochkultur entdecken. So zeigt im besonderen altjapanische Wortkunst, wenn man sie mit einem ganz andersartigen ästhetischen Erbe konfrontiert und aufmerksam *kontrastiert, eine ungewöhnliche Verschmelzung von wirkungsvoller Vielförmigkeit und monumentaler Einfachheit in ihren Kompositionsprinzipien. Der Text des folgenden Gedichts wurde von Professor Shiroˆ Hattori transkribiert 7 und in unsere Diskussion eingebracht, und seine unten
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(1603–1868) – Gegenwartsjapanisch (seit 1868). Vgl. Lewin, »Sprache«, bes. Sp. 1731–1736. [Anm. d. Übs./Komm.] Makura-kotoba (›Kopfkissenwörter‹). Meist fünfsilbige Wörter oder Wortfolgen, die unmittelbar vor bestimmten Wörtern stehen und mit diesen verknüpft sind. Die *metaphorische Bezeichnung ›Kopfkissenwort‹ spielt auf die *personifizierende Vorstellung an, das nachfolgende Wort stütze seinen Kopf auf das vorhergehende, nutze es also als ›Kopfkissen‹. Das vorliegende Gedicht enthält einige Kopfkissenwörter, z. B. 1 sirakumo-nö, 11 puyugömori, 16 yamatatu-nö. Jakobson benutzt nur an dieser Stelle der Einleitung, nicht aber in seiner Analyse den Begriff ›Kopfkissenwort‹ explizit, geht aber auf einige der entsprechenden Stellen ausführlich ein. Vgl. Anm. 14, 37 u. 41. [Anm. d. Übs./Komm.] Vgl. z. B. Pierson, Makura-Kotoba; Boronina, Poe˙tika klassicˇeskogo japonskogo sticha. [Anm. v. R.J.] – Eine vollständige Auflistung aller Kopfkissenwörter des Man’yoˆshuˆ (vgl. Anm. 16) mit kurzen Erläuterungen und vollständigen Stellenverweisen findet sich in Man’yoˆshuˆ Sakuin, S. 511–524; vgl. auch Takahashi, Man’yoˆ makurakotoba jiten. [Anm. d. Übs./Komm.] Die in der Forschung verwendeten Transkriptionssysteme für das Altjapanische differieren je nach Rekonstruktion der phonologischen oder gar phonetischen Struktur. Hattori argumentiert – im Gegensatz zu der verbreiteten Hypothese, das Altjapanische kenne 8 Vokale –, daß das altjapanische Vokalsystem aus 6 Lauten bestehe, die alle *Phonemstatus besitzen (neben /a/, /i/, /u/ und /e/ zwei o-Laute, /o/ und /ö/), und kennzeichnet bei /i/ und /e/ zudem, ob diese jeweils den vorhergehenden Konsonanten *palatalisieren – mit ›yi‹ bzw. ›ye‹ transkribiert – oder nicht. Vgl. Hattori, »Joˆdai-nihongo no boin-onso«, S. 69–79; Diskussion dazu in Shibatani, The Languages of Japan, S. 131–139; Miller, Die japanische Sprache, S. 180–206. Einige Konsonanten unterlagen zwischen dem Altjapanischen und
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Roman Jakobson
angefügte englische Übersetzung dieser Verse zeigt verschiedene Spuren unserer lebhaften Diskussionen und nachfolgender Überlegungen. [Text des Gedichts inklusive – in runden Klammern – der ›Überschrift‹, auf die sich Jakobson in seiner Analyse bezieht, in den im Originaltext verwendeten chinesischen Schriftzeichen, ›Kanji‹ genannt.8
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dem Gegenwartsjapanisch wohl einer Lautverschiebung (z. B. p > h); Hattoris Transkription berücksichtigt auch dies. Vgl. dazu Schneider, »Sprachgeschichte«, bes. S. 120 f. Die Varianten eines konsonantischen Anlauts vor verschiedenen Vokalen (z. B. ›shi‹ vs. ›su‹) gibt Hattori stets mit dem gleichen Buchstaben wieder (z. B. ›si‹, ›su‹), entscheidet sich hier also für eine formale Systematik, nicht eine (unsichere) phonetische Darstellung. – Jakobson verwendet in seinem Artikel für die aus dem Gedicht entnommenen altjapanischen Namen und Zitate konsequent Hattoris Transkriptionssystem, für andere (sowohl alt- wie gegenwarts-) japanische Werktitel, Begriffe und Eigennamen das Hepburn-System (annähernde Ausspracheregel: Konsonanten wie im Englischen, Vokale wie im Deutschen), meist aber ohne Kennzeichnung der langen Vokale. Für alle von Jakobson erwähnten Personenund Ortsnamen gibt der Kommentar die – auch in westlichen Nachschlagewerken – übliche Hepburn-Transkription mit Längenkennzeichnung durch Zirkumflex an und verwendet diese durchgehend. – Weitere Besonderheiten der Transkription dieses Gedichts: »« markiert die Stellen, an denen durch die Transkription *Wortgrenzen unsicher geworden sind; Großbuchstaben am Zeilenanfang und für Eigennamen entsprechen westlicher Konvention und geben nicht Markierungen des Originals wieder. [Anm. d. Übs./Komm.] Takahashi, »shirakumo no tatsuta no yama no [Nr. 971]«, in: Manyoshu, hier: http://etext.lib.virginia.edu/japanese/manyoshu/Man6Yos.html (15. 06. 2006). – Vgl. auch Takahashi, »shirakumo no tatsuta no yama no [Nr. 971]«, in: Man’yoˆshuˆ 2, SNKBT Bd. 2, S. 49–51; Takahashi, »shirakumo no tatsuta no yama no [Nr. 971]«, in: Man’yoˆshuˆ 2, NKBZ Bd. 3, S. 156 f. Textkritische Anmerkungen in The Manyoˆ´suˆ. Book 6, S. 108–112. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Text [des Gedichts in der Transkription von Shiroˆ Hattori] 9 [ 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17
9
a *Kolon Si ra ku mo-nö Tu yu si mo-ni U ti ko ye te I po pye ya ma A ta ma mo ru Ya ma-nö sö kyi Tö mo nö bye-wo Ya ma byi ko-nö Ta ni gu ku-nö Ku ni ka ta-wo Pu yu gö mo ri Tö bu tö ri-nö Ta tu ta di-nö Ni tu tu zi-nö Sa ku ra ba na Ya ma ta du-nö
b Kolon Ta tu ta-nö i rö du ku ta byi yu ku i yu kyi Tu ku si-ni no-nö sö kyi a ka ti ko ta pe mu sa wa ta ru mye si pa ru sa ri pa ya ku wo ka bye-nö ni po pa-mu sa kyi na-mu mu ka pe Kyi myi-ga
g Kolon
tu ta kyi
ma kyi 10
]
ya ma-nö tö kyi-ni kyi myi-pa sa ku myi i ta ri myi yö-tö ka pa si kyi pa myi kyi pa myi ma pyi-te yu ka-ba ma sa-ne myi ti-ni tö kyi-nö tö kyi-ni wi de-mu ma sa-ba
Durch die graphische Aufbereitung der Transkription und der Übersetzung des Gedichts markiert Jakobson bereits einige der Segmentierungsebenen, die besonders im zweiten Teil seiner Analyse zentral werden: Die kleinste Einheit ist – jeweils durch eine Leerstelle abgetrennt – die ›Silbe‹, die nächstgrößere – in der Transkription jeweils in einer eigenen Spalte stehend – das ›Kolon‹; die Kola der ersten Spalte bestehen immer aus fünf, die der zweiten und dritten Spalte in der Regel aus vier und drei Silben; wo umgekehrt das zweite Kolon aus drei und das dritte aus vier Silben besteht, ist dies durch einen hängenden Einzug der dritten Spalte gekennzeichnet. Jeweils drei Kola – also zwölf (5 + 4 + 3) Silben – bilden eine ›Zeile‹, wobei die Zeilen arabisch numeriert und die Kola zusätzlich mit griechischen Kleinbuchstaben bezeichnet werden, so daß jedes Kolon der Übersetzung einem Kolon der Transkription zugeordnet werden kann. – Die Tabellenform der Übersetzung markiert zudem, welche zwei oder drei aufeinanderfolgenden Zeilen Jakobson jeweils zu einem – römisch numerierten – ›Set‹ zusammenfaßt. In der Analyse kombiniert Jakobson Sets zu ›Gruppen‹ und unterscheidet zudem noch zwei ›Sätze‹. Eine solche kleinteilige und mehrschichtige Segmentierung des *Syntagmas in Einheiten, deren *Äquivalenz- und Kontrastbeziehungen dann – wie hier im zweiten Teil der Analyse – beschrieben werden, ist für Jakobsons strukturalistische Analysemethode typisch; prominent findet sich die hier angewendete Segmentierung in Silben (die im streng *syllabischen japanischen Vers zugleich die einzige metrische Grundeinheit bilden, vgl. Anm. 18), Kola und Zeilen in Jakobsons Aufsatz »Slavic Epic Verse«, bes. S. 452 f. [Anm. d. Übs./Komm.] 10 Emendation: In der Vorlage wird diese Silbe versehentlich als zum vorhergehenden Kolon gehörig dargestellt. [Anm. d. Übs./Komm.]
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[Wörtliche deutsche Übersetzung der von Hattori und Jakobson angefertigten englischen Übersetzung 11, auf die Jakobson seine Analyse stützt.] Set: I 2g Um die Zeit, wenn 1bg die Tatuta-Berge 12, von denen 1a weiße Wolken steigen, 2b farbig werden a durch Herbstfrost, II 3b reist g Du, a der [Du] über sie hinweggekommen bist, 4bg [Deinen] Weg machend a durch die fünfhundertfachen Berge, 5g ankommend b in Tukusi 13 (Zielort) a zur Verteidigung gegen die Feinde, III 7b aufteilend g und entsendend a kommandierte Soldaten 6g mit dem Auftrag: »Inspiziert a das Ende der Berge b und das Ende der Ebene« – IV 10bg und so, gnädig inspiziert habend a die Lage des Landes 8g so weit wie a Echos (Bergmenschen) b antworten können 9g und so weit wie a Talkröten b kriechen – V 11a wenn, mit Bäumen, die prall werden nach dem Winter (oder: mit schrumpfendem Winter) 14 bg der Frühling näherkommt, 12g bitte komme b so schnell a wie ein fliegender Vogel! 11 Im englischen Original des Aufsatzes wird die englische Übersetzung – wie hier die deutsche Übersetzung – in einer Tabelle mit sieben die ›Sets‹ markierenden Zeilen präsentiert und lautet, mit Kennzeichnung der Kola und der Setgrenzen: »2g Toward the time when 1bg the Tatuta mountains, whence 1a white clouds rise, 2b get colored a through autumn frost, 3g you a who having gotten across them b travel, 4bg making way a through the five hundred folds of mountains, 5g arriving b at Tukusi (destination) a for defense against enemies, 7b dividing g and dispatching a soldiers under command 6g with the order: ›survey a the end of mountains b and the end of plains‹ – 10bg and thus having graciously surveyed a the state of the country 8g as far as a echoes (mountain men) b can answer 9g and as far as a valley toads b crawl – 11a when, with trees growing stout after the winter (or: with winter shrinking), bg spring approaches, 12g please come b as quickly a as a flying bird! 13b Along the hillside g paths, a the Tatuta ways, 15g toward the time when a cherry blossoms b will bloom, 14g time when a red azaleas b will glow, 16g it will be an honor to go out b to meet a like (face to face) elder-tree leaves, 17b when you g are to come graciously back.« [Anm. d. Übs./Komm.] ˆ saka, das auf dem Weg nach 12 Tatsutayama ist ein Berggebiet zwischen Nara und O Südwesten überquert werden muß; ein im Man’yoˆshuˆ in weiteren zwölf Gedichten und auch der Lyrik der folgenden Jahrhunderte wiederholt verwendetes Motiv. [Anm. d. Übs./Komm.] 13 Tsukushi. Gebiet im nördlichen Teil von Kyuˆshuˆ, an der Seestraße zur koreanischen Halbinsel gelegen. [Anm. d. Übs./Komm.] 14 Puyugömori (Gegenwartsjapanisch: ›fuyugomori‹). Die gegebene Übersetzungsalternative weist auf die Schwierigkeit dieser mehrdeutigen Stelle hin. Hauptbedeutung von ›fuyugomori‹: ›vom Winter gefangengehalten; Winterschlaf‹. Die hier verwendete Kombination zweier Schriftzeichen für ›gomori‹, ›ko‹ (›Baum‹) und ›moru‹ (›wild wuchern‹) legt die von Hattori gewählte zweite Übersetzungsmöglichkeit nahe; diese doppelte Lesung wird unterstützt durch ein *Homonym zu ›haru‹,
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13b Entlang der Hügel- g Pfade, a der Tatuta-Wege, 15g um die Zeit wenn a die Kirschblüten b blühen werden, 14g um die Zeit wenn a rote Azaleen b glühen werden, VII 16g wird es eine Ehre sein, hinauszugehen b um [Dich] zu treffen a wie (einander gegenüberstehende) Holunderblätter, 17b wenn Du g gnädig zurückkehrst.15 VI
Dieses Gedicht aus dem Jahr 732, das in der Anthologie Manyoshu 16 (»Zehntausend-Blätter-Sammlung«) von 760 17 erhalten geblieben ist, ist ›Frühling‹ (verwendetes Kanji), mit der Bedeutung ›anschwellen‹. (vgl. Pierson, Man’yoˆ´suˆ. Book 6, S. 111, Pierson, Makura-Kotoba, S. 204; vgl. Brower /Miner, Japanese Court Poetry, S. 13.) [Anm. d. Übs./Komm.] 15 Vgl. die Nachdichtung von Wilhelm Gundert: »Dem Hofadeligen Fujiwara Umakai, welcher im Jahr 732 als Inspektor der Landesverteidigung nach Kyuˆshuˆ abgeordnet wurde, zum Abschied: Den weiß umwölkten Tatsutaberg im bunten Kleid der Herbsteszeit unter tauichtem Frühreif überschreitend, ziehst du nun hin auf die Reise von Berg zu Bergen in mühvoller Wanderung hin zur Wacht am Meer auf der äußersten Insel, sendest dein Gefolg weithin aus, zu erkunden Enden der Berge, Enden des ebenen Lands. Hast du dann, soweit Widerhall gibt der Bergschrat, hast du, wo immer Kröten in Tälern kriechen, die Lande alle fürstlich prüfend gemustert, und weicht Winterruh dem anbrechenden Lenze: mit der Vögel Flug eile dich, kehre nach Haus. An dem Hange dann den Tatsuta-Pfad herunter, wenn der Azalien flammende Röte duftet, wenn in ihrer Pracht die Kirschenblüte erstrahlt: wie Fliederblätter wollen wir uns begegnen zur Stunde der Wiederkehr.« (Lyrik des Ostens, S. 406 f.) [Anm. d. Übs./Komm.] 16 Man’yoˆshuˆ. Älteste erhaltene, eminent einflußreiche Anthologie von Gedichten in japanischer Sprache. Enthält in 20 Bänden 4516 Gedichte aus einem Entstehungszeitraum von mindestens dem frühen 7. Jhd. bis 759 n. Chr., viele davon aus anderen Anthologien übernommen. Das Man’yoˆshuˆ zeugt von einer wichtigen Entwicklungsstufe auf dem Weg zu einem für das Japanische verwendbaren Schriftsystem auf der Basis der chinesischen Schrift. Die Gedichte des Man’yoˆshuˆ sind ausschließlich mit chinesischen Schriftzeichen, genannt ›Kanji‹, geschrieben, die entweder ihrem chinesischen Lautwert entsprechend für einen ähnlichen japanischen Laut (phonetische Lesung) oder ihrer Bedeutung entsprechend für ein japanisches Wort (semantische Lesung) verwendet werden; bisweilen wird die Lautfolge der semantischen Lesung als phonetischer Bestandteil eines längeren anderen Wortes benutzt (›Rebus‹-Lesung). Die zwei chinesischen Zeichen für 6 myiyö [›inspiziert‹ (Imperativ)] sind ein Beispiel für die letzten beiden Arten von Lesungen: Das erste Zeichen bedeutet ›sehen‹ und wird mit dem Stamm des japanischen Verbs für diese Bedeutung, ›myi‹, gelesen (semantische Lesung); das zweite Zeichen bedeutet ›Welt, Zeitalter‹; die japanische Aussprache der Bedeutung dieses Zeichens, ›yö‹, wird in diesem Fall ohne Rücksicht auf die Bedeutung für die homophone Imperativendung des Verbs verwendet. Vgl. dazu Miller, Die japanische Sprache, S. 99–106; Cranston, Art. »Man’yoˆshuˆ«, hier: S. 109. Die einzelnen Gedichte oder Gedichtgruppen werden meist – wie auch im vorliegenden Gedicht, vgl. Anm. 24 – von einem kurzen, auf Chinesisch und wohl von den Kompilatoren verfaßten Text, ›dai‹ (›Titel; Thema‹) eingeleitet, der oft Autor
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das einzige ›Langgedicht 18‹, das Takapasi Musimarö 19 unmittelbar zugeschrieben wird; einige andere in der gleichen Sammlung sollen aus einer Anthologie übernommen sein, die entweder von Musimarö verfaßt oder vielleicht nur von ihm zusammengestellt wurde.20 Der Adressat dieser poetischen Botschaft 21, Pudipara Umakapyi 22 (694–737), war ein hoher Würdenträger, 716 als Vize-Botschafter nach China gesandt, 719 Gouverneur der Provinz Hitashi, 726 Aufseher über den Bau eines neuen Palastes, 731 Minister, 732 ernannt zum Generalgouverneur der westlichen Provinzen, ein besonders wichtiger militäri-
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und /oder Entstehungskontext nennt, und häufig von einer ebenfalls chinesischen und von den Kompilatoren verfaßten editorischen Notiz gefolgt. Das älteste fragmentarisch erhaltene Manuskript stammt aus der Mitte der Heian-Periode (Mitte des 11. Jhds), das älteste vollständige aus der späten Kamakurazeit (um 1300). Vgl. Cranston, Art. »Man’yoˆshuˆ«, hier: S. 110. [Anm. d. Übs./Komm.] Die Kompilation des Man’yoˆshuˆ wurde wohl um 780 fertiggestellt; das letzte Gedicht ist auf den japanischen Neujahrstag des Jahres 759 datiert. [Anm. d. Übs./ Komm.] Choˆka. Die japanische Metrik kennt nur die Silbenzählung. Das Langgedicht besteht aus mindestens zwei Paaren von 5 und 7–silbigen Versen, die mit einer Folge von drei Versen mit fünf, sieben und sieben Silben abgeschlossen werden: 5–7–5–7–…–5–7–7. Im Man’yoˆshuˆ werden Langgedichte in der Regel gefolgt von einem oder mehreren ›hanka‹ (wörtlich ›Gegengedicht‹) in der Form 5–7–5–7–7, das Gedanken des vorhergehenden Langgedichts in kondensierter Form wiederholt. Vgl. Brower, Art. »waka«, hier: S. 202. Auch das vorliegende Langgedicht ist von einem Hanka gefolgt, das Wilhelm Gundert wie folgt übersetzt: »Ob zu Tausenden Feinde das Land bedräuen, er verliert kein Wort: nimmt sie. Es ist seine Art. Wahrlich, er dünkt mich ein Mann.« (Lyrik des Ostens, hier: S. 407). [Anm. d. Übs./Komm.] Takahashi no Muraji Mushimaro. Vgl. Anm. 31 u. 33. [Anm. d. Übs./Komm.] Diese Anthologie ist nicht erhalten. Mehr als 30 Gedichte des Man’yoˆshuˆ stammen nach den Angaben der Kompilatoren daraus. Vgl. Brower, Art. »Takahashi no Mushimaro« und »Takahashi no Muraji Mushimaro«, in: Man’yoˆshuˆ 2, SNKBT Bd. 2, S. 12. [Anm. d. Übs./Komm.] Jakobson verwendet hier (wie häufig in seinen Gedichtanalysen) die drei Instanzen des Bühlerschen Kommunikationsmodells, das er in »Linguistics and Poetics« (S. 24–27; in deutscher Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 165– 170) prominent weiterentwickelt. [Anm. d. Übs./Komm.] Fujiwara no Umakai. Jakobsons Angaben entsprechen immer noch dem Stand der Forschung. Einige Gedichte Fujiwara Umakais sind im Man’yoˆshuˆ überliefert, ein weiteres, aus Anlaß seiner Abordnung nach Kyuˆshuˆ verfaßtes, in der nur chinesische Gedichte enthaltenden Anthologie Kaifuˆsoˆ. Die Ernennung Fujiwara Umakais zu einem der ›Setsudoˆshi‹ (Generalgouverneure) und seine Abordnung nach Kyuˆshuˆ sind historisch belegt, vgl. die 797 verfaßten Annalen Shoku Nihongi, hier: Shoku Nihongi 2, SNKBT Bd. 13, S. 256–263; »Fujiwara no Asomi Umakai« in: Man’yoˆshuˆ 2, SNKBT Bd. 2, S. 14 u. Kommentar auf S. 50. [Anm. d. Übs./Komm.]
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scher Posten angesichts der gefährlichen Gegner, China und Korea, denen diese Region zu jener Zeit gegenüberstand.23 In einer offenbar *paronomastischen Weise gibt der Titel 24 von Musimarös Versen, der vielleicht von den Kompilatoren 25 des Manyoshu aus der eigenen Anthologie des Dichters übernommen wurde, an, daß Takapasi dieses Gedicht verfaßte, als der Generalgouverneur auf diese Mission entsandt wurde 26: »setudosi-ni tukapasaruru tökyi-ni Takapasi-nö murazi Musimarö-nö uta pyitötu« [›zur Zeit, als (Pudipara Umakapyi) als Generalgouverneur entsandt wurde, verfaßte Takapasi Musimarö dieses Gedicht‹].27 Titel wie Text des Gedichts (Zeile 7) teilen die paronomastische 23 Von den drei Königreichen auf der koreanischen Halbinsel war Silla Ende des 7. Jhds. mit dem chinesischen T’ang-Reich verbündet, Paekche und Koguryo˘ waren durch T’ang (mit Unterstützung von Silla) erobert worden. Bei der Verteidigung Paekches war eine japanische Flotte 663 vernichtend geschlagen worden. Japan sah daraufhin das T’ang-Reich und seinen Verbündeten Silla als ernsthafte Bedrohung an und ergriff Verteidigungsmaßnahmen. Unter anderem wurden zahlreiche Festungen gebaut und die Hauptstadt von der Küste weg ins Landesinnere verlegt. Vgl. Mitsusada /Brown, »The century of reform«, hier: S. 201–210; Koˆjiroˆ, »The Nara state«, hier: S. 222–224. [Anm. d. Übs./Komm.] 24 Was Jakobson hier als ›Titel‹ (›dai‹) bezeichnet, ist eine kurze, in chinesischer Prosa verfaßte Darstellung des Entstehungskontextes des Gedichts. Solche meist von den Kompilatoren verfaßte ›Titel‹ sind üblich – im Gegensatz zu überschriftartigen Titeln, die ungebräuchlich sind. Vgl. das vollständige Zitat in Kanji des Titels dieses Gedichts auf S. 368 f. und die Umschrift und Übersetzung auf S. 373 u. in Anm. 27. [Anm. d. Übs./Komm.] 25 Die Kompilatoren sind nicht namentlich genannt; man vermutet u. a. aufgrund der ˆ tomo no Yakamochi hauptverantwortlich war; möglicherGedichtauswahl, daß O weise war auch Takahashi no Mushimaro an der Kompilation der Bände 9 und 14 beteiligt. [Anm. d. Übs./Komm.] 26 Jakobson wählt für seine Analyse ein Gelegenheitsgedicht, ein typisches Genre der japanischen Lyrik; vgl. in dieser Hinsicht auch Jakobsons Radisˇcˇev-Analyse »›Ty chocˇesˇ’ znat’: kto ja?‹«, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 688–710. [Anm. d. Übs./Komm.] 27 Ausschnitt aus dem (auf S. 368 f. vollständig zitierten) chinesisch geschriebenen ›Titel‹ des Gedichts. Chinesisch geschriebene Passagen wurden vermutlich beim Lesen direkt ins Japanische ›übersetzt‹, indem Schriftzeichen semantisch gelesen, Partikel ergänzt (für das ›ni‹ in ›tökyi-ni‹ etwa gibt es im Text kein entsprechendes Zeichen) und Satzglieder mit Hilfe von im Text vorhandenen Markierungen umgestellt wurden (das hier ›tukapasaruru‹ gelesene Schriftzeichen steht im Text vor den Zeichen für ›setudosi‹). Die (in japanischer Silbenschrift notierten) Transkriptionen in modernen Textfassungen geben – wie der hier von Jakobson angeführte Ausschnitt – diese ›Übersetzung‹ wieder (die in verschiedenen Ausgaben differiert). Der vollständige Titel lautet in einer möglichen Version (hier gleich in deutscher Übersetzung): ›Im vierten Jahr [der Regierungszeit von Kaiserin Koˆmyoˆ, d. h. 732], als Fujiwara Umakapyi als Generalgouverneur nach Saikaidoˆ gesandt wurde, ver-
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Gegenüberstellung des Namens Takapasi mit den Verbformen tukapasaruru ›entsandt werden‹ und tukapasi ›entsenden‹, und man mag sich zurecht fragen, ob derselbe Text nicht den vollen Namen des Dichters als Anagramm 28 verbirgt. Es ist beachtenswert, daß die sieben verschiedenen Silben, die in Vor- und Nachnamen des Dichters enthalten sind, 47 mal in den 197 Silben des Gedichts vorkommen und so fast ein Viertel seines faßte Takahashi no Muraji Musimaro dieses Gedicht und dieses Tanka.‹ Jakobsons Kursivierung hebt offenbar die Buchstaben hervor, die sowohl in »Takapasi Musimarö« wie auch in dem umgebenden Text enthalten sind; möglicherweise ist ›sima‹ in ›Musimarö‹ versehentlich kursiviert. Problematisch ist, daß Jakobson von der Transkription (der in der obigen Weise rekonstruierten japanischen ›Übersetzung‹!) ausgehend für gleiche Konsonanten auch in verschiedenen Silben den gleichen Lautwert annimmt; gerade für ›s‹ in der Verbindung ›sa‹ wie in ›tukapasaruru‹ und ›si‹ wie in ›Takapasi‹ ist das unwahrscheinlich. Vgl. dazu auch Anm. 7 u. 57. [Anm. d. Übs./Komm.] 28 Jakobson folgt mit seiner Verwendung des Begriffs »Anagramm« Ferdinand de Saussure, der sich in seinen erst Ende der 1960er Jahre bekanntgewordenen Anagrammstudien ausführlich mit der Möglichkeit einer den Lautbestand von Gedichten (vergleichbar etwa dem *Reim) mitbestimmenden Rolle von Anagrammen in der indoeuropäischen Poesie auseinandersetzte. Mit Jakobsons Versuch, ein derartiges Anagramm in einem altjapanischen Gedicht zu finden, weist er auf die Universalität dieses Phänomens hin, das Jakobson wohl wegen der generativen Kraft, die es Lautverbindungen zuschreibt und damit eine gewisse Autonomie des Gedichts postuliert, faszinierte. Ein Präzedenzfall dafür findet sich in Jakobsons Artikel »Retrospect«, in dem er Anagramme im Saussureschen Sinn in dem altrussischen Epos Slovo o polku Igoreve [›Lied von der Heerfahrt Igor’s‹ bzw. ›Igorlied‹] sucht; dort sieht er Saussures Überlegungen für eine zwar indoeuropäische, aber außerhalb von Saussures Untersuchungsbereich liegende Dichtung beispielhaft dadurch bestätigt, daß auch für sie Saussures Beobachtung gelte, jede Passage sei »nur ein Gewimmel von Silben oder phonetischen Gruppen, die wie Echos aufeinander antworten«. Jakobson, »Retrospect«, hier: S. 680. – Der Zwitterstatus der Textform des vorliegenden Gedichts – Jakobson arbeitet nicht mit der ursprünglichen Schriftform, sondern mit einer Transkription, die aber keinen Anspruch auf eine phonetische Wiedergabe des Gedichts erheben kann – macht seine Überlegungen problematisch, da er sie weder auf (von Saussure nicht in Betracht gezogene) schriftliche noch auf phonetische Äquivalenzen stützen kann. Zu Saussures Anagrammstudien und deren Rezeption durch Jakobson vgl. Starobinski, »Les mots sous les mots: textes ine´dits«; Starobinski, Les Mots sous les Mots. Les anagrammes; Jakobson, »Retrospect«, S. 680– 686, sowie ders., »La premie`re lettre de Ferdinand de Saussure a` Antoine Meillet sur les anagrammes«. – Japanische Poesie zeigt generell eine große Affinität zu Lautspielen; der Einsatz von eine zweite Bedeutungsebene öffnenden Homonymen, ›kakekotoba‹, etwa ist ein zentrales Stilmittel; vgl. Brower, »Japanese [Versification]«, hier: S. 44 f. Silbenakrosticha finden sich in der Lyrik, Anagramme im strengen Sinn sind eher unüblich, aber in Sondersprachen belegt. Vgl. Lewin, »Sondersprachen«, bes. Sp. 1773, und Schneider, »Wortspiel«. [Anm. d. Übs./Komm.]
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gesamten Silbenbestandes ausmachen (13 ta, 6 ka, 7 pa, 5 si, 5 mu, 10 ma, 1 rö).29 Während wir eine Vielzahl an biographischen Informationen über den hochrangigen Adressaten des Gedichts und seine adeligen Vorfahren 30 besitzen, fehlen uns jegliche Angaben über den Absender, der ein Mann von niedrigerer Herkunft gewesen sein muß, vermutlich ein Beamter untergeordneten Ranges.31 Er könnte unter Umakapyi gedient haben und scheint mit Nara und dessen kulturellem Leben in der späten Nara-Zeit 32 in Kontakt gewesen zu sein.33 Die gleiche unerschütterliche vertikale Ordnung der Gesellschaftsstruktur Naras, die ihre akkurate Widerspiegelung zum Beispiel in der höchst ungleichmäßig verteilten Aufmerksamkeit des Chronisten dem verehrten Generalgouverneur und, auf der anderen Seite, seinem brillanten Lobredner gegenüber findet, hat augenscheinlich die Entwicklung der Höflichkeitsformen des Japanischen vorangetrieben.34 In Musimarös Poe29 Jakobsons Zählung ist korrekt. Dennoch schwächt die sehr unterschiedliche Häufigkeit des Vorkommens der sieben verschiedenen Silben (13 ta, 10 ma vs. 1 rö), die fehlende systematische Markierung der Stellen, und die Tatsache, daß die letzte Silbe des Namens, ›rö‹, nur einmal, und zwar bereits in der zweiten Zeile des Gedichts auftritt, und damit Anfangs- und Endsilbe nicht wie in Saussures Überlegungen eine ausgezeichnete Stellung einnehmen, seine Argumentation. [Anm. d. Übs./Komm.] 30 Dem Großvater Fujiwara Umakais wurde vom Herrscher Tenji aus Dank für Unterstützung der Sippenname ›Fujiwara‹ verliehen. Die damit gegründete Familie Fujiwara dominierte über mehrere Jahrhunderte hinweg die Politik Japans. Vgl. Shinoda, »Fujiwara family«. [Anm. d. Übs./Komm.] 31 Der Bestandteil ›murazi‹, ›Muraji‹ seines Namens ist ein Titel, der wichtigen Sippenoberhäuptern außerhalb der kaiserlichen Familie verliehen wurde. Im 8. Jahrhundert war dieser Titel nach einigen Verwaltungsreformen wohl der fünfthöchste Titel dieser Art. Jakobsons Formulierung »von niedrigerer Herkunft« ist also mißverständlich; die Vermutung, Takahashi Mushimaro sei ein niedriger Beamter gewesen, hingegen wohl zutreffend. Vgl. Hall, Das Japanische Kaiserreich, hier: S. 43, und Koˆjiroˆ, »The Nara State«, hier: S. 133–140 u. 225 f. [Anm. d. Übs./Komm.] 32 Nara wurde 694 gegründet und war von 710 bis 784 die Hauptstadt des japanischen Reiches; 784 wurde die Hauptstadt nach Nagaoka verlegt, 794 schließlich nach Heian (das heutige Kyoˆto). Die Hakuhoˆ-Zeit (645–710) wird bisweilen als »frühe Nara-Zeit«, entsprechend dann die Zeit bis 784 als »späte Nara-Zeit« bezeichnet. [Anm. d. Übs./Komm.] 33 Zu Takahashi no Muraji Mushimaro gibt es kaum gesicherte Fakten; Jakobsons Angaben entsprechen dem heutigen Stand der Forschung. Vgl. Brower, Art. »Takahashi no Mushimaro« und »Takahashi no Muraji Mushimaro«, in: Man’yoˆshuˆ 2, SNKBT Bd. 2, S. 12. [Anm. d. Übs./Komm.] 34 Das Japanische kennt ein komplexes Höflichkeitssystem (›keigo‹), das durch lexikalische und morphologische Mittel die interpersonalen Beziehungen von Sprecher
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tik wird dieser vertikale Stil zu einem zweckmäßigen künstlerischen Werkzeug. Eine derartige sprachliche Etikette, die mit einem ständigen Wechsel zwischen den beiden Polen der höher-niedriger-Achse jongliert, mit ihrer betonten Distanz zwischen den Höhen der Ehrerbietungsformen und den entgegengesetzten Bescheidenheitsformen, entspricht durch und durch der räumlichen und zeitlichen Dynamik dieses Gedichts. Musimarös Behandlung seines Gegenstandes ist besonders greifbar vor dem beeindruckenden Hintergrund von Japans alter bildender Kunst, mit ihrer außergewöhnlichen Beherrschung von Linien, Flächen und Bewegung. Tatsächlich bietet die Botschaft des Dichters eine malerische und bewegende dynamische Schau weiter, aber meist umgrenzter Räume, die von einer Kette intensiver Bewegungen beherrscht werden (das Gedicht zeichnet sich durch Verben der Bewegung aus), Bewegungen, die mit Ankündigungen von zeitlichen Veränderungen verknüpft sind (2g um die Zeit wenn 〈…〉; 15g um die Zeit wenn 〈…〉; 14g um die Zeit wenn 〈…〉). Die Aufmerksamkeit wird kontinuierlich zugleich auf die horizontale wie auf die vertikale Richtung gelenkt.35 Die erste der siebzehn Zeilen 36, aus denen das Gedicht besteht, deutet auf Tatuta, wobei der Name des Gebirges etymologisch mit der Verbform und Angesprochenem zueinander und zu in der Rede genannten Personen und Sachverhalten sowie deren Beziehungen zueinander kennzeichnet und gesellschaftliche Strukturen spiegelt. Grundsätzlich unterscheidet man dabei zwischen Ehrerbietungsformen (›sonkeigo‹), die Handlungen des Angesprochenen und /oder Höherstehenden hinaufsetzend, und Bescheidenheitsformen (›kenjoˆgo‹), die entsprechend Handlungen des Sprechers und /oder Niederstehenden herabsetzend bezeichnen; seit dem klassischen Japanisch werden auch neutrale Sachverhalte in einer besonderen Weise formuliert, um unabhängig vom Redeinhalt Höflichkeit gegenüber dem Angesprochenen auszudrücken (›teineigo‹). Mit Änderungen des gesellschaftlichen Systems gingen auch Schwerpunktverlagerungen in den Nuancierungsmöglichkeiten des Höflichkeitssystems einher; aber schon in den ältesten schriftlich erhaltenen Quellen ist ein solches System nachweisbar. Im Altjapanischen überwiegen die Ehrerbietungsformen, markiert werden also vor allem Handlungen eines Höhergestellten und dessen direkte Ansprache; weniger ausgeprägt sind Bescheidenheitsformen nachweisbar; eine vom Redeinhalt unabhängige neutrale Höflichkeitsform existiert noch nicht. Vgl. Lewin, »Japanischer Soziativ«, bes. S. 21–26 u. 56–59. [Anm. d. Übs./Komm.] 35 Die Begriffe ›vertikal‹ und ›horizontal‹ sind auch in Jakobsons erster Blok-Analyse »Stichotvornye proricanija Aleksandra Bloka. I«, hier: S. 546–557 (vgl. die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 458–474) wichtig; dort verweisen sie neben räumlichen Beziehungen des Besprochenen auch auf Relationen zwischen Teilen des Gedichttextes, während sie hier ausschließlich auf inhaltliche – sowohl räumliche wie soziale – Beziehungen angewendet werden. [Anm. d. Übs./Komm.] 36 Obwohl zur Zeit des Man’yoˆshuˆ die 5–7–5–7–…–5–7–7 Silbenfolge der Langge-
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›aufstehen, aufsteigen‹ und mit dem Vokabular von Aufbruch und Abreise verbunden ist und so das anfängliche Bild von den weißen Wolken, die von den Bergen aufsteigen, vervollständigt,37 ein Bild, zu dem die gleichzeitige vertikale Darstellung des beginnenden Aufstiegs des Helden eine Parallele bildet. Tukusi, zumindest in poetischer Etymologie mit dem Verbalstamm tuku ›enden, ankommen‹ verbunden, ist die Bezeichnung des Endpostens, der geschaffen wurde, um die »Verteidigung gegen die Feinde« zu gewährleisten, und der vom Helden erreicht wird (Zeile 5), nachdem dieser sich seinen Weg durch die legendären »fünfhundertfachen Berge« gebahnt hat (Zeile 4). Diese wellenförmige Bewegung wird zum Auf und Nieder des vertikalen Stils: Das Verb ›sehen, inspizieren‹ wird zuerst herablassend als Befehl des Generalgouverneurs an die »befehligten Soldaten« (Imperativ 6 myiyö-tö) gerichtet und dann ehrerbietend im Preis des Lobredners für den Generalgouverneur, »die Lage des Landes gnädig inspiziert zu haben« (10 myesi), gebraucht. Zwei konzentrische Bereiche werden etabliert, ein visueller – »das Ende der Berge und das Ende der Ebenen« (Zeile 6) – und akustische Grenzen – »so weit wie die Bergmenschen (Echos) antworten können« (Zeile 8) und »so weit wie Talkröten kriechen« (Zeile 9).38 Die *Opposition von höherem und niedrigerem Niveau, Berg versus Tal, wird in beiden Fällen durch Parallelismus 39 betont. dichte als 5–7–Paare wahrgenommen wurde (›goshichichoˆ‹), ist diese Paarung nicht graphisch gekennzeichnet und eine Bezeichnung als »Zeilen« unüblich. Vgl. Brower, »Japanese [Versification]«, hier: S. 45. [Anm. d. Übs./Komm.] 37 Damit beschreibt Jakobson das Funktionieren des Kopfkissenworts ›shirakumono‹ – ›weißbewölkt /weiße Wolken‹, das das erste Kolon des Gedichts bildet: Das Bild der weißen Wolken soll das ausgesparte Verb ›tatsu‹ – ›aufsteigen‹ evozieren, das ein Homonym zu den ersten beiden Silben des Bergnamens ›Tatsuta‹ ist und damit wiederum dieses Wort unterstützen soll. Viele Kopfkissenwörter funktionieren über eine solche Kombination *metonymischer und lautlicher Relationen. [Anm. d. Übs./Komm.] 38 Der Text ist hier unklar: Vermutlich unterscheidet Jakobson als die beiden »konzentrischen Bereiche« den visuellen und den akustischen. Die Zuordnung des Aktionsradius der Talkröten zum akustischen Bereich scheint aber ohne weitere Erklärung nicht evident. [Anm. d. Übs./Komm.] 39 Parallelismus ist ein wichtiges und bewußt eingesetztes Stilmittel der japanischen Lyrik, vor allem in den Langgedichten; üblicherweise entsprechen sich dabei zwei Verspaare mit jeweils 5 und 7 Silben, also zwei ›Zeilen‹ in Jakobsons Terminologie. Vgl. Cranston, Art. »Man’yoˆshuˆ«, hier: S. 104. Parallelismus – in einem weiteren als dem rhetorischen Sinn – ist gemäß Jakobson ein zentrales und universelles Kennzeichen poetischer Texte (vgl. etwa »Grammatical Parallelism and its Russian Facet« und die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 302–364; »Poe˙zija grammatiki i grammatika poe˙zii« und die deutsche Übersetzung in der
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Die rasche Rückkehr des Adressaten, angestoßen durch das gleichzeitige Bild des wiederkehrenden Frühlings, wird vom Absender erfleht und erwartet mit Ehrerbietungsformen, die den sozialen Abstand zwischen dem Höheren und dem niedriger Stehenden kennzeichnen (Imperativ 12 kyimasane ›geruhe zu kommen‹; 17 kyimasaba ›wenn du geruhst zu kommen‹). Doch 40 zugleich benutzt letzterer Bescheidenheitsformen, um seine eigenen Schritte entlang der Tatuta-Wege anzukündigen, die er unternimmt, um seinem Helden entgegenzugehen (16 mukape mawidemu ›es wird eine Ehre sein, zum Treffen zu gehen‹) und so den räumlichen Abstand zwischen dem Sender und dem Empfänger der Botschaft zu verkürzen. Obwohl diesem Ausdruck durch den Bescheidenheitscharakter seiner Form sein pronominales Subjekt vorenthalten ist, erweist er sich als der einzige unabhängige Ausdruck im Indikativ im gesamten Gedicht. Die Schlußtrope der gesamten Botschaft, der Vergleich, der diesem Ausdruck beigefügt wird, setzt das imaginierte Treffen mit den Holunderblättern (16 yamatadu-nö) gleich, die einander gegenüberstehend wachsen und die Ersetzung jedweder Distanz 41, ob horizontal oder vertikal, durch ein »Solidaritätsmerkmal« nahelegen.42 vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 256–301); auch hierin sieht er sich durch dieses altjapanische Gedicht bestätigt. [Anm. d. Übs./Komm.] 40 Das *adversative ›doch‹ bezieht sich nicht auf den – den Ehrerbietungsformen vollkommen entsprechenden – Einsatz der Bescheidenheitsform zur Bezeichnung einer eigenen Handlung des Sprechers, sondern auf seine aktive Verkürzung des Abstands durch sein Entgegengehen, nachdem die vertikale Distanz so deutlich markiert wurde. [Anm. d. Übs./Komm.] 41 Bemerkenswert ist, daß das Kopfkissenwort ›yamatadsu no‹ – ›wie Holunder‹ eine entscheidende Bedeutung für Jakobsons Interpretation gewinnt, während in traditionellen japanischen Interpretationsansätzen Kopfkissenwörter als bloße Ausschmückung des ›gestützten‹ Wortes nur im Bezug zu diesem Wort gesehen und kaum eigenständig analysiert werden. Symptomatisch dafür ist, daß in den in modernen japanischen Textausgaben angebotenen Paraphrasen die Kopfkissenwörter eingeklammert werden. – Gestützt wird Jakobsons Interpretation durch eine Parallelstelle im Man’yoˆshuˆ, dem Tanka »kimi ga yuki« (Nr. 90), in dem eine Prinzessin die lange Abwesenheit ihres Geliebten beklagt und ankündigt, ihm entgegenzugehen, um ihn zu treffen; dieses Treffen von hierarchisch gleichgestellten und sich nahestehenden Personen wird durch wörtlich die gleiche Wendung ›yamatadsu no mukape‹ beschrieben. (Vgl. »kimi ga yuki«, in: Man’yoˆshuˆ 1, SNKBT Bd. 1, S. 87– 90.) [Anm. d. Übs./Komm.] 42 Vgl. Neustupny´, Post-structural Approaches, Kapitel X (hier: S. 201 f.). [Anm. v. R.J.] – Neustupny´ unterscheidet, im Anschluß an Brown und Gilman (Brown / Gilman, »The Pronouns of Power and Solidarity«, bes. S. 255–261), ›Grad der Bekanntschaft‹ (»Solidarity Distance« oder »Intimacy«) von ›hierarchischem Abstand‹ (»Status Distance«) und zeigt, daß verschiedene Höflichkeitssysteme diese
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Passend zu dem eindrucksvollen Bild der »fünfhundertfachen Berge« (4 ipopyeyama), durch die der hochrangige Held hindurchzieht, scheint die Komposition des Gedichts fünfzig Kola 43 zu enthalten. Jede seiner siebzehn Zeilen, mit Ausnahme der letzten, enthält drei Kola 44, die man mit ›erstes‹ (a), ›vorletztes‹ (b) und ›letztes‹ (g) Kolon bezeichnen könnte, während die siebzehnte Zeile, des ersten Kolons beraubt, auf das vorletzte beiden Kategorien in unterschiedlichem Maß berücksichtigen. Das Japanische – Neustupny´ behandelt nur das Gegenwartsjapanische – sei ein Beispiel für eine Sprache, für deren Höflichkeitssystem beide Kategorien relevant seien (vgl. Neustupny´, Post-structural Approaches, S. 199–207). Die in diesem Zusammenhang naheliegende Unterscheidung zwischen *Symmetrie und Asymmetrie der verwendeten Höflichkeitsformen betrachtet er separat. Eine weitere Unterscheidung, die Neustupny´ in diesem Zusammenhang anführt, ist die von Jakobson selbst stammende zwischen Pragmatik des Sprechereignisses (»speech event«) und des erzählten Ereignisses (»narrated event«). Vgl. a. a. O., S. 205 und Jakobson, »Shifters, verbal categories, and the Russian verb«, hier: S. 133–136. [Anm. d. Übs./Komm.] 43 Jakobson verwendet ›Kolon‹ für eine metrische Einheit aus ein oder mehreren Worten mit obligatorischer Wortgrenze (vgl. seine kurze Definition in »Slavic Epic Verse. Studies in Comparative Metrics«, hier: S. 453), in diesem Gedicht aus drei bis fünf Silben; ›Kolon‹ bezeichnet damit eine kleinere Einheit als im deutschen und englischen Sprachgebrauch üblich. Vgl. »Kolon«, Bußmann, Lexikon der Sprachwissenschaft, S. 245. [Anm. d. Übs./Komm.] 44 Jakobsons metrische Einteilung beschreibt, von den einzelnen Silben ausgehend, die Grenze nach den siebensilbigen Versen als die dominante, während er die Grenze zwischen den fünf- und siebensilbigen Versen der innerhalb des siebensilbigen Verses auftretenden *Zäsur gleichsetzt. Für diese innere Zäsur postuliert er ein Auftreten nach der vierten Silbe; andernfalls sei die Zäsur als abweichend markiert. Üblicherweise werden in der japanischen Poetik die Grenzen nach den fünf- und den siebensilbigen Versen gleichgesetzt; für Langgedichte wird aber eine Affinität zu einem 5–7–Verspaar beschrieben (vgl. Anm. 36). Die (durch übliche Wortlängen bedingte) Zäsur und vor allem ihre Position innerhalb des siebensilbigen Verses wird nicht als metrische Norm gesehen. Für Jakobsons Einteilung sprechen in diesem Gedicht einige syntaktische Argumente; so finden sich alle Satzteil- und Satzgrenzen nach einem siebensilbigen Vers, und an einigen Stellen weist der vor der inneren Zäsur stehende erste Teil des siebensilbigen Verses eine ähnliche Konstruktion auf wie fünfsilbige Verse; in dem vorliegenden Gedicht prominent in Zeile sechs, in der das a- und b-Kolon vollkommen gleich konstruiert ist; an anderen Stellen ist aber die syntaktische Verbindung zwischen b- und g-Kolon deutlich enger als je zwischen a und b (z. B. die Adverb-Verb Konstruktion in Zeile 12). Allgemein finden sich die später eingeführten ›kireji‹, ›Schneidewörter‹, die eine Zäsur markieren, immer nur als Abschluß der fünf- oder siebensilbigen Verse, nie innerhalb des siebensilbigen Verses. Pierson, Man’yoˆ´suˆ. Book 6, S. 108 f., notiert ebenfalls je ein 5–7–Verspaar in einer Zeile, numeriert allerdings die einzelnen Verse durch und markiert keinerlei Zäsur innerhalb des siebensilbigen Verses. Vgl. Brower, »Japanese [Versification]«, hier: S. 45 u. 49. [Anm. d. Übs./Komm.]
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b und letzte g beschränkt ist. In all den sechzehn Zeilen, die mit dem a
Kolon ausgestattet sind, besteht dieses aus fünf Silben, die hauptsächlich durch Nomina ausgefüllt sind, und die beiden folgenden Kola setzen für gewöhnlich eine arithmetische Regression um: (5 +) 4 + 3.45 In fünf Zeilen ist die Silbenordnung von b und g vertauscht.46 Zweimal ist eine Silbe des vorletzten Kolons abgeschnitten: So ändert sich in der vierten Zeile die Ordnung von 4 + 3 Silben zu 3 + 3, und in der zehnten Zeile wird die umgekehrte Ordnung von 3 + 4 Silben ersetzt durch 2 + 4. So enthalten die drei Kola einer Zeile in der Regel 12 Silben: Sie beginnen immer mit einem fünfsilbigen Kolon, gefolgt von einer siebensilbigen, oder, im Ausnahmefall, sechssilbigen Sequenz zweier nachgestellter Kola. Der Silbenaufbau der Zeilen ist eine von mehreren konstruktiven Einsatzweisen der Zahlen ›fünf‹ und ›sieben‹ in der Komposition von Musimarös Gedicht 47 mit seinen 50 Kola. Das Gedicht ist in sieben schmale Zeilensets unterteilt, drei Triaden und vier Dyaden. Jede Triade ist von zwei Dyaden umgeben: zwei-dreizwei-drei-zwei-drei-zwei Zeilen 48. 45 Jakobson weist in einigen seiner Analysen auf arithmetische Regressionen hin; vgl. die 1965 entstandene Analyse des Radisˇcˇev-Gedichts »›Ty chocˇesˇ’ znat’: kto ja?‹«, S. 318 (vgl. die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 702); die 1962 entstandene Analyse »Stichotvornye proricanija Aleksandra Bloka. I.«, S. 558; in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 475, und Jakobsons Yeats -Analyse, vgl. Jakobson /Rudy, »Yeats’ ›Sorrow of Love‹«, S. 613 (in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 592). Vgl. Anm. 49. [Anm. d. Übs./Komm.] 46 Dies ist in der Transkription des Gedichtes durch einen hängenden Einzug gekennzeichnet. [Anm. d. Übs./Komm.] 47 Der Wechsel von fünf- und siebensilbigen Verszeilen ist freilich nicht nur für das hier vorliegende Gedicht oder die hier vorliegende Form, das ›choˆka‹, üblich, sondern überhaupt kennzeichnend für die japanische Metrik: Mit wenigen Ausnahmen in früh entstandenen Texten bestehen alle Gedichte des Man’yoˆshuˆ aus fünf- und siebensilbigen Versen. Die Form, in der die überwiegende Mehrzahl (ca. 4200) der Gedichte des Man’yoˆshuˆ verfaßt ist, das ›tanka‹, besteht aus einer Abfolge von 5–7–5–7–7 Silben und wird zur Standardgedichtform für Jahrhunderte. – Die Zahlen 5 und 7 treten in Jakobsons Einteilung an folgenden Stellen auf: Jede Zeile (mit Ausnahme der letzten) besteht aus 5 plus 7 Silben; er faßt die Zeilen zu 7 Sets zusammen und die erste und dritte Gruppe von Sets bestehen aus jeweils 7 Zeilen bzw., in der alternativen Gliederung, aus 5 Zeilen, die eine 7–zeilige Gruppe umschließen. Ebenso häufig findet man allerdings in Jakobsons Segmentierung die Zahl 3:3 Kola pro Zeile (eines davon mit 3 Silben), 3 der sieben Sets bestehen aus je 3 Zeilen und zwei alternative Triptycha, eines davon mit einem 3–zeiligen Set als Mittelstück. 3er- und 7er-Strukturen sind auch wichtig in Jakobsons Yeats-Analyse, »Yeats’ ›Sorrow of Love‹« (deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe). [Anm. d. Übs./Komm.]
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Jedes Set übernimmt seine eigene abgegrenzte Rolle in der Handlungsstruktur des Gedichts. Das erste Set (Zeilen 1–2) zeigt die Landschaft der Tatuta Berge im Herbst; die Reise des Adressaten wird im zweiten Set dargestellt (Zeilen 3–5), und das dritte (Zeilen 6–7) ist den Aktivitäten des Gesandten nach der Ankunft an seinem Zielort gewidmet. Die insgesamt siebenzeilige Gruppe dieser drei Sets, die die Erlebnisse des Helden Schritt für Schritt farbenfroh erzählt, wird ergänzt durch das vierte Set (Zeilen 8–10). Diese zentrale Triade des Gedichts, der nicht nur eine siebenzeilige Gruppe dreier Sets vorausgeht, sondern eine ebensolche folgt, bietet eine Gesamtbeurteilung der Leistungen des Adressaten. Von der ersten siebenzeiligen Beschreibung und der anschließenden dreizeiligen Würdigung seines Adressaten geht der Dichter zu den sieben seinen Wunsch ausdrückenden Zeilen über. Das fünfte Set (Zeilen 11–12) erfleht die schnelle Rückkehr des Reisenden im Frühling; das sechste Set (Zeilen 13–15) beschwört suggestiv die Tatuta-Wege im Frühling herauf, und im siebten Set schließlich (Zeilen 16–17) hegt der Absender die Hoffnung, seinem erwarteten Helden entgegenzugehen und ihn zu treffen. Die relativ große syntaktische Eigenständigkeit jedes Sets mit einer üblichen Vorliebe für das japanische Muster »regressiver Strukturen« 49 ist durch die [oben wörtlich ins Deutsche übertragene] englische Übersetzung des Gedichts (siehe oben, S. 370 f.) beispielhaft veranschaulicht. Vier der sieben Sets enden mit einer Inversion der Silbenzahl des b und g Kolons. Und umgekehrt fallen vier der fünf Inversionen mit dem Ende eines Sets zusammen. Die einzige Inversion der Silbenzahl inner48 Emendation: In der Vorlage steht »syllables«, ›Silben‹, hier sinngemäß zu ›Zeilen‹ emendiert. [Anm. d. Übs./Komm.] 49 Welche Besonderheit der japanischen Syntax Jakobson hier mit dem Ausdruck »regressive Strukturen« beschreibt, kann man nur vermuten. Oben bezeichnet er die Abfolge von 5–4–3 Silben pro Zeile als arithmetische Regression (siehe Anm. 45 für Parallelstellen); weiterhin verwendet er den Begriff in der Metrik zur Beschreibung der Verteilung der Wortakzente auf die Hebungen im Vers (vgl. z. B. »Linguistics and Poetics«, S. 32, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 177 f.; und »Slavic Epic Verse. Studies in Comparative Metrics«, bes. S. 430). Die Verteilung der Wortakzente kann Jakobson nur deshalb als regressiv bezeichnen, weil er sie vom Ende des Verses, von der letzten betonten Silbe, ausgehend betrachtet. Ein ähnlicher Wortgebrauch scheint auch hier vorzuliegen: In der japanischen Syntax steht regelmäßig das modifizierte Wort nach dem modifizierenden, und entsprechend in den Versen das semantisch tragende Wort am Ende, so daß man für die Übersetzung ins Englische oder Deutsche ›rückläufig‹ lesen muß; an der Übersetzung Jakobsons und Hattoris zeigt sich das darin, daß das b- und g-Kolon einer Zeile mit einer einzigen Ausnahme immer vor dem a-Kolon steht. [Anm. d. Übs./ Komm.]
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halb eines Sets in dem Gedicht tritt zwischen seinen beiden höchst emphatischen Schlußzeilen auf (16–17; vergleiche unten, S. 385). Fast einer Regel entsprechend sind zwei benachbarte Zeilen des Gedichts jeweils durch eine auffallende Ähnlichkeit in ihrem phonologischen, grammatischen 50 und /oder lexikalischen Aufbau wechselseitig verknüpft. Die einzigen drei Ausnahmefälle, das Fehlen eines jeglichen Parallelismus zwischen benachbarten Zeilen, muß als eine beredte Umsetzung eines motivierten Antiparallelismus interpretiert werden. Diese drei Ausnahmen fallen auf die Scharnierstellen zwischen den Zeilen 5 und 6, 12 und 13 51 und 15 und 16, oder, mit anderen Worten, sie treten jeweils an der inneren Grenze dreier Paare von Sets auf: zweites-drittes, fünftessechstes und sechstes-siebentes. Den Abschlußzeilen des zweiten Sets (Zeile 5) und des sechsten Sets (Zeile 15) fehlt gleichzeitig die Inversion der Silbenzahl ihrer letzten Kola. Diese beiden Abschlußmechanismen, nämlich die Inversion der letzten Kola und die Unähnlichkeit der beiden Grenzzeilen, stellen sich als komplementär heraus.52 Von den sieben Sets ist das erste das einzige, das nicht auf einen der beiden Mechanismen zurückgreift. Andererseits markieren beide Mechanismen den Zwischenraum zwischen dem fünften und dem sechsten Set, und das ist ein wichtiger Grenzpunkt, nämlich eine syntaktische Pause zwischen dem ersten zwölfzeiligen ›Satz‹, wie man ihn nennen könnte, und einem abschließenden fünfzeiligen ›Satz‹, die beide mit einem offenkundig parallelen Verweis auf die Tatuta-Landschaft zu bestimmten Jahreszeiten einsetzen 53 (Sets I und VI: 2, 15 tökyi-ni ›um die Zeit‹) und die beide – der eine am Anfang (Zeile 3) und der andere ganz am Ende (Zeile 17) – mit dem einzigen Personalpronomen des Gedichts, kyimyi ›Du‹, ausgestattet sind 50 Jakobson verwendet für die folgende Analyse der grammatischen Strukturen des Gedichts ausschließlich Begriffe aus der indoeuropäischen Grammatiktradition; diese Begriffe sind für die Beschreibung der Grammatik des Japanischen häufig mißverständlich (vgl. dazu Miller, Die japanische Sprache, hier: S. 321–325). Weil Jakobson aber hier grammatische Äquivalenzen aufzeigen will, ist die Funktion der von ihm genannten Kategorien und damit ihre treffende Bezeichnung für diese Analyse nicht ausschlaggebend. [Anm. d. Übs./Komm.] 51 Zeilen 12 und 13 weisen durchaus grammatische und semantische Parallelen auf; vgl. Anm. 59. [Anm. d. Übs./Komm.] 52 Es gibt nach Jakobsons Einteilung sechs Grenzen; vier davon sind durch genau einen der beiden Mechanismen markiert, einer gar nicht (was Jakobson nicht weiter kommentiert) und einer doppelt. Die Grenzmarkierung durch genau einen der beiden Mechanismen läßt sich also nur in zwei Drittel der Fälle feststellen. [Anm. d. Übs./Komm.] 53 Jakobson verweist mit »Tatuta-Landschaft« auf 1 tatuta-nö yama und 13 tatutadi […] no myiti. [Anm. d. Übs./Komm.]
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und die beide mit der Höflichkeitsform des gleichen Verbs, 12 kyimasane ›geruhen zurückzukommen‹, schließen. Neben diesem Pronomen gibt es keine echten grammatischen Subjekte in unserem Text, und tatsächlich treten die beiden genannten Pronomina hier nicht als Subjekt auf, sondern nur in einer Funktion als Vokativ.54 Während der erste Satz des Gedichts sich einzig auf den Adressaten konzentriert, registriert der zweite darüber hinaus die beabsichtigte Bewegung des Absenders, der bestrebt ist, seinen Helden zu treffen. Die Verwendung der beiden Konditionalformen 55 am Ende jedes Satzes – 11 yukaba ›wenn (der Frühling) näherkommt‹ und 17 kyimasaba ›wenn (Du) kommst‹ – verknüpft die Bilder des zurückkehrenden Frühlings und des zurückkehrenden Helden. Die fünf Zeilen der beiden abschließenden Sets zeigen eine enge thematische Affinität mit den – ebenfalls fünf – Zeilen der ersten beiden Sets. Diese beiden Sequenzen behandeln das Thema einer Person, die sich entlang der Tatuta-Berge entfernt. So unterscheidet die Handlungsstruktur der Botschaft also drei Abschnitte: Zeilen 1–5 (die Abreise des Adressaten), 6–12 (sein Aufenthalt in der Ferne) und 13–17 (die geplante Abreise des Absenders). Ein derart dreiteilender Blick auf das Gedicht stimmt mit der oben erwähnten unipersonalen Perspektive überein: Sieben Zeilen (Bericht über die Mission des Adressaten), drei Zeilen (deren Durchführung), sieben Zeilen (seine prospektierte Rückkehr). So liegen der Komposition von Musimarös Gedicht zwei verschiedene, aber zusammenpassende Triptycha zugrunde. Einige Beispiele sollen angeführt werden, um das Netzwerk der verschiedenen Parallelismen bloßzulegen, die benachbarte Zeilen miteinander verknüpfen. In der ersten Zeile des Gedichts zeigt jedes der drei Kola eine Nominalform, und das zweite von ihnen ist ein Eigenname im Genitiv (1 Tatuta-nö). In der ersten Zeile des Abschlußsatzes sind erneut alle drei Kola mit Nominalformen gefüllt, und der Genitiv des 54 Jakobsons Argumentation ist hier wohl folgendermaßen zu verstehen: Sucht man grammatische Subjekte im Text, kommt überhaupt nur das zweimal auftretende und durch die (das Thema kennzeichnenden) Partikel ›pa‹ oder ›ga‹ ausgezeichnete Pronomen ›kyimi‹, ›Du‹, in Frage. In beiden Fällen sind die Pronomen grammatisch als Subjekte nicht notwendig und können als Vokativ gelesen werden. – Die Kategorie ›Subjekt‹ ist für das Japanische problematisch; aber wenn man den Begriff verwendet, gibt es keinen Grund, ›kyimi-ga‹ in Zeile 17 nicht als Subjekt zu bezeichnen. [Anm. d. Übs./Komm.] 55 Jakobson bezeichnet die Form als »Konjunktiv«. Dies ist etwas irreführend: Die verwendete Form wird in Konditionalgefügen verwendet; der Irrealis wird dann durch die Vergangenheitsform gekennzeichnet. [Anm. d. Übs./Komm.]
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gleichen Eigennamens tritt wieder auf, aber dieses Mal im ersten Kolon (13 Tatutadi-nö) 56. Im Vergleich mit der ersten Zeile ist die zweite in a und g mit Nomina ausgestattet, während ein geringfügiger Wechsel von einem Nomen zu einem denominativen Verb das b Kolon der zweiten Zeile kennzeichnet (2 iröduku ›farbig werden‹, vgl. irö ›Farbe‹), entsprechend dem Verbalsubstantiv von 1b (vgl. tatu ›aufstehen, aufsteigen‹). Das räumliche Bild yama-nö ›der Berge‹ von 1g wird zur ›Zeit‹ (tökyi-ni) in 2g. Zeilen 2 und 3 entsprechen sich in der morphologischen Struktur ihrer vorletzten Kola. Zusätzlich zu einer thematischen Tautologie zwischen Zeilen 3 und 4 werden ihre beiden b Kola durch die Identität ihrer Verbalwurzel zusammengebracht (3 yuku ›gehen‹ und 4 iyukyi ›gehend‹); vgl. die Lautfigur 57 in ihren letzten Kola (3 kyimyi-pa – 4 sakumyi). Zwei Partizipien im Präsens und ihre semantische Gegenüberstellung binden die letzten Kola von Zeile 4 und 5 zusammen. Die je ersten Kola der Zeilen 6 und 7 zeigen eine ähnliche Konstruktion, nämlich einen Genitiv mit einem zweiten Nomen. Der Dichter vervollständigt seine Erzählung der Taten des Helden und geht über zu ihrem Lob, das auf natürliche Weise durch eine herausragende Lautfigur ausgeschmückt wird, die die jeweils vorletzten und letzten Kola der Zeilen 7 und 8 einbezieht und miteinander verknüpft (mit 6 a, 4 k, einem dreifachen p, und einem zweifachen m): 7 akati tukapasi – 8 kotapemu kyipamyi. Es mag angemerkt werden, daß dieser hervorragende Lauteffekt an das Klangbild von Bergechos angepaßt ist. Zeilen 8 und 9 haben die Genitivformen zweier Komposita in ihrem jeweiligen a Kolon gemeinsam, ein finites Verb in b und ein und dasselbe Wort kyipamyi ›am äußersten Ende‹ in g. Die ersten Kola dieser zwei Zeilen bieten den größten vorstellbaren vertikalen Kontrast, das metaphorische Bild von Echos, 8 yamabyiko ›Bergmenschen‹ 58, und ein 56 ›tatutadi‹, ›Tatsuta-Weg‹, ist der Weg, der durch die Tatsuta-Berge führt, ›tatutadi‹ enthält also den Eigennamen ›tatuta‹ aus Zeile 1, entspricht ihm aber nicht. [Anm. d. Übs./Komm.] 57 Hier meint Jakobson wohl die in der Transkription sichtbare Folge ›k..myi‹, die vor und nach zwei zentralen ›a‹ auftritt. Diese wie auch die folgenden Analysen von Lautfiguren weisen gleichen Einzelbuchstaben der Transkription gleiche Lautwerte zu und beachten Silbengrenzen nicht; dies ist problematisch. Vgl. Anm. 7 u. 27. [Anm. d. Übs./Komm.] 58 Gebräuchliche Metapher für ›Echo‹, aber mit einer starken *Konnotation der Personifikation durch einen Berggeist. Der Ausdruck verliert seinen tropischen Charakter nie; es gibt zahlreiche bildliche Darstellungen dieses ›Berggeistes‹. [Anm. d. Übs./Komm.]
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in gleicher Weise metaphorisches Bild von Kröten, 9 tani-guku ›Taltaucher‹ (damit sogar unter das Tiefland sinkend). Wir überspringen die Verbindungen von einigen weiteren Zeilen und gehen zur Frage der Parallelismen innerhalb des abschließenden fünfzeiligen Satzes über. Die grammatische Ungleichheit der Zeilen 12 und 13 ist augenscheinlich 59, während die Zeilen 13–14 beinahe das Zusammenspiel der beiden Anfangszeilen des Gedichts wiederholen (vgl. oben S. 383 f.): Die beiden Anfangszeilen des letzten Satzes beginnen mit dem Genitiv eines Kompositums und schließen mit der Konfrontation von räumlichen und zeitlichen Nomina – dem Dativ 13 myiti-ni ›Weg‹ und dem Genitiv 14 tökyi-nö ›Zeit‹. Die parallelistischen Verbindungen zwischen Zeilen 14 und 15 sind wiederum recht offensichtlich: Die Nähe zwischen den Bildern »der Zeit (Genitiv 14 tökyi-nö), wenn rote Azaleen glühen werden«, und »der Zeit (Dativ 15 tökyi-ni), wenn die Kirschblüten blühen werden«, wird durch die symmetrische *alliterative Struktur von a und b in beiden Zeilen gesteigert (und durch den identischen grammatischen Aufbau der beiden b Kola): 14 nitutuzi-nö nipopamu – 15 sakurabana sakyinamu. In Zeile 16 wird das gleiche abschließende *Morphem mu ›werden‹ unterstützt durch die erste Silbe von b mukape ›treffen werden‹ und ist zugleich Teil des symmetrischen Spiels der sechs m, das die fünf Kola der letzten beiden Zeilen verknüpft: 16 Yamatadu-nö mukape mawidemu (mit regelmäßigem Wechsel des *kompakten a und des *diffusen u 60 ) – 17 Kyimyiga kyimasaba (mit dem umgekehrten Wechsel des diffusen i und des kompakten a); die beiden alternierenden Vokale werden unterstrichen durch die ausdrucksstarke Wiederholung der Eingangssequenz kyim- in den beiden einzigen Kola der letzten Zeile, eine Rekurrenz, die den freudig gehegten Gedanken an ›Deine Rückkehr‹ festigt. Die Ökonomie und die spezifischen Regeln, nach denen die grammatischen Kategorien, die in diesem Gedicht verwendet werden, ausgewählt sind, wie auch der Grad ihrer Instrumentalisierung im Text, müssen erhellt werden, wie auch die parallele Frage der bevorzugten Wörter 59 Wollte man für einen grammatischen Parallelismus der beiden Zeilen argumentieren, könnte man anführen, daß (in Jakobsons Nomenklatur) beide a-Kola Komposita im Genitiv sind und zudem der Kontrast zwischen dem schnellen Flug des Vogels und dem hügeligen Weg als semantischer Parallelismus interpretierbar ist. [Anm. d. Übs./Komm.] 60 Zu Jakobsons System der *distinktiven Phonemmerkmale (darunter kompakt vs. diffus) vgl. Jakobson /Halle, »Phonology and Phonetics«, hier: S. 478–486, sowie dies., »The Revised Version«. Vgl. auch Jakobson /Waugh, The Sound Shape of Language, S. 83–179 (Kap. 2 und 3). [Anm. d. Übs./Komm.]
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des Dichters. So werden zum Beispiel die verschiedenen Abschnitte und Aspekte der Abreise und des Aufstiegs des Helden durch den wiederholten Gebrauch des Schlüsselworts 61 yama ›Berg‹ auf verschiedene Weise eingerahmt – einmal in jedem der ersten vier Sets: 1 yama-nö ›der Berge‹ in Set I; 4 Ipopyeyama ›fünfhundertfachen Berge‹ in Set II; 6 Yama-nö sökyi ›Ende der Berge‹ in Set III; 8 Yamabyiko-nö ›Bergecho‹ in Set IV. Welche Facette der vielfältigen Struktur wir auch betrachten, Musimarös »Abschiedsgedicht«, das durch mehr als ein Dutzend Jahrhunderte von uns getrennt ist, zeigt eine verblüffende Virtuosität, die auf einem echten Gleichgewicht zwischen den mannigfaltigen Konstituenten des Ganzen und auf einer packenden Kombination von kanonischer Regelmäßigkeit und kreativem Freiraum beruht. Editorische Notiz Konzipiert in Japan, im August 1967, fortgeführt in Cambridge, Mass., und zu Ende gebracht in Peacham, Vermont, 1979. – Dank gebührt Professor Shiroˆ Hattori, Professor Shigeo Kawamoto 62 und Tamiji Yamaguchi, Esq.
61 Das Konzept des »Schlüsselworts«, das Jakobson hier nur anreißt, spielt in einigen seiner Analysen eine zentralere Rolle. Vgl. »›Ktozˇ jsu´ bozˇ´ı bojovnı´ci‹: Slovnı´ stavba husitske´ho chora´lu«, S. 215, und die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 511; »Skorb’ pobivaemych u drov«, S. 307 f., und die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 665 f.; »Ein Blick auf ›Die Aussicht‹ von Hölderlin« in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 175 u. 188, sowie »›Czułos´c´‹ Cypriana Norwida«, S. 513, und die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 384 f. [Anm. d. Übs./Komm.] 62 Shigeo Kawamoto (1913–1983). Bekannter japanischer Linguist, 1949–1983 Professor an der Waseda Universität. Kawamoto lernte Jakobson 1961 an der Washington University kennen und verbrachte auf dessen Einladung hin 1968/69 ein Jahr am Massachusetts Institute of Technology. Kawamoto trug durch seine Übersetzungen viel dazu bei, daß zentrale Werke der westlichen Linguistik – Saussure, Chomsky und Jakobson – und ihre Diskussion in Japan rezipiert wurden; so übersetzte Kawamoto unter dem Titel Shigaku zentrale Aufsätze aus SW III (zusammen mit Chino Eiichi) und Holenstein, Jakobson (japanische Ausgabe: Yakobuson). Kawamoto und Jakobson gaben gemeinsam die Festschrift zu Shiroˆ Hattoris 60. Geburtstag heraus. Vgl. Shimomiya, »Kawamoto, Shigeo« und die Gedenknummer der Zeitschrift Gengo Kenkyuˆ. Journal of the Linguistic Society of Japan 85 (1984). [Anm. d. Übs./Komm.]
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Der Lobeshymnus in Ilarions »Rede über das Gesetz und die Gnade« 1 Übersetzung aus dem Russischen Oleh Kotsyuba und Milosˇ Sedmidubsky´
Kommentar Milosˇ Sedmidubsky´ Die Analyse gehört zu einer Reihe von Jakobsons Arbeiten, die der Erforschung der altkirchenslavischen Verskunst gewidmet sind. Das erklärte Ziel dieser Forschungen, das Jakobson bereits 1917 in einem Brief an Aleksandr A. Sˇachmatov formulierte, 2 besteht darin, nachzuweisen, daß die kirchenslavische Literatur, die lange ausschließlich als Prosa betrachtet wurde, über eine reiche, in sich differenzierte Versdichtung von bemerkenswerter künstlerischer Qualität verfügt. Das Besondere der vorliegenden Studie liegt darin, daß Jakobson das zu untersuchende Gedicht als einen integralen Bestandteil des Prosatextes analysiert, in dem es eingebettet ist. Dabei wendet Jakobson die von ihm entwickelte Methode der Gedichtanalyse voll auch auf den Prosatext an und zeigt, daß die von ihm untersuchte Festpredigt des Kiever Metropoliten Ilarion von einem dichten Netz sprachlicher *Äquivalenz- und *Kontrastbeziehungen zwischen den einzelnen Teilen durchzogen wird, die dem Text eine künstlerisch äußerst prägnante Gestalt verleihen. Dem Gelin1
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Vorlage: Jakobson, Roman Osipovicˇ: »Gimn v Slove Ilariona O zakone i blagodati«, in: SW VI, S. 402–414. Erstdruck in: Russia and Orthodoxy, Bd. 2: The Religious World of Russian Culture, hg. v. Andrew Blane, The Hague u. Paris: Mouton 1975, S. 9–22. [Anm. d. Komm.] Sˇachmatov, renommierter Sprach- und Literaturwissenschaftler und Akademiemitglied, ließ den Brief in dem von ihm herausgegebenen Publikationsorgan der Russischen Akademie der Wissenschaften veröffentlichen: Jakobson, »Zametki o drevnebulgarskom stichoslozˇenii«; vgl. dazu Jakobson, »The Slavic Response to Byzantine Poetry«, S. 240. [Anm. d. Komm.]
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gen der Analyse kam dabei zweifelsohne auch der Umstand zugute, daß Ilarions Predigt einen rhetorisch hochorganisierten Text darstellt, dessen als der eigentliche Begründer der altrussischen Homiletik geltende Autor 3 hier alle Register seiner beträchtlichen, an byzantinischen Mustern geschulten Redekunst zieht, um dem hohen Zweck der Predigt – der Verherrlichung des Großfürsten Vladimir als Stifter des Christentums in der Kiever Rus’ 4 – und ihrem hohen Anlaß – die Predigt wurde höchstwahrscheinlich an einem Todestag des Fürsten an dessen Grab in der Kiever Zehntkirche in Anwesenheit von Vladimirs Sohn und regierendem Großfürsten Jaroslav sowie der gesamten fürstlichen Familie vorgetragen – gerecht zu werden. Die Ergebnisse von Jakobsons Untersuchung zeigen deutlich, daß sich seine Methode der strukturalen Gedichtanalyse auch bei der Analyse rhetorischer Kunstprosa als äußerst produktiv erweist und durchaus in der Lage ist, eine Vielzahl rhetorisch relevanter Textstrukturen freizulegen. Sie kann freilich eine rhetorisch orientierte Textanalyse nicht ersetzen und müßte erst durch eine eingehende Untersuchung persuasiver Strategien des Textes, seiner Wirkungsabsichten etc. ergänzt werden. Milosˇ Sedmidubsky´ Das »Slovo o zakone i blagodati« [›Die Rede über das Gesetz und die Gnade‹], von Ilarion um die Mitte des elften Jahrhunderts, kurz vor seiner Berufung zum Metropoliten von Kiev 1051, verfaßt, gehört in der reichen Kulturüberlieferung der Kiever Rus’ 5 ohne Zweifel zu den erstrangigen Denkmälern. Ilarions »Rede« ist ein bemerkenswertes Beispiel der ältesten russischen Homiletik nicht nur im Hinblick auf die Tiefe der 3
4 5
Die überlieferten Lebensdaten Ilarions sind äußerst dürftig: Er war Mönch und Mitbegründer des Kiever Höhlenklosters, Hofkaplan in Berestovo, einer fürstlichen Residenz bei Kiev, und wurde 1051 zum Metropoliten der Kiever Kirche ernannt. Sein überliefertes Werk umfaßt neben der von Jakobson analysierten »Rede« nur noch drei kurze Texte: ein von Ilarion frei übersetztes Nizäisches Glaubensbekenntnis, dessen Interpretation in Form eines selbstverfaßten Glaubensbekenntnisses sowie eine autobiographische Nachschrift, mit der Ilarion seine Wahl zum Metropoliten bestätigte. – Eine gute zusammenfassende Darstellung von Ilarions Leben und Werk bietet Ludolf Müller in der Einleitung zu seiner deutschsprachigen Edition von Ilarions Werken: Ilarion, Die Werke, S. 7–18. [Anm. d. Komm.] Vladimir, der 980–1015 Großfürst von Kiev war, ließ sich um 988 taufen und machte das Christentum zur Staatsreligion des Kiever Reiches. [Anm. d. Komm.] Die Kiever Rus’ ist die erste Staatsbildung ostslavischer Stämme, aus denen sich erst später die Russen, Ukrainer und Weißrussen entwickelt haben. Das Wort ›russisch‹ ist deshalb hier und weiter in der Bedeutung ›Kiever Rus’ betreffend‹ zu verstehen, und nicht in seinem heutigen Gebrauch ›Rußland betreffend‹. [Anm. d. Übs.]
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theologischen und geschichtsphilosophischen Symbolik, sondern auch und vielleicht sogar in erster Linie wegen der künstlerischen Meisterschaft, mit der sie die Einheitlichkeit im Aufbau geschickt mit der individuellen, fein differenzierenden Behandlung der Einzelteile und mit der minuziösen Aufmerksamkeit auf die kleinsten Details verbindet. Als Grundlage für weitere Verweise auf die »Rede« haben wir die Edition von N. N. Rozov 6 sowie ihre Wiedergabe im nützlichen Handbuch A Historical Russian Reader 7 ausgewählt. Die wegen ihrer Genauigkeit äußerst wertvolle »Synodale Handschrift« 8 der »Rede«, die von N. N. Rozov hervorragend ediert wurde, enthält als einzige unter den vielen überlieferten Abschriften und Bruchstücken des berühmten Denkmals den vollständigen Text der »Rede«; sie kann jedoch eine kritische Ausgabe mit allen überlieferten Varianten, wie sie bei N. K. Nikol’skij 9 und bei N. N. Rozov 10 aufgezählt werden, selbstverständlich nicht ersetzen. Einen ersten Schritt zu der bis heute fehlenden kritischen Ausgabe der »Rede« stellt das inhaltsreiche Buch von Ludolf Müller dar.11 In Erwartung eines kritischen Vergleichs der Varianten und des Versuchs einer Wiederherstellung des ursprünglichen Textes beschränken wir uns vorerst nur auf Beobachtungen anhand der »Synodalen Handschrift«, wobei wir uns voll bewußt sind, daß diese überprüft werden müssen, sobald eine vollständige wissenschaftliche Ausgabe vorliegt.12 In den Zitaten aus der »Rede« folgen wir der Rechtschreibung und der Interpunktion der »Synodalen Abschrift« in der Ausgabe von N. N. Rozov, wobei wir für die vorliegende Arbeit zu einer unproblematischen Ersetzung der kirchenslavischen durch die bürgerliche Schrift greifen 13 6 7 8 9 10 11 12 13
Rozov, »Sinodal’nyj spisok socˇinenij Ilariona – russkogo pisatelja XI v.«, S. 152– 173. A Historical Russian Reader, S. 1–20 (Text) u. 154–158 (Anmerkungen). Die Handschrift ist nach ihrem ursprünglichen Aufbewahrungsort, der Bibliothek des Heiligen Synods (Sinodal’naja biblioteka) in Moskau, benannt. [Anm. d. Komm.] Nikol’skij, Materialy dlja povremennogo spiska russkich pisatelej, S. 75–90. Rozov, »Rukopisnaja tradicija Slova o zakone i blagodati«. Müller, Des Metropoliten Ilarion Lobrede. Die von Jakobson geforderte kritische Ausgabe von Ilarions »Rede« wurde inzwischen von Aleksandr M. Moldovan vorgelegt – vgl. Moldovan, »Slovo o zakone i blagodati« Ilariona. [Anm. d. Komm.] Die mit der Schriftreform Peters I. (1708/10) eingeführte ›bürgerliche Schrift‹ (»grazˇdanskij ˇsrift«) ist eine vereinfachende Stilisierung des im kirchenslavischen Schrifttum bis dahin benutzten kyrillischen Alphabets unter Fortfall nicht mehr benötigter Buchstaben, wobei die kyrillischen Buchstaben der Form nach der lateinischen Littera antiqua angeglichen wurden. [Anm. d. Komm.]
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und, wie im oben genannten Oxforder Handbuch, die Abkürzungen auflösen. Lediglich der Originaltext des Hymnus, der in die »Rede« eingefügt ist und das Hauptthema der vorliegenden Arbeit darstellt, ist hier im kirchenslavischen Alphabet wiedergegeben. Die Überschrift der von Rozov herausgegebenen Handschrift der »Rede« faßt ihren Inhalt hervorragend zusammen: 168r ќ законѣ моисѣомъ данѣѣмъ. и о благодѣти и ≥стинѣ ≥сусъ xристомъ бывш≥и. и како законъ отиде. благодѣть же и истина. всю землю исполни. и вѣра въ вс¤ ¤зыкы прострес¤. и до нашего ¤зыка рускаго. и похвала кагану нашему влодимеру. от него же крещени быхомъ. и молитва къ богу. от всеа земл¤ нашеа. господи благослови отче. 168r O zakoneˇ moiseˇom” daneˇeˇm”. i o blagodeˇti i istineˇ isus” christom” byvsˇii. i kako zakon” otide. blagodeˇt’ zˇe i istina. vsju zemlju ispolni. i veˇra v” vsja jazyky prostresja. i do nasˇego jazyka ruskago. i pochvala kaganu nasˇemu vlodimeru. ot nego zˇe kresˇcˇeni bychom”. i molitva k” bogu. ot vsea zemlja nasˇea. gospodi blagoslovi otcˇe. 168r Über das Gesetz, das durch Mose gegeben ist. Und über die Gnade und die Wahrheit, die durch Jesus Christus geworden ist. Und wie das Gesetz vergangen ist, die Gnade und die Wahrheit aber die ganze Welt erfüllt haben und der Glaube sich zu allen Völkern verbreitet hat, auch bis zu unserem russischen Volke. Und Lobpreis auf unseren Kagan Volodimer 14, von dem wir getauft worden sind. Und Gebet zu Gott von unserem ganzen Lande. Herr, segne, Vater! 15
Im Text der »Rede« wird eine radikale Erklärung der großen Verbreitung der evangelischen Wahrheit gegeben: 180r не въливають бо по словеси господню [ћаrk. 2, 22]. вина новааго учен≥а благодатьна. въ мѣхы ветхы. 〈…〉. нъ ново учен≥е новы мѣхы новы ¤зыкы. и обое 180v съблюдетс¤. ¤коже и есть. вѣра бо благодатьнаа по всеи земли прострѣс¤. и до нашего ¤зыка рускааго доиде. 14 »Volodimer« ist die ostslavische Form des später mehr in seiner kirchenslavischen Form gebrauchten Namens Vladimir. Der Herrschertitel Kagan ist eine turktatarische Herrscherbezeichnung, die auch für russische Herrscher benutzt wurde. [Anm. d. Komm.] 15 Die Übersetzung der Zitate aus der »Rede« und anderen Schriften Ilarions folgt hier und im Folgenden weitgehend der Übersetzung von Ilarions Werken durch Ludolf Müller: Ilarion, Die Werke, S. 22–60, Zitat: S. 22. Die Seitenangaben dieser Übersetzung werden im Folgenden in Klammern im Anschluß an die zitierte Stelle angeführt. [Anm. d. Komm.]
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180r ne v”livajut’ bo po slovesi gospodnju [Mark. 2, 22]. vina novaago ucˇenia blagodat’na. vo meˇchy vetchy. 〈…〉. n” novo ucˇenie novy meˇchy novy jazyky. i oboe 180v s”bljudetsja. jakozˇe i est’. veˇra bo blagodat’naa po vsei zemli prostreˇsja. i do nasˇego jazyka ruskaago doide. 180r denn man gießt nicht, nach dem Worte des Herrn [Mark. 2, 22] den neuen Wein, die gnadenhafte Lehre, in die alten Schläuche 〈…〉 Die neue Lehre aber – die neuen Schläuche, neue Völker. Und beides 180v wird erhalten werden. Und so ist es. Denn der gnadenhafte Glaube hat sich über die ganze Erde erstreckt und ist auch bis zu unserem russischen Volke gekommen. (S. 36)
Hier führt die »Rede« zum ersten Mal die russische Thematik ein. Weiter folgen zahlreiche, größtenteils in der Tradition von Kyrill und Method fußende Auszüge aus den Propheten und dem Psalter 16, die als Prophezeiungen des weltweiten Triumphes der Gnade interpretiert werden. Mit einer geschickten Auswahl lyrischer Zitate aus den Psalmen steigert sich auch der lyrische Ton des Kiever Predigers. Es erscheint die *Figur der siebenfachen Wiederholung der Imperativform des Verbs peˇti [›singen‹]: 183v »poite bogu nasˇemu poite. 〈…〉. poite carevi nasˇemu poite. jako car’ vsei zemli bog”. poite razumno. 〈…〉. i vsja zemlja da poklonit’ ti sja i poet’ tobeˇ. da poet’ zˇe imeni tvoemu vysˇnii« [›Lobsinget unserem Gott, lobsinget 〈…〉 lobsinget unserem König, lobsinget. Denn Gott ist König der ganzen Welt, lobsinget besonnen. 〈…〉 Und verbeuge sich die ganze Welt vor dir und lobsinge dir, lobsinge deinen Namen, Höchster.‹ (S. 40)]. Anschließend folgt eine *etymologische Figur, die dieses Mal die sakrale Zahl von neun Beispielen der bedeutungsnahen Wurzel »chval-« [›lobbzw. preis-‹] umfaßt: 183v »chvalite gospoda. 〈…〉. i pochvalite. 〈…〉.« 184r »chvalno imja gospodne. 〈…〉 chvala tvoa na kon’cich zemlja. 〈…〉. da chvaljat’ imja gospodne« [183v ›Lobet den Herrn 〈…〉 und preiset‹. 〈…〉 184r ›gelobet der Name des Herrn. 〈…〉 dein Lob bis an die Enden der Welt 〈…〉 sie sollen loben den Namen des Herrn‹ (ebd.)]. Nach den Auszügen aus den Psalmen wird die Figur auf den persönlichen Text von Ilarion selbst übertragen, der gleichsam im Namen ›unseres ganzen Landes‹ (»vsea zemlja nasˇea«) vorgetragen wird: 184v »chvalit’ zˇe pochvalnyimi glasy. rym’skaa strana petra i paula. 〈…〉 pochvalim” zˇe i my. po sileˇ nasˇei. malyimi pochvalami. velikaa i divnaa s”tvor’sˇaago. nasˇego ucˇitelja i nastavnika. velikaago kagana. nasˇea zemli volodimera« [›Es preist aber mit 16 Gemeint ist die erste kirchenslavische Bibelübersetzung, die vermutlich bereits durch die ersten Glaubenslehrer der Slaven, die aus Thessaloniki stammenden Brüder Kyrill (826/27–869) und Method (um 815–885), besorgt wurde. [Anm. d. Komm.]
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preisenden Stimmen das römische Land Petrus und Paulus. 〈…〉 Preisen auch wir nach unserer Kraft mit geringen Lobpreisungen den, der Großes und Wunderbares vollbracht hat, unseren Lehrer und Unterweiser, den großen Kagan unseres Landes, Volodimer‹ (S. 41)]. Bemerkenswert an diesen Worten ist der nachdrückliche Übergang zur ersten *Person Plural, d. h. zum Anfang des ›Lobpreises auf unseren Kagan Volodimer‹, der in der oben angeführten Überschrift angekündigt wurde (»pochvalim” zˇe i my. 〈…〉 nasˇei. 〈…〉. nasˇego 〈…〉. nasˇea« [›Preisen auch wir 〈…〉 unserer 〈…〉 unseren 〈…〉 unseres‹]). Hier kommt der wesentliche semantische Unterschied zwischen den beiden Begriffen strana [›Land, Staat‹] und zemlja [›Land, Welt, Erde‹] deutlich zum Ausdruck. Die Pluralform strany, die einen kleinteiligen, distributiven Charakter hat, erscheint zweimal in der freien Wiedergabe der Worte Jesajas (51, 4–5), die die Auswahl der biblischen Zitate schließt: 184r »i sud” moi sveˇt” stranam” 〈…〉.« 184r-v »mene ostrovi zˇdut’. i na mysˇ’cju moju strany upovajut’.« [›Und mein Gericht als Licht den Ländern 〈…〉‹ 184r-v ›Die Inseln harren mein, und auf meinen Arm hoffen die Länder‹ (S. 40 f.)]. Von hier an folgt ein unmittelbarer Übergang zu den einleitenden Worten der Lobpreisung Vladimirs: 184v »chvalit’ 〈…〉 rim’skaa strana petra i paula« [›Es preist 〈…〉 das römische Land Petrus und Paulus‹ (S. 41)], andere Länder ihre Glaubenslehrer, »vsja strany i gradi i ljudie. cˇtut’ i slavjat’. koegozˇdo ich” ucˇitelja. izˇe naucˇisˇa ja pravoslavneˇi veˇreˇ. pochvalim” zˇe i my. 〈…〉. velikaago kagana. nasˇea zemli volodimera« [›Alle Länder und Städte und Völker ehren und rühmen ein jegliches den Lehrer, der es im orthodoxen Glauben unterwiesen hat. Preisen denn auch wir 〈…〉 den großen Kagan unseres Landes, Volodimer‹ (ebd.)]. Der Begriff zemlja [›Land, Welt, Erde‹], der stets im Singular vorkommt, ist mit drei eng miteinander verbundenen Bedeutungen versehen. Die dreifache Formel, die hier den Vladimir, seinen Großvater und Vater nennt, fügt stolz hinzu: 185r »Ne v” chudeˇ bo i neveˇdomeˇ zemli vladycˇ’stvovasˇa. n” v” rus’keˇ. jazˇe veˇdoma i slysˇima est’. vseˇmi cˇetyr’mi konci zemli« [›Denn nicht in einem geringen und nicht in einem unbekannten Land haben sie geherrscht, sondern im russischen, von dem man weiß und hört an allen vier Enden der Erde‹ (S. 41 f.)]. Die kosmische Bedeutung desselben Namens schließt hier an die Bedeutung ›das russische Land‹ an und verschmilzt mit ihr. Diese Bedeutung erscheint auch in den vorangehenden biblischen Zitaten und dient als ein *phraseologisches Vorbild für den Lobpreis des russischen Landes: 183r »uzrjat’ vsi konci zemlja. spasenie« [›alle Enden der Erde werden das Heil sehen‹ (S. 39)]; 183v »car’ vsei zemli bog”.« [›König
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der ganzen Erde (ist) Gott.‹ (S. 40)]; 184r »chvala tvoja na kon’cich zemlja.« [›dein Ruhm bis an die Enden der Erde‹ (ebd.)]; »uslysˇi ny bozˇe spasitelju nasˇ’. upovanie vseˇm” koncem” zemli.« [›Erhöre uns, Gott, unser Heiland, der du bist die Zuversicht für alle Enden der Erde.‹ (ebd.)]. In ähnlichen Kontexten hebt die Lobrede auf Vladimir auch weiterhin dessen eigenes Land [zemlja] hervor und stellt diesem die umliegenden Länder [strany] gegenüber: 185r »edinoderzˇec’ byv” zemli svoei. pokoriv” pod” sja okruzˇ”njaa strany« [›wurde Alleinherrscher seines Landes, unterwarf sich die umliegenden Länder‹ (S. 42)]. Als Vladimir 185v »o blagoveˇrnii zemli grecˇ’skeˇ« [›von dem frommen griechischen Lande‹ (ebd.)] (die dritte Bedeutung des Begriffs) hörte, 186r »v”zgoreˇ duchom’. jako byti emu christianu i zemli ego« [›entbrannte er im Geiste, daß auch er Christ werde und sein Land‹ (ebd.)]: 186v »zapoveˇdav” po vsei zemli i kr’stitisja« [›er gebot über das ganze Land hin, daß man sich taufen lasse‹ (S. 43)]; »vsja zemlja nasˇa v”slaveˇ christa« [›unser ganzes Land begann, Christus zu rühmen‹ (ebd.)]; »i slovo evangel’skoe zemlju nasˇju osia« [›und das Wort des Evangeliums bestrahlte unser Land‹ (ebd.)]. Dieselbe Gegenüberstellung von zemlja [›(eigenes) Land‹] und strany [›(fremde) Länder‹] 17 kehrt zurück am Ende der »Rede«, das mit dem berühmten Kiever Missale 18 im Einklang steht: 198v »ni preˇdai nas” v” ruky cˇjuzˇdiich”. da ne prozovet’sja grad” tvoi grad” pleˇnen”. i stado tvoe. prisˇel’ci v” zemli nesvoei. da ne rekut’ strany kde est’ bog” ich”« [›übergib uns nicht in die Hände der Fremden, auf daß deine Stadt nicht genannt werde eine gefangene Stadt und deine Herde Fremdlinge in einem Lande, das nicht ihr eigen ist, auf daß die (fremden) Länder nicht sagen: Wo ist nun ihr Gott?‹ (S. 56)]. 17 Vgl. zu dieser Gegenüberstellung auch den Befund von Ludolf Müller: »Mit dem Plural ›strany‹ ist gewöhnlich die Gesamtheit oder doch eine Vielzahl der ›anderen‹ Länder gegenüber dem einen ›eigenen‹ Land gemeint.« (Müller, »Die Bezeichnungen für ›Volk‹, ›Land‹ und ›Kirche‹«, S. 71). [Anm. d. Komm.] 18 Gemeint sind die sog. Kiever Blätter, die älteste erhaltene Handschrift in kirchenslavischer Sprache. Das darin fragmentarisch überlieferte Missale stellt eine freie Bearbeitung einer lateinischen Vorlage mit Beimischung zahlreicher Passagen und Elemente aus liturgischen Texten griechisch-byzantinischer Herkunft dar. Die Entstehung der Kiever Blätter wird auf Grund sprachlicher Bohemismen gewöhnlich nach Böhmen gelegt und ins 10. Jahrhundert datiert. – Jakobson beschäftigte sich mit den Kiever Blättern mehrmals im Rahmen seiner Untersuchungen zur kirchenslavischen Poesie, wobei es ihm in erster Linie darum ging, die byzantinische Herkunft der darin zur Geltung kommenden prosodischen Verfahren nachzuweisen – vgl. Jakobson, »Czech Verse of a Thousand Years Ago«, S. 348–351; ders., »The Slavic Response to Byzantine Poetry«, S. 251 f.; ders., »›Tajnaja sluzˇ’ba‹ Konstantina Filosofa«, S. 270–275. [Anm. d. Komm.]
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Das Erscheinen des Namens von Vladimir wird im Text der »Rede« von hervorstechenden etymologischen Figuren und einer dreifachen Wiederholung des Titels kagan begleitet: 184r »velikaago kagana nasˇea zemli volodimera« [›den großen Kagan unseres Landes Volodimer‹ (S. 41)]; 185r »kagan” nasˇ vlodimer”.« [›unser Kagan Volodimer‹ (S. 42)]; 186r »s”vleˇcˇe zˇe sja ubo kagan” nasˇ’« [›So entkleidete sich denn unser Kagan‹ (ebd.)]. Der erste Teil des zusammengesetzten Namens Volodimer” 19 bildet wiederum eine dreigliedrige Kette mit den verwandten Verbformen 184v vladycˇestvujusˇcˇe [›herrschend‹ (S. 51)], 185r vladycˇ’stvovasˇa [›haben geherrscht‹ (S. 41 f.)]. Die Bindung an die Vorfahren wird ihrerseits durch eine dreigliedrige Verknüpfung unterstrichen: 185r »rozˇ’sja. blagoroden” ot” blagorodnyich« [›geboren als Wohlgeborener von Wohlgeborenen‹ (S. 42)]. In Vladimirs Genealogie ist der zweite Teil des Namens seines Vaters 20 doppelt durch eine dreifache Konstruktion hervorgehoben: 184v »slavnaago svjatoslava« [›des ruhmreichen Svjatoslav‹ (S. 41)]; 185r »proslusˇa 〈…〉 i slovut’« [›berühmt 〈…〉 und (werden) gerühmt‹ (ebd.)]; »slavnyi ot slavnyich”« [›der Ruhmreiche von den Ruhmreichen‹ (S. 42)]. Die Ersetzung des heidnischen Namens durch einen christlichen 21 gibt Anlaß zu einer siebenfachen *Paronomasie: 185r »volodimer”« [›Volodimer‹ (S. 42)], 186r »imja priim” veˇcˇno imenito 〈…〉 imzˇe napisasja v” knigy zˇivotnya. v” vysˇniim” gradeˇ i netleˇn’neˇim” Ierusalimeˇ« [›hat einen Namen empfangen, der ewig ist und namhaft 〈…〉 mit dem er eingeschrieben ist in die Bücher des Lebens, in der oberen Stadt, dem unvergänglichen Jerusalem‹ (S. 43)]. Auf den gleichen alten, heidnischen Namen des frischbekehrten Glaubenshelden wird bezeichnend mit einer ähnlichen neunfachen Wiederholung eingegangen:
19 Der erste Teil des Kompositums »Volodimer”«, ksl. »Vladimeˇr”« geht auf das ksl. vlad’ (›Macht‹) zurück, während der zweite Teil mit dem got. -me¯rs (›groß‹) und ahd. maˆri (›berühmt‹) verwandt ist. Die ursprüngliche Bedeutung des Namens ist also etwa: ›groß in der Herrschaft‹. Die neuere Form des Kompositums mit mir im zweiten Teil ist durch die volksetymologische Anpassung an mir (›Frieden‹, ›Welt‹) entstanden (Vasmer, Russisches etymologisches Wörterbuch, Bd. 1, S. 209). [Anm. d. Komm.] 20 Der Name des Vaters – Svjatoslav – ist ebenfalls ein Kompositum, dessen Bestandteile auf svjatoj (›heilig‹) und slava (›Ruhm‹) zurückgehen. Die Bedeutung des Namens ist also etwa: ›frommen Ruf habend‹ (Vasmer, Russisches etymologisches Wörterbuch, Bd. 2, S. 598, unter Art. »Svjatopolk«). [Anm. d. Komm.] 21 Vladimir nahm bei der Taufe den Namen Vasilij an, was dem griechischen Basileios entspricht. Dies war der Name seines Taufpaten, des byzantinischen Kaisers Basileios II. [Anm. d. Komm.]
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186v заповѣдавъ по всеи земли и крьститис¤ въ ¤ отца и сына и св¤тааго духа. и ¤сно и велегласно въ всѣхъ градѣхъ славитис¤ св¤тѣи троици. и всѣмъ быти христ≥аномъ. малыь и великыъ. рабомъ и свободныъ. уныъ и старыъ. бо¤ромъ и простыъ. богатыъ и убогыъ. 186v zapoveˇdav” po vsei zemli i kr’stitisja v” imja otca i syna i svjataago ducha. i jasno i veleglasno v” vseˇch” gradeˇch” slavitisja svjateˇi troici. i vseˇm” byti christianom”. malyim” i velikyim”. rabom” i svobodnyim”. unyim” i staryim”. bojarom” i prostyim”. bogatyim” i ubogyim”. 186v (er) gebot über das ganze Land hin, daß man sich taufen lasse im Namen des Vaters, und des Sohnes und des Heiligen Geistes und daß die heilige Dreifaltigkeit in allen Städten klar und lautstimmig gepriesen werde und daß alle Christen seien, die Kleinen und die Großen, die Sklaven und die Freien, die Jungen und die Alten, die Bojaren und die einfachen Leute, die Reichen und die Armen. (S. 43)
Ähnlich wie der ursprüngliche Fürstenname paronomastisch eingerahmt wird, wird auch der zweite, christliche Name bei der ersten unmittelbaren Anrede des verstorbenen Herrschers und Lehrers in paronomastische Klauseln 22 eingefügt: 187v »Tebe zˇe kako pochvalim” 〈…〉. preˇmuzˇ’stvenyi Vasilie. Kako dobroteˇ pocˇjudimsja kreˇposti zˇe i sileˇ« [›Dich aber, wie preisen wir dich 〈…〉, überaus mannhafter Vasilij? Wie wundern wir uns genug deiner Tugend, Festigkeit und Kraft?‹ (S. 44)]. Die erhabene Erzählung über die Taufe der Rus’ fängt an mit drei Aoristen 23 im Singular in Verbindung mit einem Subjekt, das den geistigen Anstoß bezeichnet, der die fromme Entscheidung Vladimirs nach sich gezogen hat: 185v »pride nan’ 〈…〉. prizreˇ nan’ 〈…〉. i v”sia razum” v” serdci ego« 24 [›da kam auf ihn 〈…〉, da schaute auf ihn 〈…〉 und es erstrahlte in seinem Herzen das Verständnis‹ (S. 42)]. Nach der *unpersönlichen Passivkonstruktion »pacˇe zˇe slysˇano emu beˇ« [›Ja und mehr: immerdar wurde von ihm gehört‹ (ebd.)] schildert weiter die sakrale Zahl von sieben Nebensatzprädikaten im Plural Präsens die Liebe der Griechen 22 Klausel (lat. clausula ›Schluß, Schlußsatz, -formel‹): durch bestimmte Abfolgen langer und kurzer Silben geregelte Perioden- und Satzschlüsse der antiken Kunstprosa. Jakobson überträgt diesen Begriff hier auf ad-hoc-Übereinstimmungen lautlicher Natur. [Anm. d. Komm.] 23 Aorist: synthetisches Vergangenheitstempus des Kirchenslavischen (und anderer slavischer und nicht-slavischer Sprachen). Der Aorist steht in einer aspektuellen *Opposition zum Imperfekt und bezeichnet eine einmalige, abgeschlossene Handlung, während das Imperfekt zur Darstellung von Prozessen, Hintergrundshandlungen oder wiederholter Handlungen verwendet wird. [Anm. v. I.M.] 24 Die Aoriste sind hier: pride, prizreˇ, v’’sia. [Anm. v. I.M.]
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zu Christus: 185v – 186r »kako 〈…〉 ˇctut’ i klanjajutsja. kako 〈…〉 deˇjutsja 〈…〉. kako 〈…〉 ispolneny. kako vsi gradi blagoveˇr’ni. vsi v” molitvach” predstojat’. vsi bogovi preˇstojat’« [›wie 〈…〉 (sie) ehren und sich verbeugen, wie 〈…〉 geschehen 〈…〉, wie 〈…〉 voll sind, wie alle Städte fromm sind, alle eifrig im Gebet sind, alle vor Gott stehen‹ (ebd.)]. Die geistige Antwort ›unseres Kagans‹ (kagana nasˇego) ist in drei Aoristen im Singular mit dem implizierten Subjekt volodimer” konzentriert: 185v »i si slysˇa«; 186r »v”zˇdela serdcem’. v”zgoreˇ duchom’« [›Und da (er) dies hörte, erwachte in (seinem) Herzen der Wunsch, entbrannte (er) im Geiste‹ (ebd.)]. Sieben Aoriste schildern die Taufe Vladimirs – die drei ersten von ihnen beschreiben die Absage an die heidnische Vergangenheit: 186r »s”vleˇcˇe zˇe sja 〈…〉. s”lozˇi 〈…〉. ottrjase« [›entkleidete sich 〈…〉 legte ab 〈…〉 schüttelte ab‹ (ebd.)] – und weiter: »v”leˇze v” svjatuju kupeˇl’. i porodisja ot ducha i vody. 〈…〉 v” christa obleˇˇcesja. i izide ot” kupeˇli« [›stieg ein in das heilige Bad und wurde wiedergeboren von Geist und von Wasser 〈…〉 zog Christus an und stieg heraus aus dem Bad‹ (S. 42 f.)]. Beim Übergang von dem ›Kagan unseres Landes‹ (kagana nasˇea zemlja) zum Schicksal ›unseres ganzen Landes‹ (vsea zemlja nasˇea) greift die »Rede« zu zwei Verbindungen von negierten Sätzen mit positivem Ausgang: (1) 186r »ne doseˇle stavi 〈…〉. ni o tom’ tokmo javi 〈…〉.« [›ließ es hier nicht enden 〈…〉 offenbarte hiermit nicht nur‹ (S. 43)] 186v »n” podvizˇesja pacˇe.« [›sondern wirkte mehr‹ (ebd.)]; (2) 186v »i ne by ni edinogozˇ protivjasˇcˇasja 〈…〉. i v” edino vremja. vsja zemlja nasˇa v”slavi christa 〈…〉« [›und da war auch nicht einer, der sich widersetzt hätte 〈…〉 und zur gleichen Zeit begann unser ganzes Land, Christus zu rühmen 〈…〉‹ (ebd.)]. Der Triumph des Christentums über das Heidentum ist mit Hilfe von fünf paarweisen Gegenüberstellungen geschildert: denen der Aoriste des *perfektiven Aspekts in den ersten zwei Fällen und denen der Imperfekte des *imperfektiven Aspekts in den restlichen drei Fällen, dabei gehört genau die Hälfte der zehn finiten Verbformen der reflexiven *Diathese an: 187r »togda nacˇat” mrak” idol’skyi ot” nas” otchoditi. i zoreˇ blagoveˇria javisˇasja« [›Da begann das Dunkel der Götzenverehrung von uns zu weichen und die Morgenröte der Frömmigkeit erschien‹ (ebd.)]. Und weiter: »pogybe. – osia.; razrusˇaachusja. – postavljaachusja.; s”kruˇsaachusja. – javljaachusja.; probeˇgaachu. – svjasˇcˇaasˇe« [›ging unter – bestrahlte; (wurden) zerstört – (wurden) errichtet; (wurden) zerbrochen – erschienen; flogen davon – heiligte‹ (ebd.)]. Das anschließende Bild eines an allen Orten und vom ganzen Volk gefeierten Gottesdienstes umfaßt zwei dreifache Reihen von Aoristen in der dritten Person Plural mit lautlichen Wiederholungen, die die innere
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Einheit der einzelnen Sätze stärken: 187r (1) »pastusi slovesnyich” ovec’ christov” 〈…〉. stasˇa 〈…〉. i ves’ kliros”. ukrasisˇa i v” leˇpotu odeˇˇsa« [›Die Hirten der geistlichen Schafe Christi 〈…〉 traten vor 〈…〉 (Priester und Diakone) und der ganze Klerus schmückten und kleideten in Schönheit (die heiligen Kirchen)‹ (S. 43 f.)]; (2) 186r »manastyreve na gorach stasˇa. 〈…〉 javisˇa sja. 〈…〉 vsi ljudie v”slavisˇa 〈…〉.« [›Klöster erhoben sich auf den Bergen 〈…〉 (Mönche) erschienen 〈…〉 das ganze Volk rühmte‹ (S. 44)]. Zwischen die beiden Reihen der sichtbaren Teilnehmer des Festes sind Bilder der Kirchenlaute und -düfte eingefügt, mit zwei Aoristen im Singular im Gegensatz zum Plural der sechs umgebenden Verben: »evangel’sky grom” vsi grady oglasi. temian” bogu v”spusˇcˇajem’ v”zduch” osvjati« [›der Donner des Evangeliums erschallte in allen Städten, Weihrauch, Gott dargebracht, heiligte die Luft‹ (ebd.)]. Die Darstellung des Sieges des rechten Glaubens unterscheidet sich von der vorangehenden Schilderung des Kampfes zwischen den beiden Religionen dadurch, daß hier – erstens – eine Vielzahl der Benennungen von Menschen (wie z. B. die Subjekte und die Appositionen zu ihnen: »pastusi, episkopi, popove, diakoni, cˇernoriz’ci, muzˇi, zˇeny, ljudije« 25 [›Hirten, Bischöfe, Priester, Diakone, Mönche, Männer, Weiber, Volk‹ (S. 43 f.)]) erscheint, daß die Beschreibung – zweitens – anschaulicher wird, indem *abstrakte *Metaphern wie »mrak” idol’skyi, tma beˇsoslugania« [›das Dunkel der Götzenverehrung, die Finsternis des Dämondienstes‹ (S. 43)] verschwinden und abstrakte Subjekte dementsprechend durch *konkrete ersetzt werden, wobei das Verb das gleiche bleibt (zuerst »zoreˇ blagoveˇria javisˇasja« [›die Morgenröte der Frömmigkeit erschien‹ (ebd.)], dann aber »cˇernoriz’ci javisˇasja« [›Mönche erschienen‹ (S. 44)]), und schließlich dadurch, daß die Imperfekte, die der Gegenüberstellung der gleichzeitigen Bilder des Zerstörens des Alten und des Aufbaus des Neuen dienten, weggelassen werden. In der feierlichen Erzählung über den endgültigen Triumph des neuen Glaubens in der Rus’ verbindet sich das umfangreichste, letzte Subjekt (187r »muzˇi i zˇeny. malii i velicii vsi ludije« [›Frauen und Männer, die Kleinen und die Großen, das ganze Volk‹ (S. 44)]) mit dem Prädikat 187v »v”slavisˇa glagoljusˇcˇe« [›(sie) rühmten, indem sie sprachen‹ (ebd.)]. Unmittelbar darauf folgt der Text eines kurzen Lobgesangs. Bis auf die biblischen Zitate ist dies der einzige Fall der direkten fremden Rede mit dem vorangehenden Hinweis auf die Sprechenden in der gesamten Predigt: 25 Diese Benennungen finden sich – allerdings nicht in unmittelbarer Nachbarschaft – in 187r. [Anm. d. Komm.]
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e-di-nâ svå-tâ. e-di-nâ go-spo-dè i-sou-sâ xri-sto-sâ vâ-sla-vou bo-gou o-tè-cë a-mi-nè. xri-sto-sâ xri-sto-sâ xri-sto-sâ xri-sto-sâ
po-bù-di. o-do-lù. vâ-ca-ri så. pro-sla-vi så.
ve-li-kâ e-si go-spo-di i që-dè-na dè-la tvo-ê bo-he na-wè sla-va te-bù.26 e-di-n” svja-t”. e-di-n” go-spo-d’ i-su-s” chri-sto-s” v”-sla-vu bo-gu o-t’-cju a-mi-n’. chri-sto-s” chri-sto-s” chri-sto-s” chri-sto-s”
po-beˇ-di. o-do-leˇ. v”-ca-ri sja. pro-sla-vi sja.
ve-li-k” e-si go-spo-di i cˇju-d’-na d’-la tvo-ja bo-zˇe na-sˇ’ sla-va te-beˇ. Einer [ist] heilig, Einer der Herr, Jesus Christus, Zum Ruhme Gottes [Des] Vaters. Amen. Christus Christus Christus Christus
hat gesiegt, hat überwunden, ist König geworden, ist verherrlicht.
26 In den drei von Jakobson verwendeten Ausgaben – Rozov, »Sinodal’nyj spisok socˇinenij Ilariona – russkogo pisatelja XI v.«, S. 165, A Historical Russian Reader, S. 13, sowie Müller, Des Metropoliten Ilarion Lobrede, S. 106 f. – wird die Hymne ohne jegliche graphische Hervorhebung im Fließtext wiedergegeben. [Anm. d. Komm.]
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Groß bist du, Herr, Und wunderbar [sind] deine Werke. Unser Gott, Ruhm [sei] dir.
Der Hymnus besteht aus drei *Strophen, die insgesamt zwölf Verszeilen zählen.27 Die Reihenfolge der Strophen folgt zweifach dem Prinzip der arithmetischen Regression: Jede nächste Strophe ist um eine Verszeile und um zwei Silben kürzer als die jeweils vorangehende. Die erste Strophe besteht aus fünf, die zweite aus vier und die dritte aus drei Verszeilen. Die Gesamtzahl der Silben beträgt in der ersten Strophe 28, in der zweiten 26 und in der dritten 24 Silben. Umgekehrt nimmt die Länge der Verszeilen, angefangen von der ersten, fünfsilbigen Zeile bis hin zu den letzten, achtsilbigen Zeilen, zu, wobei die Länge der Schlußzeile einer jeden Strophe im Sinne einer arithmetischen Progression jeweils um eine Silbe wächst: Die erste Strophe endet mit einer sechssilbigen, die zweite mit einer siebensilbigen und die dritte mit einer achtsilbigen Verszeile. Die mittlere, sechssilbige Verszeile in der ersten Strophe ist von Verbindungen aus fünf- und sechssilbigen Verszeilen umgeben. Die zweite Strophe zerfällt in zwei Zweizeiler: 2/6 + 2/7. Die dritte Strophe zählt drei achtsilbige Verszeilen. Beide Schlußzeilen bilden je zwei viersilbige Halbverse, während der Verseinschnitt (coupe, break), d. h. die *Wortgrenze, die die Zeile in Segmente teilt, in den restlichen zehn Verszeilen nach der dritten Silbe folgt. Die Gliederung der Verszeile findet dabei meistens Unterstützung im grammatischen *Parallelismus, der besonders für die gesamte mittlere Strophe bezeichnend ist. Der zehnte Vers enthält zwei innere Wortgrenzen: die erste nach der dritten und die zweite nach der fünften Silbe. Jedoch begünstigt der rhythmische Impuls aller neun vorangehenden Verse mit einem regelmäßigen Einschnitt unmittelbar nach der dritten Silbe eine Teilung der zehnten Verszeile in 3 + 5 Segmente, obwohl auch die Segmentierung 5 + 3 den allgemeinen Regeln der Phrasierung der Verse des Hymnus nicht widerspricht. Der minimale, fünfsilbige Vers, mit welchem der Hymnus anfängt, ist um eine Silbe länger als die Hälfte des maximalen, achtsilbigen Verses, den die Schlußstrophe des Hymnus enthält (8/2 + 1). Der Unterschied 27 Ähnlich wie in seiner Klee-Analyse (Jakobson, »On the Verbal Art of William Blake and Other Poet-Painters«, S. 339–344, sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 30–39) behandelt Jakobson die hier als »Hymnus« bezeichnete Fließtext-Passage zunächst allein aufgrund ihrer syntaktisch-rhythmischen *Struktur als Gedicht. – Zu den verschiedenen Quellen der einzelnen Hymnus-Abschnitte vgl. Müller, »Eine westliche liturgische Formel in Ilarions Lobpreis auf Vladimir den Heiligen«. [Anm. d. Komm.]
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zwischen der Silbenzahl eines Segments und der Hälfte der Gesamtzahl der Silben in einem Vers beträgt nicht mehr als eine Silbe. Die Verszeilen mit einer geraden Zahl der Silben sind in sieben von acht Fällen in gleichsilbige Segmente geteilt. Die Wiederholung der Verse, die in der Silbenzahl identisch sind, und der Wechsel der syllabischen Matrizen (zwei fünfsilbige, fünf sechssilbige, zwei siebensilbige und drei achtsilbige Verszeilen, d. h. insgesamt vier Verse mit ungerader und doppelt so viele, acht, mit gerader Silbenzahl) weisen auf die Verwandtschaft des angeführten Hymnus mit den frühen kirchenslavischen Kanones und anderen liturgischen Gesängen hin, bei welchen der Isosyllabismus der Verse dem syllabischen Aufbau der Melodien entspricht, die die Beständigkeit des *Metrums mit dessen allmählichem Anwachsen kombinieren. In der kürzlich erschienenen, K. F. Taranovski gewidmeten Arbeit von Riccardo Picchio 28 erhält der rhythmisch-syntaktische Aufbau der Predigt Ilarions eine einfache und klare Definition: The whole of the Sermon on Law and Grace seems to comply with the isocolic principle, on a basis of 〈the least prime numbers:〉 two, three, or five accentual units or of their combination. Isocolic sequences are not protracted by setting in a row a large number of equal units. Alternant dicola, or tricola, create a rhetorical architecture whose *emotive symmetry is logically stressed by appositional caudae.29
Der Lobgesang der ›Kleinen und der Großen‹ fügt zum *Isokolon, das die Grundlage für die deklamatorischen Tiraden der Predigt bildet, ein syllabisches Netz hinzu und erhebt dieses zum dominierenden Prinzip der offensichtlichen Gesangsverse des gemeinsamen Hymnus. Mit der Einteilung des Lobgesangs in drei Strophen gehen auffällige grammatische Unterschiede einher: Völliges Fehlen der Verben unter den 28 Picchio »The Isocolic Principle in Old Russian Prose«. 29 ›In der Rede über das Gesetz und die Gnade scheint alles auf der Grundlage von 〈den kleinsten Primzahlen:〉 zwei, drei oder fünf Akzenteinheiten oder ihrer Kombination dem isokolischen Prinzip zu entsprechen. Isokolische Sequenzen werden nicht gedehnt durch das Plazieren einer großen Anzahl von Einheiten hintereinander. Alternierende Dikola bzw. Trikola erzeugen eine rhetorische Architektur, deren emotionelle Symmetrie durch die appositionellen caudae logisch betont wird.‹ (A. a. O., S. 312). – Unter einem Isokolon versteht Picchio das koordinierte Nebeneinander von syntaktisch-prosodischen Einheiten mit der gleichen Zahl der *Wortakzente. Die einzelnen Kola werden daher in dem zitierten Text etwas mißverständlich als »Akzenteinheiten« bezeichnet. Mit dem Begriff »cauda« [›Koda‹] ist der um die Hälfte gekürzte Schlußteil einer Sequenz gleichartig aufgebauter Kola (»isokolische Sequenz«) gemeint. [Anm. d. Komm.]
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zehn *Worteinheiten des Anfangsfünfzeilers 30, strenge *Symmetrie aller vier Verse der mittleren Strophe mit dem vierfach wiederholten Namen im ersten Segment und weiter mit vier Aoristformen *perfektiver Verben, von denen die zwei ersten *transitiv und die zwei letzten reflexiv sind; in der Schlußstrophe wird schließlich die dritte Person durch die zweite ersetzt (*Kopula »esi« [›bist‹], zwei Vokative, pronominale Verweise auf den Adressaten – »tvoja, tebeˇ« [›dein, dir‹] – und entsprechend auf den kollektiven *Adressanten – »nasˇ’« [›unser‹]), während der Vergangenheitsform der lexikalischen Verben die zusammengesetzten Prädikate des Präsens entweder mit einer expliziten Kopula (»velik” esi« [›groß bist (du)‹]) oder mit einer *Null-Kopula (»cˇjud’na deˇla« [›wunderbar (sind) die Werke‹]) entgegengesetzt werden. Der Hymnus schließt im wahrsten Sinne des Wortes die Erzählung darüber, wie »christos” pobedi« [›Christus gesiegt hat‹] im russischen Lande: »vsi ljudie ispolnesˇe svjatya cerkvi« [›das ganze Volk füllte die heiligen Kirchen‹ (S. 44)] und rief: »edin svjat”« [›Einer (ist) heilig‹]. »Malii i velicii« [›Die Kleinen und die Großen‹ (ebd.)] priesen den Herrn: »velik” esi« [›groß bist (du)‹]. »v”slavisˇa glagoljusˇcˇe« [›(sie) rühmten, indem sie sprachen‹ (ebd.)]: »v” slavu bogu 〈…〉 slava tebeˇ« [›zum Ruhme Gottes 〈…〉 Ruhm (sei) dir‹]. Der Hymnus nimmt in der »Rede« eine zentrale Stelle ein und dient offensichtlich als Übergangs- und Bindeglied zwischen dem vorangehenden, narrativen Teil des Lobpreises auf VladimirVasilij und allen weiteren, ausgeprägt dramatischen Tiraden. Die Ausrichtung auf die dritte Person, auf die Zeitform der Vergangenheit und auf die deklarative Rede unterscheidet den ersten von dem zweiten Teil mit dessen deutlich *merkmalhafter (markierter) Modalität. Von den Figuren der »Rede« werden die in der dritten Person – gemäß dem ersten Teil der christusliebende irdische und der menschenliebende himmlische Herrscher – im zweiten, abschließenden Teil neben den externen Adressaten, d. h. den Zuhörern und Lesern der »Rede«, abwechselnd selbst zu textinternen Adressaten, den Vokativen und den Figuren in der zweiten Person: 187v »bozˇe nasˇ’ slava tebeˇ« [›Unser Gott, Ruhm (sei) dir‹] und »tebe zˇe kako pochvalim” o cˇestnyi i slavnyi v” zemlenyich” vladykach”. preˇmuzˇ’stvenyi vasilie« [›Dich aber, wie preisen wir dich, o Ehrwürdiger und Ruhmreicher unter den irdischen Herrschern, überaus mannhafter Vasilij‹ (S. 44)]; und weiter wieder: 198r »ty esi bog” nasˇ’. i my ljudie tvoi. tvoa cˇjast’. tvoe dostojanie« [›du bist unser Gott und wir dein Volk, dein 30 Im Original irrtümlich: »nacˇal’noe polustisˇie« [›Anfangshalbzeile‹] statt »nacˇal’noe pjatistisˇie« [›Anfangsfünfzeiler‹]. [Anm. d. Komm.]
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Teil, dein Erbe‹ (S. 55)]. So wird die dritte Figur der »Rede« – die Menschen des russischen Landes –, die ursprünglich in der dritten Person auftrat, zur ersten Person Plural, d. h. zum externen Adressanten 31 der »Rede«, dem ›Mönch und Priester Ilarion‹ (S. 60) (»mnichu i prozviteru ilarionu«) wird ein neuer, interner Adressant hinzugefügt, die Stimme ›unseres ganzen Landes‹ (S. 43) (»vsea zemlja nasˇea«), die sich an den einen oder den anderen der zwei internen Adressaten richtet. So finden die abschließenden Worte des Hymnus, »ˇcjudna deˇla tvoa bozˇe nasˇ’ slava tebeˇ« [›wunderbar (sind) deine Werke, unser Gott, Ruhm (sei) dir‹], den Widerhall und ihre Fortsetzung in den Anfangsäußerungen des folgenden Absatzes, der die Lobpreisung Christi durch den Lobpreis auf denjenigen ergänzt, der Christus liebt: 187v »tebe zˇe kako pochvalim” o cˇestnyi i slavnyi vo zemlenyich” vladykach”. preˇmuzˇ’stvenyi vasilie. kako dobroteˇ poˇcjudimsja kreˇposti zˇe i sileˇ« [›Dich aber wie preisen wir, o Ehrwürdiger und Ruhmreicher unter den irdischen Herrschern, überaus mannhafter Vasilij? Wie wundern wir uns genug (deiner) Tugend, Festigkeit und Kraft?‹ (S. 44)]. Diesen zwei Fragen, die durch die Paronomasie der beiden abschließenden Worte miteinander verknüpft und bekräftigt werden, folgt unmittelbar eine Kette von weiteren neun rhetorischen Fragen, die an den gleichen Adressaten gerichtet sind, den ›überaus mannhaften Vasilij‹. Von diesen elf Fragen sind die ersten vier dem Thema gewidmet, wie die Fragenden ihrer hohen Aufgabe gerecht werden können: 187v »kako pochvalim 〈…〉. kako dobroteˇ pocˇjudimsja. 〈…〉 kakovo ti blagodarie v”zdadim”. 〈…〉 li cˇto ti prirecˇem’ christoljubcˇe« [›wie preisen wir 〈…〉 wie wundern wir uns genug (deiner) Tugend 〈…〉 welchen Dank geben wir dir 〈…〉 oder wie nennen wir dich, Christusliebender?‹ (S. 44)]. Nach den vier perfektiven Formen der ersten Person Plural im Präsens folgt in den Hauptsätzen der weiteren Fragen eine Reihe von Aoristen der zweiten und der dritten Person Singular, die die Weisheit des befragten Glaubenshelden preisen, der ›glaubte, ohne gesehen zu haben‹ (S. 45) (188r »ne videˇv” veˇrova«). Der abschließende Teil ›des Lobpreises auf unseren Kagan‹, das anrufende Gebet an den Verstorbenen, ist durchgehend auf den Aufforderungssätzen mit dreißig Imperativformen aufgebaut, d. h. auf einer, im Vergleich zu Fragen, anderen Art von doppelt ersuchenden (requisitiven) Äußerungen. Als Einleitung zum Gebet dient die Lobrede auf die ruhmreiche Stadt Kiev und ihre Kirchen – die Zehntkirche, die Sophienkirche 31 Im Original hier und in nächster Zeile irrtümlich: »Adressat«. [Anm. d. Komm.]
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und die Verkündigungskirche: 192v »da ezˇe ceˇlovanie archangel” dast’ deˇvici. budet’ i gradu semu. k” onoi bo. raduisja obradovanaa gospod’ s toboju. k” gradu zˇe raduisja blagoveˇrnyi grade gospod’ s toboju« [›auf daß der Gruß, den der Erzengel der Jungfrau bot, auch dieser Stadt gelte. Denn zu jener (sagte er): Freue dich, du Erfreute, der Herr ist mit dir. Zu der Stadt aber: Freue dich, fromme Stadt, der Herr ist mit dir‹ (S. 50)]. Diese zwei Varianten von Aufforderungswörtern, die Imperative und die grammatisch entsprechenden Vokative, heben sich plastisch vor dem Hintergrund der vorangehenden zahlreichen Formen des Indikativs ab und dienen als Vorbild für diejenigen Imperativkonstruktionen, aus denen – angefangen mit seinen ersten Wörtern – das Gebet besteht: 192v »v”stani o cˇestnaa glavo. ot” groba tvoego. v”stani. ottrjasi son”« [›Stehe auf, o ehrwürdiges Haupt, aus deinem Grabmal, stehe auf, schüttele den Schlaf ab!‹ (ebd.)]. Die dreifache etymologische Figur »raduisja obradovanaa 〈…〉. raduisja« [›freue dich, Erfreute 〈…〉 freue dich‹] kündet nach der fröhlichen Botschaft an die Jungfrau und die Stadt auch dem dritten Auserwählten dieselbe Botschaft an: 193r,v »v”zradui sja i v”zveselisja 〈bis 32〉. 〈…〉 raduisja i veselisja. 〈…〉 raduisja v” vladykach” apostole« [›freue dich und sei fröhlich 〈bis〉. 〈…〉 freue dich und sei fröhlich 〈…〉 freue dich, du Apostel unter den Herrschern‹ (S. 51)]. 194r »raduisja ucˇitelju nasˇ’ i nastavnicˇe blagoveˇriju« [›freue dich, du unser Lehrer und Unterweiser in der Frömmigkeit‹ (S. 52)]. Das Thema der Freude, die der Lehrer verdient hat, der 191r »v” rusi 〈…〉 car’stvo bogu pokori« [›in der Rus’ das Königtum Gott unterworfen hat‹ (S. 47 f.)], ist unmittelbar mit dem Bild verbunden, das vor dem geistigen Auge des Verstorbenen steht: 192r »slavnyi grad” tvoi kyev”« [›deine ruhmreiche Stadt Kiev‹ (S. 49)] mit den Kirchen, die mit keinen anderen vergleichbar sind ›in dem ganzen Norden der Erde, vom Osten bis zum Westen‹ (ebd.) (»v” vsem’ polunosˇcˇi zemneˇeˇm” oto v”stoka do zapada«). Hier wird zum dritten Mal und in ähnlichen Zügen das Bild der triumphierenden Frömmigkeit gemalt. Die erste Variante der Verherrlichung schließt an die Belehrung über den neuen Wein, die neuen Schläuche und die neuen Sprachen an: 180v »jakozˇe i est’. veˇra bo blagodat’na po vsei zemli prostreˇsja. i do nasˇego jazyka ruskaago doide« [›Wie es auch ist: denn der gnadenhafte Glaube hat sich über die ganze Erde erstreckt und ist auch bis zu unserem russischen Volke gekommen‹ (S. 36)]. Ilarion entfaltet eine dreifache *Antithese und stützt sie mit Bezugnahmen auf das Alte Testament: 32 Lat.: Zweimal. [Anm. d. Komm.]
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180v се бо уже и мы съ всѣми христ≥аными. славимъ св¤тую троицу. а ≥удеа молчить. христосъ славимъ бываеть. а ≥удеи кленоми. ¤зыци приведени. а ≥удеи отриновени. ¤коже пророкъ малах≥а рече. несть ни хотѣн≥а въ сынехъ изра≥левѣхь. и жертвы отъ рукъ ихъ не пр≥иму. понеже ото въстокъ же и западъ. им¤ мое есть въ странахъ. и на вс¤комъ мѣстѣ тем≥анъ имени моему приноситс¤. ¤ко им¤ мое въ странахъ. [Mal. 1,10–11]. 181r и давидъ. земл¤ да поклонить ти с¤. и тобѣ. и . ¤ко им¤ по всеи . [Ps. 66,4 u. 8,1]. 180v se bo uzˇe i my s” vseˇmi christianymi. slavim” svjatuju troicu. a iudea molcˇit’. christos” slavim” byvaet’. a iudei klenomi. jazyci privedeni. a iudei otrinoveni. jakozˇe prorok” malachia recˇe. nest’ ni choteˇnia v” synech” izraileveˇch’. i zˇertvy ot” ruk” ich” ne priimu. ponezˇe oto v”stok” zˇe i zapad”. imja moe slavimo est’ v” stranach”. i na vsjakom” meˇsteˇ temian” imeni moemu prinositsja. jako imja moe veliko v” stranach”. [Mal. 1,10–11]. 181r i david”. vsja zemlja da poklonit’ ti sja. i poet’ tobeˇ. i gospodi gospod’ nasˇ’. jako ˇcjudno imja tvoe po vsei zemli. [Ps. 66,4 u. 8,1]. 180v Denn siehe: schon rühmen auch wir mit allen Christen die heilige Dreifaltigkeit, Judäa schweigt aber. Christus wird gerühmt, die Juden aber verflucht. Die (heidnischen) Völker sind herangeführt, die Juden aber verstoßen, wie der Prophet Maleachi gesagt hat: Ich habe kein Gefallen an den Söhnen Israels und die Opfer von ihren Händen werde ich nicht annehmen; denn vom Osten und vom Westen wird mein Name gerühmt in den Ländern, und an jeglichem Orte wird meinem Namen Weihrauch dargebracht, denn groß ist mein Name in den Ländern. [Mal. 1,10–11]. 181r Und David (sprach): Die ganze Erde wird sich vor dir verbeugen und lobsingt dir. Und: Herr, unser Herrscher, wie wunderbar ist dein Name über die ganze Erde hin [Ps. 66,4 u. 8,1]. (S. 36 f.)
Dieselben Wortbilder werden absichtlich in der Einleitung zum Lobeshymnus und im Lobgesang selbst aufgegriffen: 187r украсиша и въ лѣпоту одѣша церкви. апостольскаа труба и евангельскы громъ. . богу въспущаемь. ¬ъздухъ .〈…〉людиеисполнеше церкви.187v гл¤голюще. единъ . единъ 〈…〉 〈…〉 . еси и дѣла тебѣ. 187r ukrasisˇa i v” leˇpotu odeˇˇsa svjatya cerkvi. apostol’skaa truba i evangel’sky grom”. vsi grady oglasi. temian” bogu v”spusˇcˇajem’. V”zduch” osvjati. 〈…〉 vsi ljudie ispolnesˇe svjatya cerkvi. 187v v”slavisˇa glagoljusˇcˇe. edin” svjat. edin” gospod’ 〈…〉 v” slavu 〈…〉 proslavisja. velik” esi gospodi i ˇcjudna deˇla tvoa bozˇe nasˇ slava tebeˇ.
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187r schmückten und kleideten in Schönheit die heiligen Kirchen. Die Trompete der Apostel und der Donner der Evangelien erschallten in allen Städten, Weihrauch, Gott dargebracht, heiligte die Luft 〈…〉 das ganze Volk füllte die heiligen Kirchen 187v und rühmte, indem er sprach: Einer [ist] heilig, einer der Herr 〈…〉 zum Ruhme 〈…〉 ist verherrlicht. Groß bist du, Herr, und wunderbar [sind] deine Werke. Unser Gott, Ruhm [sei] dir. (S. 44)
Die dritte, ganz und gar wiederholende Behandlung desselben Themas hat schließlich die Aufgabe, den Apostel des russischen Landes zu Freude und Fröhlichkeit anzuregen: 193r »vizˇd’ grad” ikonami svjatyich” osveˇˇscˇaem’ i blistajusˇcˇesja i timianom” obuchaem’. i chvalami bozˇestvenaami i peˇnii svjatyimi oglasˇaem’« [›Siehe diese Stadt, wie sie glänzt, erleuchtet von den Ikonen der Heiligen, durchduftet vom Weihrauch, durchtönt vom Lob Gottes und den heiligen Gesängen‹ (S. 51)]. Der dreigliedrige Parallelismus – osvesˇcˇaem”, obuchaem”, oglasˇaem” [›erleuchtet, durchduftet, durchtönt‹] – wird abgeschlossen durch die dreifache Erzählung über die Götzendiener, die sehend geworden sind 194r »na sveˇt” trisolnecˇ’naago bozˇ’stva« [›zum Licht der dreisonnigen Gottheit‹ (S. 52)]. Der rituelle Begriff temian” [›Weihrauch‹] ist in allen drei Kontexten mit Lautwiederholungen geschmückt: 180v »temian” imeni moemu 〈…〉 v” stranach”« [›Weihrauch meinem Namen 〈…〉 in den Ländern‹ (S. 37)]; 187r »temian” bogu v”spusˇcˇaem’« [›Weihrauch, Gott dargebracht‹ (S. 44)]; in der dritten Variation dieses Motivs klingt der Wohlgeruchsname mit zwei *Nasalen schließlich in den drei angeführten Passivpartizipien auf -aem- und in der Reihe der *Instrumentalformen – »chvalami bozˇestvennaami i peˇnii svjatyimi« [›vom Lobe Gottes und von heiligen Gesängen‹ (S. 51)] – an. Bezeichnend ist, daß sich der Raum der dargestellten Ereignisse schrittweise verengt: In der ersten, kosmischen Szene ist dies »vsja zemlja« [›die ganze Erde‹ (S. 36)], in der zweiten »vsja zemlja nasˇa« [›unser ganzes Land‹ (S. 43)] und »vsi gradi« [›alle Städte‹ (S. 44)] und in der dritten Szene schließlich nur Kiev, »grad” velicˇ’stvom” siajusˇcˇ’« [›die Stadt, die in Majestät erstrahlt‹ (S. 51)]. Nicht ohne Grund ist das Lied über den siegreichen und ruhmvollen Triumph Christi in den mittleren Teil des Triptychons eingegangen, d. h. in die Erzählung darüber, wie 187r »slovo evangel’skoe zemlju nasˇju osia« [›die Sonne des Evangeliums unser Land bestrahlte‹ (S. 43)]. In der inhaltsreichen Arbeit von Kiril Taranovski wird der Aufbau der untersuchten Imperativtirade als das älteste Beispiel eines besonderen Gebetsverses [molitvoslovnyj razmer] in einem Originalwerk des altrussischen Schrifttums interpretiert.33 Das wichtigste Merkmal dieses »freien
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asyllabischen Verses« sei, laut Schlußfolgerung des Forschers, »das System rhythmischer Signale, die den Anfang der Zeilen markieren«, wobei in dieser Funktion meistens »die Vokativform und der Imperativ« auftreten.34 Der deklamatorische, zum Rezitativ neigende Bau solcher Gebetsdichtung unterscheidet sich frappierend von der strengeren Metrik der echten Gesangsdichtung, die eng mit der Melodik eines musikalischen Motivs verbunden ist. Von dieser Art ist insbesondere der Unterschied zwischen Gebetsdichtung 192v »v”stani o cˇestnaa glavo« [›Stehe auf, o ehrwürdiges Haupt‹ (S. 50)] und Gesangsdichtung 187v »edin” svjat”« [›Einer (ist) heilig‹]. Unmittelbar nach dem Gebet »kaganu nasˇemu« [›an unseren Kagan‹] folgt »molitva k” bogu ot” vsea zemlja nasˇea« [›das Gebet zu Gott von unserem ganzen Lande‹] – so der Titel des letzten Teils, wie er in der Überschrift der »Rede« erscheint. Beide Gebete sind voller Imperativformen, die bei der Anrufung Gottes manchmal pausenlos nacheinander folgen: 196v »spasi usˇcˇedri. prizri. poseˇti. umiloserdisja pomilui« [›Rette, erbarme dich, siehe an, suche heim, sei barmherzig, sei gnädig‹ (S. 54)]. Im Unterschied zum vorangehenden Text ist ›Das Gebet zu Gott‹ größtenteils auf Imperativen transitiver Verben mit häufigen Pronominalformen ny, nas”, nam” [›uns (enkl. Akk.), uns (Gen., Akk.), uns (Dat.)‹] als direkte oder *indirekte Objekte aufgebaut. Im Gebet zu Vladimir-Vasilij kommt das Pronomen my [›wir‹] bis auf eine einzige Ausnahme (193v »dusˇeju ny mertvy 〈…〉 v”skreˇsiv”« [›uns, die wir tot waren an der Seele, 〈…〉 hast du auferweckt‹ (S. 51 f.)]) nicht vor. Im Gegenteil, die »malii i velicii ljudie jazyka ruskaago« [›kleinen und großen Menschen der russischen Sprache‹], die (199v) »v”kupeˇ. veselo i radostno« [›gemeinsam, fröhlich und in Freuden‹ (S. 57)] den Herrn preisen, werden zum ersten Mal erst im abschließenden Gebet der »Rede« in den Vordergrund gerückt. Fast wie eine Antwort auf die mahnende Äußerung, mit der der Aufruf zur Lobpreisung Vladimirs begonnen hat – 184v »pochvalim” zˇe i my 〈…〉 velikaago kagana nasˇea zemli« [›Preisen denn auch wir 〈…〉 den großen Kagan unseres Landes‹ (S. 41)] – taucht im abschließenden Gebet das vierfache Subjekt my [›wir‹] auf (z. B. 196r und 198r »my ljudie tvoi« [›wir (sind) dein Volk‹ (S. 53 u. 55)]), wobei von den anderen Formen dieses *Paradigmas je 13 Mal ny [›uns‹ (enkl. Akk.)] und nas” [›uns‹ (Gen., Akk.)] und sieben Mal nam” [›uns‹ (Dat.)] vorkommen. 33 Taranovskij, »Formy obsˇcˇeslavjanskogo i cerkovnoslavjanskogo sticha v drevnerusskoj literature XI – XIII vv.«, S. 380 f. 34 A. a. O., S. 377. [Anm. d. Komm.]
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Nicht ohne Bedeutung für die Symbolik der »Rede« ist auch die Tatsache, daß Gott im abschließenden Gebet »ot’ vsea zemlja nasˇea« [›von unserem ganzen Lande‹ (S. 22)] lediglich zweimal mit dem Nominativ ty [›du‹] bezeichnet wird, und zwar jedes Mal in einer direkten, klaren Gegenüberstellung zu dem Nominativ my [›wir‹], der ›die kleine Herde‹ (»maloe stado«) der Gläubigen benennt. In beiden Fällen ist das Subjekt ty [›du‹] von anderen Ableitungen von derselben Wurzel umgeben, zuerst von *obliquen Kasus des Pronomens ty [›du‹], und dann von Possessivformen: 196r приими ны обращающас¤ къ ѣ. 〈…〉. укроти гнѣвъ им’же разгнѣвахомъ . человѣколюбче. бо еси господь владыка и творець. и въ ѣ есть власть. 〈…〉. люд≥е твои. ищемь. ѣ припадаемь. ѣ с¤ мили дѣемь. – 197v устави гнѣвныи пламень. простираютс¤ на ны рабы . самъ направл¤а ны на истину . 198r науча¤ творити волю . ¤ко еси богъ нашь. и людие твои. твоа ч¤сть. досто¤н≥е. 196r priimi ny obrasˇcˇajusˇcˇasja k” tobeˇ. 〈…〉 ukroti gneˇv” im’zˇe razgneˇvachom” tja. cˇeloveˇkoljubcˇe. ty bo esi gospod’ i vladyka i tvorec’. i v” tobeˇ est’ vlast’. 〈…〉. my ljudie tvoi. tebe isˇcˇem’. tobeˇ pripadaem’. tobeˇ sja mili deˇem’. – 197v ustavi gneˇvnyi tvoi plamen’. prostirajutsja na ny raby tvoa. sam napravljaa ny na istinu tvoju. 198r naucˇaja ny tvoriti volju tvoju. jako ty esi bog” nasˇ’. i my ljudie tvoi. tvoa cˇjast’. tvoe dostojanie. 196r Nimm uns auf, die (wir) uns zu dir kehren 〈…〉 stille den Zorn, womit (wir) dich erzürnt haben, Menschenliebender, denn du bist der Herr, der Herrscher und der Schöpfer, und in deiner Macht steht es 〈…〉 Wir, dein Volk, suchen dich, fallen nieder vor dir, bitten dich (S. 54) – 197v Halt an die Flamme deines Zorns, die sich gegen uns, deine Knechte, erstreckt, indem (du) selbst uns leitest zu deiner Wahrheit, 198r uns lehrst, deinen Willen zu erfüllen, denn du bist unser Gott und wir dein Volk, dein Teil, dein Erbe. (S. 55)
Eingeführt werden diese zwei pronominalen Gruppen bereits am Ende des Hymnus: 187v »i cˇjudna deˇla tvoa bozˇe nasˇ’ slava tebeˇ« [›und wunderbar (sind) deine Werke, unser Gott, Ruhm (sei) dir‹]. Im Gegensatz zum abschließenden Gebet »k” bogu« [›zu Gott‹] wiederholen beide an ›unseren Kagan‹ (»kaganu nasˇemu«) gerichteten Tiraden beharrlich den Nominativ ty [›du‹]. In der ersten, aus Fragesätzen bestehenden Tirade kommen fünf von sechs solchen Fällen in der *adversativen Verbindung ty zˇe [›du aber‹] vor (angefangen mit 188v »ty zˇe ni zakona ni prorok” pocˇitav”. raspjatomu poklonisja« [›du aber, der du weder das Gesetz noch die Propheten gelesen hast, hast dich vor dem Gekreuzigten gebeugt‹ (S. 45)] bis hin zu 191r, v »ty zˇe s” baboju tvoeju ol’goju. 〈…〉 utverdista veˇru« [›du aber hast mit deiner Großmutter Olga
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〈…〉 den Glauben befestigt‹ (S. 48)]). In der zweiten, aus Imperativsätzen bestehenden Tirade wird der letzte Aufruf »raduisja« [›freue dich‹] mit einer Aufzählung der Verdienste des Lehrers und Unterweisers begründet, die in acht Parallelkonstruktionen gegliedert ist: 194r, v ty beˇ [›du warst‹ (S. 52)] mit zusammengesetzten Prädikaten. Wenn man annimmt, daß auch die weiteren Teile der »Synodalen Abschrift«, d. h. das Glaubensbekenntnis mit seiner Interpretation, dem Nachwort und der autobiografischen Nachschrift des Autors, bereits in den ursprünglichen Text der »Rede« eingingen, dann wird der Übergang zum Plural des Adressaten und zum Singular des Adressanten auffällig: 203r »molite o mneˇ. cˇestneˇi ucˇitele i vladyky rusky zemlja« [›Betet für mich, ehrwürdige Lehrer und Herrscher des russischen Landes‹ (S. 59)]. Durch die verallgemeinerte erste Person eines beliebigen Gläubigen nähert sich der Prediger an die »Rede« in seinem eigenen Namen an und beginnt anschließend von sich aus zu sprechen. Seine Person ist dabei durch den Nominativ des Personalpronomens, die entsprechende finite Form des Verbs und durch den Eigennamen als grammatische Apposition kenntlich gemacht: »az” milostiju cˇeloveˇkoljubivaago boga. mnich” i prozviter” ilarion 〈…〉 svjasˇcˇen” bych”« [›Ich, durch die Gnade des menschenliebenden Gottes Mönch und Priester Ilarion 〈…〉 wurde geweiht‹ (S. 60)]. Die in dem Lobpreis auf den verstorbenen Fürsten auftretende Bezeichnung 194r »ucˇitelju nasˇ’« [›unser Lehrer‹ (S. 52)] wird nun auf den Autor des Lobpreises selbst übertragen: 203r »jako byti mi 〈…〉 ucˇitelju« [›daß ich 〈…〉 Lehrer werde‹ (S. 60)]. Die Namen des gepriesenen himmlischen und des irdischen Herrschers treten grammatisch in den Hintergrund, indem sie im adnominalen Genitiv – »milostiju 〈…〉 boga« [›durch die Gnade 〈…〉 Gottes‹ (S. 60)] – und im Possessivadjektiv erscheinen – mit dem letzteren endet der letzte Satz der Handschrift, der die genealogische Linie (184v) der Kagane »nasˇea zemlja« [›unseres Landes‹] fortführt: 203r: »vladycˇestvujusˇcˇu blagoveˇr’nomu kaganu jaroslavu, synu vladimirju. amin’« [›als der fromme Kagan Jaroslav, der Sohn Volodimers, herrschte. Amen‹ (S. 60)]. Die Probleme der Zusammensetzung und der künstlerischen Komposition der »Rede«, insbesondere die Frage nach der Wechselbeziehung zwischen der Vielfalt der einzelnen Teile und der unverkennbaren Einheit des Ganzen, erfordern eine weitere, gründliche Ausarbeitung.35 Diese ist unter anderem auch für die Vorbereitung einer wirklich kritischen Ausgabe 35 Die bisher gründlichste Bearbeitung dieser Fragen bietet im Anschluß an Jakobsons Analyse Vladimir N. Toporov: Toporov, »Rabotniki odinadcatogo cˇasa«, S. 29–83. [Anm. d. Komm.]
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notwendig. Der streng metrische Lobgesang, der im Rahmen der »Rede über das Gesetz und die Gnade« überliefert wurde und als Ausgangsthema für unsere vorläufigen Anmerkungen diente, weist eine enge organische Verbindung mit dem umgebenden Kontext auf und unterbindet somit die Möglichkeit der Mutmaßungen über seine spätere Einfügung in das erforschte Denkmal. Im Originalschrifttum der alten Rus’ stellt dieser Hymnus das bislang einzige Beispiel für jenen syllabischen Gesangsvers dar, der uns bisher nur aus den künstlerischen Versuchen in den westlichen und südlichen Gebieten der kirchenslavischen Tradition bekannt war. Editorische Notiz Verfaßt in Topanga, Kalifornien, 1971 und veröffentlicht in: Russia and Orthodoxy, Bd. 2: The Religious World of Russian Culture, hg. v. Andrew Blane, The Hague u. Paris: Mouton 1975, S. 9–22.
Literatur Jakobsons eigene Literaturangaben sind mit ° gekennzeichnet. °A Historical Russian Reader. A Selection of Texts from the Eleventh to the Sixteenth
Centuries, hg. v. John Fennell u. Dimitri Obolensky, Oxford: Clarendon Press 1969 (= Oxford Russian Readers, Bd. 8). Ilarion: Die Werke des Metropoliten Ilarion, eingel., übs. u. erl. v. Ludolf Müller, München: Wilhelm Fink 1971 (= Forum Slavicum, Bd. 37). Jakobson, Roman Osipovicˇ: »Czech Verse of a Thousand Years Ago«, in: SW VI, S. 347–354. — »Gimn v Slove Ilariona O zakone i blagodati«, in: SW VI, S. 402–414. – Erstdruck in: Russia and Orthodoxy, Bd. 2: The Religious World of Russian Culture, hg. v. Andrew Blane, The Hague u. Paris: Mouton 1975, S. 9–22. — »On the Verbal Art of William Blake and Other Poet-Painters«, in: SW III, S. 322–344. – »Zur Wortkunst von William Blake und anderen DichterMalern«, übs. v. Roger Lüdeke, Dieter Münch u. Grete Lübbe-Grothues, komm. v. Roger Lüdeke u. Sebastian Donat, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 1–43. — »›Tajnaja sluzˇ’ba‹ Konstantina Filosofa i dal’nejsˇee razvitie staroslavjanskoj poe˙zii« [›Die »Liturgie« von Konstantin dem Philosophen und die Weiterentwicklung der kirchenslavischen Poesie‹], in: SW VI, S. 260–276. — »The Slavic Response to Byzantine Poetry«, in: SW VI, S. 240–259. — »Zametki o drevnebulgarskom stichoslozˇenii« [›Bemerkungen zur altbulgarischen Verskunst‹], in: Izvestija Otdelenija russkogo jazyka i slovesnosti Rossijskoj Akademii nauk 24 (1923), H. 2, S. 351–358.
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Moldovan, Aleksandr Michajlovicˇ: »Slovo o zakone i blagodati« Ilariona [›»Rede über das Gesetz und die Gnade« von Ilarion‹], Kiev: Naukova dumka 1984. ° Müller, Ludolf: Des Metropoliten Ilarion Lobrede auf Vladimir den Heiligen und Glaubensbekenntnis, nach der Erstausg. v. 1844 neu hg., eingel. u. erl. v. Ludolf Müller, Wiesbaden: Harrassowitz 1962 (= Slavistische Studienbücher, Bd. 2). — »Die Bezeichnungen für ›Volk‹, ›Land‹ und ›Kirche‹ in den Werken des Metropoliten Ilarion«, in: Ilarion: Die Werke des Metropoliten Ilarion, eingel., übs. u. erl. v. Ludolf Müller, München: Wilhelm Fink 1971 (= Forum Slavicum, Bd. 37), S. 61–79. — »Eine westliche liturgische Formel in Ilarions Lobpreis auf Vladimir den Heiligen«, in: Ilarion: Die Werke des Metropoliten Ilarion, eingel., übs. u. erl. v. Ludolf Müller, München: Wilhelm Fink 1971 (= Forum Slavicum, Bd. 37), S. 80–86. ° Nikol’skij, Nikolaj Konstantinovicˇ: Materialy dlja povremennogo spiska russkich pisatelej i ich socˇinenij (X–XI vv.) [›Materialien zu einem periodischen Verzeichnis russischer Schriftsteller und ihrer Werke (10.–11. Jahrhundert)‹], Sankt Peterburg: Otdelenie russkogo jazyka i slovesnosti Imperatorskoj Akademii nauk 1906. ° Picchio, Riccardo: »The Isocolic Principle in Old Russian Prose«, in: Slavic Poetics. Essays in honor of Kiril Taranovsky, hg. v. Roman Jakobson, C. H. van Schooneveld u. Dean S. Worth, The Hague u. Paris: Mouton 1973 (= Slavistic Printings and Reprintings, Bd. 267), S. 299–331. ° Rozov, Nikolaj Nikolaevicˇ: »Rukopisnaja tradicija Slova o zakone i blagodati« [›Handschriftliche Tradition der »Rede über das Gesetz und die Gnade«‹], in: Trudy Otdela drevnerusskoj literatury Akademiji nauk SSSR 17 (1961), S. 42– 53. ° — »Sinodal’nyj spisok socˇinenij Ilariona – russkogo pisatelja XI v.« [›Synodale Abschrift der Werke Ilarions – eines russischen Schriftstellers des 11. Jahrhunderts‹], in: Slavia 32 (1963), S. 141–175. ° Taranovskij, Kirill: »Formy obsˇcˇeslavjanskogo i cerkovnoslavjanskogo sticha v drevnerusskoj literature XI – XIII vv.« [›Formen des gesamtslavischen und kirschenslavischen Verses in der altrussischen Literatur des 11.–13. Jahrhunderts‹], in: American Contributions to the Sixth International Congress of Slavists, Prague, 1968, August 7 – 13, Bd. 1, hg. v. Henry Kucˇera, Den Haag: Mouton 1970 (= Slavistic Printings and Reprintings, Bd. 81), S. 377–382. Toporov, Vladimir N.: »Rabotniki odinadcatogo cˇasa: ›Slovo o zakone i blagodati‹ i drevnerusskie realii« [›Arbeiter der elften Stunde: »Die Rede über das Gesetz und die Gnade« und altrussische Realien‹], in: Russian Literature 24 (1988), S. 1–127. Vasmer, Max: Russisches etymologisches Wörterbuch, 3 Bde., Heidelberg: Carl Winter 1953–1958.
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Komposition und Kosmologie des Klageliedes der Jaroslavna 1 Übersetzung aus dem Russischen Christian Schwarz und Sebastian Donat
Kommentar Sebastian Donat und Ulrich Schweier Mit dem bedeutendsten altostslavischen Heldenepos – dem »Slovo o polku Igoreve« [›Erzählung von dem Heerzug Igor’s‹ bzw. ›Igorlied‹] – hat sich Jakobson in einer ganzen Reihe von Arbeiten 2 beschäftigt; von ihm stammt auch eine der maßgeblichen kritischen Ausgaben des »Slovo«. 3 Den inhaltlichen Kern des »Slovo« bildet ein aus historischer Sicht marginales Ereignis, das allerdings in frühen altostslavischen Chroniken kurz erwähnt wird. Im Jahre 1185 unternahm Igor’ Svjatoslavicˇ von NovgorodSeversk gemeinsam mit drei anderen russischen Teilfürsten unter Mißachtung eines himmlischen Warnzeichens – einer Sonnenfinsternis – einen eigenmächtigen militärischen Vorstoß gegen die Polovcer (Kumanen). Dieses turkstämmige nomadische Reitervolk besiedelte seit dem 11. Jh. das Steppengebiet nördlich des Schwarzen Meeres und bedrohte seine Nachbarn ebenso wie die zentralen Handelsverbindungen ständig mit Raubüberfällen. Der mangelhaft 1
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Vorlage: Jakobson, Roman Osipovicˇ: »Kompozicija i Kosmologija Placˇa Jaroslavny«, in: SW III, S. 165–168. Erstdruck in: Literatura i obsˇˇcestvennaja mysl’ Drevnej Rusi. K 80–letiju so dnja rozˇdenija ˇclena-korrespondenta AN SSSR V. P. Adrianovoj-Peretc, hg. v. O. A. Belobrova u. a., Leningrad: Akademija Nauk SSSR 1969 (= Trudy Otdela Drevnerusskoj Literatury, Bd. 24), S. 32–34. [Anm. d. Übs.] Vgl. Jakobson, »Izucˇenie ›Slova o polku Igoreve‹ v Soedinennych Sˇtatach Ameriki«; ders., »The Archetype of the First Edition of the Igor’ Tale«; ders., »The Puzzles of the Igor’ Tale on the 150th Anniversary of Its First Edition«, sowie ders., »Usˇcˇekotal” skacˇa«. [Anm. d. Komm.] Jakobson, »La Geste du Prince Igor’«, S. 133–150. [Anm. d. Komm.]
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vorbereitete Feldzug endete mit einer vernichtenden Niederlage, Igor’ selbst geriet vorübergehend in Gefangenschaft. Heute darf man begründet davon ausgehen, daß das »Slovo« wenige Jahre nach diesem Ereignis von einem unbekannten Autor schriftlich fixiert wurde, wobei eine mündliche Fassung als Vorlage diente. Die weitere Überlieferungsgeschichte ist allerdings äußerst lückenhaft. Unsere Kenntnisse des Textes beruhen ausschließlich auf einer Handschrift, die der russische Graf A. I. Musin-Pusˇkin im Jahre 1795 erworben hat; Musin-Pusˇkin verdanken wir auch die erste gedruckte Ausgabe des »Slovo« (Moskau 1800). Sowohl der Umstand, daß die zugrunde liegende Handschrift bereits 1812 in Moskau ein Opfer der Flammen wurde, als auch eine ganze Reihe teilweise bis heute umstrittener inhaltlicher und sprachlicher Besonderheiten haben bis in die jüngste Zeit zu Spekulationen über die Echtheit des »Slovo« geführt. Die Forschung vertritt allerdings mehrheitlich die Auffassung, daß der uns bekannte Text keine später entstandene Fälschung bzw. Kompilation darstellt, 4 sondern auf einen Anonymus des ausgehenden 12. Jahrhunderts als Autor zurückgeht, der möglicherweise zum Gefolge Igor’s gehörte. Insgesamt ist das »Slovo« als flammender Appell jenes Autors zu werten, die politische Zerrissenheit und die Machtzersplitterung seines Landes angesichts der Bedrohungen durch die heidnischen nomadischen Stämme zu überwinden. Die lyrisch-epische Anlage des Textes spiegelt die höfische poetische Tradition des Kiever Reiches wider, die einerseits in der Folklore verwurzelt, andererseits durch den Verzicht auf metrische Muster, Reime oder Versstrukturen geprägt ist. Im Hinblick auf seinen Rang als nationales Heldenepos ist das »Slovo« ohne Zweifel den bedeutendsten westlichen Literaturdenkmälern (Rolandslied, Beowulf, Nibelungenlied etc.) gleichzustellen. Im vorliegenden Aufsatz leistet Jakobson eine äußerst prägnante Analyse der sogenannten »Klage der Jaroslavna«, die in das »Slovo« eingebettet ist, sich aber aufgrund ihres auffälligen folkloristisch-stilistischen Duktus wie auch ihrer poetischen Komposition von dem sie umgebenden Text abhebt. Jakobson arbeitet in seiner Analyse, die insbesondere morphologische, syntaktische und semantische Besonderheiten berücksichtigt, das die Klage prägende kompositorische Prinzip der Dreiheit heraus, das er zu dem in der indoeuropäischen Tradition wurzelnden kosmologischen Prinzip der drei Sphären bzw. Ränge des Weltalls in Beziehung setzt. Der Aufsatz ist V. P. Adrianova-Peretc gewidmet und wurde in der ihr zum 80. Geburtstag überreichten Festschrift erstmals veröffentlicht. Die rus4
Vgl. Gasparov, Poe˙tika »Slova o polku Igoreve«, sowie Zaliznjak, »Slovo o polku Igoreve«: Vzgljad lingvista. [Anm. d. Komm.]
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sische Gelehrte darf als die ›Große alte Dame‹ der Igorlied-Forschung gelten, und ihre 1950 in Moskau erschienene Monographie »Slovo o polku Igoreve« (mit Textausgaben, Übersetzungen und Kommentaren) zählt auch heute noch zu den unverzichtbaren einschlägigen Standardwerken. 5 Ulrich Schweier
[Das Klagelied der Jaroslavna 6 168 169 170 171 172 173 174 175 176 177 178 179 180 181 182 183
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ярославны м() гласъ слышить: зегзицею ( ) незнаемѣ рано кычеть. »ѕолечю – рече – зегзицею по ƒнви. »ќмочю бебр¤нъ рукавъ въ а¤лѣ рѣцѣ. »”тру кн¤зю кровавы¤ его раны на жестоцѣмъ его тѣлѣ.« ярославнa рано плачеть въ ѕутивлѣ на забралѣ аркучи: »ќ вѣтрѣ, вѣтрило! чему, г(осподи)не, насильно вѣеши? »◊ему мычеши ’иновьскы¤ стрѣлкы на своею нетрудною крилцю на мое¤ лады вои? »ћало ли ти б¤шеть горѣ подъ облакы вѣ¤ти, лелѣючи корабли на синѣ морѣ? »◊ему, господине, мое весел≥е по ковыл≥ю развѣ¤?« ярославнa рано плачеть ѕутивлю городу на заборолѣ аркучи: »ќ, ƒнепре —ловутицю! “ы пробилъ еси каменны¤ горы сквозѣ землю ѕоловецкую. »“ы лел¤лъ еси на себѣ —в¤тославли носады до плъку об¤кова. »¬ъзлелѣй, господине, мою ладу къ мнѣ, абыхъ не слала къ нему слезъ на море рано.« ярославнa рано плачеть ѕутивлѣ на забралѣ аркучи: »—вѣтлое и тресвѣтлое слънце! всѣмъ тепло и красно еси. »◊ему, г(осподи)не, простре гор¤чюю свою лучю на ладѣ вои, въ полѣ безводнѣ жаждею имъ лучи съпр¤же, тугою имъ тули затче?«
Vgl. Slovo o polku Igoreve, hg. v. Adrianova-Peretc. [Anm. d. Komm.] Da Jakobson selbst das »Klagelied der Jaroslavna« an keiner Stelle in voller Länge aufführt, wurde es hier zur besseren Verständlichkeit der Analyse dem Aufsatz Jakobsons vorangestellt. Der altrussische Text des »Klageliedes« ist Jakobsons eigener Ausgabe entnommen (vgl. Jakobson, »La Geste du Prince Igor’«, S. 146 f.). [Anm. d. Übs.]
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Jaroslavny m(i) sja glas” slysˇit’: zegziceju z(emli) neznaemeˇ rano kycˇet’. »Polecˇju – recˇe – zegziceju po Donovi. »Omocˇju bebrjan” rukav” v” Kajaleˇ reˇceˇ. »Utru knjazju krovavyja ego rany na zˇestoceˇm” ego teˇleˇ.« Jaroslavna rano placˇet’ v” Putivleˇ na zabraleˇ arkucˇi: »O veˇtreˇ, veˇtrilo! cˇemu, g(ospodi)ne, nasil’no veˇesˇi? ˇ emu mycˇesˇi Chinov’skyja streˇlky na svoeju netrudnoju krilcju na moe»C ja lady voi? »Malo li ti bjasˇet’ goreˇ pod” oblaky veˇjati, leleˇjucˇi korabli na sineˇ moreˇ? ˇ emu, gospodine, moe veselie po kovyliju razveˇja?« »C Jaroslavna rano placˇet’ Putivlju gorodu na zaboroleˇ arkucˇi: »O Dnjepre Slovuticju! ty probil” esi kamennyja gory skvozeˇ zemlju Poloveckuju. »Ty leleˇjal” esi na sebeˇ Svjatoslavli nosady do pl”ku Kobjakova. »V”zleleˇj, gospodine, moju ladu k” mneˇ, abych” ne slala k” nemu slez” na more rano.« Jaroslavna rano placˇet’ Putivleˇ na zabraleˇ arkucˇi: »Sveˇtloe i tresveˇtloe sl”nce! vseˇm” teplo i krasno esi. ˇ emu, g(ospodi)ne, prostre gorjacˇjuju svoju lucˇju na ladeˇ voi, v” poleˇ »C bezvodneˇ zˇazˇdeju im” lucˇi s”prjazˇe, tugoju im” tuli zatcˇe?«
168 Ich höre Jaroslavnas Stimme: einem Kuckuck in einem unbekannten
Land gleich klagt sie früh am Morgen. 169 »Ich will« – so ruft sie – »gleich einem Kuckuck die Donau entlangfliegen. 170 »Meinen Ärmel aus Biberpelz will ich in die Fluten des Flusses Kajala
tauchen. 171 »Dem Fürsten die blutigen Wunden netzen auf seinem mächtigen Kör-
per.« 172 Es klagt Jaroslavna früh am Morgen zu Putivl auf dem Wehrgang und
spricht: 173 »O Wind, Brausewind! Weshalb, Gebieter, wehst Du so ungestüm? 174 »Weshalb treibst du auf deinen leichten Schwingen der Feinde Pfeile
gegen meines Liebsten Krieger? 175 »War es Dir nicht genug, unter den Wolken zu wehn, die Schiffe wiegend
auf blauem Meer? 176 »Weshalb, o Gebieter, hast du mein Fröhlichsein im Steppengras ver-
weht?« 177 Es klagt Jaroslavna früh am Morgen in der Sadt Putivl auf dem Wehr-
gang und spricht: 178 »O Dnepr Slovuticˇ! du hast die steinernen Felsen des Polovcerlandes
durchbrochen. 179 »Du hast auf deinen Wogen die Kähne Svjatoslavs hin zum Heer des
Kobjak getragen.
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»Trage nun, o Gebieter, meinen Liebsten zu mir, auf daß ich ihm des Morgens früh nicht Tränen nachsende hin ans Meer.« 181 Es klagt Jaroslavna früh am Morgen zu Putivl auf dem Wehrgang und spricht: 182 »Helle und dreimal helle Sonne! für alle bist du warm und schön. 183 »Weshalb, o Gebieterin, hast du deine sengenden Strahlen auf die Krieger meines Gatten ausgestreckt, hast du ihnen in wasserloser Steppe mit Durst die Bogen gekrümmt, hast du ihnen mit Kummer die Köcher verschlossen?« 7 ] 180
Die Erzählung über Jaroslavna im Slovo o polku Igoreve 8 [›Erzählung von dem Feldzug Igor’s‹ bzw. ›Igorlied‹] 9 setzt sich aus einer Einleitung und einem dreiteiligen Klagelied zusammen. Im ersten, einleitenden Teil verflechten sich drei motorisch-auditive Verben in der dritten *Person Singular, die den Monolog der Heldin ankündigen (168 10 sja slysˇit’-kycˇet’ [›ist zu hören – klagt‹] – 169 recˇe [›ruft (sie)‹]), mit drei *Tätigkeitsverben, die sich auf die erste Person Singular beziehen. Durch ihre dreifache Äußerung im Prolog (169 polecˇju [›(ich will) entlangfliegen‹] – 170 omocˇju [›(ich will) tauchen‹] – 171 utru [›(ich will) netzen‹]) bilden sie eine symmetrische Reihe: 3, 3, 1, 3, 1, 1.11 Jeder der drei Abschnitte des zweiten Hauptteils wird mit fast dem gleichen Satz eingeleitet: 172, 177, 181 Jaroslavna rano placˇet’ 〈…〉 arkucˇi [›Jaroslavna früh klagt 〈…〉 und spricht‹], d. h. das motorisch-auditive Verb in der dritten Person Singular kündigt von neuem, wie auch im ersten Teil, das beschwörende Weh7
Die hier angeführte deutsche Übersetzung ist im Wesentlichen mit derjenigen von Helmut Graßhoff identisch: »Das Lied von der Heerfahrt Igors«. Eine deutsche Nachdichtung des Igorliedes wurde außerdem von Rainer Maria Rilke verfaßt: Das Igor-Lied. Eine Heldendichtung. [Anm. d. Übs.] 8 Den Zitaten und ihren Numerierungen ist unsere kritische Ausgabe zugrunde gelegt: Jakobson, »La Geste du Prince Igor’«, S. 146 f. (Ziffern bezeichnen die ›Verse‹ – d. h. die Absätze des Textes des »Slovo«). [Anm. v. R.J.] – Zur Gattungszugehörigkeit des Slovo vgl. die Einleitung. [Anm. d. Komm.] 9 In der deutschsprachigen Literatur wird »Slovo o polku Igoreve« zumeist als »Igorlied« übersetzt. [Anm. d. Übs.] 10 Jakobson verwendet hier – anders als in den meisten sonstigen Analysen – keine tiefgestellten Ziffern, wohl nicht zuletzt, um präsent zu halten, daß es sich nicht um ›Verse‹ i. eigentl. Sinne, sondern um ›Absätze‹ handelt. [Anm. d. Komm.] 11 Die Bezeichnung ›symmetrische Reihe‹ ist an dieser Stelle sehr unspezifisch. Die Anordnung der Verbformen in bezug auf die Kategorie ›Person‹ (die Ziffern 1 und 3 stehen für die 1. und 3. Person) entspricht im Rahmen von Jakobsons Symmetrieformen dem komplexen Typ der *gespiegelten Antisymmetrie, bei der in der Wiederaufnahme die Elemente ausgetauscht (aus der dritten Person wird die erste und umgekehrt) und in umgekehrter Reihenfolge angeordnet werden: 3, 3, 1 → 3, 1, 1. [Anm. d. Komm.]
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klagen der Fürstin an. Unmittelbar nach jeder der drei Ankündigungen erscheint eine Anrede, bestehend aus drei betonten Worten: 173 O veˇtreˇ, veˇtrilo! [›O Wind, Brausewind!‹] – 178 O Dnepre Slovuticju! [›O Dnepr Slovuticˇ!‹ 12 ] – 182 Sveˇtloe i tresveˇtloe sl”nce! [›Helle und dreimal helle Sonne!‹]. Dann, wenn der Prolog, der an einen unbekannten Zuhörer (168 zemli neznaemeˇ [›in einem unbekannten Land‹]) gerichtet ist, durch die genaue Bezeichnung des Adressaten abgelöst wird, nimmt die zweite Person die Stelle der ersten Person ein. Jede der drei Anrufungen enthält jeweils drei konkrete Verben in der zweiten Person Singular, und innerhalb jeder Anrufung sind alle drei Sätze mit diesen Prädikaten durch einen grammatischen *Parallelismus miteinander verbunden: 1) 173 ˇcemu 〈…〉 veˇesˇi? [›warum 〈…〉 wehst du?‹] – 174 ˇcemu mycˇesˇi 〈…〉? [›warum 〈…〉 treibst du?‹] – 176 ˇcemu 〈…〉 razveˇja? [›warum 〈…〉 hast du verweht?‹] 2) 178 ty probil” esi [›du hast durchbrochen‹] – 179 ty leleˇjal” esi [›du hast getragen‹] – 180 v”zleleˇj [›trage!‹] (wobei nach jedem Verb zuerst ein direktes Objekt folgt und darauf eine Präpositionalkonstruktion). 3) 183 prostre – s”prjazˇe – zatcˇe [›du hast ausgestreckt – du hast gekrümmt – du hast verschlossen‹] (alle drei Verben gehören zu Fragesätzen, wie auch im ersten Anruf, nur mit dem Unterschied, daß das adverbialisierte Pronomen ˇcemu 13 [›weshalb‹] hier bei den beiden letzten Fragen ausgelassen wurde; alle drei Sätze enthalten jeweils ein direktes und ein *indirektes Objekt; überdies wird in beiden elliptischen Fragen der Parallelismus durch morphologisch und syntaktisch ähnliche Formen des *Instrumentals hervorgehoben: zˇazˇdeju im’ lucˇi s”prjazˇe, tugoju im” tuli zatcˇe [›(mit) Durst (hast du) ihnen (die) Bogen gekrümmt, (mit) Kummer (hast du) ihnen (die) Köcher verschlossen‹]). Die kompositorische Verwandtschaft aller drei Anrufungen, sowohl der äußeren, interrogativen, als auch der mittleren, ausrufend-imperativen, wird durch eine identische Anrede erreicht 173, 176, 180, 183 gospodine [›(O) Gebieter‹] und durch eine gleichartige Bezeichnung Igor’s in einer ähnlichen sprachlichen Umrahmung: 174 na svoeju netrudnoju krilcju 〈…〉 na moeja lady voi [›auf deinen leichten Schwingen 〈…〉 gegen meines Liebsten Krieger‹] – 180 moju ladu [›meinen Liebsten‹] – 183 svoju lucˇju na ladeˇ voi [›deine Strahlen auf (die) Krieger (meines) Liebsten‹]. 12 »Slovuticˇ«: in der ostslavischen Folklore zu findender, ehrender Beiname – etwa: ›Ruhmreicher‹. [Anm. d. Komm.] 13 Die Form ˇcemu ist der Dativ des *Pronomens ˇcto ›was‹ und wird im Altostslavischen eben auch in der Bedeutung ›weshalb‹ verwendet. [Anm. v. I.M.]
Komposition und Kosmologie des Klageliedes der Jaroslavna
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Das Prinzip der Dreiheit, nach dem das Klagelied der Jaroslavna aufgebaut ist, findet seinen charakteristischen Ausdruck im gestaffelten *Epitheton 182 sveˇtloe i tresveˇtloe [›helle und dreimal helle‹], welches in eine dreifache Reihe von Paronymen eingeschlossen ist: 173 O veˇtre, veˇtrilo! ˇcemu, gospodine [›(O) Wind, Brausewind! Weshalb, Gebieter‹] – 182 Sveˇtloe i tresveˇtloe sl”nce! [›Helle und dreimal helle Sonne‹] – 183 ˇcemu, gospodine, prostre 〈…〉 [›weshalb, Gebieterin, hast du ausgestreckt 〈…〉‹]. Die drei Adressaten der beschwörenden Rufe Jaroslavnas gehören eindeutig den drei Rängen des Weltgebäudes an, »den drei Phänomenabteilungen des dreigeteilten Universums«, die sich in die kosmologische Tradition der indoeuropäischen Völker eingeprägt haben, und die anhand von indoiranischem und griechisch-römischem Material in einer ganzen Reihe grundlegender Arbeiten untersucht wurden.14 Der höchste Bereich ist der Himmel, der niedrigste die Erde, der mittlere Bereich ist die Zwischenwelt zwischen Himmel und Erde. Die niedrigste Sphäre befindet sich entweder auf der Ebene der Erde oder noch tiefer, in letzterem Fall häufig auf der Ebene der Gewässer; dann kann die Vorstellung von der mittleren Sphäre also bis zur Erdoberfläche hin ausgedehnt sein. B. V. Sapunov erkennt im Klagelied der Jaroslavna zurecht deutliche Relikte vorchristlicher kultischer Symbolik.15 Numina caelestia, media et terrestria [›die Gottheiten des Himmels, der mittleren Sphäre und der Erde‹ 16 ] tauchen hier auf als die Gebieterin dreimal helle Sonne, als der Gebieter Wind, Brausewind, und als der Gebieter Dnepr Slovuticˇ. Mit magischer Macht ist der Ruf des Kuckucks zu den drei Elementen ausgestattet: Deswegen begleiten die Gewässer, die Winde und die Sonne die rettende Flucht Igor’s. Das Klagelied der Jaroslavna ist das letzte von drei Bildern des dreirangigen Weltalls im Slovo, die zwei ersten Bilder sind ihrerseits mit dem Thema der Zauberei verbunden. Im ersten Prolog des Slovo breitet sich der Seher Bojan 3 mysliju po drevu, seˇrym” v”lkom” po zemli, ˇsizym” orlom” pod” oblaky [›in Gedanken durch (die) Bäume, (einem) grauen Wolf gleich über (die) Erde, wie (ein) silbergrauer Adler unter (den) Wolken‹] aus (Der Baum ist neben dem Wind ein traditionelles 14 Gonda, Loka. World and Heaven in the Veda; Nyberg, Die Religionen des alten Iran; Dume´zil, Jupiter, Mars, Quirinus; Benveniste, »Symbolisme social dans les cultes gre´co-italiques«. [Anm. v. R.J.] – Das Zitat findet sich in Gonda, Loka. World and Heaven in the Veda, S. 44. [Anm. d. Übs.] 15 Sapunov, »Jaroslavna i drevnerusskoe jazycˇestvo«. Zu mythologischen Elementen im Slovo siehe auch: Jakobson, »La Geste du Prince Igor’«, S. 288–295; Jakobson / Szeftel, »The Vseslav Epos«, S. 301–357, und Jakobson, »Retrospect«, S. 701 f. 16 Dume´zil, Jupiter, Mars, Quirinus, S. 96. [Anm. d. Übs.]
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*Symbol der Zwischensphäre zwischen Erde und Himmel – R. J.). Im zweiten Prolog wird der Seher Bojan angerufen, der Enkel des Velesov: 14 aby ty sia pl”ky usˇˇcekotal”, skacˇa, slaviju, po myslenu drevu, letaja umom” pod” oblaky, risˇˇca v” tropu Trojanju ˇcres” polja na gory [›so hättest du diese Heerfahrt besungen, hüpfend, Nachtigall, in Gedanken durch die Bäume, im Geist unter (den) Wolken dahinfliegend, auf (der) Fährte Trojans durch (die) Felder jagend hin auf (die) Höhn‹]. Alle drei genannten Bilder der dreirangigen Welt werden durch zwei allgemeine Züge charakterisiert: Die beiden äußeren Sphären zeigen sich in direkter Angrenzung zueinander (die höchste hinter der niedrigsten im ersten Prolog und im Klagelied und, umgekehrt, die niedrigste hinter der höchsten im zweiten Prolog) die Zwischensphäre figuriert in allen drei Fällen an erster Stelle (der Baum in beiden Prologen, der Wind im Klagelied). Möglicherweise bereitet die Einleitung zum Klagelied die Reihe – Wind, Dnepr, Sonne – durch eine umgekehrte, gespiegelte Anordnung der Motive vor: 169 Polecˇju 〈…〉 zegziceju [›ich will fliegen 〈…〉 (wie ein) Kuckuck‹] (vgl. den Flug des Adlers in der ersten und den Flug der Nachtigall in der zweiten Einleitung), 170 Omocˇju 〈…〉 v” Kajaleˇ reˇceˇ [›Ich will tauchen 〈…〉 in (den) Kajala Fluß‹], 171 Utru knjazju 〈…〉 rany [›Ich will netzen (dem) Fürsten 〈…〉 (die) Wunden‹] (während sie das Ufer erklimmt). Wie bereits weiter oben gezeigt wurde, enthält die Anrufung jeder der drei elementaren Kräfte je drei konkrete Verben in der zweiten Person Singular, wobei alle drei Sätze, welche diese Prädikate enthalten, durch einen grammatischen Parallelismus miteinander verbunden sind. Es bleibt anzumerken, daß jede der drei Anrufungen, abgesehen von den drei oben erwähnten parallelen Sätzen, noch je einen Satz mit einer finiten Verbform enthält, die hinsichtlich ihrer grammatischen *Struktur von allen neun Verben, welche die Basis der drei Anrufungen der Jaroslavna bilden, völlig verschieden ist. So unterscheidet sich in den Fragen, die an den Wind gerichtet sind, die einzige subjektlose Konstruktion im Klagelied der Jaroslavna 175 Malo li ti bjasˇet’ [›War (es) dir nicht genug‹] darüber hinaus durch das Imperfekt und die dritte Person von allen übrigen Prädikaten im Monolog der Jaroslavna. Bei der Anrufung des Dnjepr unterscheidet sich die Form 180 abych” ne slala [›daß ich nachsendete‹] sowohl durch die Person als auch durch den Modus von allen übrigen Verben in den drei Anrufungen der Fürstin und dient als einziges Prädikat eines Nebensatzes im gesamten Text. Der einzige Aussagesatz in der Rede an die Sonne – 182 vseˇm” teplo i krasno esi [›für alle bist du warm und schön‹] – unterscheidet sich durch
Komposition und Kosmologie des Klageliedes der Jaroslavna
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die Beteiligung eines *Kopulativverbs 17 von den übrigen Sätzen des Klageliedes, mit Ausnahme der oben angeführten Konstruktion 175 Malo li ti bjasˇet’ [›War (es) dir nicht genug‹], und fungiert im gesamten Text als einziges Beispiel für eine Verknüpfung gleichartiger Glieder: teplo i krasno [›warm und schön‹], während die symmetrischen Sätze nicht durch eine innere, sondern durch eine reziproke Gleichartigkeit charakterisiert sind. Auf diese Art und Weise besteht jede der drei Anrufungen der Jaroslavna aus drei symmetrischen und aus einem asymmetrischen Satz, wobei die Verteilung aller drei asymmetrischen Sätze überaus auffällig ist. Bei der Anrufung des Herrn der niedrigsten Sphäre, des Dnjepr Slovuticˇ, folgt die asymmetrische Beifügung nach dem letzten der drei symmetrischen Sätze (180 V”zleleˇj, gospodine, moju ladu k” mne, abych” ne slala k” nemu slez” na more rano! [›Trage, o Gebieter, meinen Liebsten zu mir, auf daß ich ihm (des Morgens) früh nicht Tränen nachsende hin ans Meer‹]). Bei der Anrufung der Herrin der höchsten Sphäre, der dreimal hellen Sonne, geht die asymmetrische Beifügung dem ersten der drei symmetrischen Sätze voraus (182 vseˇm” teplo i krasno esi [›für alle bist du warm und schön‹]; 183 ˇcemu, gospodine, prostre gorjacˇjuju svoju lucˇju na ladeˇ voi [›weshalb, (o) Gebieterin hast du deine sengenden Strahlen auf (die) Krieger (meines) Liebsten ausgestreckt‹]). Bei der Anrufung des Herrn der mittleren Sphäre aber, des Windes, Brausewindes, geht die asymmetrische Beifügung, eine eingebrachte polemische Frage, dem letzten der drei symmetrischen Sätze voraus (175 Malo li ti bjasˇet’ goreˇ pod” oblaky veˇjati, leleˇjucˇi korabli na sineˇ moreˇ? [›War (es) dir nicht genug, unter (den) Wolken (zu) wehn, (die) Schiffe wiegend auf blauem Meer?‹], 176 Cˇemu, gospodine, moe veselie po kovyliju razveˇja? [›weshalb, (o) Gebieter, hast du mein Fröhlichsein im Steppengras verweht?‹]). Mit anderen Worten: Ein asymmetrischer Satz dient als abschließende Einrückung der Rede, die nach unten gerichtet ist, als beginnender Einsatz der symmetrischen Sätze, die nach oben gerichtet sind, bzw. als innere Verstärkung der dreiteiligen Rede an das mittlere Verbindungselement. Wo auch immer sich dabei eine asymmetrische Beifügung befindet, schließt sich ihr stets unmittelbar ein Satz mit dem respektvollen Vokativ gospodine [›(O) Gebieter‹] an. Mit diesem inständigen Titel preist Jaroslavna den Herrn der höchsten Sphäre im ersten der drei symmetrischen Sätze, den Herrn der niedrigsten Sphäre im letzten und den Herrn der mittleren Sphäre sowohl 17 Bei dem erwähnten Kopulativverb handelt es sich in diesem Beispiel um esi [›(du) bist‹] (2. Pers. Sing. Präsens), im folgenden Beispiel um bjasˇet’ [›(es) war‹] (3. Pers. Sing. Imperfekt). [Anm. d. Komm.]
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im ersten als auch im letzten der drei symmetrischen Sätze. Entsprechend wird vom lade [›Liebsten‹], dem Helden, dem die Anflehungen gelten, im ersten symmetrischen Satz in der Rede an die Sonne, im dritten und letzten Satz in der Rede an den Dnjepr und im zweiten, d. h. mittleren Satz, in der Rede an den Wind, den Herrscher der mittleren Sphäre, gesprochen. Editorische Notiz Verfaßt 1968 in Cambridge, Mass., und erstmals veröffentlicht in: Trudy Otdela Drevnerusskoj Literatury AN SSSR, Bd. 24, zu Ehren von V. P. Adrianova-Peretc.
Literatur Jakobsons eigene Literaturangaben sind mit ° gekennzeichnet. ´ mile: »Symbolisme social dans les cultes gre´co-italiques«, in: Revue ° Benveniste, E de l’Histoire des Religions 129 (1945), S. 5–16. Das Igor-Lied. Eine Heldendichtung. Der altrussische Text mit der Übertragung von Rainer Maria Rilke und der neurussischen Prosafassung von D. S. Lichatschow, Leipzig: Insel-Verlag 1960. »Das Lied von der Heerfahrt Igors«, üb. v. Helmut Graßhoff, in: O Bojan, du Nachtigall der alten Zeit. Sieben Jahrhunderte altrussischer Literatur, hg. v. Helmut Graßhoff, Klaus Müller u. Gottfried Sturm, Frankfurt /Main: Verlag Heinrich Scheffler 1965, S. 157–169. ° Dume´zil, Georges: Jupiter, Mars, Quirinus. Essai sur la conception indo-europe´enne de la Socie´te´ et sur les origines de Rome, Paris: Gallimard 1941. Gasparov, Boris: Poe˙tika »Slova o polku Igoreve« [›Die Poetik der »Erzählung von dem Heerzug Igor’s«‹], Wien: Institut für Slawistik der Universität Wien 1984 (= Wiener Slawistischer Almanach, Sonderband 12). ° Gonda, Jan: Loka. World and Heaven in the Veda, Amsterdam: N. V. NoordHollandsche Utgevers Maatschappij 1966 (= Verhandelingen der Koninklijke Nederlandse Akademie van Wetenschappen, Afd. Letterkunde, Bd. 73,1). Jakobson, Roman Osipovicˇ: »Izucˇenie ›Slova o polku Igoreve‹ v Soedinennych Sˇtatach Ameriki« [›Die Untersuchung des »Liedes von der Heerfahrt Igor’s« in den Vereinigten Staaten von Amerika‹], in: SW IV, S. 499–517. — »Kompozicija i kosmologija Placˇa Jaroslavny« [›Komposition und Kosmologie des Klageliedes der Jaroslavna‹], in: Literatura i obsˇˇcestvennaja mysl’ Drevnej Rusi. K 80–letiju so dnja rozˇdenija ˇclena-korrespondenta AN SSSR V. P. Adrianovoj-Peretc, hg. v. O. A. Belobrova u. a. Leningrad: Akademija Nauk SSSR 1969 (= Trudy Otdela Drevnerusskoj Literatury, Bd. 24), S. 32–34.
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— »Kompozicija i kosmologija Placˇa Jaroslavny« [›Komposition und Kosmologie des Klageliedes der Jaroslavna‹], in SW III, S. 165–168. ° — »La Geste du Prince Igor’«, in: SW IV, S. 106–300. ° — »Retrospect«, in: SW IV, S. 635–704. — »The Archetype of the First Edition of the Igor’ Tale«, in: SW IV, S. 464– 473. — »The Puzzles of the Igor’ Tale on the 150th Anniversary of Its First Edition«, in: SW IV, S. 380–410. — »Usˇcˇekotal” skacˇa« [›Hättest du gesungen, hüpfend‹], in: SW IV, S. 603– 610. ° Jakobson, Roman Osipovicˇ u. Marc Szeftel: »The Vseslav Epos«, in: SW IV, S. 301–368. ° Nyberg, Henrik Samuel: Die Religionen des alten Iran, übers. v. H. H. Schaeder, Leipzig: J. C. Hinrichs Verlag 1938 (= Mitteilungen der VorderasiatischenAegyptischen Gesellschaft, Bd. 43). Slovo o polku Igoreve [›Erzählung von dem Feldzug Igor’s‹], hg. v. Varvara P. Adrianova-Peretc, Moskva: Akademija Nauk SSSR 1950. ° Sapunov, B. V.: »Jaroslavna i drevnerusskoe jazycˇestvo« [›Jaroslavna und das altrussische Heidentum‹], in: Slovo o polku Igoreve – pamiatniki XII veka, hg. v. D. S. Lichacˇev. Moskva u. Leningrad: Akademija Nauk SSSR 1962, S. 321–329. Zaliznjak, Andrej Anatol’evicˇ: »Slovo o polku Igoreve«: Vzgljad lingvista [›»Die Erzählung von dem Heerzug Igor’s«: Ansicht eines Linguisten‹], Moskva: Rossijskaja Akademija Nauk. Institut Slavjanovedenija 2004.
Roman Jakobson
Die poetische Textur bei Martin Codax. Revidierte Fassung eines Briefs an Haroldo de Campos 1
Übersetzung aus dem Englischen und Kommentar Horst Weich Nach dem zusammen mit der italienischen Lusitanistin Luciana Stegagno Picchio verfaßten Aufsatz zu den »dialektischen Oxymora von Fernando Pessoa« 2 widmet sich Jakobson ein zweites Mal der portugiesischen Literatur. Er wählt eine mittelalterliche »cantiga« [›Lied‹] des galaeco-portugiesischen Spielmanns Martin Codax. Die mittelalterliche »cantiga« mit ihren Hauptgattungen »cantiga de amor« [›Minnelied‹], »cantiga de amigo« [›Frauenlied‹] und »cantiga de esca´rnio e maldizer« [›Spott- und Schmählied‹] ist grundsätzlich vom Prinzip der variierenden Wiederholung und Steigerung geprägt; die »cantiga de amigo« ist dabei am deutlichsten repetitiv und *parallelistisch strukturiert. Jakobsons Freude darüber, daß ihm befreundete Spezialisten diese wichtige, aber außerhalb Portugals weithin vergessene Literatur 1
2
Vorlage: Jakobson, Roman: »Martin Codax’s Poetic Texture. A revised version of a letter to Haroldo de Campos«, in: SW III, S. 169–175. Überarbeitete und erweiterte Version des Erstdrucks: Jakobson, Roman: »Lettre a` Haroldo de Campos sur la texture poe´tique de Martin Codax«, in: Change 6 (1970), S. 53–59; dieser liegt auch der portugiesischen Übersetzung zugrunde: Jakobson, Roman: »Carta a Haroldo de Campos soˆbre a textura poe´tica de Martin Codax«, in: Jakobson, Lingü´ıstica. Poe´tica. Cinema. Roman Jakobson no Brasil, Sa˜o Paulo: Editoˆra Perspectiva 1970, S. 119–126. Haroldo Eurico Browne de Campos (1929–2003) war Dichter (Konkrete Poesie), Übersetzer, Essayist und Literaturwissenschaftler. [Anm. d. Übs./Komm.] Vgl. den von Jörg Dünne übersetzten und herausgegebenen Beitrag: Jakobson / Stegagno Picchio, »Die dialektischen Oxymora von Fernando Pessoa«, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 631–668. [Anm. d. Übs./Komm.]
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nahegebracht haben, ist echt, kann er doch hier besonders gut seinem Bestreben nachkommen, die dominante *Paradigmatik des lyrischen Textes aufzuweisen, und für ihn erstaunliche *Symmetrien entdecken. Seine strukturellen Befunde werden kaum funktionalisiert und für eine systematischere Beschreibung der Gattungskonventionen genutzt. Schön scheint die abschließende Idee, daß sich die *Strophen jeweils im Refrain ›weiblich‹ öffnen nach dem obstinaten Verschluß des voraufgehenden Reimpaars. Die (übrigens auf die Musik nicht eingehende) textzentrierte Analyse setzt Vertrauen in die Stabilität des Textes voraus, die im Mittelalter zwar grundsätzlich nicht gegeben ist, im vorliegenden Fall aber relativ unproblematisch erscheint. Horst Weich Luciana Stegagno Picchio gebührt Dank, daß sie mit ihrer großzügigen Kooperationsbereitschaft und ihrem durchweg unfehlbaren literarischen Geschmack mich auf die atemberaubenden Cantigas des galaeco-portugiesischen Troubadours und ihre alte musikalische Notation aufmerksam gemacht hat.3 Die grundlegende Monographie von Celso Ferreiro da Cunha, O Cancioneiro de Martin Codax (Rio de Janeiro 1956),4 und eine äußerst lehrreiche Unterhaltung mit meinem Kollegen Francis Rogers 5 gewährten mir einen tieferen Einblick in diese großartigen Werke einer außergewöhnlichen Epoche in der Geschichte der europäischen Wortkunst. Als ein Bewunderer jenes unübertrefflichen Gespürs für die äußerst engen Verbindungen zwischen Laut und Bedeutung, eines Gespürs, das den kühnen dichterischen Experimenten und faszinierenden Entdeckungen Haroldo de Campos’ durchweg zugrunde liegt und seine außergewöhnlichen Transpositionen scheinbar unübersetzbarer Gedichte aus ganz 3
4 5
Der Spielmann Martin Codax aus der zweiten Hälfte bzw. dem letzten Viertel des 13. Jahrhunderts ist wahrscheinlich galizischer Herkunft (wenn man den häufigen Ortsverweis Vigo biographisch lesen will) und niederen Stands (daher kein Troubadour). Das technische und rhetorische Raffinement seiner cantigas weist gleichwohl auf Bildung in klösterlichen oder aristokratischen Kreisen hin. Martin Codax werden sieben cantigas de amigo zugeschrieben; deren Besonderheit besteht darin, daß sie, außer in den beiden Hauptkodizes Cancioneiro da Biblioteca Nacional und Cancioneiro da Vaticana, auch in einem erst 1977 aufgefundenen Blatt (dem sog. Pergaminho Vindel ) überliefert sind, und zwar, was für die mittelalterliche portugiesische Lyrik einzigartig ist, mit musikalischer Notation ihrer Melodien. Vgl. hierzu Lanciani / Tavani, Diciona´rio da Literatura Medieval, S. 433–436. [Anm. d. Übs./Komm.] Dies ist die erste monographische Studie zum Autor; die derzeit verläßlichste ist Ferreira, O Som de Martin Codax. [Anm. d. Übs./Komm.] Francis Rogers war Professor für Portugiesische Literatur in Harvard. [Anm. d. Übs./Komm.]
Die poetische Textur bei Martin Codax
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unterschiedlichen Sprachen inspiriert, möchte ich mit ihm meine kursorischen Beobachtungen zu einem ganz besonderen Exemplar der Wortjuwelen des 13. Jahrhunderts teilen, der fünften der sieben Cantigas d’amigo von Martin Codax. I
1. 2. 3.
II
4. 5. 6.
III
7. 8. 9.
IV
10. 11. 12.
I
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4. 5. 6.
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7. 8. 9.
IV
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Quantas sabedes amar amigo Treydes comig’ a lo mar de Vigo e banhar nos emos nas ondas. Quantas sabedes amar amado treydes comig’ a lo mar levado e banhar nos [e]mos 6 nas ondas. Treydes comig’ a lo mar de Vigo e veeremo’ lo meu ami[g]o e banhar nos [e]mos nas ondas. Treydes comig’ a lo mar levado e veeremo’ lo meu amado e banhar nos emos nas ondas.7 Ihr alle, die ihr versteht, einen Freund zu lieben, kommt mit mir zum Meer von Vigo und wir werden uns in den Fluten baden. Ihr alle, die ihr versteht, einen Geliebten zu lieben, kommt mit mir zum aufgewühlten Meer und wir werden uns in den Fluten baden. Kommt mit mir zum Meer von Vigo und wir werden meinen Freund sehen und wir werden uns in den Fluten baden. Kommt mit mir zum aufgewühlten Meer und wir werden meinen Geliebten sehen und wir werden uns in den Fluten baden.
Der in der Vorlage abgedruckte Text enthält hier und in Z. 8 offensichtliche Druckfehler: »amos« und »amibo«. [Anm. d. Übs./Komm.] Eine französische Übersetzung von Franc¸ois Dehouc[k]e, Chansons d’Ami traduites du portugais (Brüssel 1945), S. 79, folgt eng dem Originaltext: »Vous toutes qui savez aimer un ami, venez avec moi a` la mer de Vigo et nous nous baignerons dans les flots. Vous toutes qui savez aimer un aime´, venez avec moi a` la mer agite´e et nous nous baignerons dans les flots. Venez avec moi a` la mer de Vigo, et nous verrons mon ami, et nous nous baignerons dans les flots. Venez avec moi a` la mer agite´e, et nous verrons mon aime´, et nous nous baignerons dans les flots.« [Anm. v. R.J.] – Jakobson verzichtet auf eine Quellenangabe. Der Textstand ist im vorliegenden Fall relativ stabil, wie die hauptsächlich in Orthographie und Interpunktion variierenden Abdrucke in den neuesten Ausgaben zeigen; vgl. Brea, Lı´rica Profana Galego-Portuguesa, Bd. 2, S. 612, und Cohen, 500 Cantigas d’Amigo, S. 517, hier auch mit kritischem Apparat. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Auf drei Arten sind die vier Strophen der Cantiga deutlich in zwei zueinander *oppositive Paare geteilt: 1) vordere (I, II) vs. hintere (III, IV), 2) ungerade (I, III) vs. gerade (II; IV) und [3)] äussere (I, IV) vs. innere (II, III). Jede der vier Strophen enthält 1) ein Reimpaar, bestehend aus zwei miteinander reimenden Zehnsilbern, und 2) einen reimlosen Refrain aus neun Silben (oder in der traditionellen portugiesischen Nomenklatur, die die letzte unbetonte Silbe nicht berücksichtigt, aus 1.) eneassı´labos graves [›Neunsilber mit unbetonter letzter Silbe‹] und 2.) einem octossı´labo grave [›Achtsilber mit unbetonter letzter Silbe‹]). Der Refrain und jeweils eine Zeile eines jeden Reimpaars zeigen Meeresbildlichkeit, während die jeweils andere Zeile eines jeden Reimpaars ein Liebesthema behandelt. In den vorderen Strophen ist das Verb amar der Liebes-Zeilen, gestützt durch das *Paregmenon amigo (I) oder amado (II),8 durch einen *Binnenreim mit dem entsprechenden *Kolon der folgenden MeeresZeile verbunden: amar – a lo mar. In den hinteren Strophen wird die *Worteinheit der einleitenden Meeres-Zeile a lo mar von den entspre8
Paregmenon ist eine rhetorische *Figur, die die Wiederholung eines Worts durch ein Synonym bezeichnet. Es ist Gattungsmerkmal der cantiga de amigo, daß das Schlüsselwort amigo in der ersten oder zweiten Zeile eines Lieds explizit vorkommt, oft als Adressat der weiblichen Sprechinstanz. Auch dessen Wiederaufnahme durch ein Synonym (hier amado) in der Folgestrophe ist typisch, wie insgesamt das Gedicht die charakteristische strophische Form des leixa-pren [›laß fallen und nimm wieder auf‹] aufweist: »O leixa-pren como processo de articulac¸a˜o estro´fica tem uma importaˆncia extraordina´ria na construc¸a˜o paralelı´stica da escola, em particular na cantiga de amigo mais ligada a` tradic¸a˜o popular. Normalmente, opera sobre um dı´stico com estribilho. A segunda estrofe repete o texto da primeira, excepto as palavras da rima, que o mudam de ordem ou sa˜o substituı´das por um sino´nimo; a terceira estrofe comec¸a repetindo o segundo verso da primeira e termina com um de nova criac¸a˜o que rima com aquele, a quarta realiza a mesma operac¸a˜o com o segundo verso da segunda, e assim sucessivamente, ate´ um ma´ximo de oito estrofes, cada uma das quais da´ passagem ao estribilho […]« (Beltra´n, Vicente, »Leixa-pren«, in: Lanciani /Tavani, Diciona´rio da Literatura Medieval, S. 386. ›Dem leixa-pren als Prozeß strophischer Artikulation kommt eine außerordentliche Bedeutung in der parallelistischen Konstruktion der [galaeco-portugiesischen] Schule zu, besonders in der stärker der volkstümlichen Tradition verbundenen cantiga de amigo. Normalerweise operiert es auf einem *Distichon mit Refrainzeile. Die zweite Strophe wiederholt den Text der ersten, außer den Reimwörtern, aufgrund einer Veränderung der Wortstellung oder durch synonymische Ersetzung; die dritte Strophe beginnt mit der Wiederholung des zweiten Verses der ersten und endet mit einem darauf reimenden neu geschaffenen, die vierte Strophe nimmt dieselbe Operation mit dem zweiten Vers der zweiten vor, und so fort, maximal acht Strophen lang, wobei jede Strophe sich auf den Refrain öffnet.‹) [Anm. d. Übs./Komm.]
Die poetische Textur bei Martin Codax
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chenden Lautsequenzen der Folgezeile unterstützt – lom am (in III2, lo meu amigo) und lom ama (in IV2, lo meu amado).9 Eine Pause unterteilt die Liebes-Zeilen in zwei gleiche Kola (5 + 5), z. B. Quantas sabedes / amar amigo, während die Kola der Meeres-Zeilen asymmetrisch sind: (4 + 6) innerhalb der Zweizeiler – Treydes comig’ / a lo mar de Vigo – und (6 + 3) im Refrain – E banhar nos emos / nas ondas. Die Montage beweglicher repetitiver Komponenten führt ein weiteres Kriterium für die Unterteilung der reimenden Zeilen ein: Jede besteht aus zwei Segmenten – die erste aus sieben Silben, die ›Stamm‹ genannt werden, und die zweite aus drei Silben, die ›Koda‹ heißen soll. Jede reimende Zeile enthält vier *Hebungen, die jeweils auf die erste, vierte, siebte und neunte Silbe fallen: Qua´ntas sabe´des ama´r ama´do. Die Paenultima der Koda und die letzte Silbe des Stammes sind also stets betont. Die drei Hebungen des Stammes sind jeweils durch zweisilbige *Senkungen voneinander getrennt. Die strukturelle Invariante jedes Kolons in den Reimpaaren ist ihre doppelte Hebung, während die Aufteilung dieser Zeilen in Stämme und Kodas durch den Unterschied zwischen den zwei inneren zweisilbigen Senkungen des Stammes und den zwei äußeren einsilbigen Senkungen der Koda markiert ist. Im Refrain verdoppelt das Akzentmuster des ersten, sechssilbigen Kolons das letzte, sechssilbige Kolon der jeweils vorausgehenden MeeresZeile: a lo mar de Vigo // e banhar nos emos. Die gesamte Refrainzeile ist auf einem regelmäßigen Wechsel von vier – zwei zweisilbigen und zwei einsilbigen – Senkungen aufgebaut, die voneinander jeweils durch drei Hebungen getrennt sind: 2 1 2 1. Die erste und dritte Hebung von hinten fällt in jeder der zwölf Zeilen in der Cantiga auf die zweite und siebte Silbe von hinten. Die dritte Hebung von hinten ist durchweg oxyton in den Meeres-Zeilen, *paroxyton hingegen in den Liebes-Zeilen jeder Strophe. Die Gestaltung der Kodas teilt die Cantiga- Strophen in zwei ungerade und zwei gerade Strophen. Innerhalb jedes dieser zwei Paare sind die Kodas identisch, während die ungeraden und geraden Strophen zwei unterschiedliche Paare von Reimwörtern aufweisen. In jedem dieser beiden Paare gehört jeweils ein Wort zum Liebes- und das andere zum Meeres-Thema. So reimt also amigo mit de Vigo in den ungeraden Strophen und amado mit levado in den geraden. In der abschließenden Phonemsequenz VKVKV der Kodas unterscheidet nur das zweite Paar aus 9
Aufgrund der Vokalverschleifung (*Synaloephe) werden die Syntagmen lo meu amigo bzw. lo meu amado metrisch tatsächlich zusammengezogen zu lo mamigo bzw. lo mamado. [Anm. d. Übs./Komm.]
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V(okal) und K(onsonant) diese beiden Reime, während der Rest der Sequenz unverändert bleibt: am. .o – ev. .o. Die Meeres- wie die LiebesErregung werden von der lexikalischen und morphologischen Gestalt der geraden Reime unterstrichen. Beide vordere (I und II) Strophen der Cantiga unterscheiden sich von den beiden hinteren (III und IV) sowohl in der Gestaltung ihrer Stämme wie in der Anordnung von Stämmen und Kodas. Der Stamm, der in jedem Reimpaar die Meeres-Bildlichkeit trägt, bleibt alle vier Strophen hindurch unveränderlich (treydes comig’ a lo mar), während der andere Stamm mit Liebesthematik innerhalb jedes Paars von Reimpaaren unverändert bleibt, aber die vorderen Strophen (I, II quantas sabedes amar) von den hinteren unterscheidet (III, IV e veeremo’ lo meu). In den vorderen Strophen geht der variable Stamm dem unveränderlichen Meeres-Stamm voraus, während in den hinteren Strophen die Anordnung der beiden Stämme und dementsprechend auch die Anordnung beider reimenden Kodas umgekehrt ist. Dem unveränderlichen Stamm folgen also in den hinteren Strophen die gleichen Kodas wie in den vorderen. Im Gegensatz zur untergeordneten (Quantas) Liebes-*Protasis und Meeres*Apodosis in den vorderen Reimpaaren folgt in den hinteren Reimpaaren der Meeres-Protasis eine koordinierte (e) Apodosis; oder mit Blick auf den konstanten Refrain scheint der erotische *tenor vom vehicle 10 der Meeres-*Metaphern eingehüllt, so daß beide Themen ineinanderfließen. Der jeweilige Schluß des Stammes reimt sich in den vorderen Reimpaaren (amar – a lo mar) und hat eine aus drei *Phonemen bestehende Sequenz mit den hinteren Reimpaaren gemein (a lo mar – lo meu). Auf diese Weise werden die thematisch verschiedenen Zeilen (Meer vs. Liebe) nicht nur in ihren Kodas, sondern auch in ihren Stämmen lautlich verbunden. Andererseits reimen sich die initialen Worteinheiten der zwei unveränderlichen sechssilbigen Meeres-Kola innerhalb der vier Strophen: a lo mar – e banhar. Darüber hinaus bildet in den ungeraden Strophen das dem unveränderlichen Stamm vorausgehende Wort (das zweite betonte Wort von hinten), comig’ < comigo, einen potentiell vollen *Reim mit der Koda der Nachbarzeile amigo, während in den geraden Strophen das positionell entsprechende Verb des unveränderlichen Stammes einen *grammatischen Reim mit dem Verb der Folgezeile bildet: II sabedes – treydes und IV veeremo’ – emos. Die Lauttextur verbindet also in allen Variationen 10 Jakobson bezieht sich hier auf die von Richards, The Philosophy of Rhetoric, eingeführte Metapherntheorie. [Anm. d. Übs./Komm.]
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von Stamm und Koda auf engste Weise die Liebes-Zeile mit den von Meeresbildlichkeit bestimmten Nachbarzeilen. Der Refrain weist mit seinem fünfmal wiederholten *nasalen *Merkmal 11 und vier auf /s/ endenden Wörtern eine *wortspielartige Gegenüberstellung von nos und nas auf. Die abschließenden ondas des Refrains antworten den jeweiligen Einleitungswörtern der vier Strophen – I, II Quantas und III, IV Treydes. Die innere *Struktur aller Zeilen innerhalb der vier Reimpaare mit ihren achtzehn niedrigtonalen 12 *labialen Nasalen weist eine Wiederholung von /m/ und entweder dem vorhergehenden oder beiden umgebenden Vokalen auf: In den vier unveränderlichen Stämmen – comig’ a lo mar; – und in der jeweils anderen Zeile der vier Reimpaare weisen die vorderen Strophen (wie oben erwähnt) eine *figura etymologica auf – I amar amigo, II amar amado –, und die Strophen II, IV kehren die Reihenfolge der Nachbarvokale um – veeremo’ lo meu. Auf diese Weise verbindet der dunkle Nasal die Wortfamilie amar (I, II), amigo (I, III), amado (II, IV) mit dem *metonymischen, gleichwohl in seinem tiefsten Inneren metaphorischen mar (I-IV) und mit solchen in semantischer Hinsicht subjektiven grammatischen Kategorien wie der ersten *Person Plural des Futur in emos (I, II, III bis,13 IV bis) und besonders der ersten Person Singular der Pronomina comig’ (I-IV) und meu (III, IV). Fast ohne andere Nasale, unterscheiden sich die Reimpaare deutlich von dem klimaktisch angelegten Refrain mit seinen vorwiegend hochtonalen 14 Nasalen, den drei /n/ (in der gleichen, aber anders angeordneten Sequenz nos – os /n – s /on) sowie / /. Folgt man der Lesart des Meeres-Stamms, die von Jose´ Joaquim Nunes in seiner Chrestomatia archaica (Lissabon 1906, S. 343) vorgeschlagen wurde – treydes vos mig’ mit einer reflexiven Verbkonstruktion, die parallel zu sehen ist mit der grammatischen Form des Refrains 15 –, dann erwirkt die Lauttextur dieser Zeile eine zusätzliche Verbindung zwischen dem Stamm und der Koda: treydes vos – de vigo / levado. Die Zeile scheint sich durch Verdoppelungen ihrer Konsonantenphoneme auszuzeichnen. Es gibt sechs Paare in der ungeraden und sechs in der geraden Variante: Treydes vos mig a lo mar de vigo (2 /r/, 2 /d/, 2 /s/, 2 /v/, 2 /m/ und 2 /g/); Treydes vos mig a lo mar levado (2 /r/, 2 /d/, 2 /s/, 2 /v/, 2 /m/ und 11 Vgl. hierzu Jakobson u. Halle, »Phonology and Phonetics«, S. 485; dt. Übs.: »Phonologie und Phonetik«, S. 78 f. [Anm. d. Übs./Komm.] 12 Labiale verfügen über das Tonalitäts-Merkmal *»dunkel« [Anm. v. I.M.]. 13 ›Zweimal‹ (lat.). [Anm. d. Übs./Komm.] 14 *Dentale verfügen über das Tonalitätsmerkmal *»hell«. [Anm. v. I.M.] 15 Siehe Cunha, O Cancioneiro de Martin Codax, S. 69.
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Roman Jakobson
2 /l/). Kurz, sowohl in der ungeraden als auch in der geraden Variante dieser Zeile haben zwölf von dreizehn Konsonantenphonemen in vokalischer Nachbarschaft Teil an einem reduplikativen Paar. Im Gegensatz zur letzten Hebung des Refrains – ondas – fallen die Hebungen innerhalb der Reimpaare niemals auf *gerundete, erniedrigte Vokale und sind nur mit drei silbenbildenden Vokalen verbunden: zwölfmal /a´/, zwölfmal /e´/ und achtmal /ı´/, mit einer erstaunlich symmetrischen Distribution der Vokalkontraste zwischen den vier Reimpaaren des Gedichts und zwischen den vier Hebungen seiner acht Zehnsilber. reimpaare a e i hebungen: a e i
Innere 6 6 4
Äußere 6 6 4
Vordere 8 4 4
Hintere 4 8 4
6 6 4
6 6 4
2 10 4
10 2 4
Gerade Ungerade 8 4 6 6 2 6 4 4 8
8 8 -
Das Paar der äußeren Reimpaare (I, IV) weist dieselbe Verteilung der drei Hebungs-Vokale auf wie das Paar der inneren Reimpaare (II, III), d. h. genau die Hälfte der Gesamtzahl, die jedem dieser Vokale in den vier Reimpaaren der Cantiga zugemessen ist. Sechs /a´/ und sechs /e´/ kommen in jedem der zwei Paare vor. Wir beobachten ein überraschend ähnliches Vokalgleichgewicht zwischen den zwei äußeren und den zwei inneren Hebungen der acht Reimpaar-Zeilen oder, anders gesagt, zwischen den Anfängen und Schlüssen ihrer je zwei Kola. Die beiden anderen Gegensätze zwischen den Reimpaaren, ihre Unterteilung in Paare der vorderen (I, II) und der hinteren (III, IV) Reimpaare und in Paare der ungeraden (I, III) und geraden (II, IV) Reimpaare verleihen den beiden zusammengehörigen Paaren eine gegensätzliche Differenz hinsichtlich der Häufigkeit von /a´/ und entweder /e´/ oder /ı´/. Die vorderen Reimpaare zählen vier /a´ /s mehr und vier /e´ /s weniger als die letzten beiden Reimpaare, während die Anzahl der /ı´/ in beiden Paaren von Reimpaaren identisch ist. Ganz parallel zählen die geraden Reimpaare vier /a´ /s mehr und vier /ı´ /s weniger als die ungeraden Reimpaare, während die Anzahl der /e´/ in beiden Paaren von Reimpaaren gleich bleibt. Ein analoger Gegensatz in der Frequenz zwischen /a´/ und einem der hellen vorderen Vokale [/e´/ bzw. /ı´/] bestimmt das Verhältnis zwischen den vorderen und hinteren und zwischen den geraden und ungeraden Hebungen. Doch beträgt in diesen Fällen der Unterschied in der Häufigkeit acht, und die Ausrichtung des zahlenmäßigen Übergewichts ist im
Die poetische Textur bei Martin Codax
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Vergleich zur Verteilung der gleichen Vokale zwischen vorderen und hinteren und zwischen ungeraden und geraden Reimpaaren umgekehrt. Die vorderen Reimpaare haben acht /a´ /s weniger und acht /e´ /s mehr als die hinteren Hebungen, während die Anzahl der /ı´/ identisch bleibt, wie wir bereits im Fall der vorderen und hinteren Reimpaare beobachtet haben. Zwischen den geraden und ungeraden Hebungen ist das Häufigkeitsverhältnis dasselbe, vier zu acht, für /a´/ und /e´/, so daß die geraden Hebungen über acht /a´ /s und /e´ /s weniger und acht /ı´ /s mehr als die ungeraden Hebungen verfügen. Die völlige Abwesenheit von /ı´/ in ungeraden Hebungen macht diesen *Kontrast besonders wirkungsvoll, während der Wechsel der *Endreime das Übergewicht der zwei doppelt oppositiven Phoneme, /a´/ in den geraden und /ı´/ in den ungeraden Reimpaaren, ans Licht bringt. Eine bedeutsame Rolle wird durch die rigorose Auswahl und symmetrische Verteilung grammatischer Klassen übernommen. In der Cantiga wird kein Subjekt durch ein Nomen repräsentiert. Nomina finden sich jeweils am Ende der vier Liebes-Zeilen als direkte *Objekte, die von *transitiven Verben regiert werden, während in den acht Meeres-Zeilen *Appellativa als präpositional eingeleitete lokale *zirkumstanzielle *Modifikatoren fungieren: Im Refrain beenden sie die Zeile (nas ondas), in den Reimpaaren hingegen folgt ihnen ein abschließender adnominaler Modifikator – der Eigenname (de Vigo) oder das Adjektiv (levado). Jede Zeile enthält ein finites Verb, durchweg im Plural. Innerhalb der Reimpaare steht der maskuline Singular aller Nomina in deutlichem Kontrast zu dem Plural der finiten Verben und zum Femininum der durch diese Verbformen bezeichneten und vom Relativpronomen Quantas ausgedrückten Gesprächspartner. Im Gegensatz zu den reimenden Zeilen weitet der Refrain den benannten *Numerus und das vom Verb intendierte *Genus durch die ganze Zeile mit seinem femininen Plural ondas aus. Im Gedicht gibt es nur zwei finite Formen: die zweite Person Plural Präsens (sabedes und – vielleicht mit imperativischer *Konnotation – treydes 16 ) und die erste Person Plural Futur (veeremo’ und banhar nos emos). Jede dieser beiden temporalen wie personalen Spielarten erscheint sechsmal, einmal pro Zeile, aber die erstere erscheint viermal in den vorderen und nur zweimal in den hinteren Strophen, während die letztere die umgekehrte Anordnung aufweist: zweimal in den vorderen Strophen und viermal in den hinteren. Abermals hält das Verhältnis zwischen äusseren 16 Treydes kann etymologisch zurückgeführt werden sowohl auf lat. trahetis als auch den Imperativ trahite. [Anm. d. Übs./Komm.]
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und inneren Strophen die Balance der gesamten Cantiga. In den aufgeführten Fällen entsprechen die inneren Strophen ganz genau den äußeren hinsichtlich der ternären Anzahl wie der Reihenfolge ihres Auftretens. Die Verteilung der Pronomina, die sich auf die erste Person Singular beziehen (dreimal in den äußeren und drei in den inneren Strophen; zweimal in den vorderen und vier in den hinteren Strophen), zeigt die gleiche Tendenz hin zu einer schrittweisen Einbeziehung und Unterstützung des Ichs der Sprecherin: e veeremo’ lo meu amigo / amado. Diese Liebes-Zeile aus beiden hinteren Strophen mit ihren hellen hochtonalen Hebungen und ihren offenkundig vorherrschenden Vokalen und *Sonoranten gegen einen einzelnen *Obstruenten – /g/ oder /d/ – am Ende bildet eine ekstatische Antwort auf die Überfülle von sieben Obstruenten im Kolon Quantas sabedes, dem *Incipit der Cantiga. Die folgende graphische Darstellung, die eine luzide Veranschaulichung der Komposition von Martin Codax’ Cantiga darstellt, wurde von Jean Pauchard, Mitglied der Faculte´ des Lettres et Sciences Humaines an der Universität Reims, vorgeschlagen und ausgearbeitet.17 Ursprünglich in einer französischen Übersetzung des ersten Entwurfs des englischen Texts unter dem Titel »Lettre a` Haroldo de Campos sur la texture poe´tique de Martin Codax« in Change 6 (Paris 1970), S. 53–59, publiziert.
Literatur Jakobsons eigene Literaturangaben sind mit ° gekennzeichnet. 500 Cantigas d’Amigo [›500 Frauenlieder‹], hg. v. Rip Cohen, Lissabon: Campo das Letras 2003. °Chansons d’ami: traduites du portugais (12 e–14 e sie`cles) [›Aus dem Portugiesischen übersetzte Frauenlieder (12.–14. Jahrhundert)‹], hg. v. Franc¸ois Dehoucke, Brüssel: Office de Publication 1945. 17 Das für Jakobson selbstevidente, nicht uningeniöse Schema schlägt einen Lektüreparcours durch das Gedicht von Z. 1 bis 12 vor, unter Hervorhebung der herrschenden Symmetrien. Den zentralen Knotenpunkt bilden dabei die Refrainzeilen (3, 9, 6, 12), oben und unten entsprechen sich symmetrisch die »Treydes«-Zeilen (2, 7, 5, 10), links die »Quantas«- (1, 4) und rechts die »e veeremo«-Zeilen (8, 11). Geometrische Ordnungskategorien sind so das Quadrat, das Rechteck und der Kreis. [Anm. d. Übs./Komm.]
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° Cunha, Celso Ferreiro da: O Cancioneiro de Martin Codax [›Die Liedersamm-
lung des Martin Codax‹], Rio de Janeiro: o. V. 1956. Diciona´rio da Literatura Medieval Galega e Portuguesa [›Lexikon der galizischen und portugiesischen Literatur des Mittelalters‹], hg. v. Giulia Lanciani u. Giuseppe Tavani, 2. Aufl. Lissabon: Caminho 1993. Ferreira, Manuel Pedro: O Som de Martin Codax – sobre a dimensa˜o musical da lı´rica galego-portuguesa (se´culos XII–XIV) [›Der Ton des Martin Codax – über
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Roman Jakobson
die musikalische Dimension der galaeco-portugiesischen Lyrik (12.–14. Jahrhundert)‹], Lissabon: Imprensa Nacional-Casa da Moeda 1986. Jakobson, Roman: »Carta a Haroldo de Campos soˆbre a textura poe´tica de Martin Codax« [›Brief an Haraldo de Campos über die poetische Textur bei Martin Codax‹], in: ders., Lingüı´stica. Poe´tica. Cinema. Roman Jakobson no Brasil [›Linguistik. Poetik. Kino. Roman Jakobson in Brasilien‹], Sa˜o Paulo: Editoˆra Perspectiva 1970, S. 119–126. — »Lettre a` Haroldo de Campos sur la texture poe´tique de Martin Codax« [›Brief an Haroldo de Campos über die poetische Textur bei Martin Codax‹], in: Change 6 (1970), S. 53–59. — »Martin Codax’s Poetic Texture. A revised version of a letter to Haroldo de Campos«, in: SW III, S. 169–175. Jakobson, Roman u. Morris Halle: »Phonology and Phonetics«, in: SW I, S. 464– 504. – »Phonologie und Phonetik«, in: Aufsätze zur Linguistik und Poetik, S. 54–106. Jakobson, Roman u. Luciana Stegagno Picchio: »Die dialektischen Oxymora von Fernando Pessoa«, übs. u. komm. v. Jörg Dünne, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 631–668. Lı´rica Profana Galego-Portuguesa. Corpus completo das cantigas medievais con estudio biogra´fico, ana´lise reto´rica e bibliografı´a especı´fica [›Galaeco-portugiesische weltliche Lyrik. Vollständiges Korpus der mittelalterlichen Cantigas mit biographischen Studien, rhetorischer Analyse und einer Bibliographie der Forschungsliteratur‹], hg. v. Mercedes Brea, Santiago de Compostela: Publicacio´ns do Centro de Investigacio´ns Lingüı´sticas e Literarias Ramo´n Pin˜eiro 1996. ° Nunes, Jose´ Joaquim: Crestomatia arcaica. Excertos da literatura portuguesa desde o que de mais antigo se conhece ate´ ao se´culo XVI. Acompanhados de introduc¸a˜o gramatical, notas e glossa´rio. Com correcc¸o˜es feitas em vida pelo autor [›Archaische Chrestomatie. Anthologie der portugiesischen Literatur von den ältesten Zeugnissen bis zum 16. Jahrhundert. Mit einer grammatikalischen Einführung, Anmerkungen und Glossar. Mit vom Autor zu Lebzeiten vorgenommenen Verbesserungen‹], 4. Aufl. Lissabon: Teixeira 1953 [1. Aufl. 1906]. Richards, Ivor A.: The Philosophy of Rhetoric, New York: Oxford University Press 1936.
Roman Jakobson und Paolo Valesio 1
Vocabulorum constructio in Dantes Sonett »Wenn Du meine Augen siehst« 2 Übersetzung aus dem Englischen Sara Terpin und Thomas Wild 3
Kommentar Christoph Schamm und Evi Zemanek Für ihre Interpretation wählen Jakobson und Valesio aus Dantes »Rime« ein Gedicht, dem von sämtlichen klassischen Kommentaren 4 eine Sonderstellung innerhalb dieses lyrischen Lebenswerkes zugewiesen wird. Denn nur in diesem Text hat Dante die *Sonettform mit moralisch-politischer Thematik verbunden. In dem Gedicht »Se vedi li occhi miei«, vermutlich zwischen 1305 und 1
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3 4
Paolo Valesio, geb. 1939 in Bologna, ist Professor für Italienische Sprach- und Literaturwissenschaft. Er war viele Jahre Inhaber des Lehrstuhls für Italianistik an der Yale University, seit Herbst 2004 lehrt er an der Columbia University, New York. Seine bekanntesten sprach- und literaturwissenschaftlichen Studien sind Strutture dell’alliterazione (1968), Novantiqua. Rhetorics as a contemporary Theory (1980), Ascoltare il silenzio. La retorica come teoria (1986), Gabriele D’Annunzio: The Dark Flame (1992), Dialogo coi volanti (1997). Darüber hinaus ist er Autor von Romanen und Gedichtbänden in italienischer und englischer Sprache sowie Herausgeber von Übersetzungen, Anthologien und der Zeitschrift Yale Italian Poetry. Er ist Begründer der ›Yale Poetry Group‹ und Associate Director der ›Italian Poetry Society of America‹. [Anm. d. Komm.] Herzlichen Dank für wertvolle Ratschläge schulden wir Gianfranco Contini, Maria Corti, Riccardo Picchio, Aurelio Roncaglia, Cesare Segre und Maria Simonelli. [Anm. v. R.J. / P.V.] – Vorlage: Jakobson, Roman Osipovicˇ u. Paolo Valesio: »Vocabulorum constructio in Dante’s Sonnet ›Se vedi li occhi miei‹«, in: SW III, S. 176– 192. Erstdruck in: Studi danteschi 43 (1966), S. 7–33. [Anm. d. Komm.] Freundlicher Dank gilt Julia Chebotova für ihre Mitarbeit bei der Recherche und Überprüfung von Zitaten und Literaturangaben. [Anm. d. Übs.] Als maßgebliche kommentierte Ausgaben der Rime sind diejenigen von Barbi / Pernicone, Contini sowie Foster /Boyde zu nennen. Die Erstgenannten verweisen auf den Aufsatz von Jakobson und Valesio. [Anm. d. Komm.]
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Roman Jakobson und Paolo Valesio
1314, in jedem Fall aber während Dantes Exilzeit entstanden, ruft der Dichter Gott um die Bestrafung einer Person an, die er als Mörder der Gerechtigkeit bezeichnet. Doch gehen Jakobson und Valesio auf die Frage nach den möglichen historischen Fakten, auf die Dante Bezug nimmt – denn daß er auf bestimmte Ereignisse referiert, ist kaum zu bezweifeln –, in keiner Weise ein. Ob mit dem ›Mörder Justitias‹ König Robert von Anjou oder Papst Clemens V. gemeint ist, ob sich hinter dem ›Großen Tyrannen‹ Karl von Valois oder Philipp der Schöne verbirgt, interessiert Jakobson und Valesio schlichtweg nicht. Vielmehr möchten sie beleuchten, wie Dante die grammatischen und semantischen Möglichkeiten der Lyrik seiner Zeit ausschöpft, um eine ingeniöse »vocabulorum constructio« zu bilden. Jakobson und Valesio machen Konstruktionsprinzipien sichtbar, die mit den Grundsätzen übereinzustimmen scheinen, die der Dichter selbst in seinem Traktat »De vulgari eloquentia« aufstellt. In den Konzepten und Kategorien, die Dante für den Aufbau lyrischer Texte entwickelt, stellen sie Analogien zu einem strukturalistischen Textverständnis fest. Die eingehende Analyse der Klanggestalt, des *Versmaßes, der Syntax und zahlreicher grammatischer Details läßt uns das Sonett als von komplexen Bezügen durchzogenes Geflecht vor Augen treten. Nachdem sich Jakobson und Valesio intensiv mit den sprachlichen Einzelheiten des Gedichts auseinandergesetzt haben, geben sie ihrem Text in den letzten beiden Absätzen eine überraschende Wendung: Sie binden Dantes Werk in einen umfassenden kulturgeschichtlichen Kontext ein, indem sie dessen poetische Grammatik mit der Geometrie in den Gemälden Giottos vergleichen. Dante habe die wechselseitigen Relationen von Syntax und *Metrum, der *Symmetrien und Asymmetrien in der *Struktur seiner Gedichte genutzt, um die Lyrik seiner Zeit ebenso tiefgreifend zu erneuern wie sein Zeitgenosse die Malerei mit Hilfe der Perspektive. Jakobsons und Valesios Gemeinschaftswerk ist in der italienischen Literaturwissenschaft nicht ohne Resonanz geblieben. Namentlich Bruno Porcelli provozierte ein interessantes Nachspiel, indem er den Aufsatz vier Jahre nach dessen Erscheinen in einer kurzen und polemischen Rezension schonungslos kritisierte. 5 Seine Argumentation will primär auf die Mängel der vorliegenden Interpretation eines bestimmten Dante-Sonetts hinweisen, ist darüber hinaus jedoch ein Beitrag zur Strukturalismus-Diskussion im Italien der späten sechziger Jahre. In seiner Antwort in den »Studi danteschi« versuchte Valesio zu zeigen, daß Porcellis Vorwürfe allesamt ihr Ziel verfehlten. 6 Christoph Schamm und Evi Zemanek 5 6
Porcelli, »Per un esempio d’analisi strutturale«. [Anm. d. Komm.] Valesio, »Vocabulorum constructio«. [Anm. d. Komm.]
Vocabulorum constructio in Dantes Sonett
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0.1. Dante hat scharfsinnig die etymologische Bedeutung von versus [›Kehre‹] 7 bemerkt, wie das entsprechende italienische Wort volta ›Rückkehr‹ – gebraucht cum vulgus alloquimur [›wenn wir zum Volk sprechen‹] 8 – deutlich zeigt.9 Die Wiederkehr eines ähnlichen formalen Musters liegt Dantes Beschreibung der metrischen und *strophischen Einheiten in seiner Abhandlung De vulgari eloquentia [›Über das Dichten in der Muttersprache‹] 10 zugrunde: Cantio est coniugatio stantiarum [›die Kanzone ist eine Verbindung von Stanzen‹].11 Die Anordnung seiner Bestandteile (partium habitudo [›Ordnung der Teile‹] 12 ) wird als die größte künstlerische Aufgabe angesehen 13 und schließt die Gliederung der Verse (contextum carminum 7
8 9 10
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12 13
Dante verwendet den lateinischen Begriff versus in seiner Schrift De vulgari eloquentia II, x, setzt ihn aber streng genommen nicht mit dem volkssprachlichen Begriff volta in eins: Diesen faßt er in diesem Zusammenhang als Übersetzung von diesis auf, d. h. als Zwischenspiel, das als Übergang von einer Liedweise in eine andere innerhalb ein und derselben Kanzonenstrophe fungiert. Erfolgt die Wiederholung der Liedweise vor dem Übergang, so spricht Dante von pedes, erfolgt sie danach, so spricht er von versus. Vgl. Dante, De vulgari eloquentia, S. 244–246 (II, x, 1–4) / Über das Dichten in der Muttersprache, S. 68–69. Sämtliche wörtliche Zitate aus De vulgari eloquentia sind durch die Übersetzung von Dornseiff /Balogh ergänzt. [Anm. d. Komm.] A. a. O., S. 244 (II, x, 2) / S. 69. Vgl. a. a. O., S. 246 (Fußnote 24 zu II, x, 4). Wiederholt verweisen Jakobson und Valesio auf diesen lateinischen Traktat, um die Konstruktionsprinzipien des Sonetts »Se vedi li occhi miei« von den stilistischen Grundsätzen des Dichters abzuleiten. Die Schrift De vulgari eloquentia ist in den ersten Jahren von Dantes Exilzeit entstanden und Fragment geblieben. Darin begründet er die Notwendigkeit eines idealen »vulgare illustre« [›erlauchte Volkssprache‹ (a. a. O., S. 160 – II, i, 1 / S. 49)] als überregionale Sprache, das als Amtswie als Dichtungssprache an die Stelle des Lateinischen treten soll. Im hier zitierten zweiten Buch spricht Dante über die sprachliche Gestaltung der Kanzone als höchster volkssprachlicher Dichtform. [Anm. d. Komm.] A. a. O., S. 240 (II, ix, 1) / S. 67; vgl. S. 236–238 (II, viii, 6). [Anm. v. R.J. / P.V.] – Jakobson und Valesio untermauern ihre Analyse von »Se vedi li occhi miei«, indem sie auf Dantes poetologische Konzeption der Kanzone verweisen, die in De vulgari eloquentia II als komplexes System diffiziler Elemente dargestellt wird. Die zitierte Aussage aus II, ix, 1 – »Cantio est coniugatio stantiarum« – führt zu der logischen Konsequenz, daß nur derjenige Leser das Wesen der Kanzone verstehen könne, der das Wesen der Strophe kenne. Offenbar verweisen Jakobson und Valesio auf II, viii, 6, um dem Einwand vorzubeugen, sie würden Dantes Beschreibung der Kanzone eigenmächtig auf das Sonett übertragen. Denn an dieser Textstelle weitet Dante den Begriff der Kanzone ausdrücklich auf Sonette und sonstige in der Volkssprache verfaßten Gedichtarten aus. [Anm. d. Komm.] A. a. O., S. 240 (II, ix, 4) / S. 68. [Anm. d. Komm.] Vgl. a. a. O., S. 248 (II, xi, 1). [Anm. v. R.J. / P.V.] – Den Begriff der partium habitudo [›Ordnung der Teile‹] führt Dante bereits in II, ix, 4 ein, wo er die Kanzone
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Roman Jakobson und Paolo Valesio
[›Zusammenweben der Verszeilen‹] 14 ) sowie die Beziehung der Reime (rithimorum relationem [›Verhältnis der Reime‹] 15 ) mit ein. Gemäß Dantes Darstellung 16 beinhaltet die Sprachform (forma locutionis [›Gestalt der Rede‹] 17 ) die *lexikalische Bedeutung der Wörter (rerum vocabula [›Wörter für die Dinge‹] 18 ), ihre Konstruktion (vocabulorum constructionem [›Sätze aus den Wörtern‹] 19 ) und schließlich die äußere Gestalt dieser Konstruktion (constructionis prolationem [›Aussprache der Sätze‹] 20 ).21 Ein hohes Maß an Selektivität in vocabulis atque constructione [›in Wörtern und Fügung‹] 22 ist in der Dichtung erforderlich. 0.2. Um die höchste Kunst der grammatischen Textur – quam supremam vocamus constructionem [›die Fügung, die wir die höchste nennen‹] 23 – an Dantes eigener Dichtung beispielhaft zu veranschaulichen,
14 15 16 17 18 19
20 21 22 23
durch drei grundlegende Merkmale bestimmt: die Artikulation der Melodie, die besagte Anordnung der Teile und die Anzahl der Verse und Silben (vgl. a. a. O., S. 240– 242). In Kapitel xi geht Dante auf die habitudo näher ein und äußert die von Jakobson und Valesio paraphrasierte Wertung: »Videtur nobis hec quam habitudinem dicimus maxima pars eius quod artis est« [›Uns erscheint das, was wir E i n t e i l u n g (habitudo) nennen, der bedeutendste Teil der Kunst‹] (a. a. O., S. 248 / S. 69). Die habitudo erhält ihr besonderes Gewicht, weil sie die Summe aus der Verflechtung der Verse und der Relationierung der Reime bildet. Überraschend bezeichnet Dante hier auch die cantus divisio [›Einteilung der Melodie‹] als Teil der habitudo, die er in II, ix, 4 noch als eigenständiges Prinzip neben diese gestellt hatte. Diese Widersprüchlichkeit ignorieren Jakobson und Valesio. [Anm. d. Komm.] A. a. O., S. 248 (II, xi, 1) / S. 69. [Anm. d. Komm.] A. a. O., S. 248 (II, xi, 1) / S. 70. [Anm. d. Komm.] Vgl. a. a. O., S. 34–36 (I, vi, 4). A. a. O., S. 36 (I, vi, 5) / S. 25. [Anm. d. Komm.] A. a. O., S. 34 (I, vi, 4) / S. 25. [Anm. d. Komm.] Ebd. »Est enim sciendum, quod constructionem vocamus regulatam compaginem dictionum, ut ›Aristotiles phylosophatus est tempore Alexandri‹. Sunt enim quinque hic dictiones compacte regulariter, et unam faciunt constructionem« [›Man muß wissen: Fügung heißt geregelte Zusammensetzung von Worten; z. B. Aristoteles hat philosophiert zur Zeit Alexanders. Hier sind nämlich fünf Worte geregelt verbunden und bilden eine einzige Satzfügung‹] (a. a. O., S. 206 – II, vi, 2 / S. 60). [Anm. v. R.J. / P.V.] – Der Querverweis auf die Textstelle De vulgari eloquentia II, vi, 29 gibt Aufschluß über Dantes Definition der vocabulorum constructio: Er versteht darunter eine regulär zusammengesetzte Wortgruppe. [Anm. d. Komm.] A. a. O., S. 34 (I, vi, 4) / S. 25. [Anm. d. Komm.] Vgl. a. a. O., S. 35 (Fußnote 27 zu I, vi, 4). A. a. O., S. 212 (II, vi, 8) / S. 63. [Anm. d. Komm.] A. a. O., S. 213 (II, vi, 7) / S. 63. Dante unterscheidet in II, vi, 3 zwischen inkongruenten und kongruenten Wortkonstruktionen. Selbstverständlich, so erklärt er, ist nur die zweite Art seinem sprachlichen Ideal des vulgare illustre angemessen. Doch auch unter den kongruenten Wortkonstruktionen gibt es qualitativ verschiedene
Vocabulorum constructio in Dantes Sonett
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soll das folgende Sonett 24 aus dem frühen vierzehnten Jahrhundert analysiert werden: 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14
Se vedi li occhi miei di pianger vaghi per novella pieta` che ’l cor mi strugge, per lei ti priego che da te non fugge, Signor, che tu di tal piacer i svaghi: con la tua dritta man, cio` e`, che paghi chi la giustizia uccide e poi rifugge al gran tiranno del cui tosco sugge ch’elli ha gia` sparto e vuol che ’l mondo allaghi, e messo ha di paura tanto gelo nel cor de’ tuo’ fedei che ciascun tace; ma tu, foco d’amor, lume del cielo, questa vertu` che nuda e fredda giace, levala su vestita del tuo velo, che´ sanza lei non e` in terra pace.25
0.3. Eine möglichst wörtliche Übersetzung 26 liest sich so: 1 2 3 4
Wenn du meine Augen zum Weinen geneigt siehst wegen eines neuen Leids, das mir das Herz zerreißt, bitte ich dich um sie [die Gerechtigkeit], die vor dir nicht flieht, Herr, daß du sie [die Augen] von /mit solchem Genuß erlöst:
Abstufungen, an deren Spitze eine suprema constructio steht (vgl. a. a. O., S. 211– 213). Jakobson und Valesio wollen mit ihrer Analyse von »Se vedi li occhi miei« zeigen, wie Dante die höchste Form einer solchen Wortkonstruktion in seiner eigenen Sonettdichtung erreichen möchte. [Anm. d. Komm.] 24 Das besprochene Sonett CV findet sich in den Rime, dem lyrischen Gesamtwerk Dantes, und zählt zu den Gedichten aus Dantes Exilzeit. Die Rime umfassen zum einen 31 Gedichte, die unabhängig voneinander entstanden, dann aber zur Vita Nuova vereinigt wurden, zum anderen die mehrheitlich später entstandenen Gedichte, die ungeordnet blieben, aber zu thematischen Gruppen zusammengefaßt werden können. Dazu zählen insgesamt 89 Gedichte, die über einen Zeitraum von 25 Jahren entstanden sind (ca. 1283 – 1308), also von seiner Jugend bis zum Beginn seiner Arbeit an der Divina Commedia. – Das Sonett »Se vedi li occhi miei« ist ein relativ spätes Gedicht Dantes. Zwar finden sich im Text selbst keinerlei konkrete Hinweise auf dasjenige historische Ereignis, das Auslöser für Dantes »neues Leid« (v. 2) gewesen sein mag, das als Anlaß für die Entstehung des Gedichts anzusehen ist. Wenn man allerdings »den, der die Gerechtigkeit tötet« (v. 6) als Papst Clemens V. identifiziert, so fällt die Entstehung auf jeden Fall in den Zeitraum von dessen Pontifikat (1305– 1314) und mit einiger Sicherheit in dessen letzte Jahre. [Anm. d. Komm.] 25 Dante, Rime, S. 180–183. 26 Jakobson und Valesio präsentieren an dieser Stelle ihre eigene englische Übersetzung
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das heißt, daß du mit deiner rechten Hand bestrafst den, der die Gerechtigkeit tötet und dann flieht zum großen Tyrannen, dessen Gift er saugt, das er [der Tyrann] bereits verströmt hat und mit dem er die Welt überfluten will, und hat solch einen Schreckenfrost gelegt in die Herzen deiner Gläubigen, so daß jeder schweigt; du aber, Feuer der Liebe, Licht des Himmels, diese Tugend, die nackt und kalt da liegt, heb sie auf, in deinen Schleier gekleidet, denn ohne sie gibt es auf Erden keinen Frieden.27
des Sonetts: »1 If you see my eyes inclined to weep 2 for a new anguish which consumes my heart, 3 I beg you for her who does not flee from you, 4 my Lord, to relieve them from such an allurement: 5 that is, with your right hand to chastise 6 the one who kills justice and then flees 7 to the great tyrant whose poison he is sucking 8 which he has already spread and wants to flood the world, 9 and has put such an ice of fear 10 in the heart of your devotees that everyone keeps silent; 11 but you, fire of love, light of heaven, 12 this virtue which lies naked and cold, 13 raise her up clad in your veil, 14 because without her there is no peace on earth.« [Anm.d. Komm.] 27 Eine literarische Übersetzung des Sonetts ins Deutsche findet sich in: Dantes lyrische Gedichte, S. 58–59. [Anm. d. Übs.] – Der Adressat des Sonetts ist Gott; es ist eine *Apostrophe an ihn mit der Bitte, denjenigen zu bestrafen, der die Gerechtigkeit [durch sein Handeln] getötet hat. – v. 1: Die Augen sind das wichtigste Sinnesorgan in Dantes Dichtung, denn sie sind Ausdrucksmedium seelischer, emotionaler Befindlichkeit. – v. 2: Die Tatsache, daß der Sprecher in Bezug auf den Anlaß des Gedichts bzw. seiner Apostrophe an Gott von einem ›neuen Leid‹ spricht, läßt vermuten, daß er sich auf ein kurz vorher stattgefundenes Ereignis bezieht (vgl. Dante, Rime della maturita` e dell’esilio, S. 601). – v. 3: Giustizia, die Gerechtigkeit, ist diejenige, die sich nie von Gott entfernt (vgl. Chiapelli, Vita Nuova. Rime, S. 154). – v. 4: Dieser Vers ist der interpretatorisch umstrittenste des ganzen Sonetts, den Foster und Boyde als »an obscure phrase« bezeichnen (Dante’s Lyric Poetry, S. 294), weil nicht endgültig zu entscheiden sei, ob mit tal piacere [›solchem Genuß‹] das Weinen oder die Bestrafung des Mörders der Gerechtigkeit gemeint ist. Bezieht man das piacere auf das Weinen, würde die Aussage lauten, daß sich der Sprecher wünsche, sein Gott möge ihn endlich von diesem Bedürfnis oder befreienden Genuß erlösen, nicht nur, weil er dessen überdrüssig ist, sondern weil es höchste Zeit ist, den Anlaß für seine Tränen aus der Welt zu schaffen und Gerechtigkeit walten zu lassen. Dementsprechend kann man den Vers wie folgt übersetzen: ›Herr, daß du sie [die Augen] von einem solchen Genuß befreist‹. Barbi und Pernicone sprechen sich für die zweite Möglichkeit aus und folgen damit der Lesart Continis, der tal auf cio` `e in Vers 5 bezieht (vgl. Dante, Rime della maturita` e dell’esilio, S. 601, u. Dante, Rime, S. 181). Folglich würde die Übersetzung lauten: ›Herr, daß du sie mit einem solchen [mit dem folgenden] Gefallen tröstest:‹, wobei der – von einigen Herausgebern eingefügte – Doppelpunkt signalisiert, daß das, worauf sich der Vers bezieht, erst im zweiten Quartett gesagt wird. Demnach wen-
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1.1. Das Sonett hat die gleiche Strophenzahl wie eine Tetrade von Vierzeilern; in beiden Fällen bilden drei *binäre *Oppositionen die Grundlage der coniugatio stantiarum [›Verbindung von Stanzen‹] 28 und ermöglichen uns, nach drei ähnlichen Typen von Entsprechungen in der inneren, insbesondere der grammatischen Struktur der vier Strophen zu suchen. Die beiden ungeraden Strophen (I, III) können sich von den zwei geraden Strophen (II, IV) unterscheiden, und zugleich neigt jedes dieser Paare zu inneren grammatischen Entsprechungen. Die beiden äußeren Strophen (I, IV) weisen gewöhnlich gemeinsame Eigenschaften auf, die sich von jenen grammatischen *Merkmalen unterscheiden, welche die beiden inneren Strophen (II, III) vereinen. Schließlich unterscheidet sich die grammatische Struktur der beiden Anfangsstrophen (I, II) üblicherweise von derjenigen der beiden Schlußstrophen (III, IV), die ihrerseits durch deutliche Ähnlichkeiten vereint sind. Ein vierstrophiges Gedicht zeigt also drei mögliche Gruppen von Entsprechungen zwischen seinen von einander entfernten Strophen: 1) ungerade (I, III), 2) gerade (II, IV), äußere (I, IV); sowie drei Gruppen von Entsprechungen zwischen den benachbarten det sich der Sprecher also an Gott, damit dieser seinen Augen den Gefallen zugestehe, die Bestrafung derjenigen zu sehen, welche die Gerechtigkeit verletzen. – v. 6: ›der die Gerechtigkeit tötet‹: gemeint ist mit ziemlicher Sicherheit Papst Clemens V., über den sich Dante in der Divina Commedia mehrfach äußert und den er als ein schlechtes Beispiel bezeichnet, weil er Gesetze verletzt und die Gläubigen vom richtigen Weg abbringt (Purg. VIII, 130–132; Purg. XVI, 97–102; Par. XVIII, 115–126). – v. 7: ›zum großen Tyrannen‹: gemeint ist höchstwahrscheinlich Philipp der Schöne, König von Frankreich, bei dem Clemens V. Schutz und Unterstützung in seinem Handeln findet, was Dante im Inferno anprangert (Inf. XIX, 85–87). Das ›Gift‹ ist die Machtgier, nach Dantes eigener Erklärung das Gegenteil der Gerechtigkeit. Vgl. Monarchia I, xi, 11. Den Vorwurf uneingeschränkter, rücksichtsloser Machtgier macht Dante dem französischen König Philipp dem Schönen an mehreren Stellen der Commedia, so etwa Purg. VII, 109–111, und XXXII, 44– 45. – v. 8: ›das jener bereits verströmt hat‹: eine Anspielung auf die expansive Machtpolitik des französischen Königs – »la mala pianta/ che la terra cristiana tutta aduggia« [›die böse /schlechte Pflanze, welche die christliche Erde ganz zudeckt / überwuchert‹] –, die Dante in Purg. XX, 43–44 erbittert beklagt. – v. 9: Dante will sagen: Die Gläubigen, deren Zahl sich reduziert hat, sind in so große Furcht versetzt worden, daß sie es nicht mehr wagen, die Gerechtigkeit zu verteidigen. – v. 11: ›Feuer der Liebe‹ und ›Licht des Himmels‹ sind von Dante in der Commedia oft verwendete *Metaphern für Gott. – v. 12: ›diese Tugend‹: La vertu`, die Gerechtigkeit, die kalt ist vor Angst und nackt, weil ihr der schützende Schleier der Nächstenliebe fehlt. – v. 13: ›der Schleier‹: die Nächstenliebe, la carita`. – v. 14: Den Frieden erachtet Dante als das höchste Gut der Menschheit, wie er vielfach betont. [Anm. d. Komm.] 28 Dante, De vulgari eloquentia, S. 240 (II, ix, 1) / S. 67. [Anm. d. Komm.]
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Strophen: Anfangsstrophen (I, II), Schlußstrophen (III, IV), innere Strophen (II, III). 1.2. Andererseits läßt das Sonett wesentliche Unterschiede zu einem Gedicht aus vier Vierzeilern erkennen. Alle Strophen eines solchen Gedichts zeigen eine wechselseitige Symmetrie, und die drei oben erwähnten Typen von Entsprechungen könnten um die mikrokosmischen Wechselbeziehungen der vier Zeilen innerhalb jeder Strophe erweitert werden. Das Sonett verbindet jedoch eine identische Zeilenanzahl innerhalb der Paare seiner Anfangsstrophen und Schlußstrophen mit einem numerischen Unterschied zwischen diesen zwei Paaren. Eine ingeniöse Vereinigung von Symmetrie und Asymmetrie, insbesondere von binären und ternären Strukturen in der Verbindung der Strophen untereinander, sicherte den anhaltenden Erfolg und die Ausbreitung des aus Italien stammenden Sonettmodells.29 1.3. Bei der Analyse der grammatischen Entsprechungen zwischen den Quartetten und Terzetten des Sonetts ist es wichtig zu bedenken, daß die zweite (+2) und die vorletzte (–2) Zeile der Strophe sich im Quartett unterscheiden, im Terzett aber in eins fallen. Dantes Vorliebe für Terzette ist offenbar mit der Tatsache verbunden, daß sie eine mittlere Zeile besitzen. Aus demselben Grunde schienen ihm die ›parisyllabischen‹ Metren ohne eine mittlere Silbe geringwertiger als die ungeraden Silbenmuster zu sein – so wie Rohmaterial im Vergleich zu einer organisierten, zentrierten Form (quemadmodum materia forme [›wie die Materie der Form‹] 30 ). Unter diesen ungeraden Silbenmustern wurde der Elfsilber, d. h. der jambische Fünfheber,31 von Dante aufgrund seiner semantischen, grammatikalischen und lexikalischen Kraft (capacitate sententie, constructionis et 29 Vgl. Biadene, »Morfologia del Sonetto«; Wilkins, The Invention of the Sonnet, S. 11– 39; Fubini, Metrica e poesia, Kap. III. 30 Dante, De vulgari eloquentia, S. 202 (II, v, 7) / S. 59. [Anm. v. R.J. / P.V.] – In De vulgari eloquentia II, v unterscheidet und bewertet Dante die unterschiedlichen Verse nach ihrer jeweiligen Silbenzahl. Er beschränkt das Spektrum der möglichen Verslängen auf drei bis elf Silben und gibt den ungeraden Silbenzahlen unbedingt den Vorzug gegenüber den geraden. Marigo führt diese Wertung auf die Aristotelische Metaphysik zurück, wo die Überlegenheit der ungeraden über die geraden Zahlen ebenfalls konstatiert wird. Dante selbst behauptet in De vulgari eloquentia I, v, 5, daß die Zahl Eins als Quantität Gottes in ungeraden Zahlen stärker in Erscheinung tritt als in geraden. Vgl. a. a. O., S. 138–142. Jakobsons und Valesios Behauptung, Dante favorisiere die Verse mit ungerader Silbenzahl, weil darin eine Mittelsilbe existiere, läßt diesen metaphysischen Hintergrund außer acht. [Anm. d. Komm.] 31 Jakobson und Valesio behandeln hier den Hendecasyllabus als syllabotonisches, d. h. nach der Silbenzahl und nach der regelmäßigen Position der Hebungen reguliertes Versmaß. Unter dem Blickwinkel der dominierenden metrischen Konstan-
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vocabulorum [›Aufnahmefähigkeit für Gedanken, Satzbau und Wörter‹] 32 ) als die vorzüglichste Versform (superbissimum carmen [›die stolzeste Verszeile‹] 33 ) gepriesen, vor allem aber wegen seiner zeitlichen Ausdehnung (temporis occupatione [›Zeitdauer‹] 34 ), die diesen Vers mit einem mittleren Fuß ausstattet und seine mittlere Silbe mit zwei ungeraden, fünfsilbigen Rändern flankiert.35 So fällt das primäre Silbenzentrum der Zeile (im folgenden Schema mit einem Kreis ˚ gekennzeichnet) auf die dritte der fünf *Hebungen, während die sekundären Zentren (in unserem Schema mit einem Punkt ˙ gekennzeichnet) mit der zweiten und fünften der sechs *Senkungen zusammen fallen; kurz gesagt, jede dritte Silbe innerhalb der Sequenz – die dritte, die sechste und die neunte (die dritte vom Ende) – enthält eines der drei Zentren, von denen das zweite das primäre Zentrum ist. Dieses celeberrimum carmen [›die berühmteste Verszeile‹] 36 weist eine Umkehrbarkeit seines metrischen Schemas auf: . . ¢ – – –˚ – –
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te (der Silbenzahl) wird die italienische Prosodie dagegen traditionell eher als syllabisch eingestuft (vgl. Elwert, Italienische Metrik, S. 13). [Anm. d. Komm.] Dante, De vulgari eloquentia, S. 198 (II, v, 3) / S. 58. [Anm. d. Komm.] A. a. O., S. 204 (II, v, 8) / S. 59. [Anm. d. Komm.] A. a. O., S. 198 (II, v, 3) / S. 58. – Dante setzt die Verse mit ungeraden Silbenzahlen nicht nur summarisch über diejenigen mit geraden Silbenzahlen, sondern bewertet sie auch innerhalb ihrer Kategorie unterschiedlich. Dem Elfsilbler als höchster Versform ordnet er den Sieben-, den Fünf- und den Dreisilbler nach. Lediglich den Neunsilbler lehnt er ab, weil er bloß eine dreimalige Wiederholung des Dreisilblers und daher langweilig sei (vgl. a. a. O., S. 202 – II, v, 6). Daß er längere Verse als Kombination mehrerer kürzerer Verse betrachtet, läßt immerhin Jakobsons und Valesios These plausibel erscheinen, er bewerte den Hendecasyllabus deswegen so positiv, weil er in diesem zwei Fünfsilbler mit einer Mittelsilbe sehe. Mit Dantes eigentlicher Begründung – der Elfsilbler biete aufgrund seiner Länge den maximalen Raum für Inhalt, Konstruktion und Vokabular (vgl. a. a. O., S. 198 – II, v, 3) – stimmt diese Annahme allerdings nicht überein. [Anm. d. Komm.] Vgl. Koenen, »Dantes Zahlensymbolik«, S. 26–46: »Die erste bedeutungsvolle Zahl ist drei. Sie ist die erste vollkommene Zahl, weil sie einen Anfang, eine Mitte und ein Ende hat, ohne sich in zwei gleiche Teile zerlegen zu lassen. So Hugo von St. Victor« (S. 26). »〈…〉 Der im Mittelalter viel gelesene Martianus Capella schreibt die Einheit dem Schöpfergott, die Zweiheit der Materie, die Dreizahl den Idealformen zu« (S. 31). Koenen bezieht sich auf Cassiodors Definition der Elf als »einer Zahl der Fülle« und nimmt an, daß Dante selbst in seinen Überlegungen über den Elfsilbler nichts über eine solche *Konnotation gesagt habe; aber in der zitierten Stelle der Abhandlung des Dichters wird diesem Metrum gerade eine allumfassende abundantia zugeschrieben. Dante, De vulgari eloquentia, S. 202 (II, v, 5) / S. 59. [Anm. d. Komm.]
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Die meisten Zeilen des Gedichts kennzeichnen den mittleren Fuß durch eine *Diärese nach der sechsten oder, weniger oft, vor der fünften Silbe; ein solches Wortende ist meistens von einer syntaktischen Pause begleitet. 2.1. Die rithimorum habitudo [›Ordnung der Reime‹] 37 dieses Sonetts, eines der üblichen Schemata – abba abba cdc dcd –, bildet die Quartette und Terzette nach denselben zwei Prinzipien der Symmetrie und *Antisymmetrie, jedoch in anderer Rangordnung.38 Die beiden Quartette sind wechselseitig symmetrisch, während das Terzett dcd eine antisymmetrische Antwort zu cdc darstellt. Andererseits stützen sich die Reimpaare innerhalb der Quartette auf Antisymmetrie (ba – ab), während die Reimpaare, die beiden Terzetten zugrundeliegen, symmetrisch (cd – cd – cd ) sind. 2.2. Das Muster abba (rime incrociate),39 das die Wechselbeziehung der beiden vierfachen Reime in den Quartetten bestimmt, scheint auf jeden einzelnen dieser beiden Reime ausgedehnt zu sein. In der Folge 40 1 vaghi – 4 svaghi – 5 paghi – 8 allaghi sind die äußeren »Reimgefährten« 1 vaghi [›geneigt‹] und 8 vuol che ’l mondo allaghi [›will, daß es die Welt 37 Dante selbst verwendet in De vulgari eloquentia (S. 248 [II, xi, 1] u. S. 262 [II, xiii, 1]) überwiegend den Begriff rithimorum relatio [›Beziehung der Reime‹] und bezeichnet damit die Beziehungen der Reime untereinander. Im Detail kommt er auf diesen Aspekt jedoch erst in II, xiii zu sprechen. Indem Jakobson und Valesio den Begriff der rithimorum habitudo einführen, um das Reimschema des gesamten Gedichts zu bezeichnen, nehmen sie offensichtlich Bezug auf II, xi, 1. An dieser Stelle definiert Dante die rithimorum relatio als Bestandteil der habitudo [›Einteilung‹] (S. 248 – II, xi, 1 / S. 69). [Anm. d. Komm.] 38 Es sei hier daran erinnert, daß die zwei Tafeln eines Diptychons symmetrisch sind, wenn jede der beiden z. B. eine Frau, der zwei Kinder folgen, darstellt, antisymmetrisch aber, wenn diese Darstellung mit dem Bild eines Kindes, dem zwei Frauen folgen, verbunden ist. Vgl. Sˇubnikov, Simmetrija i antisimmetrija konecˇnych figur. [Anm. v. R.J. / P.V.] – Auch an anderen Stellen legt Jakobson seinen Beobachtungen zu symmetrischen Strukturen in der Metrik die Grundsatzüberlegungen des Mathematikers und Kristallographen Sˇubnikov zugrunde. Vgl. Jakobson, »Stichotvornye proricanija Aleksandra Bloka« (SW III, S. 548; dt. Übs. in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 461, Anm. 12). [Anm. d. Komm.] 39 Jakobson gibt völlig richtig an, das Reimschema abba werde im Italienischen als »rime incrociate« [wörtlich ›verkreuzter Reim‹] bezeichnet. Im Deutschen hingegen spricht man bei diesem Muster von ›umfassendem oder *umarmendem Reim‹ oder auch vom *›Blockreim‹, während sich der Ausdruck *›Kreuzreim‹ auf das Reimmuster abab bezieht. [Anm. d. Komm.] 40 Diesen Begriff übernehmen Jakobson und Valesio von Gerard Manley Hopkins aus: »Rhythm and the Other Structural Parts of Rhetoric – Verse«, in: ders., The Journals and Papers, S. 285. Vgl. »Linguistics and Poetics«, S. 38; dt. Übs. in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 186. [Anm. d. Komm.]
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überflute‹] miteinander semantisch verwandt: ›geneigt‹ – ›will‹ und ›weinen‹ – ›überfluten‹, während die inneren Reime 4 che tu 〈…〉 svaghi [›daß du befreist‹] und che paghi [›daß du bestrafst‹] miteinander durch einen engen grammatischen *Parallelismus verbunden sind. Ebenso verbindet der zweite Reim die äußeren, semantisch verwandten Elemente 2 cor mi strugge [›mir das Herz zerreißt‹] und 7 tosco sugge [›Gift saugt‹] miteinander (vgl. die Klangübereinstimmungen cor – tosco und strugge – sugge), während die inneren Glieder dasselbe Verb ohne und mit Präfix gegenüberstellen: 3 fugge [›flieht‹] – 6 rifugge [›entflieht‹]. Andererseits festigen die Reime jedes der Quartette mit unterschiedlichen Mitteln: 2 strugge und 3 fugge beziehen sich auf ein weibliches Agens, 6 rifugge und 7 sugge dagegen auf ein männliches Agens; 1 vaghi und 4 svaghi sind durch einen abgeleiteten Reim miteinander verbunden.41 In der zweiten und vierten Zeile der zweiten Strophe gehören die Reimwörter – 6 rifugge, 8 allaghi – zu Dantes beliebtestem, dreisilbigem Wortmuster.42 Nur die zwei geraden Zeilen des geraden Quartetts enden also mit einem Wort von ungerader Silbenzahl, während 1) die ungeraden Zeilen in allen Strophen, 2) alle Zeilen in den ungeraden Strophen, und 3) die gerade Zeile des geraden Terzetts mit zweisilbigen Wörtern enden. 2.3. Die Reimwörter des Terzetts reflektieren deutlich zwei entgegengesetzte Typen von Bildern – negative und positive: vgl. 9 gelo [›Frost‹] gegenüber 11 cielo [›Himmel‹], 13 velo [›Schleier‹]; 10 tace [›schweigt‹], 12 fredda giace [›kalt da liegt‹] gegenüber 14 pace [›Frieden‹]. Die zweite Reimfolge weist somit eine Spiegel-Antisymmetrie zur ersten auf: 43 – + + / – – +. Insgesamt befinden sich die Reime (und ganzen Zeilen) beider Terzette in einem ähnlichen, aber umgekehrten Verhältnis: – – + / – + +. 41 Vgl. Biadene, »Morfologia del Sonetto«, S. 157. [Anm. v. R.J. / P.V.] – Den Begriff des »abgeleiteten Reimes« definiert Biadene folgendermaßen: »Si dicono *derivative le rime costituite da parole che hanno la medesima radice e differiscono soltanto nella desinenza« [›Abgeleitet nennt man diejenigen Reime, die aus Wörtern bestehen, die dieselbe Wurzel haben und nur in der Endung voneinander abweichen‹]. Mit ›abweichenden Endungen‹ meint Biadene grammatisch-morphologische, nicht phonologische Unterschiede, die sich mit dem Prinzip des Endreims schwerlich vereinbaren ließen. [Anm. d. Komm.] 42 Vgl. Dante, De vulgari eloquentia, S. 228–230 (II, vii, 5). [Anm. v. R.J. / P.V.] – Dante bestimmt eine Klasse von sanft klingenden Dreisilbern, die er für die Dichtung im hohen poetischen Stil des vulgare illustre empfiehlt. [Anm. d. Komm.] 43 Zu dem oben erwähnten Bild einer Frau, der zwei Kinder folgen, wäre die *Spiegelsymmetrie: zwei Kinder, denen eine Frau folgt; und die Spiegel-Antisymmetrie: zwei Frauen, denen ein Kind folgt – wobei sowohl die Zeichen selbst als auch ihre Reihenfolge umgekehrt werden: eine »Zauberspiegel«-Reflexion, wie sie Wigner, »Violations of Symmetry in Physics«, S. 28–36, genannt hat.
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Der dramatische Kampf zwischen Bösem und Gutem, der in den letzten Strophen des Sonetts dargestellt wird, findet in den zwei Spiegel-Antisymmetrien seinen plastischen Ausdruck. 2.4. Die rithimorum relatio [›Beziehung der Reime‹] zwischen den Quartetten und den Terzetten weist eine bemerkenswerte Abweichung und zugleich eine auffällige strukturelle Entsprechung auf. Der erste Reim der Quartette beginnt und der letzte Reim der Terzette endet mit einem Wort, das sich in grammatischer Hinsicht von den anderen Wörtern derselben Reimfolge unterscheidet. So stellen das Adjektiv 1 vaghi, im *Kontrast zu den Verben 4 svaghi – 5 paghi – 8 allaghi, und das Substantiv 14 pace, unähnlich den Verben 10 tace – 12 giace, die einzigen Abweichungen von den durchweg *grammatischen Reimen des Sonetts dar. Die anderen sieben Wörter in den Reimen der Quartette sind *Tätigkeitsverben. Auf diese finiten Verben und auf die völlige Abwesenheit von Substantiven in den Reimen der Quartette antworten die Reime der Terzette mit vier Substantiven und zwei Untätigkeits-Verben (10 tace, 12 giace). Dieser radikale Widerspruch in der grammatischen Bildlichkeit, der von den Reimen der zwei Anfangsstrophen und der zwei Schlußstrophen getragen wird, umreißt die Handlung des Gedichts in ihrer verdichtetsten Form. 3.1. Die grammatische Ungleichförmigkeit der Reimwörter ist nicht die einzige Eigenschaft, die die Anfangs- und Abschlußzeile des Sonetts voneinander unterscheidet; die Rolle einer unverbundenen Zeile (carmen incomitatum [›unbegleitete Verszeile‹] 44 ) inmitten von verbundenen Einheiten war von Dante völlig klar erkannt worden. Im ganzen Gedicht ist die erste Zeile die einzige, die das Metrum in seiner regelmäßigsten Erfüllung zeigt: ein gleichmäßiger Wechsel von unbetonten Senkungen und betonten Hebungen mit einer syntaktischen Pause nach der dritten Hebung: 1 Se vedi li occhi miei di pianger vaghi. Andererseits ist unter allen Hebungen des Sonetts die dritte Hebung der letzten Zeile die einzige, die von der folgenden Senkung durch einen *Hiat (Dialöphe) getrennt ist: 14 non ` e in terra. 44 Der Begriff carmen incomitatum stammt aus De vulgari eloquentia, S. 266 (II, xiii, 5) / S. 75. Dante sieht in der sogenannten ›Waise‹ eine Besonderheit, die er befürwortet. In diesem Zusammenhang rühmt er die »multas et bonas cantiones« [›vielen und guten Kanzonen‹] eines zeitgenössischen Dichters, Gottus Mantuanus (von dem wir darüber hinaus keinerlei Kenntnis haben): »Hic semper in stantia unum carmen incomitatum texebat, quod clavem vocabat; et sicut de uno licet, licet etiam de duobus, et forte de pluribus« [›Der wob immer in der Stanze eine Verszeile unbegleitet, die er Schlüssel (clavis) nannte. Und wie man es mit einer halten darf, so auch mit zweien und vielleicht auch mit mehr‹] (a. a. O., S. 264–266 – II, xiii, 5 / S. 75). [Anm. d. Komm.]
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3.2. Die rahmenden Zeilen des Sonetts – die erste und die vierzehnte – unterscheiden sich vom Rest des Gedichts überdies in ihrer grammatischen Textur; und vor so einem unähnlichen Hintergrund wird die gewählte grammatische Aufmachung der zwölf inneren Zeilen besonders deutlich. Nur in der ersten Zeile finden wir eine Indikativform der zweiten *Person (vedi [›du siehst‹]), einen Infinitiv (pianger [›weinen‹]), ein Adjektiv im Plural (vaghi [›geneigt‹]) und das einzige Substantiv, dem eine Adjektivphrase folgt (occhi miei di pianger vaghi [›meine Augen, zum Weinen geneigt‹]). Die letzte Zeile enthält einen Teilsatz mit nominalem Subjekt (non `e in terra pace [›ist kein Frieden auf Erden‹]), die einzige Substantiv-Verb-Konstruktion im ganzen Sonett, während die anderen sechzehn finiten Verbformen des Gedichts nicht mit lexikalischen, sondern nur mit grammatischen Subjekten (nämlich expliziten oder impliziten pronominalen Subjekten) verbunden sind. Diese Vermeidung nominaler Subjekte ist besonders auffällig im Vergleich zu den sechs Verben mit direkten nominalen *Objekten: 1 vedi li occhi [›du siehst die Augen‹]; 2 che ’l cor mi strugge [›die mir das Herz zerreißt‹]; 6 chi la giustizia uccide [›der die Gerechtigkeit tötet‹]; 7 tosco sugge [›Gift saugt‹]; 8 mondo allaghi [›Welt überflutet‹]; 9 messo ha 〈…〉 tanto gelo [›soviel Frost gelegt hat‹]. Der abschließende Substantiv-Verb-Teilsatz weist die einzige universelle Aussage des Sonetts auf und enthält ein bloßes Existenzverb, ein eigentlich grammatisches Verb, aber selbst dieses Verb kommt ausschließlich in einer negativen Konstruktion (non `e [›ist nicht‹]) vor. Alle siebzehn finiten Verbformen unseres Textes stehen im Singular. Die Tendenz, die Substantive den Verben zu entfremden und alle finiten Verbformen in den Singular zu setzen, zeigt einen so geschickten Kunstgriff, daß Andre´ Pe´zard in seiner Übersetzung versucht hat, Dantes syntaktische Transformationen in die zugrundeliegenden SubstantivVerb-Teilsätze umzuformen und die unbeugsamen Singularformen des italienischen Originaltextes durch Pluralformen zu ersetzen (1 mes yeux de pleurs ont soif, 2 mon cœur se de´truit, 9 leur guerre a mis telle glace d’effroi), sowie Verben im Plural an die Stelle von Dantes konstantem Singular zu setzen (6 ceux qui justice tuent, et s’en refuient, 7 ils sucent poisons, 10 tous se taisent).45 3.3. Das grammatische Inventar des Sonetts ist einer strengen Auswahl unterzogen. Alle einfachen Indikativ-, Konjunktiv- und Infinitiv-Formen sowie die Hilfsverben in zusammengesetzten Formen (8,9 ha [›hat‹] des »passato prossimo« 46 ) gehören ausschließlich zum nicht-epischen Präsens.47 45 Dante, Œuvres comple`tes, S. 213.
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Solche rein relationalen Ausdrücke wie Relativ-, Distributiv- und Personalpronomina tragen – sowohl explizit als auch implizit, *substantivisch als auch *adjektivisch – die lyrische Handlung des Gedichts. 3.4. Der ganze Text des Gedichts besteht aus einem Satzgefüge 48 mit zwei Hauptverben: 1) 3 priego [›ich bitte‹] in der vorletzten Zeile (–2) der Eingangsstrophe – ein »exerzitives« Verb in der ersten Person Präsens (s. u. 7.5), gefolgt von zwei gleichrangigen Nebensätzen mit Konjunktivformen in der zweiten Person: 4 che tu 〈…〉 svaghi [›daß du befreiest‹], 5 〈…〉 che paghi [›daß du bestrafest‹]; 2) die Imperativform levala [›heb sie auf‹] in der vorletzten Zeile (–2) der Schlußstrophe. Die anderen Teilsätze sind direkt oder mittelbar diesen zwei unabhängigen Verben untergeordnet – einem in der ersten, dem anderen in der zweiten Person. 3.5. Zwei *Synekdochen, denen ein Pronomen folgt, verweisen auf den Helden in der ersten Person, 1 occhi miei [›meine Augen‹] – mitsamt ihrem künftigen pronominalen Substitut 4 i [›sie‹] – und 2 cor mi [›mir das Herz‹]. Der Held in der zweiten Person wird nach dem einleitenden Konditionalsatz 1 se vedi [›wenn du siehst‹] in der letzten Zeile (–1) der Eingangsstrophe und wieder in der letzten Zeile (–1) der dritten Strophe apostrophiert, im ersten Fall durch einen einzelnen, im zweiten durch einen doppelten vokativischen Ausdruck, den einzigen syntaktisch unabhängigen Substantiven im Gedicht – 4 Signor [›Herr‹] und 11 foco d’amor, lume del cielo [›Feuer der Liebe, Licht des Himmels‹] – mit einem begleitenden 4, 11 tu [›du‹] und den nachfolgenden *konativen Formen. Ein doppelter Konjunktiv – 4 svaghi [›du befreiest‹], 5 paghi [›du bestrafest‹] – folgt dem einzelnen Vokativ, während dem einzelnen Imperativ – 13 leva [›hebe auf‹] – ein doppelter Vokativ vorangeht. Beide Anreden werden von obliquen und possessiven Pronominalformen umgeben – 3 ti, da te [›dich, von dir‹], 5 tua, [›deine‹] und 10 tuo [›dein‹], 13 tuo.
46 Das »passato prossimo« ist das italienische Perfekt. Das Verb im »passato prossimo« beschreibt eine abgeschlossene Handlung, die einen direkten Bezug zur Gegenwart hat. Dieses Vergangenheitstempus wird mit dem Indikativ Präsens der Hilfsverben avere [›haben‹] oder essere [›sein‹] und dem Partizip Perfekt eines Vollverbs gebildet. [Anm. d. Komm.] 47 Mit ›nicht-epischem Präsens‹ ist ein nicht-erzählendes Präsens gemeint, das keine Handlungen oder Ereignisse wiedergibt. [Anm. d. Komm.] 48 Der Punkt vor der *adversativen Konjunktion 11 ma ist kaum gerechtfertigt, und trotz dieser herkömmlichen Interpunktion wird man am Ende der zehnten Zeile durch den Text unabsichtlich dazu verleitet, die Intonation, die das Satzende markiert, durch die Intonation, die das Ende eines Teilsatzes innerhalb eines Satzes, der fortgesetzt wird, zu ersetzen.
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3.6. Ferner führt das Sonett zwei Individuen in der dritten Person ein, die beide in Nebensätze verwiesen sind – der eine, 6 ›der die Gerechtigkeit tötet und dann flieht‹ zu dem anderen Bösewicht, 7 ›dem großen Tyrannen, dessen Gift er saugt, 8 das er (elli) bereits verströmt hat und mit dem er die Welt überfluten will‹. Es könnte gefragt werden, ob sich dieser elli [›er‹] auf die erstere oder auf die letztere dieser zwei dramatis personae bezieht; wenn das Pronomen den »gran tiranno« [›großen Tyrannen‹] meint, wird die Frage aufgeworfen, ob das Prädikat 9 messo ha [›gelegt hat‹] mit 8 ha sparto e vuol [›verströmt hat und will‹] oder mit 7 sugge [›saugt‹] koordiniert ist.49 Die Möglichkeit solcher Zweifel weist darauf hin, daß die Agentes, auf die diese Nebensätze dritter und vierter Ordnung gerichtet sind, im Schatten bleiben.50 3.7. Auf der untersten Ebene derselben vielfältigen *Hypotaxe erscheint ein neuer Teilnehmer im Spiel, der mit dem Pronomen ciascun, ›jeder‹, bezeichnet wird. Die Funktion solcher »singularisierenden *Totalisierer« wurde von Sapir treffend definiert: »›jedes a‹ hebt ein besonderes a heraus, nur um die Tatsache zu unterstreichen, daß sich alle anderen a der Menge 〈hier fedei [›Gläubige‹]〉 in keiner bedeutenden Hinsicht von diesem unterscheiden«.51 Jede Handlung wird im Sonett so dargestellt, als ob sie von einem einzelnen Agens erzeugt würde, aber je unbestimmter dieser bleibt, desto weniger aktiv scheint er zu sein; so ist ciascun [›jeder‹] festgefroren und passiv schweigsam. 4.1. Unter Dantes Rime ist dieses Gedicht als das einzige angesehen worden, das keine Heldin und keinen Hinweis auf den Liebeskult enthält.52 Jedoch wird die Heldin in allen Strophen des Sonetts beschworen.53 49 Jakobson und Valesio sprechen hier von einer zweifachen Doppeldeutigkeit, die laut Contini (Rime, S. 181) nicht besteht: Denn zum einen beziehe sich das Pronomen elli eindeutig auf den gran tiranno und nicht auf den Mörder der Gerechtigkeit, zum anderen werde das finite Verb in v. 9 – im Unterschied zu ha 〈…〉 sparto und vuol – nicht von elli [›er‹], sondern von chi [›der‹] regiert. [Anm. d. Komm.] 50 Ob Dante tatsächlich beabsichtigt, die Protagonisten der Strophen II und III mit einem ›Schatten‹ zu umgeben, bleibt eine Spekulation Jakobsons und Valesios. Möglicherweise vermochten die zeitgenössischen Leser sie ohne Schwierigkeiten zu identifizieren – vgl. Anmerkung 27. [Anm. d. Komm.] 51 Sapir, »Totality«, S. 12. 52 Die Einzigartigkeit von »Se vedi li occhi miei« innerhalb von Dantes Rime wird von den Kommentatoren Contini und Barbi /Pernicone bestätigt. Jedoch begründen letztere die singuläre Stellung des Sonetts nicht ex negativo mit der fehlenden Liebesthematik, sondern mit dem rein politischen und moralischen Inhalt: »La scelta della forma metrica del sonetto per un componimento di contenuto politico e morale e` del tutto eccezionale perche` non ci sono altri esempi fra le Rime di Dante.« [›Die Wahl der metrischen Form des Sonetts für ein Gedicht mit politischem und
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Ein *abstraktes feminines Substantiv taucht symmetrisch in der drittletzten 54 Zeile (–3) jeder Strophe auf: 2 pieta` [›(Mit-)Leid‹] – 6 giustizia [›Gerechtigkeit‹] – 9 paura [›Angst‹] – 12 vertu` [›Tugend‹]; bei allen vier Wörtern liegt die Betonung auf der zweiten Silbe. Die Gegenüberstellung dieser Substantive zeigt ein Netz von ausgeprägten binären Verbindungen. Syntaktische Funktion und lexikalische Bedeutung teilen diese vier Schlüsselwörter in zwei Reimpaare auf, je nachdem, ob sie in den geraden oder ungeraden Strophen vorkommen. In den geraden Strophen kommen ›Gerechtigkeit‹ als direktes Objekt (6 giustizia uccide [›Gerechtigkeit tötet‹]) und ›Tugend‹ als Apposition zum direkten Objekt (12 questa vertu` 〈…〉, 13 levala [›diese Tugend 〈…〉 heb sie auf‹]) vor; beide Begriffe erscheinen als zwei Facetten ein und derselben Substanz, und die Betonung der beiden Wörter fällt auf die zweite Hebung der Zeile. Die ungeraden Strophen bieten ›Angst‹ und ›Leid‹ in präpositionalen Konstruktionen mit einem emphatischen Fehlen der Artikel: 2 per novella pieta` che ’l cor mi strugge [›wegen neuen Leids, das mir das Herz zerreißt‹] und 9 e messo ha di paura tanto gelo 10 nel cor de’ tuo’ fedei [›und hat solchen Schreckensfrost gelegt in das Herz deiner Gläubigen‹]. In Inferno I kommen diese Zwillingswörter in einem ähnlichen Kontext vor (vgl. unten, 5. 1.): 15 19 20 21
Che m’avea di paura il cor compunto, 〈…〉 Allor fu la paura un poco queta Che nel lago del cor m’era durata La notte ch’ i’ passai con tanta pie`ta.
moralischem Inhalt ist eine unbedingte Ausnahme, weil es dafür keine anderen Beispiele in Dantes Rime gibt.‹] (Dante, Rime della maturita` e dell’esilio, S. 600). Diese Einzigartigkeit hat Zweifel an der Authentizität des Sonetts als Werk Dantes hervorgerufen, welche die Kommentatoren jedoch aufgrund der »piu` convincente tradizione manoscritta« [›äußerst überzeugenden Manuskript-Überlieferung‹] (Dante, Rime, S. 180) ablehnen. [Anm. d. Komm.] 53 Die Aussage, daß in jeder Strophe des Sonetts eine Heldin evoziert werde, die mit den vier anschließend aufgezählten Feminina identifiziert wird, hat Jakobson und Valesio die Kritik Porcellis (»Per un esempio d’analisi strutturale«, S. 310 f.) eingebracht. Valesio hält ihm (»Vocabulorum constructio«, S. 169) insbesondere die augenfällige *Personifizierung der Tugend im zweiten Terzett entgegen. [Anm. d. Komm.] 54 Porcelli (»Per un esempio d’analisi strutturale«, S. 311) wirft Jakobson und Valesio vor, sie bedienten sich allzu eigenwilliger Begriffe wie »antepenultimate line« [›drittletzte Zeile‹] für die Bezeichnung des zweiten Verses der Quartette und des ersten der Terzette, um auf diese Weise künstlich Symmetrien zu erzwingen, die eigentlich nicht existieren. Dagegen nennt Valesio (»Vocabulorum constructio«, S. 168 f.) mehrere Belegstellen für den lateinischen Terminus antepaenultimus, der bereits von spätantiken Autoren verwendet werde, um seine und Jakobsons Verwendung des Begriffes zu rechtfertigen. [Anm. d. Komm.]
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Das mir das herz so sehr mit angst gepeinigt 〈…〉 Darauf ward meine angst ein wenig stiller Die mir im See des herzens angestanden Die Nacht, die ich verbracht in solchen qualen.55
Die Verwandtschaft der beiden Wörter im Sonett wird durch ihre identische Position unterstrichen: ihre Betonung wird durch die zweite Hebung der Zeile getragen. ›Angst‹ und ›Leid‹ sind des Dichters und Jedermanns jeweilige Antworten, die unlösbar mit dem Leiden der Gerechtigkeits-Tugend verbunden sind. Dies sind metonymische Verschiebungen vom Bild der gemarterten Tugend zur Darstellung der Sorge ihrer Verehrer wegen ihres Martyriums. Die direkten und die übertragenen Bezugnahmen auf die Tugend folgen einander in regelmäßiger Alternation. Das *anaphorische Pronomen ›sie‹ im Teilsatz 3 per lei ti priego [›um sie bitte ich dich‹] bezieht sich sowohl zurück, auf 2 pieta` [›(Mit-)Leid‹], als auch nach vorn, auf 6 giustizia [›Gerechtigkeit‹],56 denn die Angst um die Leiden der Gerechtigkeit, ebenso wie die Gerechtigkeit selbst, ist fromm und an den Herrn gebunden (3 da te non fugge [›die vor dir nicht flieht‹]). Sowohl in seiner Dichtung als auch in ihrer Theorie suchte Dante nach Symmetrie zwischen äußersten Elemente der Komposition: extremas desinentias convenit concrepare [›so sollen auch die äußeren Zeilenschlüsse 〈…〉 reimen‹]. 57 Die enge Verbindung zwischen pieta` [›(Mit-)Leid‹] und 55 Dante, Göttliche Komödie, S. 11–13. [Anm. d. Komm.] 56 Jakobsons und Valesios Ansicht, daß das Pronomen lei ambivalent sei und sich nicht nur auf giustizia, sondern auch auf pieta` beziehe, wird von den Kommentatoren des Gedichts nicht geteilt. Contini erklärt kurz und bündig, das Pronomen bezeichne die Gerechtigkeit als Attribut Gottes (vgl. Dante, Rime, S. 181). Barbi und Pernicone (Dante, Rime della maturita` e dell’esilio, S. 601) lehnen den Bezug von lei auf pieta` sogar ausdrücklich ab, weil man Bestrafungen in aller Regel im Namen der Gerechtigkeit, aber gewiß nicht des Mitleids fordere. Darüber hinaus legen sie ausführlich dar, daß die iustitia in der mittelalterlichen Literatur – und nicht zuletzt in Dantes eigenen Schriften – noch vor der misericordia [›Barmherzigkeit‹] als Gottes Eigenschaft schlechthin gilt. Nur so läßt sich erklären, weshalb der Bezug von lei auf pieta` zu verwerfen ist, obwohl er aufgrund der Syntax der Zeilen 1 bis 10 so viel naheliegender scheint als die richtige Alternative. [Anm. d. Komm.] 57 Dante, De vulgari eloquentia, S. 270 (II, xiii, 9) / S. 76. [Anm. v. R.J. / P.V.] – Jakobson und Valesio verwenden dieses Zitat nicht im Sinne seines Autors. Vielmehr lösen sie es aus einem sehr spezifischen Kontext heraus und suggerieren so, Dante formuliere damit eine grundsätzliche, allgemein gültige Regel – daß nämlich eine Übereinstimmung zwischen dem Anfang und dem Ende eines Gedichts oder einer Strophe bestehen solle, die sie in ihrer Terminologie als ›Symmetrie‹ bezeichnen. Tatsächlich spricht Dante hier im Rahmen einer Erörterung des Reimes von
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vertu` [›Tugend‹] in den äußeren Strophen, wo diese Feminina stehen, wird durch die ähnliche Gruppierung dieser zwei undeklinierbaren *oxytonen Zweisilber gefestigt; in gleicher Weise behalten die dreisilbigen *Paroxytona giustizia [›Gerechtigkeit‹] und paura [›Angst‹] in den inneren Strophen ihre Verwandtschaft trotz der Verkürzung des erstgenannten Wortes durch die *Synalöphe. 4.2. Giustizia [›Gerechtigkeit‹] und vertu` [›(Mit-)Leid‹] stehen den Feminina 5 la tua dritta man [›deine rechte Hand‹] der ersten Zeile (+1) im zweiten Quartett und 14 in terra pace [›Frieden auf Erden‹] der letzten Zeile (–1) im zweiten Terzett gegenüber.58 Es kann keine Gerechtigkeit ohne die rechte Hand des Herrn und keinen Frieden auf Erden ohne Tugend geben, um deren Auferstehung das göttliche ›Feuer der Liebe‹ (11 foco d’amor) angefleht wird. So werden alle drei höchsten Themen der poetischen Kunst – illa magnalia que sint maxime pertractanda [›jene höchsten Dinge, die am größten zu behandeln sind‹] 59 – tatsächlich in diesem Gedicht behandelt: virtus [›Tugend‹], salus [›Wohl‹] und das ›Feuer der Liebe‹ (amoris accensio [›Aufflammen der Liebe‹] 60 ).61
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den beiden dreizeiligen pedes einer hypothetischen Strophe: Wenn der erste und der letzte Vers des ersten pes miteinander reimten, so fordert er, daß dies auch im zweiten pes der Fall sein solle: »extremas desinentias convenit concrepare«. Porcelli, der Jakobson und Valesio insgesamt mangelndes Verständnis von Dantes Traktat vorwirft, moniert deren Umgang mit diesem Zitat. Vgl. Porcelli, »Per un esempio d’analisi strutturale«, S. 311 f. [Anm. d. Komm.] Die These Jakobsons und Valesios, daß Dante die vier Feminina dritta man, giustizia, vertu` und pace zu einer Einheit zusammenschließe, wird zumindest hinsichtlich der drei letzteren von Barbi und Pernicone unterstützt: »〈…〉 ›questa vertu`‹ non puo` essere che la virtu` di cui si e` parlato innanzi, la Giustizia 〈…〉.« [›〈…〉 »diese Tugend« kann nichts anderes als diejenige Tugend sein, von der zuvor die Rede war, die Gerechtigkeit 〈…〉.‹] Die Gerechtigkeit und der Frieden fallen den beiden Kommentatoren zufolge zwar nicht in eins, doch sei jene die unabdingbare Grundvoraussetzung von diesem (Dante, Rime della maturita` e dell’esilio, S. 603). Ähnlich auch Foster und Boyde, die in dem Sonett »an explicit association of justice with peace« [›eine explizite Assoziation von Gerechtigkeit und Frieden‹] feststellen (Dante’s Lyric Poetry, S. 193). [Anm. d. Komm.] Dante, De vulgari eloquentia, S. 176 (II, ii, 8) / S. 53. A. a. O., S. 174 (II, ii, 8) / S. 52 f. Porcelli (»Per un esempio d’analisi strutturale«, S. 312) bestreitet, daß das Thema salus [›Wohl‹] in Dantes Sonett behandelt werde. Dagegen rechtfertigt Valesio (»Vocabulorum constructio«, S. 172) seine und Jakobsons Behauptung, indem er darauf hinweist, daß der lateinische Terminus nicht nur das Wohl und Heil des einzelnen, sondern auch dasjenige der Familie, des Staates und der Religion bezeichne; insofern werde mit den abschließenden Worten »in terra pace« sehr wohl das Thema salus angesprochen. [Anm. d. Komm.]
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4.3. Die femininen Schlüsselwörter des Sonetts verlieren ihre Abstraktheit infolge ihrer kontinuierlichen Verwendung in metaphorischen Konstruktionen mit augenfällig *konkreten Verben, Substantiven und Adjektiven: 2 pieta` che ’l cor mi strugge [›Leid, das mir das Herz zerreißt‹]; 6 chi la giustizia uccide [›der die Gerechtigkeit tötet‹]; 9 e messo ha di paura tanto gelo [›und hat solch einen Schreckensfrost gelegt‹]; 12–13 questa vertu` che nuda e fredda giace, levala su vestita del tuo velo [›diese Tugend, die nackt und kalt da liegt, heb sie auf, in deinen Schleier gekleidet‹]. 5.1. Beide ungeraden Strophen sind durch eine Reihe auffälliger Entsprechungen miteinander verbunden. Der Hinweis auf pieta` [›(Mit-)Leid‹] in Strophe I (–3) und auf paura [›Angst‹] in Strophe III (–3) ruft eine Assoziation mit ›Herz‹ auf, und das wiederholte Vorkommen von cor wird durch einen zweisilbigen Reim betont: I (+2) che ’l cor – III (+2) nel cor. Dem folgenden Verb in I (–2) priego [›ich bitte‹] antwortet sein *Antonym tace [›er schweigt‹] in III (–2) und bekräftigt die phonemische Entsprechung zwischen I (+2) pieta` che ’l cor und III (+2) nel cor 〈…〉 tace. Das Leiden des Herzens, das in der zweiten Zeile beider Strophen beklagt wird, fordert zu gegensätzlichen Antworten des Dichters und Jedermanns auf. Dennoch: cum tacent clamant [›Indem sie schweigen, schreien sie‹]. Dem erzwungenen Schweigen widersetzt sich (11 ma [›aber‹]) ein wiederholter Anruf an den Herrn, diesmal aber ohne Bezug auf seinen Sender. In beiden Fällen reimt sich der Vokativausdruck – I (–1) Signor [›Herr‹] und III (–1) foco d’amor [›Feuer der Liebe‹], betont durch das Pronomen tu [›du‹] der benachbarten Hebung – mit cor [›Herz‹]: I (–1) Signor, che tu, und III (–1) ma tu, foco d’amor. Der innere Reim – rithimorum repercussio [›Widerhall der Reime‹] 62 – gehört zu den bekannten Kunstgriffen von Dantes Dichtkunst. Die letzte Zeile der ungeraden Strophen eröffnet die beiden Anrufungen des Herrn, während ihre konativen Verbformen am Ende der folgenden Zeile auftreten und durch denselben Reim markiert sind, d. h. in der ersten Zeile des geraden Quartetts (4 svaghi – 5 paghi) und in der zweiten Zeile des geraden Terzetts (11 cielo – 13 velo). 5.2. Wie oben (4. 2.) bemerkt wurde, kommen in den geraden Strophen die Schlüsselworte – II (–3) la giustizia [›die Gerechtigkeit‹] und IV (–3) questa vertu` [›diese Tugend‹] – mit begleitenden und dramatisch verbundenen Feminina vor. Ein parenthetisch bejahtes und ein existentiell verneintes `e [›ist‹] treten in denselben Zeilen in Erscheinung: II (+1) tua dritta man, cio` `e, [›deine rechte Hand, das ist,‹] und IV (–1) non `e in terra 62 De vulgari eloquentia, S. 258 (II, xii, 8) / S. 73.
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pace [›ist auf Erden kein Frieden‹]. Im Gegensatz zu den synonymen Schlüsselwörtern weisen die regierenden *transitiven Verben – II (+2) uccide [›er tötet‹] und IV (+2) levala su [›hebe sie auf‹] – auf den antonymischen Charakter dieser Strophen hin. Insbesondere ist der maskuline mondo [›Welt‹] in II (–1), der mit höllischem Gift gefüllt ist, der femininen terra [›Erde‹] in IV (–1), die sich nach Frieden sehnt, entgegengesetzt. Jede Strophe enthält eine Präpositionalphrase mit einem femininen Substantiv. Es gibt eine gewisse semantische Verwandtschaft zwischen den Präpositionen solcher Wortgruppen innerhalb der Anfangsstrophen einerseits – 2 per [›wegen‹], 5 con [›mit‹] – und innerhalb der Schlußstrophen andererseits – 9 di [›aus‹], 14 in [›auf‹]. Präpositionalgruppen werden in den ungeraden Strophen mit den Schlüsselwörtern – I (–3) pieta` [›(Mit-)Leid‹], III (–3) paura [›Angst‹] – gebildet, in den geraden dagegen mit begleitenden femininen Substantiven – II (+1) man [›Hand‹], IV (–1) terra [›Erde‹]. 5.4. Die einzigen zwei unabhängigen Teilsätze des Sonetts sind in der vorletzten Zeile beider äußeren Strophen enthalten – I (–2) per lei ti priego [›um sie bitte ich dich‹] und IV levala su [›hebe sie auf‹] –, während das Schlüsselwort zur vorhergehenden Zeile gehört: I (–3) pieta` [›(Mit-)Leid‹] und IV (–3) vertu` [›Tugend‹]. Die vorangehende Strophe beginnt und die nachfolgende endet mit einem abhängigen Bedingungssatz, der von einer konativen Verbalform abhängt: I (+1) drückt eine subjektive Bedingung aus – se vedi li occhi miei di pianger vaghi [›wenn du meine Augen zum Weinen geneigt siehst‹] – und hängt von dem Konjunktiv svaghi [›befreiest‹] ab; IV (–1) drückt eine allgemein gültige Tatsache aus – che´ sanza lei non `e in terra pace [›denn ohne sie gibt es auf Erden keinen Frieden‹] – und ist von dem Imperativ leva [›hebe‹] abhängig. Die präpositionale Konstruktion mit dem Pronomen ›ihr‹ gehört zum zweiten Teil dieser hypotaktischen Beziehung und kommt in der dritten Zeile jeder Strophe vor. In Dantes Versen impliziert und signalisiert eine Wortwiederholung (vgl. 5. 1. 2,10 cor) in der Regel komplexe Parallelismen; in beiden Strophen schließt der weitere Kontext derselben Zeile die Negation ein, die nirgendwo sonst im Sonett vorkommt; nur in dieser Zeile fallen die Hebungen aller drei inneren Füße auf denselben Vokal, nämlich auf /e/,63 sei er betont oder unbetont (che), und die letzte dieser Hebungen, vom Pronomen te in der ersten Strophe getragen, findet ihre »entsprechende« Silbe 64 in der vierten Strophe: I (+3) per lei ti priego che da te non fugge; 63 Zu den dreifachen vokalischen Figuren und anderen triadischen Kunstgriffen in Dantes Dichtung siehe Be˙lza, »Zametki o zvukovom stroe dantovskogo sticha«, S. 489–491. 64 Vgl. Starobinski, »Les Anagrammes de Ferdinand de Saussure«, S. 248. [Anm.
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IV (+3) che sanza lei non e` in terra pace (wobei die Negationspartikel verstärkt wird durch die verneinende Präposition sanza [›ohne‹] und durch die vier /n/, die den doppelten *Nasal von non reduplizieren: sanza lei non `e in terra). 5.5. Das Lautgewebe in Dantes Dichtung ist weit davon entfernt, ornamental zu sein, sondern zeigt eine innerste Verbindung zu ihrem semantischen Aspekt.65 Das einleitende Thema von Angst und Gebet um der Heldin des Gedichtes willen und andererseits ihre abschließende kosmische Apotheose sind mit suggestiven Lautfiguren verwoben. Das erste Schlüsselwort pieta` [›(Mit-)Leid‹] ist von einer Reihe von Wörtern umgeben, die ein Echo seines *Auftakts erklingen lassen – oder, in Dantes Worten, velut eco respondens [›gleichsam als antwortendes Echo‹] 66 –: das anlautende /p/, allein oder mit prävokalischem /i/; gelegentlich ist ein expressives /r/ entweder eingefügt oder am Wortende hinzugefügt: 1 pianger – 2 per – pieta` – 3 per – priego – 4 piacer. Das letzte Schlüsselwort vertu` [›Tugend‹] scheint *anagrammatisiert zu sein; 67 seine anlautende Konsonant-Vokal-Folge wird zweimal wiederholt: 12 vertu` – 13 vestita – velo, während seine Endsilbe von einem *Binnenreim unterstützt wird: 11 ma tu – 12 questa vertu ` – 13 lavela su. Darüber hinaus wiederholen die ersten beiden Zeilen des Schlußterzetts die Zusammensetzung der Anfangssilbe dieses Wortes – 1) den *labialen Dauerlaut, 2) den Vokal /e/ und 3) die *Liquida – in unterschiedlicher Reihenfolge: fredda (132), v. R.J. / P.V.] – Inzwischen in Starobinski (Hg.), Les mots sous les mots, S. 34; dt. Übs.: Wörter unter Wörtern, S. 26–27. [Anm. d. Komm.] 65 Vgl. Parodi, »La rima e i vocaboli in rima nella Divina Commedia«, S. 87 f.: »La padronanza assoluta, che Dante ha della rima, si manifesta pure nel confronto delle imagini col loro contesto; giacche´ esse non sono mai un puro ornamento, ma piuttosto una determinazione e un’illustrazione del pensiero, o fanno parte del ragionamento, che ora conducono piu` in la` del punto di partenza, ora forniscono di nuovi addentellati, per procedere piu` oltre.« [›Dantes vollkommene Beherrschung des Reims zeigt sich auch im Vergleich der Bilder mit ihrem Kontext; denn diese sind niemals reines Ornament, sondern vielmehr eine Bestimmung und eine Illustration des Gedankens, oder sind Teil des Gedankengangs; einmal führen sie weiter über den Ausgangspunkt hinaus, einmal bieten sie neue Anknüpfungspunkte, um noch weiter fortzuschreiten.‹] 66 De vulgari eloquentia, S. 260 (II, xii, 8) / S. 73]. [Anm. v. R.J. / P.V.] – Dante spricht an der fraglichen Textstelle vom *Binnenreim im eigentlichen Sinne, nicht von anders gearteten Übereinstimmungen innerhalb der Lautstruktur eines Gedichts, wie sie Jakobson und Valesio hier beschreiben. [Anm. d. Komm.] 67 Vgl. Ferdinand de Saussure: »mot que je dis anagrammise´« [›Wort, das ich anagrammatisiert nenne‹] (vgl. Starobinski, »Les Anagrammes de Ferdinand de Saussure«, S. 255).
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leva (321), velo (123); die umgebenden Wörter zeichnen sich ebenfalls durch Lautentsprechungen aus: 12 questa – 13 vestita.68 Eine etwas *oxymoronhafte Unüblichkeit und Unerwartetheit kennzeichnet den Anfang und das Ende des Sonetts. Die Augen verwandeln sich vom Akteur oder Instrument des Sehens zu dessen Gegenstand: 1 Se vedi li occhi [›Wenn du die Augen siehst‹]. Der Begräbnisformel 12 nuda e fredda giace [›nackt und kalt liegt sie‹] folgt üblicherweise die Wendung in terra [›in der Erde‹] oder in pace [›in Frieden‹], doch die Schlußwendung 14 in terra pace [›Frieden auf Erden‹] läuft der Weise des Requiems zuwider. 6.1. Die grundlegende Übereinstimmung zwischen benachbarten Strophen besteht in einem gewissen Parallelismus zwischen dem Beginn der Anfangs- und dem Ende der Schlußstrophe – quod non aliud esse videtur quam quedam ipsius stantie concatenatio pulcra [›das ist nichts anderes als eine schöne Zusammenkettung der Stanze selbst‹].69 Jede nachfolgende Strophe beginnt mit einer umgekehrten Wiederholung der grammatischen Konstruktion, die in der Schlußzeile der vorangehenden Strophe vorlag. Die aufeinanderfolgenden Zeilen der benachbarten Strophen sind eng miteinander verbunden, aber keine dieser Zeilen hängt von der anderen ab. 6.2. Beide aneinander grenzenden Zeilen der inneren Strophen enthalten Formen transitiver Verben in der dritten Person des »passato prossimo«, aber in II (–1) geht dem Hilfsverb das Objekt voran, und das Partizip folgt ihm – ch’elli ha gia` sparto [›das er bereits verströmt hat‹], während III (+1) eine umgekehrte Reihenfolge aufweist – e messo ha di paura tanto gelo [›und hat gelegt solch einen Schreckensfrost‹]. 6.3. Beide Anfangsstrophen sind durch zwei koordinierte Konjunktivformen der zweiten Person – I (–1) svaghi [›befreiest‹] und II (+1) paghi [›bestrafest‹] – miteinander verbunden; die Anordnung des transitiven 68 Bezüglich des Bisticcio [*›Wortspiel‹], das diese beiden Wörter verbindet, siehe Biadene, »Morfologia del Sonetto«, S. 162–164. [Anm. v. R.J. / P.V.] – »Il bisticcio risulta dal raccostamento di due o piu` parole, che differiscono tra loro soltanto per la diversita` di una o piu` vocali.« [›Das bisticcio ergibt sich, wenn zwei oder mehrere Wörter aufeinanderfolgen, die nur durch die Unterschiedlichkeit eines oder mehrerer Vokale voneinander abweichen.‹] A. a. O., S. 162 f. [Anm. d. Komm.] 69 De vulgari eloquentia, S. 268 (II, xiii, 6) / S. 75). [Anm. v. R.J. / P.V.] – Erneut entnehmen Jakobson und Valesio das Zitat aus De vulgari eloquentia einem Kontext, in dem Dante eigentlich über den *Endreim spricht. Die besagte concatenatio pulcra [›schöne Zusammenkettung‹] einer Kanzonenstrophe kommt ihm zufolge zustande, wenn der letzte Vers vor der diesis (also der letzte Vers der frons bzw. der pedes) mit dem ersten Vers nach der diesis (also dem ersten Vers der sirma bzw. der versus) reimt. [Anm. d. Komm.]
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Verbs und des direkten Objekts ist *chiastisch: das pronominale Objekt geht dem ersten Konjunktiv voraus, während der zweite Konjunktiv von einem abhängigen Objektsatz in II (+2) gefolgt wird. 6.4. Die benachbarten Zeilen in beiden Schlußstrophen enthalten Appositionen zu Personalpronomina: in III (–1) geht der Apposition das Pronomen voraus – ma tu, foco d’amor, lume del cielo [›aber du, Feuer der Liebe, Licht des Himmels‹] –, wohingegen sich die Apposition in IV (+1) – questa vertu` che nuda e fredda giace [›diese Tugend, die nackt und kalt da liegt‹] – auf das nachfolgende Pronomen, IV (+2) la [›sie‹], bezieht. Die Entsprechungen zwischen den Grenzzeilen in jedem Paar benachbarter Strophen werden durch die Verwendung morphologischer und syntaktischer Einheiten verstärkt, die in den anderen Zeilen des Sonetts nicht vorkommen: »passato prossimo« zwischen den beiden inneren Strophen, Konjunktivformen der zweiten Person zwischen den beiden Anfangsstrophen und Appositionen zwischen den beiden Schlußstrophen. Die letzte Zeile des ersten Terzetts ist darüber hinaus mit der nachfolgenden Strophe durch antonyme Wörter verbunden: III (–1) foco [›Feuer‹] – IV (+1) fredda [›kalt‹] entspricht III (+1) gelo [›Frost‹]; III (–1) cielo [›Himmel‹] – IV (–1) terra [›Erde‹]. Schließlich enden beide Terzette in einer Kette von Nasalen, die sonst in diesem Sonett unüblich sind – dunklen in III (–1) ma, amor, lume und hellen in IV (–1) mit ihrem vierfachen /n/ (s. o. 5.4). Diese Sequenzen von *Sonoren rahmen das abschließende Gebet, dessen vier Zeilen sich auch in rhythmischer Hinsicht vom Rest des Gedichts unterscheiden. Sie neigen dazu, die Wortbetonung von der Hebung zur vorangehenden Senkung zu verschieben und bilden somit fünf *choriambische Konfigurationen sui generis mit einer Senkung auf der ersten Wortbetonung: zwei davon in der elften und eine in jeder darauf folgenden Zeile. Im letzten Terzett liegt die Betonung auf der ersten Senkung jeder Zeile, während in der elften Zeile beide betonten Senkungen, eingeleitet von einer syntaktischen Pause,70 auf die inneren Silben fallen und so eine herausfordernde Nachbarschaft zweier Silben mit Wortbetonung entsteht: 11 ma tu`, fo´co d’amo´r, lu´me del cie´lo, 12 que ´sta vertu´ 〈…〉, 13 le´vala su´ 〈…〉, 14 che´ sanza le´i 〈…〉.71 Die Diärese nach der zweiten Hebung in den letzten beiden Zeilen ist offensichtlich gemäß 12 que´sta vertu´ gestaltet (vgl. oben, 5.5). 70 Vgl. Jakobson, »Linguistics and Poetics«, S. 29; dt. Übs. in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 174. 71 Zingarelli (Nuovo vocabolario della lingua italiana) vermutet, daß sanza für senza [›ohne‹] »in posizione proclitica« [›in *proklitischer Position‹] steht.
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7.1. Jede der vier Strophen zeigt individuelle grammatische Wesenszüge und kann durch die Dominanz einer anderen Wortart charakterisiert werden.72 Der subjektive Lyrizismus des ersten Quartetts stattet es mit den einzigen drei Formen (einer verbalen und zwei pronominalen) der ersten Person und mit der höchsten Frequenz von Pronomina (39% der Gesamtmenge) aus. Das zweite, epischste Quartett mit seinen acht finiten Verbformen (44% der finiten Verben des Sonetts) und den einzigen beiden Temporaladverbien – 6 poi [›dann‹], 8 gia` [›bereits‹] – besitzt fünf Ebenen von Nebensätzen gegenüber einer oder zwei Ebenen in anderen Strophen. Die dritte, kontemplative Strophe senkt die Zahl der finiten Verben auf ein Paar, aber erreicht die höchste Zahl an Substantiven – nämlich acht (36%), unterteilt in vier Paare von Bezugswörtern und adnominalen *Modifikatoren und somit in vier substantivische Tropen.73 Das abschließende Terzett ist eine Strophe beschwörender Metamorphosen, die auf den Kontrasten 12 giace [›sie liegt‹] – 13 levala [›hebe sie auf‹] sowie 12 nuda [›nackt‹] – 13 vestita [›gekleidet‹] aufbauen und durch die Antonyme 9 gelo [›Frost‹] – 11 foco [›Feuer‹] vorbereitet sind. Es enthält drei der sieben Adjektivformen, die in dem Sonett verwendet werden (zwei eigentliche Adjektive und ein Partizip), und alle drei fungieren hier im Gegensatz zu den vier adnominalen Adjektiven der vorangehenden Strophen nicht als Modifikatoren von Nomina, sondern von ganzen Teilsätzen – 12 che nuda e fredda giace [›die nackt und kalt da liegt‹] und 13 levala su vestita [›hebe sie auf, gekleidet‹] – und zwar im Einklang mit dem bewegten, transfigurativen Charakter dieser Bildlichkeit.74 7.2. Die partium habitudo [›Ordnung der Teile‹] 75 des Sonetts, die auf den architektonischen Wechselbeziehungen zwischen seinen Strophen basiert, wird deutlich sichtbar. 72 Ähnlich argumentiert Jakobson schon in seiner Marvell-Analyse (SW VII, S. 342– 344 u. 347 f.; dt. Übs. in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 678–681 u. S. 685 f.). [Anm. d. Komm.] 73 Für die sostantivi seriati [›aneinandergereihten Substantive‹] in Dantes Sonettzeilen siehe Contini, »Esercizio d’interpretazione sopra un sonetto di Dante«, S. 294. 74 Die Besprechung des zweiten Terzetts zeigt deutlich, daß sich Jakobson und Valesio der Terminologie der traditionellen Hermeneutik zu entziehen versuchen: Bezeichnenderweise gebrauchen sie hier zwar den traditionellen Begriff imagery, vermeiden aber den naheliegenden Terminus Allegorie, mittels dessen Foster und Boyde (Dante’s Lyric Poetry, S. 293) die fragliche Textpassage als »allegorization of justice as a suffering woman« [›Allegorisierung der Gerechtigkeit als leidende Frau‹] charakterisieren. [Anm. d. Komm.] 75 Dante, De vulgari eloquentia, S. 240 (II, ix, 4) / S. 68. [Anm. d. Komm.]
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Erstes Quartett. Des Dichters individuelle Angst und Gebet: Göttliches Eingreifen wird erfleht, um seinen Frieden wiederherzustellen. Zweites Quartett. Für den Mörder wird Strafe gefordert, und der Mord an der Gerechtigkeit wird geschildert. Erstes Terzett. Allgemeine Furcht und Schweigen; aber die göttliche Liebe wird beschworen. Zweites terzett. Auferstehung der Tugend wird erstrebt und imaginiert, um Frieden auf Erden zu begründen. 7.3. ›Sie‹, das Hauptthema, das Leitmotiv des Sonetts – ob Vertu` [›Tugend‹] oder Giustizia [›Gerechtigkeit‹] genannt, was ihre menschlichste Erscheinungsweise ist,76 oder Pieta` [›(Mit-) Leid‹] und Paura [›Angst‹] als menschliche Reaktionen auf das Martyrium der Tugend – zeigt sich untrennbar verbunden mit der Gottheit und gerettet durch das ›Feuer der Liebe‹. Die dritte Zeile des Schlußterzetts vereinigt drei bedeutsame Feminina in der Vorwegnahme ihrer triumphalen triadischen Verbindung mit der vom ›Licht des Himmels‹ erleuchteten terra [›Erde‹] und mit dem ersehnten pace [›Frieden‹] (nota bene: dieses invertierte und dadurch akzentuierte Wort schließt das Sonett ab und figuriert als sein einziges nominales Subjekt – siehe 3. 2 – als einziges feminines Substantiv in recto).77 Beide abschließenden Nomina werden darüber hinaus durch das Fehlen von Artikeln hervorgehoben. Mit Sapirs Begriffen 78 könnte man sagen, daß die »Existenten« die »Okkurenten« ersetzen, wie es die überwiegend substantivischen Reime der Terzette im Gegensatz zu den verbalen Reimen der Quartette erkennen lassen (s. o. 2.4) sowie der scharfe Kontrast zwischen dem gesamten grammatischen Inventar der beiden inneren Strophen und der Fülle von Verben im Quartett und der Nomina im Terzett (s. o. 7.1). Ferner unterscheidet sich die Eventualität der Konjunktive in der ersten Anrufung des Herrn (die restriktive Bedingung, die Abhängigkeit vom Hauptverb und der subjektive Ton der Bitte) in auffälliger Weise von der zweiten 76 »〈…〉 onde, avvegna che ciascuna vertu` sia amabile ne l’uomo, quella e` piu` amabile in esso che e` piu` umana, e questa e` la giustizia 〈…〉« [›denn wenn es stimmt, daß jede menschliche Tugend liebenswürdig ist, dann ist diejenige am liebenswürdigsten, die zugleich am menschlichsten ist, und das ist die Gerechtigkeit‹] (Dante, Il Convivio, S. 26 – I, xii, 9). 77 Die anderen femininen Substantive und das Pronomen ›sie‹ spielen auch eine Rolle, aber in obliquo. [Anm. v. R.J. / P.V.] – In recto bedeutet, dass ein Substantiv im Nominativ bzw. als Subjekt erscheint, während in obliquo meint, dass es in einem abhängigen *Kasus bzw. als Objekt auftritt. [Anm. d. Komm.] 78 Vgl. Sapir, »Totality«, S. 3; vgl. Sapir, Selected Writings, S. 123.
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Anrufung mit ihrem bedingungslosen und distanzierten Imperativ. Die durchgängig pronominalen Objekte dieser konativen Formen sind voller Bedeutung: während die Konjunktive auf die Augen des Bittenden – 4 i [›sie‹] – und des Angreifers – 6 chi 〈…〉 [›der‹] – deuten, zielt der Imperativ direkt auf die Tugend – 13 la [›sie‹]. Die vielfältige Entsprechung zwischen der Klimax des Sonetts und dem Übergang von den Quartetten zu den Terzetten muß damit konfrontiert werden, daß Dante ungeraden Zahlen (numeris imparibus 79 ) in Versstrukturen, besonders Triaden, eine höhere formale Perfektion zuschreibt, im Gegensatz zur unterstellten ruditas [›Kunstlosigkeit‹] von paarigen Anordnungen (s. o. 1.3).80 7.4. In Verbindung mit der Neigung des Dichters zu lo numero del tre [›Dreizahl‹] ist es besonders bemerkenswert, daß die besprochene morphologische Textur des Sonetts ein deutliches Wechselspiel zeigt zwischen seiner doppelten Dichotomie und einer anderen partium habitudo [›Ordnung der Teile‹] 81, nämlich einer kompositorischen Dreiteilung, die dem Sonett ein Zentrum und zwei äußere Fünfzeiler zuweist. Seine zentralen vier Zeilen, 6–9, unterscheiden sich von den vorangehenden fünf, 1–5, und von den folgenden fünf, 10–14, hinsichtlich ihres Monopols auf finite Verben und Pronomina in der dritten Person und auf das maskuline *Genus der Pronomina, wohingegen jede Zeile des eröffnenden und des schließenden »Quintetts« Pronomina der ersten oder zweiten Person und /oder des Femininums darbietet. In diesen Quintetten gehören fünf Verben zur ersten und zweiten Person, und vier der sechs Verben in der dritten Person beziehen sich auf Feminina, während zwei auf Maskulina bezogene Verben in den Übergangszeilen auftreten, die an den zentralen Abschnitt angrenzen – 5 cio` `e [›das heißt‹] und 10 ciascun tace [›jeder schweigt‹]. Die sieben Verben in den mittleren vier Zeilen stehen in der dritten Person und beziehen sich auf Maskulina. Alle Verben und Pronomina in diesem zentralen Abschnitt, aber nirgendwo sonst im Sonett, bezeichnen den Mörder der Gerechtigkeit oder seinen Komplizen. Der zweizeilige 79 Dante, De vulgari eloquentia, S. 202 (II, v, 7) / S. 59. [Anm. d. Komm.] 80 Vgl. Schmarsow, Kompositionsgesetze in der Kunst des Mittelalters, Bd. 3. Das ursprüngliche italienische Sonett betrachtet der Autor als »eine poetische Form nach dem gotischen Prinzip des Aufstiegs. 〈…〉 Die beiden Vierzeiler gehören als Stollen nebeneinander, darüber zusammenfassend der Sechszeiler, entweder einheitlich aufgeführt oder wieder paarig mit näherer Beziehung zu den beiden vorangegangenen Strophen, aber nicht als Abgesang, sondern als Hochgesang.« (S. 42) [Anm. v. R.J. / P.V.] – Zitat im Original auf deutsch, ohne Schmarsows Kursivierungen. [Anm. d. Übs.]. 81 Dante, De vulgari eloquentia, S. 240 (II, ix, 4) / S. 68. [Anm. d. Komm.]
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Kern dieser Passage und des Sonetts insgesamt, 7–8, der durch eine lokkere Lautfigur – al gran 〈…〉 allaghi – gerahmt wird und auf die giftigen Aktivitäten der beiden Übeltäter konzentriert ist, bezeichnet einen von ihnen als gran tiranno [›großen Tyrann‹]; und indem er die Verschwörung der beiden Widersacher über die vier untersten Ebenen des hypotaktischen Zyklus verfolgt, kommen Relativpronomina in ihrer Objektfunktion zur Anwendung – 7 cui [›dessen‹], 8 ch(e) [›das‹] –, die wir nirgendwo sonst in diesem Gedicht finden. Die letzte Zeile des zentralen Zweizeilers ist durch eine Gruppe von drei finiten Verben markiert: 8 ha sparto [›hat verströmt‹] – vuol [›will‹] – allaghi [›überflute‹]. 7.5. Das einzige finite Verb in der ersten Person – 3 priego [›ich bitte‹] – steht als »performatives« Verb in Opposition zu allen anderen »konstativen« Verben des Sonetts, entsprechend der Klassifikation und Terminologie von J. L. Austin, die von E. Benveniste benutzt und linguistischen Zwecken angepasst und von dem erstgenannten Autor als »exerzitives« 82 Verb weiter spezifiziert wurde. Finite Verben in der zweiten Person erscheinen nicht in assertiven Formen von Teilsätzen, sondern nur in Wünschen und Bedingungssätzen (1 se vedi [›wenn du siehst‹]; die Konjunktive 4 svaghi [›befreiest‹], 5 paghi [›bestrafest‹]; der Imperativ 13 leva [›hebe auf‹]), während finite Formen der dritten Person hier in der Regel in Tatsachenaussagen vorkommen – mit Ausnahme des Konjunktivs 8 che’l mondo allaghi [›daß es die Welt überflute‹], der in eindringlichem semantischen Kontrast steht zu dem Konjunktiv der zweiten Person 5 che paghi [›daß du bestrafest‹], dem Wunsch des Absenders, der an den himmlischen Adressaten gerichtet ist. 7.6. Beide Vorkommen des Pronomens lei [›sie‹] bilden einen Binnenreim mit den Anfangszeilen beider »Quintette«: 1 occhi miei – 3 per lei 82 Benveniste, »La philosophie analytique et le langage«, S. 274: »Un e´nonce´ est performatif en ce qu’il de´nomme l’acte performe´, du fait qu’Ego prononce une formule contenant le verbe a` la premie`re personne du pre´sent 〈…〉. Ainsi un e´nonce´ performatif doit nommer la performance de parole et son performateur.« [›Eine Aussage ist performativ, insofern sie die vollbrachte Handlung nennt, aufgrund der Tatsache, daß Ego eine Formel ausspricht, die das Verb in der ersten Person Präsens enthält 〈…〉. So muß eine performative Aussage die Redeperformanz und ihren Ausführenden nennen.‹ – Benveniste, »Die analytische Philosophie und die Sprache«, S. 305– 306] – Austin, How to Do Things with Words, S. 154: »An exercitive is the giving of a decision in favour of or against a certain course of action, or advocacy of it. It is a decision that something is to be so, as distinct from a judgement that it is so« [›Eine exerzitive Äußerung besteht darin, daß man für oder gegen ein bestimmtes Verhalten entscheidet oder spricht. Sie ist eine Entscheidung, daß etwas so oder so sein solle, und kein Urteil, es sei so‹ – Austin, Zur Theorie der Sprechakte, S. 170].
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und 10 tuo’ fedei – 14 sanza lei. Die Substantive, die die Leidenden bezeichnen, reimen sich mit dem Pronomen, das auf den Grund ihres Schmerzes verweist. Neben dem Ersatz 4 i [›sie‹] für occhi miei [›meine Augen‹], sind die beiden zitierten Kombinationen von Substantiven und Possessivpronomina, mit einem /o´/ und einem /e´i/ auf den zweiten bzw. dritten Hebungen, die einzigen Erscheinungsformen des nominalen und pronominalen Plurals innerhalb des Sonetts. Beide Nomina zeigen eine synekdochische Beziehung zwischen den beiden grammatischen *Numeri – pro multo unus vel pro uno multi ponuntur.83 Der Singular ›ich‹ wird durch den Plural ›meine Augen‹ (tatsächlich eine natürliche Einheit aus zwei Bestandteilen) als *pars pro toto substituiert. In der Wendung nel cor de’ tuo’ fedei [›ins Herz deiner Gläubigen‹] ist der Singular cor [›Herz‹] eine grammatische und lexikalische Synekdoche im Hinblick auf den Plural fedei [›Gläubige‹], und andererseits nimmt dieser Plural, wenn er zum Subjekt befördert wird, die Form eines »singularisierenden Totalisierers« an – ciascun tace [›jeder schweigt‹] (s. o. 3.7). Somit belegen die scheinbaren Ausnahmen von der Vorherrschaft der Singularität im Sonett eher die Stärke der Tendenz, jedes Wesen in seiner Einzigartigkeit zu zeigen; und sie können als überzeugende Illustrationen der strengen und mächtigen Regeln dienen, die die grammatische Textur von Dantes Rime [›Gedichte‹] formen. 7.7. Die Mannigfaltigkeit, Allgegenwart, Klarheit und die bedeutsame symbolische Aufladung der formalen und semantischen Symmetrien und Entsprechungen setzen diese Dichtung offenkundig in Beziehung mit der Kunst Giottos 84 und solch unterschiedlicher Bildhauer wie Arnolfo di Cambio und Giovanni Pisano. Unter den allegorischen Darstellungen der artes liberales, durch den letzteren, die den Stadtbrunnen von Perugia zieren, weisen die *Figuren der Grammatik und der Geometrie in ihrer Körperhaltung eine große Ähnlichkeit auf. Wurde die Verwandtschaft zwischen den zwei Verkörperungen des Wissens von den Bildhauern auf dieselbe Weise erfaßt wie von dem Scholastiker Robert Kilwardby? 85 Der in Dantes Convivio [›Gastmahl‹] 86 vorgenommene Vergleich 83 Vgl. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, S. 297 (§ 573). 84 Man kann schwerlich hartnäckige Assoziationen mit Dante und seinem zitierten Sonett vermeiden, wenn man über Giottos Werke nachdenkt oder wenn man solche Reaktionen darauf liest wie Schmarsows Überlegung, daß »die Malerei nur mit Hilfe der tektonischen Gruppierung nach Art eines symmetrisch-proportionalen Aufbaues den Beschauer zum Stillstand der Schau hinleitet« (Schmarsow, Italienische Kunst im Zeitalter Dantes, S. 111).
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zwischen der Ordnung der Himmel und der Wissenschaften nimmt das besondere Vermögen der beiden, der Grammatik und der Geometrie, in ihrer internen Spannung wahr: La Geometria si muove intra due repugnati a essa, sı`come ’l punto e lo cerchio, 〈…〉 tra principio e fine [›Die Geometrie bewegt sich zwischen zwei ihr Widerstreitenden, nämlich zwischen dem Punkt und dem Kreis, 〈…〉 dem Anfang und dem Ende‹] 87, während bei der Figur der Grammatik ihre mondgleichen chiaroscuro-Kontraste 88 (luce or di qua or di la` [›sie leuchtet mal von hier und mal von da‹] 89 ) herausgestellt werden, und zwar als vom kontinuierlich wandel- und umkehrbaren Charakter ihrer Bestandteile herrührend.90 Die poetische Grammatik mit ihrer Auswahl und ihrem Zusammenspiel von certi vocaboli, certe declinazioni, certe construzioni [›gewisse Vokabeln, gewisse Deklinationen und gewisse Konstruktionen‹] 91 und in der Bildenden Kunst die Geometrie mit sua ancella, che si chiama Perspettiva [›ihre Magd, die Perspektive genannt wird‹] 92 öffnen ein neues und weites Feld für eine vergleichende Untersuchung.93 Die Dichtung des dolce stil 85 Siehe Jakobson, »Poetry of Grammar and Grammar of Poetry« (SW III, S. 94 f.) [Anm. v. R.J. / P.V.] – Vgl. die deutsche Übersetzung dieser stark gekürzten englischen Fassung von »Poe˙zija grammatiki i grammatika poe˙zii« (SW III, S. 63–86) in: Aufsätze zur Linguistik und Poetik, S. 247–260, hier S. 255. Eine kommentierte Übersetzung der russischen Originalfassung findet sich in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, hier S. 256–301. [Anm. d. Komm.] 86 Dantes Werk Il Convivio [›Das Gastmahl‹] entstand zwischen 1304 und 1307 und blieb unvollendet. Dante lädt seine Leser zu einem Bankett ein, wo neben den ›Speisen‹, bestehend aus Kanzonen Dantes, auch Kommentare als ›Brot‹ aufgetragen werden. Ausgehend von seinen Gedichten entwickelt Dante in den vier Büchern des Convivio – geplant waren ursprünglich vierzehn – seine zentralen philosophischen, politischen und poetologischen Prinzipien in der Volkssprache. [Anm. d. Komm.] 87 Dante, Convivio, S. 62 (II, xiii, 26–27) / Gastmahl, S. 79. 88 Dante setzt im zweiten Buch des Convivio jede ars liberalis zu einem Planetenhimmel in Bezug. Die Grammatik assoziiert er dem Mondhimmel, den er durch den Gegensatz von Licht und Schatten gekennzeichnet sieht. Wie der Mond vom Sonnenlicht, kann auch die Grammatik nur teilweise vom Licht der Vernunft erreicht werden: Zeitweise werden ihre Bereiche ganz von der Helligkeit erfasst, zeitweise bleiben sie völlig im Dunkeln; differenzierte Schattierungen gibt es nicht. [Anm. d. Komm.] 89 A. a. O., S. 60 (II, xiii, 10) / S. 73. 90 Vgl. a. a. O., S. 59–60 (II, xiii, 9–10). 91 A. a. O., S. 60 (II, xiii, 10) / S. 73. 92 A. a. O., S. 62 (II, xiii, 27) / S. 79. 93 Vgl. hierzu grundsätzlich Jakobson, »Poe˙zija grammatiki i grammatika poe˙zii«, bes. Kap. III ›Grammatik und Geometrie‹ (SW III, S. 75–78; dt. Übs. in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, hier S. 281–285). [Anm. d. Komm.]
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novo 94 mit ihrer komplexen und wirksamen grammatischen Textur und die zeitgenössischen Schönen Künste, die von den zwingenden Gesetzen der geometrischen Komposition 95 durchdrungen sind, drängen die zentrale und bis jetzt unerforschte Frage nach den parallelen strukturellen Verfahren auf, welche die sprachlichen, malerischen und bildhauerischen Meisterwerke des frühen 14. Jahrhunderts formen. Editorische Notiz Verfaßt in Cambridge, Mass., 1964, vorgetragen an verschiedenen italienischen Akademien und Universitäten während R. Jakobsons Besuch in Italien 1964 und erstmals publiziert in Studi Danteschi 43 (1966), S. 7–33.
Literatur Jakobsons und Valesios eigene Literaturangaben sind mit ° gekennzeichnet. ° Austin, John L.: How to Do Things with Words, Cambridge /Mass.: Harvard
University Press 1962. – Zur Theorie der Sprechakte, deutsche Bearbeitung v. Eike von Savigny, Stuttgart: Reclam 1972 (= Universal Bibliothek Nr. 9396–98). ° Be˙lza, Igor: »Zametki o zvukovom stroe dantovskogo sticha« [›Anmerkungen zum lautlichen Bau des Verses bei Dante‹], in: Izvestija Akademii Nauk SSSR. Serija literatury i jazyka XXIV (1965), H. 6, S. 485–492. ´ mile: »La philosophie analytique et le langage«, in: ders., Proble`mes ° Benveniste, E de linguistique ge´ne´rale, Paris: E´ditions Gallimard 1966, S. 267–276. – »Die analytische Philosophie und die Sprache«, in: ders., Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, übs. v. Wilhelm Bolle, München: List 1974. S. 297–307. ° Biadene, Leandro: »Morfologia del Sonetto nei sec. XIII e XIV« [›Morphologie des Sonetts im 13. und 14. Jahrhundert‹], in: Studi di Filologia Romanza 4 (1889), S. 1–234. 94 Der Begriff des dolce stil novo [›süßer neuer Stil‹] bezeichnet eine Dichterschule, die in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts in Florenz entstand und hauptsächlich Liebeslyrik hervorbrachte. Neben Dante sind als deren Hauptvertreter vor allem Guido Guinizelli, Guido Cavalcanti und Cino da Pistoia zu nennen. [Anm. d. Komm.] 95 »The spatial rhythm which permeates the plane surface with movement and provides it with a captivating flexibility« [›Der räumliche Rhythmus, der die ebene Oberfläche mit Bewegung durchdringt und sie mit einer fesselnden Flexibilität ausstattet‹] wurde als Giottos »consummate mastery« [›vollendete Meisterschaft‹] hervorgehoben (Lazarev, Proischozˇdenie ital’janskogo Vozrozˇdenija, Bd. 1, S. 185).
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° Contini, Gianfranco: »Esercizio d’interpretazione sopra un sonetto di Dante«
[›Interpretationsübung an einem Sonett Dantes‹], in: L’immagine V (1947), S. 289–312. Dante Alighieri: Dante’s Lyric Poetry, hg. v. Kenelm Foster u. Patrick Boyde, 2 Bde., Oxford: Oxford University Press 1967. — Dantes lyrische Gedichte, hg. v. Albert Ritter, Berlin: Gustav Grosser 1921. ° — De vulgari eloquentia, hg. v. Aristide Marigo, 3. Aufl. Firenze: Felice Le Monnier 1957. – Über das Dichten in der Muttersprache, übs. u. komm. v. Franz Dornseiff u. Joseph Balogh, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1966. ° — Die Göttliche Komödie, italienisch und deutsch, übs. u. komm. v. Hermann Gmelin, 6 Bde., Stuttgart: Ernst Klett Verlag 1963. ° — Il Convivio, hg. v. Maria Simonelli, Bologna: Casa Editrice Prof. Riccardo Pa`tron 1966. – Das Gastmahl, übs. u. komm. v. Thomas Ricklin, Hamburg: Meiner Verlag 1996 (= Philosophische Werke, 4 Bde., hg. v. Ruedi Imbach, Bd. 4). ´ ditions Gallimard 1965. ° — Œuvres comple`tes, übs. v. Andre´ Pe´zard, Paris: E — Rime della maturita` e dell’esilio [›Gedichte der Reife- und Exilzeit‹], hg. v. Michele Barbi u. Vincenzo Pernicone, Firenze: Felice Le Monnier 1969. ° — Rime [›Gedichte‹], hg. v. Gianfranco Contini, Torino: Giulio Einaudi 1965. — Vita nuova. Rime [›Das neue Leben. Gedichte‹], hg. v. Fredi Chiappelli, 12. Aufl. Milano: Mursia 1998. Elwert, Wilhelm Theodor: Italienische Metrik, 2. Aufl. Wiesbaden: Steiner 1984. ° Fubini, Mario: Metrica e poesia. Lezione sulle forme metriche italiane [›Metrik und Lyrik. Lektionen über die Formen der italienischen Metrik‹], Milano: Feltrinelli 1962. ° Hopkins, Gerard Manley: The Journals and Papers, hg. v. Humphrey House, vervollständigt v. Graham Storey, London, New York, Toronto: Oxford University Press 1959. Jakobson, Roman Osipovicˇ: »Andrew Marvell’s Poem ›To His Coy Mistress‹«, in: SW VII, S. 341–348. – »Andrew Marvells Gedicht ›An seine spröde Herrin‹«, übs. v. Sara Terpin und Susanne Weiss, komm. v. Daniella Jancso´, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 672–687. ° — »Linguistics and Poetics«, in: SW III, S. 18–51. – »Linguistik und Poetik«, übs. v. Stephan Packard, komm. v. Hendrik Birus, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 154–216. ° — »Poetry of Grammar and Grammar of Poetry«, in: SW III, S. 87–97.– »Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie«, übs. v. Randi Agnete Hartner u. Wolfgang Raible, in: Aufsätze zur Linguistik und Poetik, S. 247–260. — »Poe˙zija grammatiki i grammatika poe˙zii«, in: SW III, S. 63–86.– »Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie«, übs. u. komm. v. Sebastian Donat, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 256–301. — »Stichotvornye proricanija Aleksandra Bloka«, in: SW III, S. 544–567. – »Lyrische Prophezeiungen Aleksandr Bloks«, übs. u. komm. v. Sebastian Donat, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 452–491.
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Siluans Lobpreis auf den Hl. Sava 1 Übersetzung aus dem Russischen Alexander Nebrig und Erika Greber
Kommentar Erika Greber Die beiden Analysen spätmittelalterlicher kirchenslavischer Eulogien »Siluans Lobpreis auf den Hl. Sava« und »Siluans Lobpreis auf Simeon« in ihren verschiedenen Fassungen (1961, 1975 und 1981) 2 bilden ein Ensemble, dem in Jakobsons Œuvre besondere Bedeutung zukommt, denn es macht zum einen bestimmte Theorieentwicklungen spektakulär sichtbar, und zum anderen ist es ein Zeugnis seines Spezialistentums als Mediävist und Slavist. Die 1
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Vorlage: Jakobson, Roman Osipovicˇ: »Siluanovo slavoslovie Sv. Save«, in: SW III, S. 193–205. Serbische Erstfassung: »Struktura dveju srpskohrvatskih pesama. I. Siluanovo slavoslovie Sv. Save«, in: Zbornik za filologiju i lingvistiku 4–5 (1961– 1962), S. 131–135. [Anm. d. Übs.] – Gegenüber der serbischen Erstfassung unterscheidet sich die russische Version durch kleinere Umstellungen und durch einige Zusätze. Die Zusätze dienen entweder der vernetzenden Strukturierung der Gesamtanalyse, der Präzisierung einzelner Beobachtungen oder der stärkeren Herausarbeitung der Strukturbefunde; methodologisch wesentliche Aspekte sind im Kommentar bzw. in der Einleitung vermerkt. – In der Erstpublikation waren alle Primärzitate durch andere Schrifttype (altertümlich stilisierte Lettern) abgehoben, was die Alterität des Kirchenslavischen bewußtmachte. Bei der in SW III wiederabgedruckten Fassung fehlte die optische Markierung der Primärzitate. – Die Primärtexte sind heute leicht zugänglich im Internet anthologisiert: Staro srpsko metafizicˇko pesnisˇtvo (auf einer Website der in Stockholm erscheinenden zweisprachig schwedisch-serbischen Kulturzeitschrift Dijaspora). [Anm. d. Komm.] Hier ein Überblick über das etwas komplizierte Textensemble: 1961: serbisch geschriebener Aufsatz über Siluans Eulogie auf den Hl. Sava – 1970, publ. 1975: russischer Aufsatz über Siluans Eulogie auf Simeon (mit zahlreichen Rückbezügen auf den ersten Text) – 1981 (Selected Writings): russische Übersetzung und Ergänzung des ersten Aufsatzes plus englisches Summary, gefolgt vom Wiederabdruck des zweiten Aufsatzes. [Anm. d. Komm.]
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erste Siluan-Studie stellt ein – der westlichen Debatte über die reduktionistische »Les Chats«-Analyse vorausliegendes – abgerundetes östliches Pionierstück dar. Die hochstrukturierte Wortkunst der beiden Eulogien korrespondiert geradezu idealiter der strukturalistischen Betrachtungsweise und führt zur bewußten Wahrnehmung von Text als Textur und *Struktur. Zugleich konzediert Jakobson die historische Prägung und religiös-mystische Verankerung und erfaßt den hinter den reinen Techniken stehenden Sinn. Seine Beschäftigung mit Siluans Eulogien als poetischen Texten verstand er, wie aus einem Interview hervorgeht, 3 als Teil eines allgemeineren Projekts, nämlich, die künstlerischen Valeurs des Mittelalters und zumal der byzantinischen Kunst (auch der Ikonen und Fresken) für die Wahrnehmung seiner Zeitgenossen zu erschließen. Es gelte nicht nur, die unerwarteten Versstrukturen aufzudecken, sondern die Geschichte einer großen Poesie zu entdecken. Die Siluan-Analysen sind ein bedeutender Beitrag zum strukturalistischen Kerntheorem, daß Ausdrucks- und Inhaltsseite einander entsprechen und daß die Form semantisch motiviert sei. Es paßt perfekt zum Stil des sog. Wortflechtens (russ. »pletenie sloves«, serb. »pletenije sloves«), 4 dem die Texte epochengeschichtlich zuzuordnen sind. Als »Flechten von Wörtern« bezeichnen serbische, bulgarische und russische Hagiographen des 14./15. Jahrhunderts ihre ornamentale Dichtkunst. Die dem ornatus difficilis zugehörigen Verfahren wurzeln in der byzantinischen Rhetorik. Gemeinsame Sprache ist das Alt- oder Kirchenslavisch, die lingua franca der Slavia Orthodoxa, mit örtlich leicht verschiedenen Redaktionen (hier serbisch). Der asianisch-manieristische Stilkomplex ist dabei sakral motiviert: bei den zur Gottes- und Heiligenverehrung und zur Gebetsmeditation bestimmten Texten soll der reiche Ornatus eine Entsprechung von erhabenem Gegenstand und Ausdrucksmitteln des hohen Stils gewährleisten. Die mystischen Grundlagen liegen im Hesychasmus, der im 14. Jahrhundert auf dem Athos dominierenden spirituellen Ausrichtung. Aus Handschriften der dortigen serbisch-orthodoxen Klosterkolonie Hilandar sind die beiden Texte bekannt; sie sind den Klostergründern gewidmet, dem serbischen Nationalheiligen Sava (Begründer der autokephalen serbisch-orthodoxen Kirche) und dessen Vater Simeon (im vorklösterlichen Leben Fürst Stefan Nemanja, Begründer der NemanjidenDynastie). 5 Im serbischen Bereich gab es neben den Heiligenviten auch enkomiastische Verstexte, worunter die Siluans zu den prägnantesten gehören. 3 4 5
Jakobson, »Autour de la poe´tique«, S. 467 f. [Anm. d. Komm.] Vgl. Greber, »Pletenie sloves«; Trifunovic´, »Pletenije sloves«. [Anm. d. Komm.] Genaueres in der Einleitung zu »Siluans Lobpreis auf Simeon«, S. 495 f.), für den die historischen Details wichtiger sind. [Anm. d. Komm.]
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Das erste Enkomion gipfelt in einer typischen selbstreflexiven Texturmetapher, das andere ist ebenfalls von der Poetik des Wortflechtens geprägt. In Jakobsons Doppelstudie gibt es eine vielsagende Differenz zwischen der Erst- und der Zweitfassung: Zuerst übersieht Jakobson die autothematische Flechtmetapher völlig, in der revidierten Version registriert er sie als bloßen *Topos. Bezeichnenderweise ist es die thematische Seite des Wortflechtens, die Jakobson entgeht. Ansonsten erfaßt er alle Aspekte, die zu seiner sich herausbildenden Konzeption der »Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie« 6 gehören und die als formale Rekurrenzphänomene das Theorem der poetischen Sprachfunktion als Projektion der *Äquivalenz von der paradigmatischen auf die syntagmatische Achse fundieren – und eine vernetzte, eben ›geflochtene‹ Struktur (Textur) bilden. Jakobsons Analyse zeigt die Nähe von literarisch intrikater Textur und literaturtheoretischem Text(ur)konzept. Auf die obigen Hintergrundinformationen konnte Jakobson in den Fachkontexten der Erstpublikationen zwar verzichten, aber seine Vernachlässigung der Flechtformel bedingte einen Ausschluß aus der gesamtslavistischen Debatte über das »pletenie sloves«, in die Jakobsons Beitrag erst jüngst eingespeist worden ist. 7 Die vorliegende Doppelstudie belegt, daß die Kenntnis der WortflechtStrukturen in einer verdeckten Weise bereits in die Thesen und Formulierungen seines strukturalistischen Modells eingegangen war. So ist auch erklärlich, daß die Forschung über »pletenie sloves« durch den Strukturalismus enorm vorankam, lieferten doch die an Jakobson geschulten Strukturalisten die passenden Konzepte und Termini. 8 Jakobsons eigene Terminologie ist in der frühen Phase noch weitgehend durch die Rhetorik – damals mediävistische Standardmethodologie – geprägt. Seine Doppelstudie bildet daher auch so etwas wie ein Dokument des Methodenumbruchs und Unterpfand der Affinität des Strukturalismus zur Neorhetorik. 9 In den Siluan-Analysen zeigt sich die *Anagrammtheorie in statu nascendi. Das Saussuresche Anagrammkonzept 10 war 1961, zur Zeit der serbi6
Vgl. seinen gleichzeitig publizierten Aufsatz über die »Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie«, in deutscher Neuübersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 256–301. [Anm. d. Komm.] 7 Vgl. Greber, »Von der autoreflexiven Poesie«, u. dies., »Text als ›texture‹«. [Anm. d. Komm.] 8 Zitatbeispiele in Greber, »Von der autoreflexiven Poesie«, S. 144 u. 153 f. [Anm. d. Komm.] 9 Vgl. Lachmann, Die Zerstörung der schönen Rede, Kap. XI »Konzepte der poetischen Sprache: Neorhetorik und Dialogizität«. [Anm. d. Komm.] 10 Zu Saussures Anagrammarbeiten vgl. Starobinski, Les mots sous les mots; zur Theoriegeschichte der Anagrammatik vgl. Greber, »Gittergewebe«. [Anm. d. Komm.]
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schen Erstfassung, unbekannt. Dennoch profiliert Jakobson das Wort »sveˇtilo« /›Licht‹ genau im Sinne von Saussures »mot-the`me« als jenes Themenwort, das den heiligen Namen anagrammiert und aus seinem Lautmaterial den gesamten Text generiert. Im 1981 hinzugefügten englischen Abstract ist das Phänomen konzise zusammengefaßt im Begriff der intrikaten Textur (»intricate *paronomastic texture«) und in der Vorstellung von der texturschaffenden Funktion des Kernworts. Der Begriff der Emanation stellt eine dem sakralen Gegenstand gemäße Umformulierung des Anagrammkonzepts dar. Jakobsons Doppelstudie gibt die allmähliche Einkreisung des Anagrammphänomens zu lesen: mit Begriffsanleihen aus verschiedensten Disziplinen versuchte er, die Idee terminologisch zu fassen. – Paronomasie – ein (aus der klassischen Rhetorik stammender) in der Wortflechtenforschung gängiger Terminus, der das Zusammenspiel von Laut und Bedeutung akzentuiert – Lautbild oder Lautgestalt / »zvukoo´braz« – ein (aus der Verstheorie des russischen Symbolismus stammender) Begriff des Formalismus, der die symbolisierende semantische Potenz der Signifikanten hervorhebt – Laut-Metathesen / »zvukovye metatezy« – ein Begriff der Linguistik, der die Permutation profiliert – Lautwiederholungen / »zvukovye povtory« – ein (zwar un-terminologisch klingender, aber fest definierter) Terminus aus der formalistischen Theorie der Lautinstrumentierung – Lautfaktur / »zvukovaja faktura« – von »faktura« / Faktur, dem formalistischen Vorläufer des heutigen Texturbegriffs – »texture« – ein affiner Terminus der (post)strukturalistischen Texttheorie, den Jakobson in der Endfassung 1981 aufgreift Jakobsons Begriffsserie, an einem Wortflechttext entwickelt, zeigt, daß er schon 1961 auf dem Weg zur Konzeptualisierung des Anagramms war und daß die Poetik des Wortflechtens mit ihren Buchstabenverflechtungen dabei zum Schrittmacher wurde. Mit seinem kryptischen Beitrag zur Poetik des »pletenie sloves« schreibt sich Jakobson bezeichnenderweise genau in jene besondere Forschungslinie ein, die bevorzugt Verse (Hirmoi, Hymnen) und rhythmische Prosa 11 unter11 Die Poesie /Prosa-Problematik ist im slavischen Mittelalter höchst komplex (vgl. dazu Greber, »Pletenie sloves«, S. 81–93) und hängt natürlich vom historisch angemessenen Versbegriff ab. Jakobson gehört zu den Verfechtern der Vers-These. Jakobsons Bezugsautor Trifunovic´ dagegen schreibt, serbische ekklesiastische Dichtung sei nicht in Versen, sondern Kola verfaßt und es handle sich eher um rhythmisierte Prosa (Trifunovic´, »Stara srpska pojana poezije«, S. 307, Punkt 13 im französischen Re´sume´). [Anm. d. Komm.]
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sucht und die mit dem rhetorischen Instrumentarium der »schemata« des Gorgias und Isokrates arbeitet – jakobsonisch also: mit Äquivalenzverfahren. Dieses im russischen Zweig nicht prävalente Phänomen ist im serbischen stark ausgeprägt. Die von Jakobson ausgewählten Eulogien des wortflechtenden Mönchs Siluan stellen – auch nicht zuletzt aufgrund ihrer konzentrierten Kürze – ideale Prototypen strukturaler Textordnungen dar. Das Interesse am Vers entspricht Jakobsons Hang zur Poesie bei der Ausarbeitung seiner Theorie der Literarizität als Poetizität. Die hier analysierten Eulogien bieten dafür eine exzellente Grundlage, was sich auch in der ungewöhnlichen optischen Textpräsentation (Jakobson spricht von »Sektoren«) manifestiert. Die Segmentierung nach Art kombinatorischer Tafeln dient der Zurschaustellung von Versstrukturierung, Zahlenproportionalität und *Symmetrie. Noch deutlicher wird dies in den Diagrammen. Insbesondere die den »paronomastischen Verbindungen« geltende vierte Graphik veranschaulicht in räumlich-tabellarischer Form die für das Wortflechten charakteristischen Signifikantenmuster. So ist die eindringliche diagrammatische Darstellungsform gewissermaßen ein visueller Ausgleich für die anfängliche Nichtbeachtung der Flechtformel – eine Repräsentation und Bloßlegung der Wortflechtpoetik in einem anderen, nonverbalen Medium. Insofern Diagramme für Jakobson (wie für Peirce) zu den *ikonischen Zeichen gehören, 12 wendet er hier ein mimetisches Verfahren an; er befindet sich damit letztlich in Übereinstimmung mit der kratyleischen Vorstellung von der Nichtarbitrarität des Zeichens, die für die Mystik charakteristisch ist und auch dem hesychastischen Wortflechten zugrundeliegt, in dessen Kontext die Eulogien entstanden. Auch der schöne Gattungsbegriff, den Jakobson für Siluans enkomiastische Praxis wählt, ist eine Ausdrucksform des Wortflechtens: »slavoslovie« – eine wörtliche Übersetzung des griechisch-byzantinischen Gattungsbegriffs ›Eulogie‹ ins Altslavische, wo zusätzlich durch die Lautähnlichkeit zwischen ›Lob‹ und ›Wort‹ (»slava« / »slovo«) ein Paronomasie-Effekt entsteht. Mit diesen *Wortspielen hatte schon der Autor Siluan seinen eigenen klangähnlichen Namen im Schlußvers eingeschrieben. Jakobson greift dies im wissenschaftlichen Diskurs auf und überschreibt seine Doppelstudie mit Formulierungen im Stil des Wortflechtens. 13 Erika Greber 12 Vgl. Jakobson, »Quest for the Essence of Language«. [Anm. d. Komm.] 13 Für das anspruchslosere, noch nicht der Epoche des ornamentalen Wortflechtens angehörende Enkomion auf Gregor von Nazianz benutzt Jakobson den schlichten Gattungsbegriff pochvala (vgl. Jakobson, »Pochvala Konstantina Filosofa Grigoriju Bogoslovu«). [Anm. d. Komm.]
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Slavi Tamo Roda Tùm he Uma Tùm ubo Slova
otbùgnuv ot’ëdu svùtlostè rodu visota uma slavi
Slavu slava vùri svùtilo sana viwe Savù
obrùte, êvi se svùtlostè êvi se visotu dobrotu splete
Savo, rodu. prùzrù, vsemu. svrèhe, stihe. Siluan.
Slavi Tamo Roda Teˇm zˇe Uma Teˇm ubo Slova
otbeˇgnuv ot’judu sveˇtlostь rodu visota uma slavi
slavu slava veˇri sveˇtilo sana visˇe Saveˇ
obreˇte, javi se sveˇtlostь javi se visotu dobrotu splete
Savo, rodu. preˇzreˇ, vsemu. svrьzˇe, stizˇe. Siluan.
Dem Ruhm entsagend, hast du Ruhm gefunden, Sava, Von daher zeigte sich der Ruhm dem Geschlecht. Des Glaubens Glanz verachtete des Geschlechtes Glanz, Damit zeigte sich das Licht dem ganzen Geschlecht. Des Verstandes Größe verwarf des Adels Größe, Und dadurch hast du eine den Verstand überragende Schönheit 14 erlangt. Die Ruhmesworte 15 für Sava flocht Siluan.
14 ›Schönheit‹ als charakterliche Vollkommenheit in einem spirituellen Sinn; erst heute ist ›dobrota‹ festgelegt auf ›gut sein, Güte‹. Weiter unten paraphrasiert Jakobson diesen Doppelvers in modernem Russisch – eine von den grammatischen Bezügen her mögliche, aber in Lexik und Gesamtaussage weniger wahrscheinliche Lesart: »Die Größe des Verstandes überwand die Größe des Rangs und erhob eben dadurch das Gute über den Verstand.« Die Grundidee bleibt in jedem Falle dieselbe. [Anm. d. Komm.] 15 Gemeint ist der vorliegende Text, der Lobpreis, das Enkomion. Nur mittels der Wortwahl ›Ruhm‹ läßt sich die das Original prägende vielfache Wiederholung von slava (Ruhm, Preis, Lob) wiedergeben. [Anm. d. Komm.]
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Das Gedicht des Mönchs Siluan,16 das in einer Hilandarer 17 Handschrift des vierzehnten Jahrhunderts überliefert ist,18 gliedert sich in sieben Verse. Jeder Vers zerfällt in *Worteinheiten, d. h. in fünf betonte Wörter inklusive der einigen von ihnen angefügten *Enklitika. Die Verse enthalten nicht mehr als zwölf, in den meisten Fällen genau zwölf Silben mit einer festen *Wortgrenze 19 zwischen dem ersten, siebensilbigen, und dem zweiten, fünfsilbigen Halbvers. Entsprechend besteht der zweite, fünfsilbige Halbvers aus einer dreisilbigen und aus einer zweisilbigen Worteinheit (3 + 2), und nur im letzten, siebenten Vers kehrt sich die Reihenfolge der Einheiten um (2 + 3). Im ersten, siebensilbigen Halbvers treten zwei zweisilbige Einheiten und eine dreisilbige auf, wobei die Reihenfolge (2 + 3 + 2) überwiegt, die durch das Schema (2 + 2 + 3) im vierten Vers und das Schema (3 + 2 + 2) im sechsten Vers ersetzt ist.
16 Siluan ist als Verfasser der beiden Eulogien aus doppeltem Grunde bekannt: wegen der starken künstlerischen Form mit Einschreibung des Autornamens und wegen der Prominenz der bedichteten Personen im serbischen Nationaldiskurs. Aus dem autoreflexiven Motiv des Wortflechtens geht die Zugehörigkeit zum Stil des pletenie sloves hervor (s. Einleitung, S. 472 f.), wobei die Datierung 1355 in die Frühphase dieser Stilepoche fällt. Außer den beiden bedeutenden Eulogien wird demselben Autor noch eine längere *Epistel zugeschrieben. – Die Autorschaftsfrage ist mittlerweile etwas genauer erforscht, aber nicht endgültig zu klären. Unter den vier historischen Personen namens Siluan kommt als wahrscheinlichster der Mönch Isaija Siluan in Frage (ca. 1300–1375). Dieser war zunächst Mönch in Hilandar, später im Pantelejmon-Kloster, und wirkte eine Zeitlang am Hof des Königsbruders Ugljesˇa in Ser (daher auch sein Beiname Siluan Serskij, Siluan von Ser). Er starb kurz nach der unter seiner Leitung erzielten Friedensstiftung zwischen dem serbischen Patriarchat und dem Patriarchat von Konstantinopel (1375 Aufhebung des Kirchenbanns über die abgespaltene serbische Kirche). Für die Autorschaft spricht auch, daß dieser Siluan 1371 Schriften des Pseudo-Dionysius Areopagita übersetzt hat. (Vgl. Bogdanovic´, »Siluan«). [Anm. d. Komm.] 17 Hilandar (Chilandar), serbisch-orthodoxe Klosterkolonie auf dem Athos. Eine Beschreibung des Handschriftenbestands findet sich in dem von Jakobson zitierten Aufsatz von Radojicˇic´, »Stare srpske povelje rukopisne knjige v Hilandaru«, mit französischem Re´sume´. [Anm. d. Komm.] 18 Veljkovic´ u. Savkovic´, Primeri stila, S. 14 f. Wertvolle Forschungsarbeit über die literarische Hinterlassenschaft Siluans und über die Zeit seines Lebens und Wirkens, aber auch eine Auswahl älterer Forschungen findet der Leser in den Arbeiten von Radojicˇic´, »Iz stare srpske knjizˇevnosti«, Abschnitt »Siluanovi stihovi«, S. 45– 57; »Stare srpske povelje rukopisne knjige v Hilandaru«, S. 61 f.; und in der von Radojicˇic´ herausgegebenen Antologija stare srpske knjizˇevnosti, S. 93 u. 322 f. 19 Zur versifikatorischen Bedeutung der Wortgrenzen vgl. das einschlägige Kapitel »Die Wortgrenze und ihre Funktion im Vers« in Jakobsons früher Monographie Über den tschechischen Vers, S. 36–43. [Anm. d. Komm.]
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Allgemein enthüllt die Verteilung der zweisilbigen und dreisilbigen Worteinheiten im Gedicht Siluans eine aufschlußreiche Neigung der zweisilbigen Worteinheiten zu den ungeraden Teilen des Verses und der dreisilbigen zu den geraden: 18 von 24 zweisilbigen Einheiten entfallen auf die ungeraden, und acht von elf dreisilbigen Einheiten auf die geraden Teile 20 des Verses. Unter den Worteinheiten des Verses sind die erste, die dritte und die fünfte in jeweils sechs von sieben Fällen zweisilbig, und die geraden Einheiten in acht der elf vollständigen Halbverse dreisilbig. Kurz gesagt, neigen die Worteinheiten in ungerader Position zur geraden Silbenzahl und die in gerader zur ungeraden. Der dritte Vers zählt insgesamt zehn Silben – sechs im ersten und vier im zweiten Halbvers – und besteht aus fünf zweisilbigen Einheiten, aber es ist möglich, daß man das sich in beiden Halbversen wiederholende gerade Wort sveˇtlost [›Glanz‹] mit einem Vokal nach den beiden abschließenden Konsonanten lesen muß, aufgrund einer sich lang erhaltenden Gewohnheit, geschwundene Halbvokale 21 sowohl in der Dichtung als auch im Kirchengesang sporadisch künstlich zu vokalisieren.22 Freilich ist eine andere Interpretation dieser Abweichung möglich, wie weiter unten gezeigt wird.23 Von den verbleibenden dreiunddreißig Worteinheiten des Gedichts enden nur zwei mit geschlossenen Silben (12 auf /v/ und 75 auf /n/), wobei die beiden geschlossenen Silben vor einer syntaktischen Pause erscheinen, insbesondere die zweite dieser Abweichungen – 75 Siluan – genau am Ende des ganzen Gedichts. In allen Versen, mit Ausnahme des dritten, hält der zweite Halbvers an der fünfsilbigen Norm fest, wohingegen der erste Halbvers ein zweites Mal erst im abschließenden Vers von ihr abweicht. Dieser Schlußvers unterscheidet sich von den übrigen überhaupt hinsichtlich seiner metrischen, grammatischen und semantischen Zusammensetzung: Slova slavi Save [›Die Worte des Lobs auf Sava / die Ruhmesworte für Sava‹] (2 + 2 + 2). 20 In »Siluans Lobpreis auf Simeon« (s. u.) verwendet Jakobson für diese Binnenaufgliederung den stärkeren Begriff ›Sektor‹. [Anm. d. Komm.] 21 Die Buchstaben »ь« und »ъ« bezeichneten zur Zeit der Entstehung der altkirchenslavischen Texte die sog. Halbvokale (»ь« den vorderen, »ъ« den hinteren Halbvokal). Diese Halbvokale sind in Abhängigkeit von ihrer Position in allen slavischen Sprachen entweder geschwunden (z. B. im Wortauslaut) oder zu »Vollvokalen« geworden. Lediglich das Bulgarische verfügt noch über einen Halbvokal. Die Buchstaben »ь« und »ъ« gibt es noch in einigen modernen kyrillischen Alphabeten, sie haben aber keinen Lautwert mehr. [Anm. v. I.M.] 22 Wenn der Halbvokal als ein solcher vokalisiert würde, nähme er eine silbische Tendenz an. [Anm. d. Komm.] 23 Unten bringt Jakobson einen strukturellen statt historischen Erklärungsvorschlag für die dreisilbige Lesart, s. S. 484 f. [Anm. d. Komm.]
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In Siluans Gedicht 24 fällt jeder einfache Satz mit einem Vers zusammen, während die Phrase (d. h. in der Terminologie Pesˇkovskijs eine selbständige Intonationseinheit, welche entweder einen isolierten einfachen Satz oder die Verkettung einfacher Sätze zu einem komplexen Ganzen abdeckt) 25 stets mit dem ungeraden Vers einsetzt. Daraus ergibt sich, daß jede Verbindung eines ungeraden Verses mit den folgenden geraden ein komplexes syntaktisches Ganzes aus zwei einfachen Sätzen bildet. Der ungerade Vers, dem kein gerader mehr folgt, ist ein isolierter einfacher Satz. Auf diese Weise teilt sich das Gedicht syntaktisch in drei Verspaare, welche die dreifache ›Preisung Savas‹ zum Inhalt haben, und einen alleinstehenden Schlußvers, der den Autor der Preisung nennt. Streng und eigen ist die Auswahl der grammatischen Kategorien in Siluans Gedicht. Unter den fünfunddreißig betonten Wörtern gehören einundzwanzig, d. h. 60% zu den Substantiven, sieben Wörter, d. h. 20% zu finiten Verben, fünf Wörter, d. h. über 14% zu den Adverbien, je ein Beispiel gehört zu den adverbialisierten Partizipien (12 otbeˇgnuv [›entsagend‹]) und zu den adjektivischen *Pronomina (45 vsemu [›(dem) ganzen‹]). Adjektive fehlen ganz. Es gibt keine Numeralia, und der Einsatz der grammatischen *Numeri ist minimal: 29 Singularformen steht insgesamt ein Beispiel einer Pluralform gegenüber (71 Slova [›Worte‹]). Jeder Vers und entsprechend jeder Satz enthält jeweils ein finites Verb. Der grammatische Charakter dieser sieben Verben ist identisch: *Aorist, Singular, die gemeinsame Form der zweiten und dritten *Person, welche sich auf die zweite Person im Anfangsvers und auf die dritte in allen anderen Versen bezieht 26. Alle Adverbien sind dem ersten Halbvers zugeteilt, die finiten Verben dem zweiten. Die Verteilung der Adverbien ist streng symmetrisch – eins im mittleren, d. h. im vierten Vers, und je zwei im zweiten Vers vom Anfang und im zweiten vom Ende. Die Adverbien in Siluans Gedicht führen jedes Mal in den zweiten der beiden aufeinander bezogenen Sätze ein (*Apodosis); deshalb erscheint das Adverb immer und einzig im ersten Halbvers der geraden Zeilen. Die Position des finiten Verbs variiert zwischen Anfang und Ende des zweiten Halbverses, wobei das erste oder 24 Jakobson benutzt hier und öfter den altslavischen Gattungsbegriff ›Slovo‹ (Lied, Dichtung, literarisches Werk, Rede, Wort), der im vorliegenden Kontext am elegantesten mit ›Gedicht‹ wiederzugeben ist. Damit impliziert Jakobson auch die von ihm gewählte Genrebezeichnung slavoslovie (Lobpreis, wörtlich: Lobwort), deren Komponente ›Wort‹ natürlich auf logos verweist. [Anm. d. Komm.] 25 Pesˇkovskij, Russkij sintaksis, Kap. XXV: Slozˇnoe celoe, S. 455–461. 26 Die zweite und dritte Person Singular des Aorists sind gleichlautend. [Anm. v. I.M.]
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einzige Verb jeder Phrase einen anderen Platz einnimmt als das letzte Verb der vorhergehenden Phrase. In der Anfangs-, Mittel- und Schlußzeile beginnt der zweite Halbvers mit einem Verb. Die finiten Formen sind wie folgt verteilt: 14 – 24, 35 – 44, 55 – 65, 74. Im Wortbestand des Gedichts bilden die Substantive die überwiegende Mehrheit, und ihnen fällt eine große, höchst vielfältige Rolle in der poetischen Grammatik 27 der Verse Siluans zu. Die größte Anzahl an Substantiven konzentriert sich in den ungeraden Versen (drei im ersten und je vier im dritten, fünften und siebten), während in der Apodosis, d. h. in den geraden Versen (dem zweiten, vierten und sechsten), regelmäßig je zwei Substantive vorkommen. Dreimal stößt man in den Versen auf Eigennamen: der am Schluß der Lobpreisung genannte Autor (75 Siluan) und sein zweifach genannter Adressat 28 – einmal am Ende der ersten Zeile (15 Savo) und das zweite Mal in der Mitte des Schlußverses (73 Saveˇ ). Die übrigen achtzehn Substantive gehören zur Kategorie der unbelebten *Abstrakta oder Kollektiva. Abgesehen von dem oben vermerkten Vokativ 29 verteilen sich alle zwanzig Substantive auf drei zentrale Kasus (sieben Genitive und je fünf Nominative und Akkusative) und auf insgesamt einen *peripheren Kasus 30 (drei Dativformen). Es gibt weder *Instrumental noch *Lokativ. Alle Nomina stehen ausschließlich in präpositionslosen Verbindungen. Die Verwendung des Genitivs, des häufigsten Kasus im Gedicht, beschränkt sich auf den ersten Halbvers, während die drei anderen Kasus in beiden Halbversen begegnen. Bis auf den sechsten, in der eigentlichen Lobpreisung letzten und deshalb etwas eigenartigen Vers enthalten nur die ungeraden Zeilen und überdies alle von ihnen sowohl den Genitiv als auch den Akkusativ. In den sechs Gebetszeilen enthalten alle vier inneren Zeilen und dabei nur diese Zeilen den Nominativ. Dieser nimmt den ungeraden zentralen Platz in den geraden Zeilen und einen benachbarten geraden Platz in den ungeraden Zeilen ein. Das erste Verspaar verwendet das *Polyptoton 11 slavi – 13 slavu – 23 slava für einen *antithetischen Aufbau: Slavi otbeˇgnuv, slavu obreˇte [›(Dem) Ruhm entsagend, (hast du) Ruhm gefunden‹] – mit scharfem *Kontrast zwischen dem Genitiv in *ablativer Funktion und dem Akkusativ, der das behandelte *Objekt angibt, und mit einer *Einstellung 27 S. o. Anm. 6. [Anm. d. Komm.] 28 Zum Adressaten Sava s. u. Anm. 31 im historischen Argumentationskontext. [Anm. d. Komm.] 29 D. h. der Wortform Savo im ersten Vers. [Anm. v. I.M.] 30 Vgl. Jakobson, »Morfologicˇeskie nabljudenija«.
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[ustanovka] auf die doppelte Bedeutung von slava (weltlicher und kirchlicher Ruhm) und auf den Zusammenklang der einander gegenübergestellten Verbalstämme 12 otbeˇgnuv und 14 obreˇte. Der einheitliche Anfang 12 otbeˇgnuv und 22 ot’judu wiederholt das Spiel mit der einheitlichen Wurzel slav- im Spiel mit dem einheitlichen Präfix ot-. Die Antinomie zwischen ›Glanz des Geschlechts‹ und ›Glanz des Glaubens‹ im zweiten Verspaar wird aufgehoben durch die Gegenüberstellung der beiden äußerlich übereinstimmenden, aber funktionsverschiedenen Formen des Akkusativs 32 sveˇtlost [›(den) Glanz‹] und des Nominativs 34 sveˇtlost [›(der) Glanz‹] – zuerst nebeneinander (*homonymisches Polyptoton) und danach mit einer anderen Bildung derselben Wurzel, 43 sveˇtilo (*Paregmenon). Diese Antinomie geht über in das synthetische Bild des Lichts, das sich dem Geschlecht kraft der frommen Geringschätzung der fürstlichen Abkunft zeigte.31 Das begleitende Polyptoton unterstützt die Antithese und bekräftigt den Übergang vom ersten Verspaar zum zweiten: 25 rodu – 31 roda – 42 rodu. Die semantische Verbindung der beiden Verspaare ist unterstrichen durch den *Parallelismus ihrer abschließenden Zeilen: 22 ot’judu 〈…〉 24 javi se rodu 〈…〉 44 javi se vsemu [›22 daher 〈…〉 24 zeigte sich (dem) Geschlecht 〈…〉 44 zeigte sich (dem) ganzen‹] mit den sich wiederholenden Formen rodu [›Geschlecht‹] und javi se [›zeigte sich‹] und den *›Binnenreimungen‹ [›vnutrennie rifmoidy‹] ot’judu – rodu, rodu – vsemu. Der syntaktische und im bedeutenden Maße semantische Parallelismus verbindet den Anfang des zweiten und dritten Verspaares: Roda sveˇtlostь veˇri sveˇtlostь preˇzreˇ, Teˇm zˇe rodu 〈…〉 Uma visota sana visotu svrьzˇe, Teˇm ubo uma 〈…〉 Des Geschlechtes Glanz [Akk.] verachtete des Glaubens Glanz [Nom.] Des Verstandes Größe [Nom.] verwarf des Adels Größe [Akk.], Und dadurch den Verstand 〈…〉
Es ändert sich nur die Reihenfolge von Subjekt und direktem *Objekt: Geht der Akkusativ dem Nominativ in der dritten Zeile voran, folgt er ihm in der fünften. Das Polyptoton, auf dem die ungeraden Zeilen beider 31 Sava hatte die weltliche Karriere als Fürstensohn zugunsten des asketischen Mönchstums aufgegeben und konnte auch seinen Vater zum Mönchstum bewegen; beide gründeten Klöster für die selbständig erklärte serbische Orthodoxie und wurden zu Heiligen. Daher ist das Fürstengeschlecht der Nemanjiden in der Eulogie mit Licht assoziiert. – Genaueres in der Einleitung zu »Siluans Lobpreis auf Simeon«, S. 495 f. [Anm. d. Komm.]
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Verspaare aufgebaut sind, verwandelt sich in ein Paregmenon in ihren geraden Zeilen: 32 sveˇtlost (Akk.) – 34 sveˇtlost (Nom.) – 43 sveˇtilo; 52 visotu – 54 visotu – 63 visˇe. Der Wiederholung mit morphologischer und syntaktischer Variation 31 roda – 42 rodu entspricht die Wiederholung mit ausschließlich syntaktischer Variation 51 uma (visota) 62 uma (visˇe). Der *Chiasmus – 32 Akkusativ / 34 Nominativ // 52 Nominativ / 54 Akkusativ – ist bei weitem nicht zufällig. Beide Male steht am Beginn der antithetischen *Protasis eine Verbindung, die im ersten Halbvers der synthetischen Apodosis aufgegriffen und verwirklicht wird: 31,2 roda sveˇtlost – 42,3 rodu sveˇtilo; 51,2 uma visota – 62,3 uma visˇe. [›31,2 (Des) Geschlechtes Glanz – 42,3 (dem) Geschlecht (das Licht); 51,2 (Des) Verstandes Größe – 62,3 (den) Verstand überragend‹]. Die Größe des Verstandes überwand die Größe des Rangs und erhob eben dadurch das Gute über den Verstand.32 Laut-Metathesen begleiten die thematische Entwicklung: 61 »teˇm ubo« – 62,4 uma 〈…〉 dobrotu. Bleiben die antithetischen Konstruktionen der beiden ersten Verspaare infolge der lexikalischen *Homonymie im ersten und des morphologischen Synkretismus im dritten Vers zweideutig, so offenbart das letzte Verspaar bis zum Schluß die Hierarchie der Werte und die wahrhaftige Bedeutung des gepriesenen Asketen. Mit diesem Verspaar endet der Lobpreis, und das absichtliche Anschlagen des Reims begleitet die wirkungsvolle Apotheose: 54,5 visotu svrzˇe – 63 visˇe – 64,5 dobrotu stizˇe. Der einzeilige Nachsatz mit der Unterzeichnung durch den Autor folgt dem Strukturprinzip des gesamten Gedichts und zeigt zugleich einige charakteristische Besonderheiten. Der einfache Satz des siebten Verses geht nicht in den Zusammenhang eines größeren syntaktischen Ganzen ein und verliert den antithetischen Charakter, der jedem der drei Verspaare eignet. Deswegen folgt hier der adnominale Genitiv dem regierenden Nominativ, während in den vorhergehenden Gegenüberstellungen analoge Verbindungen die umgekehrte Reihenfolge aufwiesen: 3 roda sveˇtlost veˇri sveˇtlost preˇzreˇ [›(des) Geschlechtes Glanz (des) Glaubens Glanz verachtete‹] (vgl. V. 5). Nur im letzten Vers verbinden sich Substantive im Akkusativ und im Dativ: 7 slova slavi Saveˇ splete [›Ruhmesworte (für) Sava flocht‹], während in den restlichen Versen der Dativ nur bei reflexiven Verben erscheint: 2 javi se rodu [›zeigte sich (dem) Geschlecht‹] (vgl. V. 4). Schließlich steht nur in der letzten Zeile der Nominativ des Subjektes nach dem verbalen Prädikat: splete Siluan [›flocht Siluan‹]. 32 S. o. Anm. 14. [Anm. d. Komm.]
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Die konsequente Stellung des Akkusativs und im eigentlichen Lobpreis ebenso des Genitivs vor dem regierenden Wort (slavu obreˇte, sveˇtlost 〈…〉 preˇzreˇ, visotu svrzˇe, dobrotu stizˇe, slova 〈…〉 splete; slavi otbeˇgnuv, roda sveˇtlost, veri sveˇtlost, uma visota, sana visotu, uma visˇe [›Ruhm fandest (du), (den) Glanz verachtetest (du), (die) Größe verwarfst (du), (die) Schönheit erlangtest (du), (die) Worte 〈…〉 flocht (er); (dem) Ruhm entsagend, (des) Geschlechtes Glanz, (des) Glaubens Glanz, (des) Verstandes Größe, (des) Adels Größe, (den) Verstand überragend‹]), das Fehlen kongruenter Formen, außer beim Pronomen vsemu, das vom Kontext durch *Inversion und durch eingeschobene Wörter losgelöst ist, der Anschluß eines enklitischen Reflexivpronomens unmittelbar ans Verb (24 und 44),33 die Verstärkung des Adverbs durch enklitische Partikeln (41 Teˇm zˇe [›Damit‹], 61 Teˇm ubo [›Und dadurch‹]) und schließlich das Gleichgewicht gepaarter Adverbien 21,2 Tamo otjudu [›Dort, woher‹] – all dies zeugt vom Bestreben des Dichters, enge Wortverbindungen zu vermeiden sowie die einzelnen Wortgruppen des Gedichts mit einer selbständigeren Betonung auszustatten. Die Wahl der Wörter und der Lautkombinationen im SchlußversNachsatz bringt ihn der ersten, einleitenden Zeile nah, und dadurch verliert er seine Abgeschiedenheit von den Nachbarzeilen. Die Verbindung 72,3 slavi Saveˇ [›(des) Ruhms Sava‹] führt den Leser zu den Elementen zurück, welche den ersten Vers rahmen: 11,5 Slavi 〈…〉 Savo [›Ruhm 〈…〉 Sava‹], wobei charakteristisch ist, daß die Wörter Sava und slava bei Siluan nicht im gleichen Kasus auftreten und es dem Dichter somit gelingt, einen schematischen *Reim zu vermeiden, den in der Folgezeit die russischen Sprichwörter und satirischen Verse des 17. und 18. Jahrhunderts parodieren.34 Dafür reimen sich die an den Namen des Heiligen angrenzenden Verben in beiden Versen Siluans: 14 obreˇte – 74 splete. Die für die Anfangszeile charakteristischen *Hiatus 1 slavi otbeˇgnuv, slavu obreˇte überträgt die Schlußzeile von den Wortgrenzen ins Innere des Wortes 75 Siluan«. Die traditionelle *figura etymologica 71,2 Slova slavi, welche das Paregmenon der Paronomasie annähert, eröffnet die längste Kette von Lautwiederholungen im gesamten Gedicht – slova slavi saveˇ splete siluan – eine Variation des lautbildlichen Themas [zvukoo´braznaja 33 Vgl. Jakobson, »Les enclitiques slaves«. 34 Adrianova-Peretc, Russkaja demokraticˇeskaja satira XVII veka, S. 266. [Anm. v. R.J.] – Der (erst in der Fassung von 1981 eingefügte) Vergleich mit der späteren Reimsatire ist natürlich ein Anachronismus, nicht nur rein zeitlich (›Vermeidung‹ einer erst später sanktionierten Praxis), sondern auch sachlich (der Reimbegriff der Neuzeit kann im Spätmittelalter gar nicht angesetzt werden). [Anm. d. Komm.]
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Roman Jakobson
tema],35 das die ungeraden Worteinheiten der ersten Zeile verknüpft: 11 slavi – 13 slavu – 15 savo. Von allen Konsonanten sind die beiden *Phoneme des Namens Sava am gebräuchlichsten: zweiundzwanzig /s/ und neunzehn /v/; nach ihrem Häufigkeitsgrad folgen danach sechzehn /t/ und zehn /l/, und alle diese vier Klassen machen im Text mehr als zwei Drittel der Gesamtzahl nichtsilbenbildender Phoneme aus. Alle vier Phoneme, und just in eben dieser Reihenfolge, kommen im Wort sveˇtilo [›Licht, Leuchten‹] vor, der *metaphorischen Bezeichnung für den vom Heiligenschein gekrönten Heiligen. Es markiert den Höhepunkt in Siluans Lobpreis und besetzt natürlich nicht zufällig die zentrale Stelle seines Gedichts, d. h. die dritte Stelle unter fünf Worteinheiten im vierten von sieben Versen. Es handelt sich um das einzige Beispiel für dreisilbige Worteinheiten in der Zeilenmitte, und andererseits ist das Wort sveˇtilo der einzige gegenständliche Begriff unter den *Appellativa im ganzen Gedicht, gegenständlich, obwohl er offenkundig in übertragener, wiederum spiritueller Bedeutung verwendet ist. Insbesondere dienen im eigentlichen Lobpreis nur die Abstrakta, welche die Attribute der Attribute benennen, den *transitiven Verben als Subjekte und bilden dabei gewissermaßen grammatische *Tropen: 36 3 veri sveˇtlost preˇzreˇ [›(des) Glaubens Glanz verachtete‹]; 5 uma visota 〈…〉 svr zˇe [›(des) Verstandes Größe 〈…〉 verwarf‹]. Zweimal erscheint im vorangehenden Vers das Wort sveˇtlost [›Glanz‹], das durch eine grammatische *Figur an das darauffolgende sveˇtilo [›Licht‹] gekoppelt ist und das ihm hinsichtlich der Silbenzahl (2:3) in umgekehrter Reihenfolge entgegengesetzt werden kann wie die Wörter, welche das Paregmenon im folgenden Verspaar (3:2) bilden, und mit diesem Kontrast könnte man sich die Silbentendenzen des dritten Verses erklären.37 Andererseits ist das zweifach wiederholte Wort sveˇtlost mit dem *Nomen sveˇtilo durch alle vier Konsonanten /sv.t. l./ verknüpft, wobei die ungeraden /s/ und /t/ je zweimal vorkommen. Diese beiden Pho35 Vgl. die Ausführungen zum Anagramm in der Einleitung, S. 473 f. [Anm. d. Komm.] 36 In der Erstfassung: *›Figuren‹; der Begriff ›Tropen‹ pointiert das Konzept einer »Poesie der Grammatik« noch schärfer. Vgl. auch die Analyse von Norwids »Gefühl«, in der Jakobson den Begriff der »grammatischen Tropen« mit Verweis auf Peirce verwendet (in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 375–394, hier: S. 387 u. Anm. 46 u. 47). Vgl. die polnische Originalfassung »›Czułos´c´‹ Cypriana Norwida«, S. 516. [Anm. d. Komm.] 37 Statt der oben angeführten sprachhistorischen Erklärung für die vermutete Dreisilbigkeit von svetlost (vgl. Anm. 22 u. 23) bringt Jakobson nun eine strukturelle: die Entsprechung zum anderen wiederholten Wort visota. [Anm. d. Komm.]
Siluans Lobpreis auf den Hl. Sava
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neme wiederholen sich zusammen und getrennt auf verschiedene Art und Weise im Laufe des ganzen Gedichts, wobei das Anfangsphonem der Worteinheit als Ausgangspunkt der Wiederholung dient. Kennzeichnend ist, daß jeder Vers, und in allen Versen jeder der fünf Teile, in diesen Variationen eine besondere, eigengesetzliche Rolle spielt. Der dritte, mittlere Teil nimmt als einziger von allen fünf diese Lautverbindungen oder aber einzelne ihrer Teile ausnahmslos in jedem Vers auf: 13 slavu – 23 slava – 33 veˇri (wobei die Silbe veˇ von den benachbarten Wörtern gedoppelt wird 32,4 sveˇtlost) – 43 sveˇtilo 53 sana (wobei die Silbe sa Unterstützung in 73 saveˇ erhält) – 63 visˇe (wobei die Silbe vi sich in Übereinstimmung mit den Worten 52 visota, 54 visotu und 72 slavi befindet) – 73 saveˇ. Der erste Teil führt diese Wiederholung nur in den beiden Randversen aus – im Anfangsvers neben den anderen beiden ungeraden Teilen (11 slavi – 13 slavu – 15 savo), und im letzten Vers neben den restlichen vier Teilen (slova slavi saveˇ splete siluan). Die geraden Teile der geraden Verse wie auch des Anfangsverses nehmen an der Wiederholung nicht teil, während die geraden Teile aller anderen Verse an dieser Wiederholung wenigstens mit drei Konsonanten beteiligt sind: 32 sveˇtlost – 34 sveˇtlost; 52 visota – 54 visotu; – 72 slavi – 74 splete. Zwar klingt 24 und 44 javi se an das Wort 54 visotu an, aber es ist zweckmäßig, gerade die höchst eingängige Spielart der Wiederholungen hervorzuheben, die mit der *Alliteration von Anfangskonsonanten verbunden ist. Schließlich nimmt an derselben Hauptwiederholung der fünfte Teil des fünften Verses teil: hier tritt unverändert das Phonem /s/ auf, indem es die Anfangsposition wenigstens in vier, aber unter Annahme der Umstellung vsemu > svemu in allen fünf Fällen einnimmt. Alle fünf /s/ bilden paarige Verbindungen – in den ersten drei Beispielen mit /v/ (15 Savo – 45 vsemu oder svemu – 55 svrzˇe), in vierten mit /t/ (65 stizˇe) und im fünften mit /l/ (75 Siluan). So entspricht die Folge der Konsonantenphoneme, die mit /s/ verbunden sind, ihrer Reihe im Schlüsselwort sveˇtilo, wobei es interessant ist, daß die Reihenfolge der Zusammensetzungen /t/ und /l/ mit dem angrenzenden /i/ beibehalten ist: stizˇe – sveˇtilo; Siluan – sveˇtilo. Dieses ganze wohlgefügte Netz von Lautwiederholungen empfindet man als eine Art Emanation des zentralen Wortbilds [›slovesnyj obraz‹] sveˇtilo.38 38 Dieser 1981 eingefügte Satz bringt eine – deutlich von Saussures /Starobinskis Begrifflichkeit abweichende – eigenständige Formulierung des Anagrammgedankens. [Anm. d. Komm.]
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Roman Jakobson
Eine besondere Rolle in der Laut-, Vers- und grammatischen Struktur des »Lobpreises auf den Hl. Sava« spielt, wie wir sahen, der Kontrast zwischen den geraden und ungeraden Zeilen und gleichfalls zwischen den geraden und ungeraden Teilen der Zeile. Diese Entgegensetzung wird besonders von der ungeraden Zeilenzahl des ganzen Gedichts begünstigt, ebenso wie von der ungeraden Zahl der Worteinheiten innerhalb der Zeile. Auf solch einem Fond heben sich die von der byzantinischen Dialektik und Rhetorik vorgegebenen antithetischen Raffinessen Siluans besonders ab. Kunstvoll handhabt er grammatische Figuren, welche ihrerseits wirkungsvolle Unterstützung in der Paronomastik durchgehender Wiederholungen finden. All diese Verfahren – sowohl die Lautwiederholungen als auch die grammatischen Figuren – erlangen eine besondere Stärke und Überzeugungskraft vor dem Hintergrund der radikalen Einschränkungen im lautlichen wie grammatischen Bestand des Textes.39 Die Anzahl der Zeilen, die sich auf sieben beläuft, begünstigt ihrerseits die äußerste Eingängigkeit der Konstruktionsprinzipien des Gedichts gemäß der seit jeher spannenden Frage, die aufs neue in der modernen Wissenschaft gestellt wird: »And finally, what about the magical number seven? 〈…〉 What about the seven-point rating scale, the seven categories for absolute judgment, the seven objects in the span of attention, and the seven digits in the span of immediate memory?« 40
Zusammenfassung 41 Der vorliegende Aufsatz ist eine Studie über den Lobpreis des Mönchs Siluan auf den Hl. Sava (aus einem Hilandarer Manuskript des 14. Jahrhunderts), die übersetzt 42 lautet: 1 2
Glory deserted, glory you obtained, Sava, There wherefrom glory appeared to the kin.
39 Hier endet die serbische Erstfassung. [Anm. d. Übs.] 40 ›Und was hat es schließlich mit der magischen Zahl Sieben auf sich? 〈…〉 Was mit dem siebenstufigen Wertmaßstab, den sieben Kategorien höchsten Urteilens, den sieben Objekten in der Aufmerksamkeitsspanne und den sieben Ziffern in der Spanne des Kurzzeitgedächtnisses?‹ (Miller, »The Magical Number Seven«, S. 96). In der Yeats-Analyse arbeitet Jakobson für die frühe Fassung von »Sorrow of Love« die Zahl 7 als Konstruktionsprinzip heraus (in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 609). [Anm. d. Komm.] 41 Die Zusammenfassung ist auf Englisch verfaßt. [Anm. d. Komm.] 42 Jakobsons Interlinearübersetzung ahmt vor allem die Wortstellung sehr genau (bis zur Unverständlichkeit) nach. [Anm. d. Komm.]
Siluans Lobpreis auf den Hl. Sava 3 4 5 6 7
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Kin’s radiance (Acc.) faith’s radiance (Nom.) disdained, Hereby to the kin a luminary appeared to the whole. Intellect’s height (N) nobility’s height (A) overthrew, And thus than the intellect higher goodness (A) raised. Words of glory to Sava wove Siluan.
Jeder der sieben Verse des Gedichts gliedert sich in fünf Segmente, eine Worteinheit je Segment, vorzugsweise eine zweisilbige in den ungeraden und eine dreisilbige in den geraden Segmenten. Die Verse enthalten meist zwölf (und nicht mehr als zwölf) Silben, mit einer *Zäsur vor den letzten fünf. Die ungeraden Verse und die ungeraden Worteinheiten sind ihrer grammatischen Struktur nach von den geraden verschieden. Der siebte Vers, ein Kolophon,43 modifiziert das Muster der drei Zweizeiler, welche den eigentlichen Lobpreis konstituieren. Das Gedicht läßt nur wenige grammatische Kategorien zu. Der Singular ist der einzige verwendete Numerus (mit einer Ausnahme in der siebten Zeile). Unter den 35 Worteinheiten erscheinen 21 Substantive, 7 finite Verben – alle *perfektiv und alle in der zweiten bzw. dritten Person Singular Aorist – und 5 Adverbien. Diese drei Wortarten und überdies die verschiedenen Kasus der Substantive sind symmetrisch verteilt. Vielfältige Typen von Wiederholungen der Wurzel (besonders Polyptoton und Paregmenon) sind für den Aufbau und die harmonische Steigerung der drei antithetischen Sätze (einer je Verspaar) wirkungsvoll genutzt. Die von byzantinischer Dialektik geprägten Sätze werden durch die intrikate Textur der Paronomasie verstärkt. Diese Textur, welche das gesamte Gedicht durchdringt, scheint von dem emblematischen sveˇtilo [›Licht, Leuchten‹] zu emanieren,44 der zentralen Worteinheit im Mittelvers des Siebenzeilers. Editorische Notiz Verfaßt in Stanford, California, 1961, und zuerst auf Serbisch veröffentlicht in: Zbornik za filologiju i linguistiku IV–V (1961–1962), S. 131–135.
43 Jakobson überträgt hier einen Begriff der Handschriftenkunde. Der Kolophon ist eine in alten Handschriften oder Inkunabeln am Textende angebrachte Angabe über Titel, Verfasser, Schreiber und Drucker sowie Ort und Zeit der Herstellung. [Anm. d. Komm.] 44 Vgl. Anm. 31. [Anm. d. Komm.]
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Roman Jakobson 1
2
3
Adv.
fin.
Adv.
fin.
3
4
Adv.
fin.
fin.
5
6
5
fin.
1
2
4
Adv.
Adv.
fin.
fin.
7 1. Verteilung der Adverbien und finiten Verben
489
Siluans Lobpreis auf den Hl. Sava 1
1
2
G
2
3
G
4
5
G
6
7
3
V
N
D
A
G
D
N
N
G
G
2. Verteilung der Kasus der Nomina
5
A
N
A
A
G
A
4
D
N
slova slavi
rodu
slava
Save
Savo
slavu roda
3. Verteilung der Wiederholung der Nominalwurzeln
7
slavi
rodu
svetlost
2
svetilo
3
svetlost
4
5
6
1
4
5
2
4
5
3
3
2
1
1
uma
1
uma
visota
2
više
3
visotu
4
5
490 Roman Jakobson
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Siluans Lobpreis auf den Hl. Sava 1
1
2
Slv
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Slv
vs
V
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Svtl
vs
Sv
S
Vst
Sv
St
V
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Slv
5
Sv
Slv
2
3
3
Sv
Slt
4. Paronomasien (Anfangskonsonanten groß geschrieben)
Sl
492
Roman Jakobson
Literatur Jakobsons eigene Angaben sind mit ° gekennzeichnet. ° Adrianova-Peretc, Varvara Pavlovna: Russkaja demokraticˇeskaja satira XVII veka
[›Die russische demokratische Satire des 17. Jhds‹], Leningrad: Izdatel’stvo Akademii nauk SSSR 1954 (= Literaturnye pamjatniki). °Antologija stare srpske knjizˇevnosti (XI–XVII veka) [›Anthologie des altserbischen Schrifttums (11.–17. Jhd.)‹], hg. v. ÐordÑe Sp. Radojicˇic´, Beograd: Nolit 1960 (= Biblioteka Antologija jugoslovenske knjizˇevnosti). Bogdanovic´, Dimitrije: »Siluan«, in: Sˇest pisaca XIV veka. Grigorije Rasˇki, Jakov Serski, Siluan, Nepoznati Svetogorac, Monach Jefrem, Marko Pecˇki, hg. v. Dimitrije Bogdanovic´, Beograd: Prosveta 1986 (= Stara srpska knjizˇevnost u 24 knjige. Bd. 10), S. 16–33 u. 34–37. Greber, Erika: »Gittergewebe, aus Buchstaben kombiniert: Mythopoetik und Anagrammatik«, Kap. III in: dies., Textile Texte. Poetologische Metaphorik und Literaturtheorie: Studien zur Tradition des Wortflechtens und der Kombinatorik, Köln, Weimar u. Wien: Böhlau 2002 (= Pictura et Poesis, Bd. 9), S. 169– 225. — »Pletenie sloves vs. entrebescar los motz«, Kap. II–1 in: dies., Textile Texte. Poetologische Metaphorik und Literaturtheorie: Studien zur Tradition des Wortflechtens und der Kombinatorik, Köln, Weimar u. Wien: Böhlau (= Pictura et Poesis, Bd. 9), S. 44–107. — »Text als ›texture‹. Textbegriff und Autoreflexivität in Jakobsons literaturwissenschaftlichem und poetischem Œuvre«, in: Birus /Donat /Meyer-Sickendiek, S. 154–177. — »Von der autoreflexiven Poesie zur Poetizitätstheorie: Modellfall Roman Jakobson«, Kap. II–3 in: dies., Textile Texte. Poetologische Metaphorik und Literaturtheorie: Studien zur Tradition des Wortflechtens und der Kombinatorik, Köln, Weimar u. Wien: Böhlau 2002 (= Pictura et Poesis, Bd. 9), S. 141– 169. Jakobson, Roman Osipovicˇ: »Autour de la poe´tique« [Interview mit E. Jacquart], in: Critique 32 (1976), S. 461–472. — »›Czułos´c´‹ Cypriana Norwida«, in: SW III, S. 508–518. – »›Gefühl‹ von Cyprian Norwid«, übs. v. Sylwia Grzesinska, Anna Auguscik u. Imke Mendoza, komm. v. Imke Mendoza u. Małgorzata Zemła, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 375–394. — »Die Wortgrenze und ihre Funktion im Vers«, in: ders., Über den tschechischen Vers, S. 75–83. ° — »Les enclitiques slaves«, in: SW II, S. 16–22. ° — »Morfologicˇeskie nabljudenija nad slavjanskim skloneniem« [›Morphologische Beobachtungen zur slavischen Flexion‹], in: SW II, S. 154–181. — »Pochvala Konstantina Filosofa Grigoriju Bogoslovu« [›Die Lobpreisung Konstantins des Philosophen auf Gregor den Theologen‹], in: SW VI, S. 207–239.
Siluans Lobpreis auf den Hl. Sava
493
— »Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie«, übs. u. komm. v. Sebastian Donat, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 256–301. — »Quest for the Essence of Language«, in: SW II, S. 345–359. — »Slavoslovie Siluana Simeonu«, in: Xenia Slavica. Papers Presented to Gojko Ruzˇicˇic´ on the Occasion of his Seventy-fifth Birthday, hg. v. Rado L. Lencek u. Boris O. Unbegaun, The Hague u. Paris: Mouton 1975 (= Slavistic Printings and Reprintings), S. 75–83. ° — »Struktura dveju srpskohrvatskih pesama. I. Siluanovo slavoslovie Sv. Save« [›Die Struktur zweier serbokroatischer Gedichte. I. Siluans Lobpreis auf den Hl. Sava‹], in: Zbornik za filologiju i lingvistiku 4–5 (1961–1962), S. 131–135. Jakobson, Roman Osipovicˇ u. Stephen Rudy: »Yeats’ ›Der Gram der Liebe‹ im Lauf der Jahre«, übs. u. komm. v. Virginia Richter, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 570–630. Lachmann, Renate: Die Zerstörung der schönen Rede. Rhetorische Tradition und Konzepte des Poetischen, München: Fink 1994. ° Miller, George A.: »The Magical Number Seven, Plus or Minus Two: Some Limits on Our Capacity for Processing Information«, in: The Psychological Review 63 (1956), Nr. 2, S. 81–97. ° Pesˇkovskij, Aleksandr Mateevicˇ: Russkij sintaksis v naucˇnom osvesˇˇcenii [›Die russische Syntax in wissenschaftlicher Beleuchtung‹], 7. Aufl. Moskva: Gosudarstvennoe ucˇebno-pedagogicˇeskoe izdatel’stvo ministerstva prosvesˇcˇenija RSFSR 1956. ° Radojicˇic´, ÐordÑe Sp.: »Iz stare srpske knjizˇevnosti« [›Aus dem altserbischen Schrifttum‹], in: Zbornik radova X: Instituta za proucˇavanje knjizˇevnosti, Bd. 1, Beograd: Srpska Akademija nauka 1951, S. 45–57. ° — »Stara srpska pojana poezija« [›Die altserbische geistliche Poesie‹], in: Knjizˇevna istorija 1 (1968), H. 2, S. 239–305. [Französisches Re´sume´ S. 306 f.]. ° — »Stare srpske povelje rukopisne knjige u Hilandaru« [›Die altserbischen Urkunden und Handschriften in Hilandar‹], in: Arhivist 2 (1952), Nr. 2, S. 47– 78. [Französisches Re´sume´ S. 78–82]. Staro srpsko metafizicˇko pesnisˇtvo [›Die altserbische metaphysische Dichtung‹], hg. v. Radomir Baturan, URL: http://www.dijaspora.nu/srpski/njvk/srpsko pesnistvo.html#slavi (3. 3. 2005). Starobinski, Jean: Les mots sous les mots, Paris: Gallimard 1971. – Wörter unter Wörtern. Die Anagramme von Ferdinand de Saussure, übs. v. H. Beese, Frankfurt /Main, Berlin u. Wien: Ullstein 1980. Trifunovic´, ÐordÑe: »Pletenije sloves«, in: ders., Azbucˇnik srpskih srednjovekovnih knjizˇevnih pojmova [›Lexikon des serbischen mittelalterlichen Schrifttums‹], 2. Aufl Beograd: Nolit 1990, S. 252–255. ° Veljkovic´, Momir u. Milosˇ Savkovic´: Primeri stila i jezika jugoslovenske knjizˇevnosti [›Beispiele von Stil und Sprache des südslavischen Schrifttums‹], Beograd: Narod. Sˇtamparija 1932 (= Izdanja zadruge profesorskog drusˇtva, Bd. 31).
Roman Jakobson
Siluans Lobpreis auf Simeon 1 Übersetzung aus dem Russischen Alexander Nebrig und Erika Greber
Kommentar Erika Greber Diese Studie von 1970/75 bezieht sich sehr stark auf die vorangegangene Studie über das andere von Siluan verfaßte Enkomion (1961) und trägt wichtige, zunächst nicht behandelte Aspekte nach, die dann auch in deren Zweitfassung (1981) stehen (s. o. S. 473). Unter anderem klärt sich erst in diesem Kontext das paradoxe Verhältnis der beiden Adressaten Simeon und Sava. Ohne historische Kenntnisse (bei Jakobson stillschweigend vorausgesetzt) sind die Gedichte eigentlich unverständlich. Daher sei hier das Wesentliche erläutert. 2 Es handelt sich um Vater und Sohn aus dem Fürstengeschlecht der Nemanjiden. Sava (1171–1236), der Nationalheilige der Serben, war Gründer der autokephalen serbisch-orthodoxen Kirche, Urheber des Nomokanon, Hagiograph seines Vaters und Übersetzer der byzantinischen Kirchenschriften ins Altserbische (Kirchenslavisch serbischer Redaktion). Rastko war sein weltlicher Name als jüngster Sohn des Fürsten Stefan Nemanja, den er zum Übertritt ins Mönchstum bewegen konnte und dessen Vita er später schrieb. Stefan, mit Mönchsnamen Simeon (1165–1199), leitete als Begründer der Nemanjiden-Dynastie mit der Konsolidierung des Reiches eine der für das serbische Nationalbewußtsein wichtigsten Geschichtsperioden ein; vom Thron trat er 1196 zugunsten seines 1
2
Vorlage: Jakobson, Roman Osipovicˇ: »Slavoslovie Siluana Simeonu«, in: SW III, S. 206–214. Erstdruck: »Slavoslovie Siluana Simeonu«, in: Xenia Slavica. Papers Presented to Gojko Ruzˇicˇic´ on the Occasion of his Seventy-fifth Birthday, hg. v. Rado L. Lencek u. Boris O. Unbegaun, The Hague u. Paris: Mouton 1975 (= Slavistic Printings and Reprintings), S. 75–83. [Anm. d. Komm.] Ausführlichere Informationen beispielsweise in Todt, Art. »Sava«. [Anm. d. Komm.]
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Roman Jakobson
mittleren Sohnes zurück. Sava und Simeon gründeten zahlreiche Kirchen und Klöster, darunter das berühmte serbisch-orthodoxe Kloster Hilandar (Chilandar) in der griechischen Mönchsrepublik Athos. Aus einer dortigen Handschrift stammen beide Eulogien. Erika Greber
Mönch Siluan, serbischer Dichter des vierzehnten Jahrhunderts,3 war, wie 1355 sein Landsmann Teodosije 4 festhielt, »in der Tat 〈…〉 stark 〈…〉 im Verstand und kraftvoll in der Rede«.5 Laut der bemerkenswerten Äußerung eines Dichters und Literaturhistorikers für das altserbische Schrifttum »beweist Siluan viel mehr Begabung, Individualität und Originalität als all unsere alten Dichter vor ihm und nach ihm«.6 Die langjährige Forschungsarbeit des verstorbenen Literaturwissenschaftlers Radojicˇic´ beendete seine anfängliche Unschlüssigkeit hinsichtlich der zeitlichen Einstufung. Überzeugend ordnet er Siluans in Versen verfaßten 7 Lobpreis 8 auf Sava Nemanicˇ in die Mitte des vierzehnten Jahrhunderts ein. Wir kennen ihn aus wenigen Überlieferungen, darunter auch aus einer Handschrift, die auf das Ende jenes Jahrhunderts datiert ist.9 Was den in Versen verfaßten Lobpreis auf Stefan Simeon betrifft, ebenfalls von Radojicˇic´ 3 4
5 6 7 8 9
Zum Autor s. Jakobson, »Siluans Lobpreis auf den Hl. Sava«, S. 477, Anm. 16. [Anm. d. Komm.] Der serbische Athosmönch Teodosije (Teodosije Hilandarac), befaßte sich mit Siluan wohl im Kontext seiner hagiographischen Beschäftigung mit Sava; er schrieb eine der beiden bedeutenden Viten Savas (Ende 13./Anf. 14. Jahrhundert) und wie Siluan zwei Eulogien auf Sava und Simeon. Zu Teodosijes Hauptwerk vgl. MüllerLandau, Studien zum Stil der Sava-Vita Teodosijes. [Anm. d. Komm.] »po istineˇ 〈…〉 silnь 〈…〉 razumomь i kreˇpьkь vь sloveˇ« (Stari srpski zapisi i natpisi, S. 39). Kovacˇevic´, »Studije iz stare knjizˇevnosti«, S. 33. Die Erwähnung der Versform unterstreicht die Besonderheit des altserbischen im Unterschied zum altrussischen Literatursystem. [Anm. d. Komm.] Zu slavoslovie als Begriff für ein enkomiastisches Genre vgl. Einleitung S. 475. [Anm. d. Komm.] Antologija stare srpske knjizˇevnosti, S. 322 f. (nebst Abdruck der beiden Primärtexte ´ orovic´, »SiS. 93 [Anm. d. Übs.]); Radojicˇic´, Staro srpsko pesnisˇtvo, S. 89 f. Vgl. C luan i Danilo II«, S. 32 f. – Die Primärtexte sind heute leicht zugänglich im Internet anthologisiert: Staro srpsko metafizicˇko pesnisˇtvo (auf einer Website der in Stockholm erscheinenden zweisprachig schwedisch-serbischen Kulturzeitschrift Dijaspora). [Anm. d. Komm.]
497
Siluans Lobpreis auf Simeon
besprochen,10 so ist dessen Schlußfolgerung nochmals zuzustimmen, »daß Siluan auch die Verse auf den Hl. Simeon verfaßte. Und diese hat er sich als eine Fortsetzung der Verse auf den Hl. Sava gedacht.« 11 Nachdem wir seinerzeit den ersten Lobpreis einer Analyse unterzogen haben,12 versuchen wir nun, die *Struktur des zweiten dieser beiden eng verbundenen, sich ähnelnden und gleichzeitig äußerst verschiedenartigen Gedichte des serbischen Dichters zu zergliedern: I 1 2 3 4 5 6 7
1 2 3 4 5 6 7
1 2 3 4 5 6 7
Slavi Tamo Roda Tùm he Uma Tùm ubo Slova
otbùgnuv ot’ëdu svùtlostè rodu visota uma slavi
Slavu slava vùri svùtilo sana viwe Savù
obrùte, êvi se svùtlostè êvi se visotu dobrotu splete
Savo, rodu. prùzrù, vsemu. svrèhe, stihe. Siluan.
Slavi Tamo Roda Teˇm zˇe Uma Teˇm ubo Slova
otbeˇgnuv ot’judu sveˇtlostь rodu visota uma slavi
slavu slava veˇri sveˇtilo sana visˇe Saveˇ
obreˇte, javi se sveˇtlostь javi se visotu dobrotu splete
Savo, rodu. preˇzreˇ, vsemu. svrьzˇe, stizˇe. Siluan.
Dem Ruhm entsagend, hast du Ruhm gefunden, Sava, Von daher zeigte sich der Ruhm dem Geschlecht. Des Glaubens Glanz verachtete des Geschlechtes Glanz, Damit zeigte sich das Licht dem ganzen Geschlecht. Des Verstandes Größe verwarf des Adels Größe, Und dadurch hast du eine den Verstand überragende Schönheit 13 erlangt. Die Ruhmesworte 14 für Sava flocht Siluan.
10 Radojicˇic´, »Siluanovi stichovi«; Lesarten der Handschriften S. 51 u. 53. 11 A. a. O., S. 56. 12 Siehe Jakobson, »Siluanovo slavoslovie Sv. Save« [Anm. v. R.J.] – Vgl. die deutsche Übersetzung, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 471–493. [Anm. d. Komm.] 13 S. Jakobson, »Siluans Lobpreis auf den Hl. Sava«, S. 476, Anm. 14. [Anm. d. Komm.] 14 S. a. a. O., S. 476, Anm. 15. [Anm. d. Komm.]
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II 1 2 3 4
1 2 3 4
1 2 3 4
Savù slovu Slavu slova Mirodrèhstvo Murotoqstvo
poslùdovav, naslùdova dostoqëdno viweslavno
Simeone, svùtlo tamo. prùzrùv, slavne, prie slavno.
Saveˇ slovu Slavu slova Mirodrьzˇstvo My¨rotocˇstvo
posleˇdovav, nasleˇdova dostocˇjudno visˇeslavno
Simeone, sveˇtlo tamo. preˇzreˇv, slavne, prie slavno.
Savas Wort folgend, Simeon, Des Ruhmes Worte ererbtest du leuchtend dort. Die weltliche Macht bewundernswert zurückweisend, Gerühmter, Den höchstrühmlichen Myrrhenduft [der Heiligkeit] 15 empfingst du rühmlich.
Jede der sieben Zeilen von Savas Lobpreis (I) besteht aus fünf *»Worteinheiten«, d. h. aus betonten Wörtern mit oder ohne *Enklitika. Der zweite Halbvers, der die letzten zwei der fünf Sektoren 16 umfaßt, enthält fünf Silben: 2 + 3 in der siebten Zeile, 3 + 2 in den restlichen Zeilen.17 Der erste Halbvers, d. h. die drei Anfangssektoren, zählt im Schlußvers des Siebenzeilers sechs Silben (2 + 2 + 2), sieben in den übrigen, in denen sich der erste Halbvers aus einem dreisilbigen und zwei zweisilbigen Sektoren zusammensetzt. So weisen alle Zeilen von der ersten bis zur sechsten ein zwölfsilbiges *Versmaß auf (7 + 5), die thematisch isolierte siebte Zeile jedoch, welche den Namenszug des Autors enthält, beschränkt sich auf elf Silben (6 + 5). Oder aber bei dreisilbiger Lesart der graphischen Form s plete nähert sie sich der Silbenzahl in den vorhergehenden Versen an, 15 Gemeint ist nicht das Myrrhensalböl Myron, sondern die großen Heiligen zugeschriebene Fähigkeit, Myrrhenduft auszuströmen. (Man denke an Dostoevskijs Roman Die Brüder Karamasov mit der Figur des Starez Sosima, dessen Körper nach dem Tode nicht den erwarteten Wohlgeruch ausströmt.) [Anm. d. Komm.] 16 Auch im Original ›sektor‹. Der Begriff unterstreicht die dichte Textorganisation, wo jedes Gliederungselement einen strukturellen Wert als Element einer Matrix besitzt. Der Text zeugt vom mittelalterlichen Maß- und Zahlendenken. [Anm. d. Komm.] 17 Zur Dreisilbigkeit des Wortes sveˇtlostь s. Jakobson, »Siluanovo slavoslovie Sv. Save«, ´ orovic´, »Siluan i Danilo II«, S. 32. [Anm. v. R.J.] – Vgl. die deutsche S. 194, und C Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe: Jakobson, »Siluans Lobpreis auf den Hl. Sava«, S. 478 u. 484 f. [Anm. d. Komm.]
Siluans Lobpreis auf Simeon
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erhält jedoch andererseits in diesem Fall eine ungewohnte Gleichsilbigkeit der Halbverse (6 + 6). Obwohl der Vierzeiler zum Ruhme Simeons (II) seinerseits am zwölfsilbigen *Metrum festhält, ist er im inneren Versbau dem behandelten Siebenzeiler (I) gänzlich unähnlich. Besonders unterscheidet sich der Lobpreis auf Simeon durch die silbische Homogenität aller Sektoren und das Fehlen einer konstanten Zahl an Worteinheiten in der Zeile, hauptsächlich aber durch das Überwiegen des geraden Prinzips in der Konstruktion des ganzen Gedichts. Jede der vier Zeilen ist durch feste *Wortgrenzen 18 in drei viersilbige Sektoren (a, b, c) gegliedert. Der lexikalische Bestand des Gedichts beschränkt sich auf sieben viersilbige und zehn zweisilbige Wörter. Wortgrenzen sind nur nach den geraden Silben des Verses zulässig und nach jeder zweiten von diesen obligatorisch. Der ungeteilte Sektor besteht aus einem viersilbigen Wort und der geteilte aus zwei zweisilbigen Wörtern. Der zweite, mittlere (b) ist in keinem der vier Verse geteilt. Auf diese Weise meidet der Vers die Einteilung in zwei gleiche, sechssilbige Halbverse. Entweder sind beide Außensektoren oder einer von ihnen – der erste (a) oder der dritte (c) – geteilt, so daß der Vers nicht weniger als einen und nicht mehr als zwei gleichartige, d. h. geteilte, oder aber, im Gegensatz dazu, ungeteilte Sektoren enthält: (2 + 2), (2 + 2), 4, 4,
4, 4, 4, 4,
4 (2 + 2) (2 + 2) (2 + 2)
Die *Spiegelsymmetrie stellt die zwei letzten Verse dem ersten gegenüber, und der zweite Vers, mit seinen beiden geteilten Sektoren, ist der einzige fünfhebige unter den restlichen, vierhebigen Versen. Er ist mit dem vorausgehenden Vers durch eine Art metrische *Anapher verbunden, und andererseits mit den beiden folgenden Versen durch eine Art metrische Epipher. Der Gliederung der Wortgrenzen innerhalb der Sektoren liegt das dissimilative Fortschreiten einer wellenförmigen regressiven Kurve (2 0 3) zugrunde.19 Gegen Ende des Verses, innerhalb des letzten, 18 Zur versifikatorischen Bedeutung der Wortgrenzen vgl. das einschlägige Kapitel »Die Wortgrenze und ihre Funktion im Vers« in Jakobsons früher Monographie Über den tschechischen Vers, S. 36–43. [Anm. d. Komm.] 19 Vgl. die prominente Diskussion der regressiven Akzentdissimilation der russischen *binären Metren in Jakobson, »Linguistics and Poetics«, S. 31–33 (deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 177 f.). Die (implizite) Gleichstellung von Akzenten und Wortgrenzen – letztere dienen für die Beschreibung des Rhythmustyps dieses Gedichts, wie erstere für die syllabotonische Lyrik – zeigt
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dritten Sektors, gibt es ein Maximum, d. h. drei Wortgrenzen, vorher, innerhalb des zweiten Sektors besteht eine Abwesenheit der Wortgrenzen, und innerhalb des ersten gibt es zwei. An der Grenze zweier Verse sind kraft der Dissimilation 20 Wörter ein und derselben Silbenzahl unzulässig, so daß auf ein viersilbiges Wort am Versende ein Vers folgt, der mit einem zweisilbigen Wort einsetzt. Wenn aber ein Vers mit einem zweisilbigen Wort endet, beginnt der nächste mit einem viersilbigen Wort. Somit beruht der lexikalische Bestand des Lobpreises auf Simeon auf dem regelmäßigen Wechsel viersilbiger Wörter mit paarweise verbundenen zweisilbigen Wörtern, während der Lobpreis auf Sava aus zweisilbigen und dreisilbigen Worteinheiten besteht. In den ersten sechs Versen des Siebenzeilers wird die Alternation zweisilbiger und dreisilbiger Einheiten – (2 + 3 + 2) + (3 + 2) – mit vereinzelten Verschiebungen im ersten Halbvers – (2 + 2 + 3) oder (3 + 3 + 2) – eingehalten. Nicht umsonst sagte an der Schwelle des Jahrhunderts Teodosije von Hilandar 21 in der Messe für den Hl. Sava: »Du (Sava) hast deinen leiblichen Gebärer geistlich geboren«.22 Die in der Vita vorgenommene Inversion bezüglich der Chronologie des Asketentums von Sava Nemanicˇ und Simeon Nemanja 23 neben der Gemeinsamkeit ihrer Schicksale verwandelte den Lobpreis auf Simeon in eine natürliche Fortsetzung und Variation der zum Ruhme seines Sohnes verfaßten Verse. Das Ende des Siebenzeilers I7 Slova slavi Saveˇ splete Siluan [›Die Worte des Lobs auf Sava flocht Siluan‹] kehrt am Anfang des Vierzeilers wieder II1 Saveˇ slovu posleˇdovav, Simeone [›Savas Wort gefolgt habend, Simeon‹]. Die besondere Lautfaktur 24 bindet diese und die folgende Zeile fest zusammen, (II1a sav –
20 21 22 23 24
dabei, welch hohe Bedeutung Jakobson den (außerhalb der russischen Metriktheorie weitgehend vernachlässigten) Wortgrenzen als Rhythmuskonstituenten beimißt. [Anm. d. Komm.] Der sehr modern wirkende Gedanke der Dissimilation – wörtlich: ›Entähnlichung‹ – ist im Zusammenhang mit Jakobsons *Äquivalenzdenken zu sehen, ist gewissermaßen die Kehrseite des Ähnlichkeitskonzepts. [Anm. d. Komm.] S. o. Anm. 4 [Anm. d. Komm.] »Ti [Savo] roditelja po telu tvoga duchom rodio jesi.« (Trifunovic´, »Stara srpska pojana poezija«, S. 273). Mit der Abkehr vom Weltlichen und Übertritt zum asketischen Mönchstum folgte der Fürst dem Beispiel und Rat seines Sohnes. Auch durch seinen Status als Nationalheiliger rangiert Sava höher als sein Vater Simeon. [Anm. d. Komm.] Der russische Terminus faktura ist eine Vorstufe des Texturbegriffs. Ursprünglich in der Malerei ein haptisch-taktiles Konzept der Fühlbarkeit der materiellen (textilen) Struktur der Leinwand und des dreidimensionalen Farbauftrags, bedeutet faktura in der Avantgardetheorie die literarische Konstruktion (formalistisch: Gemachtheit); in heutiger Begrifflichkeit ausgedrückt: die Materialität und Medialität des Textes.
Siluans Lobpreis auf Simeon
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slovu – b sl… ovav – c s; 2a slavu slova – b asl..ova – c sv.tl; vgl. 3a stv usw.), und die beiden Anfangsverse des Vierzeilers kommen der Schlußphrase des Siebenzeilers deutlich nahe: I7 Slova slavi Saveˇ – II1a Saveˇ slovu – 2a Slavu slova; I7 splete – II1b posle ˇdovav / spl – p.sl/; I7 Siluan – II1c Simeone /si.uan – si..eon/. Es handelt sich hierbei um das einzige Beispiel für einen *Hiatus mitten im Wort in I und für einen Hiatus überhaupt in II; vgl. auch in I1 otbeˇgnuv, slavu obreˇte, Savo, 2 Tamo, 3 sveˇtlost preˇzreˇv, – II1b posleˇdovav, c Simeone, 2a Slavu, b nasleˇdova, c sveˇtlo tamo, 3c preˇzreˇv; I6 uma visˇe – II4 visˇeslavno. Innerhalb des Vierzeilers wird kein Wort vollständig wiederholt, wogegen die Wiederholung von Wörtern, die ihren morphologischen Charakter verändern, in Siluans Poetik eine vielseitige Rolle spielt. Die parallelen Sektoren innerhalb der Verspaare sind miteinander eng verbunden durch einen ähnlichen lautlichen oder grammatischen Aufbau, recht häufig durch beides: 1a Save slovu – 2a Savu slova; 1b posleˇdovav – 2b nasleˇdova. Blasser ist die Entsprechung zwischen den Schlußsektoren dieser Zeilen, den einzigen parallelen Sektoren mit unterschiedlicher Wortzahl: 1c Simeone – 2c sveˇtlo tamo /s. m – s m/; 3a mirodrzˇstvo – 4a my¨rotocˇstvo; 3b dostoc ˇjudno – 4b visˇeslavno; 3c preˇzreˇv, slavne – 4c prie slavno. Gleichzeitig schiebt der grammatische und thematische *Parallelismus die beiden Verspaare folgerichtig enger zusammen – zwei symmetrische Sätze, wo die ungeraden, gleich gebauten Zeilen als *Protasis dienen, und die geraden, ihrerseits gleichartigen Zeilen in jedem Verspaar eine *Apodosis bilden. Die grammatischen Entsprechungen zwischen den benachbarten Zeilen innerhalb des Verspaars sind teils von einer gemeinsamen Verbindung der beiden Verspaare begeleitet. Teils aber zeigt sich eine absichtliche Abweichung zwischen beiden Ebenen, und zwar eine scharfe Gegenüberstellung beider ungeraden und beider geraden Zeilen oder ein nicht minder frappierender *Kontrast zwischen dem ersten und zweiten Verspaar. Der Text des Gedichts zählt siebzehn Wörter. Als drittes Wort in jedem Vers tritt stets eine Verbform auf, die den gesamten mittleren Sektor der beiden Anfangszeilen ausfüllt, und in den beiden folgenden Zeilen verschiebt sie sich in die erste Hälfte des Schlußsektors. Alle vier Verbformen stehen im *perfektiven Aspekt, und jede von ihnen ist mit einem anderen Präfix versehen. Die Verbform der ungeraden Zeilen ist Von ›lautlicher Faktur‹ spricht Jakobson stets an Stellen intensiver und intrikater Lautwiederholungsstrukturen, die u. U. auch Ähnlichkeiten zum *Anagramm haben. [Anm. d. Komm.]
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ein *Adverbialpartizip im Präteritum, das dem *Aorist der folgenden geraden Zeilen untergeordnet ist: 1b posleˇdovav – 2b nasleˇdova‹ ›gefolgt habend, übernahmst du‹; 3c preˇzreˇv – 4c prie ›zurückgewiesen habend, erlangtest du‹. Die Substantive (sieben) und die Adjektive (drei) sind durch zwei gleichklingende Vokative – beide am Ende der ungeraden Zeilen (1c Substantiv Simeone, 3c Adjektiv slavne) – repräsentiert sowie durch acht Kasusformen in der Rolle abhängiger Satzglieder, in jeder Zeile des Vierzeilers je ein adverbales und ein adnominales Glied: zunächst zwei Dativformen 1a Saveˇ (ein adnominaler possessiver Dativ) slovu b posleˇdovav, dann drei Substantive im Akkusativ, das eine mit adnominalem Genitiv (2a Slavu slova b nasleˇdova), die beiden anderen (3a, 4a) mit nachgestellten Adjektivattributen desselben Kasus. In allen vier Zeilen wird der gesamte Anfangssektor von Substantiven in regierten Kasusformen eingenommen, und einzig im Anfangssektor haben solche Formen ihren Platz. Umgekehrt enthält der Schlußsektor in seinen ungeraden Zeilen Vokative (s. oben), und in den geraden drei Adverbien (2c sveˇtlo tamo, 4c slavno). Diese zwei Kategorien sind syntaktisch von den Kasusparadigmen losgelöst. Dieses Loslösen spiegelt sich geradlinig in allen Versen des Vierzeilers, welcher die Kasusformen regelmäßig auf der einen Seite, die Vokative und Adverbien auf der anderen Seite des Verbs verteilt. Deutlich sticht der einheitliche Bau der Satz-Verspaare hervor: in beiden ungeraden Zeilen ist die identische Form des Adverbialpartizips einem in *Person und *Genus gleichen Aorist untergeordnet. Dieser bezieht die gleiche Position wie das Adverbialpartizip in der anschließenden geraden Zeile. Sowohl dem Adverbialpartizip als auch dem Aorist gehen nominale Objekte voraus, die im ersten Verspaar von einer adnominalen Ergänzung und im zweiten von einem Adjektivattribut begleitet werden. Dem Adverbialpartizip folgt der die ungerade Zeile abschließende Vokativ, während in der geraden Zeile am Ende des Hauptsatzes auf den Aorist Adverbien folgen. Somit sind infolge der Dissimilation mit den Adverbien nur verba finita verbunden, jedoch nicht die Adverbialpartizipien, die mit dem Adverb verwandten Adverbialformen des Verbs. Halten wir fest, daß abzüglich der beiden Adverbialpartizipien, welche direkt durch eine Anredeform abgelöst werden (1b posleˇdovav, 3c preˇzreˇv), in allen übrigen fünfzehn Wörtern des Vierzeilers die letzte Silbe offen ist. Unmittelbar auf die beiden Aorist-Beispiele folgen gleichfalls ähnliche qualitative Adverbien 2c sveˇtlo und 4c slavno, die mit dem einzigen pronominalen Ortsadverb 2c tamo kontrastieren. Dieses an den ersten sowie an den zweiten, abschließenden Satz grenzende Adverb verweist *anaphorisch auf vorher bereits Gesagtes: »dort, wo sich der Vater dem Sohn Sava an-
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schloß«, oder, gemäß dem vorausgehenden Lobpreis: Tamo, otjudu slava javi se rodu [›Von dort, woher sich der Ruhm dem Geschlecht zeigte‹]. Im Unterschied zu den qualitativen Adverbien, die Steigerungsstufen aufweisen, beschließt das einzige unveränderliche und darüber hinaus das einzige pronominale Wort im ganzen Gedicht tamo das erste Verspaar plastisch und grenzt ihn vom zweiten ab, das sich vollständig dem Vater Simeon widmet. Dieses Wort zieht eine Grenze zu den lautbildlichen *Figuren des Beginns, vor allem zur achtfachen s-*Alliteration der Wortstämme, welche die Namen Savas und Simeons heiligen, sowie zur Wiederholung von /sl-v /sl-v /sl-v /sv-l, welche die zweite Zeile zusammenschmiedet und deren zwei Anfangssektoren durch einen verschnörkelten inneren *Reim 25 verflicht: slavu slova – nasleˇdova. Der charakteristischen Alliteration des ersten Verspaars antworten die folgenden Zeilen mit dem *labialen Anlaut (/m/ – /p/) der ungeraden Randsektoren: 3a mirodrz ˇstvo – c preˇzreˇv, – 4a my¨rotocˇstvo – c prie. Zweimal erfolgt die Wiederholung eines Wortes mit wechselnden Schlußvokalen, und zwar im Anfangssektor der beiden ersten und im Schlußsektor der beiden letzten Verse: 1a slovu – 2a slova und 3c slavne – 4c slavno. Hier verbindet sich die Strukturähnlichkeit der beiden Verspaare, die ein und dasselbe Verfahren anwenden (obendrein mit Wörtern verwandter und ähnlicher Stämme) mit dem sichtbaren Unterschied der Position ein und derselben Figur im ersten und im letzten Verspaar. Erinnern wir daran, daß der zweigliedrige Charakter der Anfangssektoren nur den ersten zwei Zeilen eigen ist und daß andererseits in den beiden abschließenden Zeilen ausschließlich die Schlußsektoren zweigliedrig sind. Ebenso wie die Teilung des Vierzeilers in innerlich geschlossene und gegeneinander abgegrenzte Verspaare (1., 2. und 3., 4.) finden die gemeinsamen Merkmale der beiden ungeraden Verse (1., 3.), welche den die geraden Zeilen verbindenden Eigenheiten gegenüberstehen (2., 4.), ihren kunstvollen Ausdruck im Lobpreis, den Siluan wahrhaftig flocht.26 So benannte der Künstler selbst seine meisterhafte Kunst, entsprechend der serbischen literarischen Begrifflichkeit jener Zeit.27 25 Russ. »prichotlivaja vnutrennjaja rifma«; ebenfalls Umschreibung für spezielle Lautwiederholungen mit Anagrammtendenz, wie sie für das Wortflechten charakteristisch sind. [Anm. d. Komm.] 26 Bezug auf die autoreflexive Formel des Wortflechtens; vgl. Einleitung zu »Siluans Lobpreis auf den Hl. Sava« (S. 472). [Anm. d. Komm.] ´ orovic´, »Siluan i Danilo II«, S. 21. [Anm. v. R.J.] – Hier wäre explizit der 27 Vgl. C Begriff pletenije sloves (altserb. Wortflechten) fällig. Jakobsons Formulierung klingt fast wie eine circumlocutio, als ob er die topische Formel vermeiden wolle. In jedem
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Das zweite Verspaar hebt sich ausdrucksvoll vom ersten ab durch die Steigerung der feierlichen Diktion infolge des Übergangs von einer schlichten Gradation des konsekutiven Geschehens (1b posleˇdovav – 2b nasleˇdova) hin zu einer dramatisch zugespitzten *Antithese: den abgewehrten Versuchungen der weltlichen Macht wird die hohe Bestimmung des seligen Gottesknechts entgegengesetzt. Während es in den ersten zwei Versen des Lobpreises keine *Epitheta gibt, entspricht gerade das dreimalige Auftreten von Adjektiven im zweiten Verspaar dem geschmückten Stil 28. Dieselbe stilistische Veränderung bezeugen das Fehlen von Wortbildungssuffixen in den deklinierten Formen des ersten Verspaars und umgekehrt, im zweiten Verspaar, die beharrliche Suffigierung der Substantive (3a, 4a/stv/) und der Adjektive (3b, c, 4b, – /n/). Aus zwei Wurzeln bestehende Komposita, die in den ersten Zeilen nicht vorkamen, nehmen zwei Drittel des letzten Verspaares ein: zwei viersilbige Substantive mit zwei viersilbigen Epitheta, die alle vier von offensichtlich kunstvoller Anlage sind. Reiche Wiederholung vereinigt das abschließende Adjektiv des ersten Paares und das erste Substantiv des zweiten Paars: 3b dostocˇjudno – 4a my¨rotocˇstvo /ostocˇ – otocˇs/. Die beiden anderen Komposita, 3a mirodrzˇstvo – 4b vis ˇeslavno, sind ihrerseits durch die Wiederholung von /sˇs.v – v.sˇ.s/ einander angenähert. Beide Wortpaare bestehen aus *Zischlauten, eins aus *Affrikaten, das andere aus *Frikativen, und diese vier Zischlaute rufen den gebührenden Effekt hervor, zumal sie die einzigen *kompakten Konsonanten innerhalb des ganzen Lobpreises sind. Seine dritte Zeile, die im Unterschied zu den anderen in das weltliche Vorleben Stefan Simeons zurückkehrt, exponiert eine Anhäufung von stimmhaften *Dentalen (mirodrzˇstvo dostocˇjudno preˇzreˇv), welche der vierten Zeile fremd sind und die insgesamt je einmal in den ersten beiden Zeilen begegnen: 1b poslˇedovav, 2b nasleˇdova. Bezeichnend sind die Besonderheiten bei der Aufteilung der *Liquida im zweiten Verspaar und seinen einzelnen Zeilen. Im Verlauf des gesamten Vierzeilers läßt sich eine bemerkenswerte *Symmetrie in der Verteilung der Liquida zwischen den Einzelteilen seiner Zeilen beobachten: alle drei Sektoren der vier Verse zählen je drei /l/, und /r/ seinerseits taucht insgesamt je dreimal im ersten und im dritten Sektor auf, dagegen fehlt es im zweiten. Das *Phonem /l/ begegnet im zweiten Verspaar zweimal Falle legt die 1981 eingefügte Quellenangabe nahe, daß Jakobson mittlerweile auch ´ orovic´s Studie untersuchte Texte mit Wortflechtmotiv zur Kenntnoch weitere in C nis genommen haben könnte. [Anm. d. Komm.] 28 ukrasˇennyj slog, der schwergeschmückte Stil, ornatus difficilis; vgl. Einleitung zu »Siluans Lobpreis auf den Hl. Sava« (S. 472). [Anm. d. Komm.]
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weniger als im ersten und umgekehrt zweimal häufiger in der zweiten als in der ersten Zeile jedes Verspaares, d. h. 2:4 = 1:2. Der *Vibrant /r/ fehlt im ersten Verspaar. Im folgenden ist die Anzahl der Vibranten ebenso hoch wie die Zahl der *Laterale im ersten Verspaar, jedoch in umgekehrter Beziehung zwischen beiden Zeilen, d. h. 4:2 (zwei mal /g/ in den Außensektoren der dritten Zeile und einmal in den Außensektoren der vierten Zeile). Auf diese Weise stehen im Vers über die abgewehrten weltlichen Versuchungen ein Minimum an Lateralen (1 /l/) und ein Maximum an Vibranten (4 /r/) – je zwei an den Grenzen der Wortstämme: 3a mirodrz ˇstvo, 3c preˇzreˇv. Überhaupt ist der Konsonantismus des zweiten Verspaares reich an wiederholten Phonemen innerhalb der Stämme (dostocˇjudno, my¨rotocˇsttvo, visˇeslavno), eine Besonderheit, die dem ersten Verspaar unbekannt ist. Geht man nun von den beiden Liquida zur anderen Unterreihe von *Sonoren über, d. h. zu den beiden *nasalen Konsonanten, muß man bemerken, daß von den auf alle vier Zeilen des Lobpreises verteilten vier /m/ im ersten Verspaar zwei Phoneme in den Schlußsektor und im folgenden Verspaar zwei in den Anfangssektor fallen. Von insgesamt sechs /n/ befinden sich je drei im Mittel- und im Schlußsektor, und zwar je einmal im ersten und je zwei im anderen Verspaar. Die sakrale Anrede an Simeon nimmt eine gesonderte Stellung unter den zwölf Sektoren des Lobpreises ein. Es handelt sich um den einzigen Sektor, wo nicht die Konsonanten die Vokale überwiegen, sondern die Vokale die Konsonanten (4:3) und die Sonoren den einzigen *Obstruenten, d. h. das anlautende /s/. Letzterer bildet mit sieben benachbarten dentalen Frikativen eine Alliteration. Zuerst erscheinen die beiden Nasale, beidesmal von einem /e/ gefolgt, in den geraden Silben des Vokativs simeone. Auch die nächsten drei Zeilen enden mit Nasalen, denen regelmäßig alternierend /e/ und /o/ folgen: 1c Simeone – 2c tamo – 3c slavne – 4c slavno. Von den zwei verschiedenen nasalen Phonemen fällt eines stets auf die letzte Silbe des Verses – im Wiederholungsfalle gleichfalls auf die letzte Silbe des zweiten Sektors (3b dostocˇjudno, 4b visˇeslavno), während das andere die Anfangsposition zunächst im zweiten Sektor (2b nasleˇdova) einnimmt, dann im ersten Sektor (3a mirodrzˇstvo, 4a my¨rotocˇestvo), wohingegen im abschließenden Verspaar das gegensätzliche Nasalphonem das Ende des zweiten Sektors beherrscht. Im Ergebnis bilden die Nasale der Anfangs- und Schlußsilbe in den Sektoren des ersten und zweiten Verspaars eine strenge Proportion: 1:2 = 2:4. Aus der das erste Verspaar beendenden Silbe wechselt /m/ direkt in die Anfangssilbe des folgenden Verspaares: 2c tamo – 3a miro-
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drzˇstvo. Genau am Anfang des zweiten Verspaares wird zum ersten Mal der erste Vokal des Namens Simeon aufgegriffen; das gleiche Phonem kehrt im *Homonym 4a my¨ro- wieder. Ist die dritte Silbe aller Sektoren der ersten Zeile vom Vokal /o/ durchwoben 29 (1a Save slovu b posleˇdovav, c Simeone), so vereinigt das /i/ in der ersten Silbe der drei Sektoren die Schlußzeile (4a mirotocˇestvo, 4b visˇeslavno, 4c prie slavno). Der Vokalismus dieser Zeile ist darüber hinaus durch den Vokal /o/ hervorgehoben, der jeden Sektor beschließt, und durch die völlige Identität der gesamten Vokalreihe in den letzten zwei Sektoren: /i/ – /e/ – /a/ – /o/. Nicht zufällig wiederholen die zwei ersten Vokale am Schluß des Lobpreises auf Simeon den Vokalismus der beiden Anfangssilben seines Namens: 1c Simeone – 4c prie slavno. Den Lobpreis [›Slavu slova‹] Savas, der das erste Verspaar krönt, bringt das zweite Verspaar dem leiblichen Vater des Asketen, der zu ebendessen geistigem Sohne geworden ist,30 erhöhend dar: 3c slavne, 4b viˇseslavno, 4c slavno, gleichsam als Erwiderung auf die umgekehrte Reihenfolge der Verherrlichungen in Siluans Siebenzeiler, wo der Ruhm im ersten Verspaar dreifach genannt wurde (I1,1,2) und die siebte Zeile mit Slova slavi Save schließt. Unter den wirksamen künstlerischen Mitteln muß man natürlich auch die strenge Beschränkung des Repertoires grammatischer Kategorien erwähnen, welche in den Lobpreis auf Simeon Eingang finden. Unter ihnen gibt es beispielsweise keinen Plural, keine pronominalen Substantive und Adjektive, keine Konjunktionen, keine Präpositionen. Gerade kraft dieser strengen Auswahl gewinnt er Kürze, Zielstrebigkeit und kompositorische Einheit. Außer den beiden männlichen Eigennamen, die den ersten Vers anschaulich rahmen (1a Saveˇ – 1c Simeone), gehören alle Substantive, das Femininum (2a slavu) und die vier Neutra, zur Gruppe der *Abstrakta, die mit den Sprachbildern 31 der beiden Gerechten kontrastieren und zugleich korrespondieren. Im Gedicht gibt es keinen Nominativ, auch kein direkt genanntes Subjekt. Nur der Vokativ verrät die grammatische Person des narrativen Prädikats und identifiziert das einzige – sowohl syntaktisch als auch thematisch – Agens, den einen Mittelpunkt des ausgesucht schlichten Lobpreises, den Siluan Stefan-Simeon widmet. 29 Der Begriff des Webens gehört wie andere Textilbegriffe zum Ausdrucksrepertoire des Wortflechtens. [Anm. d. Komm.] 30 Zur Umkehrung der Vater-Sohn-Folge s. o. Einleitung S. 495 f. [Anm.d. Komm.] 31 slovesnyj obraz, auch: verbales Bild oder Wortgestalt. Gemeint ist das Signifikantenmaterial der Personennamen. [Anm. d. Komm.]
Siluans Lobpreis auf Simeon
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Editorische Notiz Verfaßt in Cambridge, Mass. and Ossabaw Island, Georgia 1970 und zuerst veröffentlicht in Xenia Slavica: Papers Presented to Gojko Ruzˇicˇic´ on the Occasion of his Seventy-fifth Birthday, hg. v. R. L. Lencek and B. O. Unbegaun, The Hague, Paris: Mouton 1975, S. 75–83.
Literatur Jakobsons eigene Literaturangaben sind mit ° gekennzeichnet. °Antologija stare srpske knjizˇevnosti (XI–XVII veka) [›Anthologie des altserbischen
Schrifttums (11.–17. Jhd.)‹], hg. v. ÐordÑe Sp. Radojicˇic´, Beograd: Nolit 1960 (= Antologija jugoslovenske knjizˇevnosti). ´ orovic´, V.: »Siluan i Danilo II, srpski pisci XIV–XV veka« [›Siluan und Danilo °C II, serbische Schriftsteller des 14.–15. Jhds.‹], in: Glas Srpske akademije nauka 136 (1929), S. 13–54. Jakobson, Roman Osipovicˇ: »Die Wortgrenze und ihre Funktion im Vers«, in: ders., Über den tschechischen Vers, S. 36–43. — »Linguistics and Poetics«, in: SW III, S. 18–51. – »Linguistik und Poetik«, übs. v. Stephan Packard, komm. v. Hendrik Birus, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 154–216. ° — »Siluanovo slavoslovie Sv. Save«, in: SW III, S. 193–205. – »Siluans Lobpreis auf den Hl. Sava«, übs. v. Alexander Nebrig u. Erika Greber, komm. v. Erika Greber, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 471–493. — »Slavoslovie Siluana Simeonu«, in: Xenia Slavica. Papers Presented to Gojko Ruzˇicˇic´ on the Occasion of his Seventy-fifth Birthday, hg. v. Rado L. Lencek u. Boris O. Unbegaun, The Hague, Paris: Mouton 1975 (= Slavistic Printings and Reprintings), S. 75–83. ° Kovacˇevic´, Bozˇibir: »Studije iz stare knjizˇevnosti. I. O profanoj poeziji« [›Studien aus dem alten Schrifttum. I. Über die weltliche Poesie‹], in: Glasnik Jugoslovenskog profesorskog drusˇtva 12 (1931), Nr.1 (Sept.), S. 20–43. Müller-Landau, Cornelia: Studien zum Stil der Sava-Vita Teodosijes. Ein Beitrag zur Erforschung der altserbischen Hagiographie, München: Sagner 1972. ° Radojicˇic´, ÐordÑe Sp: »Siluanovi stihovi« [›Siluans Gedichte‹], in: Zbornik radova Instituta za proucˇavanje knizˇevnosti Srpske Akademije nauka 1 (1951), S. 51– 56. °Stari srpski zapisi i natpisi [›Altserbische Handschriften und Aufschriften‹], hg. v. Ljubomir Stojanovic´, Bd. 1, Beograd: Sˇtampano u druzˇavnoj ˇstampariji Kraljevine Srbije 1902 (= Srpska Kraljevska akademija). Staro srpsko metafizicˇko pesnisˇtvo [›Die altserbische metaphysische Dichtung‹], hg. v. Radomir Baturan; URL: http://www.dijaspora.nu/srpski/njvk/srpsko pesnistvo.html#slavi (3. 3. 2005).
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Roman Jakobson
°Staro srpsko pesnisˇtvo IX–XVIII veka [›Die altserbische Dichtung des 9.–17.
Jhds.‹], hg. v. ÐordÑe Sp. Radojicˇic´, Krusˇevac: Bagdala 1966. Todt, Klaus-Peter: Art. »Sava«, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. VIII, hg. v. Traugott Bautz, Herzberg: Verlag Traugott Bautz 1995, Sp. 1442–1446. – Auch im Internet unter dem URL http://www.bautz.de/ bbkl/s/s1/sava.shtml (3. 3. 2005). ° Trifunovic´, ÐordÑe: »Stara srpska pojana poezija« [›Die altserbische geistliche Poesie‹], in: Knjizˇevna istorija 1 (1968), H. 2, S. 239–305. [Französisches Re´sume´ S. 306 f.]
Roman Jakobson
»Die die Gottes-Kämpfer sind«. Der Wortbau des Hussiten-Chorals 1 Übersetzung aus dem Tschechischen und Kommentar Hendrik Birus Diese – als eine der ersten entworfene – strukturalistische Gedichtanalyse Jakobsons ist dem ihm aus seiner Prager Zeit bekannten und seit Kriegsende an der Yale University lehrenden Komparatisten und Mitverfasser des Standardwerks des ›New Criticism‹, 2 Rene´ Wellek, gewidmet und behandelt, natürlich auf Tschechisch, das wohl bekannteste Hussitenlied (vergleichbar Luthers »Ein feste Burg ist unser Gott […]«), das leitmotivisch Smetanas symphonischen Zyklus »Ma vlast« (›Mein Vaterland‹) wie auch Dvorˇa´ks »Husitska´«-Ouvertüre durchzieht. Zugleich ist diese Analyse ein spätes Echo auf Jakobsons in den zwanziger und dreißiger Jahren verfaßte Studien zur alttschechischen Poesie. Wie Jakobson hier die verschiedenen Gliederungsmöglichkeiten des Hussitenlieds durchspielt und die damit verbundenen Restriktionen wie Aktualisierungen im Repertoire der Lexik und der verwendeten grammatischen Kategorien aufzeigt, wie er die Metrik und die Klangtextur in die Betrachtungen einbezieht und wie er schließlich das Lied und seine einzelnen Strophen und Teilstrophen als Entfaltung der »Schlüssel-Wortfügung« ›Gottes-Kämpfer‹ und als schrittweise Antwort auf die ihnen gewidmete Eingangsfrage interpretiert, das wird von seinen reiferen strukturalen Gedichtanalysen des folgenden Jahrzehnts nicht in den Schatten gestellt. Was aber diese frühe Analyse besonders 1
2
Vorlage: Jakobson, Roman Osipovicˇ: »›Ktozˇ jsu´ bozˇ´ı bojovnı´ci‹: Slovnı´ stavba husitske´ho chora´lu«, in: SW III, S. 215–231. Erstdruck: Jakobson, Roman Osipovicˇ: »›Ktozˇ jsu´ bozˇ´ı bojovnı´ci‹: Slovnı´ stavba husitske´ho chora´lu«, in: International Journal of Slavic Linguistics and Poetics 7 (1963), S. 108–117. – Ich danke Virginia Richter, Brigitte Schulze, Milosˇ Sedmidubsky´ und Josef Vojvodı´k für hilfreiche Anregungen und Korrekturvorschläge. [Anm. d. Übs./Komm.] Wellek u. Warren, Theory of Literature; dt. Übs.: Theorie der Literatur. [Anm. d. Übs./Komm.]
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auszeichnet, ist einerseits die der spätgotischen Architektur analoge Geometrisierung 3 der grammatischen, metrischen und thematischen *Äquivalenzen des »Wortbaus« dieses Hussitenchorals wie andererseits die literarhistorisch verankerte Dichte ihrer genrespezifischen und intertextuellen Beobachtungen. Hendrik Birus Rene´ Wellek zum sechzigsten Geburtstag
Wie Nejedly´ nachgewiesen hat,4 ist der ursprüngliche Text und die Vertonung dieses hussitischen Kampfliedes derjenige, der im »Jistebnitzer Kantional« 5 überliefert ist, welches kurz nach dessen Entstehen irgendwann zu Beginn der zwanziger Jahre des 15. Jahrhunderts geschrieben worden ist. Dieses Lied – Zisskiana 6 cantio, wie es die Tradition nach dem Zeugnis von Balbin nennt 7 – setzt sich zusammen aus drei gleichen und gleichzeitig dreiteiligen *Strophen. Jede von ihnen hat drei Teilstrophen – den ersten ›versus‹ (V1), den zweiten ›versus‹ (V2) und die ›repetitio‹ (R0). Jede Teilstrophe schließt zwei doppelversige Perioden ein, von denen der erste *Vers acht und der zweite sechs Silben hat. An diese zwei Perioden hängt sowohl die erste als auch die zweite Teilstrophe noch einen weiteren Bestandteil an, und zwar einen einversigen Abgesang 8 von elf Silben, während die dritte Teilstrophe, genannt ›Repetition‹, mit den beiden Perioden aufhört. Nach zwei Teilstrophen (›Versen‹) folgt die ›Repetition‹, nach zwei Perioden in jedem ›Vers‹ gibt es den Abgesang. Die Komposition des Liedes kann man an diesem Silbenschema verdeutlichen: 3{ 2[2(8 + 6) + 11] + 2(8 + 6)} 3 4 5
6 7 8
Vgl. deren graphische Veranschaulichung im Anhang zu meinem Vortrag »Hermeneutik und Strukturalismus. Eine kritische Rekonstruktion ihres Verhältnisses am Beispiel Schleiermachers und Jakobsons«, S. 309–317. [Anm. d. Übs./Komm.] Vgl. Nejedly´, Deˇjiny husitske´ho zpeˇvu, Bd. 4: Ta´borˇi, S. 328–336. Diese reich illuminierte Handschrift eines hussitischen Kirchengesangbuchs, die als eine der ältesten Sammlungen volkssprachlicher geistlicher Lieder in der christlichen Welt gilt, wurde 1872 von Leopold Katz im Pfarrarchiv des Städtchens Jistebnice (nahe bei Ta´bor) gefunden. [Anm. d. Übs./Komm.] S. u., Anm. 32. [Anm. d. Übs./Komm.] ˇ izˇkova«, S. 35. Cf. Toman, »Liternı´ pama´tky, duch a povaha Z In der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kanzonenstrophe (AAB) geht dem ›Abgesang‹ der ›Aufgesang‹ voraus, der seinerseits aus 2 metrisch gleichförmigen ›Stollen‹ besteht. Charakteristischerweise gliedern sich in diesem Lied nicht nur jeweils die beiden vorderen Teilstrophen (sloka1, 2), sondern auch die Gesamtstrophen (strofa) gemäß der Kanzonenform: versus 1 + versus 2 + repetici 0. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Die Strophe hat also vierzehn Verse (5 + 5 + 4) und die Periode vierzehn Silben (8 + 6). Eine Strophe wird gebildet aus drei Paaren vierzehnsilbiger Perioden, voneinander getrennt durch elfsilbige Verse: 2.14 + 11 + 2.14 + 11 + 2.14
Das ganze Lied antwortet auf die Frage, die im ersten ›Vers‹ angedeutet wird: Wer sind und wie sollen ›Gottes-Kämpfer‹ (bozˇ´ı bojovnı´ci) handeln? Diese Schlüssel-Wortfügung 9 ist durch die Identität der Anfangssilbe verbunden, und der *explosive *Labial durchdringt sowohl stimmhaft wie stimmlos das Lied mit *Alliterationen vom ersten bis zum letzten Vers – »Bo´h pa´n na´ˇs« [›Gott (ist) unser Herr‹], wo er beide gleichbedeutenden Nomina miteinander verbindet. Explosive Labiale kommen im Lied am Anfang von 32 Wörtern vor und überdies am Anfang von drei Wörtern mit dem vorangehenden Präfix ne-. In der ersten Strophe (I): bozˇ´ı bojovnı´ci, prostezˇ od boha pomoci, pak-li 〈…〉 pronˇ 〈…〉 bude, blaze 〈…〉 na pravdeˇ, pa´n 〈…〉 se neba´ti, pro 〈…〉 blizˇnı´ch. Im Zusammenspiel des ersten Verses der ersten Teilstrophe der ersten Strophe mit dem ersten Vers von deren dritter Teilstrophe kommt die traditionelle slavische *Paronomasie 10 bojuj a neboj se! [›kämpfe und fürchte dich nicht!‹] zur Geltung. Sagt es doch gerade Gott (bozˇ ) zu den Gottes-Kämpfern (bojovnı´ku˚m) »tent’ pa´n velı´t’ se neba´ti« [›dieser Herr befiehlt, sich nicht zu fürchten‹]. In der zweiten Strophe (II): protozˇ, pomneˇte 〈…〉 na pa´na, neprˇa´tel, pa´na, pronˇ 〈…〉 bojujte, prˇed neprˇa´tely, prˇ´ıslovie, podle´ 〈…〉 pa´na, 〈…〉 by´va´. In der dritten Strophe (III): pakosti, 〈…〉 pomneˇte, pro lakomstvie, 〈…〉 pamatujte, 〈…〉 pozorujte, branˇ, bo´h pa´n. 9
Die Herausstellung einer solchen »Schlüssel-Wortfügung« könnte auch durch Saussures Anagramm-Studien angeregt sein, in denen anfangs nach dem »thematischen Wort [mot-the`me]« bzw. nach dem »Thema« (das »nur aus wenigen Wörtern zusammengesetzt [ist], sei es nur aus Eigennamen, sei es aus ein oder zwei Wörtern, die mit dem unvermeidlichen Teil der Eigennamen verbunden sind«) gesucht wurde, dessen »Silben […] unter den Text gemischt sind« (Starobinski, Les mots sous les mots. Les anagrammes de Ferdinand de Saussure, S. 31, 23 u. 60; dt. Übs.: Wörter unter Wörtern. Die Anagramme von Ferdinand de Saussure, S. 24, 17 u. 45). Vgl. hierzu später: Jakobson, »La premie`re lettre de Ferdinand de Saussure a` Antoine Meillet sur les anagrammes«. [Anm. d. Übs./Komm.] 10 Spielart des Wortspiels. »Die annominatio ›Paronomasie‹ ist ein Spiel mit der Geringfügigkeit der lautlichen Änderung einerseits und der interessanten Bedeutungsspanne, die durch die lautliche Änderung hergestellt wird, andererseits.« (Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, Bd. 1, S. 322–325, §§ 637–639, hier S. 322.) Zur wichtigen Rolle von Paronomasien in den verschiedensten slavischen Literaturen und besonders in ihren mündlichen Traditionen vgl. Jakobson, »The Kernel of Comparative Slavic Literatures«, S. 17–19. [Anm. d. Übs./Komm.]
Ktozˇ jsu´ bozˇ´ı bojovnı´ci a za´kona jeho, prostezˇ od Boha pomoci a u´fajte v neˇho, zˇe konecˇneˇ vzˇdycky s nı´m svı´teˇzı´te!
Kristust’ va´m za ˇskody stojı´, stokrat viec slibuje; pak-li kto pronˇ zˇivot slozˇ´ı, veˇcˇny´ mieti bude: blaze kazˇde´mu, ktozˇ na pravdeˇ sende.
1. 2. 3. 4.
Tent’ pa´n velı´t’ »se neba´ti za´hubcı´ teˇlesny´ch«, velı´t’ »i zˇivot slozˇiti pro la´sku svy´ch blizˇnı´ch«.
Sloka 3 (R°)
1. 2. 3. 4. 5.
Sloka 2 (V 2)
1. 2. 3. 4. 5.
Sloka 1 (V 1)
STROFA I
ˇ echove´ ˇriekali Da´vno C prˇislovie meˇli, zˇe »podle´ dobre´ho pa´na dobra´ jiezda by´va´«.
Neprˇa´tel se nelekajte, na mnozˇstvie nehled’te, pa´na sve´ho v srdci meˇjte, pronˇ a s nı´m bojujte a prˇed neprˇa´tely neutiekajte!
Protozˇ strˇelci, kopinı´ci ˇra´du rytierˇske´ho, sudlicˇnı´ci a cepnı´ci lidu rozlicˇne´ho, pomneˇte vsˇichni na pa´na ˇsteˇdre´ho!
STROFA II
A s tiem vesele krˇikneˇte ˇrku´c: »Na neˇ, hr na neˇ!« branˇ svu´ rukama chutnajte »Bo´h pa´n na´ˇs!« krˇikneˇte!
Heslo vsˇichni pamatujte, ktere´zˇ va´m vyda´no, svy´ch hauptmano´v pozorujte, retuj druh druhe´ho, hledizˇ a drzˇ se kazˇdy´ ˇsiku sve´ho.
Vy, pakosti a drabanti, na dusˇe pomneˇte, pro lakomstvie a lu´pezˇe zˇivoto´v netrat’te a na korˇistech se nezastavujte!
STROFA III
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Die die Gottes-Kämpfer sind und seines Gesetzes, erbittet von Gott Hilfe und hofft auf ihn, daß Ihr endlich immer mit ihm siegen werdet!
Christus steht Euch für die Schäden, er verheißt hundertmal mehr, wenn jemand für ihn sein Leben hingibt, wird er das ewige haben; selig jeder, der für die Wahrheit stirbt.
1. 2. 3. 4.
Dieser Herr befiehlt, »sich nicht zu fürchten vor körperlichen Verderben«, er befiehlt, »auch sein Leben hinzugeben aus Liebe für seine Nächsten«.
Teilstrophe 3 (R°)
1. 2. 3. 4. 5.
Teilstrophe 2 (V 2)
1. 2. 3. 4. 5.
Teilstrophe 1 (V)
STROPHE I
Seit alters sagten die Tschechen und hatten das Sprichwort, daß »an der Seite eines guten Herrn die Reise gut zu sein pflegt«.
Fürchtet Euch nicht vor Feinden, auf die Menge schaut nicht, Euren Herrn tragt im Herzen, für ihn und mit ihm kämpft, und vor Feinden rennt nicht weg!
Daher, Ihr Schützen, Lanzenträger des Ritterordens, Hellebardiere und Flegeler aus mannigfachem Volke, denkt alle an den großherzigen Herrn!
STROPHE II
Und damit schreit frohgemut, ausrufend: »Auf sie, los, auf sie!« Eure Waffe packt [wörtl.: schmeckt] mit den Händen, »Gott ist unser Herr!« schreit!
Denkt alle an die Parole, welche Euch gegeben wurde, achtet auf Eure Hauptleute, es rette ein Gefährte den andern, halte sich jeder genau an seine Formation.
Ihr, Plänkler und Fußsoldaten, denkt an die Seelen, wegen Habgier und Raub vergeudet Euer Leben nicht und haltet Euch nicht auf mit Beute!
STROPHE III »Die die Gottes-Kämpfer sind«. Der Wortbau des Hussiten-Chorals
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In der ersten Strophe des Gotteskämpfer-Liedes ist das grundlegende Thema Gott, seine Verheißung und versprochene Hilfe: »Prostezˇ 〈…〉« [›Erbittet 〈…〉‹]. Die Gewichtigkeit der Verheißungen Jesu ist untermalt durch ein auffallendes Laut-Zusammenspiel an den Anfängen und Enden der ersten drei Verse der zweiten Teilstrophe: Kristust’ 〈…〉 stojı´, stokra´t 〈…〉 slibuje; pak-li kto 〈…〉 slozˇ´ı. Hauptkennzeichen der Reime sind hier stützende Laute: stoji´-slozˇ´i, slibuje-mieti bude. Die zweite Strophe zieht einen Schluß aus der ersten (»Protozˇ 〈…〉 pomneˇte« [›Daher 〈…〉 denkt an‹]), legt den Kämpfern ans Herz, daß sie Gottes-Kämpfer sind und daß sie des Gottesbefehls würdige Männer sein sollen. Die dritte Strophe verschiebt den Hauptschwerpunkt auf den Umstand, daß sie vor allem Kämpfer sind, und ruft sie in den Kampf. Grob kann man die Disposition der Hauptmotive zwischen den Strophen durch folgendes Schema ausdrücken: bozˇ´ı –, bozˇ´ı bojovnı´ci, – bojovnı´ci [›Gottes –, Gottes-Kämpfer, – Kämpfer‹]. Nejedly´ 11 hat die erste Strophe als »Strophe eines echten geistlichen Liedes, vielleicht für einen weltlichen Zweck« charakterisiert, die dritte als »nicht bloß ein Kriegslied, sondern auch als direkt kämpferisches Lied« und die zweite als Grenzgebilde. Unter den finiten Verbformen der dritten Strophe steht keine im Indikativ; im Gegensatz zur ersten Strophe, wo die Indikativformen in keiner Teilstrophe fehlen: I1 svı´teˇzı´te [›ihr siegt‹], I2 stojı´ [›steht‹], slibuje [›verspricht‹], slozˇ´ı [›hingibt‹], mieti bude [›haben wird‹], sende [›stirbt‹], I3 velı´t’ [›befiehlt‹] (bis 12 ). Alle finiten Formen der dritten Strophe stehen im Imperativ. Eine Zwischenstellung nimmt die zweite Strophe ein mit vorwiegenden Imperativformen in ihren beiden ersten Teilstrophen und einer eher indikativischen dritten Teilstrophe. Die Anzahl der Imperativformen wächst zunehmend. Bei einer fast gleichen Anzahl finiter Verben in den einzelnen Strophen (in der zweiten oder mittleren Strophe neun, und in der ersten und dritten, den beiden Randstrophen nämlich, je elf) fallen auf den Imperativ zwei Formen in I, sechs in II und elf in III. Der überwiegend indikativischen Anfangsstrophe steht also die ausschließlich befehlende Art der Schlußstrophe gegenüber. Mit dem abstrakt erzählenden Stil der ersten Strophe hängt auch ihre Vorliebe für Satzgefüge zusammen (vier Nebensätze in I und nur noch je einer in II und III). Sogar die Anrede am Anfang der ersten Strophe (I1.1–2) benutzt einen Relativsatz: Ktozˇ jsu´ bozˇ´ı bojovnı´ci a za´kona jeho, prostezˇ od Boha pomoci. [›Die 11 Nejedly´, Deˇjiny husitske´ho zpeˇvu, Bd. 4, S. 344 f. 12 ›Zweimal‹ (lat.); im Erstdruck wie in SW III versehentlich: velı´. [Anm. d. Übs./ Komm.]
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die Gottes-Kämpfer sind und seines Gesetzes, erbittet von Gott Hilfe.‹] (Vgl. die Relativpronomina kto [›wer‹] und ktozˇ [›wer immer‹] in der zweiten Teilstrophe.) Die erste Strophe greift in jeder Teilstrophe nach einer anderen Bezeichnung des Höchsten Wesens (Bo´h [›Gott‹] in I1, Kristus [›Christus‹] in I2, pa´n [›Herr‹] in I3), während in jeder Teilstrophe von II von diesen Bezeichnungen nur pa´n [›Herr‹] erscheint. Da das Thema der zweiten Strophe nicht Gott ist, sondern vielmehr die Beziehung der GottesKämpfer zu ihm, treffen wir hier einzig die Form pa´na an, die hier jedoch absichtlich sowohl in der grammatischen als auch in der *lexikalischen Bedeutung schwankt. Sie ist Akkusativ in II1, 2, aber Genitiv in II3, und im letzteren Fall wird sie zu einem *Appellativum,13 das einfach einen Herrn bezeichnet, während sie sich in den beiden ersten Teilstrophen ausdrücklich auf Gott bezieht. Diese doppelte Verwendung erneuert den verwischten metaphorischen 14 Charakter dieses Ausdrucks in seinem sakralen Gebrauch. Sei es, daß das Substantiv pa´n [›Herr‹] ein *Objekt 15 ist, wie in der zweiten Strophe, oder ein Subjekt, wie in der ersten, oder Prädikatsnomen, wie im letzten Vers des Liedes, dem einzigen Hinweis auf den Herr-Gott in der ganzen dritten Strophe – immer begleitet irgendein Adjektiv oder *Pronomen dieses Wort und macht auf dessen grundlegende, allgemeine Bedeutung erneut aufmerksam: I3 Tent’ pa´n [›Dieser Herr‹], II1 na pa´na ˇsteˇdre´ho [›an (den) großherzigen Herrn‹], II2 pa´na sve´ho [›Euren Herrn‹], II3 podle dobre´ho pa´na [›an der Seite eines guten Herrn‹], III3 Bo´h pa´n na´ˇs [›Gott (ist) unser Herr‹]. Die zweite Strophe, die wir als die Strophe von den Gottes-Kämpfern als Kämpfern Gottes bezeichnet haben, zeigt überhaupt das größte Interesse für Attribute. Die erste Strophe hat nur drei Adjektivattribute (bozˇ´ı bojovnı´ci [›Gottes Kämpfer‹], zˇivot 〈…〉 veˇˇcny´ [›Leben 〈…〉 ewiges‹], za´hubcı´ teˇlesny´ch [›Verderben körperliches‹]), der dritten fehlen sie überhaupt, während die zweite Strophe fünf enthält, von denen drei durch den *Reim der ersten Teilstrophe hervorgehoben sind. Unter diesen Adjektiven ist in I nicht ein einziges wertendes Attribut, während II drei enthält (pa´na ˇsteˇdre´ho [›Herrn großherzigen‹], dobre´ho pa´na [›Herrn guten‹], dobra´ jı´zda [›gute Reise‹]). 13 Gattungsbezeichnung (*Nomen appellativum), im Gegensatz zum Eigennamen (Nomen proprium). [Anm. d. Übs./Komm.] 14 Daß nämlich Gott nur uneigentlich, vergleichsweise als ›Herr‹ bezeichnet werden kann. [Anm. d. Übs./Komm.] 15 »rozvı´jejı´cı´ cˇlen«: wörtl. ›erweiterndes Satzglied‹. [Anm. v. I.M.]
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Nach dem einleitenden Doppelvers der ersten Strophe mit seiner allgemeinen und abstrakten Anrede an die Kämpfer folgt deren nach Funktionen und Klassen gegliederte Kennzeichnung in der ganzen vierzeiligen Einleitung der zweiten Strophe mit ihrer komplexen Paronomasie: sudlicˇnı´ci – lidu, sudlicˇnı´ci – rozlicˇne´ho, sudlicˇni´ci – cepni´ci. Die dritte, kürzere und volkstümlichere Anrede schließlich, gerichtet an die Menge des Heeres, beschränkt sich auf den ersten Vers der letzten Strophe, die durchaus einen umgangssprachlichen Anflug hat, mit Germanismen wie drabanti 16 [›Fußsoldaten‹], hauptmano´v [›Hauptleute‹], retuj [›rette‹], ˇsiku 17 [›Formation‹] und mit affektiven Elementen wie dem emphatischen vy [›Ihr‹] vor dem Imperativ, der Benennung pakosti [›Plänkler‹ 18 ], oder besonders in der ›Repetition‹ mit der einzigen Adverbialbestimmung der Art und Weise im ganzen Umfang des Liedes – vesele krˇikneˇte [›frohgemut schreit‹], welche die Stimmungsfülle der Sprache verdeutlicht, ferner der Interjektion hr [›los!‹] in Verbfunktion, der ungewöhnlichen malerischen Verbindung – branˇ svu´ rukama chutnajte [›Eure Waffe »schmeckt« mit den Händen‹] 19 – und dem im ganzen Lied außergewöhnlichen Beleg eines reinen Prädikatsnomens in dem emphatischen elliptischen Satz – Bo´h pa´n na´ˇs! [›Gott – unser Herr!‹]. Erneut wie in II1 sind den Anreden Paronomasien unterlegt: 1) pakosti a 〈…〉 pro lakomstvie a 〈…〉 pomneˇte 〈…〉 a na korˇistech; 2) drabanti 〈…〉 netrat’te. Dem ›Anstieg‹ (zdvih),20 der – wie Nejedly´ bemerkt hat 21 – charakteristisch für den musikalischen Bau dieses Liedes ist, entspricht das jambische Versgefälle – kaum angedeutet in den ersten zwei Strophen, aber völlig klar in der dritten Strophe. Dies verrät besonders eine schematische 16 In Kluges Etymologischem Wörterbuch der deutschen Sprache (S. 922) wird das dt. Fremdwort Trabant umgekehrt von »cˇech. drabant ›Fußsoldat, Leibwache‹« abgeleitet; »dessen Herkunft ist allerdings umstritten«. [Anm. d. Übs./Komm.] 17 Wohl von dem älteren dt. Wort »schick, dispositio, ordo« (Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 8, Sp. 2643): »Alte Ableitung zu schicken in der Bedeutung ›in Ordnung bringen‹« (Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, S. 801). [Anm. d. Übs./Komm.] 18 Entsprechend frz. tirailleur ›Einzelschütze‹. [Anm. d. Übs./Komm.] 19 Die ›Hussiten-Chronik‹ des Vavrˇinec von Brˇezova´ (Prösau) hat dieses Bild übernommen: die Hussiten »proti kra´li se prˇipravovali a branˇ v svy´ch rukou chutnali« [›rüsteten sich gegen den König und packten das Gewehr mit ihren Händen‹] – siehe Prameny deˇjin ˇcesky´ch / Fontes rerum bohemicarum, Bd. 5, S. 533. 20 Zdvih meint hier nicht, wie üblicherweise, *›Hebung‹ (vs. *›Senkung‹), sondern den steigenden Versfall: In »Toward a Description of Ma´cha’s Verse« charakterisiert Jakobson diesen als »a tendency toward a rising rhythmical inertia (– –´ – –´ – –´ – –´)« (S. 434). [Anm. d. Übs./Komm.] 21 Vgl. Nejedly´, Deˇjiny husitske´ho zpeˇvu, Bd. 4, S. 339.
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Darstellung der Wortbetonungen in der Klausel der Verse von gerader Silbenzahl. Von den zwölf acht- und sechssilbigen Versen der dritten Strophe haben zehn die Wortbetonung auf der drittletzten Silbe, nur zwei auf der viertletzten und einer auf der vorletzten. Besonders aufschlußreich ist ein Vergleich dieser Daten mit dem Schema der gleichartigen Betonungen in der ersten und zweiten Strophe: I II III
viert4 7 2
dritt6 4 10
vor-letzte Silbe 6 4 1
Während in der dritten Strophe sieben von vierzehn Versen den *Wortakzent auf der zweiten Silbe tragen, weist die erste Strophe diese Betonung nur in fünf und die zweite Strophe nur in zwei Fällen auf. Auch diese aufsteigende Verstendenz findet ihren Halt im emphatischen Charakter der dritten Strophe, von den einleitenden Ausrufen: »Vy, pakosti a drabanti, na dusˇe pomneˇte« 22 [›Ihr, Plänkler und Nachzügler, an die Seelen denkt‹] bis zu ihrem entbrannten Schluß: A s tiem vesele krˇikneˇte ˇrku´c: »Na neˇ, hr na neˇ!«, branˇ svu´ rukama chutnajte, »Bo´h pa´n na´ˇs!« krˇikneˇte. Und damit wohlgemut schreiet, ausrufend: »Auf sie, los, auf sie!« Waffe eure mit den Händen schmeckt, »Gott – Herr unser!« schreit.
Beide Randstrophen (I und III) enthalten im Gegensatz zur Mittelstrophe (II) *perfektive 23 Verbformen, um den baldigen Sieg – zˇe konecˇneˇ 〈…〉 zvı´teˇzı´te [›daß (Ihr) endlich 〈…〉 siegen werdet‹] (I1) –, die Einmaligkeit des Sterbens – zˇivot slozˇi [›(das) Leben hingibt‹] (I2), zˇivot slozˇiti [›(das) 22 Durch Großschreibung der Vokale werden die realisierten Hebungen markiert. [Anm. d. Übs./Komm.] 23 Der in den slavischen Sprachen morphologisch gekennzeichnete Gegensatz perfektiv vs. imperfektiv bezeichnet »grundlegende Subkategorien von Aspekt, durch die ein Vorgang entweder als zeitlich nicht strukturierter Vorgang (Imperfektiv) oder als eine durch eine Beginnphase (*Inchoativ) oder Endphase (Resultativ) begrenzte Entwicklung (Perfektiv) präsentiert werden kann. Man behauptet daher auch, daß der P[erfektiv] ein Geschehen in seiner Gesamtheit und der I[mperfektiv] eine Verlaufsphase bezeichnet.« (Bußmann, Lexikon der Sprachwissenschaft, S. 293 f.) [Anm. d. Übs./Komm.]
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Leben gebt hin‹] (I3) –, oder die stufenweisen Etappen des gegebenen konkreten Kampfes – heslo 〈…〉 vyda´no [›(die) Parole 〈…〉 (die) gegebene‹] (III2), vesele krˇikneˇte [›frohgemut schreit‹] (III3) – darzustellen; während die zweite Strophe in imperfektiven Formen den bleibenden, unaufhörlichen, durch nichts begrenzten Kampf anzeigt. Wenn wir den Text aller drei Strophen nebeneinanderstellen,24 können wir konventionell 25 die Merkmale, die die eine Strophe im Gegensatz zu den anderen Strophen durchziehen, vertikale Entsprechungen nennen. Wir unterscheiden dann eine Anfangs-Vertikale, eine mittlere und eine Schluß-Vertikale. Die Linien, die nacheinander gleiche Teilstrophen der drei Strophen verbinden, kennzeichnen wir wiederum konventionell als horizontale Entsprechungen, und wir versuchen, eine Skizze dieser Entsprechungen zu geben: zuerst die Anfangs-Horizontale, die die ersten Teilstrophen (erster ›versus‹) aller Strophen des Liedes abgrenzt, dann die mittlere Horizontale, nämlich die gemeinsamen Besonderheiten der zweiten Teilstrophen (zweiter ›versus‹) aller Strophen, und schließlich werden wir uns der Horizontalen der Schlußstrophen (oder ›Repetition‹) aller Strophen zuwenden. Jede erste Teilstrophe ist eine Kombination von Anreden mit Imperativen, wobei die Art der Anreden von der ersten bis zur dritten Strophe – wie schon gesagt wurde – immer weltlicher, militärischer und volkstümlicher wird. Trotz dieser Unterschiede zwischen I1, II1 und III1 haben sie einen gemeinsamen Zug, der dem übrigen Text unbekannt ist, nämlich die geistige Belehrung, gegeben als positive Verbindung von Imperativ und *präpositionalem Akkusativ, d. h. mit einer weniger engen Abhängigkeit des betreffenden Objekts vom Verb als beim nicht-präpositionalen Akkusativ (vgl. II2 pa´na sve´ho v srdci meˇjte [›Herrn Euren im Herzen tragt‹]). Wie diese Prädikate, so gehören auch diese Objekte zu den spirituellen Begriffen: I1 u´fajte v neˇho [›hofft auf ihn‹] (d. h. auf Gott), II1 pomneˇte na pa´na 24 Nur durch diese – durch keine Textzeugen abgesicherte – graphische Anordnung wird im folgenden die höchst einprägsame geometrische Darstellung des Gedichts (einschließlich der Parallelen zur gotischen Kunst) ermöglicht. Eine parallele Vorgehensweise findet sich in der Analyse »Stichotvornye proricanija Aleksandra Bloka«, S. 544 u. 562 (deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 455 u. 480). Radikalisiert wird dieses Verfahren in der Klee-Analyse (Jakobson, »On the Verbal Art of William Blake and Other Poet-Painters«, S. 339–344; deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 30–39), wo überhaupt erst durch die (weitgehend willkürliche) graphische Anordnung ein Gedicht ›hergestellt‹ wird. [Anm. d. Übs./Komm.] 25 Eher handelt es sich um einen ad-hoc-Vorschlag zur Begriffsverwendung. [Anm. d. Übs./Komm.]
»Die die Gottes-Kämpfer sind«. Der Wortbau des Hussiten-Chorals
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[›denkt an (den) Herrn‹], III1 na dusˇe pomneˇte [›an (die) Seelen denkt‹] (na dusˇe [›an (die) Seelen‹], da nämlich in der dritten Strophe die Sprache des Dichters absichtlich von dem Herr-Gott schweigt: sie kehrt zurück zur Person Gottes erst in der *oratio directa 26 der letzten Teilstrophe). In der zweiten Teilstrophe aller Strophen finden wir Paraphrasen von verschiedenen tschechischen literarischen Quellen (die symmetrische Anordnung der zitierten Autoren gehört zur scholastischen Tradition). Die Worte des Hl. Wenzels-Lieds,27 oft gesungen und beliebt in der HussitenZeit – Blazˇe tomu, ktozˇ tam po´jde, v zˇivot veˇˇcny´ [v. 8: ›Selig der, der in das ewige Leben eingeht‹] – klingen in der etwas drastischen Bearbeitung nach: I2 – »pak-li kto pronˇ zˇivot slozˇ´ı, veˇcˇny´ mieti bude: blaze kazˇde´mu, ktozˇ na pravdeˇ sende« [›wenn jemand für ihn sein Leben hingibt, wird er das ewige haben: selig jeder, der für die Wahrheit stirbt.‹]. Es ist bemerkenswert, daß gerade zu der Strophe mit dieser Paraphrase in der ›Jistebnicer Liederhandschrift‹ ein weiterer Vers aus dem Hl. Wenzels-Lied hinzugeschrieben ist: Smiluj se nad na´mi [v. 13: ›Erbarme Dich unser‹].28 Die heroischen Grundsätze von II2 – Neprˇa´tel se nelekajte, na mnozˇstvie nehled’te, 〈…〉 bojujte a prˇed neprˇa´tely neutiekajte [›Fürchtet Euch nicht vor Feinden, auf die Menge schaut nicht, 〈…〉 kämpft, und vor Feinden lauft nicht weg‹] – sind Anklänge an Brˇecislav-Aussprüche aus Kap. 44 der Dalimil-Chronik,29 der einzigen Dichtung vom Beginn des vierzehnten Jahrhunderts, die in der hussitischen Zeit »Beliebtheit und Lebendigkeit« behalten hatte und oft abgeschrieben und bearbeitet worden war: 30 Nehle´daj prˇˇed bojem na mnoho neb na ma´lo 〈…〉 Anebo seˇ branˇte, neb seˇ dajte zbı´ti; ja´t’ odtudto nechci beˇzˇˇeti ani otjeˇti. [›Schau vor dem Kampf 26 Direkte Rede (lat.). [Anm. d. Übs./Komm.] 27 Das aus dem 15. Jahrhundert stammende Lied Svaty´ Va´clave gehört – neben dem noch älteren Hospodine, pomiluj ny! – zu den bekanntesten geistlichen Liedern der ˇ eska´ strˇedoveˇka´ lyrika, S. 124 f. u. tschechischen Literatur; Text u. Kommentar in: C 293 f. Vgl. Jakobsons frühen Aufsatz »Nejstarsˇ´ı cˇeske´ pı´sneˇ duchovnı´« (S. 366– 371). [Anm. d. Übs./Komm.] 28 Vgl. Nejedly´, Deˇjiny husitske´ho zpeˇvu, Bd. 6, S. 343. 29 Die aus 106 Kapiteln bestehende und anonym überlieferte Dalimilova Kronika beginnt mit der Babylonischen Sprachverwirrung, in der auch die serbische (d. i. slavische) Sprache entstanden sei, und erzählt die Geschichte Böhmens von ihren legendären Anfängen bis 1314 (Abbruch der Reimchronik); dabei werden auch häufig Sprichwörter und Redensarten zitiert. Sie ist das beliebteste Erzählwerk der alttschechischen Literatur; ja, wegen ihrer Aversion gegen alles Deutsche bezeichnete J. G. Meinert sie als »Trompete der Hussitenkriege« (J. Hahn, Art. ›Dalimilova kronika‹). Vgl. die zeitgenössische Reimübersetzung ins Deutsche: Di tutsch kronik von behem lant. [Anm. d. Übs./Komm.] 30 Klementinske´ zlomky nejstarsˇ´ıch ˇcesky´ch legend, S. 18.
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nicht auf viel oder wenig 〈…〉 Wehrt Euch oder gebt Euch geschlagen; ich werde von hier nicht weglaufen oder wegfahren.‹] 31 Schließlich, III2 – Heslo vsˇichni pamatujte, ktere´zˇ va´m vyda´no, svy´ch hauptmano´v pozorujte, retuj druh druhe´ho, hledizˇ a drzˇ se kazˇdy´ ˇsiku sve´ho! [›Denkt alle an die Parole, welche Euch gegeben wurde, achtet auf Eure Hauptleute, es rette ein Gefährte den andern, halte sich jeder genau an seine Formation!‹] – variiert offensichtlich den Absatz aus Zˇizˇkas 32 Militärordnung: Heslo aby bylo poveˇdeˇno 〈…〉 Aby tak ta´hli v sve´m ˇsiku a pohromadeˇ, jedni k druhejm nemı´sejı´ce, a to opatrneˇ, naprˇed i na strana´ch vojska ostrˇ´ıhajı´ce i sami sebe, jakozˇ komu kde od starsˇ´ıch porucˇeno bude. [›Und diese Parole soll ausgegeben werden 〈…〉 Sie sollen in ihrer Formation zusammen vorgehen, sich nicht untereinander mischen und erst nach allen Seiten Ausschau halten, auch sich selbst schützen, wie jedem von den Älteren befohlen wird.‹] 33 Wenn wir die drei Paraphrasen vergleichen, sehen wir, daß die Abfolge I2 –II2 –III2 übereinstimmt mit der Skala der Anreden I1 –II1 –III1: von der frommen Betrachtung über den vornehmen Hinweis auf den Ritterorden bis zur konkreten Weisung für die einfachen Soldaten; und es ist interessant, daß der Weg vom alten geistlichen Lied über eine historische Komposition des vorangegangenen Jahrhunderts bis zur neuzeitlichen militärischen Instruktion führt. Den gemeinsamen Nenner aller drei mittleren Teilstrophen bildet die Fülle des Geschehens, die ihren Ausdruck in der gleichbleibenden Menge von finiten Verbformen (je fünf in jeder der fünfzeiligen Teilstrophen) findet, die die Anzahl solcher Formen in den Anfangs- und SchlußTeilstrophen bedeutend übersteigt: 3–1–3 in den ersten Teilstrophen, 2–3–2 in den letzten Teilstrophen. Die dritte Teilstrophe bringt jedesmal in anderer Weise eine fremde Rede 34 und setzt sich zusammen aus zwei auktorialen Teilen und aus der zitierten Rede, entweder einmalig (II3) oder doppelt (I3 und III3). In der ersten Strophe ist die redende Person pa´n [›Herr‹], Prädikat ist das zweimal wiederkehrende Befehlsverb velı´t’ [›befiehlt‹], und die direkte Rede 31 Nejstarsˇ´ı ˇceska´ ry´movana´ kronika tak ˇrecˇene´ho Dalimila, S. 82. ˇ izˇka von Trocnov (um 1370 – 1424) war der erste militärische Führer der 32 Jan Z Hussitenkriege (1420–1434). [Anm. d. Übs./Komm.] 33 Svejkovsky´, Starocˇeske´ vojenske´ ˇra´dy, S. 25. 34 Vgl. Bachtins Begriff der ›fremden Rede‹ (im Unterschied zur ›Autorrede‹ wie zur ›Figurenrede‹); zuerst in: Volosˇinov, Marxismus und Sprachphilosophie, bes. S. 178–189, und in: Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs, bes. S. 206–223; weiter ausgeführt in Bachtins Abhandlung »Das Wort im Roman«, bes. S. 192–219. [Anm. d. Übs./Komm.]
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gibt in Infinitivverbindungen freie Zitate aus Matth. X,28 35 und aus Joh. XV,13 36 wieder: Tent’ pa´n velı´t’ »se neba´ti za´hubcı´ teˇlesny´ch«, velı´t’ »i zˇivot slozˇiti pro la´sku svy´ch blizˇnı´ch«. Dieser Herr befiehlt, »sich nicht zu fürchten vor körperlichen Verderben«, er befiehlt, »auch sein Leben zu lassen aus Liebe für seine Nächsten«.
In der dritten Teilstrophe der zweiten Strophe eröffnet ein doppeltes Prädikat – ˇriekali a prˇ´ıslovie meˇli [›sagten und hatten das Sprichwort‹] – die indirekte Rede, als deren Ursprung die alten Tschechen genannt werden. Während das vorangegangene Bibel-Zitat in der letzten Teilstrophe der ersten Strophe auf das – am Hl. Wenzels-Lied orientierte – sakrale Gepräge der vorhergehenden Teilstrophen antwortet, steht nun die tschechische Vergangenheit, wie sie am Ende der zweiten Strophe vergegenwärtigt wird, im Einklang mit der vorhergehenden Paraphrase der heroischen ›Dalimil-Monologe‹. Mit der indirekten Rede, die die zweite Strophe abschließt, kontrastieren zwei Exempel der direkten Rede in der dritten Teilstrophe der dritten Strophe. Die Inquitformel findet sich zum einen vor der zitierten Rede – vesele krˇikneˇte ˇrku´c: Na neˇ, hr na neˇ! [›frohgemut schreit, ausrufend: Auf sie, los, auf sie!‹], und zum zweiten ist sie hinter dem Ausruf plaziert – Bo´h pa´n na´ˇs! krˇikneˇte [›Gott – unser Herr! schreit‹]. Die direkte Rede in dieser Teilstrophe wird nicht etwa von den Plänklern und Nachzüglern vorgetragen, sie wird vielmehr von ihnen gefordert,37 da die 35 »A nebojte se teˇch, kterˇ´ızˇ mordujı´ teˇlo, ale dusˇe nemohou zamordovati; nezˇ radeˇji se bojte toho, ktery´zˇ mu˚zˇe i dusˇi i teˇlo zatratiti v pekelne´m ohni.« (Biblı´ svata´, aneb vsˇecka svata´ pı´sma Stare´ho i Nove´ho za´kona. podle poslednı´ho vvyda´nı´ Kralicke´ho z roku 1613, T. 2, S. 14.) – »VND fürchtet euch nicht fur denen / die den Leib tödten / vnd die Seele nicht mögen tödten. Fürchtet euch aber viel mehr fur dem / der Leib vnd Seele verderben mag / in die Helle.« (Luther [Übs.], Die gantze Heilige Schrifft Deudsch. Wittenberg 1545, S. 1985.) [Anm. d. Übs./Komm.] 36 »Veˇtsˇ´ıho milova´nı´ nad to zˇa´dny´ nema´, nezˇ aby dusˇi svou polozˇil za prˇa´tely sve´.« (Kralitzer Bibel, T. 2, S. 130.) – »Niemand hat grösser Liebe denn die / das er sein Leben lesset / fur seine Freunde.« (Luther-Bibel, S. 2173.) [Anm. d. Übs./Komm.] ˇ to v imeni tebe 37 Vgl. den analogen Kunstgriff am Schluß von Pusˇkins Gedicht »C moe¨m […]«, den Jakobson in »Poe˙zija grammatiki i grammatika poe˙zii« (S. 85 f.; deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 295) analysiert hat. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Verben der Inquitformel im Imperativ stehen. Der Empfänger der Aufforderung wird so zum Urheber der herausfordernden Losungen, Sänger und Zuhörer des kämpferischen Chorals fließen ineinander. Gerade deshalb finden wir schon zur Zeit des Königs Jirˇ´ı 38 den Versuch, solche Formen wie pamatujte und krˇikneˇte [›denkt an‹, ›schreit‹] durch pamatujme, krˇikneˇme [›laßt uns denken an‹, ›laßt uns schreien‹] zu ersetzen.39 Das grammatische Gefüge der dritten Teilstrophen unterscheidet sich markant vom übrigen Text: Nur hier gibt es Exempel des Infinitivs ohne Hilfsverb in I3, Vergangenheitsformen in II3, und schließlich Belege des perfektiven Aspekts im Imperativ und überhaupt in Hauptsätzen sowie einige weitere grammatische Besonderheiten in III3. Auf den strukturellen Zusammenhang aller drei Schluß-Teilstrophen macht auch die Wiederholung derselben Lautgruppe aufmerksam, und zwar immer im ersten Satz: I3 veli´t’ se 〈…〉 teˇlesny´ch – II3 Cˇechove´ ˇriekali 〈…〉 prˇ´ıslovie meˇli – III3 vesele. Die Variante des Erstdrucks dieses Liedes 40 – I3 velı´ se [›es wird befohlen‹] – verstärkt noch dieses Zusammenspiel. Es ist bemerkenswert, daß diese Klangfigur gerade diejenigen Ausdrücke umfaßt, die für die Autor-Rede jeder gegebenen Teilstrophe besonders spezifisch sind: veli´ se – prˇ´ıslovie – vesele. Vor dem Hintergrund der gemeinsamen Merkmale,41 die alle drei ›Repetitionen‹ kennzeichnen und von den anderen Teilstrophen unterscheiden, heben sich markant bedeutende Unterschiede zwischen diesen abschließenden Vierzeilern heraus. Gegenüber dem überzeitlichen Präsens der Göttlichen Gebote (I3) und der noch immer gültigen Vergangenheit des gnomischen 42 Vermächtnisses (II3) bringt der Schluß des Liedes die imperativische Aufforderung des gegebenen Augenblicks und zitiert kämpferisch Ausrufe, die ja erst erklingen sollen. Auch ist das Reimschema in 38 Georg von Podeˇbrad und Kunsˇta´t (1420–71) wurde als Führer der utraquistischen Hussiten 1452 zum Reichsverweser, 1458 zum König von Böhmen gewählt und trat anschließend heimlich zum Katholizismus über; trotz des Banns durch Papst Paul II. konnte er sich gegen König Matthias Corvinus von Ungarn behaupten. Nach seinem Tode wurde allerdings Böhmen für ein halbes Jahrhundert unter den Jagiellonen mit Ungarn verbunden. [Anm. d. Übs./Komm.] 39 Nejedly´, Deˇjiny husitske´ho zpeˇvu, Bd. 6, S. 344. 40 Vgl. Erben, Vy´bor z literatury ˇceske´, Bd. 2, S. 283. 41 Eine charakteristische Argumentationsfigur Jakobsons; vgl. als besonders herausgehobene Parallele das Kapitel »Pervasive features« in der Analyse »Shakespeare’s Verbal Art in ›Th’Expence of Spirit‹«, S. 289–291; deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 632–635. [Anm. d. Übs./Komm.] 42 Spruchhaftes, auf lebenspraktische Orientierung zielendes Reden. [Anm. d. Übs./ Komm.]
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der ›Repetition‹ jeder Strophe ein anderes: I3 abab; II3 aabb; in III3 sind die Verse 1 und 4 verbunden durch den umschließenden tautologischen *Reim krˇikneˇte – krˇikneˇte, auch dieser Reim stimmt mit der Schlußsilbe des dritten Verses (chutnajte) überein und die vorletzte Silbe mit dem Schluß des zweiten Verses (krˇikneˇte – na neˇ), während die vorletzte Silbe des zweiten und dritten Verses identisch ist (na neˇ – chutnajte). Die Gruppe der *Nasale mit den benachbarten Vokalen, die die Losung der Schlußstrophe bilden, durchdringt das ganze Klangbild: krˇikneˇte 〈…〉 na neˇ 〈…〉 na neˇ: branˇ 〈…〉 chutnajte 〈…〉 na´ˇs! krˇikneˇte (4/na/, 4/neˇ, 3/anˇ/ 43 ). Nur in der letzten Teilstrophe jeder Strophe und in jeder Teilstrophe der mittleren Strophe findet sich das Wort pa´n [›Herr‹], und diese ›perpendikuläre‹ Verteilung hebt seine syntaktische Dynamik. Am Ende der ersten Strophe ist das Subjekt Pa´n [›Herr‹] Christus, der den Soldaten befiehlt: se neba´ti 〈…〉 i zˇivot slozˇiti [›sich nicht zu fürchten 〈…〉 auch das Leben hinzugeben‹], die nächste ›Repetition‹ evoziert ein weltliches Sprichwort mit pa´n [›Herr‹] im Sinne eines militärischen Führers, und in der letzten Teilstrophe des Chorals behält pa´n als Prädikat Gottes deutlich eben diesen militärischen Sinn. Der Zusammenhang zwischen den beiden Handelnden – Gott und den Gottes-Kämpfern – ist hier in einer neuen Perspektive gegeben: die Redenden werden selbst zu Kämpfern, und pa´n ist hier eingeordnet in den Rahmen ihrer direkten Rede. Die Benennung Bo´h [›Gott‹] erscheint im ganzen Lied nur zweimal – in seiner ersten und letzten Teilstrophe, wobei es nur in der letzten im Nominativ steht. Der Aufruf der Anfangs-Teilstrophe (I1) – prostezˇ od Boha pomoci [›erbittet von Gott Hilfe‹] – wurde abgewandelt in der mittleren Teilstrophe (II2) – pa´na sve´ho v srdci meˇjte [›Euren Herrn tragt im Herzen‹] –, und die Schluß-Teilstrophe (III3) verbindet synthetisch beide Benennungen. Aus dem geläufigen Ausdruck Pa´n Bo´h [›Herr Gott‹] entsteht hier der wuchtige dreiteilige Satz mit dem nominalen Prädikat – Bo´h pa´n na´ˇs! [›Gott unser Herr!‹]. Die angeführte Verbindung zwischen der ersten, mittleren und letzten Teilstrophe der ganzen Komposition ist nicht zufällig. Wir entdecken hier einige weitere wichtige Entsprechungen, für die wir die Bezeichnung »fallende Diagonale« benutzen. Jede der drei Teilstrophen (I1, II2, III3) setzt sich ausschließlich oder überwiegend aus Imperativformen zusammen, genau wie jede vorausgehende Teilstrophe in derselben Strophe 43 Der Buchstabe ›nˇ‹ bezeichnet den Laut [n’]. also einen *palatalisierten *dentalen Nasal. Die Buchstabenverbindung ›neˇ‹ bezeichnet die Lautfolge [n’e], die Palatalisierung des Konsonanten wird hier durch das folgende ›eˇ‹ ausgedrückt. [Anm. v. I.M.]
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(II1, III1, 2), während keine folgende Teilstrophe in derselben Strophe (I2, 3, II3) Imperative enthält. 1 2 3
I Imp. — —
II Imp. Imp. —
III Imp. Imp. Imp.
Auf eine analoge Frage in der bildenden Kunst stößt treffend Gino Severini: »Ainsi, si nous prenons la composition de la diagonale, le grand secret de la composition consiste a` savoir tirer parti des proprie´te´s des deux triangles ainsi forme´s sur la toile.« 44 Die präpositionalen Verbindungen spielen eine bedeutende Rolle. Jede Strophe enthält sieben präpositionale Kasus. In jeder der drei Teilstrophen der »fallenden Diagonale« erscheint eine Doppelverbindung von Präpositionen mit dem Pronomen der dritten Person (in seiner postpräpositionalen Abwandlung nˇ-): es sind Verbindungen mit einem deutlichen Bezug zu Gott in der ersten und zweiten Strophe – I1 u´fajte v neˇho, zˇe 〈…〉 s nı´m svı´teˇzı´te [›hofft auf ihn, damit 〈…〉 (ihr) mit ihm siegen werdet‹], II2 pronˇ a s nı´m bojujte [›für (ihn) und mit ihm kämpft‹] –, während die dritte Strophe vom Singular zum Plural übergeht und die ganze militante Aufmerksamkeit auf die Feinde konzentriert – III3 Na neˇ, hr na neˇ! [›Auf sie, los, auf sie!‹] –, wo fast der ganze Satz mit der wiederholten präpositionalen Konstruktion aufhört. Das Gegenstück zu dieser »fallenden Diagonale«, nämlich die »steigende Diagonale«, die die Schluß-Teilstrophe der Anfangsstrophe wieder über die mittlere Teilstrophe der Mittelstrophe mit der Anfangs-Teilstrophe der Schlußstrophe verbindet, manifestiert sich auffallend in der Häufung der Negation ne-, die in den übrigen Teilstrophen überhaupt nicht vorkommt: I3 se neba´ti [›sich nicht zu fürchten‹]; II2 se nelekajte, nehled’te, neutiekajte [›euch fürchtet nicht‹, ›schaut nicht‹, ›rennt nicht weg‹] und in Verbindung mit Nomina – neprˇa´tel, neprˇa´tely [›Feinde(n)‹]; III1 netrat’te, se nezastavujte [›vergeudet nicht‹, ›haltet euch nicht auf‹]. Also – 1. 2. 3.
I — — 1 ne
II — 5 ne —
III 2 ne — —
44 ›Betrachtet man einmal die Komposition der Diagonale, so liegt das große Geheimnis der Komposition darin zu wissen, wie aus den Eigenschaften der zwei Dreiecke, die sich dadurch auf der Bildfläche herausbilden, Nutzen gezogen werden kann.‹ (Severini, Du cubisme au classicisme, S. 46.) [Anm. d. Übs./Komm.]
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In einen verneinenden Befehl, der den Kampf mit den Widersachern lenkt, mündet die erste Strophe, ähnliche Befehle füllen die Mittelstrophe, und die dritte Strophe beginnt mit verneinenden Verfügungen, die sich auf das Ende der Schlacht beziehen. Nejedly´ hat bemerkt, daß in der dritten Strophe »die Technik des Kampfes gerade in umgekehrter Reihenfolge gegeben ist, als er in Wirklichkeit war: zuerst geht es um die Beute nach der Schlacht, dann um den Kampf selbst und zuletzt erst um die Eröffnung der Schlacht«. Mit Recht findet er hier »eine kunstvolle Idee des Autors«.45 Es ist dieses hysteron proteron,46 in dessen Fundament ein diagonaler Bezug zwischen den Rand-Teilstrophen der Randstrophen (I1 –III3 und I3 –III1) liegt. Vgl. z. B. den zielbewußten *Kontrast zwischen dem sakralen Befehl »zˇivot slozˇiti pro la´sku« [›(das) Leben hinzugeben aus Liebe‹] (I3) und der irdischen Ermahnung – »pro lakomstvie 〈…〉 zˇivoto´v netrat’te« [›wegen Habgier 〈…〉 (Euer) Leben vergeudet nicht‹] (III1). Von sechs elfsilbigen Abgesängen haben drei eine *Zäsur nach der sechsten Silbe und enden mit Verbformen der 2. Pers. Pl., die sich reimen: I1 svı´teˇzı´te! – II2 neutiekajte! – III1 nezastavujte! [›I1 siegen werdet! – II2 rennt nicht weg! – III1 haltet Euch nicht auf!‹]. Die übrigen drei Abgesänge haben eine Zäsur nach der fünften Silbe; jeder von ihnen reimt sich mit dem vorhergehenden Vers, alle haben in der zehnten Silbe einen Vokal gleicher Qualität, und sie weisen kleinere lautliche Übereinstimmungen im zweiten Halbvers auf: I2 na pravdeˇ sende – II1 na pa´na sˇteˇdre´ho – III2 kazˇdy´ sˇiku sve´ho. Die selben drei Abgesänge enthalten je ein Totalitätspronomen, während wir in den übrigen Teilstrophen keine solchen Pronomina finden (pronouns of totality 47 ), I2 kazˇde´mu, II1 vsˇichni, III2 kazˇdy´ und außerhalb der Abgesänge – vsˇichni [›I2 jeder, II1 alle, III2 jeder – alle‹]. Wir kennzeichnen konventionell die Linien, die die Anfangs-Teilstrophen der Randstrophen mit der mittleren Teilstrophe der Mittelstrophe verbinden (I1 –II2 –III1) als »oberen hängenden Bogen« und die Entsprechungen zwischen den beiden zentralen Teilstrophen der Randstrophen und der Anfangs-Teilstrophe der Mittelstrophe (I2 –II1 – III2) als »oberen stehenden Bogen«. 45 Nejedly´, Deˇjiny husitske´ho zpeˇvu, Bd. 4, S. 345. 46 ›Das Spätere – das Frühere‹ (griech.): Redefigur, bei der das Spätere zuerst steht. »Die hysterologia gehört dem ordo artificialis an und besteht in der dem natürlichen Geschehensablauf entgegengesetzten Anordnung zweier Satzinhalte« (Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, Bd. 1, S. 440 f., §§ 891 f., hier S. 440). [Anm. d. Übs./Komm.] 47 Vgl. Jespersen, Essentials of English Grammar, S. 184–187 (Kap. XVIII).
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Der »untere hängende Bogen«, der die mittleren Teilstrophen der Randstrophen mit der letzten Teilstrophe der Mittelstrophe verbindet, findet seinen Ausdruck an den Enden dieser Teilstrophen, wo der Singular in der Betrachtung über die Kämpfer benutzt wird, wogegen überall sonst im Lied der Singular nur dem Herr-Gott gehört, während von den Kämpfern nur im Plural gesprochen wird: I2 kto pronˇ zˇivot slozˇ´ı, veˇˇcny´ mieti bude 〈…〉 ktozˇ na pravdeˇ sende [›wer für (ihn sein) Leben hingibt, wird (das) ewige haben 〈…〉 der für (die) Wahrheit stirbt‹]; II3 dobra´ jiezda by´va´ [›gut (pflegt) die Reise zu sein‹]; III2 retuj druh druhe´ho, hledizˇ a drzˇ se kazˇdy´ ˇsiku sve´ho! [›(es) rette ein Gefährte (den) andern, halte sich jeder genau an seine Formation!‹]. Diese Strophen sind auch thematisch miteinander verwandt. In III2, wie Kraus bemerkt hat, »wird an alles erinnert, was Soldaten zusammenhält«; 48 ähnlich wird in I2 von der Solidarität zwischen Gott und denen, die ihm dienen, gesprochen oder in II3 von der Solidarität zwischen Soldaten und Befehlshaber. Schließlich verbindet der »untere stehende Bogen« die letzten Teilstrophen der Randstrophen mit der mittleren Teilstrophe der Mittelstrophe. Im ganzen Lied weisen lediglich diese drei Teilstrophen auf die Feinde. Die erste dieser Teilstrophen spricht selbstverständlich von ihnen in kirchlicher Terminologie: I3 pa´n velı´t’ se neba´ti za´hubci teˇlesny´ch [›(der) Herr befiehlt, sich nicht zu fürchten (vor) körperlichen Verderben‹]. Übersetzt in eine weltliche Sprache kehrt dieses Motiv wieder in II2 – Neprˇa´tel se nelekajte [›Fürchtet Euch nicht (vor) Feinden‹] – und zum dritten Mal in der noch anschaulicheren, rein zeigenden und aufmunternden Form des Kampfgeschreis in III3 – Na neˇ, hr na neˇ! [›Auf sie, los, auf sie!‹]. Editorische Notiz Entworfen 1958 in Cambridge, Mass. und zuerst publiziert im International Journal of Slavic Linguistics and Poetics 7 (1963), S. 108–117.
48 Kraus, Husitsvı´ v literaturˇe, zejme´na neˇmecke´, Bd. 1, S. 54.
»Die die Gottes-Kämpfer sind«. Der Wortbau des Hussiten-Chorals
Diagramme zur Illustration der grammatischen Struktur des Hussitenchorals
II Mittel-
III Schluß-
I nd en Ve rbe n im
iten fin
nit
kei ne
fin
kei ne fi
ite
2
Ve rbe n im
Ind
ika tiv
Ve r be n im
1
ika tiv
I nd
ika tiv
I Anfang-
3
finite Verben im Indikativ
Vertikale Entsprechungen
I
KE in s INE ubo pe rdi rfek nie tive r te n T n fini eils ten ätz Ve en rbe
3
per in s fekti ubo ve f rdi inite nie rte Verb n T en eils ätz en
2
n
1
III
II
Vertikale Entsprechungen
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528
Roman Jakobson
I
horizontale Entsprechungen
III
II Vokativgruppen
1
AnfangImperativ mit präpositionalem Akkusativ
2
St. Wenzels-Lied
Paraphrase von Dalimil-Chronik
Žižkas Militärordnung Mittel-
größte Anzahl an finiten Verben 5
5
5
zweifach berichtender Teilsatz 3
Schluß-
zitierte Rede zwei Psalm-Zitate
I
Sprichwort
zwei Schlachtrufe
II
1
na pána [›an den Herrn‹] (Akk.)
2
pána [›den Herrn‹] (Akk.)
3
pán…[›Herr...‹]
podlé pána [›an der Seite des Herrn‹] (Gen.) Perpendikuläre Entsprechungen
III
…pán [›…Herr‹]
»Die die Gottes-Kämpfer sind«. Der Wortbau des Hussiten-Chorals
I
II
III
1
Imperativ
Imperativ
Imperativ
2
kein Imperativ
Imperativ
Imperativ
3
kein Imperativ
kein Imperativ
Imperativ
Fallende Diagonale
I
1
2
II
III
zwei Präpositionalkonstruktionen mit Pronomen der dritten Person
idem
3
idem
Fallende Diagonale
529
530
Roman Jakobson
I
1
2
II
III
boha [›Gott‹]
pána [›Herr‹]
bóh pán [›Gott Herr‹]
3
Fallende Diagonale
»Die die Gottes-Kämpfer sind«. Der Wortbau des Hussiten-Chorals I
II
ne [›nicht‹] (2)
1
el rtik a p s ion gat ne [›nicht‹] (5) e N
2
3
III
ne [›nicht‹] (1)
Steigende Diagonale
I
II
idem
1
2
III
idem
Aufforderung mit der 3 Präposition pro [›für‹] + Akk. Steigende Diagonale
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532
Roman Jakobson
I
1
6 + 5 Silben in der Schlußzeile mit zweiter Person Plural am Ende
2
Sg.-Verwendung für die Darstellung der Krieger
II
III
idem
idem
I
II
Schluß-
III
idem
1
2
5 + 6 Silben und ein pronominaler Totalisierer in der Schlußzeile
3
Bezugnahme auf den Feind
idem
Anfang-
idem
idem
3
hängender Bogen
stehender Bogen
Anfang-
idem
idem
Schluß-
»Die die Gottes-Kämpfer sind«. Der Wortbau des Hussiten-Chorals
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Roman Jakobson
— »Poe˙zija grammatiki i grammatika poe˙zii«, in: SW III, S. 63–86. – »Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie«, übs. u. komm. v. Sebastian Donat, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 256–301. — »Stichotvornye proricanija Aleksandra Bloka«, in: SW III, S. 544–567. – »Lyrische Prophezeiungen Aleksandr Bloks«, über. u. komm. v. Sebastian Donat, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 452–491. — »The Kernel of Comparative Slavic Literatures«, in: SW VI/1, S. 1–64. — »Toward a Description of Ma´cha’s Verse«, in: SW V, S. 433–485. Jakobson, Roman Osipovicˇ u. Lawrence G. Jones: »Shakespeare’s Verbal Art in ›Th’Expence of Spirit‹«, in: SW III, S. 284–303. – »Shakespeares Wortkunst in ›Das Versprühen des Geistes‹«, übs. v. Evi Zemanek, komm. v. Andreas Höfele, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 622–655. ° Jespersen, Otto: Essentials of English Grammar, London: George Allen & Unwin 1933. °Klementinske´ zlomky nejstarsˇ´ıch ˇcesky´ch legend [›Klementinische Bruchstücke der ältesten tschechischen Legenden‹], hg. v. Emma Urba´nkova´, in Zusammenarbeit mit Frantisˇek Rysˇa´nek u. Dr. Frantisˇek Sˇimek, Praha: Sta´tnı´ pedagogicke´ nakladatelstvı´ 1959. Kluge, [Friedrich]: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 24. durchges. u. erw. Aufl., bearb. v. Elmar Seebold, Berlin u. New York: de Gruyter 2002. ° Kraus, Arnosˇt: Husitsvı´ v literaturˇe, zejme´na neˇmecke´, Bd. 1: Husitstvı´ v literaturˇe. Prvnı´ch dvou stoletı´ svy´ch [›Das Hussitentum in der Literatur, vor allem in der deutschen, Bd. 1: Das Hussitentum in der Literatur. In seinen ersten beiden ˇ eske´ akademie Cı´sarˇe Frantisˇka Josefa Jahrhunderten‹], Praha: Na´kladem C ˇ eske´ akademie pro veˇdy, pro veˇdy, slovesnost a umeˇny 1917 (= Rozpravy C slovesnost a umeˇny, Kl. 3, Nr. 45). Lausberg, Heinrich: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, 2 Bde., 2. Aufl. München: Hueber 1973. Luther, D. Martin (Übs.): Die gantze Heilige Schrifft Deudsch. Wittenberg 1545. Letzte zu Luthers Lebzeiten erschienene Ausgabe, hg. v. Hans Volz unter Mitarb. v. Heinz Blanke, Textredaktion Friedrich Kur, München: Rogner & Bernhard 1972, S. 1985. ° Nejedly´, Zdeneˇk: Deˇjiny husitske´ho zpeˇvu, Bd. 4: Ta´borˇi [›Geschichte des hussitischen Gesangs, Bd. 4: Die Taboriten‹], 1. Aufl. Praha: Nakladatelstvı´ ˇ eskoslovenske´ akademie veˇd 1955 (= Sebrane´ spisy Zdeneˇka Nejedle´ho, C Bd. 43). ° — Deˇjiny husitske´ho zpeˇvu, Bd. 6: Texty [›Texte‹], 1. Aufl. Praha: Nakladatelstvı´ ˇ eskoslovenske´ akademie veˇd 1956 (= Sebrane´ spisy Zdeneˇka Nejedle´ho, C Bd. 45). °Nejstarsˇ´ı ˇceska´ ry´movana´ kronika tak ˇrecˇene´ho Dalimila [›Die älteste tschechische Reimchronik des sogenannten Dalimil‹], hg. v. Bohuslav Havra´nek u. Jirˇ´ı ˇ eskoslovenske´ akademie veˇd 1957 Danˇhelka, 1. Aufl. Praha: Nakladatelstvı´ C (= Pama´tky stare´ literatury cˇeske´, Bd. 18).
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° Severini, Gino: Du cubisme au classicisme (Esthe´tique du compas et du nombre),
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Roman Jakobson
Die Poesie Dalmatiens am Ende des 15. Jahrhunderts: Dzˇore Drzˇic´s Gedicht »Auf der Jagd« 1 Übersetzung aus dem Russischen Oleh Kotsyuba und Sebastian Donat
Kommentar und Einleitung Renate Lachmann Das als »bemerkenswertes Beispiel« dalmatinisch-ragusanischer Poesie qualifizierte Gedicht »Na lovu« [›Auf der Jagd‹] von Dzˇore Drzˇic´ (1461–1501) 2 hat den linguistischen Poetologen zu einer Analyse angeregt, die sein Diktum von der »Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie« 3 bemerkenswert beispielhaft belegt. Das, was Jakobson in seiner Analyse des Gedichts von Aleksandr Radisˇˇcev als »zielstrebige grammatische Faktur« 4 bezeichnet, steht auch in der Lektüre des ›Jagdgedichts‹ des ragusanischen Renaissance-Poeten im Zentrum. Jakobson macht Jagd auf verbale Materialisierungen grammatischer Kategorien. Nach der Konstatierung der verstechnischen Verhältnisse, 1
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Vorlage: Jakobson, Roman Osipovicˇ: »Poe˙zija Dalmacii v konce XV veka: Stichi Dzˇore Drzˇicˇa ›Na lovu‹«, in: SW III, S. 232–238. Erstveröffentlichung in einer serbischen Übersetzung aus dem russischen Original von 1961: »Struktura dveju srpskohrvatskih pesama. II. Dzˇore Drzˇicˇ: ›Na lovu‹«, in: Zbornik za filologiju i lingvistiku 4–5 (1961–1962), S. 135–139. [Anm. d. Übs.] ˙ ore (Gjore) Drzˇic´, Giore Darscich, geAndere Schreibweisen des Namens sind G mäß der jeweils geltenden orthographischen Konvention. Erst im 19. Jahrhundert kommt es zu einer auf strikter Anwendung diakritischer Zeichen beruhenden Standardisierung. [Anm. d. Komm.] Vgl. seinen vielzitierten Aufsatz »Poetry of Grammar and Grammar of Poetry«. [Anm. d. Komm.] Vgl. Jakobson, »›Du möchtest wissen: Wer bin ich?‹ Eine Analyse der Tobolsker Verse Radisˇcˇevs«, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 688–710, hier: S. 696. [Anm. d. Komm.]
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der exakten Aufzählung von *Hebungen, Silbenzahl, *Zäsuren und Wortbetonungen, was die Berücksichtigung der für das Ragusanische des ausgehenden 15. Jahrhunderts geltenden *Prosodik, Akzentologie und Phonetik einschließt, verfolgt er die Morphologie. Oder genauer: geht er den ornamentalen Spuren nach, die Drzˇic´ mit seinem morphologischen Spiel hinterlassen hat. »Na lovu« gehört in die Tradition der Liebesdichtung, zu deren Autoren neben dem genannten auch Sˇisˇko (Sˇisˇmundo) Mencˇetic´, Mavro Vetranovic´, Marin Krsticˇevic´, ebenfalls Ragusaner, zu zählen sind. Die Gedichte dieser (und einiger unbekannt gebliebener) Autoren sind bereits am Anfang des 16. Jahrhunderts in der als »Ranjinin zbornik« [›Der Sammelband des Ranjina‹] bekannten Sammlung zusammengetragen und veröffentlicht worden. Niksˇa Ranjina Andretic´ (1494–1582), der (jugendliche) Autor der Sammlung, hat beginnend mit dem Jahr 1507 mündlich kursierende Gedichte ragusanischer Poeten erstmals aufgezeichnet – wobei Mencˇetic´ und Drzˇic´ als Hauptautoren hervortreten – und damit auch ein Dokument hinterlassen, das von der Ablösung lateinsprachiger durch muttersprachliche Dichtung zeugt. Thematisch, stilistisch und verstechnisch hat der »Zbornik« die weitere Entwicklung, insbesondere der erotischen Dichtung, bis ins 17. Jahrhundert mitgeprägt. 5 Es ist davon auszugehen, daß Jakobson von der Sammlung durch die wissenschaftliche Publikation Kenntnis erhalten hat, die Vatroslav Jagic´ 1870 vorgelegt hat. Auch die zweite, erweiterte, die Handschriftenlage berücksichtigende Publikation, die Milan Resˇetar 1937, ebenfalls in der genannten Reihe, herausgebracht hat, war Jakobson bekannt. Auf des letzteren akribische Untersuchung der Sprache des »Zbornik« beruft sich Jakobson wiederholt. Nach der Veröffentlichung seiner Analyse erschienen noch zu seinen Lebzeiten die von Josip Hamm ausschließlich den lyrischen Texten Dzˇore Drzˇic´s gewidmete Ausgabe »Pjesni ljuvene« [›Liebesgedichte‹] von 1965 sowie der »Zbornik stihova XV. i XVI. stoljec´a« [›Sammelband von Gedichten des 15. und 16. Jahrhunderts‹], den Rafo Bogisˇic´ 1968 herausgegeben hat. Auf Resˇetars und Hamms Ausgaben bezieht sich die neue von Josip Voncˇina besorgte Ausgabe »Pjesnici Ranjinina zbornika« [›Die Dichter des Ranjinin zbornik‹] von 1998. Weder bei Hamm noch bei Bogisˇic´ und besonders auffällig in der Voncˇina-Ausgabe, in der eigens eine Literaturliste zum Thema vorgelegt wird, ist Jakobsons Analyse erwähnt. Das ist um so erstaunlicher, als letztere – zunächst auf serbisch veröffentlicht – in der Diskussion um die literarische Qualität des »Ranjinin zbornik« ein wesentliches Moment hätte sein können. Es ist Josip Hamm, der nachgerade empört die ästhetischen Urteile zurückweist, die in der Geschichts5
Z. B. Falisˇevac, Ivan Bunic´ Vucˇic´; Lachmann-Schmohl, Ignjat Ðordic´. [Anm. d. Komm.]
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schreibung der kroatischen Literatur bezüglich der Originalität der ragusanischen Renaissancedichtung vorgebracht worden sind. Die 1869 von Jagic´ in seiner Untersuchung »Trubaduri i najstariji hrvatski lirici« [›Troubadoure und die ältesten kroatischen Dichter‹] geäußerte Beurteilung des »Zbornik«, dem er weitestgehende Abhängigkeit vom italienischen Petrarkismus, ja Nachahmung und eine Tendenz zum Klischee, zur Schablone nachsagt, wird hernach mit zusätzlichen Attributen wie ›herzlos‹, ›empfindungsarm‹, einer ›konventionellen Rhetorik‹ verpflichtet von Resˇetar, Branko Vodnik, Slavko Jezˇic´ und Mihovil Kombol wiederholt. 6 Hamm versucht eine ästhetische Rehabilitierung der frühen Ragusaner, die um den Beweis ihrer stilistischen Originalität kreist und sich mit Verweis auf Jakobsons Arbeit leichter getan hätte. Daß die erotischen Gedichte des »Zbornik« in den Kontext des Petrarkismus gehören, steht für Voncˇina hingegen außer Frage, ohne daß die Spezifik dieser Dichtung einer auf Originalität pochenden Legitimierung bedürfte. Der Petrarkismus in einer auf wenige formale und motivische Elemente reduzierten Version ist die Folie dieser Dichtung, deren zentrale Leistung in der Schaffung einer Literatursprache besteht, aber auch in der durch die neuen sprachlichen Möglichkeiten sich ergebenden Transformation dieser Folie sowie der Schaffung von Formen, die Anleihen bei der mündlichen erotischen Volksdichtung machen. In der vorliegenden Analyse geht es nun allerdings weder um die petrarkistische Folie noch um die Situierung Drzˇic´s in der davon bestimmten Tradition. Etablierte Motivik und topisch gewordene *Metaphorik sind nur da von Interesse, wo sie als Faktur, als »morphe«, greifbar sind. *Symmetrien, durch Wiederholung oder *Parallelismus erzeugt; oder – allgemeiner – die Arrangements der Entsprechung lassen das ›Wesen‹ der Form hervortreten. »Sootvetstvie« [›Entsprechung‹] ist einer der zentralen Beschreibungsbegriffe, die Jakobson heranzieht, um die sprachlichen Verhältnisse in dem aus sieben Verspaaren bestehenden Vierzehnzeiler zu bestimmen. In dem auf den ersten Blick einfach gebauten Gedicht deckt Jakobson Symmetrien auf, die in der Koordination von verstechnischen und grammatischen Formen ruhen und sich in den Lautverhältnissen ebenfalls abbilden. Da Jakobsons Akzent immer auf der ›Sprachgestalt‹ liegt, hätte ihn die erwähnte Diskussion um Originalität-Nichtoriginalität vermutlich wenig beeindrucken können. Nachahmung, Entlehnung, ja Übersetzung bedeuten, eine unbearbeitete Sprache, die noch keine Spuren poetischer Tradition trägt, ›zu Worte kommen zu lassen‹ – so etwa ließe sich das Jakobsonsche Argument verstehen. (Allerdings darf die Rolle der in Ragusa selbstverständlich bekannten Volksdichtung bezüglich ihrer ›Grammatikalität‹ nicht unterschätzt werden). 6
Hamm, Nachwort zu Drzˇic´, Pjesni ljuvene, S. 99–102. [Anm. d. Komm.]
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Die Jakobsons analytische Arbeit bestimmende Symmetrie- und Entsprechungsfigur gilt auch für den Gesamttext, den er in einer Dreigliedrigkeit sieht, wobei er die zwischen den rahmenden Teilen und dem Mittelteil bestehenden Wechselbeziehungen, bezüglich der *Kasusformen, der Satztypen und des *Tempus, akribisch rekonstruiert. Im Vordergrund steht dabei das Bemühen, Drzˇic´s Spiel mit Verbalformen, Kasusformen, Personalpronomina, grammatischen Parallelismen 7 als die Darstellung, ja Offenlegung sprachlicher *Struktur zu lesen. Die Symmetrien und Korrespondenzen in »Na lovu« haben zweifellos etwas Demonstratives. In dieser Analyse geht es deshalb nicht um das ›Subliminale‹, die Entschlüsselung *anagrammatischer Strukturen, wie sie Jakobson in seiner der Lyrik Velimir Chlebnikovs gewidmeten Untersuchung von 1970 8 vorgeführt hat, sondern um die Benennung der auf der Textebene manifest gewordenen grammatischen Poesie. Renate Lachmann
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Lovac 9 lovec´i, diklice 10, S kragujcem drobne pticˇice, Bjesˇe 11 t’ mi gorko sunacˇce Ter 12 iskah hladne vodice.
Jakobson, »Grammatical Parallelism and its Russian Facet«. Vgl. die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 302–364. [Anm. d. Komm.] 8 Jakobson, »Subliminal Verbal Patterning in Poetry« (vgl. die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 124–153). Dazu Lachmann, »Die Poetik des Subliminal. Roman Jakobson«. [Anm. d. Komm.] 9 Variante Lovac, lovec´i in der Ausgabe von Rafo Bogisˇic´ (Zbornik stihova XV. i XVI. stoljec´a). [Anm. d. Komm.] 10 Diklica, dikla ist ein sowohl ˇstokavisch als auch cˇakavisch und kajkavisch (also in allen drei Varianten des Serbokroatischen) im 16. Jahrhundert übliches *Lexem, das offenbar durch die Gedichte des Ranjinin zbornik Ende des 15./Anfang des 16. Jahrhunderts starke Verbreitung fand. Jedenfalls scheint es im 20. Jahrhundert einer Erklärung zu bedürfen: die serbische Ausgabe Dubrovacˇka lirika (1960) führt diklica im Recˇnik (Wortliste) eigens auf und erklärt es mit devojcˇica (Mädchen). Die kroatische Ausgabe Pjesnici Ranjinina zbornika von Voncˇina führt die Entsprechungen djevojka, zˇena (Maid, Frau) an. [Anm. d. Komm.] 11 Die Ausgabe von Voncˇina, Pjesnici Ranjinina zbornika, S. 76, hat die Variante Bijesˇe. [Anm. d. Komm.] 12 Die Wortliste in der Hamm- und in der Voncˇina-Ausgabe umschreiben ter mit te, was ›und‹ bedeutet, der Rjecˇnik hrvatskoga ili srpskoga jezika [›Wörterbuch der kroatischen oder serbischen Sprache‹] führt i, te, tere, pa, pak, onda, zatim an, womit neben das additive Moment (i, te, tere, pa) dasjenige der Folge, Konsequenz (pak, onda, zatim) tritt. Es liegt wegen der syndetisch angelegten Gesamtstruktur nahe, ter als Synonym zu i mit ›und‹ zu übersetzen. [Anm. d. Komm.]
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Isˇtuc´i hladne vodice, NadÑoh si mlade diklice, Gdi beru cvitak ruzˇice Ter sebi viju krunice; Imahu luke rozˇance I s perjem zlate strelice. Smirno se molim, diklice, Pridrage moje sestrice, Jeda 13 gdi znate vodice, Napojte vasˇe sluzˇice. Ihr Mädchen, als ich, der Jäger, jagte Mit dem Jagdfälklein kleine Vögelchen, Ward mir glühend heiß das Sönnchen, Und ich suchte ein kaltes Wässerchen. Suchend ein kaltes Wässerchen, Fand ich junge Mädchen, Wo sie pflücken die Blüte des Röschens Und sich flechten Kränzchen; Sie hatten Bögen aus Hörnernem Und goldene gefiederte Pfeilchen. Untertänig flehe ich, ihr Mädchen, Meine teuersten Schwesterchen, Daß Ihr doch ein Wässerchen wüßtet, Zu tränken eure Dienerchen.
Dieses bemerkenswerte Beispiel dalmatinisch-ragusanischer Dichtung am Ausgang des 15. Jahrhunderts, das in einer Handschrift aus dem Jahr 1507 überliefert und von Vatroslav Jagic´ sowie erneut von Milan Resˇetar veröffentlicht worden ist,14 enthält vierzehn achtsilbige Zeilen mit einer obligatorischen *Wortgrenze nach der fünften Silbe und einer fast obligatorischen nach der dritten Silbe (die einzige Ausnahme bildet die erste Zeile: 2 + 3 + 3),15 wobei das Schema 3 + 5 für die syntaktische Gliederung des 13 Jeda wird im Rjecˇnik hrvatskoga ili srpskoga jezika als Konjunktion mit der Bedeutung ›um zu‹, ›damit‹, ›daß‹ angegeben, was mit der Bedeutung des üblicheren da zusammenfällt, die Vorsilbe je gibt der Konjunktion den zusätzlichen Aspekt des Wunsches. [Anm. d. Komm.] 14 Pjesme Sˇisˇka Mencˇetic´a Vlahovic´a i Gjore Drzˇic´a, S. 412–414, und Pjesme Sˇisˇka Mencˇetic´a Vlahovic´a i Gjore Drzˇic´a, i ostale pjesme Ran´inina zbornika, S. 416. Zur Frage der Autorschaft Drzˇic´s vgl. Bd. II–2, S. XII, sowie die Anmerkungen M. Resˇetars, »Autorstvo pjesama Ran´inina Zbornika«, S. 120–126, und Resˇetar, »Jezik pjesama Ran´inina Zbornika«, S. 191–194. 15 Zur Rolle der Wortgrenze vgl. das Kapitel »Slovorazdel i ego rol’ v stiche« [›Die Wortgrenze und ihre Funktion im Vers‹] in Jakobsons früher Monographie O ˇcesˇs-
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Textes bedeutungsvoller ist als das Schema 5 + 3.16 Das Gedicht besteht aus sieben Zweizeilern, die durch deutliche syntaktische Pausen voneinander getrennt sind. Alle 14 Zeilen sind mittels eines durchgehenden Reims miteinander verbunden.17 Dieser wird am Ende der Verspaare strenger durchgehalten als am Ende der ungeraden Zeilen, wo neben den überwiegenden Suffixen -ice, -ice¯ auch Formen des einsilbigen Reimes wie 3 sunac ˇce [›Sönnchen‹], 9 rozˇance [›Hörnernes‹] anzutreffen sind. Andererseits werden die Reime der Zweizeiler innerhalb der Zeile unterstützt, wobei die enge semantische Verbindung der Verspaare in eine lautbildhafte Struktur 18 umgeformt wird. Vgl. 1 diklice – 2 pticˇice; 5 hla¯dne¯ vodice – 6 NadoÑ h si mla¯de¯ diklice; 7 cvitak ruzˇice – 8 viju krunice; 9 ima ¯ hu lu¯ke rozˇance – 10 I s perjem zla¯te¯ strelice. Das Gedicht ist in drei Teile gegliedert: Der mittlere Teil umfaßt drei, die zwei rahmenden Teile umfassen je zwei Zweizeiler. Die *Einstellung auf die Symmetrie der drei Teile findet ihren deutlichen Ausdruck in zwei Kernwörtern, die dreimal am Ende der Zeilen des Gedichts wiederholt werden – je einmal in jedem Teil, wobei mit einem dieser Wörter die erste Zeile eines jeden Teils endet: 1 diklice – 4 vodice¯; 5 vodice¯ – 6 diklice; kom stiche – preimusˇˇcestvenno v sopostavlenii s russkim, S. 27–33, sowie die deutsche Übersetzung: Über den tschechischen Vers, S. 36–43. – Das hier herausgearbeitete Zahlenverhältnis 8:5 und 5:3 spielt übrigens als ›goldener Schnitt‹ eine zentrale Rolle in Jakobsons Hölderlin-Analyse (»Ein Blick auf ›Die Aussicht‹ von Hölderlin«, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 206–208). [Anm. d. Komm.] 16 Die Frage nach der Verteilung der Betonungen in diesen Versen lassen wir angesichts der noch nicht abgeschlossenen Diskussion über die Altdubrovniker Prosodie offen. Die rhythmische Analyse des Gedichts »Auf der Jagd« bestätigt jedoch offensichtlich das neusˇtokavische System. Zum akzentologischen Schema des genannten Werks und seiner *jambischen Art vgl. Korsˇ, Vvedenije v nauku o slavjanskom stichoslozˇenij, S. 46, und Jakobson, »Studies in Comparative Slavic Metrics«, S. 53– 55. [Anm. v. R.J.]. – Vgl. Jakobson, »Slavic Epic Verse. Studies in Comparative Metrics«, S. 450. [Anm. d. Komm.] 17 Bei dem Fast-Monoreim, der notwendig mit ›Monotonie‹ einhergeht, handelt es sich um *grammatischen Reim, der durch das Verfahren des *Homoioteleuton zustande kommt. Drzˇic´ nutzt die allen slavischen Sprachen innewohnende Möglichkeit, Endungsgleichheit rein morphologisch, hier durch den Einsatz entsprechender Kasus, herzustellen. Jakobson differenziert zwischen Genitiv Sing. fem. und Vokativ Plur. fem., die im Kroatischen bei Diminutivformen auf -ica gleichlautend sind, sich jedoch prosodisch unterscheiden, denn das auslautende e der Genitiv Fem.-Form ist lang. [Anm. d. Komm.] 18 Mit »zvukoobraznaja struktura« [›lautbildende Struktur‹] knüpft Jakobson an die von Osip Brik entwickelte lautsemantische Überlegung an, die letzterer mit dem Begriff »zvukovye povtory« [›Lautwiederholungen‹] 1919 in die formalistische Diskussion eingeführt hat. [Anm. d. Komm.]
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11 diklice – 13 vodice ¯. [›1 Mädchen – 4 Wässerchen; 5 Wässerchen – 6 Mädchen; 11 Mädchen – 13 Wässerchen‹].19 Jeder Teil des Gedichts enthält je ein komplexes syntaktisches Ganzes, das zwei Hauptsätze verbindet, die ihrerseits mit Hilfe der Konjunktion ter im ersten Teil und ohne Konjunktion in den anderen zwei Teilen miteinander verbunden sind: 6 NadoÑ h si 〈…〉; 9 Imahu 〈…〉; 11 Smirno se molim 〈…〉, 14 Napojte 〈…〉 [›6 Fand mir 〈…〉; 9 hatten 〈…〉; 11 Untertänig bitte 〈…〉; 14 Tränkt 〈…〉‹]. Nur einer der zwei korrelierenden Hauptsätze ist ein einfacher Satz, während dem anderen im dritten Teil ein Nebensatz untergeordnet ist, im ersten Teil eine *adverbialpartizipiale Konstruktion und im zweiten Teil sowohl das eine als auch das andere. Der erste Teil beginnt mit der adverbialpartizipialen Konstruktion 1 〈…〉 lovec´i 〈…〉 pticˇice [›〈…〉 jagend 〈…〉 Vögelchen‹], der zweite Teil dementsprechend mit der Konstruktion 5 Isˇtuc´i 〈…〉 vodice [›suchend 〈…〉 Wässerchen‹]. Zwischen die beiden Hauptsätze des zweiten und des dritten Teils ist ein Nebensatz mit dem gleichem Satzanfang gdi [›wo‹] eingefügt (7 Gdi beru 〈…〉 [›wo pflücken‹] und 13 gdi znate 〈…〉 [›wo wißt‹]), doch ist er im zweiten Teil dem vorangehenden, im dritten Teil dem nachfolgenden Satz untergeordnet. Also vereinigt der mittlere Teil des Gedichts die syntaktischen Besonderheiten der beiden rahmenden Teile, greift jedoch – im Unterschied zu diesen – zweimal zu einer paarweisen Verbindung von gleichartigen Satzgliedern – 7 Gdi beru cvitak 〈…〉 ter sebi viju krunice [›Wo pflücken Blüten 〈…〉 und sich flechten Kränzchen‹]; 9 imahu luke 〈…〉 i 〈…〉 strelice [›hatten Bögen 〈…〉 und 〈…〉 Pfeilchen‹], während in den Rahmenteilen die Verknüpfung gleichartiger Glieder fehlt. Auch auf der morphologischen Ebene vereint das Vorhandensein oder, umgekehrt, das Fehlen von bestimmten Kategorien die beiden rahmenden Teile und setzt sie dem mittleren Teil entgegen; und umgekehrt sind Eigenschaften, durch welche sich die rahmenden Teile voneinander unterscheiden, im mittleren Teil vereint, der so gewissermaßen eine Synthese der beiden Rahmenteile liefert. Im Gebrauch der Substantive in verschiedenen präpositionslosen Kasusformen stimmen die Rahmenteile völlig überein: In beiden läßt sich je ein Beispiel des Akkusativs und Genitivs sowie je zwei Fälle der Nominativform in ihrer Nennfunktion oder ihrer vokativischen Funktion feststellen, insgesamt also je vier Kasusformen. Als Gegengewicht zu diesen
19 Im Serbokroatischen werden lang fallende, kurz fallende, lang steigende, kurz steigende Akzente unterschieden. Jakobson markiert hier die Länge, womit er auf die prosodische Differenz hinweist, die für die Rezitation eine zusätzliche Qualität bedeutet. [Anm. d. Komm.]
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acht Beispielen dienen wiederum acht präpositionslose Formen des mittleren Teils. So entsprechen den zwei Beispielen des Genitivs in den beiden Rahmenteilen wiederum zwei Genitive im mittleren Teil, doch verwendet dieser – im Unterschied zu den Rahmenteilen – keine Nominativform, und seine sechs Beispiele des Akkusativs entsprechen der Gesamtzahl der Nominativ- und Akkusativformen in den beiden Rahmenteilen. Beide Rahmenteile enthalten vier – je zwei in jedem Teil – finite Verbformen im Indikativ, gewissermaßen als ein Gegengewicht zu den vier finiten Formen desselben Modus, die sich im mittleren Teil befinden. Diese beiden Formen gehören im ersten Teil der Vergangenheit (Imperfekt) und im dritten der Gegenwart an, während der zweite Teil beide finiten Formen der Vergangenheit (*Aorist und Imperfekt) in den Hauptsätzen mit zwei Formen der Gegenwart im Nebensatz kombiniert. Alle drei Teile unterscheiden sich in der Wahl der Verbformen der *Person und des *Numerus. Die erste Person Singular erscheint je einmal in Ñ 11 molim [›4 suchte, 6 fand, 11 bitte‹]), die dritte jedem Teil (4 iskah, 6 nadoh, Person Singular jedoch ausschließlich im Anfangsteil (3 bjesˇe [›ward‹]), die dritte Person Plural nur im zweiten 20 (7 beru, 8 viju [›7 pflücken, 8 flechten‹]) und die zweite Person lediglich im letzten Teil (13 znate, 14 napojte [›13 wißt, 14 tränkt‹]). Das Vorhandensein von Formen der dritten Person vereint den mittleren und den Anfangsteil und setzt diese dem Schlußteil entgegen, der diese Formen nicht enthält. Dabei stellen die Verbformen im Plural den mittleren und den dritten Teil dem ersten gegenüber, wo die Kategorie des verbalen Plurals fehlt.21 Neben den finiten Indikativformen enthält jeder Teil noch je eine Verbform. Das sind das Adverbialpartizip im Anfangsvers des ersten und des zweiten Teils und die zweite Person Plural Imperativ im letzten Vers des Schlußteils. Beide Adverbialpartizipien erhalten eine besondere Bedeutung, indem sie unmittelbar nach anderen Ableitungen von derselben Wurzel folgen: 1 Lovac, lovec´i; 4 Ter iskah hladne vodice. 5 Isˇtuc´i hladne Ñ si mlade diklice [›1 Jäger, jagend 22; 4 Drum suchte kaltes vodice, 6 nadoh 20 Emendation: Im Original irrtümlich »dritten«. [Anm. d. Komm.] 21 Dabei gewinnt die von Jakobson notierte Anwesenheit einer grammatischen Kategorie zusätzliches Gewicht durch ihre Abwesenheit an anderer Stelle. Hier geht es allerdings nicht um die Feststellung einer Abweichung mit Verfremdungseffekt – also nicht um das für die von Jakobson mitformulierte formalistische Poetik so wichtige »otklonenie ot schemy« [›Abweichen vom Schema‹] – sondern gerade darum, in einem die strikte Einhaltung des Schemas demonstrierenden Gedicht die grammatische Kategorie auch in deren Nichtrealisierung zu erfassen. Vgl. Jakobsons Thesen in »Signe ze´ro« und »Das Nullzeichen«. [Anm. d. Komm.] 22 Die Ausgaben variieren hier: neben Lovac lovec´i gibt es Lovac, lovec´i, was sinnver-
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Wässerchen. 5 Suchend kaltes Wässerchen, 6 Fand mir junge Mädchen‹]. Der Aorist nadoÑ h [›fand‹] klingt an den Imperativ der Schlußzeile napojte [›tränkt‹] an, d. h. an die zweite und letzte Form des *perfektiven Aspekts im gesamten Gedicht, die außerdem das gleiche Präfix enthält. Trotz der Vielzahl der Nominalformen im Text, der neunzehn Substantive und lediglich neun finite Formen der Konjugation zählt, finden wir in diesem Gedicht nur einen Satz mit einem Subjekt – 3 Bjesˇe t’ mi 23 gorko sunacˇce [›Ward mir glühend (das) Sönnchen‹], dabei ist dieser Satz das einzige Beispiel für ein nominales Prädikat mit einer *Kopula, während alle anderen Verbformen – sowohl die finiten als auch die nichtfiniten – ohne ein nominales oder pronominales Subjekt, jedoch mit einem direkten *Objekt auftreten, welches in der Regel nominal und in der alleinstehenden Reflexivkonstruktion pronominal (11 se molim [›bitte (ich) mich‹ 24 ]) ist. Schon das erste Wort des Gedichts benennt seinen Helden, doch erscheint die Form lovac – ›der Jäger‹ – durchaus nicht in der Rolle des Subjekts, sondern als absoluter Nominativ. Am Ende genau dieser Anfangszeile und zum zweiten Mal im letzten Teil, wiederum am Ende der Anfangszeile, ist die Bezeichnung der Heldinnen diklice – ›die Mädchen‹ – ihrerseits aus dem syntaktischen Kontext herausgerissen und in der Form der Anrede gegeben. Wie bei den »kleinen Vögelchen« (2 drobne pticˇice), die der Tierfänger jagt, durchdringen Diminutivsuffixe den nominalen Bestand des ganzen Gedichts: dreimal diklice, je einmal kragujac, sunacˇce [›Mädchen, Jagdfälklein, Sönnchen‹], dreimal vodice, je einmal cvitak ruzˇice, krunice, strelice, sestrice, sluzˇice [›Wässerchen, Blüten (von) Röschen, Kränzchen, Pfeilchen, Schwesterchen, Dienerchen‹].25 Beginnend mit dem Motiv der Jagd, eröffnet der Dichter eine Reihe von stereotypen erotischen Bildern.26 Die größte Originalität liegt jedoch gerade in der grammatischen Komposition, die bei dem Übergang von einem zum anderen Motiv das
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ändernde und versologische Unterschiede einschließt, s. o. Anm. 9. [Anm. d. Komm.] mi in dieser Konstruktion ist eine für das Kroatische typische Dativform, die des *dativus ethicus, die Jakobson hier nicht eigens kommentiert. [Anm. d. Komm.] Das Verb ist im Kroatischen reflexiv, was durch das Reflexivpronomen se zur Geltung kommt: (ich) bitte mich, (ich) bete mich. Dabei liegt jedoch keine wirkliche Rückbeziehung auf die sprechende Person vor, vielmehr wird damit die Demut bei der Handlung signalisiert (der Sprecher bittet mit seiner ganzen Person). [Anm. d. Übs.] Vgl. Resˇetar, »Rjecˇnik i dikcija pjesama Ran´inina zbornika«, S. 26–29. Generell hätte man sich eine Bemerkung zur auffälligen Frequenz der Diminutiva, d. h. zur Semantik der Verkleinerung gewünscht, die in der erotischen Dichtung der Ragusaner und Dalmatiner gewissermaßen habitualisiert ist. [Anm. d. Komm.]
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Zusammenwirken der wörtlichen und der metaphorischen Bedeutungen sowie ein Spiel mit den Schwankungen zwischen den beiden semantischen Ebenen hervorruft. Die Synonymie der Mädchen und der Vögel ist am Anfang des Gedichts verdeckt, da sich die Autorrolle in die Jagd auf die Vögel und die Rede zu den Mädchen teilt. Die Sonnenhitze, die dazu veranlaßt, kaltes Wasser zu suchen, scheint den Vogelfänger entweder abzulenken oder, umgekehrt, den Helden aufzustacheln, indem sie in ihm den Wunsch entfacht, den Liebesdurst zu stillen. Der Erzähler hatte nach dem frischen Wasser gesucht, fand aber junge Mädchen; und wieder ist unklar, was dies ist: ein unnötiger Schritt zur Seite oder, umgekehrt, ein glücklicher Anfang. Während der erste Teil von der einsamen Vergangenheit des Helden handelte, führt der zweite die Heldinnen ein, die Vergangenheit verflicht sich mit der Gegenwart, die Pluralität der handelnden Personen tritt an die Stelle des Singulars. Die Mädchen sind mit emblematischen Liebesaccessoires ausgestattet: Rosenkränzen und Hornbögen mit goldenen Pfeilen. Die Pfeile s perjem [›mit Gefieder‹] erinnern an den Jäger s kragujcem, mit dem ›Jagdfälklein‹, am Anfang des Gedichts: Das sind die zwei einzigen Beispiele des *Instrumentals und die einzigen präpositionalen Konstruktionen im ganzen Text. Doch auf die männliche Symbolik des Falkners antwortet das Bild der bewaffneten Mädchen, die Begriffe strelice [›Pfeilchen‹] und sestrice [›Schwesterchen‹] am Ende der benachbarten Zweizeiler bilden eine feste *Paronomasie,27 das ursprüngliche Bild eines einsamen Jägers löst sich im Motiv des kollektiven Dienstes an den Mädchen auf, und nach der dritten Wiederholung der Genitivform vodice [›Wässerchen‹], des grammatischen *Symbols für den nicht vollständigen Besitz, ruft der Dichter sie demütig an: 14 »Napojte vasˇe sluzˇice« [›Tränkt eure Dienerchen‹]. Zwischen diesem Schlußvers und der Zeile 6 »NadoÑ h si mlade diklice« [›Fand mir junge Mädchen‹] stellt sich eine enge Verbindung her: Sowohl die eine als auch die andere Tat wird in ihrem Abschluß betrachtet – da der Dichter die Mädchen gefunden hat, sollen sie ihm und seinesgleichen zu trinken geben. Als direktes Objekt haben die dürstenden Diener die Mädchen ersetzt. Das epische Präteritum wird im letzten Teil endgültig vom Präsens abgelöst und die dritte Person von der zweiten. Die Anrede diklice [›Mädchen‹] hat ihr natürliches *Äquivalent im Imperativ gefunden, wäh27 Neben den Lautwiederholungen (»zvukovye povtory«) spielen in Jakobsons Analysen die Paronomasien als über lautliche Entsprechung sich ergebende quasi etymologische Verwandtschaften eine wichtige Rolle. Vgl. seine frühe Arbeit Novejsˇaja russkaja poe˙zija sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 101. [Anm. d. Komm.]
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rend dies im Anfangsteil der chronologisch und thematisch von der geschilderten Handlung losgelöste Adressat war. Im Vergleich zu den Adjektiven der ersten zwei Teile erscheint im dritten eine neue Art des Attributs, die eine enge Verbindung zwischen dem Helden und den Heldinnen herstellen, während die Pronomina in den ersten Teilen ausschließlich durch die Dativformen mi, si, sebi [›mir, mir, sich‹] vertreten waren, die den Radius des Geschehens eingrenzten. Die wichtige Rolle dieser Possessivpronomina zeigt sich auch in ihrer starken lautlichen Verbindung mit dem Kontext: 11 molim, diklice – 12 moje sestrice; 13 znate vodice ¯ – 14 vasˇe sluzˇice mit dem *Alliterationschiasmus /z/ – /v/ – /v/ – /s/. Vom offenkundigen Interesse des Dichters an den Anfangslauten und -buchstaben zeugt eindrucksvoll seine Leidenschaft für *Akrosticha,28 die bereits von Jagic´ bemerkt wurde. Der Hauptfaktor, der die Entwicklung des gesamten lyrischen Themas des Gedichts bestimmt und die Wortbilder diklice [›Mädchen‹] und vodice [›Wässerchen‹] untrennbar miteinander verbunden hat – das Feuer der Liebessehnsucht –, findet seinen traditionellen symbolischen Ausdruck in der glühenden Sonne,29 die der Dichter nicht ohne Grund zum 28 Die genannten Sammlungen führen eine Reihe von Akrosticha auf, z. B. »Ka se je jur vila« [›Als sich schon die Fee‹]. Hier lautet der verborgene Name der vila [›Fee‹] – übrigens ein Synonym zu diklica – Kata; häufiger allerdings schreibt Drzˇic´ seinen eigenen Namen in das Liebesgedicht ein, z. B. in »Gizdava ma vilo« [›Meine schöne Fee‹] u. a. Drzˇic´ hat wie vor allem auch Mencˇetic´ auch andere für die RenaissanceLyrik typische Spielformen probiert. In Hamms Pjesni ljuvene figuriert das Gedicht XXXIII (S. 34–36), das durch ein zweifellos manieristisches Verfahren hypertropher Anaphorik auffällt: das 48 Verspaare in Frageform enthaltende Gedicht bindet jeweils die erste Zeile eines Zweizeilers mit der Halbzeile Gdi mozˇe sunacˇce [›Wie kann das Sönnchen‹] und die zweite Zeile jedes Verspaares mit der Halbzeile I moje srdacˇce [›Und mein Herzchen‹] *anaphorisch zusammen (d. h. jeweils 48 Wiederholungen). Die sunacˇce-Zeile formuliert ein Adynaton, das als Argument für die Liebesthematik genutzt wird. Außerdem gibt es nachgerade eine Überzahl an Korrespondenzen (grammatischer *Paarreim, Reim innerhalb der Zweizeiler, Lautwiederholungen, Paronomasien etc.). Jakobson konnte diesen Text, der sein Entsprechungstheorem über die Maßen bestätigt hätte, nicht zur Kenntnis nehmen, da er einer später gefundenen Handschrift entstammt. Der Ranjinin zbornik enthält auch etliche Beispiele für Drzˇic´s poetischen Umgang mit der Volksliedtradition. Deren Ton und Stilistik führt er z. B. in »Djevojka je podranila« [›Das Mädchen stand in der Frühe auf‹, eigentlich: ›Das Mädchen frühte‹] überzeugend vor, womit er zusammen mit den andern Vertretern des Ranjinin zbornik ebenfalls eine Tradition begründet. Die Verknüpfung von Petrarkismus und mündlich verbreiteter Liebesdichtung gilt bis ins 17. Jahrhundert. [Anm. d. Komm.] 29 An dieser Stelle wird im Original das Wort solnysˇko verwendet, eine Diminutivform von solnce (Sonne). Das Wort stellt eine Koseform dar, die im Deutschen schwer zu
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einzigen grammatischen Subjekt im ganzen Gedicht erhoben hat, und zwar in einem einzigen Attributivsatz: Bjesˇe t’ mi gorko sunacˇce [›Ward mir glühend das Sönnchen‹]. Eine kühne Paronomasie verbindet die Kombination gorko sunacˇce [›glühend Sönnchen‹] mit der ähnlich klingenden Form s kragujcem [›mit Fälklein‹]. Dabei erwies sich die unmittelbare Verbindung zwischen den handelnden Personen und den Handlungen als verdeckt, die Beziehung zwischen den Verben und ihren Objekten dagegen als hell beleuchtet.30 Die vermeintliche Unverbundenheit von Anrede an die Mädchen und Suche nach frischem Wasser im Prolog des Gedichts »Auf der Jagd« wandelt sich im Epilog in die Behauptung der imperativischen Gemeinsamkeit zwischen der demütigen Bitte an die Mädchen und der Erlangung des lebendigen Wassers.31 Der mittlere Teil verbindet den Prolog reproduzieren ist und die im Russischen vor allem in (altertümlichen) Sprichwörtern gebraucht wird. Da solnysˇko dem Diminutiv sunacˇce [›Sönnchen‹] entspricht, wäre dies ein Hinweis darauf, daß Jakobson alle im Text versammelten Diminutiva als Hyperkoristika, Koseformen, liest. [Anm. d. Komm.] 30 Hier findet das Argument von der ›Macht‹ der Sprache, deren grammatische Gestalt alles andere (Motive, Handlung etc.) in den Schatten stellt, seine Bestätigung. Hierzu Birus, »Hermeneutik und Strukturalismus«, S. 15 f. – Jakobson, der sich in seiner frühen Untersuchung Novejsˇaja russkaja poe˙zija wie auch in seinen berühmten Arbeiten zu Metapher und *Metonymie als Kenner rhetorischer Begrifflichkeit bewiesen hat und zusammen mit anderen Formalisten als Vertreter einer neorhetorischen Ausrichtung gelten kann, verzichtet in der Auflistung der syntaktischen, morphologischen und phonetischen Elemente des ragusanischen Liebesgedichts auf deren rhetorische Interpretation. Paronomasie ist in diesem Zusammenhang neben *Chiasmus der einzige auch rhetorisch relevante Terminus. Lovac lovec´i [›Jäger jagend‹], erscheint rhetorisch gesehen als *figura etymologica, bzw. *Polyptoton. Dagegen hebt Jakobson in dem ersten der beiden von ihm analysierten serbokroatischen Gedichte »Siluanovo slovo Sv. Save« [›Siluans Lobpreis auf den Hl. Sava‹], S. 133, die *Figuren des Polyptoton und des *Paregmenon hervor und markiert diese mit griechischen Buchstaben als rhetorische Termini. – gorko [›bitter‹] in der Zeile Bjesˇe t’ mi gorko sunacˇce [›Ward mir glühend das Sönnchen‹] bedeutet eigentlich ›bitter‹ und ließe sich als intensivierende Metapher für ›heiß‹ lesen. Die Wortliste der Hamm-Ausgabe gibt für gorkost [›Bitternis‹] vrelina [›glühende Hitze‹] an, ohne zu kommentieren, ob hier nicht doch eine Metapher, und sei es eine habitualisierte, vorliegt. Die Wendung Napojte vasˇe sluzˇice [›Tränkt Eure Dienerchen‹] erscheint als topisch gewordene Metapher für die Linderung des Liebesverlangens (wozu in den anderen Texten der Sammlung weitere Topoi treten). Imahu luke rozˇance I s perjem zlate strelice [›Sie hatten Hornbogen Und gefiederte goldene Pfeilchen‹] gehört in die Liebespfeil-Topik bzw. die Metaphorik der Liebesverletzungen. Zu Jakobson im Kontext der formalistischen Neorhetorik vgl. Lachmann, Die Zerstörung der schönen Rede, Kap. »Neorhetorik und Dialogizität«, S. 306–336. [Anm. d. Komm.]
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mit dem Epilog durch eine Reihe von Substitutionen und Metamorphosen und vereint so auf (gleichsam) natürliche Art und Weise ihre künstlerischen Mittel. Gleichzeitig steht er ihnen gegenüber mit der maximalen Konzentration auf die Objektbeziehungen, mit der Abkehr vom dialogischen Lakonismus hin zu einer detaillierteren und objektivierten Beschreibung und mit der Verwandlung der Adressaten der Rede in direkte Mitbeteiligte an der Handlung.32
Zusammenfassung 33 »Na lovu« [›Auf der Jagd‹] von Dzˇore Drzˇic´. Dieses Gedicht in vierzehn durch einen durchgehenden Reim verbundenen achtsilbigen Versen (3 + 2 + 3), verfaßt am Ende des 15. Jahrhunderts von einem der frühesten Dichter Dubrovniks, ist syntaktisch in sieben Zweizeiler und in drei Teile gegliedert: einen mittleren Teil mit drei Zweizeilern, und zwei Rahmenteile mit je zwei Zweizeilern. In seinem syntaktischen und morphologischen Aufbau gleicht der mittlere Teil beide rahmenden Teile aus und vereint diese in sich. Alle drei Teile weisen wichtige gemeinsame Züge, wie das gleiche Diminutivpaar diklice ›Mädchen‹ (im Vokativ und Akkusativ) und vodice ›Wasser‹ im genitivus appetitivus auf, wobei beide Kernwörter jedes Mal in einer deutlich unterschiedlichen Konstellation auftreten. Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Aufbau der Sätze (das Vorhandensein oder Fehlen von beigeordneten und untergeordneten 31 Während Jakobson an anderen Stellen hladna mit svezˇaja [›frisch‹], übersetzt, benutzt er hier ein Attribut, das in volksmythologischen Zusammenhang gehört. Er hat dies allerdings nicht weiter ausgeführt. [Anm. d. Komm.] 32 Es ist keine Frage, daß die eindimensionale Semantik des Gedichts zu einer interessanten Interpretation keinen Anlaß bietet. Der Versuch Jakobsons, dem Gedicht einen metaphorischen Gehalt zuzuschreiben, wirkt etwas bemüht, da genau hier die petrarkistische Konvention hätte berücksichtigt werden können, um der Topik ihren Platz zuzuordnen. Zwar weist er auf Stereotypen hin und räumt damit das Festhalten an einer Konvention ein, zugleich aber spricht er von Originalität. Im Schlußteil seiner Analyse, die als Gegenstück zu seiner Inventarisierung der von Drzˇic´ eingesetzten Formen gelten kann, entwickelt er die Vorstellung einer kleinen Liebesszenerie mit Held und Heldinnen, als verberge sich darin so etwas wie eine Handlung. Er konstruiert damit eine Dynamik, die bei der Identifizierung der grammatischen Elemente zunächst keine Rolle spielte. Etliche Aspekte seiner Poetizitätskonzeption können im Jagdgedicht nicht zur Geltung kommen: Dissoziation von Laut und Bedeutung, re-evaluation, Doppelkodierung u. a., wohl aber das Konzept »Poesie der Grammatik«. [Anm. d. Komm.] 33 Die (in SW III hinzugefügte) Zusammenfassung ist auf Englisch verfaßt. [Anm. d. Komm.]
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Sätzen, seien sie finit oder partizipial) und bei der Wahl und dem Gebrauch morphologischer Kategorien (Pronominalklassen,34 Tempora der Verben, Person und Numerus) liegen der Dynamik der erotischen Symbolik im gesamten Gedicht zugrunde. Eine besondere Rolle spielt hier das einzigartige Auftreten bestimmter morphologischer oder syntaktischer Konzepte, z. B. der Imperativ, der in der Schlußzeile erscheint und den anfänglichen Vokativ in ein neues Licht rückt, oder wiederum das leitende Symbol der glühenden Sonne, die als einziges Subjekt und einziges Prädikativ in Drzˇic´s Komposition erscheint. Editorische Notiz Zuerst veröffentlicht in der serbischen Übersetzung des russischen Originals aus dem Jahr 1961 in Zbornik za filologiju i lingvistiku 4–5 (Novi Sad, 1961–1962), S. 134–139.
Literatur Jakobsons eigene Literaturangaben sind mit ° gekennzeichnet. Birus, Hendrik: »Hermeneutik und Strukturalismus. Eine kritische Rekonstruktion ihres Verhältnisses am Beispiel Schleiermachers und Jakobsons«, in: Birus /Donat /Meyer-Sickendiek, S. 11–37. Brik, Osip: »Zvukovye povtory« [›Lautwiederholungen‹], in: Poe˙tika, Petrograd 1919, S. 58–100. – Nachdruck mit einem Nachwort von Roman Jakobson in: Osip Brik, Two Essays on Poetic Language, Ann Arbor 1964, S. 1–45. Drzˇic´, Dzˇore: Pjesni ljuvene [›Liebesgedichte‹], hg. v. Josip Hamm, Zagreb: Jugoslavenska Akademija Znanosti i Umjetnosti 1965 (= Stari pisci hrvatski, Bd. XXXIII). Dubrovacˇka lirika [›Dubrovniker Lyrik‹], hg. v. Dragoljub Pavlovic, Beograd: Beogradski graficˇki zavod 1960 (=Antologija Jugoslovenske Knjizˇevnosti). Falisˇevac, Dunja: Ivan Bunic´ Vucˇic´, Zagreb: Mladost 1987 (= Enciklopedija Hrvatske Knjizˇevnosti). Jakobson, Roman Osipovicˇ: »Das Nullzeichen«, in SW II, S. 220–222. — »›Du möchtest wissen: Wer bin ich?‹ Eine Analyse der Tobolsker Verse Radisˇcˇevs«, übs. u. komm. v. Sebastian Donat, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 688–710. 34 Emendation: Im Original »pronominal clauses«, doch können im gegebenen Kontext eigentlich keine Sätze gemeint sein; wahrscheinlich liegt ein Druckfehler vor (pronominal classes). [Anm. d. Komm.]
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— »Grammatical Parallelism and its Russian Facet«, in: SW III, S. 98–135. – »Der grammatische Parallelismus und seine russische Spielart«, übs. v. Tarcisius Schelbert u. a., komm. v. Elena Skribnik u. Sebastian Donat, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 302–364. — Novejsˇaja russkaja poe˙zija. Nabrosok pervyj. Velimir Chlebnikov, Prag: Tipografija »Politika« 1921. – »Die neueste russische Poesie. Erster Entwurf. Viktor Chlebnikov«, übs. v. Rolf Fieguth u. Inge Paulmann, komm. v. Aage A. Hansen-Löve u. Anke Niederbudde, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 1–123. — O ˇcesˇskom stiche – preimusˇˇcestvenno v sopostavlenii s russkim, in: SW V, S. 3– 130. – Über den tschechischen Vers. — »Poetry of Grammar and Grammar of Poetry«, in: SW III, S. 87–97. — »Poe˙zija Dalmacii v konce XV veka: Stichi Dzˇore Drzˇicˇa ›Na lovu‹«, in: SW III, S. 232–238. — »Signe ze´ro«, in SW II, S. 211–219. ° — »Slavic Epic Verse. Studies in Comparative Metrics«, in: SW IV, S. 414– 463. — »Struktura dveju srpskohrvatskih pesama. I. Siluanovo slavoslovie Sv. Save« [›Die Struktur zweiter serbokroatischer Gedichte. I. Siluans Lobpreis auf den Hl. Sava‹], in: Zbornik za filologiju i lingvistiku 4–5 (1961–1962), S. 131–135. — »Struktura dveju srpskohrvatskih pesama. II. Dzˇore Drzˇicˇ: ›Na lovu‹«, in: Zbornik za filologiju i lingvistiku 4–5 (1961–1962), S. 135–139. ° — »Studies in Comparative Slavic Metrics«, in: Oxford Slavonic Papers 3 (1952), S. 21–66. — »Subliminal Verbal Patterning in Poetry«, in: SW III, S. 136–147. – »Unterschwellige sprachliche Gestaltung in der Dichtung«, übs. v. Wolfgang Klein, komm. v. Aage A. Hansen-Löve u. Anke Niederbudde, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 124–153. Jakobson, Roman Osipovicˇ u. Grete Lübbe-Grothues: »Ein Blick auf ›Die Aussicht‹ von Hölderlin«, komm. v. Gabriele von Bassermann-Jordan u. Stephan Packard, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 138–249. ° Korsˇ, Fedor Evgenevicˇ: Vvedenie v nauku o slavjanskom stichoslozˇenii [›Einführung in die Wissenschaft der slavischen Versifikation‹], Sankt Peterburg: Tipografija Imperatorskoj Akademii Nauk 1907 (= Sbornik po slavjanovedeniju, Bd. 2). Lachmann-(Schmohl), Renate: Ignjat ÐordiÑ ´c. Eine stilistische Untersuchung zum slavischen Barock, Köln: Böhlau 1964 (= Slavistische Forschungen, Bd. 5). — »Die Poetik des Subliminal. Roman Jakobson«, in: dies., Gedächtnis und Literatur, Frankfurt /Main: Suhrkamp 1990, S. 153–171. — Die Zerstörung der schönen Rede. Rhetorische Tradition und Konzepte des Poetischen, München: Fink 1994, S. 306–336. °Pjesme Sˇisˇka Mencˇetic´a Vlahovic´a i Gjore Drzˇic´a [›Gedichte von Sˇisˇko Mencˇetic´ Vlahovic´ und Gjore Drzˇic´‹], hg. v. Vatroslav Jagicˇ, Zagreb: Jugoslavenska Akademija Znanosti i Umjetnosti 1870 (= Stari pisci hrvatski, Bd. II–1).
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°Pjesme Sˇisˇka Mencˇetic´a Vlahovic´a i Gjore Drzˇic´a, i ostale pjesme Ran´inina zbornika
[›Gedichte von Sˇisˇko Mencˇetic´ Vlahovic´ und Gjore Drzˇic´, und die anderen Gedichte des Ranjinin zbornik‹], hg. v. Milan Resˇetar, Zagreb: Jugoslavenska Akademija Znanosti i Umjetnosti 1937 (= Stari pisci hrvatski, Bd. II–2). Pjesnici Ranjinina zbornika, [›Die Dichter des Ranjinin Zbornik‹], hg. v. Josip Voncˇina, Zagreb: Matica Hrvatska 1998 (= Biblioteka Parnas). ° Resˇetar, Milan: »Autorstvo pjesama Ran´inina Zbornika« [›Die Autorschaft der Gedichte des Ranjinin Zbornik‹], in: Rad Jugoslavenske Akadamije Znanosti i Umjetnosti 247 (1933), S. 92–147. ° — »Jezik pjesama Ran´inina Zbornika« [›Die Sprache der Gedichte des Ranjinin zbornik‹], in: Rad Jugoslavenske Akadamije Znanosti i Umjetnosti 255 (1937), S. 77–220. ° — »Rjecˇnik i dikcija pjesama Ran´inina zbornika« [›Wörterbuch und Diktion des Ranjinin zbornik‹], in: Rad Jugoslavenske Akademije Znanosti i Umjetnosti 260 (1938), S. 1–46. Zbornik stihova XV. i XVI. stoljec´a [›Sammelband von Gedichten des XV. und XVI. Jahrhunderts‹], hg. v. Rafo Bogisˇic´, Zagreb: Matica Hrvatska 1968 (= Pet stoljec´a hrvatske knjizˇevnosti, Bd. 5).
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»Wenn unser Leben«. Betrachtungen zur ›Komposition und Struktur der Wörter‹ in einem Sonett von Joachim Du Bellay 1 Übersetzung aus dem Französischen Christoph Schamm und Evi Zemanek
Kommentar Hannes Schneider Jakobsons Du Bellay-Aufsatz führt mitten hinein in die Verwerfungen von Geistesgeschichte und Strukturalismus. Anhand des berühmten Sonetts CXIII »Si nostre vie« [›Wenn unser Leben‹] aus der zweiten, erweiterten Ausgabe des Zyklus »L’Olive« [›Die Olive‹] von 1550 inszeniert Jakobson in polemischer Auseinandersetzung mit Leo Spitzer eindrücklich den Unterschied zwischen ›Interpretation‹ und ›Analyse‹. Während jene, Jakobson zufolge, subjektive Empfindungen des Interpreten in den Text hineintrage und Literatur darauf reduziere, lediglich philosophische Konzepte zu perpetuieren, stütze sich diese auf ein Bündel sprachlicher Tatsachen, die dann – und hier freilich liegt die Crux von Jakobsons Ansatz – auch inhaltlich ›interpretiert‹ werden müssen. Neben seiner beispielhaften methodologischen Durchführung ist der Aufsatz darüber hinaus auch als Beitrag zur Du Bellay-Forschung von besonderem Interesse. 1
Vorlage: Jakobson, Roman: »›Si nostre vie‹. Observations sur la Composition & Structure de Motz dans un sonnet de Joachim Du Bellay«, in: SW III, S. 239–274. – Leicht modifizierte Fassung des Erstdrucks: Jakobson, Roman: »›Si nostre vie‹. Observations sur la Composition & Structure de Motz dans un sonnet de Joachim Du Bellay«, in: Atti del convegno internazionale sul tema: Premarinismo e Pregongorismo, Roma, 19–20 aprile 1971, Roma: Accademia Nazionale dei Lincei 1973 (= Problemi attuali di scienza e di cultura, Bd. 180), S. 165–195. Wiederabdruck in: Jakobson, Roman: Questions de poe´tique, Paris: Seuil 1973, S. 319–355. [Anm. d. Übs. u. Komm.]
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Gegen den Strich der Forschung – und das heißt, gegen die maßgebliche ›Interpretation‹ Leo Spitzers, 2 die das Sonett vor dem Hintergrund des Neuplatonismus als glückenden Aufschwung der Seele in den Ideenhimmel liest und dies vor allem in der metrisch-rhythmischen Gestalt wahrzunehmen glaubt – argumentiert Jakobson auf der Grundlage einer vergleichenden Analyse grammatischer, prosodischer und phonologischer Merkmale des Textes, daß das lyrische Ich (respektive dessen ›Seele‹), weit davon entfernt, sich zur Idee der Schönheit aufzuschwingen, wenn nicht zur irdischen Schönheit hingezogen, so doch in einer antinomischen Spannung zwischen der Anbetung irdischer Schönheit und der Erkenntnis von deren himmlischer Idee unentschieden stecken bleibt. Jakobsons Aufforderung zu einer kritischen Revision der Rolle des Neuplatonismus im Frühwerk Du Bellays, zu der seine provokative Analyse des so genannten ›Sonnet de l’Ide´e‹ Anlaß zu geben scheint, ist die Forschung jedoch nicht gefolgt. Im Gegenteil: Nach wie vor wird der Text – ebenso wie der Zyklus insgesamt – neuplatonisch gelesen. 3 Das Bemühen Jakobsons, eine Möglichkeit der Lektüre jenseits des Neuplatonismus (oder vielmehr gegen diesen) zu eröffnen, wurde von der Forschung als Ignoranz des ideengeschichtlichen Kontextes quittiert. Es mag daher als eine Ironie der Wissenschaftsgeschichte erscheinen, wenn Jakobsons ›Analyse‹ heute als »gravierende Fehlinterpretation« 4 bewertet wird. Hannes Schneider
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Spitzer, »The Poetic Treatment of a Platonic-Christian Theme«, erstmals 1954 in Comparative Literature erschienen, dann 1959 in Spitzers Romanischen Literaturstudien nachgedruckt, gilt als die erste umfassende Interpretation des Sonetts Olive CXIII. Im vorliegenden Aufsatz bezieht sich Jakobson allerdings auf die 1957 unter dem Titel »Language of Poetry« publizierte Version dieser Interpretation. – Zum Verhältnis Jakobsons zu Spitzer vgl. allgemein Hart, »[Leo Spitzer and Roman Jakobson]«, und ders., »Literature as Language«, sowie, mit speziellem Bezug auf die Auseinandersetzung um Du Bellays Sonett, Marek, »Die Lyrik der Ple´iade«, S. 84– 87. [Anm. d. Komm.] Vgl. z. B. Hallyn, »Du Bellay: ›Si nostre vie‹«; Ley, Neuplatonische Poetik, S. 71– 114, insbes. S. 86 u. 94 f.; und zuletzt Vinken, Du Bellay und Petrarca, bes. S. 96– 108. [Anm. d. Komm.] So jüngst Marek, »Die Lyrik der Ple´iade«, S. 87. [Anm. d. Komm.]
›Komposition und Struktur der Wörter‹ bei Joachim Du Bellay
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Zum Gedenken an Maria Rosa Lida de Malkiel 5 Cette vise´e, je la dis Transposition – Structure, une autre. L’œuvre pure implique la disparition e´locutoire du poe`te, qui ce`de l’initiative aux mots, par le heurt de leur ine´galite´ mobilise´s; ils s’allument de reflets re´ciproques 〈…〉 Dieses Bestreben nenne ich Transposition – Struktur, ein anderes. – Das reine Werk bedeutet das Verschwinden des Dichters als Sprechenden, der die Initiative den Worten überläßt, die durch das Aufeinanderprallen ihrer Ungleichheit in Bewegung gesetzt werden; sie entflammen einander durch wechselseitige Reflexe 〈…〉 Ste´phane Mallarme´, »Crise de vers« [›Vers-Krise‹] 6
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Si nostre vie est moins qu’vne iourne´e En l’eternel, si l’an qui faict le tour Chasse noz iours sans espoir de retour, Si perissable/ est toute chose ne´e, Que songes-tu mon ame/ emprisonne´e? Pourquoy te plaist l’obscur de nostre iour, Si pour voler en vn plus cler seiour, Tu as au dos l’aele bien empane´e? La, est le bien que tout esprit desire, La, le repos ou tout le monde/ aspire, La, est l’amour, la le plaisir encore. La, o mon ame/ au plus hault ciel guide´e! Tu y pouras recognoistre l’Ide´e De la beaute´, qu’en ce monde i’adore. Wenn unser Leben weniger ist als ein Tag In der Ewigkeit, wenn das Jahr, das die Runde dreht, Unsere Tage fortjagt ohne Hoffnung auf Wiederkehr, Wenn vergänglich ist jedes geborene Ding,
Die Widmung an Maria Rosa Lida de Malkiel (1910–1962) steht vermutlich im Zusammenhang mit dem zehnten Todestag der argentinischen Philologin und Ehefrau des Sprachwissenschaftlers Yakov Malkiel. [Anm. d. Komm.] Jakobson ordnet dieses Zitat, auf das er gegen Ende seines Aufsatzes noch einmal zu sprechen kommt, irrtümlich den 1895–1896 in der Revue blanche erschienenen »Variations sur un sujet« zu. Tatsächlich findet sich der Passus, wenngleich er thematisch auf »Variations sur un sujet« Nr. VIII, »Averses ou Critique«, vom 1. September 1895 zurückgreift, in dieser Formulierung nur in der Schrift »Crise de vers« aus den Divagations von 1897 (s. Mallarme´, Œuvres comple`tes, Bd. 2, S. 211; vgl. auch a. a. O., S. 329–332). [Anm. d. Komm.]
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Worauf sinnst du, meine gefangene Seele? Warum gefällt dir das Dunkel unseres Tages, Wenn, um in ein helleres Dasein zu fliegen, Du am Rücken den gut gefiederten Flügel hast? Dort ist das Gut, das aller Geist begehrt, Dort die Ruhe, die alle Welt erstrebt, Dort ist die Liebe, dort noch der Genuß. Dort, oh meine Seele, in den höchsten Himmel geleitet! Du wirst dort erkennen können die Idee Der Schönheit, die in dieser Welt ich verehre.
Dies ist der Text des *Sonetts, wie er zum ersten Mal von Du Bellay in Paris gegen Ende des Jahres 1550 in L’OLIVE avgmente´e depvis la premiere edition [›DIE OLIVE, erweitert seit der Erstausgabe‹] von 1549 veröffentlicht wurde.7 Dieses Sonett trägt die Nummer CXIII von den 115 numerierten Sonetten dieser erweiterten Fassung. Wir behalten die ursprüngliche Orthographie des Textes mit dem durchgestrichenen e bei, wie sie Cle´ment Marot 8 eingeführt hat, um die *Elision des Schluss-e vor dem Anfangsvokal des folgenden Wortes anzuzeigen und um das silbenzählende *Metrum 9 des Verses hervorzuheben. Allerdings wurde am Schluß des Sonetts das e unter dem Einfluß der Schreibung III2 le monde aspire versehentlich vor einem i eingesetzt, das hier lediglich die graphische Variante eines j ist, IV3 en ce monde i’adore. Wir entfernen den falschen Strich.
Quellen 10 Wiederholt wurden einige italienische Gedichte angeführt, die ihren mittelbaren oder unmittelbaren Nachhall in dem Sonett CXIII finden: 11 7
Es handelt sich hierbei um die erste Gedichtsammlung Joachim Du Bellays (1522– 1560). [Anm. d. Komm.] 8 Cle´ment Marot (1496–1544), bedeutender Dichter der ersten Hälfte des 16. Jh. [Anm. d. Komm.] 9 Der französische Vers beruht – im Unterschied zur lateinischen Metrik, die auf der Unterscheidung von kurzen und langen Silben aufbaut – auf dem Prinzip der Silbenzählung. Zu Form und Geschichte des französischen Verses s. Elwert, Französische Metrik. [Anm. d. Komm.] 10 In unseren Zitaten aus L’Olive CXIII und den anderen Sonetten bezeichnen die römischen Zahlen die Strophenfolge, die kursiv gesetzten römischen Zahlen die Nummern der Gedichte und die arabischen Zahlen die Stelle des Verses in der Strophe. 11 In L’Olive, dem frühesten französischen Sonett-Zyklus nach dem Vorbild des Canzoniere Petrarcas (1304–1374), greift Du Bellay nicht nur den petrarkistischen Liebesdiskurs auf, sondern zitiert darüber hinaus auch zahlreiche kanonische Texte vom
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Petrarcas Canzoniere mit seinem Sonett CCCLV, der achte Versus aus Iacopo Sannazaros Arcadia und vor allem das Sonett von Bernardino Daniello, das Giolito in der Sammlung Rime diverse di molti eccellentissimi auttori nuovamente raccolte I [›Verschiedene Gedichte von vielen hervorragenden Autoren, neu zusammengestellt I‹] (Venedig 1546) 12 veröffentlichte, sowie ein *Vers von Aurelio Vergerio im zweiten Teil derselben Sammlung (1548, Bl. 159 – S’ogni cosa creata `e col suo fine [›Wenn jedes geschaffene Ding vergänglich ist‹]),13 der nicht nur in L’Olive CXIII, I4 Si pe´rissable est toute chose ne´e [›Wenn vergänglich ist jedes geborene Ding‹], nachklingt, sondern auch fast zur selben Zeit, nämlich im dritten Quartal von 1550, in den Versen, die Du Bellay an Jean Salmon Macrin »sur la mort de sa Gelonis« [›auf den Tod seiner Gelonis‹] schrieb: Tout ce qui prent naissance Est perissable aussi [›Alles, was auf die Welt kommt, Ist auch vergänglich‹].14 Die beiden vorhergehenden Verse des Sonetts (I2, 3) entsprechen einer anderen Passage desselben Gedenkgedichts: L’An qui en soy retourne, Court en infinite´. Rien ferme ne sejourne Que la Divinite´. [›Das Jahr, das wiederkehrt, Läuft in die Unendlichkeit. Nichts bleibt oder verweilt Außer die Göttlichkeit.‹] Ebenso werden als Quelle von L’Olive CXIII einige französische Verse von Antoine He´roe¨t 15 aus seiner Parfaicte Amye [›Vollkommene Freundin‹] von 1542 zitiert.16 Diese große ›künstlerische Verschmelzung‹, wie es die Kritiker nennen, weit davon entfernt, der Behauptung zu widersprechen, die Du Bellay in seinem Vorwort zu L’Olive von 1550 aufstellte, unterstützt und bekräftigt seinen Hinweis an den Leser: »Je ne me suis beaucoup travaille´ en mes ecriz de
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Quattrocento bis zum Cinquecento. Hierzu zählen unter anderem die im Folgenden erwähnten Gedichte von Iacopo Sannazaro (1457–1530), Bernardino Daniello (um 1500–1565) und Aurelio Vergerio (1491–1532). Zu Petrarca und dem Petrarkismus vgl. Friedrich, Epochen der italienischen Lyrik, Kap. IV–VI. [Anm. d. Komm.] Bedeutende italienische Gedichtanthologie, die die petrarkistische Lyrik der ersten Hälfte des 16. Jh. versammelt. Bei dem von Jakobson angesprochenen Sonett Bernardino Daniellos handelt es sich um »Se’l viver nostro e´ breve, oscuro giorno« (ebd., S. 295). [Anm. d. Komm.] Der von Jakobson angeführte Vers Vergerios entstammt der Sestine »Se alcun pensa inalzar con chiaro nome«. [Anm. d. Komm.] Du Bellay, Poe´sies, Bd. 1, S. 309. Antoine He´roe¨t (1492–1568) zählt mit Maurice Sce`ve und Louise Labe´ zur sogenannten ›Lyoneser Dichterschule‹. Sein Lehrgedicht La parfaicte Amye von 1542 vermittelt neuplatonische und petrarkistische Liebestheorie. [Anm. d. Komm.] Siehe zu all diesen Fragen Vianey, »Les sources italiennes«; ders., Le Pe´trarquisme; Merrill, The Platonism; ders., »A Note on the Italian Genealogy«; Chamard, Histoire de la Ple´iade; Gambier, Italie et Renaissance poe´tique; Du Bellay, Poe´sies, Bd. 5; Spitzer, »Language of Poetry«.
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ressembler aultre que moymesmes« [›Ich habe mich in meinen Schriften sehr darum bemüht, niemandem anderen zu gleichen außer mir selbst‹].17
Thema Wenn sich die Kommentatoren dem Sonett CXIII als solchem nähern, bemühen sie sich, dessen Thema zusammenzufassen. Sie belehren uns, daß Du Bellay »zu uns von einer gefangenen Seele spricht, die nach Höherem strebt«; 18 »hier unten gefangen, begehrt sie, den finsteren Ort zu verlassen, alle Ketten zu sprengen, die sie an die Erde fesseln, um sich mit einem Flügelschlag zu einer strahlend hellen Welt aufzuschwingen und um in ihrem ewigen Wesen die reine Liebe am Busen der göttlichen Schönheit zu genießen«.19 Ein Kritiker nach dem anderen meint, in dem Text des Sonetts »das Streben der Seele nach den ewigen Stätten« 20 sowie das Vermögen des Dichters, diese »von der Idee der Schönheit selbst träumen zu lassen«,21 zu erkennen, und doch sagen uns die Fragen, die Du Bellay in dem Sonett seiner Seele stellt, ganz im Gegenteil, daß sie Gefallen findet am l’obscur de nostre iour [›Dunkel unseres Tages‹], trotz der Möglichkeit, sich aufzuschwingen en vn plus cler seiour [›in ein helleres Dasein‹]. Der Dichter setzt seine Anreden an die stets schweigende Seele fort, und nach seinen einleitenden Fragen geht er in der Schlußpartie des Sonetts zu einer Darstellung des cler seiour über, den die Seele zu erreichen gezögert hat. Vergebens würde man in seinen Zeilen nach dem Sinn suchen, den ihnen Leo Spitzer in seiner Interpretation des Gedichts aufzuzwingen versucht.22 »Tatsächlich verkörpert die gesamte zweite Hälfte des Sonetts die Erfüllung der Sehnsüchte, wie sie in der ersten Hälfte beschrieben worden sind«, sagt er uns, obwohl die erste Hälfte des Sonetts ja gerade das Fehlen solcher Sehnsüchte zur Sprache bringt. Man 17 18 19 20 21 22
Du Bellay, Poe´sies, Bd. 1, S. 75. Bourciez, Les mœurs, S. 109. Chamard, Histoire de la Ple´iade, I, S. 236. Vianey, Les Regrets, S. 42. Saulnier, Du Bellay, S. 58. Spitzer, »Language of Poetry«, S. 219–223. [Anm. v. R.J.] – Die folgenden Zitate werden im Original auf Englisch wiedergegeben: »Indeed the whole second half of the sonnet represents the fulfilment of the desires described in the first half« (S. 219); »in our particular case an effect of accelerando« (ebd.); »it does what the French call ›bruˆler les e´tapes‹« (S. 220); »give the impression of a double wing beat« (ebd.); »of training of our general public in kinesthetic matters« (ebd.). [Anm. d. Komm.]
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fragt sich, weshalb die übliche Teilung des Sonetts in zwei Quartette und zwei Terzette »in unserem speziellen Fall die Wirkung eines accelerando« hervorrufen solle. Und wo sieht man, daß, im angeblichen Aufflug der Seele zu den Himmeln, »sie das tut, was die Franzosen ›bruˆler les e´tapes‹ [›einige Stufen überspringen‹] nennen«? Und wer könnte uns glauben machen, daß die Terzette mit den *Paarreimen, die von den französischen Sonettisten in Mode gebracht worden waren, »den Eindruck eines doppelten Flügelschlages erzeugen«,23 um so mehr als der metaphorische ›Flügel‹, l’aele, in CXIII im Singular erscheint! Die von Spitzer vorgelegte Textinterpretation beruht nicht auf der Analyse der Verse, sondern auf seiner eigenen »kinästhesischen Reaktion«, welcher der consensus omnium verwehrt bleibt wegen des Mangels »an schulischem Training in kinästhetischen Angelegenheiten bei unserem allgemeinen Publikum«.24 Im letzten Terzett lehrt die Rede des Dichters seine Seele, daß sie, au plus hault ciel guide´e [›in den höchsten Himmel geleitet‹], dort IV2 recongnoistre l’Ide´e 3 De la beaute´ [›die Idee der Schönheit erkennen‹] können wird. Der Schlußvers dramatisiert den Ausgang des Monologs: Wenn sich meine Seele bis zum Empyreum 25 erhebt, kann sie die Idee der Schönheit erkennen, doch was mich betrifft, den Menschen hier unten, ist es die Schönheit selbst, IV3 qu’en ce monde i’adore [›die in dieser Welt ich verehre‹]. Die beiden Haltungen – die Erkenntnis und die Bewunderung – werden streng voneinander unterschieden, und genau zu der Zeit, als Du Bellay an L’Olive arbeitete, formulierte er seine eigene Art des Zugangs zu dem der Ple´iade vertrauten platonischen Mythos. In Anlehnung an Ciceros Orator 26 evoziert der Dichter »ces Ide´es que Platon constituoit en toutes choses aux queles, ainsi qu’a` une certaine espece imaginative 〈cogitatam speciem〉, se refere tout ce qu’on peut voir« [›jene Ideen, die Platon allen Dingen zugrundelegte und auf die, ebenso wie auf eine bestimmte gedachte Erscheinung 〈cogitatam speciem〉, sich alles bezieht, was man sehen kann‹], und er erklärt: »Cela certainement est de 23 Die semantische Interpretation dieser sechs Verse bei Vianey, »Les origines du Sonnet re´gulier«, S. 84, ist ebenfalls willkürlich. Er bewundert »die beiden Paarreime, als ob sie die ersten Flügelschläge darstellten, und den Vierzeiler mit Kreuzreim, der das Gleiten der Seele zeige«. 24 Spitzers Argumentation nimmt vermutlich Bezug auf die Schallanalyse Eduard Sievers’ (1850–1932). [Anm. d. Komm.] 25 Mit ›Empyreum‹, genauer ›coelum empyreum‹, wird der oberste, göttliche Bereich des Himmels bezeichnet. [Anm. d. Komm.] 26 In seiner Schrift Orator [›Der Redner‹] aus dem Jahre 46 v. Chr. bezieht sich Cicero (106–43 v. Chr.) wiederholt auf Platons Ideenlehre, so auch in den §§ 9–10, auf die sich Jakobson bzw. Du Bellay hier bezieht. [Anm. d. Komm.]
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trop plus grand scavoir & loysir que le mien« [›Dies zeugt gewiß von sehr viel größerer Kenntnis und Muße, als ich besitze‹].27 Spitzer glaubt, »daß das ästhetische Geheimnis des Sonetts hauptsächlich in der Tatsache besteht, daß das Motiv der nach der platonischen Idee strebenden Seele von den rhythmischen Stilmitteln nicht nur behauptet, sondern verkörpert wird«.28 Nun aber wird das angebliche »ästhetische Geheimnis« des Sonetts lediglich »behauptet«, ohne im Essay des Forschers wirklich nachgewiesen (»verkörpert«) zu werden. Darüber hinaus bietet uns das Wesen des Gedichts, wie die übrigen Werke desselben Autors, weit davon entfernt, auf das angebliche Verfolgen der platonischen Idee reduziert werden zu können, einen subtilen Strang *antithetischer Motive. Jacqueline Risset hat in ihrem scharfsinnigen Essay über Maurice Sce`ves 29 De´lie die im Gedicht CXIII aus L’Olive verborgenen Widersprüche genau begriffen: Insbesondere »ist es das Ich des letzten Verses, das rückblickend das ganze Sonett zusammenhält, indem es hinter dem Willen zum Aufstieg die Bedeutung der irdischen Anziehung und der Schwachheit des Sehnens enthüllt«.30 Die Art und Weise, wie Spitzer diesen Epilog paraphrasiert, findet keinerlei Unterstützung im Text des Dichters: »Die Seele, die ihren Blick zurück auf die Wegstrecke richtet, die sie zurückgelegt hat, ist fähig, jetzt auf dieser Erde, ce monde, Spiegelungen oder Abbilder des Archetyps der Idee der Schönheit wahrzunehmen«.31 Anstatt zu versuchen, dem Sonett aus L’Olive ein philosophisches Klischee aufzuzwingen, sollte man besser an der Lektion von R. V. Merrill festhalten, der in seiner Studie über den Platonismus von Joachim Du Bellay wiederholt daran erinnert, daß dieser weder ein Wissenschaftler noch ein Philosoph, sondern nichts anderes als ein Dichter war: »Er nahm von jeder verfügbaren Quelle, was immer seine Vorstellungskraft anregte, ohne abstraktes Interesse oder kohärente Methode«.32 Für ge27 Du Bellay, La deffence et illustration, Buch II, Kap. 1, S. 54. 28 Im Original englisch: »that the aesthetic secret of the sonnet lies mainly in the fact that the motif of the soul’s striving toward the Platonic idea is not only stated but embodied by rhythmical devices« (S. 221). [Anm. d. Übs./Komm.] 29 Maurice Sce`ve (ca. 1501 – ca. 1560) gehört wie der oben erwähnte Antoine He´roe¨t zur ›Lyoneser Dichterschule‹. Sein Hauptwerk, De´lie obiect de plus haulte vertu [›De´lie, Inbegriff höchster Tugend‹] erschien 1544. [Anm. d. Komm.] 30 Risset, L’Anagramme du de´sir, S. 30. 31 Im Original englisch: »the soul, casting its glance back on the stretch of way it has wandered, is able to discern now on this earth, ce monde, reflections or copies of the archetype of the Idea of beauty« (S. 223). [Anm. d. Komm.] 32 Merrill, The Platonism, S. 18 f. [Anm. v. R.J.] – Dieses und das folgende Zitat werden von Jakobson auf Englisch wiedergegeben: »he took from any available
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wöhnlich schließt Du Bellays Verwendung eines philosophischen Begriffs nicht die Übernahme und noch nicht einmal das Verständnis der Lehre ein, die uns dieser Begriff suggerieren könnte: »seine poetische Konsistenz ist ihm selbst und seinen Lesern wichtiger als seine Philosophie«. »Du Bellays berühmtes Sonett der Idee«,33 wie es Spitzer in seinem ›geistigen Vermächtnis‹ von 1960 nennt, ist aus topoi komponiert, lyrischen Formeln, die im Werk des jungen Dichters und in seinem literarischen Umfeld verwurzelt sind und denen jeder innere Bezug zum (wie Risset ihn nennt) 34 »aufsteigenden« Platonismus fehlt. So findet das Thema des metaphorischen Flügels und des Aufschwingens die gleiche Terminologie und *Phraseologie in anderer Anwendung in den Sonetten, die auf CXIII folgen. In CXIV redet Du Bellay die Liebe [bzw. Amor] an: III1 O toy, qui tiens le vol de mon esprit, 2 Aveugle oiseau, dessile un peu tes yeux, 3 Pour mieulx tracer l’obscur chemin des nues. IV1 Et vous mes vers delivres & legers, 2 Pour mieux atteindre aux celestes beautez, 3 Courez par l’air d’une aele inusite´e [›O du, die du den Flug meines Geistes erhältst, blinder Vogel, öffne ein wenig deine Augen, damit du besser den dunklen Weg durch die Wolken vorzeichnest. Und ihr, meine befreiten und leichten Verse, um besser die himmlischen Schönheiten zu erreichen, fliegt durch die Luft mit einem ungewohnten Flügel‹]. Das darauffolgende Schlußsonett von L’Olive avgmente´e befragt Ronsard,35 II1 Quel cigne 〈…〉 2 Te pre ˆta l’aele? & quel vent jusqu’aux cieulx 3 Te balanc¸a le vol audacieux 〈…〉? [›Welcher Schwan lieh dir den Flügel? und welcher Wind schaukelte deinen kühnen Flug bis zu den Himmeln?‹]. Das Sonett LVIII aus L’Olive, das la doulce cruaulte´ [›die süße Grausamkeit‹] der erwählten Frau preist, formt das Vokabular von CXIII so sehr um, daß es nahezu grotesk erscheint: I1 mon œuil qui adore – 4 Mon feu, ma mort, & ta rigueur encore. III1 De mon esprit les aeles sont guide´es 2 Jusques au seing des plus hautes ide ´ es 3 idolatrant ta celeste beaulte´ [›mein Auge, das anbetet – Mein Feuer, mein Tod & deine Strenge dazu. Die Flügel meines Geistes werden geführt bis in den Schoß der höchsten Ideen, deine himmlische Schönheit verehrend‹]. Im ersten Quartett von sources whatever struck his imagination, without abstract interest, or coherent method« (S. 18); »his poetic consistency is more important to himself and to his reader than his philosophy« (S. 19). [Anm. d. Komm.] 33 Spitzer, »Sviluppo di un metodo«, S. 121. [Anm. v. R.J.] – Im Original italienisch: »Il famoso Sonnet de l’Ide´e di Du Bellay«. [Anm. d. Komm.] 34 Risset, L’Anagramme du de´sir, S. 22. 35 Pierre de Ronsard (1524–1585), Verfasser der Amours [›Liebesgedichte‹] (1552– 1553), zählt wie Du Bellay zur Dichtergruppe der Ple´iade. [Anm. d. Komm.]
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Sonett LXXXI derselben Sammlung, Celle qui tient l’aele de mon desir 〈…〉 achemine ma trace au 〈…〉 divin sejour du Dieu de mon plaisir [›bahnt diejenige, die den Flügel meines Begehrens festhält, 〈…〉 meinen Weg zum 〈…〉 göttlichen Aufenthaltsort des Gottes meiner Lust‹]. Dem zweiten Quartett zufolge 1 la les amours 〈…〉 2 la est l’honneur 〈…〉 3 la les vertus 〈…〉 4 la les beautez, qu’au ciel on peut choisir. III1 Mais si d’un œuil foudroyant elle tire 2 〈…〉 quelque traict de son ire, 3 J’abisme au fond de l’e´ternelle nuit [›Dort sind die Liebschaften 〈…〉 Dort ist die Ehre 〈…〉 Dort die Tugenden 〈…〉 Dort die Schönheiten, die man im Himmel wählen kann. Aber wenn sie mit einem vernichtenden Blick (auf mich) schießt 〈…〉 einen Pfeil ihres Zorns, sinke ich auf den Grund der ewigen Nacht‹], und die Konsequenzen werden in den Versen des letzten Terzetts geschildert, alle drei mit dem Adverb la an ihrem Beginn, zum Beispiel IV2 la mon espoir & se fuit & se suit [›dort flieht & vergeht meine Hoffnung‹]. Das Sonett LXIII, dessen Nummer in L’Olive avgmente´e mit XIII endet wie diejenige von CXIII, teilt ebenfalls einige hervorstechende Züge seiner Lexik, insbesondere in einer Klage über die grausamen Liebe [bzw. Amor], die, als je n’avoy’ de son feu congnoissance [›ich keine Bekanntschaft mit ihrem Feuer hatte‹], III3 au plus hault ciel la beaute´, qui me tue [›im höchsten Himmel die Schönheit, die mich tötet‹] auserwählt hat: IV1 la, fault chercher le bien que tant je prise [›dort muss man das Gute suchen, das ich so sehr schätze‹]. Es ist bemerkenswert, daß das Sonett CXIII mit mehreren Gedichten, die Du Bellay zu Beginn der fünfziger Jahre geschrieben hat, durch einen Bezug in Verbindung steht, den man als antithetische Ähnlichkeit bezeichnen könnte. Das letzte der XIII Sonnetz de l’Honneste Amour [›XIII Sonette über die ehrenhafte Liebe‹], die dem Quatriesme livre de l’Eneide [›Vierten Buch der Aeneis‹] beigefügt sind und 1552 gedruckt wurden, muß kurz vor seiner Veröffentlichung geschrieben worden sein, denn sein letztes Terzett paraphrasiert den ›Wunsch‹, welcher der Continuation des Erreurs amoureuses [›Fortsetzung der Irrtümer der Liebe‹] vorangestellt ist, die Pontus de Tyard 36 1552 erscheinen ließ. Das fragliche Sonett teilt mit CXIII aus L’Olive avgmente´e nicht nur die Ziffern XIII der Nummer, die dieses in der Sammlung trägt, sondern auch die vier *männlichen Reime im Inneren der Quartette, allerdings in der umgekehrten Reihenfolge: CXIII tour – retour – iour – seiour: XIII seiour – iour – retour – tour. Die Reihenfolge 36 Pontus de Tyard (1521–1605), Verfasser der Erreurs amoureuses (1549), zählt wie Du Bellay und Ronsard zur Dichtergruppe der Ple´iade. Seine Continuation der Erreurs amoureuses erschien nicht 1552, wie Jakobson irrtümlich annimmt, sondern 1551. [Anm. d. Komm.]
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dieser Reime in CXIII verweist auf sein italienisches Modell, das Sonett von Bernardino Daniello,37 giorno – ritorno – intorno – soggiorno, mit der einzigen Abwandlung, tour – iour, die zur Vereinheitlichung der Reime im Inneren jedes Quartetts und zur Dissimilation der beiden Quartette neigt. Im letzten der XIII Sonnetz, offensichtlich verbunden mit dem Sonett CXIII des vorhergehenden Zyklus, beschränkt sich der Autor nicht darauf, die Reihenfolge der Reime zu verkehren, sondern er wandelt den gesamten Handlungsverlauf um. Den beiden rivalisierenden Motiven des Sonetts von 1550 – l’obscur de nostre jour [›das Dunkel unseres Tages‹] und un plus cler seiour [›ein helleres Dasein‹] in den Himmeln – stellt Du Bellay im Sonett von 1552 das körperliche Bild seiner Herrin gegenüber, ce corps, des graces le seiour [›dieser Körper, Aufenthaltsort der Anmut‹], der von la main de la saige nature [›der Hand der weisen Natur‹] gestaltet wurde, Pour embellir le beau de nostre iour Du plus parfaict de son architecture. Um das Schöne unseres Tages zu verschönern Mit dem Vollkommensten ihrer Architektur.
Dem Motiv von 1550, nämlich l’an qui faict le tour et chasse noz iours sans espoir de retour [›das Jahr, das seine Runde dreht, und unsere Tage ohne Hoffnung auf Wiederkehr davonjagt‹], stellt das Sonett von 1552 das geistige Bild derselben Dame gegenüber: 〈…〉 le ciel trassa la protraiture De cet esprit, qui au ciel faict retour, Habandonnant du monde le grand tour Pour se reioindre a` sa vive peincture. 〈…〉 der Himmel zeichnete das Bildnis Dieses Geistes, der zum Himmel zurückkehrt, den großen Lauf der Welt verlassend, Um sich mit seinem lebendigen Gemälde wieder zu vereinen.
Die Frage von Sonett CXIII – II2 Pourquoy te plaist l’obscur de nostre iour [›Warum gefällt dir das Dunkel unseres Tages‹] –, versehen mit einem *Oxymoron und einem semantischen *Kontrast zwischen den beiden wechselseitigen ›Gefährten‹ des Reimes, wie man damals sagte (oder den rhyme fellows [›Reimgefährten‹],38 nach dem gleichbedeutenden Begriff von Gerard Manley Hopkins), sowie die Dunkelheit de nostre iour 37 »Se’l viver nostro e´ breve, oscuro giorno« (s. o., Anm. 12). [Anm. d. Komm.] 38 Vgl. Jakobson, »Linguistics and Poetics«, S. 38 (dt. Übs. in dieser Ausgabe, Bd. 1, S. 186), wo Hopkins’ Begriff der »rhyme fellows« wie folgt erläutert wird: »Rhyme necessarily
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[›unseres Tages‹] im Diesseits und das plus cler seiour [›hellere Dasein‹] im Jenseits erfahren im Inneren derselben Sammlung, in den beiden Terzetten des Sonetts C, eine massive Umstellung all dieser Bestandteile: Au fond d’enfer va pleurer tes ennuiz, Parmy l’obscur des e´ternelles nuitz: Pourquoy te plaist d’Amour le beau seiour? Si la clerte´ les ombres e´pouvante, Ose tu bien, oˆ charongne puante! Empoisonner le serain de mon iour! Geh deinen Überdruß auf dem Grund der Hölle beweinen, Im Dunkel der ewigen Nächte: Weshalb gefällt dir der schöne Aufenthaltsort der Liebe? Wenn die Helligkeit die Schatten erschreckt, Wage es wohl, oh stinkendes Aas! Die Heiterkeit meines Tages zu vergiften!
Der junge Du Bellay läßt in der Nachfolge von Maurice Sce`ve (s. De´lie XLVIII, CVI, CXLVIII, CCLXII, CCCIV, CCCLVI) seiour auf iour reimen, wobei er die semantische Beziehung der beiden Nomina variiert, von denen das eine die *Konnotation des Stabilen und Dauerhaften beinhaltet und das andere eher ein Merkmal des Vergänglichen enthält. Dieses Paar findet sich nicht nur in Verbindung mit dem Thema des Aufstiegs, sondern auch mit demjenigen des Abstiegs, zum Beispiel in der Ode II, die zu den Vers lyriques [›Lyrischen Versen‹] gehört, die der Olive von 1549 beigefügt sind: 39 Le chemin est large & facile Pour descendre en l’obscur seiour: Pluton tient de son Domicile La porte ouverte Nuit et iour. Der Weg ist breit & leicht Um hinab zu steigen in das dunkle Dasein: Pluto hält zu seinem Reich Das Tor offen bei Nacht und Tag.
In Quintil Horatian, einer anonym veröffentlichten Attacke gegen Du Bellay, sagt der Polemiker Barthe´le´my Aneau 40 zu ihm mit Ironie: »tu peux involves the semantic relationship between rhyming units« [›Reim impliziert notwendig die semantische Beziehung zwischen den reimenden Einheiten‹]. [Anm.d. Komm.] 39 Siehe Du Bellay, Poe´sies, Bd. 1, S. 158. 40 Barthe´le´my Aneau (1505?–1561), publiziert 1550 anonym die Schrift Quintil Horatian. [Anm. d. Komm.]
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sembler tout ce´lestin« [›Du kannst ganz himmlisch scheinen‹]. Und tatsächlich hat das Aufstiegsmotiv manchmal den Geist der Antithese nicht verbergen können, der ebenfalls einen festen Bestandteil des Werks des Dichters ausmacht. Doch die Polarität der beiden Ebenen – des plus hault ciel [›höchsten Himmel‹] und derjenigen de la beaute´ qu’en ce monde i’adore [›der Schönheit, die in dieser Welt ich verehre‹] – nimmt sich als singulärer Aspekt in der »geistigen Palinodie« aus, die den Titel A une Dame [›An eine Dame‹] trägt und in den Recueil de poe¨sie [›Gedichtsammlung‹] eingefügt ist, der Anfang 1553 erschien.41 Dieses Mal sind die beiden Gegenbegriffe aufgeteilt auf 129 Quelque autre, qui la terre dedaignant Va du tiers ciel les secrets enseignant [›Jemand anderer, der die Erde verachtet, Vom dritten Himmel die Geheimnisse lehrt‹] und das »Ich«, 133 qui plus terrestre suis [›der irdischer bin‹]. Dieses Gedicht wiederholt die bildhafte Lexik des Sonetts CXIII und von L’Olive im allgemeinen und stellt sie auf den Kopf. Während hier (XXXII, III) die Widmungsträgerin davon unterrichtet wurde, dass De ton printemps les fleurettes seiche´es Seront un iour de leur tige arrache´es, Non la vertu, l’esprit, & la raison [›Die getrockneten Blüten deines Frühlings Werden eines Tages von ihren Stengeln abgerissen sein, Nicht die Tugend, der Geist & die Vernunft‹], verkehrt Du Bellay in der Palinodie von 1553 die Rhetorik seiner Sonette in ihr Gegenteil: N’attendez donq’ que la grand’ faux du Temps Moissonne ainsi la fleur de vos printemps, Qui rend les Dieux, & les hommes contents: Les ans qui peu seiournent Ne laissent rien, que regrets, & souspirs, Et empennez de noz meilleurs desirs,42 Avecques eux emportent noz plaisirs, Qui jamais ne retournent. Wartet also nicht, bis die große Sense der Zeit Die Blüte Eures Frühlings niedermäht, Welche die Götter und die Menschen erfreut: Die Jahre, deren Dasein kurz währt, Hinterlassen nichts als Reue und Seufzer, Und, beflügelt von unserem besten Verlangen, Nehmen sie mit sich unsere Freuden, Die niemals wiederkehren. 41 Siehe Chamard, Joachim Du Bellay, S. 194 f.; sowie Du Bellay, Poe´sies, Bd. 3, S. 74 f., und Bd. 5, S. 159 f. 42 Statt eines Kommas setzt die Fassung SW III versehentlich einen Punkt nach »desirs«. (Vgl. dagegen die Fassung des Erstdrucks, S. 170.) [Anm. d. Komm.]
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Die *Epistel, die a` une Dame [›an eine Dame‹] gerichtet ist und empfindlich auf das lange Warten reagiert, ermutigt die Adressatin, die Dauer des Wartens nicht bis zu den Tagen auszudehnen, 161 quand les hyvers nuisans auront seiche´ la fleur de vos beaux ans, 〈…〉 164 Quand vous verrez encore 〈…〉 166 De ce beau sein l’ivoyere s’allonger [›wenn die schadenbringenden Winter die Blume Eurer schönen Jahre getrocknet haben werden, wenn Ihr noch von diesem schönen Busen das Elfenbein hängen sehen werdet‹]. Dies ist nun die Schlußstrophe, die den grundlegenden stilistischen Unterschied zwischen den beiden Emphasen enthüllt, die eine auf 135 le plus subtil qu’en amour 〈…〉 s’apelle jouissance [›Das Feinste, das in der Liebe 〈…〉 Genuß heißt‹] und die andere auf das 58 Paradis de belles fictions, Deguizement de nos affections [›Paradies der schönen Fiktionen, Verkleidung unserer Liebe‹]: 201
Si toutefois tel style vous plaist mieux, Je reprendray mon chant melodieux, Et voleray jusqu’au seiour des Dieux D’une aele mieux guide´e: La` dans le sein de leur divinitez Je choisiray cent mille noveautez, Dont je peindray voz plus grandes beautez Sur la plus belle ide´e. Wenn Euch dieser Stil jedoch besser gefällt, Nehme ich meinen melodiösen Gesang wieder auf Und fliege bis zum Aufenthaltsort der Götter Mit einem besser geführten Flügel: Dort im Herzen ihrer Göttlichkeit Werde ich hunderttausend Neuheiten auswählen, Mit denen ich Eure größeren Schönheiten Über die schönste Idee malen werde.
Wenn das Alternieren der petrarkistischen Manier (style fardant [›beschönigender Stil‹]) und der polemischen Verse gegen l’art de Petrarquizer [›die Kunst des Petrarkisierens‹] nach Chamard 43 »einen dieser Widersprüche, für die man« im Werk Joachim Du Bellays »so viele Beispiele findet«, darstellt, findet sich eine ebensolche »Folge von Antithesen« im Inneren seiner Gedichte. Von den im Jahr 1549 erschienenen Cinquante Sonnetz a` la louange de L’Olive [›Fünfzig Sonette zum Lob der Olive‹] bieten einige Stücke wie XXVI oder XXVIII, die dem Autor des Canzoniere verpflichtet sind, Muster einer offensichtlichen ›antithetischen Kom43 Vgl. Chamard, Joachim Du Bellay, S. 199.
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position‹ – XXVI, I1 La nuit m’est courte, & le jour trop me dure, 2 Je fuy l’amour, & le suy’ a` la trace, 〈…〉 II3 Je veux courir, & jamais ne deplace, 4 L’obscur m’est cler, & la lumiere obscure [›Die Nacht scheint mir kurz & der Tag dauert mir zu lang, Ich fliehe die Liebe & ich folge der Spur, 〈…〉 Ich will laufen & komme niemals von der Stelle Das Dunkel scheint mir hell & das Licht dunkel‹].44 Und später verknüpfen vor allem die zusätzlichen Sonette von L’Olive avgmente´e, die gegen Ende des Jahres 1550 entstanden sind, verschiedene *Oppositionen, um mit deren Hilfe Labyrinthe zu schaffen, für die kein Ausgang vorgesehen ist. Das Sonett CXIII ist ein schönes Beispiel für dieses Simultanspiel von mehreren Antithesen, die der Künstler – hier könnte man wahrhaftig den Ausdruck Spitzers anwenden – »nicht nur behauptete, sondern verkörperte«.45 Vianey macht auf das grundlegende Vorgehen von Du Bellay aufmerksam: »Die Antithese ist das gewöhnliche Instrument seines Geistes, und er kennt alle Arten, eine Opposition herzustellen«.46 Die Fähigkeit des Dichters, das Sonett auf einer Antithese aufzubauen und diese Konstruktionsweise zu variieren, wird durch einen kurzen Verweis auf Sonette illustriert, wo der Dichter augenfällig die beiden Terzette den beiden Quartetten oder die beiden geraden den beiden ungeraden *Strophen gegenüberstellt. Nachdem Vianey einige beachtliche thematische Antithesen erwähnt hat, stellt er sich schließlich die Frage, »wozu die Beispiele noch vermehren?«. Dieses kompositorische Vorgehen umfaßt jedoch alle Aspekte der sprachlichen *Struktur und erfordert eine systematische und detaillierte Analyse. Selbst im Inneren einer einzigen strophischen Form wie dem Sonett weist das fragliche Vorgehen neben den allgemeinen Eigenschaften zahlreiche differenzierende Züge auf, die die Verschiedenheit der Sprachen, der Epochen, der Dichterschulen und der einzelnen Dichter reflektieren. 47 44 45 46 47
Du Bellay, Poe´sies, Bd. 5, S. 56. Im Original englisch; s. o., Anm. 28. [Anm. d. Komm.] Vianey, Les Regrets, S. 140 f. Vgl. Jakobson /Valesio, »Vocabulorum constructio in Dante’s Sonnet ›Se vedi li occhi miei‹«; Ruwet, »Analyse structurale d’un poe`me franc¸ais: un sonnet de Louise Labe´«; Jakobson: »The Grammatical Texture of a Sonnet from Sir Philip Sidney’s Arcadia«; Jakobson /Jones, »Shakespeare’s Verbal Art in ›Th’Expence of Spirit‹«; Jakobson / Le´vi-Strauss, »›Les Chats‹ de Charles Baudelaire«; Ruwet, »Limites de l’analyse linguistique en poe´tique«, S. 218–227 (Baudelaire: »La Ge´ante«) u. Ruwet, »›Je te donne ce vers…‹«; Geninasca, Analyse structurale des Chime`res de Nerval; Serpieri, »Due sonetti del 1877: appunti sul parallelismo«, sowie ders., »I sonetti terribili e l’occultamento dello ›Inscape‹«; Avalle, »›Gli orecchini‹ di Montale«; Agosti, »Interpretazione d’un sonetto di Mallarme´: ›Quand l’ombre menac¸a de la fatale loi‹«.
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Strophen Im Repertoire der poetischen Formen hat sich keine andere italienische Innovation einer vergleichbaren Ausbreitung über Zeit und Raum erfreut wie diejenige des Sonetts. Die Kombination einer symmetrischen Zweiteilung der beiden Hälften des Sonetts mit der Ungleichheit ihrer beiden Hälften hinsichtlich der Anzahl der Verse und ihre strophische Organisation eröffnet dem Spiel von *Parallelismen und Kontrasten weiträumige Möglichkeiten. Man findet im Verhältnis zwischen den vier Strophen des Sonetts drei Typen von *binären Entsprechungen, analog zu jenen, die uns ein Reimpaar innerhalb der Grenzen eines Quartetts anbietet: 48 1) diejenigen, die man *Paarreim nennt (aabb), 2) alternierender Reim oder *Kreuzreim (abab) und 3) *umarmender oder umfassender Reim (abba). Die Übereinstimmung und die Gegensätzlichkeit der Strophen im Sonett des italienischen oder französischen Modells erlaubt uns, drei vergleichbare Klassen von einander zu unterscheiden. 1. Sukzession (aabb): die gemeinsamen Eigenschaften der beiden ersten Strophen (Quartette) stellen diese den beiden letzten Strophen (Terzette) gegenüber. 2. Alternation (abab): die beiden Paare alternierender Strophen, das heißt dasjenige der ungeraden Strophen (I und III) und das der geraden Strophen (II und IV), stehen zueinander in einem Gegensatz aufgrund ihres spezifischen und unterschiedlichen Wesens. 3. Einrahmung (abba): die beiden einrahmenden oder, mit anderen Worten, äußeren Strophen (I und IV) und die beiden eingerahmten oder inneren (II und III) bilden zwei einander gegenübergestellte Paare. Der Zusammenhalt der Quartette einerseits und der Terzette andererseits wird unterstützt durch die Homogenität und die *Kontiguität der beiden Strophen jedes Paares, während der Kontrast der beiden Paare verstärkt wird durch den Unterschied ihrer Länge: ein Achtzeiler gefolgt von einem Sechszeiler. Bei der Gruppierung der alternierenden Strophen zeigen die beiden Paare, dasjenige der geraden Strophen und das der ungeraden Strophen, einen diskontinuierlichen Charakter; und im Verhältnis zwischen den äußeren und den inneren Strophen schließlich ist das erstgenannte Paar diskontinuierlich in Opposition zur Kontiguität der inneren Strophen. Die gemeinsame Eigenschaft der ungeraden, geraden, äußeren und in[Anm. v. R.J.] – Sämtliche angeführten Sonettanalysen Jakobsons liegen in dieser Ausgabe in kommentierten deutschen Übersetzungen vor. [Anm. d. Komm.] 48 Vgl. Richards, »Jakobson’s Shakespeare«, S. 589.
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neren Strophenpaare ist ihr isometrischer Aufbau: jedes Paar besteht aus einem Siebenzeiler (4 + 3). Die grundlegende Rolle, welche der Zahl sieben durch die Strukturierung des Sonetts zugewiesen wird, könnte der Bedeutung der Siebenzeiler in der byzantinischen Tradition gegenübergestellt werden, falls die Entstehung des sonetto wirklich in Zusammenhang mit der Scuola Siciliana [›Sizilianischen Schule‹] steht. Die dialektische Spannung, die Mönch 49 unter Bezugnahme auf die Berliner Vorlesung von August Wilhelm Schlegel (1803–1804) in der inneren Struktur des Sonetts als solchem und speziell in seiner architektonischen Dualität (»Zweiteilung« 50 ) entdeckt, weist den Bestandteilen jeder Strophe von CXIII gleichzeitig mehrere Werte zu, die auf den dreifachen Entsprechungen zwischen allen Strophen des Gedichts basieren. Wir zitieren als Beispiel den Bezug zwischen dem Fragediskurs der beiden einleitenden Quartette und dem Aussagediskurs der beiden Schlußterzette: Der Achtzeiler ist gefüllt mit Fragen und deren Voraussetzungen, während der Sechszeiler eine Behauptung, gefolgt von einer Synthese darbietet. Die beherrschende Rolle des Faktors Zeit in den Eingangsstrophen und des Faktors Raum in den Schlußstrophen offenbart sich mit einer besonderen Deutlichkeit in den beiden äußeren Strophen des Sonetts. Die beiden Extreme sind einander spontan gegenübergestellt, zunächst auf der Zeitebene des ersten Quartetts, wo une iourne´e [›ein Tag‹] mit l’eternel [›die Ewigkeit‹] zusammenstößt, und dann auf der Raumebene des letzten Terzetts, das uns zu den beiden Polen der vertikalen Achse führt: au plus hault ciel [›in den höchsten Himmel‹] und en ce monde [›in dieser Welt‹]. Jede dieser beiden Strophen enthält eine überraschende Antinomie und greift auf ausdrucksstarke Mittel zurück, um sie zu betonen. Der Beginn des Sonetts behandelt den Widerspruch zwischen dem zyklischen Verlauf der Zeit und der hoffnungslosen Flüchtigkeit von nos iours [›unserer Tage‹]; das Gedicht schließt mit einer Gegenüberstellung der beiden Seiten de la beaute´ [›der Schönheit‹] – die eine kognitiv und fern (La, o mon ame au plus hault ciel guide´e! Tu y pourras [›Dort, oh meine Seele, in den höchsten Himmel geleitet! Dort wirst du 〈…〉 können‹]), die andere anbetend, irdisch, subjektiv (qu’en ce monde i’adore [›die in dieser Welt ich verehre‹]), und es ist diese, mit der das Sonett endet. Unter den Eigenschaften, die die beiden inneren Strophen verbinden, stellen wir vor allem das Motiv des plaisir [›Genuß‹] fest, das 49 Mönch, Das Sonett, S. 33 f.; vgl. Mönch, »Le sonnet et le platonisme«, S. 379. [Anm. v. R.J.] – Vgl. Schlegel, Geschichte der romantischen Literatur, S. 185–194. [Anm. d. Komm.] 50 Im Original deutsch. [Anm. d. Komm.]
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in der kulminierenden Frage des zweiten Quartetts die Seele an l’obscur de nostre iour [›das Dunkel unseres Tages‹] bindet und das andererseits als abschließende Ergänzung zu den Lockungen des Jenseits dient, die im ersten Terzett aufgezählt werden (la le plaisir encore [›dort noch der Genuß‹]). Der aufeinander abgestimmte Parallelismus der beiden geraden Strophen und derjenige der beiden ungeraden Strophen geht mit einem deutlichen Gegensatz zwischen diesen beiden Paaren einher. Die ungeraden Strophen setzen ihren objektiven und panoramatischen Blick dem eindeutig persönlichen, lyrischen und affektiven Charakter der geraden Strophen gegenüber. Es genügt, die Sätze zu vergleichen, die mit si beginnen – diejenigen des ersten Quartetts reflektieren die Fatalität der Welt, während der des zweiten subjektiv und offen in die Zukunft blickt und auf die Entscheidungsfreiheit verweist: Si pour voler 〈…〉 Tu as. Dieselbe Beziehung unterscheidet die Sätze, die mit la beginnen: Auf die Reihung der Bilder im ersten Terzett antwortet das zweite mit einer einzigen Perspektive: Tu y pouras [›Dort 〈…〉 wirst du 〈…〉 können‹]. Das, was den Parallelismus zwischen dem zweiten Quartett und dem zweiten Terzett besonders offensichtlich macht, ist die Identität der beiden Anreden und ihrer Anordnung (II1 mon ame emprisonne´e – IV1 mon ame 〈…〉 guide´e [›meine gefangene Seele – meine Seele 〈…〉 geleitet‹]), eine Identität, die untermauert wird durch die Übereinstimmung des Kontexts (II3 en un plus cler seiour – IV1 au plus hault ciel [›in ein helleres Dasein – in den höchsten Himmel‹]) und durch die syntaktische Ähnlichkeit der *antonymen Konstruktionen: II2 l’obscur de nostre iour – IV2 l’Ide´e 3 De la beaute´ [›das Dunkel unseres Tages – die Idee der Schönheit‹]. Im Sonett CXIII von L’Olive haben wir ein schönes Beispiel der *Symmetrie und der Antithese, die nach Schlegel und Mönch jedes kunstvolle Sonett »in höchster Fülle und Gedrängtheit« 51 zu vereinen vermag. In der geschlossenen Sprache dieses Gedichts unterdrückt die *Parataxe die koordinierenden *Konjunktionen, und der Antithese gelingt es, die negativen Wörter auszuschalten. Dies sind zwei grammatische Klassen, die vollkommen aus unserem Text entfernt sind. Nach Strawinsky gilt: »Sich auf das Ausscheiden verstehen, auf das ´ecarter, wie man im Spiel sagt, darauf beruht die hohe Technik der Wahl. Und wir finden da wieder das Suchen nach der Einheit innerhalb der Vielfältigkeit«.52 51 Im Original deutsch. [Anm. d. Komm.] 52 Stravinsky, Poe´tique musicale, S. 47. [Anm. v. R.J.] – Dt. Übs.: Strawinsky, Musikalische Poetik, S. 46. [Anm. d. Komm.]
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Grammatische Bedeutungen »Language of Poetry«, die Studie von Leo Spitzer, die oben diskutiert wurde und die das Sonett CXIII von L’Olive in den Mittelpunkt rückt, schneidet die semantische Frage an und sieht ihre Schwierigkeit in dem vagen und schwankenden Charakter der *lexikalischen Bedeutungen begründet: »Selbst wenn der Kontext gegeben ist, meinen nicht alle Sprecher immer genau dasselbe, wenn sie ein bestimmtes Wort verwenden.« 53 Folgerichtig hängt das Verständnis ausschließlich vom semantischen Kern der Wörter ab, auf den sich alle Subjekte, die eine bestimmte Sprache sprechen, geeinigt haben, »während die semantischen Ränder verwischt sind«. Nun verfügt jede existente Sprache neben den lexikalischen und phraseologischen Bedeutungen über ein reiches System von *grammatischen Bedeutungen, und diese formalen Bedeutungen – morphologische ebenso wie syntaktische – sind obligatorisch und unentbehrlich sowohl für das Verständnis als auch für die Produktion des Diskurses. Sie gestatten keinerlei »unscharfen Rand«, mit Ausnahme von brachylogischen oder absichtlichen Ambiguitäten. »L’Illustrateur de la langue francoyse« [›der Illustrator der französischen Sprache‹], wie sich Joachim Du Bellay selbst nannte, oder ›grammairien de ge´nie‹ [›genialer Grammatiker‹],54 nach dem Namen, den ihm Remy de Gourmont beilegt, hat eine große Kunstfertigkeit in dem entwickelt, was er »composition & structure de motz« [›Komposition und Struktur der Wörter‹] 55 nannte. Er ist, wie dieser scharfsinnige Kritiker gesagt hat, »der reinste Dichter des 16. Jahrhunderts; und seine Kühnheiten und Maßlosigkeiten drängen immer in Richtung auf die sprachliche Schönheit«.56 Das Thema, das bis jetzt in der Forschung über sein Werk fehlt, ist eben die Organisation der grammatischen *Figuren und Tropen und deren Bedeutung in der Komposition der Gedichte, die Du Bellay in der Überzeugung von der Zukunft seiner Schriften der Nachwelt hinterlassen hat. Wir übernehmen also den Begriff facture [›Machart‹] aus den Traktaten über die Dichtkunst aus der Epoche Heinrichs II.57 53 Spitzer, »Language of Poetry«, S. 202. [Anm. v. R.J.] – Dieses und das folgende Zitat sind im Original auf Englisch wiedergegeben: »Even when the context is given, all the speakers don’t always mean exactly the same when using a particular word«; »while the semantic fringes are blurred«. [Anm. d. Übs./Komm.] 54 Gourmont, »Du Bellay grammairien«, S. 316. 55 Du Bellay, La deffence et illustration, Buch III, Kap. 10, S. 118. 56 Gourmont, »Du Bellay grammairien«, S. 325. 57 Der Begriff ›facture‹ (Machart, spezifische Eigenart, Technik, Stil eines Kunstwerks, eines Dichters oder Künstlers) ist im Französischen schon seit dem 13. Jh. belegt.
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und versuchen, die Machart des Sonetts CXIII – des »Werks eines Klassikers, das große Wirkung entfaltet«,58 wie Spitzer zu Recht meinte – einer linguistischen Analyse zu unterziehen. Man kann Spitzers Meinung nur zustimmen, ohne jedoch die übereilte Schlußfolgerung zu akzeptieren, wonach dieses Ergebnis dem Künstler lediglich ein »Minimum an materiellem Aufwand« abverlangt habe. Eine derartige Behauptung scheint uns entschieden im Widerspruch zu den zahlreichen verschiedenen künstlerischen Verfahren zu stehen, die das Ganze und die Teile dieses Gedichts erkennen lassen.
Sätze und Teilsätze Die beiden Eingangsstrophen (Quartette) bestehen ebenso wie die beiden abschließenden Strophen (Terzette) aus zwei Sätzen. Jede dieser syntaktischen Einheiten umfaßt eine ungerade Anzahl von vollständigen Versen, und die geraden Sätze dürfen die ungeraden Sätze an Länge nicht überschreiten. Jeder der geraden Sätze enthält drei Verse: Also nehmen die zwei Sätze 5 + 3 Verse in den Quartetten und 3 + 3 Verse in den Terzetten ein. Der erste Satz der Quartette besteht aus drei parataktischen Teilsätzen (clauses) (1¢ + 1¢ + 1 Vers) und ist dem folgenden unabhängigen Teilsatz (1 Vers) untergeordnet. Der zweite Satz beginnt mit einem Teilsatz von der Länge eines Verses, der unabhängig ist und dem ein untergeordneter Teilsatz von der Länge zweier Verse folgt. Folglich beanspruchen die unabhängigen Teilsätze ein Viertel der beiden Quartette, d. h. zwei von acht Versen. Umgekehrt nehmen die untergeordneten Teilsätze in den beiden Terzetten ein Viertel, d. h. zwei von acht Versen ein, dies sind anders ausgedrückt drei von zwölf Halbversen. Also sind die beiden Eingangsstrophen und die beiden abschließenden Strophen derselben numerischen Regel unterworfen, aber die Pole der Opposition – unabhängige Gruppen und untergeordnete Gruppen – tauschen die Plätze und gehen folglich eine *antisymmetrische Beziehung ein. Festzustellen ist eine andere Art der Übereinstimmung, nämlich die einer *Spiegelsymmetrie: Vier Verse des ersten Quartetts werden aus drei parallelen Teilsätzen Er wurde von Marot an das 16. Jh. weitergeben und ist in dieser Bedeutung bis heute geläufig. Vgl. speziell zu den Renaissance-Poetiken: Dichtungslehren der Romania, bes. S. 257–393. [Anm. d. Komm.] 58 Spitzer, »Language of Poetry«, S. 226. [Anm. v. R.J.] – Dieses und das folgende Zitat im Original auf Englisch: »achievement of a classic which produces great result«; »minimum amount of material effort«. [Anm. d. Komm.]
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gebildet, jeder von derselben unterordnenden Konjunktion si [›wenn‹] eingeführt; und dagegen umfassen die drei Verse des ersten Terzetts vier parallele Teilsätze, von denen jeder mit demselben Adverb la` [›dort‹] beginnt. In den beiden Quartetten finden wir andererseits drei symmetrisch angeordnete Verse – 1, 4 und 7 –, die alle mit dem unveränderlichen si beginnen, während in den beiden Terzetten vier benachbarte Verse sind – 1, 2, 3, 4 –, von denen jeder mit dem unveränderlichen la` anfängt. Die beiden ersten Teilsätze auf si in dem Quartett sind gleich lang (jeder zählt drei Halbverse), ebenso die beiden ersten Teilsätze auf la` (von denen jeder zwei Halbverse einnimmt); und im Fall des si ebenso wie des la` verkürzt sich der dritte Teilsatz um einen Halbvers: Er besteht aus zwei Halbversen im Quartett (Si perissable est toute chose ne´e [›Wenn vergänglich ist jedes geborene Ding‹]) und einem einzigen im Terzett (La, est l’amour [›Dort ist die Liebe‹]). Das Finale der parallelen Teilsätze, der jeweils letzte der geraden Sätze und Strophen, ist am längsten: Dies sind die zwei Schlußverse des zweiten Quartetts und die drei Verse des zweiten Terzetts. Die Gesamtlänge der Teilsätze auf si (6 Verse) entspricht derjenigen der Teilsätze auf la` (6 Verse). Der Parallelismus in der Organisation der beiden äußeren Strophen tritt in der ähnlichen Behandlung der beiden ersten und der beiden letzten Verse des Sonetts zutage: In beiden Fällen wird der erste Halbvers des zweiten Verses durch die syntaktische Konstruktion eng an den vorhergehenden Vers geknüpft, und das Komma am Ende dieses Halbverses markiert das *Enjambement (vgl. die Schreibung IV3 beaute´, qu’en 59 mit dem Fehlen jedes Satzzeichens in I2 l’an qui und III1 le bien que). In den beiden Enjambements stellt die auffällige Unstimmigkeit zwischen der metrischen und der grammatischen Abgrenzung – I1 une iourne´e 2 En l’eternel und IV2 l’Ide´e 3 De la beaute´ – die Beziehung zwischen der adnominalen Ergänzung und dem ergänzten Substantiv in Frage, insbesondere die Verbindung des Ewigen und des Zeitlichen ebenso wie die der Schönheit und einer jener Ideen, »qu’on ne puysse ny des yeux, ny des oreilles, ny d’aucun sens apercevoir, mais comprendre seulement de la cogitation et de la pense´e« [›die man weder mit den Augen noch mit den Ohren noch mit irgendeinem anderen Sinn wahrnehmen, sondern einzig mit der Reflexion und dem Denken begreifen kann‹],60 wie uns die Deffence erklärt. Kurz, die trügerischen Unregelmäßigkeiten und Asymmetrien, die Spitzer 59 Ich ergänze das Komma nach beaute´, das Jakobson hier versehentlich wegläßt. [Anm. d. Komm.] 60 Du Bellay, La deffence et illustration, Buch II, Kap. 1.
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in einigen Abschnitten des Textes als »Reflexe unserer Unruhe« zu erkennen meint, enthüllen uns ganz im Gegenteil eine zutiefst parallelistische Strukturierung des ganzen Sonetts.
Verben Die vier Strophen des Sonetts enthalten sechzehn Verbformen, von denen dreizehn prädikative Formen sind (verbum finitum), zwei Infinitive und eines ein Partizip, das sich in der Funktion von den Verbaladjektiven (I4 ne´e, II1 emprisonne´e, 4 empane´e [›geboren, gefangen, gefiedert‹]) durch den Umstand unterscheidet, daß es eine *Zirkumstante regiert: IV1 au plus hault ciel guide´e [›in den höchsten Himmel geleitet‹]. Sämtliche konjugierten Formen des Sonetts gehören dem System des Präsens an (darin eingeschlossen das ›Futur‹ IV2 pouras [›können wirst‹], d. h. das Präsens des vorausblickenden Modus, der eine ›mögliche Erfahrung‹ ausdrückt).61 Die Opposition der ungeraden und geraden Strophen, die einen von narrativem und objektivem Charakter, die anderen subjektiv und lyrisch, spiegelt sich ebenso deutlich in der Auswahl und Verteilung der Verbformen wie in der symmetrischen Anordnung im Inneren jedes der beiden Strophenpaare. Jede ungerade Strophe enthält vier Verben der ›dritten *Person‹, so die übliche Bezeichnung, die besagt, daß die grammatische Form des Verbs keinerlei Information über das Senden wie über das Empfangen der Nachricht enthält und daß diese Form als der *merkmallose Begriff der Opposition persönlich /nicht-persönlich fungiert: I III
1 1
est est
2 1
faict desire
3 2
chasse aspire
4 3
est est
Das ›abstrakte‹ (grammatische) Verb est [›ist‹] umrahmt jede dieser beiden Strophen; doch ist es im ersten Quartett auf seine Funktion als *Kopula beschränkt, während ihm das erste Terzett »den schwachen Sinn der Vorhandenheit als Ding« gibt.62 Man beachte auch den Unterschied zwischen den beiden ›konkreten‹ (lexikalischen) Verben des Quartetts und denjenigen des Terzetts. Die beiden Verben, die eine Tätigkeit des Subjekts 61 Da ein Verb im Futur auf ein Ereignis verweist, das möglicherweise gar nicht eintritt, wird das Futur manchmal, wie eben auch hier, nicht zu den Tempora, sondern zu den Modi gezählt. [Anm. v. I.M.] 62 Vgl. Merleau-Ponty, Phe´nome´nologie de la perception, S. 203, über die Beziehung zwischen den Propositionen la table est [›der Tisch ist‹] oder est grande [›ist groß‹]. [Anm. v. R.J.] – Dt. Übs.: Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 207 (korr.). [Anm. d. Komm.]
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ausdrücken (I2 l’an qui [NB] faict 〈…〉 und 3 chasse [›das Jahr, das 〈…〉 macht‹ und ›jagt‹]), die 4 toute chose ne´e [›jedem geborenen Ding‹] zuwiderläuft, überlassen ihren Platz den beiden Verben, die eine auf III1 le bien que [NB] tout esprit desire [›das Gut, das aller Geist begehrt‹] gerichtete Empfindung ausdrücken. Der Kontrast zwischen dem zentrifugalen I3 chasse [›jagt‹] und dem zentripetalen III2 aspire [›erstrebt‹] ist auffallend. In allen vier Fällen ist das Verb est losgelöst und hervorgehoben. Obwohl der Autor der Deffence (Buch II, Kap. 9) das Fehlen einer spürbaren Pause an der *Zäsur der Zehnsilber (»en la quadrature des vers heroı¨ques« [›nach der vierten Silbe der heroischen Verse‹]) 63 als einen Mangel »de tres mauvais graˆce« [›sehr unelegant‹] betrachtet, weist er der Kopula est die fünfte Silbe der Verse I1, 4 zu, und in 4 Si perissable est [›Wenn vergänglich ist‹] trennt er diese Kopula vom Attribut. Dasselbe Kapitel der Deffence fordert von den französischen Dichtern, nichts in ihren Versen zuzulassen, was einen *Hiatus bildet – nichts »Hiatusartiges«, wie der Autor sagt, indem er die Ciceronianische Terminologie 64 nachahmt (Quintil Horatian ersetzt diese Anleihe durch seine Übersetzung: »mal joinct« [›schlecht zusammengefügt‹]). Obwohl Du Bellay stets bestrebt ist, das Aufeinandertreffen von Vokalen an der *Wortgrenze zu vermeiden, versucht er trotzdem, das Verb est nach einem betonten Vokal zu setzen: I1 Si nostre vie est moins III1 La, est le bien; 3 La, est l’amour (die Trennung der beiden aneinander grenzenden Wörter wird durch ein Komma verstärkt). Unter den Verfahren der Hervorhebung ist ebenso festzustellen, daß das Verb est in den Aussagesätzen von CXIII die einzige prädikative Form ist, die dem grammatischen Subjekt vorangestellt ist: I4 perissable est toute chose; III1 La, est le bien; 3 La, est l’amour. In jeder der beiden geraden Strophen wird das erste und das letzte verbum finitum durch Formen der zweiten und ersten Person vertreten: II1 songes-tu – 4 Tu as und IV2 Tu y pouras – 3 i’adore. Die einzige Form der dritten Person regiert das *Pronomen der zweiten Person: II2 te plaist; und dies ist die einzige prädikative Form, die sich auf ein adjektivisches Subjekt bezieht, und die einzige, die das Prinzip der zwei finiten Verben in jeder geraden Strophe durchbricht. Die Präsenz des Angesprochenen oder des Sprechenden in der Rolle eines der *Aktanten kennzeichnet alle 63 Vers he´roique [›heroischer Vers‹] ist bei Du Bellay die Bezeichnung für den 10-Silbler, jenes *Versmaß also, das als Pendant zum antiken Hexameter im 16. Jh. am häufigsten gebraucht wurde. Daher rührt auch seine Bezeichnung als vers commun, ›gemeiner Vers‹, bei Ronsard. Im 10-Silbler findet sich die Zäsur üblicherweise nach der vierten Silbe. Vgl. Elwert, Französische Metrik, §§ 95, 161. [Anm. d. Komm.] 64 Vgl. Cicero, Orator § 77. [Anm. d. Komm.]
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prädikativen Formen in den beiden geraden Strophen und unterscheidet sie von allen Verben, die in den beiden ungeraden Strophen erscheinen. Insgesamt sind alle Verbformen der zwei geraden Strophen miteinander durch einen engen Parallelismus verbunden. So vollzieht sich die Handlung, die durch II2 te plaist und durch das Partizip Passiv IV1 guide´e ausgedrückt ist, in Richtung auf den Angesprochenen, der in beiden Fällen auf dieselbe Weise angeredet wird: II1 und IV1 mon ame. Die dritte der vier Verbformen in jeder der beiden geraden Strophen ist ein Infinitiv, der einen virtuellen Vorgang bezeichnet; und die Ähnlichkeit der einzigen Infinitivkonstruktionen in CXIII ist unterstrichen durch die Paronomasie: II3 pour voler 〈…〉 tu as – IV2 tu y pouras recongnoistre. Das »Sonet a Maurice Sceve« [›Sonett an Maurice Sce`ve‹] von Pontus de Tyard, als Eröffnungsgedicht in seiner Sammlung Erreurs amoureuses [›Irrtümer der Liebe‹] im November 1549, fast ein Jahr vor L’Olive avgmente´e, veröffentlicht, enthält eine Annäherung zweier Infinitivkonstruktionen, die eine frappante Ähnlichkeit mit dem Paar aufweisen, das wir soeben hervorgehoben haben. Zunächst bemerken wir die Übereinstimmung zwischen der docte plume [›gelehrten Feder‹], die es Sce`ve laut Tyard erlaubt, haulser le vol jusques aux cieux [›den Flug bis zu den höchsten Himmeln zu heben‹],65 und andererseits l’aele bien empane´e [›den gut gefiederten Flügel‹], die L’Olive CXIII zufolge der Seele des Dichters die Fähigkeit verschafft, au plus hault ciel [›zum höchsten Himmel‹] zu fliegen. Im Text von Pontus de Tyard bemerkt man die semantische und lautliche Affinität zwischen den Versen II2(–3) Pour voir l’ardeur qui me brule et consume [›um die Glut zu sehen, die mich verbrennt und verzehrt‹] und III1(–3) Tu y pourras recongnoitre la flame [›Du wirst dort die Flamme erkennen können‹]: Es ist wenig wahrscheinlich, daß die Ähnlichkeit der Verbindung zwischen diesen Versen und der Beziehung zwischen den Versen II3(–2) und IV2(–2) von L’Olive CXIII zufällig ist.66 Eine »Imitation« von Seiten des Sängers der Olive ist um so wahrscheinlicher, als die Erreurs Amoureuses zahlreiche Spuren in seiner Dichtung hinterlassen haben; 67 im Widmungsbrief einer 1552 erschienenen Sammlung geht Du Bellay so weit, die von ihm geschaffenen Werke für unwürdig zu erklären, »de se monstrer au jour pour comparaistre« [›sich bei Tag zu 65 Vgl. die Anrede Sce`ves in dem Sonett CV von L’Olive: II3 J’aime, j’admire, et adore pourtant 4 le hault voler de ta plume dore´e [›Ich liebe, ich bewundere und verehre jedoch den hohen Flug deiner vergoldeten Feder‹]. 66 Wir setzen ein Minus vor die Versnummer und setzen diese Nummer in Klammern, wenn die Verszählung vom Ende der Strophe ausgeht. 67 Vgl. Chamard, Joachim Du Bellay, S. 192 f.; sowie Du Bellay, Poe´sies, Bd. 5, S. 117.
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zeigen um zu erscheinen‹] vor den »divins esprits« [›göttlichen Geistern‹] wie Tyard.68 Der obige Vergleich ist eines der zahlreichen Beispiele für die hohe Meisterschaft, mit der es dem jungen »Imitator« aus Anjou – oder wie ihn ein amerikanischer Kritiker herablassend bezeichnet hat: »ein langfingriger Dieb« 69 – gelang, die verschiedenartigen und unzusammengehörigen Fragmente neu zu gestalten, miteinander zu verschweißen und umzustellen, Fragmente, die er häufig von italienischen oder lateinischen Modellen übernahm oder die auf der zeitgenössischen französischen Dichtung beruhten und zum Teil auf eigenen, üppig weiterentwickelten Ideen des Autors. »Vrayment je confesse avoir imite´ Petrarque & non luy seulement« [›Wirklich, ich gestehe, Petrarca nachgeahmt zu haben und nicht nur ihn‹] (Vorwort zur Erstausgabe von L’Olive). Du Bellay gelang es, all diese unterschiedlichen Materialien in Werke ›seines eigenen Stils‹, von überraschender Originalität und Kohärenz umzuwandeln. L’Olive und andere verwandte Sonette desselben Dichters erringen einen wahrhaften Triumph in der raffinierten Kunst des *Cento. Die schöpferische Fähigkeit, »la propriete´ & structure d’une langue a` l’autre« [›die Eigenart und Struktur einer Sprache in die andere‹] 70 zu überführen, ist die seltene Gabe Joachim Du Bellays.71 Beiläufig stellen wir fest, daß der kurze Zeitraum zwischen dem Erscheinen der Erreurs Amoureuses und demjenigen von L’Olive avgmente´e uns erlaubt, das Entstehen des Sonetts CXIII zu datieren und aller Wahrscheinlichkeit nach auch dasjenige der anderen Sonette am Ende derselben Sammlung. Um auf die abstrakten Verben des Sonetts CXIII zurückzukommen, erinnern wir daran, daß eines dieser beiden Verben, das *transitive avoir [›haben‹], von L. Tesnie`re mit Recht »als ein umgekehrtes Verb ˆetre [›sein‹]« 72 definiert worden ist. Die zweite Person und die Transitivität stellen das letzte Verb der zweiten Strophe, II4 tu as, der dritten Person und dem *intransitiven Charakter des letzten Verbs der ungeraden Strophen, I4 und III3 est, gegenüber. Andererseits teilt das letzte Verb der vierten Strophe und des gesamten Sonetts, IV3 i’adore, als einziges Beispiel 68 Du Bellay, Poe´sies, Bd. 2, S. 18. 69 Merrill, The Platonism, S. 41. [Anm. v. R.J.] – Im Original englisch: »a largehanded pilferer«. [Anm. d. Komm.] 70 A. a. O., S. 16. 71 Vgl. Mönch, Das Sonett, S. 122: »So sind in vielen Fällen Du Bellays Bearbeitungen geniale Neuformungen, im besten Sinne schöpferische Nachdichtungen.« 72 Tesnie`re, Ele´ments de syntaxe structurale, S. 73 f. [Anm. v. R.J.] – Dt.: Grundzüge der strukturalen Syntax, S. 85. [Anm. d. Komm.]
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der ersten Person im Sonett und als einziges konkretes Verb am Schluß der Strophen, die Transitivität mit dem abschließenden Verb der Strophe II und setzt sie in Opposition zur Intransitivität der beiden anderen abschließenden Verben. Um diese Beobachtungen über die Anordnung der Verben im Sonett CXIII zusammenzufassen, ist zu bemerken, daß die Quintessenz der dramatischen Bewegung jeder Strophe an deren abschließendes Verb geknüpft ist: I4 perissable est toute chose ne´e; II4 Tu as au dos l’aele; III3 La, est l’amour; IV3 la beaute´, qu’en ce monde i’adore [›vergänglich ist jedes geborene Ding‹; ›Du hast am Rücken den Flügel‹; ›Dort ist die Liebe‹; ›die Schönheit, die in dieser Welt ich bewundere‹]. Der ebene Charakter der ungeraden Strophen, die zu Beginn und am Ende mit demselben abstrakten, intransitiven und nicht-persönlichen *Verb ausgestattet sind, weicht der krummen Kontur der geraden Strophen, von denen jede mit einem transitiven Verb mit direkter Ergänzung abschließt. Diese beiden Verben sind die *merkmalhaften Glieder der verbalen Opposition persönlich /nicht-persönlich, aber die Schlußstrophe (IV) fügt ein zusätzliches Merkmal hinzu, dasjenige der ersten Person mit Rücksicht auf die zweite Person in der Opposition Sprecher /Adressat.73 Zudem endet diese Strophe, die den Höhepunkt und Schlüssel des ganzen Textes bildet, mit einem konkreten Verb, im Gegensatz zu den abstrakten Verben, welche die drei vorhergehenden Strophen beschließen: I II III IV
est songes-tu 1 est 1 guide ´e
est Tu as 3 est 3 i’adore
1
4
1
4
Die Verschiedenheit der vier Verben im Inneren der Strophe verdoppelt ihrerseits die abwechselnden Strophen und setzt die polymorphe Komposition der geraden Strophen der Einförmigkeit der ungeraden Strophen 73 »Das Präsens ist mit zwei ›Personkorrelationen‹ versehen. 1. Persönliche Formen (merkmalhaltig) ∼ unpersönliche Formen. Als grammatische unpersönliche Form fungiert die sog. Form der ›dritten Person‹, die an sich die Bezogenheit der Handlung auf ein Subjekt nicht ankündigt. 〈…〉 2. Die persönlichen Formen verfügen über die Korrelation: Form der ›ersten Person‹ (merkmalhaltig) ∼ Form, die die Bezogenheit der Handlung auf die sprechende Person nicht ankündigt. Es ist die sog. Form der ›zweiten Person‹, die als merkmallose Kategorie fungiert« (Jakobson, »Zur Struktur des russischen Verbums«, S. 9). Vgl. Jakobson, »Shifters, Verbal Categories, and the Russian Verb«, S. 134 u. 137; Benveniste, Proble`mes de linguistique ge´ne´rale, Kap. XVIII u. XX; Damourette u. Pichon, Des mots a` la pense´e, § 55; Tesnie`re, Ele´ments de syntaxe structurale (dt.: Grundzüge der strukturalen Semantik), Kap. 53.
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gegenüber, von denen jede vier Formen der dritten Person enthält. Doch während die Strophe II zwei Formen der zweiten Person vereinigt, alle beide symmetrisch auf die Eröffnung und den Abschluß des Quartetts verteilt (II1 Que songes-tu – 4 Tu as [›Was sinnst du – Du hast‹]), mit einer Form der dritten Person und einem Infinitiv, entfernt sich das Schlußterzett noch weiter von der symmetrischen Ordnung, die in den ungeraden Strophen streng eingehalten wird, und weist ein Partizip auf, ein Verb in der zweiten Person, das in dem ganzen Text das einzige Beispiel des prospektiven Modus ist, einen Infinitiv und am Ende das einzige Verb in der ersten Person – i’adore –, das durch seine Ambivalenz besonders suggestiv erscheint: Es dient zugleich dem Ausdruck des Gefühls der Liebe und einer sakramentalen Handlung. Das Ende des Sonetts CXIII, la beaute´, qu’en ce monde i’adore [›die Schönheit, die in dieser Welt ich verehre‹], findet textuelle Entsprechungen in den anderen Sonetten von L’Olive avgmente´e: Sonett CXI, I4 ces beaux yeulx, que j’adore [›diese schönen Augen, die ich verehre‹] (das einzige Verb in der ersten Person im ganzen Gedicht); Sonett CXVIII, IV2 Vos deux beaux yeux, deux flambeaux que j’adore [›Eure beiden schönen Augen, zwei Flammen, die ich verehre‹] (mit der parallelen und reimenden Passage III2 que j’honnore [›die ich ehre‹], den einzigen Verben in der ersten Person). Schließlich, im Vers IV2 des Sonetts CXV – Pour mieux haulser la Plante que j’adore [›Um besser die Pflanze zu erhöhen, die ich verehre‹] – beschließt das einzige Verb in der ersten Person im Gedicht die Kette von Verben in L’Olive avgmente´e insgesamt. Diese einzige Form der ersten Person im letzten Sonett der Sammlung ist von demselben Verb in CXIII nur durch sein von Horaz inspiriertes Antonym 74 im Sonett CXIV getrennt, I2 O que je hay ce faulx peuple ignorant! [›Oh wie hasse ich dieses falsche unwissende Volk‹]. Die kunstvolle Komposition der Sammlung und insbesondere die Frage nach der Beziehung unter seinen verschiedenen Sonetten würde es verdienen, erörtert zu werden.
Pronomina und Pronominaladjektive 75 Das Sonett enthält fünf unbetonte adverbale Personalpronomina, fünf possessive Adjektive und fünf andere Pronominaladjektive. Die Personalpronomina, alle fünf im Singular, bezeichnen die eine der zwei ersten 74 Vgl. Horaz, Carmina III, 1, v. 1: »Odi profanum vulgus et arceo.« [›Ich hasse das gemeine Volk und halte es fern.‹] [Anm. d. Komm.] 75 Pronominaladjektiv meint hier: *adjektivisches Pronomen. [Anm. v. I.M.]
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unter den drei grammatischen Personen – II1, 4 tu, 2 te und IV2 tu, 3 i’ – mit anderen Worten, einer der beiden Gesprächspartner und diese fünf Pronomina sind auf die geraden Strophen verteilt. Die fünf Possessivpronomina beziehen sich auf die erste Person. In zwei von diesen Fällen – die Anrede II1 und IV1 mon ame, die die beiden geraden Strophen eröffnet und ihren subjektiven Stil verstärkt – fungiert ›Ich‹, die erste Person Singular, als Besitzer. Mon ame bereitet als *Synekdoche, *pars pro toto, den Verweis auf das totum i’adore vor, das ganz am Ende des Gedichts auftauchen wird. Bei den drei übrigen Beispielen des Possessivpronomens verweist dieses auf den Plural »nous« [›wir‹], d. h. »nous autres mortels« [›wir anderen Sterblichen‹]. Dieses ist untrennbar mit der morphologischen Familie der Wörter verbunden, die dazu dienen, eine dreifache *Metapher zu schaffen, die den ephemeren, vorübergehenden, verblassenden Charakter des menschlichen Lebens hervorhebt: I1 nostre vie est moins qu’vne iourne´e 2 En l’eternel (anders ausgedrückt: »unser aller Menschenleben scheint im Verhältnis zur Ewigkeit eine geringere Ausdehnung zu haben als der Zeitraum eines Tages im Verhältnis zu unserem Leben«); I2 l’an qui faict le tour 3 Chasse noz iours sans espoir de retour (»die Jahre in ihrem zyklischen Rhythmus kehren eines nach dem anderen wieder, während die Tage unseres Lebens einer nach dem anderen auf immer verschwinden«; das einzige Beispiel des Plurals im Sonett – noz iours – läßt den kontinuierlichen und schrittweisen Charakter dieser Vernichtung zutagetreten); II2 Pourquoy te plaist l’obscur de nostre iour (wo der wuchernde Stil des geraden Quartetts zur Metapher des flüchtigen Tages unseres Lebens das Oxymoron hinzufügt, das das Bild des Tages mit dem der Dunkelheit vereinigt). Die Lexik der Quartette, die auf die fixe Idee der Flucht der Zeit ausgerichtet ist, verschwindet in den Terzetten, die die Antinomie des Permanenten und des Momentanen aufheben.76 Die Anordnung der übrigen Pronominaladjektive spiegelt dieselben architektonischen Prinzipien des Gedichts wider. Die drei Beispiele des quantitativen tout, die jedes Mal auf eine andere Weise die Menschheit in ihrer Gesamtheit bezeichnen, entfallen auf die ungeraden Strophen, die beide auf die kollektive Totalität zentriert sind: I4 Si perissable est toute chose ne´e; III1 La, est le bien que tout esprit desire, 2 La, le repos ou tout le 76 Spitzer, der das Alternieren »zwischen dem Kollektiven und dem Individuellen« in der Folge der Sonett-Strophen richtig erkannt hat (vgl. »Language of Poetry«, S. 220 f.), irrt sich hinsichtlich der Rolle des nostre, das in Wirklichkeit nicht an der semantischen Opposition der ungeraden und geraden Strophen teilhat, sondern einzig an der Charakterisierung der Quartette vis-a`-vis der Terzette.
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monde aspire [›Wenn vergänglich ist jedes geborene Ding‹; ›Dort ist das Gut, das aller Geist begehrt, Dort die Ruhe, die alle Welt erstrebt‹] (nach E. Sapir »singularized *totalizers« [›singularisierte Totalisierer‹] in den ersten beiden Fällen und eine »totality of a whole aggregate« [›Totalität einer ganzen Anhäufung‹] im dritten Fall).77 Es ist wichtig, das enge und auffällige Zusammentreffen von zwei Tatsachen zu erwähnen: die Präsenz des besagten Pronominaladjektivs und die des Verbs ˆetre ausschließlich in den beiden ungeraden 78 Strophen des Sonetts (vgl. insbesondere I4 perissable est toute chose und III1 La, est le bien que tout esprit desire). Am Ende des Textes verbindet sich das Demonstrativum ce mit dem Pronomen der ersten Person – IV3 De la beaute´ qu’en ce monde i’adore – und ist dem Adverb der Entfernung III1-3, IV1 la` und dessen *anaphorischem y sowie dem Pronomen IV2 tu an die Seite gestellt. Diese Kontraste lassen unerwartet die Schönheit des ›Hier unten‹ und ihren Bewunderer hervortreten und triumphieren.
Substantive Jede ungerade Strophe enthält sechs Substantive und jede gerade Strophe zwei Substantive ohne Präposition. Diese beiden Substantive in jeder geraden Strophe schließen ein *Objekt (II4 aele, IV2 Ide´e) und einen Vokativ (II1 und IV1 ame) und darüber hinaus zwei Personalpronomina als Subjekte (II1,4 tu; IV2 Tu, 3 i’) ein, während in den ungeraden Strophen die Gesamtheit oder zumindest die Mehrheit der Substantive ohne Präposition Subjekte sind I1 vie, iourne´e, 2 an, 4 chose (gegenüber zwei Beispielen für Objekte – 2 tour, 3 iours) und III1 bien, esprit, 2 repos, monde, 3 amour, plaisir. Man wird feststellen, daß die Funktion des grammatischen Subjekts in den ungeraden Strophen des Sonetts immer durch das Substantiv erfüllt wird, aber niemals in den geraden Strophen, in denen diese Funktion auf das Pronomen oder auch – in II2 l’obscur – auf das substantivierte Adjektiv übertragen ist. Im Gegensatz zu den ungeraden Strophen, in denen die wie existente Dinge dargestellten Phänomene die Gesprächspartner beherrschen, suggerieren die geraden Strophen eine Transzendenz der Personen des imaginären Gesprächs. In den ungeraden Strophen entfallen durchschnittlich zwei Substantive auf jeden Vers, folglich insgesamt acht auf das erste Quartett und sechs auf das erste Terzett. Jede gerade Strophe enthält ein 77 Sapir, Totality, S. 10 f. 78 Emendation d. Komm. [Anm. d. Komm.]
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Substantiv weniger als die ihr vorausgehende ungerade Strophe, d. h. es finden sich sieben im zweiten Quartett und fünf im zweiten Terzett. Es ist also ein arithmetischer Rückgang der Substantive im Verlauf des Gedichts festzustellen: I – 8 Nomina, II – 7, III – 6, IV – 5. Daraus ergibt sich ein Gleichgewicht von dreizehn (8 + 5) Substantiven in den äußeren Strophen und wiederum dreizehn (7 + 6) in den inneren Strophen. Jede der ungeraden Strophen enthält mehrere Verbalsubstantive, mit dem einzigen Unterschied, daß diejenigen der dritten Strophe Empfindungen oder Gefühle ausdrücken (III2 le repos, 3 l’amour und le plaisir), während sich in der ersten Strophe drei der vier Verbalsubstantive unmittelbar auf Zeitbegriffe beziehen (I1 vie, 2 tour, 3 retour) und sich mit kalendarischen Begriffen (I1 iourne´e, 2 an, 3 iours) verknüpfen, und das übrige Substantiv – I3 espoir – bezeichnet offensichtlich eine Emotion, die gleichwohl eng an den Faktor Zeit gebunden ist. Diese die Zeitachse evozierende Lexik findet ihr letztes Echo in den *indirekten Objekten, deren sich der männliche Reim im zweiten Quartett bedient (II2 de nostre iour – 3 en vn plus cler seiour). Die Verwendung verschiedener temporaler Substantive in den zwei Quartetten sowie ein weiteres Spezifikum dieser Strophen, nämlich der Ersatz der adjektivischen Substantive »l’e´ternite´« und »l’obscurite´« durch die substantivierten Adjektive I2 l’eternel und II2 l’obscur (vgl. weiter unten), werden durch das Fehlen temporaler Substantive und durch das Auftreten von adjektivischen Substantiven in den beiden Terzetten (III1 le bien, IV3 la beaute´ ) ausgeglichen. Die originären und nicht zeitbezogenen Substantive häufen sich in den geraden Strophen (II1 ame, 4 dos, aele; IV1 ame, ciel, 2 Ide´e, 3 monde), während sie in den ungeraden Strophen ausschließlich in Begleitung des Determinativums »tout« (I4 toute chose, III1 tout esprit, 2 tout le monde) erscheinen.
Adjektive »Prinzipiell wird die Rolle des Attributs von einem Adjektiv eingenommen«, behauptet Tesnie`re,79 der die verschiedenen Typen des »nicht-adjektivischen Attributs« verzeichnet, wie er auch die anderen Funktionen des Adjektivs jenseits seiner Rolle als Attribut beschreibt. Das Sonett CXIII weist einen regelrechten Bruch zwischen dem Attribut und dem reinen und einfachen Adjektiv auf, ein Vorgehen, das übrigens in der 79 Tesnie`re, Ele´ments de syntaxe structurale, S. 145, 150 f., 155 f. u. 411 f. [Anm. v. R.J.] – Vgl. Tesnie`re, Grundzüge der strukturalen Semantik, S. 139, 144, 149 f. u. 382. [Anm. d. Komm.]
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französischen Lyrik derselben Epoche verschiedene Entsprechungen findet. In dem fraglichen Sonett ist das Adjektiv, das als Attribut fungiert, der analytische Komparativ,80 der in den geraden Strophen verwendet wird: Diese führen das Motiv einer zunächst relativen und später absoluten Überlegenheit ein – II3 en vn plus cler seiour und IV1(–3) au plus hault ciel 81 –, in Opposition zur Ebene der Unterlegenheit, die mit Hilfe des synthetischen Komparativs 82 im ersten Prädikat des Sonetts (I1 nostre vie est moins qu’vne iourne´e) ausgedrückt wird. Die merkwürdige Entsprechung zwischen I1 moins qu’vne und II3 vn plus (das einzige Auftreten dieses Zahlwortes und dieses Artikels im Sonett) läßt den Kontrast der beiden Ebenen hervortreten. Andererseits bedient sich das Attribut des Partizips der Vergangenheit, das als solches im letzten Terzett fungiert (IV1 au 〈…〉 ciel guide´e), das aber innerhalb der Quartette der Klasse der Verbaladjektive zugeordnet wird: I4 ne´e, II1 emprisonne´e, 4 empane´e. Vgl. die feinsinnigen Beobachtungen von Jacqueline Risset 83 zu den adjektivischen Attributen, die sich in Sce`ves Gedicht »eher an die Verben anschließen« und die, der Interpretin zufolge, »die Verlängerung des Substantivs in Richtung auf das Verb sind«; Ruwet 84 bemerkt die »dynamisch qualifizierten« Begriffe im Sonett von Louise Labe´. Eine ähnliche Rolle wird durch die Relativsätze erfüllt, die Tesnie`re 85 als Nebensätze mit dem Wert eines attributiven Adjektivs interpretiert. In den Terzetten dient das regierende *Nomen als passiver Aktant (III1 le bien que tout esprit desire; 2 le repos ou tout le monde aspire; IV3 la beaute´, qu’en ce monde i’adore [›das Gut, das aller Geist begehrt‹; ›die Ruhe, die alle Welt erstrebt‹; ›die Schönheit, die in dieser Welt ich bewundere‹]: Das Verlangen des gesamten Geistes zielt auf das Gute, ebenso wie das Streben sich auf die Ruhe hin ausrichtet und meine Bewunderung auf die Schönheit). In dem Quartett hingegen geht die Handlung von dem regierenden Nomen aus (I2 l’an qui faict le tour [›das Jahr, das seine Runde dreht‹]). Als eine der offensichtlichen Übereinstimmungen zwischen den beiden äußeren Strophen erscheint zu Beginn 80 Analytischer oder zusammengesetzter Komparativ: Komparativform, die aus einem die komparative Bedeutung tragenden Wort (hier: plus) und dem die lexikalische Bedeutung tragenden Adjektiv besteht. [Anm. v. I.M.] 81 Vgl. Gougenheim, Grammaire de la langue franc¸aise, S. 61 u. 165. 82 Komparativform, bei dem die komparative Bedeutung am Adjektiv selbst ausgedrückt wird. [Anm. v. I.M.] 83 Risset, L’Anagramme du de´sir, S. 96. 84 Ruwet, »Un sonnet de Louise Labe´«, S. 190. 85 Tesnie`re, Ele´ments de syntaxe structurale, S. 154. [Anm. v. R.J.] – Vgl. Tesnie`re, Grundzüge der strukturalen Semantik, S. 132 f. (stark gekürzt). [Anm. d. Komm.]
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und am Ende des Sonetts darüber hinaus ein adnominales Substantiv, dem die Präposition de vorangeht und das im Hinblick auf das regierende Substantiv »wie ein Adjektiv die Funktion eines Attributs« übernimmt: 86 I3 sans espoir de retour – IV2 l’Ide´e 3 De la beaute´ [›ohne Hoffnung auf Wiederkehr‹ – ›die Idee der Schönheit‹]. Die Verbaladjektive sind die einzigen einfachen Formen des Adjektivs, die im Sonett CXIII als Attribute verwendet werden, und man findet diese nur in seinen Quartetten. Auch und ausschließlich in den Quartetten erscheint das Adjektiv in anderen Rollen als derjenigen des Attributs. Man bemerkt dort ein deverbatives Adjektiv, das als prädikative Ergänzung dient und durch eine affektive *Inversion verstärkt wird: I4 Si perissable est toute chose ne´e. Neben den prädikativen Adjektiven bieten uns die Quartette zwei Beispiele für substantivierte Adjektive, »ein beliebtes Vorgehen bei Petrarca«, das danach von Sce`ve übernommen und kontinuierlich angewandt, dann in seiner Nachfolge von der Ple´iade aufgegriffen wurde 87 und in den beiden Quartetten des analysierten Sonetts belegt ist: I2 En l’eternel und II2 l’obscur de nostre iour [›In der Ewigkeit‹; ›das Dunkel unseres Tages‹] (mit einer Inversion des Regierten und des eigentlich Regierenden, »notre jour obscur«; vgl. Olive C, III2 Parmy l’obscur des eternelles nuitz [›Unter dem Dunkel der ewigen Nächte‹]). Du Bellay billigt diesen Ersatz, »pourveu que telle maniere de parler adjoute quelque grace & vehemence« [›sofern diese Art zu sprechen einige Anmut und Schwung hinzufügt‹],88 und er bedient sich dessen vor allem, um »die Idee zur Geltung zu bringen« und sie weniger abstrakt zu machen.89 All diese Ausdrucksvarianten der Neigung zum Adjektiv sind an die lebhafte Gangart der beiden fragenden Quartette im Gegensatz zur vollständigen Unterdrückung der Adjektive im knappen Diskurs der Terzette gebunden.
Grammatische Genera 90 Die grammatischen *Genera der Substantive und der substantivierten Adjektive sind in ihrer Verteilung strengen Regeln unterworfen. Die Anrede – II1 und IV1 ame – und das Subjekt der Prädikatsätze – I1 vie und 86 Tesnie`re, Ele´ments de syntaxe structurale, S. 150. [Anm. v. R.J.] – Vgl. Tesnie`re, Grundzüge der strukturalen Semantik, S. 132 f. (stark gekürzt). [Anm. d. Komm.] 87 Siehe Brunot, Histoire de la langue franc¸aise, S. 189. 88 Du Bellay, La deffence et illustration, Buch II, Kap. 9. 89 Siehe Du Bellay, Poe´sies, Bd. 5, »Index grammatical«, S. 266. 90 Vgl. die ausführliche Auseinandersetzung mit dem grammatischen Genus in Ja-
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iourne´e (»termes du prime actant de´double´« [›Terme des verdoppelten ersten Aktanten‹], laut Tesnie`re 91); I4 chose – sind Feminina. Die Substantive, die in den anderen Satztypen als Subjekte fungieren, sind Maskulina – I2 an, II2 obscur, III1 bien, esprit, 2 repos, monde, 3 amour, plaisir. Wenn das Subjekt maskulin ist, ist es das direkte Objekt ebenfalls – I2 tour, 3 iours; ansonsten (d. h. nach dem Pronomen Tu, das sich auf das Femininum ame bezieht) ist das direkte Objekt feminin – II4 aele, IV2 Ide´e. Die Ergänzungen sind allesamt Maskulina: I2 En l’eternel, 3 sans espoir, II3 en vn plus cler seiour, 4 au dos, IV3 en ce monde. Das grammatische Genus der adnominalen Substantive entspricht demjenigen des Substantivs (oder des substantivierten Adjektivs), das sie regiert: I3 espoir de retour, II2 l’obscur de nostre iour (vgl. die Übereinstimmung zwischen I1 vie und iourne´e), IV2 l’Ide´e 3 De la beaute´. Im Inneren des ersten und des zweiten Quartetts umrahmen die femininen Substantive die doppelte Anzahl von maskulinen Substantiven (darin eingeschlossen ein substantiviertes Adjektiv): 3/6 = 2/4. Die dritte Strophe enthält lediglich drei Paare maskuliner Nomina und tritt in dieser Hinsicht vor allem zur nachfolgenden Strophe in Kontrast, der einzigen, die die Verkettung und das Zahlenverhältnis zwischen seinen Feminina und Maskulina verkehrt: f f mmm mmm f
f mm m m f
mm mm mm
f m f f m
Die Folge der femininen Nomina nimmt eine besondere Stellung in der dramatischen Entwicklung des Sonetts ein – nostre vie, vne iourne´e, toute chose ne´e, mon ame, l’Ide´e De la beaute´ [›unser Leben, ein Tag, jedes geborene Ding, meine Seele, die Idee der Schönheit‹]. Keines dieser Nomina nimmt eine aktive Rolle in einem Prozeß ein, und auf der anderen Seite sind diese Einheiten keiner direkten und unmittelbaren Handlung von seiten irgendeines namentlich genannten Täters unterworfen. II4 Tu as 〈…〉 l’aele [›Du hast den Flügel‹] stellt keine Ausnahme dar, weil kobsons Analyse von Henri Rousseaus Achtzeiler »Yadwigha dans un beau reˆve« (Jakobson, »On the Verbal Art of William Blake and Other Poet-Painters«, S. 335 f.; vgl. die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 25– 27). [Anm. d. Komm.] 91 Tesnie`re, Ele´ments de syntaxe structurale, S. 354. [Anm. v. R.J.] – Bei Jakobson zitiert als: »terme du premier actant de´double´«. Vgl. Tesnie`re, Grundzüge der strukturalen Semantik, S. 243. [Anm. d. Komm.]
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»avoir« [›haben‹] kein *Tätigkeitsverb, sondern ein *Zustandsverb ist (wie dies Tesnie`re 92 und Benveniste 93 richtig festgestellt haben). In IV3 ist die Distanz zwischen der »beaute´« [›Schönheit‹] und ihrer »adoration« [›Bewunderung‹] durch das Relativpronomen »que« markiert, und in der Schreibung ist sie signalisiert durch das Komma, das ihm vorausgeht: la beaute´, qu’en ce monde i’adore [›die Schönheit, die in dieser Welt ich bewundere‹]. Wir stellen auch die Namenlosigkeit des Täters in IV1 ame 〈…〉 guide´e [›Seele 〈…〉 geleitet‹] fest. Könnte man etwa im Hinblick auf den Aufbau des Gedichts die Bedeutung der Tatsache leugnen, daß das feminine Genus den ersten und letzten Vers des Sonetts eröffnet und schließlich in der letzten Strophe vorherrscht?
Verse Alle Sonette in L’Olive sind in Zehnsilblern geschrieben (4 + 6), »vers he´roı¨ques« [›heroische Verse‹] nach der Terminologie der Deffence oder »vers communs« [›(all)gemeine Verse‹], wie sie Ronsard im Jahr 1555 taufen wird. Die Untersuchung des Rhythmus des Sonetts CXIII erlaubt uns festzustellen, daß neben den zwei obligatorisch betonten Silben, nämlich der vierten und der zehnten, die anderen geraden Silben seiner Verse öfter als die ungeraden Silben die Wortbetonung tragen. Der erste Halbvers der Terzette stellt eine Ausnahme dar: Seine zweite Silbe bleibt immer unbetont, und in ihren ersten fünf Versen ist es jeweils die Eingangssilbe, welche die Betonung anzieht (wie es das Komma nach dem Adverb la am Anfang der Verse III1 – IV1 unterstreicht), während die Betonung in den zwei Quartetten viermal auf die zweite Silbe und nur einmal auf die erste zielt. Dagegen weist das Profil des zweiten Halbverses lediglich einen geringen Unterschied zwischen den Quartetten und den Terzetten auf: in jenen fällt die Betonung auf 56% und in diesen auf 50% der geraden inneren Silben (6. und 8.) sowie auf 12,5% und 11% der ungeraden Silben (5., 7. und 9.). Die Strophenanfänge vermeiden die Betonung auf den ungeraden Silben des zweiten Halbverses, während der vorletzte oder der letzte Vers jeder Strophe – und in der letzten Strophe diese beiden Verse – die Betonung von einer der beiden oder von beiden inneren geraden Silben auf die benachbarte ungerade Silbe zurückverschieben. 92 Tesnie`re, Ele´ments de syntaxe structurale, S. 73 f. [Anm. v. R.J.] – Tesnie`re, Grundzüge der strukturalen Semantik, S. 67. [Anm. d. Komm.] 93 Benveniste, Proble`mes de linguistique ge´ne´rale, S. 193 f. [Anm. v. R.J.] – Beneviste, Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, S. 217 f. [Anm. d. Komm.]
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Der vorletzte Vers der ersten Strophe, ein *männlicher Vers mit zweisilbigen Intervallen zwischen seinen vier *Hebungen, bildet – möglicherweise jenseits aller bewußten Absicht des Autors – ein prosodisches *Palindrom, das sich gleichermaßen in der richtigen wie in der umgekehrten Richtung skandieren läßt: – – – – , als ob die prosodische Kontur des Verses auf dessen Urteil über die Unumkehrbarkeit unserer Zeit, die verstreicht, antworten würde: I3 (–2) Chasse noz iours sans espoir de retour. Die vorletzten Verse der einleitenden und der abschließenden Strophe (I und IV) entsprechen einander in ihrer Anordnung der betonten und unbetonten Silben: IV2 (–2) Tu y pouras recongnoistre l’Ide´e. Dieser Vers ist der letzte in den Terzetten, der die Eingangssilbe betont, und der Vers I3 (–2) ist im Inneren der Quartette der letzte, der dies tut. Was den zweiten Halbvers betrifft – IV2 recongnoistre l’Ide´e –, so ist der folgende Vers im ganzen Sonett der einzige, der dieselbe rhythmische Bewegung wiederholt (bis zur Plazierung der fakultativen Zäsur 94); IV3 qu’en ce monde i’adore, und dieser ähnliche Abschluß der beiden letzten Verse des Sonetts hebt das Ende des Gedichts hervor. Wenn im Sonett das zweisilbige Intervall zwischen der letzten Hebung jedes Halbverses und der vorangehenden Betonung eine rhythmische Verbindung zwischen den vorletzten Versen der zwei äußeren Strophen bildet, sind andererseits die letzten Verse der zwei inneren Strophen ihrerseits durch die Betonung der Silbe, die den zweiten Halbvers eröffnet, fühlbar miteinander verbunden: II4 (–1) Tu as au dos l’aele bien empane´e – III 3 (–1) La, est l’amour, La le plaisir encore. Die Betonungen, die auf beiden Seiten mit der mittleren Zäsur dieser Verse zusammenhängen, geben ihnen eine besondere Erscheinung, die in II4 noch durch die Betonung der beiden benachbarten ungeraden Silben (l’aele bien) hervorgehoben wird. Man kann nur an das Urteil von Saulnier erinnern,95 der bei Du Bellay eine wahrhaft einzigartige Kunst feststellt, »den Vers durch die Betonungen und Zäsuren zu beleben«.
Reime Für Du Bellay ist die »contraincte de la rime« [›Reimzwang‹] ein wichtiger Bestandteil des Sonetts. Die Verkettung der Reime in den Quartetten ist allen gereimten Sonetten des Dichters gemeinsam (ABBA ABBA), 94 Im Unterschied zum Zwölfsilbler oder Alexandriner mit seiner festen Mittelzäsur ist die Zäsur des Zehnsilblers traditionell variabler. [Anm. d. Komm.] 95 Saulnier, Du Bellay, S. 148.
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während die Ordnung der Reime in den Terzetten einige Variationen zuläßt.96 Die für Cle´ment Marot typische Reimanordnung CCD EED in den Terzetten, die in der etwa fünfzig Sonette umfassenden Sammlung L’Olive von 1549 nur neun Mal vorkommt, überwiegt später zahlenmäßig alle anderen Reimanordnungen innerhalb der Terzette. So gibt es unter den vierundsechzig gereimten Sonetten, die erstmals in L’Olive avgmente´e von 1550 veröffentlicht wurden, einundvierzig, die diese Form aufweisen, wie es insbesondere auch bei Sonett CXIII der Fall ist; und so nimmt diese schließlich einen herausragenden Platz in den nachfolgenden Sammlungen des Autors ein.97 Bereits 1548 lehrt Thomas Se´billet in seinem Art Poe´tique Franc¸ois [›Französische Dichtkunst‹]: Die sechs letzten Verse des Sonetts »sont sugetz a diverse assiette: mais plus souvent le´s deux premiers de ce´s sis fraternizent en ryme platte. Les 4 et 5 fraternizent aussy en ryme platte, mais differente de celle de´s deuz premiers: et le tiers et sizie`me symbolisent aussy en toute diverse ryme de´s quatre autres« [›sind verschiedenen Ordnungen unterworfen: doch am häufigsten verbrüdern sich die beiden ersten zu Paarreimen. Der vierte und fünfte Vers verbrüdern sich auch zu Paarreimen, jedoch auf unterschiedliche Weise als die ersten beiden: und der dritte und sechste Vers verkörpern ebenfalls wiederum einen ganz anderen Reim als die anderen vier‹].98 Die Regel des alternierenden Wechsels, nach der zwei Reime derselben Klasse (d. h. zwei männliche oder zwei *weibliche Reime) nicht aufeinander folgen sollen, wurde von Du Bellay als fakultatives Prinzip anerkannt oder, mit seinen eigenen Worten, als »diligence fort bonne, pourveu que tu n’en faces point de religion« [›sehr gutes Bestreben, vorausgesetzt, daß du daraus keine Religion machst‹].99 – »Toutesfois affin que tu ne penses que j’aye dedaigne´ ceste diligence« [›Damit du jedoch nicht denkst, daß ich dieses Bestreben nicht würdige‹], fügt er in dem Vorwort »Au lecteur« [›An den Leser‹] seiner Vers lyriques hinzu, die in der Sammlung L’Olive enthalten sind, »tu trouveras quelques Odes, dont les Vers disposez avecques tele Religion« [›wirst du einige Oden finden, deren Verse gemäß dieser Religion angeordnet sind‹].100 Man wird feststellen, daß in L’Olive CXIV, dem einzigen unter den Sonetten des Dichters, das aus Blankversen (oder »freien«, wie Du Bellay sie nennt) besteht, die syntaktische Trennung der vier Strophen und die kanonische Verteilung 96 97 98 99 100
Vgl. Elwert, Französische Metrik, § 217. [Anm. d. Komm.] Vgl. Ziemann, Vers- und Strophenbau, S. 114 f. Vgl. Se´billet, Art Poetique Franc¸ois, o. S. Du Bellay, La deffence et illustration, Buch II, Kap. 9, S. 68. Du Bellay, Poe´sies, Bd. 1, S. 151.
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der weiblichen und männlichen *Kadenzen getreu beachtet wurden: I1 Populaire! – 2 ignorant! – 3 vers – 4 Muses. II1 De´esse, – 2 immortalizer, – 3 d’Amour – 4 image. III1 esprit, – 2 yeux, – 3 nues. IV1 legers, – 2 beautez, – 3 inusite ´e. Die bewußten Verstöße gegen die »Religion« der Metriker geben dem Dichter die Möglichkeit, die Antithese zwischen männlichen und weiblichen Reimen zur Geltung zu bringen. So zieht in CXIII die Abfolge der Reime in den Quartetten aBBa aBBa, anstatt in der kanonischen Ordnung CCd EEd zu enden, eine einförmige Reihe von sechs weiblichen Versen ccd eed nach sich und läßt dadurch den Gegensatz zwischen den Quartetten und den Terzetten um so mehr hervortreten.101 Die Einheit der Komposition der vier Strophen bleibt jedoch gültig: Jede beginnt und endet mit einem weiblichen Vers: I1 iourne´e – 4 ne´e; II1 emprisonne´e – 4 empane ´e; III1 desire – 3 encore; IV1 guide´e – 3 i’adore. In Les Regrets [›Klagelieder‹] bemerkt man einige Sonette, die ausschließlich aus weiblichen Versen bestehen und Damen wie Diana von Poitiers (CLIX ) oder auch – Cette princesse & si grande & si bonne [›Dieser so großen & guten Prinzessin‹] – Katharina von Medici (CLXXI) gewidmet sind; andererseits findet man dort Sonette, deren Reime allesamt (LII), oder wenigstens diejenigen der Quartette (CLX ), männlich sind: Diese Gedichte huldigen Jean Du Bellay, Seigneur mien [›meinem Herrn‹], und Jean de Saint-Marcel, Herrn von Avanson. Es scheint angebracht, an die damals im Jahr 1548 von Thomas Se´billet geäußerte Ansicht über die spezifische Endung desjenigen Verses zu erinnern, der als männlich bezeichnet wird, »a cause de sa force et ne say que`le virilite´ qu’il ha plus que le fe´minin« [›wegen seiner Kraft und seiner gewissen Männlichkeit, von der er mehr besitzt als der weibliche‹].102 Trotz der Tatsache, daß die Reime die beiden Quartette des Sonetts miteinander vereinen, ist die Korrespondenz zwischen den Reimen innerhalb einer Strophe tendenziell stärker als die Verknüpfung zwischen den beiden Quartetten: I2 tour und 3 retour oder II2 iour und 3 seiour sind enger miteinander verbunden als die beiden Paare untereinander; ebenso vermerken wir eine enge lautliche und semantische Kohäsion zwischen II1 emprisonne´e und 4 empane´e und die *Alliteration der anlautenden *palatalen *Sibilanten, die die Beziehung zwischen I1 iourne´e und 4 chose ne´e verstärkt. Dieses Verfahren berechtigt uns, die beiden vierfachen Reime in vier binäre Beziehungen aufzuteilen und sieben Reime im Gedicht zu 101 Vgl. Vianey, Le Pe´trarquisme, S. 43; sowie Mönch, Das Sonett, S. 122. 102 Vgl. Se´billet, Art Poetique Franc¸ois, o. S.
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unterscheiden, gemäß dem zugrundeliegenden Prinzip des Sonetts (vgl. weiter oben): a 1B 1B 1a 1 a 2B 2B 2a 2 ccd eed. Die Verteilung dieser sieben Reime führt zu einer Gegenüberstellung der sieben ungeraden Verse mit den sieben geraden Versen: 1./4.; 2./3.; 5./8.; 6./7.; 9./10.; 11./14.; 12./13. Jeweils zwei Reime finden sich in jeder der vier Strophen repräsentiert: Jedes Quartett enthält zwei ganze Reime und jedes Terzett einen vollständigen Reim sowie einen Vers des zweiten Reimes. Die Verteilung der Reime auf die Strophen zeigt mehrere symmetrische Charakteristika: Das Sonett CXIII enthält vier Paarreime, einen pro Strophe: zwei männliche Reime in den Quartetten und zwei weibliche Reime in den Terzetten. In acht Fällen – den vier männlichen Versen der Quartette und den vier weiblichen Versen in den Terzetten – folgt auf den betonten Vokal des Reimes ein /r/, und insbesondere der zweite Reim jeder Strophe weist dieses Phänomen auf. Alle Verse des Sonetts ohne dieses /r/ in ihrem Reim enden mit -e´e. Die Verteilung der Reime im Sonett ist einer zusätzlichen Regel unterworfen: Wenn jeweils zwei Reime in jeder Strophe vorhanden sind, stellt der betonte Vokal des ersten dieser beiden Reime immer einen hellen, *nicht-erniedrigten (palatalen, nicht *gerundeten) Vokal einem dunklen, erniedrigten (*velaren, gerundeten) Vokal des zweiten Reimes gegenüber. Kurz, im Inneren jeder Strophe führen die betonten Vokale beider Reime einen doppelten Tonalitätskontrast vor, der konstant der Richtung von oben nach unten folgt: -e´e/ -our in den Quartetten; -ire/ -ore und -e´e/ -ore in den Terzetten. Der Reim, der das zweite Terzett eröffnet, entspricht demjenigen, der das erste Quartett einleitet, und bringt so einmal mehr Ende und Anfang des Sonetts miteinander in Verbindung. Andererseits verbindet derselbe Stützkonsonant /d/, der den anderen Strophen unbekannt ist, die drei Verse des zweiten Terzetts (guide´e – Ide´e – i’adore), ganz so wie das gemeinsame Ende (-re) alle Verse des ersten Terzetts vereint (desire – aspire – encore). Vom zweiten Reim des ersten Quartetts (B1) bis zum ersten Reim der Terzette (c) weisen die beiden einander gegenüber gestellten Wörter dieselbe Subkategorie auf (*Numerus, *Tempus und Person der Verben; Numerus und Genus der Substantive und der Verbaladjektive). Die Reimwörter der einleitenden Strophe (a1) wie auch die der letzten Strophe (e) weichen zwar in ihrer Satzfunktion voneinander ab, Numerus und Genus sind jedoch identisch: I1 iourne´e – 4 ne´e; IV1 guide´e – 2 l’Ide ´e.103 Schließlich ist der letzte Reim (d), indem er die beiden Terzette über die Satzgrenze hinweg miteinander verknüpft, der einzige rein in-
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terstrophische Reim und überdies der einzige, der ein unveränderliches Wort vorstellt und jegliche morphologische Entsprechung sowie jeglichen Stützkonsonanten verdrängt: III3 encore – IV3 i’adore (die einzige Verbform der ersten Person im Text des Sonetts). Der einzige andere Reim ohne unmittelbaren Stützkonsonanten ersetzt diesen jedoch durch Reihen verwandter *Phoneme, die Kontexten angehören, die in hinsichtlich ihrer grammatischen und semantischen Struktur parallel aufgebaut sind: III1 tout esprit desire – 2 tout le monde aspire. Die Reduktion oder gar Unterdrückung eines jeglichen grammatischen Parallelismus in den Reimen des Anfangs und des Endes des Gedichts ist eine der bedeutsamen Übereinstimmungen zwischen seinen beiden äußeren Strophen. In den Quartetten ist eines der beiden Wörter jedes Reims eine Silbe länger als das andere, während in den Terzetten alle Verse mit einem Zweisilber enden. So sind im Gegensatz zu den Reimen des Quartetts, die immer aus einer ungleichen Silbenzahl bestehen, alle Reime des Terzetts von gleicher Silbenzahl: III1 desire – 2 aspire, IV1 guide´e – 2 l’Ide´e, III3 encore – IV3 i’adore. Diese Regel erzeugt eine obligatorische Zäsur nach der achten Silbe und ein Verbot der Zäsur (ein »Zeugma« 104 ) nach der neunten Silbe in allen Versen des Terzetts.105 Diese Merkmale tragen zu einer rhythmischen Divergenz zwischen den Terzetten und den Quartetten bei. In letzteren kann die Zäsur auf die neunte Silbe des Verses folgen (I4 Si perissable est toute chose ne´e; II2 pourquoy te plaist l’obscur de nostre iour) und erscheint nur sporadisch nach der achten Silbe. In den männlichen Reimen entspricht ein einsilbiges Wort einem zweisilbigen des nachfolgenden Verses (I2 tour – 3 retour; II2 iour – 3 seiour), während es in den weiblichen Versen eines jeden Quartetts jeweils das erste Wort eines Reimes ist, das eine Silbe länger ist als das zweite, und überdies sind im zweiten Quartett die beiden Wörter des weiblichen Reims eine Silbe länger als im ersten Quartett: I1 iourne´e – 4 ne´e, II1 emprisonne´e – 4 empane ´e. So variieren die weiblichen Verse des Quartetts systematisch 103 In den weiblichen Reimen folgt auf die einzigen Substantive ein Zeilensprung: I1 iourne´e 2 En l’e´ternel; IV2 L’Ide´e De la beaute´. 104 Jakobson benutzt »Zeugma« hier wohl weniger in seiner rhetorischen Bedeutung als vielmehr in dem ursprünglichen griechischen Wortsinn »Verbindung«. [Anm. d. Komm.] 105 Zur versifikatorischen Bedeutung der Wortgrenzen vgl. das Kapitel »Slovorazdel i ego rol’ v stiche« [›Die Wortgrenze und ihre Funktion im Vers‹] in Jakobsons früher Monographie O ˇcesˇskom stiche – preimusˇˇcestvenno v sopostavlenii s russkim, S. 27–33, sowie die deutsche Übersetzung: Über den tschechischen Vers, S. 36–43. [Anm. d. Komm.]
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die Anzahl der betonten Silben in ihren Endwörtern: I1 eine Silbe – I4 keine Silbe (im Gegensatz zum Verhältnis I2 keine Silbe – I3 eine Silbe); II1 drei Silben – II4 zwei Silben. In den vier Reimen der Quartette und überdies im inneren Reim des zweiten Terzetts (e) findet sich eines der beiden aufeinander reimenden Wörter in die lautliche Kette des anderen miteinbezogen; bei den männlichen Reimen hat das erste am zweiten teil, während es bei den weiblichen Reimen das zweite ist, welches in das erste miteinbezogen ist: einerseits I2 tour – 3 retour, II2 iour – 3 seiour, und andererseits I1 iourne´e – 4 ne ´e und IV1 guide´e – 3 Ide´e; schließlich deckt sich das zweite Wort im Reim II1 emprisonne´e – 4 empane´e mehr oder weniger mit dem Anfang und dem Ende des ersten Wortes: emprisonne´e. In seinen Gedichten macht Du Bellay häufig Gebrauch von diversen *Binnenreimen, mit denen er seit seinem Recveil de poe¨sie [›Gedichtsammlung‹] von Ende 1549 experimentiert, wo im Dialogue d’un amoreux & d’echo [›Dialog zwischen einem Liebenden und Echo‹] letzteres antwortet, indem es das Ende der vom Helden gestellten Fragen wiederholt: le devoir? – de voir; devenuz? – nuds; couraige? – raige; obscure? – cure; j’endure? – dure etc.106 In den beiden männlichen Reimen des Sonetts spielt der Dichter mit der Opposition einer Wurzel ohne und mit Präfix; es gibt jedoch keine identischen Wurzeln in den weiblichen Binnenreimen desselben Gedichts. Man wird feststellen, daß die Reime einfacher Wörter »avecques leurs composez, comme un baisser & abaisser« [›mit ihren Ableitungen, wie baisser und abaisser‹] in der Deffence abgelehnt werden: Sofern die Ableitungen »ne changent ou augmentent grandement la signification de leurs simples, me soient chassez bien loing« [›die Bedeutung ihrer Grundformen nicht wesentlich verändern oder vermehren, seien sie weit fortgejagt‹].107 Die männlichen Reime unseres Sonetts schreiten vom einfachen Wort zum abgeleiteten Wort fort, während die anderen Binnenreime, die keine den beiden einander entsprechenden Wörtern gemeinsame Wurzel aufweisen, das zweite der Wörter wie ein Echo behandeln, das kürzer ist als der Ruf, auf den es antwortet. Alle Binnenreime, egal ob mit oder ohne gemeinsame Wurzel, verbinden eine gewisse semantische Affinität mit einer unterschwelligen Antithese oder »contreposition« [›Gegenüberstellung‹], gemäß dem von Jacques Peletier 108 eingeführten Begriff. So impliziert im Paar I2 tour und 106 Vgl. Du Bellay, Poe´sies, Bd. 1, S. 279. 107 Du Bellay, La deffence et illustration, Buch II, Kap. 7. 108 Peletier, L’art poe´tiqve, Bd. 1, Kap. 9.
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3 retour das erste der beiden Wörter das zweite, aber zugleich macht das Jahr, das seine Runde dreht, oder der ebenfalls im Jahr 1550 verfaßten Epistel an Salmon Macrin zufolge: L’an qui en soy retourne [›das Jahr, das in sich wiederkehrt‹],109 die Wiederkehr unserer Tage unmöglich. Die Reimwörter II2 iour und 3 seiour bezeichnen beide einen Zeitraum, doch »se´jour« [›Aufenthalt /Dasein‹] erscheint in diesem Vers wie ein Sprung von einer vorübergehenden Dauer zu einem raum-zeitlichen Bild, dem eines für einen Aufenthalt ins Auge gefaßten Raumes, und folglich wie ein Übergang von der Zeitlichkeit der Quartette zur Räumlichkeit der Terzette. Eine besondere *Paronomasie schafft eine direkte Verbindung zwischen I4 ne´e und dem gleichklingenden Ende des Wortes iourne´e; dieses wird zu einer Art Knotenpunkt zwischen dem Kern des Binnenreims I3 noz iours 〈…〉 sans retour 〈…〉 und auf der anderen Seite 4 toute chose ne´e, dem einzigen Lebewesen, das (nicht ohne erniedrigt zu werden) im Text des ersten Quartetts zugelassen wird. Es läuft ins Verderben, doch zugleich erlaubt es dem Dichter, seinen Zufluchtsort II3 en vn plus cler seiour ins Auge zu fassen.
Lauttextur Der Übergang vom zweiten Quartett zum benachbarten Terzett, d. h. von den Fragen, welche an die im Dunkel unseres Tages gefangengehaltene Seele gerichtet sind, zu den Gedanken des Fragenden über die Vorzüge eines helleren Aufenthalts, bedient sich eines Verfahrens, das die Filmtechnik ›Überblendung‹ nennt.110 Der letzte Vers des Quartetts löst sich auf und überläßt seinen Platz einem semantisch entfernten, aber in seinen lautlichen und graphischen Umrissen ähnlichen Bild (»tant en voix qu’en e´criture« [›sowohl im Laut als auch in der Schrift‹], nach dem Ausdruck des Dichters): II4 l’aele bien empane´e – III1 la, est le bien que tout esprit desire. Das doppelte /l/ von l’aele verbreitet sich in dem Terzett, das zehn *Laterale gegenüber den dreizehn in allen drei anderen Strophen nachgewiesenen /l/ enthält. Das Maximum – 5 /l/ – entfällt auf den letzten Vers dieses Terzetts und macht daraus einen wahren »vers lettrise´« [›Buchstabenvers‹]: III3 la, est l’amour, la le plaisir encore. 109 Du Bellay, Poe´sies, Bd. 1, S. 311. 110 Für die Verwendung des Begriffs der filmischen Überblendung vgl. auch Jakobsons Blake-Analyse (Jakobson: »On the Verbal Art of William Blake and Other PoetPainters«, S. 331; vgl. die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 17 f.). [Anm. d. Komm.]
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Die Annäherung des Substantivs und des Adverbs – bien – ist nicht die einzige *figura etymologica, welche die beiden inneren Strophen zusammenschweißt. Sie konfrontieren das Verb mit dem Substantiv derselben Wurzel: II2(–3) plaist L’obscur und III3 le plaisir encore. Den beiden verwandten Formen folgt sogleich ein Adverb, das mit ihnen ein Verhältnis poetischer Etymologie unterhält: II3 und IV1(–3) plus. Das Sonett XCIII derselben Sammlung zeigt uns diese drei Einheiten in einer analogen Abfolge: I2 Si l’un me plaist, l’autre me plaist aussi; II3(–2) Ce m’est plaisir de demeurer ainsi; IV2 Le plus heureux des hommes je demeure. Die Nähe von plaisir und plus wird in XCIII durch das Nebeneinander des Verbs II3 demeurer und IV2 je demeure unterstützt, das mit IV1 je meure reimt und mit III1 Amour und IV3 amer übereinstimmt; ebenso wird die Assoziation der alliterierenden Wörter plaisir und plus verstärkt durch die paronomastische Affinität der benachbarten Nomina: III3 l’amour, la le plaisir – IV1 ame au plus. (Vgl. auch die Kontiguitäten von II2 plaist 〈…〉 iour und III3 amour 〈…〉 plaisir). Eine ähnliche Affinität tritt in dem Sonett CXI der Sammlung deutlich zutage: II2 Si l’ame n’est par l’amour enflamme´e. Dieses Sonett ist mit dem Karfreitag, dem Tag der Begegnung von Petrarca und Laura beim Gottesdienst in der Kirche von Avignon, und mit den daraus hervorgehenden lauriers tousjours verds [›immergrünen Lorbeerbäumen‹] (Sonette CXV und I) verbunden, vor allem aber mit I1 jour que l’eternel amant 2 Fist par sa mort vivre sa bien aime´e. Die Verse dieses Sonetts CXI, feiern in einer Kette eindringlicher Paronomasien die Verbindung der Liebe [l’amour] mit demjenigen, der sterbend über den Tod triumphiert: IV3 Qui en mourant triomphe de la mort. Beklagt 111 werden all jene, I3 qui telle mort au cœur n’a imprime´e [›die dieser Tod im Herzen nicht geprägt hat‹], jene, die nicht imstande sind, II1 sentir ce doulx torment [›die süße Qual zu fühlen‹] und zu beweinen III1 de sa mort la memoire [›an seinen Tod die Erinnerung‹]. Weit davon entfernt, ein Einzelfall zu sein, veranlaßt uns das enge Band zwischen dem letzten Vers des ersten Terzetts und dem ersten Vers des zweiten, unser Augenmerk auf die analogen Beziehungen zwischen den anderen Versen der beiden Terzette zu richten: III2 La, le repos – IV2 Tu y pouras; III1 la est le bien – IV3 De la beaute´ (die einzige Form »la« des Artikels in CXIII). So unterstützt eine Spiegelsymmetrie diese Entsprechungen: III1 / IV3, III2 / IV2, III3 / IV1. 111 In der Vorlage steht irrtümlicherweise »plains«; ich folge der Fassung der Questions de poe´tique, »plaints«. [Anm. d. Komm.]
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Die oben festgestellte Verbindung zwischen dem Ende und dem Beginn der zwei inneren Strophen (II4 und III1) findet ein Gegenstück in der Korrelation zwischen dem Beginn und dem Ende der zwei äußeren Strophen. Die Handlung der ersten Proposition des Sonetts ereignet sich en l’eternel [›in der Ewigkeit‹], während diejenige seiner letzten Proposition en ce monde [›in dieser Welt‹] bleibt. Die drei /a˜/ des ersten Quartetts folgen dem Thema des hoffnungslos vergänglichen Lebens. Im zweiten Halbvers des zweiten Verses kehrt l’an die Reihenfolge der beiden Phoneme, die diesen Vers eröffnen, um – I2 en l’eternel (/a˜l/ – /la˜/) – gemäß der Neigung des Dichters zur »inversion de lettres« [›Umstellung der Buchstaben‹].112 Der zweite Halbvers des letzten Verses – IV3 qu’en ce monde – vertauscht seinerseits die Phoneme von I2 l’an qui fait le tour (/a˜k/ → /ka˜/) ebenso wie diejenigen von I3 sans espoir (/sa˜/ → /a˜s/). Einige Paronomasien setzen sich über das ganze Sonett hinweg fort. So begleitet die Gruppe aus einem /p/ und einem /r/, dem ein Sibilant vorausgeht oder nachfolgt, das Motiv der Verzweiflung und der Hoffnung: I3 sans espoir – 4 perissable – II1 emprisonne´e – 3 si pour voler – II1 esprit – 2 repos ou tout le monde aspire. Vgl. in dem scherzhaften Vers am Ende des Sonetts LII der Regrets die Ansammlung der /p/, zweimal gefolgt und dann, im zweiten Halbvers, zweimal eingeleitet von einem /r/: Et perdre sans profit le repos et repas. Im ersten Terzett folgt die Evokation der mit Geist begabten und nach der wohltuenden Ruhe strebenden Wesen auf das dichte Bild der mit Leben versehenen Wesen im ersten Quartett: der ›Lauf‹ [tour] der Zeit, der ›unsere Tage ohne Hoffnung auf Wiederkehr jagt‹ [chasse nos jours sans espoir de retour] und ›jedes geborene Ding‹ [toute chose ne´e] zum Untergang verurteilt. ›Die gefangene Seele‹ [L’ame emprisonne´e] ist vor eine Alternative gestellt. Das traurige Schicksal eines ›jeden geborenen Dings‹ [toute chose ne´e], das am Ende der ersten Strophe beklagt wird (I4), zieht am Anfang der folgenden Strophe (II1) die kühne Frage: Que songes-tu 〈…〉 [›Was ersehnst Du 〈…〉‹]? nach sich. So bilden die beiden benachbarten Halbverse eine lautliche Ähnlichkeit mit einer barocken Permutation einiger *distinktiver Merkmale, die zu einem wechselseitigen Austausch der palatalen *Frikative und Sibilanten und zu einem Übergang der Nasalität vom Konsonanten auf den Vokal führt. Die inneren Strophen sind weiterhin das Echo auf das Leitwort des ersten Quartetts, den Einsilber tour, indem sie seinen Vokal mit dem anlautenden oder auch dem auslautenden Konsonanten wiederholen: 112 Du Bellay, La deffence et illustration, Buch II, Kap. 8.
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II2 pourquoy 〈…〉 iour , 2 ou tout, 3 l’amour.
3
Si pour 〈…〉 seiour ; III1 que tout,
Gesamtbetrachtung Zwei Adverbiale umrahmen das Gedicht: das eine beherrscht die erste und das andere die letzte Proposition des Sonetts. Das gegenüber »nos jours« [›unsere Tage‹] unbegrenzte und unerbittliche Zeitadverbiale, I2 En l’eternel [›in der Ewigkeit‹], überläßt das Feld dem Ortsadverbiale, das eingeschränkt ist und uns angehört, IV3 en ce monde [›auf dieser Welt‹]. Die mit Leben versehenen Wesen werden im Text allesamt durch Pronominalformen bezeichnet, d. h. durch wirkliche Personalpronomina (in ihrer adverbalen Variante) oder auch durch Substantive, die von einem pronominalen Adjektiv begleitet werden. Der Autor des Sonetts ist das einzige Individuum der Klasse der belebten Wesen, das im Kontext des Gedichts präsent ist. Unter seinem vollständigen Aspekt tritt er dort, gemäß den von Damourette & Pichon eingeführten Begriffen, als »Lokutor« [›Sprecher‹] auf und unter einem Teilaspekt als »Allokutor« [›Adressat‹]. Das sprechende Subjekt wird durch das Pronomen der ersten Person bezeichnet, das nur ein einziges Mal auftritt, ganz am Ende des Sonetts, wo es eine emphatische und bedeutungsvolle Verbindung mit dem abschließenden Adverbial eingeht: qu’en ce monde i’adore. Auf der anderen Seite sind es die Anrede II1, IV1 mon ame und die Pronominalformen II1,4, IV2 tu und II2 te, die den schweigenden Gesprächspartner ansprechen.113 113 Die bemerkenswerte Rolle, die bei den Lyrikern dieser Zeit die Anordnung der Pronomina der ersten und zweiten Person Singular und der Possessiva, die sich auf diese beiden Personalpronomina beziehen, spielt, wird sehr schön in den beiden Maurice Sce`ve gewidmeten Gedichten veranschaulicht, wovon das eine von Pontus de Tyard gegen Ende 1549 am Beginn der Erreurs amoureuses veröffentlicht wurde, das andere von Du Bellay in L’Olive avgmente´e (Ende 1550) unter der Nummer CV. Ihre Strophen sind rings um das Zentrum des Adressaten und des Sprechers der Lobrede angelegt. Distributionsregeln: – Bei Tyard: A) I, III Pronomen und Possessivum 2. Pers.; II, IV Pronomen (und IV Possessivum) 1. Pers.; B) I, III Absenz des Pronomens und des Possessivums 1. Pers.; II, IV Absenz des Pronomens (und IV des Possessivums) 2. Pers.; C) I, II Präsenz und III, IV Absenz der Personalpronomina in Objektskasus. – Bei Du Bellay, CV: A) I, III Pronomen (I) oder Possessivum (III) 2. Pers.; II, IV Pronomen und Possessivum 1. Pers.; B) I, III Absenz des Pronomens und des Possessivums 1. Pers.; II, IV Absenz des Pronomens (und IV des Possessivums) 2. Pers.
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Außer den beiden Teilnehmern an diesem inneren Dialog findet in dem Sonett nur die Gesamtheit – oder jedes einzelne – der belebten Wesen eine Bezeichnung mittels der Pronominalform »tout«, sei es ohne oder mit einem *Determinanten und einem Substantiv hinzugefügt, dessen eigentlicher Sinn nicht auf menschliche Wesen verweist: I4 toute chose ne´e, III1 tout esprit; 2 tout le monde. Nur die beiden letzten dieser drei synonymen Subjekte vollziehen eine Handlung, während dasjenige der ersten Strophe, das als einziges mit einem abwertenden Begriff markiert ist, dem Zahn der Zeit zum Opfer fällt. Auf der anderen Seite wird die in der dritten Strophe als Gesamtheit der menschlichen Wesen konzipierte ›Welt‹ [monde] in der folgenden Strophe vom Subjekt des Satzes in ein einfaches Adverbial verwandelt, das mit dem letzten Subjekt – je [›ich‹] – verbunden ist und sich die Bedeutung von ici-bas [›hier unten‹], nämlich der Erde mit ihren Bewohnern, im Gegensatz zu au plus hault [›im höchsten Himmel‹] ciel aneignet. Mit dem Kontrast von himmlisch und irdisch – II3/2(–3) und IV1(–3)/3 – ist die Antithese der aufsteigenden Bewegung und eines unabänderlichen Zustands verknüpft (vgl. II3 voler en vn plus cler seiour und IV3 qu’en ce monde i’adore). Die beiden polaren Aspekte der Menschheit – das Individuum und das Universum – sind in dem Sonett mit Hilfe des Pronomens oder Pronominaladjektivs ausgedrückt: je, tu, mon einerseits, tout, ce andererseits. Alle anderen Substantive des Sonetts sind nicht-greifbare *Abstrakta, mit Ausnahme des Verses, der die Quartette abschließt. Seine zwei Substantive sind sichtlich materiell, und darüber hinaus hat das zweite von ihnen ein Attribut von sehr greifbarem Charakter. II4 Tu as au dos l’aele bien empane´e [›Du hast den wohlgefiederten Flügel auf dem Rücken‹]. Nun ist die offenkundig metaphorische Bedeutung des reich mit Federn besetzten (!) Flügels (!), der den Rücken (!!) der Seele schmückt, ohne jeden Zweifel ein absichtlich groteskes Element. In einer geistreichen Übersicht »Sur la typologie des langues naturelles: Essai d’interpre´tation psycho-linguistique« [›Über die Typologie der natürlichen Sprachen: Versuch einer psycholinguistischen Interpretation‹] 114 bewertet der berühmte Mathematiker Rene´ Thom (Institut des hautes e´tudes scientifiques) 115 die relative »semantische Dichte« der grammatischen Kategorien. Diesem Ansatz zufolge »ist die semantische Dichte des Verbs derjenigen des Substantivs prinzipiell unterlegen«, und »das 114 Thom, »Sur la typologie des langues naturelles«, S. 233–248. 115 Der Mathematiker Rene´ Thom (1923–2002), Erfinder der Katastrophentheorie, hat auch zur Linguistik wichtige Beiträge vorgelegt. [Anm. d. Komm.]
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Adjektiv liegt hinsichtlich seiner Dichte zwischen Substantiv und Verb; es teilt mit dem Substantiv dessen invariantes Wesen, unabhängig von der Zeit«.116 Was uns im Rahmen der vergleichenden Analyse der grammatischen Kategorien, zu der uns der Autor von L’Olive CXIII bewegt hat, besonders interessiert, sind die Ansichten des Topologen 117 über die Fluktuationen der Dichte und ihrer qualitativen Differenzen im Inneren ein und derselben Kategorie. »So ist ein *abstraktes *Nomen actionis (wie etwa Tanz von tanzen, Lauf von laufen… etc.) schwerlich dichter als das Verb, von dem es abgeleitet ist. Je abstrakter ein Substantiv wird, desto weniger dicht ist es in semantischer Hinsicht.« 118 Die abstrakten Begriffe, die mehrheitlich aus Verbalsubstantiven und zeitlichen Maßeinheiten bestehen, kurz, das Grundkorpus der Substantive des Sonetts, lassen allesamt eine Verminderung der Dichte sichtbar werden und nähern sich dem Verb an. Desgleichen stellt man einen Rückgang der Dichte in den beiden adjektivischen Substantiven fest, von denen jedes durch den Parallelismus der mit que beginnenden Relativsätze am Anfang und Ende des abschließenden Sechszeilers hervorgehoben wird: III1 le bien que tout esprit desire – IV3(–1) la beaute´ qu’en ce monde i’adore. Die unklar gezeichneten Grenzen charakterisieren nicht nur die Substantive im Verhältnis zu Adjektiv und Verb, sondern auch die Adjektive des Sonetts, die ihre übliche Funktion als Attribute abzulegen versuchen und sich in dieser Rolle durch die adjektivischen oder reinen Partizipien ersetzen lassen. Das einzige Adjektiv, das als prädikative Ergänzung dient, I4 perissable, ist eine Ableitung von einem Verb. Auf der anderen Seite tragen die substantivierten Adjektive dazu bei, die Grenze zwischen dem Adjektiv und der tiefsten Schicht des grammatischen Systems, nämlich der des Substantivs, zu verwischen. Die Adverbien, die Thom als eine weniger dichte Kategorie denn die der Substantive, Adjektive und Verben charakterisiert,119 dienen zur Quantifizierung der Attribute des Sonetts – II4 bien empane´e, 3 plus cler, IV1 plus hault. In der Konstruktion – I1 est moins qu’vne – verdrängt oder ersetzt das Steigerungsadverb das prädikative Adjektiv. Die beiden Höhenkämme des grammatischen Systems, das Substantiv und das Verb, wovon das eine das Wort als Zeichen einer Entität und das 116 Thom, »Sur la typologie des langues naturelles«, S. 237. [Anm. d. Komm.] 117 Thom ist insbesondere mit Arbeiten zur Topologie, einem Teilgebiet der Mathematik, hervorgetreten. [Anm. d. Komm.] 118 Thom, »Sur la typologie des langues naturelles«, S. 238. [Anm. d. Komm.] 119 A. a. O., S. 238. [Anm. d. Komm.]
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andere dieses als Zeichen eines Vorgangs (Existent und Okkurent gemäß der Dichotomie Sapirs 120) behandelt, spielen eine grundlegende Rolle in der Struktur des Sonetts, »indem sie einander mit wechselseitigen Reflexen entflammen« 121 und uns die zauberhaften Transpositionen enthüllen. Das Motto Ste´phane Mallarme´s veranlaßt mich, den anderen großen Symbolisten, Alexander Blok, zu zitieren, der im Vorwort zu dem Poem Vozmezdie [›Vergeltung‹] »das tragische Bewußtsein des gänzlich Unvereinbaren und Unauflöslichen in seinen Widersprüchen, die unversöhnlich fortdauern und zugleich ihre Lösung fordern«,122 zutage treten läßt. So bleibt von den Widersprüchen, welche die darüber nachsinnende Seele ratlos machen, die in CXIII hervorgehobene Antinomie – nämlich diejenige zwischen der irdischen Anbetung der Schönheit und dem geistigen Verständnis ihrer Idee au plus hault ciel [›im höchsten Himmel‹], »qu’on ne puysse ny des yeux, ny des oreilles, ny d’aucun sens apercevoir« [›die wir weder mit den Augen noch mit den Ohren noch mit irgendeinem anderen Sinnesorgan wahrnehmen können‹] – trotz ihrer Schärfe unlösbar. Während wir zu vermeiden versuchen, in den Text des Werkes etwas hineinzulegen, was dort nicht ist, stellen wir fest, daß sein Schlußterzett sieben Paare von Gegensatzbegriffen enthält, die es gebraucht, um einen antithetischen Parallelismus der beiden Aspekte der Schönheit zu entfalten: – La, o mon ame au plus hault ciel guide´e! Tu y pouras recongnoistre l’Idee De la beaute´ – [beaute´], qu’en ce monde i’adore. – Dort, oh meine Seele, in den höchsten Himmel geleitet! Du wirst dort erkennen können die Idee Der Schönheit – [Schönheit], die in dieser Welt ich verehre.
1. Die schrittweise Initiation in das Vermögen, ›die Idee der Schönheit wiederzuerkennen‹ (recongnoistre l’Ide´e De la beaute´ ), wird in der letzten Proposition des Sonetts plötzlich dem leidenschaftlichen Akt ihrer spontanen Anbetung gegenübergestellt. 2. Die Aktualität des i’adore [›ich verehre‹] ersetzt den potentiellen Charakter des Verbs pouras [›du wirst können‹]. 120 S. Sapir, Totality, S. 3. Vgl. auch Anm. 23 in der dt. Übersetzung von Jakobson, »On the Verbal Art of William Blake and Other Poet-Painters« in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 11. [Anm. v. I.M.] 121 S. o. S. 555, das vorangestellte Mallarme´-Motto. [Anm. d. Komm.] 122 Vgl. Blok, Stichotvorenija i poe˙my (1917–1921), S. 48–51, hier: S. 48. [Anm. d. Komm.]
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3. Im Vergleich zum präsentischen 3 i’adore markiert die vorhergehende Form 2 pouras recongnoistre [›du wirst erkennen können‹] eine für die Zukunft ins Auge gefaßte Handlung, die somit zeitlich fern ist. 4. Von den beiden Adverbialen bezeichnet das eine – 1 au plus hault ciel [›im höchsten Himmel‹] – die maximale Entfernung und das andere – 3 en ce monde [›auf dieser Welt‹] – die nächste räumliche Nähe. 5. Die Schönheit aus Fleisch und Blut, die en ce monde [›in dieser Welt‹] vom Dichter angebetet wird, folgt im letzten Vers des Sonetts auf die »espece imaginative« [›gedachte Erscheinung‹], die man laut der Deffence »puysse comprendre seulement de la cogitation et de la pense´e« [›nur mit der Reflexion und dem Denken begreifen kann‹].123 In der Wortverbindung l’Ide´e De la beaute´ enthüllt das adnominale Substantiv das partitive Wesen der Synekdoche.124 Der Argumentation von Rene´ Thom zufolge »ist dies die allgemeine Situation: In einem Genitiv der Form X de Y [›X von Y‹] erfährt der Begriff Y generell eine Art von semantischer Zerstörung, die fast den gesamten Bedeutungsinhalt aufhebt, um davon lediglich ein verbales oder raum-zeitliches Band mit X zu bewahren«.125 Dort ist die Idee der Schönheit übergeordnet, während es innerhalb des letzten Verses die Schönheit ist, die man demjenigen, der sie verehrt, syntaktisch übergeordnet findet. 6. Von den beiden Bilderreihen bezeichnet die letzte schließlich die erste Person, das »je« [›Ich‹] des Autors (IV3 i’adore), während der vorhergehende Text lediglich das »tu« [›Du‹] der zweiten Person aufweist. Bis zum vorletzten Vers (IV2 Tu y pouras) wird nur auf den Adressaten der Nachricht fokussiert, während der Sprecher selbst außerhalb des Textes bleibt. 7. Die Anrede, welche die zweite Person spezifiziert, IV1 mon ame, verändert den Bezug zwischen dem Absender der Nachricht und ihrem Adressaten in ein Verhältnis von Ganzem und Teil; das »moi« [›Ich‹], Körper und Seele, wendet sich an die Seele allein, die eine Art von Synekdoche im Verhältnis zum vollständigen Individuum wird, das sich erst im letzten Vers des Sonetts zu erkennen gibt. Diese siebenfache Opposition des Nahen oder Ungeteilten und des Fernen oder Getrennten, die wir im Epilog des Sonetts feststellen, unterscheidet sich grundsätzlich von dem Bild, das Leo Spitzer davon in seinem 123 Du Bellay, La deffence et illustration, Buch II, Kap. 1. 124 Vgl. Jakobson »Linguistics and Poetics«, S. 41; dt. Übs. in dieser Ausgabe Bd. 1, S. 190. [Anm. d. Komm.] 125 Thom, »Sur la typologie des langues naturelles«, S. 243. [Anm. d. Komm.]
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Essay von 1957 sowie in seiner Retrospektive zeichnet, die er 1960 in Rom präsentiert und publiziert hat: Vor dreißig Jahren hatte ich darin einen Rhythmus entdeckt, der die Stimme beim Lesen zwingt, sich bis zum Ende beständig zu heben: wo die platonische Idee – die Idee der Schönheit – wie in der Epiphanie einer Göttin erscheint; und dieses stimmliche Muster war mir als charakteristisch für die platonische Idee erschienen, die sich über die Erde zu einem Gipfel aufschwingt, der nicht mehr für die irdische Anbetung geschaffen ist.126
Das Sonett offenbart die Schönheit in einem einmütigen Konflikt der beiden Sichtweisen, die der Dichter selbst in seiner satirischen Botschaft »A une dame« [›An eine Dame‹] voneinander trennt: 153
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Si vous trouvez quelque importunite´ En mon amour, qui vostre humanite´ Pre´fe`re trop a` la divinite´ De vos graces cache´es, Je choisiray cent mille nouveautez, Dont je peindray vos plus grandes beautez Sur la plus belle Ide´e.127 Wenn Ihr irgendeine Aufdringlichkeit In meiner Liebe findet, die Eure Menschlichkeit Zu sehr der Göttlichkeit Eurer verborgenen Anmut vorzieht, So wählte ich hunderttausend Neuheiten, Von denen ich Eure größten Schönheiten Über die schönste Idee malte.
Editorische Notiz Zuerst als Vorlesung auf dem internationalen Kongreß über »Premarinismo e Pregongorismo« der Accademia Nazionale dei Lincei in Rom am 20. April 1971 gehalten und später in Fontainebleau im Herbst 1971 für die Publikation in den Kongreßakten ausgearbeitet.
126 Spitzer, »Sviluppo di un metodo«. [Anm. v. R.J.] – Jakobson gibt dieses Zitat Spitzers in französischer Übersetzung wieder. Hier das italienische Original nach der Fassung des Erstdrucks, S. 194: »trent’anni fa vi avevo scoperto un ritmo che, nella letteratura ad alta voce, costringe la nostra voce ad elevarsi continuamente sino alla fine quando l’idea platonica, l’ide´e de la Beaute´, appare come nell’epifania di una dea, e questo disegno vocale mi era sembrato caratteristico dell’idea platonica che ci innalza al di sopra della terra, a una cima di adorazione non terrena.« [Anm. d. Komm.] 127 Du Bellay, Recueil de poe´sie, 1553, XVIII: »A une Dame«. [Anm. d. Komm.]
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Die grammatische Textur eines Sonetts aus Sir Philip Sidneys Arcadia 1 Übersetzung aus dem Englischen Lavinia Brancaccio [L. B.] und Stephan Packard
Kommentar Hans Walter Gabler Roman Jakobson hat seine Analyse des *Sonetts »Loved I am, and yet complain of Love« aus der ersten Fassung von Sir Philip Sidneys »The Countess of Pembroke’s Arcadia« der Amerikanerin und anglistischen Sprachwissenschaftlerin Margaret Schlauch gewidmet. Als Marxistin geriet Margaret Schlauch in die Wirren der McCarthy-Verfolgungen. Sie lehrte demzufolge in Warschau und später in Reykjavik. Die Festschrift zu ihrem 60. Geburtstag, zunächst bei der Nachfeier in Warschau im Jahre 1960 vervielfältigt, erschien dort schließlich 1966. Einen Text aus der englischen Literatur zur grammatischen Analyse auszuwählen, war zweifelsohne eine Hommage Jakobsons an die Fachkollegin aus der Anglistik. Ob die Wahl gerade eines Sonetts von Sir Philip Sidney, das in eine der Countess of Pembroke, des Dichters Schwester, gewidmeten Prosaromanze eingelassen ist, für den Gratulanten noch eine private Motivation gehabt haben mag, sei dahingestellt. Gegenüber der wissenschaftlichen Öffentlichkeit fügt sich sein Aufsatz ein in die Reihe seiner weitgehend unbeachtet gebliebenen Arbeiten zu englischer Lyrik. Im vorliegenden Band werden insbesondere aus Anlaß von Jakobsons Shakespeare-Analyse einige Gründe für diese Echolosigkeit benannt. Im Kern dürfte Unverständnis dafür verantwortlich zu machen sein. Der im anglo-amerikanischen »literary 1
Vorlage: Jakobson, Roman Osipovicˇ: »The Grammatical Texture of a Sonnet from Sir Philip Sidney’s Arcadia«, in: SW III, S. 275–283. Erstdruck in: Studies in Language and Literature in Honour of Margaret Schlauch, hg. v. Mieczysław Brahmer u. a., Warschau: PWN (Polish Scientific Publishers) 1966, S. 165–173. [Anm. d. Übs.]
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criticism« dominanten literaturästhetischen Wertungskritik mußte Jakobsons sprachwissenschaftlicher Formalismus fremd anmuten und als nichts weiter denn als ein Aufzeigen von aus Sprache und Sprachverwendung herzuleitenden *Struktur- und Performanzmustern erscheinen. Verborgen blieb, daß sein linguistisches Verfahren, beim Wort und Gestus genommen, sich durchaus an der Poesie bewährt, und daß ein großes Literatur- und ausgeprägtes Qualitätsbewußtsein eine unausgesprochene, doch wirksame Voraussetzung für Jakobsons Auswahl literarischer Texte gewesen sein muß. Mit »Loved I am, and yet complain of Love« analysiert er ein Sonett aus der Feder des Adligen, Staatsmannes, Diplomaten, Soldaten, Humanisten, Schriftstellers, Poeten und Dichtungstheoretikers Sir Philip Sidney (1554–1586), der, wiewohl allzu jung an einem ärztlichen Kunstfehler bei der Behandlung einer Kriegsverwundung gestorben, im historischen Bewußtsein noch immer als die vielleicht universalste literarische Begabung der englischen Renaissance fortlebt. Hans Walter Gabler
The poet, Sidney said, is a ›maker‹, and 〈…〉 his own central preoccupation was with structure. Der Dichter, so Sidney, ist ein »Macher« und 〈…〉 seine eigene Hauptsorge galt der Struktur. William A. Ringler 2
Laut The Countess of Pembroke’s Arcadia, der Prosaromanze,3 die Sir Philip Sidney um das Ende der 1570er Jahre verfaßte, verkleidet sich Pyrocles, Prinz von Macedon, als Amazone, um Zugang zur schönen Philoclea zu erhalten, die zurückgezogen mit ihren Eltern lebt: Basilius, dem Grafen von Arkadien, und Gynecia. Pyrocles’ erstes Liebeslied an die Jungfrau deutet seine Verkleidung als tatsächliche Wandlung: 2 3
The Poems of Sir Philip Sidney, hg. v. Ringler, S. lix. Dieser Begriff bezeichnet lose strukturierte und gattungsmischende Prosaerzählungen im Übergang vom mittelalterlichen Versroman zur modernen Erzählgattung des Romans, wie sie für die Literatur Englands im 16. und 17. Jahrhundert charakteristisch sind. The Countess of Pembroke’s Arcadia ist in zwei markant unterschiedenen Autorfassungen überliefert. Sie ist an wundersam-romantischen Liebesbegebenheiten reich, mit Lyrik durchsetzt und in fünf Akte großgegliedert. [Anm. d. Komm.]
Die grammatische Textur eines Sonetts aus Sidneys Arcadia
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What marvaile then I take a woman’s hew, Since what I see, thinke, know is all but you? Was Wunder dann, daß ich einer Frau Anschein annehme, Da, was ich sehe, denke, weiß, alles bloß du bist? 4
Sogar der von dem Prinzen angenommene Name Cleophila ist nur ein *Anagramm 5 von Philoclea. Die vorgebliche Amazone stößt auf Philocleas »unbeholfene Liebe«, Gynecias verkehrte Leidenschaft und Eifersucht auf ihre Tochter und das fehlgeleitete Begehren des Grafen. So durchzieht pyÄr, das ›Feuer‹, der versteckte Bestandteil im Namen des Prinzen, alle vier genannten Figuren – Basilius, der »doth yeeld the bravest fire« [›im kühnsten Feuer brennt‹], seine Frau, »with two strange fires of equall heate possest, the one of Love, the other Jealousie« [›von zwei seltsamen Feuern gleicher Hitze erfaßt, eines der Liebe, das andere der Eifersucht‹], deren Tochter, »with gripe of inward fire« [›verzehrt von einem inneren Feuer‹], und schließlich Pyrocles, der sich fragt: »What hope to quench, where each thing blowes the fire?« [›Welche Hoffnung zu löschen, wenn jedes Ding das Feuer anfacht?‹]. Verkleidet als Cleophila und »oppressed with being loved almost as much as with loving« [›fast ebenso sehr erdrückt vom Geliebtwerden wie vom Lieben‹], singt er diese »passionate verses« [›leidenschaftlichen Verse‹]: 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14
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Loved I am, // and yet / complaine of Love: As loving not, / accus’d, // in Love I die. When pittie most / I crave, // I cruell prove: Still seeking Love, // love found / as much I flie. Burnt in my selfe, // I muse / at others’ fire: What I call wrong, // I doo / the same, and more: Bard of my will, // I have / beyond desire: I waile for want, // and yet / am chokte with store. This is thy worke, // thou God / for ever blinde: Though thousands old, // a Boy / entit’led still. Thus children doo / the silly birds they finde, With stroking hurt, / and too much cramming kill. Yet thus much Love, // O Love, / I crave of thee: Let me be lov’d, // or els / not loved be.6
The Poems of Sir Philip Sidney, S. 12. – Versuch einer poetischeren Übersetzung als Ergänzung: ›Wen wundert’s dann, daß zum Weib ich wandle mich, Wenn all mein Sehen, Denken, Wissen kreist um dich?‹ [Anm. v. L.B.] Ein Schlüsselphänomen in Jakobsons Wahrnehmung gedichteter Sprachstrukturen. [Anm. d. Komm.] The Poems of Sir Philip Sidney, S. 41. Es muß darauf hingewiesen werden, daß die
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Geliebt bin ich, und doch leide ich an der Liebe: Als nicht liebend angeklagt sterbe ich in Liebe. Wenn Mitgefühl am meisten ich ersehne, erweise ich mich grausam: Stets Liebe suchend, wenn Liebe gefunden, flieh ich sie ebenso. Verbrannt in meinem Selbst, erstaune ich über das Feuer anderer: Was ich falsch nenne, tue ich ganz gleich, und mehr: Von meinem Wollen abgeschnitten, besitze ich übers Begehren hinaus: Ich schrie vor Mangel, und doch ersticke ich an Fülle. Dies ist dein Werk, du Gott auf immer blind: Obschon Jahrtausende alt, ein Knabe noch genannt. Kinder verletzen so mit Streicheln Geschwächte Vögel, die sie finden, und stopfen sie zu Tode. Doch so viel Liebe, O Liebe, fordere ich von dir: Daß ich geliebt sei, oder sonst sei nicht geliebt.7
In den Sonetten, Sidneys bevorzugter Form, weist seine Reimverteilung eine große Vielfalt an Modellen auf, doch ist die Zahl der Varianten in seiner frühen Dichtung noch sehr beschränkt, besonders in Arcadia, wo
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Zeichensetzung in diesem Sonett und in Sidneys Lyrik allgemein abweicht vom Muster des Dichters. »Seine Zeichensetzung war sparsam, und wenn er schnell dichtete, dann benutzte er praktisch gar keine. Er gebrauchte Komma und Punkt, 〈…〉 und gelegentlich Doppelpunkt und Klammern; doch er machte nie Gebrauch von Strichpunkt, Fragezeichen, Ausrufezeichen oder Gedankenstrich« (a. a. O., S. lxiv). Die Schreibweise und Zeichensetzung des gedruckten Texts sind »diejenigen der Kopisten des sechzehnten Jahrhunderts; sie sind nicht Sidneys und spiegeln nicht die Verwendungen wider, die sich in seinen Prosahandschriften finden« (a. a. O., S. lxvi). [Anm. v. R.J.] – Die Untergliederung mit einfachen und doppelten Schrägstrichen gehört nicht zur zitierten Ausgabe, sondern stammt von Roman Jakobson. Jakobson erläutert die Funktion dieser Schrägstriche unten S. 613 selbst: Sie kennzeichnen die *Diäresen im Text: durchgehend vor und außer v. 11 u. 12 auch nach dem dritten Versfuß. Doppelte Schrägstriche stehen dabei für die syntaktisch relevanteren Pausen. [Anm. d. Komm.] Eine deutsche Nachdichtung von Martin Opitz – die aus dem Formzwang des Sonetts heraus allerdings das Bild der Zeilen 11–12 des Originals ausläßt – ist enthalten in Hirschberg, Arcadia der Gräffin von Pembrock, S. 326: »Ich lieb’/ vnd werd geliebt; doch kan ich mich beschweren/ Daß ich nichts anders noch empfind’ als Noth und Pein; Die Liebe muß mir Leydt/ der Trost offt Vnmuth seyn; Je mehr ich Gutes hab’/ je mehr will ich begehren. Zwar ich begehr’/ vnd muß doch die Begier verdammen: Ich trachte nach der Lieb’/ vnd fliehe wer mich liebt: Thu als mich Liebesbrunst von Herzen sehr betrübt/ Sprech’ ich sei gantz von Eyß/ vnd bin doch nichts als Flammen. Diß ist/ O kleiner Gott/ dein thun/ dein schimpff vnd schertzen/ Du siehst nicht/ bist stockblind/ und führst die blinden Hertzen; Bist alt wol tausendt Jahr’/ vnd bleibst doch stäts ein Kind. O Liebe weil ich nur auff dich mein Glücke schiebe/ Weil alle Menschen dir gantz vnterworffen sind/ Hilff daß ich sey geliebt/ so; oder selbst nicht liebe.« [Anm. d. Übs.]
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der einzig verwendete Typus das Muster des oben zitierten Sonetts ist.8 Die 14 Zehnsilbler dieses Gedichts sind in drei abgesetzte Quartette mit je eigenem *Kreuzreim und ein abschließendes Zeilenpaar gegliedert (abab cdcd efef gg); 9 thematisch und grammatisch hingegen sind sie dreigeteilt, wobei diese Teile eine geometrische Regression bilden: 8 + 4 + 2 (Oktett, Quartett und Couplet). Das einzige grammatische Subjekt und der Held des einleitenden Oktetts, der in jeder seiner Zeilen bezeichnet wird, ist ›I‹ [›Ich‹], während alle *Objekte, sowohl die direkten wie auch die präpositionalen, in ihrer abstrakten Bedeutung verwendete und artikellose Substantive sind: love [›Liebe‹] (viermal), pittie [›Mitleid‹], fire [›Feuer‹], will [›Wille, Wollen‹], desire [›Begehren‹], want [›Verlangen‹], store [›Vorrat, Fülle‹]. Kein Adressat wird in diesen acht Zeilen erwähnt; doch ›thou‹ [›du‹], das Personalpronomen in der zweiten *Person, in den Appositionen als Personifikation der Liebe *apostrophiert, wird zum Adressaten und Helden des folgenden, dritten Quartetts, wohingegen ›I‹ [›Ich‹], das im ersten und zweiten Quartett zehnmal auftrat, im dritten unterdrückt wird; und ebenso weicht das Possessivpronomen ›my‹ [›mein‹] dem ›thy‹ [›dein‹]. Sowohl ›I‹ [›Ich‹] als *Adressant als auch ›thou‹ [›du‹] als Adressat erscheinen zusammen im letzten, zusammenfassenden Couplet. Die grammatische Dynamik des Gedichts wird auch von seiner klanglichen Gestaltung gestützt. In der Folge I die [›Ich sterbe‹] am Ende der zweiten Zeile bildet der auslautende Diphthong des Verbs ein Echo zu dem Pronomen ›I‹ [›Ich‹]; und jedes der drei Quartette verstärkt noch dieses Echo, indem nämlich derselbe Diphthong in je einem ihrer beiden Reime wiederholt wird: 2 I die – 4 I flie; 5 fire – 7 desire; 9 blinde – 11 finde. Das Pronomen der zweiten Person ›thou‹ [›du‹], das zu Beginn des dritten Quartetts auftaucht, generiert eine *Alliterationskette von Worten mit stimmhaftem Interdental 10, der, nach Whorfs Formulierung, »im Anlaut nur in dem Kryptotyp der demonstrativen Partikeln« 11 (man würde wohl eher sagen »relationale Wörter«) erscheint: 9 this, thy, thou, 10 though, 11 thus, the, they, 13 thus, thee. Die Kette wird noch verstärkt durch den 8 9
Siehe The Poems of Sir Philip Sidney, S. lviiif. u. 570 f. Dies ist die als ›Shakespeare-Sonett‹ bezeichnete Formvariante, welche in der englischen Dichtung mit und nach Sidney für die Renaissance und weit darüber hinaus zur geläufigsten wurde. [Anm. d. Komm.] 10 Konsonant, der mit der Zunge zwischen den Schneidezähnen gebildet wird. [Anm. v. I.M.] 11 Whorf, Language, Thought and Reality, S. 76. [Anm. v. R.J.] – Dt. Übs.: Sprache, Denken, Wirklichkeit, S. 122. [Anm. d. Komm.]
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stimmlosen Interdental in 10 thousands, wohingegen das Sonett außerhalb dieser Passage keine anlautenden Interdentale aufweist. Im Unterschied zum einleitenden Oktett und zum abschließenden Couplet enthält der zweite, mittlere Gedichtabschnitt nur Subjekte in der dritten Person und keine anderen. Dieser *Kontrast wird entweder verstärkt durch einen unbelebten Referenten des Demonstrativpronomens (this is thy worke [›dies ist dein Werk‹]) oder durch den Plural des Subjekts (children, they [›Kinder‹, ›sie‹]). Das Pronomen der zweiten Person tritt nur als Anrede auf (thou God [›du, Gott‹]) oder aber in der possessiven Form (thy worke [›dein Werk‹]). Während das einleitende Oktett einige grundlegend konkrete Verben und *Nomina aufweist (wie die, flie, burnt, fire, store [›sterbe, fliehe, verbrannt, Feuer, Fülle‹]), und zwar in ihrer übertragenen, peripheren, abstrakten Bedeutung, tauchen im mittleren Abschnitt Personifikationen auf (God, boy [›Gott‹, ›Knabe‹]); und im abschließenden Vergleich wird das Kleinkind Cupido verwandelt in ein Bild von Kindern, die, sie streichelnd und überfütternd, die birds they finde [›Vögel, die sie finden‹] verletzen und töten. Die enge Verbindung zwischen der *metaphorischen Apposition der zehnten Verszeile und dem folgenden Vergleich wird unterstützt durch die auffallende Ähnlichkeit in der lautlichen Beschaffenheit der beiden Zeilen: »Though /ð-/ thousands /u-ndz/ old /-ld/, a Boy entit’led /-nt-ld/ still /stıl/, Thus /ð-/ children doo /-ıld-nd-/ the /ð-/ silly /sıl-/ birds /-dz/ they /ð-/ find /-nd/«. Dieses Quartett häuft belebte Substantive an, die mit Artikel versehen sind, und ›konklusive‹ Verben (in Jespersens Terminologie).12 Des weiteren unterscheidet auch das Vorhandensein von *Epitheta (blinde, old, silly [›blind‹, ›alt‹, ›geschwächt‹]) dieses Quartett vom Rest des Sonetts. Die gesamte grammatische Struktur des letzten Quartetts unterscheidet sich von den ersten beiden; 13 seine bildhaften Ausdrücke, die die wörtlichen Bezeichnungen des Oktetts ersetzen, werden in seiner ersten Zeile eingeführt mittels eines Gleichungssatzes mit einem direkten Übergang von der Hilfsverb- (8 am chokte [›bin erstickt‹]) zur *Kopula-Funktion (9 this is thy worke [›dies ist dein Werk‹]) des Verbs to be [›sein‹]. Dieser Satz ist mit dem vorangehenden Quartett über eine alliterierende 12 Jespersen, Essentials of English Grammar, § 23.92, S. 249: »conclusive verbs«. [Anm. v. R.J.] – Nach Bußmann (Hg.), Lexikon der Sprachwissenschaft, S. 565 (s. v. »resultativ«), sind dies »verbale Ausdrücke, die einen Vorgang bezeichnen, der zu einem Abschluss führt«. [Anm. d. Komm.] 13 Jakobson gibt hier am Beispiel eine formal-grammatische Begründung der sog. ›Volta‹, also des argumentativen, und damit strukturellen, Angelpunkts eines typischen Sonetts. [Anm. d. Komm.]
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Kette von Wörtern verbunden, die ein w in ihrer ersten Silbe aufweisen, und zwar über die ersten Halbverse vier aufeinanderfolgender Zeilen hinweg: 6 what – wrong – 7 will – 8 waile – want – 9 work.14 Während ein jeder dieser Halbverse in der letzten betonten Silbe ein w aufweist, erscheint dieses Phonem in keiner anderen *Hebung des Sonetts. Zur Verstärkung des abschließenden Vergleichs taucht im dritten Quartett an Stelle der neutralen deklarativen Form, die bis dahin das ganze Gedicht hindurch Verwendung findet, eine emphatische bestätigende Konstruktion (11 children doo 〈…〉 12 hurt, and 〈…〉 kill [›11 Kinder tun 〈…〉 12 verletzen, und 〈…〉 töten‹]) auf, die die letzen beiden Zeilen des Quartetts mit einem *Enjambement versieht, das ansonsten in diesem Sonnet unüblich ist. So fehlen der vierten wie auch der zweiten Verszeile dieses Quartetts finite Verbformen, die für alle anderen Verse des Sonetts obligatorisch sind. Es besteht eine auffällige semantische Entsprechung zwischen der Sequenz 11 Thus children doo und der vorhergehenden Zeile 6 What I call wrong, I doo the same, and more [›Was ich nenne falsch, ich tue das selbe, und mehr‹], obschon doo vom Vollverb in ein Hilfsverb umgewandelt worden ist. Während sich in jeder Zeile des Sonetts eine *Zäsur (zwingende *Wortgrenze) nach der vierten Silbe ausmachen läßt, fällt die zweite Zäsur – nach der sechsten Silbe – nur in den zwei Verszeilen des Vergleichs (elfte und zwölfte) weg. Die erste dieser beiden Zäsuren ist die syntaktisch relevantere, außer in der zweiten und dritten Zeile des Gedichts, in denen die obligatorische syntaktische Zäsur nach und nicht vor dem dritten Versfuß zu finden ist. Diese zwei Verse zeigen eine auffällige semantische Verschiebung. Jede Zeile des Oktetts entwickelt parallel zwei simultane Motive – vergebens Lieben und vergebens GeliebtWerden. Laut der ersten Zeile wird der Held selbst geliebt, bittet jedoch vergebens um Liebe. Laut der zweiten wird er vergebens um Liebe gebeten (as loving not, accus’d [›als nicht liebend angeklagt‹]), während er tatsächlich liebt. Vom dritten Vers bis zum achten dreht sich die Reihenfolge um: Der Held erscheint als unglücklich Begehrender im jeweils ersten Teilsatz und als unglücklich Begehrter im jeweils letzten Teilsatz jedes Verses. Dem gesamten Oktett liegt ein symmetrisches Muster grammatischer Variationen zugrunde. Unterschiede in *Tempora, *Aspekten und Modi tauchen nicht auf. Die Struktur beruht auf Gegenüberstellungen von 14
waile fehlt sowohl in der Festschrift für Margaret Schlauch als auch in den SW III. [Anm. d. Übs.]
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Passiv und Aktiv, von abhängigen und koordinierten Teilsätzen sowie von finiten und rein partizipialen Konstruktionen. Genau dann, wenn zwei finite Teilsätze einer Verszeile koordiniert sind, unterscheiden sich ihre *genera verbi. Doch genau dann, wenn einer der finiten Teilsätze vom anderen abhängt, stimmen sie in Aktiv oder Passiv überein. So ist die grammatische Gleichwertigkeit von Teilsätzen und von genera verbi miteinander inkompatibel. Nur die beiden Randzeilen des Oktetts bestehen aus koordinierten Teilsätzen. Sowohl in der Anfangs- als auch in der Schlußzeile dieses Oktetts sind a) die Teilsätze mittels derselben kombinierten Konjunktionen and yet [›und doch‹] verbunden; enthält b) jeder der beiden Teilsätze ein finites Verb; und hat c) der erste dieser Teilsätze zwar dasselbe Subjekt ›I‹, doch ist die Reihenfolge von Aktiv und Passiv umgekehrt: 1 Loved I am, and yet complaine – 8 I waile 〈…〉 and yet am chokte 〈…〉 [›geliebt ich bin und doch leide ich‹ – ›Ich schreie 〈…〉 und doch ersticke ich‹]. Keiner der Verse des Oktetts enthält mehr als eine Passivform, und die letzte Zeile ist die einzige mit einem Passiv im letzten Teilsatz. Außer den beiden Randzeilen bestehen auch diejenigen, die sich darauf reimen, aus zwei finiten Teilsätzen. Diese zwei Zeilen – die dritten vom Anfang und vom Schluß des Oktetts aus – unterscheiden sich jedoch von der ersten und der letzten Zeile durch die Unterordnung zwischen ihren Teilsätzen und das Vorhandensein des Subjekts ›I‹ in jedem der beiden Teilsätze. Da die voneinander im Rang verschiedenen Teilsätze einander im genus verbi gleichen und da es keine Zeile mit zwei PassivKonstruktionen gibt, stehen diese Teilsätze beide im Aktiv. Man sollte an dieser Stelle noch hinzufügen, daß der erste dem zweiten Teilsatz untergeordnet ist, da die Verse des Oktetts nie mit einem abhängigen Teilsatz enden: 3 When pittie most I crave, I cruell prove; 6 What I call wrong, I doo the same, and more [›Wenn Mitgefühl am meisten ich ersehne, ich erweise mich grausam‹; ›Was ich nenne falsch, ich tue das selbe, und mehr‹]. So entsprechen also die zwei geradzahligen Zeilen des zweiten Quartetts, die achte und sechste, genau den beiden ungeradzahligen im ersten Quartett, nämlich der ersten und dritten. Am Schluß aller anderen Zeilen des Oktetts steht ein aktiver finiter Satz mit dem Subjekt ›I‹. Dieser finiten aktiven Form ist regelmäßig das ›zweite Partizip‹ 15 in passiver Funktion vorangestellt. Dieses Partizip fällt im zweiten Quartett auf die erste Silbe der ungeraden Zeilen, wohingegen es in den geraden Zeilen des ersten 15 Auch dies ist eine Bezugnahme auf Jespersens Terminologie; vgl. oben, Fußnote 11. [Anm. d. Komm.]
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Quartetts an den dritten Versfuß gebunden ist und ihm wiederum das ›erste Partizip‹ vorangestellt ist. Trotz eines Unterschieds in der syntaktischen Wechselbeziehung beider Partizipien weist ihre Verteilung in beiden Zeilen eine bemerkenswerte Ähnlichkeit auf: 2 As loving not, accus’d, in Love I die – 4 Still seeking Love, love found as much I flie [›Als nicht liebend angeklagt, in Liebe sterbe ich‹ – ›Stets suchend Liebe, wenn Liebe gefunden, ebenso fliehe ich sie‹]. Wir können das Muster dieses Oktetts nachzeichnen und verwenden dazu die Zeichen ˘ zur Darstellung der Koordination und → zur Darstellung der Unterordnung (wobei der Pfeil zum Hauptsatz zeigt) sowie die Abkürzungen F für einen finiten Teilsatz, P für eine nicht-finite Partizipialkonstruktion, a für aktiv, p für passiv. Bei der Verteilung der letzten (oder einzigen) zwei Verbformen in jeder Zeile ist das zweite Quartett mit dem ersten durch eine *Spiegelsymmetrie verbunden: 16 1 2
I Fp ˘ Fa 8 I Fa Pp) I Fa 7 Pp 3 I Fa I Fa 6 I Fa 4 Pa (Pp I Fa) 5 Pp (Pa
˘ Fp I Fa I Fa I Fa
Das Thema eines verfolgten Verfolgers und eines Leidenden, der andere leiden macht, fällt nicht in eins mit der grammatischen Unterscheidung zwischen Agens und Patiens; sondern es ist vielmehr das Zusammenspiel dieses Themas mit der *Opposition der genera verbi – Aktiv und Passiv –, das die Spannung zwischen Begehren und Begehrtwerden besonders spürbar macht. Jede Zeile des Oktetts bietet einen Kontrast *antonymischer Ausdrükke, die voneinander durch die Hauptzäsur getrennt sind. Das Spiel mit den Antonymen wird noch akzentuiert durch Lautformen: vgl. 3 pittie 16 Agelastus’ Sestine im vierten Buch der Old Arcadia weist ein ähnliches Beispiel von Spiegelsymmetrie auf, obschon diese hier auf lexikalischer Ebene besteht (vgl. Montgomery, Symmetry and Sense. The Poetry of Sir Philip Sidney, S. 12 [Kursivierungen v. R. J.]): »Since wayling is a bud of causefull sorowe, Since sorow is the follower of evill fortune, Since no evill fortune equalls publique damage: Now Prince’s loss hath made our damage publique, Sorow pay we unto the rights of Nature, And inward griefe seale up with outward wailing.« [›Da Klagen aus ursachvollem Kummer knospt, da Kummer aus üblem Schicksal folgt, da kein übles Schicksal öffentlichem Schaden gleicht: hat nun des Prinzen Verlust unseren Schaden öffentlich gemacht, so entgelten wir’s denn, Kummer, dir im Rechte der Natur, und verschließen inneren Gram mit äußerlichen Klagen.‹] [Anm. v. R.J.] – Zu den verschiedenen Symmetrieformen vgl. Sebastian Donats Kommentar zu: Jakobson, »Lyrische Prophezeiungen Aleksandr Bloks«, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 461, Anm. 12. [Anm. d. Komm.]
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crave – cruell prove [›Mitgefühl ersehne – grausam erweise‹], wobei zudem crave [›ersehne, fordere‹] wie ein Portmanteau 17 für cruell prove erscheint. Mit je anderer Motivation wird das Spiel mit *Oxymora auch in den geraden Zeilen des dritten Quartetts weitergeführt (10 Though thousands old, a Boy entit’led still; 12 With stroking hurt, and too much cramming kill [›Obschon Jahrtausende alt, ein Knabe genannt noch‹; ›Mit Streicheln verletzen […] und zu Tode stopfen‹]), doch im letzteren Vers enthält jeder Halbvers sein eigenes Paar von Antonymen. 18 Die häufigste Wurzel /lv/ taucht im Sonett zehnmal auf. Der Anfangsvierzeiler stellt die kontrastierenden Facetten von love [›Liebe‹] heraus, indem diese Wurzel in beiden antonymen Halbversen wiederholt wird. Indessen wird die Wortfamilie love im Sonett nur durch das Substantiv und durch beide Partizipien repräsentiert, nie aber durch reine und einfache – sei es finite oder infinite – Verbformen. Die Wörter dieser Wurzel, gebunden an den äußersten Anfang und das äußerste Ende (Silben 1–2 und 10) der ersten Zeile, umrahmen diese und nähern sich einander in der zweiten Zeile an (Silben 2–3 und 8), bis sie Seite an Seite in der starken Silbe 4 und der schwachen Silbe 5 der vierten Zeile wiederkehren. Das Schlüsselwort love wird von einem wiederholten Zwischenspiel von *Lateralen und *Labialen begleitet: 1 Loved I am, and yet complaine of Love; 4 Still seeking Love, love found as much I flie. Die Liebe wird in den folgenden beiden Quartetten nicht mehr genannt, sondern es wird nur darauf angespielt, wohingegen im letzten Couplet das Nomen dieser Wurzel in beiden Halbversen der ersten Zeile wieder erscheint (Silben 4 und 6) und das entsprechende Partizip in beiden Halbversen des zweiten, abschließenden Verses (Silben 4 und 8–9). Dieses Couplet entlehnt sein Vokabular absichtlich den ersten beiden Teilen des Sonetts, führt dabei jedoch neue grammatische Mittel ein. Die Pronomina ›I‹ [›ich‹] aus dem Oktett und ›thou‹ [›du‹] aus dem letzten Quartett kehren wieder; diesmal wird jedoch das Pronomen der ersten 17 Ein Portmanteau-Morphem ist eine morphologische Einheit, die die Bedeutung von mehreren *Morphemen trägt, aber formal nicht in diese Morpheme segmentierbar ist (Bsp.: frz. au aus a` + le). [Anm. v. I.M.] 18 An dieser Stelle eröffnet die Fassung in SW III einen neuen Absatz mit zwei kryptischen Zeilen. Der Vergleich mit der Erstfassung des Aufsatzes in der Schlauch-FS erklärt, was passiert ist. In der FS benutzt Jakobson noch eine nicht-standardisierte Lautschrift. Für die SW gibt er in der Druckvorlage eine Anweisung für den Setzer mit den Zeichen einer angelsächsisch standardisierten Lautschrift, z. T. mit Hinweis auf einen anderen Aufsatz, in dem diese Standardisierung schon verwirklicht ist. Der Setzer mißversteht die Anweisung als Einfügung für den SW-Text. [Anm. d. Komm.]
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Person nicht nur im Nominativ, sondern auch in seinem Objektskasus gebraucht, und das Pronomen der zweiten Person nur im Objektskasus (13 I crave of thee: 14 Let me 〈…〉 [›Ich fordere von dir: Laß mich 〈…〉‹]). Die Rolle der dramatis personae wird dadurch dynamischer, wenn diese ausdrücklich einander gegenübergestellt werden. Das Oktett war ein auf den Sprecher fokussiertes Selbstgespräch; das folgende Quartett verschleiert den Adressanten und evoziert den Adressaten; in seinem Couplet bekommt das Sonett einen Anflug von Dialog. Auf dieselbe Weise, wie doo zu Beginn des Vergleichs auf I doo im zweiten Quartett zurückgeht, tauchen die Worte I crave des ersten Quartetts im ersten Satz des Couplets als berichtende Einleitung (dixit) zur berichteten Rede (dictum) der letzten Zeile wieder auf – das Gebet des Prinzen, das von ihm selbst zitiert wird und sich vom Rest des Sonetts durch sein imperatives let [›laß‹] mit zwei Infinitiven scharf unterscheidet. So enden der zweite und dritte Teil des Gedichts auf ähnliche Weise: Infinitive schließen beide Halbverse der letzten Zeile ab (aktiv am Ende des Quartetts, passiv am Ende des Couplets), und in beiden Teilen des Sonetts sind diese Infinitive miteinander durch eine Konjunktion zu Beginn des zweiten Halbverses und durch eine Kombination mit einem gemeinsamen Hilfsverb verbunden. Des weiteren ähneln sich auch die Anfangszeilen dieser zwei Teile: die unisonen Formen this [›dies‹] und thus [›so‹] im ersten Versfuß und ein Vokativ im dritten. Keiner dieser Züge taucht an anderer Stelle im Sonett auf. Nicht nur diese letzte ›Rede in der Rede‹, sondern auch der einleitende, berichtende Teil des Couplets ist als oratio directa mit emphatischen Bezugnahmen auf den Adressaten konzipiert. Liebe wird im einleitenden Oktett und insbesondere in seiner letzten Zeile in zwei einander widersprechenden Aspekten dargestellt: I waile for want, and yet am chokte with store [›Ich schreie vor Mangel, und doch ersticke ich an Fülle‹]. Zu Beginn dieses leidenschaftlichen Liedes erklärte Pyrocles love found as much I flie [›wenn Liebe gefunden ist, fliehe ich ebenso‹] und mit too much cramming [›zu viel Stopfen‹] tötet God for ever blinde [›Gott auf immer blind‹] seine silly [›geschwächten‹] Opfer: so der mittlere Gedichtteil; jedoch wird im abschließenden Couplet diese über das Begehren hinausgehende Leidenschaft in ihr Gegenteil verkehrt, welches der Held brennend herbeisehnt: 13 Yet thus much Love, O Love, I crave of thee [›Doch so viel Liebe, O Liebe, ich fordere von dir‹]. Das Spiel mit Antonymen im Oktett verwandelt sich in die Aufspaltung ein und desselben Wortes, Love [›Liebe‹], des einzigen Substantivs des Couplets, in einen wörtlichen, abstrakten Begriff und ein verkörpertes, vergöttlichtes Bild.
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Das abschließende Gebet an die Love [›Liebe‹] um thus much Love [›so viel Liebe‹] fügt den Oxymora des einleitenden Oktetts ein neues, sehr raffiniertes hinzu – 14 Let me be lov’d or els not loved be [›Laß mich sein geliebt oder sonst nicht geliebt sein‹] 19 – mit zwei l’s in jedem Halbvers und der umgekehrten Reihenfolge des Vokals und der *Liquida in els gegenüber let, wodurch der Kontrast der beiden Satzteile verstärkt wird. Die antonymische Funktion wird von zwei Varianten ein und desselben Partizips getragen – der synkopierten Form lov’d und der unsynkopierten loved, wobei erstere umgangssprachlich ist und letztere zu Sidneys Zeit als gestelzter, pedantischer und archaischer galt.20 Der künstliche, affektierte, ›pompöse‹ Charakter der zweiten Variante wird noch verstärkt durch die *Inversion von loved be als Manierismus gegenüber der natürlichen Sequenz, be lov’d. So entsprechen also die letzten Worte des Sonetts, loved be, völlig dem einleitenden Satz Loved I am, wo die nicht synkopierte Form unterstrichen wird durch eine Hebung auf der nachtonigen Silbe.21 Die textuellen Entsprechungen zwischen dem abschließenden Couplet und dem einleitenden Quartett sind ein weiteres Beispiel einer Spiegelsymmetrie: vgl. den Anfang der dreizehnten Zeile – Yet thus much Love [›Doch so viel Liebe‹] – mit der vierten Zeile – love found as much [›Liebe gefunden ebenso‹] – und das Ende der dreizehnten Zeile – I crave of thee [›ich fordere von dir‹] – mit der dritten Zeile – When pittie most I crave [›Wenn Mitgefühl am meisten ich ersehne‹]. Die letzte Zeile des Sonetts – Let me be lov’d, or els not loved be [›Laß mich sein geliebt oder sonst nicht geliebt sein‹] – kehrt sogar die Motive der ersten Zeile um – Loved I am and yet complaine of Love [›Geliebt ich bin, und doch leide ich an der Liebe‹] – und hat andererseits die Negation mit der zweiten Zeile gemein: 19 Jakobson sieht hier offenbar eine ›raffinierte‹ Zweideutigkeit. In or els not loved be könnte loved wie das vorangegangene lov’d sich auf den Sprecher beziehen oder aber, dialogisch, die Angesprochene meinen. Diese Zweideutigkeit allerdings folgt daraus, daß Jakobson zuvor die Apostrophe (hier wohl tatsächlich im Sinne der Klassischen Rhetorik und nicht bloß als ›Anrede‹) in Vers 13 eindeutig als Gebet an die personifizierte Liebe liest. Doch tatsächlich werden in ihr sowohl die Liebe wie die Geliebte angesprochen; das synkopierte und das unsynkopierte Partizip verteilen sich damit zwanglos nacheinander auf den Adressanten und die Adressantin. [Anm. d. Übs./Komm.] 20 Vgl. Dobson, English Pronunciation 1500–1700, Bd. I, S. 316, und Bd. II, S. 885 f. [Anm. v. R.J.] – Der geltend gemachte sprachhistorische Aspekt verdeckt das simple Gebot der Metrik: lov’d und loved kontrastieren hier nicht so sehr als umgangssprachlich vs. archaisch; vielmehr wird durch die Variation in der Silbenzahl bei der Wortwiederholung die ebenmäßige Betonungsfolge in der fünffüßig jambischen Abschlußzeile des Gedichts erreicht. [Anm. d. Komm.] 21 Vgl. Thompson, »Sir Philip and the Forsaken Lamb«, S. 100 u. 105.
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loving not – 14 not loved [›liebend nicht‹ – ›nicht geliebt‹], die einzigen beiden Negativkonstruktionen in dem Sonett. Im abschließenden Couplet und dem ersten Quartett enthält jede Zeile außer der dritten zwei Beispiele für das Lemma ›love‹, und diese Wiederholungen zeigen die komplizierten *Figuren, derer sich die elisabethanische Rhetorik bevorzugt bediente.22 Das einleitende Quartett endet und das abschließende Couplet beginnt mit einer Epizeuxis: 23 Zwei identische Vokabeln werden unmittelbar nebeneinander gestellt. Dasselbe Substantiv wird, wenn auch mit einer leichten semantischen Veränderung, in beiden Fällen wiederholt: In der vierten Zeile wird die erhöhte, groß geschriebene Love der abgewerteten, klein geschriebenen love gegenübergestellt, wohingegen dem *abstrakten Nomen Love in der dreizehnten Zeile eine Anrede an die *personifizierte Love folgt. In den beiden einleitenden Zeilen des Quartetts und zu Ende des Couplets gebraucht Sidney die Figur der Ploke,24 der Wiederholung mit einem gewissen Abstand; die mit einem größtmöglichen Zwischenraum, die sogenannte Epanalepse,25 in der ersten Zeile. In allen diesen Fällen enthält der erste Halbvers ein Partizip, das die Figur der Traductio,26 die in den ersten Zeilen des Sonetts zur Anwendung gelangt, in das entsprechende Nomen verwandelt, während die letzte Zeile, das Epiphonem,27 nur stilistisch die Gestalt und den Wert des Partizips verändert. 2
22 Siehe insbesondere Puttenham, The Art of English Poesie (1589). Vgl. Rubel, Poetic Diction in the English Renaissance from Skelton through Spenser, S. 123–126, 156– 158 u. 206–211. 23 Vgl. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, Bd. 1, S. 312–314, §§ 616– 618, s. v. geminatio. [Anm. d. Komm.] 24 Traditionell wird plokh der distinctio als der »steigernd-semantischen Unterscheidung zwischen der normalen (habituellen) Bedeutung der ersten Setzung eines Wortes und der emphatisch-ausschöpfenden Bedeutung der zweiten Setzung des gleichen Wortes« oder der commutatio als der »Gegenüberstellung eines Gedankens und seiner Umkehrung durch Wiederholung zweier Wortstämme bei wechselseitigem Austausch der syntaktischen Funktion der beiden Wortstämme in der Wiederholung« zugeordnet (vgl. a. a. O., S. 333 f., § 660 f., u. S. 395 f., § 800 f.). [Anm. d. Komm.] 25 Lausberg (a. a. O., S. 312 f., §§ 616–618) zufolge wird die epanalepsis (repetitio) wenn überhaupt, dann als »Wiederholung einer Wortgruppe« von anderen Formen der geminatio unterschieden. [Anm. d. Komm.] 26 »Die traductio […] umfaßt auch die Wiederholung nur scheinbar gleicher Wortkörper mit durchaus verschiedener Bedeutung« (a. a. O., S. 333, § 658). [Anm. d. Komm.] 27 Epiphonema: »Schlußstellung der Sentenz hinter längeren Gedankengängen, die nach Art der argumentatio den Charakter schlußfolgernder Reflexion oder nach Art der narratio feststellenden Charakter haben können« (a. a. O., S. 434, § 879). [Anm. d. Komm.]
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Das Finale mit seinen paradoxen Alternativen dient uns als subtiler Hinweis auf die Lösung all der verwirrenden Widersprüche, auf denen das gesamte Gedicht beruht. Der Held ist in die junge, attraktive Jungfrau Philoclea verliebt, die ihn kennt und verehrt, aber nur in seiner weiblichen Verkleidung. Er wünscht weder ihre launenhafte Zuneigung zu der vorgeblichen Amazone Cleophila noch das antiquierte, fehlgeleitete und ärgerliche Werben seitens der beiden Eltern der Jungfrau: Let me 〈…〉 not loved be [›Laß mich 〈…〉 nicht geliebt sein‹]. Der verkleidete männliche Pyrocles will aus einfachem, lebendigem Begehren der weiblichen Philoclea seine Liebe bezeugen – Let me be lov’d [›Laß mich sein geliebt‹] – und als er endlich bis ins Zimmer der Jungfrau vorgedrungen ist, identifiziert er sich nicht mehr mit der Amazone Cleophila, sondern mit Philip Sidney (alias Philisides) und wiederholt den blason des Dichters, indem er nacheinander alle »the beutyes of his unkynde Mistris« [›die Schönheitsreize seiner ungnädigen Herrin‹] von Kopf bis Fuß rühmt.28 Im letzten Quartett verwandelt sich das introspektive Selbstgespräch in eine Anrede an einen fiktiven Adressaten; und die widersprüchlichen Affekte des vorangegangenen Teils des Sonetts werden behandelt, als seien sie objektive, lebendige Wesen. Das dritte Quartett fährt fort mit einer kontemplativen Darstellung der unvereinbaren Gegensätze. Doch sobald ein Adressat dieses Berichts hypostasiert worden ist und der Objektskasus beider Personalpronomina den Beginn einer Interaktion zwischen ihm und dem Klagenden ankündigt, verwandelt sich die Klage in eine inständige Bitte, das bisher unveränderliche Präsens Indikativ weicht dem Modus des Imperativs, und anstelle der kopulativen *Konjunktion and [›und‹], die sich durch die drei Quartette des Sonetts zog, wird schließlich das disjunktive or [›oder‹] in seiner ausschließenden Bedeutung 29 eingefügt, um die lastende Antinomie aufzuheben. Editorische Notiz Verfaßt in Cambridge, Mass., im Februar 1964, für die Margaret-Schlauch-Festschrift; die erste Fassung dieses Aufsatzes wurde für die Teilnehmer an der Warschauer Konferenz zur Poetik im August 1960 vervielfältigt. 28 Siehe The Poems of Sir Philip Sidney, S. 85–90 u. 409–411. [Anm. v. R.J.] – Blason: dichterischer Schönheitskatalog, poetische Konvention seit dem Hochmittelalter. Ringlers Kommentar hebt hervor, daß das gemeinte Langgedicht im dritten Akt der Old Arcadia ein ausnehmend sorgfältig verfaßtes, in vier Fassungen und 13 Handschriften auch eigenständig überliefertes Gedicht ist. Es ist in der New Arcadia nicht mehr enthalten. [Anm. d. Komm.] 29 Siehe Quine, Elementary Logic, S. 14–17, § 5: ›Or‹.
Die grammatische Textur eines Sonetts aus Sidneys Arcadia
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Literatur Jakobsons eigene Angaben sind mit ° gekennzeichnet. Bußmann, Hadumod (Hg.): Lexikon der Sprachwissenschaft, 3., aktualisierte u. erw. Aufl., Stuttgart: Kröner 2002. ° Dobson, Eric John: English Pronunciation 1500–1700, Oxford: Clarendon 1957. Hirschberg, Valentin Theocrit von: Arcadia der Gräffin von Pembrock, Frankfurt / Main 1629, 4. Aufl. 1643 im Nachdruck Hildesheim, New York: Georg Olms 1971. Jakobson, Roman Osipovicˇ: »Lyrische Prophezeiungen Aleksandr Bloks«, übs. u. komm. v. Sebastian Donat, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 452–491. — »The Grammatical Texture of a Sonnet from Sir Philip Sidney’s ›Arcadia‹«, in: Studies in Language and Literature in Honour of Margaret Schlauch, hg. v. Mieczysław Brahmer et al., Warschau: PWN (Polish Scientific Publishers) 1966, S. 165–173. — »The Grammatical Texture of a Sonnet from Sir Philip Sidney’s Arcadia«, in: SW III, S. 275–283. ° Jespersen, Otto: Essentials of English Grammar [1. Aufl. New York: H. Holt and Company, 1933]. Neudruck London, Edinburgh: Goerge Allen & Unwin 1959. Lausberg, Heinrich: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, 2. Aufl., München: Hueber 1972. ° Montgomery, Robert L.: Symmetry and Sense. The Poetry of Sir Philip Sidney, Austin: University of Texas Press 1961. ° Puttenham, George: The Art of English Poesie, London: Field 1589, neu hg. v. Gladys D. Willcock u. Alice Walker, Cambridge: University Press 1936. ° Quine, Willard van Orman: Elementary Logic, Boston u. New York: Ginn 1941. ° Rubel, Vere´ L.: Poetic Diction in the English Renaissance from Skelton through Spenser, New York: MLA u. London: Oxford University Press 1941, Nachdruck 1961. °The Poems of Sir Philip Sidney, hg. v. William A. Ringler, Oxford: Clarendon 1962. ° Thompson, James: »Sir Philip and the Forsaken Lamb«, in: The Kenyon Review 20 (1958), S. 90–115. ° Whorf, Benjamin Lee: Language, Thought and Reality. Selected Writings, hg. v. John B. Carroll, New York: Wiley 1956. – Sprache – Denken – Wirklichkeit. Beiträge zur Metalinguistik und Sprachphilosophie, hg. u. übers. v. Peter Krausser, Reinbek: Rowohlt 1984.
Roman Jakobson und Lawrence G. Jones 1
Shakespeares Wortkunst in »Das Versprühen des Geistes« 2 Übersetzung aus dem Englischen Evi Zemanek
Kommentar Andreas Höfele In seiner ausführlichen Besprechung im »Times Literary Supplement« (28. 5. 1970, S. 589 f.) begrüßt der englische Literaturtheoretiker und Dichter I. A. Richards das Verfahren der Gedichtanalyse, wie es von Jakobson zusammen mit Lawrence Jones exemplarisch an Shakespeares *Sonett 129 durchgeführt worden ist, als wissenschaftliche Großtat von weit mehr als nur literaturwissenschaftlicher Tragweite: »Wer die Dichtung und was sie für den Menschen zu tun vermag, ernst nimmt, kann in diesen neuen Offenbarungen von Ordnung eine wirksame Hilfe für uns in diesen Zeiten ängstlich verwirrter Entfremdung erblicken.« (S. 589) Jakobsons Erkenntnisse darüber »how [poetry] works« könnten sich, so Richards, als praktische Handreichung »toward saner policies« (ebd.) erweisen. Das kulturpolitische Gewicht, das einem neuartigen Interpretationsverfahren hier zugesprochen wird, ist um nichts geringer – in seiner Perspektivierung auf politische Praxis sogar größer – als das, 1
2
Lawrence G. Jones, em. Professor am Department of Slavic and Eastern Languages des Boston College, wird von Jakobson in den Dialogen mit Krystyna Pomorska als ehemaliger Student bezeichnet, mit dem zusammen er die Shakespeare-Analyse durchgeführt habe (Jakobson /Pomorska, Dialoge, S. 100). Jones’ bekannteste Arbeit – neben dem Sonett-Aufsatz – ist sein Beitrag zu Morris Halle, The Sound Pattern of Russian. [Anm. d. Komm.] Vorlage: Jakobson, Roman Osipovicˇ u. Lawrence G. Jones: »Shakespeare’s Verbal Art in ›Th’Expence of Spirit‹«, in: SW III, S. 284–303. Erstdruck: Jakobson, Roman u. Lawrence G. Jones: Shakespeare’s Verbal Art in »Th’Expence of Spirit«, The Hague: Mouton 1970. [Anm. d. Komm.]
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Roman Jakobson und Lawrence G. Jones
welches T. S. Eliot 1922 für die ›mythische Methode‹ des Joyce’schen »Ulysses« als ordnendes Gestaltprinzip im chaotisch-dekadenten Panorama zeitgenössischer Zivilisation beanspruchte. 3 Trotz solch superlativischen Lobes weist Richards jedoch auch – respektvoll aber unmißverständlich – auf Grenzen der »neuen Offenbarungen« hin. 4 Gegen Jakobsons Anspruch auf abschließende Gültigkeit seiner Gedichtanalyse erklärt Richards diese ganz entschieden zur (wenn auch wertvollen) Vor-Arbeit. Zum einen in kognitiver Hinsicht: Denn mit der Aufdeckung eines unendlich komplexen Netzwerks von *Binaritäten im Text fange das Fragen nach dem kognitiven Status, nach der ›Gewußtheit‹ solcher Strukturierung auf Autor- wie Leserseite überhaupt erst an. 5 (Wie das Gedicht selbst in IV 1 unterscheidet Richards hierbei zwei Arten von Wissen: »know about« / »know [how] to«.) Zum andern – und dies ist gravierender – im Hinblick auf die, wie Richards es nennt, »semantisch-thematische *Struktur« des Gedichtes. Deren exakte Beschreibung werde die Linguistik noch lange vor unlösbare Probleme stellen – eine Prognose, deren Triftigkeit an der vorliegenden Interpretation von Sonett 129, dem auch von Richards als solches eingeschätzten misreading der zentralen Aussage des Gedichtes unmittelbar evident wird. Jakobson /Jones meinen in dem Wort »heaven« der letzten Gedichtzeile zweifelsfrei einen personalen Akteur erkennen zu können, einen der lustverfallenen Menschheit übel mitspielenden strafenden Gott. Hier liegt die Crux des Aufsatzes und des in ihm so akribisch exerzierten Analyseverfahrens: Alle Akribie schützt nicht vor eklatantem Mißverstehen, ja, sie scheint dieses in ihrer auf einen kompromißlosen Objektivitätsanspruch gegründeten Selbstgewißheit geradezu zu begünstigen. Nach Jakobson /Jones dürfte niemand mehr die Behauptung wagen, bei Sonett 129 handele es sich um ein eher nachlässig komponiertes Gebilde, dessen wenig stringente Gedankenfolge sich nur oberflächlich der Sonettform anpasse. Gleichzeitig wird aber auch niemand den beiden Autoren abnehmen wollen, in der letzten Zeile des Gedichtes lasse Shakespeare den Allmächtigen selbst auftreten. Seit Helen Vendlers exzellenter Gegen-Lektüre, Jonathan Cullers grundsätzlicher Verfahrenskritik und Giorgio Melchioris Verriß hat die Shakespeare-Forschung schlicht aufgehört, von Jakobsons Sonettanalyse Notiz zu 3 4 5
Eliot, »Ulysses, Order and Myth«, veröffentlicht zuerst in The Dial, LXXV:5 (Nov. 1923). [Anm. d. Komm.] Vgl. die vergleichbar kritische Würdigung der Analyse (mit direktem Bezug auf I. A. Richards) durch Victor Erlich (Erlich, »Roman Jakobson: Grammar of Poetry and Poetry of Grammar«, bes. S. 15–27). [Anm. d. Komm.] Im »Nachtrag zur Diskussion um die Grammatik der Poesie« (in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 761) beschäftigt Jakobson selbst sich mit dieser Frage. [Anm. d. Komm.]
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nehmen. In keiner der maßgeblichen neueren Sonett-Ausgaben oder -Studien wird sie auch nur erwähnt. 6 Andreas Höfele
What is the figure? What is the figure? Love’s Labor’s Lost, 5. 1. 63 Was besaget diese Allusion? Die Figur? 7 Verlorene Liebesmüh’
6
7
Vendler, »Jakobson, Richards and Shakespeare’s Sonnet CXXIX«; Culler, »Jakobson’s Poetic Analyses«; Werth, »Roman Jakobson’s verbal analysis of poetry«; Melchiori, Shakespeare’s Dramatic Meditations. An Experiment in Criticism, S. 121– 158. [Anm. d. Komm.] Shakespeare, Liebes Leid und Lust, übs. v. Wolf Graf Baudissin, S. 276. Vgl. auch die Übersetzung: »Ich versteh nicht – wie gemeint? Welcher doppelte Sinn? Welcher Begriff?« in: Shakespeare, Verlorene Liebesmüh’, übs. v. Frank Günther, S. 149. [Anm. d. Übs.]
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I. Sonett 129 Das hundertneunundzwanzigste der 154 Sonette, die von Shakespeare an der Schwelle zum siebzehnten Jahrhundert verfaßt und in der QuartoAusgabe von 1609 abgedruckt wurden (siehe die beigefügte photographische Reproduktion), kann wie folgt gelesen werden: I
1 2 3 4
II
1 2 3 4
III
1 2 3 4
IV
1 2
I
1 2 3 4
II
1 2 3 4
III
1 2 3 4
IV
1 2
Th’expence of Spirit in a waste of shame Is lust in action, and till action, lust Is perjurd, murdrous, blouddy full of blame, Savage, extreame, rude, cruel, not to trust, Injoyd no sooner but dispised straight, Past reason hunted, and no sooner had Past reason hated as a swollowed bayt, On purpose layd to make the taker mad. Mad in pursut and in possession so, Had, having, and in quest, to have extreame, A blisse in proofe, and provd a very wo, Before a joy proposed behind a dreame, All this the world well knowes yet none knowes well, To shun the heaven that leads men to this hell. Das Versprühen des Geistes in schändlicher Verschwendung Ist Tat der Lust, und bis zur Tat, ist Lust Meineid, Mord, Blut und voller Schuld, Wild, maßlos, grob, grausam, nicht zu trauen, Kaum genossen, schon verachtet, Kopflos gejagt, und kaum besessen, Kopflos gehaßt wie der geschluckte Köder, Absichtsvoll ausgelegt, um toll zu machen. Toll im Verlangen und im Besitz ebenso, Gehabt, noch habend, bestrebt, maßlos zu haben, Seligkeit im Genuß, und genossen, eine große Qual, Zuvor versprochnes Glück, danach ein Traum, All dies die Welt weiß wohl, doch niemand weiß, Zu fliehn den Himmel, der die Menschen führt zu dieser Hölle.
II. Konstituenten: Reime, Strophen, Zeilen Dieses englische Sonett 8 umfaßt drei Quartette, jedes mit eigenen abwechselnden *männlichen Reimen, sowie ein abschließendes Couplet mit ei8
Die englische Petrarca-Rezeption des 16. Jhs. bildet ein vom italienischen Vorbild abweichendes Formschema des Sonetts aus. Bereits bei Sir Thomas Wyatt (1503–
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nem schlichten männlichen Reim. Von den sieben Reimen ist nur der erste, welcher zwei Substantive mit derselben Präposition (of shame – of blame) einander gegenüberstellt, ein *grammatischer Reim. Der zweite Reim beginnt wieder mit einem Substantiv, stellt dieses jedoch einer anderen Wortart gegenüber. Der dritte Reim sowie die letzten drei Reime kehren diese Reihenfolge um: Auf ein Nicht-Substantiv folgt ein Substantiv, wohingegen der vierte und zentrale der sieben Reime überhaupt kein Substantiv enthält und stattdessen aus dem Partizip had und dem Adjektiv mad besteht. Das jeweils erste Reimwort innerhalb des zweiten oder einzigen Reimes jeder *Strophe wird an anderer Stelle im Sonett wiederholt: I2 lust – lust; II2 had – III2 Had; III2 extreame – I4 extreame; IV1 well – well. In der zweiten Strophe wird das zweite Reimwort ebenfalls wiederholt: II4 mad – III1 Mad. (Zu dieser Wiederholung siehe unten, Abschnitt VII.) Die vier strophischen Einheiten stellen drei Arten *binärer Entsprechungen zur Schau, auf welche die gängige Klassifikation von Reimschemata übertragen und angewandt werden kann: 9 1) Der alternierende Wechsel (a b a b), der die zwei ungeraden Strophen miteinander verbindet (I, III) und diese den geraden Strophen gegenüberstellt (II, IV), die ihrerseits miteinander verbunden sind; 2) die Rahmung (a b b a), der die umschließenden äußeren Strophen (I, IV) zusammen bringt und sie den beiden inneren Strophen (II, III) gegenüber stellt; 3) die Nachbarschaft (a a b b), die Paare von vorausgehenden (I, II) und nachfolgenden (III, IV) Strophen einander gegenüberstellt. Mit diesen drei *symmetrischen Interrelationen, die so gut wie jeder vierstrophigen Komposition inhärent sind, verbinden Shakespeares Sonette darüber hinaus einen effektvollen asymmetrischen *Kontrast zwischen dem abschließenden Couplet und den drei Quartetten, die als nicht-abschließende Strophen betrachtet werden (a a a b).
9
1542) findet sich der abschließende *Paarreim; sein Freund und Schüler Henry Howard, Graf von Surrey (1516–1547), ersetzt die petrarkistische Zweiteilung in Oktave und Sextett durch drei Quartette mit *Kreuzreim und ein Schluß-Couplet. Diese Form wird von George Gascoigne (Certayne Notes of Instruction, 1575) als ›englisches Sonett‹ bezeichnet und ist die in der elisabethanischen Dichtung vorherrschende Formvariante. [Anm. d. Komm.] Gemeint ist: Die üblicherweise zur Kennzeichnung von Reimschemata verwendete Buchstaben-Notation (a b) für Paar-, Kreuz- und *Blockreim soll im folgenden zur Verdeutlichung diverser binärer Bezüge zwischen den vier Gedichtsegmenten (hier Strophen genannt) verwendet werden. I. A. Richards hat diese Relationen in einem seinem TLS-Artikel beigefügten Diagramm graphisch veranschaulicht. (Siehe unten S. 651) [Anm. d. Komm.]
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Das Sonett 129 zeigt wie, zusätzlich zu den strukturellen Konvergenzen ganzer Strophen, die Zeilen selbst deutlich ihre eigenen binären Korrespondenzen zur Schau stellen können. Die *jambischen Fünfheber dieses vierzehnzeiligen Gedichts präsentieren einen auffälligen Unterschied zwischen der Gestaltung der ersten sieben, zentripetalen, afferenten Zeilen, die sich in Richtung auf das Zentrum des ganzen Gedichts zu bewegen, und den darauffolgenden sieben, zentrifugalen, efferenten 10 Zeilen, welche sich vom Gedichtzentrum entfernen. In den zentripetalen Zeilen wird der dritte Fuß des jambischen Fünfhebers durch eine Pause zweigeteilt, durch eine notwendige *Wortgrenze, die hier exakt mit der Zeilenmitte nach der fünften Silbe zusammenfällt. Dieser *weiblichen *Zäsur 11 zwischen der *Senkung und der *Hebung des dritten, mittleren Versfußes stellen die sieben zentrifugalen Zeilen eine maskuline, *diäretische Pause gegenüber, die den Anfang und /oder das Ende des mittleren Fußes markieren: es gibt beide Grenzen in fünf Fällen und nur eine der Grenzen in zwei Fällen.12 Diese Pause erfolgt nach der zweiten und /oder dritten Hebung. (Siehe oben, Abschnitt I, unseren Text des Sonetts mit den durch vertikale Linien markierten Pausen.)
III. Schreibweise und Zeichensetzung Bei unserer Lektüre des Sonetts folgen wir der editio princeps,13 beseitigen jedoch deren verwirrende Verwendung des i für sowohl i als auch j (periurd, inioyd, ioy) und des u für ein nicht-initiales v (sauage, hauing, haue, 10 afferent [lat.] »hinführend« (med.): zu einem Zentrum (Organ) führend (Nervenbahnen, Arterien, Venen, Lymphbahnen); efferent [lat.] »herausführend« (med.): von einem Organ herkommend. [Anm. d. Komm.] 11 Gemeint ist eine Zäsur nach der weiblichen Silbe. [Anm. d. Übs.] 12 Diese Zählung hinsichtlich des Auftretens zweier Pausen oder Grenzen in fünf Fällen gegenüber einer einzigen Grenze in nur zwei Fällen widerspricht der im Sonett vorgenommenen Markierung der Grenzen (in Form von vertikalen Linien): diese machen zwei Pausen in vier Fällen und eine Pause in drei Fällen sichtbar; offensichtlich muß in III4 die Markierung der Wortgrenze vor proposed ergänzt werden. [Anm. d. Komm.] 13 Shake-Speares / Sonnets… – Die Publikation von Shakespeares Sonetten durch den Verleger Thomas Thorpe erfolgte etwa ein Jahrzehnt nachdem die Welle der elisabethanischen Sonettsequenzen ihren Höhepunkt überschritten hatte. Die Gedichte, die zunächst handschriftlich kursierten, dürften zum Großteil in den 1590er Jahren entstanden sein. Weder die Entstehungszeit der Sonette, noch auch der Grad auktorialer Autorisierung ihrer Erstausgabe läßt sich mit Sicherheit bestimmen. Zum gegenwärtigen Forschungsstand vgl. Colin Burrow, »Introduction«, in: Shakespeare, The Complete Sonnets and Poems, S. 91–111. [Anm. d. Komm.]
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proud, heauen), eine Verwendung, die sogar zu der lächerlichen Frage Anlaß gab, ob das i in Wörtern wie ioy, etc. möglicherweise nicht so ausgesprochen worden sei, wie es geschrieben wurde. Wir behalten die orthographischen Schwankungen der elisabethanischen Zeit bei, weil diese in bestimmten Fällen Besonderheiten der frühen Aussprache offenbaren oder visuelle Unterstützung zu Shakespeares Reimen anbieten, so beispielsweise in III so – extreame – wo – dreame. Wir verwenden spitze Klammern nur um darauf hinzuweisen, daß III3 and very wo [›und große Qual‹] anstelle von a very wo [›eine große Qual‹] ein offensichtlicher Druckfehler unter dem assimilierenden Einfluß des vorhergehenden and in derselben Zeile und in den beiden ersten Zeilen desselben Quartetts ist und daß offensichtlich das Adjektiv mad [›toll‹] und nicht das Partizip made [›gemacht‹] in III1 gemeint ist. Kökeritz 14 verweist auf die gelegentliche Schreibweise made für mad und mad für made in Shakespeares Dramen sowie auf die *Wortspiele des Dichters mit diesen beiden Wörtern. Die zunehmende Synkopierung des partizipialen e im Englischen des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts zeigt sich in der Erstausgabe des Sonetts durch die Auslassung des e. Dieses e wird üblicherweise nur nach ow in der Schreibung bewahrt: II3 swollowed, vgl. ebenso IV1 knowes (zweimal). Man kann jenen Kritikern kaum zustimmen, die sagen, daß dieses Partizip,15 welches genau zwei Silben der Zeile einnimmt, »als ein dreisilbiges Wort intendiert gewesen sein muß«.16 Nur die Form dispised in II1 ist wie an anderer Stelle in Shakespeares Dichtung geschrieben und offensichtlich dafür bestimmt, in seiner Aussprache so bewahrt zu werden (Othello, I. I.162: And what’s to come of my dispised time [›Und was in meiner verachteten Zeit noch kommen wird‹] 17 ). Eine mögliche Begründung für diese konservative Form im Sonett ist die Tendenz zu einem unterscheidenden Wechsel zwischen den Endungen -d und -ed innerhalb der Zeilen des zweiten Quartetts, das reich ist an Partizipien: 1 injoyd – dispised, 2 hunted – had, 3 hated – swollowed (= swollow’d ). 14 Kökeritz, Shakespeare’s Pronunciation, S. 126, 164 u. 175. 15 Gemeint ist »swollowed«. [Anm. d. Übs.] 16 Cf. R. Graves und L. Riding, »A Study in Original Punctuation and Spelling«, in Discussions of Shakespeare’s Sonnets, S. 118: »Inioyd, with the same number of syllables as periurd, is however printed Enjoy’d; while swollowed, which must have been meant as a three-syllabled word (Shakespeare used ed as a separate syllable very strictly and frequently allowed himself an extra syllable in his iambic foot) is printed swallow’d.« [Anm. d. Komm.] 17 William Shakespeare, Othello, übs. v. Wolf Graf Baudissin, S. 395. [Anm. d. Übs.]
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Man kann nicht umhin, George Wyndhams Argumentation für die strukturelle Rechtfertigung der abweichenden Zeichensetzung in der Quarto-Ausgabe von 1609 und speziell in »the magnificent 129« [dem ›großartigen Sonett 129‹] zuzustimmen.18 Demnach ist die besondere Verteilung der Kommata innerhalb der Zeilen erklärbar durch die hybride Funktion, die sich in der Verwendung der Dichter so oft als Kompromiß zwischen syntaktischer Ordnung und rhythmischer Satzfügung erweist; daher wird das syntaktisch motivierte Komma in den zentrifugalen Zeilen als unnötig weggelassen, wenn die syntaktischen Pausen mit den rhythmischen Pausen zusammenfallen, so daß die rhythmische Satzfügung die erwünschte Segmentierung der Zeilen bewirkt. Andererseits wird das scheinbar unerwartete Komma in III2 Had, having, and in quest, to have extreame benötigt,19 um auf die Pause am Ende des mittleren Fußes hinzuweisen, da a) die Pause am Anfang dieses Fußes fehlt, während b) die Pause in der vorhergehenden Zeile nur den Anfang, nicht aber das Ende des mittleren Fußes markiert: mad in pursut and in possession so, und weil c) die durch das Komma signalisierte Pause nur lexikalisch, nicht jedoch syntaktisch motiviert ist. Die beiden betreffenden Zeilen sind die einzigen zentrifugalen Zeilen mit einer Pause, die nur den Anfang oder das Ende des mittleren Fußes markiert, während in anderen Zeilen derselben rhythmischen Gruppe sowohl der Anfang als auch das Ende des mittleren Fußes durch eine Pause markiert sind. Was die zentripetalen Zeilen betrifft, betont darin die Abwesenheit des Kommas nach blouddy in der Sequenz der vier benachbarten Adjektive Is perjurd, murderous, blouddy full of blame, die höhere Relevanz der vorhergehenden Wortgrenze, welche die obligatorische Pause in der ganzen ersten Hälfte des Sonetts trägt.
IV. Interpretation Ein Einblick in die besondere Verwendung der Kommata in der Erstausgabe des Sonetts und eine durchgehend vergleichende Analyse seiner vier 18 Vgl. The Poems of Shakespeare, hg. v. Wyndham, »Introduction«, S. cix u. cxv; »Notes to the Sonnets« I, V, CXXIX. [Anm. d. Komm.] 19 Ungeachtet der von Jakobson /Jones angeführten Gründe für die Beibehaltung des Kommas nach »in quest« gemäß Q1609, haben sich die Herausgeber aller drei maßgeblichen neueren Textausgaben der Sonette (Oxford, New Penguin, Arden III) für die seit langem übliche Versetzung des Kommas hinter »to have« entschieden. Nur so ergibt die Zeile Sinn: »Had, having, and in quest to have, extreame«. In allen drei Stadien (des Gehabthabens, Habens und Habenwollens) ist die Lust »extrem«. [Anm. d. Komm.]
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Strophen führen uns zu ihrer vorläufigen, so weit wie möglich wörtlichen erläuternden Paraphrasierung: I
Bei der Ausübung ist Lust die Verausgabung von Lebenskraft (Geist und Sperma) mit gleichzeitiger Verschwendung des Schamgefühls (Keuschheit und Genitalien), und bis zur Ausübung ist Lust absichtlich trügerisch, mörderisch, gewaltsam, schuldvoll, wild, unbeherrscht, brutal, grausam, heimtückisch;
II Kaum genossen, auch schon verachtet, kaum wie verrückt ersehnt, schon wie verrückt gehaßt wie ein geschluckter Köder, der absichtsvoll ausgelegt worden ist (zum Zweck der Unzucht und als Falle), um denjenigen, der den Köder schluckt, wahnsinnig zu machen. III Wahnsinnig, sowohl im Verlangen als auch im Besitzen, unbeherrscht, nachdem man den Besitz genossen, während man ihn genießt und im Bestreben zu besitzen: Seligkeit, während man kostet, doch eine wahre Qual nachdem man gekostet hat, zuvor ein versprochenes Glück, danach jedoch nur noch ein Phantom. IV All dies ist der Welt wohlbekannt, doch niemand versteht sich darauf, diesen Himmel zu fliehen, der den Menschen in die Hölle führt.
Unter den weitsichtigen Vorhersagen von Charles Sanders Peirce könnte man seine frühe Bemerkung zitieren, daß uns »durch das Aufzeigen zuvor unbemerkter Wortspiele an zahlreichen Stellen« die Untersuchung der Aussprache Shakespeares »ein Verständnis der bislang unverständlichen Zeilen« ermöglichen werde.20 In jüngerer Zeit haben Wissenschaftler wie Kökeritz und Mahood die Fülle und Relevanz der Wortspiele, lexikalischen Doppeldeutigkeiten und des Sprachwitzes in Shakespeares Werken aufgezeigt. Diese Kunstgriffe müssen vor dem Hintergrund elisabethanischer Rhetorik und ars poetica interpretiert werden und sind es auch (insbesondere in der anregenden Monographie von Sister Miriam Joseph), auch wenn ihre schöpferische Kraft solche schulmäßigen Rezepte und Kategorisierungen bei weitem übertrifft. Ein semantischer Kontrapunkt zwischen einer erhabenen und einer derben Bedeutung in ein und demselben Wort ähnlich dem, was Kökeritz 21 in As You Like It [›Wie es Euch gefällt‹] entdeckt, findet sich auch in Sonett 129. Spirit bezeichnet im Vokabular der Shakespeare-Ära eine lebensspendende Kraft, die sich sowohl im Geist als auch im Sperma manifestiert; dementsprechend besaß shame die Bedeutung von Keuschheit und Genitalien als Teile der Scham. Die Verbindung beider Wörter ist in der Verwendung des Dichters nicht 20 Peirce /Noyes, »Shakespearian Pronunciation«, S. 343. 21 Kökeritz, Shakespeare’s Pronunciation, S. 58 f.
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auf dieses Sonett beschränkt (Cymbeline, 5. 3. 35–36: guilded pale lookes: Part shame, part spirit renew’d [›entflammte, matte Blicke: Halb Scham, halb muterneut‹] 22 ). Ferner sind die beiden beinahe synonymen negativen Charakteristika von lust in action – expense und waste – auch in seinen Dramen miteinander verbunden (Lear, 2. 1. 100: To have th’ expense and waste of his revenues [›Daß man sein Gut verjubelt und verpraßt‹] 23 ). Die enge Verbindung von Blut und Sperma in der Physiologie und Literatur der englischen Renaissance wurde von Hilton Landry 24 bemerkt, und das gemeinsame Auftreten von blood [›Blut‹] und lust [›Lust‹] ist ziemlich häufig in Shakespeares Ausdrucksweise. Die Doppeldeutigkeit im Wortschatz des Autors affiziert jedoch nicht die essentiell homogene und stabile thematische Bauweise seiner Gedichte und dieses Sonetts im Besonderen.25
V. Durchgängige Merkmale Die zahlreichen Variablen, die ein augenfälliges Netzwerk von binären *Oppositionen zwischen den vier strophischen Einheiten bilden, sind höchst effektiv vor dem Hintergrund der vorherrschenden Merkmale, die allen vier Strophen gemeinsam sind. Folglich präsentiert jede Strophe ihre eigene spezifische Auswahl an Verbalkategorien, andererseits ist jede Strophe mit je einem Infinitiv ausgestattet, der einer der geraden Zeilen angehört, der vierten Zeile von I und II und der zweiten von II und IV. Diese Infinitive *transitiver Verben unterscheiden sich in ihrer syntaktischen Funktion von einander, und der erste und letzte davon scheint sogar gegen den grammatikalischen Standard des elisabethanischen Zeitalters zu verstoßen: I 3 Is 〈…〉 4 not to trust [›Ist 〈…〉 nicht zu trauen‹] II 4 layd to make the taker mad [›ausgelegt, zu machen den Nehmer toll‹] III 2 in quest to have [›bestrebt, maßlos zu haben‹] 22 Shakespeare, Cymbeline, übs. v. Dorothea Tieck, S. 570. [Anm. d. Übs.] 23 Shakespeare, König Lear, übs. v. Frank Günther, S. 83. Vgl. auch die Übersetzung: »Um seine Renten schwelgend zu verprassen«, in: Shakespeare, König Lear, übs. v. Wolf Graf Baudissin, S. 530. [Anm. d. Übs.] 24 Landry, Interpretations in Shakespeare’s Sonnets. 25 Im Erweis der nicht nur formal, sondern auch thematisch stabilen Tektonik des Sonetts sehen Jakobson und Jones die von ihnen zu lösende – und gelöste – Aufgabe. Im Lichte neuerer Lektüren liegt gerade hierin eine der Cruces ihres Unternehmens: Es verfehlt die eigentümliche Unruhe des Sonetts 129 »which, for all its formal regularity and syntactic parallelism, so comprehensively described by Jakobson, conveys a tone of frenzied illogic«. (Vendler, »Jakobson, Richards and Shakespeare’s Sonnet CXXIX«, S. 193). [Anm. d. Komm.]
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IV 1 none knowes well, 〈how〉 IV2 To shun the heaven, [›niemand weiß richtig, 〈wie〉 zu fliehn den Himmel‹] in einem elliptischen Satz, von Puttenham 26 beschrieben als »the figure of default« [›die *Figur des Mangels, der Auslassung‹].
Ein charakteristisches durchgängiges Merkmal ist das auffällige Fehlen bestimmter grammatischer Kategorien über das gesamte Gedicht hinweg. Es ist das einzige unter den 154 Sonetten der Quarto-Ausgabe von 1609, das weder Personal- noch entsprechende Possessivpronomina enthält. In den Sonetten 5, 68, 94 treten ausschließlich Pronomina der dritten *Person auf, während die übrigen Sonette beträchtlichen Gebrauch machen von Pronomina der ersten und zweiten Person. Das Sonett 129 meidet Epitheta: mit Ausnahme des eher assertorisch verstärkenden als näher spezifizierenden *Modifikators in III3 very wo [›große Qual‹] werden Adjektive nicht als Attribute, sondern nur in einer prädikativen Funktion und einmal – in II4 to make the taker mad [›um denjenigen, der nimmt, toll zu machen‹] – als Ergänzung verwendet. Außer dem Wort men in der letzten Zeile treten im Sonett nur Singularformen auf. Das Gedicht enthält keine anderen finiten Formen als die dritte Person Singular des Präsens. Jede Zeile weist eine auffällige *Alliteration oder Wiederholung von Lautsequenzen und ganzen *Morphemen oder Wörtern auf: 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
expense of Spirit (sp-sp) lust in action – action, lust blouddy – blame extreame – trust (str – tr.st) sooner – straight hunted – had hated – bayt /eyt/ – /eyt/ make – mad pursut – possession had, having – had proof – provd before a – behind a
Die stark repetitive Textur der beiden letzten Zeilen wird in Sektion IX analysiert, die dem Schluß-Couplet gewidmet ist. Das Gedicht, welches mit einer charakteristischen Kontraktion zweier aufeinanderfolgender Vokale beginnt, Th’expense, ist ganz ohne *Hiatus. Gespannte und ungespannte Anfangsvokale (h oder #) sind *symmetrisch 26 Puttenham, The Arte of English Poesie, S. 175.
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Roman Jakobson und Lawrence G. Jones
im Sonett verteilt. Einer der beiden Teile eines jeden Verspaars beginnt mit einem solchen Anfang, der in den ungeraden Strophen deren innere Zeilen eröffnet und in den geraden Strophen die erste Zeile einleitet, sowie die vierte, sofern es sich um ein Quartett handelt: 2 3 5 8 10 11 13
Is Is Injoyd On Had A All
In den Hebungen hat jedes Quartett drei und das Schluß-Couplet zwei vokalische Anfänge; in acht Fällen ist der Vokal ein /æ/; und in allen vier Strophen scheint jeweils die zweite dieser Hebungen mit einem solchen Anfang ausgestattet zu sein: I2 in action, and till action (/æ/ – /æ/ – /æ/); II2 hunted, and no sooner had (/hl/ – /æ/ – /æ/); III2 having and in quest to have (/hæ/ – /æ/ – /hæ/); IV2 heaven 〈…〉 hell (/he/ – /he/). Das semantische Leitmotiv jeder Strophe ist eines von tragischer Prädestination: 27 lust 〈…〉 is perjurd (I2,3), d. h. absichtsvoll trügerisch. Sie [›die Lust‹] ist eine mörderische Falle, mit Absicht gestellt (II) und ein scheinbar freudvolles und himmlisches Glück versprechend, nur um es prompt in Qual zu verwandeln. Die Terminologie dieses Plots ist eng verbunden mit dem Vokabular in Shakespeares Dramen: O passing traitor, perjurd and unjust! (Henry VI (3), 5. 1. 106) [»O Erzverräter, falsch und ungerecht!«] 28 There’s no trust 〈vgl. Sonett 129: I4 not to trust〉, No faith, no honesty in men; all perjurd (Romeo and Juliet, 3. 2. 85 f.) [»Kein Glaube, keine Treu’, noch Redlichkeit Ist unter Männern mehr. Sie sind meineidig«] 29 Perjurie, in the high’st Degree; Murther, stern murther 〈vgl. Sonett 129: I3 perjurd, murdrous〉 (Richard III, 5. 3. 228 f.) [»Meineid, Meineid, im allerhöchsten Grad, Mord, grauser Mord«] 30 27 »tragic predestination«: Einigermaßen überraschend tritt dieses Interpretament inmitten der deskriptiven Analyse sprachlich-stilistischer Merkmale auf. Sein – freilich problematischer – Sinn erschließt sich mit der Nennung jenes »bösartigen Schuldigen«, (s. u. S. 635) den Jakobson /Jones als handelndes Subjekt der letzten Gedichtzeile ausmachen, jenes »himmlischen Verdammers der Menschheit« (s. u. S. 645), der für sie die »ultimate persona« des Sonetts ist. [Anm.d. Komm.] 28 Shakespeare, Henry VI (3), übs. v. August Wilhelm Schlegel, S. 774. [Anm. d. Übs.] 29 Shakespeare, Romeo und Julia, übs. v. August Wilhelm Schlegel, S. 134. [Anm. d. Übs.] 30 Shakespeare, Richard III, übs. v. August Wilhelm Schlegel, S. 898. [Anm. d. Übs.]
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What to ourselves in passion we propose The passion ending, doth the purpose lose 〈vgl. Sonett 129: II4 On purpose layd – III4 Before a joy proposd〉 (Hamlet, 3. 2. 204) [»Wo Leidenschaft den Vorsatz hingewendet, Entgeht das Ziel uns, wann sie selber endet.«] 31
Die lautliche Nähe von perjurd mit purpose wird ergänzt durch die Gegenüberstellung des letzteren Wortes mit proposed in den letzten Zeilen von II und III, wodurch die etymologische Verwandtschaft dieser beiden Wörter vom Dichter wiederbelebt wird. Wenn die erste zentrifugale Zeile des Sonetts den Helden – the taker – einführt, noch nicht als Handelnden, sondern als Opfer, so liefert die letzte zentrifugale Zeile die Entlarvung des bösartigen Schuldigen, the heaven that leads men to this hell [›der Himmel, der die Menschen führt zu dieser Hölle‹], und enthüllt damit, von welchem Meineidigen das Glück versprochen und der Köder gelegt worden war. Wie D. Bush klug bemerkt, »erinnern heaven [›Himmel‹] und hell [›Hölle‹] des sinnlich Liebenden auf bitter ironische Weise an ihre religiösen Gegenstücke«,32 während die von Riding und Graves 33 präsentierte Vermutung, daß in diesem Sonett Heaven [der ›Himmel‹] für Shakespeare die Sehnsucht nach temporärer Stabilität ist, keinerlei Unterstützung findet im Text des Dichters.34
VI. Ungerade vs. gerade Die mannigfaltigen Entsprechungen zwischen den ungeraden Strophen einerseits und jene zwischen den geraden andererseits sowie deren wechselseitiger Kontrast zeigen die elaboriertesten Symmetrien im Sonett, und es ist genau diese Hierarchie der drei interstrophischen Korrelationen (siehe oben, Abschnitt II), welche die vierstrophigen Gedichte jedes 31 Shakespeare, Hamlet, übs. v. August Wilhelm Schlegel, S. 326. Vgl. auch: »Was wir uns selbst in Leidenschaft geloben zu vollführen, Muß, sobald jene endet, seinen Sinn verlieren«, zitiert aus: Shakespeare, Hamlet, hg., übs. u. komm. v. Holger M. Klein. [Anm. d. Übs.] 32 Shakespeare’s Sonnets, hg. v. Bush /Harbage, S. 18. 33 Riding /Graves, »William Shakespeare and E. E. Cummings«, S. 80. 34 Die lobend zitierte Bemerkung Douglas Bushs besagt nicht mehr, als daß Himmel und Hölle der Liebeslust in bitter ironischer Weise auf das religiöse Bezugsfeld dieser Wörter anspielen. Keinesfalls bestätigt sie das Vorkommen eines böswilligen Gottes in Sonett 129. Hingegen liegt die von Jakobson /Jones verworfene Lesart Ridings und Graves’ in ihrem Versuch, »heaven« als Bezeichnung einer wie auch immer gearteten irdischen Befindlichkeit zu deuten, eindeutig im Bereich dessen, was man – bei allen individuellen Divergenzen – als communis opinio der Interpreten dieses Gedichts bezeichnen darf. [Anm. d. Komm.]
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Wortkünstlers individualisiert und diversifiziert. Die Präsentation des Themas in den ungeraden Strophen des Sonetts 129 ist eine äußerst abstrakte Gegenüberstellung der verschiedenen Stadien der Lust (before, in action, behind [›zuvor, währenddessen, danach‹]), wohingegen die geraden Strophen die Metamorphose selbst ins Zentrum stellen (II2 hunted, and no sooner had [›gejagt, und kaum besessen‹] 3 Past reason hated [›Kopflos gehaßt‹]; und in IV der Weg von heaven zu hell). Man könnte die geraden Strophen mit einem Film vergleichen, der eine ausschließlich geradlinige Handlungsentwicklung aufweist, wohingegen die ungeraden Strophen einen retrospektiven und generalisierenden Ansatz vorstellen: I2 In action, and till action [›Während der Tat und bis zur Tat‹]; III2 Had, having, and in quest to have extreame [›Gehabt, noch habend und bestrebt, maßlos zu haben‹].35 Diese Quartette suchen nach der unveränderlichen Essenz der dargestellten Leidenschaft: III1 Mad in pursut and in possession so [›Toll im Verlangen und im Besitz ebenso‹]. Die ungeraden Strophen sind, im Gegensatz zu den geraden, reich an Substantiven und Adjektiven: siebzehn (9 + 8) Substantive versus sechs (2 + 4), sowie zehn Adjektive (8 + 2) versus eines (1 + #). Die Strophe I konzentriert acht ihrer Substantive in ihrem ersten Verspaar und alle acht Adjektive im zweiten Verspaar, während die Strophe III ihre Adjektive auf das erste Verspaar und die meisten ihrer Substantive auf das zweite beschränkt. Alle siebzehn Substantive der ungeraden Strophen sind *abstrakt, alle sechs Substantive der geraden Strophen sind *konkret, wenn wir von der Liste der Substantive jene drei abstrakten in der Strophe II ausschließen, die einen Teil adverbialer Ausdrücke bilden (II2,3 Past reason; 4 On purpose). Die abstrakten Substantive fallen in zwei Kategorien: A) Wörter mit verbalem Charakter: fünf Substantive in I und vier in III (I: expence, waste, action, action, blame [›Versprühen, Verschwendung, Tat, Tat, Schuld‹]; III: pursut, possession, quest, proofe [›Verlangen, Besitz, Bestreben, Beweis‹]); B) Gefühle, Zustände, Fähigkeiten: vier in I und ebenso viele in III (I: Spirit, shame, lust, lust [›Geist, Schande, Lust, Lust‹]; III: blisse, wo, joy, dreame [›Seligkeit, Qual, Glück, Traum‹]). Die Symmetrie zwischen I und III scheint vollständig zu sein, wenn wir III nur dem ersten, rein substantivischen Verspaar der ersten Strophe gegenüberstel35 Vgl. die Verwendung filmspezifischer Beschreibungskategorien in Jakobson, »›Si nostre vie‹. Observations sur la Composition & Structure de Motz dans un sonnet de Joachim Du Bellay«, S. 266 (vgl. die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 553–606, hier: S. 593), sowie in Jakobson, »On the Verbal Art of William Blake and Other Poet-Painters«, S. 331 (vgl. die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 17 f.). [Anm. d. Komm.]
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len. Dieses Verspaar enthält genau vier Wörter mit verbalem Charakter, während das einzige Substantiv des zweiten Verspaars, das acht Adjektive besitzt, lediglich als Modifikator seines letzten Adjektivs fungiert: full of blame = blameful [›voll von Schande = schandvoll‹] 36. Nur in den ungeraden Strophen treten Substantive als Modifikatoren anderer Substantive oder Adjektive auf (6 + 4). In den ungeraden Strophen fehlt es den Verbformen (3 + 5) an Modifikatoren. In den geraden Strophen verlangen Verbformen (7 + 4) Modifikatoren, bis auf eine einzige Ausnahme (II3 a swallowed bayt [›ein geschluckter Köder‹]). All diese Regeln 37 zeigen den deutlichen Unterschied zwischen den ungeraden und den geraden Strophen, die letzteren sind dynamisch, auf Verben und Verbalausdrücke ausgerichtet und überlagern damit andere Wortarten, während die ungeraden Strophen eine viel statischere und synthetisierendere Tendenz entwickeln und daher abstrakte Substantive und Adjektive fokussieren. Die verbale Orientierung der geraden Strophen kann sowohl vom Schluß-Couplet, das auf den drei einzigen konkreten finiten Formen des Gedichts basiert, als auch vom zweiten Quartett veranschaulicht werden: a) mit dessen Partizipien, die durch die Modifikatoren deutlich von den Adjektiven getrennt sind, und b) mit den beiden konkreten *deverbalen Nomina taker und bayt. Bezüglich Shakespeares Gefühl für verwandte Verben des letzteren Nomens vgl. seinen Satz »Bait the hook well; this fish will bite« (Much Ado about Nothing, 2. 3. 114) [»Jetzt ködert den Haken, dieser Fisch wird anbeißen.« (Viel Lärm um nichts)].38 Die beiden Substantive des Sonetts, die belebte Wesen bezeichnen, also dem Genus ›Person‹ oder ›Mensch‹ angehören, sind jeweils direkte *Objekte in der letzten Zeile der geraden Strophen: II taker und IV men. Gewöhnlich ist das *merkmallose Agens eines Verbums belebt, vorwiegend menschlichen, und das merkmallose Ziel(Objekt) ist belebt. Doch in beiden zitierten Konstruktionen mit transitiven Verben kehrt das Sonett diese Grundkonstellation um. Beide personalen Nomina des Gedichts charakterisieren menschliche Wesen als passive Ziele äußerer, nicht-menschlicher und unmenschlicher Handlungen. Es ist bedeutsam, 36 In meiner dt. Übersetzung übersetzt als ›schändlich‹. [Anm. d. Übs.] 37 »rules«: Beobachtete Regelmäßigkeiten werden hier zu Regeln der Textgenerierung. Es stellt sich die Frage, wer diese (wissend?) befolgt und auf welche, dieses eine Sonett 129 überschreitende Ebene der Verallgemeinerung hin sie zu befolgen sein sollten. Auf erstere Frage geht I. A. Richards (»Jakobson’s Shakespeare«, S. 590) ein, wenn er u. a. schreibt: »That a poet may know hardly anything about his compositions entails nothing […] as to his knowing how to compose.« [Anm. d. Komm.] 38 Shakespeare, Viel Lärm um nichts, übs. v. Wolf Graf Baudissin, S. 584. [Anm. d. Übs.]
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daß das deverbale Nomen II4 taker, das mit einem agentiven, personalen Suffix ausgestattet und dem Verb to make [›machen‹] untergeordnet ist, ein solches menschliches Wesen nicht als einen Handelnden, sondern als jemanden, dem eine Handlung widerfährt, charakterisiert. Die lautliche und semantische Beziehung zwischen den Verben make [›machen‹] und take [›nehmen‹] wird durch den ersten Reim in Sonett 81 make – take sowie durch den letzten Reim in Sonett 91 take – make unterstrichen. Die Konjunktionen sind nur in den ungeraden Strophen (1 + 3) *kopulativ; in den geraden Strophen (1 + 1) hauptsächlich *adversativ. Die Nachbarschaft von Konjunktionen und Formen der Negation ist den ungeraden Strophen fremd, jedoch regulär in den geraden Strophen: II1 no sooner 〈…〉 but; 2 and no sooner; IV1 yet none. Diese Unterschiede zwischen den Konjunktionen und ihre Verwendung in den beiden Paaren strophischer Einheiten charakterisieren die höhere dramatische Spannung der geraden Strophen. Nur die geraden Strophen weisen eine *hypotaktische Struktur auf und enden in mehrstufigen, progressiven Strukturen, zum Beispiel in Konstruktionen mit verschiedenen Graden der Unterordnung, wobei die untergeordnete Konstituente der unterordnenden Konstituente jeweils nachgestellt ist (vgl. Yngve und Halliday): 39 II A) hated, B) as a swallowed bayt, C) on purpose layd, D) to make, E) the taker, F) mad. IV A) none knowes well, B) to shun, C) the heaven, D) that leads, E) men, F) to this hell.
Die vorletzten Konstituenten beider progressiver Strukturen sind die einzigen belebten Nomina des Sonetts (II4 the taker, IV2 men), und beide Konstruktionen enden mit den einzigen substantivischen *Tropen: bayt und taker; heaven und hell anstelle von des Himmels Herrscher und höllischer Qual.40
39 Vgl. Yngve, »The Depth Hypothesis« sowie Halliday, »Class in Relation to the Axes of Chain and Choice in Language«. 40 »heaven’s sovereign and hellish torment«: Das Zentrum – und die zentrale Crux – der Interpretation: Jakobson /Jones bestehen darauf, »heaven« nicht analog zu »hell« als *metaphorische Zustandsbeschreibung zu lesen, sondern als *Metonymie, in der sich als eigentlicher Urheber männlich-menschlicher Lustqual ein übelwollender Herrgott verbirgt. Jonathan Culler analysiert treffend, wie es zu diesem eklatanten Mißverstehen kommt: »This mistaken interpretation arises from a confusion about the nature and function of parallelism […] Jakobson, thinking in distributional terms, takes position to be the crucial factor: since ›on purpose laid‹ directly pre-
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Es besteht eine enge Verbindung zwischen den letzten Zeilen beider Strophen in ihrem konsonantischen Gefüge: II layd (l.d) to (t) make (m) the (ð) taker (t) mad (m.d) IV that (ð.t) leads (l.d) men (m) to (t) this (ð) hell (l)
Auch die vorletzte Zeile enthüllt eine ähnliche Struktur in beiden Strophen: II swollowed – IV knows well. Das enge Verhältnis zwischen den Strophen I und III manifestiert sich in ihren Reimen. Der erste Reim in I und der letzte Reim in III enden mit m, und die reimenden *Worteinheiten sind in beiden Fällen zweisilbig: of shame – of blame, extreame – a dreame, während der andere Reim in I Worteinheiten ungleicher Silbenzahl gegenübersteht, lust – to trust, und der Rest der reimenden Einheiten einsilbig ist. Ebenso besitzt auch das erste an die ›Dark Lady‹ 41 adressierte Sonett, Nr. 127, ein Reimende mit m in beiden ungeraden Quartetten: I2 name – und wieder 4 shame, III2 seeme – 4 esteeme; darüber hinaus ist der Reim III1 so – 3 wo des Sonetts 129 auch im Schluß-Couplet von Sonett 127 (sowie auch in 90) vorhanden, obgleich in seiner Umkehrung. Im Intervall zwischen den beiden Zeilen mit dem m-Reim weisen beide ungeraden Strophen gemeinsame symmetrische Entsprechungen auf: der erste Halbvers und der Anfang des zweiten in I2 stimmen mit den analogen Teilen von III3 überein: 2 3 1 I 2 Is lust (l.s) [when lust is] in action, and 2 3 1 III 3 A blisse (l.s) [when lust is] in proofe and cedes ›to make‹ he relates it to ›heaven‹ which directly precedes ›that leads‹. But the reader would make this connection only if he approached the poem without paying any attention to logical and thematic relations.« (Culler, »Jakobson’s Poetic Analyses«, S. 72 f.) Jakobson /Jones deuten also eine Positionsäquivalenz als notwendige Funktionsäquivalenz und sind dadurch verleitet, zwei lose verknüpfte Metaphern (bayt, heaven) als eine Metapher (bayt / taker) und eine davon notwendig abhängige Metonymie / personificatio (heaven / God / maker) zu verstehen (siehe auch Anm. 54). [Anm. d. Komm.] 41 Von den 154 Sonetten Shakespeares wird traditionell den ersten 126 ein männlicher Adressat unterstellt, ein schöner junger Mann von Adel. Die übrigen 28 (127–154) kreisen um das Verhältnis des Sprechers / Dichters zu der sog. Dark Lady, um deren reale Identität sich ein nicht minder ingeniöses Gespinst biographistischer Spekulation rankt wie um die des angebeteten Jünglings. Siehe hierzu: Shakespeare, The Complete Sonnets and Poems, S. 118; Katherine Duncan-Jones, »Introduction«, in: Shakespeare’s Sonnets, hg. v. Duncan-Jones, S. 45–69; neuerdings plädieren Stanley Wells und Paul Edmondson für mehrere Jünglinge als Adressaten der Sonette (vgl. Shakespeare’s Sonnets, hg. v. Wells /Edmondson, S. 1–126). [Anm. d. Komm.]
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Demnach fungiert lust [›Lust‹] in I2 als Substanz und bliss [›Seligkeit‹] in III3 als *Akzidens. Übrigens tritt die Präposition in nur in den ungeraden Strophen auf: zweimal in I und viermal in III. Das Reimwort extreame [›maßlos‹] aus III2 wird in I4 vorweggenommen, wo das Paar nebeneinander stehender Adjektive – Savage, extreame [›Wild, maßlos‹] – eine *trochäische Umstellung am Anfang der jambischen Zeile bildet (vgl. Jespersens einleitende Diskussion) und entspricht rhythmisch dem einzigen anderen ›trochäischen‹ Anfang: III1 Mad in pursut [›Toll im Verlangen‹], auf den wiederum das nebenstehende Adjektiv extreame folgt, wobei das vorhergehende Adjektiv mit m beginnt und das darauffolgende damit endet. In der ersten Zeile der dritten Strophe ist die Präposition in zweimal an die metrische Senkung gebunden, und vielleicht soll das mit einer Majuskel beginnende In aus der editio princeps die reguläre Senkung des metrischen Schemas signalisieren. Die Gruppen bestehend aus I4 extreame (kstr) 〈…〉 not to trust (tt.tr.st) und III2 in quest, to have (k.stt) extreame (kstr) sind jeweils mit einem Infinitiv verknüpft. Das emphatische adjektivische Verspaar, das die erste Strophe beendet, ist besonders reich an ausdrucksstarken Wiederholungen von komplexen Gruppen: Is perjurd, murdrous, blouddy full of blame, (rdm.rdr bl bl.m) Savage, extreame, rude, cruel, not to trust (kstr.mr.d kr tr.st).
In den einleitenden Versen von I und III stellt die letzte Hebung mit den beiden benachbarten Senkungen zwei ähnliche Ketten von konsonantischen Phonemen zur Schau: I1 Spirit (sp.r.t) – III1 in pursut (p.rs.t).
VII. Äusseres vs. Inneres Wie es viele vierstrophige Gedichte der Weltliteratur zeigen, nehmen die äußeren Strophen einen höheren syntaktischen Rang ein als die inneren. Den inneren Strophen fehlt es an finiten Formen, sie bestehen vielmehr aus zehn Partizipien (6 + 4). Andererseits sind den äußeren Strophen Partizipien vorenthalten, doch jede dieser Strophen enthält eine finite Form, die zweimal in durch eine koordinierende Konjunktion verbundenen Sätzen auftritt: I1 Th’expense 〈…〉 Is lust 〈…〉 and 〈…〉 lust 3 Is perjurd; IV1 the world well knowes yet none knowes well. In jedem dieser Fälle weisen beide Sätze eine *Metathesis auf: I2 Is lust in action – till action lust 3 Is; IV1 well knowes – knowes well. In der ersten Strophe tritt lust in zwei verschiedenen syntaktischen Funktionen auf. In der vierten Strophe zeigt das Adverb well, je nachdem, ob vorangestellt oder nachgestellt, zwei unterschiedliche semantische Nuancen: »widely knowes« [›weiß es sehr
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wohl‹] im ersten Fall und »knows enough« [›weiß es genug‹] im zweiten Fall. Die finiten Formen der beiden äußeren Strophen unterscheiden sich von einander sowohl morphologisch als auch syntaktisch; den beiden *Kopulae der ersten Strophe stellt die vierte Strophe drei Transitiva gegenüber: zweimal knowes in der ersten Zeile und leads in der zweiten. In den Hauptsätzen präsentiert jede dieser Strophen zwei Subjekte und zwei finite Prädikate; die vierte Strophe beinhaltet darüber hinaus einen Nebensatz mit einem Subjekt und einem finiten Prädikat, wohingegen keine Subjekte und, wie bereits erwähnt, keine finiten Prädikate in den inneren Strophen auftreten. In rhythmischer Hinsicht steht die letzte Hälfte der letzten Zeile der letzten Strophe (le´ads me´n to this he´ll: –´ –´ – – –´ [›führt Menschen zu dieser Hölle‹]) in einem *spiegelsymmetrischen Verhältnis zur ersten Hälfte der letzten Zeile der ersten Strophe (sa´vage, extre´ame, ru´de: –´ – – –´ –´ [›wild, maßlos, grob‹]); dies sind die einzigen beiden Fälle von betonten einsilbigen Wörtern bei einer Hebung im Versinneren. Die typischen Merkmale der inneren Strophen sind, mit den Worten von Sister Miriam Joseph, »grammatische *Figuren, die ihre Wirkung durch Weglassung erzielen und so Abkürzungen im Ausdruck darstellen«.42 Diese Strophen sind aus unvollständigen Sätzen konstruiert, denen es an finiten Formen fehlt, und die effektiv in unabhängiger Funktion agieren: vgl. Barbara Strangs treffende Bemerkungen zur »disjunctive grammar« [›disjunktiven Grammatik‹]; 43 die gelegentlichen Einwände (siehe zum Beispiel B. H. Smith 44) gegen den ›unpassenden‹ (Satz)punkt, der in der Quarto-Ausgabe von 1609 ans Ende der zweiten Strophe gesetzt wurde, sind kaum zu rechtfertigen. Die Aufhebung der funktionalen Grenze zwischen Adjektiven und Adverben kann als spezifische Eigenschaft der inneren Strophen festgehalten werden: II1 dispised straight (adverbialisiertes Adjektiv); III1 in possession so (adjektiviertes Adverb). Beide inneren Strophen zeichnen sich aus durch das, was Shakespeares Timon »confounding contraries« [›verwirrende Gegensätze‹] 45 nennt: II1 injoyd – dispised [›genossen – verachtet‹], 2 hunted – hated [›gejagt – gehaßt‹], III1 pursut – possession [›Verlangen – Besitz‹], 3 blisse – wo [›Seligkeit – Qual‹]. Puttenhams Figur der Verdopplung [»redouble«; *Anadiplose] (ein Wort, das eine Zeile beendet, und am Anfang der nächsten Zeile wiederholt wird) ist typisch für die engen Verbindungen zwischen den in42 43 44 45
Joseph, Shakespeare’s Use of the Arts of Language, S. 296. Strang, Modern English Structure, S. 67. Shakespeare, Sonnets, hg. v. Smith, S. 183. Shakespeare, Timon of Athens, 4. 1. 20. [Anm. d. Übs.]
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neren Strophen: II endet und III beginnt mit dem Adjektiv mad [›toll, verrückt‹], das im ersten Fall als ein die letzte Phase der Lust spezifizierender grammatischer Modifikator und im letzteren Fall als ein auf alle Phasen dieser schlimmen Obsession applizierter Oberbegriff verwendet wird. Das Partizip had [›hatte‹] (einmal im *End- und einmal im *Anfangsreim mit mad ) beendet II2 und eröffnet III2. Die Konstruktion II4 on purpose, die dem mad am Zeilenende vorausgeht, und die Konstruktion III1 in pursut, die auf das mad am Zeilenanfang folgt, entsprechen einander aufgrund des *Nasals der Präposition und des gleichen Präfixes. Die Verwendung der *figura etymologica (»translacer«, wie Puttenham die Wiederholung desselben Wortstammes mit unterschiedlichen *Affixen nennt) ist in den inneren Strophen üblich: vgl. Injoyd in der ersten Zeile von II und joy in der letzten Zeile von III; Had, having und to have in III2; proofe und proved in III3; II4 purpose – III4 proposd. Die erwähnten Figuren bauen eine komplexe Verbindung zwischen den inneren Strophen auf: II1 Injoyd, 2 had, 4 On purpose 〈…〉 mad – III1 Mad, 2 Had, 4 Joy proposd. Jede dieser beiden einander entsprechenden Gruppen besteht aus zwei Partizipien, einem Substantiv und einem Adjektiv. Die inneren Strophen sind ferner durch eine *paronomastische Kette miteinander verbunden: II1 dispised straight (d.sp.z.d str.t), II2,3 Past reason (p.str.z.n), 4 On purpose (np.rp.s), III1 In pursut (np.rs.t), 4 proposd (pr.p.zd).
VIII. Vorhergehend vs. Nachfolgend Die beiden ersten und ebenso die beiden letzten Strophen offenbaren eine bemerkenswert geringe Anzahl von spezifischen Entsprechungen, und unter den drei Typen interstrophischer Beziehungen spielt die Opposition zwischen den ersten beiden und den letzten beiden Strophen eine untergeordnete, bestenfalls drittrangige Rolle im Sonett 129. Die vorhergehenden Strophen weisen einen internen Wechsel von bestimmten und unbestimmten Artikeln auf, ein the gefolgt von einem a in I und ein a gefolgt von einem the in II, während die nachfolgenden Strophen entweder nur unbestimmte Artikel (vier in III) oder nur bestimmte (zwei in IV) enthalten. Das relevanteste Merkmal bezüglich der Verteilung von bestimmten und unbestimmten Artikeln ist hingegen das Fehlen von unbestimmten Artikeln im Couplet, das dieses von den drei Quartetten absetzt. Abgesehen von den m-Reimen, die beide ungeraden Strophen miteinander teilen, enden die anderen drei Reime der ersten beiden Strophen in einem *dentalen *Verschlußlaut, während es den Reimen der letzten bei-
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den Strophen an *Obstruenten fehlt. Den neun identischen Diphthongen der ersten beiden Strophen – I waste, shame, blame; II straight, hated, bayt, layd, make, taker – entspricht kein ähnlicher Diphthong in den letzten beiden Strophen. Innerhalb jedes dieser aneinander angrenzenden strophischen Paare vorhergehend /nachfolgend spielen grammatische Kontraste zwischen benachbarten Strophen eine ungleich größere Rolle (ungerade vs. gerade und äußere vs. innere) als spezifische Ähnlichkeiten in ihrer grammatischen Struktur. Trotz der relativen Unabhängigkeit der inneren Strophen von den angrenzenden äußeren Strophen nehmen die letzteren eine herausgehobene Stellung im grammatischen Gefüge des Gedichts ein. Dementsprechend präsentieren beide Paare angrenzender Strophen zwei gegensätzliche Typen von Abstufungen: die erste äußere ungerade Strophe, welche die darauffolgende zweite gerade Strophe überragt, kündigt das unveränderlich mörderische Wesen der Lust an, wohingegen die letzte äußere gerade Strophe dem vorhergehenden strophischen Paar das abschließende, aufwühlende [strenuous] Thema des unausweichlichen, höllischen Endes aufbürdet.
IX. Couplet vs. Quartette Das Schluß-Couplet weist eine beachtliche Anzahl von Eigenschaften auf, die den drei Quartetten fremd sind. Diesem Couplet fehlt es an Adjektiven, Partizipien, unbestimmten Artikeln (gegenüber den fünfzehn Adjektiven, elf Partizipien und sechs unbestimmten Artikeln der Quartette) und an grammatischen oder Kopulaverben. Es ist die einzige Strophe mit einem Substantiv im Plural, begrifflichen (lexikalischen) finiten Formen, *substantivischen und *adjektivischen Pronomina und mit einem Relativsatz. Die vier Nomina in IV sind reine Substantive, wohingegen in den Quartetten die meisten Substantive eng mit Verben verwandt sind: I expence, Spirit [›Versprühen, Geist‹] (dessen Beziehung zum lateinischen spirare [›wehen /hauchen /atmen‹] sowie zu präfigierten Verben wie respire, inspire, expire [›(auf-, ein-)atmen, anregen /beseelen, ausatmen /erlöschen‹] der Aufmerksamkeit des Dichters kaum entgangen sein kann), waste, action, blame [›Verschwendung, Tat, Schuld‹]; II bayt, taker [›Köder, der Nehmende‹]; III pursut, possession, quest, proofe [›Verlangen, Besitz, Suche /Bestreben, Beweis‹]. Die Nomina des Couplet sind die sogenannten »Unika«: 46 Im Diskursuniversum, auf das sich das Gedicht 46 Christophersen, The Articles; A Study of their Theory and Use in English, S. 30–33 u.
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bezieht, gibt es nur eine Welt, einen Himmel und eine Hölle; eine solche kontextuelle Spezifizierung verordnet der Welt [the world] und dem Himmel, der die Menschen zur Hölle führt [the heaven that leads men to this hell] einen bestimmten Artikel; 47 letztere [Hölle] besitzt »in enger Verwandtschaft zu Eigennamen« zwar keinen Artikel, doch wird sie von einem *anaphorischen Determinans begleitet. Die bestimmten Artikel des Couplets unterscheiden sich in ihrem partikularisierenden Gebrauch deutlich von den bestimmten Artikeln in den Quartetten, in denen sie eine generalisierende Funktion erfüllen: als generisch verwendetes Nomen 48 in I1 Th’expense of Spirit, oder als Typ seiner Klasse, wenn II4 the taker die gesamte Klasse derjenigen, die von einem Köder angelockt wurden, also der Geköderten, repräsentiert.49 Im Couplet hingegen ähneln die Nomina mit ihrer großen semantischen Weite den pronominalen *Totalisierern Sapirs IV1 all, none. 77. [Anm. v. R.J. / L.G.J.] – Christophersen charakterisiert Unika (uniques) folgendermaßen: »There is thus no difference in principle between the use of the article with uniques (i. e. names of classes containing usually only one member) and with ordinary unit-words. In either case the centre of attention must necessarily be so narrow as to comprise only one individual. Even unit-words in the-form are unique in so far as all the other individuals belonging to the class have disappeared from the focus of attention, so that the possibility of interpretation has become unique. The only difference is that with some words there do exist other individuals besides the one in question, while with others there do not. The latter (the so called ›uniques‹) do not require any introduction either in context or in situation. We can nearly always start a conversation about ›the sun‹ and ›the moon‹ and ›the universe‹.« (A. a. O., S. 30.) [Anm. d. Komm.] 47 Jakobson /Jones argumentieren hier gegen den normalen Sprachgebrauch des Englischen an. Der bestimmte Artikel macht heaven gerade nicht zum einzigen und einzig möglichen Himmel (Himmel = Aufenthaltsort Gottes), sondern zu dem sehr spezifischen Himmel, von dem im Gedicht die Rede ist: dem illusorischen Himmel der Lust. Es läßt sich vermuten, daß dieser Irrtum darin begründet liegt, daß Jakobson nicht als Muttersprachler mit Artikelsystemen vertraut ist. Als Unikum gehört ›heaven‹ (wie im übrigen auch das von Jakobson als das eigentlich gemeint vermutete ›God‹) zu den Nomina, die wie Eigennamen ohne nähere Spezifizierung artikellos bleiben. Statt also den Artikel als Folge der Spezifikation durch den notwendigen Relativsatz zu lesen (›to shun the heaven that leads men to this hell‹), faßt er das Bezugsnomen absolut und den Relativsatz als nicht-notwendige Apposition auf (›to shun heaven /God, who leads men to this hell‹). [Anm. d. Komm., mit Dank an Andreas Mahler]. 48 Etwa bei einem Nomen, das generisch verwendet wird (in I1 Th’expense of Spirit), oder bei einem, das als Exemplar jener Klasse figuriert (wenn the taker in II4 die gesamte Klasse der Geköderten repräsentiert [vgl. Strang, Modern English Structure]). [Anm. d. Komm.] 49 Strang, Modern English Structure, S. 125 f.
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Das Schluß-Couplet stellt konkrete und primäre Nomina den abstrakten oder deverbalen Nomina der Quartette gegenüber. Ähnlich unterscheiden sich die konkreten finiten Formen vom abstrakten is in I und von den abgeleiteten partizipialen Formen in II und III. Es ist bemerkenswert, daß in »einem der schönsten von den generalisierenden Sonetten« [»(one) of the most wonderful of the generalizing sonnets«], wie Barber dieses »großartige Gedicht« [»great poem«] richtig definiert, das von einigen Kritikern sogar als »das schönste der Welt« [»the greatest in the world«] gefeiert wird,50 die tiefsten semantischen Wirkungen der Quartette durch eine nahezu ausschließliche Verwendung solcher Konstituenten erzielt werden, die, seit Bentham 51 und Brentano 52, als bloße »sprachliche Fiktionen« [»linguistic fictions«] abgestempelt wurden und von heutigen Linguisten zu ›Oberflächenstrukturen‹ degradiert werden. Der Weg von den Quartetten zum Couplet wäre, mit den Worten Jeremy Benthams und seiner reistisch geprägten Nachfolger, ein Übergang von »Namen fiktiver Wesen« [»names of ficticious entities«] zu »Namen fabelhafter Wesen« [»names of fabulous entities«]. Das Sonett hat zwei Themen – die Lust und den Lüstenden – und verzichtet auf die Bezeichnung des ersteren in der letzten Strophe sowie auf die Bezeichnung des letzteren in der ersten. Die abstrakte Benennung des ersten Themas zieht eine Reihe weiterer abstrakter Nomina nach sich. Die erste Strophe charakterisiert die Lust an sich; die zweite beginnt mit einer Reihe von Passivpartizipien mitsamt einem Hinweis auf die bislang ungenannten dramatis personae 53 und endet mit der Erwähnung des taker, also dessen, der den Köder schluckt; die dritte Strophe verwendet eher aktive Partizipien, um das Verhalten des taker zu veranschaulichen und präsentiert Bilder der Lust als Objekte seines Begehrens. Das in der ersten Strophe auf die Lust bezogene Adjektiv extreame wird in der dritten Strophe auf den Lüstenden übertragen. Rein anaphorische Pronomina beziehen sich im Schluß-Couplet auf die vorhergehende Repräsentation von Lust, und der Begriff des Lüstenden wächst sich aus zu einer allgemeinen Vorstellung von men [›Menschen‹] und ihrer Verdammnis. Die letzte Zeile scheint auf die letztendlich entscheidende ›persona‹ [Figur] anzuspielen, den himmlischen Verdammer der Menschheit.54 50 Vgl. Rollins (Hg.), A New Variorum Edition of Shakespeare. The Sonnets, Bd. I, S. 331. 51 Vgl. Bentham, Theory of Fictions. 52 Vgl. Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkt, Bd. II. 53 Gemeint sind die Akteure. [Anm. d. Übs.] 54 Vgl. hierzu oben Anmerkungen 27, 34, 40 sowie die Bemerkung I. A. Richards’
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Das ganze Couplet besteht ausschließlich aus einsilbigen Wörtern, teilweise betont, teilweise *proklitisch; doch man beachte Puttenham: »Bei einsilbigen Wörtern 〈…〉 ist die Betonung gleichgültig und kann je nach Gefallen stark oder schwach und mit beliebigem Gewicht gesetzt werden«! 55 Wir beobachten eine ähnlich lapidare Machart des SchlußCouplet in einigen anderen Sonetten Shakespeares, zum Beispiel 2, 18 und 43. Diese Struktur begünstigt einen klar definierten (ver)doppelten Satzbau der betreffenden Zeilen: All this the world well knowes yet none knowes well, To shun the heaven that leads men to this hell.
Diese metrische Phrasierung wird vorbereitet durch die *Oxytona, welche die vorangehenden zwei Zeilen füllen, so daß acht von zehn Versfüßen innerhalb eines jeden der beiden letzten Verspaare ausdrücklich herausgestellt werden: III 3 A blisse in proofe and provd a very wo,
Before a joy proposd behind a dreame, 〈…〉
Die lautliche Textur des Couplet ist besonders dicht: in Anfangsposition finden wir fünfmal das /ð/, dreimal das /w/ (gegenüber zwei /ð/ und zwei /w/ in den zwölf Zeilen der Quartette). In betonten Wörtern treten einleitende und abschließende /n/ siebenmal auf und /l/ ohne darauffolgenden Vokal fünfmal (während die zwölf Zeilen der ersten drei Strophen kein /n/ und kein /l/ in denselben Positionen aufweisen). Unter den Vokalen sind die sechs /e/ des Couplet (3 + 3) die auffälligsten. Die Sequenz von drei Einsilbern mit einem internen /e/, heaven /hevn/ – men /men/ – hell /hel/, folgt der vertikalen ikonographischen Disposition und Entwicklungsordnung der Geschichte; die Affinität des ersten Nomens zum zweiten wird durch das abschließende /n/ sowie zum dritten durch das einleitende /h/ unterstrichen. Verschiedene Typen wiederholt auftretender Gruppen mit oder ohne *Inversion treten im Couplet hervor: well knowes – none knowes well (vgl. Kökeritz zur identischen Aussprache von »known« und »none« [no:n]) 56; 1 All this the – 2 the 〈…〉 this hell (lð.ð – ð.ð.1); 1 well, 2 To – 2 that leads (lt – tl); 2 shun the – heaven that (nð – nð). »The interpreter [Jakobson] seems to be placing Shakespeare at a viewpoint not too far removed from that of the author of Milton’s God.« (»Jakobson’s Shakespeare«, S. 590.) Richards könnte seine Skepsis kaum diskreter und zugleich kategorischer äußern als mit dieser gebildeten Anspielung auf William Empsons Milton’s God. [Anm. d. Komm.] 55 Puttenham, The Arte of English Poesie, S. 92 f.. 56 Kökeritz, Shakespeare’s Pronunciation, S. 122 u. 232.
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X. Zentrum vs. Ränder Es ist bemerkenswert, daß sich die letzten beiden Zeilen des zweiten Quartetts sowohl von den sechs vorhergehenden Zeilen als auch von den sechs nachfolgenden Zeilen unterscheiden und ein zentrales Verspaar sui generis bilden, das die siebte zentripetale Zeile sowie die erste der sieben zentrifugalen Zeilen umfaßt. Jede der sechs einleitenden Zeilen weist einen grammatischen *Parallelismus seiner beiden Halbverse auf: Wörter derselben grammatischen Kategorie erscheinen zweimal in derselben syntaktischen Funktion (I1 of Spirit, of shame; 2 in action, till action; 3,4 Sequenzen von nebeneinander stehenden Adjektiven; II1 Injoyd, dispised; 2 hunted, had ). Den zentralen Zeilen fehlt es an solchen intralinearen Parallelismen; speziell II4 ist aus fünf vollkommen unähnlichen grammatischen Formen aufgebaut. Dieses Verspaar beinhaltet darüber hinaus den einzigen Vergleich und damit den einzigen syntaktischen Fall einer Vergleichskonstruktion (as… [›wie…‹]). Die sechs letzten Zeilen des Sonetts kehren zurück zum grammatischen (morphologischen und, mit Ausnahme von III2 und IV2, syntaktischen) Parallelismus der Halbverse, der typisch war für die ersten sechs Zeilen: III1 in pursut, in possession; 2 having, to have (!); 3 A blisse, a wo; 4 a joy, a dream[e]; IV1 knowes, knowes; 2 the heaven, to this hell (!). In jeder dieser zwölf Zeilen der Ränder verbindet eine semantische Ähnlichkeit die parallelisierten Wörter und schärft den Unterschied zwischen diesen intralinearen Übereinstimmungen und dem sich über beide Zeilen des zentralen Verspaars erstreckenden seltsamen Vergleich. Die ungleiche Anzahl von Zeilen in den vier Strophen – 3·4 + 1·2 – ruft zwei Arten von Opposition in der grammatischen Organisation des Sonetts hervor: einerseits einen mehrfachen Kontrast zwischen dem Couplet und den Quartetten und andererseits die Gestalt eines zentralen Verspaars, symmetrisch gesäumt von zwei Sextetten and den Rändern. Bedeutsame thematische, morphologische, syntaktische und paronomastische Übereinstimmungen (siehe oben, Abschnitte IV, VI und IX) verbinden diese zweizeiligen Leitgedanken des gesamten Gedichts.
XI. Anagramme? In einige Sonette Shakespeares (134–136) ist sein Vorname Will auf wortspielerische Weise eingefügt. Dies suggeriert die vorsichtige Frage, ob seine Signatur nicht auch in Sonett 129 als *Anagramm verborgen ist, so daß des Dichters Bemerkung – »every word doth almost tell my name«
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[›jedes Wort verrät beinahe meinen Namen‹] (Sonett 76) – in seiner wörtlichen Bedeutung auf das hier besprochene Gedicht übertragen werden kann. Besonders die Buchstaben und Laute der ersten Zeile scheinen den Familiennamen des Dichters zu enthüllen, geschrieben in den von ihm selbst und seinen Zeitgenossen verwendeten Schreibweisen: Shakspere, Shakspeare, Shackspeare, Shaxpere: 57 I1 expence (xp) of Spirit (sp.r) shame (sha), während das Schluß-Couplet mit seinem dreimal wiederholten /w/ und speziell mit den Wörtern well (w.ll) yet (y) men (m) eine latente Allusion auf William beinhalten könnte. Da Shakespeare in Wortspielen dazu neigte, die Vokabeln will und well 58 miteinander gleichzusetzen, könnte das gesamte Schluß-Couplet – vielleicht! – eine zweite, keck autobiographische Lesart verbergen: »All this [is] the world Will knows, yet none knows Will to shun the heaven that leads men to this hell« [›So ist die Welt, wie Will sie kennt, doch niemand kennt Will als einen, der den Himmel scheut, welcher die Menschen zu dieser Hölle führt‹]. Die Auslassung des Kopulativverbs wäre konsistent mit den Ellipsen, die im Rest des Sonetts verwendet werden; darüber hinaus war die Zusammenziehung von »this is« zu »this« geläufig zu Zeiten Shakespeares.59
XII. Abschließende Fragen Nach einer aufmerksamen Untersuchung von Shakespeares Sonett 129 mit seiner erstaunlichen äußeren und inneren Strukturierung, die für jeden aufgeschlossenen und unvoreingenommenen Leser augenfällig ist,60 fragt man sich, ob es wirklich möglich ist, mit John Crowe Ransom zu 57 Siehe Kökeritz, Shakespeare’s Pronunciation, S. 177. 58 Siehe a. a. O., S. 153 f. 59 Siehe Partridge, Orthography in Shakespeare and Elizabethan drama, S. 25. [Anm. v. R.J. / L.G.J.] – Shakespeares Text und insbesondere seine Sonette haben immer wieder Spekulationen wie diese herausgefordert. Die Frage, inwieweit die Sonette bekenntnishaft autobiographisch als poe`mes a` clef zu lesen sind (oder nicht doch vielmehr als Kunstübungen ohne konkreten biographischen Bezug) beschäftigt die Forschung bis heute; eine eindeutige Entscheidung steht nicht zu erwarten. [Anm. d. Komm.] 60 Culler weist darauf hin, daß die ›erstaunliche Strukturierung‹ des Textes keineswegs objektiv vorliegt und nurmehr der ›Entdeckung‹ bedarf, sondern sehr wesentlich der strukturgenerierenden Ingenuität des Analytikers geschuldet ist. »One can produce distributional categories almost ad libitum […] and thus if one wishes to discover a pattern of symmetry in a text, one can always produce some class whose members will be appropriately arranged.« (Culler, »Jakobson’s Poetic Analyses«, S. 57.) Vgl. hierzu Jakobsons Gegenargument in seinem »Nachtrag zur Diskussion um die Grammatik der Poesie« (in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 778 u. 779). [Anm.d. Komm.].
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behaupten, daß dies statt ein echtes Sonett nur ein vierzehnzeiliges Gedicht »ohne jegliche logische Ordnung« sei [»with no logical organization at all«], außer, daß es mit einem kleinen Schluß-Couplet endet.61 Oder kann man J. M. Robertsons Vorwurf 62 von »sprachlicher Impotenz« akzeptieren, von »Gewaltsamkeit ohne Rücksicht auf die eigene psychische Verfassung, die in II3 past reason hated zum Schaden des Arguments in sich zusammenbricht«? Und ist zu glauben, daß »sich ein weiterer Zusammenbruch ereignet, wenn sich eine große Qual (very wo) in einen Traum (a dreame) auflöst nur um des Reimes willen«? Wie könnte überdies, wer sich sorgfältig mit Shakespeares Poetik, seinen grammatischen Strukturen und Reimtechniken beschäftigt hat, Edward Hubler darin zustimmen, daß »die antiklimaktische Position des not to trust einzig auf die Notwendigkeit eines Reimes zurückzuführen« oder daß dieses Gedicht, trotz seines Reimschemas, »nicht in Quartetten geschrieben« sei? 63 Würde ein umsichtiges Verständnis des Gedichts nicht revoltieren gegen C. W. M. Johnsons Vermutung,64 daß das Bild des swollowed bayt [›geschluckten Köders‹] »eine Feindseligkeit und gegenseitiges Mißtrauen zwischen einander begehrenden Partnern« suggeriert (obwohl »she« [»sie«] im Sonett weder erwähnt noch angedeutet wird), und daß diese Zeilen anspielen auf »die Auswirkungen der ›Großen Pokken«? 65 Und ist es schließlich einem gegenüber Shakespeares Dichtung und seinen »Figuren grammatischer Konstruktion« [»figures of grammatical construction«], wie Puttenham diese bezeichnet, aufmerksamen Leser möglich, R. Levins Erklärung dieses Werks gelten zu lassen, und namentlich seine Abfolge der Strophen als »eine sukzessive Erholung von einer bitteren Abscheu gegenüber einer vor Kurzem stattgefundenen sexuellen Begegnung« zu erklären, die »schrittweise verblaßt in der Erinnerung des Sprechers« und ihn zu einer »positiveren Sichtweise auf die Lust« führt? 66 61 Ransom, »Shakespeare at Sonnets«, S. 535. 62 Robertson, The problems of the Shakespeare sonnets, S. 219. [Anm. v. R.J. / L.G.J.] – Robertson erklärt, er könne den superlativischen Lobpreisungen auf Sonett 129 nicht zustimmen. Seine Kritik macht er vor allem an den Versen I3,4 fest: »Each of the[se] lines trails off in verbal impotence. We have two sets of epithets, setting out violently and volubly, and seeking to sustain their violence without regard to psychic fitness, yet collapsing in signally feeble phrases, framed anyhow to eke out the argument as in ›Past reason hated‹; and the collapse recurs when ›a very wo‹ fades into a ›dreame‹ for the rhyme’s sake, as has happened with the previous descent of ›in possession so‹«. [Anm. d. Komm.] 63 Hubler, The Sense of Shakespeare’s Sonnets, S. 35. 64 Johnson, »Shakespeare’s Sonnet CXXIX«. 65 Gemeint ist damit die Syphilis. [Anm. d. Komm.] 66 Levin, »Sonnet CXXIX as a ›Dramatic‹ Poem«, S. 179.
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Eine gesunde Reaktion auf derartig erzwungene, übermäßig vereinfachende und verdünnte Interpretationen von Shakespeares eigenen Worten und speziell auf eine exzessive Modernisierung seiner Zeichensetzung führte Laura Riding und Robert Graves zum entgegengesetzten Extrem. Während die elisabethanische Dichtung von Herausgebern und Kommentatoren mehr als einmal einer viktorianischen Poetik angepaßt wurde, so sind die Autoren des Essays »William Shakespeare and E. E. Cummings« dazu geneigt, die Kluft zwischen diesen beiden Dichtern von so unterschiedlichem Wollen und Streben zu schließen. Die Forschung der letzten Jahrzehnte hat die bedeutende Rolle phantasievoller Ambiguitäten im Werk Shakespeares gezeigt, doch besteht eine große Distanz zwischen seinen Wortspielen und Doppeldeutigkeiten und der Unterstellung jener freien und unendlichen Vielfalt semantischen Gehalts, die dem Sonett 129 seitens der genannten Kritiker zugeschrieben wird. Eine objektive Untersuchung von Shakespeares Sprache und Verbalkunst, mit besonderer Bezugnahme auf dieses Gedicht, enthüllt die schlüssige und zwingende Einheit seines thematischen und kompositorischen Gefüges. Die deutliche Gegenüberstellung eines zuvor versprochenen Glücks mit einem anschließend davon übrig bleibenden Traum(bild) (III4) kann nicht beliebig umgedeutet werden in ein Glück, »das ersehnt wird durch den Traum, mit dem die Lust sich selbst ermutigt«, oder in »legitime« Begleitbedeutungen wie »bevor ein Glück behauptet werden kann, muß diesem ein Traum vorangegangen sein, ein Glück, das beim Erwachen verloren geht« oder »bevor ein Glück behauptet werden kann, muß dieses zurückgelassen werden als ein Traum«, usw.67 Daß keine dieser vorgebrachten Bedeutungen die geringste Begründung in Shakespeares Gedicht findet, »so far from variation or quick change« [›so weit entfernt von Variation oder schnellem Wechsel‹] 68 (Sonett 76), läßt sich durch eine strukturale Analyse des Textes und seiner poetischen Textur in all ihren miteinander verwobenen Facetten eindringlich bestätigen.69
67 Riding /Graves, »William Shakespeare and E. E. Cummings«, S. 72. 68 Vgl. die Übersetzung von Ludwig Fulda »so arm an flinkem Wechsel und Erfindung« in: Shakespeare, The Sonnets. Die Sonette, S. 79, sowie die Übersetzung von Gottlob Regis: »So arm an jungem Prunk und flinken Neuigkeiten«, in: Shakespeare, Sämtliche Werke, Komödien und Poetische Werke, Bd. II, S. 816. [Anm. d. Übs.] 69 Unser herzlicher Dank gilt Andreas Mahler, ohne dessen Scharfsinn und linguistische Expertise uns manches Rätsel des Jakobson’schen Textes ein solches geblieben wäre. [A. H., E. Z.]
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I. A. Richards’ Schema zur Illustration der Struktur von Shakespeares Sonett 129. (Wiedergegeben nach I. A. Richards: Poetries – Their Media and Ends, The Hague-Paris: Mouton 1974, S. 40.)
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Editorische Notiz Verfaßt in Cambridge, Mass., 1968, und erstmals veröffentlicht als einzelne Monographie bei Mouton (Den Haag /Paris), 1970.
Literatur Jakobsons und Jones’ eigene Literaturangaben sind mit ° gekennzeichnet. ° Barber, Charles J.: An Essay on the Sonnets, New York: Dell 1960. ° Bentham, Jeremy: Theory of Fictions, hg. v. Charles K. Ogden, London: Har-
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— Verlorene Liebesmüh’, Zweisprachige Ausgabe, übs. v. Frank Günther, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2000. — Viel Lärmen um nichts, übs. v. Wolf Graf Baudissin, in: ders., Sämtliche Werke, Komödien, Bd. I, hg. v. Günther Klotz, Berlin: Aufbau Verlag 2000, S. 553–638. ° Strang, Barbara: Modern English Structure, London: Arnold 1868. Vendler, Helen: »Jakobson, Richards and Shakespeare’s Sonnet CXXIX«, in: I. A. Richard: Essays in His Honour, hg. v. R. Bower, H. Vendler u. J. Hollander, New York: Oxford University Press 1973, S. 179–198. Werth, Paul: »Roman Jakobson’s verbal analysis of poetry«, in: Journal of Linguistics 12 (1976), S. 21–73. ° Yngve, Victor H.: »The Depth Hypothesis«, in: Proceedings of Symposia in Applied Mathematics, Bd. XII, hg. v. Roman Jakobson, Providence, R. I.: American Mathematics Society 1961, S. 130–138.
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»Das Leid jener, die beim Feuerholz erschlagen werden« 1 Übersetzung aus dem Russischen Christian Schwarz und Sebastian Donat
Kommentar Sebastian Donat und Ulrich Schweier Die im Jahre 1620 vollendete Erzählung (russ. »Skazanie«) 2 des Mönchs und Kellermeisters Avraamij Palicyn über die von Ende 1608 bis Anfang 1610 dauernde Belagerung des berühmten, unweit Moskaus gelegenen Dreifaltigkeits-Sergiev-Klosters durch eine auch von russischen ›Verrätern‹ unterstützte polnisch-litauische Streitmacht während der sog. ›Smuta‹ (›Zeit der Wirren‹; 1584 bzw. 1598–1613) 3 war nicht nur Jakobson dadurch aufgefallen, daß sich in diesem Text vereinzelte Ausschnitte finden, die sich aufgrund ihrer versähnlichen *Struktur signifikant von dem dominierenden chronistischen 1 2
3
Vorlage: Jakobson, Roman Osipovicˇ: »Skorb’ pobivaemych u drov«, in: SW III, S. 304–310. [Anm. d. Übs.] Der vollständige Titel lautet in deutscher Übersetzung: »Erzählung davon, was sich ereignet hat im Hause der allerheiligsten und den Ursprung des Lebens in sich tragenden Dreieinigkeit, und wie durch den Beistand der allerheiligsten Gottesgebärerin und die Gebete der großen Wundertäter Sergij und Nikon dieses Kloster errettet wurde von den polnischen und litauischen Soldaten und den russischen Verrätern, (verfaßt) von dem Kellermeister, dem Mönch Avraamij Palicyn.« – Vgl. die Parallelausgabe des Originaltextes und einer Übersetzung ins moderne Russisch: [Palicyn], »Skazanie Avraamija Palicyna ob osade Troice-Sergieva monastyrja«, sowie die auszugsweise Übersetzung in: Aus dem alten Rußland. Epen, Chroniken und Geschichten, S. 385–392. [Anm. d. Komm.] ˇ erepnin, »Obsˇcˇestvenno-politicˇeskie vzgljady Zum Text und zu seinem Autor vgl. C Avraamija Palicyna«; Igloi, »O pervych ˇsesti glavach Skazanija Avraamija Palicyna«; Sessions, The language of two versions of the first six chapters of the Skazanie Avraamija Palicyna, sowie Solodkin, Avraamij Palicyn. Russkij politicˇeskij dejatel’ i publicist nacˇala XVII v. [Anm. d. Komm.]
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Stil des sie umgebenden Textes unterscheiden. Damit können diese Teile als eine Besonderheit gelten, da sie einen der frühesten Belege für die Anfänge der schriftlich fixierten Dichtkunst in einem Text nordgroßrussischer Provenienz darstellen. Jakobson versucht an einem kurzen, jedoch besonders aussagekräftigen Textausschnitt nachzuweisen, daß Palicyns erste Reimversuche keineswegs auf Zufälligkeiten beruhen können, wie dies von russischen Forschern vor Jakobson teilweise unterstellt worden war. Zu diesem Zweck führt er eine detaillierte Analyse durch, die eine Vielzahl von Aspekten (Phonetik /Phonologie, Silbenstruktur, Formen- und Wortbildung, *Wortakzent / rhythmische Organisation / *Reim, Syntax, Semantik etc.) berücksichtigt und die jeweils beteiligten sprachlichen Elemente hinsichtlich ihrer poetischen Funktion bewertet. Gleichzeitig wendet sich Jakobson gegen die geringschätzigen Äußerungen einiger russischer Wissenschaftler, die Palicyns Versversuche noch als ›platt‹ und ›plump‹ abgetan hatten. Die prägnante Analyse Jakobsons steht insgesamt geradezu exemplarisch in der Tradition seiner metrisch-prosodischen und phonetisch-phonologischen Studien sowie seiner Arbeiten im Bereich der *Metapher und *Metonymie bzw. der Zwei-Achsen-Theorie. Gewidmet war der Aufsatz dem namhaften russischen Gelehrten V. N. Toporov und sollte ursprünglich in einer für ihn wohl zum 50. Geburtstag geplanten Festschrift erstmals veröffentlicht werden (vgl. die Angaben am Ende des Aufsatzes). Dieses Vorhaben wurde jedoch, ebenso wie einige weitere Pläne dieser Art, nicht realisiert. Ulrich Schweier
»Das Leid jener, die beim Feuerholz erschlagen werden«
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Zdes’ budut pisat’sja svjatye slova: »Drova«. ›Hier wird man die heiligen Worte schreiben: »Feuerholz«.‹ Aleksandr Blok (21. November 1919) 4
Der Literaturwissenschaftler N. P. Popov widmete der russischen Dichtkunst aus der Zeit des Übergangs vom 16. zum 17. Jahrhundert einen Aufsatz,5 welcher im Jahre 1918 erschien und folgende Notiz des Autors enthielt: »14. August 1916. Moskau. Kreml’«.6 Zu den ersten russischen Dichtern zählt der Forscher Avraamij Palicyn, weil in dessen Erzählung 7 über die Zeit der Wirren zahlreiche »Zeilen mit Reimen« 8 eingestreut sind. Es ist richtig, daß in vielen Fällen solche gleichklingende Formen, um es mit den Worten Popovs auszudrücken, »beiläufig, ohne das offenkundige Bestreben von Seiten des Autors, seine Sprache in die Form eines Verses zu gießen«,9 verstreut sind. Jedoch veranlassen einzelne Beispiele 4
5 6 7 8 9
Das Motto entnahm Jakobson dem folgenden Gedicht Aleksandr Bloks (Blok, Stichotvorenija i poe˙my [1917–1921], S. 278): *»Enjambements David Solomonycˇ! Edva Albom zaveli Vy, – krugo´m golova Pojde´t Vasˇa: sto raz – ne raz, i ne dva – Zdes’ budut pisat’sja svjatye slova: »Drova«. 21 nojabrja 1919« [›Enjambements David Solomonycˇ! Kaum Haben Sie das Album angelegt – wissen Sie nicht mehr, Wo Ihnen der Kopf steht: hundertmal – immer wieder – Wird man hier die heiligen Worte schreiben: »Feuerholz«. 21. November 1919.‹] – Dieses Gedicht verfaßte Blok für das Album von David Samuilycˇ Levin, den Leiter der Abteilung für Wirtschaft und Technik im Verlag »Vsemirnaja literatura«, der Blok mit Feuerholz versorgt hatte – unter den schweren Bedingungen des Winters 1919/1920 ein überlebenswichtiges Gut (vgl. den Kommentar, a. a. O., S. 484–486). – Aufgegriffen wurden die letzten Verse dieses Gedichts vom vielgelesenen sowjetischen Satiriker Michail Zosˇcˇenko in seiner Erzählung »Drova« [›Feuerholz‹] aus dem Jahr 1925 (als Motto) wie auch in der erweiterten Fassung von 1935 »Poimka vora original’nym sposobom (Byl’)« [›Ertappung eines Diebes auf originelle Weise (Eine wahre Geschichte)‹] (als Einschub im Text). Vgl. Zosˇcˇenko, »Poimka vora original’nym sposobom (Byl’)«, S. 306. [Anm. d. Komm.] Popov, »K voprosu o pervonacˇal’nom pojavlenii virsˇ v severno-russkoj pis’mennosti«. [Anm. d. Komm.] A. a. O., S. 275. [Anm. d. Übs.] Russ. Skazanie, Kurztitel des Werks von Palicyn, bei Jakobson durch Großschreibung, hier und im folgenden durch Kursivierung hervorgehoben. [Anm. d. Übs.] A. a. O., S. 261. [Anm. d. Übs.] A. a. O., S. 264. [Anm. d. Übs.]
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großer Ausschnitte der Erzählung, die durchgehend in Form von Versen ausgeführt sind,10 zu der Annahme, die Reimbindung als bewußtes Verfahren des Verfassers anzusehen. Als anschaulichstes Beispiel dienen Popov die neun paarweisen Konstruktionen, aus denen der zweite Absatz des Kapitel 47 (Blatt 138) im Text der Endredaktion der Erzählung besteht. »Skorb’ pobivaemych u drov« [›Das Leid jener, die beim Feuerholz erschlagen werden‹] – das ist das Thema dieser neun Doppelverse gemäß dem »Ukazu glavam« [›Kapitelverzeichnis‹] (Blatt 4).11 In der unmittelbar über dem Kapitel 47 stehenden Überschrift ersetzte »skorbenie« [›Leid, Kummer‹] das Wort »skorb’« [›Leid, Kummer‹]. Dieser Ausschnitt wurde, in der genauen typographischen Einrichtung Popovs,12 mehrfach in unterschiedlichen Lehrbüchern zum altrussischen Schrifttum abgedruckt. Im Rahmen der Erörterung der Erzählung und ihres grundlegenden Kerns, der Geschichte von der Belagerung des Dreifaltigkeits-Sergiev-Klosters, stellte O. A. Derzˇavina »eine rhythmische gereimte Sprache« einzelner abgeteilter Episoden in den beschreibenden Teilen der Erzählung fest, insbesondere in Kapitel 47, wo das neue Verfahren, »der Übergang zum rhythmischen Erzählen, eine besondere Erregung des Autors« bei der Darstellung der »ungewöhnlichen und fürchterlichen Ereignisse zeigt«.13 Popov beurteilt den Verzicht auf das Monopol der einheitlichen Verbalendungen als »großen Schritt nach vorne auf dem Gebiet des Reimens«,14 doch macht er Avraamij zum Vorwurf, daß er »sogleich auch in Reime verfallen ist, welche nur scheinbar rein klingen: prut – trup, torg – 10 Gemeint ist hier nicht die graphische Anordnung (die von Popov und Jakobson zugrundegelegte Handschrift der Erzählung ist im Fließtext, d. h. ohne optische Versgliederung niedergelegt), sondern die periodische Bindung der syntaktischen Einheiten durch *Endreim sowie die von Jakobson im weiteren Verlauf des Aufsatzes herausgearbeiteten lautlichen, rhythmischen und grammatischen Parallelen. – Vgl. die Analyse von Paul Klees Miniatur »Zwei Berge gibt es«, in der er ebenfalls einen Fließtext aufgrund dessen rhythmisch-syntaktischer Struktur als Gedicht behandelt (Jakobson, »On the Verbal Art of William Blake and Other Poet-Painters«, S. 339–344, sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 30–39). [Anm. d. Komm.] 11 Vgl. [Palicyn], Skazanie Avraamija Palicyna, S. 98. [Anm. d. Komm.] 12 Popov gibt den Ausschnitt in seinem Aufsatz mit Zeilenumbruch bei den Reimwörtern, d. h. auch graphisch in Versform wieder. Vgl. Popov, »K voprosu o pervonacˇal’nom pojavlenii virsˇ v severno-russkoj pis’mennosti«, S. 266. [Anm. d. Komm.] 13 Derzˇavina, »Skazanie Avraamija Palicyna i ego avtor«, S. 55. 14 Popov, »K voprosu o pervonacˇal’nom pojavlenii virsˇ v severno-russkoj pis’mennosti«, S. 266. [Anm. d. Übs.]
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gord und drov – grob«.15 Der Forscher gesteht ein, daß »unserem verwöhnten Geschmack die ersten Versuche der Schaffung von ›virsˇi‹ 16« unwillkürlich flach und ›plump‹ erscheinen, bei aller Wichtigkeit dieser Inkunabeln des russischen Verses »für die Geschichte der vaterländischen Literatur«.17 Popov bezieht sich auf das alte Sprichwort, nach dem aller Anfang schwer sei,18 während V. M. Zˇirmunskij in seiner Arbeit über den Reim aus dem Jahr 1923,19 die jetzt in sein Buch Teorija sticha [›Theorie des Verses‹] aufgenommen wurde,20 genau jene »Quasi-Reime« (rifmoidy) Avraamijs »als Resultat des Versuchs, einen annähernd genauen Gleichklang zu erzeugen«,21 zitiert. Die Bewertung der scheinbar ungeschickten dichterischen Versuche der ›Zeit der Wirren‹ aus der Sicht »unseres verwöhnten Geschmacks« 22 ist eine von vielen Erscheinungen eines künstlerischen Egozentrismus, der nur langsam aus der Welt geschafft werden kann und der einem Meister vergangener Zeiten ästhetische Neigungen aufbürdet, welche ihm völlig fremd sind. Die überheblichen Anstrengungen der Kritiker, das berechtigte Suchen und die Errungenschaften der altrussischen Ikonenmalerei einfach nur als hilflose Ausrutscher eines ungeschickten Ikonenklecksers zu beurteilen, gehören der Vergangenheit an. Heute erfordert auch die literarische Kunst der alten Rus’ eine aufmerksame Reanalyse im Lichte ihrer eigenen, sich selbst genügenden Kriterien und Aufgaben. Führen wir nun alle neun Doppelverse der Erzählung (zweiter Absatz des Kapitels 47) auf; wir folgen dabei im Allgemeinen den konventionellen orthographischen Regeln, wie sie in der Akademieausgabe des Palicynschen Textes angewandt worden sind.23
15 A. a. O., S. 267. 16 Der Begriff virsˇi (von lat. versus über poln. wierszy), der häufig spezifisch zur Bezeichnung *syllabischer Verse dient, wird hier von Popov allgemein zur Hervorhebung des Verscharakters der entsprechenden Passagen verwendet. Vgl. Gasparov, Art. »Virsˇi«. [Anm. d. Komm.] 17 Popov, »K voprosu o pervonacˇal’nom pojavlenii virsˇ v severno-russkoj pis’mennosti«, S. 275. 18 Vgl. a. a. O., S. 267. [Anm. d. Komm.] 19 Vgl. Zˇirmunskij, Rifma, ee istorija i teorija. [Anm. d. Komm.] ˇ irmunskij, Teorija sticha, S. 233–430. 20 Z 21 A. a.O, S. 400. 22 Popov, »K voprosu o pervonacˇal’nom pojavlenii virsˇ v severno-russkoj pis’mennosti«, S. 275. [Anm. d. Übs.] 23 Derzˇavina, »Archeograficˇeskij obzor«, S. 74 f.
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1. » мнозем руце от брани престаху: всегда о дровех бои злы бываху. 2. »сход¤ще бо за обитель дров ради добыти¤, и во град возвращахус¤ не без кровопролити¤. 3. » купивше кровию сметие и хврастие, и тем стро¤ще повседневное ¤стие; 4. мученическим подвигом зельне себе возбуждающе, и друг друга сим спосуждающе. 5. »де же сечен бысть младый хвраст, ту расечен лежаше храбрых в[о]зраст; 6. » иде же режем бываше младый прут, ту растерзаем бываше птицами чловеческий труп. 7. » неблагодарен бываше о сем торг: сопротивых бо полк со оружием прискакаше горд. 8. »сход¤ще же нужницы, да обр¤щут си веницы, за них же и не хот¤ще отда¤ху сво¤ зеницы. 9. “екущим же на лютый сей добыток дров, тогда готовл¤шес¤ им вечный гроб.24 SKORB’ POBIVAEMYCH U DROV
1. I mnozem ruce ot brani prestachu: vsegda o drovech boi zly byvachu. 2. Ischodjasˇcˇe bo za obitel’ drov radi dobytija, i vo grad vozvrasˇcˇachusja ne bez krovoprolitija. 3. I kupivsˇe kroviju smetie i chvrastie, i tem strojasˇcˇe povsednevnoe jastie; 4. K mucˇenicˇeskim podvigom zel’ne sebe vozbuzˇdajusˇcˇe, i drug druga sim sposuzˇdajusˇcˇe. 5. Ide zˇe secˇen byst’ mladyj chvrast, tu rasecˇen lezˇasˇe chrabrych v[o]zrast; 6. I ide zˇe rezˇem byvasˇe mladyj prut, tu rasterzaem byvasˇe pticami cˇlovecˇeskij trup. 7. I neblagodaren byvasˇe o sem torg: soprotivych bo polk so oruzˇiem priskakasˇe gord. 8. Ischodjasˇcˇe zˇe nuzˇnicy, da obrjasˇcˇut si venicy, za nich zˇe i ne chotjasˇcˇe otdajachu svoja zenicy. 9. Tekusˇcˇim zˇe na ljutyj sej dobytok drov, togda gotovljasˇesja im vecˇnyj grob. 24 Vgl. [Palicyn], Skazanie Avraamija Palicyna, S. 184 (als Fließtext). Jakobson verwendet an einigen Stellen eine abweichende Orthographie und Interpunktion. [Anm. d. Komm.]
»Das Leid jener, die beim Feuerholz erschlagen werden«
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DAS LEID JENER, DIE BEIM FEUERHOLZ ERSCHLAGEN WERDEN
1. Und bei vielen gaben die Hände den Kampf auf: immer waren um das Feuerholz schlimme Kämpfe. 2. Denn sie gingen hinaus aus dem Kloster wegen der Beschaffung von Feuerholz, und kehrten in die Stadt zurück nicht ohne Blutvergießen. 3. Und nachdem sie sich erkauft hatten um Blut Abfall und Reisig, bereiteten sie damit ihr tägliches Essen; 4. Zu märtyrerhaften Großtaten trieben sie sich selbst heftig an, und spornten sich untereinander damit an. 5. Wo aber das junge Reisig gehackt worden war, dort lag nun zerhackt die Gestalt der Tapferen; 6. Und wo die junge Gerte geschnitten wurde, dort wurde nun von den Vögeln in Stücke gerissen die menschliche Leiche. 7. Und unheilvoll war ein solcher Handel: denn das Heer der Gegner mit Bewaffnung sprang stolz herbei. 8. Es gingen hinaus die angestrengt Suchenden, um für sich (Reisig-)Bündelchen zu finden, doch für diese wollten sie nicht ihre Augäpfel hergeben. 9. Jenen, die zu dieser grausamen Beschaffung von Feuerholz eilten, denen wurde dann bereitet das ewige Grab.
Beginnend mit dem zweiten Doppelvers geht hier die in der gewöhnlichen Reimtechnik der Erzählung übliche Gegenüberstellung verwandter finiter Formen verloren. In den Doppelversen 2. bis 4. mit ihrem unpersönlichen, gedämpft narrativen Charakter bilden neutrale Substantive mit dem Suffix -ij- und entsprechend abgeschwächter gegenständlicher Bedeutung den Reim; es handelt sich dabei insbesondere um *deverbale Substantive (dobytija, krovoprolitija, jastie [›Beschaffung, Blutvergießen, Essen‹], vgl. außerhalb des Reims auch smetie [›Abfall‹]) oder um ein Kollektivum (chvrastie [›Reisig‹]). Danach, im Doppelvers 4., wird der Reim erneut durch deverbative Bildungen realisiert – durch *adverbialpartizipiale Formen (vozbuzˇdajusˇˇce, sposuzˇdajusˇˇce [›trieben an, spornten an‹], vgl. außerhalb des Reims ischodjasˇˇce, kupivsˇe, strojasˇˇce [›gingen hinaus, erkauften sich, bereiteten sich‹]). Mit dem daktylischen Charakter der Endungen aller Reime in diesen drei Doppelversen verbindet sich die Tendenz zur Betonung auf der drittletzten Silbe der *Worteinheiten innerhalb der Verse (zum Beispiel 3. »I kupivsˇe kro´viju sme´tie i chvra´stie, i tem stro´jasˇcˇe povsedne´vnoe ja´stie« [›Und nachdem sie sich erkauft hatten um Blut Abfall und Reisig, bereiteten sie damit ihr tägliches Essen‹]).
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In vier der fünf folgenden Doppelverse enden alle acht Zeilen auf monosyllabische Nomina (sieben Substantive und ein Adjektiv), eine Neuerung, welche dem jahrhundertealten Verbot deutlich entgegensteht, das im Polnischen und Ukrainischen aus einsilbigen Wörtern bestehende Reime untersagt. Diesen vier Reimen liegt die tragische Gegenüberstellung des Feuerholzsammelns und des Todes der Sammelnden zugrunde. Der verhängnisvolle Konflikt findet einen bildlichen Ausdruck in den Doppelversen 6. und 7., wo der erste und der letzte Konsonant der Reimwörter einer *Metathese unterzogen werden, in Übereinstimmung mit der schroffen Wendung des Schicksals der armseligen Sucher eines dürftigen Gewinns: Das In-Stücke-gerissen-Werden der trup [›Leiche‹] tritt an die Stelle der abgeschnittenen prut [›Gerte‹]; unheilvoll war der torg [›Handel‹], und nicht ohne Grund wurde der Feind gord [›stolz‹]. Der Reim der Monosyllaba erfaßt das benachbarte Wort: chvrast – chrabrych vzrast [›Reisig – (der) Tapferen Gestalt‹]; dobytok drov – grob [›Beschaffung (von) Feuerholz – Grab‹]. In allen Zeilen der Doppelverse 5. und 6. tritt eine Passivform in prädikativer Funktion auf: secˇen – rasecˇen [›gehackt – zerhackt‹], rezˇem – rasterzaem [›geschnitten – in Stücke gerissen‹]; der Doppelvers 7. wird von einem deverbalen Adjektiv mit passiver Bedeutung dominiert: neblagodaren [›unheilvoll‹] (»ne na blago byl daren« [›nicht zum Heil wurde (er) geschenkt‹]), und der abschließende Doppelvers von einer reflexiven Form: gotovljasˇesja 25 im vecˇnyj grob [›denen wurde bereitet (das) ewige Grab‹]. Die Überschrift – skorb’ 〈…〉 drov [›Leid 〈…〉 Feuerholz‹] – ist durch eine *Spiegelsymmetrie dem abschließenden Reim angenähert: drov – grob [›Feuerholz‹ – ›Grab‹].26 Auffällig ist die lautliche Verbindung der sich reimenden monosyllabischen Wörter des gesamten Textes untereinander: *Vibranten in Nachbarschaft eines Vokals und eines *Obstruenten, zumeist eines Plosivs, am Ende des Wortes. Die Frage nach dem eigentümlichen Profil und insbesondere nach den Betonungen des Doppelverses 8. mit seinem dreifachen zweisilbigen Reim nuzˇnicy – venicy – zenicy lasse ich offen.
25 Gotovljasˇesja ist durch das Suffix –sja als reflexive Form ausgewiesen. [Anm. d. Komm.] 26 Genaugenommen handelt es sich nur um eine ›halbe‹ Spiegelsymmetrie: Lediglich drov, also nur eines der beiden angeführten Elemente der Überschrift, wird im letzten Reim identisch an entgegengesetzter Position wiederholt. Allerdings weisen auch die beiden anderen Wörter weitreichende lautliche Übereinstimmungen auf: skorb – grob. [Anm. d. Komm.]
»Das Leid jener, die beim Feuerholz erschlagen werden«
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Der ganze Absatz ist mit rhythmisch-syntaktischen Parallelen gesättigt und von lautlichen *Paronomasien durchdrungen, wie zum Beispiel: o drovach boi zly byvachu; 27 za obitel’ radi dobytija tu rasecˇen – vzrast 〈…〉 tu rasterzaem; ide zˇe rezˇem 〈…〉 prut – soprotivnych 〈…〉 so oruzˇiem; ischodjasˇcˇe – i ne chotjasˇcˇe. Die Frage nach der syllabischen Organisation, welche dem zitierten Absatz zugrunde liegt, ist schwer zu beantworten. Die zahlenmäßige Gegenüberstellung der ersten vier Doppelverse (von vorne gerechnet) und der letzten vier Doppelverse (von hinten gerechnet) zeigt in beiden Fällen einen einheitlichen Verlauf der Kurve, welche die Anzahl der Silben angibt: 1. 2. 3. 4.
11 + 11 = 22 16 + 16 = 32 zehn mehr 14 + 13 = 27 ⎫ fünf weniger 17 + 10 = 27 ⎬⎭ Mittlerer Doppelvers 5.
12 + 11 = 23 16 + 17 = 33 12 + 16 = 28 ⎫ 12 + 16 = 28 ⎭⎬ 9 + 10 = 19
9. 8. 7. 6.
Jeder der vier von hinten gerechneten Doppelverse übertrifft um eine Silbe den entsprechenden von vorne gerechneten Doppelvers (23–22; 33– 32; 28–27), und der zweite *Vers des mittleren Doppelverses übertrifft seinen ersten Vers seinerseits um eine Silbe (10–9). Anstelle des lyrisch-epischen Wehklagens um die unglückseligen Holzsammler liefert der folgende, dritte Absatz des Kapitels 47 eine Abfolge dramatischer Repliken, welche in den Mund der am »dobytija drov za gradom« 28 [›Beschaffung von Feuerholz vor der Stadt‹] Beteiligten gelegt werden, und zwar mit fünf begleitenden Anmerkungen: »glagolachu sice« [›sprachen sie also‹], »vsjak 〈…〉 glagolasˇe« [›jeder 〈…〉 sprach‹], »materem zˇe vopijusˇcˇim« [›(die) Mütter heulten‹], »obrydachu glagoljusˇcˇe« [›sie schluchzten und sagten‹], »inii zˇe 〈…〉 v”preki tem glagolachu« [›Einige aber 〈…〉 sagten gegen jene‹].29 Eine Orgie lautlicher, genauer: lautbildlicher Wiederholungen erfüllt diese Dialoge, angefangen bei der ursprünglichen Frage vo vratech grada [›an den Toren der Stadt‹], – »cˇim, brate, vymenil esi prokljatyja drova sija, drugom li ili roditelem ili svoeju kroviju?« [›»wogegen, Bruder, hast du dieses verfluchte Brennholz eingetauscht, gegen einen Freund oder gegen die Eltern oder gegen dein Blut?«‹] – in welcher das Schlüsselwort 27 Popov erteilt der Form drovach zurecht den Vorzug vor der archaischen Variante drovech. [Anm. v. R.J.] – Die von Jakobson abgelehnte Form drovech findet sich in der Akademieausgabe (vgl. [Palicyn], Skazanie Avraamija Palicyna, S. 184). [Anm. d. Komm.] 28 Vgl. a. a. O., S. 183 (Kap. 47, Abs. 1). [Anm. d. Komm.] 29 Vgl. a. a. O., S. 184 (Kap. 47, Abs. 3). [Anm. d. Komm.]
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»drova« [›Feuerholz‹] in der Tat seinen Widerhall in der Lexik und der Thematik des gesamten Trauerkontextes findet.30 Die lautliche Annäherung sich berührender Formen wird unermüdlich fortgesetzt: I ich zˇe gospod’ – ich zˇe sud postizˇe; zakry – zle rykachu – i brat brata i sestry – i brasˇnu sostrojaemu [›Und diejenigen, die der Herr – diejenigen, die das Strafgericht ereilte; beschützte – brüllten böse – und der Bruder den Bruder und die Schwestern – und als die Mahlzeit gekocht wurde‹]. Die grausame Verbindung des zur Zubereitung des Mahls angezündeten Holzes mit dem verbrannten Leben legt einen ungewöhnlichen, *männlichen Reim mit einer unterstützenden einsilbigen *Assonanz nahe: i vkupe vnosˇaemi byva´chu drova´ i ˇclovecˇeskaja glava´ (möglicherweise ursprünglich golova´) [›und gleichzeitig brachten sie Feuerholz und einen menschlichen Kopf‹]. Vgl. den ausdrucksvollen Gleichklang der letzten Worte in zwei äußerlich und innerlich benachbarten Sätzen: 31 glava – glagolasˇe [›Kopf – sprach‹] (oder golova – glagolasˇe [›Kopf – sprach‹]). Ein allgemeiner fragender Aufschrei, der von einer Kette unter Betonung stehender /o´/-Vokale durchdrungen ist, verkörpert das Thema des sich verbreitenden Schreckens: I vsjak, zrja na o´gn’, »o´ch-o´ch!, – glago´lasˇe – o´, o´tcˇe mo´j, pocˇto´ mja rodi, da kro´v’ tvoju iz”em i ispiju?« [›Und jeder sprach, auf das Feuer schauend: »och-och!, o mein Vater, warum hast du mich gezeugt, damit ich dein Blut essen und trinken werde?«‹]. In fünf der neun Beispiele nimmt das betonte /o´/ die erste und in zweien die letzte Position in der Silbe und im Wort ein. Einzig im Schlüsselnomen krov’ [›Blut‹] ist der Vokal /o´/ von einem anlautenden und von einem auslautenden Konsonanten eingeschlossen, und nur in einem dieser neun Beispiele (in dem einführenden glagolasˇe [›(jeder) sprach‹]) gehört /o´/ einer offenen inneren Wortsilbe an. Kurz gesagt, auf einer oder auf beiden Seiten vermieden diese Vokale offensichtlich die direkte Berührung mit einem antevokalischen Konsonanten. Die Assoziation zwischen dem zur Vorbereitung des Mahls dienenden Feuerholz und dem blutigen Preis der Landsleute für die Erbeutung dieses Holzes verschmilzt in dem Bild des getrunkenen väterlichen Blutes. Unmittelbar auf das Verb ispiju [›ich trinke‹] folgend, legt das lautähnliche 30 Das Konzept des »Schlüsselworts« spielt in mehreren Gedichtanalysen von Jakobson eine wichtige Rolle. Vgl. »Ein Blick auf ›Die Aussicht‹ von Hölderlin«, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 175 u. 188, sowie »›Czułos´c´‹ Cypriana Norwida«, S. 513, und die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 384 f. [Anm. d. Übs./Komm.] 31 Die Form glagolasˇe [›sprach‹] findet sich im unmittelbar folgenden Satz. [Anm. d. Komm.]
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Partizip materem zˇe vopijusˇˇcim [›und die Mütter heulten‹] die ausgeprägte Formel eines verneinenden *Parallelismus in den Mund der Mutter: »Se ne brasˇno stroitsja, no az za vami v smert’ gotovljusja!« [›Es ist keine Mahlzeit, die gekocht wird, sondern ich bereite für euch das Leichenmahl vor!‹]. Das in diesem zwischen Mahlzubereitung und Totenfeier schwankenden Kontext bizarr wirkende Wehklagen des Sohnes – »O utroba matere nasˇeja! Pocˇto ne zakljucˇi naju, da ne iz”emy drug druga?« [›Oh, Schoß unserer Mutter! Warum hast du uns nicht eingeschlossen, damit wir uns nicht gegenseitig verspeisen?‹] – verbindet mit dem Bild des Schoßes Verben zweier zutiefst unterschiedlicher semantischer Felder und verschärft deutlich die Unerwartetheit der engen Verbindung dieser beiden Verben – »zakljucˇi naju da ne iz”emy« [›uns eingesperrt, damit wir nicht verspeisen‹] – vor dem Hintergrund eines alltäglichen Wortkontrastes: »zakljucˇit’« [›einschließen‹] und »iz”jat’« [›herausnehmen‹] (anstelle des ungewöhnlichen »iz”est’« [›verspeisen, zerfressen‹]). Brate [›Oh Bruder‹], der Vokativ am Anfang des ganzen Absatzes, erzeugt in dessen letztem Teil eine lange Reihe deutlicher Paronomasien: Se ne brasˇno stroitsja 〈…〉 bratija zˇe bratiju obrydachu glagoljusˇˇce: »O, utroba matere nasˇeja!« [›Es ist keine Mahlzeit 〈…〉 Brüder schluchzten zu Brüdern und sprachen: »Oh, Schoß unserer Mutter!«‹]. Das Motiv der Grausamkeit, welches dem allgemeinen Wehklagen gegenübergestellt wird, gibt dem »Skorbeniju pobivaemych u drov« [›Leid jener, die beim Feuerholz erschlagen werden‹] eine abschließende Paronomasie vor – »ni, bratie, ne skorbite!« [›»nein, Brüder, grämt euch nicht!«‹] –, denn wir sind unschuldig daran, daß wir uns heute vom Schweiß und Blut unserer Nächsten ernähren, und daß morgen »nasˇimi poty i kroviju ostavsˇii napitajutsja« [›»von unserem Schweiß und Blut die Übriggebliebenen sich ernähren werden«‹]. Die beiden äußeren Absätze, welche das »Skorbenie« [›Leid‹] 32 umgeben, erzählen »o otcˇajanii pomosˇcˇi cˇlovecˇeskija« 33 [›von Verzweiflung an menschlicher Hilfe‹] und kehren zu den belehrend publizistischen Tönen zurück, die in der Erzählung Avraamij’s breite Anwendung finden; dabei wechselt sich das Bedauern um die Unmöglichkeit, den Zaren vom dringenden Bedarf der Streitkräfte nach Hilfe in Kenntnis zu setzen, mit der Verurteilung der Ungeduldigen und Kleingläubigen ab. 32 D. h. den zweiten und dritten Absatz des 47. Kapitels der Erzählung. [Anm. d. Komm.] 33 So lautet der Beginn der Überschrift des 47. Kapitels. Vgl. a. a. O., S. 183. [Anm. d. Komm.]
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Im Hinblick auf ihre künstlerische Komposition sind die beiden inneren Absätze einander anschaulich gegenübergestellt. Auf den durchgehend dichterischen Charakter des zweiten Absatzes, welcher den grausamen Ereignissen gewidmet ist, die sich vor der Stadt zutragen, antwortet der dritte mit einer Reihe städtischer Resonanzen, einer unregelmäßigen Abfolge prosaischer Muster fremder Rede, mit einem Überfluß an Pronomina (darunter Possessivpronomina) und Verbalformen in der ersten und zweiten *Person (vymenil esi [›hast eingetauscht‹]; moj [›mein‹]; mja rodi [›mich gezeugt‹]; krov’ iz”em i ispiju [›ich esse und trinke das Blut‹]; moi [›mein‹]; az za vami v smert’ gotovljusja [›ich bereite für euch das Leichenmahl vor‹]; matere nasˇeja [›unserer Mutter‹]; ne zakljucˇi naju, da ne iz”emy [›uns nicht eingeschlossen, damit wir nicht essen‹]; ne skorbite [›grämt euch nicht‹]; my napitachomsja [›wir ernährten uns‹]; nasˇimi [›von unseren‹]; nest’ bo my tomu vini [›wir sind daran nicht schuld‹]; nasˇim [›unseren‹]), an Fragen (cˇim [›wogegen‹]; pocˇto [›warum‹]; pocˇto), Ausrufen (och-och! o! o!) und Anredeformen (brate [›Bruder!‹]; otcˇe [›Vater!‹], ˇcade [›Kinder!‹], utroba [›Schoß!‹], bratie [›Brüder!‹] in Verbindung mit dem Imperativ ne skorbite [›grämt euch nicht!‹]), wogegen im zweiten Absatz sowohl die fremde Rede als auch alle weiteren aufgezählten sprachlichen Verfahren schlichtweg fehlen. Mit der Ablösung des Verses durch die Prosa stimmt hier in auffallender Weise der Übergang von einem metaphorischen Aufbau hin zu einem metonymischen weiteren Verlauf überein.34 Assoziationen aufgrund von Ähnlichkeit und *Kontrast sind die Grundlagen von Parallelen wie secˇen mladyj chvrast – rasecˇen chrabrych vzrast [›(das) junge Reisig gehackt – zerhackt die Gestalt (der) Tapferen‹]; rezˇem mladyj prut – rasterzaem ˇclovecˇeskij trup [›geschnitten (die) junge Gerte – in Stücke gerissen (die) menschliche Leiche‹], wobei die Passivprädikate der sich reimenden Verse ähnlich sind, die Subjekte sich aber unterscheiden. Andererseits dominiert die Assoziation aufgrund von *Kontiguität den Aufbau des dritten Absatzes. Prokljatyja drova sija [›Dieses verfluchte Brennholz‹] wurde durch Blut erkauft, welches u dobytija drov [›beim Beschaffen von Feuerholz‹] während des Ausfalls aus der durch den Feind belagerten Stadt vergossen wurde. Diejenigen, die von der Speise kosten, die auf diesem Holz zubereitet wurde, nehmen die Schuld auf sich, das Blut der 34 Zum Komplex Metapher /Metonymie vgl. Jakobson, »Randbemerkungen zur Prosa des Dichters Pasternak«, sowie ders., »Two Aspects of Language and Two Types of Aphasic Disturbances«, bes. S. 254–259 (dt. Übs.: »Zwei Seiten der Sprache und zwei Typen aphatischer Störungen«, bes. S. 133–139). [Anm. d. Komm.]
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gefallenen Landsleute zu trinken; inii zˇe ot zˇestosti vopreki tem 35 [›andere aber‹] verkünden [›im Gegensatz zu diesen‹ 36 ] eine unbesorgte wechselseitige Bürgschaft und Solidarität unter den Schicksalsgenossen. Die Ausrichtung gerade auf die Kontiguität findet bereits im Verzeichnis der Landsleute ihren deutlichen Ausdruck, welche an der Erbeutung des Feuerholzes beteiligt sind: »Otec bo ischozˇdasˇe, da prepitaet si zˇenu i cˇjada, i brat brata i sestry, tako zˇe i cˇjada roditelej svoich« [›Denn der Vater ging hinaus, um seine Frau und seine Kinder zu ernähren, der Bruder, um seinen Bruder und seine Schwestern, und auch die Kinder, um ihre Eltern (zu ernähren)‹]. Bemerkenswert für die metonymische Weiterentwicklung des dritten Absatzes ist die komplexe – sowohl direkte als auch umgekehrte – Perspektive der zeitlichen und kausalen Verbindungen. Beide eingeschobenen Absätze legen mit ihrem breiten Spektrum bewährter Variationen über ein gemeinsames ungewöhnliches Thema – vkupe vnosˇaemi byvachu drova i ˇclovecˇeskaja glava [›gleichzeitig brachten sie Feuerholz und einen menschlichen Kopf zurück‹] – erneut vom hohen Niveau und von der authentischen Originalität der Moskauer Wortkunst während des stürmischen Anfangs des 17. Jahrhunderts Zeugnis ab. Editorische Notiz Verfaßt in Peacham, Vermont, 1978, für die V. N. Toporov Festschrift.
Literatur Jakobsons eigene Literaturangaben sind mit ° gekennzeichnet. Aus dem alten Rußland. Epen, Chroniken und Geschichten, übs. v. Hans Baumann u. Elisabeth Kottmeier, hg. v. Serge A. Zenkovsky, München: Hanser 1968. Blok, Aleksandr Aleksandrovicˇ: Stichotvorenija i poe˙my (1917–1921) [›Gedichte und Poeme‹], Moskva: Nauka 1999 (= Polnoe sobranie socˇinenij i pisem. V dvadcati tomach, Bd. 5). ˇ erepnin, L. V.: »Obsˇcˇestvenno-politicˇeskie vzgljady Avraamija Palicyna« [›Die C gesellschaftlich-politischen Anschauungen Avraamij Palicyns‹], in: Skazanie ˇ erepnin, komm. v. O. A. Derzˇavina u. E. V. Avraamija Palicyna, hg. v. L. V. C Kolesov, Moskva u. Leningrad: Akademija Nauk SSSR 1955, S. 3–15. ° Derzˇavina, Ol’ga Aleksandrovna: »Archeograficˇeskij obzor« [›Archäographische ˇ erepnin, komm. Rundschau‹], in: Skazanie Avraamija Palicyna, hg. v. L. V. C 35 Im Original irrtümlich: vopreki tomu [›demgegenüber‹]. Vgl. [Palicyn], Skazanie Avraamija Palicyna, S. 184. [Anm. d. Komm.] 36 Wörtlich: ›aus Strenge wider diese‹. [Anm. d. Komm.]
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Roman Jakobson
v. O. A. Derzˇavina u. E. V. Kolosova, Moskva u. Leningrad: Akademija Nauk SSSR 1955, S. 64–92. ° — »Skazanie Avraamija Palicyna i ego avtor« [›Die Erzählung des Avraamij ˇ erepPalicyn und ihr Autor‹], in: Skazanie Avraamija Palicyna, hg. v. L. V. C nin, komm. v. O. A. Derzˇavina u. E. V. Kolosova, Moskva u. Leningrad: Akademija Nauk SSSR 1955, S. 16–63. Gasparov, Michail Leonovicˇ: Art. »Virsˇi«, in: Literaturnaja ˙enciklopedija terminov i ponjatij, hg. v. A. N. Nikoljukin, Moskva: NPK »Intelvak« 2001, Sp. 126. Igloi, E.: »O pervych ˇsesti glavach Skazanija Avraamija Palicyna« [›Über die ersten sechs Kapitel der Erzählung des Avraamij Palicyn‹], in: Studia Slavica 14 (1968), S. 205–219. Jakobson, Roman Osipovicˇ: »›Czułos´c´‹ Cypriana Norwida«, in: SW III, S. 508– 518. – »›Gefühl‹ von Cyprian Norwid«, übs. v. Sylwia Grzesinska, Anna Auguscik u. Imke Mendoza, komm. v. Imke Mendoza u. Małgorzata Zemła, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 375–394. — »On the Verbal Art of William Blake and Other Poet-Painters«, in: SW III, S. 322–344. – »Zur Wortkunst von William Blake und anderen DichterMalern«, übs. v. Roger Lüdeke, Dieter Münch u. Grete Lübbe-Grothues, komm. v. Roger Lüdeke u. Sebastian Donat, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 1–43. — »Randbemerkungen zur Prosa des Dichters Pasternak«, in: SW V, S. 416– 432. — »Skorb’ pobivaemych u drov« [›Das Leid jener, die beim Feuerholz erschlagen werden‹], in: SW III, S. 304–310. — »Two Aspects of Language and Two Types of Aphasic Disturbances«, in: SW II, S. 239–259. – »Zwei Seiten der Sprache und zwei Typen aphatischer Störungen«, übs. v. Georg Friedrich Meier u. Wolfgang Raible, in: Aufsätze zur Linguistik und Poetik, S. 117–141. Jakobson, Roman Osipovicˇ u. Grete Lübbe-Grothues: »Ein Blick auf ›Die Aussicht‹ von Hölderlin«, komm. v. Gabriele v. Bassermann u. Stephan Packard, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 138–249. °[Palicyn, Averkij Ivanovicˇ:] Skazanie Avraamija Palicyna [›Erzählung von Avraˇ erepnin, komm. v. O. A. Derzˇavina u. E. V. amij Palicyn‹], hg. v. L. V. C Kolosova, Moskva u. Leningrad: Akademija Nauk SSSR 1955. — »Skazanie Avraamija Palicyna ob osade Troice-Sergieva monastyrja« [›Erzählung von Avraamij Palicyn über die Belagerung des Dreifaltigkeits-SergievKlosters‹], übs. v. G. M. Prochorov, hg. v. E. I. Vaneeva, in: Pamjatniki Literatury Drevnej Rusi. Konec XVI – nacˇalo XVII vekov, hg. v. L. A. Dmitriev u. D. S. Lichacˇev, Moskva: Chudozˇestvennaja Literatura 1987, S. 162–281. ° Popov, N. P.: »K voprosu o pervonacˇal’nom pojavlenii virsˇ v severno-russkoj pis’mennosti« [›Zur Frage des ersten Auftretens von Virsˇi im nordrussischen Schrifttum‹], in: Izvestija Otdelenija Russkago Jazyka i Slovesnosti Rossijskoj Akademii Nauk 22 (1917), S. 259–275.
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Roman Jakobson
Andrew Marvells Gedicht »An seine spröde Herrin« 1 Übersetzung aus dem Englischen Sara Terpin und Susanne Weiss
Kommentar Daniella Jancso´ Als Andrew Marvell 1678 starb, wurde er vor allem für seine Vers- und Prosasatiren und polemischen Schriften gewürdigt; als Dichter fand er allenfalls wegen einiger politischer Gedichte Anerkennung. Trotz der bereits 1681 erfolgten Veröffentlichung seiner »Miscellaneous Poems« wurde Marvells Ruhm als einer der wichtigsten Lyriker des 17. Jahrhunderts erst im 20. Jahrhundert etabliert, nicht zuletzt durch die von Herbert J. C. Grierson 1921 herausgegebene und auch von Jakobson verwendete Anthologie »Metaphysical Lyrics and Poems of the Seventeenth Century«. Noch im selben Jahr erschienen im »Times Literary Supplement« T. S. Eliots enthusiastische Essays »Andrew Marvell« (31. 3. 1921) und »The Metaphysical Poets« (20. 10. 1921), welche die Rezeption der Dichter der sog. ›metaphysical school‹, der neben John Donne, George Herbert und Thomas Carew auch Marvell zugeordnet wird, entscheidend geprägt haben. Marvells Gedicht »To his Coy Mistress«, das sich der lyrischen Traditionen der »carpe-diem«-Poesie und des »blason« bedient, wird neben seinen ›metaphysischen‹ Qualitäten wie der Verwendung von ingeniösen »conceits« und »wit« vor allem für seinen logisch-argumentativen Aufbau gepriesen. Oft wird darauf hingewiesen, daß die dreiteilige Gedichtsstruktur einem 1
Vorlage: Jakobson, Roman Osipovicˇ: »Andrew Marvell’s Poem ›To His Coy Mistress‹«, in: SW VII, S. 341–348. [Anm. d. Komm.]
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Syllogismus gleicht; 2 R. I. V. Hodge zeigt in einer informativen Besprechung sogar Verbindungen zur ramischen Logik auf. 3 Jakobson macht ebenfalls den Gedichtsaufbau zum Ausgangspunkt seiner Analyse, nimmt jedoch weitere Differenzierungen innerhalb der drei üblichen Abschnitte vor. In den so gewonnenen zehn Teilen zeigt er dann *Parallelismen und *Symmetrien im Gebrauch von Verbformen, Pronomina und Verneinungen auf. Angesichts seiner theoretischen Überlegungen, in denen Jakobson der Anordnung grammatischer Elemente einen semantischen Effekt zuschreibt, 4 mag es überraschen, daß der vorliegende Aufsatz sich bei der Analyse von Parallelund Symmetriestrukturen semantischer Schlußfolgerungen weitgehend enthält. Lediglich im Schlußsatz wird darauf hingewiesen, daß »die ausgewogene Wechselwirkung« der grammatischen Elemente bedeutsame Funktionen im semantischen Textgewebe des Gedichts erfülle, ohne daß diese Funktionen jedoch genauer bestimmt würden. Die vorliegende Analyse wäre mithin als wichtige Vor-Arbeit zu betrachten, als Erprobung jener Methode, deren interpretatorischen Ertrag Jakobson erst in seinen späteren Gedichtanalysen voll ausschöpfen wird. Daniella Jancso´
2 3 4
Vgl. z. B. Eliot, »Andrew Marvell«; Daiches, A Critical History of English Literature, S. 386; Friedman, »Andrew Marvell«, S. 293. [Anm. d. Komm.] Hodge, Foreshortened Time, S. 22–24. [Anm. d. Komm.] Vgl. z. B. Jakobson: »Linguistik und Poetik«, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 188: »[…] eine *Äquivalenz im Klang, deren Abbildung auf die Sequenz deren konstitutives Prinzip darstellt, schließt unweigerlich auch eine semantische Äquivalenz mit ein, und auf jeder linguistischen Ebene provoziert jede Konstituente einer solchen Sequenz eine der beiden korrelierenden Erfahrungen, die Hopkins ganz einfach als ›Vergleich durch Ähnlichkeit‹ und ›Vergleich durch Unähnlichkeit‹ definiert.«. [Anm. d. Komm.]
Andrew Marvells Gedicht »An seine spröde Herrin«
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To his Coy Mistress I
5
10
15
20 II
5
10
5 6
Had we but World enough, and Time, This coyness Lady were no crime. We would sit down, and think which way To walk, and pass our long Loves Day. Thou by the Indian Ganges side Should’st Rubies find: I by the tide 5 Of Humber 6 would complain. I would Love you ten years before the Flood: And you should if you please refuse Till the Conversion of the Jews. My vegetable Love should grow Vaster than Empires, and more slow. And hundred years should go to praise Thine Eyes, and on thy Forehead Gaze. Two hundred to adore each Breast: But thirty thousand to the rest. An Age at least to every part, And the last Age should show your Heart. For Lady you deserve this State; Nor would I love at lower rate. But at my back I alwaies hear Times winged Charriot hurrying near: And yonder all before us lye Desarts of vast Eternity. Thy Beauty shall no more be found; Nor, in thy marble Vault, shall sound My ecchoing Song: then Worms shall try That long preserv’d Virginity: And your quaint Honour turn to dust; And into ashes all my Lust. The Grave’s a fine and private place, But none I think do there embrace.
Zwar wird in der von Jakobson verwendeten Grierson-Ausgabe (s. unten) tide groß geschrieben, im Abdruck des Gedichts im vorliegenden Aufsatz erscheint das Wort jedoch klein. [Anm. d. Komm.] Der Humber fließt durch Hull, die Stadt, in der Marvell aufwuchs. Der biographische Bezug ist, daß des Dichters Vater 1641 in diesem Fluß ertrank. [Anm. d. Komm.]
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Roman Jakobson
III
Now therefore, while the youthful hew Sits on thy skin like morning 〈dew〉 7 And while thy willing Soul transpires At every pore with instant Fires, 5 Now let us sport us while we may; And now, like am’rous birds of prey, Rather at once our Time devour, Than languish in his slow-chapt pow’r. Let us roll all our Strength, and all 10 Our sweetness, up into one Ball: And tear our Pleasures with rough strife, Thorough the Iron gates of Life. Thus, though we cannot make our Sun Stand still, yet we will make him run.8
An seine spröde Herrin I
5
10
15
20
7 8
Hätten wir nur genug Welt und Zeit, Wäre diese Sprödigkeit, Dame, kein Verbrechen. Wir säßen nieder und würden überlegen, auf welchem Weg Wir spazieren und unseren langen Liebestag verbringen sollen. Du würdest am Ufer des indischen Ganges Rubine finden: ich würde beim Fluß Humber klagen. Ich würde Dich zehn Jahre vor der Sintflut lieben: Und du könntest, wenn du’s wolltest, mich ablehnen Bis zur Bekehrung der Juden. Meine Liebe würde wie eine Pflanze wachsen Raumgreifender als Kaiserreiche, und langsamer. Und hundert Jahre würden vergehen, um zu preisen Deine Augen und um deine Stirn anzustarren. Zweihundert Jahre, um jede Brust zu verehren: Dreißigtausend aber für den Rest. Mindestens ein Zeitalter für jeden Teil, Und das letzte Zeitalter würde dein Herz zeigen. Denn, Dame, du verdienst diesen Stand; Und ich würde nicht in minderem Grad lieben.
Das Wort dew ist in der von Jakobson verwendeten Ausgabe in Spitzklammern gesetzt, um zu markieren, daß es sich hier um eine Textvariante (dew/glew) handelt. [Anm. d. Komm.] Der hier zitierte Text stammt aus: Metaphysical Lyrics and Poems of the Seventeenth Century, S. 73 f..
Andrew Marvells Gedicht »An seine spröde Herrin«
II
5
10 III
5
10
9
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Doch hinter mir höre ich immer Den beflügelten Wagen der Zeit sich hastig nähern: Und in der Ferne vor uns, liegen Wüsten weiter Ewigkeit. Deine Schönheit wird nicht mehr zu finden sein; Und auch nicht in deiner marmornen Gruft wird tönen Mein wiederhallendes Lied: dann werden Würmer kosten Diese langbewahrte Jungfernschaft: Und deine altertümliche Ehre 9 wird zu Staub werden; Und zu Asche all mein Begehren. Das Grab ist ein feiner und verschwiegener Ort, Doch keine, glaube ich, umarmen sich dort. Genau deshalb, solange noch Jugendschmelz Wie Morgentau auf deiner Haut liegt Und während deine gewillte Seele Aus jeder Pore rasche Feuer ausstößt, Laß uns jetzt uns ergötzen solange wir können; Und jetzt, wie verliebte Raubvögel, Unsere Zeit lieber auf einmal verschlingen, Als in ihrer lähmenden Macht dahinzusiechen. Laß uns all unsere Kraft bündeln und all Unsere Süße zu einem einzigen Ball: Und unsere Freuden in rauhem Streit Durch die eisernen Tore des Lebens ziehen So werden wir, obwohl wir unsere Sonne nicht Zum Stehen bringen können, sie doch zum Laufen bringen.10
Im Englischen des 17. Jahrhunderts waren quaint ›seltsam, altmodisch‹ und honour ›Ehre‹ doppeldeutig: Beide Wörter fungierten auch als Bezeichnung für die weiblichen Geschlechtsorgane. Vgl. Andrew Marvell, hg. Kermode u. Walker, S. 288. [Anm. d. Komm.] 10 Vgl. die Nachdichtung von Werner Vordtriede: »An seine spröde Herrin Hätten wir Welt genug und Zeit, Wärst, Spröde, du von Schuld befreit. Wir säßen nieder irgendwo, Des langen Liebestages froh. Du fändest wohl am Ganges dir Rubine, und ich klagte hier Am Humber. Zu lieben fing ich dann Zehn Jahre vor der Sintflut an: Du könntest, wolltest du’s verwehrn, Bis daß die Juden sich bekehrn, Und meine Liebe schöß ins Kraut Größer als Rom, doch sacht gebaut, Und ein Jahrhundert ging nur hin Zum Preis der Augen und dem Kinn, Zweihundert dann für jede Brust Und dreißigtausend für den Rest. Für jeden Teil ein Zeitenlauf, Im letzten schlöß dein Herz sich auf. Denn du verdienst solch großen Staat, Ich lieb nicht gern in mindrem Grad. Doch rückwärts braust mir Tag für Tag Ans Ohr der Zeiten Flügelschlag, Und gerade vor uns dehnt sich breit Die Wüste weiter Ewigkeit. Und deine Schönheit, ach, sie flieht; Dann tönt in deiner Gruft kein Lied Noch Widerhall; der Wurm benascht Deine langbewahrte Jungfernschaft. Und dein verjährter Kranz wird Staub Und Asche, was ich Lust geglaubt.
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Die wohl interessantesten Seiten in Francis Berrys Buch Poet’s Grammar sind der englischen Dichtung des siebzehnten Jahrhunderts, insbesondere den Metaphysikern, gewidmet. Dieser scharfe Beobachter hat den auffälligen Unterschied im Verbalparadigma in den drei Teilen von Marvells Gedicht To his Coy Mistress (erschienen 1681) bemerkt: des Anfangsabsatzes mit zehn Verspaaren, des Mittelabsatzes mit sechs und des Abschlußabsatzes mit sieben Verspaaren. »Während 11 die konjunktivischen Formen ›would‹ und ›should‹ den ersten Absatz beherrschen und das Hilfsverb ›shall‹, eine zukünftige Gewißheit ausdrückend, den zweiten, so beherrscht das Zeitadverb ›now‹, gefolgt von der ersten *Person Plural ›let us‹ [›laß uns‹] (um Liebe zu genießen, muß die Entscheidung gegenseitig sein) des Imperativs, den letzten Absatz.« 12 Wer sich mit der Untersuchung der Grammatik dieses Gedichts befaßt, könnte allerdings aufschlußreichere Informationen gewinnen, wenn er, anstatt ein paar Merkmale zu isolieren, die gesamte Selektion und Anordnung der grammatischen Kategorien in Marvells Gedicht einer stichhaltigen Analyse unterzöge und wenn er sich bei seiner Suche und Annäherung an sprachliche Fakten eher an die Methoden und Beschreibungen der modernen Sprachwissenschaft hielte als an das veraltete Dogma der ›klassischen Grammatiker‹. Das Gedicht, obwohl reich an Verben, weist zugleich radikale Beschränkungen in seinem Konjugationsmuster auf; manche dieser Beschränkungen betreffen das ganze Gedicht, andere nur bestimmte Teile des Textes. Jeder Absatz besteht in sich noch einmal aus drei Abschnitten: Das Grab ist ein verschwiegner Ort, Doch keiner, glaub ich, küßt sich dort. Drum, da noch Jugendschmelz dir jetzt Wie Morgentau die Haut benetzt Und deine Seele, rasch gewillt, Aus jeder Pore feurig quillt, Ergötzen wir uns jetzt und hier, Daß wie verliebtes Raubgetier Die Zeit wir schlingen, die uns bleibt, Eh daß sie langsam u n s zerreibt. All unsre Kraft rolln wir und all Unser Süßes zu einem einzigen Ball: Und zerren unsre Lust zu zweit Durchs Lebenstor in rauhem Streit. Wir hemmen nicht den Sonnefuß, Doch machens, daß er laufen muß.« (Marvell, Gedichte, übs. u. hg. v. Vordtriede, S. 59–61.) [Anm. d. Übs.] 11 In der englischen Fassung des Jakobson-Aufsatzes wird Berry ungenau zitiert. (»As the subjunctive ›would’s‹ and ›should’s‹ ruled the first paragraph, and as the auxiliary ›shall‹ denoting future certainty ruled the second paragraph, so does the adverb of time ›now‹ followed by a First Person plural ›let us‹ (for to enjoy love, the choice must be mutual) of the Imperative rule the last paragraph.«) Richtig muß es heißen: »[…] ruled the first paragraph; and as the auxiliary ›shall‹, denoting future certainty, ruled the second paragraph; so does the adverb of time ›now‹ followed by a First Person plural ›let us‹ (for to enjoy love, the choice must be mutual) of the Imperative Mood, rule the last paragraph.« [Anm. d. Komm.] 12 Berry, Poet’s Grammar, S. 109 f.
Andrew Marvells Gedicht »An seine spröde Herrin«
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einem Kern (2) und zwei Rändern – einem Eingang (1) und einem Abschluß (3). Alle drei Abschnitte unterscheiden sich in ihrer grammatischen *Struktur erheblich, wobei der *Kontrast zwischen dem Kern und den Rändern besonders hervortritt.13 Abschnitte 1 2 3
Absatz I Erster Eingang Erster Kern Erster Abschluß
Absatz II Mittlerer Eingang Mittlerer Kern Mittlerer Abschluß
Absatz III Letzter Eingang Letzter Kern Letzter Abschluß
Der erste Eingang unterscheidet sich von den zwei anderen Eingängen und kann als ›äußerer Eingang‹ – im Gegensatz zu den beiden ›inneren Eingängen‹ – bezeichnet werden. In gleicher Weise läßt sich der letzte Abschluß im Unterschied zu den zwei anderen ›inneren Abschlüssen‹ als ›äußerer Abschluß‹ bezeichnen. Die beiden ›äußeren Ränder‹ des Gedichts, der erste Eingang und der letzte Abschluß, unterscheiden sich deutlich von den ›inneren Rändern‹, die den mittleren Absatz von den anderen zwei Absätzen abgrenzen. Der Abschluß umfaßt den letzten zweizeiligen Satz des jeweiligen Absatzes. Der Eingang erstreckt sich über die ersten vier Zeilen des zweiten und dritten Absatzes, ist jedoch im ersten Absatz auf sein Anfangsverspaar begrenzt, während das zweite Verspaar eine Art von Übergang vom Eingang zum Kern darstellt (hinsichtlich seiner Verben ähnelt es dem Kern, hinsichtlich der Pronomina dagegen dem Eingang). Während im Gedicht alle diejenigen Hilfsverben vertreten sind, die in Verbindung mit einem Infinitiv verwendet werden, wie shall /should, will / would, may, can, let und do, gibt es keine Hilfsverben, die sich mit Partizipien verbinden, wie have und be (außer in der verneinten Konstruktion II 5 shall no more be found [›wird nicht mehr zu finden sein‹]). In anderen Funktionen kommen diese beiden Verben vor, allerdings nur an den Rändern des Gedichts. Die konjunktivischen Formen dieser sogenannten ›substantivischen‹ Verben stehen am Anfang des Gedichts (I 1 Had we 〈…〉 I 2 This 〈…〉 were no crime [›Hätten wir 〈…〉 wäre diese 〈…〉 kein Verbrechen‹]), und das Verb be taucht in der vorletzten Zeile des zweiten 13 Jakobson weist auf den dreiteiligen Aufbau von Marvells Gedicht auch in seinem Aufsatz »Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie«, S. 253, hin: »Kontraste im grammatischen Bau unterstützen häufig die metrische Aufteilung eines Gedichts in *Strophen und kleinere Abschnitte […], oder sie liegen der Komposition eines dichterischen Werks zugrunde als das wesentliche oder sogar einzige Gliederungsmittel, wie dies in Marvells Gedicht To his Coy Mistress mit seinen drei grammatisch dreifach abgegrenzten und unterteilten Absätzen zu beobachten ist«. [Anm. d. Komm.]
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Absatzes als *Kopula wieder auf: II 11 The Grave’s a fine and private place [›Das Grab ist ein feiner und verschwiegener Ort‹]. Außer der oben erwähnten verneinten Passivform stehen alle Verbalphrasen des Gedichts in der Aktivform. Im Gegensatz zu den Eingängen, in denen keine Infinitive vorkommen, enthalten die beiden anderen Abschnitte insgesamt 29 Verben im Infinitiv (15 im ersten, fünf im zweiten und neun im dritten Absatz). Genaugenommen kommen alle vollwertigen, lexikalischen Verben ausschließlich im Infinitiv vor, in der letzten Zeile des Gedichts häufen sich sogar drei solche Formen: III 13 Thus, though we cannot make our Sun 14 Stand still, yet we will make him run [›So werden wir, obwohl wir unsere Sonne nicht Zum Stehen bringen können, sie doch zum Laufen bringen‹]. Jeder einfache Infinitiv stellt die Handlung in ihrer Vollständigkeit dar, ohne irgendeine Quantifizierung, die der *Verbalaspekt mit sich bringen würde: solche Gegensätze wie *»perfektiv« vs. »nicht-perfektiv« oder »progressiv« vs. »nicht-progressiv« sind im Gedicht völlig aufgehoben. In diesem Werk sind keine differenzierten *Aspekte (traditionell als ›durative Tempora‹ bezeichnet) ausgedrückt. Die Eingänge enthalten nur einfache finite Verbformen, und zwar jeder Eingang zwei: I 1 Had we, I 2 This 〈…〉 were: II 1 I 〈…〉 hear, II 3 lye 4 Desarts: III 2 sits, III 3 transpires [›Hätten wir, wäre diese 〈…〉: 〈…〉 Ich höre, liegen Wüsten: liegt, ausstößt‹]. Auch in der vorletzten Zeile der beiden inneren Abschlüsse steht ein einfaches finites Verb (I 19 you deserve; II 11 The Grave’s 14 a 〈…〉 place [›du verdienst; Das Grab ist ein 〈…〉 Ort‹]), und der zweite dieser Abschlüsse enthält eine solche Verbform in der Parenthese seiner letzten Zeile (II 12 I think 15 [›glaube ich‹]). Die übrigen finiten Formen des Gedichts sind allesamt Auxiliarkomponenten von Verbalphrasen (mit Ausnahme einer stereotypen Redewendung im Nebensatz – I 9 if you please [›wenn du’s wolltest‹]). In den äußeren Rändern gibt es keinen Indikativ. Die einfachen finiten Verbformen des ersten Eingangs sind Konjunktive, während in den inneren Rändern alle einfachen finiten Verbformen im Indikativ Präsens stehen. Die Kerne der drei Absätze sind von komplexen Prädikaten mit den Hilfsverben should /would im ersten, shall im zweiten und let im dritten Absatz beherrscht. Die Form let us signalisiert den Adhortativ, die Verbalphrasen mit shall (oder will) und die entsprechenden Präteritalformen 14 In der englischen Vorlage steht the anstatt des ursprünglichen The. [Anm. d. Komm.] 15 Die Zeilenangabe in der englischen Vorlage (II 20) ist falsch. [Anm. d. Komm.]
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should /would könnten als ›Erwartungsmodus‹ beschrieben werden; im Präsens ist eine gegenwärtige Erwartung ausgedrückt, während diese im Präteritum aufgehoben erscheint. Die indikativischen Formen der inneren Ränder dienen als neutraler Hintergrund; sie trennen die drei Kerne des Gedichts voneinander ab und heben die drei gegensätzlichen modalen Färbungen hervor, die jeden dieser Kerne kennzeichnen: die gegenwärtige Erwartung des zweiten Absatzes als fortwährende *Antithesis (II 1 But at my back I alwaies hear [›Doch hinter mir höre ich immer‹]) zur aufgegebenen Erwartung des ersten Absatzes, und andererseits den Imperativ des dritten Absatzes (III 1 Now therefore 〈…〉 [›Genau deshalb 〈…〉‹]), der zu sofortiger Tat aufruft, als zusammenfassende Antwort sowohl an die frustrierte als auch an die frustrierende Erwartung. Time ist das einzige Nomen, das in allen drei Absätzen wiederholt wird (I 1, II 2, III 7). Marvell verwendet drei verblaßte, idiomatische *Metaphern im Zusammenhang mit Zeit in einem leicht übertragenen Sinne und belebt sie wieder, indem er sie zu Hauptmotiven der drei Teile des Triptychons umgestaltet. Die stereotype Wendung »wenn wir Zeit haben« (if we have time) verwandelt sich in ein Bild von fiktiven Zeitbesitzern, und das anfängliche we (I 1, I 3) spaltet sich in die Pronomina des Absenders und der Adressatin, die voneinander weit entfernt sind: I 5 Thou by the Indian Ganges side 6 Should’st Rubies find, I by the Tide 7 Of Humber would complain [›Du würdest am Ufer des indischen Ganges Rubine finden: ich würde beim Fluß Humber klagen‹]. In diesem Gedicht scheint sich ein stilistischer Unterschied zwischen thou und you sowie zwischen den entsprechenden Possessivpronomina herauszukristallisieren; you und your werden anscheinend mit einer ironisch gefärbten Verehrung und Begeisterung verwendet: I 9 And you should if you please refuse 10 Till the Conversion of the Jews 〈…〉 I 18 And the last Age should show your Heart 19 For Lady you deserve this State 〈…〉 II 9 And your quaint Honour turn to dust 〈…〉 [›Und du könntest, wenn Du’s wolltest, mich ablehnen Bis zur Bekehrung der Juden 〈…〉 Und das letzte Zeitalter würde dein Herz zeigen. Denn, Dame, du verdienst diesen Stand 〈…〉 Und deine altertümliche Ehre wird zu Staub werden‹]. Das Pronomen I des Absenders geht in *metonymischen Subjekten auf, die entweder die Tätigkeit des Absenders oder deren Dauer ausdrükken: I 11 My vegetable Love should grow 〈…〉 I 13 And hundred years should go to praise 〈…〉 [›Meine Liebe würde wie eine Pflanze wachsen 〈…〉 Und hundert Jahre würden vergehen, um zu preisen 〈…〉‹]. Diese metonymischen Subjekte und Pronomina der zweiten Person bedingen eine andere
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Art von Erwartungsmodus als jenen, der im Gedicht von den Pronomina der ersten Person gefordert wird. Diese verlangen durchweg (in Twaddels Terminologie) 16 das »absolute« would, während das »kontingente« should in Verbindung mit den anderen Subjekten steht. Wenn nach dem sententiösen Indikativ der vorletzten Zeile (I 19 For Lady you deserve this State [›Denn, Dame, du verdienst diesen Stand‹]) zum letzten Mal eine Wendung mit would wiederholt wird, bringt die Negation diese modale Färbung des ersten Absatzes harsch zu einem Ende (I 20 Nor would I love at lower rate [›Und ich würde nicht in minderem Grad lieben‹]). Die Wendung »time hurries on«,17 mit der mythologischen Metaphorik des winged Charriot [›beflügelten Wagen‹] (II 2) ausgestattet, evoziert den traditionellen *Topos des »memento mori« mit den unvermeidlichen Würmern, welches hier jedoch in die Form eines sarkastischen *Wortspiels aus den Bereichen Erotik und Ernährung gepreßt ist: II 7 Then Worms shall try 8 That long preserv’d Virginity [›dann werden Würmer kosten Diese langbewahrte Jungfernschaft‹]. Die Pronomina der ersten und zweiten Person verschwinden und werden durch metonymische *Abstrakta ersetzt, die von den Possessiva my und thy oder your als Attributen sowie durchweg von einem ›kontingenten‹ shall begleitet werden. Der mittlere Abschluß bildet zum Kern desselben Absatzes und in der Tat zu allen Kernen des Gedichts einen Kontrast, aufgrund seiner Verbformen im Indikativ Präsens, einer Gleichungsaussage 18 (II 11) wie derjenigen im ersten Eingang, und aufgrund neuer grammatischer Kategorien, die sonst nirgends im Gedicht vorkommen. Diese sind einerseits der negative pronominale *Totalitätsmarker none, der absichtlich dem benachbarten parenthetischen I gegenübergestellt wird und zu den substantivischen Subjekten des vorherigen Kerns im Gegensatz steht; andererseits die ›bestätigende‹ oder ›urteilende‹ Modalität 19 des Prädikats – II 12 But none I think do there embrace [›Doch keine, glaube ich, umarmen sich 16 Siehe Twaddell, The English Verb Auxiliaries. [Anm. v. R.J.] – Da Twaddells Buch erst 1960 veröffentlicht wurde, verwendete Jakobson eine Kopie des vervielfältigten Manuskripts. In der zweiten, überarbeiteten Auflage des Buchs (1968) läßt sich die ›Terminologie‹, die Jakobson Twaddell zuschreibt, höchstens implizit finden: weder »absolute« noch »contingent« kommen in Twaddells Text an der entsprechenden Stelle (S. 13) wortwörtlich vor. [Anm. d. Komm.] 17 Vgl. Oxford English Dictionary, Bd. 11, III, 24b. 18 Im Original »equational preposition«, wohl ein Druckfehler; richtig muß es heißen: »equational proposition«. [Anm. d. Komm.] 19 Vgl. Jakobson, »Boas’ View of Grammatical Meaning«, S. 490 f. [Anm. v. R.J.] – In der angegebenen Literatur weist Jakobson darauf hin, daß dieser Begriff von Willard Quine stammt. [Anm. d. Komm.]
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dort‹] – wobei die *adversative Konjunktion wiederkehrt, mit der auch der Eingang desselben Absatzes beginnt. Die geläufige bildliche Ausdrucksweise »to consume time« [›Zeit verbrauchen‹] wird durch das synonyme, aber ausdrucksstärkere Verb »to devour« [›verschlingen‹] ersetzt und dadurch belebt. Der letzte Absatz kehrt das Agens-Ziel-Verhältnis des vorherigen Teils um. Die gedachten Opfer der gefräßigen Würmer werden ihrerseits dazu aufgerufen, die alles fressende Zeit zu verschlingen: III 6 And now, like am’rous birds of prey, 7 Rather at once our Time devour, 8 Than languish in his slow-chapt pow’r [›Und jetzt, wie verliebte Raubvögel, Unsere Zeit lieber auf einmal verschlingen, Als in ihrer lähmenden Macht dahinzusiechen‹]. Der getilgte metaphorische Wert des Possessivpronomens in der stehenden Wendung »our time« [›unsere Zeit‹] wird wiederhergestellt und somit erneut das Eröffnungsbild des Gedichts – I 1 Had we but World enough, and Time [›Hätten wir nur genug Welt und Zeit‹] – bekräftigt. In der Bezeichnung III 13 our Sun 20 [›unsere Sonne‹], die schließlich den symbolischen Ersatzausdruck für our Time darstellt, erscheint dasselbe Pronomen mit der gleichen *Konnotation von tatsächlichem Besitz wieder. Die übliche Verwendung des den Sexus bezeichnenden Pronomens he für time (III 8) und sun (III 14) wird im Gedicht ein tatsächliches Mittel zur *Personifizierung, zumal in Verbindung mit der auffälligen *Hypallage – III 8 his slow-chapt pow’r 21 [›ihrer lähmenden Macht‹]. Der Aufruf zum Verschlingen der Zeit wird von einem Bild – III 6 like am’rous birds of prey [›wie verliebte Raubvögel‹] – begleitet, welches erneut (wie II 7 und II 8) die erotische Metaphorik mit der aus dem Bereich der Ernährung verbindet. Diese zwei *Tropen aus dem Bedeutungsfeld der Tiere – die eine über die dramatis personae (worms) gelegt, die andere mit ihnen identifiziert (am’rous birds) – stehen im Gegensatz zum vorherigen metaphorischen *Epitheton, das aus dem Bedeutungsfeld der Botanik stammt: I 11 My vegetable love should grow [›Meine Liebe würde wie eine Pflanze wachsen‹]. Im Eingang des zweiten Absatzes war das grammatische Subjekt das singularische Personalpronomen I, welches den Autor bezeichnet, der Desarts of vast Eternity [›Wüsten weiter Ewigkeit‹] voraussieht, wie sie before us [›vor uns‹] liegen (II 3, II 4). Der Kern wies eine Reihe von trostlosen shallAussagen und ausschließlich substantivierten Subjekten auf, die immer noch mit dem Autor und seiner Adressatin durch die Possessivpronomina 20 In der englischen Vorlage steht Our anstatt des ursprünglichen our. [Anm. d. Komm.] 21 Zeilenangabe (III 8) eingeführt, fehlt im Original. [Anm. d. Komm.]
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my und thy oder your verbunden waren; die urteilende Aussage des Abschlußteils mit dem negativen Universalpronomen im Plural setzt jedem persönlichen, privaten und erotischen Motiv ein Ende: II 12 But none I think do there embrace [›Doch keine, glaube ich, umarmen sich dort‹]. Im Gegensatz dazu geht der letzte Absatz von bildlichen substantivischen Subjekten, durch das Possessivpronomen thy mit der Adressatin verbunden, zu einer Reihe von Sätzen mit der Aufforderung let us über. Das Pronomen, das den Absender und die Adressatin umfaßt und das Gedicht eröffnete (Had we, usw.), bevor die beiden getrennt wurden, wird wiederhergestellt, und sogar die jeweiligen persönlichen Eigenschaften der beiden Teilnehmer werden zu gemeinsamen Attributen: III 9 Let us roll all our Strength, and all 10 Our sweetness, up into one Ball [›Laß uns all unsere Kraft bündeln und all Unsere Süße zu einem einzigen Ball‹]. Am Ende des Absatzes sowie des ganzen Gedichts weicht die objektive Form us dem subjektiven we, und entsprechend taucht der absolute Erwartungsmodus auf, die einzige Art von Erwartungsmodus, die das Gedicht nach Personalpronomina der ersten Person zuläßt. Das Hilfsverb will gewinnt unter dem Einfluß des verwandten Epithetons im Eingang seine eigentliche semantische Bedeutung wieder: III 3 And while thy willing Soul transpires [›Und während deine gewillte Seele 〈…〉 ausstößt‹]. Das Personalpronomen der ersten Person I eröffnet den mittleren Absatz und wird im weiteren Verlauf unterdrückt, während im letzten Absatz gerade das Gegenteil geschieht: das Pronomen we setzt gegen Ende ein. Dieses Personalpronomen im Plural bildet einen eindrucksvollen Kontrast zu dem entpersönlichten, pluralischen none des mittleren Abschlusses. Das Gedicht beginnt und endet mit Sätzen, die das Pronomen we enthalten, aber der frustrierten, aufgehobenen Erwartung, die den Anfang kennzeichnete (I 3 We would sit down, and think which way [›Wir säßen nieder und würden überlegen, auf welchem Weg‹]), entspricht eine tatsächliche Vorahnung am Ende. Im letzten Abschlußteil wird auf das Leitmotiv des ersten Absatzes – I 1 Had we 〈…〉 Time [›Hätten wir 〈…〉 Zeit‹] – durch den absoluten Potentialis hingewiesen, die zugunsten einer absoluten Erwartungsform verneint wird: III 13 Thus, though we cannot make our Sun 14 Stand still, yet we will make him run [›So werden wir, obwohl wir unsere Sonne nicht Zum Stehen bringen können, sie doch zum Laufen bringen‹]. Diese Verneinung des absoluten Potentialis (we cannot) steht zugleich im Gegensatz zum kontingenten Potentialis des Kerns: III 5 Now let us sport us while we may [›Laß uns jetzt uns ergötzen solange wir können‹]. Die Verteilung der Negativa läßt ihre konstruktive Rolle im Gedicht deutlich werden. Alle drei Abschlußteile enthalten eine Verneinung: die
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zwei inneren Abschlußteile in der letzten (I 20 Nor, II 12 But none [›Und […] nicht, Doch keine‹]) und der äußere Abschlußteil in der ersten seiner zwei Zeilen (III 13 Thus, though we cannot [›So […], obwohl wir […] nicht […] können‹]). Weiters gibt es eine Negation in der zweiten Zeile des Eingangs (I 2 This coyness Lady were no crime [›Wäre diese Sprödigkeit, Dame, kein Verbrechen‹]), und ein Negationspaar eröffnet und kennzeichnet den inneren Kern: II 5 Thy Beauty shall no more be found; 6 Nor, in thy marble Vault, shall sound, 7 My echoing song 〈…〉 [›Deine Schönheit wird nicht mehr zu finden sein; Und auch nicht in deiner marmornen Gruft wird tönen Mein wiederhallendes Lied 〈…〉‹]. Kurz gesagt, die Absätze werden durch eine Verneinung am Ende der inneren Abschlußteile voneinander getrennt; andererseits enthalten die beiden äußeren Ränder eine Negation in der zweiten Zeile vom Anfang bzw. Ende; somit verbinden die Negativa den ersten Eingang, den mittleren Kern und den letzten Abschlußteil des Gedichts. Das Muster der Negativa im Gedicht könnte schematisch als die Kombination einer niederfallenden Diagonale mit einer horizontalen Basis dargestellt werden: 22 1 2 3
§I no no
§ II
§ III
no no
no
Im ersten Satz des Gedichts wird eine negative Schlußfolgerung aus einer aufgehobenen Prämisse gleichfalls aufgehoben. Der Zentralabschnitt des ganzen Gedichts antwortet mit einer mehrmaligen negativen Vorwegnahme. Marvells Botschaft erinnert an die anfängliche Fiktion, verneint ihre Möglichkeit (cannot), überwindet aber diese Negation, indem sie eine beiderseitige Bereitschaft zu einer aktiven, dynamischen Lösung ausdrückt: III 14 yet we will make him run [›werden wir […] sie doch zum Laufen bringen‹]. Neben den charakteristischen grammatikalischen Merkmalen der drei Kerne (Prädikate mit should kommen nur innerhalb des ersten, solche mit shall nur innerhalb des mittleren und solche mit let us nur innerhalb des letzten Kerns vor), der auffälligen grammatikalischen Differenzierung zwischen drei Arten von kompositorischen Einheiten – Eingängen, Kernen und Abschlüssen – und der grammatikalischen Spaltung der Eingänge und Abschlüsse in innere und äußere Ränder, ist für die Gesamtstruktur des Gedichts von großer Bedeutung: das Fehlen von Infinitiven in 22 Aus diesem Diagramm geht nicht hervor, daß der Kern des zweiten Absatzes zwei Negationen enthält. [Anm. d. Komm.]
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allen Eingängen und ihr Vorkommen in allen anderen Abschnitten; das Vorkommen der einfachen finiten Verbformen in allen Eingängen und ihr generelles Fehlen in den Kernen; das Vorkommen von Verben im Indikativ Präsens in allen inneren Rändern und ihr Fehlen anderswo; das gleichzeitige Vorkommen von einfachen Verbformen zusammen mit Hilfsverben nur in den Abschlüssen und /oder das einzelne Erscheinen von Auxiliarformen, die anderswo nicht vorkommen (do, can, will). Die ausgewogene Wechselwirkung aller dieser grammatikalischen Merkmale erfüllt bedeutsame Aufgaben im semantischen Textgewebe von Marvells Gedicht. Editorische Notiz Geschrieben 1959 als »Illustration« zum Aufsatz »Poetry of Grammar and Grammar of Poetry« (vgl. Selected Writings III, S. 63–97); hier zum ersten Mal veröffentlicht.
Literatur Jakobsons eigene Literaturangaben sind mit ° gekennzeichnet. Andrew Marvell, hg. v. Frank Kermode u. Keith Walker, Oxford u. New York: Oxford University Press 1992. ° Berry, Francis: Poet’s Grammar, London: Routledge and Kegan Paul 1958. Daiches, David: A Critical History of English Literature, London: Secker & Warburg 1961. Eliot, T. S.: »Andrew Marvell« in: TLS, 31. 3. 1921, nachgedruckt in: Selected Prose of T. S. Eliot, hg. v. Frank Kermode, London: Faber and Faber 1975, S. 161–171. Friedman, Donald M.: »Andrew Marvell«, in: The Cambridge Companion to English Poetry. Donne to Marvell, hg. v. Thomas N. Corns, Cambridge: CUP 1994, S. 293. Hodge, Robert I. V.: Foreshortened Time, Cambridge: D. S. Brewer and Rowman & Littlefield 1978. Jakobson, Roman Osipovicˇ: »Andrew Marvell’s Poem ›To His Coy Mistress‹«, in: SW VII, S. 341–348. ° — »Boas’ View of Grammatical Meaning«, in: SW II, S. 489–496. — »Linguistik und Poetik«, übs. v. Stephan Packard, komm. v. Hendrik Birus, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 154–216. — »Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie«, übs. v. Randi Agnete Hartner u. Wolfgang Raible, in: Aufsätze zur Linguistik und Poetik, S. 247– 260.
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Legouis, Pierre: Andrew Marvell. Poet, Puritan, Patriot, Oxford: Clarendon Press 1965. Marvell, Andrew: Gedichte, übs. u. hg. v. Werner Vordtriede, Berlin: Henssel 1962. °Metaphysical Lyrics and Poems of the Seventeenth Century, hg. v. Herbert J. C. Grierson, Oxford: Clarendon 1921. °The Oxford English Dictionary, 13 Bde., hg. v. J. A. H. Murray u. a., Oxford: Clarendon Press 1933. ° Twaddell, William F.: The English Verb Auxiliaries, Providence, R. I.: Brown University Press 1959 [Matrizendruck].
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»Du möchtest wissen: Wer bin ich?« Eine Analyse der Tobolsker Verse Radisˇcˇevs 1 Übersetzung aus dem Russischen und Kommentar Sebastian Donat Gleich in mehrfacher Hinsicht zeichnet sich Jakobsons Radisˇˇcev-Analyse durch eine besondere Intensität aus. Zunächst in bezug auf den gewählten Text. Das auf den ersten Blick nebensächliche ›Gelegenheitsgedicht‹ steht entstehungsgeschichtlich (es wurde 1791 auf der Reise in die Verbannung verfaßt) für die Konsequenz und Kompromißlosigkeit seines Verfassers im Hinblick auf seine revolutionären politischen Ansichten und verweist zugleich auf die beiden literarischen Hauptwerke Radisˇˇcevs, seine Ode »Freiheit« und vor allem die »Reise von Petersburg nach Moskau«. Die Analyse selbst berücksichtigt trotz ihres vergleichsweise geringen Umfangs ein erstaunlich breites Spektrum an Untersuchungsaspekten. Lautcharakter, *Rhythmus, Wortarten, Kasus, Satzglieder und -konstruktionen sowie ihr Bezug zum Aussagegegenstand, darüber hinaus auch Parallelstellen aus anderen Werken sowie poetologische Äußerungen Radisˇˇcevs werden analysiert, um die komplexe *Struktur des Textes angemessen beschreiben zu können. Außergewöhnlich intensiv sind schließlich auch die erkennbaren Wechselbeziehungen zu weiteren wichtigen Arbeitsgebieten Jakobsons: zu seinen metrisch-rhythmischen Studien, seiner Kasuslehre sowie zu seinen bis zum Lebensende fortgesetzten Untersuchungen zur Phonetik und Phonologie. Sebastian Donat
1
Vorlage: Jakobson, Roman Osipovicˇ: »›Ty chocˇesˇ’ znat’: kto ja?‹ Razbor tobol’skich stichov Radisˇcˇeva«, in: SW III, S. 311–321. Erstfassung: Jakobson, Roman Osipovicˇ: »Razbor tobol’skich stichov Radisˇcˇeva«, in: Rol’ i znacˇenie literatury XVIII veka v istorii russkoj kul’tury. K 70–letiju so dnja rozˇdenija ˇclena-korrespondenta AN SSSR P. N. Berkova, Moskva u. Leningrad: Nauka 1966 (= XVIII vek, Bd. 7), S. 228–236. [Anm. d. Übs./Komm.]
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“ы хочешь знать: кто ¤? что ¤? куда ¤ еду? — я тот же, что и был и буду весь мой век: Ќе скот, не дерево, не раб, но человек! ƒорогу проложить, где не бывало следу, ƒл¤ борзых смельчаков и в прозе и в стихах, ◊увствительным сердцам и истине ¤ в страх, ¬ острог »лимский еду.2 Ty cho´cˇesˇ’ zna´t’: kto ja´? cˇto ja´? kuda´ ja e´du? – Ja to´t zˇe, cˇto´ i by´l i bu´du ve´s’ moj ve´k: Ne sko´t, ne de´revo, ne ra´b, no cˇelove´k! Doro´gu prolozˇ´ıt’, gde ne byva´lo sle´du, Dlja bo´rzych smel’cˇako´v i v pro´ze i v sticha´ch, ˇ uvstvı´tel’nym serdca´m i ´ıstine ja v stra´ch, C V ostro´g Ilı´mskij e´du. Du möchtest wissen: wer bin ich? was bin ich? wohin fahre ich? – Ich bin genau der, der ich war und mein ganzes Jahrhundert sein werde: Kein Vieh, kein Holz, kein Sklave, sondern ein Mensch! Um einen Weg zu bahnen, wo es keine Spur gab, Für die schnellfüßigen Wagehalsigen sowohl in Prosa als auch in Versen, Zum Schrecken für die empfindsamen Herzen und für die Wahrheit, In das Ilimsker Gefängnis fahre ich.
Unter der Überschrift »Otvet G-na Radisˇcˇeva vo vremja proezda ego cˇerez Tobol’sk, ljubopytstvujusˇcˇemu uznat’ o ne¨m« [›Antwort des Hrn. Radisˇcˇev während seiner Durchfahrt durch Tobol’sk an denjenigen, der begierig ist, etwas über ihn zu erfahren‹] 3 wurde dieses Gedicht aus dem 2 3
Radisˇcˇev, Polnoe sobranie stichotvorenij, S. 135. – Vgl. die in der Interpunktion abweichende zweite Ausgabe der Gedichte Radisˇcˇevs in der »Biblioteka poe˙ta«: Radisˇcˇev, Stichotvorenija, S. 76. [Anm. d. Übs./Komm.] Radisˇcˇev wurde 1790 wegen des aufrührerischen Charakters seines Reiseromans »Reise von Petersburg nach Moskau« zur Verbannung nach Sibirien verurteilt. Das Gedicht entstand während eines siebenmonatigen Aufenthalts in Tobol’sk auf der Reise in die Verbannung. Wie Radisˇcˇev diesen Weg in die Verbannung erlebte, läßt sich anhand seiner Briefe an seinen Gönner A. R. Voroncov nachvollziehen. Vgl. z. B. den folgenden Auszug aus seinem Brief an Voroncov vom 24. 7. 1791 (hier gleich in der deutschen Übersetzung): »Ich gestehe offen, daß ich mich eines traurigen Gefühls nicht erwehren kann, wenn ich an die riesigen Räume denke, in die ich zu entschwinden mich anschicke. […] Warum kann ich mich nicht als einen Reisenden empfinden, der, um seine Lieblingsleidenschaften – Wißbegierde und Ruhmbegierde – zu befriedigen, festen Fußes unbekannte Pfade betritt, in unwegsame Wälder eindringt, über Abgründe schreitet, Gletscher besteigt und am Ende seiner Unternehmungen zufrieden auf die überstandenen Mühen und seine Erschöpfung blickt? Warum kann ich nicht so fühlen?
»Du möchtest wissen: Wer bin ich?« Eine Analyse der Verse Radisˇcˇevs
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Jahr 1791 im folgenden Jahr in eine handschriftliche Sammlung übernommen, die von P. A. Efremov gefunden und erworben wurde.4 Das Gedicht ist im gereimten sechsfüßigen *Jambus mit einer *Zäsur nach der sechsten Silbe verfaßt – mit Ausnahme der letzten, siebenten Zeile, die aus einem Halbvers besteht. Ein *weiblicher Reim verbindet die Anfangsund Schlußzeile mit der mittleren Zeile, während der zweite und dritte sowie der fünfte und sechste Vers durch *männliche Reime verbunden sind: aBBaCCa (wobei männliche Reime durch Groß- und weibliche Reime durch Kleinbuchstaben dargestellt werden). In den Jamben Radisˇcˇevs, z. B. in der Ode »Vol’nost’« [›Freiheit‹], verbinden sich konservative Formen, die dem Muster der frühen Versuche Lomonosovs folgen,5 No cˇto´ zˇ pretı´t moe´j svobo´de? Zˇela´n’jam zrju´ vezde´ prede´l; Voznı´kla o´bsˇcˇa vla´st’ v naro´de, Sobo´rnyj vse´ch vlaste´j ude´l.6
4
5
6
Ich gehöre zu den Menschen, die Sterne ›Reisende wider Willen‹ nennt, kein Vorteil ist das Ziel meiner Reise, und dieser Gedanke nimmt mir jeden Antrieb zur Wißbegierde.« (Radistschew, Ausgewählte Schriften, S. 426 f.) Vgl. das französische Original in Radisˇcˇev, Polnoe sobranie socˇinenij, Bd. 3, S. 385 f. [Anm. d. Übs./Komm.] Pe¨tr Aleksandrovicˇ Efremov (1830–1908) war auch der erste, der das Gedicht veröffentlichte: nach einer auszugsweisen Publikation 1864 erstmals vollständig im Rahmen seiner Ausgabe der Werke Radisˇcˇevs 1872. Allerdings wurde die gesamte Auflage dieser Ausgabe auf Weisung des russischen Ministerrats vernichtet, so daß das Gedicht erst nach der russischen Revolution von 1905 bekannt wurde. Vgl. Jakobson, »Razbor tobol’skich stichov Radisˇcˇeva«, hg. u. komm. v. Gindin. [Anm. d. Übs./Komm.] Diese ›konservative Form‹ ist charakteristisch für die relativ kurze Phase (30er und 40er Jahre des 18. Jahrhunderts), in welcher der aus Deutschland importierte syllabotonische Vers in der russischen Dichtung möglichst getreu dem *Metrum, d. h. hier mit kompletter Realisierung aller vier *Hebungen, umgesetzt wurde (vgl. Gasparov, Ocˇerk istorii russkogo sticha, S. 79–81 [§ 32], sowie Scherr, Russian Poetry, S. 47 f.). In seiner Derzˇavin-Analyse bezeichnet Jakobson diesen Rhythmustyp als ›strengen Skansionsstil‹ (vgl. Jakobson, »Derzˇavin’s Last Poem and M. Halle’s First Literary Essay«, S. 351, sowie die Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 50). [Anm. d. Übs./Komm.] Beginn der dritten *Strophe von Radisˇcˇevs Ode »Vol’nost’« (1783) (vgl. Radisˇcˇev, Stichotvorenija, S. 56–75, hier: S. 57). – Vgl. die auszugsweise deutsche Versübertragung von Bruno Tutenberg in Radischtschew, Reise von Petersburg nach Moskau, S. 161–172, hier: S. 164: »Doch seh ich meine Freiheitsträume Von allen Seiten eingeschränkt: Wohl hat – ein allgemeines Schicksal – Das Volk sich an die Macht gedrängt«. [Anm. d. Übs./Komm.]
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mit seltsamen und bedeutungsvollen Abfolgen von unterschiedlich plazierten nichtbetonten Hebungen Sgruzˇde´nnye polkı´ v zasˇcˇ´ıtu Na bra´n’ vede´ˇs’ li znamenı´tu Za cˇelove´cˇestvo kara´t’? 7
oder O vo´in nepokolebı´myj, Ty e´st’ i by´l nepobedı´myj.8
In der »Antwort an den Wißbegierigen« trägt die erste und die letzte Hebung des Verses durchgehend einen *Wortakzent. Die Hebung an der Grenze zum benachbarten Halbvers, d. h. die dritte und vierte in den sechsfüßigen Zeilen, wird nur je einmal ausgelassen, während die mittlere Hebung innerhalb der Halbverse in sechs von dreizehn Fällen nicht realisiert wird: jeweils einmal im dritten und vierten Vers und jeweils zweimal im fünften und sechsten Vers. Auf jede Zäsur fällt zumindest eine virtuelle syntaktische Pause, und alle Verse sind voneinander durch eine obligatorische syntaktische Pause getrennt, doch nur der letzte, siebente Vers endet in der Intonation des abgeschlossenen Aussagesatzes.9 Das gesamte Gedicht muß als ein komplexer Satz angesehen werden. Keiner der drei Fragesätze der ersten Zeile stellt einen einzelnen Satz dar. Das zeigt sich in den Kleinbuchstaben am Anfang aller drei Fragen wie auch im Gedankenstrich, der die letzte von ihnen mit dem Beginn des zweiten Verses verbindet. Die Frage-AntwortKomposition, in der der erste Vers allen übrigen gegenübergestellt ist, sprengt damit nicht das »komplexe Ganze«. Der Komplex, der im Anschluß an die einführenden Worte eine erlebte Rede (nesobstvennaja prjamaja recˇ’ ) aus drei Fragesätzen umfaßt, dient als Ausgangspunkt für den zweiten Sektor des *asyndetischen komplexen Satzes. Die Einleitung bedeutet: »wenn das deine Fragen sind, dann kommt hier meine Antwort.« Nachdem der Autor 10 dem »Wißbegierigen« in den Versen 2 und 3 auf 7
V. 5–7 der 21. Strophe der Ode »Vol’nost’«, vgl. Radisˇcˇev, Stichotvorenija, S. 63. – In der Übertragung Tutenbergs: »Führst du zur Schlacht – der Menschheit willen Oder um Ruhmesdurst zu stillen – Die Heere, die man dir gestellt?« (Radischtschew, Reise von Petersburg nach Moskau, S. 169.) [Anm. d. Übs./Komm.] 8 ›O unerschütterlicher Krieger, Du bist und warst unbesiegbar‹. V. 8 f. der 34. Strophe der Ode »Vol’nost’«, vgl. Radisˇcˇev, Stichotvorenija, S. 69. [Anm. d. Übs./Komm.] 9 Sie ist im Russischen gekennzeichnet durch eine durchgehend fallende Satzmelodie. [Anm. d. Übs./Komm.] 10 Jakobson setzt hier den Sprecher des Gedichts und dessen realen Autor in eins. Dieser (aus heutiger Sicht) undifferenzierte Umgang mit der Kommunikations-
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die ersten zwei Punkte geantwortet hat, konzentriert er sich auf den dritten: »kuda ja edu« [›wohin ich fahre‹]. Und diese seine Erklärung, die als unmittelbare Schlußfolgerung aus der vorangehenden, emotional zugespitzten strikten Abfuhr (»no cˇelovek!« [›sondern (ein) Mensch!‹]) gegeben wird, ist untrennbar mit ihr verknüpft als zweiter, folgender Teil eines wiederum asyndetischen komplexen Satzes, der gewissermaßen besagt: ich bin kein Sklave und werde deswegen versklavt. Beide Antworten – die eine auf die doppelte Frage wer? was? und die andere auf das brennende Thema des Tages, wohin ich fahre – enthalten jeweils am Ende ihrer Anfangszeile die beiden einzigen Nebensätze im ganzen Gedicht. Jeder von ihnen beginnt mit einer entsprechenden Pronominalform in subordinierender Funktion: 1 ˇcto? – 2 ˇcto i byl [›1 was? – 2 was (ich) war‹]; 1 kuda ja edu? – 4 gde ne byvalo sledu [›1 wohin ich fahre? – 4 wo (es) nicht gab (eine) Spur‹]. Der letzte Halbvers reimt sich nicht nur mit der angeführten Frage, sondern wiederholt auch den betonten Vokal der vorangehenden Hebung: kuda´ ja – byva´lo. Vernachlässigen wir zunächst die *Kopula, so finden wir in den sieben Versen lediglich zwei finite Verbalkonstruktionen: Ty chocˇesˇ’ [›Du möchtest‹] am Beginn des Anfangsverses und ja edu [›ich fahre‹] im Verlauf der Frage am anderen Ende derselben Zeile und dann in der affirmativen Form am Ende des gesamten Textes. Die das Gedicht umrahmenden prädikativen Formen erscheinen in symmetrischen Verbindungen – Ty chocˇesˇ’ znat’ (cˇto) [›Du möchtest wissen (was)‹] und mit der *Inversion derselben Konstruktion: (cˇto) prolozˇit’ 〈…〉 edu [›(was zu) bahnen 〈…〉 (ich) fahre‹]. Ty [›Du‹] und ja [›ich‹] sind die beiden einzigen Subjekte im ganzen Gedicht, und die beiden »ergänzenden Teile verbaler Satzglieder« (gemäß der syntaktischen Terminologie Sˇachmatovs) 11 1 znat’ [›wissen‹] und struktur lyrischer Texte ist im vorliegenden Gedicht durch dessen starke Einbindung in konkrete Lebensumstände des Autors Radisˇcˇev eher unauffällig (vgl. das identische und ebenfalls unmarkierte Verfahren im Grundlagenaufsatz »Poe˙zija grammatiki i grammatika poe˙zii«, S. 73, sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 278). Er tritt an anderer Stelle deutlicher hervor (vgl. Jakobson, »O ›Stichach, socˇinennych nocˇ’ju vo vremja bessonnicy‹«, S. 383, sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 130); vgl. dagegen Jakobsons feingliedrige pragmatische Analyse in seiner Poe-Studie »Language in Operation« (vgl. die Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 237–255). [Anm. d. Übs./Komm.] 11 Jakobson nimmt hier Bezug auf ein erstmals 1925/27 erschienenes klassisches Werk der russischen Linguistik: Sˇachmatov, Sintaksis russkogo jazyka, S. 392–398 (§§ 469–475: »Dopolnitel’nyj glagol’nyj cˇlen«). [Anm. d. Übs./Komm.]
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prolozˇit’ [›bahnen‹] sind die einzigen Infinitive. Die vierte, mittlere Zeile unterscheidet sich deutlich von den übrigen Zeilen durch die einzige Verbindung eines *transitiven Verbs mit einem direkten *Objekt in ihrem ersten, d. h. siebenten und folglich zentralen Halbvers, und ihr zweiter Halbvers steht den übrigen zwölf Halbversen markant aufgrund der Nicht-Realisierung der ersten Hebung gegenüber; damit antwortet dieser Halbvers in Form einer *Spiegelsymmetrie auf die beiden ersten Hebungen des vorausgehenden Halbverses.12 Dieser Vers, der sich mit dem ersten und letzten Vers reimt, nimmt einen wesentlichen Platz im Inhalt des ganzen Werks ein. Durch den gesamten vorangehenden Text ist der wißbegierige Leser auf die Idee vorbereitet, daß der Dichter, der die Sklaverei im Namen der Menschlichkeit ablehnt, sich der Anlage neuer Wege dorthin widmet, wo es bisher noch keine Spur irgendeines Wegs gegeben hat, und daß ihm Wagehalsige, die nach der Meinung Ekaterinas 13 durch die »außergewöhnliche Dreistigkeit« 14 des Putesˇestvie iz Peterburga v Moskvu [›Reise von Petersburg nach Moskau‹] 15 und der »gänzlich und unverhüllt aufrührerischen« Ode »Vol’nost’« [›Freiheit‹] 16 aufgewiegelt wurden, folgen 4
12 Dieser Satz ist in der Fassung der SW fehlerbehaftet. Deshalb wurde hier auf den Erstdruck zurückgegriffen (vgl. Jakobson, »›Ty chocˇesˇ’ znat’: kto ja?‹ Razbor tobol’skich stichov Radisˇcˇeva«, S. 312 f., sowie ders., »Razbor tobol’skich stichov Radisˇcˇeva«, S. 229 f.). Die zuletzt angeführte spiegelsymmetrische Struktur bezieht sich auf die Realisierung der jeweils ersten beiden Hebungen in den beiden Halbversen der vierten Zeile (hier durch Akzente dargestellt): –´ – –´ – –´ –´ . [Anm. d. Übs./Komm.] 13 Die russische Zarin Katharina II., die Radisˇcˇev 1790 wegen seiner Reise von Petersburg nach Moskau zunächst zum Tode verurteilen ließ, dieses Urteil jedoch dann zu einer Verbannung nach Sibirien (in das Ilimsker Gefängnis) abmilderte. [Anm. d. Übs./Komm.] 14 In den Notizen Katharinas II. zu Radisˇcˇevs Reise von Petersburg nach Moskau findet sich folgende Passage: »Socˇinitel’ ne ljubit carej i, gde mozˇet k nim ubavit’ ljubov’ i pocˇtenie, tut zˇadno pricepljaetsja s redkoj smelostiju.« (Katharina II., »Zamecˇanija Ekateriny II na knigu A. N. Radisˇcˇeva«, S. 163. – ›Der Verfasser liebt die Zaren nicht und beißt sich dort mit außergewöhnlicher Dreistigkeit fest, wo er Liebe und Ehrerbietung ihnen gegenüber herabsetzen kann.‹) [Anm. d. Übs./Komm.] 15 In seinem 1790 erschienenen literarischen Hauptwerk, einem empfindsamen Reiseroman in Tagebuchform nach dem Vorbild von Laurence Sternes A Sentimental Journey through France and Italy (1768), hatte Radisˇcˇev die Leibeigenschaft in Rußland als moralischen wie juristischen und wirtschaftlichen Anachronismus angeprangert. [Anm. d. Übs./Komm.] 16 In der 23. Strophe von Radisˇcˇevs berühmter antimonarchistischer Ode, im Kapitel »Tver’« der Reise von Petersburg nach Moskau auszugsweise zitiert und diskutiert, wird die Hinrichtung des englischen Königs Karl I. auf Betreiben Oliver Cromwells
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werden; daß sie gehen werden, ohne vor der rauhen Wirklichkeit halt zu machen, die den empfindsamen Herzen Angst macht. Der letzte Vers jedoch setzt den Illusionen von einem Leitstern durch eine abrupte Benachrichtigung ein Ende: »V ostrog Ilimskij edu« [›In (das) Gefängnis Ilimskij fahre (ich)‹]. Die Abschlußzeile zeichnet sich durch ihre Kürze (ein isolierter Halbvers) und durch ein schroffes Akzentrelief aus: Unter allen übrigen besteht nur dieser Halbvers aus drei Wörtern,17 nur in ihm werden alle drei Hebungen durch Betonungen mehrsilbiger Wörter realisiert, und diese Wörter bilden ihrerseits eine Art rhythmisches *Palindrom: –´ –´ –´ . Ähnlich wie die Spur im Rätselspruch »Edu, edu, sledu netu« [›Ich fahre, ich fahre, es gibt keine Spur‹] 18 ist das zentrale Bild des Siebenzeilers – gde ne byvalo sledu [›wo (es) nicht gab (eine) Spur‹] – enigmatisch: ein doppeldeutiger Hinweis auf den Weg in die heißersehnte Zukunft und auf den Weg in das Ilimsker Gefängnis, der vom jüngst »von Petersburg nach Moskau Reisenden« gebahnt wurde. Die kunstvolle Verteilung der morphologischen Kategorien und ihrer syntaktischen Funktionen hat – wie G. A. Gukovskij in seinem lakonidiesem als Verdienst an der nach Freiheit strebenden Menschheit angerechnet. Katharina II. verurteilte dies: »S 350 do 369 soderzˇit, po slucˇie budto stichotvorcˇestvu, oda, soversˇenno javno i jasno buntovskoj, gde carjam grozitsja plachoju. Kromvelev primer priveden s pochvaloju.« (Katharina II., »Zamecˇanija Ekateriny II na knigu A. N. Radisˇcˇeva«, S. 163. – ›S. 350 bis 369 enthält, angeblich wegen Fragen der Verskunst, eine gänzlich unverhüllt und klar aufrührerische Ode, in der Zaren das Schafott droht. Das Beispiel Cromwells wird mit Lob angeführt.‹) [Anm. d. Übs./ Komm.] 17 Gemeint ist hier eine *›Worteinheit‹, d. h. ein betontes Wort ggf. mitsamt *Proklitikon oder *Enklitikon. Diese Betrachtungsweise ist in der russischen Metriktheorie verbreitet. Vgl. die Bestimmung des so verstandenen ›rhythmischen Worts‹ bei Boris Tomasˇevskij (hier gleich in deutscher Übersetzung): »Als ein Wort bezeichne ich jegliche selbständige Gruppe von Silben, die ein und derselben Betonung untergeordnet sind (d. h. Proklitika und Enklitika ordne ich dem sie regierenden Wort zu).« (Tomasˇevskij, »Ritmika cˇetyrechstopnogo jamba po nabljudenijam nad stichom ›Evgenija Onegina‹«, S. 102.) – Vgl. auch die Unterscheidung zwischen *prosodisch ›selbständigen‹ und prosodisch ›unselbständigen Wörtern‹ (die ggf. gemeinsam eine ›Worteinheit‹ bilden) in: Jakobson, »Poe˙zija grammatiki i grammatika poe˙zii«, S. 79, und die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 287 u. Anm. 101, sowie die Definition der »word unit« als mittlere der drei sprachlich basierten Segmentierungseinheiten in Jakobson, »Slavic Epic Verse«, S. 452. [Anm. d. Übs./Komm.] 18 Vgl. Russkie narodnie zagadki, poslovicy, pogovorki, S. 91. Hier findet sich der Rätselspruch mit dem Lösungswort »lodka« [›Boot‹] in folgender Form: »Edu, edu – sledu netu, rezˇu, rezˇu – krovi netu.« [›Ich fahre, ich fahre – es gibt keine Spur, ich schneide, ich schneide – es gibt kein Blut.‹] [Anm. d. Übs./Komm.]
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schen Kommentar zu Recht bemerkt 19 – nichts mit einem wie auch immer gearteten Ornamentalismus zu tun. Die zielstrebige grammatische Faktur trägt und verstärkt die Thematik der siebenzeiligen »Antwort«. Ihr gesamter Anfang verwendet bis zur vorletzten Silbe der zweiten Zeile ausschließlich pronominale Formen (ty, kto, ja, ˇcto, ja, ja, ja, tot, ves’, moj; kuda [›du, wer, ich, was, ich, ich, ich, der, ganzes, mein; wohin‹]) anstelle von Substantiven, Adjektiven und Adverbien sowie darüber hinaus fünf Kopulae (byl, budu [›war, werde‹] und drei *Nullformen 20). Mit anderen Worten: Die Charakterisierung der Beteiligten und ihrer Äußerungen erfolgt erschöpfend durch rein grammatische, funktionale, relationale Bedeutungen.21 Die erste *Person, der Held der drei Fragen des Eingangsverses (kto ja, ˇcto ja, kuda ja [›wer (bin) ich, was (bin) ich, wohin (fahre) ich‹]) bestätigt im dreiteiligen Prädikat der folgenden Zeile seine unveränderliche Identität in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Jeder dieser beiden Verse unterscheidet sich von den folgenden vier dadurch, daß auf alle sechs Hebungen Wortbetonungen fallen. Doch in acht von zwölf Fällen fällt die Hebung auf ein einsilbiges Wort, und der Grad der Betonung ist hier wesentlich niedriger im Vergleich mit den wechselnden, permutativen Betonungen der mehrsilbigen Wörter.22 Im übrigen Teil des Siebenzeilers fallen von neunzehn realisierten Hebungen lediglich drei auf einsilbige Wörter, davon zwei in der dritten bzw. Mittelzeile. Auch die Mehrheit der schwachen Silben in den ersten beiden Zeilen fällt auf einsilbige, potentiell betonte Wörter, und im Ergebnis all dieser Besonderheiten erweist sich der *Kontrast zwischen den starken und den schwachen Silben im Vers als spürbar geglättet.23 19 Gukovskij, »Radisˇcˇev i ego stichotvorenija«, S. 18. 20 Das Russische kann keine Präsensformen des Verbes byt’ (›sein‹) bilden, sie müssen daher »ausgelassen« werden; solche Auslassungen finden sich hier in den ersten beiden Fragen des ersten und am Beginn des zweiten Verses. Zur semiologischen Dimension der *binären *Opposition eines ›Nichtvorhandenseins zum entsprechenden Vorhandensein‹ vgl. Jakobson, »Das Nullzeichen«. [Anm. d. Übs./Komm.] 21 Vgl. die detaillierten Ausführungen zur kompositorischen Funktion der Pronomina in Jakobson, »Der grammatische Bau des Gedichts von B. Brecht ›Wir sind sie‹«, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 687–716, bes. S. 698–704. [Anm. d. Übs./ Komm.] 22 Zur Betonung mehrsilbiger Wörter im Russischen vgl. Schrenk, »Das Russische«, S. 146: »Die Akzentstelle ist frei (zˇ´ensˇˇcina ›Frau‹, rabo´ta ›Arbeit‹) und kann innerhalb des Wortes beweglich sein (ruka´ ›Hand‹, ru´ki N. Pl.). Der Akz. kann bedeutungs- bzw. funktionsdifferenzierend sein (mu´ka ›Qual‹ : muka´ ›Mehl‹; uzna´ju ›ich werde erkennen‹ : uznaju´ ›ich erkenne‹) oder stilistische Varianten kennzeichnen (mo´lodec ›Held‹ : molode´c ›Bursche‹). Einige Wörter verfügen über Nebenakz., vor allem Komposita.« [Anm. d. Übs./Komm.]
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Vom letzten Wort der zweiten Zeile bis zum ersten Wort der vierten 24 besteht die gesamte Kette selbständiger Wörter aus sechs Substantiven. Das dreifache ja [›ich‹] der drei Fragen im ersten Vers und dasselbe, einmal explizite und zweimal implizite Subjekt der drei Versicherungen im folgenden Vers wird wiederholt in der dreifachen Verneinung der dritten Zeile: Ne skot, ne derevo, ne rab [›Nicht Vieh, nicht Holz, nicht Sklave‹]. Den beiden unbelebten Nomina des ersten Halbverses (einem Kollektivum 25 und einem Kontinuativum 26 ) antworten die zwei belebten Substantive des zweiten Halbverses, die nach der Silbenzahl mit den beiden ersten zusammenfallen – sko´t, de´revo ra´b, ˇcelove´k [›Vieh, Holz Sklave, Mensch‹]. Dabei zeigt sich eine direkte *Symmetrie der beiden einsilbigen Formen skot und rab und eine ausdrucksvolle Gegenüberstellung des *Oxytonons ˇcelove´k mit dem *spiegelsymmetrischen *Proparoxytonon de´revo, das in seiner fehlenden Endbetonung mit den realisierten Endhebungen aller übrigen zwölf Halbverse kontrastiert. Zwei Interrogativpronomen, die einander an der Grenze der beiden Halbverse der ersten Zeile gegenüberstehen – kto ja? ˇcto ja? [›wer (bin) ich? was (bin) ich?‹] (d. h. »was geschieht mit mir?«) – werden gewissermaßen einer *calembourartigen Umwertung unterzogen: »kto ili cˇto ja?« [›wer oder was (bin) ich?‹] 27 – Der Sinn der Antwort, die in der dritten Zeile gegeben wird, ist der folgende: nein, nicht was, kein Vieh (instrumentum semivocale) oder ein Holz (instrumentum mutum) und kein Sklave, d. h. ein wer, verwandelt in ein was (instrumentum vocale gemäß 23 Zur besonderen Stellung der einsilbigen Wörter in der russischen Versifikation vgl. Jakobson, »Ob odnoslozˇnych slovach v russkom stiche«. – Eine ähnliche Glättung des Kontrasts zwischen starken und schwachen Silben beobachtet und interpretiert Jakobson in seiner Analyse des russischen Liedes »Och v gore zˇit’ nekrucˇinnu byt’« [›Ach im Gram leben, sich nicht härmen‹], vgl. Jakobson, »Grammatical *Parallelism and its Russian Facet«, S. 127, und die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 344 f. [Anm. d. Übs./Komm.] 24 Im Original irrtümlich ›dritten‹. [Anm. d. Übs./Komm.] 25 Das Kollektivum skot gehört im Russ. zu den unbelebten Substantiva. [Anm. d. Übs./Komm.] 26 Kontinuativum, auch Stoffbezeichnung oder Massennomen: Substantiv zur Bezeichnung für Substanzen jeder Art und aller Aggregatzustände. [Anm. v. I.M.] 27 Vgl. den Alternativvorschlag zum Verständnis dieser Frage in Gindins Kommentar zur Radisˇcˇev-Analyse (hier gleich die deutsche Übersetzung): »Die Interpretation der Frage ˇcto ja?, die von Jakobson gegeben wird, ist nicht offensichtlich. Daneben ist es möglich (und sogar, wie es scheint, überzeugender), das ˇcto ja? zu deuten als ˇ to ja delaju? C ˇ em ja zanjat?‹ [›Was mache ich? Womit beschäftige ich mich?‹]« – ›C Jakobson, »Razbor tobol’skich stichov Radisˇcˇeva«, hg. u. komm. v. Gindin. [Anm. d. Übs./Komm.]
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der römischen Klassifikation der Werkzeuge), sondern wahrhaftig ein wer – ein Mensch.28 Die Kasus-Verteilung der Substantive im ganzen Gedicht ist durch eine auffallende Symmetrie gekennzeichnet. Die dritte Zeile mit vier Nominativformen ist durch zwei präpositionslose Nomina im Akkusativ gerahmt (2 vek, 4 Dorogu [›2 Jahrhundert, 4 Weg‹]). Damit treten Nomina in ›direkten‹ Fällen ab dem Ende der zweiten, Nomina in ›indirekten‹ Fällen 29 ab dem Ende der vierten Zeile auf: Zwei Genitivformen, eine ohne Präposition (4 sledu [›Spur‹]), eine mit Präposition (Dlja borzych smel’cˇakov [›Für (die) schnellfüßigen Wagehalsigen‹]), sind an der Grenze von viertem und fünftem Vers benachbart (*Anadiplosis). Letzterer wird abgeschlossen durch zwei *Lokativformen mit einer wiederholten Präposition (v proze i v stichach [›in Prosa und in Versen‹]). Der folgende, sechste Vers beginnt mit zwei präpositionslosen Dativformen (Cˇuvstvitel’nym serdcam i istine [›(Für die) empfindsamen Herzen und (die) Wahrheit‹]). An der Grenze dieses Verses zum siebenten schließlich verbinden sich zwei Akkusativformen, dieses Mal begleitet durch ein und dieselbe Präposition (v strach, V ostrog [›in (bzw. zum) Schrecken, In (das) Gefängnis‹]). Von den vierzehn Nomina des gesamten Siebenzeilers fallen je vier Formen auf beide ›direkten‹ Fälle, d. h. auf den Nominativ und den Akkusativ, und von den verbleibenden sechs Substantiven gehören vier aufeinanderfolgende Formen zu den *›Umfangskasus‹ (Genitiv und Lokativ), und in der selben Anzahl ihrerseits benachbarter Formen sind die *›Randkasus‹ vertreten (d. h. der bereits genannte Lokativ und im Anschluß an ihn der Dativ; der *Instrumental fehlt).30 28 Vgl. Vygotskij, Razvitie vyssˇich psichicˇeskich funkcij, S. 117. [Anm. v. R.J.] – Zum Vergleich hier die Passage, auf die Jakobson verweist, in der deutschen Übersetzung: »[…] die Römer, die den Sklaven, das Haustier und das Werkzeug nach dem Kriterium des Sprachbesitzes unterschieden, legten […] drei Grade des Sprachbesitzes fest: instrumentum mutum – stummes, lebloses Werkzeug, instrumentum semivocale – halbsprachliches Werkzeug (Haustier); und instrumentum vocale – Werkzeug, das die Sprache besitzt (Sklave).« (Vygotskij, Geschichte der höheren psychischen Funktionen, S. 144.) [Anm. d. Übs./Komm.] 29 Zu dieser Gruppierung von Nominativ und Akkusativ als ›direkte Kasus‹ einerseits und von Genitiv, Dativ, Instrumental und Lokativ als ›indirekte Kasus‹ andererseits sowie zur Bezeichnung dieser Kasus-Gruppen vgl. Jakobson, »Morfologicˇeskie nabljudenija nad slavjanskim skloneniem (Sostav russkich padezˇnych form)«, S. 159. In der Übersetzung wurden mit Bedacht auf die sonst gängige Wiedergabe von ›prjamyj padezˇ‹ mit ›casus rectus‹ sowie von ›kosvennyj padezˇ‹ mit ›casus *obliquus‹ verzichtet, um Verwirrung durch den abweichenden Gebrauch dieser Termini im Deutschen (hier ist ›casus rectus‹ auf den Nominativ beschränkt; der Akkusativ wird den ›casus obliquus‹ zugerechnet) zu vermeiden. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Es ist charakteristisch, daß es im Gedicht weder nominale Subjekte noch Objekte bei finiten Formen des Prädikats gibt. Hier gibt es weder objektive Agentes noch unmittelbare Objekte der Handlungen. Die ersten sieben der vierzehn Substantive – vom Ende der zweiten bis zum Ende der vierten Zeile – sind Appositionen im Nominativ, eine temporale adverbiale Bestimmung im Akkusativ (vek [›Jahrhundert‹]), ein Akkusativ bei einem Infinitiv (Dorogu [›Weg‹]) und ein Genitiv in einer *unpersönlichen Konstruktion mit Negation (ne byvalo sledu [›es gab keine Spur‹]). Drei Merkmale kennzeichnen die zweite Siebenergruppe von Substantiven, die die letzten drei Zeilen einnimmt: 1) die indirekte, präpositionale Konstruktion, 2) die adnominale Funktion und 3) das Merkmal *»peripher« bei den Kasus: 〈dorogu〉 dlja […] smel’cˇakvov [›〈einen Weg〉 für […] Wagehalsige‹] (1, 2); 〈smel’cˇakov〉 i v proze i v stichach [›〈Wagehalsige〉 sowohl in Prosa als auch in Versen‹] (1, 2, 3); v strach, v ostrog [›zum Schrecken, in (das) Gefängnis‹] (1); 〈v strach〉 serdcam i istine [›〈zum Schrecken für die〉 Herzen und (die) Wahrheit‹] (2, 3). Somit zählt das Gedicht fünf Präpositionen und präpositionale Konstruktionen, die in den drei letzten Zeilen konzentriert sind, und fünf adnominale Objekte, die auf die fünfte und sechste Zeile beschränkt sind. Der Aufriß indirekter, noch nicht über eine eigene Kinetik verfügender, am Horizont sich abzeichnender, schwankender, vielschichtiger Beziehungen – das ist der Ausgang der Tobol’sker Verse. Verben gibt es nicht bis zum allerletzten, vernichtenden Wort; die Nomina umgeben sich mit weiteren, paarweise angeordneten Substantiven (5 i v prose i v stichach, 6 serdcam i istine [›5 sowohl in Prosa als auch in Versen, 6 (für die) Herzen und (die) Wahrheit‹]) und auch mit Adjektiven, die in den vier Anfangsversen überhaupt nicht vorkamen (5 borzych, 6 ˇcuvstvitel’nym, 7 Ilimskij [›5 schnellfüßig, 6 empfindsam, 7 Ilimsker‹]). Fünfstrahlige Bündel gleichartiger Konstruktionen drücken auch anderen Teilen des Gedichts einen individualisierenden Stempel auf. (Man denke an die eindringlichen Bemerkungen Velimir Chlebnikovs über die Bedeutsamkeit des ›fünfstrahligen Baus‹ in der poetischen Rede.31 ) Die 30 Für die Bezeichnung der Kasus-Klassen hier und im Folgenden wird die Terminologie verwendet, die ich in meinem Moskauer Vortrag »Morfologicˇeskie nabljudenija nad slavjanskim skloneniem (Sostav russkich padezˇnych form)«, S. 158 f., Kap.2, §§ 6 u. 8, vorgeschlagen habe. [Anm. v. R.J.] – Zur deutschen Bezeichnung der Kasus vgl. Jakobsons frühe Abhandlung »Beitrag zur allgemeinen Kasuslehre. Gesamtbedeutungen der russischen Kasus«, in: SW II, S. 23–71, bes. S. 59 u. 65. [Anm. d. Übs./Komm.] 31 Zur Bedeutung der Zahl Fünf als Konstruktionsprinzip vgl. Jakobsons Aufsätze
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fünf oben bezeichneten Kopulae entfalten das Thema der Identität in den beiden Anfangszeilen, die, wie oben gezeigt, rhythmisch nivelliert sind. Fünf ›negative Konjunktionen‹ gemäß der Klassifikation von Sˇachmatov 32 (viermal ne [›nicht‹] und einmal no [›sondern‹]) treten ausschließlich in den beiden *antithetischen Versen, dem dritten und vierten, auf, während fünf koordinierende Konjunktionen (i [›und‹]), die um diese Zeilen herum verteilt sind – jeweils zwei im zweiten und fünften und eine im sechsten Vers –, den *adversativen, dramatischen Charakter des mittleren Verspaars unterstreichen. Das Pronomen ja [›ich‹] schließlich, das viermal in den ersten zwei Zeilen wiederholt wird, kehrt zum fünften Mal am Ende der sechsten Zeile wieder, wobei es das Gedicht gewissermaßen umsäumt und die Auflösung verkündet. Die Spiegelsymmetrie der Reime – in der ersten Zeile edu [›fahre‹], in der zweiten ein einsilbiges und in der dritten ein mehrsilbiges, gleichfalls männliches Reimwort, auf der anderen Seite wiederum edu in der letzen Zeile, in der vorletzten ein einsilbiges und in der vorvorletzten Zeile ein mehrsilbiges, wiederum männliches Reimwort – verbindet die Hebung das einzige Mal im Verlauf der letzten vier Verse mit einem einsilbigen Wort. Und ja [›ich‹], das die vorausgehende Silbe verstärkt, ist das einzige Wort im ganzen Siebenzeiler, das eine *Senkung mit einem Akzent versieht und dabei über keine unmittelbare syntaktische Verbindung zu den angrenzenden Wörtern verfügt. Das Subjekt ja [›ich‹], das weit vom Prädikat edu [›fahre‹] entfernt ist, trennt die Verbindung der regierenden adverbialen Bestimmung v strach [›zum Schrecken‹] und des regierten Objekts istine [›der Wahrheit‹], das von jener durch eine Inversion isoliert ist, und gewinnt kraft aller dieser Umstellungen einen besonderen Phrasenakzent. Der rhythmische Bau führt zu einer deutlichen Differenzierung aller vier Kompositionsabschnitte. Die ersten beiden Zeilen und die letzte Zeile unterscheiden sich von den beiden inneren Abschnitten durch die finiten Verbalkonstruktionen und durch die ausnahmslose Realisierung aller Hebungen mit dem einzigen Unterschied, daß die einleitende Verbindung von *weiblichem und *männlichem Vers voller zusammengesetzter Prädikate ist, die in allen weiteren Zeilen fehlen, und sich von ihnen durch das Überwiegen einsilbiger Wörter sowohl auf den starken als auch »Subliminal Verbal Patterning in Poetry« und die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe sowie »Iz melkich vesˇcˇej Velimira Chlebnikova: ›Veter – penie‹«, S. 570–572, und die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 501–503. [Anm. d. Übs./Komm.] 32 Vgl. Sˇachmatov, Sintaksis russkogo jazyka, S. 507 f. (§589 »Sojuz«). [Anm. d. Übs./ Komm.]
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auf den schwachen Verspositionen unterscheidet. Demgegenüber fallen in der Abschlußzeile alle Hebungen mit Betonungen mehrsilbiger Wörter zusammen. In den beiden inneren Abschnitten, dem zweiten und dritten, weisen alle Halbverse nur jeweils zwei realisierte Hebungen auf. In der Verbindung von männlichem und weiblichem Vers, d. h. im zweiten, ›adversativen‹ Abschnitt (Zeilen 3 und 4), legen beide äußeren Halbverse die Wortbetonung auf die äußere und die an sie angrenzende Hebung, während der dritte Abschnitt, der zwei männliche Verse verbindet (5 und 6), die aufgrund der Randkasus und der adnominalen Objekte einen eigenen Charakter aufweisen, die beiden ungeraden Hebungen jedes Halbverses mit Wortbetonungen versieht. Das obligatorische Vorhandensein dieser Betonungen, wie auch das Vorkommen von Adjektiven und Präpositionen, grenzt den dritten Abschnitt vom vorhergehenden ab und nähert ihn dem folgenden an. Andererseits verleiht der Nebensatz am Ende des zweiten und ersten Abschnitts ihnen eine gemeinsame syntaktische Besonderheit. Als unterscheidendes morphologisches Merkmal beider Nebensätze dienen die Seins-Verben im Präteritum, während alle Prädikate der unabhängigen Sätze dem Präsens angehören: Auf die Fragen des Wißbegierigen folgt die Antwort des Autors, der in das abgelegene Gefängnis fährt. Die Verse erinnern nicht an etwas Gewesenes; im Vergangenen betonen sie entweder die Identität mit dem Gegenwärtigen (2 tot zˇe, ˇcto i byl [›genau der, der (ich) war‹]) oder aber die Nichtexistenz (4 gde ne byvalo sledu [›wo (es) nicht gab (eine) Spur‹]). Während die Grenzen aller vier innerlich organisierten Abschnitte immer im Anschluß an gerade Verse verlaufen (1–2, 3–4, 5–6, 7), gehen die grundlegenden syntaktischen Pausen konsequent geraden Versen voraus (1, 2–3, 4–5, 6–7). Auf diese Weise sind beide Gruppierungen der Verse miteinander durch eine Spiegelsymmetrie im Hinblick auf die Aufteilung der weiblichen und männlichen Zeilen verbunden: wm, mw, mm, w – w, mm, wm, mw. Der klassisch monolithische Bau des Siebenzeilers fällt zusammen mit einer erstaunlichen Vielseitigkeit gleichzeitig kontrastierender und streng übereinstimmender Teile. Geben wir eine kurze Zusammenfassung in bezug auf die innere Ordnung und das Verhältnis der vier Abschnitte des Siebenzeilers. Jeder Abschnitt besteht aus einem ungeraden Vers und dem anschließenden geraden, falls ein solcher folgt. Abschnitt I: Verse 1–2, II: 3–4, III: 5–6, IV: 7. Die Abschnitte I und II als einleitende sind den Abschnitten III und IV als abschließende gegenübergestellt, die Abschnitte I und III als ungerade den Abschnitten II und IV als gerade und die Abschnitte I und IV als äußere den Abschnitten II und III als innere.
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Im Unterschied zu den abschließenden sind beide einleitenden Abschnitte charakterisiert durch das Vorhandensein von Seins-Verben (in unterschiedlichen Funktionen), von adverbialen Pronomina (ebenfalls in unterschiedlichen Funktionen 33 ) sowie von Nebensätzen. Auf jeden Vers der abschließenden Abschnitte entfällt ein Adjektiv im Gegensatz zum Fehlen dieser Wortarten in den einleitenden Abschnitten. Beide Abschnittspaare enthalten je sieben Substantive (je eines in den äußeren und je sechs in den inneren Abschnitten), doch alle drei Verse der abschließenden Abschnitte weisen fünf Präpositionen und demgemäß fünf Kasusformen mit Präpositionen auf (geordnet in einer arithmetischen Regression: 3–2–1), während diese Formen in den einleitenden Abschnitten fehlen. Immer genau der letzte oder einzige Vers aller Abschnitte enthält je einen Akkusativ, mit Präposition in den abschließenden, ohne Präposition in den einleitenden Abschnitten. Auf diese Weise zieht sich der Akkusativ, d. h. der grundlegende ›gerichtete‹ Kasus,34 als roter Faden durch das gesamte Gedicht und ist immer an eine der beiden starken (durchgehend realisierten) Hebungen gebunden: in den ungeraden Abschnitten an die letzte, in den geraden dagegen an die erste (2 ve´k: – 6 v stra´ch, und 4 doro´gu – 7 V ostro´g). Die Betrachtung über die für immer unüberwindliche Tapferkeit ungeachtet des einschüchternden Schicksals wird plastisch dem konkreten Bild des Wegs in das Gefängnis gegenübergestellt. Die ›gerichteten‹ Kasus sind durch drei Beispiele (zwei Dative und eine Akkusativform) im dritten Abschnitt und drei (je eine Akkusativform) in den drei übrigen Abschnitten vertreten. Diese Kasus fallen immer auf die letzte oder die einzige Abschnittszeile. Der Akkusativ findet sich in den ungeraden Halbversen der geraden und in den geraden (oder einzigen) Halbversen der ungeraden Abschnitte. Von beiden ›direkten‹ Fällen ist jeder durch vier nominale Formen vertreten, doch während der Akkusativ jeweils einmal in allen vier Abschnitten auftritt, sind alle vier Nominativformen in einer Zeile konzentriert: Sie finden sich alle im Anfangsvers des letzten der einleitenden Abschnitte. Nur in den ungeraden Abschnitten kommen koordinierende Konjunktionen (fünf i [›und‹]) und das Pronomen ja [›ich‹] (fünfmal) vor, während es in den geraden Abschnitten überhaupt keine deklinierbaren pronominalen Formen gibt. Ausschließlich die äußeren Abschnitte verfügen über finite Prädikate, wobei beide wirklichen Verbformen 35 unab33 Hier sind die Pronomina ves’ ›ganz‹ und gde ›wo‹ gemeint. Ves’ ist Bestandteil einer Adverbialbestimmung, gde ist adverbiales Relativpronomen. [Anm. v. I.M.] 34 D. h. *Bezugskasus. [Anm. v. I.M.] 35 Im Unterschied zu den ›Nullformen‹, vgl. o. S. 696 u. Anm. 20. [Anm. d. Übs./Komm.]
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hängiger finiter Prädikate verbunden sind mit den äußersten Hebungen des gesamten Siebenzeilers: 1 Ty chocˇesˇ’ [›Du willst‹] und 7 edu [›(ich) fahre‹]. . Beide inneren Abschnitte und nur sie sind mit belebten Substantiven (3 rab, ˇcelovek, 5 smel’cˇakov [›3 Sklave, Mensch, 5 Wagehalsigen‹]) und mit Genitivformen ausgestattet. Überhaupt gruppieren sich die ›Umfangskasus‹ (Genitiv und Lokativ) im Schlußvers der einleitenden und im Anfangsvers der abschließenden Abschnitte. Die Ähnlichkeit zwischen den inneren Abschnitten und insbesondere wiederum zwischen dem Abschlußvers der einleitenden und dem Anfangsvers der abschließenden Abschnitte zeigt sich in der Unterordnung des zweiten Halbverses unter das Wort vor der Zäsur (4 prolozˇit’, gde ne byvalo sledu – 5 smel’c ˇakov i v proze i v stichach [›4 bahnen, wo (es) nicht gab (eine) Spur – 5 Wagehalsigen sowohl in Prosa als auch in Versen‹]), während in den übrigen Versen die Zäsur zwischen syntaktisch gleichwertigen Einheiten liegt (1 kto ja? ˇcto ja? – 2 i byl i budu – 3 ne derevo, ne rab – 6 serdcam i istine [›1 wer (bin) ich? was (bin) ich? – 2 sowohl war als auch sein werde – 3 kein Holz, kein Sklave – 6 Herzen und Wahrheit‹]). In hohem Maße symmetrisch ist ihrerseits die Verteilung der Substantive: jeweils sechs in den inneren und je eins in den äußeren Abschnitten. Schließlich zeigt jeder der zweizeiligen Abschnitte seine bedeutsamen formalen Besonderheiten, die den anderen drei Abschnitten völlig fremd sind: drei Fragesätze und fünf Kopulae im ersten Abschnitt, vier Nominativformen und fünf ›negative‹ Konjunktionen im zweiten sowie drei Nomina im Plural (5 smel’cˇakov, stichach, 6 serdcam [›5 Wagehalsigen, Versen, 6 Herzen‹]), vier Randkasus und fünf adnominale Objekte im dritten. Die grammatische Architektonik des Gedichts ist untrennbar verflochten mit der konzentrierten Entwicklung seines lyrischen Themas. In den einleitenden Abschnitten antwortet der Autor auf die Erkundigungen über ihn und über seinen Weg in einer Serie von Ve r g l e i c h e n . Indem er die zeitliche Perspektive erweitert und in erster Linie seine Unwandelbarkeit im Vergleich mit dem Vergangenen wie dem Künftigen bestätigt (I), wendet er sich zwei Antithesen zu (II): Der Mensch als Wesensbestimmung des Autors wird der unbelebten oder entseelten Umwelt gegenübergestellt, und in den Vordergrund rückt der Bau eines Weges, der in der Vergangenheit unbekannt war. In den abschließenden, b e s c h r e i b e n d e n Abschnitten wird das Künftige konkret geschildert: Zuerst (III) der Autor vor dem entfernten, ausgeweiteten, stufenförmigen Hintergrund der vermuteten Reaktionen der Umgebung und dann (IV) der Endpunkt des Wegs des Autors, wobei auf diese Weise die Antwort auf die anfänglichen Fragen abgeschlossen und eine harte Lösung für das
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Rätsel gegeben wird, das in der mittleren Zeile gestellt worden war: Im schrecklichen Streit mit der reinen Wahrheit verwandelt der Weg den unbeugsamen Menschen in einen Sklaven und Gefängnisinsassen. Bei genauer Betrachtung der lautlichen Faktur der Verse Radisˇcˇevs muß man seine genauen und aufmerksamen Beobachtungen 36 zum »Zauber der frappierenden Harmonie« berücksichtigen, der auf »der Wiederholung eines gleichklingenden Vokals, jedoch mit unterschiedlichen Konsonanten« 37 oder aber ganzer »Silben, die dem Klange nach ähnlich sind« 38, gründet, sowie die Aufrufe des Dichter-Forschers zum wiederholten Lesen des Verses »nach Wortfüßen« mit Zerlegung in die einzelnen Elemente: »wenn du diesen Vers noch weiter untersuchst und ihn zerlegst, so findest du, daß es in ihm über die quantitative Klangfülle hinaus noch jenen eleganten sich angleichenden Wohlklang gibt, von dem sich Beispiele im Überfluß bei Homer, Vergil und bei allen großen Versdichtern finden«.39 Entzückt über die »Schönheit aufgrund von Wiederholung« 40 fand Radisˇcˇev beispielsweise in Trediakovskijs Hexameter »Ta¯ ra˘zluka byla mne vmesto Perunna uda¯ra˘« 41 [›Diese Trennung war für mich wie ein Hieb von Perun 42‹] die Kraft des »wiederholten u« und die »im Gehör ertönende« Verbindung 43 zweier ähnlicher Silben im ersten und letzten Versfuß.44 Von den zwei durchgehend realisierten Hebungen wird die eröffnende in sechs der sieben Tobol’sker Zeilen (in allen außer der sechsten) besetzt durch ein niedrigtonales /o/. Die letzte Hebung fällt in fünf Versen (mit Ausnahme wiederum des sechsten sowie des fünften) auf das vergleichsweise hochtonale *Phonem /e/. Im ersten Vers sind alle vier mittleren Hebungen vereint durch den *kompakten Vokal 45 /a/: zna´t’, ja´, 36 Die in diesem Absatz angeführten Passagen finden sich in Radisˇcˇevs Dialog »Pamjatnik daktilochoreicˇeskomu vitjazju« [›Ein Denkmal für den daktylotrochäischen Helden‹] (1801–1802), der sich konstruktiv kritisch mit Vasilij Trediakovskijs Tilemachida, einer Hexameterübersetzung von Franc¸ois Fe´nelons Aventures de Te´le´maque auseinandersetzt. Vgl. Radisˇcˇev, Polnoe sobranie socˇinenij, Bd. 2, S. 199–221, sowie ders., Stichotvorenija, S. 186–210. [Anm. d. Übs./Komm.] 37 A. a. O., S. 209. [Anm. d. Übs./Komm.] 38 A. a. O., S. 208. [Anm. d. Übs./Komm.] 39 A. a. O., S. 203. [Anm. d. Übs./Komm.] 40 A. a. O., S. 207. [Anm. d. Übs./Komm.] 41 A. a. O., S. 203. Es handelt sich um Vers 219 des 2. Buchs der Tilemachida. [Anm. d. Übs./Komm.] 42 Perun: altslavischer Donnergott. Vgl. Jakobson, »Slavic Gods and Demons«, S. 5–7. [Anm. d. Übs./Komm.] 43 Radisˇcˇev, Stichotvorenija, S. 203. [Anm. d. Übs./Komm.] 44 Radisˇcˇev, Polnoe sobranie socˇinenij, Bd. 2, S. 216–220.
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ja´, kuda´. Der zweite und der dritte Vers verstärken den *Endreim mit einem anfänglichen Gleichklang: to´t – sko´t. Im zweiten Vers werden die betonten Vokale beider äußeren Hebungen zusammen mit den vorvokalischen Konsonanten in den mittleren Hebungen wiederholt: to´t – ˇcto´ und ve´s’ – ve´k. Im dritten Vers wird die oben beschriebene Symmetrie in der Verteilung der Wörter im Hinblick auf ihre Silbenzahl unterstrichen durch die identischen betonten Vokale in den abschließenden dreisilbigen Wörtern beider Halbverse: de´revo – ˇcelove´k. Zusätzlich zur ersten und letzten Hebung im dritten und vierten Vers verfügt die vorletzte realisierte Hebung über einen identischen Vokal: ne ra´b – ne byva´lo, und derselbe Vokal verbindet die Endsilben der fünften und sechsten Zeile: v sticha´ch – v stra´ch. Die übrigen realisierten Hebungen des fünften Verses nehmen das Phonem /o/ der Anfangshebung auf: bo´rzych – smel’cˇako´v – v pro´ze und zeigen dabei Ähnlichkeiten bei den Konsonanten, die die ersten Hebungen beider Halbverse umgeben (bo´rz- und pro´z-). In der sechsten Zeile schließlich zeichnen sich die Hebungen durch eine identische Verteilung der betonten Vokale in beiden Halbversen aus: /ı´/–/a´/ – /ı´/–/a´/. Vor dem Hintergrund all dieser symmetrischen Strukturen zeichnen sich die deutlichen *Paronomasien Radisˇcˇevs klar ab. Im Reim ve´k – ˇcelove´k fällt das erste Wort vollständig mit dem Ende des zweiten zusammen. Dem selben alten Prinzip folgt der Reim, in dem das Wort ´edu vollkommen vom Wort sle´du eingeschlossen wird,46 und zwar nicht nur graphisch, sondern auch phonologisch, wenn man berücksichtigt, daß der anfängliche Gleitlaut /j/ des ersten Wortes nur mit dem Merkmal *›erhöht‹ 47 ausgestattet ist, und eben dieses Merkmal gehört zum Bestand des Phonems /l’/ im Wort sle´du. Der dritte Reim wiederholt fast das gesamte lautliche Inventar seines ersten Reimpartners i v sticha´ch, indem er die 45 Zur Charakterisierung des Sonoritäts-Merkmals ›kompakt‹ vs. *›diffus‹ im Rahmen von Jakobsons System der *distinktiven Merkmale vgl. Jakobson /Halle, »The Revised Version of the List of Inherent Features«, S. 739, sowie die deutsche Übersetzung »Phonologie und Phonetik«, S. 79. Vgl. auch Jakobson /Waugh, The Sound Shape of Language, S. 101–113, sowie die deutsche Übersetzung Die Lautgestalt der Sprache, S. 107–120. [Anm. d. Übs./Komm.] 46 Vgl. als bekannten Parallelfall für diese Struktur den von Jakobson untersuchten Wahlslogan »I like Ike« (»Linguistics and Poetics«, S. 26, sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 169). [Anm. d. Übs./Komm.] 47 Zur Charakterisierung des Tonalitäts-Merkmals ›erhöht‹ vs. ›nicht-erhöht‹ vgl. Jakobson /Halle, »The Revised Version of the List of Inherent Features«, S. 741 f., sowie die deutsche Übersetzung »Phonologie und Phonetik«, S. 81. Vgl. auch Jakobson /Waugh, The Sound Shape of Language, S. 113–119, sowie die deutsche Übersetzung Die Lautgestalt der Sprache, S. 120–127. [Anm. d. Übs./Komm.]
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abschließende Wortverbindung des Nachbarverses ´ıstine ja v stra´ch mit einer entsprechenden Phonemreihe versieht (ivsti.a´ch – ´ısti….vst.a´ch).48 Gleichzeitig zeigen v stra´ch und v ostro´g, die beiden benachbarten Adverbialbestimmungen, eine enge lautliche Übereinstimmung, insbesondere dann, wenn man den in der Reimkunst des 18. Jahrhunderts üblichen *frikativen Reflex des auslautenden /g/ berücksichtigt. Aus dem Kapitel »Tver’« der Radisˇcˇevschen Reise wurde immer wieder der Kommentar des Autors zu seinem eigenen Vers Vo svet rabstva t’mu pretvori [›Mache zu Licht die Finsternis der Sklaverei‹] 49 zitiert: »er sei sehr hart und schwer auszusprechen wegen der häufigen Wiederholung des T sowie wegen des häufigen Zusammentreffens von Mitlauten 〈…〉«.50 Mit alleiniger Ausnahme des /m/ setzt sich der Konsonantenbestand dieses Verses mit drei realisierten Hebungen symmetrisch zusammen aus sechs *Dentalen (4 /t/ und 2 /s/), sechs *Labialen (4 /v/ und 2 /p/) und drei /r/. Radisˇcˇev stellte eine »abbildende« Entsprechung zwischen der »Unebenheit des Verses« und seiner Thematik fest.51 Im letzten Versfuß der sechsten Zeile des Tobol’sker Siebenzeilers – ja v stra´ch [›ich zum Schrecken‹] – wird, ich wiederhole, die Senkung beschwert durch ein pronominales Subjekt, das aus seinem unmittelbaren Kontext gerissen wurde, und das »Zusammentreffen« von vier Konsonanten spielt eine ähnliche Rolle wie die Gruppe von Konsonanten im Wort rabstva´. Im Verlauf des sechsten Verses tauchen viermal *Zischlaute auf, jedesmal in Begleitung von Konsonanten: vstv, ms, st, vstr. Auf /s/ folgt ausschließlich /t/, und es geht nur ein Labial voraus. Auf die zweite und letzte der vier angeführten Lautverbindungen antworten im letzten Vers str, msk, d. h. die zweite und die erste. Das Schlußbild der Tobol’sker Verse – ostro´g – wird auch vorbereitet durch die ganze Kette der Anfangshebungen samt angrenzender Phoneme: 1 cho´-, 2 to´t, 3 sko´t, 4 -oro´g-, 5 o´rz-. Ein partielles *Anagramm des präzisierenden Attributs Ilimskij birgt bereits im fünften 48 Der Unterschied der Konsonanten in bezug auf Härte und Weichheit wird hier und im folgenden nicht berücksichtigt, und außerdem werden das Phonem /v/ und seine stimmlose kombinatorische Variante mit ein und demselben Buchstaben bezeichnet. 49 V. 7 der ersten Strophe der Ode »Vol’nost’« (vgl. Radisˇcˇev, Stichotvorenija, S. 56). [Anm. d. Übs./Komm.] 50 Radisˇcˇev, Polnoe sobranie socˇinenij, Bd. 1, S. 354. [Anm. v. R.J.] – Deutsche Übersetzung: Radischtschew, Reise von Petersburg nach Moskau, S. 164. [Anm. d. Übs./ Komm.] 51 Genaugenommen stellt dies nicht Radisˇcˇev bzw. der Erzähler der Reise fest, sondern dieser führt die beiden erwähnten Urteile Dritter über den angeführten Vers an. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Vers der unheilverkündende Verweis auf die smel’cˇakov [›Wagehalsigen‹] (5 sm.l..k – 7 l.msk) sowie die durchsichtige *Assonanz im benachbarten sechsten Vers – i istine (6 iı´s.i – 7 i.ı´.s.i). Angesichts des ganzen Reichtums und der raffinierten Einfachheit der Gelegenheitsgedichte und überhaupt der kleinen Formen in der Dichtung der Welt am Ende des 18. Jahrhunderts darf man auch hier keinesfalls – wieder und wieder hat Pusˇkin recht – »Radisˇcˇev vergessen«.52 Editorische Notiz Erweiterte Version des Aufsatzes, der in Stanford, California, im Juni 1965 für die Festschrift für P. N. Berkov 53 verfaßt wurde (XVIII vek, 7: Rol’ i znacˇenie literatury XVIII veka v istorii russkoj literatury, Leningrad 1966).
Literatur Jakobsons eigene Literaturangaben sind mit ° gekennzeichnet. Gasparov, Michail Leonovicˇ: Ocˇerk istorii russkogo sticha. Metrika. Ritmika. Rifma. Strofika [›Abriß der Geschichte des russischen Verses. Metrik. Rhythmik. Reim. Strophik‹], 2. Aufl. Moskva: Fortuna Limited 2000. ° Gukovskij, G. A.: »Radisˇcˇev i ego stichotvorenija« [›Radisˇcˇev und seine Gedichte‹], in: Aleksandr Nikolaevicˇ Radisˇcˇev: Polnoe sobranie stichotvorenij, hg. v. G. A. Gukovskij, Leningrad: Sovetskij pisatel’ 1940, S. 5–20. Jakobson, Roman Osipovicˇ: »Beitrag zur allgemeinen Kasuslehre. Gesamtbedeutungen der russischen Kasus«, in: SW II, S. 23–71. — »Das Nullzeichen«, in: SW II, S. 220–222. 52 Die Passage findet sich in Pusˇkins Brief an Aleksandr Bestuzˇev vom 13. 6. 1823, in dem Pusˇkin zu Bestuzˇevs wichtigem literarhistorischen Aufsatz »Vzgljad na staruju i novuju slovesnost’ v Rossii« [›Blick auf die alte und neue Literatur in Rußland‹] anmerkt: »Pokamest zˇalujus’ tebe ob odnom: kak mozˇno v stat’e o russkoj slovesnosti zabyt’ Radisˇcˇeva? kogo zˇe my budem pomnit’?« (Pusˇkin, Perepiska 1815– 1827, S. 63–65, hier: S. 64. – ›Vorläufig beklage ich mich bei Dir über eines: wie kann man in einem Aufsatz über die russische Literatur Radisˇcˇev vergessen? an wen werden wir uns denn erinnern?‹) [Anm. d. Übs./Komm.] 53 Pavel Naumovicˇ Berkov (1896–1969), sehr vielseitiger, auch komparatistisch ausgerichteter Literaturwissenschaftler, tätig am Institut für Russische Literatur (Puschkinhaus) und an der Leningrader Staatlichen Universität, Mitglied der Akademien der Wissenschaften der UdSSR und der DDR; Forschungsschwerpunkt: russische Literatur des 18. Jahrhunderts. [Anm. d. Übs./Komm.]
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— »Der grammatische Bau des Gedichts von B. Brecht ›Wir sind sie‹«, komm. v. Hendrik Birus, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 687–716. — »Derzˇavin’s Last Poem and M. Halle’s First Literary Essay«, in: SW VII, S. 349–352. – »Derzˇavins letztes Gedicht und M. Halles erster literaturwissenschaftlicher Aufsatz«, übs. u. komm. v. Sebastian Donat, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 44–54. — »Grammatical Parallelism and its Russian Facet«, in: SW III, S. 98–135. – »Der grammatische Parallelismus und seine russische Spielart«, übs. v. Tarcisius Schelbert u. a., komm. v. Elena Skribnik u. Sebastian Donat, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 302–364. — »Iz melkich vesˇcˇej Velimira Chlebnikova: ›Veter – penie‹«, in: SW III, S. 568– 576. – »Aus den kleinen Sachen Velimir Chlebnikovs: ›Wind – Singen‹«, übs. v. Aage A. Hansen-Löve, komm. v. Aage A. Hansen-Löve u. Anke Niederbudde, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 492–515. — »Language in Operation«, in: SW III, S. 7–17. – »Sprache in Aktion«, übs. u. komm. v. Raoul Eshelman, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 237–255. — »Linguistics and Poetics«, in: SW III, S. 18–51. – »Linguistik und Poetik«, übs. v. Stephan Packard, komm. v. Hendrik Birus, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 154–216. ° — »Morfologicˇeskie nabljudenija nad slavjanskim skloneniem (Sostav russkich padezˇnych form)« [›Morphologische Beobachtungen zur slavischen Deklination (Bestand der russischen Kasusformen)‹], in: SW II, S. 154–183. — »Ob odnoslozˇnych slovach v russkom stiche« [›Über die einsilbigen Wörter im russischen Vers‹], in: SW V, S. 201–214. — »O ›Stichach, socˇinennych nocˇ’ju vo vremja bessonnicy‹«, in: SW III, S. 378– 387. – »Über die ›Verse, verfaßt nachts während der Schlaflosigkeit‹«, übs. u. komm. v. Sebastian Donat, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 121–137. — »Poe˙zija grammatiki i grammatika poe˙zii«, in: SW III, S. 63–86. – »Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie«, übs. u. komm. v. Sebastian Donat, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 256–301. — »Razbor tobol’skich stichov Radisˇcˇeva« [›Eine Analyse der Tobolsker Verse Radisˇcˇevs‹], in: Rol’ i znacˇenie literatury XVIII veka v istorii russkoj kul’tury. K 70–letiju so dnja rozˇdenija ˇclena-korrespondenta AN SSSR P. N. Berkova, Moskva u. Leningrad: Nauka 1966 (= XVIII vek, Bd. 7), S. 228–236. — »Razbor tobol’skich stichov Radisˇcˇeva« [›Eine Analyse der Tobolsker Verse Radisˇcˇevs‹], hg. u. komm. v. S. I. Gindin, in: Russkij jazyk 40 (2002), URL: http://rus.1september.ru/article.php?ID=200204006 (6. 3. 2004). — »Slavic Epic Verse. Studies in Comparative Metrics«, in: SW IV, S. 414– 463. — »Slavic Gods and Demons«, in: SW VII, S. 3–11. — »Subliminal Verbal Patterning in Poetry«, in: SW III, S. 136–147. – »Unterschwellige sprachliche Gestaltung in der Dichtung«, übs. v. Wolfgang Klein, komm. v. Aage A. Hansen-Löve u. Anke Niederbudde, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 124–153.
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— »›Ty chocˇesˇ’ znat’: kto ja?‹ Razbor tobol’skich stichov Radisˇcˇeva« [›»Du möchtest wissen: Wer bin ich?« Eine Analyse der Tobolsker Verse Radisˇcˇevs‹], in: SW III, S. 311–321. Jakobson, Roman Osipovicˇ u. Morris Halle: »The Revised Version of the List of Inherent Features«, in: SW I, S. 738–742. — »Phonologie und Phonetik«, übs. v. Georg Friedrich Meier, Wolfgang Raible u. Regine Kuhn, in: Aufsätze zur Linguistik und Poetik, S. 54–106. Jakobson, Roman Osipovicˇ u. Linda R. Waugh: The Sound Shape of Language, in: SW VIII, S. 1–315. – Die Lautgestalt der Sprache, übs. v. Christine u. Thomas F. Shannon, Berlin u. New York: Walter de Gruyter 1986 (= Janua Linguarum. Series Maior, Bd. 75). Katharina II.: »Zamecˇanija Ekateriny II na knigu A. N. Radisˇcˇeva« [›Bemerkungen Katharinas II. zum Buch von A. N. Radisˇcˇev‹], in: Dmitrij Semenovicˇ Babkin: Process A. N. Radisˇˇceva, Moskva u. Leningrad: Izdatel’stvo Akademii Nauk SSSR 1952, S. 156–164. Pusˇkin, Aleksandr Sergeevicˇ: Perepiska 1815–1827 [›Briefwechsel 1815–1827‹], hg. v. Dmitrij Dmitrievicˇ Blagoj, Moskva u. Leningrad: Izdatel’stvo Akademii Nauk SSSR 1937 (= Polnoe sobranie socˇinenij. V 17 tomach, Bd. 13), Nachdr. Moskva: Voskresen’e 1996. ° Radisˇcˇev, Aleksandr Nikolaevicˇ: Polnoe sobranie socˇinenij [›Vollständige Sammlung der Werke‹], 3 Bde., Moskva u. Leningrad: Izdatel’stvo Akademii Nauk SSSR 1938–1952. ° — Polnoe sobranie stichotvorenij [›Vollständige Sammlung der Gedichte‹], hg. v. G. A. Gukovskij, Leningrad: Sovetskij pisatel’ 1940 (= Biblioteka poe˙ta). — Stichotvorenija [›Gedichte‹], hg. v. Vladimir Aleksandrovicˇ Zapadov, Leningrad: Sovetskij pisatel’ 1975 (= Biblioteka poe˙ta). Radischtschew, Alexander: Reise von Petersburg nach Moskau, Übersetzung v. Günter Dalitz, Versübertragung v. Bruno Tutenberg, Leipzig: Reclam 1982. Radistschew, Alexander Nikolajewitsch: Ausgewählte Schriften, übs. v. Erich Salewski, hg. v. I. J. Stschipanow, Berlin: Akademie-Verlag 1959. Russkie narodnie zagadki, poslovicy, pogovorki [›Russische Volksrätsel, Sprichwörter und Redensarten‹], hg., eingel. u. komm. v. Jurij Georgievicˇ Kruglov, Moskva: Prosvesˇcˇenie 1990. Sˇachmatov, Aleksej Aleksandrovicˇ: Sintaksis russkogo jazyka [›Syntax der russischen Sprache‹], hg. v. E. S. Istrina, Einl. v. E. V. Klobukov, 3. Aufl. Moskva: Editorial URSS 2001. Scherr, Barry P.: Russian Poetry. Meter, Rhythm, and Rhyme, Berkeley, Los Angeles u. London: University of California Press 1986. Schrenk, Josef: »Das Russische«, in: Einführung in die slavischen Sprachen, hg. v. Peter Rehder, 2. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1991, S. 141–164. Tomasˇevskij, Boris Viktorovicˇ: »Ritmika cˇetyrechstopnogo jamba po nabljudenijam nad stichom ›Evgenija Onegina‹« [›Die Rhythmik des vierhebigen Jambus auf der Basis von Beobachtungen zum Vers des »Evgenij Onegin«‹],
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in: ders.: O stiche. Stat’i, Leningrad: Priboj 1929, Nachdr. München: Wilhelm Fink 1970 (= Slavische Propyläen, Bd. 75), S. 94–137. ° Vygotskij, Lev Semenovicˇ: Razvitie vyssˇich psichicˇeskich funkcij. Iz neopublikovannych trudov [›Die Entwicklung der höheren psychischen Funktionen. Aus den unpublizierten Arbeiten‹], Moskva: Izdatel’stvo Akakemii pedagogicˇeskich nauk 1960. – Geschichte der höheren psychischen Funktionen, übs. v. Regine Kämper, hg. v. Alexandre Me´traux, Münster u. Hamburg: Lit Verlag 1992 (= Fortschritte der Psychologie, Bd. 5).
Roman Jakobson Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie Band II
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Roman Jakobson Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie Sämtliche Gedichtanalysen Kommentierte deutsche Ausgabe
Band II Analysen zur Lyrik von der Romantik bis zur Moderne
Gemeinsam mit Hendrik Birus herausgegeben von
Sebastian Donat
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Redaktion: Sebastian Donat Elisabeth Dobringer Stephan Packard Hendrik Birus Linguistische Fachberatung: Imke Mendoza
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-018362-7 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2007 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz: Giorgio Giacomazzi, Berlin Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin
Inhaltsverzeichnis
Band 2 Zur Wortkunst von William Blake und anderen Dichter-Malern . Derzˇavins letztes Gedicht und M. Halles erster literaturwissenschaftlicher Aufsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Faktur eines Vierzeilers von Pusˇkin . . . . . . . . . . R. C. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pusˇkins Verse über die Statue, die Bacchantin und die Demütige . Über die »Verse, verfaßt nachts während der Schlaflosigkeit« . . (mit Grete Lübbe-Grothues) Ein Blick auf »Die Aussicht« von Hölderlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Brief an Grete Lübbe-Grothues, 10. Oktober 1974 . . . . (mit Michael Franz) Die Anwesenheit von Diotima. Ein Briefwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (mit Claude Le´vi-Strauss) »Die Katzen« von Charles Baudelaire . Das letzte »Spleen«-Gedicht aus Les Fleurs du mal unter dem Mikroskop . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die grammatische Struktur von Janko Kra´ls Dichtung . . . . . »Vergangenheit« von Cyprian Norwid . . . . . . . . . . . »Gefühl« von Cyprian Norwid . . . . . . . . . . . . . . Die Struktur von Botevs letztem Gedicht . . . . . . . . . . (mit Boris Cazacu) Analyse des Gedichts »Wiedersehen« von Mihail Eminescu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lyrische Prophezeiungen Aleksandr Bloks . . . . . . . . . . Aus den kleinen Sachen Velimir Chlebnikovs: »Wind – Singen« . Ein slovenisches Beispiel der Schlüsselrolle unpersönlicher Sätze im poetischen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . .
1 45 55 63 77 121 139 238 239 251 289 319 355 375 395 433 453 493 517
VI
Inhaltsverzeichnis
(mit Peter Colaclides) Grammatische Bildlichkeit in Kavafis’ Gedicht »Gedenke, Körper…« . . . . . . . . . . . . . . Über die Wortkunst Kazimierz Wierzyn´skis . . . . . . . . . (mit Stephen Rudy) Yeats’ »Der Gram der Liebe« im Lauf der Jahre (mit Luciana Stegagno Picchio) Die dialektischen Oxymora von Fernando Pessoa . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Haroldo de Campos) Randbemerkungen zu einer Pessoa-Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der grammatische Bau des Gedichts von B. Brecht »Wir sind sie« (mit Linda R. Waugh) Einige Schlußfolgerungen aus einem Gedicht von Cummings – Sprache und Dichtung . . . . . . . . Nachtrag zur Diskussion um die Grammatik der Poesie . . . .
527 555 571 631 669 687 717 733
Rhetorisches, metrisches und linguistisches Glossar . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
789 815 817
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
819 859
Band 1 Vorbemerkung der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . IX Hendrik Birus: Der Leser Roman Jakobson – im Spannungsfeld von Formalismus, Hermeneutik und Poststrukturalismus . . XIII Die neueste russische Poesie . . . . . . . . . . . . . Unterschwellige sprachliche Gestaltung in der Dichtung . . Linguistik und Poetik . . . . . . . . . . . . . . . Polnische Illustrationen zu »Linguistik und Poetik« . . . . Sprache in Aktion . . . . . . . . . . . . . . . . . Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie . . . . Der grammatische Parallelismus und seine russische Spielart
. . . . . . .
. . . . . . .
1 125 155 217 237 257 303
Inhaltsverzeichnis
Anmerkungen zur Gestalt eines altjapanischen Gedichts: Das Abschiedsgedicht von 732 von Takapasi Musimarö . . . . . . Der Lobeshymnus in Ilarions »Rede über das Gesetz und die Gnade« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Komposition und Kosmologie des Klageliedes der Jaroslavna . . Die poetische Textur bei Martin Codax. Revidierte Fassung eines Briefs an Haroldo de Campos . . . . . . . . . . . . . (mit Paolo Valesio) Vocabulorum constructio in Dantes Sonett »Wenn Du meine Augen siehst« . . . . . . . . . . . . . . . Siluans Lobpreis auf den Hl. Sava . . . . . . . . . . . . . Siluans Lobpreis auf Simeon . . . . . . . . . . . . . . . »Die die Gottes-Kämpfer sind«. Der Wortbau des Hussiten-Chorals Die Poesie Dalmatiens am Ende des 15. Jahrhunderts: Dzˇore Drzˇic´s Gedicht »Auf der Jagd« . . . . . . . . . . . . »Wenn unser Leben«. Betrachtungen zur Komposition und Struktur der Wörter in einem Sonett von Joachim Du Bellay . . . Die grammatische Textur eines Sonetts aus Sidneys Arcadia . . . (mit Lawrence G. Jones) Shakespeares Wortkunst in »Das Versprühen des Geistes« . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Das Leid jener, die beim Feuerholz erschlagen werden« . . . . Andrew Marvells Gedicht »An seine spröde Herrin« . . . . . . »Du möchtest wissen: Wer bin ich?« Eine Analyse der Tobolsker Verse Radisˇcˇevs . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VII
365 391 415 427 439 471 495 509 537 553 607 623 657 673 689
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Zur Wortkunst von William Blake und anderen Dichter-Malern 1 Übersetzung aus dem Englischen Roger Lüdeke, Dieter Münch und Grete Lübbe-Grothues
Kommentar Roger Lüdeke und Sebastian Donat Aus Sicht der heutigen Literaturwissenschaft siedeln sich die hier versammelten Untersuchungen Jakobsons im weiteren Bereich der Intermedialitätsforschung an, die sich den Wechselverhältnissen zwischen einzelnen Kunstformen, z. B. zwischen Text, Bild und Ton widmet. In der Realisierung dieser intermedialitätstheoretischen Perspektive sind Jakobsons einzelne Studien jedoch deutlich voneinander unterschieden. Bei der Analyse eines Achtzeilers, den der französische Maler Henri Rousseau 1910 zu seinem Bild »Le Reˆve« [›Der Traum‹] verfaßt hat, bildet die Analogiebeziehung zwischen Text und Bild den Untersuchungsgegenstand. Hier erfüllt sich am deutlichsten die methodische Verbundenheit mit dem berühmten amerikanischen Kunsthistoriker, die Jakobson durch seine Widmung signalisiert. Schon 1969 hatte Meyer Schapiro (1905–1996) in einem Vortrag zum Thema »Words and Pictures« am Beispiel des biblischen Motivs der Schlacht des Moses gegen die Amalekiter an ganz verschiedenen historischen Beispielen (angefangen bei einem Mosaik des 5. Jh. bis hin zu den Fresken Giottos) gezeigt, wie bestimmte semantische *Oppositionen des sprachlich vermittelten Gegenstands (z. B. zwischen gut und böse, heilig und profan etc.) auf der Bildebene über funktionsäquivalente Differenzierungen, 1
Vorlage: Jakobson, Roman Osipovicˇ: »On the Verbal Art of William Blake and Other Poet-Painters«, in: SW III, S. 322–344. Erstdruck in Linguistic Inquiry 1 (1970), H. 1, S. 3–23. [Anm. d. Übs./Komm.]
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etwa zwischen Frontal- und Profil-Darstellungen, kodiert werden. 2 In ähnlicher Weise nimmt Jakobson die bildkompositorisch zentrale Opposition zwischen Vorder- und Hintergrund als Ausgangspunkt, um das auf Rousseaus Gemälde Gezeigte zu strukturieren und es so mit der Verteilung der entsprechenden semantischen Einheiten innerhalb der graphischen *Struktur des Gedichts (innere und äußere Verspaare) zu korrelieren. Hinsichtlich der Bildanalyse basiert dieses Vorgehen allerdings auf einer Reihe problematischer Vorentscheidungen. Angesichts der Fülle von bildkompositorisch gleichwertigen Tieren und Pflanzen auf Rousseaus Gemälden, die den Kritiker Georges Claretie (einer bekannten Anekdote zufolge) zu der Bemerkung veranlaßte, Rousseaus Gemälde würden »dem Schaufenster eines Obstladens ähneln«, 3 scheint Jakobsons am Text orientierte Auswahl von nur vier Bildelementen in hohem Maße willkürlich. Ähnliches gilt für Jakobsons Unterscheidung zwischen Vorder- und Hintergrund des Bildes. Sie ist insofern zentral für Jakobsons Argument, als sie seiner quasi zentralperspektivischen Projektion des selektierten Bildinhalts auf die graphische Anordnung des Achtzeilers zugrunde liegt, bei der die äußeren Verspaare (vv. 1–2; 7–8) als Vordergrund, die inneren Verspaare (vv. 3–4, 5–6) als Hintergrund und Fluchtpunkt fungieren. Diese perspektivische Organisation scheint hingegen angesichts von Rousseaus so deutlich zur Flächigkeit tendierender Raumdarstellung einer Problematisierung wert, die Jakobson jedoch an keiner Stelle unternimmt. 4 Ganz andere methodische Wege verfolgt Jakobson in seiner Untersuchung von William Blakes »Infant Sorrow« [›Kindes Leid‹] aus der Sammlung der »Songs of Experience« (1794) und in seiner Analyse eines unveröffentlichten Gedichts (1903) aus Paul Klees Tagebüchern. In beiden Fällen weist Jakobson eine ›bildliche Schreibweise‹ nach, ohne daß hierbei konkrete Bezüge der Texte auf einzelne Bilder oder auf das Bildmedium im Sinne eines semiotischen Systems zugrunde gelegt werden. 2 3 4
Vgl. Schapiro, Words and Pictures. [Anm. d. Übs./Komm.] Vgl. Adriani, »Henri Rousseau. Der Zöllner – Grenzgänger zur Moderne«, S. 23. [Anm. d. Übs./Komm.] »Indem er seine Perspektiven improvisierte, desillusionierte Rousseau die Bildräume. Und indem er das Regelwerk der zentralen Fluchtpunkte auf sich beruhen ließ, dekuvrierte er einen solchermaßen ausgeweiteten Bildzusammenhang als künstliches Konstrukt außerhalb der Wahrnehmungsmöglichkeiten. Rousseaus allseitige Raumdramaturgie, die seine vielfach an den zentralperspektivischen Angleichungen vorbeigeführten Wege und Flüsse, die Baum- oder Häuserreihen eher begrifflich statt illusionistisch definierte, ließ die überkommene Ordnung aus den Fugen geraten und wurde gerade deshalb für die Kubisten interessant.« (Adriani, »Henri Rousseau. Der Zöllner – Grenzgänger zur Moderne«, S. 24.) [Anm. d. Übs./Komm.]
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Der enge Bezug zwischen Grafik und Text, zwischen Bild und Schrift, der für »Infant Sorrow« wie auch für Blakes Gesamtwerk grundlegend ist, bleibt – angesichts des Abdrucks der illuminierten Fassung vollkommen unerwartet – ausgeblendet. Statt dessen zielt Jakobsons phonologische, metrische und grammatische Analyse des Gedichts auf die ›Geometrizität‹ allein von Blakes sprachlicher Komposition. Dies ist um so überraschender, als Jakobson in seinem Aufsatz »Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie« ausdrücklich auf »eine tiefe Analogie zwischen der Rolle der Grammatik in der Dichtung und der Komposition in der Malerei« Bezug nimmt, »die auf einer offensichtlichen oder verborgenen geometrischen Ordnung oder aber auf dem Widerstand gegenüber der Geometrie beruht«. 5 In seiner Blake-Analyse schöpft er das in dieser Beobachtung verborgene Erkenntnispotential offensichtlich nicht aus. Dies mag ein Grund dafür sein, daß sich die BlakeForschung eher reserviert gegenüber Jakobsons Versuch verhalten hat. 6 Auch in seiner Beschäftigung mit Klee verzichtet Jakobson auf explizite Bezüge zur Bildkunst des Malers; auch hier dienen entsprechende Untersuchungsschritte dazu, bildähnliche Strukturen auf der Ebene der Textgestalt selbst zu rekonstruieren. Darüber hinaus bietet die Klee-Analyse jedoch besondere Probleme. Sie betreffen bereits und vor allem die Textkonstitution. Denn der von Jakobson untersuchte und wie selbstverständlich als ›Achtzeiler‹ apostrophierte Tagebucheintrag Paul Klees aus dem Jahr 1903 ist in Wirklichkeit als Fließtext niedergeschrieben. Eine Rhythmisierung ist zwar erkennbar, doch weder die konkrete Zeilengliederung noch der Gedichtcharakter selbst sind durch Textzeugen oder anderweitig belegt. Jakobson leitet nun aus der (zudem sehr angreifbaren) Bestimmung der *rhythmischen Struktur von »Zwei Berge gibt es […]« unmittelbar dessen optische Gliederung ab. Diese Übertragung eines ›Bauplans‹ vom akustischen auf den graphischen Sprachkode macht einerseits auf beeindruckende Weise den programmatisch intermedialen Ansatz Jakobsons in dieser Studie deutlich. Andererseits zeigt sie auch die Grenzen dieser Vorgehensweise auf: Denn Jakobson behandelt Optik und Akustik hier kurzerhand als gleichberechtigt. Während jedoch die rhythmischen Auswirkungen offensichtlicher graphischer Gliederungen unbestreitbar sind, ist der Umkehrschluß keineswegs zulässig – hierfür genügt bereits der Hinweis auf die Existenz rhythmischer Prosa. 7 – Gleichwohl liefert Jakobson nicht nur für eine ausgeprägte 5 6
Jakobson, »Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie«, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 256–301, hier S. 281. Vgl. das russische Original »Poe˙zija grammatiki i grammatika poe˙zii«, S. 76. [Anm. d. Übs./Komm.] Vgl. Bode, »Schreiendes Baby! Grausamer Mann!«, u. Scott, »L’art verbale des poe`tes-peintres«. [Anm. d. Übs./Komm.]
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ternäre Struktur des Textes, sondern auch für seine Gliederung in acht Segmente, die die fragwürdige (und zudem beinahe stillschweigende) Voraussetzung seines Ansatzes darstellt, im Lauf der Untersuchung zweifellos einige stichhaltige grammatische und semantische Argumente. Motiviert und inspirierend scheint Jakobsons Analyserichtung schließlich durch den Stellenwert, den der Rhythmus auf der Ebene von Linie, Farbe und Fläche in Klees Kunstpraxis und -reflexion einnimmt. 8 So scheint es auch kein Zufall, daß das Schaubild, in dem Jakobson die Ergebnisse seiner Untersuchung graphisch zusammenfaßt (vgl. u., S. 16), so nachdrücklich an die rhythmischen Farbkompositionen aus Klees mittlerer Schaffensphase erinnert. 9 Roger Lüdeke und Sebastian Donat Für Meyer Schapiro
I. Einer der Songs of Experience [›Lieder der Erfahrung‹] Not a line is drawn without intention 〈…〉 as Poetry admits not a Letter that is Insignificant so Painting admits not a Grain of Sand or a Blade of Grass Insignificant much less an Insignificant Blur or Mark. W. Blake, »A Vision of the Last Judgment« 10 Nicht eine Linie ist ohne Absicht gezogen 〈…〉 so wie die Dichtung keinen Buchstaben ohne Bedeutung zuläßt, so gestattet die Malerei kein bedeutungsloses Sandkorn oder einen bedeutungslosen Grashalm, geschweige denn einen bedeutungslosen Fleck oder Strich. 7
Vgl. dazu ausführlich Donat, »Optische Rhythmen. Metriktheoretische Überlegungen zu Jakobsons Analyse einer Miniatur von Paul Klee«. [Anm. d. Übs./Komm.] 8 Vgl. Dessauer-Reiners, Das Rhythmische bei Paul Klee. Eine Studie zum genetischen Bildverfahren. [Anm. d. Übs./Komm.] 9 Z. B. Rhythmisches, strenger und freier (1930), Städtische Galerie im Lenbachhaus, München, Inv. Nr. G 16155. [Anm. d. Übs./Komm.] 10 Die unter dem Titel A Vision of the Last Judgment posthum veröffentlichten Texte stammen aus Blakes Notizbuch und begleiteten vermutlich eine dem Titel entsprechende Bilddarstellung, die jedoch nicht erhalten ist (Blake, Notebook, S. 68–72, 76– 82, 84–87 u. 90–93). Im Zusammenhang lautet der von Jakobson zitierte Text: »Both in Art & in Life General Masses are as Much Art as a Pasteboard Man is Human Every Man has Eyes Nose & Mouth this Every Idiot knows but he who enters into & discriminates most minutely the Manners & Intentions the [Expression] Characters in all their branches is the alone Wise or Sensible Man & on this discrimination All Art is founded. I intreat then that the Spectator will attend to the Hands & Feet to the
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infant sorrow 1 2 3 4 5 6 7 8
My mother groand! my father wept. Into the dangerous world I leapt: Helpless, naked, piping loud: Like a fiend hid in a cloud. Struggling in my fathers hands: Striving against my swadling bands: Bound and weary I thought best To sulk upon my mothers breast.11 kindes leid
1 2 3 4 5 6 7 8
Meine Mutter ächzte! mein Vater weinte. In die gefährliche Welt ich sprang: Hilflos, nackt, laut wimmernd: Wie ein böser Geist versteckt in einer Wolke. Strampelnd in meines Vaters Händen: Anstrebend gegen meine gewindelten Bänder 12: Gebunden und ermüdet hielt ich es für das Beste An meiner Mutter Brust zu schmollen.13
Orthographie und Interpunktion der hier abgedruckten Verse folgen genau dem Text, der von William Blake für seine Songs of Experience (1794) graviert wurde und der in allen frühen Exemplaren im Besitz der Houghton und Widener Memorial Libraries der Harvard University und in der von Trianon Press (London und Beccles) veröffentlichten FaksimileAusgabe der Songs of Innocence and of Experience 14 völlig gleich lautet.15
11 12 13 14 15
Lineaments of the Countenances they are all descriptive of Character & not a line is drawn without intention & that most discriminate & particular « (Blake, »A Vision of the Last Judgment«, in: ders., The Complete Poetry and Prose, S. 554–566, hier: S. 560. Bei den Passagen in spitzen Klammern handelt es sich um Ersetzungen; eckige Klammern bezeichnen Streichungen in der Handschrift). [Anm. d. Übs./Komm.] Vgl. die Wiedergabe in der leicht zugänglichen Faksimile-Ausgabe: Blake, Songs of Innocence and Experience, S. 151. [Anm. d. Übs./Komm.] ›swadling [sic]‹ von to swaddle ›in Windeln wickeln, wickeln‹. [Anm. d. Übs./Komm.] Vgl. die deutsche Nachdichtung von Thomas Eichhorn in: Blake, Zwischen Feuer und Feuer. Poetische Werke, S. 105. [Anm. d. Übs./Komm.] Blake, Songs of Innocence. [Anm. d. Übs./Komm.] Abweichungen der unterschiedlichen Drucke betreffen Blakes nachträgliche Kolorierung und die Anordnung der einzelnen Texte der Sammlung, die Jakobsons am Wortlaut von »Infant Sorrow« orientierte Argumentation jedoch ausblendet. [Anm. d. Übs./Komm.]
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William Blake, Songs of Experience.
Die beiden Quartette des Gedichts sind in vier klar getrennte Verspaare aufgeteilt. Dabei sind die beiden Zeilen jedes Verspaares durch einen *Reim verbunden, und die ungeraden Verspaare des Gedichts unterscheiden sich von den geraden hinsichtlich ihrer Reimstruktur. Beide Reimwörter der ungeraden Verspaare gehören zur selben morphologischen Kategorie, sie enden mit demselben konsonantischen Flexionssuffix und stimmen hinsichtlich ihrer prävokalischen *Phoneme nicht überein: 1 wep-t: 2 leap-t, 5 hand-s: 6 band-s. Der ähnliche formale Aufbau der beiden ungeraden Reime unterstreicht die voneinander abweichende semantische Orientierung der beiden Quartette, d. h. den konzeptuellen
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*Kontrast 16 zwischen den einführenden Präterita und den unbelebten
Nomina, die über dem zweiten Quartett aufragen und die nota bene die einzigen Plurale des Gedichts sind. Der *grammatische Reim wird mit dem grundlegenden *Parallelismus der reimenden Verse kombiniert. Das dritte Verspaar besteht aus zwei strikt symmetrischen Teilsätzen: 5 Struggling in my fathers hands: [›Strampelnd in meines Vaters Händen:‹] 6 Striving against my swadling bands [›Anstrebend gegen meine gewindelten Bänder‹]. Die zwei koordinierten Teilsätze der Anfangszeile im ersten Verspaar, die einzigen parallelen Halbverse innerhalb des Gedichts – 1 My mother groand! my father wept [›Meine Mutter ächzte! mein Vater weinte‹] –, erhalten ihre Antwort im dritten koordinierten Teilsatz 2 I leapt [›Ich sprang‹]. Im Gegensatz zu den ungeraden Verspaaren konfrontieren die geraden Reimpaare grammatisch unähnliche Wörter; in beiden Fällen nämlich reimt ein Adjektivadjunkt mit einem unbelebten Substantiv. Der gesamte phonetische Aufbau des ersten Wortes erscheint dabei als im zweiten Glied des Reimpaars enthalten: 3 loud [›laut‹]: 4 cloud [›Wolke‹], 7 best [›Beste‹]: 8 breast [›Brust‹]. Auf diese Weise erscheinen die geraden Reime, die für sich genommen nicht-grammatisch sind, in ihrer Zusammenstellung als grammatisch. Besonders ist dadurch die Verwandtschaft zwischen den beiden Abschlußbildern betont – 4 a cloud [›einer Wolke‹] als *Metapher der Plazenta 17 und 8 breast [›Brust‹] – zwei aufeinanderfolgende Verbindungsglieder zwischen dem Säugling und seiner Mutter. So bilden die acht Zeilen des Gedichts ein dichtes Geflecht von engen und aufschlußreichen grammatischen Korrespondenzen. Die vier Verspaare des Achtzeilers sind aufgeteilt in zwei Paare, die in dreierlei Hinsicht den drei Reimtypen innerhalb eines Quartetts ähneln.18 Die beiden 16 Der Hinweis auf den konzeptuellen Kontrast zwischen den aktiven Verben des Gefühlsausdrucks und der Bewegung im ersten und den semantischen *Merkmalen des Unbelebten im zweiten Quartett unterstützt Jakobsons nachfolgende Deutung des Gedichtverlaufs als zunehmender Begrenzung und Disziplinierung des Säuglings durch dessen wachsende Welterfahrung. [Anm. d. Übs./Komm.] 17 Vermutlich eine kühne Deutung Jakobsons. Eine in diesem Sinn lexikalisierte Metapher ist historisch nicht belegt. [Anm. d. Übs./Komm.] 18 Auch in seiner Shakespeare- und Wierzyn´ski-Analyse untersucht Jakobson die Paarbildung hinsichtlich grammatischer und anderer Korrespondenzen in Analogie zu den drei Formen der Reimbindung in Vierzeilern. Vgl. Jakobson /Jones, »Shakespeare’s Verbal Art in ›Th’Expence of Spirit‹«, S. 286, und die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 627, sowie Jakobson, »O slovesnom iskusstve Kazimira Vezˇin’skogo«, S. 596, und die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 563. [Anm. d. Übs./Komm.]
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aufeinanderfolgenden Reimpaare – die beiden vorderen Verspaare (I–II) des ersten Quartetts (v. 1–4) und die beiden hinteren Reimpaare (III–IV) des zweiten Quartetts (v. 5–8) – sind mit den *»Paarreimen« aabb innerhalb eines Quartetts vergleichbar. Die Beziehung zwischen den zwei ungeraden Verspaaren (I, III: v. 1–2 und 5–6) und den beiden geraden Verspaaren (II, IV: v. 3–4 und 7–8) ist analog dem »alternierenden« Reimschema abab. Schließlich ist die Gegenüberstellung der äußeren Verspaare (I, IV: v. 1–2, 7–8) und der inneren Verspaare (II, III: v. 3–6) gleichbedeutend mit dem *»umarmenden« Reim abba. Die Verknüpfung dieser drei Typen grammatischer Korrespondenzen ist in »Infant Sorrow« ausgesprochen eng. Der Korrelation der Verspaare liegt eine Isomerie 19, d. h. die gleiche Anzahl von *äquivalenten Komponenten, zugrunde, die zwei signifikante Varianten aufweist. Eine globale *Symmetrie, die beide Verspaare der einen Klasse mit zwei Verspaaren der entgegengesetzten Klasse gleichsetzt, nämlich I + II = III + IV oder I + III = II + IV oder I + IV = II + III, unterscheidet sich von einer regionalen Symmetrie, die eine Gleichung zwischen den Verspaaren innerhalb jeder der beiden entgegengesetzten Klassen etabliert, nämlich I = III und II = IV oder I = IV und II = III. Bei jedem Vorkommnis der globalen Symmetrie zwischen vorderen und hinteren Verspaaren ist eine der beiden weiteren Korrespondenzen – außen /innen oder ungerade /gerade – ebenfalls global und unterstützt so das Gleichgewicht der Quartette: Es weist den beiden Oppositionspaaren dieselbe Gesamtzahl von ähnlichen grammatischen Einheiten zu (d. h. den gesamten Paaren ungerader und gerader oder innerer und äußerer Verspaare), während die anderen eine regionale Symmetrie aufweisen, die beiden Verspaaren ein und desselben Paares die gleiche Anzahl von ähnlichen grammatischen Einheiten zuweist. Zusätzlich zum leitenden Konstruktionsprinzip, das alle Verspaare übernehmen, muß auch die eigenständige Rolle berücksichtigt werden, welche die Einzelzeilen innerhalb der Quartette spielen. Denn die beiden äußeren Randzeilen der einzelnen Quartette und auch des gesamten Achtzeilers scheinen besondere Korrespondenzen aufzuweisen. Blakes Mahnung, daß sowohl Erfindung wie Identität »Objekte der Intuition sind«,20 bietet einen Hinweis von größter Bedeutung für das 19 Isomere bezeichnen chemische Verbindungen der gleichen summarischen Zusammensetzung auf der Ebene ihrer Moleküle bei unterschiedlicher Struktur. [Anm. d. Übs./Komm.] 20 Die Passage findet sich in handschriftlichen Notizen von Blake im ersten Band von The Works of Sir Joshua Reynolds, Knight. (»Annotations to The Works of Sir Joshua Reynolds«, in: Blake, The Complete Poetry and Prose, S. 635–662, hier: S. 659.) Im
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poetische Netzwerk seiner Worte. Jedes der zwei Quartette enthält fünf Substantive und fünf Verbformen. Diese fünf Substantive sind auf gleiche Weise auf die vier Zeilen jedes Quartetts verteilt: 1. mother, father [›Mutter, Vater‹] 2. world [›Welt‹] 3. 4. fiend, cloud [›böser Geist, Wolke‹]
= = = =
2 = fathers hands [›Vaters Händen‹] 1 = bands [›Bänder‹] #= 2 = mothers breast [›Mutter Brust‹]
5. 6. 7. 8.
In der Disposition der Substantive sind alle drei kompositorischen Korrelationen der Verspaare enthalten I. II.
3 2
3 2
III. IV.
Die globale Symmetrie zwischen den vorderen und hinteren Verspaaren (I + II = III + IV = 5) wird von einer ähnlichen globalen Symmetrie zwischen den äußeren und inneren Verspaaren (I + IV = II + III = 5) und durch eine regionale Symmetrie von ungeraden und geraden Verspaaren (I = III = 3; II = IV = 2) begleitet. Diese regionale Symmetrie ist nicht auf die Verspaare insgesamt beschränkt, sondern trifft auch auf ihre Einzelverse zu: Es gibt (1) zwei Substantive im ersten und eines in der zweiten Zeile der ungeraden Verspaare, (2) keine Substantive in der ersten und zwei in der zweiten Zeile der geraden Verspaare. Auf diese Weise ist die Homogenität der ungeraden Verspaare und die ihrer geraden Gegenstükke ebenso umrissen wie der Kontrast dieser beiden Klassen. Im Unterschied zu allen anderen Zeilen des Gedichts unterscheiden sich die Randzeilen der beiden Quartette von allen anderen Zeilen des Achtzeilers: Jede der vier Randzeilen enthält ein Substantivpaar: 1 mother [›Mutter‹], father [›Vater‹]; 4 fiend [›böser Geist‹], cloud [›Wolke‹]; 5 fathers hands [›Vaters Händen‹], 8 mothers breast [›Mutter Brust‹]. Die zehn Substantive des Gedichts sind gleichmäßig in fünf belebte und fünf unbelebte unterteilt. Die fünf belebten Substantive sind auf die vier Randzeilen der beiden Quartette beschränkt. Die Verteilung der belebten und unbelebten Substantive auf die beiden vorderen Verspaare des ersten Quartetts und die beiden hinteren des zweiten Quartetts und überdies auf die äußeren und inneren Verspaare, folgt dem Prinzip der *Antisymmetrie 21: Zusammenhang lautet der von Jakobson zitierte Text: »Demonstration Similitude & Harmony are Objects of Reasoning Invention Identity & Melody are Objects of Intuition.« [Anm. d. Übs./Komm.] 21 Antisymmetrie ist diejenige der vier von Jakobson unterschiedenen Symmetriefor-
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Vordere Verspaare: Äußere Verspaare: Hintere Verspaare: Innere Verspaare:
3 3 2 2
Belebte, Belebte, Belebte, Belebte,
2 2 3 3
Unbelebte Unbelebte Unbelebte Unbelebte
Eine manifest räumliche Behandlung setzt unbelebte und belebte Substantive gegeneinander. Die unbelebten sind durchgehend mit räumlichen Präpositionen verbunden, während von den fünf belebten vier ohne Präposition verwendet werden und eines mit einer gleichsetzenden Präposition (4 Like a fiend [›Wie ein böser Geist‹]). Zwei *Epitheta treten in dem Gedicht hervor. Beide sind an die zweite Zeile der Quartette gebunden, und beide gehören zu ähnlichen syntaktischen Konstruktionen: 2 Into the dangerous world I leapt [›In die gefährliche Welt ich sprang‹]; 6 Striving against my swadling bands [›Anstrebend gegen meine gewindelten Bänder‹]. Zusammen mit allen anderen vorangestellten Attributen – Possessivformen von Substantiven und Pronomina, bestimmte und unbestimmte Artikel – bilden diese Epitheta ein auffallend symmetrisches Muster in dem Gedicht. Solche Attribute tauchen zweimal in jeder Zeile der beiden Quartette auf, mit Ausnahme ihrer vorletzten Zeile: 1 My, my [›Meine, mein‹]; 2 the dangerous [›die gefährliche‹]; 3 #; 4 a, a [›ein, einer‹]; 5 my fathers [›meines Vaters‹]; 6 my swadling [›meine gewindelten‹]; 7 #; 8 my mothers [›meiner Mutter‹]. Sechs dieser Attribute gehören zu dem ersten und sechs zu dem zweiten Quartett; entsprechend gehört eine gleiche Anzahl zu den äußeren 22 und inneren Verspaaren des Gedichtes. Den 4 (2 + 2) vorangestellten Attributen in den geraden Verspaaren stehen 2 (# + 2) in den ungeraden Verspaaren entgegen. Verglichen mit den zehn Substantiven, weisen die zehn Verbformen signifikante Ähnlichkeiten und Divergenzen in ihrer Verteilung auf die vier Verspaare auf: I. II.
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III. IV.
men, bei der die Elemente der Ausgangskonstellation in identischer Reihenfolge, aber mit entgegengesetztem ›Vorzeichen‹ wiederholt werden (AAB → BBA; vgl. den Kommentar von Sebastian Donat zu Jakobson, »Lyrische Prophezeiungen Aleksandr Bloks«, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 461, Anm. 12). Die Anwendung dieses Begriffs auf die Verteilung der belebten und unbelebten Substantive ist insofern irritierend, als es Jakobson hier offensichtlich allein um die Anzahl der Elemente der binären Opposition, nicht aber um ihre Anordnung in den einander gegenübergestellten Gedichtabschnitten geht. [Anm. d. Übs./Komm.] 22 Emendation gemäß dem Erstdruck: »outer« statt »other«. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Wir stoßen auf dieselbe globale Symmetrie zwischen den vorderen und hinteren Verspaaren (I + II = III + IV = 5), aber die Behandlung der Korrelation außen /innen und gerade /ungerade in der Nominal- und der Verbalgruppe ist diametral entgegengesetzt. Die Disposition der Verbformen zeigt eine globale Symmetrie zwischen den ungeraden und geraden Verspaaren (I + III = II + IV = 5) und eine regionale Symmetrie zwischen den äußeren und inneren Verspaaren (I = IV = 3; II = III = 2). Diese Symmetrie gilt sowohl für die Verspaare als auch für die darin enthaltenen Verszeilen. Die erste Zeile der äußeren Verspaare enthält zwei (1 Groand, wept [›ächzte, weinte‹]; 7 bound, thought [›Gebunden, hielt‹]), die zweite Zeile enthält eine Verbform (2 leapt [›sprang‹]; 8 to sulk [›zu schmollen‹]); und jede Zeile der inneren Verspaare enthält eine Verbform (3 piping [›piepsend‹], 4 hid [›versteckt‹]; 5 struggling [›strampelnd‹], 6 striving [›anstrebend‹]). Es gibt eine spürbare Differenz zwischen einer globalen Symmetrie der äußeren /inneren und der ungeraden /geraden Konstituenten: Die ersteren suggerieren eine geschlossene Anordnung, die letzteren eine offene Reihe ohne Ende. Blakes Gedicht verknüpft die erstere mit Substantiven und die letztere mit Verben, und man sollte sich an Edward Sapirs semantische Definition der Substantive als »Existenten« und der Verben als »Okkurrenten« erinnern.23 Das Passivpartizip erscheint einmal in jedem Verspaar (4 hid, 7 bound ). Keine *Transitiva tauchen unter den aktiven Verbformen auf. Im Aktiv zählt das erste Quartett drei finite und eine nicht finite Form, während das zweite Quartett ein antisymmetrisches Verhältnis 24 von einer finiten und drei nicht finiten Formen aufweist. Alle vier finiten Verbformen sind Vergangenheitsformen. Es entsteht ein scharfer Kontrast zwischen den inneren Verspaaren mit ihren drei Gerundien als einzigen Verbformen und den äußeren Verspaaren, die kein Gerundium enthalten, aber fünf Vollverben aufweisen (vier finite Formen und einen Infinitiv). In beiden Quartetten ist das innere Verspaar der angrenzenden Zeile des äußeren Verspaars untergeordnet: die Zeilen 3, 4 der zweiten Zeile des Achtzeilers und die Zeilen 5, 6 der vorletzten Zeile. 23 Vgl. Sapir, Totality, S. 3. Die Begriffe bezeichnen die referentielle Dimension von Verben und Substantiven, d. h. deren Bezug auf Erscheinungen der außersprachlichen Wirklichkeit. Substantive im Sinne von Existenten bezeichnen demnach Dinge und Stoffe der Realität, während Verben im Sinne von Okkurrenten Ereignisse bezeichnen. Vgl. Jakobson, »Poetry of Grammar and Grammar of Poetry«, S. 88, sowie ders., »Une Microscopie du dernier ›Spleen‹ dans Les Fleurs du Mal«, S. 467, und die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 297. [Anm. d. Übs./Komm.] 24 Siehe o., Anm. 21. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Die Präpositionen gleichen den Verben in der globalen Symmetrie ihrer Verteilung. Unter den sechs Präpositionen des Gedichts gehören drei zu den vorderen Verspaaren (2 into [›in‹], 4 like, in [›wie, in‹]) und drei zu den hinteren Verspaaren (5 in [›in‹], 6 against [›gegen‹], 8 upon [›an‹]) und entsprechend drei zu den ungeraden und drei zu den geraden Verspaaren, wohingegen die äußeren Verspaare jeweils eine Präposition und die inneren Verspaare jeweils zwei Präpositionen verwenden. Die beeindruckende Balance zwischen den entsprechenden Teilen des Gedichts umrahmt dessen dramatische Entwicklung und hebt sie hervor. Die einzigen vier unabhängigen Sätze mit den einzigen vier finiten Prädikaten und den einzigen vier grammatischen Subjekten – zwei davon pronominal und zwei nominal – sind alle auf die äußeren Verspaare beschränkt. Während ein Pronominalsatz mit dem Subjekt in der ersten *Person in beiden Quartetten auftaucht – in der nächst der ersten und nächst der letzten Zeile des Achtzeilers gelegenen (2 I leapt [›ich sprang‹]; 7 I thought [›hielt ich‹]) –, trennen die zwei nominalen Subjekte die erste Zeile vom Rest des Gedichtes, und Blake beendet diese Zeile mit einem Punkt. Infant, der Titelheld, und die beiden anderen dramatis personae werden mit Bezug auf den Sender der Nachricht vorgestellt: I, my mother, my father [›Ich, meine Mutter, mein Vater‹]. Beide Substantive zusammen mit ihrem *Determinans tauchen im zweiten Quartett wieder auf, jedoch mit signifikanten syntaktischen und semantischen Verschiebungen. Die grammatischen Subjekte sind in Possessivattribute von *indirekten Objekten verwandelt, die von untergeordneten Verbformen regiert werden. Die beiden zusammengehörigen Teile des ersten Achtsilbers werden getrennt. Die Anfangszeile des zweiten Quartetts endet mit derselben Beschwörung des Vaters wie die entsprechende Zeile im ersten Quartett: 1 my father wept [›mein Vater weinte‹]; 5 my fathers hands [›meines Vaters Händen‹]. Die ursprüngliche Vision des weinenden Elternteils weicht dem zweimaligen Bild des Aufbegehrens gegen die Hände des Vaters (fathers hands [›Vaters Händen‹]) und die Windeln (swadling bands [›gewindelte Bänder‹]), die feindlichen Kräfte, die dem Säugling beim Sprung in die gefährliche Welt (dangerous world [›gefährliche Welt‹]) widerfahren. Die Anfangsworte des Gedichts – 1 My mother [›Meine Mutter‹] – tauchen noch einmal am Ende auf – 8 my mothers [›meiner Mutter‹] –, und zusammen mit dem Subjekt I [›ich‹] der zweiten und siebten Zeile entfalten sie eine *Spiegelsymmetrie.25 Das erste dieser beiden Pronomina 25 Bei der Spiegelsymmetrie werden die identischen Elemente in umgekehrter Reihenfolge wiederholt. Dabei faßt Jakobson hier die Kombination von Possessivpro-
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wird von dem Paar von Halbprädikaten 3 Helpless, naked [›Hilflos, nackt‹] gefolgt, während dem zweiten I ein syntaktisch analoges Paar 7 Bound and weary [›Gebunden und müde‹] vorangeht. Stellung und chiastische Struktur dieses Paares behalten das Prinzip der Spiegelsymmetrie bei. Das Partizip Bound [›Gebunden‹] löst das *Antonym naked [›nackt‹] ab, und aus der ursprünglichen Hilflosigkeit wird Erschöpfung. Das laute Piepsen des Säuglings, das das tiefe Ächzen der Mutter verdrängt, weicht dem Drang nach Ruhe: 7 I thought best [›Ich hielt (es für das) Beste‹]; 8 To sulk upon my mothers breast [›Zu schmollen an meiner Mutter Brust‹]. Der Exodus weg von der Mutter deutet voraus auf die Rückkehr zu ihr, einem neuen mütterlichen Hort der Zuflucht und des Schutzes (4 hid in [›versteckt in‹] – 8 To sulk upon [›Zu schmollen an‹]). Die Skizze des Autors für ein längeres Gedicht wurde für die Songs of Experience auf dessen erste acht Zeilen gekürzt.26 Die Untersuchung der sprachlichen Textur dieser beiden Quartette bestätigt und bestärkt die intuitive Auffassung, die von J. Bronowski scharfsinnig geäußert wurde: »Der gesamte weitere Verlauf ist in die erste Hilflosigkeit eingebettet.« 27 Eine genaue Untersuchung des ziselierten Achtzeilers mit seinem weitreichenden grammatischen Gefüge mag eine weitere einschlägige Schlußfolgerung desselben Autors illustrieren und spezifizieren. »Blake hatte eine Imagination von Bildern, überraschend hinsichtlich ihrer geometrischen Einsicht.« 28 In diesem Zusammenhang scheint es mir angemessen, die »auffallende Analogie zwischen der Rolle der Grammatik in der Dichtkunst und der Komposition eines Bildes« zu reformulieren, der »eine latente oder offensichtliche Anordnung zugrunde liegt oder eine Auflehnung gegen geometrische Einteilungen.« 29 Besonders die Schlagworte, die Kernsätze und die prominenten Motive, die in den voneinander abweichenden äußeren Verspaaren vorkommen, stechen gegenüber den beiläufigen und untergeordneten Inhalten der angrenzenden inneren Verspaare hervor, ganz ähnlich wie die konvergierenden Linien des Hintergrunds in einer Bildperspektive.
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nomen und Substantiv (My mother bzw. my mothers) als ein Element auf, das Personalpronomen I als das andere: AB → BA. [Anm. d. Übs./Komm.] Siehe Blake, Notebook, S. 113. [Anm. d. Übs./Komm.] Bronowski, William Blake and the Age of Revolution, S. 161. A. a. O., S. 139. Jakobson, »Poetry of Grammar and Grammar of Poetry«, S. 94. [Anm. v. R.J.] – Deutsche Übersetzung nach Jakobson, »Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie«, übs. v. Hartner /Raible, S. 254 f. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Die feste und plastisch relationale Geometrizität von Blakes Wortkunst unterstützt die bestürzende Dynamik in der Entwicklung des tragischen Themas. Die oben skizzierten paarweisen antisymmetrischen Verfahren und der kategoriale Kontrast der beiden parallelen grammatischen Reime unterstreichen die Spannung zwischen der Geburt und der darauffolgenden Welterfahrung. In linguistischer Hinsicht besteht die Spannung zwischen einerseits der anfänglichen Überlegenheit belebter Subjekte mit finiten *Tätigkeitsverben und andererseits dem darauffolgenden Vorherrschen von konkreten, materiellen Unbelebten, die als indirekte Objekte von Gerundien verwendet werden, bloßen Verbalformen, die von Tätigkeitsverben abgeleitet sind und dem einzigen finiten Verb 7 thought [›hielt‹] in seiner verengten Bedeutung eines gehegten Wunsches untergeordnet sind. Der eigentümliche Grundzug von Blakes Interpunktion ist seine Verwendung von Doppelpunkten. Die Doppelpunkte in »Infant Sorrow« signalisieren die Aufteilung der inneren Verspaare in die sie konstituierenden Verse und trennen die inneren Verspaare von den äußeren. Jeder der inneren Verse, der eine Gerundialkonstruktion enthält, endet auf einen Doppelpunkt und ist durch einen Doppelpunkt von dem vorhergehenden Teilsatz desselben Satzes getrennt. Das wachsende Motiv der matten Resignation findet seine fesselnde Verkörperung auch im rhythmischen Verlauf des Gedichts.30 Sein eröffnender Achtsilber ist der symmetrischste der acht Verse. Er besteht aus zwei viersilbigen, koordinierten Teilsätzen mit einer expressiven Pause zwischen ihnen, die in Blakes Text durch Ausrufezeichen hervorgehoben wird. Eine fakultative zweite Pause tritt zwischen dem Subjekt und dem Prädikat der beiden nebeneinander liegenden Teilsätze auf. Die folgende dieser kontrastierenden Pausen geht der letzten Silbe der Zeile voraus: 1 My mother groand! My father wept [›Meine Mutter ächzte! Mein Vater weinte‹]. In der nächsten Zeile, welche das erste ungerade Verspaar abschließt, taucht die innere syntaktische Pause vor der zweitletzten Silbe (6 + 2) auf, und von Zeile zu Zeile wird das Intervall zwischen der letzten 31 und der inneren Pause eine Silbe länger, bis die letzte Zeile des zweiten ungeraden Verspaars die innere Pause nach der zweiten Silbe der 30 Eine der seltenen semantischen Interpretationen, d. h. nicht nur architektonischen Bestandsaufnahmen, von rhythmischen Strukturen innerhalb der Jakobsonschen Gedichtanalysen. Vgl. Jakobson, »R. C.«, S. 355, sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 63–76, hier: S. 75. [Anm. d. Übs./Komm.] 31 Gemeint ist die Pause am Zeilenende. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Zeile fixiert: 2 + 6. So verändert sich die weiteste Schwingung, die sich in den Versen beobachten läßt (2 Into the dangerous world / I leapt [›In die gefährliche Welt / ich sprang‹]), nach und nach in die kürzeste, verhaltenste, begrenzteste Spanne: 6 Striving / against my swadling bands [›Anstrebend / gegen meine gewindelten Bänder‹]. Jedes Quartett enthält zwei *jambische Achtsilber und zwei *trochäische Siebensilber.32 Man findet die jambische Anordnung in den zwei Randzeilen des Achtzeilers, beide mit der Evokation von my mother [›Meine Mutter‹ bzw. ›meiner Mutter‹], und in der letzten Zeile der beiden ungeraden Verspaare, beide charakterisiert durch einen entgegengesetzten Antrieb – im ersten Fall hin zu und im zweiten Fall weg von der »gefährlichen« Umgebung. Die gleiche Länge dieser beiden sich entsprechenden Zeilen verleiht dem doppelten Kontrast ihrer rhythmischen Phrasierung 33 und ihrer semantischen Ausrichtung eine besondere Schlüssigkeit. Der Gedanke der Rettung upon my mothers breast [›an meiner Mutter Brust‹] als Antwort auf das Bild der verhaßten swadling bands [›gewindelten Bänder‹] unterstützt die Verbindung zwischen den zwei geraden Zeilen des zweiten Quartetts durch ihre rhythmische Identität: 6 Striving / against my swadling bands [›Anstrebend / gegen meine gewindelten Bänder‹] und 8 To sulk / upon my mothers breast [›Zu schmollen / an meiner Mutter Brust‹].34 Die dazwischenliegende Zeile, welche das letzte gerade Verspaar eröffnet, teilt, wie oben bereits erwähnt, verschiedene Strukturmerkmale mit der Anfangszeile des ersten geraden Verspaars und wiederholt dessen trochäisches Maß mit einer Mittelzäsur (4 + 3). 32 Jakobson beschreibt das *Metrum hier progressiv (beginnend am Versanfang), während er bei der Rekonstruktion der Pausen regressiv (beginnend am Versende) vorgeht. Unter durchgehend regressiver Perspektive ließe sich das gesamte Gedicht als *katalektischer vierhebiger Trochäus mit wechselndem Auftakt beschreiben. [Anm. d. Übs./Komm.] 33 Der Kontrast in der rhythmischen Phrasierung besteht – wie Jakobson im vorangehenden Absatz herausgearbeitet hat – in der verschiedenen Position der internen Pause und der entsprechend unterschiedlichen Binnengliederung des jeweiligen Verses. Hier besetzen v. 2 und v. 6 konträre Positionen: 6 + 2 Silben vs. 2 + 6 Silben. [Anm. d. Übs./Komm.] 34 Die rhythmische Identität bezieht sich allerdings nur auf die syntaktische Segmentierung der Verse (d. h. die Position der internen Pause). In der Akzentstruktur hingegen zeigt sich am Zeilenbeginn ein deutlicher Kontrast: 6 Strı´ving vs. 8 To su´lk. Zwar handelt es sich bei dem ›umgekehrten Versfuß‹, d. h. der Ersetzung des regulären Jambus durch einen Trochäus in v. 6, um eine etablierte metrische *Lizenz im Englischen, nichtsdestoweniger ist der rhythmische Unterschied zwischen diesen beiden Zeilen unüberhörbar. [Anm. d. Übs./Komm.]
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In den jambischen Versen fällt die wichtigste oder einzige Pause immer vor eine *Senkung. In den trochäischen Versen erscheint die Pause immer vor der *Hebung oder ausnahmsweise vor einer Senkung, die durch eine betonte Silbe gefüllt ist (4 Like a fiend / hid in a cloud [›Wie ein böser Geist / versteckt in einer Wolke‹]). Die Verteilung der Pausen in Blakes Achtzeiler veranschaulicht seine überwältigende Symmetrie. In unserer Tabelle zeigen von einem Punkt gefolgte Ziffern die Anordnung der acht Zeilen; die folgende Vertikale bezeichnet den Anfang und die lange Vertikale an der rechten Seite der Tabelle das Ende der Zeile. Die Silben des Verses von seinem Ende bis hin zu seinem Anfang werden durch die obere horizontale Reihe von Ziffern bezeichnet. Die Vertikale zwischen den zwei Grenzen jeder Zeile gibt deren innere Pause wieder, während die zweite, fakultative innere Pause durch eine gepunktete Vertikale wiedergegeben wird. Eine Diagonale bezeichnet die zunehmend regressive Tendenz, die durch die Anordnung der Pausen im Zeileninneren 35 und dann, beim letzten Verspaar, vor der Zeile angezeigt wird. 8
⎧ 1.
⎪ ⎪
3. 4. 5. 6.
⎩ 8.
7
6
5
⎩
4
3
2
1
⎧
2.
Zeilen ⎨
⎨
⎧
⎪ ⎪
Silben
7.
⎪ ⎪
⎨ Zeilenende
⎩
Wie der Dichter selbst im Vorwort zu Jerusalem erklärt, hat er tatsächlich »eine Vielfalt in jeder Zeile, sowohl an *Kadenzen & Anzahl von Silben« 36 innerhalb ihrer Segmente erzielt.37 35 Im Original irrtümlich ›interlinear pause‹ (›zwischenzeilige Pause‹). [Anm. d. Übs./ Komm.] 36 Blake, »Jerusalem«, in: ders., The Complete Poetry and Prose, S. 144–259, hier: S. 146. Im Zusammenhang lautet die Passage aus Blakes Vorwort zu Jerusalem: »When this Verse was first dictated to me I consider’d a Monotonous Cadence like that used by
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Die anfängliche siebensilbige Zeile jedes geraden Verspaars ist mit dem achtsilbigen Ende des vorangehenden ungeraden Verspaars mittels einer *Alliteration der beiden letzten Worte verknüpft (2 leapt – 3 loud, 6 bands – 7 best), und durch eine * paronomastische Verwandtschaft zwischen dem letzten und dem ersten Wort der beiden aufeinanderfolgenden Zeilen (2 leapt – 3 helpless, 6 bands – 8 bound). Innerhalb eines Verspaars sind die Zeilen im ersten Quartett gleichsilbig, im zweiten ungleichsilbig. Zwei Worte alliterieren im ersten Fall, drei im letzten: 1 wept – 2 world, 3 loud – 4 like; 7 bound – best – 8 breast. Im ersten parallelistischen Verspaar des zweiten Quartetts entwickelt sich die Alliteration zu einer paronomastischen Mischung von zwei aufeinanderfolgenden Worten im voranstehenden Glied einer Dreierkette: 5 struggling – 6 striving – swadling. Die Ähnlichkeit des Clusters bildet ein Gegengewicht zur ungleichen Verteilung von Hebungen und Senkungen in beiden einander gegenüberstehenden Gerundien, von denen eines eine trochäische (5 Struggling in [›Strampelnd in‹]), das andere eine jambische Zeile einleitet (6 Striving against [›Anstrebend gegen‹]).38 An der Grenze beider Quartette weisen die gleichsilbigen benachbarten Zeilen des inneren Verspaars, eines gerade und das nächste ungerade, eine vielfältige Verwandtschaft in ihrer Lauttextur auf: 4 fiend – hid in – 5 in my fathers hands. Kaum wird in der vierten Zeile, dem einzigen Vergleich des Gedichts, ein mythisierter Held eingeführt, als das entgegengesetzte Bild der fesselnden Hände des Vaters, in einer Art filmischer Milton & Shakspeare & all writers of English Blank Verse, derived from the modern bondage of Rhyming; to be a necessary and indispensible part of Verse. But I soon found that in the mouth of a true Orator such monotony was not only awkward, but as much a bondage as rhyme itself. I therefore have produced a variety in every line, both of cadences & number of syllables.« (S. 145 f.) [Anm. d. Übs./Komm.] 37 Zwar ändert sich die Silbenzahl der Verse (von den Verssegmenten ist bei Blake ohnehin nicht die Rede), doch die Kadenzen bleiben identisch (durchwegs männlich). Da auch die Alternation weitgehend konsequent eingehalten wird, läßt sich eine Variation vor allem im Auftakt beobachten. Vgl. o., Anm. 32, zur Lesart von »Infant Sorrow« als trochäisches Gedicht. [Anm. d. Übs./Komm.] 38 Irritierenderweise argumentiert Jakobson hier allein auf der Ebene des abstrakten Metrums und läßt die des Vers- wie auch die des konkreten Wortrhythmus unerwähnt. Unter metrischer Perspektive fällt 5 Struggling auf einen Trochäus (– ), 6 Striving dagegen auf einen Jambus ( –). * Prosodisch hingegen sind beide Gerundien identisch: betont-unbetont. Der Unterschied im Versrhythmus läßt sich am besten als Opposition von erfüllter Erwartung (v. 5: Übereinstimmung von Metrum und Wortrhythmus) und frustrierter Erwartung (v. 6: ›umgekehrter Versfuß‹, d. h. Besetzung des Jambus durch ein trochäisches Wort) charakterisieren. [Anm. d. Übs./Komm.]
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›Überblendung‹, ein wenig durch die erste ›Einstellung‹ hindurchscheint,39 woraufhin die entscheidende Metamorphose zustande kommt: Der übernatürliche Möchtegern-Held (4 Like a fiend hid in a cloud [›Wie ein böser Geist versteckt in einer Wolke‹]) wird zum Opfer gemacht (5 Struggling in my fathers hands [›Strampelnd in meines Vaters Händen‹]). Die acht Zeilen von »Infant Sorrow« sind bemerkenswert reich an dem, was Gerard Manley Hopkins als »grammatische *Figuren« 40 und »Lautfiguren« entwickelt hat, und es ist ihre beredte Symmetrie und ihr fühlbares Wechselspiel, die von einem durchsichtigen Symbolismus durchdrungen sind, denen diese lakonische, schlichte Geschichte einen Großteil ihrer mythologischen Kraft und Suggestivität verdankt. Der Zöllner Rousseau 41 ist mit Blake verglichen worden, und man sagte, er stünde ihm nah.42 Ein Achtzeiler dieses französischen Malers wird unser nächster Gegenstand sein.
II. Henri Rousseaus poetischer Appendix zu seinem letzten Bild 43 J’ai conserve´ ma naivete´ 〈…〉 Je ne pourrai maintenant changer ma manie`re que j’ai acquis par un travail opiniaˆtre.44 Henri Rousseau an Andre´ Dupont, 1. April 1910
39 Der Bezug auf die Technik der Überblendung im Filmschnitt findet sich auch in Jakobson, »›Si nostre vie‹. Observations sur la Composition & Structure de Motz dans un sonnet de Joachim Du Bellay«, S. 266 (vgl. die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 593), und in seiner Cummings-Analyse: Jakobson / Waugh, »Inferences from a Cummings Poem«, S. 228 (vgl. die dt. Übs. in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 722). [Anm. d. Übs./Komm.] 40 »Figures of grammar« vs. »figures of sound«. Gerard Manley Hopkins (1844–1889): brit. Dichter, der für seine Innovationen auf der Ebene der metrischen Gestaltung, insbesondere für die Entwicklung des von ihm so genannten »sprung rhythm« berühmt wurde, der sich dem natürlichen Rederhythmus anzunähern versucht. Vgl. besonders den Essay »Rhythm and the Other Structural Parts of Rhetoric – Verse«, in: Hopkins, The Journals and Papers, S. 267–288, sowie Jakobson, »Linguistics and Poetics«, und die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 154–216, wo Jakobson im selben Zusammenhang wiederholt auf Hopkins Bezug nimmt. [Anm. d. Übs./Komm.] 41 Den Spitznamen Henri Douanier (Zöllner) verdankt Rousseau seiner Arbeit im Pariser Zollamt während der Jahre 1871–93. [Anm. d. Übs./Komm.] 42 Siehe Frye, Fearful Symmetry: A Study of William Blake, S. 105. 43 Der folgende Abschnitt entspricht im wesentlichen der Übersetzung von Dieter Münch (Jakobson, »Henri Rousseaus poetischer Zusatz zu seinem letzten Bild«). [Anm. d. Übs.] 44 ›Ich habe meine Naivität bewahrt 〈…〉 Ich könnte meinen Stil [manie`re] jetzt nicht
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Kurz vor seinem Tod (2. September 1910) stellte der Künstler im Salon des Inde´pendents (18. März – 1. Mai desselben Jahres) ein einziges Gemälde, mit dem Titel Der Traum, aus und schrieb an Guillaume Apollinaire: »J’ai envoye´ mon grand tableau, tout le monde le trouve bien, je pense que tu vas de´ployer ton talent litte´raire et que tu me vengeras de toutes les insultes et affronts rec¸us« (11. März 1910).45 In seinem Gedenkaufsatz Le douanier [›Der Zöllner‹] berichtet Apollinaire, daß Rousseau seine frühe polnische Liebe, Yadwigha (= Jadwiga), nie vergessen habe, »die ihn zu Der Traum, seinem Meisterwerk inspiriert hatte«,46 das sich gegenwärtig im Besitz des Museum of Modern Art in New York befindet; und unter den wenigen Beispielen für die poetischen Betätigungen des Malers (»nette poetische Brocken« 47 ) ergänzt seine »Inscription pour Le Reˆve« [›Inschrift zu Der Traum‹] Apollinaires Essay: 1 2 3 4 5 6 7 8
Yadwigha dans un beau reˆve S’e´tant endormie doucement Entendait les sons d’une musette Dont jouait un charmeur bien pensant. Pendant que la lune refle`te Sur les fleuves, les arbres verdoyants, Les fauves serpents preˆtent l’oreille Aux airs gais de l’instrument.
Eine wörtliche Übersetzung könnte folgendermaßen aussehen: ändern, den ich mir durch hartnäckige Arbeit erworben habe.‹ – Der Brief an den Kunstkritiker Andre´ Dupont hat Rousseaus Bild Le Reˆve zum Gegenstand. Er findet sich in einer von Apollinaire besorgten Sammlung von Briefen des Malers, die in einer Gedenkausgabe der 1912 gegründeten Kunstzeitschrift Les Soire´es de Paris anläßlich von Rousseaus Tod erschien: [Rousseau], »Lettres du peintre Henri Rousseau le Douanier«, S. 57. Vgl. Sylvia Plaths Bezugnahme auf diesen Brief in ihrem Gedicht »Yadwigha, on a Red Couch, Among Lilies. A Sestina for the Douanier«. [Anm. d. Übs./Komm.] 45 [Rousseau], »Lettres du peintre Henri Rousseau le Douanier«, S. 56. [Anm. v. R.J.] – ›Ich habe mein großes Bild eingereicht, alle finden es gut, ich denke, daß Du Dein literarisches Talent entfalten wirst und daß Du mich für alle empfangenen Beleidigungen und Kränkungen rächen wirst.‹ [Anm. d. Übs.] 46 Apollinaire, »Le Douanier«, S. 11, und Rousseau, »Inscription pour Le Reˆve«, S. 65. [Anm. v. R.J.] – Das erste Zitat aus Apollinaires Essay »Le Douanier«, das die biographischen Hintergrundinformationen enthält, lautet im Zusammenhang: »Il avait aime´ toute sa vie, d’abord une Polonaise, Yadwigha, qu’il n’oublia jamais et qui lui inspira Le Reˆve, son chef-d’œuvre.« [Anm. d. Übs./Komm.] 47 Apollinaire, »Le Douanier«, S. 11. [Anm. v. R.J.] – ›gentils morceaux de poe´sie‹. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Yadwigha in einem schönen Traum Nachdem sie sanft eingeschlafen war Hörte die Töne einer Musette 48 Die ein wohlmeinender [Schlangen-]Beschwörer spielte. Während der Mond widerspiegelte Auf den Flüssen die grünenden Bäume Schenkten die wilden Schlangen ihr Ohr Den fröhlichen Weisen des Instruments.
Dieser Achtzeiler wurde von dem Maler auf eine kleine vergoldete Tafel als »Erklärung« zu diesem Gemälde geschrieben, denn nach Arse`ne Alexandres Bericht über seinen Besuch bei dem Künstler, der in Comoedia am 19. März 1910 veröffentlicht wurde, erklärte Rousseau, daß Gemälde eine Erklärung benötigen: »Die Leute verstehen nicht immer, was sie sehen 〈…〉 es ist immer besser mit einigen Versen.« 49 Im Catalogue de la 26 me Exposition der Socie´te´ des artistes inde´pendants 50 [›Katalog der 26ten Ausstellung‹ der ›Gesellschaft der unabhängigen Künstler‹] wird der Eintrag zu »4468 Le Reˆve« ebenfalls von diesen Versen begleitet; sie sind jedoch mit groben Fehlern und Verfälschungen abgedruckt: z. B. Yadurgha,51 so daß Apollinaires Version und der gleichlautende Text in W. Uhdes Henri Rousseau (Paris 1911) noch am zuverlässigsten zu sein scheint.52 Die vier geraden, *›männlichen‹ Zeilen des Gedichts enden mit genau dem gleichen *Nasalvokal, während die vier ungeraden, ›weiblichen‹ 53 Zeilen auf eine geschlossene Silbe mit einer kurzen oder langen Variante des [e] als Silbenkern enden. Unter den unreinen Reimen, die in den beiden Versgruppen vorkommen, zeigen jene, welche die beiden inneren Verspaare zusammenhalten (v. 3–4 mit 5–6), und die Reime der äußeren Verspaare (v. 1–2 mit 7–8) eine zusätzliche Ähnlichkeit zwischen den Reimwörtern im Vergleich mit den Reimen innerhalb der Vierzeiler: In den äußeren Verspaaren wird die vollständige Identität der Silbenvokale 48 Eine Musette ist ein für den höfischen Geschmack verfeinerter Dudelsack. [Anm. d. Übs./Komm.] 49 Alexandre, »La vie et l’œuvre d’Henri Rousseau. Peintre et ancien employe´ de l’Octroi«, S. 3. [Anm. d. Übs./Komm.] – Siehe Vallier, Tout l’œuvre peint de Henri Rousseau, S. 10. [Anm. v. R.J.] 50 Socie´te´ des artistes inde´pendants. Catalogue de la 26 me exposition 1910, S. 294. 51 Zudem heißt es sowohl in Alexandres Zeitungsbericht wie im Ausstellungskatalog in v. 6: »fleurs« statt »fleuves«. [Anm. d. Übs./Komm.] 52 Uhde, Henri Rousseau, S. 44. [Anm. d. Übs./Komm.] 53 Von ›weiblichen‹ Versen spricht man in der französischen Metrik, da die weiblichen Suffixe in früherer Rezitationspraxis tatsächlich als unbetonte Silben ausgesprochen wurden. [Anm. d. Übs./Komm.]
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verstärkt durch einen unterstützenden prävokalischen Konsonanten (1 reˆve [›Traum‹] – 7 oreille [›Ohr‹]; 2 doucement [›sanft‹] – 8 instrument [›Instruments‹]), und in den inneren Verspaaren wird eine ähnliche vokalische Identität unterstützt durch den postvokalischen Konsonanten der *weiblichen Reime (3 musette [›Musette‹] – 5 refle`te [›widerspiegelte‹]) oder durch die auffallende grammatische Identität der *männlichen Reime (4 pensant [›wohlmeinender‹] – 6 verdoyants [›gründenden‹], die einzigen Partizipialformen im Gedicht). Wie bereits die Reime unterstreichen, vollzieht der Achtzeiler eine ganz klare Trennung in äußere (I, IV) und innere Verspaare (II, III). Jedes der beiden Verspaare enthält die gleiche Anzahl von sechs Substantiven mit der gleichen Aufspaltung in vier Maskulina und zwei Feminina. Sowohl die Anfangs- wie die Schlußzeile in jedem der beiden Paare von Doppelversen 54 enthält zwei Substantive: ein Femininum und ein Maskulinum in der Anfangszeile (1 Yadwigha [f.], reˆve [›Traum, m.‹]; 3 sons [›Töne, m.‹], musette [›Musette, f.‹]), zwei Maskulina in der Schlußzeile (8 airs, instrument [›Weisen, Instrument‹]; 6 fleuves, arbres [›Flüssen, Bäume‹]). Die globale Symmetrie,55 die sich in den Substantiven der äußeren und inneren Verspaare zeigt, wird von der Verteilung zwischen den ungeraden und geraden oder vorderen und hinteren Verspaaren nicht weiter unterstützt, hingegen enthalten die beiden inneren Verspaare ein und dieselbe Anzahl von drei Substantiven in spiegelsymmetrischer Anordnung (II: 3 sons, musette [›Töne, Musette‹], 4 charmeur [›Beschwörer‹]; III: 5 lune [›Mond‹], 6 fleuves, arbres [›Flüssen, Bäume‹]), und dementsprechend ist das Verhältnis zwischen den Substantiven der geraden und ungeraden Verspaare – sieben zu fünf – genau dasselbe wie das Verhältnis zwischen den Substantiven der hinteren und vorderen Verspaare. Jeder der beiden Vierzeiler enthält einen Satz mit zwei Subjekten und zwei finiten Prädikaten. Jedes Verspaar des Achtzeilers enthält ein Subjekt, während in der Verteilung der finiten Formen – drei zu eins – die geraden Verspaare das gleiche Verhältnis zu den ungeraden aufweisen wie die inneren zu den äußeren Verspaaren. 54 Gemeint sind die von Jakobson gebildeten ›Vierzeiler‹ I + IV und II + III. [Anm. d. Übs./Komm.] 55 Jakobson definiert globale und regionale Symmetrie im ersten Teil dieses Aufsatzes (s. o., S. 8) folgendermaßen: »Die globale Symmetrie, die beide Verspaare einer Klasse mit zwei Verspaaren der entgegengesetzten Klasse gleichsetzt, nämlich I + II = III + IV oder I + III = II + IV oder I + IV = II + III, unterscheidet sich von der regionalen Symmetrie, die eine Gleichung zwischen den Verspaaren innerhalb einer der beiden entgegengesetzten Klassen etabliert, nämlich I = III und II = IV oder I = IV und II = III.« [Anm. d. Übs./Komm.]
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Die Subjekte der äußeren Verspaare gehören zu den beiden Hauptsätzen des Gedichts, während die beiden Subjekte der inneren Verspaare Teile von Nebensätzen sind. Die Hauptsubjekte 56 leiten die Zeile ein (1 Yadwigha dans un beau reˆve [›Yadwigha in einem schönen Traum‹]; 7 Les fauves serpents [›Die wilden Schlangen‹]), im Gegensatz zur nicht einleitenden Stellung der untergeordneten Subjekte (4 Dont jouait un charmeur [›Die spielte ein Beschwörer‹]; 5 que la lune [›während der Mond‹]). Die femininen Subjekte tauchen in den ungeraden Verspaaren des Achtzeilers auf, die maskulinen Subjekte in den geraden. So ist in jedem Vierzeiler das erste Subjekt feminin und das zweite maskulin: 1 Yadwigha [›Yadwigha‹] – 4 charmeur [›Beschwörer‹]; 5 lune [›Mond‹] – 7 serpents [›Schlangen‹]. Folglich sind beide vorderen Verspaare (der erste Vierzeiler des Gedichts) mit dem femininen *Genus ihres Hauptsubjekts Yadwigha und dem maskulinen Genus ihres untergeordneten Subjekts charmeur [›Beschwörer‹] den hinteren Verspaaren (zweiter Vierzeiler) diametral entgegengesetzt, wo das Hauptsubjekt serpents [›Schlangen‹] maskulin und das untergeordnete Subjekt lune [›Mond‹] feminin ist. Das persönliche (menschliche) Geschlecht unterscheidet die grammatischen Subjekte der vorderen Verspaare (1 Yadwigha, 4 charmeur [›Beschwörer‹]) von den nicht-persönlichen Subjekten der hinteren Verspaare (5 lune [›Mond‹], 7 serpents [›Schlangen‹]). Diese Angaben lassen sich in einem Schaubild wiedergeben, wobei die kursiven Eintragungen die Plazierung der vier Subjekte in der Komposition des Achtzeilers bezeichnen, jene in Grundschrift ihre grammatischen Eigenschaften: gera
de
innere Nebensätze
vordere persönlich
CHARMEUR
äußere YADWIGHA Hauptsätze
ung
erad
hintere nicht-persönlich
. fem
LUNE
SERPENTS
e
56 Gemeint sind die Subjekte der Hauptsätze. [Anm. d. Übs./Komm.]
ma sk.
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Diese Verteilung der vier grammatischen Subjekte erweist sich als übereinstimmend mit der relativen Verteilung ihrer piktorialen Referenten auf Rousseaus Gemälde (siehe Abbildung).57 links
rechts
oberer Hintergrund
unterer Vordergrund
l, r
hel
und
dun kle r, z uge spi tzt
Die gemalten Figuren der Vordergrundflächen werden im Gedicht durch die Plazierung der Hauptsubjekte in den getrennten, äußeren Verspaaren wiedergegeben, während die Hintergrundfiguren, die im Gemälde nach oben gerückt und verkürzt 58 sind, untergeordnete Subjekte bilden, die den benachbarten, inneren Verspaaren des Achtzeilers zugewiesen werden.59 Tristan Tzaras anregender Essay, der als Vorwort zur Ausstellung von Henri Rousseaus Gemälden in der Sydney Janis Gallery (New York, 1951) veröffentlicht wurde, behandelt »Die Rolle von Zeit und Raum in seinem Werk« und verdeutlicht die Relevanz und Eigenart der »Perspektive, wie Rousseau sie aufgefaßt hat«, insbesondere einen bedeutsamen Zug seiner großen Kompositionen: eine Reihe von Bewegungen, aufgespalten »in individuelle Elemente, wahrhaftige Zeitscheiben, die durch eine Art arithmetischer Operation miteinander verbunden sind.« 60 57 Mein Dank gilt dem Museum of Modern Art in New York für die ausgezeichnete Reproduktion von »Der Traum« und für die freundliche Druckerlaubnis; ebenso gilt mein Dank der Kuratorin des Museums, Betsy Jones, für ihre unbezahlbaren Informationen. [Anm. v. R.J.] – Zur Problematik der Überblendung von Text- und Bildstruktur vgl. o. Einleitung, S. 2. [Anm. d. Übs./Komm.] 58 Zur Problematik dieser These einer perspektivischen Verkürzung in Rousseaus Raumdarstellung vgl. o. Einleitung, S. 2. [Anm. d. Übs./Komm.] 59 Dies setzt eine graphisch-räumliche Markierung des Gedichttextes voraus, wie sie in Beispielen intermedial operierender Lyrik zu finden ist (vgl. Greber, Textile Texte). Jakobson zufolge ist dies bereits durch die Unterscheidung von inneren und äußeren Verspaaren gegeben. Demzufolge würden die inneren Verspaare von Rousseaus Achtzeiler auf einen perspektivischen Fluchtpunkt zulaufen. [Anm. d. Übs./Komm.] 60 Vgl. Tzara, »Le Roˆle du temps et de l’espace dans l’œuvre du Douanier Rousseau«, S. 325.
Rousseau, Henri (1844–1910): The Dream, 1910. New York, Museum of Modern Art (MoMA). Oil on canvas, 6’ 8¢” x 9’ 9¢ ” (204,5 x 298,5 cm). Gift of Nelson A. Rockefeller. 252. 1954. © 2005. Digital image, The Museum of Modern Art, New York / Scala, Florence
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Während sich der Beschwörer und der Vollmond dem Betrachter zuwenden, sind die Profilfiguren Yadwighas und der Schlange einander zugewandt; die Windungen der Schlange verlaufen parallel zur Kurve von Hüfte und Bein der Frau, und die vertikalen grünen Farne ragen unter diesen beiden Kurven heraus und zeigen auf Yadwighas Hüfte und die obere Windung des Reptils. Tatsächlich hebt sich diese helle und schlanke Schlange vom Hintergrund einer anderen, dickeren, schwarzen und kaum unterscheidbaren Schlange 61 ab; letztere spiegelt die Haut des Beschwörers wider, während die erstere der Farbe eines Streifens in seinem vielfarbigen Gürtel entspricht. Die blauen und violetten Blumen blühen oberhalb von Yadwigha und den beiden Schlangen. Im Gedicht verknüpfen zwei parallele Konstruktionen die Heldin mit den Reptilien: 3 Entendait les sons d’une musette [›Hörte die Töne einer Musette‹] und 7 preˆtent l’oreille 8 Aux airs gais de l’instrument [›7 schenkten ihr Ohr 8 Den fröhlichen Weisen des Instruments‹]. Einige herausfordernde Fragen zum grammatischen Geschlecht tauchen in diesem Zusammenhang auf. Auf die beiden femininen Subjekte des Gedichts antwortet das Gemälde mit zwei hervorstechenden Eigenschaften, die charakteristisch für Yadwigha und den Mond (la lune, f.) sind: ihre unterschiedliche Bleichheit im Vergleich mit den tieferen Farben der Umgebung und besonders des Beschwörers und der Reptilien, und die ähnliche Rundung des Vollmonds und der weiblichen Brüste im Vergleich zu dem zugespitzten Körper der hellen Schlange und der Schalmei des Beschwörers. Die »sexuisemblance« 62 [›Geschlechtsähnlichkeit‹] des femininen und maskulinen Genus,63 die von allen Sprechern der französischen Sprachgemeinschaft erfahren wird, wurde deutlich und ausführlich von J. Damourette und E. Pichon im ersten Band ihres historischen Werkes Des mots a` la Pense´e – Essai de Grammaire de la Langue Franc¸aise,64 Kap. 4, untersucht: 61 Ob es sich tatsächlich auf dem Gemälde um zwei Schlangen oder – wie in Eva und die Schlange (s. u., Anm. 71) – nur um eine handelt, kann nicht zweifelsfrei festgestellt werden. Jakobsons Entscheidung für zwei Schlangen mag mit der Pluralform im Gedicht zusammenhängen (»serpents«, v. 7). [Anm. d. Übs./Komm.] 62 Bereits in seiner 1964 entstandenen Kra´l-Analyse hat Jakobson auf das Phänomen der sexuisemblance Bezug genommen. Vgl. Jakobson, »The Grammatical Structure of Janko Kra´l’s Verses«, in: SW III, S. 482–498, hier: S. 496, und die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 319–353, hier: S. 346. [Anm. d. Übs./Komm.] 63 Zur Rolle des grammatischen Geschlechts in der Mythologie und Dichtung einzelner Sprachgemeinschaften vgl. Jakobson, »On Linguistic Aspects of Translation«, S. 265 f.; dt. Übs.: »Linguistische Aspekte der Übersetzung«, S. 489 f. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Roman Jakobson
Tous les substantifs nominaux franc¸ais sont masculins ou fe´minins: c’est la` un fait incontestable et inconteste´. L’imagination nationale a e´te´ jusqu’a` ne plus concevoir de substances nominales que contenant en elles-meˆmes une analogie avec l’un des deux sexes; de sorte que la sexuisemblance arrive a` eˆtre un mode de classification ge´ne´rale de ces substances 65 〈…〉 Elle a dans le parler, donc dans la pense´e, de chaque Franc¸ais un roˆle de tout instant 66 〈…〉 Cette re´partition n’a e´videmment pas un caracte`re purement intellectuel. Elle a quelque chose d’affectif 〈…〉 La sexuisemblance est tellement nettement une comparison avec le sexe que les vocables franc¸ais fe´minins en arrivent a` ne pouvoir au figure´ eˆtre compare´s qu’a` des femmes.67 〈…〉 Le re´partitoire de sexuisemblance est le mode d’expression de la personnification des choses.68
Es ist bemerkenswert, daß die vier Feminina in Rousseaus Gedicht mit den vier ungeraden Zeilen verknüpft sind. Sie beginnen die Zeile, wenn sie als grammatische Subjekte in den ungeraden Verspaaren fungieren, und sie beschließen die Zeile, wenn sie als *Modifikatoren in den geraden Verspaaren dienen. Die zwingende Verknüpfung des femininen Genus mit ungeraden, d. h. ›weiblichen‹, Versen verlangt nach einer Deutung. Die Tendenz, feminine und maskuline Formen durch das geschlossene und offene Wortende 69 zu unterscheiden, schafft eine Assoziation zwischen der Schlußsilbe des Verses, geschlossen oder offen, und dem Genus, feminin oder maskulin. Auch der Ausdruck ›weibliche Reime‹, der sogar in fran64 Damourette /Pichon, Des Mots a` la Pense´e. Essai de grammaire de la Langue fran¸caise, Bd. 1, S. 354–423. 65 A. a. O., § 302 (S. 355). [Anm. v. R.J.] – ›Alle substantivischen Nomina im Französischen sind maskulin oder feminin: dies ist eine unbestreitbare und unbestrittene Tatsache. Die nationale Einbildungskraft ist so weit gegangen, das Wesen der Nomina nur noch so wahrzunehmen, als enthielten sie in sich selbst eine Analogie mit einem der beiden Geschlechter [»sexes«]; auf diese Weise wurde die Geschlechtsähnlichkeit [»sexuisemblance«] zu einer allgemeinen Klassifikationsweise dieser Wesen.‹ [Anm. d. Übs./Komm.] 66 A. a. O., § 306 (S. 361). [Anm. v. R.J.] – ›Sie [die Geschlechtsähnlichkeit] spielt im Sprechen, und also im Denken, jedes Franzosen, eine allgegenwärtige Rolle.‹ [Anm. d. Übs./Komm.] 67 A. a. O., § 307 (S. 364 u. 366). [Anm. v. R.J.] – ›Diese Verteilung hat offensichtlich keinen rein intellektuellen Charakter. Sie hat etwas affektives. 〈…〉 Die Geschlechtsähnlichkeit impliziert so deutlich einen Vergleich mit dem Geschlecht [»sexe«], daß die weiblichen französischen Wörter im übertragenen Sinne nur mit Frauen verglichen werden können.‹ [Anm. d. Übs./Komm.] 68 A. a. O., § 309 (S. 368). [Anm. v. R.J.] – ›Entsprechend dem Kategoriensystem der Geschlechtsähnlichkeit werden Dinge *personifiziert.‹ [Anm. d. Übs./Komm.] 69 A. a. O., § 272 (S. 310 f.). [Anm. v. R.J.] – Zum Begriff des weiblichen Reims s. o., Anm. 53. [Anm. d. Übs./Komm.]
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zösischen Schulbüchern gängig ist, mag die Verteilung der femininen Substantive in diesen Zeilen begünstigt haben.70 In Rousseaus Versen liegt der Verteilung der Genera ein dissimilatives Prinzip zugrunde. Das nächstliegende Objekt des Verbs gehört zu dem Genus, das dem des Subjekts des jeweiligen Teilsatzes entgegengesetzt ist, und wenn ein weiterer regierter Modifikator vorkommt, ob adverbal oder adnominal, behält er das Genus des Subjekts; auf diese Weise erfährt die Rolle der Genera im Gedicht eine besondere Akzentuierung; 1 Yadwigha (f.) 〈…〉 3 entendait les sons (m.) d’une musette (f.) [›1 Yadwigha 〈…〉 3 hörte die Töne einer Musette‹]; 4 Dont 〈auf musette (f.) bezogen〉 jouait un charmeur (m.) [›Die spielte ein Beschwörer‹]; 5 la lune (f.) refle`te 6 〈…〉 les arbres (m.) [›der Mond widerspiegelt 6 〈…〉 die Bäume‹]; 7 Les fauves serpents (m.) preˆtent l’oreille (f.) 8 Aux airs gais (m.) [›7 Die wilden Schlangen schenkten ihr Ohr 8 Den Weisen fröhlichen‹]. Der Vordergrund in Rousseaus Gemälde und Gedicht gehört Yadwigha und den Schlangen; man denkt unmittelbar an Eve, sein nur wenig früher entstandenes Gemälde, mit seinem erstaunlichen Duett zweier Profile, der nackten Frau und der Schlange.71 Diese Hierarchie der dramatis personae wurde jedoch von den Kritikern übersehen. So sah Apollinaires Lobrede vom 18. März 1910 (»Von diesem Gemälde strömt Schönheit aus« 72 ) die nackte Frau auf dem Sofa, um sie herum tropische Vegetation mit Paradiesvögeln und Affen, einen Löwen, eine Löwin und einen flötenden Neger – »eine rätselhafte Figur«.73 Doch die Schlangen und der Mond blieben unerwähnt. Auch Jean Bouret 74 beschränkt seine Besprechung der kompositorischen Anordnung in Der Traum auf den Flötenspieler, den Tiger (?),75 den Vogel und die liegende Frau. Diese Beobachter halten am linken größeren Teil des Gemäldes inne, ohne zum 70 Der Nexus ›weiblicher Reim‹ bzw. ›weiblicher Vers‹ – ›weibliches Substantiv‹ liegt freilich nur tendenziell vor: Schließlich findet sich mit 1 reˆve, 3 sons und 7 serpents in drei der vier ›weiblichen Verse‹ neben dem Femininum jeweils auch ein Maskulinum. [Anm. d. Übs./Komm.] 71 Vgl. Vallier, Toute l’œuvre peint, pl. XXV. [Anm. v. R.J.] – Gemeint ist Rousseaus Gemälde Eve et le serpent (1904–05), Hamburger Kunsthalle (Abb. in Adriani, Henri Rousseau, S. 155); vgl. auch Rousseaus Le charmeur de serpent (1907), Musee d’Orsay, Paris. [Anm. d. Übs./Komm.] 72 Apollinaire, »Prenez garde a` la peinture!«, S. 76. [Anm. v. R.J.] – ›De ce tableau se de´gage de la beaute´‹. [Anm. d. Übs./Komm.] 73 Ebd. ›personnage de myste`re‹. [Anm. d. Übs./Komm.] 74 Bouret, Henri Rousseau, S. 50. 75 Bouret führt neben Flötenspieler und Vogel tatsächlich den »tigre« auf. [Anm. d. Übs./Komm.]
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kleineren rechten Teil, dem Thema des zweiten Vierzeilers, vorzudringen. Das erste Stadium der Betrachtung des Gemäldes ist, natürlich, seine linke Seite: »diese auf einem Sofa eingeschlafene Frau«, die träumt, sie sei »in diesen Wald« versetzt worden, »wo sie die Töne des Instruments des Beschwörers hört«, entsprechend der Erläuterung des Bildes durch den Maler.76 Von Yadwigha und dem geheimnisvollen Verführer wechselt der Brennpunkt zum zweiten Flügel des Diptychons, der von dem ersten durch eine blaue Blume auf einem langen Stiel getrennt ist, die eine Parallele zu einer ähnlichen Pflanze links von der Heldin bildet.77 Die narrative Ordnung und die sukzessive Wahrnehmung und Zusammenschau des Gemäldes Der Traum 78 finden ihre prägnante Übereinstimmung im Übergang vom ersten Vierzeiler mit seinen zwei parallelen Imperfekten – oder präsentischen Präterita, in L. Tesnie`res Terminologie 79 – (3 entendait [›hörte‹] – 4 jouait [›spielte‹]) zu den beiden reimenden Präsensformen des zweiten Vierzeilers (5 refle`te [›widerspiegelte‹] – 7 preˆtent [›schenkten‹]) und in der Einsetzung von lauter bestimmten Artikeln (5 la lune [›der Mond‹], 6 les fleuves, les arbres [›die Flüsse, die Bäume‹], 7 les serpents, l’oreille [›die Schlangen, das Ohr‹], 8 aux airs, l’instrument [›den Weisen, des Instruments‹]) anstelle der unbestimmten, welche, mit der einzigen Ausnahme von 3 les sons [›die Töne‹], den vorausgehenden Vierzeiler dominieren (1 un reˆve [›ein Traum‹], 3 une musette [›einer Musette‹], 4 un charmeur [›ein Verführer‹]). In Rousseaus poetischer wie auch bildnerischer Komposition wird die dramatische Handlung von den vier Subjekten des Gedichts und ihren visuellen Referenten auf der Leinwand getragen. Wie oben skizziert, sind sie alle durch drei vom Maler-Dichter deutlich ausgedrückte *binäre Kontraste miteinander verknüpft. Diese Kontraste transformieren das ungewöhnliche Quartett in sechs entgegengesetzte Paare, welche die verbale und graphische Handlung determinieren und variieren. In der »Inscription« ist jedes der vier Subjekte mit einer weiteren kategorialen Eigenschaft 76 Siehe [Rousseau], »Lettres du peintre Henri Rousseau le Douanier«, S. 57. 77 Angesichts der zahlreichen Bildelemente, die Rousseaus Gemälde vertikal strukturieren, ist die von Jakobson vorgeschlagene Zweiteilung des Bildes nicht zwingend. [Anm. d. Übs./Komm.] 78 Vgl. Lurija, Vyssˇie korkovye funkcii ˇceloveka i ich narusˇenija pri lokal’nych porazˇenijach mozga. [Anm. v. R.J.] – Jakobson bezieht sich hier vermutlich auf die Abschnitte zur narrativen Kohärenzbildung, vgl. die englische Übersetzung Higher Cortical Functions in Man and Their Disturbances in Local Brain Lesions, S. 518–527. [Anm. d. Übs./Komm.] 79 Tesnie`re, E´le´ments de syntaxe structurale. [Anm. v. R.J.] – Stelle konnte nicht ermittelt werden. [Anm. v. I.M.]
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ausgestattet, welche sie mit den drei anderen entsprechenden Größen kontrastiert: Yadwigha ist der einzige Eigenname im Gedicht; un charmeur [›ein Beschwörer‹] sein einziges persönliches *Appellativum; les serpents [›die Schlangen‹] sein einziger belebter Plural; und la lune [›der Mond‹] das einzige unbelebte unter den vier Subjekten. Diese Mannigfaltigkeit wird durch den Unterschied der Artikel begleitet – den Nullartikel 80, der den Eigennamen signalisiert, das indefinite un [›ein‹], gefolgt vom Plural les [›die‹] und vom femininen la [›die‹] des bestimmten Artikels. Ein vielfältiges Zusammenspiel gleichzeitiger Ähnlichkeiten und Divergenzen liegt dem geschriebenen und gemalten Traum zugrunde und belebt ihn in all seinen Facetten: Das von den Melodien eines dunklen Beschwörers unterbrochene Schweigen der mondbeleuchteten Nacht; die Magie von Mondschein und musikalischem Zauber; der Mondscheintraum des weiblichen Wesens; zwei Zuhörer der magischen Melodien, Frau und Schlange 81, beide einander fremd und verlockend; die Schlange als legendärer Versucher der Frau und tief verwurzeltes Ziel des Schlangenbeschwörers und andererseits der maximale Kontrast und die mysteriöse Affinität zwischen der blassen Yadwigha auf ihrem altmodischen Sofa und dem wohlmeinenden tropischen Flötenspieler inmitten seines Urwalds; und, zusätzlich zu all diesem, die in den Augen des Bewohners der 2bis, rue Perrel 82 zugleich exotische und verlockende Tönung des afrikanischen Magiers und der polnischen Zauberin mit ihrem komplizierten Namen. Was den Löwen betrifft, der von einer Löwin begleitet, im Gedicht aber ausgespart wird, so gehört er im Gemälde zum Dreieck des Flötenspielers, dessen »Scheitelpunkt« wie Bouret bemerkt, nach unten weist.83 Dieses frontale Gesicht scheint ein Doppelgänger des darüber gelegenen Beschwörers zu sein, und ähnlich sieht auch der helle halbgesichtige Vogel über Yadwigha wie ihr Doppelgänger aus. Dagegen hat sich bei dem 80 Vgl. Jakobsons Aufsätze »Signe Ze´ro« und »Das Nullzeichen«. [Anm. d. Übs./ Komm.] 81 Während Jakobson sonst im Verlauf der Analyse Wert darauf legt, daß auf dem Bild – analog zur Pluralform im Gedicht – zwei Schlangen dargestellt sind (s. o., S. 25 u. ö.), ist hier nur noch von einer Schlange die Rede. Dies hängt offenbar mit dem Übergang von der Strukturbeschreibung zur semantischen Interpretation zusammen, die im Falle der Schlange auf ein Mythologem zurückgreift, das notwendig an den Singular gekoppelt ist: den biblischen Versucher (s. o., Anm. 61). [Anm. d. Übs./Komm.] 82 Seit 1906 Wohnsitz und Atelier Rousseaus im 14. Pariser Arrondissement. [Anm. d. Übs./Komm.] 83 Bouret, Henri Rousseau, S. 50.
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ikonographischen Vergleich von Rousseaus Gemälde und Gedicht unsere Aufmerksamkeit auf ihren gemeinsamen Nenner konzentriert, der trotz unterschiedlicher Requisiten – so in den Versen die Flüsse, welche die Bäume spiegeln, oder die zoologische Vielfalt im Gemälde – leicht zu erkennen ist. Wie Blakes »Infant Sorrow« verknüpft Rousseaus Achtzeiler, um den Zusammenhalt der eindrücklich unterschiedlichen Verspaare zu gewährleisten, diese mit engen phonologischen Banden zwischen den geraden und den darauffolgenden ungeraden Zeilen: /2 seta˜ ta˜dɔrmi dusma˜t 3 a ˜ ta˜de/; /4 pa˜sa˜ 5 pa˜da˜/. Zudem werden die letzten beiden Verspaare noch durch eine spürbare Lauttextur miteinander verbunden: 6 les fleuves – 7 Les fauves (mit entsprechenden * gerundeten Vokalen); 6 sur 〈…〉 les arbres – 7 serpents preˆtent (wo das Phonem /R/ mit *dentalen Dauerlauten und *labialen *Verschlußlauten alterniert). In meiner offenkundigen Schlußfolgerung stütze ich mich auf Vratislav Effenberger,84 den tschechischen Experten für Henri Rousseaus Werk, der es als »ein Zeichen der einsetzenden Symbiose zwischen Malerei und Dichtung« definiert. Eine ähnliche Bewertung Paul Klees durch Carola Giedion-Welcker – in diesem Künstler »ist der Dichter mit dem Maler eng verknüpft« 85 – führt uns nun zu Klees poetischem Nachlaß.
III. Paul Klees Achtzeiler 86 Sprache ohne Vernunft 〈…〉 Hat die Inspiration Augen oder schlafwandelt sie? Das Kunstwerk als Akt: Eine Teilung der Zehen in drei Teile: 1 + 3 + 1. Aus Klees Tagebüchern von 1901 (Nr. 183, 310) 87
Das Gedicht des Malers aus dem Jahre 1903 über Tiere, Götter und Menschen, nach Gewohnheit des Autors ohne jede vertikale Anordnung 84 Effenberger, Henri Rousseau, S. 15. 85 Anthologie der Abseitigen, S. 94. [Anm. v. R.J.] – Giedion-Welcker druckt verschiedene Gedichte des Malers ab; nicht jedoch das vorliegende. [Anm. d. Übs./ Komm.] 86 Der folgende Abschnitt entspricht im wesentlichen der Übersetzung von Grete Lübbe-Grothues (Jakobson, »Der Maler Paul Klee als Dichter«). [Anm. d. Übs./ Komm.] 87 Klee, Tagebücher, S. 64 f. u. 80. [Anm. v. R.J.] – Vgl. Klee, Tagebücher. Textkritische Neuedition, S. 73 u. 92. [Anm. d. Übs./Komm.]
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der Verse niedergeschrieben, zeigt gleichwohl eine deutlich hervortretende rhythmische Einteilung in acht Zeilen von je zwei Halbversen; 88 der zweite Halbvers der ersten und dritten Zeile trägt drei, jeder andere Halbvers zwei starke *Wortakzente.89 Tatsächlich sondert der Autor selbst die Zeilen dieses Gedichtes, indem er die Zwischenräume erweitert, besonders wenn diese Zeilen nicht durch ein Satzzeichen voneinander getrennt sind.90 1 2 3 4 5
Zwei Be´rge gı´bt es / auf denen 91 es he´ll ist und kla´r, den Be´rg der Tı´ere / und 92 den Be´rg der Gö´tter. Dazwı´schen aber 93 lı´egt / das dämmerige 94 Ta´l der Me´nschen. Wenn e´iner e´inmal / nach o´ben sı´eht, erfa´sst ihn a´hnend / eine 95 u´nstillbare 96 Se´hnsucht,
88 Zur Angreifbarkeit dieser Behauptung und der daraus resultierenden Infragestellung der gesamten Analyse des Klee-Textes vgl. die Einleitung (s. o., S. 3) und Donat, »Optische Rhythmen. Metriktheoretische Überlegungen zu Jakobsons Analyse einer Miniatur von Paul Klee«. – Vgl. Jakobsons Ilarion- und Palicyn-Analysen, in denen er ebenfalls Fließtexte als Gedichte behandelt. (Jakobson, »Gimn v Slove Ilariona o zakone i blgodati«, sowie ders., »Skorb’ pobivaemych u drov«, sowie die deutschen Übersetzungen in der vorliegenden Ausgabe.) [Anm. d. Übs./Komm.] 89 Aus der Plazierung der Akzente im Text wird nicht zweifelsfrei ersichtlich, was Jakobson unter ›starken Wortakzenten‹ versteht. Während die Auszeichnung der Tonsilben *lexikalischer Wörter unstrittig erscheint, ist die Behandlung der nichtlexikalischen Mehr- und Einsilbler uneinheitlich, ja ruft bisweilen direkten Widerspruch hervor. Jakobsons (alles andere als selbstverständliche) rhythmische Lesart wird deshalb in der Textwiedergabe auf der Basis von Wagenknecht, »Grundzüge der deutschen Prosodie«, kommentiert bzw. ergänzt. [Anm. d. Übs./Komm.] 90 Vgl. das Faksimile der Handschrift in Klee, Gedichte, S. 56. [Anm. v. R.J.] – Diese graphischen Differenzierungen sind aus dem Faksimile nicht klar ersichtlich. Zweifelsfrei erkennbar sind lediglich zwei größere Zwischenräume – bei Jakobson entsprechen sie den Versgrenzen 6/7 und 7/8. Die übrigen Versgrenzen plaziert er an eindeutigen syntaktischen Pausen, d. h. bei Punkten (2/3 und 3/4) und Kommata (1/2, 4/5 und 5/6). Den Beweis seiner These von einer bewußten graphischen ›Sonderung der Zeilen‹ durch Klee bleibt Jakobson schuldig. [Anm. d. Übs./ Komm.] 91 Gemäß Wagenknecht: de´nen. [Anm. d. Übs./Komm.] 92 Gemäß Wagenknecht: u´nd. Jakobson selbst spricht weiter unten (s. u., S. 33) davon, daß dieser zweite Halbvers »mit einer Hebung« beginnt. [Anm. d. Übs./ Komm.] 93 Gemäß Wagenkencht: a´ber. [Anm. d. Übs./Komm.] 94 Gemäß Wagenknecht: dä´mmerige. (So auch in der Übersetzung von Grete LübbeGrothues.) [Anm. d. Übs./Komm.] 95 Gemäß Wagenkecht: ´eine. Jakobson selbst spricht weiter unten (s. u., S. 33) davon, daß dieser zweite Halbvers »mit einer Hebung« beginnt. [Anm. d. Übs./Komm.] 96 Alternative: unstı´llbare. [Anm. d. Übs./Komm.]
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´ıhn, der we´iss, / dass e´r nicht 97 we´iss 7 nach ´ ıhnen die nicht 98 wı´ssen, / dass 99 sı´e nicht wı´ssen 8 u ´ nd nach ´ıhnen, / die wı´ssen dass 100 sie wı´ssen.101 6
Klees Zeichensetzung in der Handschrift dieses Gedichts läßt in den beiden letzten Zeilen einen bedeutsamen Unterschied in der rhythmischen Phrasierung der syntaktischen Fügungen entdecken: zunächst 7 nach ihnen die nicht wissen, dass sie nicht wissen, dann aber 8 und nach ihnen, die wissen dass sie wissen. Das Komma zeigt die unterschiedliche Stelle der Halbversgrenze in diesen beiden Zeilen. So erscheint das Lesen mit einer emphatischen Betonung der *antithetischen 102 Konjunktion – 8 u ´ nd nach ´ıhnen, / die wı´ssen dass sie wı´ssen – als das einzig richtige.
Paul Klee, Tagebuch III, Dezember 1903, Nr. 539, Zentrum Paul Klee, Bern. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Zentrums Paul Klee, Bern
Die Transkription dieses Gedichts in F. Klees Ausgabe der Tagebücher 103 und der Gedichte 104 seines Vaters paßt die Zeichensetzung des Künstlers leider der orthographischen Norm an. In der ersten der beiden Veröffentlichungen ist der Achtzeiler wie Prosa gedruckt, während er in der zweiten künstlich in zwölf Zeilen gebrochen erscheint; einige der Halbverse 97 Aus semantischen Gründen ist in v. 6 die Betonung von nicht viel näherliegender als die des *Pronomens er. [Anm. d. Übs./Komm.] 98 Auch hier erscheint die Betonung der Negationspartikel aus semantischen Gründen fast zwangsläufig. [Anm. d. Übs./Komm.] 99 In diesem zweiten Halbvers können prinzipiell sämtliche Einsilber eine syntaktische Betonung tragen. Die von Jakobson vorgeschlagene Betonung des Personalpronomens erscheint dabei noch am unwahrscheinlichsten, legt sie doch die wenig sinnvolle Lesart nahe, daß die Tiere zwar ›nicht wissen, daß sie nicht wissen‹, aber wohl wissen, daß jemand anderes nicht weiß. [Anm. d. Übs./Komm.] 100 Auch hier können beide Einsilber (dass und sie) eine Betonung tragen. [Anm. d. Übs./Komm.] 101 Vgl. Klee, Tagebücher. Textkritische Neuedition, S. 180. [Anm. d. Übs./Komm.] 102 Jakobson spricht hier von einer »antithetischen« Konjunktion, um die semantische Opposition der dadurch verbundenen Satzteile zu charakterisieren. [Anm. d. Übs./ Komm.] 103 Klee, Tagebücher, Nr. 539, S. 157. 104 Klee, Gedichte, S. 56.
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sind nämlich als ganze Zeilen behandelt, außerdem ist das *proklitische Eingangswort des zweiten Halbverses dem Ende des ersten Halbverses angehängt, z. B.: Dazwischen aber liegt das dämmerige Tal der Menschen. 105
Mit Ausnahme des zweiten, feierlich *amphibrachischen Halbverses der ersten Zeile – auf de´nen es he´ll ist und kla´r – weisen die Verse des Gedichtes einen zweisilbigen, vorwiegend jambischen Rhythmus auf.106 Der erste Halbvers, dipodisch 107 in sechs und tripodisch in zwei Zeilen, verliert seinen *Auftakt in zwei Fällen: 6 ´ıhn, der we´iß; 8 u´nd nach ´ıhnen. Der zweite Halbvers, bestehend aus zwei, drei oder vier zweisilbigen Füßen, beginnt mit einer Senkung nach einer männlichen *Zäsur (v. 3 und 6); nach weiblicher Zäsur hingegen beginnt er entweder mit einer Hebung und wahrt auf diese Weise den metrisch gleichförmigen Bau der ganzen Zeile (2 den Be´rg der Tı´ere / und den Be´rg der Gö´tter; 5 erfa´sst ihn a´hnend / eine u´nstillbare Se´hnsucht), oder er beginnt mit einer Senkung und schafft sich seine eigene unabhängige jambische Form (4 Wenn ´einer ´einmal / nach o´ben sie´ht; vgl. v. 7 und 8). Drei Genitive im Plural, die einzigen belebten Substantive des Gedichts – 2 der Tiere, der Götter, 3 der Menschen – weisen auf die Dreiheit seiner Helden hin. Das ternäre Prinzip, teils mit dieser thematischen Trichotomie verbunden, teils unabhängig von ihr, durchzieht den ganzen Achtzeiler.108 Das Gedicht umschließt drei Satzgefüge (v. 1–2; 3; 4–8), welche drei unabhängige Elementarsätze (clauses) 109 mit drei finiten Ver105 Ebd. – Jakobson schließt mit dieser Kritik an der (ebenfalls willkürlichen) Zeilengliederung Felix Klees faktisch jegliche Form von *Enjambement aus dem rhythmischen Repertoire aus, ohne dafür eine Begründung zu liefern. [Anm. d. Übs./ Komm.] 106 Das gilt freilich nur bei Übernahme von Jakobsons angreifbarer rhythmischer Lesart. [Anm. d. Übs./Komm.] 107 Unter Dipodie versteht man eine Einheit aus zwei gleichartigen Versfüßen, bei der nicht selten ein Versfuß eine Haupt-, der andere nur eine Nebenbetonung trägt. Jakobson hingegen verwendet die Wörter dipodic, tripodic, hexapodic, pentapodic hier ganz offensichtlich im Sinne von ›zweifüßig‹, ›dreifüßig‹ usw. [Anm. d. Übs./ Komm.] 108 Auch in seiner Analyse von Aleksandr Bloks Gedicht »Devusˇka pela v cerkovnom chore« (›Ein Mädchen sang im Chor der Kirche‹) arbeitet Jakobson die ›Tryptichon‹-Struktur des Textes heraus. Vgl. Jakobson, »Stichotvornye proricanija Aleksandra Bloka«, S. 544–561, sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 455–479. [Anm. d. Übs./Komm.] 109 Zu den Elementarsätzen bzw. clauses als syntaktischen Segmentierungseinheiten vgl.
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ben enthalten (1 gibt, 3 liegt, 5 erfasst), die im Gegensatz zu den Prädikaten der abhängigen Elementarsätze alle drei vor dem Subjekt stehen. Dem Akkusativ Plural 1 Berge folgt die doppelte Apposition 2 Berg 〈…〉 Berg und dem Relativpronomen 1 denen die verwandten Artikel 2 den 〈…〉 den. Mit drei Neutra samt drei finiten Prädikaten – 1 gibt es, es hell ist, 3 liegt das – setzt das Gedicht ein. Die Wohnstätten der dreifaltigen Helden – 2 Berg der Tiere, Berg der Götter und 3 Tal der Menschen – sind mit drei Adjektiven verbunden: 1 hell, klar, 3 dämmerige, und die kontrastierenden Bilder, mit denen die beiden ersten Satzgefüge enden, werden durch paronomastische Kunstgriffe unterstrichen: 2 Berg der Götter (erg – erg); 3 dämmerige 〈…〉 der Menschen (dem.r – derm). Auch der dritte Satz ist von ternären Wiederholungen durchwirkt: 4 einer, einmal, 5 eine; 4 nach, 7 nach, 8 nach; 6 ihn, der weiss, dass er nicht weiss – 7 ihnen, die nicht wissen, dass sie nicht wissen – 8 ihnen, die wissen dass sie wissen; dabei ist die dreifache Negationspartikel nicht bedachtsam auf die sechste und siebte Zeile verteilt. Die dreimal vorkommende Konjunktion 1, 2, 8 und ist mit einer Entsprechung zwischen dem ersten und dem letzten Satz verknüpft: Der Akkusativ 1 Berge, gefolgt von einer Apposition zweier *pleonastischer, durch und verbundener Akkusative, steht parallel zu dem Akkusativ 5 ihn und seiner pleonastischen Apposition 6 ihn mit zwei nachfolgenden Dativen 7 nach ihnen 〈…〉 8 und nach ihnen. Ein rein metaphorisches, räumliches Muster von biblischem Gepräge liegt dem ganzen Gedicht zugrunde: heller Berg
klarer Berg
Negation der Negation
Affirmation der Affirmation
dämmeriges Tal Affirmation der Negation
Jakobson, »Der grammatische Bau des Gedichts von B. Brecht ›Wir sind sie‹«, in der vorliegenden Ausgabe, S. 710, Anm. 79. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Das Tal ist die einzige Wohnstätte der unlösbaren Antinomie zwischen den beiden Gegensätzen der Erkenntnis der eigenen Unkenntnis, die vielleicht auf ihre gleichermaßen antinomische Umkehrung anspielt, die tragische Unkenntnis der eigenen Erkenntnis. Die thematische Dreiteilung des Achtzeilers überlagert seine syntaktische Teilung in drei ungleiche Sätze von zwei, einer und fünf Zeilen mit einem symmetrischen Muster. Die ersten drei Zeilen des Gedichts schildern den dauernden quasi-materiellen Status seiner Helden; das äußere, einleitende Verspaar (v. 1 und 2) ist den Tieren und Göttern gewidmet, während die dritte Zeile von den Menschen handelt. Entsprechend charakterisieren die drei letzten Zeilen den dauernden geistigen Status seiner Helden, und das äußere, letzte Verspaar (v. 7–8) gilt Tieren und Göttern, wogegen die drittletzte Zeile (v. 6) den Menschen gewidmet ist. Der mittlere der drei Abschnitte (v. 4–5) kann als dynamisch definiert werden, es geht darin um aktive Prozesse, welche sich – und zwar wiederum dauernd – im dämmerige(n) Tal der Menschen ereignen. Jeder dieser drei Abschnitte ist durch einen betonten Einsilber am Ende seiner Anfangszeile gekennzeichnet (1 klar, 4 sieht, 6 weiss), während die anderen fünf Zeilen mit einem *Paroxytonon geschlossen werden. Da der zweizeilige mittlere Abschnitt (v. 4–5) zusammen mit den beiden angrenzenden Zeilen (3 und 6) den Menschen in den Blick nimmt, können in bestimmter Hinsicht alle vier inneren Zeilen als ein Ganzes aufgefaßt werden, das dem herausragenden Thema der beiden äußeren Zeilenpaare entgegengesetzt ist. Die Grenzzeilen (3 und 6) treten durch einen betonten Einsilber am Ende ihres ersten Halbverses hervor (zwei parallele Verbformen 3 liegt und 6 weiss), während die beiden Zeilenpaare, die jede dieser Grenzzeilen umrahmen, eine weibliche Zäsur aufweisen. In ihrer grammatischen Gestalt nehmen die beiden Zeilen 3 und 6 offensichtlich eine Übergangsstellung ein; jede von ihnen gehört eigentlich ihrem anstoßenden äußeren Zeilenpaar zu, aber gleichzeitig teilen sie bestimmte formale Züge mit den beiden mittleren Zeilen. Dieser mittlere Zweizeiler, der dramatischste Teil des Gedichts, ist mit Vorgangsverben ausgestattet (4 nach oben sieht, 5 erfasst) im Gegensatz zu *Zustandsverben in den Zeilen 1–3 und den verba sciendi in den Zeilen 6–8. Das *abstrakte Nomen 5 Sehnsucht unterscheidet sich sowohl von den sechs *konkreten Substantiven der drei vorausgehenden Zeilen als auch vom Fehlen aller Nomina in den drei nachfolgenden Zeilen. Die Bestandteile von Sehnsucht sind verwandt einmal mit dem Verb sehnen, zum anderen (durch Volksetymologie) mit dem Verb suchen. In der ganzen
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Zeile herrscht eine offensichtliche Neigung zum Verb vor, und außer dem transitiven Verb erfasst mit dem direkten Objekt ihn enthält sie das Gerundium 110 ahnend und das deverbative Adjektiv unstillbare. Der temporale Adverbialsatz (4 Wenn 〈…〉) liegt, sofern man ihn mit den Relativsätzen in den beiden anderen Abschnitten vergleicht, dem Vorrang des Verbs in den mittleren Zeilen zugrunde.111 Der verborientierte hexapodische 112 Vers, der das mittlere Verspaar abschließt – 5 erfa´sst ihn a´hnend / eine u´nstillbare 113 Se´hnsucht 114 – kontrastiert im besonderen mit der abschließenden, rein nominalen Pentapodie des Anfangsverspaars – 2 den Be´rg der Tı´ere / und den Be´rg der Gö´tter 115 – den einzigen beiden rein jambischen Versen mit weiblicher Kadenz in beiden Halbversen.116 Das Trio indefiniter Ausdrücke 4 einer – einmal – 5 eine kontrastiert mit zwei Ketten von ›Determinantien‹ 1 denen – 2 den – der – den – der – 3 dazwischen – das – der (alliterierend dazu: dämmerige) im ersten Abschnitt und 6 der – des – 7 die – dass – 8 die – dass im Schlußterzett. Der vokalische Beginn des dreifach wiederholten ein- ist verstärkt durch die ähnlichen Anlaute bei den benachbarten Worten – 4 einer 〈…〉 einmal 〈…〉 oben 〈…〉 5 erfasst ihn ahnend eine unstillbare 〈…〉 –, wobei die letzten Worte dieses Verspaares eine dreifache Alliteration zischender Dauerlaute hören lassen: 4 sieht – 5 Sehnsucht. 110 Jakobson spricht hier von Gerundium (statt von Partizip Präsens Aktiv), um ein sog. »Konverb« zu bezeichnen, also ein Partizip, das keine Kongruenz aufweist und nicht von einer Nominalgruppe abhängt. [Anm. d. Übs./Komm.] 111 Womöglich handelt es sich hierbei um einen Druckfehler und der Satz muß wie folgt übersetzt werden: Der temporale Adverbialsatz (4 Wenn 〈…〉) unterstreicht [»underlines« statt »underlies«], sofern man ihn mit den Relativsätzen in den beiden anderen Abschnitten vergleicht, den Vorrang des Verbs in den mittleren Zeilen. [Anm. d. Übs./Komm.] 112 S. o., Anm. 107. [Anm. d. Übs./Komm.] 113 Das Wort unstillbar kann entweder auf der ersten oder auf der zweiten Silbe betont werden. [Anm. d. Übs./Komm.] 114 Irritierenderweise sind nur vier der sechs ›Füße‹ durch Akzente gekennzeichnet. Folgt man Jakobsons rhythmischer Lesart und zugleich den Grundzügen der deutschen Prosodie (nach Wagenknecht) müßten die Akzente im Vers folgendermaßen verteilt sein: »Erfa´sst ihn a´hnend e´ine u´nstillba´re Se´hnsucht«. [Anm. d. Übs./ Komm.] 115 Jakobson kennzeichnet hier nur die vier nominalen Akzente. Gemäß Wagenknecht trägt auch die Konjunktion und einen Akzent. Somit wären – folgt man Jakobsons Zeilengliederung – sämtliche fünf Hebungen dieses pentapodischen Verses realisiert. [Anm. d. Übs./Komm.] 116 Jakobson bezieht sich nicht auf das Anfangsverspaar, sondern auf v. 2 und 5, die sich andererseits laut Jakobson durch ihre Sechs- bzw. Fünffüßigkeit unterscheiden. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Mit der vorausgehenden Übergangszeile teilt das mittlere Verspaar die einzigen nominalen Subjekte und die einzigen Epitheta des Achtzeilers; übrigens sind diese beiden viersilbigen Attribute in den einzigen tetrapodischen Halbversen 117 – 3 dämmerige und 5 unstillbare – die längsten Wörter des ganzen Textes. Diese einzigen Substantive im Nominativ samt ihren adjektivischen Modifikatoren beziehen sich indirekt auf die Menschen und sind den drei nominalen Akkusativen des ersten Verspaares entgegengestellt, die auf Tiere und Götter hindeuten. Außerdem stellt das Genus das dunkle 3 Tal, das einzige neutrale Substantiv des Gedichts, und besonders sein einziges Femininum, die affektbetonte 5 Sehnsucht, den fünf maskulinen Substantiven des ersten Zweizeilers gegenüber, als ob dieser Unterschied die Unvergleichlichkeit der menschlichen Umstände und Beschwerden bekräftigen solle. Allgemein sind die konträren und kontradiktorischen 118 Gegensätze für Klees grammatische Textur viel typischer als die numerischen Entsprechungen zwischen den verschiedenen Abschnitten. Mit der nachfolgenden Übergangszeile teilt das mittlere Verspaar die einzigen Singularformen der maskulinen Pronomina (4 einer; 5 ihn; 6 ihn, der, er) und das Fehlen des Plurals gegenüber den zahlreichen nominalen, pronominalen und verbalen Pluralformen der anderen Zeilen. Diese seltsame Einsamkeit, die auf dem Höhepunkt von Klees Gedicht veranschaulicht wird, hat eine gleichgestimmte Präambel in den unmittelbar vorhergehenden Zeilen seines Tagebuches: »〈…〉 ganz auf 117 Tetrapodisch bzw. vierfüßig/-hebig sind diese Halbverse allerdings nur dann, wenn man Jakobsons Akzente gemäß Wagenknecht ergänzt und sich zudem für die Betonungsvariante u´nstillba´re statt unstı´llbare entscheidet: 3 das dä´mmerı´ge Ta´l der Me´nschen und 5 ´eine u´nstillba´re Se´hnsucht. [Anm. d. Übs./Komm.] 118 In konträrem Gegensatz stehen Urteile, die nicht zugleich wahr, aber zugleich falsch sein können. Zwischen ihnen ist ein drittes Urteil möglich (z. B. lassen die Urteile »Alle S sind schwarz« und »Kein S ist schwarz« das Urteil »Einige S sind schwarz, andere nicht« zu). Kontradiktorische Urteile können nicht zugleich wahr und auch nicht zugleich falsch sein, insofern die Gültigkeit des einen notwendig die Verneinung des andern impliziert (z. B. »Alle S sind schwarz« vs. »Einige S sind nicht schwarz«). Vgl. die wichtige Rolle konträrer und kontradiktorischer Gegensätze, die Jakobson in seiner Analyse des russischen Liedes »Och v gore zˇit’ nekrucˇinnu byt’« (›Ach in Gram leben, sich nicht härmen‹) und von Pessoas Gedicht »Ulysses« herausarbeitet. Siehe Jakobson, »Grammatical Parallelism and its Russian Facet«, S. 113 f., und die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 302–364, hier: S. 325 f.; sowie Jakobson /Stegagno-Picchio, »Les oxymores dialectiques de Fernando Pessoa«, S. 646 f., und die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 631–668, hier: S. 647. [Anm. d. Übs./ Komm.]
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sich selber abstellen, sich auf größte Einsamkeit vorbereiten. Abneigung gegen die Fortpflanzung (ethische Überempfindlichkeit).« 119 Die drei abschließenden, strikt relationalen und nachdenklichen Zeilen entfalten drei Spielarten einer doppelten *Hypotaxe und bestehen aus neun Pronomina, sechs Formen des Verbs wissen, dreimal mit und dreimal ohne die Negation nicht, und aus sechs Konjunktionen und Präpositionen; sie beenden das metaphorische Netzwerk der ersten Abschnitte mit ihren konventionell bildlichen unbelebten Substantiven und Verben. Der Leser ist aufgerufen, von räumlichen Visionen zu streng geistigen Abstraktionen fortzuschreiten. Im Einklang mit dem Verlangen des abschließenden Verspaars nach den Bewohnern der Berge, auf denen es hell ist und klar, oder vielleicht noch eher im Einklang mit dem schließlichen Streben nach den Höhen abstrakter Meditation, fallen in den beiden letzten Zeilen sieben volle Betonungen auf den hellen und *diffusen Vokal /i/ – 7 nach ´ıhnen die nicht wı´ssen, dass sı´e nicht wı´ssen 8 u´nd nach ´ıhnen, die wı´ssen dass sie wı´ssen.120 Auch in den drei Zeilen des Anfangsabschnittes ist es das /i/, welches die letzte Betonung des ersten Halbverses trägt. Von den vierunddreißig starken Betonungen des Achtzeilers fallen dreiundzwanzig auf vordere (helle) Vokale und im besonderen dreizehn auf /i/. Die vier Diphthonge /ai/ mit ihrem hellen Auslaut verstärken ihrerseits die ›heitere‹ Färbung von Klees Gedicht, das offenkundig hintere gerundete Vokale unter dem Ton vermeidet und nur zwei /u/ und ein /o/ zuläßt. Eine erstaunliche Verbindung von strahlender Transparenz und meisterhafter Einfachheit mit vielförmiger Kompliziertheit befähigt Klee als Maler und Dichter, eine harmonische Anordnung ungewöhnlich vielfältiger Verfahren entweder auf einem Stück Leinwand oder in einigen Zeilen eines Notizbuches zu entfalten. Das beigefügte Schema mag jene gleichzeitigen binären und ternären Anordnungen des Inhalts und der grammatischen Mittel zusammenfassen, die der sprachlichen Miniatur des Künstlers Tiefe und Monumentalität verleihen und die als Beispiel dienen können für Klees Dialektik der künstlerischen Markiertheit mit ihrem scharfen Sinn für Wechselbeziehungen zwischen dynamischen und statischen, hellen und dunklen, intensiven und extensiven, grammatischen und geometrischen Konzepten und schließlich von Regel und 119 Klee, Tagebücher, Nr. 538, S. 157. 120 Näherliegend ist die folgende Betonung: »Nach ´ıhnen die nı´cht wı´ssen, daß sie ´ nd nach ´ıhnen, die wı´ssen da´ss sie wı´ssen.« [Anm. d. Übs./ nı´cht wı´ssen U Komm.]
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Regelüberschreitung, was alles er in seinem Tagebuch von 1908 (Nr. 832) zu verstehen gegeben hat: Handlung sei außerordentlich und nicht Regel. Handlung ist *aoristisch, muß sich abheben von Zuständlichem. Will ich hell handeln, so muß der Zustand dunkel zu Grund liegen. Will ich tief handeln, setzt das helle Zustände voraus. Die Wirkung der Handlung erhöht sich bei starker Intensität und kleiner Ausdehnung, aber auf geringer zuständlicher Intensität und großer zuständlicher Ausdehnung. 〈…〉 Auf mitteltoniger Zuständlichkeit aber ist doppelte Handlung möglich, nach hell und nach tief hin gesichtete.121
3. Satzgebilde: Menschen im Verhältnis zu Tieren und Göttern
2.
erstes Verspaar
I. externer Zustand
3.
Menschen
Schicksal
2. Satzgebilde
1.
Tiere und Götter
Einsamkeit
1. Satzgebilde
Bildliches
4. mittleres Verspaar
II. Bewegung
5. 6.
Tiere und Götter
7. letztes Verspaar 8.
III. interner Zustand
Abstraktion
Editorische Notiz Geschrieben in Cambridge, Mass., im Jahr 1968 und veröffentlicht in Linguistic Inquiry I, 1 (Januar 1970).
121 Klee, Tagebücher, Nr. 832, S. 239.
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Literatur Jakobsons eigene Literaturangaben sind mit ° gekennzeichnet. Adriani, Götz: »Henri Rousseau. Der Zöllner – Grenzgänger zur Moderne«, in: Henri Rousseau. Der Zöllner – Grenzgänger zur Moderne, hg. v. Götz Adriani, Köln: Dumont 2001, S. 13–39. ° Alexandre, Arse`ne: »La vie et l’œuvre d’Henri Rousseau. Peintre et ancien employe´ de l’Octroi«, in: Comœdia, Nr. 901, 19. 3. 1910, S. 3; wieder abgedruckt in: Vallier, Dora: Tout l’œuvre peint de Henri Rousseau, Paris: Flammarion 1970, S. 9–12. ° Apollinaire, Guillaume: Chroniques d’art (1902–1918), hg. v. Leroy C. Breunig, Paris: Gallimard 1960. ° — »Le douanier«, in: Les Soire´es de Paris 2 (1913 [tatsächlich 1914]), Nr. 20, S. 7–29. ° — »Prenez garde a` la peinture! Le salon des artistes inde´pendants. 6000 toiles sont expose´es« [1910], in: Chroniques d’art (1902–1918), hg. v. Leroy C. Breunig, Paris: Gallimard 1960, S. 72–77. Blake, William: Notebook. A Photographic and Typographic Facsimile, hg. v. David V. Erdman, 2. Aufl. Oxford: Clarendon Press 1977. ° — Songs of Innocence, London u. a.: Trianon Press 1954. — Songs of Innocence and Experience, hg. v. Geoffrey Keynes, London: Oxford UP, 1970 u. ö. — The Complete Poetry and Prose, hg. v. David V. Erdman, 2. Aufl. New York u. a.: Doubleday 1988. — Zwischen Feuer und Feuer. Poetische Werke. Zweisprachige Ausgabe, hg. u. übs. v. Thomas Eichhorn, München: dtv 1996. Bode, Christoph: »Schreiendes Baby! Grausamer Mann! William Blake, entwikkelt (Anglistische Perspektiven)«, in: Anglistik. Mitteilungen des Deutschen Anglistenverbands 15 (2004), Nr. 11, S. 119–135. ° Bouret, Jean: Henri Rousseau, Neuchaˆtel: Ides et Calendes 1961. ° Bronowski, Jacob: William Blake and the Age of Revolution, New York: Harper & Row 1965. ° Damourette, Jacques u. Edouard Pichon: Des Mots a` la pense´e. Essai de grammaire de la langue franc¸aise, Bd. 1, Paris: Editions d’Artrey 1911. Dessauer-Reiners, Christiane: Das Rhythmische bei Paul Klee. Eine Studie zum genetischen Bildverfahren, Worms: Wernersche Verlagsgesellschaft 1996 (= Manuskripte zur Kunstwissenschaft, Bd. 51). Donat, Sebastian: »Optische Rhythmen. Metriktheoretische Überlegungen zu Jakobsons Analyse einer Miniatur von Paul Klee«, in: Visual Culture, hg. v. Monika Schmitz-Emans u. Gertrud Lehnert, Heidelberg: Synchron 2007 (i. E.). ° Effenberger, Vratislav: Henri Rousseau, Prag: Naklad. kra´sne´ literatury a umenı´ 1963 (= Soucasne´ svetove´ umenı´, Bd. 12).
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Elwert, W. Theodor: Französische Metrik, München: Max Hueber 1961. ° Frye, Northrop: Fearful Symmetry. A Study of William Blake, 2. Aufl. Boston: Beacon Press 1965. ° Giedion-Welcker, Carola: Poe`tes a` l’e´cart. Anthologie der Abseitigen, Bern-Bümpliz: Benteli 1946. Greber, Erika: Textile Texte: poetologische Metaphorik und Literaturtheorie. Studien zur Tradition des Wortflechtens und der Kombinatorik, Köln: Böhlau 2002 (= Pictura et poesis, Bd. 9). Hopkins, Gerard Manley: The Journals and Papers, hg. v. Humphrey House, erg. v. Graham Storey, London, New York u. Toronto: Oxford University Press 1959. Jakobson, Roman Osipovicˇ: »Das Nullzeichen«, in: SW II, S. 220–222. — »Der grammatische Bau des Gedichts von B. Brecht ›Wir sind sie‹«, komm. v. Hendrik Birus, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 687–716. — »Der Maler Paul Klee als Dichter«, übs. v. Grete Lübbe-Grothues, in: Hölderlin – Klee – Brecht, S. 97–105. — »Gimn v Slove Ilariona o zakone i blgodati«, in: SW VI, S. 402–414. – »Der Lobeshymnus in Ilarions ›Rede über das Gesetz und die Gnade‹«, übs. v. Oleh Kotsyuba u. Milosˇ Sedmidubsky´, komm. v. Milosˇ Sedmidubsky´, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 391–414. — »Grammatical Parallelism and its Russian Facet«, in: SW III, S. 98–135. – »Der grammatische Parallelismus und seine russische Spielart«, übs. v. Tarcisius Schelbert u. a., komm. v. Elena Skribnik u. Sebastian Donat, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 302–364. — »Henri Rousseaus poetischer Zusatz zu seinem letzten Bild«, übs. v. Dieter Münch, in: Semiotik, S. 233–242. — »Linguistics and Poetics«, in: SW III, S. 18–51. – »Linguistik und Poetik«, übs. v. Stephan Packard, komm. v. Hendrik Birus, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 154–216. — »O slovesnom iskusstve Kazimira Vezˇin’skogo«, in: SW III, S. 591–600. – »Über die Wortkunst Kazimierz Wierzyn´skis«, übs. v. Sebastian Donat, komm. v. Imke Mendoza u. Małgorzata Zemła, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 555–569. — »On Linguistic Aspects of Translation«, in: SW II, S. 260–266. – »Linguistische Aspekte der Übersetzung«, übs. v. Gabriele Stein, in: Semiotik, S. 481–491. — »On the Verbal Art of William Blake and Other Poet-Painters«, in: Linguistic Inquiry 1 (1970), H. 1, S. 3–23. — »On the Verbal Art of William Blake and Other Poet-Painters«, in: SW III, S. 322–344. ° — »Poetry of Grammar and Grammar of Poetry«, in: SW III, S. 87–97. – »Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie«, übs. v. Randi Agnete Hartner u. Wolfgang Raible, in: Aufsätze zur Linguistik und Poetik, S. 247– 258.
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— »Poe˙zija grammatiki i grammatika poe˙zii«, in: SW III, S. 63–86. – »Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie«, übs. u. komm. v. Sebastian Donat, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 256–301. — »R. C.«, in: SW III, S. 348–355. – »R. C.«, übs. u. komm. v. Sebastian Donat, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 256–301. — »›Si Nostre Vie‹: Observations sur la composition & structure de motz dans un sonnet de Joachim du Bellay«, in: SW III, S. 239–274. – »›Wenn unser Leben‹. Betrachtungen zur Komposition und Struktur der Wörter in einem Sonett von Joachim Du Bellay«, übs. v. Christoph Schamm u. Evi Zemanek, komm. v. Hannes Schneider, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 553–606. — »Signe ze´ro«, in: SW II, S. 211–219. — »Skorb’ pobivaemych u drov«, in: SW III, S. 304–210. – »Das Leid jener, die beim Feuerholz erschlagen werden«, übs. v. Christian Schwarz u. Sebastian Donat, komm. v. Sebastian Donat u. Ulrich Schweier, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 656–671. — »Stichotvornye proricanija Aleksandra Bloka«, in: SW III, S. 544–567. – »Lyrische Prophezeiungen Aleksandr Bloks«, übs. u. komm. v. Sebastian Donat, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 452–491. — »The Grammatical Structure of Janko Kra´l’s Verses«, in: SW III, S. 482– 498. – »Die grammatische Struktur von Janko Kra´ls Dichtung«, übs. v. Raoul Eshelman, komm. v. Milosˇ Sedmidubsky´, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 319–353. — »Une Microscopie du dernier ›Spleen‹ dans Les Fleurs du Mal«, in: SW III, S. 465–481. – »Das letzte ›Spleen‹-Gedicht aus Les Fleurs du mal unter dem Mikroskop«, übs. v. Regine Kuhn, komm. v. Barbara Vinken u. Marcus Coelen, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 288–318. Jakobson, Roman Osipovicˇ u. Lawrence G. Jones: »Shakespeare’s Verbal Art in ›Th’Expence of Spirit‹«, in: SW III, S. 284–303. – »Shakespeares Wortkunst in ›Das Versprühen des Geistes‹«, übs. v. Evi Zemanek, komm. v. Andreas Höfele, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 622–655. Jakobson, Roman Osipovicˇ u. Luciana Stegagno-Picchio: »Les oxymores dialectiques de Fernando Pessoa«, in: SW III, S. 639–659. – »Die dialektischen Oxymora von Fernando Pessoa«, übs. u. komm. v. Jörg Dünne, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 631–668. Jakobson, Roman Osipovicˇ u. Linda R. Waugh: »Inferences from a Cummings Poem« u. »Language and Poetry«, in: SW VIII, S. 225–233 u. S. 233 f. – »Einige Schlußfolgerungen aus einem Gedicht von Cummings – Sprache und Dichtung«, übs. u. komm. v. Andreas Mahler, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 717–731. °[Klee, Paul:] Gedichte von Paul Klee, hg. v. Felix Klee, Zürich: Die Arche 1960. ° — Tagebücher von Paul Klee 1898–1918, hg. v. Felix Klee, Köln: DuMont Schauberg 1957. — Tagebücher 1898–1918. Textkritische Neuedition, bearb. v. Wolfgang Kersten, Stuttgart u. Teufen: Gerd Hatje u. Arthur Niggli 1988.
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° Lurija, Aleksandr Romanovicˇ: Vyssˇie korkovye funkcii ˇceloveka i ich narusˇenija pri
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Derzˇavins letztes Gedicht und M. Halles erster literaturwissenschaftlicher Aufsatz 1 Übersetzung aus dem Englischen und Kommentar Sebastian Donat Jakobsons Derzˇavin-Analyse steht gleich im zweifachen Sinn unter dem Vorzeichen der Abschiedsbotschaft. Zunächst in bezug auf das untersuchte Gedicht: Die letzten Zeilen des bedeutendsten russischen Dichters der Vor-Puschkin-Ära haben durch ihren Gegenstand, aber auch durch die – im Aufsatz gestreifte – rätselhafte Fragmentarität geradezu legendären Status innerhalb der russischen Kultur erhalten. Das Gedicht steht dabei nicht zuletzt aufgrund seiner äußerst untypischen Kürze und Komprimiertheit am Rande des Derzˇavinschen Œuvres. Einige dieser Merkmale charakterisieren auch Jakobsons Aufsatz: Es ist die letzte seiner Studien zur Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie (verfaßt im Todesjahr 1982), gleichzeitig innerhalb der selbständigen (d. h. nicht in größere Aufsätze eingebundenen) eine der kürzesten und ganz sicher auch der komprimiertesten Analysen. Dem ehemaligen Schüler Morris Halle gewidmet, weist der Text zurück zu den Anfängen des Programms einer strukturalistischen Gedichtanalyse (auf 1958 ist der Entwurf der Studie zum Hussitenchoral datiert) und setzt gleichzeitig für dessen Erfinder und »spiritus rector« den Schlußpunkt. Daß damit dieses große Projekt nicht als abgeschlossen anzusehen ist, läßt sich vielleicht auch aus der Gattungsbezeichnung ablesen, die im Titel dieses letzten Textes auftaucht: »Essay« – ein immer wieder zu überprüfender und fortzusetzender Versuch. Sebastian Donat 1
Vorlage: Jakobson, Roman Osipovicˇ: »Derzˇavin’s Last Poem and M. Halle’s First Literary Essay«, in: SW VII, S. 349–352. Vgl. den geringfügig abweichenden Erstdruck in: Language, Sound, Structure. Studies in Phonology. Presented to Morris Halle by His Teacher and Students, hg. v. Mark Aronoff u. a., Cambridge /Mass. u. London: The MIT Press 1984, S. 3–6. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Drei Tage vor seinem Tod schrieb der große Meister der russischen Dichtkunst Gavrila Romanovicˇ Derzˇavin (1743–1816) seine kurze Abschiedsbotschaft, ein Oktett mit der Überschrift Na tlennost’ [›Auf die Vergänglichkeit‹], die erstmals in der Zeitschrift Syn Otecˇestva [›Sohn des Vaterlands‹], Nr. XXXI, wenige Monate nach dem Ableben des Autors erschien.2 Die folgende Transliteration dieser acht Zeilen vernachlässigt in Übereinstimmung mit den phonetischen Standards die Unterscheidung zwischen jat’ und e.3 Die konservative Regel, derzufolge der Wechsel von /e´/ zu /o´/ nicht durchgeführt wird,4 muß in der Rezitation von Derzˇavins Zeilen und noch mehr in ihrer Analyse befolgt werden. 1 2 3 4 5 6 7 8
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3 4
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–ека времен в своем стремленьи ”носит все дела людей » топит в пропасти забвень¤ Ќароды, царства и царей. ј если что и остаетс¤ ◊рез звуки лиры и трубы, “о вечности жерлом пожретс¤ » общей не уйдет судьбы.5
Vgl. den Kommentar zum Gedicht in Derzˇavin, Socˇinenija, S. 688 (hier gleich in der deutschen Übersetzung): »[…] der Text wurde [im Erstdruck] von folgender Bemerkung begleitet: ›Drei Tage vor seinem Ende begann er mit dem Blick auf die in seinem Arbeitszimmer hängende bekannte historische Karte »Fluß der Zeiten« das Gedicht »Auf die Vergänglichkeit« und konnte noch die erste Strophe beenden.‹ Laut Kommentar waren auf der Schiefertafel, die Derzˇavin für den Gedichtentwurf benutzte (und die noch heute in der St. Petersburger Nationalbibliothek aufbewahrt wird), noch zwei weitere Strophen erhalten, die jedoch nicht entziffert werden konnten; mittlerweile ist der ganze Text des Gedichts durch die Zeit ausgelöscht worden.« [Anm. d. Übs./Komm.] In der russischen Schriftreform von 1917/1918 wurde der Buchstabe /jat’/ abgeschafft und damit die Unterscheidung zwischen den Buchstaben Ѣ, ѣ /jat’/ und E, e /e/ aufgehoben. [Anm. d. Übs./Komm.] Die Frage nach der richtigen Aussprache des betonten /e/ wird von Vasilij Tred’jakovskij in seinem 1749 erschienenen Razgovor mezˇdu ˇcuzˇestrannym ˇcelovekom i rossijskim ob ortografii starinnoj i novoj i o vsem ˇcto prinadlezˇit k sej materii, S. 252 f., behandelt. Tred’jakovskij wendet sich dort gegen die vor allem im einfachen Volk verbreitete Tendenz, alle betonten /e/ wie [o] bzw. in entsprechender Position wie [jo] auszusprechen. [Anm. d. Übs./Komm.; nach einem Hinweis von Anke Niederbudde] Vgl. Derzˇavin: Socˇinenija, S. 541 f. (mit abweichender Interpunktion). [Anm. d. Übs./Komm.]
Derzˇavins letztes Gedicht und M. Halles erster Aufsatz 1 2 3 4 5 6 7 8 1 2 3 4 5 6 7 8
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Reka´ vreme´n v svoe´m stremle´n’i Uno´sit vse´ dela´ ljude´j I to´pit v pro´pasti zabve´n’ja Naro´dy, ca´rstva i care´j. A e´sli cˇto´ i ostae´tsja ˇ rez zvu´ki lı´ry i truby´, C To ve´cˇnosti zˇerlo´m pozˇre´tsja I o´bsˇcˇej ne ujde´t sud’by´. Der Fluß der Zeiten in seinem Strömen Schwemmt alle Werke der Menschen weg Und versenkt im Abgrund des Vergessens Völker, Königreiche und Könige. Und wenn etwas auch bleibt Durch die Klänge der Lyra und der Posaune,6 Es wird vom Schlund der Ewigkeit verschlungen werden Und wird dem allgemeinen Schicksal nicht entgehen.7
In meinem Harvard-Seminar über Russische Poetik im Jahr 1951 bemerkte Morris Halle,8 daß die Anfangs-Großbuchstaben jeder der acht Zeilen dieses Gedichts ein *Akrostichon bilden, welches das Thema des Gedichts unterstreicht, das durch den Titel zum Ausdruck gebracht wird. ˇ TI »Verfall der Dieses Akrostichon besteht aus zwei Wörtern – RUINA C Ehre« –: eines ein Gallizismus und das andere ein altrussisches Relikt,9 die beide der russischen Leserschaft dieser Epoche vertraut waren. Halle publizierte seine mit Kommentaren versehene Entdeckung im International Journal of Slavic Linguistics and Poetics 1 (1958), S. 232–236 unter dem Titel »O nezamecˇennom akrostiche Derzˇavina« [›Über ein unbemerktes Akrostichon bei Derzˇavin‹]. 6
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Zum Zeitpunkt der Entstehung des Gedichtes diente das Wort »truba« im Russischen als Sammelbezeichnung für verschiedene Blasinstrumente, insbesondere auch für das apokalyptische Instrument der Engel in der Offenbarung Johannis, die ›Posaune‹ des Jüngsten Gerichts. Vgl. Slovar’ Akademii Rossijskoj, Bd. 6, Sp. 792. [Anm. d. Übs./Komm.] Vgl. die Nachdichtung von Ludolf Müller in Russische Lyrik, S. 42 f. [Anm. d. Übs./Komm.] Gemeinsam mit Morris Halle, seinem ehemaligen Schüler, veröffentlichte Jakobson wichtige phonologische Arbeiten, darunter die grundlegende Studie »Phonology and Phonetics« (1956; abgedruckt in SW I, S. 464–504; vgl. die deutsche Übersetzung »Phonologie und Phonetik«). [Anm. d. Übs./Komm.] Vgl. Halle, »O nezamecˇennom akrostiche Derzˇavina«, S. 233 f. Halle weist dort nach, daß es sich bei »ruina« um eine Entlehnung aus dem Französischen (»ruine« – ›Verfall‹) und bei »cˇti« um eine seltene Genitivform des altrussischen Worts »cˇ’st’« [›Ehre‹] handelt. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Ein aufmerksamer Einblick in die Faktur dieser konzisen meditativen Miniatur offenbart die außergewöhnliche filigrane Durcharbeitung, die alle Ebenen seiner Konstituenten betrifft: von den aus je einem Satz bestehenden Quartetten und den Verspaaren bis zu den Zeilen, Versfüßen, Silben, *Phonemen und ihren Komponenten. Auf welcher Ebene diese Konstituenten auch angesiedelt sind, sie sind immer ausgestattet mit einem semantischen Wert. Der einzige Gegenstand des ersten Quartetts, die destruktive Macht der Zeiten, wird *metaphorisch geschildert als reka vremen [›Fluß (der) Zeiten‹], mit den beiden *transitiven Verben 2 unosit [›schwemmt weg‹] und 3 topit [›versenkt‹] als Prädikaten, die eine doppelte Reihe von Akkusativen im Plural regieren: 2 dela, 4 narody, carstva i carej [›2 Werke, 4 Völker, Königreiche und Könige‹]. Dieses erste Quartett zeigt die dramatischen Ereignisse vom Standpunkt ihres namenlosen Opfers aus. Die beiden pronominalen Subjekte der zweiten *Strophe,10 das Indefinitpronomen 5 ˇcto [›etwas‹] und das *anaphorische 7 to [›dieses‹], verweisen auf jedes beliebige Opfer, indem sie die allgemeinste Form benutzen, das Neutrum Singular,11 begleitet von drei *intransitiven verbalen Prädikaten (5 ostaetsja, 7 zˇerlom pozˇretsja, 8 ne ujdet [›5 bleibt, 7 (wird vom) Schlund verschlungen (werden), 8 (wird) nicht entgehen‹]), von denen zwei reflexive Formen sind, deren zweite zudem eine Passivkonstruktion darstellt. Das dynamische Bild der ersten Strophe von der Zeit, die Dinge und Wesen schnell davonträgt und sie zum Vergessen verurteilt, führt in der zweiten Strophe zu dem statischen Bild, daß alles das allgemeine und unvermeidliche Schicksal des Verschwindens teilt – oder anders, wiederum metaphorisch ausgedrückt, vom Schlund der Ewigkeit verschlungen wird (7 vecˇnosti zˇerlom [›(der) Ewigkeit Schlund‹]). Der aktive Sinn des ersten Quartetts findet seine Parallele in den angereicherten Intervallen zwischen den Silbengipfeln, namentlich in der Tendenz der Verse zu umfangreichen Konsonantengruppen, insbesondere vier Gruppen von vier nichtsilbenbildenden Lauten (1 vremen v svoem stremlen’i; 3 topit v propasti; 4 carstva), während das zweite Quartett keine 10 In der Fassung der Selected Writings steht hier fälschlicherweise ›dieser [d. h. der ersten] Strophe‹. Deshalb wurde an dieser Stelle auf den Text des Erstdrucks zurückgegriffen. [Anm. d. Übs./Komm.] 11 Vgl. Jakobson, »The Gender Patterning of Russian«, S. 184: »Russian case-forms distinguish two numbers – the marked plural vs. singular, and in all the grammatical cases of the unmarked singular, two genders – the more specified, marked feminine vs. non-feminine. […] The unmarked non-feminine, in turn, splits into two genders […].« [Anm. d. Übs./Komm.]
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solchen Gruppen aufweist. Andererseits scheint der passive Sinn des letzten Strophe seine Parallele im Mangel an Phonemen zwischen den Silbengipfeln der Zeile zu finden, namentlich einer Vorliebe für den *Hiatus (5 cˇto i ostaetsja; 6 liry i; 8 i obsˇcˇej ne ujdet), während das erste Quartett einen Hiatus lediglich an seinem Ende, im Übergang zur nächsten Strophe, zuläßt (4 carstva i). Während die Neigung zu Konsonantengruppen mit der ersten und der Hiatus mit der zweiten Strophe verbunden ist, kehrt das Akrostichon diese Verteilung um: Der vertikale Hiatus von ruina korrespondiert mit den mittleren Zeilen (2–3) des ersten Quartetts und die Gruppe ˇcti mit den mittleren Zeilen (6–7) des zweiten Quartetts. Die Unähnlichkeit der beiden Substantive des Akrostichons ist signifikant: Das erste Substantiv enthält ein Vokalpaar (ui), das von zwei *Sonoren (r-n) gerahmt wird, und das zweite ist ein Flexionsstamm, der aus stimmlosen *Plosiven besteht (cˇt). Es ist gerade dieser auffällige morphophonologische *Kontrast eines vokalischen Übergewichts, das syntaktisch einem bloßen Konsonantismus überlagert wird, der das gemeinsame Auftauchen zweier unerwarteter Vokabeln motiviert haben muß. Die Konzentration der Aufmerksamkeit im ersten Quartett auf das Konsonantenmuster findet ihren Ausdruck auch in der Fülle an *Paronomasien (1 reka´ vreme´n 12 〈…〉 stremle´n’i; 1 svoe´m 13 2 vse; 2 dela´ ljude´j; 3 to´pit – pro´pasti; 4 naro´dy, ca´rstva i care´j), während sich im zweiten Quartett nur ein einziges Beispiel für poetische Etymologie 14 findet (7 zˇerlom pozˇretsja). In den jambischen Vierhebern des Oktetts sind entweder alle vier geraden Silben (*Hebungen) betont, oder eine der beiden inneren Hebungen (die zweite oder dritte der geraden Silben) ist unbetont. In der vorletzten Zeile jedes Quartetts fällt die nichtrealisierte Hebung auf die Endsilbe sti eines dreisilbigen Substantivs (3 v propasti; 7 vecˇnosti); in allen anderen Fällen zeigt die nichtrealisierte Hebung entweder eine anteprätonische Silbe (5 ostaetsja) am Wortanfang oder – in den geraden (*männlichen) Zeilen – ein *Proklitikon an (4 i carej; 6 i truby; 8 ne ujdet). 12 In beiden Fassungen des Originals wird das Phonem /m/ nicht hervorgehoben. Es gehört jedoch zweifellos zu den Lautübereinstimmungen in den angeführten Wörtern und wurde deshalb hier kursiviert. [Anm. d. Übs./Komm.] 13 In beiden Fassungen des Originals wird die Phonemgruppe /e´m/ hervorgehoben, obwohl sie sich nicht im korrespondierenden Wort der Paronomasie »vse« findet. Deshalb wurde hier auf eine Kursivierung verzichtet. [Anm. d. Übs./Komm.] 14 Zum Begriff der poetischen Etymologie vgl. den Kommentar von Aage A. HansenLöve zu Jakobsons Chlebnikov-Analyse (Jakobson, »Aus den kleinen Sachen Velimir Chlebnikovs: ›Wind – Singen‹«, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 503, Anm. 33). [Anm. d. Übs./Komm.]
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Beide Zeilen innerhalb eines Verspaars zeigen ein identisches Verhältnis von Wortbetonung und metrischer Hebung. Alle geraden Silben sind betont in den beiden Zeilen des ersten Verspaars (1–2), die sich besonders deutlich skandieren lassen, und dieser strenge Skansionsstil 15 wird verstärkt durch die *oxytonische Phrasierung der ganzen Zeile (1 Reka´/ vreme´n/ v svoe´m/ stremle´n’i) sowie dadurch, daß nur eine Zeile des ganzen Gedichts mit einem Oxytonon beginnt. Vgl. Glago´l vreme´n [›Wort (der) Zeiten‹] am Anfang des *Epitaphs Na smert’ knjazja Mesˇˇcerskogo [›Auf den Tod des Fürsten Mesˇcˇerskij‹], das 1799 von Derzˇavin verfaßt wurde.16 Die beiden Verse des letzten Zweizeilers des Oktetts zeigen den feierlichen Stil des klassischen Vierhebers,17 indem sie die vierte Silbe unbetont lassen (7 To ve´ˇcnosti, 8 I o´bsˇˇcej ne ujde´t). Die Besonderheit dieses Verspaars, 15 Mit dieser und den folgenden beiden Bemerkungen (s. u. Anm. 17 u. 19) zum unterschiedlichen *rhythmischen Profil des vierhebigen *Jambus und der damit jeweils verbundenen Charakteristik bzw. Verwendungsweise stellt Jakobson das letzte Gedicht Derzˇavins als rhythmisch hybride Form dar, die unterschiedliche, historisch aufeinanderfolgende Gestaltungsmittel der russischen Lyrik des 18. und des 19. Jahrhunderts miteinander verbindet. Der vorherrschende Rhythmustyp, d. h. die dominierende Form der sprachlichen Umsetzung des abstrakten metrischen Schemas, veränderte sich vom 18. zum 19. Jahrhundert folgendermaßen: Nach einer (relativ kurzen) Phase, in welcher der aus Deutschland importierte syllabotonische *Vers möglichst getreu dem *Metrum, d. h. mit kompletter Realisierung aller vier Hebungen, umgesetzt wurde (der von Jakobson für v. 1 und 2 reklamierte ›strenge Skansionsstil‹), fand eine Lockerung der Regeln und Anpassung an die ›natürlichen‹ sprachlichen Gegebenheiten statt. Der vierhebige Jambus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und der des 19. Jahrhunderts unterscheiden sich vor allem hinsichtlich der Realisierungshäufigkeit der zweiten im Vergleich zur ersten Hebung. Im 18. Jahrhundert war die zweite in dieser Beziehung der ersten Hebung unter-, im 19. Jahrhundert dagegen übergeordnet. Da während des gesamten Zeitraums die vierte Hebung durchgehend realisiert wurde, vollzog sich insgesamt ein Übergang vom ›rahmenden‹ zum ›alternierenden‹ Rhythmustyp: stark – schwach – schwach – stark → schwach – stark – schwach – stark (»stark« steht für eine hohe, »schwach« für eine geringe Realisierungshäufigkeit der Hebung). Vgl. Gasparov, Ocˇerk istorii russkogo sticha, S. 58–62 (§§ 21 f.), 79–83 (§§ 32 f.) u. 138–143 (§§ 64 f.), sowie Scherr, Russian Poetry, S. 44–52. Auch in seiner Radisˇcˇev-Analyse geht Jakobson auf die unterschiedlichen Rhythmustypen ein; die komplette Realisierung der Hebungen (hier: der ›strenge Skansionsstil‹) wird dort als ›konservative Form‹ bezeichnet (vgl. Jakobson, »›Ty chocˇesˇ’ znat’: kto ja?‹ Razbor tobol’skich stichov Radisˇcˇeva«, S. 311, sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 691). [Anm. d. Übs./Komm.] 16 Vgl. Derzˇavin, Socˇinenija, S. 124–126, hier: S. 124. [Anm. d. Übs./Komm.] 17 Vgl. Anm. 15 u. 19. – Die von Jakobson hier herausgehobene Rhythmusvariante, die fehlende Realisierung der zweiten Hebung, ist (vor allem im Sinne des Zurücktretens gegenüber der ersten Hebung) eher typisch für die Dichtung der zwei-
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das das bewegungslose Bild der Ewigkeit durch das anfängliche dynamische Bild der fließenden Zeit ersetzt, findet ihren Ausdruck in der plötzlichen Perfektivierung 18 der finiten Verben: 7 pozˇretsja; 8 ne ujdet [›7 (wird) verschlungen (werden); 8 (wird) nicht entgehen‹]. Die zweite Form ist mit einer Negation versehen, der einzigen im ganzen Gedicht, und wird gefolgt vom abschließenden adverbalen Genitiv, der mit den sechs adnominalen Genitiven des Oktetts kontrastiert. Das einzige Adjektiv des Gedichts (8 obsˇˇcej [›allgemein‹]) fungiert als Attribut zu diesem adverbalen Genitiv. Reime wie 5 ostaetsja [›bleibt‹], *imperfektiv – 7 pozˇretsja [›(wird) verschlungen (werden)‹], *perfektiv und 6 zvuki 〈…〉 truby [›Klänge 〈…〉 (der) Posaune‹] – 8 ne ujdet sud’by [›(wird) nicht entgehen (dem) Schicksal‹] unterstreichen den grammatischen Unterschied der einander gegenüberstehenden Wörter. Vgl. 1 stremlen’i [›Strömen‹], *Lokativ – 3 zabven’ja [›(des) Vergessens‹], Genitiv; 2 ljudej [›(der) Menschen‹], Genitiv – 4 carej [›Könige‹], Akkusativ. Die vier Zeilen der beiden inneren Verspaare des Gedichts (3–4 und 5–6) lassen die Betonung auf ihrer sechsten Silbe aus, was charakteristisch für die erzählende, kolloquial ausgerichtete Spielart des jambischen Vierhebers ist.19 Diese Verspaare zeigen auch bestimmte syntaktische Ähnlichkeiten: Die erste Zeile des Verspaars enthält das Prädikat, während die folgende Zeile von sekundären Teilen des Satzes in der Form einer Verknüpfung gleichartiger Glieder belegt ist (4 Narody, carstva i carej; 6 Cˇrez zvuki liry i truby [›4 Völker, Königreiche und Könige; 6 Durch (die) Klänge (der) Lyra und (der) Posaune‹]). ten Hälfte des 18. Jahrhunderts und die in diesem Zeitraum vorherrschende lyrische Gattung: die Ode. [Anm. d. Übs./Komm.] 18 Zu den *Verbalaspekten vgl. Jakobson, »Zur Struktur des russischen Verbums«, S. 6, sowie ders., »Shifters, Verbal Categories, and the Russian Verb«, S. 137 f., und die deutsche Übersetzung »Verschieber, Verbkategorien und das russische Verb«, S. 43 f. [Anm. d. Übs./Komm.] 19 Vgl. Anm. 15 u. 17. – Der hier beschriebene Rhythmustyp – die fehlende Realisierung der dritten Hebung – kann zunächst keine besondere semantische Markierung für sich beanspruchen: Er herrscht quantitativ sowohl in der zweiten Hälfte des 18. als auch im 19. Jahrhundert vor (vgl. Gasparov, Ocˇerk istorii russkogo sticha, S. 319, Tabelle 7, sowie ders., »Materialy o ritmike russkogo 4–stopnogo jamba XVIII veka«). Im Rahmen dieses polyrhythmischen Gedichtes steht er jedoch tendenziell für das neue, alternierende Modell des 19. Jahrhunderts. Jakobsons Charakteristik ›erzählend‹, ›kolloquial‹ gründet wohl eher auf dieser Kontrastqualität (es handelt sich in den Versen 3–6 eben weder um einen ›feierlichen‹, noch gar um einen ›strengen Skansionsstil‹) als auf absoluten Erkenntnissen zur Semantik des Rhythmustyps. – Zur semantischen Interpretation metrischer *Strukturen durch Jakobson vgl. Donat, »Metrum und Semantik bei Roman Jakobson«. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Das Muster der betonten Vokale in den geraden Silben verstärkt die poetische Einheit des Oktetts und seine signifikante Aufteilung in ein Strophenpaar. Die ›moderaten‹ 20 Vokale, das *erniedrigte (*gerundete) O und das nicht-erniedrigte (ungerundete) E, kommen in beiden Quartetten vor. Das *kompakte (offene) A findet sich nur in den geraden Zeilen des ersten Quartetts und am Anfang des Gedichts (Reka´). Die *diffusen (geschlossenen) Vokale, das erniedrigte (gerundete) U und das nichterniedrigte (ungerundete) I, zusammen mit dem hinteren Y, der kombinatorischen Variante des selben Phonems, kommen nur in den geraden Zeilen des zweiten Quartetts vor. Zudem ist das Vorkommen von A beschränkt auf die Position vor einem betonten E im folgenden Wort, und U verlangt ein nachfolgendes I. Der letzte betonte Vokal jeder Zeile ist das nicht-erniedrigte Glied des Paars O-E oder U-I. Somit zeigt das Oktett eine generelle Tendenz zu geringerer *Sonorität und höherer *Tonalität. Die Wörter des dijambischen Akrostichons, das den Inhalt des Oktetts zusammenfaßt, ruina ˇcti [›Ruine (der) Ehre‹], spiegeln mit ihrem wiederholten I die vokalische Tendenz des Gedichts wider. Die Begrenzungen, die das Oktett den zulässigen Mitwirkungen grammatischer Kategorien um ihrer höheren semantischen Expressivität willen auferlegt, können verdeutlicht werden anhand des Gebrauchs der Feminina (sämtlich unbelebt) ausschließlich im Singular und der Maskulina ausschließlich im Plural: 1 reka [›Fluß‹], 3 v propasti [›im Abgrund‹], 6 liry i truby [›Lyra und Posaune‹], 7 vec ˇnosti [›Ewigkeit‹], 8 sud’by [›Schicksals‹] [alle fem. Sing.], dagegen 2 ljudej [›Menschen‹], 4 narody, carej [›Völker, Könige‹], 6 zvuki [›Klänge‹] [alle mask. Plural]. Die Formen im Femininum Singular im Akrostichon (ruina, ˇcti [›Ruine, Ehre‹]) zeigen einmal mehr die enge Beziehung zwischen dem von Morris Halle entdeckten Akrostichon und der Poetik von Derzˇavins Oktett. Der Entdecker von ruina ˇcti stellt völlig zu recht die langzeitige Unaufmerksamkeit gegenüber diesem Akrostichon in Beziehung zu der alten Vermutung, derzufolge es sich bei Derzˇavins Oktett lediglich um ein 20 Jakobson bezieht sich hier auf das *distinktive Phonemmerkmal ›kompakt vs. diffus‹, das als einziges seiner Merkmale drei Werte zuläßt – /o/ und /e/ haben eben diesen mittleren Wert; gleichzeitig nehmen sie auch in bezug auf die Artikulation eine mittlere Stellung ein. – Zu Jakobsons System der distinktiven Phonemmerkmale vgl. Jakobson /Halle, »Phonology and Phonetics«, S. 478–486, und dies., »The Revised Version of the List of Inherent Features«, sowie die deutsche Übersetzung »Phonologie und Phonetik«, S. 71–81, und Jakobson /Waugh, The Sound Shape of Language, Kap. II und III, sowie die deutsche Übersetzung Die Lautgestalt der Sprache. [Anm. d. Übs./Komm.]
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unvollendetes Fragment handelt.21 Diese Vermutung basiert ihrerseits auf der Unüblichkeit kurzer Gedichte in Derzˇavins Nachlaß. Gleichwohl muß in Rechnung gestellt werden, daß es gerade die singuläre Kürze von Derzˇavins Abschiedsgedicht ist, die dessen außerordentliche Verdichtung künstlerischer Verfahren erklärt und entschuldigt. Editorische Notiz Geschrieben in Cambridge, Mass. im Januar 1982 für die Festschrift zu Ehren von Morris Halle anläßlich seines sechzigsten Geburtstags: Language, Sound, Structure, hg. v. M. Aronoff, R. T. Oehrle u. a. (Cambridge, Mass., 1984).
Literatur Jakobsons eigene Literaturangaben sind mit ° gekennzeichnet. Derzˇavin, Gavrila Romanovicˇ: Socˇinenija [›Werke‹], hg. v. G. N. Ionin, SanktPeterburg: Gumanitarnoe agentstvo »Akademicˇeskij proekt« 2002. Donat, Sebastian: »Metrum und Semantik bei Roman Jakobson«, in: Birus / Donat /Meyer-Sickendiek, S. 252–276. Gasparov, Michail Leonovicˇ: »Materialy o ritmike russkogo 4–stopnogo jamba XVIII veka« [›Materialien zum Rhythmus des 4–hebigen Jambus im 18. Jahrhundert‹], in: Russian Literature 12 (1982), S. 195–216. — Ocˇerk istorii russkogo sticha. Metrika. Ritmika. Rifma. Strofika [›Abriß der Geschichte des russischen Verses. Rhythmik. Reim. Strophik‹], 2. Aufl. Moskva: Fortuna Limited 2000. ° Halle, Morris: »O nezamecˇennom akrostiche Derzˇavina«, in: International Journal of Slavic Linguistics and Poetics 1/2 (1959), S. 232–236. Jakobson, Roman Osipovicˇ: »Aus den kleinen Sachen Velimir Chlebnikovs: ›Wind – Singen‹«, übs. v. Aage A. Hansen-Löve, komm. v. Aage A. HansenLöve u. Anke Niederbudde, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 492–515. — »Derzˇavin’s Last Poem and M. Halle’s First Literary Essay«, in: Language, Sound, Structure. Studies in Phonology. Presented to Morris Halle by His Teacher and Students, hg. v. Mark Aronoff u. a., Cambridge /Mass. u. London: The MIT Press 1984, S. 3–6. — »Derzˇavin’s Last Poem and M. Halle’s First Literary Essay«, in: SW VII, S. 349–352. — »The Gender Patterning of Russian«, in: SW II, S. 184–186. 21 Vgl. Halle, »O nezamecˇennom akrostiche Derzˇavina«, S. 232 f.
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— »Linguistics and Poetics«, in: SW III, S. 18–51. – »Linguistik und Poetik«, übs. v. Stephan Packard, komm. v. Hendrik Birus, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 154–216. — »›Ty chocˇesˇ’ znat’: kto ja?‹ Razbor tobol’skich stichov Radisˇcˇeva«, in: SW III, S. 311–321. – »›Du möchtest wissen: Wer bin ich?‹ Eine Analyse der Tobolsker Verse Radisˇcˇevs«, übs. u. komm. v. Sebastian Donat, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 688–710. — »Shifters, Verbal Categories, and the Russian Verb«, in: SW II, S. 130–147. – »Verschieber, Verbkategorien und das russische Verb«, übs. v. Gabriele Stein, in: Form und Sinn, S. 35–54. — »Zur Struktur des russischen Verbums«, in: SW II, S. 3–15. Jakobson, Roman Osipovicˇ u. Morris Halle: »Phonology and Phonetics«, in: SW I, S. 464–504. — »The Revised Version of the List of Inherent Features«, in: SW I, S. 738– 742. — »Phonologie und Phonetik«, übs. v. Georg Friedrich Meier, Wolfgang Raible u. Regine Kuhn, in: Aufsätze zur Linguistik und Poetik, S. 54–106. Jakobson, Roman Osipovicˇ u. Linda R. Waugh: The Sound Shape of Language, in: SW VIII, S. 1–315. – Die Lautgestalt der Sprache, übs. v. Christine u. Thomas F. Shannon, Berlin u. New York: Walter de Gruyter 1986 (= Janua Linguarum. Series Maior, Bd. 75). Russische Lyrik. Gedichte aus drei Jahrhunderten, ausgewählt u. eingel. v. Efim Etkind, 2. Aufl. München u. Zürich: Piper 1987. Scherr, Barry P.: Russian Poetry. Meter, Rhythm, and Rhyme, Berkeley, Los Angeles u. London: University of California Press 1986. Slovar’ Akademii Rossijskoj, 6 Bde., 2. Aufl. Sankt Peterburg: Imperatorskaja Akademija Nauk 1806–1822, Nachdr. einschl. Ergänzungsband, hg. v. M. G. Osterbju, Odense: Izdatel’stvo pri Universitete Odense 1971. Tred’jakovskij, Vasilij Kirillovicˇ: Razgovor mezˇdu ˇcuzˇestrannym ˇcelovekom i rossijskim ob ortografii starinnoj i novoj i o vsem ˇcto prinadlezˇit k sej materii [›Gespräch zwischen einem Ausländer und einem Russen über die alte und neue Ortographie und über alles, was zu dieser Materie gehört‹], Sankt Peterburg: Tipografija Imperatorskoj Akademii Nauk 1849 (= Socˇinenija Tred’jakovskogo, Bd. 3).
Roman Jakobson
Die Faktur 1 eines Vierzeilers von Pusˇkin 2 Übersetzung aus dem Französischen Gerald Wildgruber
Kommentar Sebastian Donat Pusˇkins Vierzeiler »Zoloto i bulat« (›Gold und Damaszener Stahl‹) ist das kürzeste Gedicht, das Jakobson einer strukturalistischen Analyse unterzogen hat. Es ist zudem der lyrische Text innerhalb seines gesamten hochliterarischen Analysecorpus, dessen syntaktische, lexikalische, grammatische und lautliche *Parallelismen am deutlichsten ins Auge fallen. So erscheint es folgerichtig, daß er für seine Analyse den geringsten Raum benötigt: lediglich drei Seiten. Doch dieser erste Eindruck ist irreführend: Denn es wäre völlig verfehlt, diesen Aufsatz als simple und uninteressante Fingerübung einzustufen. Im Gegenteil: Die radikale Beschränkung des Umfangs wie der Variationsbreite des Gedichts führt zu einer Luzidität der Analyse, die von Jakobson an anderer Stelle kaum je erreicht wird und die die Angemessenheit und Leistungsfähigkeit des strukturalistischen Verfahrens, insbesondere auch im Hinblick auf seinen interpretatorischen Ertrag, auf beeindruckende Weise unter Beweis stellt. Dennoch finden sich kleine ›Risse‹ im Argumentationsaufbau, auf die der Kommentar hinweist und zu reagieren versucht. Sebastian Donat 1
2
Zum Begriff der Faktur vgl. Jakobson, »›Si Nostre Vie‹: Observations sur la composition & structure de motz dans un sonnet de Joachim du Bellay«, S. 249 f., sowie die deutsche Übersetzung, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 571 f. [Anm. d. Komm.] Vorlage: Jakobson, Roman Osipovicˇ: »La facture d’un quatrain de Pusˇkin«, in: SW III, S. 345–347. Vgl. den geringfügig abweichenden Erstdruck »La facture d’un quatrain de Pouchkine«, in: Poe´tique 8 (1978), Nr. 34, S. 190–192. [Anm. d. Komm.]
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Roman Jakobson «ќЋќ“ќ » Ѕ”Ћј“
»¬сЄ »¬сЄ »¬сЄ »¬сЄ
мое«, – сказало злато; мое«, – сказал булат. куплю«, – сказало злато; возьму«, – сказал булат.3
´ LOTO I BULA´T ZO
»Vsjo´ »Vsjo´ »Vsjo´ »Vsjo´
mojo´«, – skaza´lo zla´to; mojo´«, – skaza´l bula´t. kuplju´«, – skaza´lo zla´to; voz’mu´«, – skaza´l bula´t.4
GOLD UND DAMASZENER STAHL
»Alles »Alles »Alles »Alles
meins«, – sagte das Gold; meins«, – sagte der Damaszener Stahl.5 werde ich kaufen«, – sagte das Gold; werde ich nehmen«, – sagte der Damaszener Stahl.6
Das Gedicht, von Pusˇkin 1827 in der Zeitschrift Moskovskij Vestnik [›Moskauer Bote‹] veröffentlicht, umfaßt vier vierfüßige *trochäische Verse mit *weiblichem Versschluß bei ungeradzahligen und *männlichem bei geradzahligen Versen. Jeder Vers wird durch eine *Zäsur zwischen der dritten und vierten Silbe in zwei Halbverse geteilt. Jeder Halbvers enthält zwei, jeder Vers vier Wörter, deren Betonungen auf die vier ungeraden Silben des Verses fallen. Der Vierzeiler umfaßt zwei Sätze, die jeweils aus einem *Distichon bestehen und deren Ende durch einen Punkt gekennzeichnet wird. Die Interpunktion des Autors läßt die Hierarchie des syntaktischen Gefüges erkennen: Strichpunkt trennt die Verse eines jeden Distichons und, innerhalb eines jeden Verses, Komma-Strich 7 die beiden Halbverse, von denen jeder wiederum einen Teilsatz umfaßt. 3 4
5
6
Vgl. Pusˇkin, Stichotvorenija 1826–1836. Skazki, Bd. 3.1, S. 452. [Anm. d. Komm.] Die Transkription folgt hier Jakobsons Vorgabe im Aufsatz. Sie entspricht nicht vollständig der (sonst im vorliegenden Band verwendeten) wissenschaftlichen Transliteration, sondern orientiert sich eher an der Aussprache (beim Vokal »e¨«: Transliteration »e«, Jakobson: »jo´«). [Anm. d. Komm.] »Bulat« steht im Russischen sowohl für das Material, den Damaszener Stahl, als auch für die Waffe, die Damaszener Klinge. Aufgrund der tragenden Bedeutung des Genus der Substantive, die Jakobson in seiner Analyse herausarbeitet, wurde hier der mit dem Original im Genus übereinstimmende Begriff »Damaszener Stahl« gewählt. [Anm. d. Komm.] Vgl. die Nachdichtung von Michael Engelhard in Puschkin, Die Gedichte. Russisch und deutsch, S. 557. [Anm. d. Komm.]
Die Faktur eines Vierzeilers von Pusˇkin
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Direkte Rede steht im ersten Teilsatz eines jeden Verses; das dritte Wort bezeichnet den Sprechakt, das vierte nennt den Sprecher. Der Unterschied zwischen den beiden Teilsätzen – der Rede des Autors einerseits, der seiner Helden andererseits – wird hervorgehoben durch den *Kontrast der betonten Vokale. Die acht *gerundeten Vokale in den Halbversen am Beginn eines jeden Verses – sechs /o´/ und zwei /u´/ – haben in ihrer dunklen *Tonalität alle ihren Gegensatz in den hellen acht /a´/ in den zweiten Halbversen. Dabei alterniert im ersten Halbvers der vortonige Vokal /a/ mit /o´/ (vgl. /majo´/ – /mo´j/, /vaz’mu´/ – /vo´zdan/), während sich im zweiten Halbvers der vortonige Vokal /a/ in geregeltem Wechsel mit /a´/ befindet (vgl. /skaza´l/ – /ska´zan/).8 Vergleicht man den *labialen Charakter von neun Konsonanten (darunter sieben am Wortanfang) in den ersten Halbversen mit den zehn *Sibilanten (sechs am Wortanfang) der zweiten Halbverse, so verstärkt sich der Kontrast noch weiter. Jeder Vers ruft drei verschiedene Wortarten auf. Das erste Wort eines jeden ist ein Pronomen, das dritte ein Verb, das vierte ein Nomen. Was das jeweils zweite betrifft, so gehört es zwei verschiedenen Wortarten an: In den zwei Versen des Eingangsdistichons ist es, in Gemeinschaft mit 7
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Jakobson scheint Phänomene der Entsprechung und der geordneten Distribution bis in die Zusammensetzung der Satzzeichen hinein zu verfolgen, indem er den idiomatischen Ausdruck »point-virgule« (›Semikolon‹, wortwörtlich ›PunktKomma‹) und den nicht-idiomatischen, ad hoc neu gebildeten Ausdruck »virgule-tiret« (›Komma-Strich‹) einander entsprechen läßt. Jakobson analysiert sozusagen die idiomatisch geronnene Wendung »point-virgule«, indem er durch die Neubildung »virgule-tiret« deren einzelne Bestandteile wieder kenntlich macht. [Anm. d. Übs.] Die syntagmatische Vokalalternanz in den Halbversen des Gedichts wird von Jakobson in den beiden Klammern in Verbindung mit der Vokalalternanz im sprachlichen *Paradigma, der sogenannten Vokalreduktion, gebracht. Im Russischen ist die Aussprache bestimmter Vokale abhängig von der Betonung der Silbe. Um dies zu verdeutlichen, führt Jakobson Wörter mit jeweils identischen Anfangssilben an, die jedoch aufgrund der Unterschiede im Akzent (vortonig unbetont vs. betont) in der Aussprache differieren: moe¨ (›mein‹, Possessivpronomen Neutrum Singular, Aussprache [majo´]) – moj (›mein‹, Possessivpronomen Maskulinum Singular, Aussprache [mo´j]), voz’mu (›nehme‹, 1. Person Singular Präsens des Verbs vzjat’, Aussprache [vaz’mu´]) und vozdan (›vergolten‹, Partizip Präteritum Passiv Kurzform Maskulinum des Verbs vozdat’, Aussprache [vo´zdan]) sowie skazal (›sagte‹, 1. Person Singular Präteritum des Verbs skazat’, Aussprache [skaza´l]) – skazan (›gesagt‹, Partizip Präteritum Passiv Kurzform Maskulinum des selben Verbs, Aussprache [ska´zan]). – Zwei der Beispiele gehören zusätzlich zum selben lexikalischen Paradigma (moe¨ und moj sowie skazal und skazan) und liefern so ein anschauliches Beispiel dafür, daß im Russischen die Betonung innerhalb eines Paradigmas wechseln kann. [Anm. d. Übs./Komm.]
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dem vorhergehenden Wort, ein Pronomen; in den Versen des zweiten Distichons, in Gemeinschaft mit dem darauffolgenden Wort, ein Verb. Die sechzehn Wörter des Vierzeilers stehen alle im Singular, die sechs Pronomina sind alle Neutra, die sechs Verbformen alle persönliche Formen.9 Die Substantive – 1,3 »Gold« und 2,4 »Damaszener Stahl« – sind unbelebt: Die Namen der beiden Metalle, *metonymische Sprecher, stehen einmal anstelle des Krösus, dann des Kriegers; letzteres über das geläufige Bindeglied des Schwerts. In lexikalischer Hinsicht sind die ungeraden Wörter in den Versen durch den ganzen Vierzeiler hindurch stabil: 1,2,3,4 vsjo´ [›alles‹] und skaza´l [›sagte‹], während dagegen die *grammatische Funktion des Wortes vsjo´ von Distichon zu Distichon variiert. Dieses Pronomen, das in den ersten beiden Versen als Subjekt auftritt, wird zum direkten *Objekt in den letzten beiden Versen des Vierzeilers. Was die geraden Wörter der Verse betrifft, so ist es ihre Rolle im Satz, die sich beständig erhält. So dient das vierte Wort – zla´to [›Gold‹] in den ungeraden, bula´t [›Damaszener Stahl‹] in den geraden Versen – als grammatisches Subjekt. Das zweite Wort – Pronomen im ersten Distichon (1,2 mojo´ [›mein‹]), Verb im zweiten (3 kuplju´ [›kaufe‹], 4 voz’mu´ [›nehme‹]) – tritt immer in der Funktion eines Prädikats in der 1. *Person auf. Es ist das letzte Distichon, das mit dem lexikalischen Kontrast der geraden Wörter seiner beiden Verse den Vierzeiler mit Spannung auflädt. Innerhalb dieser beiden Paare 10 offenbaren die *Antonyme eine gewisse Ähnlichkeit in ihrer phonologischen *Struktur: Die gleiche Anordnung von Konsonanten und Vokalen verbindet die Verben 3 /kuplju´/ und 4 /vaz’mu ´ /; dieselbe Lautgruppe /-la´t/ mit dem einzigen *dentalen *Okklusiv des Gedichts rückt die Nominalwurzeln zueinander: 1,3 zla´t- und 2,4 bula ´ t-. In den ungeraden Versen sind die beiden Wörter des zweiten Halbverses skaza´lo zla´to durch eine ganze Kette ähnlicher Laute aneinandergeschmiedet: /aza´lazla´/, während im Teilsatz skaza´l bula´t die Verbindung der beiden Wörter auf die zweimalige Nachbarschaft der *Phoneme /a´/ und /l/ reduziert ist. Die Entsprechung /a´l/ – /la´/ ist allen Endhalbversen gemein. 9
Persönliche Verben bzw. persönlich verwendete Verben haben ein (explizites oder auch implizites) Subjekt, mit dem das Verb in *Numerus und Person (in manchen Fällen auch im *Genus) kongruiert, bei *unpersönlichen bzw. unpersönlich verwendeten Verben gibt es entweder ein sogenanntes »Dummy-Subjekt« (dt. es in es ist mir kalt, vgl. auch engl. it, frz. il), oder der Satz erscheint als »subjektloser Satz«, wie es in den slavischen Sprachen der Fall ist. [Anm. d. Komm.] 10 D. h., der jeweils zwei geraden Wörter in den beiden Versen des zweiten Distichons. [Anm. d. Übs.]
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Die Kategorie des grammatischen Geschlechts gehört zu den wesentlichen Faktoren im Bau des Vierzeilers. Das Femininum ist vom Gedicht ausgeschlossen, und die Rolle der Genera beschränkt sich auf die *Opposition von Maskulinum und Neutrum, wie auch die Unterscheidung der Personen des Verbs auf die Opposition zweier Personen – der 1. und der 3. – reduziert ist. Die Verbalkategorien, die den »Prozeß der Aussage« bestimmen, sind im Gedicht durch die bloße Opposition von Präteritum und *perfektivischem Präsens 11 vertreten. Der Eingangsvers unterscheidet sich von den anderen durch das Neutrum, dem die vier Wörter dieses Verses angehören und das durch dieselbe Endung wiedergegeben wird: /-o´/ ∼ /a/.12 Dieses Monopol des Neutrums gibt dem ganzen Vers sein personauflösendes Gepräge. Im zweiten Vers führt das Genus von bulat [›Damaszener Stahl‹] einen expressiven Einschnitt zwischen den beiden Halbversen herbei: Die zwei Neutra des einen treffen auf die zwei Maskulina des anderen. Die grammatische Zwietracht der beiden Halbverse wird durch ihr rhythmisches Gleichmaß aufgewogen: Im zweiten (und vierten) Vers folgt auf jede betonte Silbe eine *Wortgrenze.13 Das zweite Distichon verändert das syntaktische Modell seiner ersten Halbverse, indem es diese mit einem verbalen Prädikat ausstattet. In jedem der beiden Verse endet der erste Teilsatz und beginnt der zweite jeweils mit einem Verb; der erste beginnt mit einem Akkusativ, und der zweite endet mit einem Nominativ; *Tempus und Person setzen ein Verb dem anderen entgegen. Die dem Gold und dem Damaszener Stahl zugeschriebene Rede geht ins Aktiv über, und die neu auftretenden Verben versuchen im gegebenen Kontext Fuß zu fassen. Die Verbform 3 kuplju´ [›kaufe‹] ist die einzige, die mit den Endhalbversen deren *Velar (skaza´lo),14 deren labialen Okklusiv,15 deren *Lateral 16 und deren unbetontes 11 Zu den *Verbalaspekten vgl. Jakobson, »Zur Struktur des russischen Verbums«, S. 6, sowie ders., »Shifters, Verbal Categories, and the Russian Verb«, S. 137 f., und die deutsche Übersetzung »Verschieber, Verbkategorien und das russische Verb«, S. 43 f. [Anm. d. Komm.] 12 Im Russischen bezeichnet die Endung -o das Neutrum. Die Aussprache richtet sich nach der Betonung: betont [o´], unbetont [ə]. [Anm. d. Komm.] 13 Zur versifikatorischen Bedeutung der Wortgrenzen vgl. das Kapitel »Slovorazdel i ego rol’ v stiche« [›Die Wortgrenze und ihre Funktion im Vers‹] in Jakobsons früher Monographie O ˇcesˇskom stiche – preimusˇˇcestvenno v sopostavlenii s russkim, S. 27–33, sowie die deutsche Übersetzung: Über den tschechischen Vers, S. 36–43. [Anm. d. Komm.] 14 D. h. kuplju´ und skaza´lo sowie skaza´l haben den Velar /k/ gemeinsam. [Anm. d. Komm.] 15 D. h. kuplju´ und bula´t verfügen jeweils über einen labialen Okklusiv: /p/ bzw. /b/. [Anm. d. Komm.]
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/u/ teilt /.upl’./ – /bula´t/. Im Schlußvers gelingt dem Verb voz’mu´ [›nehme‹] – dem Machtwort der Raffgier 17 – seine Verschlingung mit seiner unmittelbaren Umgebung (vsjo´ /vs’/ – voz’mu´ /v.z’/ – skaza´l /s.z/) und mit dem entsprechenden Prädikat der beiden ersten Verse – 1,2 mojo´ [›mein‹]: die einzigen drei /m/ und überhaupt die einzigen *Nasale des Gedichts. Der letzte Vers des Vierzeilers verwirklicht die lautliche Verschmelzung der beiden Ausdrücke seines ersten Halbverses, 4 vsjo´ voz’mu´, sowie die Verbindung des jeweils zweiten Ausdrucks vom Anfang und vom Ende des Vierzeilers, 1,2 mojo´-, 4 voz’mu´. Diese beiden Entsprechungen sind wie der Widerhall auf das Spiel der Laute in den zweiten Halbversen, also einerseits auf die Kette 1,3 /aza´lazla´/, andererseits auf die Phonemgruppe /-la´t-/, die die Schlußwörter der geraden und ungeraden Verse des Gedichts einander annähert. Interpretieren ließen sich die beiden Teilsätze – 1 skaza ´ lo zla´to [›sagte (das) Gold‹], die herrische Verkündigung des Kapitals, und 4 vsjo´ voz’mu´ [›alles nehme (ich)‹], der männlich kriegerische Griff nach dem Ganzen – als Schürzung und Lösung des dramatischen Knotens.18 16 D. h. kuplju´ und skaza´lo, zla´to, skaza´l sowie bula´t haben den Lateral /l/ gemeinsam. [Anm. d. Komm.] 17 Die Formulierung »voz’mu´ [›nehme‹] – das Machtwort der Raffgier« (im Original »mot d’ordre de l’accapareur«) – deutet zunächst auf einen argumentatorischen Fehler Jakobsons hin. Denn er scheint damit gerade seine fundierende Hauptopposition zu unterlaufen, weil die Grundbedeutung von »accapareur« nicht militärisch, sondern rein ökonomisch, also eigentlich der Rede des Goldes zugehörig ist. – Nun untersucht Jakobson aber über den ganzen Text gerade solche Effekte der unmerklichen Angleichung des Entgegengesetzten, insbesondere was die Lautstruktur der *Lexeme betrifft: So offenbaren nach seiner Analyse »die Antonyme eine gewisse Ähnlichkeit in ihrer phonologischen Struktur« (s. o., S. 58). »Mot d’ordre« ist militärisch konnotiert, »accapareur« ökonomisch, sie werden von Jakobson durch eine einfache Genitivkonstruktion verbunden: »Machtwort der Raffgier«. Eine alternative Lesart besteht also darin, daß Jakobson ganz unauffällig im Zuge seiner jederzeit objektiv und unideologisch verfahrenden Analyse die Entgegensetzung unterminiert oder einfach, was im Text von Pusˇkin angelegt ist, durch die Analyse bekräftigt und die Rede des Kapitals und die des Krieges subkutan einander entsprechen läßt. Wie das Ende des Vierzeilers sagt: Den vom Kapital geschürzten Knoten löst der Krieg. [Anm. d. Übs.] – Vgl. die völlig unproblematische Wiedergabe dieser Passage in der russischen Übersetzung des Aufsatzes: »Glagol’ voz’mu´ […], lozung zachvatcˇika« [›Das Verb voz’mu´ […], die Losung des Eroberers (wörtlich: Ergreifers)‹] (Jakobson, »Faktura odnogo cˇetverostisˇija Pusˇkina«, S. 211). [Anm. d. Komm.] 18 Im Erstdruck folgte am Ende des Aufsatzes noch die Bemerkung (hier gleich in deutscher Übersetzung): »Es sei angemerkt, daß wir die Frage nach der Beziehung zwischen dem Vierzeiler Pusˇkins und dem französischen Epigramm eines anony-
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Editorische Notiz Geschrieben 1966 in Cambridge, Mass., und zuerst veröffentlicht in Poe´tique 34 (April 1978), S. 190–192.
Literatur Jakobson, Roman Osipovicˇ: »La facture d’un quatrain de Pouchkine«, in: Poe´tique 8 (1978), Nr. 34, S. 190–192. — »La facture d’un quatrain de Pusˇkin«, in: SW III, S. 345–347. — »Faktura odnogo cˇetverostisˇija Pusˇkina«, übs. v. V. A. Mil’cˇina, in: Jakobson, Roman Osipovicˇ: Raboty po poe˙ike, hg. v. Michail Leonovicˇ Gasparov, Moskva: Progress 1987, S. 210–212. — O ˇcesˇskom stiche – preimusˇˇcestvenno v sopostavlenii s russkim [›Über den tschechischen Vers – hauptsächlich in Gegenüberstellung mit dem russischen‹], in: SW V, S. 3–130. – Über den tschechischen Vers. — »Shifters, Verbal Categories, and the Russian Verb«, in: SW II, S. 130–147. – »Verschieber, Verbkategorien und das russische Verb«, übs. v. Gabriele Stein, in: Form und Sinn, S. 35–54. — »›Si Nostre Vie‹: Observations sur la composition & structure de motz dans un sonnet de Joachim du Bellay«, in: SW III, S. 239–274. – »›Wenn unser Leben‹. Betrachtungen zur Komposition und Struktur der Wörter in einem Sonett von Joachim Du Bellay«, übs. v. Christoph Schamm u. Evi Zemanek, komm. v. Hannes Schneider, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 553–606. — »Zur Struktur des russischen Verbums«, in: SW II, S. 3–15. Modzalevskij, Boris L’vovicˇ: Biblioteka A. S. Pusˇkina (Bibliograficˇeskoe opisanie) [›Die Bibliothek A. S. Pusˇkins (Bibliographische Beschreibung)‹], Sanktmen Autors aus dem 18. Jahrhundert übergehen, das ihm, wie es scheint, als Vorbild gedient hat.« (Jakobson, »La facture d’un quatrain de Pouchkine«, S. 192.) – Als Quelle für Pusˇkins Vierzeiler ist ein anonymes französisches Gedicht identifiziert worden, das sich in zwei damals auch in Rußland populären französischen Werken findet: der Anthologie Franc¸aise, ou choix d’e´pigrammes, madrigaux, portraits, ´epitaphes, inscriptions etc. (2 Bde., Paris 1816, in Pusˇkins Besitz) sowie dem Dictionnaire des gens du monde ou petit cours de morale a` l’usage de la cour et de la ville (Paris 1818). In der Fassung der Anthologie Franc¸aise lautet der Text folgendermaßen (im Anschluß eine deutsche Prosaübersetzung): »le fer et l’or – Tout est a` moi, car je l’ache`te Et je paye en deniers comptants, Disait l’Or e´levant la teˆte, – Tout beau, dit le fer, je t’arreˆte; Tout est a` moi, car je le prends.« [›das eisen und das gold – Alles ist mein (Alles gehört mir), denn ich kaufe es, Und ich zahle mit barer Münze, Sagte das Gold den Kopf erhebend, – Gemach, sagte das Eisen, ich halte dich auf (daran hindere ich dich); Alles ist mein, denn ich nehme es (mir).‹] (Vgl. Privalova, »K stichotvoreniju ›Zoloto i bulat‹«; Gedicht zitiert nach: a. a. O., S. 98, sowie Modzalevskij, Biblioteka A. S. Pusˇkina, S. 141 f., Nr. 546.) [Anm. d. Komm.]
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Peterburg: Tipografija Imperatorskoj Akademii Nauk 1910, Nachdr. Moskva: Izdatel’stvo »Kniga« 1988. Privalova, M. I.: »K stichotvoreniju ›Zoloto i bulat‹« [›Zum Gedicht »Gold und Damaszener Stahl«‹], in: Vremennik Pusˇkinskoj komissii 7 (1969), S. 97–101. Puschkin, Alexander: Die Gedichte. Russisch und deutsch, übs. v. Michael Engelhard, hg. v. Rolf-Dietrich Keil, Frankfurt /Main u. Leipzig: Insel 1999. Pusˇkin, Aleksandr Nikolaevicˇ: Stichotvorenija 1826–1836. Skazki [›Gedichte 1826–1836. Märchen‹], hg. v. S. M. Bondi u. a., Moskva u. Leningrad: Izdatel’stvo Akademii Nauk SSSR 1948/49 (= Polnoe sobranie socˇinenij. V 17 tomach, Bd. 3.1 u. 3.2), Nachdr. Moskva: Voskresen’e 1995.
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R. C.1 Übersetzung aus dem Russischen und Kommentar Sebastian Donat Das Textcorpus, das Jakobson in seiner letzten Pusˇkin-Analyse untersucht, ist in doppelter Hinsicht ungewöhnlich. Denn es handelt sich lediglich um drei kurze Auszüge aus einem großen epischen Ganzen – Pusˇkins Versroman »Evgenij Onegin« –, die zudem nur Entwurfscharakter besitzen: Keiner der analysierten Texte wurde vom Dichter in die Druckfassung aufgenommen. An diesen drei scheinbar nebensächlichen Fragmenten, die nur locker durch den ursprünglich vorgesehenen binnenpragmatischen Rahmen (sie alle finden sich im sogenannten »Album Onegins«) und die selbe geheimnisvolle Frauenfigur »R. C.« zusammengehalten werden, weist Jakobson den meisterhaften Einsatz sprachlicher Mittel für den Aufbau poetisch bedeutsamer *Strukturen nach. Unter der Vielzahl der untersuchten Aspekte sind zwei besonders erwähnenswert. Zunächst die *Tropen *Metapher, *Metonymie und *Synekdoche, deren semantisch höchst bedeutsames Wechselspiel Jakobson im zuerst untersuchten neunten Fragment detailliert nachzeichnet. Daneben ist die Genauigkeit der metrisch-rhythmischen Analyse hervorzuheben. Jakobson berücksichtigt diese Textebene nicht allein als Baustein der formalen Architektur der Fragmente, sondern leitet von den unterschiedlichen Plazierungen der *Wortgrenzen im Vers verschiedene lyrische Subgenres mit eigenem Aussagemodus ab. Sebastian Donat
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Vorlage: Jakobson, Roman Osipovicˇ: »R. C.«, in: SW III, S. 348–355 (Erstdruck). [Anm. d. Übs./Komm.]
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Das Album Onegins, ein »Dnevnik mecˇtanij i prokaz« [›Tagebuch der Träumereien und Streiche‹],2 geschrieben im Jahr 1827 zur Einfügung in das siebente Kapitel des Romans,3 wurde vom Autor aus dem zum Druck eingereichten Text entfernt. In diesem Album huschten nach Pusˇkins Worten »tajny pis’mena, otryvki, pis’ma cˇernovye, i slovom iskrennij zˇurnal« 4 [›Schriftzeichen des Geheimnisses, Fragmente, Briefentwürfe, und mit einem Wort ein echtes Journal‹] vorüber. Die geheimnisvollen französischen Buchstaben R. C. verbergen den Namen der Heldin dreier Album-›Fragmente‹: des fünften, sechsten und neunten. Das letzte schließt sich aufgrund der gemeinsamen Zahl von vierzehn Zeilen und sieben Reimwortpaaren wie auch der Architektur dieser Paare an die ›OneginStrophe‹ 5 an: 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
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¬чера у ¬., остав¤ пир, R.—. летела как «ефир, Ќе внемл¤ жалобам и пен¤м; ј мы по лаковым ступен¤м Ћетели шумною толпой «а одалиской молодой. ѕоследний звук последней речи я от нее поймать успел, я черным соболем одел ≈е блистающие плечи, Ќа кудри милой головы я шаль зеленую накинул,
Im Entwurf zum 7. Kapitel des Evgenij Onegin sollte Tat’jana unter den Büchern im Arbeitszimmer Onegins auch ein Album mit Tagebucheintragungen finden. In der Reinschrift des Kapitels werden im Anschluß an die 21. Strophe eine einstrophige Beschreibung des Albums sowie einige Auszüge daraus angeführt. Das Zitat entspricht v. 13 dieser ursprünglichen 22. Strophe. Vgl. Pusˇkin, Evgenij Onegin. Roman v stichach, S. 613–618, hier: S. 614. – Der von Jakobson (ohne Quellenangabe) verwendete Text weist gegenüber dieser kritischen Ausgabe viele Unterschiede im Bereich der Interpunktion auf. [Anm. d. Übs./Komm.] Gemeint ist das größte und berühmteste lyrisch-epische Werk Pusˇkins, sein Versroman Evgenij Onegin, der zwischen 1823 und 1831 entstand und zunächst Kapitel für Kapitel veröffentlicht wurde (1825–1832). Die erste Gesamtausgabe erschien 1833. [Anm. d. Übs./Komm.] Vgl. Pusˇkin, Evgenij Onegin. Roman v stichach, S. 614 (Str. XXII, v. 8–10). [Anm. d. Übs./Komm.] Die Strophenform, in der Pusˇkins Versroman überwiegend verfaßt ist: vierhebige Jamben in der Reimstellung AbAbCCddEffEgg (große Buchstaben stehen für *weibliche, kleine für *männliche Reime). Vgl. Tomasˇevskij, »Strofika Pusˇkina«, S. 361–389. [Anm. d. Übs./Komm.]
R. C. 13 14 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14
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я пред ¬енерою Ќевы “олпу влюбленную раздвинул.6 Vcˇera´ u B., osta´vja pı´r, R.—. lete´la kak Zefı´r, Ne vne´mlja zˇa´lobam i pe´njam; A my´ po la´kovym stupe´njam Lete´li ˇsu´mnoju tolpo´j Za odalı´skoj molodo´j. Posle´dnij zvu´k posle´dnej re´cˇi Ja ot nee´ pojma´t’ uspe´l, Ja cˇe´rnym so´bolem ode´l Ee blista´jusˇcˇie ple´cˇi, Na ku´dri mı´loj golovy´ Ja ˇsa´l’ zele´nuju nakı´nul, Ja pred Vene´roju Nevy´ Tolpu´ vljuble´nnuju razdvı´nul. Gestern bei B., das Gastmahl verlassend, Eilte R. C. wie ein Zephir,7 Nicht hörend auf Klagen und Vorwürfe; Und wir über Lackstufen Eilten als lärmende Menge Hinter der jungen Odaliske 8 her. Den letzten Laut der letzten Rede Gelang es mir, von ihr zu erhaschen, Mit einem schwarzen Zobelpelz bedeckte ich Ihre glänzenden Schultern, Über die Locken des lieblichen Kopfes Legte ich einen grünen Schal, Vor der Venus der Neva Schob ich die verliebte Menge auseinander.
Wie groß auch immer die Zahl und Anordnung der Reime sein mag, die die einzelnen Spielarten der vierzehnzeiligen *Strophen Pusˇkins aufweisen, so stellt doch jede in der einen oder anderen Reihenfolge klar zwei Einheiten verschiedener Länge einander gegenüber, und zwar aus sechs und acht Versen (ein Sextett und ein Oktett). Dabei unterscheidet sich innerhalb der beiden Einheiten die syntaktische Gruppierung augenscheinlich von der Verteilung der Reime, und der *Kontrast zwischen 6 7 8
Vgl. Pusˇkin, Evgenij Onegin. Roman v stichach, S. 616 f. [Anm. d. Übs./Komm.] (Milder) Westwind. [Anm. d. Übs./Komm.] Haremssklavin. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Sextett und Oktett gibt sich sowohl auf der formalen als auch auf der semantischen Ebene deutlich zu erkennen. Sowohl die Onegin-Strophe als auch das neunte Album-Fragment enthalten je einen Vierzeiler mit *Block- und einen mit *Kreuzreim sowie darüber hinaus je drei Zweizeiler, die jeweils über einen eigenen *Paarreim verfügen. Diese drei Zweizeiler bilden den ersten Teil, das Anfangssextett des neunten Fragments, während sein zweiter Teil (das Abschlußoktett) sich aus zwei Vierzeilern zusammensetzt – zuerst das mit Block-, dann das mit Kreuzreim. Die Reime vertiefen den Unterschied zwischen den Verben und den deklinierbaren Formen. Wörter der beiden Kategorien reimen jeweils nur untereinander. Die Verbindung der drei Zweizeiler im Sextett unterscheidet sich grundlegend vom folgenden, das Fragment beschließenden Paar von Vierzeilern. Die ersten sechs Zeilen zerfallen syntaktisch in zwei Dreizeiler, jeweils mit einem finiten Verb im ersten Teil des mittleren Verses; und die folgenden acht Zeilen setzen sich zusammen aus vier Zweizeilern, jeweils mit einem finiten Verb am Ende eines der Verse. Während im Abschlußoktett jedes finite Verb entweder unmittelbar oder durch eine Infinitivkonstruktion mit einem *direkten Objekt verbunden ist (7 zvuk 〈…〉 8 pojmat’ uspel; 9 odel 〈…〉 10 plec ˇi; 12 ˇsal’ 〈…〉 nakinul; 14 Tolpu 〈…〉 razdvinul [›7 Laut 〈…〉 8 (zu) erhaschen gelang; 9 bedeckte 〈…〉 10 Schultern; 12 Schal 〈…〉 legte; 14 Menge 〈…〉 schob auseinander‹]), sind die finiten Verben des Anfangssextetts (2 letela, 5 leteli [›2 eilte, 5 eilten‹]) *intransitiv, aber das erste von ihnen ist von *Adverbialpartizipien mit direkten oder *indirekten nichtpräpositionalen Objekten umgeben (1 ostavja pir, 3 ne vnemlja zˇalobam [›1 verlassend (das) Gastmahl, 3 nicht hörend (auf) Klagen‹]). Im gesamten Gedicht besteht das gesamte Inventar an finiten Verben aus sechs präteritalen Formen, doch im Gegensatz zum *imperfektiven Aspekt der beiden finiten Verben des Sextetts besteht das gesamte Oktett aus *perfektiven Verben. Über das gesamte neunte Fragment hinweg folgt das finite Verb entweder unmittelbar oder mit unterschiedlichem Abstand auf das Subjekt. Von den insgesamt sechs Subjekten gehören zwei zum Sextett und vier zum Oktett. In den Versen des Oktetts geht dem Prädikat immer unmittelbar und in den Grenzen derselben Zeile entweder das Subjekt oder ein direktes Objekt voraus. Im Oktett enthält jeder der vier Zweizeiler je einen pronominalen Nominativ, ein finites Verb, ein direktes Objekt (einen nichtpräpositionalen Akkusativ), ein indirektes Objekt (ohne Präposition in anderen Kasus, mit Präposition in einem beliebigen Kasus 9 ), einen
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adnominalen Genitiv und ein adjektivisches Attribut zum direkten Objekt. Der Platz jeder dieser Formen ist gebunden an feste Regeln. Als Subjekt dient im gesamten Oktett durchgehend das Pronomen der ersten *Person Singular, das die erste Silbe in den beiden inneren Zeilen jedes der beiden Vierzeiler einnimmt, d. h. 8, 9, 11, 12 Ja [›Ich‹]. Das finite Verb des Prädikats bildet den zweiten Reim jedes der beiden Vierzeiler (8 uspel – 9 odel, 12 nakinul – 14 razdvinul [›8 gelang – 9 bedeckte, 12 legte – 14 schob auseinander‹]). Der adnominale Genitiv dagegen ist gebunden an die Zeilen, die den ersten Reim jedes der beiden Vierzeiler tragen. In allen drei Fällen des nominalen nachgestellten Genitivs bildet dieser unmittelbar den Reim, doch im Fall des pronominalen vorangestellten Genitivs trägt das regierende nominale Objekt den Reim: 7 zvuk poslednej recˇi [›Klang der letzten Rede‹], aber 10 Ee (Pronomen! 10) blistajusˇˇcie plecˇi [›Ihre glänzenden Schultern‹]; 11 Na kudri miloj golovy – 13 pred Veneroju Nevy [›11 Über die Lokken des lieblichen Kopfes – 13 Vor der Venus der Neva‹]. Ein direktes Objekt ist jeweils gebunden an die Zeilen der beiden äußeren, d. h. weiblichen Reime des Oktetts, und zwar jeweils in unmittelbarer Nachbarschaft seines Attributs. In den Zeilen des ersten Reims des Oktetts folgt das Objekt auf das Attribut, in den Zeilen des letzten Reims geht das Objekt voraus (7 poslednij zvuk – 10 blistajusˇˇcie plecˇi, 12 ˇsal’ zelenuju – 14 tolpu vljublennuju [›7 letzten Laut – 10 glänzenden Schultern, 12 Schal grünen – 14 Menge verliebte‹]). Das indirekte Objekt dagegen gehört den *männlichen, d. h. inneren Zeilen des Oktetts an, mit einem *Instrumental in der vorletzten Zeile jedes Vierzeilers (8 ot nee – 9 sobolem, 11 Na kudri – 13 pred Veneroju [›8 von ihr – 9 (mit einem) Zobelpelz, 11 Über (die) Locken – 13 vor (der) Venus‹]). Die Versstruktur unterstreicht die strophische Architektonik des neunten Fragments. Zwei Besonderheiten unterscheiden die Anfangsverse des Sextetts und Oktetts von den übrigen Zeilen: das klare Zusammenfallen aller vier *Hebungen mit *Wortakzenten: 1 Vcˇera´ u B. 〈be´〉, osta´vja pı´r – 7 Posle´dnij zvu´k posle´dnej re´ˇci, und das Vorhandensein einer Wort9
D. h. der Akkusativ ist bei präpositionslosen indirekten Objekten (selbstverständlich) ausgeschlossen, bei *präpositionalen indirekten Objekten dagegen nicht. Der Nominativ kann in Objektposition natürlich auch nicht stehen. [Anm. d. Übs./Komm.] 10 Das Russische verwendet den Genitiv des Personalpronomens zur Bezeichnung des Possessors, wenn dieser nicht mit dem Subjekt des Satzes zuammenfällt. Das Pronomen wird zumeist (wie auch hier) dem näher zu bestimmenden *Nomen vorangestellt. [Anm. d. Übs./Komm.]
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grenze vor der letzten Hebung – 1 pı´r, 7 re´ˇci (was nur einmal, bei der Reimantwort, wiederholt wird: 10 ple´ˇci). Der erste Vers des Anfangssextetts zeichnet sich durch einen *Hiatus auf beiden Seiten des Versfußes aus (1 Vcˇera u B., ostavja 〈…〉); dem entspricht nur teilweise der Hiatus im ersten Versfuß der letzten Zeile des Sextetts – 6 Za odalı´skoj – und am Ende des folgenden Satzes – 8 Ja ot nee. Die künstlerische Bedeutung des Hiatus in den Versen Pusˇkins wird durch charakteristische Beispiele wie das folgende erhellt: Kipit v bokalE Openennom / AI cholodnaja struja.11 Bezeichnend ist die Verteilung der betonten Vokale in der Reimstruktur des neunten Fragments. Den zwei Vorkommen von o´ im Reim 5 tolpo ´j – 6 molodo´j sind unmittelbar zwei betonte ´e im Sextett (3 pe´njam – 4 stupe ´njam) sowie eine Serie von vier ´e im Oktett gegenübergestellt (7 re´ˇci – 8 uspe´l – 9 ode´l – 10 ple´ˇci); und daneben finden sich entsprechend zwei betonte ´ı im Anfangsreim des Sextetts, 1 pı´r – 2 Zefı´r, und eine Serie von vier ´ı in den *Endreimen des Oktetts, 11 golovy´ – 12 nakı´nul – 13 Nevy´ – 14 razdvı ´nul, zur Unterstützung des Vergleichs der beiden äußeren Etappen der dramatischen Intrige des neunten Fragments. Konsonantenwiederholungen halten den Text deutlich innerhalb der Zeile bzw. zwischen benachbarten Zeilen zusammen, z. B. 3 vnemlja – penjam; 4 po lakovym – 5 leteli – tolpoj; 6 odaliskoj – molodoj – 7 poslednij (doppelt) – 8 uspel; 9 sobolem – 10 blistajusˇˇcie – plecˇi; 11 Na kudri – 12 nakinul; 12 pred Veneroju – Nevy – 14 razdvinul. Das einleitende Bild, die Eigenwilligkeit der nicht auf die Vorwürfe der Menge achtenden Heldin, ist dem abschließenden Bild der Menge gegenübergestellt, die vom Helden eigenwillig auseinandergeschoben wird. Und beide Ränder des Albumfragments sind auf der lautlichen Ebene eng miteinander verbunden: 3 Ne vnemlja 〈…〉 penjam (n.vn.ml. p.n.m) – 13 pred Veneroju Nevy 〈…〉 14 razdvninul (p..dv.n…..n. v. 〈…〉 dv.n.l). Es ist ausgeschlossen, die *calembourhafte Verbindung der poetischen Zeichnungen der enteilenden und eingeholten Heldin zu übersehen: 6 Za odaliskoj – 9 sobolem odel. Im achten Kapitel von Pusˇkins Roman antwortet die Erzählung über Evgenij und Tat’jana in der Strophe XXX – »Za nej on gonitsja kak ten’« [›Er verfolgt sie wie ein Schatten‹] – textuell auf die Motivreihe des neunten Albumfragments. Doch dabei dämpft die Geschichte der zweifelhaften Erfolge Onegins absichtlich die Sättigung der lautlichen und 11 ›Im schäumenden Pokal braust Der kalte Strahl des (Champagners) Ai‹ – v. 32 f. aus Pusˇkins Gedicht »Vsevolozˇskomu« [›An Vsevolozˇskij‹] (1819). Vgl. Pusˇkin, Stichotvorenija 1817–1825. Licejskie stichotvorenija v pozdnejsˇich redakcijach, Bd. 2.1., S. 93 f., hier: S. 93. [Anm. d. Übs./Komm.]
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semantischen Orchestrierung ihrer aus der Endversion gestrichenen ursprünglichen Quelle: »Uma ne vnemlja strogim penjam 12, 〈…〉 ej nakinet Boa pusˇistyj na plecˇo 〈…〉 ili razdvinet Pred neju pestryj polk livrej« [›Auf die strengen Vorwürfe des Verstandes nicht hörend, 〈…〉 legt ihr eine flauschige Boa über die Schulter 〈…〉 oder schiebt auseinander Vor ihr die bunte Schar der Livreen‹].13 Das Präteritum stellt das gemeinsame *Merkmal aller sechs finiten Verben des neunten Fragments dar, genauer gesagt, das unmittelbare Präteritum, wie die erste Zeile mit ihrer Adverbialpartizip-Form 1 ostavja [›verlassend‹] 14 und dem Adverb 1 Vcˇera [›Gestern‹] vorgibt (vgl. das selbe Anfangswort im sechsten Fragment und in der Variante des fünften Fragments 15). Die finiten Verben des Sextetts und des Oktetts unterscheiden sich in bezug auf den *Aspekt: imperfektiv im ersten Teil, perfektiv im zweiten. Die finiten Verben des Oktetts sind *lexikalisch sehr unterschiedlich, aber sie sind alle mit ein und demselben Subjekt ja [›ich‹] verbunden; umgekehrt weist das Verb im Sextett ein und denselben Stamm, jedoch 12 Im Original ist das Wort »penjam« [›Vorwürfe‹] nicht kursiviert. Es findet sich jedoch auch im 9. Fragment (v. 3). [Anm. d. Übs./Komm.] 13 Vgl. Pusˇkin, Evgenij Onegin. Roman v stichach, S. 178 f. Um die Parallelen zwischen dem Fragment und der 30. Strophe besser nachvollziehen zu können, hier die gesamte Strophe samt der Prosaübersetzung von Kay Borowsky: »Somne´n’ja ne´t: uvy´! Evge´nij V Tat’ja´nu kak ditja´ vljuble´n; V toske´ ljubo´vnych pomysˇle´nij I de´n’ i no´cˇ’ provo´dit o´n. Uma´ ne vne´mlja stro´gim pe´njam, K ee´ kryl’cu´, steklja´nnym se´njam On pod”ezzˇa´et ka´zˇdyj de´n’; Za ne´j on go´nitsja kak te´n’; On scˇa´stliv, esli e´j nakı´net Boa´ pusˇ´ıstyj na plecˇo´, Ili kosne´tsja gorjacˇo´ Ee´ rukı´, ili razdvı´net Pred ne´ju pe´stryj po´lk livre´j, Ili plato´k pody´met e´j.« – »Es gibt keinen Zweifel: O weh, Eugen ist in Tatjana verliebt wie ein Schuljunge; Tag und Nacht verbringt er in schmerzlichem Liebesbegehren. Ohne die strengen Vorhaltungen seines Verstandes zu beachten, fährt er jeden Tag zu ihrer Vorhalle, zum gläsernen Vestibül; wie ein Schatten folgt er ihr; er ist glücklich, wenn er ihr die flauschige Boa um die Schultern legen darf, wenn er in feuriger Erregung ihre Hand berührt, wenn er ihr einen Weg durch die bunte Schar der Livreen bahnt oder ihr Tüchlein aufhebt.« (Puschkin, Eugen Onegin. Ein Roman in Versen, S. 187.) [Anm. d. Übs./Komm.] 14 Vgl. Jakobson, »Shifters, Verbal Categories, and the Russian Verb«, S. 141. [Anm. v. R.J.] – Vgl. die deutsche Übersetzung: »Verschieber, Verbkategorien und das russische Verb«, S. 47. [Anm. d. Übs./Komm.] 15 Vgl. Pusˇkin, Evgenij Onegin. Roman v stichach, S. 615. Dort ist zum Anfangsvers des fünften Fragments – »Sˇestogo byl u B. na bale« [›Am sechsten war (ich) bei B. auf dem Ball‹] – folgende Variante verzeichnet: »Vcˇera ja byl u B. na bale« [›Gestern war (ich) bei B. auf dem Ball‹]. Das sechste Fragment beginnt in der kritischen Ausgabe allerdings nicht mit »Vcˇera« [›Gestern‹], sondern mit »Vecˇor« [›Gestern abend‹]. [Anm. d. Übs./Komm.]
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zwei verschiedene grammatische Endungen auf, die einen Unterschied im *Numerus kennzeichnen – zunächst der Singular, der der Heldin zugeordnet ist (2 R.C. letela [›R. C. eilte‹]), dann der Plural in Verbindung mit der Menge, die R. C. nacheilt und durch ein pronominales Subjekt gekennzeichnet ist: 4 my 〈…〉 5 leteli [›4 wir 〈…〉 5 eilten‹]. Akustische Wahrnehmungen – Klagen, Vorwürfe, Lärm der Menge – begleiten den Weg der nicht auf sie acht gebenden Flüchtigen; genau im Zentrum des Fragments (dem siebenten und achten Vers) werden sie abgelöst durch den »Laut« ihrer »letzten Rede«, wobei der Laut ein *pars pro toto für die Rede bildet und die »von ihr« erhaschte Rede ihrerseits pars pro toto die Flüchtige kennzeichnet. Das absichtsvolle Spiel der Beziehungen zwischen den Teilen (Synekdochen) und dem Ganzen, zwischen metonymischen *Kontiguitäten und Abständen oder auf der dynamischen Ebene zwischen Annäherung und Entfernung sowie das zwischen metaphorischen Ähnlichkeiten und Kontrasten – dies ist die semantische Grundlage des gesamten neunten Fragments. Die Phrase 9 Ja ˇcernym sobelem odel 10 Ee blistajusˇˇcie plecˇi [›9 Ich (mit einem) schwarzen Zobelpelz bedeckte 10 Ihre glänzenden Schultern‹] enthüllt gleichzeitig die Metaphorik des Farbkontrastes und die metonymische Annäherung des Zobels und der Schultern wie auch die synekdochische Verbindung zwischen der Boa und dem Tier, zwischen den Schultern und ihr. Unwillkürlich erinnert dies an den dramatischen Dialog am Ende von Chlebnikovs »Markiza De˙zes« [›Marquise Desaix‹]: . я бегу. Ќо ¤ не могу. Δестокий! что ты сделал! 〈…〉 . Ќа нас надвигаетс¤ уж что-то. ћы прирастаем к полу. ћы делаемс¤ единое с его камнем. Ќо зато звери ожили. “вой соболь подн¤л головку и жадным взором смотрит на обнаженное плечо. ѕрощай! 16 Marquise Ich fliehe. Aber ich kann nicht. Grausamer, was hast du getan! 〈…〉 Begleiter Es rückt schon etwas an uns heran. Wir wachsen am Boden fest. Werden eins mit dem Stein des Bodens. Doch sind dafür die Tiere lebendiger geworden. Dein Zobel hat seinen Kopf gehoben und schaut mit begehrlichem Blick nach der nackten Schulter. Leb wohl! 17
Wenn als hauptsächliches, direktes Objekt »ee blistajusˇcˇie plecˇi« [›ihre glänzenden Schultern‹] stehen, so kehrt sich diese Hierarchie im folgen16 Vgl. Chlebnikov, »Markiza De˙zes«, S. 87, mit Unterschieden zu dem von Jakobson (ohne Quellenangabe) verwendeten Text. [Anm. d. Übs./Komm.] 17 Chlebnikow, »Marquise Desaix«, S. 40. [Anm. d. Übs./Komm.]
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den Zweizeiler um: 11 Na kudri miloj golovy 12 Ja ˇsal’ zelnuju nakinul [›11 Über (die) Locken (des) lieblichen Kopfes 12 Legte ich (einen) grünen Schal‹]. Die *Antithese des grammatischen Numerus bleibt in Kraft: Zobel und Schal werden parallel den Schultern und den Locken gegenübergestellt. Doch die metonymische Bedeckung wird nun zum direkten Objekt (Ja ˇsal’ zelenuju [›Ich (einen) Schal grünen‹]) als Zeichen des Einschreitens des Helden, wobei in der doppelten Anlage der Synekdochen – Locken, Kopf – die Besitzerin des Kopfes selbst – ona [›sie‹] – zeitweilig aus dem Kontext verschwindet. Diese Reihe abwechselnder Fokussierungen der Wahrnehmung verlangt förmlich nach einer Wiedergabe in der treffenden Begrifflichkeit eines Filmszenariums.18 Eine letzte Metamorphose bringen die selbstsicheren Abschlußzeilen ein. Das vor kurzem noch mächtige Ganze, ˇsumnoju tolpoj [›(als) lärmende Menge‹] die Lackstufen entlangeilend und das Individuum »ich« in den gemeinsamen, »wir« genannten Kreis mit einschließend, verliert diese erste Person, ja es unterwirft sich der ersten Person. 13 Ja 〈…〉 14 tolpu 〈…〉 razdvinul [›13 Ich 〈…〉 14 (die) Menge 〈…〉 schob auseinander‹], und eröffnet sich und der Odaliske, die zur Göttin, zur Venus der Neva, erhoben wird, das Omen eines gemeinsamen Auswegs anstelle der Szenen der poslednej recˇi [›letzten Rede‹] und des scheinbar zum Abschied erfolgenden Ankleidens. Das fünfte Fragment des Albums, das erste der drei, in denen die Initialen vorkommen, umfaßt acht Zeilen: in der Mitte einen Vierzeiler mit Blockreim und an den Rändern zwei jeweils durch Paarreim verbundene Zweizeiler. 1 2 3 4 5 6 7 8
Ўестого был у ¬. на бале. ƒовольно пусто было в зале, R.—. как ангел хороша. ака¤ вольность в обхожденьи, ¬ улыбке, в томном глаз движеньи ака¤ нега и душа! ќна сказала, nota bene, ◊то завтра едет к —елимене.19
18 Vgl. das parallele Anknüpfen an filmische Beschreibungsmöglichkeiten am Ende von Jakobsons Analyse von William Blakes Gedicht »Infant Sorrow« (»On the Verbal Art of Blake and Other Poet-Painters«, S. 331, sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 17 f.). [Anm. d. Übs./Komm.] 19 Vgl. Pusˇkin, Evgenij Onegin. Roman v stichach, S. 615. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Sˇesto´go by´l u B. na ba´le. Dovo´l’no pu´sto by´lo v za´le, R.—. kak a´ngel chorosˇa´. Kaka´ja vo´l’nost’ v obchozˇde´n’i, V uly´bke, v to´mnom gla´z dvizˇe´n’i Kaka´ja ne´ga i dusˇa´! Ona skaza´la, nota bene, ˇ to za´vtra e´det k Selime´ne. C Am sechsten war ich bei B. auf dem Ball. Ziemlich leer war es im Saal, R.—. wie ein Engel schön. Welche Zwanglosigkeit im Umgang, Im Lächeln, in der dunklen Bewegung der Augen Welche Zärtlichkeit und Seele! Sie sagte, nota bene, Daß sie morgen zu Ce´lime`ne fährt.
Der zentrale Vierzeiler klingt absichtlich wie ein Albumgedicht mit seiner kompletten Abwesenheit von Verben, mit dem Übergang von der Vergleichskonjunktion 3 kak [›wie‹] zum zweifachen Ausruf 4, 6 Kakaja [›Welche‹] in Verbindung mit dem *Lokativ, zuerst nach- und dann vorangestellt, und zwar je einmal in beiden Hälften des achtzeiligen Textes. Der erste Vers der zweiten Hälfte antwortet dem letzten Vers der ersten Hälfte durch die ähnliche Verbindung von drei an Wortgrenzen aufeinandertreffenden Konsonanten (4 vol’nost’ v obchozˇden’i – 5 glaz dvizˇen’i), wobei vol’nost’ [›Zwanglosigkeit‹] scherzhaft der Vorankündigung 2 Dovol’no pusto [›Ziemlich leer‹] gegenübergestellt wird.20 Die Grenzen des Vierzeilers sind ihrerseits durch eine Lautentsprechung hervorgehoben: 3 kak angel – 6 Kakaja nega. Das Fragment vermeidet *Tätigkeitsverben: Die Formen 1 byl [›war‹; Sg. Mask.] und 2 bylo [›war‹; Sg. Neutr.] gehören nicht lexikalisch, sondern grammatisch zum Seinsverb und überlassen zudem im dritten Vers der *Nullform der *Kopula den Platz. Das *verbum dicendi, die perfektive Form 7 Ona skazala [›Sie sagte‹], ähnlich dem »letzten Laut der letzten Rede«, der im neunten Fragment von R. C. erhascht wird, eröffnet den Raum für das Verb edet [›fährt‹] im *merkmallosen *Tempus des merkmallosen Aspekts.21 Beide Zweizeiler verbinden den Beginn und das Ende des Oktetts miteinander und bedienen sich dabei deutlicher Wiederho20 Beide Wörter, das Substantiv »vol’nost’« [›Zwanglosigkeit‹ bzw. ›Freiheit‹] und das Adverb »dovol’no« [›ziemlich‹] gehen auf »volja« [›Wille‹, ›Macht‹, ›Freiheit‹] zurück. [Anm. d. Übs./Komm.]
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lungen mit einem effektvollen Konflikt zwischen der russischen und der westlichen Behandlung von Konsonanten vor dem Laut /e/: 1 byl u B. na bale – 7 Ona skazala, nota bene; 2 v zale – 7 skazala – 8 zavtra. Das sechste Albumfragment mit denselben Initialen R. C. schließlich besteht aus drei Vierzeilern: 1) dem eröffnenden mit Kreuzreim, 2) dem zentralen, der mit dem fünften und dem neunten 22 Fragment in der Mittelstellung des Blockreims übereinstimmt, sowie 3) dem abschließenden, der aus zwei paargereimten Zweizeilern besteht: 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
¬чера сказала мне R.—.: ƒавно желала ¤ вас видеть. «ачем? – ћне говорили все, ◊то ¤ вас буду ненавидеть. «а что? – «а резкий разговор, «а легкомысленное мненье ќ всЄм; за колкое презренье о всем; однако ж это вздор: ¬ы надо мной сме¤тьс¤ властны, Ќо вы совсем не так опасны. » знали ль вы до сей поры, ◊то просто – очень вы добры? 23 Vcˇera´ skaza´la mne R. C.: Davno´ zˇela´la ja vas vı´det’. Zacˇe´m? – Mne govorı´li vse´, ˇ to ja vas bu´du nenavı´det’. C Za cˇto´? – za re´zkij razgovo´r, Za legkomy´slennoe mne´n’e O vse´m; za ko´lkoe prezre´n’e Ko vse´m; odna´ko zˇ e˙to vzdo´r: Vy nado mno´j smeja´t’sja vla´stny, No vy sovse´m ne tak opa´sny. I zna´li l’ vy do sej pory´, ˇ to pro´sto – o´cˇen’ vy dobry´? C
21 D. h. im Präsens des imperfektiven Aspekts; vgl. Jakobson, »Zur Struktur des russischen Verbums«, bes. S. 6 u. 8. [Anm. d. Übs./Komm.] 22 Im Original irrtümlich ›zehnten‹. Das zehnte Fragment scheidet jedoch nicht nur aufgrund der Tatsache aus, daß es ansonsten im gesamten Aufsatz unerwähnt bleibt, sondern vor allem deswegen, weil es lediglich aus einem halben Vers besteht. Vgl. Pusˇkin, Evgenij Onegin. Roman v stichach, S. 617. [Anm. d. Übs./Komm.] 23 Vgl. a. a. O., S. 615. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Gestern sagte mir R. C.: Seit langem wünschte ich Sie zu sehen. Warum? – Mir sagten alle, Daß ich Sie hassen werde. Weswegen? – Wegen der scharfen Verurteilung, Wegen der leichtsinnigen Meinung Über alles; wegen der beißenden Verachtung Gegenüber allem; aber das ist doch Unsinn: Sie sind berechtigt, über mich zu lachen, Aber Sie sind überhaupt nicht so gefährlich. Und wußten Sie denn bis jetzt, Daß Sie einfach sehr gut[mütig] sind?
In jedem der drei angeführten Fragmente dienen entweder die Initialen R. C. (in einer der ersten drei Zeilen des Textes) oder Pronomina als Subjekt. Speziell das sechste Fragment enthält acht pronominale Subjekte, davon sieben innerhalb zweier Vierzeiler, des ersten und des dritten. Es gibt entsprechend fünf finite Verben und drei Adjektive in prädikativer Form (9 Vy 〈…〉 vlastny; 10 vy 〈…〉 ne tak opasny; 12 vy dobry [›9 Sie 〈…〉 (sind) berechtigt; 10 Sie 〈…〉 (sind) nicht so gefährlich; 12 Sie (sind) gut(mütig)‹]). Die Rede von R. C., die im ersten Vers des sechsten Fragments eingeführt wird, nimmt den gesamten weiteren Text ein. Sie ist gerichtet an den mutmaßlichen Autor der Albumnotiz und antizipiert stellenweise dessen vorgebliche Fragen (3 Zacˇem? – 5 Za ˇcto? [›3 Warum? – 5 Weswegen?‹]). Das Pronomen der ersten Person, das in der Anfangszeile dem Helden von der Heldin zugewiesen wird (1 skazala mne [›sagte mir‹]), geht danach auf die Heldin über, während das Pronomen der zweiten Person dem Helden zufällt (2 zˇelala ja vas videt’, 3 Mne govorili vse, 4 Cˇto ja vas budu nenavidet’ [›2 wünschte ich Sie (zu) sehen, 3 Mir sagten alle, 4 Daß ich Sie werde hassen‹]). Die gewisse Verteidigung, die »Onegin v dni svoi mladye« 24 [›Onegin in seinen jungen Tagen‹], d. h. der mutmaßliche Autor des Albums, von Seiten der R. C. erfährt, erscheint übrigens in der aufsteigenden Linie, der das Pronomen vy [›Sie‹] von Vers zu Vers der dritten Strophe folgt: 9 Vy nado mnoj 〈…〉 – 10 No vy sovsem 〈…〉 – ˇ to prosto – ocˇen’ vy dobry [›9 Sie über mich 〈…〉 – 11 I znali l’ vy 〈…〉 – 12 C 10 Aber Sie (sind) überhaupt 〈…〉 – 11 Und wußten denn Sie 〈…〉 – 12 Daß einfach sehr Sie gut(mütig) (sind)‹]. Am ausgedehnten Spiel der 24 V. 12 der ursprünglich vorgesehenen, in der Druckfassung dann jedoch zusammen mit dem »Album Onegins« weggelassenen 22. Strophe des siebenten Kapitels von Evgenij Onegin (vgl. a. a. O., S. 614). [Anm. d. Übs./Komm.]
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pronominalen Formen nehmen auch die adverbialen Formen teil: Einander gegenübergestellt werden die Wörter und Wortverbindungen 3 Zacˇem [›Warum‹] und 5 Za ˇcto [›Weswegen‹] oder 7 O vse¨m [›Über alles‹], 8 Ko vsem [›Gegenüber allem‹] und 10 sovsem [›überhaupt‹]. Mehr noch: Die poetische Etymologie 25 nähert bloß gleichklingende Komponenten zweier Verbindungen einander an: 3 mne govorili vse [›mir sagten alle‹] und 6–7 mnen’e o vse ¨m [›Meinung über alles‹]. In der Versifikation des sechsten Fragments setzt die Wortgrenze unmittelbar nach dem Akzent auf der zweiten Silbe des Verses 26 in Erstaunen, die in acht von zwölf Zeilen wiederholt wird: 1 Vcˇera´ – 2 Davno´ – 3 Zac ˇ´em? – 4 Cˇto ja´ usw. Es ist interessant, daß sich in jedem der thematisch verwandten Albumfragmente die Wortgrenzen durch einen eigenen privilegierten Platz auszeichnen, der zudem als einziger in jeweils mehr als der Hälfte aller Zeilen des Fragmentes anzutreffen ist. Die Wortgrenze im fünften Fragment folgt in sieben von acht Zeilen auf die fünfte Silbe, im sechsten Fragment folgt sie in acht von zwölf Zeilen auf die zweite Silbe und im neunten Fragment in neun von vierzehn Zeilen auf die sechste Silbe. Dieser Unterschied in den rhythmischen Konturen der drei Fragmente kann mit ihrer ungleichen stilistischen Färbung verglichen werden: Dem spielerisch belehrenden Stil des sechsten Fragments stehen zum einen der Salonstil des fünften, zum anderen die dramatischen Peripetien der plötzlichen Flucht der »jungen Odaliske« gegenüber.27 Editorische Notiz Geschrieben in Peacham, Vermont, im Sommer 1979, Erstveröffentlichung in SW III.
25 Zum Begriff der poetischen Etymologie vgl. den Kommentar von Aage A. HansenLöve zu Jakobsons Chlebnikov-Analyse (Jakobson, »Aus den kleinen Sachen Velimir Chlebnikovs: Wind – Singen«, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 503, Anm. 33). [Anm. d. Übs./Komm.] 26 Zur versifikatorischen Bedeutung der Wortgrenzen vgl. das Kapitel »Slovorazdel i ego rol’ v stiche« [›Die Wortgrenze und ihre Funktion im Vers‹] in Jakobsons früher Monographie O ˇcesˇskom stiche – preimusˇˇcestvenno v sopostavlenii s russkim, S. 27–33, sowie die deutsche Übersetzung: Über den tschechischen Vers, S. 36–43. [Anm. d. Übs./Komm.] 27 Eine der seltenen Interpretationen rhythmischer Strukturen innerhalb der Jakobsonschen Gedichtanalysen. Vgl. dazu Donat, »Metrum und Semantik bei Roman Jakobson«. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Literatur Jakobsons eigene Literaturangaben sind mit ° gekennzeichnet. Chlebnikov, Velimir: »Markiza De˙zes«, in: ders.: Neizdannye proizvedenija, hg. v. N. Chardzˇiev u. T. Gric, Moskva: Chudozˇestvennaja literatura 1940, Nachdr. München: Wilhelm Fink 1971 (= V. Chlebnikov: Sobranie socˇinenij, 4 Bde., Bd. 4), S. 76–88. – »Marquise Desaix«, übs. v. Roland Erb, in: Chlebnikow, Welimir: Ziehn wir mit Netzen die blinde Menschheit, hg. v. Marga Erb, Berlin: Volk und Welt 1984, S. 29–41. Donat, Sebastian: »Metrum und Semantik bei Roman Jakobson«, in: Birus / Donat /Meyer-Sickendiek, S. 252–276. Jakobson, Roman Osipovicˇ: »Aus den kleinen Sachen Velimir Chlebnikovs: Wind – Singen«, übs. v. Aage A. Hansen-Löve, komm. v. Aage A. HansenLöve u. Anke Niederbudde, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 492–515. — O ˇcesˇskom stiche – preimusˇˇcestvenno v sopostavlenii s russkim, in: SW V, S. 3– 130. – Über den tschechischen Vers. — »On the Verbal Art of Blake and Other Poet-Painters«, in: SW III, S. 322–344. – »Zur Wortkunst von William Blake und anderen DichterMalern«, übs. v. Roger Lüdeke, Dieter Münch u. Grete Lübbe-Grothues, komm. v. Roger Lüdeke u. Sebastian Donat, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 1–43. — »R. C.«, in: SW III, S. 348–355. ° — »Shifters, Verbal Categories, and the Russian Verb«, in: SW II, S. 130–147. – »Verschieber, Verbkategorien und das russische Verb«, übs. v. Gabriele Stein, in: Form und Sinn, S. 35–54. — »Zur Struktur des russischen Verbums«, in: SW II, S. 3–15. Puschkin, Alexander: Eugen Onegin. Ein Roman in Versen, übers. v. Kay Borowsky, Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1995. Pusˇkin, Aleksandr Sergeevicˇ: Evgenij Onegin. Roman v stichach [›Evgenij Onegin. Roman in Versen‹], hg. v. Boris Viktorovicˇ Tomasˇevskij, Moskva u. Leningrad: Izdatel’stvo Akademii Nauk SSSR 1937 (= Polnoe sobranie socˇinenij. V 17 tomach, Bd. 6), Nachdr. Moskva: Voskresen’e 1995. — Stichotvorenija 1817–1825. Licejskie stichotvorenija v pozdnejsˇich redakcijach [›Gedichte 1817–1825. Lyzeumsgedichte in den späteren Fassungen‹], hg. v. Dmitrij Dmitrievicˇ Blagoj u. a., Moskva u. Leningrad: Izdatel’stvo Akademii Nauk SSSR 1949 (= Polnoe sobranie socˇinenij. V 17 tomach, Bd. 2.1 u. 2.2), Nachdr. Moskva: Voskresen’e 1994. Tomasˇevskij, Boris Viktorovicˇ: »Strofika Pusˇkina« [›Die Strophik Pusˇkins‹], in: ders.: Pusˇkin. Raboty raznych let, hg. v. N. B. Tomasˇevskij, Moskva: Kniga 1990, S. 288–483.
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Pusˇkins Verse über die Mädchen-Statue, die Bacchantin und die Demütige 1 Übersetzung aus dem Russischen und Kommentar Sebastian Donat Jakobson beschäftigt sich in seiner Analyse von »Statue in Carskoe Selo« und »Nein, ich schätze nicht die stürmischen Genüsse« mit zwei Gedichten Pusˇkins, die aus derselben Schaffensperiode stammen (Anfang der 1830er Jahre) und jeweils über weibliche Hauptfiguren verfügen. Es sind jedoch nicht diese Gemeinsamkeiten, die im Vordergrund stehen, sondern die Studie konzentriert sich in zwei Kapiteln auf jeweils eines der beiden Gedichte; Querverbindungen werden nur ansatzweise hergestellt. Die Untersuchung von »Statue in Carskoe Selo« ist dabei gekennzeichnet durch eine Zweiteilung in Deskription und Interpretation mit jeweils schrittweiser Erweiterung des Untersuchungshorizonts. Zunächst widmet sie sich in seltener Intensität und Ausführlichkeit der Lautebene des Textes und hierbei vor allem der vokalischen *Struktur. Dieser Abschnitt liest sich in seiner Detailgenauigkeit fast wie eine Illustration zu Jakobsons über lange Jahre weiterentwickeltem Entwurf eines universal gültigen Systems von *distinktiven Merkmalen. Es folgt eine längere Passage zur rhythmischen Struktur, also der ›nächsthöheren‹ Textebene. In seiner einzigen Analyse eines Gedichts in einem klassischen *Versmaß (Pusˇkins »Statue« ist in elegischen *Distichen verfaßt) untersucht Jakobson dabei gleichermaßen metrische und *prosodische Aspekte. Den deskriptiven Abschnitt der Analyse beschließen Beobachtungen zum lexikalischen Bestand und zum Satzbau. 1
Vorlage: Jakobson, Roman Osipovicˇ: »Stichi Pusˇkina o deve-statue, vakchanke i smirennice«, in: SW III, S. 356–377. Vgl. den Erstdruck in: Alexander Pusˇkin. A Symposium on the 175th Anniversary of His Birth, hg. v. Andrej Kodjak u. Kiril Taranovsky, New York: New York University Press 1976, S. 3–26. [Anm. d. Übs./ Komm.]
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Auch im zweiten, weitaus stärker auf Interpretation zielenden Teil der Analyse beginnt Jakobson im Kleinen: Er untersucht das Bedeutungsspektrum des im Gedicht zentralen *Lexems »Urne« im Kontext des Gesamtwerks Pusˇkins und arbeitet anhand der Verwendungsweise der Verben sowie weiterer Gedichtstrukturen den semantischen Kern des Gedichts heraus: den Konflikt zwischen Dynamik und Statik, wie er durch den Anlaß und Gegenstand des Gedichts, die Bronzestatue des Milchmädchens im Park von Carskoe Selo, versinnbildlicht wird. Jakobson greift dabei auf seine umfangreiche poetologisch-biographische Studie zur Bedeutung der Statue in Pusˇkins poetischer Mythologie zurück und beschließt die Untersuchung mit dem intertextuellen und intermedialen Vergleich von Pusˇkins Gedicht mit seiner literarischen Quelle (La Fontaines Fabel »Das Milchweib und der Milchtopf«) und deren bildnerischen Darstellungen. Jakobsons Analyse von Pusˇkins Gedicht über die Bacchantin und die Demütige (»Nein, ich schätze nicht die stürmischen Genüsse«) im zweiten Kapitel des Aufsatzes gehört sicher zu seinen spektakulärsten Umsetzungen des Programms der »Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie«. Denn er verfolgt bei seiner Untersuchung dieses Vierzehnzeilers mit unverhüllt erotischer Thematik – Gegenstand sind die sexuellen Vorlieben des Sprechers – zwei auf den ersten Blick gegenläufige Ziele. Zunächst tritt er den Nachweis an, daß es weniger das Thema als viel mehr seine kunstvolle sprachliche Struktur ist, die diesen Text interessant und wertvoll macht. Im zweiten Teil seiner Analyse legt er jedoch die »Verwandlung des gesamten Systems der grammatikalischen Kategorien in die Sprache der Leidenschaft« frei, stellt also gerade die enge Verbindung sprachlicher Strukturen – allen voran der *kontrastiven Verteilung von Wortarten und Kasusformen – mit dem Gedichtgegenstand heraus. Die abschließende Einrückung des Gedichts in den Werkkontext des Autors offenbart nicht allein formale und thematische Entsprechungen bzw. Tendenzen, sondern wirft – eine ausgesprochene Seltenheit in Jakobsons Analysen – gleichzeitig ein durchaus kritisches Licht auf die zentrale Aussage des Vierzehnzeilers: die Zurückweisung der selbstbestimmten zugunsten der (wenngleich auf zärtlichem Wege) erzwungenen Lust. Sebastian Donat
Pusˇkins Verse über die Statue, die Bacchantin und die Demütige
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I. Statue in Carskoe Selo ÷ј–— ќ—≈Ћ№— јя —“ј“”я
”рну с водой уронив, об утес ее дева разбила. ƒева печально сидит, праздный держа черепок. ◊удо! не с¤кнет вода, излива¤сь из урны разбитой; ƒева, над вечной струей, вечно печальна сидит.2 CARSKOSE´L’SKAJA STA´TUJA
´ rnu s vodo´j uronı´v, ob ute´s ee¨ de´va razbı´la. U De´va pecˇa´l’no sidı´t, pra´zdnyj derzˇa´ cˇerepo´k. ˇ u´do! ne sja´knet voda´, izliva´jas’ iz u´rny razbı´toj; C De´va, nad ve´cˇnoj struje´j, ve´cˇno pecˇa´l’na sidı´t. STATUE IN CARSKOE SELO
Eine Urne mit Wasser ließ eine Jungfrau fallen und zerschlug sie am Felsen. Die Jungfrau sitzt traurig und hält die nutzlose Scherbe. Ein Wunder! das Wasser versiegt nicht und ergießt sich aus der zerschlagenen Urne; Die Jungfrau, über dem ewigen Strahl, sitzt ewig traurig.3
Die kleinen Formen im Schaffen Pusˇkins überraschen durch eine ungewöhnliche Konzentration der künstlerischen Mittel. Der Vierzeiler über die Skulptur P. P. Sokolovs 4, der am 1. Oktober 1830 verfaßt wurde, unterscheidet sich thematisch von den anderen Inschriften Pusˇkins: hier ein Mädchen über einer zerschlagenen Urne, dort Jungen beim Svajkaoder Knöchelspiel.5 Von den 14 Gedichten in elegischen Distichen ist 2 3 4
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Vgl. Pusˇkin, Stichotvorenija 1826–1836. Skazki, Bd. 3.1, S. 231. [Anm. d. Übs./ Komm.] Vgl. die Nachdichtung von Michael Engelhard in Puschkin, Die Gedichte. Russisch und deutsch, S. 733. [Anm. d. Übs./Komm.] Das Gedicht bezieht sich auf die Bronzestatue »Molocˇnica« [›Das Milchmädchen‹] im Park von Carskoe Selo, ein Werk des Bildhauers P. P. Sokolov nach der Fabel »Das Milchweib und der Milchtopf« von Jean de La Fontaine (vgl. La Fontaine, Sämtliche Fabeln, S. 500–503). Vgl. die Fotografie im vorliegenden Band, S. 95. Weitere Abbildungen der Statue und Informationen zur Entstehungsgeschichte finden sich auf der Website des »Gosudarstvennyj musej-zapovednik ›Carskoe Celo‹«: http://www.tzar.ru/catherine park/landscape/girl fountain (10. 7. 2006). [Anm. d. Übs./Komm.] Vgl. die ebenfalls in elegischen Distichen verfaßten Gedichte »Na statuju igrajusˇ-
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einzig »Carskosel’skaja statuja« [›Statue in Carskoe Selo‹] ganz einem weiblichen Gegenstand gewidmet. Die zutiefst Pusˇkinsche Symbolik der verwischten Grenze zwischen einer Skulptur und dem Leben 6 schließt nirgends außer in diesem Vierzeiler eine weibliche Statue ein. In der »Statue in Carskoe Selo«, die eine ganze Reihe von Ausdrucksmerkmalen mit anderen elegischen Distichen des Autors teilt, verbergen sich gleichzeitig nicht wenige ausgeprägt individuelle Besonderheiten in bezug auf die Lautfaktur, den Versbau und den künstlerischen Umgang mit Lexik und Grammatik. In den beiden elegischen Distichen der »Statue in Carskoe Selo« (StCS) ist die Verteilung betonter Vokale auf die sechs *Hebungen jeder Zeile einer Reihe von Gesetzen unterworfen. Vorausbemerkend sei daran erinnert, daß sich im russischen, aus fünf *Phonemen bestehenden Vokaldreieck 7 innerhalb beider Phonempaare (U:I = O:E) die Vokale auf perzeptiver Ebene nach ihrer *dunklen und hellen *Tonalität unterscheiden.8 Der Vokal A, *kompakt in bezug auf das akustische Spektrum, farbig in der entsprechenden Terminologie der Lautwahrnehmung, steht im Gegensatz zu allen anderen Vokalen, d. h. zum Paar U und I, das in bezug auf das akustische Spektrum *diffus und hinsichtlich der Wahrnehmung farblos ist, sowie zu den Phonemen O und E, eingeschränkt kompakten und eingeschränkt diffusen Vokalen, die in der Terminologie der Lautwahrnehmung halb farbig und gleichzeitig halb farblos sind.9
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cˇego v svajku« [›Auf die Statue eines Svajka-Spielers‹] und »Na statuju igrajusˇcˇego v babki« [›Auf die Statue eines Knöchelspielers‹]. Pusˇkin, Stichotvorenija 1826–1836. Skazki, Bd. 3.1, S. 434 u. 435, sowie Puschkin, Die Gedichte. Russisch und deutsch, S. 957 u. 959. Eine Fotografie der Statuen findet sich in SW V (Abb. 20, zw. S. 256 u. 257). [Anm. d. Übs./Komm.] Vgl. Jakobson, »Socha v symbolice Pusˇkinoveˇ«. Vgl. die Übersetzung »The Statue in Pusˇkin’s Poetic Mythology«, in: Pusˇkin and His Sculptural Myth, The Hague u. Paris: Mouton 1975, S. 1–44. Wiederabgedruckt in SW V, S. 237–280. Vgl. Schrenk, »Das Russische«, S. 144. [Anm. d. Übs./Komm.] Zu Jakobsons System der distinktiven Merkmale (darunter dunkel vs. hell und kompakt vs. diffus) vgl. Jakobson /Halle, »Phonology and Phonetics«, S. 478–486, und dies., »The Revised Version of the List of Inherent Features«, sowie die deutsche Übersetzung »Phonologie und Phonetik«, S. 71–81. Vgl. auch Jakobson / Waugh, The Sound Shape of Language, S. 83–179 (Kap. 2 und 3), sowie die deutsche Übersetzung Die Lautgestalt der Sprache, S. 87–193. [Anm. d. Übs./Komm.] Zur Farbigkeit und der Opposition hell-dunkel bei Vokalen vgl. Jakobson, »Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze«, S. 378–388 (Abschn. 25–27). [Anm. d. Übs./Komm.]
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Sowohl am Anfang als auch am Ende des Verses besteht das Repertoire der betonten Phoneme aus Vokalen, die an der tonalen Gegenüberstellung von Hell und Dunkel beteiligt sind. Der Anfangsvokal beider Hexameter, das dunkle und diffuse U, unterscheidet sich durch beide distinktiven Merkmale (distinctive features) vom Anfangsvokal der beiden ´ rnu – 2 De´va – Pentameter, dem hellen und eingeschränkt diffusen E: 1 U ˇ 3 Cu ´ do – 4 De´va. Bemerkenswert ist der Umstand, daß sich der Vokal auf der sechsten, abschließenden Hebung durchgehend und zwar immer nur in einem distinktiven Merkmal von den Vokalen auf der ihm vorausgehenden Hebung sowie auf der nachfolgenden Anfangshebung unterscheidet. Von den beiden distinktiven Merkmalen, die hier relevant sind, bezeichnen wir die Gegenüberstellung von diffusen und eingeschränkt diffusen Vokalen als die primäre *Opposition (primary opposition), die tonale Gegenüberstellung von dunklen und hellen Vokalen als sekundäre Opposition (secondary opposition). Die sechsten Hebungen aller Verse machen durchgehend von der primären Opposition Gebrauch. Wenn auf eine Abschlußhebung eine Anfangshebung folgt, dann wird die primäre Opposition verwendet zur Dissimilation des sechsten und des nachfolgenden ersten betonten Vokals; wenn dagegen die letzte Hebung zur letzten Zeile des Vierzeilers gehört, dann wird die primäre Opposition verwendet zur Dissimilation des sechsten und des ersten ihrer eigenen Vokale. In allen übrigen Fällen, d. h. in den ersten drei Versen, baut die Dissimilation des ersten und letzten betonten Vokals auf der sekundären Opposition auf. Die Glieder beider Oppositionen bilden in der Verskette eine regelmäßige Alternation der Richtungen. Primäre Opposition: I-E (1 razbı´la. – 2 De ´va), O-U (2 ˇcerepo´k. – 3 Cˇu´do! ), I-E (3 razbı´toj; – 4 De´va), E-I (4 De´va – 4 sidı´t.). Somit wird an beiden Übergängen vom Hexameter zum Pentameter das abschließende diffuse I dem einleitenden, eingeschränkt dif´ rnu – razbı´la), fusen E gegenübergestellt. Sekundäre Opposition: U-I (1 U E-O (2 De´va – ˇcerepo´k), U-I (3 Cˇu´do – razbı´toj). Somit wird in beiden Hexametern das einleitende dunkle U dem abschließenden hellen I gegenübergestellt. Man könnte zusätzlich anmerken, daß in bezug auf das gesamte Gedicht das einleitende dunkle U dem abschließenden hellen I ´ rnu – 4 sidı´t). gegenübergestellt wird (1 U Das betonte I erscheint nur auf Hebungen, die Halbverse beschließen, und es dominiert in dieser Rolle die anderen Vokale. In den Zeilen des letzten Distichons endet der jeweils zweite Halbvers auf einem betonten I (3 razbı´toj – 4 sidı´t), im einleitenden Distichon sind es entweder der erste Halbvers (2 sidı´t) oder beide Halbverse (1 uronı´v – razbı´la). Es ist
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charakteristisch, daß der letzte Halbvers des zweiten Pentameters fast wortwörtlich den ersten Halbvers des ersten Pentameters wiederaufnimmt und alle seine betonten Vokale wiederholt (E-A-I): 2 De´va pecˇa´l’no sidı´t 〈…〉 – 4 〈…〉 ve´ˇcno pecˇa´l’na sidı´t. Entsprechend beendet der zweite Pentameter seinen ersten Halbvers mit einem betonten O (strue¨j 10 ), während der erste Pentameter seinen ersten Halbvers mit einem betonten I und den zweiten Halbvers mit einem betonten O beendet (cˇerepo´k). Im russischen Vers tendiert die wellenförmige regressive Dissimilation 11 dazu, jede zweite Hebung zu verstärken, wenn man bei der vorletzten Hebung beginnt und rückwärts zählt.12 Im sechshebigen Vers sind somit die geraden Hebungen stark.13 In StCS sind beide geraden Hebungen, die zum inneren Teil des Verses gehören, d. h. die zweite und die vierte, durch identische – entweder eingeschränkt diffuse oder kompakte – Vokale verbunden: 1 s vodo´j – ob ute¨s, 2 pecˇa´l’no – pra´zdnyj, 3 ne sja´knet – izliva´jas’, 4 nad ve´ˇcnoj – ve´ˇcno. Dabei zeigt es sich, daß zwei Abarten derselben grammatischen Kategorie einander gegenübergestellt werden: In der ersten Zeile werden feminine und maskuline, in der dritten Zeile eine finite Verbform und ein *Adverbialpartizip und in beiden Pentametern ein Adjektiv und ein adjektivisches Adverb miteinander verbunden. Die erwähnte enge Verbindung zwischen dem Text und insbesondere der Vokalstruktur beider Pentameter äußert sich weiterhin darin, daß in beiden Fällen die zwangsläufige 14 Übereinstimmung der Vokale auf der 10 Der Buchstabe »e¨« wird hier als /jo´/ ausgesprochen. [Anm. d. Übs./Komm.] 11 Vgl. Jakobson, »Linguistics and Poetics«, S. 32 f. [Anm. v. R.J.] – Vgl. die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 177 f. [Anm. d. Übs./Komm.] 12 Mit anderen Worten: Ausgehend vom Versende bildet die prozentuale Realisation der Hebungen eine sich abschwächende Wellenkurve: maximale Realisation der letzten Hebung, minimale der vorletzten, zweithäufigste der drittletzten, zweitseltenste Realisation der viertletzten Hebung usw. [Anm. d. Übs./Komm.] 13 Die regressive Akzentdissimilation ist (anders als Jakobsons pauschale Bemerkung vermuten läßt) in der russischen Lyrik weder überhistorisch noch für alle Metren gültig. Sie ist ab dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts und speziell auch bei Pusˇkin insbesondere charakteristisch für den jambischen und trochäischen Vierheber. In seinen sechshebigen Jamben dagegen liegt ein gänzlich anderes Profil vor (vgl. die graphischen Darstellungen in Lapsˇina /Romanovicˇ /Jarcho, Metricˇeskij spravocˇnik k stichotvorenijam A. S. Pusˇkina, S. 135). [Anm. d. Übs./Komm.] 14 Jakobson unterstreicht mit dieser Formulierung die (auf StCS beschränkte) Regelmäßigkeit dieser Vokalstruktur als eine der eingangs behaupteten »individuelle[n] Besonderheiten in bezug auf die Lautfaktur« (s. o., S. 80) dieses Gedichts. Vgl. die analoge Argumentation in bezug auf den Gedichtrhythmus (s. u., S. 84 f. u. Anm. 27). [Anm. d. Übs./Komm.]
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zweiten und vierten Hebung eine identische Unterstützung in einem betonten Nachbarvokal findet: 2 pecˇa´l’no sidı´t, pra´zdnyj derzˇa´ ˇcerepo´k – 4 De ´va, nad ve´ˇcnoj strue¨j, ve´ˇcno 〈…〉. Interessant ist die Verteilung des Phonems A, das unter den betonten Vokalen von StCS am häufigsten vorkommt – es ist im Text durch sieben Beispiele vertreten. Von den acht inneren (d. h. weder einleitenden noch abschließenden) Hebungen, die zu den inneren Zeilen (d. h. der zweiten und dritten) des Gedichtes gehören, fallen sechs auf das Phonem A und jeweils eine auf die diffusen Vokale U und I bei völligem Fehlen von O und E. Umgekehrt fallen von den acht inneren Hebungen, die zu den äußeren Zeilen (d. h. der ersten und vierten) des Gedichts gehören, sechs ausgerechnet auf O und E (2 O, 1 E in der ersten, 2 E, 1 O in der vierten 15 Zeile) und lediglich je eine auf A und auf I. Hier zeigt sich vor allem der Widerstand gegen das gemeinsame Auftreten von kompakten und eingeschränkt kompakten Vokalen. In StCS gibt es keine »Ersetzung des *Daktylus durch den *Trochäus«, die sich bei Pusˇkin nach den Berechnungen von B. I. Jarcho 16 in 60 % der Hexameter und in 14 % der Pentameter beobachten läßt, die nach 1825 verfaßt wurden. Nach der Stelle ihrer Wortbetonung gliedern sich die auf metrische Hebungen fallenden Wörter in StCS nur in zwei Kategorien – oxytonische (mit Betonung auf der letzten Silbe) und *paroxytonische (mit Betonung auf der vorletzten Silbe). Jedes dieser Wörter umfaßt mindestens zwei Silben. Einsilber und *Proparoxytona fehlen, wohingegen in den anderen ›anthologischen Epigrammen‹ Pusˇkins, die ebenfalls 1830 in elegischen Distichen verfaßt wurden, solche Betonungsformen üblich sind: im Zweizeiler »Na perevod Iliady« [›Auf die Übersetzung der Ilias‹] – umo´lknuvsˇij zvu´k bozˇ´estvennoj ´ellinskoj re´ˇci, sta´rca velı´kogo te´n’ [›(der) verstummte Klang (der) göttlichen hellenischen Rede, (des) großen Alten Schatten‹]; 17 im Vierzeiler »Otrok« [›Der Junge‹] – stude¨nogo mo´rja [›(des) eisigen Meeres‹]; 18 im Sechszeiler »Trud« [›Das Werk‹] – mı´g vozˇdele´nnyj, tru´d mnogole´tnij, neponja´tnaja gru´st’, molcˇalı´vogo 15 Im Original irrtümlich »vo vtoroj stroke« [›in der zweiten Zeile‹]. [Anm. d. Übs./ Komm.] 16 Vgl. Lapsˇina /Romanovicˇ /Jarcho, Metricˇeskij spravocˇnik k stichotvorenijam A. S. Pusˇkina, S. 83. 17 Vgl. Pusˇkin, Stichotvorenija 1826–1836. Skazki, Bd. 3.1, S. 256, sowie Puschkin, Die Gedichte. Russisch und deutsch, S. 733. [Anm. d. Übs./Komm.] 18 Vgl. Pusˇkin, Stichotvorenija 1826–1836. Skazki, Bd. 3.1, S. 241, sowie Puschkin, Die Gedichte. Russisch und deutsch, S. 769. [Anm. d. Übs./Komm.]
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spu´tnika no´ˇci [›Moment heißersehnter‹, ›Werk vieljährig‹, ›unverständliche Traurigkeit‹, ›(des) schweigsamen Begleiters (der) Nacht‹]; 19 im Achtzeiler »Rifma« [›Der Reim‹] – besso´nnaja nı´mfa, stra´stiju k ne´j, plo´d ponesla´, vljuble¨nnogo bo´ga, me´zˇ govorlı´vych, mı´luju do´ˇc’, ma´teri ˇcu´tkoj, pa´mjati stro´goj [›schlaflose Nymphe‹, ›(in) Leidenschaft zu ihr‹, ›Frucht empfing‹, ›(des) verliebten Gottes‹, ›unter redseligen‹, ›liebliche Tochter‹, ›Mutter feinfühligen‹, ›Andenken strengen‹].20 Ebenso fehlen weder Proparoxytona noch Einsilber in den späteren Gedichten Pusˇkins auf Statuen, z. B. »Na statuju igrajusˇcˇego v babki« [›Auf die Statue eines Knöchelspielers‹] (1836): ju´nosˇa, me´tkuju ko´st’, price´lilsja 〈…〉 procˇ’, vro´z’ rasstupis’ [›Jüngling‹, ›(den) treffenden Knochen‹, ›zielte 〈…〉 fort‹, ›einzeln mach Platz‹].21 Aufgrund des Fehlens betonter Einsilber kommt allen auf metrische Hebungen fallenden Wortbetonungen eine unabhängige phonologische Rolle und eine gleiche rhythmische Stärke zu.22 Außerdem beschränkt sich durch den Ausschluß der Proparoxytona und Einsilber aus dem rhythmischen Lexikon der »Statue in Carskoe Selo« das Phänomen der Anfangsbetonung auf die erste Silbe des Verses in den Hexametern und auf die ersten Silben beider Halbverse in den Pentametern, d. h. insgesamt auf sechs Fälle im Verlauf des gesamten Gedichttextes.23 Zu den sechs Fällen zwangsläufiger Endbetonungen – in allen vier Zeilen auf der letzten Silbe des ersten Halbverses 24 und in beiden Pen19 Vgl. Pusˇkin, Stichotvorenija 1826–1836. Skazki, Bd. 3.1, S. 230, sowie Puschkin, Die Gedichte. Russisch und deutsch, S. 733. [Anm. d. Übs./Komm.] 20 Vgl. Pusˇkin, Stichotvorenija 1826–1836. Skazki, Bd. 3.1, S. 240, sowie Puschkin, Die Gedichte. Russisch und deutsch, S. 733. [Anm. d. Übs./Komm.] 21 Vgl. Pusˇkin, Stichotvorenija 1826–1836. Skazki, Bd. 3.1, S. 435, sowie Puschkin, Die Gedichte. Russisch und deutsch, S. 959. [Anm. d. Übs./Komm.] 22 Jakobson, »Ob odnoslozˇnych slovach v russkom stiche«, in: Slavic Poetics. Essays in honor of Kiril Taranovsky, The Hague u. Paris: Mouton 1973, S. 239–252. Wiederabdruck in SW V, S. 201–214. [Anm. v. R.J.] – Vgl. dagegen die Veränderung des rhythmischen Profils durch massiertes Vorkommen einsilbiger Wörter in den Anfangsversen von Radisˇcˇevs Siebenzeiler »Ty chocˇesˇ’ znat’« [›Du möchtest wissen‹], die Jakobson in seiner Analyse dieses Gedichts herausarbeitet (Jakobson, »›Ty chocˇesˇ’ znat’: kto ja?‹ Razbor tobol’skich stichov Radisˇcˇeva«, S. 314, sowie die Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 696). [Anm. d. Übs./Komm.] 23 Im Gedicht finden sich neben den von Jakobson angeführten freilich noch weitere Wörter mit offensichtlicher Betonung auf der ersten Silbe: 1 de´va, 3 sja´knet, u´rny, 4 ve ´ˇcnoj. Wie aus dem weiteren Verlauf der Argumentation deutlich wird (vgl. bes. Anm. 26), läßt Jakobson sie hier deswegen unbeachtet, weil ihnen jeweils ein *Proklitikon vorangestellt ist. Zusammen mit diesem bilden sie jeweils eine prosodische Worteinheit, die dann freilich über keine Anfangsbetonung verfügt: 1 ee¨ de´va, 3 ne sja´knet, iz u´rny, 4 nad ve´ˇcnoj. [Anm. d. Übs./Komm.] 24 Im Pentameter ist eine feste *Diärese zwischen dem zweisilbig *katalektischen drit-
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tametern auf der letzten Silbe des zweiten Halbverses 25 – fügt StCS noch insgesamt drei oxytonische Wörter hinzu, allesamt im ersten Distichon (1 s vodo´j – ob ute¨s, 2 derzˇa´) und keines im zweiten. Beide inneren Hebungen der Halbverse, d. h. die zweite und die fünfte Hebung des Verses, fallen im zweiten Distichon durchgehend auf die Mitte dreisilbiger *Worteinheiten 26 (*›Amphibrachen‹): 3 ne sja´knet 〈…〉 iz u´rny, 4 nad ve´ˇcnoj 〈…〉 pecˇa´l’na. Im ersten Distichon dagegen sind solche ›Amphibrachen‹ nur durch ein Beispiel vertreten (2 De´va pecˇa´l’no sidı´t). Die reguläre, zwangsläufige *Wortgrenze, die die unbetonten Silben zwischen der ersten und der zweiten Hebung in allen Zeilen beider Distichen aufteilt,27 findet ihre folgerichtige erweiterte Anwendung im Text des abschließenden Distichons, das durch dasselbe Mittel die zweite von der dritten Hebung und die fünfte Hebung von beiden benachbarten abtrennt. Demgegenüber weicht das Anfangsdistichon durch die Einführung oxytonischer Wörter dreimal vor dieser Art symmetrischer Schnitte zurück. ten und dem vierten Versfuß und mithin ein Wortende nach der dritten Hebung vorgeschrieben. Für den Hexameter stellt der von Pusˇkin in beiden ungeraden Versen durch Grenzen oxytonischer Wörter realisierte rhythmische Einschnitt nach der dritten Hebung (die sogenannte Penthemimeres) die Hauptzäsur dar. [Anm. d. Übs./Komm.] 25 Im Pentameter ist eine zweisilbige Katalexe im sechsten Versfuß und somit Endbetonung vorgeschrieben. [Anm. d. Übs./Komm.] 26 In seinem Aufsatz »Slavic Epic Verse« definiert Jakobson die prosodische ›Worteinheit‹ (»word unit«) als mittleren der drei sprachlich basierten Segmentierungsgrade, die (gemeinsam mit den metrischen Segmentierungsgraden) im Vers zur Anwendung kommen, folgendermaßen: »The accented syllable, together with the subordinated unaccented syllables, if any, form a segment termed a w o r d u n i t . It embraces the accented word (i. e. the one that contains the accented syllable), together with the preceding proclitics and subsequent enclitics, if any.« (S. 452). In der deutschen Metriktheorie entspricht dem der Begriff des ›Wortfußes‹ bei Schlawe (Neudeutsche Metrik, S. 47–49). – Vgl. auch Jakobson, »›Ty chocˇesˇ’ znat’: kto ja?‹ Razbor tobol’skich stichov Radisˇcˇeva«, S. 313, sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 695, sowie die Unterscheidung zwischen *prosodisch ›selbständigen‹ und prosodisch ›unselbständigen Wörtern‹ (die ggf. gemeinsam eine ›Worteinheit‹ bilden) in: Jakobson, »Poe˙zija grammatiki i grammatika poe˙zii«, S. 79 (deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 287). [Anm. d. Übs./Komm.] 27 Diese Wortgrenze ergibt sich nicht etwa aus dem metrischen Schema (es handelt sich also nicht um eine häufige oder gar notwendige Zäsur), sondern aus der von Jakobson beschriebenen Beschränkung des Wortbestands im vorliegenden Gedicht, d. h. aus dem Verzicht auf die Verwendung von Proparoxytona und betonten Einsilbern. Die erste Hebung muß demnach in allen Versen durch ein Paroxytonon realisiert werden, was zwangsläufig eine Wortgrenze nach der zweiten Silbe nach sich zieht. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Der Text von StCS, der aus 24 vollbetonten Wörtern besteht, umfaßt insgesamt 16 lexikalisch verschiedene Einheiten. Das Wort 1, 2, 3 deva [›Jungfrau‹], das zunächst als Subjekt des einleitenden Hexameters dient, eröffnet dann nacheinander beide Pentameter, wobei es sich in beiden Zeilen mit ein und demselben Prädikat verbindet: 2, 4 sidit [›sitzt‹]. *Figuren, die auf morphologischen Variationen ein und desselben Kerns aufbauen, verbinden beide Hexameter (1 urnu s vodoj 〈…〉 razbila – 3 voda 〈…〉 iz urnyj razbitoj [›1 Urne mit Wasser 〈…〉 zerschlug – 3 Wasser 〈…〉 aus Urne zerschlagener‹]), danach beide Pentameter (2 deva pecˇal’no sidit – 4 deva 〈…〉 pec ˇal’na sidit [›Jungfrau traurig sitzt – 4 Jungfrau 〈…〉 (ist) traurig (und) sitzt‹]) und gleichzeitig beide Halbverse des abschließenden Pentameters (4 nad vecˇnoj strue¨j, vecˇno pecˇal’na [›über (dem) ewigen Strahl, ewig traurig‹]). Mit jeder Zeile nimmt die Zahl der *lexikalisch neuen Wörter ab: 6 in der ersten, 5 in der zweiten, 3 in der dritten und 2 in der vierten (4 vecˇnoj strue¨j [›ewigen Strahl‹]). Jede Zeile enthält einen Satz mit einer ›doppelten Prädikation‹: eine Adverbialpartizip-Konstruktion in den ersten drei Versen und eine AdjektivKonstruktion in der vierten.28 Das völlige Fehlen von Konjunktionen in StCS verleiht dem *Parallelismus des syntaktischen Bestands der Zeilen eine noch größere Spürbarkeit. Die Sätze des abschließenden Distichons sind vom einleitenden durch den Ausruf 3 Cˇudo! [›(Ein) Wunder!‹] getrennt. – Jeder Satz unterscheidet sich von den drei übrigen durch die Reihenfolge seiner Grundbestandteile – des Subjekts (S) und der Prädikate (P): des Haupt- (P1) und des Nebenprädikats (P2) – und ihrer Verteilung auf die Halbverse: 1 P2 /SP1 – 2 SP1 /P2 – 3 P1S/P2 – 4 S/P2P1. Jeder Satz unterscheidet sich vom vorausgehenden durch eine einzige Umstellung in der Anordnung der angeführten Satzglieder, und zwar der zweite Vers vom ersten durch die Endposition des Nebenprädikats, der dritte vom zweiten durch die Anfangsposition des Hauptprädikats und der vierte vom dritten durch die Endposition des Hauptprädikats. Der zweite Hexameter ist im Vergleich zum ersten durch eine komplette *Inversion, d. h. eine *Spiegelsymmetrie in der Reihenfolge aller drei Glieder gekennzeichnet. Beide Pentameter unterscheiden sich von den Hexametern durch die Anfangsposition des Subjekts im Vers und durch die benachbarte Lage der beiden Prädikate. In den äußeren Zeilen, d. h. in der 28 Vgl. Sˇachmatov, Sintaksis russkogo jazyka, S. 221–234 (§ 265–293). [Anm. v. R.J.] – D. h. die genannten Konstruktionen enthalten jeweils die zusätzliche, die »Nebenprädikation« (s. unten). [Anm. v. I.M.]
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ersten und in der letzten Zeile des Vierzeilers gehören zwei von drei Gliedern dem zweiten, in beiden inneren dem ersten Halbvers an; die äußeren Zeilen plazieren im Gegensatz zu den inneren das Haupt- nach dem Nebenprädikat. Urna [›(Die) Urne‹] im Akkusativ des zerstörten Objekts (1 Urnu 〈…〉 razbila [›(Die) Urne 〈…〉 zerschlug‹]) eröffnet die Hexameter von StCS, und im Genitiv der Trennung 29 beschließt sie die Hexameter von StCS. Dieses Nomen zur Bezeichnung eines Kruges für Wasser ist sowohl in den Versen Pusˇkins als auch generell im russischen Wortschatz ungewöhnlich. Es genügt, das Material durchzusehen, das im Slovar’ jazyka Pusˇkina 30 [›Wörterbuch der Sprache Pusˇkins‹] gesammelt ist, damit die untrennbare Assoziation dieses Wortes mit dem Bild vom Lebensende ins Auge fällt. Zum größten Teil tritt es unmittelbar in Begräbnissituationen auf: ¬орами со столбов отвинченные урны, ћогилы склизкие, которы также тут «еваючи жильцов к себе на утро ждут, – “акие смутные мне мысли всЄ наводит, ◊то злое на мен¤ уныние находит.31 Vora´mi so stolbo´v otvı´ncˇennyje u´rny, Mogı´ly sklı´zkie, koto´ry ta´kzˇe tu´t Zeva´jucˇi zˇil’co´v k sebe na u´tro zˇdu´t, – Takı´e smu´tnye mne my´sli vse¨ navo´dit, ˇ to zlo´e na menja´ uny´nie nacho´dit. C Durch Diebe von den Säulen abgeschraubte Urnen, Glitschige Gräber, die dort auch Gähnend auf ihre Bewohner vom [nächsten] Morgen warten, – All das bringt mich auf solche wirre Gedanken, Daß mich eine böse Niedergeschlagenheit überkommt.32 ѕридешь ли, дева красоты, —лезу пролить над ранней урной 33 29 Zu den verschiedenen Funktionen des Genitivs vgl. Jakobson, »Beitrag zur allgemeinen Kasuslehre«, S. 37–44. [Anm. d. Übs./Komm.] 30 Slovar’ jazyka Pusˇkina, Bd. 4, S. 727. 31 Es handelt sich um V. 12–16 aus Pusˇkins Gedicht »Kogda za gorodom…«. Pusˇkin, Stichotvorenija 1826–1836. Skazki, Bd. 3.1, S. 422. [Anm. d. Übs./Komm.] 32 Vgl. die Nachdichtung von Michael Engelhard in Puschkin, Die Gedichte. Russisch und deutsch, S. 951. [Anm. d. Übs./Komm.] 33 Es handelt sich um V. 8 f. aus der XXII. Strophe des sechsten Kapitels von Evgenij
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Pride´ˇs’ li, de´va krasoty´, Slezu´ prolı´t’ nad ra´nnej u´rnoj wirst dann doch kommen, Mädchen der Schönheit, eine Träne zu vergießen über der frühen Urne 34 “во¤ краса, твои страдань¤ »счезли в урне гробовой 35 Tvoja´ krasa´, tvoı´ strada´n’ja Iscˇe´zli v u´rne grobovo´j Deine Schönheit, deine Leiden Verschwanden in der Grabes-Urne 36 », может быть, об участи моей ќна вздохнет над урной гробовою.37 I, mo´zˇet by´t’, ob u´cˇasti moe´j Ona vzdochne´t nad u´rnoj grobovo´ju. Und vielleicht über mein Schicksal Seufzt sie über der Grabes-Urne.
Doch auch außerhalb des Friedhof-Kontextes bleibt urna [›Urne‹], wie zum Beispiel in »Egipetskie nocˇi« [›Ägyptische Nächte‹], ein Beerdigungssymbol: » ложе смерти их зовет. Ѕлагословенные жрецами, “еперь из урны роковой ѕред неподвижными гост¤ми ¬ыход¤т жребии чредой.38
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Onegin. Vgl. Pusˇkin, Evgenij Onegin. Roman v stichach, S. 126. – Allerdings ist zu beachten, daß diese Zeilen in der Romanhandlung zum Abschiedsgedicht Lenskijs gehören, das unübersehbar als eine Parodie auf schlechte romantische Gedichte konzipiert ist. Die Verwendung des Bilds der Urne ist also hier kaum als Pusˇkintypisch anzusehen, sondern es handelt sich um ein bewußt zur Schau gestelltes romantisches Klischee. [Anm. d. Übs./Komm.] Puschkin, Eugen Onegin. Ein Roman in Versen, S. 133. [Anm. d. Übs./Komm.] Es handelt sich um V. 21 f. aus Pusˇkins Gedicht »Dlja beregov otcˇizny…«. Vgl. Pusˇkin, Stichotvorenija 1826–1836. Skazki, Bd. 3.1, S. 257. [Anm. d. Übs./Komm.] Vgl. die Nachdichtung von Michael Engelhard in Puschkin, Die Gedichte. Russisch und deutsch, S. 755. [Anm. d. Übs./Komm.] Es handelt sich um die letzten beiden Verse aus Pusˇkins Gedicht »E˙legija (Ja videl smert’; ona v molcˇan’e sela…)«. Vgl. Pusˇkin, Licejskie stichotvorenija, S. 168. [Anm. d. Übs./Komm.]
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I lo´zˇe sme´rti ich zove´t. Blagoslove´nnye zˇreca´mi, Tepe´r’ iz u´rny rokovo´j Pred nepodvı´zˇnymi gostja´mi Vycho´djat zˇre´bii cˇredo´j. Und das Bett des Todes ruft sie. Von Opferpriestern gesegnet, Jetzt aus der verhängnisvollen Urne Vor den unbeweglichen Gästen Erscheinen die Lose der Reihenfolge nach.39
Neben den »prazdnych urn« [›leeren Urnen‹] des öffentlichen Friedhofs 40 werden mit dem gleichen *Epitheton, das die Semantik des Unbesetzten und des Ziellosen miteinander verbindet, auch die Festmahlsgefäße im Gedicht an Krivcov (1817) ausgestattet, das über »groba blizkim novosel’em« [›die nahe Einzugsfeier ins Grab‹] nachdenkt: —мертный миг наш будет светел; » подруги шалунов —оберут их легкой пепел ¬ урны праздные пиров.41 Sme´rtnyj mı´g nasˇ bu´det sve´tel; I podru´gi ˇsaluno´v Soberu´t ich le´gkoj pe´pel V u´rny pra´zdnye piro´v. Unser Todesmoment wird froh sein; Und die Freundinnen der Schelme Werden ihre leichte Asche einsammeln In die leeren Urnen der Gelage.42
38 Es handelt sich um das Ende der dritten und den Beginn der vierten Strophe der Improvisation zum Thema »Kleopatra und ihre Liebhaber«. Vgl. Pusˇkin, Romany i povesti. Putesˇestvija, Bd. 8.1, S. 275. [Anm. d. Übs./Komm.] 39 Vgl. die Übersetzung von Wolfgang E. Groeger in Puschkin, Gesammelte Werke in sechs Bänden, Bd. 4, S. 318. [Anm. d. Übs./Komm.] 40 Jakobson verweist hier auf V. 25 des o. a. Gedichts »Kogda za gorodom…«. Vgl. Pusˇkin, Stichotvorenija 1826–1836. Skazki, Bd. 3.1, S. 423. [Anm. d. Übs./ Komm.] 41 Vgl. Pusˇkin, Stichotvorenija 1817–1825. Licejskie stichotvorenija v pozdnejsˇich redakcijach, Bd. 2. 1., S. 47. [Anm. d. Übs./Komm.] 42 Vgl. die Nachdichtung von Michael Engelhard in Puschkin, Die Gedichte. Russisch und deutsch, S. 193. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Zum Symbolkreis der ewigen Verluste gehört auch »prazdnyj cˇerepok« [›nutzlose Scherbe‹] des zerbrochenen Kruges, der absichtlich in eine Urne umbenannt wurde. Die aus drei Phonemen bestehende Wurzel mit dem einleitenden dunklen U in Begleitung der zwei benachbarten *Sonore RN ist ungewöhnlich, sehr expressiv und hervorgehoben durch eine *Paronomasie mit uroniv [›fallengelassen habend‹] sowie durch eine dreigliedrige *Alliteration der Anfangsvokale: 1 Urnu – uroniv – ute¨s. Von den vier Sonoren (wenn man den Unterschied zwischen ihren weichen und harten Spielarten beiseite läßt) begegnet M im Vierzeiler überhaupt nicht, L genau einmal in jeder Zeile; R und N, d. h. die Sonore der Wurzel urn-, treten obligatorisch fünfmal in jedem Vers auf. Dabei überwiegt im ersten Distichon R (in beiden Zeilen jeweils 3 R und 2 N ) und im zweiten, gewissermaßen als *anagrammatischer Widerhall der Reihenfolge der Verbindung RN, die vom Trauerwort der Distichen vorgegeben wird, nimmt N auf Kosten von R zu (2 R, 3 N in der dritten und 1 R, 4 N in der vierten Zeile). Die dramatische Mitteilung über das unglückliche Ereignis, die in der ersten Zeile von StCS komprimiert ist, unterscheidet sich von der folgenden Erzählung durch das Präteritum der *perfektiven Verben, während die übrigen drei Verse nur das Präsens und nur den *imperfektiven *Aspekt kennen.43 Nur in der ersten Zeile gibt es keine *intransitiven Verben, und nur in dieser Zeile finden sich drei Akkusative im Gegensatz zum einzigen Akkusativ der folgenden Zeile und dem kompletten Fehlen des Akkusativs im abschließenden Distichon. Die zweite Zeile ist ein ›lebendes Bild‹ der unmittelbaren Folgen des Unglücks, das stattgefunden hat. Die Kategorie des Präteritums verschwindet zusammen mit der Kategorie des perfektiven Aspekts. Präsens und imperfektiver Aspekt beherrschen bis zum Ende des Vierzeilers die Verben. Außer dem Wechsel von Aspekt und *Tempus muß man zwischen den Verben beider Zeilen den grundsätzlichen Unterschied im Charakter der *lexikalischen Bedeutungen feststellen. Während im Hexameter die Verben die Änderung und Dynamik des Prozesses bezeichneten (1 uroniv 〈…〉 razbila [›fallen gelassen habend 〈…〉 zerschlug‹]), überlassen sie im Pentameter Verben den Platz, die eine 43 Zu den *Verbalaspekten vgl. Jakobson, »Zur Struktur des russischen Verbums«, S. 6, sowie ders., »Shifters, Verbal Categories, and the Russian Verb«, S. 137 f., und die deutsche Übersetzung »Verschieber, Verbkategorien und das russische Verb«, S. 43 f. [Anm. d. Übs./Komm.]
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statische Unveränderlichkeit darstellen (2 sidit 〈…〉 derzˇa [›sitzt 〈…〉 haltend‹]). Die Heldin des ersten Distichons war die Jungfrau, die die modellierte Urne zerschlagen hatte und vor Trauer mit der unnützen Scherbe in der Hand erstarrt war. Im Pentameter wird die Verbindung der Bilder unterstrichen durch die Alliteration des Adverbs 2 pecˇal’no [›traurig‹] mit dem Adjektiv prazdnyj [›nutzlos‹] und durch die kunstvolle Paronomasie 2 pec ˇ al’ – cˇerepok.44 Dieses Wort, das letzte im Distichon, widerspricht durch sein dunkles O der hellen Tonalität der betonten I in der *Kadenz der anderen Verse und kontrastiert semantisch scharf mit dem Wunder, das beiden Sätzen des zweiten Distichons vorausgeschickt wird. Dennoch vereinigt eine Alliteration das Ende und den Anfang der benachbarten Distichen: 2 ˇcerepok. – 3 Cˇudo! [›2 Scherbe. – 3 Wunder!‹] Erstaunt über Pusˇkins poetische Mythologie der wundertätigen Statuen habe ich seinerzeit den vom Poeten besungenen Triumph der dargestellten Beweglichkeit über die Trägheit der Materie mit dem gegensätzlichen, seinerseits bildnerischen Wunder verglichen: der ewig unbeweglichen Materie, die die Geisterhaftigkeit der ephemeren Bewegung überwindet. Dem Dichter kam es als ein Cˇudo! [›Wunder!‹] vor, wie urnu s vodoj uroniv, 〈…〉 deva, nad vecˇnoj struej, vecˇno pecˇal’na sidit [›nachdem sie (eine) Urne mit Wasser fallen lassen hatte, 〈…〉 (die) Jungfrau, über (dem) ewigen Strahl, ewig traurig sitzt‹]. »Der innere Dualismus des Zeichens ist aufgehoben: Die Unbeweglichkeit der Statue wird wahrgenommen als Unbeweglichkeit der Jungfrau, die Opposition von Zeichen und Gegenstand verschwindet, die Unbeweglichkeit ergreift Besitz von der realen Zeit und wird als Ewigkeit begriffen«.45 Während die Einzahl im gesamten Vierzeiler uneingeschränkt herrscht, besteht in der Verteilung der Genera zwischen den Distichen ein spürbarer Unterschied. Neben dem Femininum, das die dominierende Stellung einnimmt (je vier Nomina in jedem Distichon), gehören zwei Beispiele des Maskulinums zum dramatischen Wörterbuch des ersten Distichons: die Ursache und das Resultat des Zerschlagens der Urne, 1 utes [›Felsen‹] und 2 prazdnyj ˇ cerepok [›nutzlose Scherbe‹]. Im zweiten Distichon dagegen wird dem Neutrum der einleitende Ausruf zugeteilt, nach dem bis zum Ende des Gedichtes einzig und allein feminine Nomina folgen. 44 Im Original irrtümlich »pecˇal’ – cˇerepok«. [Anm. d. Übs./Komm.] 45 Jakobson, »Socha v symbolice Pusˇkinoveˇ«, S. 19. [Anm. v. R.J.] – Vgl. die englische Übersetzung »The Statue in Pusˇkin’s Poetic Mythology«, S. 270. [Anm. d. Übs./ Komm.]
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Das zweite Distichon verwandelt die Jungfrau zusammen mit der von ihr zerschlagenen Urne in eine Skulptur. Der eigensinnige *Rhythmus des ersten Distichons und insbesondere des ersten Verses wird abgelöst durch die ausnahmslos gleichförmige Verteilung der Wortgrenzen im Verlauf der letzten beiden Zeilen. Im Gegensatz zur ersten Zeile mit ihren drei Akkusativen und zwei *transitiven Verben, aber auch zur zweiten Zeile des Anfangsdistichons, die in ihrem syntaktisch untergeordneten Halbvers ein Adverbialpartizip eines transitiven Verbs und ein Substantiv im Akkusativ enthält, schafft das zweite Distichon die transitiven Verben ab und kennt weder *direkte noch *indirekte Objekte. Die Handlungen verlieren ihre Richtung; voda [›Wasser‹] verändert sich vom *präpositionalen Objekt (1 s vodoj [›mit Wasser‹] im zweiten Hexameter zum selbständigen Subjekt an der Stelle von deva [›Jungfrau‹], die den ersten Hexameter regiert hatte, und die Konsonanten beider Subjekte tauschen die Plätze: 1 deva – 3 voda. Das Hauptprädikat, das den ersten Hexameter abschließt, das transitive Verb 1 razbila [›zerschlug‹], verwandelt sich am Ende des zweiten Hexameters in das deverbative Adjektiv razbitoj [›zerschlagenen‹], wobei sowohl die Verbindung als auch der Kontrast beider metrisch ähnlichen Zeilen durch den Parallelismus der beiden Präpositionen verstärkt wird, die von Präfixen gerahmt werden: 1 uroniv, ob utes 〈…〉 razbila – 3 izlivajas’ iz urny razbitoj [›1 fallen lassend, am Felsen 〈…〉 zerschlug – 3 sich ergießend aus (der) Urne zerschlagenen‹] (mit dreifachem Z am Ende der Präposition und der Präfixe). Während im ersten Distichon die Verbformen des Hexameters die dynamische Semantik dem statischen Charakter der Prädikate des Pentameters gegenüberstellten, tritt die gleiche lexikalische Beziehung im zweiten Distichon mit dem Unterschied auf, daß der zweite Pentameter, während er das Hauptprädikat des ersten (4 sidit [›sitzt‹]) aufnimmt, den Verbcharakter des Nebenprädikats annulliert. Denn er tauscht die Adverbialpartizipien der ersten drei Zeilen gegen ein prädikatives Adjektiv (4 pecˇal’na [›(ist) traurig‹]), das nach seiner *grammatischen Bedeutung keine Handlung ausdrückt. Die Verbformen des zweiten Hexameters entsprechen in ihrer Semantik den Verben des ersten Hexameters, d. h. an sich drücken sie tatsächlich den wechselnden Charakter der Prozesse aus (3 sjaknet 〈…〉 izlivajas’ [›versiegt 〈…〉 sich ergießend‹], doch der Kontext und vor allem die Negationspartikel -ne- verneinen den Prozeß des Versiegens und verwandeln das Motiv des unermüdlichen Ergießens in eine schlechte, leblose Unendlichkeit. Die sprachliche Verkörperung der unheildrohenden Magie der Bildhauerkunst, die die zerschlagene, nutzlose Urne in einen unerschöpfli-
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chen, nutzlosen Strom verwandelt hat, formiert sich bei Pusˇkin durch (innerhalb jeder der inneren Zeilen) dreifache Wiederholung des betonten A, des vokalischsten unter allen Vokalen, des stärksten, längsten und markantesten insbesondere vor einem unähnlichen lautlichen Hintergrund: 2 3
pecˇa´l’no 〈…〉 pra´zdnyj derzˇa´ ne sja´knet voda´, izliva´jas’ 〈…〉
Die Wörter an beiden Enden dieser Kette sind kombiniert in der blumigen Antwort Don Juans an Donna Anna in »Kamennij rost’« [›Der steinerne Gast‹], der in derselben Zeit geschrieben wurde: »Pecˇa´li va´ˇsej vo´l’no izliva´t’sja« 46 [›(ich störe) eueren Schmerz (dabei), sich frei zu ergießen‹ 47 ]. Mit dem abschließenden Pentameter endet Pusˇkins Skulptur-Mythos. Die scheinbar unbedeutende, genauer gesagt: unhörbare Ersetzung des im ersten Pentameter erklungenen Adverbs 2 pecˇal’no [›traurig‹] durch das feminine prädikative Adjektiv pecˇal’na [›(sie ist) traurig‹] erzählt die Metamorphose der lebendigen Jungfrau zur Jungfrauen-Statue zu Ende: 2 Deva pec ˇal’no sidit – 4 Deva, nad vecˇnoj strue¨j, vecˇno pecˇal’na sidit [›2 Jungfrau traurig sitzt – 4 Jungfrau, über (dem) ewigen Strahl, ewig (ist) traurig (und) sitzt‹]. Die isolierte, in Kommata gerückte Adverbialbestimmung – nad vecˇnoj strue¨j [›über (dem) ewigen Strahl‹] – erinnert zum einen an den synonymen *Instrumental des ersten Halbverses – 1 Urnu s vodoj uroniv [›(Eine) Urne mit Wasser fallen gelassen habend‹] –, wo sowohl syntaktisch als auch faktisch das Wasser der Urne untergeordnet blieb. Die Nähe wird unterstrichen durch eine paronomastische Inversi´ JUR – RUJO ´ ). Zum zweiten gibt on: 1 s vodoj uroniv – 4 struje¨j (O innerhalb des zweiten Distichons die Nachricht des Hexameters über das nicht versiegende Wasser bereits die Worte des Pentameters über die Ewigkeit des Strahls vor; und die enge Verbindung zwischen dem Thema des Wassers und dem der Jungfrau, den einzigen und zudem einander abwechselnden Subjekten im Vierzeiler, erlaubt es, in den ersten Versfüßen der letzten Zeile eine seltsame paronomastische Inversion zu lesen: 4 deva, nad vec ˇnoj (D’E´VA – ADV’E´). Schließlich verwandelt sich das Epitheton des Strahls aus dem Adjektiv 4 vecˇnoj [›ewigen‹] im abschließenden Halbvers in das Adverb 4 vecˇno [›ewig‹] zum Prädikat 4 pecˇal’na 46 Die Passage findet sich zu Beginn der 3. Szene, V. 27, der Kurztragödie. Vgl. Pusˇkin, Dramaticˇeskie proizvedenija, S. 154. [Anm. d. Übs./Komm.] 47 Vgl. die Übersetzung von Henry von Heiseler in Puschkin, Gesammelte Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 325. [Anm. d. Übs./Komm.]
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[›(sie ist) traurig‹], das wiederum umgekehrt aus dem Adverb 2 pecˇal’no [›traurig‹] zum Adjektiv wurde. Der unstillbare Schmerz über die eingebüßte Urne, der die unbewegliche, versteinerte Jungfrau auf ewig erfaßt hat und gleichsam an die Stelle des nur zeitlich begrenzten, vorübergehenden Erlebnisses derselben Heldin ›im menschlichen Leben‹ getreten ist, ist auf merkwürdige Weise verflochten mit der Phantasmagorie des ewigen Strahls, der dazu verurteilt ist, sich ohne Ende und umsonst aus dem zerschlagenen Geschirr zu ergießen. Was ist in den erörterten Distichen von ihrer literarischen Quelle, der Fabel »La laitie`re et le pot au lait«, übriggeblieben, die den Bildhauer Sokolov zu seiner Statue »Molocˇnica« inspirierte, auf die Pusˇkin mit seinem ›anthologischen Epigramm‹ 48 antwortete? 49 In der Fabel La Fontaines trägt das Milchmädchen Perrette einen Krug mit Milch in die Stadt, und im Träumen vom Erlös und der sich anschließenden Kette von ökonomischen Operationen springt sie vor Begeisterung unvorsichtig hoch: La lait tombe: adieu veau, vache, cochon, couve´e. La dame de ces biens, quittant d’un œil marri Sa fortune ainsi re´pandue, Va s’excuser a` son mari, En grand danger d’eˆtre battue.50
Es ist schwer, den ›œil marri‹ der vom Pech verfolgten Perrette in der ewig traurigen Jungfrau der Pusˇkinschen Zeilen wiederzuerkennen. Im Springbrunnen mit dem Namen »Molocˇnica« [›Das Milchmädchen‹] in Carskoe Selo, der die erotische Symbolik wiederholt, die von J.-B. Greuze 48 Vgl. O. V., Art. »Antologija« (hier gleich in deutscher Übersetzung): »Im 19. Jahrhundert bezeichnete man in Rußland […] Gedichte als ›anthologisch‹, die über Motive und in der Manier der antiken Literatur verfaßt oder aus dem Lateinischen oder Altgriechischen übersetzt wurden.« [Anm. d. Übs./Komm.] 49 Zur weit vor La Fontaine einsetzenden Geschichte des Motivs in Literatur, Malerei und Bildender Kunst vgl. die materialreiche Zusammenstellung in: Zick, »Der zerbrochene Krug als Bildmotiv des 18. Jahrhunderts«, bes. S. 179–190 (»III. Die Milchmädchenrechnung«). Dort wird auch die Statue von Sokolov behandelt, allerdings nicht Pusˇkins Gedicht. [Anm. d. Übs./Komm.] 50 V. 23–27 der Fabel. Vgl. La Fontaine, Œuvres comple`tes, Bd. 1, S. 168 f., hier: S. 168, sowie La Fontaine, Sämtliche Fabeln, S. 502 f. Dort auch die deutsche Nachdichtung von Ernst Dohm: »Stürzt hin die Milch: Kuh, Kalb, Schwein, Küchlein – hin ist alles. Die Herrin all des Guts sah nun betrübten Blicks In Trümmern ihre Schätze liegen Und fürchtet’, ob des Mißgeschicks Prügel von ihrem Mann zu kriegen.« [Anm. d. Übs./Komm.]
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Jean-Baptiste Greuze, La Cruche casse´e, 1772/73 (?). © 2006 Muse´e du Louvre /A. Dequier – M. Bard
in seinem »La Cruche casse´e« sorgfältig gepflegt wurde,51 trauert ein halbentkleidetes Mädchen aus Bronze mit einer Scherbe in der Hand bezaubernd auf dem als Felsen gestalteten Sockel, und zu ihren Füßen fließt 51 Jakobson verweist hier auf das 1771 entstandene Gemälde »La Cruche casse´e« von Jean-Baptiste Greuze (1725–1805), das sich im Pariser Louvre (Inv. 5063) befindet. Vgl. die Abbildung im vorliegenden Band sowie den Kommentar in Lexikon der Kunst. Malerei, Architektur, Bildhauerkunst, Bd. 5, S. 218 f. [Anm. d. Übs./ Komm.]
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aus dem zerbrochenen Krug ein Strahl durchsichtigen Quellwassers.52 Den Felsen, die traurig sitzende Jungfrau, die Scherbe, den nicht versiegenden Wasserstrahl aus dem zerbrochenen Geschirr übernehmen Pusˇkins Verse vom Bildhauer, aber alle diese Accessoires durchlaufen bei ihrer Transposition eine tiefgreifende Metamorphose in ihrer Motivierung und insbesondere im sujetbezogenen Erfassen der eigentlichen Grundlagen der Skulptur und der Parkarchitektur. Dies geschah im gleichen Monat, als der Autor das zehnte Kapitel des »Evgenij Onegin« verbrannte und »Domik v Kolomne« [›Das Häuschen in Kolomna‹] beendete, wo in einer der nicht in die Druckfassung aufgenommen Strophen der Hexameter thematisiert wird: »o, s nim ja ne ˇsucˇu: On mne nevmocˇ’« 53 [›oh, mit ihm scherze ich nicht: Er geht über meine Kräfte‹]. Die Inschrift über die Statue in Carskoe Selo wurde von Pusˇkin am 1. Oktober auf dem Gut in Boldino verfaßt, weit entfernt sowohl vom Zarenhof als auch von Moskau, wo die Braut auf den Dichter wartete. Einen Tag zuvor, am 30. September, hatte er ihr geschrieben: »Notre mariage semble toujours fuir devant moi, et cette peste avec ses quarantaines n’est-elle pas la plus mauvaise plaisanterie que le sort ait pu imaginer.« 54 Im nächsten Brief an sie vom 11. Oktober klagt er über das Eingesperrtsein in Boldino und vergleicht Boldino mit »einer von Felsen umgebenen Insel«.55 Man erinnere sich an den verhängnisvollen Felsen im ersten Vers von StCS. Anfang November, noch immer eingeschlossen in Boldino, schreibt Pusˇkin an seine Vertraute, Praskov’ja Aleksandrovna Osipova: »Je suis l’athe´e du bonheur; je n’y crois pas«.56
52 Vgl. Petrov, Pusˇkin. Dvorcy i parki, S. 88 sowie Tafel 66 u. 67. 53 Es handelt sich um V. 3 f. der 8. Strophe der Entwurfshandschrift. Vgl. Pusˇkin, Poe˙my 1825–1833, S. 375. [Anm. d. Übs./Komm.] 54 ›Unsere Hochzeit scheint immer vor mir zu fliehen, und diese Pest mit ihren Quarantänen – ist das nicht ein höchst abscheulicher Scherz, den nur das Schicksal sich ausdenken konnte?‹ – Pusˇkin, Perepiska 1828–1831, S. 114 f., hier: S. 114. [Anm. d. Übs./Komm.] 55 Vgl. die Originalpassage in Pusˇkins Brief an N. N. Goncˇarova: »Boldino a l’air d’une ˆıle entoure´e de rochers.« (A. a. O., S. 115). [Anm. d. Übs./Komm.] 56 ›Ich bin Atheist in der Frage des Glücks; ich glaube nicht daran‹. Vgl. a. a. O., S. 123. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Molocˇnica, Brunnenfigur von Pavel Petrovicˇ Sokolov, 1810. Carskoe Selo, Ekaterinskij park © 2006 Gosudarstvennyj Muzej-Zapovednik »Carskoe Selo«
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Ќет, ¤ не дорожу м¤тежным наслажденьем, ¬осторгом чувственным, безумством, исступленьем, —тенаньем, криками вакханки молодой, огда, ви¤сь в моих объ¤ти¤х змией, ѕорывом пылких ласк и ¤звою лобзаний ќна торопит миг последних содроганий! ќ, как милее ты, смиренница мо¤! ќ, как мучительно тобою счастлив ¤, огда, склон¤¤с¤ на долгие молень¤, “ы предаешьс¤ мне нежна без упоень¤, —тыдливо-холодна, восторгу моему ≈два ответствуешь, не внемлешь ничему » оживл¤ешьс¤ потом всЄ боле, боле – » делишь наконец мой пламень поневоле! 57 Net, ja ne dorozˇu´ mjate´zˇnym naslazˇde´n’em, Vosto´rgom cˇu´vstvennym, bezu´mstvom, isstuple´n’em, Stena´n’em, krı´kami vakcha´nki molodo´j, Kogda´, vija´s’ v moı´ch ob”ja´tijach zmie´j, Pory´vom py´lkich la´sk i ja´zvoju lobza´nij Ona´ toro´pit mı´g posle´dnich sodroga´nij! O, kak mile´e ty, smire´nnica moja´! O, kak mucˇ´ıtel’no tobo´ju scˇa´stliv ja´, Kogda´, sklonja´jasja na do´lgie mole´n’ja, Ty predae´ˇs’sja mne nezˇna´ bez upoe´n’ja, Stydlı´vo-cholodna´, vosto´rgu moemu´ Edva´ otve´tstvuesˇ’, ne vne´mlesˇ’ nicˇemu´ I ozˇivlja´esˇ’sja poto´m vse bo´le, bo´le – I de´lisˇ’ nakone´c moj pla´men’ ponevo´le! Nein, ich schätze nicht die stürmischen Genüsse, Das sinnliche Entzücken, den Wahnsinn, die Ekstase, Das Stöhnen, die Schreie der jungen Bacchantin,58
57 Vgl. Pusˇkin: Stichotvorenija 1826–1836. Skazki, Bd. 3.1, S. 213. [Anm. d. Übs./ Komm.] 58 Bacchantin: (wilde, rasende) Begleiterin von Bacchus, dem Gott des Weines. Vgl. die Parallele zum Beginn des ebenfalls im Herbst 1830 entstandenen 8. Kapitels von Pusˇkins Versroman Evgenij Onegin: Dort wird in der dritten Strophe die Muse des jungen Dichters mit einer »vakchanocˇka« [›kleinen Bacchantin‹] verglichen und als »vetrennaja podruga« [›leichtsinnige Freundin‹] bezeichnet. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Wenn, in meinen Umarmungen sich wie eine Schlange windend, Durch einen Ausbruch heftiger Liebkosungen und die Wunde der Küsse Sie den Augenblick der letzten Schauder beschleunigt! Oh, wie lieblicher bist du, meine Demütige 59! Oh, wie qualvoll bin ich über dich glücklich, Wenn, dich langem Flehen beugend, Du dich mir hingibst zärtlich ohne Begeisterung, Schüchtern-kalt, auf mein Entzücken Kaum antwortest, auf nichts die Aufmerksamkeit richtest Und dann immer mehr und mehr auflebst – Und endlich meine Glut unfreiwillig teilst! 60
Das ganze Gedicht setzt sich aus zwei exklamativen Phrasen 61 zusammen, die durch eine Leerzeile voneinander getrennt sind und durch eine thematische *Antithese und eine tiefgreifende Unähnlichkeit im grammatischen Bestand in starkem Kontrast zueinander stehen. Jeder der beiden Teile hat seine Heldin: sie und du. 6 Ona [›Sie‹] steht am Ende der einleitenden Phrase; 7, 10 Ty [›Du‹] ist, beginnend mit ihrem ersten Vers, das grammatische Subjekt der folgenden abschließenden Phrase. Ona tritt unter dem Spitznamen der 3 vakchanki molodoj [›jungen Bacchantin‹] auf, der als adnominaler Genitiv erscheint, einer Sechsergruppe von Instrumentalformen untergeordnet, die ihrerseits vom negierten Prädikat 1 ne dorozˇu [›(ich) schätze nicht‹] regiert werden. Auf das – in Pusˇkins Bestimmung – »herzliche« Subjekt ty 62 folgt unmittelbar eine Apposition, oder genauer: eine Anrede: 7 ty, smirennica moja! [›du, meine Demütige!‹]. Die »Bacchantin« der ersten Phrase und die »Demütige« der zweiten sind die 59 Das Wort »smirennica« [›Demütige‹, ›Sanftmütige‹] besitzt im Russischen eine christliche *Konnotation, die den Gegensatz zur Protagonistin der ersten Phrase betont, die dem heidnisch-antiken Bereich zugeordnet ist. [Anm. d. Übs./Komm.] 60 Vgl. die Nachdichtung von Michael Engelhard in Puschkin, Die Gedichte. Russisch und deutsch, S. 785. [Anm. d. Übs./Komm.] 61 Der Begriff »fraza« [›Phrase‹] steht hier für eine Sinneinheit, deren Abgeschlossenheit durch Merkmale der Intonation wie der Syntax gewährleistet wird, und die Wortgruppen, Sätze, aber auch mehrere Sätze umfassen kann. Vgl. Svetozarova, Art. »Fraza«. Jakobson unterteilt das vorliegende Gedicht in zwei Phrasen, die mit den Versgruppen deckungsgleich sind (V. 1–6 und V. 7–14). [Anm. d. Übs./Komm.] 62 Offenbar spielt Jakobson hier auf Pusˇkins bekanntes Gedicht »Ty i vy« [›Du und Sie‹] an, das folgendermaßen beginnt: »Pustoe vy serdecˇnym ty Ona obmolvjas’ zamenila I vse scˇastlivye mecˇty V dusˇe vljublennoj vozbudila.« [›Das leere Sie mit dem herzlichen Du Verwechselte sie, indem sie sich versprach Und alle glücklichen Träume Weckte sie in der verliebten Seele.‹] – Pusˇkin, Stichotvorenija 1826– 1836. Skazki, Bd. 3.1, S. 103. [Anm. d. Übs./Komm.]
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einzigen persönlichen der zwanzig Nomina des ganzen Textes. Jede dieser beiden Bezeichnungen mit ihren nachgestellten Attributen – 3 vakchanki molodoj [›(der) Bacchantin jungen‹] und 7 smirennica moja [›Demütige meine‹] – nimmt in symmetrischer Anordnung die zweite Hälfte des jeweils ersten *männlichen Verses des jeweiligen Satzes ein. Wenn wir davon ausgehen, daß die Interlinearübersetzung des gesamten Gedichts, beispielsweise durch Henri Troyat,63 »e´claire avec exactitude les rapports physiques de Pouchkine et de sa femme« 64 (?), so zeigt sie gleichzeitig sowohl in der französischen als auch noch auffälliger in der englischen Version 65, daß sich die hinreißende Kunst der Rede über sie 63 Troyat, Pouchkine, Bd. 2, S. 228. 64 Um deutlich zu machen, gegen welche wirkmächtige Deutungstradition des Gedichts Jakobson in seinem Aufsatz antritt, wird hier das kursiv hervorgehobene Zitat (gleich in deutscher Übersetzung) in seinem Argumentationszusammenhang angeführt: »Dieses Gedicht von 1832 vermittelt in penibler Freimütigkeit Pusˇkins Liebesqualen […]. Dieses Bekenntnis, das von 1832 datiert, erhellt in genauer Weise die körperlichen Beziehungen zwischen Pusˇkin und seiner Frau. Er muß sie lange anflehen, damit sie seinem Drängen nachgibt. ›Kalt und schamvoll‹ gibt sie ihren Körper dem Bedürfnis des anderen preis. Und solange er sie gegen sich drückt, beobachtet sie klarsichtig dieses abgespannte Gesicht, das schwitzt, diese vor Ekstase geweiteten Augen, diese Lippen, die beim Passieren der Worte zittern, die sie nicht versteht. Gegen ihren Willen, verärgert, angewidert, genießt sie schließlich die kleine verspätete Ohnmacht, die ihr Lohn ist. Und das ist alles. ›Ist es nicht furchtbar‹, schrieb der Pusˇkin-Kenner Brjusov, ›sich vorzustellen, daß Pusˇkin sich mit »langen Bitten« an seine Frau wenden mußte, um ihre Liebkosungen zu ersuchen, damit sie sich ihm »ohne Trunkenheit, zart« ergab, damit sie »kaum antwortete« auf seine Leidenschaft und nur »ohne es zu merken« die abschließende Lust teilte?‹ – In Antwort auf Brjusov schrieb seinerseits ein anderer Pusˇkin-Kenner, Lerner: ›Brjusov sieht in diesen Versen den Beweis, daß Natal’ja Nikolaevna Pusˇkina ihrem Mann gegenüber gleichgültig war. Aber diese Poesie bezeugt nur die körperliche Unverträglichkeit der Ehegatten in ihren Beziehungen und die sexuelle Frigidität der jungen Frau.‹ Tatsächlich, und trotz der harmlosen Ansprüche Pusˇkins bleibt Natal’ja dem Dichter gegenüber sowohl in intellektueller wie in körperlicher Hinsicht fremd. Weder ihre Seelen noch ihre Körper lebten in Einklang miteinander. Sie waren durch eine Glaswand voneinander getrennt. Und es war normal, daß Pusˇkin, was auch immer er darüber sagt, enttäuscht war von der Liebesunfähigkeit seiner Frau und sich nach den Liebhaberinnen von früher sehnte und versucht war, anderswo das Vergnügen zu suchen, das Natal’ja ihm nicht bieten konnte.« (A. a. O., Bd. 2, S. 228 f.) – Diese biographistische Lesart des Gedichtes findet sich auch in Keil, Puschkin. Ein Dichterleben, S. 364 f. [Anm. d. Übs./Komm.] 65 Troyat, Pushkin, S. 448 f. [Anm. v. R.J.] – Hier die beiden Interlinearversionen, auf die sich Jakobson bezieht: »Non, je ne pris pas les de´lices actives, L’extase de la chair, les entreintes de´mentes, Les sanglots et les cris de la jeune bacchante, Lorsque, tordue entre mes bras comme un serpent, Par sa caresse ardente et ses baisers vibrants, Elle haˆte l’instant du spasme de´cisif. Combien tu me plais mieux,
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und an dich gerade nicht in der protokollierenden Erfassung zweier gegensätzlicher erotischer Erlebnisse verbirgt.66 Die einzigen abgenutzten *Metaphern, zwei, drei Wörter in schablonenhafter übertragener Bedeutung – 4 vijas’ zmiej [›(sich) windend (wie eine) Schlange‹], 5 jazvoju lobzanij [›(durch die) Wunde (der) Küsse‹],67 14 moj plamen’ [›meine Glut‹] – machen den Mangel an Metaphorik nicht wett. Statt dessen entwickeln oˆ ma paisible amie, Quel bienheureux tourment je gouˆte aupre`s de toi, Lorsque, ce´dant enfin a` mes longues prie`res, Tu t’abandonnes, sans ivresse, tendrement, Si honteuse et si froide, et re´pondant a` peine A mes transports fougueux que tu ne comprends pas! Mais, peu a` peu, tandis que la chaleur te gagne, Tu partages, a` ton insu, ma volupte´.« (›Nein, ich schätze nicht die kurzlebigen Köstlichkeiten, Die Ekstase des Fleisches, die verrückten Umarmungen, Die Seufzer und die Schreie der jungen Bacchantin, Wenn sie, zwischen meinen Armen gewunden wie eine Schlange, Durch ihre glühenden Liebkosungen und ihre bebenden Küsse, den Moment des entscheidenden Krampfes beschleunigt. Wie viel besser gefällst du mir, o meine friedfertige Freundin, Welche selige Qual genieße ich bei dir, Wenn Du schließlich meinen langen Bitten nachgibst, Und dich ohne Rausch zart ergibst, So schamvoll und so kühl und kaum antwortest Auf meine stürmischen Leidenschaften, die du nicht verstehst! Aber nach und nach, wenn die Hitze dich gewinnt, Teilst du, ohne es zu merken, meine Lust.‹ – Troyat, Pouchkine, Bd. 2, S. 228.) – »No, I do not prize more active ecstasies, The madness of the flesh, the wild embrace, The sobs and screams of a young bacchante, Who, writhing like a serpent in my arms, By her vierce caress and vibrant kiss Hastens the moment of the decisive spasm. How much better you please me, my quiet friend, What blessed torment I savor with you, When, yielding at last to my long pleas, You abandon yourself, unrapturously, tenderly, So ashamed and cold, scarcely responding To my inflamed transports you don’t understand. But little by little, as the heat spreads through you, Unknown to yourself, you share my pleasure.« (Troyat, Pushkin, S. 448 f.). [Anm. d. Übs./Komm.] 66 Das Verfahren, durch den Hinweis auf Verluste in der Übersetzung eines Gedichts auf dessen durch grammatische Mittel erzielte künstlerische Qualität hinzuweisen, begegnet wiederholt in Jakobsons Analysen. Vgl. seine Zˇupancˇic´-Studie »Slovenskij primer uzlovoj roli bezlicˇnych predlozˇenij v poe˙ticˇeskom kontekste« und die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 522 f., sowie besonders prägnant den Anfang des ersten und das Ende des zweiten Abschnitts in seinem Grundlagenaufsatz »Poe˙zija grammatiki i grammatika poe˙zii« (deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 258 f. u. 280). [Anm. d. Übs./Komm.] 67 Die Beiläufigkeit, mit der Jakobson die Formulierung »jazva lobzanij« [›Wunde der Küsse‹] als ›abgenutzte Metapher‹ klassifiziert, ist irreführend. Es handelt sich im Gegenteil um eine höchst ungewöhnliche Wendung, die ähnlich bereits in Pusˇkins Verserzählung »Bachcˇisarajskij fontan« [›Der Springbrunnen von Bachcˇissaraj‹] (V. 151 f.) begegnet. Viktor Vinogradov äußerte Zweifel an der Tragfähigkeit der biographisch gestützten wortwörtlichen Lesart – Pusˇkin hatte in seinem Brief an P. A. Vjazemskij vom 1.–8. 12. 1823 ironisch auf das lebensweltliche ›Vorbild‹ der Heldin der erwähnten Verserzählung hingewiesen, die beim Küssen beiße – und vermutete statt dessen eine bewußte Entscheidung Pusˇkins für die Wiederbelebung einer
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diese sieben Verspaare eine ungewöhnliche künstlerische Kraft vor allem durch grammatische Mittel, die virtuos genutzt werden. Die Wirksamkeit der Meisterschaft fordert eine strenge Auswahl der in Bewegung gesetzten Wortkategorien. So ist zum Beispiel das Repertoire der Verbalkategorien, die Einlaß in das Gedicht erlangen, auf den imperfektiven Aspekt, das Präsens und den Singular beschränkt. Unter den unbelebten Substantiven gibt es keine räumlichen und gegenständlichen Wörter; hiervon gibt es keine Ausnahmen: Die übertragene Bedeutung entgegenständlicht Wörter, wie »jazva« [›Wunde‹] oder »plamen’« [›Glut‹]. In beiden Phrasen wird die Ausdrucksstärke der Possessivpronomina durch ihre konstante Zugehörigkeit allein zur Person des Sprechers gesteigert: 4 v moich ob”jatijach, [›in meinen Umarmungen‹], 11 vostorgu moemu [›Entzücken meinem‹], 14 moj plamen’ [›meine Glut‹]. Als Subjekte fungieren weder in der einen noch in der anderen Phrase Nomina, sondern nur Personalpronomina: 1, 8 ja [›ich‹], 7, 10 ty [›du‹], 6 ona [›sie‹]. Beiden Phrasen mit einer geschlechtslosen Interjektion – einer negierenden am Beginn der ersten Phrase, 1 Net [›Nein‹], und einer expressivaffirmativen am Beginn der zweiten, 7, 8 O [›Oh‹] 68 – liegen Konturen eines deutlichen Parallelismus zugrunde: 1 4 6
1
4
6
Net, ja ne dorozˇu 〈…〉 naslazˇden’em Kogda, vijas’ v moich ob”ja´tijach Ona toropit mig poslednich sodroganij! Nein, ich nicht schätze 〈…〉 Genüsse Wenn, (sich) windend in meinen Umarmungen Sie beschleunigt (den) Augenblick (der) letzten Schauder!
7, 8 9 14
7, 8
9
14
O, kak 〈…〉 8 toboju scˇastliv ja, Kogda sklonjajasja na dolgie molen’ja, I delisˇ’ nakonec moj plamen’ po nevole! Oh, wie 〈…〉 8 (über) dich glücklich ich (bin) Wenn (dich) beugend auf langes Flehen (hin), Und teilst endlich meine Glut unfreiwillig!
Das einzige Wort außer den Pronomina und Konjunktionen, das die zweite Phrase aus der ersten übernimmt, schafft einen semantischen Parallelismus mit der identischen Negationspartikel und mit einem Rollentausch zwischen den Partnern: 1 ne dorozˇu 〈…〉 2 vostorgom 〈…〉 3 vakchanki – 11 vostorgu moemu 12 Edva otvetstvuesˇ’, ne vnemlesˇ’ 〈…〉 [›1 nicht volkssprachlichen Formulierung. Vgl. Vinogradov, »Vopros ob istoricˇeskom slovare russkogo literaturnogo jazyka XVIII–XX v.«, S. 202 f. [Anm. d. Übs./Komm.] 68 Vgl. Vinogradov, Russkij jazyk. Grammaticˇeskoe ucˇenie o slove, S. 752.
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schätze 〈…〉 2 Entzücken 〈…〉 3 (der) Bacchantin – 11 (auf) Entzücken mein 12 Kaum antwortest, nicht wahrnimmst 〈…〉‹]. Auf den Hauptsatz – mit dem in beiden Phrasen einzigen Nominativ 1, 8 ja [›ich‹] – folgt in beiden Fällen gleichermaßen ein Nebensatz mit einem einleitenden 3, 9 kogda [›wenn‹] und mit einem reflexiven Adverbialpartizip (4 vijas’ – 9 sklonjajasja [›4 sich windend – 9 sich beugend‹]), der einzigen nicht-finiten Verbform im Rahmen der Phrase, und zwar in Begleitung ähnlicher Satzkonstruktionen. In beiden Phrasen umfaßt der letzte Satz, der der Schlußphase des Liebesakts gewidmet ist, die letzte Zeile mit der in der Phrase jeweils einzigen transitiven Verbform mit direktem Objekt (6 toropit mig – 14 delis ˇ’ 〈…〉 plamen’ [›6 beschleunigt (den) Augenblick – 14 teilst 〈…〉 (die) Glut‹]). Dabei endet die vorausgehende Zeile desselben Zweizeilers in beiden Fällen auf einer dreifachen *Assonanz der betonten Vokale: 5 la´sk i ja´zvoju lobza´nij – 13 poto´m vse¨ bo´le, bo´le. Die Ähnlichkeit der abschließenden Zweizeiler der ersten und zweiten Phrase zeigt sich auch im Auftreten der *kopulativen Konjunktion 5, 13, 14 i [›und‹], die die *asyndetische Verbindung der juxtaponierten Nomina in der einleitenden und der juxtaponierten Verben in der abschließenden Phrase ablöst. Jede der beiden Phrasen ist in sich geschlossen. Innerhalb der Phrasen ist die Anfangszeile ihrer geraden Zweizeiler rhythmisch verbunden mit der Abschlußzeile des vorangehenden ungeraden Zweizeilers. Diese beiden Zeilen unterscheiden sich von allen übrigen durch die fehlende Betonung auf der dritten, d. h. auf der vor der *Zäsur gelegenen Hebung. Vgl. die Proparoxytona im ersten Halbvers der folgenden benachbarten Zeilen: 2 ˇcu´vstvennym – 3 krı´kami in der ersten Phrase, 8 mucˇ´ıtel’no – 9 sklonja ´ jasja und 12 otve´tstvuesˇ’ – 13 ozˇivlja´esˇ’sja in der zweiten, wobei in der zweiten Phrase auf das letzte Proparoxytonon ein Halbvers mit einer betonten Silbe auf allen drei Hebungen folgt (8 tobo´ju scˇa´stliv ja´; 12 poto´m vse¨ bo´le, bo´le), während in allen übrigen zwölf Zeilen die fünfte Hebung auf eine unbetonte Silbe fällt. Vor dem Hintergrund des ähnlichen Skeletts werden die unterscheidenden Besonderheiten beider Phrasen um so deutlicher wahrgenommen. Von beiden finiten Verbformen der Anfangsphrase fällt die Form der ersten *Person auf den einleitenden und die Form der dritten Person auf den abschließenden Vers (1 ne dorozˇu [›nicht schätze‹], 6 toropit [›beschleunigt‹]), während in der Schlußphrase alle fünf finiten Verbformen die zweite Person bezeichnen, die in der Anfangsphrase nicht vorhanden ist (10 predaesˇ’sja [›gibst dich hin‹], 12 otvetstvuesˇ’, vnemlesˇ’ [›antwortest, nimmst wahr‹],
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13 oz ˇivljaesˇ’sja [›lebst auf‹], 14 delisˇ’ [›teilst‹]). Wenn man zu den finiten Verbformen in der Funktion von Hauptprädikaten und zu dem Nebenprädikat in Form eines Adverbialpartizips noch die nur in der Schlußphrase vorhandenen prädikativen Adjektive hinzuzählt, darunter zwei in Hauptprädikaten (7 milee ty [›lieblicher (bist) du‹], 8 scˇastliv ja [›glücklich (bin) ich‹]) und zwei in Nebenprädikaten (10 predaesˇ’sja 〈…〉 nezˇna [›gibst (dich) hin 〈…〉 zärtlich], 11 cholodna, 〈…〉 12 edva otvetstvuesˇ’ [›kalt, 〈…〉 12 kaum antwortest‹]), dann stellt sich heraus, daß den zehn Prädikaten der Schlußphrase lediglich drei Prädikate der Anfangsphrase gegenüberstehen. Die insgesamt elf Adverbien kommen nur in der Schlußphrase vor und dienen entweder unmittelbar oder vermittels eines weiteren Adverbs als Attribut zum Prädikat (7 kak milee [›wie lieblicher‹], 8 kak mucˇitel’no 〈…〉 scˇastliv [›wie qualvoll 〈…〉 glücklich‹], 11 stydlivo-cholodna [›schüchtern-kalt‹], 12 edva otvetstvuesˇ’ [›kaum antwortest‹], 13 ozˇivljaesˇ’sja potom vse¨ bole, bole [›auflebst dann immer mehr, mehr‹], 14 delisˇ’ nakonec 〈…〉 po nevole [›teilst endlich 〈…〉 unfreiwillig‹]). Die Prädikate kommen somit zusammen mit ihren adverbialen Attributen auf einundzwanzig Formen in der Schlußphrase, in der Anfangsphrase dagegen nur auf drei. Der Zuwachs an Prädikationen geht einher mit dem Hinzutreten der Steigerung: Der Komparativ der Adjektive und Adverbien an der Schwelle der zweiten Phrase (7 O, kak milee ty [›Oh, wie lieblicher (bist) du‹]) und in ihrem abschließenden Reim (13 potom vse¨ bole, bole – [›dann immer mehr und mehr –‹]) legt über den »cˇuvstvennyj vostorg« [›das sinnliche Entzücken‹] eine räumliche (6 Ona – 7 ty [›6 Sie – 7 du‹]) und zeitliche (13 potom – 14 nakonec [›13 dann – 14 endlich‹]) Perspektive. Die Unterschiede zwischen beiden Phrasen in bezug auf die Verwendung von Pronomina sind beträchtlich: zwischen den beiden *substantivischen 69 und dem einen Possessivpronomen in der Anfangsphrase und entsprechend sechs und drei, d. h. der dreifachen Anzahl, in der Schlußphrase. Das Subjekt ja [›ich‹] ist in beiden Phrasen je einmal vertreten: 1 ja ne doroz ˇu [›ich schätze nicht‹]; 8 scˇastliv ja [›glücklich (bin) ich‹]. Doch nur in der ersten Phrase kommt das Pronomen ona [›sie‹] vor und nur in der zweiten das Pronomen ty [›du‹] und die *obliquen Kasus der substantivischen Pronomen (8 toboju [›(über /durch) dich‹], 10 mne [›mir‹], 12 niˇcemu [›nichts‹ (Dativ)]).
69 Jakobson unterscheidet hier zwei Klassen von Pronomina im Hinblick auf ihre syntaktische Funktion: die ›substantivischen‹ und die ›adjektivischen‹. Zur ersten Gruppe zählen z. B. Personalpronomen, zur zweiten u. a. Possessivpronomen. Vgl. Krylov /Paducˇeva, Art. »Mestoimenie«. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Die Anfangsphrase ist bei geringerem Umfang dreimal so reich an Substantiven (fünfzehn vs. fünf) und an deklinierbaren, d. h. attributiven Adjektiven (fünf vs. eines) wie die Schlußphrase, während nur die Schlußphrase undeklinierbare, d. h. prädikative Adjektive aufweist, und zwar insgesamt vier. Im Gegensatz zur Anfangsphrase mit ihren neun Substantiven im adverbalen Instrumental und vier Substantiven im adnominalen Genitiv kennt die Schlußphrase weder den Instrumental noch den präpositionslosen Genitiv. Umgekehrt kommt der Dativ bei Substantiven und Pronomina, der in der Anfangsphrase fehlt, in der Schlußphrase dreimal vor – bei drei Verben, die diesen Fall fordern: 10 Ty predaesˇ’sja mne [›Du gibst dich mir hin‹], 11 vostorgu moemu 12 Edva otvetstvuesˇ’, ne vnemlesˇ’ nicˇemu [›11 Entzücken meinem 12 Kaum antwortest, nicht 70 wahrnimmst nichts (i. O. Dativ)‹]. Alle vier Fälle des adnominalen Genitivs sind gegenüber den benachbarten regierenden Nomina durch einen Unterschied im grammatischen *Numerus und *Genus ausgezeichnet, wobei sich das gleiche Prinzip der Dissimilation von Genus und insbesondere Numerus auch auf die übrigen Substantive derselben Zeile ausdehnt: 3 Stenan’em [›Stöhnen‹] (Singular, Neutrum), krikami [›Schreie‹] (Plural, Maskulinum) vakchanki [›(der) Bacchantin‹] (Singular, Femininum); 5 Poryvom [›Ausbruch‹] (Singular, Maskulinum) pylkich lask [›heftiger Liebkosungen‹] (Plural, Femininum) i jazvoju [›und Wunde‹] (Singular, Femininum) lobzanij [›(der) Küsse‹] (Plural, Neutrum); 6 mig [›Augenblick‹] (Singular, Maskulinum) poslednich sodroganij [›(der) letzten Schauder‹] (Plural, Neutrum). In dieser Phrase läßt das Verhältnis zwischen dem grammatischen Numerus und den quantifizierenden bzw. *›Umfangskasus‹, d. h. dem Genitiv und dem *Lokativ 71, eine noch allgemeinere Formulierung zu. Hier unterscheidet sich ein Nomen im Umfangskasus immer durch seinen Numerus von den benachbarten Nomina. Zusätzlich zu den angeführten Beispielen im Genitiv sei hier auf die Nachbarschaft von Lokativ und Instrumental hingewiesen: 4 v moich ob”ja´tijach [›in meinen Umarmungen‹ (Lokativ)] (Pl. Neutr.) zmiej [›(wie eine) Schlange‹ (Instrumental)] (Sg. Fem.). Die leichte quantitative Karikatur 70 Das Russisch ist eine Sprache mit sog. doppelter Negation, d. h. bei der Verwendung von Negativpronomina muß auch das Verb negiert werden. [Anm. d. Übs./ Komm.] 71 Vgl. Jakobson, »The Relationship between Genitive and Plural in the Declension of Russian Nouns«, sowie ders.: »Morfologicˇeskie nabljudenija nad slavjanskim skloneniem (Sostav russkich padezˇnych form)«, S. 158. [Anm. v. R.J.] – Zur Gruppierung der Kasus vgl. Jakobson, »Beitrag zur allgemeinen Kasuslehre«, bes. S. 59 u. 65. [Anm. d. Übs./Komm.]
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in der Darstellung der Bacchantin greift konsequent zum Kontrast zwischen Einzahl und Mehrzahl. Es ist interessant, daß die Lautfaktur gerade im Umkreis der anfänglichen Gruppe von Instrumentalformen einen spürbar verdichteten Charakter gewinnt. Hierzu gehört die Wiederholung eines stimmhaften *Zischlauts in drei benachbarten Wörtern im ersten Vers – 1 dorozˇu mjatezˇnym naslazˇden’em – während sich das Phonem Zˇ im gesamten übrigen Text gerade zweimal findet (10 nezˇna, 13 ozˇivljaesˇ’sja). Der erste Zweizeiler unterscheidet sich von allen weiteren durch die Anhäufung von fünfzehn *Nasalen. Man vergleiche insbesondere die lautliche Verbundenheit des ersten Instrumentals mit dem angrenzenden Epitheton: mjatezˇnym (t’e´zˇn.m) naslazˇden’em (zˇd’e´n’.m). Die Serialität der Instrumental-Objekte wird unterstrichen durch die sich aufdringlich wiederholende Gruppierung der gleichen Konsonanten: 2 Vostorgom (v.st) ˇcuvstvennym (stv), bezumstvom (stv), isstuplen’em (st), 3 Stenan’em (st’). Gerade das zweite Auftauchen des wichtigen Wortes vostorg [›Entzücken‹] in der Schlußphrase wird begleitet von der Wiederkehr der gleichen lautlichen Umgebung: 11 stydlivo (st) 〈…〉 vostorgu (v.st), 12 otvetstvuesˇ’ (stv). Am Ende der Anfangsphrase wiederholt die Lösung des zentralen Motivs seine Lautreihe: 2 Vostorgom [›Entzücken‹] – 6 sodroganij [›Schauder‹] (st.rg.m – s.dr.g.n’). Die Wortverbindung 3 krikami vakchanki [›Schreie (der) Bacchantin‹] zieht durch ihre vier K die Aufmerksamkeit auf sich, die Adverbialpartizip-Konstruktion 4 vijas’ v moich ob”ja´tijach zmiej [›(sich) windend in meinen Umarmungen (wie eine) Schlange‹] durch das sechsfache Auftauchen des Phonems J 72 bei Abwesenheit ähnlicher Wiederholungen in den anderen Zeilen. Ein *Labial in Verbindung mit einem stimmhaften Zischlaut und weitere auffällige lautliche Ähnlichkeiten verbinden diesen Vers mit dem folgenden: 4 vijas’ (v’ija´s) 〈…〉 ob”ja´tijach (abja´t’ijax) zmiej (zm’ijo´j) – 5 pylkich (pylk’ix) lask (la´sk) i jazvoju (ija´zvaju) lobzanij (labza´). Auch von einer zufälligen Ansammlung der fünfzehn Substantive, darunter neun adverbaler Instrumentalformen und vier adnominaler Genitivformen, im Verlauf der sechszeiligen Phrase, die lediglich drei Verbformen enthält, kann keine Rede sein. Und der Kontrast zwischen diesen sechs Zeilen und dem folgenden Achtzeiler mit seinen insgesamt zehn Haupt- und Nebenprädikaten und ihren elf adverbialen Attributen ist 72 Zur Aussprache: [vijas’ v mojich ob”ja´tijach zmijej]. [Anm. d. Übs./Komm.]
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offensichtlich beabsichtigt. Die Schlußphrase stellt bewußt das völlige Fehlen von Nomina im Instrumental und im präpositionslosen Genitiv deren frappierender Fülle in der ersten, zudem weniger umfangreichen Phrase gegenüber. Andererseits unterscheidet sich die erste Phrase nicht weniger auffällig von der zweiten durch das Fehlen von Nomina im Dativ und von substantivischen Pronomina in sämtlichen obliquen Kasus. Besonders auffällig ist der Unterschied zwischen beiden Phrasen in bezug auf die Auswahl und die Verwendung der Kasus. Auf die neun Fälle des nominalen, durchgehend adverbalen Instrumentals in der Anfangsphrase antwortet die Schlußphrase mit einer – zugleich der einzigen pronominalen – Instrumentalform bei dem prädikativen Adjektiv: 8 toboju scˇastliv ja [›(über) dich glücklich (bin) ich‹]. Vgl. das Beispiel aus Leskovs Soborjane: »Ja zˇenoju moeju scˇastliv« 73 [›Ich bin glücklich über meine Ehefrau‹], das in Sˇachmatovs Sintaksis zitiert und kommentiert wird: »Die Bedeutung des Instrumentals liegt hier im Ausdruck der Vollendung, der Sättigung des passiven Merkmals, das dem Adjektiv entspricht.« 74 In der Anfangsphrase gibt es weder den Dativ (der in drei benachbarten Versen der Schlußphrase auftritt), noch präpositionale Konstruktionen mit Akkusativ (9 sklonjajasja na dolgie molen’ja [›beugend auf langes Flehen (hin)‹]) und Genitiv (10 nezˇna bez upoen’ja [›zärtlich ohne Begeisterung‹]), die den vorletzten Zweizeiler durch Reim verbinden. Der Unterschied der Konstruktionen im Instrumental, Genitiv und Dativ wird verstärkt durch die Abhängigkeit dieser Kasusformen von morphologischen Kategorien, die in der Anfangsphrase fehlen, d. h. von prädikativen Adjektiven und von der zweiten Person der Verben. Die tiefgehende Differenz im grammatischen Profil beider Phrasen findet eine ausdrucksvolle Bestätigung im morphologisch verschiedenartigen Bestand der Reime: Drei Instrumentalen und drei Genitiven der insgesamt sechs Substantive und Adjektive in den Reimen des einleitenden Sechszeilers stellt die zweite Phrase vier pronominale Formen im Nominativ und Dativ, zwei präpositionale Konstruktionen mit Substantiven sowie am Ende Adverbien in beiden Schlußzeilen gegenüber. Somit ist die erste Phrase in direktem Kontrast zur zweiten durch ein Repertoire von Reimen aus deklinierbaren Wörtern lexikalischen Charakters gekennzeichnet, die unmittelbar regiert werden oder kongruieren. 73 Das Zitat findet sich im fünften Kapitel des ersten Teils von Nikolaj Leskovs Roman Soborjane [›Die Klerisei‹] (1872). Vgl. Leskov, Soborjane, S. 211. [Anm. d. Übs./Komm.]. 74 Vgl. Sˇachmatov, Sintaksis russkogo jazyka, S. 346 f. (§ 451).
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Eine vergleichende Tabelle einiger Besonderheiten, die beide Phrasen (I und II) einander entgegensetzen, zeigt anschaulich die Breite ihres künstlerischen Kontrastes: Instrumental der Substantive und Adjektive: Oblique Kasus substantivischer Pronomen: Adnominaler Genitiv: Lokativ: Dativ: Attributive Adjektive ohne Präposition: Prädikative Adjektive: Adverbien: Verben der ersten Person: Verben der zweiten Person: Verben der dritten Person:
I
II
11 — 7 1 — 5 — — 1 — 1
— 3 — — 4 — 4 11 — 5 —
Aus dieser Tabelle wird ersichtlich, daß im Gedicht in mindestens dreiundfünfzig Vorkommen grammatische Kategorien von Wörtern vertreten sind, die nur in der einen Phrase vorkommen und in der anderen fehlen. Objekte und ihre kongruenten Attribute in Kasus, die nicht über das Merkmal der Gerichtetheit verfügen, d. h. im Instrumental, Genitiv und Lokativ,75 sind in der Anfangsphrase durch zwanzig Beispiele und in der Schlußphrase durch lediglich zwei Beispiele vertreten (8 toboju [›(über) dich‹], 10 bez upoen’ja [›ohne Begeisterung‹]), während sich ihre Zahl in den ›gerichteten‹ Kasus, d. h. im Akkusativ und im Dativ, auf acht Beispiele in der Schlußphrase und nur ein Beispiel in der Anfangsphrase, und hier gerade in deren letztem Vers (6 mig [›Augenblick‹]), beläuft. Die adverbalen Satzglieder in allen drei *›Randkasus‹ 76 sind streng aufgeteilt: In der zweiten Phrase gibt es nur den Dativ mit seinem Kennzeichen der Gerichtetheit (drei Beispiele) und in der ersten Phrase nur Fälle, die nicht 75 Vgl. Jakobson, »Morfologicˇeskie nabljudenija nad slavjanskim skloneniem«, S. 158. [Anm. v. R.J.] – Jakobson bezeichnet die Fälle, die über das Merkmal der Gerichtetheit verfügen, den Dativ und den Akkusativ, als *›Bezugskasus‹. Vgl. Jakobson, »Beitrag zur allgemeinen Kasuslehre«, S. 65. [Anm. d. Übs./Komm.] 76 In seiner Kasuslehre rechnet Jakobson Instrumental, Dativ und Lokativ zu den Randkasus: »Der R a n d k a s u s gibt an, daß das bezügliche Nomen im gesamten Bedeutungsgehalte der Aussage eine p e r i p h e r e S t e l l u n g einnimmt, wogegen ein Vo l l k a s u s nicht angibt, um welche Stellung es sich handelt. Eine *Peripherie setzt ein Zentrum voraus, ein Randkasus setzt das Vo r h a n d e n s e i n e i n e s z e n t r a l e n I n h a l t e s in der Aussage voraus, welchen der Randkasus mitbestimmt.« (Jakobson, »Beitrag zur allgemeinen Kasuslehre«, S. 46.) [Anm. d. Übs./Komm.]
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über dieses Merkmal verfügen, d. h. neun Instrumentale und einen Lokativ (4 v moich ob”ja´tijach [›in meinen Umarmungen‹]). Die Schlußphrase meidet bezeichnende Wörter, wie das Überwiegen der sechs substantivischen Pronomen gegenüber den fünf Nomina bezeugt. Die Anfangsphrase dagegen räumt bei Vorhandensein von fünfzehn Nomina lediglich zwei substantivischen Pronomen Raum ein. Der oben beschriebenen Fülle von Haupt- und Nebenprädikaten und ihren adverbialen Attributen in der Schlußphrase (21 Beispiele) stellt die Anfangsphrase nur drei Beispiele entgegen (1 dorozˇu [›schätze‹], 6 toropit [›beschleunigt‹]; 4 vijas’ [›sich windend‹]). Mit anderen Worten: Es gibt eine tiefe Divergenz zwischen der Ausrichtung der Schlußphrase auf die Folge und den Wechsel der prädizierten Erscheinungen einerseits und andererseits der beharrlichen Tendenz der Anfangsphrase zur Substantivierung und zur starken perspektivischen Verkürzung aller zusammengesetzten Motive, die sich in ein Sortiment zeitgleicher Details verwandeln. Zu den Worten Sternes, daß »die lebendigste unserer Entzückungen mit einem fast krankhaften Schauder endet« 77, fügte Pusˇkin hinzu: »Nesnosnyj nabljudatel’! znal by pro sebja; mnogie togo ne zametili b.« [›Unerträglicher Beobachter! Hätte er es doch für sich behalten; viele hätten es nicht bemerkt.‹] 78. Den verstorbenen Pusˇkin-Forscher Al’fred Ljudvigovicˇ Bem begeisterte das Gedicht »Nein, ich…« aufgrund seines außergewöhnlichen Mutes. Ich wiederhole: Seine Kühnheit verbirgt sich in der Verwandlung des gesamten Systems der grammatischen Kategorien in die 77 Pusˇkin bezieht sich hier auf Laurence Sternes A Sentimental Journey through France and Italy by Mr. Yorick, und zwar auf die folgende Passage aus dem letzten der vier Kapitel mit der Überschrift »The Passport. Versailles«: »But there is nothing unmixt in this world; and some of the gravest of our divines have carried it so far as to affirm, that enjoyment itself was attended even with a sigh – and that the greatest they knew of, terminated in a general way, in little better than a convulsion.« (Sterne, A Sentimental Journey Through France and Italy by Mr. Yorick, S. 88.) Vgl. die deutsche Übersetzung von Helmut Findeisen: »Doch es gibt nichts Vollkommenes in dieser Welt; und einige unserer ernsthaftesten Gottesgelehrten haben sich sogar zu der Behauptung verstiegen, selbst der Genuß sei von einem Seufzer begleitet, und der höchste, von dem sie wüßten, ende meist wenig besser als in einem Krampf.« (Sterne, Yorricks Reise des Herzens durch Frankreich und Italien, S. 139.) [Anm. d. Übs./Komm.] 78 Diese Bemerkung stammt aus Pusˇkins 1828 anonym veröffentlichter Sammlung von Reflexionen »Otryvki iz pisem, mysli i zamecˇanija« [›Auszüge aus Briefen, Gedanken und Bemerkungen‹]. Vgl. Pusˇkin, Kritika i publicistika 1819–1834, S. 52– 58, hier: S. 52. – Auf den Bezug zwischen zwischen dieser Reflexion über Sterne und dem untersuchten Gedicht hat bereits Viktor Sˇklovskij hingewiesen. Vgl. Sˇklovskij, »O skromnosti«, S. 286 f. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Sprache der Leidenschaft, in die Symbolik des Liebeswettstreits. Die Poetik der Kontraste stellt zwei Phrasen und zwei Frauenbilder einander gegenüber: ee [›sie‹] im Zeichen der Distanzierung und tebja [›dich‹], die geliebte Beteiligte an Dialog und Handlung. Auf den ersten, oberflächlichen Blick erstaunt die Paradoxie des absichtlich statischen Zugangs zum elementaren ›Ausbruch der Liebkosungen‹ der ekstatischen Bacchantin: die verbentleerte Phrase, ausgestattet mit einer langen Reihe nominaler und adjektivischer Anhängsel, die den Gang der Erzählung erschweren. Sie ist dem gänzlich prädikativen, (ich möchte sagen:) kinematographischen Bild der schüchtern-kalten Demütigen gegenübergestellt. Doch in Wirklichkeit gestattet gerade das verlangsamte Tempo, die zeitliche Aufeinanderfolge der unfreiwilligen Begeisterung zu entfalten und harmonisch aufzuteilen und kunstfertig die Abwehr mit der Begrüßung des Ansturms zu verbinden. Nicht umsonst gibt das einzige Epitheton der zweiten Phrase – 9 dolgie molen’ja [›langes Flehen‹] – das andante vor. Alle drei Sätze mit dativischen, nach Sˇachmatov ›annähernd indirekten Objekten‹,79 die die Idee der Gerichtetheit tragen, welche den Instrumentalformen der ersten Phrase fremd ist, verzögern gleichzeitig die Bewegung – sei es durch einschränkende, sei es durch verneinende Klauseln: 10 bez upoen’ja [›ohne Begeisterung‹], 12 Edva otvetstvuesˇ’, ne vnemlesˇ’ nicˇemu [›Kaum antwortest, nicht wahrnimmst nichts‹]. Die Anhäufung von sechs Adverbien bei den zwei Verben des abschließenden Zweizeilers – 13 potom vse¨ bole, bole [›dann immer mehr, mehr‹], 14 nakonec 〈…〉 ponevole [›endlich 〈…〉 unfreiwillig‹] – dient als letztes Verfahren des ritardando und erklärt deutlich das ›unerträgliche‹ *Oxymoron: 8 O, kak mucˇitel’no toboju scˇastliv ja, Kogda 〈…〉 [›Oh, wie qualvoll (über) dich glücklich (bin) ich, Wenn 〈…〉‹]. Umgekehrt widersetzt sich das jählings beschleunigte Tempo der Ereignisse in der Anfangsphrase mit ihrem abschließenden überstürzten Augenblick der letzten Schauder der zeitlichen Segmentierung und unterbindet abgerissen das Liebesdrama, das bis in die syntaktische Niederung der peripheren instrumentalen Bedeutungen geführt wird. Einzig in der Szene des Orgasmus, d. h. im letzten Vers jeder der beiden Phrasen, taucht ein transitives Verb und bei ihm ein Akkusativobjekt auf; doch die geradlinige Lösung der ersten Phrase führt vom Verb kurzerhand zum Akkusativ – 6 toropit → mig [›beschleunigt → Augenblick‹], während in der zweiten Phrase mit dem erweiterten thematischen Umfang ihres Objekts und Prädikats der Handlungsverlauf dagegen vom ersteren zum letzteren fortschreitet: 14 delis ˇ’ nakonec → moj plamen’ [›teilst endlich → meine Glut‹]. 79 Vgl. Sˇachmatov, Sintaksis russkogo jazyka, S. 311 (§ 415).
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Die Ähnlichkeit in der Entwicklung der beiden kontrastierenden Themen wird durch lautliche Wiederholungen verstärkt: isstuplen’em [›(durch die) Ekstase‹] der Bacchantin ist der mig poslednich sodroganij [›Augenblick (der) letzten Schauder‹] vorhergesagt, und den Schlüsselwörtern der zweiten Phrase – molen’ja 〈…〉 ne vnemlesˇ’ [Flehen 〈…〉 nicht wahrnimmst‹] – antwortet im Epilog plamen’ ponevole [›Glut unfreiwillig‹]! Bei aller Verschiedengestaltigkeit in der Anordnung der Reime gehört die abgeschlossene Verbindung von vierzehn jambischen Versen in der Dichtung Pusˇkins zu seinen bevorzugten Kompositionseinheiten. Hierher gehören sowohl das *Sonett als auch die Oneginstrophe 80 sowie die Gedichte in vierzehn Zeilen mit sieben verschiedenen Reimfolgen, wie zum Beispiel bereits 1821 »Muza« 81 [›Die Muse‹] und »Umolknu skoro ja« 82 [›Bald werde ich verstummen‹]. Ein Teil dieser Gedichte ahmt syntaktisch den Strophenbau des Sonetts nach. Von dieser Art ist das Gedicht »Iz pis’ma k Vjazemskomu« 83 [›Aus einem Brief an Vjazemskij‹] aus dem Jahr 1825, das in zwei Vierzeiler mit abschließendem Sechszeiler unterteilt ist, und im selben Jahr das Gedicht »Ja byl svidetelem zlatoj tvoej vesny« 84 [›Ich war Zeuge deines goldenen Frühlings‹] aus sieben gereimten Zweizeilern mit dem syntaktischen Schema 4 + 4 + 3 + 3. In den späteren Gedichten geht der Sechszeiler dem Achtzeiler voraus nach dem Vorbild des umgekehrten Sonetts bzw. sonnet renverse´, das im 80 Die Strophenform, in der Pusˇkins Versroman überwiegend verfaßt ist: vierhebige Jamben in der Reimstellung AbAbCCddEffEgg (große Buchstaben stehen für *weibliche, kleine für *männliche Reime). Vgl. Tomasˇevskij, »Strofika Pusˇkina«, S. 361–389. [Anm. d. Übs./Komm.] 81 Vgl. Pusˇkin, Stichotvorenija 1817–1825. Licejskie stichotvorenija v pozdnejsˇich redakcijach, Bd. 2. 1., S. 151, sowie Puschkin, Die Gedichte. Russisch und deutsch, S. 280– 283. [Anm. d. Übs./Komm.] 82 Vgl. Pusˇkin, Stichotvorenija 1817–1825. Licejskie stichotvorenija v pozdnejsˇich redakcijach, Bd. 2. 1., S. 187, sowie die Übersetzung von Dorothea Hiller von Gaertringen in Puschkin, Gesammelte Werke in sechs Bänden, Bd. 1, S. 149. [Anm. d. Übs./ Komm.] 83 Pusˇkin hat drei Gedichte mit diesem Titel verfaßt. Jakobson bezieht sich hier auf das Gedicht mit der Anfangszeile »V glusˇi, izmucˇas’ zˇizn’ju postnoj«. Vgl. Pusˇkin, Stichotvorenija 1817–1825. Licejskie stichotvorenija v pozdnejsˇich redakcijach, Bd. 2. 1., S. 378, sowie Puschkin, Die Gedichte. Russisch und deutsch, S. 528 f. [Anm. d. Übs./Komm.] 84 Vgl. Pusˇkin, Stichotvorenija 1817–1825. Licejskie stichotvorenija v pozdnejsˇich redakcijach, Bd. 2.1, S. 340, sowie Puschkin, Die Gedichte. Russisch und deutsch, S. 524 f. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Marinismus 85 Gefallen fand. Zur vorliegenden Auswahl muß man auch das Gedicht über die Odaliske – »Vcˇera u B., ostavja pir« [›Gestern bei B., das Gastmahl verlassend‹] 86 – hinzunehmen, das einen Auszug aus dem Album Onegins darstellt, der nach dem Schema (AAb + bCC) + (dEEd + FgFg) verfaßt ist. Die kompositorische Grundlage der Elegie vom 8. September 1830, »Bezumnych let ugassˇee vesel’e« 87 [›Der verrückten Jahre verloschene Heiterkeit‹], – aaBBcc + (DDee + FFgg) – stimmt mit der Aufteilung der reimenden Zweizeiler des Gedichts über die Bacchantin und die Demütige überein. Identisch ist auch die durch eine Leerzeile hervorgehobene Grenze zwischen dem dritten und vierten Zweizeiler; aber während in der Elegie nur beide Hälften des abschließenden Achtzeilers grammatikalisch abgegrenzt sind, sind im Gedicht »Net, ja« zusätzlich auch beide anfänglichen Dreizeiler voneinander abgetrennt. Die ersten vier Zeilen der Schlußphrase sind erstens auf dem Alternieren der eigentlichen Personalpronomen 88 in der Funktion von Subjekten aufgebaut, zweitens auf der abwechselnden Gegenüberstellung beider Pronomina in der Funktion des Subjekts und des indirekten Objekts: 7 ty, 8 toboju 〈…〉 ja [›7 du, 8 (über) dich 〈…〉 ich‹] im Haupt- und 10 Ty 〈…〉 mne [›Du 〈…〉 mir‹] im Nebensatz. Im abschließenden Vierzeiler mit den nebeneinander liegenden Sätzen verschwinden die Personalpronomina elliptisch. Im Kontrast der beiden Hälften der Phrase – eine mit Personalpronomina und die andere ohne – stimmt die Anfangs- mit der Schlußphrase überein: Der Satz der ersten drei Zeilen ist auf das Subjekt ja [›ich‹] aufgebaut, während die drei folgenden Zeilen, die den zweiten, in diesem Fall Nebensatz bilden, über keine substantivischen Pronomina der ersten und zweiten Person, d. h. über keine eigentlich persönlichen, sich unmittelbar auf den *Adressanten und Adressaten der Rede beziehenden Pronomina verfügen. Als Subjekt dient hier das *anaphorische Pronomen 6 Ona [›Sie‹]. In den jeweils zweiten Hälften des Sechs- und 85 Italienische manieristische Schule mit gesamteuropäischem Einfluß, benannt nach Giambattista Marino (1569–1625). [Anm. d. Übs./Komm.] 86 Vgl. Pusˇkin, Evgenij Onegin. Roman v stichach, S. 616 f. – Dieses Gedicht analysiert Jakobson in seinem Aufsatz »R. C.«. Vgl. die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 65. [Anm. d. Übs./Komm.] 87 Vgl. Pusˇkin, Stichotvorenija 1826–1836. Skazki, Bd. 3.1, S. 228, sowie Puschkin, Die Gedichte. Russisch und deutsch, S. 726–729. [Anm. d. Übs./Komm.] 88 In der Regel unterscheidet man zwischen den *deiktischen Personalpronomina, d. h. den Pronomina der ersten und zweiten Person (bei Jakobson: ›eigentliche Personalpronomen‹), und den Pronomina der dritten Person, die vorwiegend anaphorisch gebraucht werden. [Anm. d. Übs./Komm.]
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des Achtzeilers, die den finalen Akkord beider Phrasen vorbereiten, verschwinden die direkten Verweise auf die Gesprächspartner und bekräftigen eben dadurch gewissermaßen den unabhängig epischen Charakter der Erzählung, und nur das Possessivpronomen erinnert weiterhin an die Beteiligung der sprechenden Person am Handlungsverlauf: 4 v moich ob”ja´tijach [›in meinen Umarmungen‹], 14 moj plamen’ [›meine Glut‹]. Zwischen beiden Hälften des Sechszeilers läßt sich ein substantieller Unterschied in den kontextuellen Bedeutungen der Kasusformen beobachten. Im Text bedeuten alle acht Vorkommen des Instrumentals bei finiten Verbformen gemäß der Übersicht von Sˇachmatov ›Äußerungsformen physischer Organe‹ 89 – mit dem Unterschied, daß im letzten Satz der Anfangsphrase mit seinen zwei fakultativen Instrumentalkonstruktionen, 5 poryvom pylkich lask i jazvoju lobzanij [›(Durch einen) Ausbruch heftiger Liebkosungen und (die) Wunde (der) Küsse‹] beim transitiven Verb 6 toropit [›beschleunigt‹] das Subjekt ona [›sie‹] den Ausführenden der genannten Handlungen bezeichnet, während im ersten Satz, wo sechs juxtaponierte Formen desselben Kasus auf das Verb 1 dorozˇu [›schätze‹] folgen, das zwangsläufig den Instrumental verlangt, das Subjekt keinesfalls das ›Agens‹ bezeichnet. Weil der Instrumental des Vergleichs 4 vijas’ 〈…〉 zmiej [›sich windend 〈…〉 (wie eine) Schlange‹] zum selben Subjekt 6 ona [›sie‹] gehört wie auch die folgenden Instrumentalformen des ›abstrakten Werkzeugs‹,90 muß darauf hingewiesen werden, daß das Vorhandensein und das Fehlen einer inneren Verbindung des Instrumentalobjekts mit dem Subjekt als unterscheidendes Merkmal zwischen beiden dreizeiligen Sätzen dient, aus denen sich die Anfangsphrase zusammensetzt. Die syntaktische Bedeutung des adnominalen Genitivs trägt ihrerseits zum Unterschied zwischen beiden Sätzen bei. Hier tritt der Instrumental des Werkzeugs immer in Begleitung des adnominalen Genitivs auf. Doch im ersten Satz beziehen sich alle sechs Instrumentalformen, beginnend mit 1 naslazˇden’em [›Genüsse‹] und endend mit 3 krikami [›Schreie‹], auf den *Genitivus subiectivus 3 vakchanki [›(der) Bacchantin‹], während im zweiten Satz sowohl die Instrumentalformen als auch der Akkusativ vom ›Genitiv der Beziehung‹ in seinen verschiedenen Spielarten begleitet werden 91: 5 poryvom pylkich lask i jazvoju lobzanij [›(Durch einen) Ausbruch heftiger Liebkosungen und (die) Wunde (der) Küsse‹]; 6 mig poslednich sodroganij [›Augenblick (der) letzten Schauder‹]. 89 Vgl. Sˇachmatov, Sintaksis russkogo jazyka, S. 341 (§ 445). 90 Vgl. Stanisˇeva, »Tvoritel’nyj instrumental’nyj«, S. 80 f. 91 Vgl. Sˇachmatov, Sintaksis russkogo jazyka, S. 315–317 (§ 420).
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Ungeachtet der bedeutenden Unterschiede in der Architektonik beider Phrasen und ihrer Segmente kommt den Invarianten keine geringe Rolle in der künstlerischen Struktur des gesamten Gedichtes zu. Jede Phrase hat zwei Helden – die erste Person und eine Beteiligte (ona [›sie‹] in der Anfangsphrase, ty [›du‹] in der Schlußphrase). Die Kasus der den Verben (genauer: den Prädikaten) zugeordneten Objekte sind konsequent zwischen beiden Helden aufgeteilt. Der Instrumental – sowohl der substantivische als auch der pronominale (8 toboju [›(über) dich‹]) – ist bei aller Verschiedenartigkeit seiner einzelnen kontextuellen Bedeutungen durchgehend der Beteiligten zugeordnet, der Dativ dagegen der sprechenden Person: 10 mne [›mir‹], 11 vostorgu moemu [›meinem Entzücken‹], 12 ne vnemles ˇ’ nicˇemu [›nicht wahrnimmst nichts‹] (was von mir ausgeht). Der Akkusativ – sowohl in präpositionsloser Verwendung als auch in der Konstruktion mit Präposition – charakterisiert die Momente des Duetts, in denen beide Teilnehmer präsent sind: 6 Ona toropit mig poslednych sodroganij [›Sie beschleunigt (den) Augenblick (der) letzten Schauder‹]; 14 I delis ˇ’ nakonec moj plamen’ [›Und teilst endlich meine Glut‹]; 9 sklonjajasja na dolgie molen’ja, 10 Ty predaesˇ’sja mne [›9 (dich) auf langes Flehen (hin) beugend, 10 Du gibst (dich) mir hin‹]. Die Lexik der Zeilen über die Demütige erinnert auf merkwürdige Weise an die weit zurückliegenden Verse Pusˇkins über die Zigeuner 92, »smirennoj vol’nosti detej« 93 [›von demütiger kindlicher Freiheit‹], und über ihre Lektion – »Ty dlja sebja lisˇ’ chocˇesˇ’ voli« 94 [›Du willst nur für dich selbst Freiheit‹] – als Vorwurf gegenüber demjenigen, der fordert, daß die Demütige sein »plamen’ ponevole« [seine ›Glut unwillentlich‹] teile. Die Wörter mucˇitel’no toboju scˇastliv ja [›qualvoll (über) dich (bin) glücklich ich‹] versuchen buchstäblich durch ein Oxymoron den Widerspruch aufzuheben, der im Epilog von »Cygany« [›Die Zigeuner‹] besiegelt wird: »No scˇast’ja net 〈…〉 Zˇivut mucˇitel’nyje sny« 95 [›Doch es gibt kein Glück 〈…〉 Es leben die qualvollen Träume‹].96 92 Gemeint ist Pusˇkins Verserzählung »Cygany« [›Die Zigeuner‹] aus dem Jahre 1824. [Anm. d. Übs./Komm.] 93 Vgl. Pusˇkin, Poe˙my 1817–1824, S. 203 (V. 553), sowie die deutsche Nachdichtung von Johannes von Guenther in: Puschkin, Gesammelte Werke, S. 295–315, hier: S. 315. [Anm. d. Übs./Komm.] 94 Pusˇkin, Poe˙my 1817–1824, S. 201 (V. 516) ; vgl. Puschkin, Gesammelte Werke, S. 314. [Anm. d. Übs./Komm.] 95 Pusˇkin, Poe˙my 1817–1824, S. 203 f. (V. 562 u. 565); vgl. Puschkin, Gesammelte Werke, S. 315. [Anm. d. Übs./Komm.] 96 Vgl. die Kritik an dieser punktuellen Parallelsetzung des untersuchten Gedichts mit
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Wie auch immer man die Datierung des Gedichts »Net, ja ne dorozˇu mjatezˇnym naslazˇden’em, Vostorgom cˇuvstvennym 〈…〉« präzisieren und sich zur chronologischen Notiz auf den überlieferten Abschriften, »19 janvarja 1830 g.« [›19. Januar 1830‹], verhalten mag – es ist in jedem Fall problematisch, von einer allzu großen Zeitspanne zwischen diesem Gedicht und dem Sonett vom 7. Juli 1830 auszugehen: »Poe˙t, ne dorozˇi ljuboviju narodnoj, Vostorzˇennyjch pochval projdet minutnyj ˇsum« 97 [›Dichter, schätze nicht die Liebe des Volkes, Der entzückten Lobpreisungen minutenlanger Lärm vergeht‹]. Das gleiche Thema der ›besseren‹, majestätischen Freiheit taucht – wiederum in Alexandrinern verfaßt – 1836 in der angeblichen Nachahmung des Italieners Pindemonte auf: »Ne dorogo cenju ja gromkie prava« 98 [›Nicht für kostbar schätze ich die lauten Rechte‹] – zum drittenmal mit einer gleichartigen Einleitung. »Ty car’« 99 [›Du bist der Zar‹], die beschwörende Gegenüberstellung des eigenen, höchsten Urteils und Entzückens mit dem nur minutenlangen Lärm und dem aufdringlichen Entzücken der Bacchantin und der Menge fand hier ihre Fortsetzung im Schwur, weder der Selbstherrschaft des Zaren noch der des Volkes zu Gefallen zu sein, und im Vorhaben, »sebe lisˇ’ samomu Sluzˇit’ 〈…〉 Po prichoti svoej 〈…〉 Trepesˇcˇa radostno v vostorgach umilen’ja. Vot scˇast’e!« 100 [›sich selbst nur Zu dienen 〈…〉 Nach der eigenen Laune 〈…〉 Freudig erbebend in entzückter Rührung. Das ist Glück!‹] 101 Unterdessen war dem verbannten Dichter in den
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der Verserzählung im Aufsatz von Walter N. Vickery: »Lexical Similarities and Thematic Affinities: Three Pusˇkin Lyrics«, S. 138: »[…] the echoing in the one work of lexical items found in the other does not in itself validate any notion of thematic affinity between the two. The two works operate on different planes. There is no true point of intersection. And the lexical items […] have altogether different meanings in the altogether different contexts of the two poems.« [Anm. d. Übs./Komm.] Vgl. Pusˇkin, Stichotvorenija 1826–1836. Skazki, Bd. 3.1, S. 223, sowie Puschkin, Die Gedichte. Russisch und deutsch, S. 722 f. [Anm. d. Übs./Komm.] Vgl. Pusˇkin, Stichotvorenija 1826–1836. Skazki, Bd. 3.1, S. 420, sowie Puschkin, Die Gedichte. Russisch und deutsch, S. 946–949. [Anm. d. Übs./Komm.] Beginn des 5. Verses des o. a. Sonetts »Poe˙t«. [Anm. d. Übs./Komm.] Auszüge aus V. 14–21 des o. a. Gedichts »Ne dorogo cenju«. Vgl. Anm. 98. [Anm. d. Übs./Komm.] Auch für Jakobsons thematische Parallelsetzung von »Net, ja ne dorozˇu« mit »Poe˙tu« und »Iz Pindemonti« sieht Vickery (»Lexical Similarities and Thematic Affinities: Three Pusˇkin Lyrics«, S. 139), abgesehen von der punktuellen Übereinstimmung der verneinten Wertschätzung, keine tragfähige Grundlage: »›Net, ja ne dorozˇu‹ operates on a different plane to the other two poems, and there are no points of intersection.« – Statt der von Jakobson reklamierten werkinternen Bezüge stellt Vickery im Rückgriff auf N. M. Botvinnik die enge Verbindung zu Konstantin
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Versen aus dem Jahr 1823 »Kto, volny, vas ostanovil« 102 [›Wer, Wellen, hat euch angehalten‹] der »potok mjatezˇnyj« [›stürmische Strom‹] teuer, das Leitmotiv der ersten Strophe; und die letzte Strophe rief »groz[u] – simvol svobody« [›(das) Gewitter – *Symbol der Freiheit‹] dazu auf, zu sausen »poverch nevol’nych vod« [›über die unfreiwilligen Wasser‹].103 P. S. Der vorliegende Aufsatz war bereits im Druck, als der Verfasser den interessanten Überblick von S. G. Bocˇarov »›Svoboda‹ i ›scˇast’e‹ v poe˙zii Pusˇkina« [›»Freiheit« und »Glück« in der Dichtung Pusˇkins‹] im Sammelband Problemy poe˙tiki i istorii literatury. K 75–letiju so dnja rozˇdenija i 50–letiju naucˇno-pedagogicˇeskoj dejatel’nosti Michaila Michajlovicˇa Bachtina, Saransk: Mordovskij gosudarstvennyj universitet imeni N. P. Ogareva 1973 kennenlernte. Die Nähe in der Auswahl und vergleichenden Behandlung der Aphorismen Pusˇkins freute mich natürlich sehr. Editorische Notiz Zuerst als Vortrag gehalten auf dem Pusˇkin-Symposium an der New York University im Herbst 1975 und publiziert in Alexander Pusˇkin. A Symposium on the 175th Anniversary of His Birth, hg. v. Anrej Kodjak u. Kiril Taranovsky, New York: New York University Press 1976, S. 3–26.
Literatur Jakobsons eigene Literaturangaben sind mit ° gekennzeichnet. ° Bocˇarov, S. G.: »›Svoboda‹ i ›scˇast’e‹ v poe˙zii Pusˇkina« [›»Freiheit« und »Glück«
in der Dichtung Pusˇkins‹], in: Problemy poe˙tiki i istorii literatury (Sbornik stat’ej). K 75–letiju so dnja rozˇdenija i 50–letiju naucˇno-pedagogicˇeskoj dejatel’nosti Michaila Michajlovicˇa Bachtina, Saransk: Mordovskij gosudarstvennyj universitet imeni N. P. Ogareva 1973, S. 147–163. Nikolaevicˇ Batjusˇkovs Gedicht »K postareloj krasavice« [›An die gealterte Schönheit‹] heraus, dessen Thema und Wortschatz Pusˇkin weitgehend übernimmt, dabei jedoch zu einer entgegengesetzten Aussage kommt. Bei Batjusˇkovs Gedicht wiederum handelt es sich um die freie Übersetzung eines Epigramms von Paulus Silentarius. (Vgl. a. a. O., S. 145–147, sowie Botvinnik, »O stichotvorenii Pusˇkina ›Net, ja ne dorozˇu mjatezˇnym naslazˇden’em‹«.) [Anm. d. Übs./Komm.] 102 Vgl. Pusˇkin, Stichotvorenija 1817–1825. Licejskie stichotvorenija v pozdnejsˇich redakcijach, Bd. 2.1, S. 258, sowie Puschkin, Die Gedichte. Russisch und deutsch, S. 358 f. [Anm. d. Übs./Komm.] 103 Kursivierungen von Roman Jakobson. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Botvinnik, N. M.: »O stichotvorenii Pusˇkina ›Net, ja ne dorozˇu mjatezˇnym naslazˇden’em‹« [›Über Pusˇkins Gedicht »Nein, ich schätze nicht die stürmischen Genüsse«‹], in: Vremennik Pusˇkinskoj komissii 14 (1976), S. 147–156. »Gosudarstvennyj musej-zapovednik ›Carskoe Celo‹« [›Das staatliche MuseumNaturschutzgebiet »Carskoe Selo«‹]: http://www.tzar.ru/catherine park/landscape/girl fountain (10. 7. 2006). Jakobson, Roman Osipovicˇ: »Beitrag zur allgemeinen Kasuslehre. Gesamtbedeutungen der russischen Kasus«, in: SW II, S. 23–71. — »Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze«, in: SW I, S. 328–401. ° — »Morfologicˇeskie nabljudenija nad slavjanskim skloneniem (Sostav russkich padezˇnych form)« [›Morphologische Beobachtungen zur slavischen Deklination (Bestand der russischen Kasusformen)‹], in: SW II, S. 154–183. ° — »Ob odnoslozˇnych slovach v russkom stiche« [›Über die einsilbigen Wörter im russischen Vers‹], in: Slavic Poetics. Essays in honor of Kiril Taranovsky, The Hague u. Paris: Mouton 1973, S. 239–252. ° — »Ob odnoslozˇnych slovach v russkom stiche«, in: SW V, S. 201–214. — »Poe˙zija grammatiki i grammatika poe˙zii«, in: SW III, S. 63–86. – »Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie«, übs. u. komm. v. Sebastian Donat, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 256–301. — »R. C.«, in: SW III, S. 348–355. – »R. C.«, übs. u. komm. v. Sebastian Donat, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 63–76. — »Shifters, Verbal Categories, and the Russian Verb«, in: SW II, S. 130–147. – »Verschieber, Verbkategorien und das russische Verb«, übs. v. Gabriele Stein, in: Form und Sinn, S. 35–54. — »Slavic Epic Verse«, in: SW IV, S. 414–463. — »Slovenskij primer uzlovoj roli bezlicˇnych predlozˇenij v poe˙ticˇeskom kontekste«, in: SW III, S. 577–581. – »Ein slovenisches Beispiel der Schlüsselrolle unpersönlicher Sätze im poetischen Kontext«, übs. v. Oleh Kotsyuba, komm. v. Peter Scherber, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 516–526. ° — »Socha v symbolice Pusˇkinoveˇ«, in: Slovo a slovesnost 3 (1937), S. 2–24. ° — »The Statue in Pusˇkin’s Poetic Mythology«, übs. v. John Burbank, in: Pusˇkin and His Sculptural Myth, The Hague u. Paris: Mouton 1975, S. 1–44. ° — »The Statue in Pusˇkin’s Poetic Mythology«, übs. v. John Burbank, in: SW V, S. 237–280. — »Stichi Pusˇkina o deve-statue, vakchanke i smirennice« [›Pusˇkins Verse über die Mädchen-Statue, die Bacchantin und die Demütige‹], in: Alexander Pusˇkin. A Symposium on the 175th Anniversary of His Birth, hg. v. A. Kodjak u. K. Taranovsky, New York: New York University Press 1976, S. 3–26. — »Stichi Pusˇkina o deve-statue, vakchanke i smirennice«, in: SW III, S. 356– 377. ° — »The Relationship between Genitive and Plural in the Declension of Russian Nouns«, in: SW II, S. 148–153. — »›Ty chocˇesˇ’ znat’: kto ja?‹ Razbor tobol’skich stichov Radisˇcˇeva«, in: SW III, S. 311–321. – »›Du möchtest wissen: Wer bin ich?‹ Eine Analyse der To-
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bolsker Verse Radisˇcˇevs«, übs. u. komm. v. Sebastian Donat, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 688–710. — »Zur Struktur des russischen Verbums«, in: SW II, S. 3–15. Jakobson, Roman Osipovicˇ u. Halle, Morris: »Phonology and Phonetics«, in: SW I, S. 464–504. — »The Revised Version of the List of Inherent Features«, in: SW I, S. 738–742. — »Phonologie und Phonetik«, übs. v. Georg Friedrich Meier, Wolfgang Raible u. Regine Kuhn, in: Aufsätze zur Linguistik und Poetik, S. 54–106. Jakobson, Roman Osipovicˇ u. Waugh, Linda R.: The Sound Shape of Language, in: SW VIII, S. 1–315. – Die Lautgestalt der Sprache, übs. v. Christine u. Thomas F. Shannon, Berlin u. New York: Walter de Gruyter 1986 (= Janua Linguarum. Series Maior, Bd. 75). Krylov, S. A. u. E. V. Paducˇeva: Art. »Mestoimenie« [›Pronomen‹], in: Lingvistiˇceskij ˙enciklopedicˇeskij slovar’, hg. v. V. N. Jarcev u. a., Moskva: Sovetskaja e˙nciklopedija 1990, S. 294 f. La Fontaine, [Jean de]: Œuvres comple`tes, Bd. 1: Fables, contes et nouvelles, Einl. v. Edmond Pilon u. Rene´ Groos, hg. v. Rene´ Groos u. Jaques Schiffrin, Paris: Gallimard 1987 (= Bibliothe`que de la Ple´iade, Bd. 10). — Sämtliche Fabeln, übs. v. Ernst Dohm u. Gustav Fabricius, München: Winkler 1978. ° Lapsˇina, N. V., I. K. Romanovicˇ u. B. I. Jarcho: Metricˇeskij spravocˇnik k stichotvorenijam A. S. Pusˇkina [›Metrisches Handbuch zu den Gedichten A. S. Pusˇkins‹], Moskva u. Leningrad: Academia 1934. Leskov, Nikolaj Semenovicˇ: Soborjane [›Die Klerisei‹], in: ders.: Socˇinenija v trech tomach, hg. v. V. A. Tunimanov, Moskva: Chudozˇestvennaja literatura 1988, Bd. 1, S. 169–470. Lexikon der Kunst. Malerei, Architektur, Bildhauerkunst, 12 Bde., hg. v. Wolf Stadler, Erlangen: Karl Müller Verlag 1994. O. V.: Art. »Antologija« [›Anthologie‹], in: Literaturnaja ˙enciklopedija terminov i ponjatij, hg. v. A. N. Nikoljukin, Moskva: NPK »Intelvak« 2001, Sp. 42. ° Petrov, Anatolij Nikolaevicˇ: Pusˇkin. Dvorcy i parki [›Pusˇkin. Paläste und Parks‹], 2. Aufl. Leningrad: Iskusstvo 1969. Pusˇkin, Aleksandr Sergeevicˇ: Dramaticˇeskie proizvedenija [›Dramatische Werke‹], hg. v. M. P. Alekseev u. a., Moskva u. Leningrad: Izdatel’stvo Akademii Nauk SSSR 1948 (= Polnoe sobranie socˇinenij. V 17 tomach, Bd. 7), Nachdr. Moskva: Voskresen’e 1995. — Evgenij Onegin. Roman v stichach [›Evgenij Onegin. Roman in Versen‹], hg. v. Boris Viktorovicˇ Tomasˇevskij, Moskva u. Leningrad: Izdatel’stvo Akademii Nauk SSSR 1937 (= Polnoe sobranie socˇinenij. V 17 tomach, Bd. 6), Nachdr. Moskva: Voskresen’e 1995. — Kritika i publicistika 1819–1834 [›Kritische und publizistische Schriften 1819–1834‹], hg. v. V. V. Gippius u. a., Moskva u. Leningrad: Izdatel’stvo Akademii Nauk SSSR 1949 (= Polnoe sobranie socˇinenij. V 17 tomach, Bd. 11), Nachdr. Moskva: Voskresen’e 1996.
Pusˇkins Verse über die Statue, die Bacchantin und die Demütige
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Über die »Verse, verfasst nachts während der Schlaflosigkeit« 1 Übersetzung aus dem Russischen und Kommentar Sebastian Donat Mit den »Versen, verfaßt nachts während der Schlaflosigkeit« wählt sich Jakobson ein atmosphärisch besonders eindringliches Gedicht Pusˇkins. Dennoch verzichtet die Analyse – anders als im Fall weitaus weniger ›persönlicher‹ Werke Pusˇkins, wie z. B. der »Statue in Carskoe Selo« – auf die Einbettung in Werkkontext und Autorbiographie und beschränkt sich auf den Text selbst. Und auch hier konzentriert sich Jakobson weitgehend auf wenige sprachliche Kategorien. Im Zentrum stehen dabei die Substantive und Pronomina, deren stark eingeschränktes Repertoire in bezug auf Kasus und *Numerus Jakobson beschreibt und von dem ausgehend er die formale Strukturierung des Gedichts rekonstruiert. Dabei spielt eine Jakobsonsche Grundoperation eine entscheidende Rolle: die Herausarbeitung von *Oppositionspaaren *merkmalhafter vs. *merkmalloser Elemente. Gerade in dieser ›linguistischen Askese‹, in der selbst die auffälligen *Metaphern im Gedicht lediglich am Rande behandelt werden, gelingt es Jakobson, die »dramatische Kollision zwischen dem Ich des Autors und dem vorgestellten Gesprächspartner, der grammatischen zweiten *Person« und ihre Entwicklung vom anfänglichen Ausgeliefert-Sein des Sprechers an die nächtlichen Geräusche bis hin zu seinem »finalen Triumph über die geheim gehaltene Chiffre der schlafenden Nacht« nachvollziehbar und überzeugend nachzuzeichnen. Sebastian Donat 1
Vorlage: Jakobson, Roman Osipovicˇ: »O ›Stichach, socˇinennych nocˇ’ju vo vremja bessonnicy‹«, in: SW III, S. 378–387. Vgl. den Erstdruck in: Alexander Pusˇkin. Symposium II, hg. v. Andrej Kodjak, Krystyna Pomorska u. Kiril Taranovsky, Columbus /Ohio: Slavica Publishers 1980 (= New York University Slavic Papers, Bd. 3), S. 1–9. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Mit einem merkwürdigen fünffüßigen *Amphibrachys betitelte Pusˇkin die »Stichı´, socˇine´nnye no´cˇ’ju vo vre´mja besso´nnicy« [›Verse, verfaßt nachts während der Schlaflosigkeit‹]. Der späteste Vermerk des Autors legt ihre Niederschrift auf den Oktober 1830 2 in Boldino 3 fest: 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13
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ћне не спитс¤, нет огн¤; ¬сюду мрак и сон докучный. ’од часов лишь однозвучный –аздаетс¤ близ мен¤. ѕарки бабье лепетанье, —п¤щей ночи трепетанье, Δизни мышь¤ беготн¤… ◊то тревожишь ты мен¤? ◊то ты значишь, скучный шопот? ”коризна, или ропот ћной утраченного дн¤? ќт мен¤ чего ты хочешь? “ы зовешь или пророчишь? я пон¤ть теб¤ хочу, —мысла ¤ в тебе ищу… 4 Mne ne spı´tsja, net ognja´; Vsju´du mra´k i so´n doku´cˇnyj. Cho´d cˇaso´v lisˇ’ odnozvu´cˇnyj Razdae´tsja blı´z menja´. Pa´rki ba´b’e lepeta´n’e, Spja´ˇscˇej no´cˇi trepeta´n’e, Zˇ´ızni my´ˇs’ja begotnja´… ˇ to trevo´zˇisˇ’ ty menja´? C ˇ to ty zna´cˇisˇ’, sku´cˇnyj ˇso´pot? C Ukorı´zna, ili ro´pot Mnoj utra´cˇennogo dnja´? Ot menja´ cˇego´ ty cho´cˇesˇ’? Ty zove´ˇs’ ili proro´cˇisˇ’?
Zur Datierung vgl. Pusˇkin, Stichotvorenija 1826–1836. Skazki, Bd. 3.2, S. 1221. [Anm. d. Übs./Komm.] Wegen einer Cholera-Epidemie verbrachte Pusˇkin den ›unglaublich fruchtbaren Herbst‹ (u. a. die »Kleinen Tragödien«, das Poem »Das Häuschen in Kolomna«, die »Erzählungen Belkins«, zwei Kapitel des Versromans »Evgenij Onegin« und etwa 30 Gedichte) auf dem Familiengut Boldino; vgl. das Kapitel »Boldino« in: Keil, Puschkin. Ein Dichterleben, S. 318–337. [Anm. d. Übs./Komm.] Vgl. Pusˇkin, Stichotvorenija 1826–1836. Skazki, Bd. 3.1, S. 250. [Anm. d. Übs./ Komm.]
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Ja ponja´t’ tebja´ chocˇu´, Smy´sla ja´ v tebe´ isˇcˇu´… 5 Ich kann nicht schlafen, es gibt kein Feuer /Licht; Überall sind Finsternis und lästiger Traum. Nur der eintönige Gang der Uhr Ertönt in meiner Nähe. Der Parze weibisches Stammeln, Der schlafenden Nacht Zittern, Des Lebens mäuseartiges Hin-und-Herlaufen… Was beunruhigst du mich? Was bedeutest du, langweiliges Geflüster? Vorwurf oder Murren Des durch mich verlorengegangenen Tages? Was willst du von mir? Rufst du oder prophezeist du? Ich will dich verstehen, Einen Sinn suche ich in dir… 6
In diesen fünfzehn vierfüßigen *Trochäen unterteilen sich die *Hebungen, die auf die ungeraden Silben des Verses fallen, anschaulich in zwei Kategorien: Die leichten Hebungen auf den ersten und fünften Silben des Verses sind deutlich den schweren Hebungen auf den dritten und siebenten Silben entgegengesetzt. Die überwältigende Mehrheit dieser Hebungen fällt auf Betonungen von Mehrsilbern (einschließlich zweisilbiger Wörter), in den übrigen, sehr vereinzelten Fällen auf betonte Einsilber (dritte Silbe im Vers: 2 mrak, 15 ja; siebente Silbe im Vers: 11 dnja). Die leichten Hebungen dagegen fallen nur in der Minderheit, ungefähr in einem Drittel der Gesamtzahl der Verse, mit Betonungen von Mehrsilbern zusammen: fünf *Paroxytona auf der ersten und ein Paroxytonon auf der fünften Silbe sowie drei *oxytonische pronominale Formen.7 5 6 7
Die Betonungszeichen richten sich nach den Akzentregeln des Russischen sowie nach der Lesart Jakobsons, so wie er sie im weiteren Verlauf des Aufsatzes präsentiert. [Anm. d. Übs./Komm.] Vgl. die Nachdichtung von Michael Engelhard in Puschkin, Die Gedichte. Russisch und deutsch, S. 745. [Anm. d. Übs./Komm.] Über den Unterschied in der Verteilung schwerer und leichter Hebungen zwischen Mehr- und Einsilbern vgl. meinen Aufsatz »Ob odnoslozˇnych slovach v russkom stiche«, in: SW V, S. 201–214. [Anm. v. R.J.] – Jakobson arbeitet dort (insbesondere am Beispiel des vierhebigen Trochäus bei Pusˇkin) heraus, daß es im Russischen zwei Phänomene sind, die zur Unterscheidung zwischen schweren und leichten Hebungen führen. Zum einen die Realisierungshäufigkeit, d. h. die prozentuale Besetzung der Hebungen mit Wortbetonungen, zum anderen die Qualität bzw. Stärke der Wortbetonungen in Hebungsposition (unterschieden zwischen starken
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Die »Verse, verfaßt nachts während der Schlaflosigkeit« werden eröffnet durch eine Zeile, die aus zwei *unpersönlichen Sätzen besteht, einem reflexiven 8 und einem Existenzsatz 9. Obwohl die Zeilen, abgesehen von der ersten, weder unpersönliche Sätze noch Verneinungen aufweisen, bestimmen gerade die Besonderheiten dieser zweigliedrigen subjektlosen Einleitung die künstlerische *Struktur des gesamten lyrischen Textes. Beide Einleitungssätze unterscheiden sich in bezug auf die Richtung der Verneinung. Im ersten wird die Durchführbarkeit einer Tätigkeit in Abrede gestellt, 1 Mne ne spitsja [›Ich kann nicht schlafen‹], der zweite dementiert das Vorhandensein eines Gegenstands, 1 net ognja [›(es gibt) kein Feuer /Licht‹]. Auf die verneinende und dementsprechend unpersönliche Mitteilung über das Fehlen des Feuers /Lichts folgt die tautologische Bestätigung 2 vsjudu mrak [›überall (ist) Finsternis‹]; und der unpersönlichen negativen Einleitung 1 Mne ne spitsja [›Ich kann nicht schlafen‹] ist die nominale Alternante des gleichen Wortes 2 son [›Traum‹] 10 gegenübergestellt, die Mitteilung über die umgebende Lethargie. Die sichtbare, räumliche Welt verschwindet und macht der rein zeitlichen Kette undeutlicher Geräusche Platz, die den gleichförmigen Gang der Uhr in einen Andrang verschiedenartiger, metaphorisch-geisterhafter, motorisch-akustischer Eindrücke verwandeln. In der seltsamen Reimordnung dieser geheimen Boldinoer Verse (AbbAccAAddAeeFF) 11, in denen der *weibliche Reim immer benachbarte Wortbetonungen von Mehrsilbern und schwachen Wortbetonungen von Einsilbern). Beides zusammen ergibt das *rhythmische Profil des trochäischen Vierhebers, das bei Pusˇkin (wie im Fall des vierhebigen *Jambus) der sogenannten ›regressiven Akzent-Dissimilation‹ entspricht, bei der die prozentuale Realisation der Hebungen ausgehend vom Versende eine sich abschwächende Wellenkurve bildet: maximale Realisation der letzten Hebung, besonders seltene der vorletzten, häufige der drittletzten und relativ seltene Realisation der viertletzten (bzw. ersten) Hebung. Vgl. die Tabelle a. a. O., S. 206, sowie das Diagramm in Lapsˇina /Romanovicˇ /Jarcho, Metricˇeskij spravocˇnik k stichotvorenijam A. S. Pusˇkina, S. 135. Zur regressiven AkzentDissimilation (allerdings beim vierhebigen Jambus) vgl. auch Jakobson, »Linguistics and Poetics«, S. 32 f., sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 177 f. [Anm. d. Übs./Komm.] 8 Bei der Konstruktion mne ne spitsja ›ich kann nicht schlafen‹ (wörtl.: mir schläft es sich nicht) wird das eigentlich nicht reflexive Verb (hier: spat’ ›schlafen‹) mit der Reflexivpartikel -sja versehen, das ursprüngliche Subjekt muß dann im Dativ erscheinen (hier: mne ›mir‹). [Anm. v. I.M.] 9 Genauer: ein negativer Existenzsatz. Hier steht im Russischen das »Subjekt« nicht im Nominativ, sondern im Genitiv (hier: ognja ›[des] Feuers‹). [Anm. v. I.M.] 10 Zur Verwandtschaft von »spat’« und »son« vgl. Vasmer, E˙timologicˇeskij slovar’ russkogo jazyka, Bd. 3, S. 716 f. u. 732 f. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Zeilen paarweise verbindet, die *männlichen Verse dagegen entweder zum Block- oder zum *Paarreim greifen, geben (nebenbei bemerkt) die räumlichen, buchstäblich ›düsteren‹ Bilder der ersten beiden Zeilen, die durch das zähe und aufdringliche Erleben der in der Dunkelheit vergehenden Zeit abgelöst werden, Anlaß zum Bau tiefreichender *metathetischer Reime zwischen dem ersten, negativen Verspaar und der neuen, auffällig verschiedenen Etappe des lyrischen Themas: Von dieser Art ist die Umstellung verwandter Konsonaten in den reimenden Lautverbindungen 1 net ognja – 7 begotnja, 2 son dokuc ˇnyj – 3 odnozvucˇnyj. Dem Fehlen des Nominativs in der ersten Zeile stellt der folgende Text des fünfzehnzeiligen Gedichts fünfzehn selbständige Nominativformen gegenüber: Neun von ihnen fallen auf Substantive und sechs auf Personalpronomina. Während in der Anfangszeile der Nominativ, d. h. der merkmallose bzw. Null-Fall 12 komplett vermieden wird, gehören nachfolgend alle neun nominalen Nominative zur Kategorie der *Abstrakta, und ihre Abstraktheit grenzt sie von den merkmallosen *Konkreta ab. Alle diese neun Nomina, zumindest in ihrer vorliegenden semantischen Spielart, besitzen keinen Plural, und als echte *singularia tantum heben sie die Opposition der grammatischen Numeri auf. Bemerkenswert ist übrigens das Fehlen von Pluralformen im ganzen lexikalischen Bestand des Gedichts mit Ausnahme des Genitivs 3 ˇcasov [›(der) Uhr‹ 13 ], einer lexikalisierten *Metonymie, die zur Kategorie der *pluralia tantum gehört und das Instrument bezeichnet, das die Zeit Stunde für Stunde mißt. Von den neun Nominativen verfügen alle außer dem ersten (2 mrak [›Finsternis‹]) über ein spezifisches und zutiefst bedeutsames *Merkmal: Alle acht gehören zur Kategorie der hybriden, *deverbativen Nomina, und speziell sind sie alle *nomina actionis. Auf diese Weise findet sich unter den Nominativformen hier kein einziges merkmalloses Substantiv – analog dazu, daß es in den unpersönlichen Sätzen keinen Nominativ und damit keinen merkmallosen Kasus gab.14 11 Jakobson bezeichnet weibliche Reime mit Klein- und männliche mit Großbuchstaben. [Anm. d. Übs./Komm.] 12 Zur semiologischen Dimension der *binären Opposition eines ›Nichtvorhandenseins zum entsprechenden Vorhandensein‹ vgl. Jakobson, »Das Nullzeichen«. [Anm. d. Übs./Komm.] 13 Wortwörtlich: ›(der) Stunden‹. [Anm. d. Übs./Komm.] 14 Zum Konzept der Beschreibung sprachlicher Phänomene auf der Basis von binären Oppositionen – ›merkmalhaft‹ vs. ›merkmallos‹ als An- oder Abwesenheit einer *distinktiven Eigenschaft – vgl. Jakobsons Aufsätze »Mark and Feature«, »Krugovorot lingvisticˇeskich terminov« und »Zur Notwendigkeit einer sachlichen und terminologischen Unterscheidung«. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Das Repertoire der neun Substantive im Nominativ zerfällt in drei enge Dreierverbindungen: Der ersten von ihnen geht eine, nämlich die Anfangszeile, voraus, und alle drei Verbindungen sind durch eine Zeile voneinander getrennt: 2 mrak – 2 son – 3 chod [›2 Finsternis – 2 Traum – 3 Gang‹]; 5 lepetan’e – 6 trepetan’e – 7 begotnja [›5 Stammeln – 6 Zittern – 7 Hin-und-Herlaufen‹]; 9 ˇ sopot – 10 ukorizna – 10 ropot [›9 Geflüster – 10 Vorwurf – 10 Murren‹]. Somit umfaßt die mittlere Triade drei Zeilen mit jeweils einem Glied pro Zeile, und jede der umliegenden Triaden ist auf zwei Zeilen mit umgekehrter Anordnung der Nominative komprimiert. Die mittlere, dreizeilige Triade beginnt mit einem weiblich endenden Zweizeiler. Jede der beiden zweizeiligen Triaden umfaßt zwei durch weiblichen Reim verbundene Verse; und auf jede folgt ein männlich endender Vers, in dem sich weder nominale noch pronominale Nominativformen finden. Zudem liegen die einzigen Zeilengrenzen des Gedichts, die sich innerhalb zweigliedriger Konstruktionen finden, in beiden Fällen auf dem Übergang vom weiblich zum männlich endenden Vers, und zwar innerhalb der prädikativen Konstruktion, die sich über den dritten und vierten Vers erstreckt, und innerhalb der attributiven Konstruktion, die den zehnten und elften Vers umfaßt. In diesen beiden Fällen fehlt natürlich, übrigens im Gegensatz zu allen anderen Zeilen des Textes, das abschließende Interpunktionszeichen. Jede der drei nominativischen Triaden ist durch eine prosodische Besonderheit gekennzeichnet, die allen drei Gliedern der Triade gemeinsam ist: Alle drei sind in der ersten Triade einsilbig (mrak, son, chod ), in allen drei Nominativen der zweiten Triade fällt die Betonung auf den gleichen Vokal der dritten Silbe (lepeta´n’e, trepeta´n’e, begotnja´), und die dritte Triade besteht aus drei Paroxytona (sˇo´pot, ukorı´zna, ro´pot). In allen drei Nominativen der zweiten Triade stellt das unbetonte Suffix -ot, -et, das »in deverbativen Nomina Klang, Geräusch und manchmal auch Bewegung bedeutet, die mit irgendeinem Geräusch verbunden ist«,15 die erste und in zwei Nominativen der dritten Triade die einzige wortbildende Komponente dar: 5 lepetan’e, 6 trepetan’e, 7 begotnja; 9 ˇsopot, 10 ropot [›5 Stammeln, 6 Zittern, 7 Hin-und-Herlaufen; 9 Geflüster, 10 Murren‹]. In der ersten Triade verbinden sich die Nominative mrak [›Finsternis‹] und son [›Traum‹] mit dem vorangestellten Adverb vsjudu [›überall‹] durch eine *Nullform des Verbs byt’ [›sein‹] im Präsens; 16 und das refle15 Vgl. Vinogradov, Russkij jazyk. Grammaticˇeskoe ucˇenie o slove, S. 111 u. 130. 16 Im Russischen kann von byt’ [›sein‹] kein Präsens gebildet werden, d. h. die *Kopula entfällt, wird also durch eine »Nullform« repräsentiert. [Anm. d. Übs./Komm.]
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xive Verb 4 razdaetsja [›ertönt‹], das als Prädikat zum Nominativ 3 chod [›Gang‹] dient, ist parallel zum anfänglichen 1 ne spitsja [›(kann) nicht schlafen‹] sowohl nach der Stellung im Vers und dem Vorhandensein des Postfixes 17 -sja wie auch in bezug auf die Ungebräuchlichkeit der Formen der ersten und zweiten Person des Verbs in der vorliegenden Bedeutung. (Nur in seltenen Fällen der Personifikation ertönender Klänge ist der dramatische Einsatz der zweiten Person möglich: »i vot ty snova razdaesˇ’sja, pozabytaja pesnja minuvsˇich vekov!« [›und da ertönst du von neuem, vergessenes Lied vergangener Jahrhunderte!‹ 18 ]) D. h. auch wenn die drei letzten Zeilen des einleitenden Vierzeilers mit der ersten Zeile aufgrund des Vorhandenseins von subjektivischen Nominativen kontrastieren, so ist andererseits die Freiheit in der Konstruktion zweigliedriger Sätze bis zum Ende des Vierzeilers merklich beschränkt. In der abschließenden Triade verzichtet der Nominativ auf die Rolle des Subjekts und steht zunächst im Dienst einer Anrede (9 Cˇto ty znacˇisˇ’, skucˇnyj ˇsopot? [›Was du bedeutest, langweiliges Geflüster?‹]), dann eines sich an diese Anrede anschließenden isolierenden Doppelsatzes (10 Ukorizna ili ropot [›Vorwurf oder Murren‹]). Man könnte auf ähnliche Art und Weise die dritte Triade interpretieren, indem man den Vers 7 Zˇizni mysˇ’ja begotnja [›(Des) Lebens mäuseartiges Hin-und-Herlaufen‹] als Anrede vor der Frage 8 Cˇto trevozˇisˇ’ [›Was beunruhigst‹] ansieht und 5 lepetan’e [›Stammeln‹] wie 6 trepetan’e [›Zittern‹] als zwei vorangestellte Appositionen behandelt; doch mit größerer Wahrscheinlichkeit ist davon auszugehen, daß diese drei Nominative zusammen mit ihren Attributen einfach eingliedrige Nominalsätze mit Ausrufcharakter darstellen. Mit anderen Worten: Das gesamte Gedicht verweigert unverkennbar substantivischen Nominativen das Recht auf eine Subjektrolle bei positiv vorhandenem (d. h. nicht nullförmigem) Prädikat. Überhaupt wird die funktionale Auslastung der Substantive als solcher, d. h. als einziger merkmalloser Wortart, einer deutlichen Reduktion unterzogen. Insbesondere ist das nominale *Paradigma im ganzen Gedicht auf zwei Kasus beschränkt: Neun Vorkommen des Nominativs stehen sieben Beispiele für den Genitiv gegenüber. Dem Genitiv der Negation der Anfangszeile, 1 net ognja [›(es gibt) kein Feuer /Licht‹], entspricht und steht gegenüber der Genitiv des Zieles 19 in der Schlußzeile, 15 smysla ja v 17 Ein Postfix ist ein Wortbildungsmorphem, das nach der Endung steht (im Gegensatz zum Suffix, das sich vor der Endung befindet). [Anm. v. I.M.] 18 Zitat nicht identifiziert. [Anm. d. Übs./Komm.] 19 Vgl. Jakobson, »Beitrag zur allgemeinen Kasuslehre«, S. 39, wo die genannten Spielarten des Genitivs folgendermaßen bestimmt werden: »der Gegenstand [bleibt]
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tebe isˇˇcu [›(einen) Sinn suche ich in dir‹] (d. h. ein solcher Sinn ist nicht gegeben, sondern die Frage wird gestellt, ob es in dir irgend einen Sinn gibt: ˇcto ty znacˇisˇ’? [›was du bedeutest?‹]). Alle übrigen fünf Beispiele fallen auf den adnominalen *genitivus subiectivus, drei davon vorangestellt in der mittleren Triade und jeweils einer dem abschließenden Nominativ der Randtriaden nachgestellt: 3 chod ˇcasov, 10 ropot 〈…〉 11 dnja [›3 Gang (der) Uhr, 10 Murren 〈…〉 11 (des) Tages‹]. Die ungewöhnliche *Symmetrie der Komposition wird auch durch die Anordnung der Attribute illustriert. Die mittlere Triade enthält drei kongruente Attribute, die beiden anderen je zwei. Alles in allem enthält der Text sieben kongruente Attribute, und zwar fünf Adjektive, durchgehend im Nominativ, und zwei Partizipien, die wichtigen *Antonymen im Genitiv zugeordnet sind: 6 spjasˇˇcej nocˇi [›(der) schlafenden Nacht‹] und 11 mnoj utrac ˇennogo dnja [›(des durch) mich verlorengegangenen Tages‹]. Der von mir versäumte Tag, der zu Nichts vergangen ist, wiederholt das anfängliche Bild der nächtlichen Finsternis; das Fehlen von Feuer /Licht und der Verlust des Tages eröffnen und beenden einen fünfgliedrigen Reim (1 ognja – 4 menja – 7 begotnja – 8 menja – 11 dnja [›1 Feuer /Licht – 4 mich – 7 Hin- und Herlaufen – 8 mich – 11 Tag‹]), und das Partizip 6 spjas ˇˇcej [›schlafenden‹] antwortet auf das *antithetische 1 ne spitsja [›(kann) nicht schlafen‹]. In den Grenzen der mittleren Triade der Substantive im Nominativ gehören beide Adjektive zum Deklinationstyp der Gattungsadjektive mit der Bedeutung der Zugehörigkeit – metonymisch im einen Fall (5 Parki bab’e lepetan’e [›(Der) Parze weibisches Stammeln‹]) und metaphorisch im anderen (7 Zˇizni mysˇ’ja begotnja [›(Des) Lebens mäuseartiges Hin-und-Herlaufen‹]). Der Umstand, daß diese beiden Adjektive von weiblichen Substantiven abstammen (baba [›Weib‹], mysˇ’ [›Maus‹]), erhöht die Wahrnehmbarkeit des gleichen grammatischen *Genus in den drei adnominalen Genitiven der genannten Triade (5 Parki, 6 noc ˇi, 7 Zˇizni [›5 (Der) Parze, 6 (der) Nacht, 7 (Des) Lebens‹], das im *Kontrast zum Maskulinum der übrigen Genitive des ganzen Textes steht. In beiden Randtriaden gehören alle drei maskulinen Adjektive im Unterschied dazu zur Kategorie der *Qualitätsadjektive. Das erste, 2 dokucˇnyj [›lästig‹], reimt mit dem zweiten, 3 odnozvucˇnyj [›eintönig‹], und ist sowohl der Zusammensetzung als auch der Bedeutung nach eng mit dem dritten, 9 skucˇnyj [›langweilig‹] verbunden. außerhalb des Sachverhaltes der Aussage, wobei […] nebenbei angegeben [wird], ob dieser Sachverhalt sich zum bezeichneten Gegenstand neigt (G des Zieles) oder […] ihn ausschaltet, verdrängt (G der Negation).« [Anm. d. Übs./Komm.]
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Die finiten Verbformen, der Anzahl nach gleich mit den neun Nominativformen der Substantive, bilden ihrerseits eine symmetrische Aufteilung, jedoch in einer anderen Anordnung. *Imperfektiver Aspekt,20 Präsens und Singular – das sind die gemeinsamen Züge aller finiten Verben, während die Kategorie der Person sie in drei Gruppen unterteilt: fünf Formen der zweiten und je zwei der dritten und ersten Person. Die Formen der merkmallosen dritten Person 21 finden sich in den ersten beiden männlich endenden Zeilen des Gedichts (1 ne spitsja, 4 razdaetsja [›1 (kann) nicht schlafen, 4 ertönt‹], während die Formen der (doppelt merkmalhaften) ersten Person auf die beiden letzten männlich endenden Zeilen fallen und den Reim des abschließenden Zweizeilers bilden (14 chocˇu – 15 isˇˇcu [›14 will – 15 suche‹]). In der Zwischenposition zwischen den Formen der dritten und der ersten Person befinden sich die Formen der einfach merkmalhaften zweiten Person, die zwei getrennte Paare benachbarter, gleichermaßen interrogativer Zeilen besetzen. Zwischen den beiden Verbgruppen ist die letzte Nominativ-Triade eingekeilt, und ihre Struktur wird von der zweiten dieser zwei Verbgruppen nachgebildet: 9 ˇsopot? 10 Ukorizna ili ropot 〈…〉? – 12 ˇcego ty chocˇesˇ’? 13 Ty zove ¨ 22ˇs’ ili prorocˇisˇ’? [›9 Geflüster? 10 Vorwurf oder Murren 〈…〉? – 12 was du willst? 13 Du rufst oder prophezeist?‹]. Neben der identischen Verteilung der drei Substantive und der drei Verben mit der gleichen disjunktiven Konjunktion ili [›oder‹] vor dem letzten Glied beider Verbindungen muß man das betonte o in ihren Reimen hervorheben, das allen anderen Reimen dieses Gedichts fremd ist und in der Verb-Triade durch das betonte o im Inneren der reimenden Zeilen unterstützt wird. Die Ähnlichkeit des Lautbestands des letzten Substantivs und des letzten Verbs, ropot – prorocˇisˇ’, verstärkt die lautbildliche Verbindung zwischen der jeweiligen Klimax der beiden Fragen – der einen nach dem Wesen der wahrnehmbaren Rede (cˇto ty znacˇisˇ’ [›was du bedeutest‹]) und der anderen nach ihrer Absicht (cˇego ty chocˇesˇ’ [›was du willst‹]). Den sechzehn Substantiven des Gedichts antwortet die Summe von sechzehn pronominalen Formen: sieben Vorkommen des Pronomens ja 20 Zu den *Verbalaspekten vgl. Jakobson, »Zur Struktur des russischen Verbums«, S. 6, sowie ders., »Shifters, Verbal Categories, and the Russian Verb«, S. 137 f., und die deutsche Übersetzung »Verschieber, Verbkategorien und das russische Verb«, S. 43 f. [Anm. d. Übs./Komm.] 21 Zu den verschiedenen Korrelationen von ›merkmalhaften‹ und ›merkmallosen‹ Formen in bezug auf das russische Verb vgl. Jakobson, »Zur Struktur des russischen Verbums« (für die ›Personenkorrelationen‹ bes. S. 9). [Anm. d. Übs./Komm.] 22 Der Buchstabe »e¨« wird hier als /jo´/ ausgesprochen. [Anm. d. Übs./Komm.]
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[›ich‹] im Nominativ (2) und in anderen Kasus (5), sechs Vorkommen des Pronomens ty [›du‹] im Nominativ (4) und in anderen Kasus (2) sowie drei Vorkommen des Interrogativpronomens ˇcto [›was‹] (je einmal im Akkusativ, im Genitiv und in adverbialer Bedeutung). Der Nominativ erscheint bei den Pronomina ja [›ich‹] und ty [›du‹] nur in Verbindung mit unmittelbar finiten Verbformen derselben Zeile. Die merkmalhaften Kasus aller drei angeführten Pronomina (ja, ty, ˇcto [›ich, du, was‹]) – sowohl mit, als auch ohne Präposition – erscheinen in einer Zeile immer gemeinsam mit der regierenden Verbform: einer finiten Verbform, einem Infinitiv (einziges Beispiel: 14 ponjat’ tebja [›verstehen dich‹]) oder einem Partizip (11 mnoj utracˇennogo [›(durch) mich verlorengegangenen‹]). Die letzten acht Verse führen eine dramatische Kollision zwischen dem Autor-Ich 23 und dem vorgestellten Gesprächspartner, der grammatischen zweiten Person, ein. Zwei symmetrische Verspaare mit den einzigen Fragesätzen im gesamten Text enthalten je zwei Fragen mit dem Nominativ ty [›du‹], der in allen vier Zeilen in unmittelbarer Nachbarschaft einer Verbform der zweiten Person steht, sowie mit der Form menja [›mich‹ 24 ], die sich im ersten Vers beider Paare findet, zunächst in akkusativischer, dann in genitivischer Funktion. Das Interrogativpronomen zieht sich durch die ersten drei der fragenden Zeilen; zunächst in adverbialer, dann in akkusativischer und schließlich in genitivischer Rolle: 1) 8 Cˇto (Adverb) trevozˇisˇ’ ty menja (Akkusativ)? 9 Cˇto (Akkusativ) ty znacˇisˇ’, skucˇnyj ˇsopot? [›8 Was beunruhigst du mich? 9 Was du bedeutest, langweiliges Geflüster?‹] – 2) 12 Ot menja (Genitiv) ˇcego (Genitiv) ty choˇcesˇ’? 13 Ty zovesˇ’ ili prorocˇisˇ’? [›12 Von mir was du willst? 13 Du rufst oder prophezeist?‹] 23 Die Verwendung der Formulierung »avtorskij ja« [›Autor-Ich‹] an dieser Stelle ist aus heutiger Sicht irritierend – auch in der russischen literaturwissenschaftlichen Terminologie: Die bezeichnete Instanz wäre hier passender mit ›liricˇeskij geroj‹ – ›lyrischer Held‹ als ›Bild des Autors in der Lyrik‹ bzw. ›lyrischer »Doppelgänger« des Dichters‹ umschrieben worden (vgl. Rodnjanskaja, Art. »Liricˇeskij geroj«). Jakobson hebt hier die Grenze zwischen dem realen Autor und dem lyrischen Ich tendenziell auf; dies steht im Kontrast dazu, daß er in dieser Analyse – anders als sonst – auf die Einbettung des Gedichtes in den Lebens- und Schaffenskontext Pusˇkins verzichtet. Vgl. den ähnlichen Umgang mit der Sprecherinstanz im Grundlagenaufsatz »Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie« (»Poe˙zija grammatiki i grammatika poe˙zii«, S. 73, sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 277) und in der Radisˇcˇev-Analyse (vgl. Jakobson, »›Ty chocˇesˇ’ znat’: kto ja?‹ Razbor tobol’skich stichov Radisˇcˇeva«, S. 317, sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 701). [Anm. d. Übs./Komm.] 24 Personalpronomen der 1. Pers. Sg. Gen. oder Akk. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Der Übergang beider Pronomina vom Akkusativ zum distanzierenden Genitiv (ot menja, ˇcego) und ihr Verschwinden in der letzten, eine Alternative formulierenden Frage bereitet den Wechsel des pronominalen Subjekts und die Übertragung der führenden Rolle von der zweiten unmittelbar auf die erste Person, einschließlich der daraus folgenden Degradierung der zweiten Person, im abschließenden Zweizeiler vor: 13 ty – 14 tebja (Akkusativ) – 15 v tebe (* Lokativ) [›13 du – 14 dich – 15 in dir‹]. Die zweite Person überläßt der ersten den durch die Verben realisierten Willensausdruck: Anstelle des Reims des vorletzten Zweizeilers 12 chocˇesˇ’ – 13 proroc ˇisˇ’ [›12 willst – 13 prophezeist‹] eröffnet im letzten Zweizeiler die erste Person desselben Verbs den Reim 14 chocˇu – 15 isˇˇcu [›14 will – 15 suche‹]. Auf diese Weise vollzieht sich in den abschließenden Zeilen des Gedichts eine Umverteilung der Funktionen: Im Reim erscheint anstelle des fragenden ty chocˇesˇ’? [›du willst?‹] die Feststellung ja 〈…〉 chocˇu [›ich 〈…〉 will‹]. Die erste Person nimmt den Nominativ in Besitz, und die zweite – entsprechend der Bewegung der vorausgehenden Zeilen vom akkusativischen zum genitivischen menja [›mich‹] – tauscht im Personalpronomen der zweiten Person den Akkusativ gegen den mit dem Genitiv verwandten, aber *peripheren Lokativ.25 In den Versen, die den Nominativ ty [›du‹] dem Akkusativ oder Genitiv der ersten Person gegenüberstellen, liegt eine starke Betonung auf der Form menja [›mich‹], die durchgehend entweder auf der siebenten oder auf der dritten Silbe endet, während die Formen tebja [›dich‹] und v tebe [›in dir‹] durchgehend auf der fünften, rhythmisch schwach betonten Silbe des Verses enden. Der im abschließenden Zweizeiler erscheinende Nominativ der ersten Person ja [›ich‹] fällt zuerst auf die erste, rhythmisch schwach betonte und dann auf die dritte, rhythmisch stark betonten Silbe des Verses (15 Smysla ja v tebe isˇˇcu [›Sinn ich in dir suche‹]). Umgekehrt geht der Nominativ der zweiten Person, der auf der fünften, schwach betonten Silbe beginnt (8 Cˇto trevozˇisˇ’ ty menja? [›Was beunruhigst du mich?‹]), auf völlig unbetonte Silben, nämlich auf die zweite (9 Cˇto ty znacˇisˇ’ [›Was du bedeutest‹]) und danach auf die sechste (12 Ot menja ˇcego ty chocˇesˇ’? [›Von mir was du willst?‹]) über und kehrt schließlich gemäß dem Prinzip der Dissimilation auf eine schwach betonte, nämlich 25 Vgl. Jakobson, »Beitrag zur allgemeinen Kasuslehre«, S. 59: »[…] der L[okativ] ist also gleich dem G[enitiv] ein * U m f a n g s k a s u s . Er unterscheidet sich allerdings vom G[enitiv] dadurch, daß er auch den Umfang und zwar den v o l l e n U m f a n g d e s [… ] G e h a l t e s angibt und sich somit als R a n d k a s u s auswirkt.« [Anm. d. Übs./Komm.]
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nun die erste Silbe zurück (13 Ty zovesˇ’ ili prorocˇisˇ’? [›Du rufst oder prophezeist?‹]).26 Die Pronomina gestalten ihren prosodischen Platz im Vers sehr verschiedenartig, indem sie eine betonte Silbe an unterschiedliche Abschnitte der *metrischen Matrix koppeln. Außerdem entfalten die Pronomina im Gegensatz zu dem auf zwei Kasus beschränkten System der Substantive hier das komplette Paradigma der sechs Kasus.27 Mit Verben, die frei nach Personen flektieren können, verbindet das Gedicht Pronomina im Nominativ und im Akkusativ. In dieser Beziehung zeigt die mittlere der fünfzehn Zeilen – 8 Cˇto trevozˇisˇ’ ty menja? [›Was beunruhigst du mich?‹] – das vollständigste Schema: mit Pronomina im Nominativ, im Akkusativ und darüber hinaus in adverbialer Funktion (cˇto [›was‹] in der Bedeutung otcˇego [›weswegen‹] oder kcˇemu [›wozu‹]). Das breite Spektrum, das hier den Pronomina im Vergleich zu den Nomina zur Verfügung gestellt wird, erklärt sich durch den merkmalhaften (markierten) Charakter der Pronomina im Gegensatz zur merkmallosen Natur der Substantive. Das Merkmal, das erstere von den letzteren unterscheidet, ist die rein *grammatische Bedeutung der Pronomina bei gleichzeitiger Abwesenheit einer *lexikalischen Bedeutung. Die Tendenz zur Vermeidung von Substantiven im Nominativ als Formen ohne jegliches grammatisches Merkmal 28 erstreckt sich nicht auf *substantivische Pronomina, insbesondere im Fall der alternativlosen, häufigen Verwendung bei unzweideutig persönlichen Verbformen: 〈ty〉 chocˇesˇ’, 〈ja〉 chocˇu [›〈du〉 willst, 〈ich〉 will‹]. Die nächtlichen Geräusche, die 1 mne [›mich‹], das Opfer der Schlaflosigkeit, belästigen, erzeugen eine Kette metaphorischer Identifizierungen mit abwechselnden metonymischen Vermutungen über den Urheber des 8 menja [›mich‹] beunruhigenden Rauschens und mit seiner metaphorischen frauenhaften Personifikation: 5 Parki bab’e lepetan’e [›(Der) Parze weibisches Stammeln‹], 6 Spjasˇˇcej nocˇi trepetan’e [›(Der) schlafenden Nacht Zittern‹], 7 Zˇizni mysˇ’ja begotnja [›(Des) Lebens 29 mäuseartiges Hin-und-Herlaufen‹]. Schließlich verwandelt die letzte Stufe im Prozeß des Erkennens der kaum ans Ohr dringenden Geräusche den umgeben26 Zum rhythmischen Profil des trochäischen Vierhebers bei Pusˇkin vgl. o. Anm. 7. [Anm. d. Übs./Komm.] 27 Das russische Kasussystem kennt zusätzlich zum deutschen zwei Kasus: den *Instrumental und den Lokativ bzw. *Präpositiv. [Anm. d. Übs./Komm.] 28 Vgl. o. S. 125, wo die neun Substantive im Nominativ als merkmalhaft in bezug auf die Kategorie der Abstraktheit (alle neun Substantive) und den deverbativen Charakter (acht der neun Substantive) gekennzeichnet werden. [Anm. d. Übs./Komm.] 29 Das Leben, »zˇizn’«, ist im Russischen ein Femininum. [Anm. d. Übs./Komm.]
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den 2 son dokucˇnyj [›lästigen Traum‹] in ein entsprechendes 9 skucˇnyj ˇsopot [›langweiliges Geflüster‹]. Die befremdete fragende Replik der ersten Person ist nicht an die mutmaßliche Quelle des kaum im Schlaf hörbaren Zitterns gerichtet, das mit einem unverständlichen Geflüster identifiziert wird, sondern unmittelbar an dieses Unverständliche selbst: Cˇto ty znacˇisˇ’, skucˇnyj ˇsopot? [›Was bedeutest du, langweiliges Geflüster?‹] Auf diese unbeantwortet bleibende Frage folgt eine fragende Vermutung der ersten Person über den Flüsterer und seine Absicht: Ukorizna, ili ropot Mnoj utracˇennogo dnja? [›Vorwurf, oder Murren (Des durch) mich verlorengegangenen Tages?‹] Die Verse, verfaßt nachts während der Schlaflosigkeit, dehnen die Grenzen der durchlebten Nacht aus und eröffnen den Blick auf ihre untrennbare Verbindung sowohl mit dem Vergangenen als auch mit dem Kommenden. Die erste Person, die sich als schuldig gegenüber dem verlorengegangenen Tag bekannt hat, dem es zustehen würde, zu murren und Vorwürfe zu machen, wird herabgesetzt bis zur dritten, letzten Stufe syntaktischer Abhängigkeit (ropot dnja, utracˇennogo mnoj [›Murren des Tages, der durch mich verloren ging‹]). Indem sie [sc. die erste Person] den peripheren Charakter des Instrumentals auf der ersten, schwach betonten Silbe des letzten Verses der fünfgliedrigen, durch *männlichen Reim verbundenen Verskette annimmt, zeigt sie eine wahrnehmbare Gemeinsamkeit mit dem anderen *Randkasus 30, d. h. mit dem Dativ desselben Pronomens, dem ersten Wort des gesamten Gedichts, das als Einsilber die Anfangssilbe des ersten Verses desselben fünfgliedrigen männlichen Reims bildet: 1 Mne ne spitsja [›Ich 31 kann nicht schlafen‹]. Hier dient der Dativ Mne [›Mir‹] beim reflexiven *unpersönlichen Verb gewissermaßen als Zielscheibe der schlaflosen Plage, die als Strafe für den mnoj [›durch mich‹] verlorengegangenen Tag erscheint. Zˇizni mysˇ’ja begotnja [›Des Lebens mäuseartiges Hin-und-Herlaufen‹] verbindet beide Richtungen – sowohl vorwärts als auch zurück.32 30 In seiner Kasuslehre rechnet Jakobson Instrumental, Dativ und Lokativ zu den Randkasus: »Der R a n d k a s u s gibt an, daß das bezügliche Nomen im gesamten Bedeutungsgehalte der Aussage eine p e r i p h e r e S t e l l u n g einnimmt, wogegen ein Vo l l k a s u s nicht angibt, um welche Stellung es sich handelt. Eine Peripherie setzt ein Zentrum voraus, ein Randkasus setzt das Vo r h a n d e n s e i n e i n e s z e n t r a l e n I n h a l t e s in der Aussage voraus, welchen der Randkasus mitbestimmt.« (Jakobson, »Beitrag zur allgemeinen Kasuslehre«, S. 46.) [Anm. d. Übs./Komm.] 31 Im Russischen steht das Personalpronomen der ersten Person Singular hier im Dativ; eine mögliche wortwörtliche Übersetzung würde folgendermaßen lauten ›Mir (ist es) nicht (möglich) zu schlafen‹. Vgl. o. Anm. 8. [Anm. d. Übs./Komm.] 32 Nicht umsonst ist dieser prägnante Vers in Rußland zum Geflügelten Wort gewor-
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Der abschließende Vierzeiler mit der Verteilung der beiden pronominalen Personen auf die Hälften ein und derselben Zeile und mit der Gegenüberstellung zweier Willensbekundungen (12 Ot menja ˇcego ty choˇcesˇ’? [›Von mir was du willst?‹] und 14 Ja ponjat’ tebja chocˇu [›Ich verstehen dich will‹]) unterscheidet sich deutlich von der vorausgehenden Versreihe durch seine beiden Verb-Reime sowie durch die klare *Wortgrenze nach der dritten und der Tendenz zur Wortgrenze nach der fünften Silbe, wobei sich die vier abschließenden Verse besonders deutlich abheben vor dem Hintergrund der Zeilen mit Wortgrenzen nach allen geraden Silben (9 Cˇto ty znacˇisˇ’, skucˇnyj ˇsopot? [›Was du bedeutest, langweiliges Geflüster?‹]) oder mit fehlenden Wortgrenzen vor und nach sowohl der dritten wie auch der fünften Silbe (11 Mnoj utracˇennogo dnja? [›(Des durch) mich verlorengegangenen Tages?‹]).33 Die letzte Frage des Monologs geht scheinbar von zwei Möglichkeiten aus: 13 Ty zovesˇ’ ili prorocˇisˇ’? [›Du rufst oder prophezeist?‹] Doch der Ruf des verlorengegangenen Tages droht demjenigen, der ihn verloren hat, mit dem Verschwinden in der unwiederbringlichen Vergangenheit. Die dunklen Verkündungen des Vergangenen vereinigen sich mit dem schicksalhaften Stammeln der Parze und flößen Angst vor dem unentrinnbaren morgigen Tag ein, auf die der von Schlaflosigkeit gequälte Verfasser der nächtlichen Verse unverzüglich in seinem Epilog antwortet, der als Antwort auf den verborgenen und unerklärlichen Willen – 12 Ot menja ˇcego ty chocˇesˇ’? [›Von mir was du willst?‹] – seinen offenen Willen zur Erkenntnis des wahren Sinns der unbegreiflichen Prophezeiung äußert. Nicht umsonst beherrscht der in den vorangegangenen Versen fehlende Nominativ der ersten Person das letzte Verspaar und geht von der ersten, schwach betonten über auf die dritte, stark betonte Silbe der Schlußzeile: 14 Ja ponjat’ tebja – 15 Smysla ja v tebe [›14 Ich verstehen dich – 15 Sinn ich in dir‹]. Der Einsilber ja [›ich‹] übernimmt von den umgebenden Zweisilbern das Bestreben hin zu den stark betonten Silben des Verses und verleiht der Abschlußzeile eine sich von den übrigen unterscheidende rhythmische Statur – trotz aller Treue des abschließenden Zweizeilers zum konstanten vokalischen Ausgang der männlichen Reime des ganzen Gedichts. den: vgl. Asˇukin /Asˇukina, Krylatye slova. Literaturnye citaty. Obraznye vyrazˇenija, S. 121. [Anm. d. Übs./Komm.] 33 Zur versifikatorischen Bedeutung der Wortgrenzen vgl. das Kapitel »Slovorazdel i ego rol’ v stiche« [›Die Wortgrenze und ihre Funktion im Vers‹] in Jakobsons früher Monographie O ˇcesˇskom stiche – preimusˇˇcestvenno v sopostavlenii s russkim, S. 27–33, sowie die deutsche Übersetzung: Über den tschechischen Vers, S. 36–43. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Das einzige Beispiel eines Infinitivs und *perfektiven Aspekts im ganzen Text – 14 ponjat’ tebja chocˇu [›verstehen dich will (ich)‹] – verheißt den finalen Triumph über die geheim gehaltene Chiffre der spjasˇˇcej nocˇi [›schlafenden Nacht‹]. Die »zweite Person«, die durch die Dunkelheit der unheilverkündenden Einflüsterungen lästig gefallen ist, nimmt gegen Ende des Abschlußmonologs des Dichters die periphere Gestalt des Lokativs an – 15 v tebe isˇˇcu. [›in dir suche (ich).‹] – gleichsam als Gegengewicht zum einleitenden – 1 Mne ne spitsja [›Ich (kann) nicht schlafen‹], d. h. zum peripheren Dativ, der in beiden Pronomina bekanntermaßen äußerlich mit dem Lokativ zusammenfällt.34 Übrigens sind die pronominalen Formen des abschließenden Vierzeilers – 12 ˇcego´, 14 tebja´ und 15 v tebe´ – die einzigen Mehrsilber im ganzen Gedicht mit einer Endbetonung, die auf die fünfte Silbe des Verses fällt. Die immense Rolle der Pronomina als »durchwegs grammatische, rein relationale Wörter, die über keine eigentlich *lexikalische, materielle Bedeutung verfügen« 35, und die mitreißende Meisterschaft in ihrer Auswahl und Orchestrierung springt in verschiedenen Gedichten Pusˇkins aus diesen Jahren in die Augen (z. B. in den Gedichten »Ja vas ljubil« [›Ich ˇ to v imeni tebe moem« [›Was liegt an meinem Namen liebte Sie‹] und »C dir‹], die ich im Aufsatz »Poe˙zija grammatiki i grammatika poe˙zii« [›Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie‹] untersucht habe 36 ). Die Gruppe von sieben *Zischlauten in den Reimen des abschließenden Vierzeilers (chocˇesˇ’ – prorocˇisˇ’ – chocˇu – isˇcˇu 37 ) folgt dem Zuflüstern der mit Zischlauten überladenen Hindeutungen auf das trepetan’e spjasˇcˇej ˇ izni mysˇ’ju begotnju nocˇi [›Zittern (der) schlafenden Nacht‹] und auf Z [›(Des) Lebens mäuseartiges Hin- und Herlaufen‹] mit der Kulminationszeile mit fünf Zischlauten: ˇsto 38 ty znacˇisˇ’, skucˇnyj ˇsopot [›Was bedeutest du, langweiliges Geflüster‹]. Nicht weniger nachdrücklich ist im letzten Vierzeiler die Analogie der *weichen n (12 ot menja und 14 ja ponjat’ ) 34 Dativ und Lokativ lauten beim Personalpronomen der 1. Person Singular gleichermaßen »mne«, für die 2. Person Singular: »tebe«. [Anm. d. Übs./Komm.] 35 Jakobson, »Poe˙zija grammatiki i grammatika poe˙zii«, S. 73. Deutsche Übersetzung nach ders., »Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie«, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 276. [Anm. d. Übs./Komm.] 36 Jakobson, »Poe˙zija grammatiki i grammatika poe˙zii«, S. 72–75 u. 78–86 [Anm. v. R.J.]. – Vgl. die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 275–280 u. 285–295. [Anm. d. Übs./Komm.] 37 Jakobson teilt hier den Buchstaben »щ« in seine Lautbestandteile »sˇcˇ« auf – dies entspricht im übrigen auch der Transliteration. [Anm. d. Übs./Komm.] 38 Jakobson gibt die kontextuell bedingte Aussprache des Buchstaben »ч« wieder: statt »cˇto« (Transliteration) schreibt er »sˇto« (Aussprache). [Anm. d. Übs./Komm.]
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mit den vier identischen Lauten der Anfangszeile (mne ne spitsja, net ognja) und mit der Kette derselben weichen *Nasale unmittelbar in den Reimen der Zeilen vier bis acht und elf. Besonders deutlich wahrnehmbar verbindet die Verse die von der ersten bis zur vierzehnten Zeile siebenmal wiederholte Kombination des weichen n mit a auf einer der beiden starken Hebungen (zunächst auf der siebenten, im letzten Vierzeiler dann auf der dritten Silbe) plus zwei umgekehrte Kombinationen von a mit dem weichen n (5 lepetan’e – 6 trepetan’e). Einleitung und Schluß des poetischen Nocturnes im Ganzen – das nasale Timbre der beiden einleitenden Konsonanten, auf die sich der Konsonantenbestand der ersten Silbe und des ersten Wortes beschränkt (1 mne [›mir‹ bzw. ›ich‹]), und das Paar von Zischlauten, den einzigen Konsonanten in der letzten Silbe und im letzten Wort (15 isˇcˇu [›suche‹]) – dies sind die beiden Grenz-Signale der zwei kontrastierenden lautbildlichen Themen, die eng verwachsen mit den Versen, ja in ihnen verkörpert sind, welche, nach dem Zeugnis Pusˇkins, nachts während der Schlaflosigkeit verfaßt wurden. Editorische Notiz Geschrieben in Cambridge, Mass., 1972, Erstpublikation in: Alexander Pusˇkin. Symposium II, hg. v. A. Kodjak u. a., Columbus, Ohio: Slavica Publishers 1980.
Literatur Jakobsons eigene Literaturangaben sind mit ° gekennzeichnet. Asˇukin, Nikolaj Sergeevicˇ u. Marija Grigor’evna Asˇukina: Krylatye slova. Literaturnye citaty. Obraznye vyrazˇenija [›Geflügelte Worte. Literarische Zitate. Bildhafte Redewendungen‹], 4. Aufl. Moskva: Chudozˇestvennaja literatura 1987. Jakobson, Roman Osipovicˇ: »Beitrag zur allgemeinen Kasuslehre. Gesamtbedeutungen der russischen Kasus«, in: SW II, S. 23–71. — »Das Nullzeichen«, in: SW II, S. 220–222. — »Krugovorot lingvisticˇeskich terminov« [›Kreislauf der linguistischen Termini‹], in: SW I, S. 734–737. — »Linguistics and Poetics«, in: SW III, S. 18–51. – »Linguistik und Poetik«, übs. v. Stephan Packard, komm. v. Hendrik Birus, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 154–216. — »Mark and Feature«, in: SW VII, S. 122–124. — O ˇcesˇskom stiche – preimusˇˇcestvenno v sopostavlenii s russkim, in: SW V, S. 3– 130. – Über den tschechischen Vers.
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— »O ›Stichach, socˇinennych nocˇ’ju vo vremja bessonnicy‹«, in: Alexander Pusˇkin. Symposium II, hg. v. Andrej Kodjak, Krystyna Pomorska u. Kiril Taranovsky, Columbus /Ohio: Slavica Publishers 1980 (= New York University Slavic Papers, Bd. 3), S. 1–9. — »O ›Stichach, socˇinennych nocˇ’ju vo vremja bessonnicy‹«, in: SW III, S. 378– 387. ° — »Ob odnoslozˇnych slovach v russkom stiche« [›Über die einsilbigen Wörter im russischen Vers‹], in: SW V, S. 201–214. ° — »Poe˙zija grammatiki i grammatika poe˙zii«, in: SW III, S. 63–86. – »Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie«, übs. u. komm. v. Sebastian Donat, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 256–301. — »Shifters, Verbal Categories, and the Russian Verb«, in: SW II, S. 130–147. – »Verschieber, Verbkategorien und das russische Verb«, übs. v. Gabriele Stein, in: Form und Sinn, S. 35–54. — »›Ty chocˇesˇ’ znat’: kto ja?‹ Razbor tobol’skich stichov Radisˇcˇeva«, in: SW III, S. 311–321. – »›Du möchtest wissen: Wer bin ich?‹ Eine Analyse der Tobolsker Verse Radisˇcˇevs«, übs. u. komm. v. Sebastian Donat, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 688–710. — »Zur Notwendigkeit einer sachlichen und terminologischen Unterscheidung«, in: Aufsätze zur Linguistik und Poetik, S. 279 f. — »Zur Struktur des russischen Verbums«, in: SW II, S. 3–15. Keil, Rolf-Dietrich: Puschkin. Ein Dichterleben, Frankfurt /Main u. Leipzig: Insel Verlag 1999. Lapsˇina, N. V., I. K. Romanovicˇ, u. B. I. Jarcho: Metricˇeskij spravocˇnik k stichotvorenijam A. S. Pusˇkina [›Metrisches Handbuch zu den Gedichten A. S. Pusˇkins‹], Moskva u. Leningrad: Academia 1934. Pusˇkin, Aleksandr Sergeevicˇ: Stichotvorenija 1826–1836. Skazki [›Gedichte 1826–1836. Märchen‹], hg. v. S. M. Bondi u. a., Moskva u. Leningrad: Izdatel’stvo Akademii Nauk SSSR 1948/49 (= Polnoe sobranie socˇinenij. V 17 tomach, Bd. 3. 1 u. 3.2), Nachdr. Moskva: Voskresen’e 1995. Puschkin, Alexander: Die Gedichte. Russisch und deutsch, übs. v. Michael Engelhard, hg. v. Rolf-Dietrich Keil, Frankfurt /Main u. Leipzig: Insel 1999. Rodnjanskaja, I. B.: Art. »Liricˇeskij geroj« [›Lyrischer Held‹], in: Literaturnaja ˙enciklopedija terminov i ponjatij, hg. v. A. N. Nikoljukin, Moskva: NPK »Intelvak« 2001, Sp. 452. Vasmer, Max (Fasmer, Maks): E˙timologicˇeskij slovar’ russkogo jazyka. V ˇcetyrech tomach [›Etymologisches Wörterbuch der russischen Sprache. In vier Bänden‹], übs. u. ergänzt v. O. N. Trubacˇev, 3. Aufl. Sankt-Peterburg: Azbuka 1996. ° Vinogradov, Viktor Vladimirovicˇ: Russkij jazyk. Grammaticˇeskoe ucˇenie o slove [›Die russische Sprache. Grammatische Wortlehre‹], Moskva u. Leningrad: Gosudarstvennoe ucˇebno-pedagogicˇeskoe izdatel’stvo Ministerstva Prosveˇscˇenija RSFSR 1947.
Roman Jakobson und Grete Lübbe-Grothues
Ein Blick auf »Die Aussicht« von Hölderlin 1 Kommentar Gabriele von Bassermann-Jordan und Stephan Packard Jakobsons Hölderlinanalyse gehört zu den umfangreichsten und vielfältigsten, zugleich zu den gewagtesten seiner Gedichtanalysen: Durch eine ausführliche Untersuchung eines einzelnen Achtzeilers aus Hölderlins spätesten Gedichten, freilich mit zahlreichen stützenden Querverweisen auf seine anderen Dichtungen aus jener Zeit, soll die Einschätzung aller Gedichte nach Hölderlins psychischem Zusammenbruch ganz grundlegend geändert werden. In der Hölderlin-Forschung wurden vor wie nach Jakobsons Beitrag diese spätesten Gedichte meist nur als Begleiterscheinung von Hölderlins Krankheit angesehen und weit weniger beachtet als die Tübinger Hymnen, die »Hyperion«-Texte, der »Empedokles«-Komplex, die Oden, Elegien, Hymnen und hymnischen Entwürfe aus der Zeit zwischen 1797 und 1805 und die verschiedenen Übertragungen Hölderlins aus dem Lateinischen und Griechischen. 2 Während Jakobsons Analyse in allen gegenwärtigen Hölderlinausgaben angeführt wird, ist er dennoch kaum ausführlicher rezipiert worden. 3 1
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Vorlage: Jakobson /Lübbe-Grothues, »Ein Blick auf ›Die Aussicht‹ von Hölderlin«, SW III, S. 388–446. Erstdruck: Jakobson /Lübbe-Grothues, »Ein Blick auf ›Die Aussicht‹ von Hölderlin«, in Hölderlin – Klee – Brecht, S. 27–96. Offensichtliche Schreibfehler in beiden Versionen wurden stillschweigend korrigiert. [Anm. d. Komm.] Zur Einschätzung der spätesten Gedichte Hölderlins vgl. die Darstellung von Jochen Schmidt: »Kein größerer Abstand ist vorstellbar im Werk ein und desselben Dichters als derjenige zwischen den hochgespannten späten Hymnen und den Gedichten, die Hölderlin in den langen Jahrzehnten seiner Umnachtung im Tübinger Turm schrieb, nicht selten als Gelegenheitsgeschenk für einen Besucher, der ihn um ein paar Verse bat. […] Unendlich scheint die Distanz zwischen der Welt und einem seine erloschenen Reste ängstlich zurücknehmenden Ich, das sich am Ende
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Roman Jakobson und Grete Lübbe-Grothues
Zwar stellt Jakobson die Krankheit Hölderlins an keiner Stelle in Frage; als schizophrene Störung ist sie aber für ihn kein Grund mehr, die spätesten Gedichte aus der literaturwissenschaftlichen Betrachtung auszuschließen. Vielmehr seien gerade die sprachlichen Symptome für Hölderlins Zustand an einer besonderen *Struktur dieser Texte ablesbar, die dem kunstvollen Konstruktionsprinzip, das ihre verschiedenen Teile und Binnenbeziehungen ansonsten regiert, nicht etwa Abbruch tut, sondern ihm eine weitere analysierbare Dimension hinzufügt. Die naheliegende Frage, inwiefern die detaillierten *Parallelismen, *Symmetrien und *Oppositionen, die Jakobson an »Die Aussicht« feststellt, auf bewußte Erwägungen des kranken Hölderlin zurückzuführen sind, wird an keiner Stelle angesprochen. An einigen Stellen taucht in der Analyse der Begriff des *Anagramms auf. Jakobson hatte die Anagrammstudien Ferdinand de Saussures in den Veröffentlichungen Jean Starobinskis rezipiert und sich 1971 dazu geäußert; ab diesem Jahr suchte er auch in Gedichten immer wieder anagrammatische Muster aufzudecken. 4 Die Aufnahme dieses Modells für die Hölderlinanalyse, in der erst Hölderlins eigener Name – in seinen späten Pseudonymen wie in
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noch hinter einem Pseudonym verbirgt.« Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Jochen Schmidt, Bd. 1, S. 512. Die jüngst publizierte Dissertation von Oestersandfort, Immanente Poetik und poetische Diätetik, setzt dagegen einen ganz anderen Akzent. [Anm. d. Komm.] Die Hölderlin-Forschung im engeren Sinn hat sich kaum mit Jakobson auseinandergesetzt. In den Hölderlin-Jahrbüchern gibt es nur ein explizites Echo auf Jakobsons Hölderlin-Aufsatz, die Rezension von van de Velde. Dieser Autor gibt Jakobsons Argumentation im wesentlichen wieder, ohne sie jedoch kritisch zu bewerten. Vgl. van de Velde, »Jakobson als Interpret Hölderlins«. Dagegen hat HansGeorg Gadamer in seiner Laudatio anläßlich der Verleihung des Hegel-Preises der Stadt Stuttgart an Roman Jakobson am 22. Juni 1982 die strukturale Poetik Jakobsons von hermeneutischer Warte aus gewürdigt. Gadamer kommentiert die Analyse von Hölderlins Gedicht »Die Aussicht« folgendermaßen: »Es ist ein verwirrendes System von phonologischen, morphologischen und semantischen Entsprechungen, das der Analytiker [Jakobson] hier aufweist. Ich gestehe, ich kann ihm da kaum folgen. Aber ich habe es im Ohr, und deshalb verstehe ich das Gedicht. […] Daß die Wahrheit das Ganze sei, dieses kühne Hegelsche Diktum und Datum mag heute wie eine Unwahrheit klingen. Der Grammatiker wie der Hermeneutiker, und dies sind wir alle, die Gesagtes verstehen, folgen der Spur der Wahrheit, wo immer sie nachklingt.« Gadamer, »Hegel und der Sprachforscher Roman Jakobson«, S. 20. [Anm. d. Komm.] Jakobson, »La premie`re lettre de Ferdinand de Saussure a` Antoine Meillet sur les anagrammes«. In den Gedichtanalysen weist Jakobson mehrmals anagrammatische Strukturen aus, vgl. »Subliminal Verbal Patterning in Poetry«, v. a. S. 138–140, sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, v. a. S. 132– 139; »Notes on the Contours of an Ancient Japanese Poem«, v. a. S. 159, sowie die
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seinen Gedichten – und dann der Name der Diotima in Hölderlins Dichtung nachgewiesen werden soll, gehört sicher zu denjenigen Ansätzen in Jakobsons methodischem Arsenal, die auf den ersten Blick am wenigsten plausibel scheinen. Dem steht mit der diffizilen semiotischen Auseinandersetzung einer Dialoge meidenden Sprechweise, die ipso facto auch die Anschauung von Einzeldingen wie den Gebrauch *konativ und *emotiv besetzter Personalformen ausschließt, eine elaborierte Überlegung gegenüber, die von der Überzeugungskraft der vielen einzelnen berichteten Sprachbeobachtungen letztlich unabhängig bleibt. Die Gründlichkeit dieser Beobachtungen und der Nutzen einer solchen detailreichen Bestandsaufnahme für die Hölderlininterpretation ist unbestritten. Soweit die Methodologie über die linguistische Arbeit hinausgeht, lassen sich gegen sie jedoch einige Einwände formulieren, von denen wir nur die beiden augenfälligsten herausgreifen: Aus Sicht der Hölderlin-Forschung muß es allein schon gewagt erscheinen, zur Explikation der spätesten Gedichte auf Texte aus der Zeit vor Hölderlins Zusammenbruch zurückzugreifen. Immer wieder führt Jakobson die poetologischen Schriften des Dichters aus der Zeit von 1799/1800 gleichsam als Belege für seine eigene Argumentation an. Bei diesen Texten handelt es deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, v. a. S. 373–375; »Une microscopie du dernier ›Spleen‹ dans Les Fleurs du Mal«, v. a. S. 480, sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, v. a. S. 315 f.; »K strukture poslednich stichov Chr. Boteva«, hier: S. 534 f., sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, hier: S. 425 f.; »Slovenskij primer uzlovoj roli bezlicˇnych predlozˇenij v poeticˇeskom kontekste«, hier: S. 581, sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, hier: S. 524 f.; sowie »Les oxymores dialectiques de Fernando Pessoa«, hier: S. 647 f., sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, hier: S. 648 f. Vgl. dazu auch »Siluanovo slavoslovie Sv. Save«, und die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 471–493, und »Slavoslovie Siluana Simeonu«, und die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 494–508. – Sind schon die Anagrammstudien bei Saussure nicht ohne weiteres plausibel, kommt für Jakobsons Anwendung noch eine problematische Erweiterung ins Spiel: Für Saussure stand nicht der geschriebene Buchstabe, sondern der Laut in den Anagrammstudien im Vordergrund: »Wenn ich das Wort Anagramm gebrauche, denke ich keineswegs daran, die Schrift eingreifen zu lassen […]. Anaphonie wäre nach meiner eigenen Vorstellung richtiger; aber wenn man diesen Begriff bildet, scheint er geeigneter, einen anderen Dienst zu tun, nämlich das unvollständige Anagramm zu bezeichnen, das sich darauf beschränkt, gewisse Silben eines vorgegebenen Wortes nachzuahmen, ohne sich um seine vollständige Reproduktion zu bemühen.« (Vgl. Starobinski, »Les mots sous les mots, S. 1906; dt. Starobinski, Wörter unter Wörtern, S. 20.) Jakobson betrachtet jedoch auch buchstäbliche Anagramme in Abweichung von der Phonetik als signifikant (vgl. u., S. 180, Anm. 125). [Anm. d. Komm.]
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sich jedoch durchwegs um Entwürfe für Hölderlins nie verwirklichtes Zeitschriftenprojekt »Iduna«. Keine dieser Skizzen ist je in die Gestalt einer formal und gedanklich abgeschlossenen Abhandlung gelangt. Diese Fragmente hat Friedrich Beißner jeweils mit Überschriften versehen, um damit den Eindruck größerer Kohärenz zu erwecken, wie die von ihm besorgte Hölderlin-Ausgabe auch sonst den Maßstäben einer Vollendungsästhetik folgt. Wenn durch Anagramme sowie durch motivische und rhetorische Verweise auf frühere Diotima-Gedichte und den »Hyperion« die Anwesenheit der Diotima in »Die Aussicht« begründet werden soll, während zugleich der gesamte sprachliche Befund auf einen Ausschluß von Dialogen und eine Vermeidung zweiter *Personen weist, droht die Argumentation in einen Widerspruch zu geraten. Offenbar muß die Anwesenheit der Diotima in diesen formalen und thematischen Anspielungen gerade nicht als Angebot zum Gespräch oder als konative Funktion, sondern vielmehr als Subsumption der früheren und möglichen Dialogpartnerin unter die sprachliche und nun monologische Form selbst angesehen werden. Über die Entstehung dieser gemeinsamen Arbeit hat Grete Lübbe-Grothues an anderer Stelle berichtet. 5 Weiteren Einblick gewährt uns ein einzelner Brief Jakobsons an Lübbe-Grothues, der, auf den 19. Oktober 1974 datiert, bereits detailliert auf die Analyse des Hölderlinschen Achtzeilers Bezug nimmt – wenigstens ein Jahr vor dem in den »Selected Writings« angegebenen Beginn der Zusammenarbeit. Der Brief ist im Anhang S. 238 wiedergegeben. Frau Lübbe-Grothues überließ uns nicht nur dieses Dokument, sondern auch eine Liste von Errata, die hier gegenüber den bisherigen Veröffentlichungen erstmals korrigiert werden konnten. Der Herausgeber und Kommentatoren möchten Frau Lübbe-Grothues dafür wie für ihre freundliche Begleitung des Projekts zu den Gedichtanalysen Roman Jakobsons seit dem ersten Symposium in Seeon im Sommer 2002 herzlich danken. Gabriele von Bassermann-Jordan und Stephan Packard
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Vgl. Lübbe-Grothues, »Gedichte interpretieren im Anschluß an Roman Jakobson«; sowie Lübbe-Grothues, »Grammatik und Idee in den Scardanelli-Gedichten Hölderlins«. [Anm. d. Komm.]
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Alles greift in einander 6 Hölderlin
I. Entstehungszeit, Über- und Unterschrift Hölderlins Gedicht »Die Aussicht« 7 – dessen Faksimile in der Berliner Ausgabe seiner Werke vorliegt 8 –, ist als das letzte angesehen worden. Der Dichter ist am 7. Juni 1843 gestorben. In der Beckschen HölderlinChronik heißt es unter der Zeitangabe »Etwa Anfang Juni«: »Der Kranke, den eine Erkältung befallen hat, gegen die ihm Gmelin eine Arznei verordnet, schreibt sein letztes Gedicht ›Aussicht‹.« 9 F. Beißner bringt es in der Großen Stuttgarter Ausgabe chronologisch mit der »Freundschafft« zusammen (am 27. Mai 1843 entstanden) und datiert »Die Aussicht« auf Mai /Juni 1843.10 Diese Angaben basieren auf einem Vermerk von Fritz Bräunlin, dem Neffen des Dichters,11 am oberen Rande des Handschriftblattes: »In Tübingen von Hölderlin in seinen lezten Lebenstagen geschrieben«.12 Einen ähnlichen Vermerk Bräunlins trägt übrigens das Gedicht »Der Frühling« (Die Sonne kehrt 〈…〉): »In seinen lezten Tagen geschrieben«.13 Diese beiden Achtzeiler haben darüber hinaus deutliche *phraseologische Berührungspunkte. »Die Aussicht« gehört jedenfalls zu den spätesten Schöpfungen von 1843. Erst achtzig Jahre nach des Dichters Tod erschien sie in der Weimarer Ausgabe seiner Werke.14 6 7
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Vgl. u., S. 236, Anm. 358. [Anm. d. Komm.] Hölderlin, Sämtliche Werke (Große Stuttgarter Ausgabe, StA), Bd. 2/1, S. 312. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Im folgenden wird die Große Stuttgarter HölderlinAusgabe unter der Sigle »StA« mit Angabe der Band- und Seitenzahl zitiert. [Anm. d. Komm.] Hölderlin, Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 6, nach S. 50. Beck /Kribben, »Chronik von Hölderlins Leben«, S. 109. Vgl. dazu Beißners Kommentar zu dem Dokument »Johann Georg Fischer und Hölderlin«, StA, Bd. 7/3, Nr. 608, S. 292–308, hier: S. 306. Gemeint ist Karl Heinrich Friedrich Bräunlin (1797–1880), Hölderlins Patenkind. Vgl. Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Michael Knaupp, Bd. 3, S. 700. [Anm. d. Komm.] StA, Bd. 2/2, S. 926. Zu dem Gedicht »Der Frühling« vgl. a. a. O., Bd. 2/1, S. 308, zur Datierung vgl. a. a. O., Bd. 2/2, S. 923 f. Hölderlin, Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 289.
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Dieselbe Überschrift, jedoch ohne Artikel, tragen zwei ältere Gedichte. Um das Jahr 1830 geschrieben ist »Aussicht« (Wenn Menschen 〈!〉 fröhlich sind 〈…〉).15 Die zweite, schon mit Scardanelli unterzeichnete »Aussicht« (Der off’ne Tag ist Menschen hell 〈…〉) ist Ende der dreißiger Jahre verfaßt.16 Der naheliegende unmittelbare Anlaß für den im weiteren vielgestaltige räumliche und zeitliche Deutungen erlaubenden Titel ist die Vorliebe des kranken Dichters für den Ausblick aus seinem Tübinger Erkertürmchen, die in den Notizen und Erinnerungen seiner Besucher wiederholt vermerkt wird. »Ein Glück für ihn ist es, daß er von seinem Zimmerchen aus eine wirklich recht lachende Aussicht 〈…〉 genießt«, erzählt der Zeuge Wilhelm Waiblinger und erwähnt »manche schöne Bilder«, die Hölderlin »sich frischweg aus der Natur hohlte, indem er von seinem Fenster aus den Frühling kommen und gehen sah«.17 Bettina von Arnim bezeugt: »Er hat ein schmales Zimmerchen oben in dem kleinen Haus eines Tischlers unter den äußersten der Stadt das Erkerartig abgerundet auf den Neckar sieht und ein Thal bis fern an erhöhten Waldhorizont, und diese Aussicht ist seine einzige Freude und fast das Einzige, worin er eine Sympathie mit den andern Menschen empfindet und in 15 Zu dem Gedicht »Aussicht« vgl. StA, Bd. 2/1, S. 281, zur Datierung vgl. a. a. O., Bd. 2/2, S. 908 f. 16 Zu dem Gedicht »Aussicht« vgl. a. a. O., Bd. 2/1, S. 287, sowie a. a. O., Bd. 2/2, S. 911. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Aus Friedrich Beißners Kommentar geht keine Datierung hervor. Jochen Schmidt datiert »Aussicht« auf »1837/1839« und fügt hinzu: »Datierung unsicher«. Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Jochen Schmidt, Bd. 1, S. 1129. [Anm. d. Komm.] 17 Vgl. dazu das Dokument »Wilhelm Waiblinger: Friedrich Hölderlins Leben, Dichtung und Wahnsinn«, StA, Bd. 7/3, Nr. 499, S. 50–88. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Der erste Teil des Zitats lautet vollständig: »Ein Glück für ihn ist es, daß er von seinem Zimmerchen aus eine wirklich recht lachende Aussicht auf den Neckar, der sein Haus bespült, und auf ein liebliches Stück Wiesen- und Berglandschaft genießt.« A. a. O., S. 71. Der zweite Teil des Zitats lautet im Zusammenhang: »Naturanschauungen sind ihm noch vollkommen klar. Es ist ein großer erhebender Gedanke, daß die heilige alllebendige Mutter Natur, die Hölderlin mit seiner gesundesten, schwungvollsten, frischesten Poesie feyerte, auch da, wo ihm die Welt des blosen Gedankens in einem unseligen Wirrwarr untergieng, und es ihm nicht mehr gegeben war, etwas rein Abgezogenes consequent zu verfolgen, noch von ihm verstanden wird. Das beweist sein Benehmen im Freyen, der Eindruck und die wohlthätige, beruhigende Wirkung, die sie auf ihn äußert, und besonders manche schöne Bilder, die er sich frischweg aus der Natur hohlte, indem er von seinem Fenster aus den Frühling kommen und gehen sah.« A. a. O., S. 73 f. Der Dichter Wilhelm Waiblinger (1804–1830) lebt von 1822–1826 in Tübingen, wo er anfangs Hölderlin häufig besucht. Vgl. Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Michael Knaupp, Bd. 3, S. 823. [Anm. d. Komm.]
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seinem Wesen äußern kann«.18 Auch der Tischlermeister Ernst Zimmer berichtet 1835 über seinen Pflegling: »Ich foderde ihn dazu auf mir auch wieder etwas zu schreiben, er machte nur daß Fenster auf, that einen Blick ins Freue, und in 12 Minuten war es fertig«.19 Auch außerhalb des eigenen Zimmers schien der Fensterplatz den kranken Dichter besonders anzuziehen. Hölderlin, als Waiblingers Gast, »öffnete sich das Fenster, setzte sich in seine Nähe und fieng an, in recht verständlichen Worten die Aussicht zu loben«.20 »Die Aussicht« trägt in Hölderlins Manuskript unten rechts die Signatur: Mit Unterthänigkeit Scardanelli.
Wie die Stuttgarter Ausgabe feststellt, unterschrieb Hölderlin seine Gedichte mit Scardanelli erst ungefähr von 1837–1838 an.21 Waiblinger, der mit Hölderlin in den frühen zwanziger Jahren verkehrte, gibt folgende 18 Von Arnim, Ilius Pamphilius, Bd. 2, S. 380 f. 19 Vgl. dazu Ernst Zimmers Brief »an einen Unbekannten« vom 22. Dezember 1835, StA, Bd. 7/3, Nr. 528, S. 132–139. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Das Zitat lautet vollständig: »Daß Gedicht daß beifolgt hat er in 12 Minuten nidergeschrieben, ich foderde ihn dazu auf mir auch wieder etwas zu schreiben, er machte nur daß Fenster auf, that einen Blick ins Freue, und in 12 Minuten war es fertig.« A. a. O., S. 134. Das Gedicht, das Zimmer dem Adressaten des Briefes übersandte, ist kaum zu bestimmen. Beißner vermutet, es sei »eines der Jahreszeitengedichte oder eines mit der Überschrift Aussicht« gewesen, da der »Umstand der Niederschrift« darauf »deuten könnte«, a. a. O., S. 137. Der Schreinermeister Ernst Friedrich Zimmer (1772–1838) nimmt Hölderlin im Mai 1807 zur Pflege in sein Haus auf, da der Dichter aus dem Tübinger Authenriethschen Klinikum, wo er sich seit Mitte September 1806 befunden hat, als unheilbar entlassen worden ist. Nach Zimmers Tod übernimmt seine Tochter Charlotte (1813–1879) die Pflege des Dichters. Vgl. Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Michael Knaupp, Bd. 3, S. 829 u. 854. [Anm. d. Komm.] 20 Vgl. dazu das Dokument »Wilhelm Waiblinger: Friedrich Hölderlins Leben, Dichtung und Wahnsinn«, StA, Bd. 7/3, Nr. 499, S. 50–88. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Waiblinger beschreibt hier seine Besuche bei Hölderlin folgendermaßen: »Womit ich [Waiblinger] ihn [Hölderlin] am meisten vergnügte, das war ein hübsches Gartenhaus, das ich auf dem Österberg bewohnte, dasselbe, worin Wieland die Erstlinge seiner Muse niederschrieb. […] Hier also wars, wo ich Hölderlin jede Woche einmal hinaufführte. […] Hölderlin öffnete sich das Fenster, setzte sich in seine Nähe und fieng an, in recht verständlichen Worten die Aussicht zu loben.« A. a. O., S. 66 f. [Anm. d. Komm.] 21 Vgl. dazu das Dokument »Notiz Gustav Schlesiers«, a. a. O., Bd. 7/3, Nr. 529, S. 139. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Hölderlin verwendet den Namen »Scardanelli« ab 1838/39. Der Publizist Gustav Schlesier (geb. 1810) legt mit der Absicht, eine
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Erklärung des kranken Dichters wieder: »Ich, mein Herr, bin nicht mehr von demselben Namen, ich heiße nun Killalusimeno. Oui, Eure Majestät: Sie sagen so, Sie behaupten so! es geschieht mir nichts!«.22 Doch dieser Name kommt unter den bekannten Manuskripten des Dichters nicht vor, und als er seinem Gast Waiblinger ein Gedicht überreichte, schrieb er darunter: »Dero unterthänigster Hölderlin!« 23 Also erscheint die Formel der Untertänigkeit viel früher, als sie in Verbindung mit Scardanelli üblich wurde, und auch bei Gesprächen war sie nach Waiblinger für Hölderlin charakteristisch: »Man hört ewig nur: Eure Majestät, Eure Heiligkeit, Euer Gnaden, Euer Excellenz, der Herr Pater! Sehr gnädig, bezeuge meine Unterthänigkeit! 〈…〉«.24 Nach derselben Mitteilung »hatt’ er nie aufgehört, mit sich zu sprechen und immer: Schon recht: Nun! Nein! Wahrheit! Bin Euer Gnaden sehr ergeben, bezeuge tief meine Unterthänigkeit für Ihre Gnaden – ja, ja, mehr als ich reden kann – Euer Gnaden sind allzu gnädig«.25 Am 21. Januar 1841 notierte Christoph Theodor Schwab in seinem Tagebuch: »Heute war ich wieder bei ihm, um einige Gedichte, die er gemacht hatte, abzuholen. Es waren zwei, unter denen keine Unterschrift war. Zimmer’s Tochter sagte mir, ich solle ihn bitten, den Namen H. drunter zu schreiben. Ich gieng zu ihm hinein und that es, da wurde er ganz rasend, rannte in der Stube herum, nahm den Sessel und setzte ihn ungestüm bald da, bald dorthin, schrie unverständliche Worte, worunter:
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Hölderlin-Biographie zu schreiben, eine umfangreiche Sammlung von Dokumentenabschriften an, die heute v. a. für viele Briefe von und an Hölderlin die einzige Textquelle ist. Vgl. Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Michael Knaupp, Bd. 3, S. 800. [Anm. d. Komm.] Vgl. dazu das Dokument »Wilhelm Waiblinger: Friedrich Hölderlins Leben, Dichtung und Wahnsinn«, StA, Bd. 7/3, Nr. 499, S. 50–88, hier: S. 69. [Anm. d. Komm.] Ebd. Vgl. dazu das Dokument »Aus den Tagebüchern Wilhelm Waiblingers«, a. a. O., Bd. 7/3, Nr. 470, S. 3–18, hier: S. 11. Die zitierte Passage notiert Waiblinger am 9. Juni 1823. [Anm. d. Komm.] Vgl. a. a. O., Bd. 7/3, Nr. 470, S. 3–18. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Die zitierte Passage, von Waiblinger am 9. Juni 1823 in sein Tagebuch notiert, lautet im Zusammenhang: »Auf mein [Waiblingers] Vorbringen setzt’ er [Hölderlin] sich an meinen Pult, fieng an ein Gedicht zu schreiben: der Frühling, schrieb aber nur 5 gereimte Zeilen und übergab sie mir mit einer tiefen Verbeugung. Vorher hatt’ er nie aufgehört, mit sich zu sprechen und immer: Schon recht: Nun! Nein! Wahrheit! Bin Euer Gnaden sehr ergeben, bezeuge tief meine Unterthänigkeit für Ihre Gnaden – ja, ja, mehr als ich reden kann – Euer Gnaden sind allzu gnädig – «. A. a. O., S. 11. [Anm. d. Komm.]
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›Ich heiße Skardanelli‹ deutlich ausgesprochen war, endlich setzte er sich doch und schrieb in seiner Wuth den Namen Skardanelli darunter.« 26 Johann Georg Fischer, der Hölderlin 1841–43 besuchte, erzählt, daß Hölderlin, in einem Exemplar seiner neu herausgegebenen Gedichte blätternd, sagte: »Ja, die Gedichte sind echt, die sind von mir; aber der Name ist gefälscht, ich habe nie Hölderlin geheißen, sondern Scardanelli oder Scarivari oder Salvator Rosa oder so was.« 27 Jedoch der einzige Name, den Hölderlin sich zur Unterschrift seiner Gedichte aneignete, ist Scardanelli. (Die Variante Scartanelli, vor allem von Chr. Th. Schwab mitgeteilt, ist in den Handschriften des Dichters nicht erhalten.) 28 In seinen Stammbuchblättern aus derselben Periode pflegt Hölderlin hingegen die Signatur »unterthänigst Buonarotti« oder »Buarotti« zu benutzen.29 Scardanelli, »dessen Schatten unter bestellten Gedichten am häufigsten auftaucht«, wird als »obskur« bezeichnet.30 Doch könnte der Name durch Hinweis auf zwei deutliche Entsprechungen vielleicht erhellt werden. Wenn man in den Namen Scardanelli und Hölderlin den ersten Vokal und was vorangeht streicht, ergibt sich, daß die Acht-BuchstabenReihe -rdanelli alle sieben Buchstaben der Sequenz -lderlin in verstellter Ordnung wiederholt: 26 Vgl. dazu das Dokument »Tagebuch Christoph Theodor Schwabs«, a. a. O., Bd. 7/3, Nr. 551, S. 202–209, hier: S. 205. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Christoph Theodor Schwab (1821–1883), der Sohn Gustav Schwabs (1792–1850), besucht Hölderlin in den Jahren vor seinem Tod häufig im Turm. Er besorgt die erste, zweibändige Ausgabe der Sämmtliche[n] Werke Hölderlins, die 1846 im J. G. Cotta’schen Verlag, Stuttgart und Tübingen, erschienen ist. Vgl. Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Michael Knaupp, Bd. 3, S. 802. [Anm. d. Komm.] 27 Vgl. dazu das Dokument »Johann Georg Fischer und Hölderlin«, StA, Bd. 7/3, Nr. 608, S. 292–308, hier: S. 294. Vgl. auch u., S. 196, Anm. 190. Der Lehrer Johann Georg Fischer (1816–1897) bildet sich 1841–1843 am Reallehrer-Seminar in Tübingen fort. Während dieser Zeit stattet er Hölderlin mehrere Besuche ab. Vgl. Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Michael Knaupp, Bd. 3, S. 722. [Anm. d. Komm.] 28 Christoph Theodor Schwab schreibt in seiner Hölderlin-Biographie »Hölderlin’s Leben«: »Er [Hölderlin] nannte sich immer ›Buonarotti‹ oder ›Skartanelli‹ und ließ sich Bibliothekar titulieren.« Hölderlin, Sämmtliche Werke, Bd. 2, S. 263–333, hier: S. 324. Vgl. dazu auch Hölderlins mit »Scartanelli« unterschriebene Widmung an Christoph Schwab in die Ausgabe der Gedichte von 1826. StA, Bd. 2/1, S. 360, sowie u., S. 212 f., Anm. 253 u. 255. [Anm. d. Komm.] 29 Vgl. dazu die Stammbuchblätter »Für Carl Künzel« und »Für einen Unbekannten«, StA, Bd. 2/1, S. 353, sowie a. a. O., Bd. 2/2, S. 970 f., die »Notiz Gustav Schlesiers«, a. a. O., Bd. 7/3, Nr. 529, S. 139, sowie das Dokument »Johann Georg Fischer und Hölderlin«, a. a. O., Nr. 608, S. 292–308, hier: S. 305. 30 Vgl. Beißners Kommentar zu dem Dokument »Johann Georg Fischer und Hölderlin«, a. a. O., Bd. 7/3, Nr. 608, S. 292–308, hier: S. 304 f.
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1 2 3 4 5 6 7 – l d e r l i n
4 2 – 7 3 1 5 6 – r d a n e l l i
Die Auslassung der ersten Buchstaben bei einem Namensversteck ist geläufig. Außerdem scheint der Name Scardanelli noch ein anderes Stützmodell zu haben, nämlich den Namen der bekannten Molie`re-Rolle Sganarelle,31 dessen sämtliche neun Buchstaben, vom stummen Endvokal abgesehen, sich in der Form Scardanelli wiederfinden mit der Vertauschung nur des schwachen g durch das starke k (c): 32 1 2 3 4 5 6 7 8 9 S g a n a r e l l
1 2 3 6 – 5 4 7 8 9 S c a r d a n e l l
Das in Sganarelle fehlende d und i ist dem Scardanelli mit Hölderlin gemeinsam. Das vom kranken Hölderlin angenommene Ritual der höfischen, mit Vorliebe französischen Redensarten und dienstfertigen Formeln konnte ihn leicht an die Bühnenfigur des Sganarelle erinnern, der in seinen verschiedenen Spielarten eine ähnliche Phraseologie und Verbeugungsgestik entwickelt (Seigneur Commandeur; Je suis votre valet; Je baise les mains a` M. le Docteur; Monsieur, votre serviteur… [›Herr Kommandant; Ich bin Euer Diener; Küß die Hand, Herr Doktor; Mein Herr, Euch zu Diensten…‹]).33 Als Waiblinger dem Dichter die Frage stellte: »wie alt sind sie, Herr Bibliothekar? antwortete er unter einem Schwall französischer Worte: bin mir nicht mehr bewußt, Euer Gnaden.« 34 Hölderlins innerer Hang zu anagrammatischen Decknamen mag schon im Hyperion seinen Ausdruck gefunden haben. Es wurde mehrmals 31 Hauptfigur des gleichnamigen Stückes von Jean-Baptiste Poquelin alias Molie`re (1622–1673), Sganarelle, ou le Cocu imaginaire aus dem Jahr 1660, das Anleihen bei der Commedia dell’arte mit einer ausführlichen Darstellung einer von Verlogenheit und Scheitern geprägten zwischenmenschlichen Kommunikation kombiniert. Damit ist die Absage an den kommunikativen Diskurs, mit dem Jakobson die Annahme dieses Pseudonyms im folgenden erklärt, bereits angesprochen. [Anm. d. Komm.] 32 Die Verfasser orientieren sich hier an der traditionellen Dreiteilung der *Mutae in k-, p- und t-Laute, wonach /k/ oder /c/ neben dem aspirierten /ch/ die starke Alternative zum schwächeren /g/, diese Laute also näher miteinander verwandt wären als etwa mit /p/, /f/ oder /b/ bzw. mit /t/, /th/ oder /d/. [Anm. d. Komm.] 33 Diese Äußerungen finden sich nicht alle wörtlich in Molie`res Text, wohl aber zahlreiche ähnliche Ausdrücke, die hier offenbar nur ungefähr wiedergegeben wurden, um die Ähnlichkeit zu Hölderlins Redeweise auszudrücken. [Anm. d. Komm.] 34 Vgl. dazu das Dokument »Aus den Tagebüchern Wilhelm Waiblingers«, StA, Bd. 7/3, Nr. 470, S. 3–18, hier: S. 11. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Die zitierte Passage schreibt Wilhelm Waiblinger am 9. Juni 1823 in sein Tagebuch. [Anm. d. Komm.]
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hervorgehoben, daß »Hyperion nur eine Maske für Hölderlin selber bedeutet und daß beide im Grunde miteinander identisch sind«.35 Der gemeinsame graphische Stock der beiden Namen – des mythologischen Hyperion (H..eri.n) und des ererbten Hölderlin (H…er.in) – ist auffallend, und durch manche Formeln des Eremiten in Griechenland bekräftigt, wie z. B. »holder Stern« 36 (holder….n – Hölder..n) oder Diotimas Bekenntnis »Dein Nahmensbruder, der herrliche (herli… – H…erli.) Hyperion des Himmels ist in dir« 37 mit der dreifachen *Alliteration des initialen H, die übrigens schon 1792 38 bei der ersten Nennung des Beinamens des Sonnengottes in der »Hymne an die Freiheit« (1793) auf35 Lange, Hölderlin. Eine Pathographie, S. 66. 36 StA, Bd. 3, S. 65. Das Zitat lautet im Zusammenhang: »Nein, rief mein [Hyperions] Herz, nein, meine Diotima! es schmerzt nicht. Bewahre du dir deinen Frieden und laß mich meinen Gang gehn. Laß dich in deiner Ruhe nicht stören, holder Stern! wenn unter dir es gährt und trüb ist.« Hyperion spricht diese Worte zu Diotima. »Holder Stern« bezieht sich also im Original auf Diotima, nicht auf Hyperion, wie die Verfasser suggerieren. [Anm. d. Komm.] 37 A. a. O., Bd. 3, S. 73. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Das Zitat lautet vollständig: »Ja, ja! fiel sie [Diotima] schwärmerisch lächelnd mir [Hyperion] ein, dein Nahmensbruder, der herrliche Hyperion des Himmels ist in dir.« [Anm. d. Komm.] 38 Vgl. Binder, »Hölderlins Namenssymbolik«, S. 135 f. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Dort führt Binder aus: »Nach der Hesiodischen Theogonie (V. 371 ff.) ist Hyperion ein Sohn des Uranos und der Gaia, ein Titan also, und der Vater des Helios, der Selene und der Eos. Von seinem Vater erhält Helios den Beinamen Hyperionides (Theog. V. 1011). Auch die Odyssee kennt dieses Patronymicum (12, 176), in allen anderen Fällen – achtmal insgesamt – verwendet Homer den unveränderten Vaternamen Hyperion als Beinamen des Sonnengottes, darunter zweimal als seinen eigentlichen Namen (Il. 19,398; Od. 1,24). Diesen Gebrauch übernimmt Hölderlin. Schon in der zweiten ›Hymne an die Freiheit‹ (V. 94), worin der Name zum erstenmal fällt, ist der Sonnengott gemeint […]. Ebenso spricht der Roman (I, 130) vom ›herrlichen Hyperion des Himmels‹, indem er zugleich die Beziehung zum Titelhelden herstellt. Auf Hyperions Wort: ›der Mensch ist ein Gewand, das oft ein Gott sich umwirft‹, erwidert Diotima: ›Ja, ja!… dein Nahmensbruder, der herrliche Hyperion des Himmels ist in dir.‹« Binder fährt dann fort: »Namensgleichheit bedeutet also Wesensverwandtschaft des sterblichen Abbilds mit seinem himmlischen Urbild oder Vorbild« und stellt dieses und weitere Beispiele in den Zusammenhang einer ostentativ an Heidegger (dem der Beitrag zugeeignet ist) orientierten Onomastik, für die gilt: »Ein symbolischer Name aber ist ein Wesensbestandteil der Person, so klar und unverhüllt wie das Wesen selbst. Er wirkt von innen, unter Umständen wie eine entelechische Kraft, welche die Person erst allmählich zu dem bildet, was der Name präfiguriert«, und nach Ansprache einer damit wirksamen »Sprachmagie« heißt es: »Zum Phänomen des Mythischen, des Gegenstandes der Mythologie, gehört unter anderem die Identität von Sache und Sinn.« (Beides a. a. O., S. 97.) Zum Verhältnis zwischen Jakobsons Deutung und Heidegger vgl. u., ab S. 221 f. [Anm. d. Komm.]
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taucht: 93 »Wenn ihr Haupt die blaichen Sterne neigen, Stralt Hyperion im Heldenlauf« (Hölde.l..).39 Es ist nebenbei zu vermerken, daß »Die Aussicht« drei einander folgende *Hebungen ebenfalls durch einen H-Anlaut auszeichnet (IV1 Vollkommenheit, des Himmels Höhe glänzet ) und daß dieser Stabreim mit dem angeschlossenen dreifachen *nasalen Auslaut (IV2 Den Menschen dann ) vielleicht einen leisen Hinweis auf den verborgenen Namen enthält: Höhe glänzet den (Hö-l-de-n). Die Gedichte Hölderlins aus seinen letzten fünf Lebensjahren tragen beinahe ausnahmslos die Unterzeichnung Scardanelli und links von diesem Namen fast immer die eigenhändige Angabe eines imaginären Entstehungsdatums. Ohne die übliche Signatur Mit Unterthänigkeit Scardanelli erscheint so eine Angabe (d. 15ten Nov. 1759) einzig unter dem Text »Der Herbst«, um 1841–1842 verfaßt.40 Von den vierundzwanzig erhaltenen Scardanelli-Unterschriften sind zwanzig mit einem Datum versehen.41 Die zwei ältesten von den auf diese Art unterzeichneten Gedichten, anscheinend um 1838 entstanden, und noch ein dritter, vielleicht späterer Achtzeiler verweisen auf das 17. Jahrhundert 42 (d. 3ten März 1648; Den 24. März 1671; d. 24 Januar 1676 ) 43, und in vier Fällen – (d. 24 April 1839; d. 25 Dezember 1841; d. 15 Merz 1842 und d. 28ten Juli 1842) 44 – ist wenigstens in bezug auf das Jahr, »möglicherweise 〈…〉 das 39 Zu Hölderlins »Hymne an die Freiheit« vgl. StA, Bd. 1/1, S. 157–161. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Die Hervorhebungen stammen von den Verfassern. Man beachte, daß die Verfasser die Lautübereinstimmungen hier über das tatsächlich Vorhandene hinaus erweitern: Aus /h.lde.l../ wird /hölde.l../. [Anm. d. Komm.] 40 Zu dem Gedicht »Der Herbst« (»Das Glänzen der Natur ist höheres Erscheinen, […]«) vgl. a. a. O., Bd. 2/1, S. 299, sowie a. a. O., Bd. 2/2, S. 918. 41 Vgl. a. a. O., Bd. 2/1, S. 286–312 u. 360, sowie a. a. O., Bd. 2/2, S. 976. 42 Und damit auf die Zeit der Entstehung und der Handlung von Molie`res Drama. [Anm. d. Komm.] 43 »Der Frühling« (»Es kommt der neue Tag aus fernen Höhn herunter […]«) trägt die Datumsangabe »d: 3ten März 1648«, StA, Bd. 2/1, S. 286; »Aussicht« (»Der off’ne Tag ist Menschen hell mit Bildern, […]«) trägt die Datumsangabe »Den 24. März 1671«, a. a. O., S. 287. Zur Datierung vgl. o., S. 144, Anm. 16. Das achtzeilige Gedicht »Der Winter« (»Wenn sich das Jahr geändert, und der Schimmer […]«) trägt die Datumsangabe »d. 24 Januar 1676«, a. a. O., S. 304. [Anm. d. Komm.] 44 »Der Frühling« (»Die Sonne glänzt, es blühen die Gefilde, […]«) trägt das Datum »d. 24 April 1839«, a. a. O., Bd. 2/1, S. 288; »Winter« (»Wenn sich das Laub auf Ebnen weit verloren, […]«) ist auf »d. 25 Dezember 1841« datiert, a. a. O., S. 295; »Der Frühling« (»Wenn neu das Licht der Erde sich gezeiget, […]«) auf »d. 15 Merz 1842«, a. a. O., S. 298; »Der Mensch« (»Wenn aus sich lebt der Mensch und wenn sein Rest sich zeiget, […]«) auf »d. 28ten Juli 1842«, a. a. O., S. 302. [Anm. d. Komm.]
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Datum nicht fingiert«.45 Zwei Gedichte wurden vom Verfasser der Zukunft zugewiesen, nämlich »Der Winter«, am 7. November 1842 entstanden, trägt das Datum d. 24 April 1849 46 und »Der Sommer«, am 9. März 1842 geschrieben, behält den authentischen Tag und Monat, ändert aber das Jahr auf 1940. 47 Die Mehrzahl der zwischen 1841 und 1843 verfaßten Gedichte (elf Einzelwerke) ist in Hölderlin-Scardanellis Handschriften dem 18. Jahrhundert zugewiesen, und zwar solchen Jahren, die des Dichters Geburt oder wenigstens seinem Knabenalter (d. 24 Mai 1778) vorausliegen.48 Die Erfindungen der datierenden Anzeigen unter dem Wortlaut der Gedichte bekunden eine Vorliebe des Autors für gewisse chronologische Bezeichnungen und Verbindungen. Zehn von den elf Jahreszahlen des vermeintlichen 18. Jahrhunderts enden mit der Ziffer 8. Das Jahrzehnt innerhalb dieser elf viergliedrigen Zahlen ist meistens mit 4 oder 5 bezeichnet (je fünf Beispiele), und jede Jahreszahl muß entweder 8 als letzte oder 4 als vorletzte Ziffer, falls nicht beide zugleich, enthalten. Der Monat Mai erscheint neunmal, dabei nur im Anschluß an Jahreszahlen, die mit 1700 beginnen und mit 8 enden. Jedes von diesen elf dem 18. Jahrhundert zugeschriebenen Gedichten soll, nach Scardanellis Zeugnis, in den zwanziger Monatstagen verfaßt worden sein. Das Tagesdatum lautet in zwei Beispielen 20 und in neun 24 (außerdem noch viermal 24 45 Vgl. a. a. O., Bd. 2/2, S. 911, 916, 918 u. 920. 46 Zu »Der Winter« (»Wenn ungesehn und nun vorüber sind die Bilder […]«) vgl. a. a. O., Bd. 2/1, S. 303, zur Datierung vgl. a. a. O., Bd. 2/2, S. 921. 47 Zu »Der Sommer« (»Noch ist die Zeit des Jahrs zu sehn, und die Gefilde […]«) vgl. a. a. O., Bd. 2/1, S. 297, zur Datierung vgl. a. a. O., Bd. 2/2, S. 917. 48 »Der Sommer« (»Wenn dann vorbei des Frühlings Blüthe schwindet, […]«) ist auf »d. 24 Mai 1778« datiert, a. a. O., Bd. 2/1, S. 293; »Der Sommer« (»Im Thale rinnt der Bach, die Berg’ an hoher Seite, […]«) auf »d. 24 Mai 1758«, a. a. O., S. 300; »Der Sommer« (»Die Tage gehen vorbei mit sanffter Lüffte Rauschen, […]«) ebenfalls auf »d. 24 Mai 1758«, a. a. O., S. 301; »Der Winter« (»Wenn sich der Tag des Jahrs hinabgeneiget […]«) auf »d. 24 Januar 1743«, a. a. O., S. 305; »Griechenland« (»Wie Menschen sind, so ist das Leben prächtig, […]«) auf »Den 24t. Mai 1748«, a. a. O., S. 306; »Der Frühling« (»Der Tag erwacht, und prächtig ist der Himmel, […]«) ebenfalls auf »d. 24 Mai 1748«, a. a. O., S. 307; »Der Frühling« (»Die Sonne kehrt zu neuen Freuden wieder, […]«) auf »d. 20 Jan. 1758«, a. a. O., S. 308; »Der Frühling« (»Wenn aus der Tiefe kommt der Frühling in das Leben, […]«) auf »d. 24 Mai 1758«, a. a. O., S. 309; »Der Zeitgeist« abermals auf den »24. Mai 1748«, a. a. O., S. 310; »Freundschafft« auf »d. 20 Mai 1758«, a. a. O., S. 311; »Die Aussicht« ebenfalls auf »d. 24. Mai 1748«, a. a. O., S. 312. Zur Chronologie der spätesten Gedichte Hölderlins vgl. Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Jochen Schmidt, Bd. 1, S. 1130. [Anm. d. Komm.]
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bei Scardanellis Zuweisungen zu anderen Jahrhunderten).49 Die Zahl 24 scheint überhaupt ein Angelpunkt all dieser seltsamen Datierungen zu sein. Die Jahreszahl 1748 erscheint viermal, und dabei stets in Verbindung mit dem 24. Mai. Alle vier Gedichte, die dasselbe Datum tragen (24. Mai 1748), mit einer symmetrischen Verteilung der zwei Zahlenzeichen am Anfang (24 ) und am Ende (48) 50 – sind kurz vor Hölderlins Tod geschrieben: »Die Aussicht«,51 »Der Zeitgeist«,52 »Der Frühling« 53 und »Griechenland« 54. Johann Georg Fischer erzählt von seinem letzten Besuch beim kranken Dichter, wie er Hölderlin »um ein Paar Zeilen zum Andenken« bat, und wie er, nachdem ihm Hölderlin eine Wahl zwischen *»Strophen über Griechenland, über den Frühling, über den Zeitgeist« vorgeschlagen hatte, um den »Zeitgeist« bat.55 Die Idee der »Strophen über Griechenland« und »über den Frühling« fanden wahrscheinlich ihre Verwirklichung in den zwei erwähnten Gedichten des 24. Mai 1748.
II. Vers Hölderlin richtete seine besondere Aufmerksamkeit auf den Zusammenhang und inneren Bau der Verse. Nach dem Zeugnis von J. G. Fischer 49 Die Verfasser beziehen sich auf die Gedichte »Aussicht« (»Der off’ne Tag ist Menschen hell mit Bildern, […]«), datiert auf »Den 24. März 1671«, StA, Bd. 2/1, S. 287; »Der Frühling« (»Die Sonne glänzt, es blühen die Gefilde, […]«), datiert auf »d. 24. April 1839«, a. a. O., S. 288; »Der Winter« (»Wenn ungesehn und nun vorüber sind die Bilder […]«), datiert auf »d. 24. April 1849«, a. a. O., S. 303; »Der Winter« (»Wenn sich das Jahr geändert, und der Schimmer […]«), datiert auf »d. 24. Januar 1676«, a. a. O., S. 304. [Anm. d. Komm.] 50 Die Verfasser sehen hier eine *Spiegelsymmetrie zwischen 24 (x4) und 48 (4x). [Anm. d. Komm.] 51 Zu »Die Aussicht« vgl. StA, Bd. 2/1, S. 312, sowie a. a. O., Bd. 2/2, S. 926. 52 Zu »Der Zeitgeist« vgl. a. a. O., Bd. 2/1, S. 310, sowie a. a. O., Bd. 2/2, S. 925. 53 Zu »Der Frühling« (»Der Tag erwacht, und prächtig ist der Himmel, […]«) vgl. a. a. O., Bd. 2/1, S. 307, sowie a. a. O., Bd. 2/2, S. 923. 54 Zu »Griechenland« (»Wie Menschen sind, so ist das Leben prächtig, […]«) vgl. a. a. O., Bd. 2/1, S. 306, sowie a. a. O., Bd. 2/2, S. 922 f. 55 Vgl. dazu das Dokument »Johann Georg Fischer und Hölderlin«, a. a. O., Bd. 7/3, Nr. 608, S. 292–308. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – In seinem Aufsatz »Hölderlin’s letzte Verse« berichtet Fischer: »Weil ich [Fischer] im Mai Tübingen verließ, bat ich ihn um ein paar Zeilen zum Andenken. ›Wie Ew. Heiligkeit befehlen‹, sagte er, ›soll ich Strophen über Griechenland, über den Frühling, über den Zeitgeist?‹ Ich bat um ›den Zeitgeist‹.« A. a. O., S. 294 f. In dem Aufsatz »Aus Friedrich Hölderlins dunkeln Tagen« kommt Fischer nochmals auf dieses Ereignis zu sprechen. Vgl. a. a. O., S. 301. [Anm. d. Komm.]
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Autograph von Hölderlins Gedicht »Die Aussicht«
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(1816–1897), der im April 1843 den kranken Dichter am Werk sah, »trat er an seinen Stehpult 〈…〉 und schrieb, mit den Fingern der linken Hand die Verse auf dem Pult skandirend, und nach Vollendung jeder Zeile mit Kopfnicken ein zufriedenes deutliches ›Hm‹ ausdrückend«.56 Das achtzeilige *jambische Gedicht zerfällt in zwei Vierzeiler. Jede von diesen Strophen besteht aus zwei Verspaaren. Jeder Vers ist durch einen Einschnitt – obligatorische *Wortgrenze – 57 vor seinen letzten sieben Silben in zwei Halbverse geteilt, die wir im folgenden An- und Abvers nennen. Jedes Verspaar des Gedichtes wird durch eine römische Zahl angegeben und jeder Vers durch eine subskribierte arabische Nummer, so daß der erste und der letzte Vers des ganzen Gedichts als I1 und IV2 bezeichnet werden. Der Einschnitt ist durch eine einfache , das Versende durch eine doppelte Vertikale angegeben. Die Vierzeiler sind bei Hölderlin durch einen Punkt voneinander getrennt, und jeder Vierzeiler bildet ein Satzgefüge. In beiden Fällen gestaltet das erste Verspaar zwei parallele Nebensätze, deren Anverse im 56 Vgl. a. a. O., Bd. 7/3, Nr. 608, S. 292–308, insbes. den Aufsatz »Hölderlin’s letzte Verse«. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Das Zitat lautet vollständig: »Nun trat er, und mit einem Auge voll jugendlichen Feuers, an seinen Stehpult, nahm einen Foliobogen und eine mit der ganzen Fahne versehene Feder heraus und schrieb, mit den Fingern der linken Hand die Verse auf dem Pult skandirend, und nach Vollendung jeder Zeile mit Kopfnicken ein zufriedenes deutliches ›Hm‹ ausdrückend, folgende Verse: ›Der Zeitgeist‹. [Es folgt das Gedicht.]« A. a. O., S. 295. Vgl. dazu auch den Aufsatz »Aus Friedrich Hölderlins dunkeln Tagen«, a. a. O., hier: S. 301 f., wo Fischer nochmals auf dieses Ereignis zu sprechen kommt. [Anm. d. Komm.] 57 Als ›obligatorisch‹ ist für Jakobson jede Pause zu betrachten, die regelmäßig an derselben Stelle wiederkehrt, ungeachtet der bewußten Kenntnis dieser Regel bei Produzent oder Rezipient; vgl. dazu auch »Linguistics and Poetics«, S. 35; und die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 154–216, S. 181 f., sowie »Slavic Epic Verse: Studies in Comparative Metrics«, und »Über den Versbau der serbokroatischen Volksepen«. Im vorliegenden Fall gilt diese Regelmäßigkeit nur innerhalb der acht Zeilen dieses Gedichts, nicht noch für andere Texte; man beachte, daß es Jakobson hier allein um regelmäßig wiederkehrende Wortgrenzen, nicht um Pausen oder *Zäsuren geht. In einem Brief vom 19. Oktober 1974 an Grete Lübbe-Grothues (vgl. Anhang S. 238) weist Jakobson noch auf weitere Indizien für seine Aufteilung hin, die sich aus dem Autographen ergeben: »Der halbierende Schnitt nach der 6en Silbe in der zweiten Zeile wird in der folgenden, dritten Zeile durch einen Schnitt nach der 4en Silbe ersetzt, während im Verhältnis zum Versschluß beide Schnitte identisch bleiben, und dieser Wechsel ist hier in den beiden Zeilen graphisch ausgedrückt. Die rückgängige Änderung vom Schema 4 + 7 zu 6 + 7 ist in der sechsten Zeile wieder graphisch unterstrichen. Auch das Komma innerhalb der 6ten und 7ten Zeile ist behilflich, sowie die Vielsilbigkeit des Wortes Vollkommenheit.« [Anm.d. Komm.]
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Wortbestand einander ähnlich sind. Die Lautähnlichkeit wird durch einen Mitklang im Abvers der ersten Zeile unterstützt: 58 I 1 Wenn in die Ferne x x x x wohnend 2 Wo in die Ferne x III 1 Daß die x x x x das 2 Daß die x x
Die zweiten (also geraden 59) Verspaare der Vierzeiler sind aus je zwei nebengeordneten Hauptsätzen gebildet und untereinander wort- und lautähnlich: II 1 Ist auch dabei des Sommers 2 Der x x x IV 1 Ist aus Vollkommenheit, des Himmels 2 Den x x x
Der Bau des zweiten Vierzeilers ist verwickelter als der des ersten. Der zweite Satz in jedem Verspaar zerfällt hier wiederum in zwei Teilsätze, 1) *adversativ – auf An- und Abvers verteilt im ersten Verspaar: III 2 daß die verweilt, sie schnell vorübergleiten,60
2) vergleichend – auf beide Abverse verteilt im zweiten Verspaar: IV 1 2
x x x Höhe glänzet wie x x Blüth’ umkränzet.
Eine syntaktische Abgrenzung der Halbverse (3 Kommas) und ein *Enjambement 61 innerhalb des letzten Verspaares hängen damit zusammen. – Zur Bedeutsamkeit der Interpunktion für Hölderlin vergleiche man Wilhelm Waiblingers Angabe, wie ihm der Dichter seinen Hyperion mit großem Pathos vorzutragen pflegte und dann plötzlich hinzusetzen konnte: »Sehen Sie, gnädiger Herr, ein Komma!« 62 58 Der etwas vage bezeichnete ›Mitklang‹ betrifft jeweils die Lautfolgen /w.n/ bzw. /wo.n/ im ersten, /das/ im zweiten Fall, reicht also über eine bloße Alliteration oder Assonanz hinaus, ohne andererseits als unreiner Reim gelten zu können. [Anm. d. Komm.] 59 Sc. geradzahligen; dies entspricht der bei Jakobson häufigen englischsprachigen Unterscheidung zwischen ›odd‹ und ›even‹ Einheiten. [Anm. d. Komm.] 60 Jakobson und Lübbe-Grothues schreiben an dieser Stelle irrtümlich »vorübereilen«. [Anm. d. Komm.] 61 Daß auch der Anvers in IV2 noch den Nebensatz fortsetzt, der im Abvers in IV1 begann (»des Himmels Höhe glänzet Den Menschen dann, wie Bäume Blüth’ umkränzet«), haben die Verfasser im vorausgehenden Schema nicht markiert, aber im Folgenden ausführlich diskutiert. [Anm. d. Komm.]
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In drei Zeilen des Gedichts umfaßt der Anvers je sechs, in den übrigen fünf Zeilen je vier Silben: somit sind in den acht jambischen Zeilen mit weiblicher Endung drei ›sechsfüßige‹ Langverse und fünf ›fünffüßige‹ Kurzverse zu unterscheiden. Hölderlins späteste Gedichte bekunden eine beinahe ausnahmslose Vorliebe für jambisches *Versmaß mit einer Schwankung zwischen derartigen sechs- und fünffüßigen Zeilen. Die Stuttgarter Erläuterungen vermerken den *Reim blinkt / sinkt im Gedicht »Der Winter« (Wenn blaicher Schnee 〈…〉), um das Jahr 1841 entstanden, als Hölderlins »einzigen *männlichen Reim seit etwa 1830«,63 den man übrigens eher als blinket / sinket deuten dürfte, vgl. z. B. »Die Aussicht« IV glänzet / kränzet. Beide Vierzeiler des Gedichtes enden mit einem Kurzvers. In jedem Vierzeiler haben die beiden Anfangsverse (also die beiden Zeilen jedes ungeraden Verspaares) gleiche Silbenzahl: es sind Langverse im ersten Vierzeiler (I1–2) und Kurzverse im zweiten Vierzeiler (III1–2). Der Übergang vom ersten Verspaar zum dritten Vers der Vierzeiler ist durch einen Wechsel der Silbenzahl ausdrücklich angezeigt, nämlich der Langvers I2 wird durch den Kurzvers II1 abgelöst, und der Kurzvers III2 durch den Langvers IV1. Nur im Schlußvers haben beide Vierzeiler eine identische Silbenzahl (II2 = IV2), während ihre ersten drei Verse sich in einem *antisymmetrischen 64 Verhältnis zueinander befinden: zwei Langverse (I1–2), denen ein Kurzvers (II1) folgt, stehen zwei Kurzversen (III1–2) und einem folgenden Langvers (IV1) gegenüber. I 1 Wenn in 2 Wo in II 1 Ist 2 Der III 1 Daß 2 Daß IV 1 Ist aus 2 Den
die Ferne geht die Ferne sich auch dabei Wald erscheint die Natur die verweilt, Vollkommenheit, Menschen dann,
der Menschen wohnend Leben, erglänzt die Zeit der Reben, des Sommers leer Gefilde, mit seinem dunklen Bilde. ergänzt das Bild der Zeiten, sie schnell vorübergleiten, des Himmels Höhe glänzet wie Bäume Blüth’ umkränzet.
62 Vgl. dazu das Dokument »Wilhelm Waiblinger: Friedrich Hölderlins Leben, Dichtung und Wahnsinn«, StA, Bd. 7/3, Nr. 499, S. 50–88, hier: S. 66. 63 A. a. O., Bd. 2/2, S. 915 f. 64 Als ›proper‹ [›eigentliche‹] Antisymmetrie bezeichnet Jakobson ungespiegelte Abbildungen, in denen Elemente zweier Werte gegeneinander vertauscht werden, in diesem Fall also LLK zu KKL. Die Unterscheidung der insgesamt vier Symmetrietypen wird im weiteren (S. 164 f., 204 f.) noch detaillierter aufgenommen; vgl. auch u., S. 164, Anm. 88 u. S. 204, Anm. 227. [Anm. d. Komm.]
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Der schließende Kurzvers in beiden Vierzeilern unterscheidet sich von den übrigen Zeilen durch den starken nominalen Akzent der Anfangshebung (II2 Der Wald und IV2 Den Menschen) und durch zwei betonte monophthongische a´ ohne Gegenstück in den übrigen Zeilen (II2 Wa´ld – IV2 da´nn). Den Übergang vom ungeraden zum geraden Verspaar vermerkt Hölderlins Handschrift durch die Übertragung des Abverses auf eine eigene Zeile. Einzig in diesen Fällen macht der Verfasser inmitten der Seite halt (I2-II1 und III2),65 z. B.: I 2 Wo in die Ferne sich erglänzt die Zeit der Reben, II 1 Ist auch dabei des Sommers leer Gefilde, 〈…〉
Jedes Verspaar ist durch einen *Paarreim verbunden, und nicht nur der Lautbestand, sondern auch der grammatische Bau dieser Reime betont einerseits die Differenz zwischen den Verspaaren jedes Vierzeilers und andererseits den Parallelismus beider Vierzeiler.66 Während die reimenden Wörter II1–2 Gefilde (Nom.) – Bilde (Dat.) sich morphologisch nur durch den Kasus unterscheiden, sind im Reim I1–2 Leben – der Reben Hauptwörter verschiedener Kasus (Nom. – Gen.), Zahlen (Sg. – Plur.) und Geschlechter (Neut. – Fem.) verbunden. Gleichgerichtet, aber noch viel schärfer ist der Gegensatz der beiden Reime im zweiten Vierzeiler. Der Reim IV1–2 glänzet – umkränzet vereinigt zwei morphologisch gleichartige Zeitwörter, wogegen das vorhergehende Paar III1–2 der Zeiten – vorübergleiten ein Hauptwort und ein Verbum konfrontiert. Dabei sind Übereinstimmungen der Lage zwischen zwei Verspaaren verschiedener Vierzeiler durch gemeinsame Züge der Reime angedeutet, im besonderen die gleichlautenden Endungen -en in allen vier Reimwörtern der ungeraden Verspaare (I1 Leben – 2 Reben und III1 Zeiten – 2 vorübergleiten) sowie die Gegenüberstellung eines präfigierten und eines baren Stammes in den geraden Verspaaren (II1 Gefilde – 2 Bilde und in umgekehrter Folge 65 Daß die Übertragung des Abverses zwar in II1 nach dem Wechsel vom ungeraden zum geraden Verspaar nochmals auftritt, an der entsprechenden Stelle in IV1 jedoch nicht, haben die Verfasser nicht weiter kommentiert. Vgl. dazu auch Jakobsons Rückgriff auf eine Handschrift in »On the Verbal Art of William Blake and Other Poet-Painters: III. Paul Klee’s Octastich«, und die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 30–39. [Anm. d. Komm.] 66 Vgl. dazu Jakobsons programmatische Ausführungen zum *grammatischen oder antigrammatischen Reim in »Linguistics and Poetics«, hier: S. 39, und die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 154–216, hier: S. 187 f. [Anm. d. Komm.]
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IV1 glänzet – 2 umkränzet). Alle vier Reime sind auf vorderen Vokalen aufgebaut, und die Reime der beiden geraden Verspaare (II1 Gefilde – 2 Bilde und IV1 glänzet – 2 umkränzet) sind kurzvokalisch im Gegensatz zu den Langvokalen und Diphthongen der beiden ungeraden Reimpaare (I1 Leben – 2 Reben und III1 Zeiten – 2 vorübergleiten). Neben dem Gegensatz zwischen den ungeraden (I, III) und geraden (II, IV) Verspaaren wird auch eine Differenz zwischen den äußeren (I, IV) und inneren (II, III) Verspaaren angezeigt: die Wechselreihe der Stützliquidae l/r vor dem betonten Vokal in den Reimen der beiden äußeren Verspaare stimmt überein (I1 Leben – 2 Reben und IV1 glänzet – 2 umkränzet). Eine merkwürdige Präzision, mit welcher Hölderlin hier alle inneren *Senkungen 67 in An- und Abvers behandelt, bezeugt seine erhöhte Empfindlichkeit für die künstlerische Eigenart 68 der Zeilen innerhalb der Verspaare sowie der Verspaare innerhalb der Vierzeiler und der Vierzeiler im Bezug zum achtzeiligen Ganzen. Jede Silbe der inneren Senkungen ist grammatisch (und zwar morphologisch oder syntaktisch) einer der zwei Nebensilben 69 untergeordnet. Falls die unterordnende Rolle der folgenden Hebung gehört, bezeichnen wir die Senkung als Vorsilbe, falls sie 67 Als ›innere Senkung‹ zählen die Verfasser hier all jene Senkungen, die weder am Anfang noch am Ende eines An- oder Abverses stehen. Dadurch ergibt sich nur eine konstante innere Senkung im Anvers, nämlich seine letzte Senkung, da die vorletzte Senkung in den viersilbigen Anversen (II1, II2, III1, III2 und IV2) am Anfang steht. So schreiben die Verfasser wenig später: »Die vorletzte Silbe der Anverse ist die einzige innere Senkung, die den zwei- und dreifüßigen Anversen gemeinsam ist.« [Anm. d. Komm.] 68 Hier wie öfter verwendet Jakobson »Eigenart« offenbar wie ›Eigenständigkeit‹, etwa als deutsche Wiedergabe des russischen Worts »svoeobrazie« [›Eigenart‹, ›Eigentümlichkeit‹, ›Originalität‹, wortwörtlich: ›Eigengestalt‹], das auch prominent in der Formulierung »Grammaticˇeskoe svoeobrazie« [›Grammatische Eigenart‹], der Überschrift des vierten Kapitels des Grundlagenaufsatzes »Poe˙zija grammatiki i grammatika poe˙zii«, verwendet wird. Jakobsons dortige, etwas andere Verwendung des Begriffs erschließt sich aus den ersten Sätzen dieses Kapitels: »Vom grammatischen Standpunkt aus kann und muß die brennende literaturwissenschaftliche Frage nach der Individualität und vergleichenden Charakteristik von Gedichten, Dichtern und dichterischen Schulen gestellt werden. Bei aller Gemeinsamkeit in der grammatischen Ordnung der Dichtung Pusˇkins ist jedes seiner Gedichte individuell und unwiederholbar in der künstlerischen Auswahl und Verwendung des grammatischen Materials.« – Vgl. Jakobson, »Poe˙zija grammatiki i grammatika poe˙zii«, S. 78, sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 285. Dies entspräche etwa dem in englischsprachigen Beiträgen Jakobsons üblichen ›peculiar‹ oder ›peculiarity‹. [Anm. d. Komm., mit Dank an Sebastian Donat] 69 Sc. benachbarten Silben. [Anm. d. Komm.]
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aber der vorangehenden Hebung untergeordnet ist, darf so eine Senkung als Nachsilbe bezeichnet werden.70 Die vorletzte Silbe der Anverse ist die einzige innere Senkung, die den zwei- und dreifüßigen Anversen gemeinsam ist. Die Senkung behauptet sich als Nachsilbe in den beiden äußeren Verspaaren (I1 Ferne .. geht, . . . 2 Ferne . sich; IV1 Vollkommen . heit, 2 Menschen . dann) und als Vorsilbe . . in den beiden inneren Verspaaren des Gedichts (II1 . dabei, 2 . erscheint; .. .. III1 Natur, 2 verweilt). Die Grenzen der beiden Verspaare innerhalb der Vierzeiler sind hiermit umrissen. Die vier zuletzt erwähnten Zweisilbler der inneren Verspaare gehören zu den sechs ›jambischen Wörtern‹ des ganzen Gedichtes, und alle sechs schließen unmittelbar an den Einschnitt an. Die übrigen zwei Fälle, die den Abversen angehören (I2 erglänzt, III1 ergänzt), sollen unten besprochen werden. Der Abvers enthält zwei innere Senkungen auf seiner dritten und fünften Silbe. Alle drei ständig inneren Senkungen (die eine des Anverses und die beiden des Abverses) sind in der Anfangszeile des Gedichts durch Nachsilben besetzt gemäß dem generellen Hang zu *›trochäischen Wörtern‹, der den Anfangsvers im Gegensatz zu den übrigen Zeilen bestimmt.71 Die erste innere Senkung des Abverses (seine dritte Silbe) ist Nachsilbe in allen vier Zeilen der geraden Verspaare (II1 des Sommers .., 2 mit seinem .., IV1 des Himmels .., 2 wie Bäume ..), wogegen die Zeilen der . ungeraden Verspaare eine Vorsilbe aufweisen (I2 erglänzt . die Zeit, III1 .. .. ergänzt das Bild, 2 sie schnell vorübergleiten) mit Ausnahme der An. fangszeile, die auch hier eine Nachsilbe bevorzugt (Menschen .) – vielleicht in Anlehnung an die weitere Nachsilbe (wohnend ..) – und die den Gegensatz zur zweiten Zeile dadurch verdoppelt (I1 der Menschen .. wohn. . . end . Leben – 2 erglänzt . die Zeit . der Reben). Im Ganzen sichert und verschärft die Verteilungsregel für die erste Senkung des Abverses vor allem den markanten Gegensatz zwischen den Grenzzeilen aller benachbarter Verspaare, und von diesem Gesichtspunkt aus ist die innere Gliederung der Anfangszeile gleichgültig, da dieser Zeile nichts vorangeht. In der ersten Senkung der Abverse ist die Grenze zwischen einem ungeraden und dem folgenden geraden Verspaar durch einen Übergang 70 Als ›Vor-‹ bzw. ›Nachsilbe‹ verstehen die Verfasser an dieser Stelle nicht etwa Präfixe und Suffixe, sondern die benachbarten Silben unmittelbar vor bzw. nach einer Hebung. [Anm. d. Komm.] 71 Die Unterscheidung zwischen ›jambischen‹ und ›trochäischen‹ Wörtern, die beide sowohl in jambischen als auch in trochäischen Versen auftreten können, führt Jakobson detailliert für den Bereich der tschechischen Metrik vor in »O cˇesˇskom stiche – preimusˇcˇestvenno v sopostavlenii s russkim«. [Anm. d. Komm.]
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von einer Vorsilbe zu einer Nachsilbe signalisiert, wogegen die Grenze zwischen einem geraden und dem folgenden ungeraden Verspaar durch einen Übergang von Nach- zu Vorsilbe angezeigt wird. Im Gegensatz zur ersten inneren Senkung des Abverses, die die Zeilen desselben Verspaares einander anzugleichen sucht, wird in seiner zweiten Senkung eine ausnahmslose Dissimilation durchgeführt: Vorsilben und Nachsilben alternieren innerhalb des Verspaares, wobei zwischen den Mitgliedern jedes gepaarten Reimes natürlich ein Abstand erscheint. (Zum Reimungsspiel der morphologischen Grenzen in gegenübergestellte Nach- und Vorsilben vgl. das 1842 geschriebene Gedicht »Der Sommer«: II1 Dämme .. rungen – 2 hinab .. geschlungen, III1 umher .. gebreitet – 2 hin. unter . gleitet.) 72 Durch einen regelmäßigen Wechsel der Vor- und Nachsilben in der zweiten Senkung des Abverses werden nicht nur die Nachbarzeilen innerhalb der Verspaare, sondern auch die der beiden Vierzeiler voneinander geschieden. Es wird hiermit die Eigenart der Verse innerhalb der Paare und die der Vierzeiler innerhalb des Gedichts deutlich hervorgehoben, wogegen innerhalb der Vierzeiler die Verspaargrenze assimilierend, ausgleichend behandelt ist. Der Vergleich zweier innerer Senkungen, der im Anvers (An) und der am Ende des Abverses (Ab2), zeigt, daß beim Übergang von einer Zeile zur anderen der Wechsel zwischen Vor- und Nachsilbe (∼) und der unveränderte Status der Senkung (=) in einer diametral verschiedenen Weise 73 verteilt sind: I1 – I2 – II1 – II2 – III1 – III2 – IV1 –
I2 II1 II2 III1 III2 IV1 IV2
An Ab 2 74 = ∼ ∼ = = ∼ = ∼ = ∼ ∼ = = ∼
72 Zu »Der Sommer« (»Die Tage gehen vorbei mit sanffter Lüffte Rauschen, […]«) vgl. StA, Bd. 2/1, S. 301. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Zur Datierung vgl. a. a. O., Bd. 2/2, S. 920. [Anm. d. Komm.] 73 Das heißt, wo beim Übergang von einem zum darauffolgenden Vers die Besetzung der letzten Senkung des Anverses gleichbleibt, alterniert die der zweiten inneren Senkung des Abverses; und umgekehrt. Im Schema stehen damit in einer Zeile immer einmal = und einmal ∼, nie == oder ∼∼. [Anm. d. Komm.] 74 Emendation aus ›Ab‹. [Anm. d. Komm.]
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Die zweite innere Senkung des Abverses erweist sich als Nachsilbe im . ersten und im letzten Verse des ersten Vierzeilers (I1 wohnend . Leben , . II2 dunklen . Bilde ) und als Vorsilbe in dessen zweitem und zweitletztem Vers (I2 Zeit .. der Reben , II1 leer .. Gefilde ); ein ähnliches Spiegelbild erscheint im nächsten Vierzeiler: eine Vorsilbe tritt im ersten und letzten . . Verse auf (III1 Bild . der Zeiten , IV2 Blüth’ . umkränzet ), und eine . Nachsilbe im zweiten und zweitletzten Vers (III2 vorüber . gleiten , .. IV1 Höhe glänzet ). In jedem Halbvers ist diejenige innere Senkung, die sich seiner letzten Hebung anschließt (also An und Ab2) dadurch gekennzeichnet, daß in ihren Spielarten beide Vierzeiler einander folgerichtig entgegengesetzt sind: jeder Vorsilbe des einen entspricht eine Nachsilbe in dem anderen.75
Die erste innere Senkung des Abverses (Ab1), mit Ausnahme der Anfangszeile (s. oben),76 entfaltet in beiden Vierzeilern dasjenige Verteilungsschema der Vor- und Nachsilben, welches der inneren Senkung des Anverses, jedoch nur beim zweiten Vierzeiler, gleichfalls eigen ist.77 75 In den beiden folgenden Schemata ist jeweils die Besetzung der inneren Senkung im Anvers (erstes Schema) und die der zweiten inneren Senkung im Abvers (zweites Schema) in der ersten, zweiten, dritten und vierten Zeile beider Vierzeiler einander gegenübergestellt. Die vertikal verlaufenden Graphen zeichnen jeweils einen Punkt links, wenn es sich um eine Vorsilbe, und einen Punkt rechts, wenn es sich um eine Nachsilbe handelt. Daß jeweils gleichzahlige Zeilen im ersten und zweiten Vierzeiler verschieden besetzt sind, ist an der Achsensymmetrie der beiden vertikalen Graphen ablesbar. [Anm. d. Komm.] 76 Die Anfangszeile nehmen die Verfasser aus, weil sie ohnehin durch trochäisches Wortmaterial gekennzeichnet ist. [Anm. d. Komm.] 77 Dieses Schema ist wie die beiden vorausgegangenen gebaut; daß diesmal im ersten und zweiten Vierzeiler jeweils das gleiche Muster verwirklicht ist – mit Ausnahme des ersten Verses links oben –, ist an der parallelen Gestalt der beiden Graphen ablesbar. [Anm. d. Komm.]
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Somit hält die erste Senkung des Abverses eine Zwischenstellung 78 in Bezug auf die zwei übrigen inneren Senkungen.
III. Wortarten 1. Verben Die zehn Verben des Gedichts sind Präsentia der dritten Person und schließen sich alle zehn einer obligaten Grenze unmittelbar an: 79 fünf lehnen sich an die Versgrenze und fünf an die Halbversgrenze. Fünf gehören zum Anvers und fünf zum Abvers. Fünf Verben befinden sich in den ungeraden (I, III) und fünf in den geraden Verspaaren (II, IV). Sowohl die äußeren (I, IV) als auch die inneren Verspaare (II, III) enthalten je fünf Verben. Zwei Verben eröffnen und drei schließen einerseits die Anverse, andrerseits die Abverse.80 Im ersten Vierzeiler sind vier Verben, je eins pro Zeile, vertreten, im zweiten Vierzeiler gibt es sechs. Zwei schließende Verben der äußeren Verse des ersten Vierzeilers (I1 geht, II2 erscheint) stehen den zwei eröffnenden Verben seiner inneren Verse gegenüber (I2 erglänzt, II1 Ist). Je ein Verb enthalten alle Abverse des zweiten Vierzeilers und außerdem beide Anverse seiner inneren Zeilen. 78 Indem sie mal ebenso besetzt ist wie die innere Senkung des Anverses, mal ebenso wie die innere Senkung des Abverses. Da nur zwei Besetzungen unterschieden werden, ist das nach dem eben gesagten freilich gar nicht mehr anders möglich: Wenn die Besetzung in An stets von der in Ab2 verschieden ist, muß Ab1 stets genau einer der beiden entsprechen. Der Hinweis auf die Zwischenstellung nach dem dritten Schema gilt also demselben Muster, auf das soeben bereits in den ersten beiden Schemata hingewiesen wurde, und nicht einer neuen Regelmäßigkeit. [Anm. d. Komm.] 79 Als ›obligate‹ Grenze zählen dabei Versanfänge und -enden sowie die obligatorische Pause in der Mitte (dazu vgl. o., S. 154, Anm. 57). Als Anschluß gilt den Verfassern sowohl das Auftreten direkt vor als auch nach einer solchen Grenze. [Anm. d. Komm.] 80 Die Verfasser unterscheiden hier nicht zwischen Vollverben, Hilfsverben oder reiner *Kopula; »Ist« in II1 und IV1 gilt ihnen jeweils wie die Vollverben »geht«, »erscheint« usw. [Anm. d. Komm.]
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Der zweite Vierzeiler unterscheidet sich nicht nur durch die höhere Anzahl der Verben in seinen inneren Versen, sondern auch durch die einzigen zwei *transitiven Verben in seinen äußeren Versen (III1 ergänzt das Bild, IV2 Bäume 〈…〉 umkränzet), die er neben den vier *intransitiven Verben jedes Vierzeilers zusätzlich hat. Die folgende Tabelle erläutert die Verteilung der Verben im Gedicht:
Hölderlin, der die Wortinversion für die dichterische Periode hoch einschätzte,81 reiht die Verben in wirksame, übereinstimmend gebaute Aufeinanderfolgen ein. Solche Folgen kommen vor allem durch *asyndetische Beiordnung gleichrangiger Elementarsätze 82 zustande. Der innere und zwischenstrophische Parallelismus 83 der beiden vierzeiligen Satzgefüge, mit deren Divergenzen verflochten, macht die dramatische Spannung des gesamten Gedichtes aus. Die zwei *parataktischen Nebensätze des ersten Verspaares sind durch die zwei gleichfalls parataktischen Hauptsätze des zweiten Verspaares beantwortet. Die grundsätzlich ähnliche Beziehung zwischen den beiden Hälften des letzten Vierzeilers wird verwickelter durch den Zerfall dieser Verspaare in dreisätzige Folgen. Gleich den zwei Zeilen des ersten Verspaares sind beide Zeilen des dritten Verspaares syntaktisch beigeordnet, aber der zweite Vers des letzten Paars teilt sich wiederum in zwei – und zwar stofflich adversative – Sätze 81 StA, Bd. 4/1, S. 233. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Die Verfasser beziehen sich auf folgende Passage: »Man hat *Inversionen der Worte in der Periode. Größer und wirksamer muß aber dann auch die Inversion der Perioden selbst seyn. Die logische Stellung der Perioden, wo dem Grunde (der Grundperiode) das Werden, dem Werden das Ziel, dem Ziele der Zwek folgt, und die Nebensäze immer nur hinten an gehängt sind an die Hauptsäze worauf sie sich zunächst beziehen, – ist dem Dichter gewiß nur höchst selten brauchbar.« [Anm. d. Komm.] 82 Einfachste Form eines grammatisch vollständigen Satzes (Subjekt mit Prädikat), die nicht mehr in weitere Teilsätze zerlegt werden kann. [Anm. d. Komm.] 83 Damit ist nicht allein der Parallelismus im strengen Sinne der rhetorischen *Figur dieses Namens gemeint, sondern jede Wiederholung äquivalenter Folgen; vgl. die Einführung des Begriffs in »Linguistics and Poetics«, ab S. 39, und die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 154–216, ab S. 188. [Anm. d. Komm.]
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(III2 Daß die verweilt, sie schnell vorübergleiten). Gleich dem zweiten Verspaar des Gedichtes steht sein viertes Verspaar in einem syntaktisch unterordnenden Verhältnis zum vorangehenden Verspaar, doch zum Unterschied vom zweiten Verspaar ist das vierte Paar in Übereinstimmung mit dem dritten Paar in drei Sätze geteilt. Ein anschauliches Beispiel von *Spiegelsymmetrie 84 entsteht zwischen den beiden Hälften des letzten Vierzeilers: je ein Verb in dessen inneren Abversen 85 (III2 und IV1) und je eins (das einzige transitive) in seinen äußeren Versen, wobei der erste und der letzte Abvers des Vierzeilers durch diese beinahe gleichklingenden Verben eröffnet bzw. geschlossen werden und das *direkte Objekt dem ersten Verb folgt und dem zweiten vorangeht (III1 ergänzt das Bild – IV2 Bäume 〈…〉 umkränzet ). Der Übergang vom letzten satzbildenden Halbvers des ersten Verspaars zum ersten, gleichfalls satzbildenden Halbvers des folgenden Paars ist durch die nebenbetonten 86 Hebungen am Schlusse dieser beiden Halbverse ausgezeichnet (III2 vorübergleiten – IV1 Vollkommenheit ), wogegen in den vierzehn übrigen Halbversen des Gedichts die letzte Hebung mit der *Hauptbetonung der Wörter zusammenfällt.87 Jedes Verspaar des letzten Vierzeilers besteht aus drei Sätzen, deren einer zwei Halbverse füllt, während die zwei anderen Sätze je einen Halbvers besetzen. Aber die Verteilung der drei Sätze ist in den beiden Verspaaren verschieden: im dritten Verspaar geht der lange, aus einem Anvers und einem Abvers bestehende Satz den zwei kurzen Sätzen voran; beim langen Satz des vierten Verspaars dagegen folgt der Anvers auf den Abvers, und die kurzen Sätze umringen den langen. Dieser Unterschied zwischen den zwei Folgen – Anvers /Abvers und Abvers /Anvers – darf als Ausdruck der Spiegelsymmetrie 88 aufgefaßt werden. Die syntaktische Ei84 Vgl. u., Anm. 88. In diesem Fall handelt es sich um eine eigentliche Spiegelsymmetrie nach der Anzahl der Verben in den Versen des zweiten Vierzeilers: 2/1 : 1/2. [Anm. d. Komm.] 85 Statt »inneren Versen«, in denen sich zwei Verben finden: korrigiert gegenüber den früheren Publikationen durch Grete Lübbe-Grothues. [Anm. d. Komm.] 86 In den Wörtern »vorübergleiten« bzw. »Vollkommenheit« liegen auf der zweiten bzw. der vierten Silbe jeweils nur Nebenbetonungen, da der Hauptakzent auf der vierten bzw. zweiten Silbe liegt. Vgl. z. B. Wagenknecht, Deutsche Metrik, S. 31. [Anm. d. Komm.] 87 Zumal kein anderes Wort in diesem Gedicht Nebenbetonungen hat, auf die Hebungen entfallen könnten. [Anm. d. Komm.] 88 Als ›Spiegelsymmetrie‹ wird hier die ›reflexive symmetry‹ bezeichnet, die in Jakobsons Unterteilung der Symmetrie (vgl. am Beispiel der Verteilungen schwerer und leichter Silben in »The Modular Design of Chinese Regulated Verse«, bes.
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gentümlichkeit 89 kommt zustande durch einen Rückgang vom Hauptsatz zu einem Komparativsatz als dem schließenden Abvers der »Aussicht« (IV2 wie Bäume Blüth’ umkränzet ). Vor dem ebenmäßigen Hintergrund völliger Übereinstimmung treten mit besonderer Deutlichkeit die Abwandlungen hervor, z. B. die dynamische Erhöhung der Verbenzahl von vier auf sechs im zweiten Vierzeiler im Vergleich mit dem ersten oder ein ähnliches Übergewicht der sechs schließenden über die vier öffnenden Verben. Ein besonderer Sprung ist der Anstieg der Verbenzahl von eins auf vier in den Abversen der beiden Vierzeiler. Diese steigenden Linien deuten die Entwicklung des dichterischen Themas an. Die drei Endzeilen – mit ihren Neuerungen im Lautbestand, in der Länge der Wörter und im grammatischen Gehalt der Nomina (s. unten S. 181) – werden durch die Ansammlung der Verben im Versschlusse gekennzeichnet, und diese *Paroxytona, gegenüber den vorigen allesamt *oxytonen Verbformen 90 (vgl. bes. I2 erglänzt und IV1 glänzet ), bemächtigen sich der Reime (s. Schema S. 163). S. 219 f.) in vier Klassen (eigentliche Symmetrie: abb – abb, Spiegelsymmetrie: abb – bba, eigentliche *Antisymmetrie: abb – baa, Spiegelantisymmetrie: abb – aab) in Anlehnung an Sˇubnikov definiert (vgl. Sˇubnikov, Simmetrija i antisimmetrija). In der Anwendung dieser Analysekategorie in Jakobson, »Stichotvornye proricanija Aleksandra Bloka«, S. 548, und der deutschen Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 452–491, hier: S. 461 werden diese Begriffe auf verschiedenste, auch skalare statt nur *binäre Unterscheidungen angewendet. In diesem Fall ist offenbar allein die Form des jeweils längeren, zwei Halbverse umfassenden Satzes gemeint, der in III1 aus An- und Abvers und in IV1, 2 aus Ab- und Anvers besteht, also AnAb – AbAn. [Anm. d. Komm.] 89 Auch hier ist wohl nicht eine vage Eigentümlichkeit, sondern wie zuvor mit ›Eigenart‹ das Vorliegen eines formalen *Merkmals gemeint, das an keiner zweiten Stelle wiederholt oder variiert wird und diesem Halbvers daher gegenüber den das Gedicht insgesamt durchziehenden Strukturen Eigenständigkeit verleiht. Damit wird die nun folgende Liste der den ›ebenmäßigen Hintergrund‹ variierenden ›Abwandlungen‹ bereits begonnen. [Anm. d. Komm.] 90 Die Unterscheidung zwischen Oxytona und Paroxytona kann als komplementär zur bereits zuvor eingeführten Teilung des Wortmaterials in ›trochäische‹ und ›jambische‹ Wörter gelesen werden, für die jedoch auf die Anfangs- statt auf die Schlußsilben eines Wortes geachtet werden muß; die beiden Aufteilungen ergäben dann jeweils verschiedene Klassen von Wörtern. Freilich können oxytonische und paroxytonische Wörter beliebig viele Silben enthalten; ob das auch für die nach Jakobson als ›trochäisch‹ und ›jambisch‹ bezeichneten Wörter gilt oder diese vielmehr nur zweisilbig sein dürften, ist eine offene Frage. Man beachte immerhin, daß Jakobson anderswo Dreisilber der Form v-v nicht etwa als jambisch, sondern als *amphibrachisch führt, vgl. Jakobson, »Stichi Pusˇkina o deve-statue, o vakchanke i o smirennice«, S. 359 f., in dieser Ausgabe: Bd. 2, S. 84 f. [Anm. d. Komm.]
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Jedes von den geraden Verspaaren beginnt mit einem Verb des Seins und füllt damit die Vorschlagsilbe 91 der zwei Anfangszeilen aus (II1 und IV1 Ist). Die acht übrigen sich dem Einschnitt und dem Versende anschließenden Verben vom ersten Anvers bis zum letzten Abvers bilden ein wunderliches Geflecht von mannigfaltigen morphologischen und *paronomastischen Zusammenhängen, die die Triebkraft der »Aussicht« aufdecken in Übereinstimmung mit des Dichters Begriffsbestimmung des Lyrischen: »Es ist eine fortgehende *Metapher Eines Gefühls« (»Über den Unterschied der Dichtarten«).92 »In lyrischen Gedichten fallt der Nachdruk auf 〈…〉 das Verweilen« 93 und demgemäß heißt es III1 die Natur – die in der »Aussicht« als eine Äußerung der Vollkommenheit aufgefaßt wird (IV1 Ist aus Vollkommenheit) – III2 verweilt im Gegensatz zu den schnell vorübergleitenden Jahreszeiten und zum in die Ferne schwindenden menschlichen Leben. Es ist hier an Hölderlins Lehre zu erinnern: »Ist die Bedeutung ein eigentlicherer Zwek, so ist der Ausdruk sinnlich, die freie Behandlung metaphorisch« (»Über die Verfahrungsweise des poe¨tischen Geistes«).94 Die »äußerste Spannung« des doppelten »Widerstreits«,95 den »Die Aussicht« 91 Die unbetonte Silbe zu Beginn eines jambischen Verses, bisweilen auch *›Auftakt‹ (vgl. russ. ›anakrusis‹) genannt. Man beachte die besondere metrische *Lizenz, die an dieser Stelle im Deutschen oft greift und die daher die spezifische Bezeichnung dieser metrischen Stelle sinnvoll macht (obwohl sie in dem hier besprochenen Achtzeiler nicht ausgenützt wird): Vgl. Wagenknecht, Deutsche Metrik, S. 64 u. 111. [Anm. d. Komm.] 92 Vgl. dazu den poetologischen Entwurf, den Beißner unter dem Titel »Über den Unterschied der Dichtarten« ediert hat, StA, Bd. 4/1, S. 266–272. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Der Text beginnt mit den Worten: »Das lyrische, dem Schein nach idealische Gedicht ist in seiner Bedeutung naiv. Es ist eine fortgehende Metapher Eines Gefühls.« A. a. O., S. 266. Alle von den Verfassern behandelten poetologischen Entwürfe Hölderlins sind um die Jahrhundertwende 1799/1800 in Bad Homburg entstanden. Vgl. Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Michael Knaupp, Bd. 3, S. 849. [Anm. d. Komm.] 93 Vgl. dazu den poetologischen Entwurf »Über den Unterschied der Dichtarten«, StA, Bd. 4/1, S. 266–272. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Das Zitat lautet vollständig: »In lyrischen Gedichten fällt der Nachdruk auf die unmittelbarere Empfindungssprache, auf das Innigste, das Verweilen, die Haltung auf das Heroische, die Richtung auf das Idealische hin.« A. a. O., S. 267. [Anm. d. Komm.] 94 Vgl. dazu den Entwurf des poetologischen Aufsatzes, den Beißner unter dem Titel »Über die Verfahrungsweise des poe¨tischen Geistes« ediert hat, a. a. O., Bd. 4/1, S. 241–265, hier: S. 244. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] 95 Vgl. dazu den Aufsatzentwurf »Über den Unterschied der Dichtarten«, a. a. O., Bd. 4/1, S. 266–272. »Von diesem [dem idealen Anfang] gehet sie [die Trennung] fort bis dahin, wo die Theile in ihrer äußersten Spannung sind, wo diese sich am
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darstellt, findet ihren konkreten sprachlichen Ausdruck einerseits in der »Zusammenstellung« der zwei mit ver- und vor- beginnenden Verben derselben Zeile – III2 verweilt und vorübergleiten –, die neben dem Gegensatz ihrer Numeri eine auffallende Lautmetathese in ihren Wurzeln an den Tag legen (-eilt -leit-). Andererseits äußert sich der semantische Übergang von Trennung zur Einheit im Verschmelzen der einst gesonderten Bruchstücke zu einer festen *Worteinheit: I1 in die Ferne (fer-) -geht (t) – III2 verweilt (fer…t) . Die durch ihre Präfixe verwandten und an den Einschnitt sich lehnenden Verben I2 erglänzt und II2 erscheint sind in eine Art von *Oxymoron eingewebt: eine Widerspruchspannung verbindet das Erglänzen mit dem auslöschenden Effekt der räumlichen und zeitlichen Ferne, und der »Schein« als die innere Form des Verbs im Anvers II2 Der Wald erscheint stößt zusammen mit dem zielbewußt dissonierenden dunklen Bilde des Abverses. Der enge Zusammenhang desselben Verbs mit Licht kommt zum Vorschein in dem Achtzeiler »Der Winter« (Das Feld ist kahl), welcher in seinem übrigen lexikalen Bildwerk der »Aussicht« nahesteht: I1 glänzet 2 Der blaue Himmel nur 〈…〉 II1 Erscheinet die Natur 〈…〉 2 von Helle nur umkränzet. III2 〈…〉 in heller Nacht umgeben Wenn hoch erscheint von Sternen das Gewimmel, .96 Der Lautbestand der Form I2 erglänzt, d. h. des ersten Verbs in den Abversen der »Aussicht«, findet eine bedeutsame paronomastische Fortsetzung in allen weiteren Verben der Abverse und manchen angrenzenden Satzgliedern. Der unausbleiblich begleitende Umstand des in Entfernung verlorengehenden Glanzes, II1 leer Gefilde, entspricht dem Lautgewebe der oberen Zeile I2 die Ferne 〈…〉 erglänzt. Das dunkle Bild des Vergänglichen, das als Schluß des ersten Vierzeilers auftritt, wird in der folgenden Strophe aufgehoben und im Sinne der philosophierenden Worte des Dichters durch »die Vergegenwärtigung des Unendlichen« 97 ersetzt: III1 die Natur ergänzt das Bild der Zeiten. ›Ergänzen‹ bedeutet hier, dem stärksten widerstreben. Von diesem Widerstreit gehet sie wieder in sich selbst zurük, nemlich dahin, wo die Theile, wenigstens die ursprünglich innigsten, in ihrer Besonderheit, als diese Theile, in dieser Stelle des Ganzen sich aufheben, und eine neue Einigkeit entsteht. Der Übergang von der ersten zur zweiten ist wohl eben jene höchste Spannung des Widerstreits.« A. a. O., S. 269. [Anm. d. Komm.] 96 Vgl. dazu »Der Winter«, a. a. O., Bd. 2/1, S. 296, sowie Thürmer, Zur poetischen Verfahrensweise in der spätesten Lyrik Hölderlins, S. 54 f. 97 Vgl. dazu den Aufsatzentwurf »Über die Verfahrungsweise des poe¨tischen Geistes«, StA, Bd. 4/1, S. 241–265. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Das Zitat lautet vollständig: »Dieser Sinn ist eigentlich poe¨tischer Karakter, weder Genie noch Kunst, poe¨tische Individualität, und dieser allein ist die Identität der Begeisterung, ihr die Vollen-
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Sinn der Wurzel entsprechend, in ein Ganzes verwandeln, eine Einheit hervorbringen. Im Parallelismus der Gefüge – I2 erglänzt die Zeit der Reben und III1 ergänzt das Bild der Zeiten – mit ihren beinahe gleichlautenden Verben wird die Zeit vom grammatischen Subjekt zum Genitiv-Attribut des Objektes herabgesetzt: das Bild der Zeiten. Und wenn die letzteren III2 vorübergleiten, wiederholen die Konsonanten dieses Verbes (rgl.t.n) die des lautlich ähnlichen I2 erglänzt (rgl.n.t). Außerdem teilen die Verben I2 erglänzt und III1 ergänzt ihren Konsonantismus mit den Substantiven derselben Zeilen I2 Zeit und besonders III1 Zeiten. Im letzten Vierzeiler erhält das Ende des ersten Verses III1 Zeiten einen Widerhall im Auslaut (-nzet) des »Die Aussicht« schließenden Reimes IV1 glänzet – 2 umkränzet. Die verbale Kette und ihr paronomastischer Zierat enden mit diesem Reim. Das Verb der zweitersten Zeile (I2 erglänzt) kehrt präfixlos zurück am Schluß des zweitletzten Verses (IV1 glänzet). Der glanzevozierende Stamm dieser beiden Zeitwörter umkränzt das gesamte Gedicht in einer engen Übereinstimmung mit einem der bedeutsamsten aus Hölderlins Homburger Aufsätzen – »Das Werden im Vergehen« –, wonach »der sichere unaufhaltsame kühne Act« darin besteht, daß »jeder Punct in seiner Auflösung und Herstellung mit dem Totalgefühl der Auflösung und Herstellung unendlich verflochtner ist, und alles sich 〈…〉 unendlicher durchdringt, berühret, und angeht und so ein himmlisches Feuer 〈des Himmels Höhe glänzet〉 statt irrdischem 〈erglänzt die Zeit der Reben〉 wirkt«.98 Wie mehrmals betont wurde, liegt in Hölderlins theoretischem Nachlaß der Kern »seiner Dichtungslehre, welcher der Stil als Ausdrucksmittel folgt«.99 dung des Genie und der Kunst, die Vergegenwärtigung des Unendlichen, der göttliche Moment gegeben.« A. a. O., S. 251. [Anm. d. Komm.] 98 Vgl. dazu den Entwurf des poetologischen Aufsatzes, den Beißner unter dem Titel »Das Werden im Vergehen« ediert hat, a. a. O., Bd. 4/1, S. 282–287. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – »Also in der Erinnerung der Auflösung wird diese, weil ihre beeden Enden vest stehen, ganz der sichere unaufhaltsame kühne Act, der sie eigentlich ist. Aber diese idealische Auflösung unterscheidet sich auch dadurch von der wirklichen, auch wieder, weil sie aus dem Unendlichgegenwärtigen zum Endlichvergangenen geht, daß […] 3) jeder Punct in seiner Auflösung und Herstellung mit dem Totalgefühl der Auflösung und Herstellung unendlich verflochtner ist, und alles sich in Schmerz und Freude, in Streit und Frieden, in Bewegung und Ruhe, und Gestalt und Ungestalt unendlicher durchdringt, berühret, und angeht und so ein himmlisches Feuer statt irrdischem wirkt.« A. a. O., S. 284. [Anm. d. Komm.] 99 S. bes. Pellegrini, Friedrich Hölderlin, S. 326 f. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Pellegrini weist in seinem Forschungsbericht unter der Überschrift »Die Stil-Kritik« auf eine »idealistische Auslegung« der »grundlegenden Gedanken Hölderlins« hin, nach der
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2. Substantive Von den beiden Vierzeilern enthält jeder elf Substantive, und zwar gibt es im ersten zehn Nomina und ein *substantivisches Pronomen (I2 sich) 100 und im letzten Vierzeiler neun Nomina und zwei substantivische Pronomina (III2 die und sie). Von den 22 Substantiven fallen 17 auf den Singular und von den drei Genera ist das Femininum durch eine absolute Mehrheit vertreten, nämlich zwölf Einzelfälle gegen sechs Maskulina und vier Neutra. Der Anfangsvers exponiert alle drei Genera (F + M + N): I1 Wenn in die Ferne geht der Menschen wohnend Leben. In I2 gibt es kein anderes *Genus als das viermal bezeugte Femininum, falls man das auf die Zeit verweisende reflexive Pronomen sich hinzurechnet. Das Femininum verschwindet im zweiten Verspaar und wird durch die zwei übrigen Genera ersetzt (je zwei Maskulina und Neutra). Die sieben Feminina des letzten Vierzeilers stoßen im dritten Verspaar auf ein vereinzeltes Neutrum und im vierten auf drei Maskulina. Somit ist jedes Genus in drei Versetwa beschrieben werde, »wie sich die Welt des Dichters als einheitliche Schau der Wirklichkeit ausprägt, als Teilhabe von Geist und Materie, von Form und Inhalt am dichterischen Ausdruck […]«, und wendet dann dagegen ein: »Eine gründliche Untersuchung würde allerdings nach unserer Meinung genauere Hinweise auf Kants ebenso wie besonders auf Hegels Ästhetik erfordern […]«, und empfiehlt demgegenüber eine Prüfung der poetologischen Fragmente: »In den beiden Fragmenten Hölderlins ›Das Werden im Vergehen‹ und ›Über die Verfahrungsweise des poetischen Geistes‹ liegt der Kern nicht nur seiner Gedankenwelt und seiner Ästhetik, sondern ebenso seiner Dichtungslehre, welcher der Stil als Ausdruckmittel folgt.« (Ebd.) [Anm. d. Komm.] 100 Die Verfasser verwenden hier ›Nomina‹ offenbar als Bezeichnung einer Unterklasse von ›Substantive‹, so daß letztere auch Pronomina einschließen; dies verhält sich gerade umgekehrt zum üblichen Gebrauch der Terminologie in der deutschsprachigen Linguistik (vgl. Bußmann, Sprachwissenschaft, S. 349 u. 517 f.). Näher liegt der Sprachgebrauch der Verfasser angesichts der Ausführungen ihres Gewährsmanns für die deutschsprachige Linguistik Lewandowski (vgl. u., S. 226, Anm. 310), der zunächst »Nomina oder Substantive« für die traditionelle Grammatik nahezu als Synonyma einführt und dann für die Unterteilung nach der Flexion fortfährt: »Formal ergeben sich flektierte W[ortarten] (Verb, Substantiv, Adjektiv, Pronomen, Numerale), wobei ersichtlich ist, daß die spezielle Aussonderung der Pronomina und Numeralia allein nach semantischen Kriterien vorgenommen ist […].« (Lewandowski, Linguistisches Wörterbuch, Bd. 1, S. 1250.) Man beachte allerdings, daß diese Hinzunahme der Pronomina zu den Substantiven – die die Verfasser im folgenden Satz selbst als optional kennzeichnen: »falls man das auf die Zeit verweisende reflexive Pronomen sich hinzurechnet« – außer für die Gleichzahl der Substantive in beiden Vierzeilern für keine der folgenden Beobachtungen entscheidend ist, insbesondere die Verteilung der Genera auf die Verse, Verspaare und Strophen bleibt davon unberührt. [Anm. d. Komm.]
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paaren vorhanden: Femininum in I, III, IV, Maskulinum in I, II, IV, Neutrum in I, II, III. Den beiden Verspaaren des ersten Vierzeilers sind bloß Maskulinum und Neutrum gemeinsam, wogegen den beiden Verspaaren des zweiten Vierzeilers einzig das Femininum gemeinsam ist. Der Nominativ, im Gedichte der gewichtigste und häufigste, neunmal bezeugte grammatische Kasus, ist im Plural nur durch das auf III1 Zeiten verweisende Pronomen III2 sie vertreten, – in der einzigen Zeile, die keine Nomina enthält und aus zwei vollen Sätzen besteht, deren jeder mit einem *anaphorischen 101 pronominalen Subjekt versorgt ist, und diese beiden Sätze sind in *Numerus und sachlichem Bestand einander entgegengesetzt. Die fünf Nominative des zweiten Vierzeilers, beginnend mit seinem eigenen Grundthema – III1 die Natur –, gehören ausnahmslos zum femininen Geschlecht, wogegen unter den Nominativen des ersten Vierzeilers nur ein einziges Femininum, I2 die Zeit, zutage tritt. Die augenscheinliche semantische Ladung dieses grammatischen *Kontrastes zwischen den beiden Teilen des Achtzeilers soll später besprochen werden. Die fünf Genitive des Gedichts, alle adnominal, erscheinen in beiden Zeilen des ersten und je einmal in den übrigen Verspaaren. Die fünf Verbindungen dieser Genitive mit den übergeordneten Wörtern im Nominativ oder (III1) Akkusativ erfassen zehn, d. h. über die Hälfte der im Gedicht auftretenden 19 Nomina. Ihrer Lage im Texte nach entfalten die fünf Verbindungen streng symmetrische Verhältnisse. Alle fünf sind den Abversen zugeteilt, und der Genitiv schließt sich unmittelbar an eine Abversgrenze. Entweder hält der Genitiv eine Anfangsstellung vor dem übergeordneten Nomen oder im Gegenteil eine Endstellung, und das übergeordnete Wort geht ihm dabei voran. Diese zwei Spielarten alternieren vollkommen regelmäßig: I1 der Menschen wohnend Leben – I2 die Zeit der Reben, – II1 des Sommers leer Gefilde, – III1 das Bild der Zeiten, IV1 des Himmels Höhe. Der Genitiv mit seinem Artikel bildet stets einen paroxytonen Dreisilbler. Der Genitiv ist entweder feminin oder maskulin, das übergeordnete Wort feminin oder neutral. Der Genitiv ist maskulin in Anfangsstellung (I1, II1 und IV1), feminin in Endstellung (I2 und III1). In den ungeraden Verspaaren (I1, 2 und III) gehört er dem Plural und in den geraden dem Singular zu. 101 Anaphorisch: Anaphorische Proformen verweisen auf im Text vorausliegende, kataphorische auf im Text folgende Substantive. Vgl. Lewandowski, Linguistisches Wörterbuch, Bd. 1, S. 65, sowie Bühler, Sprachtheorie, S. 385–387. [Anm. d. Komm.]
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Pl.
I1
M F
2
Sg.
II1
Pl.
III1
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M
2
F
2
Sg.
IV1
M
2
Die dem Genitiv übergeordneten Nomina stehen konsequent im Singular, und was deren Genus betrifft, alternieren – separat in jedem Vierzeiler – das Neutrum und das Femininum: im ersten Vierzeiler I1 Leben – I2 Zeit – II1 Gefilde und im zweiten III1 Bild – IV1 Höhe. Somit entsprechen im ersten Vierzeiler das übergeordnete und das untergeordnete Nomen einander im Genus – einerseits die zwei Feminina, andererseits die zwei Non-Feminina (Neutrum und Maskulinum), wogegen im zweiten Vierzeiler die Genera der übergeordneten und untergeordneten Nomina zwei gegensätzliche Richtungen des Kontrasts Femininum gegen NonFemininum offenbaren. I1 2
II1 III1 IV1
überN F N
/ / / /
untergeordnet M F M
N/F F/M
Der Akkusativ und der Dativ kommen im Gedicht je viermal vor, je zweimal in jedem Vierzeiler, und beide sind je zweimal mit und ohne Präposition gebraucht. Die Anfangszeile des ersten Verspaars (I1) enthält einen Akkusativ und die des Endpaars (IV1) einen Dativ. Die zweite Zeile derselben Verspaare übernimmt denselben Kasus und gliedert ihn dann den andern an: so folgt der Dativ dem Akkusativ in I2 und der Akkusativ dem Dativ in IV2. Dem ersten Verspaar folgt und dem letzten geht voran ein einziger Vers des betreffenden Vierzeilers (II1 und III2), welcher weder den Akkusativ noch den Dativ besitzt. Von den zwei übrigen Zwischenzeilen hat der Endvers des ersten Vierzeilers (II2) einen Dativ und der Anfangsvers des zweiten Vierzeilers (III1) einen Akkusativ, so daß diejenigen vier Verse, welche einen einzigen von den zwei Kasus enthalten, parallel alternieren: I1 Akk. – II2 Dat. – III1 Akk. – IV1 Dat.
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I1 2
II1 2
III1 2
IV1 2
A A D – D A – D D A
Der zweimalige Akkusativ als direkter Objektkasus, von transitiven Verben regiert, ist einzig dem zweiten Vierzeiler eigen, wo er mit einem singularen femininen Subjekt und einem abweichenden Genus des Objekts auftaucht – III1 die Natur ergänzt das Bild der Zeiten IV2 Bäume Blüth’ umkränzet – im auffallenden Gegensatz zur gleichfalls zweimaligen, aber *präpositionalen Konstruktion eines Akkusativs mit einem intransitiven Verb. »Die Aussicht« benutzt zwei Fügungen mit dem *freien Dativ, eine von Hölderlins Lieblingswendungen 102 – einmal im letzten Verspaar IV1 des Himmels Höhe glänzet 2 den Menschen und auch schon im ersten Verspaar, I2 sich erglänzt die Zeit der Reben, , ein pronominales Gegenstück zum nominalen Dativ. Die beiden Sätze weisen gegeneinander einen spiegelsymmetrischen 103 Satzbau auf: am Ende – adnominaler Genitiv, Nominativ, Verb, nominaler Dativ, und am Anfang – pronominaler Dativ, Verb, Nominativ, adnominaler Genitiv, wobei das Verb abgesehen vom Präfix in beiden Fällen gleich ist und entweder durch den Einschnitt oder durch die Versgrenze vom betreffenden Dativ getrennt wird: I2 sich erglänzt – IV1 glänzet Den Menschen. Es ist zu vermerken, daß in beiden Fällen der freie Dativ einem Anvers und das Verb einem Abvers angehört. Im ersten Vierzeiler folgt der präpositionale Dativ dem freien nach, der zweite Vierzeiler weist eine umgekehrte Ordnung auf. Kurz: im ersten Vierzeiler steht der freie Dativ am nächsten zum Anfang und im zweiten am nächsten zum Ende. Die Schlußzeile unterscheidet sich in einigen Hinsichten 104 vom ganzen übrigen Text. In ihren beiden Halbversen besitzt sie Nomina, die unmittelbar von Verben abhängen: IV2 Dat. Den Menschen und Akk. Bäume. Unter den adverbalen Nomina sind es die einzigen pluralen und die einzigen maskulinen Formen. 102 Pir’jan, »Datel’nyj padezˇ i ego stilisticˇeskoe ispol’zovanie v nemeckom jazyke«, S. 78. 103 Vgl. o., S. 164, Anm. 88. [Anm. d. Komm.] 104 Vgl. dazu bereits o., S. 164 f., sowie dort, Anm. 88. [Anm. d. Komm.]
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3. Determinative Wörter Alle fünf adjektivischen Formen 105 befinden sich im Innern der Abverse. Im ersten Vierzeiler handelt es sich um Bestimmungen der Nomina bei den echten Eigenschaftswörtern, beim Possessiv und beim Partizip (I1 wohnend Leben , II1 leer Gefilde , II2 seinem dunklen Bilde ). Der ausgeprägten Verbalität, die den zweiten Vierzeiler kennzeichnet, entspricht der Übergang zum adverbalen Gebrauch des Adjektivs (III2 schnell vorübergleiten). Der unbestimmte Artikel ein fehlt im Gedicht, wogegen der bestimmte Artikel zwölfmal vorkommt. Es entsteht dabei eine Neigung zur massenhaften Alliteration des anlautenden d, und indem noch sechs Wörter wie II1 dabei, 2 dunklen, III1 daß usw. hinzukommen, ergibt sich eine durchdringende Reihe von 18 derartigen Anlauten, je neun in jedem Vierzeiler: I
d d d d II d d d d – d d
d d d d d d d – d –
IV. Wortwiederholungen und geleitende Entsprechungen 106 1. Einschränkungen Das Wiederkommen gleicher Wörter spielt eine bedeutsame Rolle im Bau des Gedichtes. Es gibt Wortwiederholungen weder innerhalb einer Zeile noch zwischen den Verspaaren desselben Vierzeilers. Außer den bestimmten Artikeln darf ein Wort höchstens einmal wieder aufgenommen werden. Zwischen den Zeilen eines Verspaars sind Wortwiederholungen nur dann zugelassen, wenn es sich um ungerade Verspaare handelt; das wiederholte Wort bleibt dabei unverändert (I1, 2 in die Ferne). Diejenigen Substantive und Verben hingegen, die im anderen Vierzeiler 105 Die Verfasser zählen hierunter einerseits auch das Possessivpronomen ›seinem‹ sowie das attributiv gebrauchte Partizip ›wohnend‹ und andererseits sogar das Adverb ›schnell‹. [Anm. d. Komm.] 106 Gemeint sind wohl Wortwiederholungen und die Entsprechungen, die diese Wiederholungen begleiten. Vgl. aber auch u., S. 221, Anm. 283. [Anm. d. Komm.]
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wiederholt werden, unterliegen dabei Modifikationen in ihrer *grammatischen Form und Bedeutung (I1 der Menschen – IV2 den Menschen, I2 die Zeit – III1 der Zeiten, II2 Dat. Bilde – III1 Akk. das Bild, I2 erglänzt – IV1 glänzet, II1 Ist 〈…〉 dabei – IV1 Ist).
2. Von Vers zu Vers: die Ferne Die beiden Anfangszeilen der »Aussicht« sind durch die Repetition des Wortgefüges in die Ferne im Anvers und des Gen. Plur. der im Abvers eng aneinandergeschlossen und durch den parallelistischen Ansatz – III1,2 Daß – des letzten Vierzeilers als der erste Teil eines zweistrophigen Gebildes vorgeführt. Der Leitvers I1 Wenn in die Ferne geht der Menschen wohnend Leben ist offenbar Widerhall eines früheren Werkes des erkrankten Hölderlin, welches sonderbarerweise »als Rollengedicht aus Diotimens Munde spricht« 107: 1 Wenn aus der Ferne, da wir geschieden sind 〈…〉 2 die Vergangenheit 〈…〉 4 Einiges Gute bezeichnen dir kann 〈…〉 9 Das muß ich sagen, einiges Gute war 10 In deinen Bliken, als in den Fernen du 11 Dich einmal fröhlich umgesehen 12 Immer verschlossener Mensch, mit finstrem Aussehn. »Die Aussicht« verflicht von Anfang an das Thema der Ferne mit dem Bilde des sich entfernenden, vergehenden Menschen und der vorübergleitenden, verfließenden Zeiten (Lebens-, Jahres- und Tageszeiten). Das Diotima zugeordnete Gedicht fährt fort: 13 Aussehn. Wie flossen Stunden dahin, 〈…〉 19 so ergeht es mir auch 20 Daß ich Vergangenes alles sage. 21 Wars Frühling? war es Sommer? Im Nachlaß aus Hölderlins letzten Lebensjahren ist das ehemals bevorzugte alkäische Versmaß durch jambische Paarreime ersetzt, und die Pronomina der ersten und zweiten Person sowie die Verbformen der Vergangenheit sind zugunsten einer abstrakteren, distanzierenden, auf Abstand bedachten Aussageweise zurückgenommen. Doch der semantische und phraseologische Bestand des der Diotima zugesprochenen Gedichts wird in den letzten, dem fiktiven Scardanelli zugeschriebenen Entwürfen weiter entwickelt und verdichtet, wie es besonders »Die Aussicht« 107 Zu »Wenn aus der Ferne […]« vgl. StA, Bd. 2/1, S. 262 f., sowie a. a. O., Bd. 2/2, S. 897 f. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Beißner kommentiert: »Das Besondre und Sonderbare an dieser Ode ist, daß sie, was keine der Diotima-Oden aus der Frankfurter und Homburger Zeit tut, als Rollengedicht aus Diotimens Munde spricht.« A. a. O., Bd. 2/2, S. 898. Beißner gibt keinen Hinweis auf eine mögliche Datierung. Jochen Schmidt datiert diese Ode auf »1806/1811«. Vgl. Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Jochen Schmidt, Bd. 1, S. 1129. [Anm. d. Komm.]
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zeigt. Ihr steht »Der Sommer« (Die Tage gehn vorbei), aus dem Juli 1842 stammend,108 am nächsten: III Der Wälder Schatten sieht umhergebreitet, Wo auch der Bach entfernt hinuntergleitet. IV Und sichtbar ist der Ferne Bild in Stunden, Wenn sich der Mensch zu diesem Sinn gefunden.
Das Geflecht des zeitlichen I1 Wenn und des räumlichen I2 Wo im »Aussicht«gedicht entspricht der Wechselreihe dieser Bezugsworte in den Anfangssilben der vier geraden Zeilen des »Sommer«gedichtes: I2 Wenn – II2 Dort, wo – III2 Wo – IV2 Wenn. »Der Sommer« mit seinen Hinweisen auf die vorbeigehenden Tage (I1) und seinen Sichten auf die umhergebreiteten Schatten der Wälder (III1) sowie auf das entfernte Hinuntergleiten des Baches (III2) und schließlich in seinem Glauben, daß für den Menschen, der zu all diesem dessen Sinn gefunden hat (IV2), das Bild der Ferne im selbigen Gange der Stunden sichtbar ist (IV1), erinnert unvermeidlich an »Die Aussicht« und steht im Einklang mit ihren Wort- und Sinnvereinigungen. Was die Auslese der Schlüsselworte 109 betrifft, können z. B. »Der Sommer« mit seinem letzten Verspaar – 〈…〉 der Ferne Bild in Stunden, Wenn sich der Mensch 〈…〉 – und »Die Aussicht« mit den ersten Zeilen der beiden Vierzeiler – I1 Wenn in die Ferne geht der Menschen 〈…〉 und III1 das Bild der Zeiten – verglichen werden. Mit besonderem Scharfsinn wurde »eines der zentralen Motive in Hölderlins Schaffen, vielleicht sogar ein Schlüssel zu seiner ganzen Denkweise« durch den Psychoanalytiker Laplanche aufgedeckt, nämlich die Abstandsdialektik, die der Nähe und Ferne: »C’est vers une proble´matique de l’e´loignement que va s’orienter toute l’œuvre ulte´rieure« [›Auf eine Frage der Entfernung hin orientiert sich das ganze Spätwerk‹] 110 des 108 Zu »Der Sommer« vgl. StA, Bd. 2/1, S. 301. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Zur Datierung vgl. a. a. O., Bd. 2/2, S. 920. [Anm. d. Komm.] 109 Vgl. Jakobsons Aufmerksamkeit für ›Schlüsselwörter‹ in weiteren Analysen (z. B. »Notes on the Contours of an Ancient Japanese Poem«, S. 164, und die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 385 f.; »Skorb’ pobivaemych u drov«, S. 307 f., und die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 9 f., sowie »›Czułos´c´‹ Cypriana Norwida«, S. 513, und die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 384 f.). Die an sprachlichen Beziehungen orientierte Auswahl der Schlüsselworte und die Nachzeichnung ihres Gebrauchs im Gedicht mag als Gegenentwurf oder angesichts mancher Ähnlichkeit vielleicht als kompatible Ergänzung zur von Heidegger vertretenen und an Hölderlin vorgeführten Suche nach ›Urworten‹ sein, die die Dichtung aufweist; vgl. dazu auch o., S. 173, Anm. 106 und u., S. 221, Anm. 283. [Anm. d. Komm.] 110 Laplanche, Hölderlin et la question de pe`re, S. 51. Die Stelle lautet im Zusammen-
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Dichters, der, nach seinem eigenen Spruche, 75 Fernes Nahem vereinte (»Der Archipelagus«).111 Der Forscher verweist auf den Psychotherapeuten Matussek,112 welcher das ständige Schwanken des Schizophrenen zwischen äußerstem Entfernen und Heranrücken besprochen hat.113 hang: »Le caracte`re sans issue de la relation qui s’e´tablie, est exprime´ de fac¸on particulie`rement claire par Hölderlin dans une dialectique de la distance, du proche (Nähe) et du lointain (Ferne). Chacune de ces deux positions, la proximite´ comme l’e´loignement, fait courir au sujet un danger angoissant. L’e´loignement risque de provoquer un ve´ritable cataclysme intime (Abbruch), mais la proximite´ du maıˆtre n’est pas moins inquie´tante, puisqu’elle ne va pas sans le sentiment d’un total ane´antissement. Or, cette notion de distance, le pe´ril sans recours qui se retrouve aussi bien dans la proximite´ de L’Autre que dans son e´loignement infini, va constituer de plus en plus dans l’œuvre de Hölderlin, un des concepts centraux, peuteˆtre meˆme la cle´ de toute la pense´e. C’est vers une proble´matique de l’e´loignement que va s’orienter toute l’œuvre ulte´rieure, particulie`rement sous les espe`ces de L’e´loignement des Dieux ou encore de ce courageux oubli que l’esprit va chercher au lointain de la colonie.« In der deutschen Übersetzung von Karl Heinz Schmitz: »Der ausweglose Charakter der entstandenen Beziehung wird von Hölderlin höchst klar in einer Dialektik der Entfernung, der Nähe und der Ferne, ausgedrückt. Jeder dieser beiden Zustände – Nähe und Ferne – ist für das Subjekt eine quälende Gefahr. Das Fernsein droht, eine echte innere Umwälzung auszulösen, aber die Nähe des Meisters [Schiller] ist nicht weniger bedrohlich für Hölderlin, da sie ohne das Gefühl der totalen Nichtigkeit nicht möglich ist. Damit gewinnt der Gedanke der Ferne, diese Gefahr ohne Zuflucht, die sich ebenso sehr in der Nähe des A n d e r e n (l’Autre) wie in dessen unendlichem Entferntsein wiederfindet, im Werke Hölderlins in zunehmendem Maße die Bedeutung eines seiner zentralen Begriffe, vielleicht ist diese Vorstellung sogar der Schlüssel zu seinem ganzen Denken. Das gesamte Werk Hölderlins kreist um die Fragestellung der Ferne, des Entferntseins, vor allem der Ferne der Götter oder auch jenes mutigen Vergessens, das der Geist in der Ferne der Siedlung suchen wird.« (Laplanche, Hölderlin und die Suche nach dem Vater, S. 66 f.) [Anm. d. Komm.] 111 Zu »Der Archipelagus« vgl. StA, Bd. 2/1, S. 103–112. 112 Vgl. Matussek, »La psychothe´rapie des schizophre´nes«, S. 320–333. [Anm. d. Komm.] 113 Vgl. Häussermann, »Hölderlins späteste Gedichte«, S. 103 f. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Häussermann beschreibt vor allem das Motiv der Ferne, das das Motiv der Nähe zunehmend verdrängt – seine sorgfältig und objektivierbar zählende Methode hat Jakobsonsche Tugenden: »Der Ort des Dichters ist die tiefe Distanz der Betrachtung. […] Zwischen der Welt der Bilder und ihm, dem Schauenden, liegt immer ein Schleier der Fremdheit.« (Die Identifikation von ›fremd‹ und ›fern‹ entspricht einem mit Verweis auf die Etymologie begründeten Gedanken Heideggers: Vgl. u., S. 221, Anm. 283.) »Das Wort ›nah‹ taucht in den spätesten Gedichten zweimal auf, das Wort ›fern‹ zwanzigmal. (In den früheren Dichtungen ist das quantitative Verhältnis von nah zu fern etwa 2:3). […] An drei Stellen möchte Hölderlin ›nah‹ sagen, das Wort steht ihm aber nicht mehr zur Verfügung. Es bleibt, in diesen drei Fällen, die tragische Wendung ›nicht ferne‹.« (ebd.) [Anm. d. Komm.]
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3. Von Strophe zu Strophe In Hölderlins Werken aus seinen letzten Jahren ist der Wortschatz wesentlich beschränkt und festgelegt. In den zweiunddreißig Gedichten von der ersten, um das Jahr 1830 entstandenen »Aussicht« 114 bis zur letzten »Aussicht« aus dem Todesjahr 115 und samt dem Vierzeiler »Überzeugung« von 1841116 gibt es beinahe 200 verschiedene Nomina, die im Ganzen 114 Zum Gedicht »Aussicht« (»Wenn Menschen fröhlich sind, ist dieses vom Gemüthe, […]«) vgl. StA, Bd. 2/1, S. 281. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Zur Datierung vgl. a. a. O., Bd. 2/2, S. 908 f., hier: S. 908. [Anm. d. Komm.] 115 Die Gedichte lauten im einzelnen: »Aussicht« (»Wenn Menschen fröhlich sind, ist dieses vom Gemüthe, […]«), a. a. O., Bd. 2/1, S. 281; »Dem gnädigsten Herrn von LeBret«, a. a. O., S. 282; »Der Frühling« (»Wie seelig ists, zu sehn, wenn Stunden wieder tagen, […]«), a. a. O., S. 283; »Der Herbst« (»Die Sagen, die der Erde sich entfernen, […]«), a. a. O., S. 284; »Der Sommer« (»Das Erndtefeld erscheint, auf Höhen schimmert […]«), a. a. O., S. 285; »Der Frühling« (»Es kommt der neue Tag aus fernen Höhn herunter, […]«), a. a. O., Bd. 2/1, S. 286; »Aussicht« (»Der off’ne Tag ist Menschen hell mit Bildern, […]«), a. a. O., S. 287; »Der Frühling« (»Die Sonne glänzt, es blühen die Gefilde, […]«), a. a. O., S. 288; »Höheres Leben«, a. a. O., S. 289; »Höhere Menschheit«, a. a. O., S. 290; »Des Geistes Werden«, a. a. O., S. 291; »Der Frühling« (»Der Mensch vergißt die Sorgen aus dem Geiste, […]«), a. a. O., S. 292; »Der Sommer« (»Wenn dann vorbei des Frühlings Blüthe schwindet, […]«), a. a. O., S. 293; »Der Winter« (»Wenn blaicher Schnee verschönert die Gefilde, […]«), a. a. O., S. 294; »Winter« (»Wenn sich das Laub auf Ebnen weit verloren, […]«), a. a. O., S. 295; »Der Winter« (»Das Feld ist kahl, auf ferner Höhe glänzet […]«), a. a. O., S. 296; »Der Sommer« (»Noch ist die Zeit des Jahrs zu sehn, und die Gefilde […]«), a. a. O., S. 297; »Der Frühling« (»Wenn neu das Licht der Erde sich gezeiget, […]«), a. a. O., S. 298; »Der Herbst« (»Das Glänzen der Natur ist höheres Erscheinen, […]«), a. a. O., S. 299; »Der Sommer« (»Im Thale rinnt der Bach, die Berg’ an hoher Seite, […]«), a. a. O., S. 300; »Der Sommer« (»Die Tage gehen vorbei mit sanffter Lüffte Rauschen, […]«), a. a. O., S. 301; »Der Mensch« (»Wenn aus sich lebt der Mensch und wenn sein Rest sich zeiget, […]«), a. a. O., S. 302; »Der Winter« (»Wenn ungesehn und nun vorüber sind die Bilder […]«), a. a. O., S. 303; »Der Winter« (»Wenn sich das Jahr geändert, und der Schimmer […]«), a. a. O., S. 304; »Der Winter« (»Wenn sich der Tag des Jahrs hinabgeneiget […]«), a. a. O., S. 305; »Griechenland« (»Wie Menschen sind, so ist das Leben prächtig, […]«), a. a. O., S. 306; »Der Frühling« (»Der Tag erwacht, und prächtig ist der Himmel, […]«), a. a. O., S. 307; »Der Frühling« (»Die Sonne kehrt zu neuen Freuden wieder, […]«), a. a. O., S. 308; »Der Frühling« (»Wenn aus der Tiefe kommt der Frühling in das Leben, […]«), a. a. O., S. 309; »Der Zeitgeist«, a. a. O., S. 310; »Freundschafft«, a. a. O., S. 311; »Die Aussicht«, a. a. O., S. 312. [Anm. d. Komm.] 116 A. a. O., Bd. 2/1, S. 276 f. u. 360. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Bei dem Vierzeiler »Überzeugung« handelt es sich um Widmungsverse an Christoph Theodor Schwab, die Hölderlin in die Ausgabe der Gedichte aus dem Jahr 1826 eintrug. Vgl. a. a. O., Bd. 2/2, S. 976–978, sowie S. 147, Anm. 28 u. S. 212, Anm. 255. [Anm. d. Komm.]
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700 mal vorkommen. 19 Substantive des erwähnten Vorrats sind mindestens je achtmal bezeugt. Von den 15 verschiedenen Nomina der letzten »Aussicht« gehören acht zu dieser Gruppe: ›Mensch‹ (58 Vorkommen in des Dichters Schlußperiode), ›Leben‹ (30 Vorkommen), ›Natur‹ (20), ›Himmel‹ (13), ›Zeit‹ und ›Bild‹ (je 12), ›Sommer‹ und ›Blüthe‹ (je 8). Drei von diesen Nomina sind im Gedicht je zweimal gebraucht; dasselbe Nomen tritt in jedem der beiden Vierzeiler auf, wobei eine Variante im Gegensatz zur anderen sich an die Versgrenze anschließt.117 Allen drei Paaren liegt ein *Polyptoton zugrunde, und zwar ist entweder der Kasus allein (I1 Gen. der Menschen – IV2 Dat. Den Menschen; II2 Dat. Bilde – III1 Akk. das Bild ) oder Kasus samt Numerus (I2 Nom. Sing. die Zeit – III1 Gen. Pl. der Zeiten) verändert. Jedes von diesen drei Wörtern verhält sich in drei Hinsichten ganz anders als die zwei übrigen. IV2 Dem Menschen wurde in der Handschrift durch Den Menschen ersetzt 118 und die Vokabel ›Mensch‹ kommt so einzig im Plural vor, ›Bild‹ im Singular und ›Zeit‹ in beiden Numeri. Alle drei Wörter sind voneinander im Genus unterschieden. ›Mensch‹ umspannt das Gedicht, indem es das erste Verspaar des ersten Vierzeilers mit dem letzten Verspaar des letzten Vierzeilers verbindet; ›Bild‹ vereinigt das letzte Verspaar des ersten Vierzeilers mit dem ersten des letzten und endlich ›Zeit‹ verkettet die ersten Verspaare der beiden Vierzeiler.119 A) Menschen Das Nomen ›Mensch‹ in verschiedenartigen Kombinationen des Numerus und Kasus, oft vom Bezugswort ›wenn‹ begleitet, ist ein wesentlicher 117 Dabei betrachten die Verfasser bei der zweiten Verwendung von ›Mensch‹ den Artikel am Anfang von IV2 als Bestandteil der an den Versbeginn angeschlossenen Einheit: » Den Menschen dann, «. Vgl dazu auch Jakobson, »Stichi Pusˇkina o deve-statue, o vakchanke i o smirennice«, S. 360, und die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. S. 77–120, hier: S. 84–86, sowie dort S. 85, Anm. 26. [Anm. d. Komm.] 118 Vgl. StA, Bd. 2/2, S. 926. 119 Obwohl die Verfasser hier nicht ausdrücklich darauf hinweisen, sollte nicht übersehen werden, daß diese Verbindungen zu den bisherigen Beobachtungen passen: Auch in den vorigen Kategorien wurde jeweils eine verstärkte Parallelität zwischen den beiden ersten Verspaaren beider Vierzeiler und demgegenüber auf eine erhöhte Eigenständigkeit (›Eigenart‹ oder ›Eigentümlichkeit‹) der letzten beiden Verse hingewiesen, und die weitere Analyse wird dies immer wieder herausstellen. Die hier bemerkte Verkettung durch ›Zeit‹ bestätigt diese Struktur: Es handelt sich bei dieser Auseinandersetzung der drei Polyptota also keineswegs um eine ziellose Aufzählung von Phänomenen, die so oder auch anders hätten lauten können. [Anm. d. Komm.]
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lexikaler Bestandteil der meisten Gedichte Hölderlins etwa ab 1830, beginnend mit der ersten »Aussicht« (Wenn Menschen fröhlich sind 〈…〉) mit ihren sieben Spielarten des *Paradigmas ›Mensch‹.120 »Freundschafft« (Wenn Menschen sich 〈…〉), Hölderlins spätestes Gedicht mit genauer Datierung – 27. Mai 1843 – gebraucht den Stamm ›mensch‹ je einmal in jedem seiner vier Verspaare,121 nämlich in den ungeraden Versen des ersten Vierzeilers und in den geraden des zweiten Vierzeilers; in den ungeraden Verspaaren fällt er auf die zweite Silbe des Anverses und in den geraden Verspaaren auf die zweite Silbe des Abverses, wobei im Anvers der Nominativ, im Abvers der Dativ steht und die ersten drei Beispiele den Plural Menschen brauchen, das vierte das Kollektivum Menschheit nutzt: I1 Wenn Menschen 2
II1
den Menschen
2
III1 2
Die Menschen
IV1 2
der Menschheit
»Die Aussicht«, chronologisch der »Freundschafft« nah, führt den Plural Menschen im Anfangs- und Schlußvers (I1 und IV2). Diese Form mit ihrer auffallenden Konsonantenreihe (ein Nasal vor und nach einem *Zischlaut) 122 findet eine spürbare lautbildliche Entsprechung in den zwei inneren Verspaaren: II2 erscheint und III2 schnell (Zischlaut – Nasal). (Vgl. das Gewebe derselben Konsonanten in dem zwölfzeiligen Gedicht »Dem gnädigsten Herrn von Lebret« mit dem emphatischen, sechsmal wiederholten ›Mensch‹: 10 die Menschen leben nimmer 11 Allein und schlechterdings von ihrem Schein und Schimmer.) 123 Die vier ähnlich lautenden Wörter der »Aussicht« sind zwischen allen Verspaaren des Gedichts regelmäßig verteilt: sie stehen am Rande des Anverses in den geraden und am Anfang des Abverses in den ungeraden Paaren. Die Wortform Menschen nimmt im Gedicht den zweitersten und zweitletzten Halbvers ein, und jeder Abstand zwischen den vier lautähnlichen Einheiten umfaßt eine gerade Zahl von Halbversen – vier vor und nach dem Verb II2 erscheint und zwei zwischen III2 schnell und IV2 Menschen: 120 Zu »Aussicht« vgl. StA, Bd. 2/1, S. 281. [Anm. d. Komm.] 121 Zu »Freundschafft« vgl. a. a. O., Bd. 2/1, S. 311. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Zur Datierung vgl. a. a. O., Bd. 2/2, S. 925 f. [Anm. d. Komm.] 122 Also /…nsch.n/. [Anm. d. Komm.] 123 Zu »Dem gnädigsten Herrn von LeBret« vgl. StA, Bd. 2/1, S. 282.
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IV1 2
Den Menschen
Der erste Vers der vier Vierzeiler »Winter«, um 1841 entstanden,124 hebt die Verbindung Zischlaut – Nasal zweifach hervor (1 Wenn blaicher Schnee verschönert die Gefilde), wonach in den weiteren Vierzeilern eine lautbildliche Wechselreihe folgt: III1 Erscheinung – 2 der Menschen – V1 scheint – 2 Dem Menschen – VII2 erscheinender – VIII2 Erscheint. Wenn, wie es »Die Aussicht« schildert, des Menschen Leben I1 in die Ferne geht (fer – geht!), bleibt dabei II1 leer Gefilde (mit einem *metathetischen Einklang I1 fer – ge¯ : II1 e¯r – gef).125 Dem Vergehen des menschlichen Lebens (I1), dem ungewohnt dunklen Schein des Waldes (II2) und den schnell vorübergleitenden Jahres- und Lebenszeiten (III2) wird am Schlusse des Gedichtes eine neue Vision entgegengesetzt: das niederkommende Glänzen der Himmelshöhe (IV1–2). Das Wenn des ersten Anverses – I1 Wenn in die Ferne geht – erhält im letzten Anvers die Antwort IV2 Den Menschen dann. Die Ferne des Sich-Erglänzens des Anfangsverspaars findet ihr Gegenstück in der Nähe des Himmelsglanzes, in der engsten Berührung, die das Schlußwort des Endverses bezeichnet: IV2 umkränzet (mit einer andeutenden Metathese ern – ren). Dem II2 dunklen Bilde des entlaubten Waldes und leeren Gefildes wird das verweilende Glänzen der Himmelshöhe gegenübergestellt und beide werden ineinsgesetzt durch das Gleichnis des endgültigen Abverses: IV2 wie Bäume Blüth’ umkränzet. (Vgl. Anke Bennholdt-Thomsens Behandlung des Hölderlinschen Gedichtes »Der Winter«.) 126 Der auffallende Zusammenhang zwischen den gegensätzlichen Schlußversen der beiden Strophen – erst die Dunkelheit 124 Zu »Der Winter« vgl. a. a. O., Bd. 2/1, S. 294. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Zur Datierung vgl. a. a. O., Bd. 2/2, S. 915 f. [Anm. d. Komm.] 125 Hier wie im Folgenden immer wieder trennen die Verfasser häufig Konsonanten von ihren jeweiligen Silbenkernen, um sie benachbarten Silben zuzuschlagen; in diesem Fall ›f‹ in ›Gefilde‹, das zur ersten Silbe gezogen und dann ohne Zusammenhang zur restlichen zweiten Silbe als Metathese zu ›fer – ge¯‹ betrachtet wird. Da es hier deutlich um den Laut- und nicht den Buchstabenbestand geht (›fer-‹ wie ›ver-‹), scheint das immerhin problematisch; vgl. o., S. 140, Anm. 4. [Anm. d. Komm.] 126 Vgl. dazu »Der Winter«, StA, Bd. 2/1, S. 294, sowie Bennholdt-Thomsen, Stern und Blume, S. 99–101.
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des Waldes und dann die Blüte der Bäume – wird, wie oben erwähnt, durch die einzigen monophthongischen a´ des ganzen Textes – II2 Wa´ld und IV2 da´nn – hervorgehoben und durch die nur in jenen Anversen vorkommenden Nomina in Anfangsstellung (II2 Der Wald und IV2 Den Menschen) noch unterstrichen. Die drei Schlußzeilen laufen auf eine Synthese zwischen Vorübergleiten und Verweilen hinaus. Die letzten beiden Begriffe galten für Hölderlin zuweilen als Synonyme. Schottmann 127 vermerkt, daß Hölderlins Pindarübertragung aÍvtow ›das Höchste, der Gipfel‹ als Blüthe wiedergibt. Die drei letzten Zeilen der »Aussicht« zeichnen sich durch einige eigentümliche Züge vor den fünf vorangehenden Versen aus (dazu unten S. 206 f.). Jede einzelne der drei Zeilen ist zwischen zwei verschiedenen Sätzen aufgeteilt; die Grenze zwischen diesen Sätzen fällt stets mit dem Einschnitt der Zeilen zusammen und wird dabei im Manuskript des Dichters durch ein Komma gekennzeichnet. Nur in diesen Zeilen darf die letzte Hebung eines Halbverses durch eine Nebenbetonung des Wortes erfüllt werden: III2 vorübergleiten und IV1 Vollkommenheit. Im Bau des Abverses zeigen die drei Schlußzeilen markante Besonderheiten. Es sind die einzigen Zeilen, die mit einem Verb enden. Vor dem Schlußverb enthält der Abvers der zwei letzten Zeilen unmittelbar benachbarte Substantive, was sonst im Gedicht nicht vorkommt. Die einzigen Nomina ohne *Determinanten 128 gehören dem vierten Verspaar 127 Schottmann, Metapher und Vergleich in der Sprache Friedrich Hölderlins, S. 104 f. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Schottmann unterscheidet in Hölderlins Gebrauch einer Metapher des Blühens »zwei Momente […]: Das Aufblühen und das in Blüte stehen«. Letzteres Moment sei in der Pindarübertragung gemeint: »An vielen Stellen der Pindarübertragung übersetzt ›Blüthe‹ oë aÍvtow das Höchste, Feinste, der Gipfel. So kann das Bild […] weitgehend gelöst von seinem Ursprung im pflanzlichen Bereich auch einfach für eine erreichte Höhe stehen.« (ebd.) Für die Argumentation der Verfasser wäre freilich gerade die Bindung des Begriffs an den Hintergrund des Naturmotivs entscheidend. [Anm. d. Komm.] 128 Determinante: In der deutschsprachigen Linguistik auch gerne ›Determinator‹, Artikel und bisweilen weitere, statt des Artikels oder zwischen Artikel und Substantiv stehende Begleiter eines Nomens. Der Gewährsmann der Verfasser für die deutschsprachige Linguistik, Lewandowski (vgl. u., S. 226, Anm. 310), kennt außerdem noch den Ausdruck »Determinantien« als Übersetzung für das englische ›determiners‹ und gibt dessen Bedeutung mit »Artikelformen« an (Lewandowski, Linguistisches Wörterbuch, Bd. 1, S. 217). Die Verfasser arbeiten hier jedoch überwiegend mit dem weiteren Begriff: Sie betrachten im Weiteren unter anderem in »des Himmels Höhe« die Folge »des Himmels« als ›Determinante‹ zu »Höhe« (dagegen steht jedoch ihre Feststellung, »daß es in den letzten drei Zeilen des Gedichtes keinen Nominativ oder Akkusativ mit einer Determinante gibt«). [Anm. d. Komm.]
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(IV1 aus Vollkommenheit; 2 wie Bäume Blüth’ ). Da der drittletzte Vers bloß pronominale Substantive aufweist,129 kann man feststellen, daß es in den letzten drei Zeilen des Gedichtes keinen Nominativ oder Akkusativ mit einer Determinante gibt, wogegen in allen fünf vorangehenden Versen jeder Nominativ oder Akkusativ (sechs und drei im ganzen) von einer Determinante begleitet ist (vgl. bes. den Unterschied im syntaktischen Bau zweier Sätze: III1 die Natur ergänzt das Bild der Zeiten und IV2 Bäume Blüth’ umkränzet). Ausschließlich in den zwei Zeilen des letzten Verspaars behauptet sich eine Alliteration vor Nachbarhebungen, im ersten Fall auf drei Silben ausgedehnt: IV1 Vollkommenheit, des Himmels Höhe (h-h-h) und 2 wie Bäume Blüth’ (b-b). In beiden Fällen beginnt der Stabreim mit der dritten Hebung des Verses und endet mit seiner vorletzten. In allen drei Schlußzeilen wird die vorletzte Hebung und knapp am Ende des ganzen Gedichtes auch die ihr vorausgehende Hebung durch besondere Vokale markiert, nämlich durch bipolare *›erniedrigt‹ und *›hell‹ klingende, *gerundete Vordervokale, die dem übrigen Text fremd bleiben: III2 vorübergleiten, IV1 Höhe glänzet, 2 Bäume Blüth’ umkränzet. Es sei bemerkt, daß in Hölderlins späten Gedichten Blüthe weitere Vokale derselben Klasse anzieht; so wird z. B. »Der Frühling« von März 1842 eröffnet mit der Lautkette I1 Wenn neu 〈!〉 das Licht der Erde sich gezeiget, 2 Von Frühlingsreegen 〈!〉 glänzt das grüne 〈!〉 Thal und munter II1 Der Blüthen 〈!〉 Weiß 〈…〉.130 Der Frühling aus den letzten Lebensmonaten nennt III1 Ströme und 2 Blüthenbäume,131 und in einem andern gleichnamigen Gedicht derselben Zeit folgt I2 die Blüthe nach I1 neuen Freuden und reimt mit II1 dem Gemüthe. 132 Manche Frühlingsgedichte pflegen mit gerundeten Vordervokalen durchflochten zu sein: I1 Es kommt 129 Dieser Nebensatz bietet einen wesentlichen Hinweis auf Jakobsons Methode: Daß das Wort- und das grammatische Material hier ohnehin keine andere Alternative läßt, als ein bestimmtes Phänomen – in diesem Fall den Mangel an Determinatoren – hervorzubringen, wird nicht als Einwand gegen die Beobachtung betrachtet. Das damit zwangsweise aufgetretene Phänomen wird vielmehr ungeachtet des Zwangs für wirksam gehalten. Eine große Zahl intuitiver Einwände gegen Jakobsons Ergebnisse, die der Form »Aber das kann ja sprachlich gar nicht anders sein!« folgen, ist für Jakobson damit offensichtlich gegenstandslos. [Anm. d. Komm.] 130 Zum Gedicht »Der Frühling« vgl. StA, Bd. 2/1, S. 298. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Zur Datierung vgl. a. a. O., Bd. 2/2, S. 918. [Anm. d. Komm.] 131 Zum Gedicht »Der Frühling« (»Der Tag erwacht, und prächtig ist der Himmel, […]«) vgl. a. a. O., Bd. 2/1, S. 307. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Zur Datierung vgl. a. a. O., Bd. 2/2, S. 923. [Anm. d. Komm.] 132 Zum Gedicht »Der Frühling« (»Die Sonne kehrt zu neuen Freuden wieder, […]«) vgl. a. a. O., Bd. 2/1, S. 308. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Zur Datierung vgl. a. a. O., Bd. 2/2, S. 923 f. [Anm. d. Komm.]
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der neue 〈!〉 Tag aus fernen Höhn 〈!〉 herunter – II1 geschmükt 〈!〉 – 2 Von Freuden 〈!〉 – III1 Ein neues 〈!〉 Leben will der Zukunft sich enthüllen 〈!〉 – 133 2 Mit Blüthen 〈!〉 – IV1 sich zu füllen 〈!〉 – 2 zur Frühlingszeit 〈!〉. I2 Der Frühling 〈!〉 aber blüh’t 〈!〉 – II1 Das grüne 〈!〉 Feld – 2 schön 〈!〉 – III1 mit den Bäumen 〈!〉 – 2 in offnen Räumen 〈!〉 – IV2 an Hügeln 〈!〉.134 Vgl. besonders im Diotima-Gedicht »Wenn aus der Ferne« die sechste vierzeilige Strophe (nochmals eine blühende Landschaft!) mit einem ü in jedem Verse und einem weiteren gerundeten Vordervokal in jeder geraden Zeile: Wars Frühling? 〈!〉 war es Sommer? die Nachtigall Mit süßem 〈!〉 Liede lebte mit Vögeln 〈!!〉, die Nicht ferne waren im Gebüsche 〈!〉 Und mit Gerüchen 〈!〉 umgaben Bäum’ 〈!!〉 uns.135
B) Das Bild der Zeiten Das im ersten Verspaar des ersten Vierzeilers erscheinende Nomen I2 die Zeit hat sein abgewandeltes Gegenstück III1 der Zeiten gleichfalls im ersten Verspaar des zweiten Vierzeilers. Die beiden Varianten gehören den einander nächsten Zeilen der jeweiligen Verspaare an, als ob eine gegenseitige Anziehungskraft dahinter steckte. Der Übergang vom letzten Vers des einen zum Anfangsvers des anderen Vierzeilers, nämlich der Weg vom II2 dunklen Bilde der winterlichen Zeit zum durch die Natur verbundenen und vergänzlichten III1 Bild der Zeiten, erhält einen auffallenden Nachdruck: die im ganzen Gedicht einzigen u-Laute werden beidemal dem Wort Bild vorausgeschickt: II2 Der Wald erscheint mit seinem dunklen 〈!〉 Bilde und III1 Daß die Natur 〈!〉 ergänzt das Bild der Zeiten – mit einem krassen Gegensatz in der *Tonalität der akzentuierten Vokale u und i. Die enge Verknüpfung der Zeit- und Vollkommenheit-Bilder veranlaßt uns zu einer Topographie der entsprechenden Wörter im Gedicht. Der Vokalbestand des Wortes ›Zeit‹, der Diphthong ai, kommt achtmal vor, zuerst im viertersten Halbvers, zuletzt im viertletzten Halbvers, und ist mit überraschender Symmetrie im Gedichttext verteilt. Vier Anverse und vier Abverse, je zwei in jedem Vierzeiler, also die Hälfte aller Halbverse des Gedichts entbehren diesen Diphthong. Innerhalb jedes Vierzeilers begegnet er im Anvers und im Abvers je zweimal. Nie erscheint ai 133 Zum Gedicht »Der Frühling« vgl. a. a. O., Bd. 2/1, S. 286. 134 Zum Gedicht »Der Frühling« (»Der Mensch vergißt die Sorgen aus dem Geiste, […]«) vgl. a. a. O., Bd. 2/1. S. 292. 135 Zu »Wenn aus der Ferne […]« vgl. a. a. O., Bd. 2/1, S. 262 f., hier: V. 21–24.
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mehr als einmal in einem Halbvers. Im Anvers fällt der Diphthong stets auf dessen letzte Silbe; in den Abversen des zweiten Vierzeilers ist er ebenfalls mit dem Versende verbunden und gehört dessen vorletzter (letztbetonter) Silbe an. Nur die geraden Zeilen der beiden inneren Verspaare, II2 und III2, enthalten diesen Diphthong im An- und Abvers zugleich, und in den umrahmenden Zeilen II1 und IV1 geht dem ai des Anverses der Diphthong au voraus, welcher sonst im Gedicht nicht vorkommt. Zur wirkungsvollen Gegenüberstellung dieser beiden Diphthonge vgl. »Der Herbst« IV2 Als eine Aussicht weit.136 Es ist zu vermerken, daß die erwähnten zwei Zeilen der »Aussicht« die erste und die letzte sind, deren Anvers ein ai enthält. Somit ergibt die Verteilung der Diphthonge im Anvers ein genaues spiegelsymmetrisches 137 Bild:
In den beiden Vierzeilern folgt die allgemeine Einteilung der besprochenen Zwielaute gleichen Regeln. Mit Ausnahme der zwei äußeren diphthongfreien Zeilen des Gedichts (I1 und IV2) weist jede Zeile je einen oder zwei der genannten Diphthonge auf. Jeder Vierzeiler enthält eine Diphthongkette, die mit einem Abvers beginnt und in der übernächsten Zeile endet.138 Der einleitende Abvers jeder Kette enthält einen ai-Diphthong des Stammes »zeit« und die zwei weiteren Zeilen je ein Diphthongpaar, welches in der ersten Zeile eines Verspaares mit dem Diphthong au beginnt und 136 Zum Gedicht »Der Herbst« (»Das Glänzen der Natur ist höheres Erscheinen, […]«) vgl. a. a. O., Bd. 2/1, S. 299. 137 Vgl. bereits o., S. 164, Anm. 88. Den durch »……..« markierten Mangel an diesen beiden Diphtongen betrachten die Verfasser dabei nicht als Element der gespiegelten Serie. Ignoriert man diese diphtongfreien Halbverse auch bei den Abversen, könnte man das Schema dort als eigentliche Symmetrie beschreiben: ai -ai zu ai -ai. [Anm. d. Komm.] 138 Um diese Aussage zu ermöglichen, mußten die Verfasser einerseits im ersten Vierzeiler den diphtongfreien Abvers in II1 wie zuvor ignorieren, andererseits die diphtongfreien Anverse in I2 und in III1 beachten, um festzustellen, daß beide Ketten erst im Abvers beginnen. Eine Regel, mit der sich diese Auswahl begründen ließe, wäre etwa, daß jeweils als Grenzen der Kette der erste und letzte Diphtong in jedem Vierzeiler betrachtet werden; damit wird der Begriff der Kette jedoch geschwächt, da damit dann keine fortlaufende Okkurrenz von Diphtongen, sondern nur mehr eine Aufzählung aller vorkommenden Diphtonge gemeint wäre. [Anm. d. Komm.]
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vollständig dem Anvers gehört, wogegen die beiden Hälften der zweiten Zeile des betreffenden Verspaars je einen Diphthong ai aufweisen. Die folgende Tabelle zeigt die Verteilung der Diphthonge ai und au im Texte des Gedichtes:
Das erste Wort der ganzen ai-Kette und das letzte bilden einen inneren Reim – I2 Zeit – IV1 Vollkommenheit gegenüber dem regelmäßigen *Endreim zweier semantisch gekoppelter Wörter III1 Zeiten – 2 vorübergleiten, wobei in den beiden Reimen eine Haupt- und Nebenbetonung einander entsprechen.139 Das Kompositum IV1 Vollkommenheit ist kennzeichnendes Nomen der spätesten Gedichte Hölderlins und ihrem Wortschatz tief eingewurzelt. Die innere Form dieses Wortes aus der Anfangszeile des letzten Verspaares erweckt eine *antonymische Beziehung (gehen – kommen) zum Verbum I1 geht aus der Anfangszeile des ersten Verspaars, und sein Bestandteil voll antwortet ebenso antonym auf das Adjektiv leer aus der Anfangszeile des zweiten Verspaares: II1 leer Gefilde. In anderen der spätesten Gedichte wird der innere Sinn von Vollkommenheit durch die Auflösung des Widerspruchs und eine direkte Verweisung auf den Akt des Kommens verraten. »Der Frühling«: I1 Wenn aus der Tiefe kommt 〈!〉 der Frühling in das Leben, III1 Das Leben findet sich aus Harmonie der Zeiten, IV1 Und die Vollkommenheit 〈!〉 ist Eines in dem Geiste (innerhalb eines Vierzeilers mit einem siebenmal wiederholten Diphthong ai).140 »Der Zeitgeist«: II2 Daß Dauer kommt 〈!〉 in die verschied’nen Jahre, III1 Vollkommenheit 〈!〉 vereint sich so in diesem Leben.141 – Etwas abweichend ist die Stellung und Beziehung des Nomens Vollkommenheit zu seinem – wie der Dichter sich im Aufsatz »Über die Verfahrungsweise des poe¨tischen Geistes« ausdrückt – 139 Und zwar reimt in beiden Fällen jeweils eine Haupt- auf eine Nebenbetonung (nicht etwa, wie die Formulierung nahelegen könnte, eine Haupt- auf eine Hauptund eine Neben- auf einen Nebenbetonung). [Anm. d. Komm.] 140 Zum Gedicht »Der Frühling« vgl. StA, Bd. 2/1, S. 309. 141 Zum Gedicht »Der Zeitgeist« vgl. a. a. O., Bd. 2/1, S. 310.
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»Harmonischentgegengesezten« 142 in den drei Vierzeilern »Dem gnädigsten Herrn von Lebret«, gegen 1830 geschrieben: die Schlußzeilen der Anfangsstrophe – 3 Doch die Vollkommenheit 〈!〉 enthält verschiedne Fragen, 4 Wenn schon der Mensch es leicht bezeuget nennet – werden im Endvers des Gedichtes beantwortet – 12 Der Mensch bezeuget diß und Weisheit geht 〈!〉 in Welten. 143 Die Vereinigung des Entgegengesetzten findet ihren vielleicht prägnantesten Ausdruck im Gedichte »Der Herbst« aus vier gleichartigen Vierzeilern, die im September 1837 verfaßt wurden. Es beginnt mit dem Verse 1 Die Sagen, die der Erde sich entfernen, und ist eher dem »Vergehen und Entstehen« als dem elegischen Thema des Entstehens und Vergehens gewidmet: 3 und vieles lernen 4 Wir aus der Zeit, die eilends sich verzehret. Die ewige Rückkehr wird wiederholt bestätigt: 3 Sie kehren zu der Menschheit sich; 7 kehrt; 8 findet sich 〈…〉 wieder. 5 Die Bilder der Vergangenheit sind nicht verlassen 6 Von der Natur, und der Sinn des Vergangenen ist demjenigen der drei mit demselben Präfix behafteten Verben 5 verlassen, 6 verblassen, 14 verlieret unbedingt entgegengesetzt. Wenn 12 des Menschen Tag vollendet ist, zeigt sich 13 Der Erde Rund 15 mit einem goldnen Tage als beständig, 16 Und die Vollkommenheit ist ohne Klage, wie die Endzeile des Gedichts verkündet, verstärkt durch eine abschließende Metathese (lk – kl).144 Der erste Bestandteil der Komposita Voll-kommenheit und vollenden erhält dasselbe Gegenwort in andern Gedichten Hölderlins, z. B. »Der Winter« vom November 1842: II1 Das Feld ist leer 〈!〉 III1 Als wie ein Ruhetag, so ist des Jahres Ende, 2 Wie einer Frage Ton, daß dieser sich vollende 〈!〉.145 Im Gedichte »Der Herbst« aus demselben Jahre lautet der dritterste Vers: Es ist das Jahr, das sich mit Pracht vollendet 〈!〉 und der drittletzte Vers fügt hinzu: mit Leere 〈!〉 sich die Felder dann vertauschen.146 142 Das »Harmonischentgegengesezte« ist ein Begriff, der in Hölderlins poetologischem Entwurf »Über die Verfahrungsweise des poe¨tischen Geistes« von zentraler Bedeutung ist und immer wieder vorkommt. A. a. O., Bd. 4/1, 241–265. [Anm. d. Komm.] 143 Zum Gedicht »Dem gnädigsten Herrn von LeBret« vgl. a. a. O., Bd. 2/1, S. 282. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Zur Datierung vgl. a. a. O., Bd. 2/2, S. 908 u. 909. [Anm. d. Komm.] 144 Zum Gedicht »Der Herbst« vgl. a. a. O., Bd. 2/1, S. 284. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Zur Datierung vgl. a. a. O., Bd. 2/2, S. 910. [Anm. d. Komm.] 145 Zum Gedicht »Der Winter« (»Wenn ungesehn und nun vorüber sind die Bilder […]«) vgl. a. a. O., Bd. 2/1, S. 303. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Zur Datierung vgl. a. a. O., Bd. 2/2, S. 921. [Anm. d. Komm.] 146 Zum Gedicht »Der Herbst« (»Das Glänzen der Natur ist höheres Erscheinen, […]«) vgl. a. a. O., Bd. 2/1, S. 299. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Zur Datierung vgl. a. a. O., Bd. 2/2, S. 918. [Anm. d. Komm.]
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Hölderlins zweite »Aussicht«, die erste mit einer Scardanelli-Signatur, preist im Anfangsvers des Achtzeilers den off’nen Tag, der Menschen hell 〈!〉 mit Bildern ist, und sie schließt mit der Versicherung, daß IV2 ferne steht des Zweifels dunkle 〈!〉 Frage. 147 Im Gedicht wird IV1 Die prächtige Natur genannt, welche des Menschen Tage erheitert und ihn von Zweifeln um die III1 oft umwölkte und verschlossene Innerheit der Welt befreit. Die poetische Etymologie, die besonders die späteste Wortkunst Hölderlins beherrscht, zerschlägt und vereinigt die verknüpften Wörter Inn-erheit und erheit-ert; eine ähnliche Assoziation scheint Vollkommen-heit und heiter zu verbinden, vgl. zwei Achtzeiler von 1843, beide unter der Überschrift »Frühling«: I1 Die Sonne kehrt zu neuen Freuden wieder, III2 Und heiter 〈!〉 ist des Frühlings Morgenstunde 148 und andererseits II1 die Freude kehret wieder IV1 Und die Vollkommenheit 〈!〉 ist Eines in dem Geiste. 149 Bei Hölderlins Altersgenossen und Freund Hegel bemerkt man in der philosophischen Terminologie eine weitläufige Suche nach der inneren Form der Wörter und eine echte Neigung zum *Wortspiel.150 Es finden sich mehrere Berührungspunkte zwischen den Eigentümlichkeiten des Hegelschen und des Hölderlinschen Wortschatzes. Dem für die Phänomenologie des Geistes charakteristischen Betrachten der ›Erinnerung‹ als ›Er-Innerung‹ (Insichgehen) z. B. entspricht das Gedicht »Höheres Leben« von 1841, wo Hölderlin II1 Erinnrungen mit solchen Wortgefügen wie II2 innern Werth und IV1 In seinem Innern offenbar zusammenbringt.151 In des Autors erster »Aussicht« wird das Nomen 9 Erinnerung einer dichterischen Analyse unterworfen durch dessen Zusammenstellung mit Wörtern des gleichen Suffixes (6 Dämmerung und 13 Ermunterung) und Präfixes (13 Ermunterung, erfreuet, 14 erneuet) sowie durch die angedeutete Übereinstimmung seiner Wurzel mit der Präposition ›in‹: Erinnerung ist auch dem Menschen in den Worten – Reim: in den Orten.152 Eine sonderbar wirksame Ausnutzung derartiger semantischer Beziehungen wie Synonymie, Antonymie und grammatische Paradigmatik 153 147 Zum Gedicht »Aussicht« vgl. a. a. O., Bd. 2/1, S. 287. 148 Zum Gedicht »Der Frühling« vgl. a. a. O., Bd. 2/1, S. 308. 149 Zum Gedicht »Der Frühling« (»Wenn aus der Tiefe kommt der Frühling in das Leben, […]«) vgl. a. a. O., Bd. 2/1, S. 309. 150 Vgl. Koyre´, »Note sur la langue et la terminologie he´ge´liennes«, S. 425 f. 151 Zum Gedicht »Höheres Leben« vgl. StA, Bd. 2/1, S. 289. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Zur Datierung vgl. a. a. O., Bd. 2/2, S. 912. [Anm. d. Komm.] 152 Zum wechselseitigen Wirkungsverhältnis zwischen Hegel und Hölderlin vgl. Pellegrini, Hölderlin, S. 97–116. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Zu »Aussicht« (»Wenn Menschen fröhlich sind, ist dieses vom Gemüthe, […]«) vgl. StA, Bd. 2/1, S. 281. [Anm. d. Komm.]
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ist in Hölderlins »poe¨tischer Verfahrungsweise« mit einem Reichtum paronomastischer Kunstmittel eng verflochten. So geleiten einander gern solche in Laut und Sinn nahen Wurzeln wie ›freud-‹ und ›freund-‹. In Hölderlins letzter alkäischer Strophe, die er noch um 1830 komponiert hat, bringen die beiden mittleren Zeilen eine effektive Lautmetathese: 154 2 unter die Freuden 〈!〉 wo 3 Ihn Freunde 〈!〉 liebten. Schon um 1810 (»Der Ruhm«) schrieb der Dichter: 5 Der Erde Freuden, Freundlichkeit und Güter (der erd. freud.n freund).155 Im kurz vor des Autors Tode entstandenen Achtzeiler »Freundschafft« scheint im zweiten Abvers – sich freudig Freunde nennen – das n-reiche Verb den auszeichnenden Nasal des Nomen zu unterstützen.156 Am Anfang des zweiten Vierzeilers wird das Wortgefüge III1 der Freundschafft ferne durch die wiederholte Reihenfolge f-r-n vereinigt und abgeschlossen. Ein merkwürdiges Beispiel eines um das Schlüsselwort des Gedichtes aufgebauten Systems von paronomastischen Entsprechungen ist ein Achtzeiler, anscheinend am 25. Dezember 1841 geschrieben und der »Natur«, dem einzigen wiederholten Nomen des Gedichtes, gewidmet: Winter I 1 Wenn sich das Laub auf Ebnen weit verloren, 2 So fällt das Weiß herunter auf die Thale, II 1 Doch glänzend ist der Tag vom hohen Sonnenstrale, 2 Es glänzt das Fest den Städten aus den Thoren. III 1 Es ist die Ruhe der Natur, des Feldes Schweigen 2 Ist wie des Menschen Geistigkeit, und höher zeigen IV 1 Die Unterschiede sich, daß sich zu hohem Bilde 157 2 Sich zeiget die Natur, statt mit des Frühlings Milde. 153 Damit ist offenbar wiederum ein Polyptoton gemeint; also mehrere grammatisch von derselben Wurzel abgeleitete Wörter. Daß diese Bezeichnung eines formalen Phänomens als eine ›semantische Beziehung‹ interpretiert wird, ist an dieser sicher gewagten Stelle der Argumentation letztlich eine reine petitio principii. [Anm. d. Komm.] 154 StA, Bd. 2/1, S. 280. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Hölderlins letzte alkäische Strophe beginnt mit dem Vers »Nicht alle Tage nennet die schönsten der«. Zur Datierung vgl. a. a. O., Bd. 2/2, S. 907. [Anm. d. Komm.] 155 Zum Gedicht »Der Ruhm« vgl. a. a. O., Bd. 2/1, S. 265. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Zur Datierung vgl. a. a. O., Bd, 2/2, S. 899. [Anm. d. Komm.] 156 Zum Gedicht »Freundschafft« vgl. a. a. O., Bd. 2/1, S. 311. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Die Verfasser beziehen sich hier auf V. 2. Zur Datierung vgl. a. a. O., Bd. 2/2, S. 925. [Anm. d. Komm.] 157 Zum Gedicht »Winter« vgl. a. a. O., Bd. 2/1, S. 295. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – »Winter« trägt die Datumsangabe »d. 25 Dezember 1841«. Beißner kommentiert: »Vielleicht ist das Datum nicht fingiert.« A. a. O., Bd. 2/2, S. 916. [Anm. d. Komm.]
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Die den ersten Vers beherrschende Horizontale wird aufgegeben (I1 auf Ebnen weit verloren) zugunsten der entgegengesetzten Enden der vertikalen Achse (I2 herunter auf die Thale II1 vom hohen Sonnenstrale III2 höher IV1 hohem Bilde). Die Wortverbindung Ruhe der Natur (ru- gegen -ur) ist von weiteren bemerkenswerten, übrigens einzigen Fällen des betonten u unterstützt, wobei die Reihenfolge der konsonantischen *Phoneme n-t-r unversehrt bleibt: I2 herunter 〈!〉 und durch parallele syntaktische Umgebung in den letzten Zeilen veranschaulicht: III2 höher zeigen IV1 die Unterschiede 〈!〉 sich und IV1 zu hohem Bilde 2 Sich zeiget die Natur 〈!〉. Außerdem ist von derselben Dreiergruppe n-t-r auch die Überschrift »Winter« durchformt, und der Ersatz der dem bejahrten Dichter üblichen Unterschrift mit Unterthänigkeit durch Dero unterthänigster könnte ebenfalls seinem Bestreben zugeschrieben werden, die letzte Formel den verketteten Wörtern herunter – der Natur usw. anzupassen.
4. Zusammenfassung Hölderlins fesselnder philosophischer Entwurf »über das jedesmalige poe¨tische Geschäfft und Verfahren«, um die Jahrhundertwende in Homburg niedergeschrieben, verkündet, »daß der Anfangspunct und Mittelpunct und Endpunct in der innigsten Beziehung stehen, so daß beim Beschlusse der Endpunct auf den Anfangspunct und dieser auf den Mittelpunct zurükkehrt«.158 Falls wir, beispielsweise, das erste und das letzte Verspaar der »Aussicht« als den Anfangs- und Endpunkt des Gedichtes betrachten und 158 Vgl. Allemann, Hölderlin und Heidegger, S. 140–149. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Allemann bietet hier im Zusammenhang einer Rekonstruktion der besonderen »Anziehungskraft, die Hölderlins Dichtung auf Heidegger ausübt« (S. 149), einen kurzen Überblick über die Begriffe der Harmonie, des geistigen und sinnlichen Gehalts und der geistigen und sinnlichen Form in Hölderlins Aufsatz; gerade den von den Verfassern an dieser Stelle zitierten Teilsatz kommentiert Allemann hier jedoch nicht. – Vgl. auch den poetologischen Entwurf »Über die Verfahrungsweise des poe¨tischen Geistes«, StA, Bd. 4/1, S. 241–265. Hier schreibt Hölderlin: »Der Stoff muß also vertheilt, der Totaleindruk muß aufgehalten, und die Identität ein Fortstreben von einem Puncte zum andern werden, wo denn der Totaleindruk sich wohl also findet, daß der Anfangspunct und Mittelpunct und Endpunct in der innigsten Beziehung stehen, so daß beim Beschlusse der Endpunct auf den Anfangspunct und dieser auf den Mittelpunct zurükkehrt.« A. a. O., S. 242 f. Etwas weiter unten fährt Hölderlin fort: »Er [der Wirkungskreis] ist das, worinn und woran das jedesmalige poe¨tische Geschäfft und Verfahren sich realisirt, das Vehikel des Geistes, wodurch er sich in sich selbst und in andern reproducirt.« A. a. O., S. 244. [Anm. d. Komm.]
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die zwei inneren Verspaare als seinen Mittelpunkt, erkennen wir die Fülle und Mannigfaltigkeit ihrer tiefen Wechselwirkungen. Bis zu Hölderlins spätesten Gedichten, ja, in den letzteren vielleicht mit einer besonderen Eindringlichkeit, rechtfertigt sich des Dichters Überzeugung, »wie innig jedes Einzelne mit dem Ganzen zusammenhängt und wie sie beide nur Ein lebendiges Ganze ausmachen, das zwar durch und durch individualisirt ist und aus lauter selbständigen, aber ebenso innig und ewig verbundenen Theilen besteht« (Brief an I. v. Sinclair vom 24. Dez. 1798).159
V. Zweierlei Äußerungen des Umnachteten 1. Gespräch Hölderlin, der schon früher an schizoiden Anfällen gelitten hatte, erkrankte 1802, also in seinem 32. Lebensjahr, laut ärztlichem Urteil »mit einer akuten schizophrenen Psychose«.160 Schelling schildert ihn im Brief an Hegel vom 11. Juli 1803 als »am Geist ganz zerrüttet« und obgleich noch einiger literarischer Arbeiten »bis zu einem gewissen Puncte fähig, doch übrigens in einer vollkommenen Geistesabwesenheit«.161 Im August 1806 erhielt Hölderlins Mutter einen Brief seines Vertrauten Isaak Sinclair, es sei nicht mehr möglich, daß »mein unglücklicher Freund, dessen Wahnsinn eine sehr hohe Stufe erreicht hat, länger 〈…〉 in Homburg bleibe« und »daß seine längere Freiheit selbst dem Publikum gefährlich 159 Vgl. dazu das Dokument »An Isaak von Sinclair«, a. a. O., Bd. 6/1, Nr. 171, S. 299– 301. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Vgl. auch u., S. 236, Anm. 358. [Anm. d. Komm.] 160 S. beispielsweise Supprian, »Schizophrenie und Sprache bei Hölderlin«. 161 Vgl. dazu das Dokument »Schelling an Hegel«, StA, Bd. 7/2, Nr. 291, S. 261–263. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775–1854) schreibt am 11. Juli 1803 an Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) über Hölderlin: »Seit einer Reise nach Frankreich, wohin er auf eine Empfehlung von Professor Ströhlin mit ganz falschen Vorstellungen von dem, was er bei seiner Stelle zu thun hätte, gegangen war und woher er sogleich wieder zurückkehrte, da man Forderungen an ihn gemacht zu haben scheint, die er zu erfüllen theils unfähig war, theils mit seiner Empfindlichkeit nicht vereinen konnte – seit dieser fatalen Reise ist er am Geist ganz zerrüttet, und obgleich noch einiger Arbeiten, z. B. des Übersetzens aus dem Griechischen bis zu einem gewissen Puncte fähig, doch übrigens in einer vollkommenen Geistesabwesenheit.« A. a. O., S. 261 f. Hegel studiert zusammen mit Hölderlin 1788–1793 im Tübinger Stift. Schelling, mit Hölderlin schon aus der gemeinsamen Schulzeit in Nürtingen 1783/84 bekannt, kommt 1790 ins Stift. Vgl. Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Michael Knaupp, Bd. 3, S. 732 u. 798. [Anm. d. Komm.]
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werden könnte«.162 Nach einigen qualvollen Monaten im Tübinger Irrenhause blieb der Kranke, seiner dichterischen Vorahnung gemäß, für eine ganze Hälfte des Lebens – Weh mir, wo nehm’ ich, wenn Es Winter ist, die Blumen – 163 beim Tübinger Tischler Ernst Zimmer bis zum Lebensende »in Kost und Aufsicht«.164 Nach der Erinnerung des Pfarrers Max Eifert (veröffentlicht 1849) heißt es, »der unglückliche Dichter Hölderlin«, der Bewohner des Turmkämmerchens in des Schreiners Haus am alten Zwinger, »wandelte 〈…〉 auf und ab« »bis vor wenigen Jahren mit irrem Sinn in ewigem verwirrtem Selbstgespräch«.165 Laut 162 Vgl. dazu das Dokument »Sinclair an Hölderlins Mutter«, StA, Bd. 7/2, Nr. 345, S. 352 f. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Am 3. August 1806 schreibt Isaak von Sinclair (1775–1815) aus Bad Homburg an Hölderlins Mutter, Johanna Christiana Gok (1748–1828): »Es ist […] nicht mehr möglich, daß mein unglücklicher Freund, dessen Wahnsinn eine sehr hohe Stufe erreicht hat, länger eine Besoldung beziehe und hier in Homburg bleibe, und ich bin beauftragt Sie zu ersuchen, ihn dahier abholen zu lassen. Seine Irrungen haben den Pöbel dahier so sehr gegen ihn aufgebracht, daß bei meiner Abwesenheit die ärgsten Mishandlungen seiner Person zu befürchten stünden, und daß seine längere Freiheit selbst dem Publikum gefährlich werden könnte, und, da keine solche Anstalten im hiesigen Land sind, es die öffentliche Vorsorge erfodert, ihn von hier zu entfernen.« A. a. O., S. 352. Isaak von Sinclair wird mit Hölderlin während seines Jurastudiums in Tübingen 1792–1794 bekannt, seit 1795 ist er mit Hölderlin befreundet. Sinclair bittet im Juli 1804 den Landgrafen von Homburg, eine ihm seit 1802 zustehende Gehaltszulage für eine Stelle als Hofbibliothekar verwenden zu dürfen, die Hölderlin übernehmen soll. Die Regelung wird getroffen, Hölderlin übt jedoch in der ca. 16 000 Bände umfassenden Bibliothek keine dienstliche Tätigkeit aus. Vgl. Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Michael Knaupp, Bd. 3, S. 726, 804 f. u. 852. [Anm. d. Komm.] 163 Zu »Hälfte des Lebens« vgl. StA, Bd. 2/1, S. 117. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Die Verfasser zitieren hier V. 8 f. [Anm. d. Komm.] 164 Vgl. dazu das Dokument »Besuch Varnhagens von Ense bei Hölderlin«, a. a. O., Bd. 7/2, Nr. 357, S. 370–373. Karl August Varnhagen von Ense (1785–1858) hält sich im Herbst 1808 zur Beendigung seines Medizinstudiums in Tübingen auf. Über seinen Besuch im Turm am 29. Dezember 1808 schreibt er: »Der arme Hölderlin! Er ist bei einem Schreiner in Kost und Aufsicht, der ihn gut hält, mit ihm spaziren geht, ihn so viel als nöthig bewacht; denn sein Wahnsinn ist nicht grade gefährlich, nur darf man den Einfällen nicht trauen, die ihn plötzlich anwandeln könnten.« A. a. O., S. 371. [Anm. d. Komm.] 165 Vgl. dazu das Dokument »Erinnerung Max Eiferts«, a. a. O., Bd. 7/3, Nr. 489, S. 41. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Das Zitat lautet vollständig: »In dem oberen derselben [der Türme des alten Zwingers am Neckar] wandelte bis vor wenigen Jahren mit irrem Sinn in ewigem verwirrtem Selbstgespräch der unglückliche Dichter Hölderlin auf und ab, nur selten jugendlichen Besuchern zugänglich, die er mit Herablassung und angewöhnter Würde empfing.« Max Eifert (1808–1888) gehört zu den »jugendlichen Besuchern« Hölderlins. Er schreibt 1828 das Gedicht »Der kranke Sänger Hölderlin«, a. a. O., S. 486–488. [Anm. d. Komm.]
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Wilhelm Waiblingers Mitteilung ließ man ihn allein nicht ausgehen, »sondern nur in dem Zwinger vor dem Hause spazirenwandeln«.166 Die zahlreichen Zeugnisse der Besucher des Dichters in des Tischlers Haus von K. A. Varnhagens Beobachtungen am 29. Dezember 1808 167 bis zu Hölderlins Todesjahr enthalten wertvolle Auskünfte, die heute in der Großen Stuttgarter Ausgabe 168 gesammelt sind. Sie lenken die Aufmerksamkeit auf den beharrlichen Unwillen und die qualvolle Unfähigkeit des Wahnsinnigen, sich mit den Leuten zu unterhalten und folglich auf die »unermässliche Kluft« 169 zwischen ihm und der menschlichen Umgebung, wie es schon die aufmerksamen und eingehenden Betrachtungen des Schriftstellers Wilhelm Waiblinger aus den Jahren 1822– 1826 (abgesehen von dessen allzu subjektiver Stellungnahme) klarlegen und wie es auch spätere Beobachter wiederholt bestätigen. Von des Dichters früher Jugend bis zur Entwicklung seiner akuten Krankheit war ihm, wie Nussbächer 170 richtig sah, das »selige Geben und Nehmen« ein Lebensbedürfnis: »Seine dialogische Natur suchte das Gespräch, und aus dem Gespräch mit einem Du erwuchs sein Gesang. In der Liebesbegegnung mit Diotima erfuhr Hölderlin das erfüllende, antwortende Du, und von früher Jugend an bis zu den Jahren der Krankheit stand er in Zwiesprache mit echten Freunden.« Es ist gerade der Verlust des Zwiegesprächs, der dem ganzen Verhalten des Tübinger Einsiedlers das entscheidende Kennzeichen aufprägt. Er geriet in Verlegenheit sowohl beim Angesprochenwerden als auch beim Ansprechen und beim Versuch zu antworten, so daß »selbst seine früheren Bekannten«, nach Waiblingers Angabe, »solche Unterhaltungen zu unheimlich, zu drückend, zu langweilig, zu sinnlos« fanden.171 Fremde wurden von ihm mit einem Schwall 166 Vgl. dazu das Dokument »Wilhelm Waiblinger: Friedrich Hölderlins Leben, Dichtung und Wahnsinn«, a. a. O., Bd. 7/3, Nr. 499, S. 50–88. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Waiblinger schreibt hier: »Allein läßt man ihn [Hölderlin] aber nicht ausgehen, sondern nur in dem Zwinger vor dem Hause spazirenwandeln.« A. a. O., S. 64. [Anm. d. Komm.] 167 Vgl. dazu das Dokument »Besuch Varnhagens von Ense bei Hölderlin«, a. a. O., Bd. 7/2, Nr. 357, S. 370–373. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] 168 Vgl. dazu StA, Bd. 7/2 und Bd. 7/3. 169 Vgl. dazu das Dokument »Wilhelm Waiblinger: Friedrich Hölderlins Leben, Dichtung und Wahnsinn«, a. a. O., Bd. 7/3, Nr. 499, S. 50–88, hier: S. 76: »Es ist eine unermeßliche Kluft zwischen ihm und der ganzen Menschheit.« [Anm. d. Komm.] 170 Nussbächer, Friedrich Hölderlin, S. 205. 171 Vgl. dazu das Dokument »Wilhelm Waiblinger: Friedrich Hölderlins Leben, Dichtung und Wahnsinn«, StA, Bd. 7/3, Nr. 499, S. 50–88. Das Zitat lautet im Zusammenhang: »Denn alsdann war die Erscheinung [der Besuch] für den Einsamen [Hölderlin], von allem Menschenumgang Abgeschlossenen zu neu, zu störend, und
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von sinnlosen Worten empfangen: »Man vernimmt einige Worte, die verständlich sind, die aber meist unmöglich beantwortet werden können« 172 und er selber bleibt gewöhnlich »ganz und gar unachtsam auf das, was man zu ihm spricht«.173 Unter einer nachdrücklichen Befragung geriet Hölderlin in heftige Bewegung und der Fragende erhielt von ihm »einen fürchterlich kunterbunten sinnlosen Wortschwall«.174 Oder Hölderlin zieht es vor, eine Antwort einfach abzusagen: »Eure königliche Majestät, das darf, das kann ich nicht beantworten.« 175 Endlich kann die Erwiderung dem Fragesteller selbst zugeschoben werden: – »Sie waren wohl schon lange nicht mehr in Frankreich?« – »Oui, monsieur, Sie behaupten das.« 176 Eine ähnliche Ausflucht lautet: »Sie können Recht haben.« 177 Die Angst vor einer Verant-
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der Fremde wußte ihn nicht zu behandeln. Hölderlin selbst fieng auch bald an, für den Besuch zu danken, sich abermals zu verbeugen, und es war alsdann gut, wenn man nicht länger verweilte. Länger hielt sich auch keiner bey ihm auf. Selbst seine früheren Bekannten fanden eine solche Unterhaltung zu unheimlich, zu drückend, zu langweilig, zu sinnlos.« A. a. O., S. 62. [Anm. d. Komm.] Vgl. a. a. O., Bd. 7/3, Nr. 499, S. 50–88. Wilhelm Waiblinger schreibt über einen Besuch bei dem kranken Dichter: »Hölderlin fühlt jetzt, artig, wie er war und wie er der Form nach es noch ist, die Nothwendigkeit, dem Gaste etwas Freundliches zu sagen, eine Frage an ihn zu errichten. Er thut es; man vernimmt einige Worte, die verständlich sind, die aber meist unmöglich beantwortet werden können.«, A. a. O., S. 62. [Anm. d. Komm.] Als Zitat nicht nachgewiesen. Vgl. jedoch a. a. O., Bd. 7/3, Nr. 499, S. 50–88. Wilhelm Waiblinger schreibt über den kranken Hölderlin: »Nie gibt er Acht auf das, was man zu ihm spricht, weil er immer in sich selbst mit seinen unvollkommenen unklaren Gedanken kämpft, und will man ihn nun plötzlich mit einer Frage aus diesem dumpfen Brüten herausreißen, so muß man mit dem Nächsten zufrieden seyn, was ihm auf die Zunge kommt.« A. a. O., S. 72. [Anm. d. Komm.] Vgl. a. a. O., Bd. 7/3, Nr. 499, S. 50–88. Wilhelm Waiblinger berichtet über eine Unterredung mit Hölderlin: »Oft wollt’ ich, wenn er eine Frage auf diese Weise kurzweg abschnitt, mit Gewalt auf eine vernünftige Antwort dringen, drehte meine Worte, ließ nicht ab, brachte immer wieder dasselbe in anderer Wendung vor, und hörte erst auf, als er in heftige Bewegung gerieth und einen fürchterlich kunterbunten sinnlosen Wortschwall hervorbrachte.« A. a. O., S. 66. [Anm. d. Komm.] Vgl. dazu das Dokument »Aus den Tagebüchern Wilhelm Waiblingers«, insbesondere den Eintrag vom 3. Juli 1822. A. a. O., Bd. 7/3, Nr. 470, S. 3–18, hier: S. 4. [Anm. d. Komm.] Vgl. u., S. 227, Anm. 316. [Anm. d. Komm.] Vgl. dazu das Dokument »Tagebuch Christoph Theodor Schwabs«, StA, Bd. 7/3, Nr. 551, S. 202–209. Schwab notiert am 26. Januar 1841 in sein Tagebuch: »Auf das, was ich sprach, antwortete er [Hölderlin] gewöhnlich: ›Sie können Recht haben‹, ›Sie haben Recht‹ einmal ›Das ist eine gewisse Wahrheit‹.« A. a. O., S. 205. [Anm. d. Komm.]
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wortung für eine selbständige Bejahung oder Verneinung offenbart sich in derart formulierten Stellungnahmen wie »Sie sagen so, Sie behaupten so! es geschieht mir nichts!« 178 Das sollte Hölderlins »drittes Wort« sein.179 Sogar eine Absage auf Vorschläge des Gesellschafters wurde von Hölderlin dem Anordner selber zugeschrieben. So folgt auf eine Einladung zum Spaziergang eine »höchst sonderbare Form« von bestätigendem Widerspruch: »Sie befehlen, daß ich hier bleibe.« 180 Auf den ständigen Widerstreit zwischen Ja und Nein in Hölderlins Sprechweise, wie z. B. zwischen einer Aussage »die Menschen sind glücklich« und deren Widerrufung »die Menschen sind unglücklich« hat schon Waiblinger »unzählige Male« achtgegeben.181 Wie von Christoph Theodor Schwab in seinem Tagebuch aus dem Jahre 1841 vermerkt, soll der kranke Dichter den Ausdruck pallaksch erdacht und mit Vorliebe gebraucht haben, welchen man entweder für ja oder für nein nehmen konnte, und der ihm zum Behelfe stand, um dem Ja oder Nein auszuweichen.182 178 Vgl. o., S. 146, sowie dort, Anm. 22. [Anm. d. Komm.] 179 Vgl. dazu das Dokument »Besuch Gustav Kühnes in Tübingen«, StA, Bd. 7/3, Nr. 535, S. 153–168. Kühne berichtet von einer Unterredung mit dem Schreinermeister Zimmer, der über den kranken Hölderlin sagt: »›Sein drittes Wort ischt: ’s g’schieht mer nix.‹« A. a. O., S. 158. [Anm. d. Komm.] 180 Vgl. dazu das Dokument »Wilhelm Waiblinger: Friedrich Hölderlins Leben, Dichtung und Wahnsinn«, a. a. O., Bd. 7/3, Nr. 499, S. 50–88. Waiblinger beschreibt Hölderlins Reaktion auf den Vorschlag, einen Spaziergang zu machen, folgendermaßen: »Er hatte allerley Ausreden; er sagte: ›Ich habe keine Zeit, Eure Heiligkeit‹ – denn auch ich bekam alle Titel durchweg – ›ich muß auf einen Besuch warten‹; oder brauchte er eine ihm gewöhnliche höchst sonderbare Form, indem er sagte: ›Sie befehlen, daß ich hier bleibe‹.« A. a. O., S. 64. [Anm. d. Komm.] 181 Vgl. a. a. O., Bd. 7/3, Nr. 499, S. 50–88. Wilhelm Waiblinger schreibt zu Hölderlins Schwanken zwischen Bejahung und Verneinung: »Sagt er z. B. zu sich selbst: die Menschen sind glücklich, so mangelt es ihm an Halt und Klarheit, um sich zu fragen warum und wie, er fühlt eine dumpfe widerstrebende Empfindung in sich, er widerruft, und sagt: die Menschen sind unglücklich, ohne sich darum zu bekümmern, warum und wie sie es sind. Diesen unglückseligen Widerstreit, der seine Gedanken schon im Werden zernichtet, konnte ich unzähligemal bemerken, weil er gewöhnlich laut denkt.« A. a. O., S. 74 f. [Anm. d. Komm.] 182 Vgl. dazu das Dokument »Tagebuch Christoph Theodor Schwabs«, a. a. O., Bd. 7/3, Nr. 551, S. 202–209. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Schwab notiert am 14. Januar 1841: »Ich bat ihn [Hölderlin], eine Stelle vorzulesen [aus dem Roman Hyperion], er sprach aber nur unsinnige Worte, das Wort pallaksch scheint bei ihm ja zu bedeuten.« A. a. O., S. 203. Schwab kommt in seiner Hölderlin-Biographie »Hölderlin’s Leben« nochmals darauf zu sprechen: »Ein Lieblingsausdruck war das Wort pallaksch!, man konnte es das einemal für Ja, das anderemal für Nein neh-
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Dieselbe Unsicherheit spiegelt sich in dem zu verschiedensten Zeiten von Berichtern notierten »polyglottischen Schwalle von Titeln« 183 und Höflichkeitsfloskeln, die der Kranke allenthalben anbrachte, besonders um jemanden zu bewillkommen. Nach dem Bericht des Redakteurs Gustav Kühne, der 1838 seine Tübinger Eindrücke schildert, wirft Hölderlin, »erhält er Besuch, mit Ew. Hoheit und Ew. Gnaden um sich, selbst mit Ew. Heiligkeit und Ew. Majestät ist er freigiebig«,184 als ob er damit, nach der früheren Vermutung Waiblingers, geflissentlich jedermann in einer unübersteigbaren Ferne von sich halten wollte, wobei nicht daran zu denken sei, daß er wirklich mit Königen umzugehen glaubte.185 Wie es Meister Ernst Zimmer, laut Gustav Kühne, behauptete, bleibt Hölderlin somit für sich ein »freier Mann, der sich nix am Zeuge flicken läßt«.186
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men, aber er dachte sich gewöhnlich gar nichts dabei, sondern brauchte es, wenn seine Geduld oder die Reste seines Denkvermögens erschöpft waren und er sich die Mühe nicht nehmen wollte, nachzudenken, ob Ja oder Nein zu sagen wäre.« Hölderlin, Sämmtliche Werke, Bd. 2, S. 263–333, hier: S. 324. [Anm. d. Komm.] Vgl. dazu das Dokument »Albert Diefenbachs Besuch im Dezember 1837«, a. a. O., Bd. 7/3, Nr. 534, S. 145–152. Der katholische Theologe Albert Diefenbach (1811– 1877) berichtet über seinen Besuch bei Hölderlin: »Mit einem unverständlichen polyglottischen Schwalle von Titeln, unter denen ich nur die ›Ew. Majestät, Hoheit, Heiligkeit, Gnaden, Herr Pater, gnädiger Herr‹ verstehen konnte und einigen Dutzend Höflichkeitsbezeugungen und tiefen Rückenkrümmungen wies er mich an das von mir erfragte Zimmer.« A. a. O., S. 146. [Anm. d. Komm.] Vgl. dazu das Dokument »Besuch Gustav Kühnes in Tübingen«, a. a. O., Bd. 7/3, Nr. 535, S. 153–168. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Das Zitat lautet vollständig: »Er [Hölderlin] wirft, erhält er Besuch, mit Ew. Hoheit und Ew. Gnaden um sich, selbst mit Ew. Heiligkeit und Ew. Majestät ist er freigiebig…«. A. a. O., S. 156. Der Erzähler Gustav Kühne (1806–1888), ein Vertreter des Jungen Deutschland, ist 1835–1842 Redakteur der Zeitung für die elegante Welt, 1846–1859 Redakteur der Zeitschrift Europa. Vgl. a. a. O., S. 163. [Anm. d. Komm.] Vgl. dazu das Dokument »Wilhelm Waiblinger: Hölderlins Leben, Dichtung und Wahnsinn«, a. a. O., Bd. 7/3, Nr. 499, S. 50–88. Waiblinger schreibt zu Hölderlins Angewohnheit, »die Leute bald Majestät, bald Heiligkeit, bald Baron und bald Pater« zu nennen: »Aber daß er wirklich mit Königen umzugehen glaubt, daran ist nicht zu denken: denn […] er ist kein Narr, hat keine fixe Idee, und sein Zustand ist nur einer der Geistesschwäche, welche durch ein zerstörtes Nervensystem zu einer unheilbaren Krankheit geworden ist.« A. a. O., S. 78. [Anm. d. Komm.] Vgl. dazu das Dokument »Besuch Gustav Kühnes in Tübingen«, a. a. O., Bd. 7/3, Nr. 535, S. 153–168. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Das Zitat lautet im Zusammenhang: »Der Meister [Zimmer] führte uns also nach seiner Wohnung. Unterwegs sprach er noch von der Eigenheit Hölderlin’s, jeden Fremden mit hohen Titeln zu beehren. ›’s ischt ein probates Mittel, sich jeden vom Leibe zu halten,‹ philosophirte der Schwabe. ›Mer bleibt danebe doch ’n freier Mann, der sich nix am Zeuge flicken läßt.‹« A. a. O., S. 158. [Anm. d. Komm.]
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Das »Geben und Nehmen« verschwindet aus dem Alltag des Schizophrenen. Hartnäckig weigerte sich Hölderlin, jegliche Büchergeschenke zu empfangen, sogar wenn es sich um Auflagen seiner eigenen Werke handelte,187 und Waiblingers Tagebuch vermerkte an ihm »eine schreckliche Eigenheit«: sobald er gegessen, stellte Hölderlin das Geschirr einfach vor die Türe.188 Die Verleugnung seines eigenen Namens und die Aneignung einer entlehnten oder erdachten Benennung ist vor allem ein Versuch, sein Ich aus dem Gespräch und später auch aus dem Schreiben auszuschalten.189 Schon zu Waiblinger sagte er, daß er nun Killalusimeno heiße (s. oben S. 146). Nach Johann Georg Fischer verleugnete der Geisteskranke den Namen Hölderlin auf dem Titelblatt seiner Gedichte und behauptete, Scardanelli oder Scaliger Rosa zu heißen.190 Als 1842 Studenten beim gemeinsamen Kaffeetrinken Hölderlin »bei s. Namen nannten, ließ er’s nicht gelten, sondern erwiederte: ›Sie sprechen mit HE. Rosetti‹«.191 Vgl. Chr. Th. Schwabs Angaben (oben S. 146 f.) über Hölderlins rasendes Bestehen auf der Anerkennung seines Namens Scardanelli. Offensichtlich ging es dem wahnsinnigen Dichter vor allem um die Vermeidung jedes mündlichen oder schriftlichen Gebrauchs seines ererbten Namens.
187 Vgl. u., S. 212, Anm. 255. [Anm. d. Komm.] 188 Vgl. dazu das Dokument »Aus den Tagebüchern Wilhelm Waiblingers«, StA, Bd. 7/3, Nr. 470, S. 3–18. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Am 8. Juni 1823 schreibt Waiblinger über den kranken Hölderlin: »Eine schreckliche Eigenheit an ihm ists auch, daß er, sobald er gegessen, das Geschirr vor die Thüre stellt.« A. a. O., S. 10. [Anm. d. Komm.] 189 Vgl. dazu das Dokument »Sektionsbericht von Dr. Rapp«, a. a. O., Bd. 7/3, Nr. 632, S. 338–343. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Eingeschlossen ist hierbei Beißners »Exkurs« zur »Frage nach Hölderlins Krankheit, ihrem Wesen und ihren Symptomen«, a. a. O., S. 339–343, hier: S. 339. Die Verfasser beziehen sich auf Punkt »8« dieses »Exkurses«: »Die Verleugnung des eigenen und die Aneignung eines fremden Namens«, a. a. O., S. 343. Wilhelm Rapp (1794–1868), Professor der Anatomie und Zoologie, nimmt die Obduktion an Hölderlins Leiche vor. Vgl. a. a. O., S. 336 f. [Anm. d. Komm.] 190 Vgl. dazu das Dokument »Johann Georg Fischer und Hölderlin«, a. a. O., Bd. 7/3, Nr. 608, S. 292–308, hier: S. 297. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Vgl. auch o., S. 147, Anm. 27. [Anm. d. Komm.] 191 Vgl. dazu das Dokument »Ein Besuch Ferdinand Schimpfs«, StA, Bd. 7/3, Nr. 596, S. 280. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Ferdinand Schimpf (1820–1906) ist einer der studentischen Besucher Hölderlins. [Anm. d. Komm.]
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2. Dichtung Aus dem dichterischen Nachlaß der letzten Lebensjahre sind nur karge und rein zufällige Überbleibsel erhalten, und dennoch ergibt ihre Untersuchung eine reiche und überraschende Auskunft über das Schaffen des Künstlers in den letzten Dezennien seiner »großen Psychose«.192 Über die späten Stadien seiner beinahe vierzigjährigen Tübinger Internierung und die Gedichte, die der bejahrte Hölderlin auf Bitten der Besucher in deren Gegenwart und ex tempore niederschrieb und dem jeweiligen Antragsteller überreichte, besitzt man gehaltvolle Berichte. Ernst Zimmer benachrichtigte 1835 einen unbekannten Korrespondenten: »Ich foderde ihn dazu auf mir auch wieder etwas zu schreiben, er machte nur daß Fenster auf, that einen Blick ins Freue, und in 12 Minuten war es fertig«.193 Über Hölderlins letzte schöpferische Versuche entnehmen wir dem Nachrufe des Lyrikers Gottlob Kemmler einige bemerkenswerte Züge: »Wenn er, am Pulte stehend, seine Gedanken zum ›dichtenden Gebet‹ zu sammeln rang; da war alle Aengstlichkeit von der gedrückten Stirne weggeflohen, und eine stille Freude verbreitete sich darüber; man mochte noch so laut um ihn her sich unterhalten, ihm über die Schulter sehen, nichts vermochte ihn da zu stören 〈…〉 Er dichtete wann man wollte, vielleicht auch um sich dadurch ein wenig von der liebreich andringenden Gesellschaft zu isoliren«.194 Der krampfhafte Dialog und seine Teilneh192 Vgl. Supprian, »Schizophrenie«, S. 617. 193 Vgl. dazu das Dokument »Zimmer an einen Unbekannten«, StA, Bd. 7/3, Nr. 528, S. 132–139, hier: S. 134. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Vgl. dazu auch o., S. 145, Anm. 19. [Anm. d. Komm.] 194 Vgl. dazu das Dokument »Nachruf von Gottlob Kemmler«, StA, Bd. 7/3, Nr. 642, S. 365–368. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Das Zitat ist im Original mit den Worten »Das freundlichste Bild gab er uns in der lezten Zeit,« eingeleitet, anschließend wird mit Kleinschreibung fortgefahren, a. a. O., S. 366. Der von den Verfassern ausgelassene Teil des Zitats lautet: »Was diese lezten Versuche betrifft, so sieht man ihn mit seinen Gedanken kämpfen, ja öfters an einen hinstreifen; aber wie er ihn fassen will, entflieht er ihm. Noch scheint der Charakter seiner alten Poesie darin durch; von seiner geliebten Natur vermochte er noch den allgemeinen Glanz, die darüber ausgegossene ›Geistigkeit‹ aufzufassen und ihre allgemeinsten Erscheinungen in Jahres- und Tageszeiten; noch empfand er die Stille des Abends, der sich ›wie Wolken um die Zeiten legt‹; auch die Stille der Menschheit und einer neuen Zeit dämmerte noch in diesen vom lezten Abendschimmer gebrochenen, wolkigen Gebilden.« A. a. O., S. 366 f. Gottlob Kemmler (1823–1907) studiert 1837 im Seminar in Blaubeuren und 1841 im Tübinger Stift, anschließend hat er diverse Pfarrstellen in Württemberg inne. Vor seinem »Nachruf« auf Hölderlin, noch am Beerdigungstag des Dichters, schreibt er die Elegie »Auf Hölderlins Grab«. A. a. O., S. 279 u. 519– 521. [Anm. d. Komm.]
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mer verschwinden vor dem Entzücken des schöpferischen Monologs. Der Gedanke »es geschieht mir nichts«,195 eine beschwörende Formel bei Hölderlins Zwiegesprächen, wird hier zu einer glücklichen, willkommenen Erfahrung. Johann Georg Fischer, Lehrer und Dichter, erzählt, wie er beim letzten Besuch im April 1843 Hölderlin um ein paar Strophen als Andenken bat und der Dichter sich, bereit zu schreiben, an das Pult stellte: »Lebenslang bleibt mir sein Gesichtsaufleuchten in diesem Augenblick unvergessen, Auge und Stirn glänzten, wie wenn niemals so schwere Verwirrung darüber gegangen wäre 〈…〉 Nach Beendigung überreichte er mir 〈…〉 das Blatt mit den Worten: ›Geruhen Euer Heiligkeit?‹« 196 Christoph Theodor Schwab, der Leiter der posthumen Ausgabe von Friedrich Hölderlins Sämmtlichen Werken (1846),197 behauptet, nie einen sinnlosen Vers vom kranken Dichter gesehen zu haben, obgleich er seine Verse verfaßte direkt »nachdem man Tage und Wochen lang kein vernünftiges Wort von ihm gehört hatte«, und diese Gedichte schrieb er, »ohne sie nachher zu überlesen oder irgend etwas auszubessern«.198 Allerdings beschränkt sich Chr. Th. Schwab darauf, von den Gedichten »aus der Zeit von Hoelderlin’s getrübter Geistesstimmung« nur kleinere Proben in der Biographie mitzuteilen.199 195 Vgl. o., S. 146, Anm. 22 u. S. 194, Anm. 178. [Anm. d. Komm.] 196 Vgl. dazu das Dokument »Johann Georg Fischer und Hölderlin«, StA, Bd. 7/3, Nr. 608, S. 292–308, bes. den Aufsatz »Aus Friedrich Hölderlins dunkeln Tagen«. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Die erste Auslassung lautet: »Und nun er schrieb, scandierte er mit der linken Hand jede Zeile, und am Schluß einer jeden drückte sich ihm ein zufriedenes ›Hm!‹ aus der Brust.« Die zweite Auslassung lautet: »unter tiefer Verbeugung«. A. a. O., S. 301. Vgl. auch o., S. 154, Anm. 56. [Anm. d. Komm.] 197 Vgl. o., S. 147, Anm. 26. [Anm. d. Komm.] 198 S. Trummler, Der kranke Hölderlin, S. 115 f. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Trummler zählt zwar die Reihe der von ihm versammelten Dokumente einmalig auf, unterläßt aber hier wie auch sonst jeden direkten Quellennachweis für seine einzelnen Behauptungen. [Anm. d. Komm.] 199 Vgl. dazu das Dokument »Christoph Schwab an Gok«, StA, Bd. 7/3, Nr. 663, S. 413 f. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Im Zusammenhang mit seinem Vorhaben, Hölderlins Sämmtliche Werke herauszugeben, schreibt Christoph Theodor Schwab an Hölderlins Stiefbruder Karl Gok (1776–1849) am 10. April 1844: »Was die Gedichte aus der Zeit von Hoelderlin’s getrübter Geistesstimmung betrifft, so möchte ich davon nur kleinere Proben, dergleichen auch sonst schon veröffentlicht worden sind, in der Biographie mittheilen und würde die Aufnahme derselben gerne Ihrem, Uhlands und meines Vaters Urtheile unterwerfen.« A. a. O., S. 413, Hervorhebung im Text. Vgl. dazu Schwabs Hölderlin-Biographie »Hölderlin’s Leben«, Hölderlin, Sämmtliche Werke, Bd. 2, S. 263–333, sowie Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Michael Knaupp, Bd. 3, S. 726 f. [Anm. d. Komm.]
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Trotz der Begeisterung, welche Waiblinger für den »trunkenen, gottbeseelten Menschen« zu Anfang der 1820er Jahre gespürt hatte,200 war er doch geneigt, sinnlose Verse, Fehlgriffe und Belege eines »fürchterlichen Styls« 201 in Hölderlins »Spätlingen« 202 aufzudecken, obgleich das Schaffen des Wahnsinnigen dem des Beurteilers unvergleichlich überlegen war. Nur einzelne Zeitgenossen des leidenden Künstlers vermochten seine Spätdichtung zu begreifen und zu würdigen. Gustav Schwab, Christophs Vater, der mit Uhland 1826 die erste Ausgabe der Gedichte von Hölderlin redigiert hatte,203 beharrte auch 1841 beim Lesen der neuesten Verse des kranken Dichters auf seiner Überzeugung, »Hölderlins ganzes Genie zeige sich noch darinn«. Gustavs Frau Sophie Schwab fügte hinzu: »Wie herrlich, daß man also bei Hölderlin sieht, auch nach 40 Jahren des verfinstersten Wahnsinns ist der Geist noch vorhanden u. thut sich nach so langer Zeit noch kund«.204 200 Vgl. dazu das Dokument »Aus den Tagebüchern Wilhelm Waiblingers«, StA, Bd. 7/3, Nr. 470, S. 3–18. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Am 9. August 1822 schreibt Wilhelm Waiblinger in sein Tagebuch: »Hölderlin ist einer der trunkenen, gottbeseelten Menschen, wie wenig die Erde hervorbringt, der geweihte Priester der heiligen Natur!« A. a. O., S. 7. [Anm. d. Komm.] 201 Vgl. dazu das Dokument »Anmerkung Waiblingers zu seinem Gedicht ›An Hölderlin‹. 1826«, a. a. O., Bd. 7/3, Nr. 480, S. 26–28. Wilhelm Waiblinger bemerkt hier: »Zur Erklärung dieses Gedichts [»An Hölderlin«] diene nur, daß der wahnsinnige Dichter des Hyperion mich ohne Unterlaß einen Sommer lang auf jenem ehemals von Wieland bewohnten Gartenhause besuchte, von dem man eine reizende Aussicht auf eine dem Unglückseeligen selbst und dem Dichter des Liedes an ihn durch die süßesten und traurigsten Erinnerungen heilig gewordene Gegend genießt, und hier seiner Gewohnheit gemäß ihm den Hyperion vorgelesen, ja selbst Gedichte, freilich in einem fürchterlichen Styl geschrieben.« A. a. O., S. 26 f. Zu Waiblingers Gedicht »An Hölderlin« vgl. a. a. O., S. 483–486. [Anm. d. Komm.] 202 Vgl. u., S. 210, Anm. 244. [Anm. d. Komm.] 203 Die von Ludwig Uhland und Gustav Schwab besorgte Ausgabe der Gedichte Hölderlins ist 1826 in der J. G. Cotta’schen Buchhandlung, Stuttgart und Tübingen, erschienen. [Anm. d. Komm.] 204 Vgl. dazu das Dokument »Sophie Schwab an Kerner«, StA, Bd. 7/3, Nr. 553, S. 211 f. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Sophie Schwab (1795–1865), die Frau Gustav Schwabs, schreibt am 24. Januar 1841 an den Arzt und Dichter Justinus Kerner (1786–1862), der Hölderlin im Autenriethschen Klinikum betreut hat: »H[ölderlin] hat C[hristoph Schwab] auf seine Aufforderung schon einige Gedichte gemacht, mein l. Mann hat sie gelesen u. sagt, Hölderlins ganzes Genie zeige sich noch darinn; ich bin sehr begierig, bis ich diese Gedichte auch sehe.« A. a. O., S. 211. Das zweite Zitat ist im Original mit »Das wollte ich noch vorhin sagen,« eingeleitet, anschließend wird mit Kleinschreibung fortgefahren (ebd.). Vgl. dazu auch Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Michael Knaupp, Bd. 3, S. 750. [Anm. d. Komm.]
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Nach Bettina von Arnims Ansicht aus derselben Zeit ist Hölderlin »unter dem namenlosen Schicksal, das auf ihm liegt, 〈…〉 für das gewöhnliche Leben der Menschen seit vierzig Jahren verloren, nur irre Töne kommen aus seinem Mund und jede Gegenwart der Menschen verschüchtert und beklemmt ihn. Nur die Muse vermag noch mit ihm zu reden und in einzelnen Stunden schreibt er Verse, kleine Gedichte auf, in denen sich die frühere Tiefe und Anmuth des Geistes spiegelt aber jäh unmittelbar in, dem Verstande unzugängliche, Wort-Rhythmen übergeht«.205 Wenn selbst diese kühne Schwärmerin für das poetische Suchen glaubte, daß diese Gedichte »an die Kluft führen, wo das Wort sich dem Verstande entzieht«,206 ist es verständlich, daß die vollkommen unerwarteten Kunstgestalten von Hölderlins Spätdichtung spießbürgerlichen Tadel hervorriefen. So findet man im Morgenblatt für gebildete Leser am 30. April 1838 einen Aufsatz des Schriftstellers und Versemachers Hermann Kurz (1813–1873) über Hölderlins Gedichte, die als »wunderliche, zwecklos zusammengewürfelte Worte« von einer »grauenhaften Unverständlichkeit« charakterisiert werden.207 Aus dem von dem Ästhetiker Moriz Carriere (1817–1895) 1843 veröffentlichten Nachruf erfährt man: Hölder205 Von Arnim, Ilius Pamphilius, Bd. 2, S. 378; vgl. dazu auch StA, Bd. 7/3, Nr. 579, S. 252–255, hier: S. 255. 206 Von Arnim, a. a. O., S. 381. Vgl. dazu auch die Erläuterungen zum Gedicht »Der Winter« (»Wenn blaicher Schnee verschönert die Gefilde […]«), StA, Bd. 2/2, S. 915 f. 207 Vgl. dazu das Dokument »Briefwechsel zwischen Mörike und Kurz«, a. a. O., Bd. 7/3, Nr. 536, S. 169–174. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Hermann Kurz publiziert am 30. April 1838 einen anonymen Beitrag zu Hölderlins Nachtgesängen im Morgenblatt für gebildete Leser, Nr. 103, S. 409 f. Im einzelnen äußert er sich hier zu den Oden »Der blinde Sänger« und »Chiron« sowie zu »Hälfte des Lebens«. Friedrich Beißner schreibt zu Kurz’ Beitrag: Diese Gedichte »gelten Kurz als Produkte ›der ersten Zeit seines Zerfalls‹, in der, wie ›bekannt‹ sei, ›Unwissenheit und Gewinnsucht dem unglücklichen Dichter […] noch Lieder abforderten, […] deren grauenhafte Unverständlichkeit für Tiefsinn gelten mußte‹. Über sie ›läßt sich schlechterdings nichts mittheilen: es sind wunderliche, zwecklos zusammengewürfelte Worte, mit Reminiszenzen aus den Schöpfungen seiner vermögenden Jugend durchwoben‹.« A. a. O., S. 172. Zu Hölderlins Gedichten »Der blinde Sänger«, »Chiron« und »Hälfte des Lebens« vgl. a. a. O., Bd. 2/1, S. 54 f., 56 f. u. 117. Der freie Schriftsteller Hermann Kurz sendet dem schwäbischen Dichter Eduard Mörike (1804–1875) im Mai 1837 seine Gedichte (1836) und Genzianen, ein Novellenstrauß (1837) mit einem Begleitbrief zu. Im Einvernehmen mit Mörike führt er 1838 die letzten Szenen von dessen Operntext Die Regenbrüder aus und entwirft die Anordnung der Gedichte des Freundes für den Druck. Vgl. a. a. O., Bd. 7/3, S. 171. [Anm. d. Komm.]
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lins poetische Klänge »schwankten zwischen Sinnigem und Unsinnigem haltlos einher«.208 Bis heutzutage dauern ähnliche und schroffere Verurteilungen von Hölderlins spätester Dichtung fort. So wird ihr »eine tiefe Störung des Sprachgefühls«, »Scheitern des sprachlichen Ausdrucks«, und »hilflose Banalität« vorgeworfen, der Autor erfasse nicht mehr den »vollen Sinn« seiner Sprachzeichen, und Hölderlins letzte Gedichte seien »completely devoid of any fruitful tension, mere organ-grinding«.209 Wie Böschenstein 210 mit Recht betont, sind die Untersuchungen zu Hölderlins spätesten Werken »in der Regel von dem Vorurteil abhängig, die Dichtungen eines Geisteskranken könnten nicht anders denn als Zeugnisse geistigen und sprachlichen Zerfalles gedeutet werden«, während »Geisteskrankheit und gültige Poesie einander keineswegs auszuschließen brauchen«. Nach W. Kraft 211 sollte man »endlich einmal beginnen, nachdenklich zu werden, über die künstlichen Scheidungen zwischen Gesundheit und Krankheit, die man seit so langer Zeit zum Schaden der Poesie mitschleppt«. Der wahrscheinlich grimmigste Versuch, Hölderlins Gedichte »aus den Jahren des Endzustandes« zu entwerten, wurde vom Tübinger Dr. med. Wilhelm Lange in seiner Pathographie 212 verfertigt, der in den Schöpfungen des Geisteskranken eine »katatonische Form der Verblödung« findet, wobei das erwähnte klinische Vorurteil bei diesem Forscher durch künstlerische Taubheit offenbar gesteigert wurde. Die erhaltenen 208 Vgl. dazu das Dokument »Nachruf von Moriz Carriere«, a. a. O., Bd. 7/3, Nr. 644, S. 369–376. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Carriere schreibt in seinem »Nachruf« auf Hölderlin: »Er war still und in sich gekehrt, das alte ëEn kai pan stand an seiner Wand, poetische und musikalische Klänge wurden in seinem Innern wach, aber er vermochte nicht die letzteren zur Melodie zu gestalten, und die ersteren schwankten zwischen Sinnigem und Unsinnigem haltlos einher.« A. a. O., S. 371, Hervorhebung im Text. [Anm. d. Komm.] 209 S. Häussermann, »Hölderlins späte Gedichte«, S. 112 f.; Böhm, Hölderlin, Bd. 2, S. 744; Rehm, Orpheus, S. 370; Bach, »Einst und Jetzt in Hölderlin’s Works«, S. 155; vgl. Thürmers Übersicht in Thürmer, Zur poetischen Verfahrensweise, S. 30. 210 Böschenstein, »Hölderlins späteste Gedichte«, S. 36. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Die erste der beiden Zitatstellen ist von den Verfassern wörtlich übernommen, aber in keiner der beiden publizierten Fassungen markiert worden. [Anm. d. Komm.] 211 Kraft, »Hölderlin«, S. 35 f. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Kraft setzt wie folgt fort: »und zwar sollte man nachdenken nach beiden Seiten hin: daß es wunderbare und daß es total kranke Gedichte von dem kranken Hölderlin gibt und daß man diese so unbarmherzig ausscheiden wie jene trotz leerer Stellen preisen sollte«, a. a. O., S. 36. Kraft geht einige Beispiele durch; auf welche Seite er die hier analysierte »Aussicht« gestellt hätte, ist seinem Text nicht zu entnehmen. [Anm. d. Komm.] 212 Lange, Hölderlin. Eine Pathographie, S. 137.
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Gedichte des kranken Hölderlin werden hier mit folgenden Bemerkungen abgetan: »Steifheit und Gezwungenheit, geschraubte Sprache, Wortneubildungen und Wortmaniren, ein kindlicher Ton sind allen gemeinsam, ebenso wie Zerfahrenheit, Stereotypieen und leere Klangspielereien neben banalen Flickworten und Einschiebseln; das Gefühl für den Unterscheid der Sprache der Poesie und der Sprechweise des Alltags, das Stilgefühl ist dem Dichter verlorengegangen, an die Stelle klarer Begriffe treten nur leere Worte. 〈…〉 Der Kreis seiner Interessen ist eingeengt; nur noch dürftige Gefühlsbeziehungen schimmern in seinen Versen durch.« Noch 1921 kehrt eine ähnliche Stellungnahme wieder: »Die systematische Untersuchung dieser Gedichte hätte höchstens ein pathologisches Interesse oder das der Kuriosität«.213 C. Litzmanns Buch hat schon 1890 »Die Aussicht« erwähnt: 214 Es seien »ein Paar nüchterne Naturbetrachtungen, lose an einander gereiht, die ›den Autor‹ auf einen abstrakten Gedanken führen, den er aber nicht mehr klar zu fassen oder auszudrücken vermag«. In einem ganz anderen Lichte erscheinen die gegen Hölderlins Lebensende entstandenen Gedichte bei L. v. Pigenot in seinen Schriften aus dem Jahre 1923, wo er »Die Aussicht« hervorhebt als »jenes geistig durchklärte, feierliche, tief ahnungsvolle, das wir wohl als Hölderlins letztes Gedicht ansprechen dürfen«.215 Seit Pigenots Entwürfen verstärkt sich in der deutschen Literaturwissenschaft das Interesse für Fragen nach der sonderbaren Poetik, die den Hölderlinschen Schlußwerken zugrundeliegt. Dabei wurde immer klarer, daß die Schlußphase der Aufzeichnungen des Dichters sich »von der älteren Hälfte der spätesten Gedichte« deutlich unterscheidet. Auch in diesem Falle sollte eine Vermischung des Wortschatzes der verschiedenen Dichtungsstufen vermieden werden, da sie »statt einer Klärung eine Auflösung der Konturen des jeweiligen Wortfeldes« mit sich bringen würde.216 Es ist kennzeichnend, daß für »Die Aussicht« (sowie für andere Gedichte des Scardanellizyklus) bezeichnende Wörter – Aussicht, Vollkommenheit, ergänzen, vorübergleiten – der sogenannten »Periode der Hymnen« 217 fremd bleiben. Neben Bekundungen einer Bewunderung für 213 Vie¨tor, Die Lyrik Hölderlins, S. 227. 214 Litzmann, Hölderlins Leben in Briefen, S. 663 f. 215 Von Pigenot, Hölderlin, S. 163; vgl. Häussermann, »Hölderlins späteste Gedichte«, S. 109 f. 216 Vgl. Böschenstein, Konkordanz, S. 90. 217 In zwei Perioden seines Lebens schreibt Hölderlin Hymnen: Zunächst die gereimten Tübinger Hymnen, zwischen 1790 und 1793, während seines Theologiestudiums im Tübinger Stift, sodann die großen, in der Hölderlin-Forschung sogenann-
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einzelne Gedichte »Scardanellis« gab es in den 1960er Jahren einige Versuche, Hölderlins Sprachkunst der letzten Lebensjahre genauer zu erörtern und entweder deren Zusammenhängen mit seinen früheren Werken nachzuspüren 218 oder eher die neuen und originellen Eigenschaften der dichterischen Schlußphase aufzudecken, wobei diese Stufe, anstatt einen Verfall zu bekunden, »sich gesetzlich in Hölderlins Weg einfügt und zwar, so paradox das erscheinen mag, als ein wirklicher Fortschritt«, wie es Wilhelm Michel schon 1940 formuliert hatte.219 Im Jahre 1964 schrieb ˙ ygulski: »Die Behauptung könnte zwar wider polnische Germanist Z. Z dersinnig scheinen, doch dichtete der geisteskranke Hölderlin klarer als der angeblich gesunde«.220 Wilfried Thürmers Monographie Zur poetischen Verfahrensweise in der spätesten Lyrik Hölderlins, 1970 erschienen, ist für die Untersuchung der letzten dichterischen Folge besonders anregend. Das Buch schließt mit der Forderung: »Man muß die eigentümliche und notwendig besondere Seinsweise der Texte selbst erkennen, um sie adäquat würdigen zu können«.221 Die Grundthesen des Forschers sind höchst angebracht, um diese Erkenntnis zu fördern: »Bei näherem Zusehen erweist sich ›Hölderlins spätestes Dichten‹ als ein Verfahren von großem Kunstverstand«.222 »Das ›kindlich-simple‹ Gedicht wird von einem Sprachgeist geschaffen, der alle Teile konsequent prägt. Scheinbare Hilflosigkeiten erweisen sich als kalkulierte Eingriffe, scheinbares Entgleiten des Sprachganges als bewußte
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ten ›späten‹ Hymnen und hymnischen Entwürfe in freien Rhythmen, zwischen 1799 und ca. 1805. Die Verfasser beziehen sich hier auf die ›späten‹ Hymnen und hymnischen Entwürfe. [Anm. d. Komm.] S. Bennholdt-Thomsen, Stern und Blume; Kudszus, Sprachverlust und Sinnwandel, v. a. S. 1–32 u. 132–147. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Kudszus’ Versuch einer Rehabilitation nimmt einige Rücksicht auf Heideggers Hölderlinlektüren (s. v.a. S. 17– 21). [Anm. d. Komm.] Michel, Das Leben Friedrich Hölderlins, S. 512. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Michel sieht den ›Fortschritt‹ allerdings eher in semantischer als in formaler Hinsicht: »Die Stimme ruft nur noch aus der Tiefe einer Verschüttung; aber was sie ausspricht, ist Einlagerung in einen Frieden, in dem geistiger und irdischer Wert sich vollkommen durchdringen. Geht man auf die reduzierte Sprache der Wahnsinnsgedichte ein, so gewahrt man hinter dem armen Klang der Reime oft etwas Sublimes an Heiterkeit, besonders in den Winterbildern. Worte wie frei, herrlich, glänzend, sanft, prächtig, hold, häufen sich nicht nur äußerlich, sondern was sie sagen, lebt auch wahrhaft in der Schau, die nur ganz vereinzelt durch Ödworte getrübt ist.« (a. a. O., S. 512 f.) [Anm. d. Komm.] ˙ ygulski, Fryderyk Hölderlin, S. 168. Z Thürmer, Zur poetischen Verfahrensweise, S. 80. A. a. O., S. 52.
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Regulierung des Systems«.223 Vor allem ist »das gesamte dichterische Geschehen dieser Poesie auf allen Ebenen der Sprachgebung« zu untersuchen – »auch bei bloßen Partikeln, Funktionswörtern, syntaktischen Eigentümlichkeiten und Eigentümlichkeiten der Wortwahl«.224 Freilich muß man einwenden, daß jeder Versuch, Scardanellis sprachliche Gebilde aufmerksam zu beobachten, der Vermutung Thürmers widerspricht, es gebe in diesen Gedichten keine »geschlossene Architektur«; 225 »weitreichende Verbindungslinien« wären »bei diesen Versen einfach nicht möglich« und zwischen den einzelnen Strophen könnten hier keine »architektonischen Bezüge« vorhanden sein.226 Die ganzheitliche Struktur von Scardanellis Gedichten aus zwei, drei oder vier Vierzeilern zeigt einen gleichen Grad von planmäßiger Durchformung wie deren einzelne Strophen oder Verse. Es genügt, zu den oben vermerkten Besonderheiten in der gesetzhaften Verteilung der grammatischen Kategorien und lexikalen Entsprechungen, von denen »Die Aussicht« durchwebt ist, noch einige Bauzüge des Gedichtes zu erwähnen, insbesondere gewisse lautliche und zugleich semantische Entsprechungen innerhalb des Achtzeilers zu bestimmen, deren architektonischer Zusammenhang sich als wirkungsvoll erweist. Der Genitiv I1 der Menschen und der ihm gegenübergesetzte Dativ IV2 Den Menschen, die zwei Kasus desselben Wortes, spielen erst auf das Schwinden der Menschen an und dann auf die ihnen herabgesandte Gnade. Die gegenseitige Stellung beider Formen ist eine Spiegelsymmetrie: 227 der eine Kasus ist dem Anfang des zweitersten Halbverses und der andere dem Anfang des zweitletzten Halbverses des ganzen Gedichtes zugeteilt; von den zwei miteinander reimenden und an der Auflösung eines dramatischen Gegensatzes beteiligten Nomina I2 Zeit und IV1 Vollkommenheit gehören das eine zum viertersten und das andere zum viertletzten Halbvers des Gedichtes, und die beiden Reimwörter sind denselben zwei Zeilen zugewiesen wie die zwei wurzelgleichen Verben I2 erglänzt und IV1 glänzet . 223 224 225 226 227
A. a. O., S. 53. A. a. O., S. 80. A. a. O., S. 53. A. a. O., S. 35, 39 u. 53. Vgl. dazu o., S. 164, Anm. 88. In diesem Fall besteht die Spiegelsymmetrie also in der Zählung der Stellen von »der Menschen«, »die Zeit«, »Vollkommenheit« und »Den Menschen« nach Halbversen vom Anfang und Ende des Gedichts aus: (2)(4)(–4)(–2), wobei jeweils (4) und (–4) noch durch das Auftreten im selben (allerdings insgesamt genommenen) Vers wie die wurzelgleichen Verben um ›glanz‹ ausgezeichnet sind. [Anm. d. Komm.]
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Durch andere Spielarten der Symmetrie 228 werden die Bestandteile von Vollkommenheit mit ihren Antonymen versehen. Der Anvers der Anfangszeile im letzten Verspaar des Gedichts enthält den Bestandteil IV1 -kommen- und im ersten Verspaar das entgegengesetzte Verb I1 geht. Die dritte Zeile der Endstrophe besitzt Voll- im Anvers gegenüber der dritten Zeile der Anfangsstrophe mit dem Adjektiv II1 leer im Abverse. Ähnlich verhalten sich zwei lexikalisch und grammatisch eng verbundene Wörter, II2 Wald (der einzige männliche Nominativ) und entsprechend IV2 Bäume (der einzige männliche Akkusativ): das eine Wort gehört dem Endvers der Anfangsstrophe und das andere dem der Endstrophe. Von den 33 Nasalen des Textes ist die überwältigende Mehrheit in den äußeren Verspaaren konzentriert – je zwölf, wobei die drei letzten im Verhältnis zu den drei ersten Zeilen des Gedichtes eine Spiegelsymmetrie 229 bilden: je acht Nasale in der ersten (I1) und der letzten Zeile (IV2); je vier in der zweitersten (I2) und der zweitletzten (IV1); je einer in der drittersten (II1) und der drittletzten (III2) Zeile. Die zwei Halbverse mit der höchsten Anzahl der Nasale heben beide das Wort Menschen hervor und besitzen – der Abvers der Anfangszeile und der Anvers der Endzeile – je vier n und je ein m, wobei der letzte Anvers den lautlichen Bau des Wortes Menschen verallgemeinert und alle vier Silben des Halbverses mit einen n schließen: IV2 Den Menschen dann . In der gewichtigen Verbindung zweier Nomina – III1 das Bild der Zeiten – antwortet das zusammenfassende Bild des Anfangsverses der Endstrophe dem vorübergleitenden II2 Bilde des Endverses der Anfangsstrophe, und der Genitiv III1 der Zeiten in der Anfangszeile des die Endstrophe eröffnenden Verspaars findet eine vorgreifende Entsprechung in der Endzeile des die Anfangsstrophe eröffnenden Verspaars – I2 die Zeit der. Der Vers, der dreifältig Vollkommenheit, Höhe und Glanz (IV1) zusammenbringt, ist der erste, der dem Gedicht die senkrechte Bewegung des Herabsendens einprägt, bevor es mit dem gleichgerichteten Bilde der die Bäume umkränzenden Blüte schließt.230 228 In dem so eingeleiteten Absatz sammeln die Verfasser nun zunächst eigentliche Symmetrien (vgl. o., S. 164, Anm. 88): Es entsprechen einander jeweils Verse gleicher Zählung im ersten und im zweiten Vierzeiler. [Anm. d. Komm.] 229 Eine eigentliche Spiegelsymmetrie nach Jakobsons Unterteilung der Symmetrie in 4 Typen: 8 /4 /1 : 1/4 /8. [Anm. d. Komm.] 230 In diesem Absatz ist nun nicht mehr von spezifischen Typen der Symmetrie die Rede; die hier angestellten Beobachtungen passen in kein exaktes Schema, sondern stellen jeweils eher rein semantische Paarungen zwischen dem ersten und dem zweiten Vierzeiler ungeachtet ihrer genauen Positionierung fest. [Anm. d. Komm.]
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Im Vers für Vers vertikal aufgebauten Lob der Höhe innerhalb des Zwölfzeilers »Der Sommer« (Das Erndtefeld erscheint) aus dem Jahre 1837 laufen die Wörter I1 Höhen, IV2 hohes, VI1 hoch durch alle drei Strophen, und die anderen zwei maßgebenden Wortbilder (Glanz und Fülle) treten in denselben Zeilen wie die ersteren auf: IV2 Ein hohes Bild, und golden glänzt der Morgen, VI1 und was er hoch vollbringet.231 Das Gewebe der Wortwiederholungen und der geleitenden Entsprechungen spielt eine wesentliche und zugleich eine überaus verschiedenartige Rolle in Scardanellis Dichtungen. Der Nachdruck liegt entweder auf den vielfachen Wiederholungen ein und derselben Wörter oder es wird, bei geringerer Anzahl der wiederkehrenden Vokabeln, das Geleit besonders nachdrücklich ausgebaut (vgl. z. B. »Die Aussicht«). Auch in der Verteilung der wiederholten Wörter zeigen die verschiedenen Gedichte dieser Periode beträchtliche individuelle Eigentümlichkeiten. Das Gedicht »Höheres Leben« aus dem Jahre 1841 wiederholt meistens innerhalb zweier von seinen drei vierzeiligen Strophen eine Anzahl von Wörtern entweder genau oder mit morphologischen Variationen: I, III Mensch – III Menschheit; I, III Leben – III (bis) des Lebens; II, III Sinn; die drei Steigerungsgrade desselben Adjektives, nämlich III hohen – II höhern, III höhres – III Das Höchste; I innern – II in seinem Innern; I (bis) sein – II seine – II, III seinem; usw.232 Die mannigfaltige Besonderheit der drei Endzeilen der »Aussicht« gegenüber den fünf vorangehenden Versen ist eine der auffallenden Anzeigen einer komplexen und zielbewußten Gestaltung. Die seit Leonardo da Vinci am klarsten festgesetzte Sectio Aurea 233 tritt in Hölderlins letzter »Aussicht« deutlich hervor (vgl. oben S. 165). Der kürzere Abschnitt (›Minor‹) verhält sich zum längeren (›Major‹), wie der längere zur ganzen ungeteilten Strecke. Der Goldene Schnitt (8 : 5 = 5 : 3) stellt zwei ungleiche Teile eines achtzeiligen Ganzen einander gegenüber und zerlegt »Die Aussicht« in zwei syntaktisch gleichmäßige Gruppen von fünf Verba finita bzw. fünf Elementarsätzen (clauses), mit einer spiegelsymmetrischen Verteilung der Verben in den Halbversen des fünfzeiligen Major (3 : 2) und des dreizeiligen Minor (2 : 3).234 Dabei steht diese Abgrenzung in 231 Zum Gedicht »Der Sommer« vgl. StA, Bd. 2/1, S. 285. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Zur Datierung vgl. a. a. O., Bd. 2/2, S. 910 f. [Anm. d. Komm.] 232 Zum Gedicht »Höheres Leben« vgl. a. a. O., Bd. 2/1, S. 289. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Zur Datierung vgl. a. a. O., Bd. 2/2, S. 912. [Anm. d. Komm.] 233 Vgl. Ghyka, Esthe´tique des proportions, S. 21–58; Timerding, Der goldene Schnitt; Hagenmaier, Der goldene Schnitt; und Cereteli, »Metr i ritm«. 234 Vgl. dazu o., S. 164, Anm. 88, sowie 204, Anm. 227 ff. Diese spiegelsymmetrische
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einem dynamischen, spannungsvollen Gegensatz zur statischen Symmetrie der beiden vierzeiligen Strophen, denen zwei parallele Satzgefüge entsprechen. Die einzigen transitiven Verben des Gedichtes und deren beide direkte Objekte, die den Major (III1 ergänzt das Bild ) und den Minor (IV2 Bäume 〈…〉 umkränzet) schließen, heben den Goldenen Schnitt hervor. Es ist zu bemerken, daß das letzte Glied der Proportion 8 : 5 = 5 : 3, welches sich innerhalb der Ganzheit als *merkmalhaft behauptet, sich durch die merkmalhafte 235 Verbindung der Gerundetheit und Palatalität in den Vokalen vom fünfzeiligen Gliede (d. h. der mittleren Proportionalen) 236 unterscheidet. Das Auseinanderstreben zwischen dem Goldenen Schnitt und der strophischen Gleichheit hebt den fünften Vers des Gedichtes hervor, da er gleichzeitig die zweite Strophe eröffnet und das erste fünfzeilige Glied der ›goldenen Reihe‹ schließt: III1 Daß die Natur ergänzt das Bild der Zeiten. Dieser Vers ist unzweifelhaft der semantische Mittelpunkt der Ganzheit, ein Vers, der die maßgebende Idee der »Natur« hervorhebt und den dialektischen Gegensatz zwischen Dauer und Wechsel aufhebt. Syntaktisch betrachtet bildet diese Zeile den einzigen entfalteten Elementarsatz mit einem Subjekt (S ) im Anvers und einem Prädikat (P ) im Abvers; die übrigen zwei Zeilen, die das Subjekt und das Prädikat zwischen den Halbversen verteilen, eröffnen die zwei ersten Verspaare und schicken das Prädikat dem Subjekt voraus (I1 Geht 〈…〉 Leben ; II1 Ist 〈…〉 Gefilde ). Andererseits ist es die erste der vier Zeilen, wo im Abverse nach dem Verb kein Nominativ folgt (die drei letzten enden mit einem Verb). Die Zwischenlage des Verses III1 ist offenkundig (vgl. die Tabelle 237 ). Verteilung betrifft das Auftauchen der Verben in An- oder Abversen: drei Verben in Anversen und zwei in Abversen im ersten Vierzeiler, gerade umgekehrt im zweiten. [Anm. d. Komm.] 235 Die Unterscheidung zwischen ›merkmalhaft‹ und ›merkmallos‹ läßt sich sich übersetzen in je die An- bzw. Abwesenheit eines Merkmals; durch diese binäre Opposition werden distinktive Eigenschaften im Sinne der strukturalistischen Sprachtheorie, am prominentesten durch die Definition von Phonemen über ihre Oppositionen, expliziert. Vgl. dazu Jakobson, »Mark and Feature«. [Anm. d. Komm.] 236 In der (nicht ganz exakten, aber für den goldenen Schnitt allgemein akzeptierten) Gleichung 8 : 5 = 5 : 3 kann 5 als mittlere Proportionale der beiden identifizierten Verhältnisse betrachtet werden. [Anm. d. Komm.] 237 In der Tabelle werden jeweils nur diejenigen S und P durch waagerechte Linien verbunden, die einen Elementarsatz über die Grenze zwischen An- und Abvers spannen, was der ersten Spezifikation der Verfasser in diesem Absatz entspricht. Die
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Somit ist jeder ungerade Vers des ersten fünfzeiligen Segments durch eine Verteilung des Subjekts und des Prädikats zwischen den beiden Halbversen gekennzeichnet. Gleichzeitig bewährt sich hier eine umgekehrte Wechselbeziehung der beiden Segmente der ›goldenen Reihe‹: Minor + Major = 3 + 5, und jede der ersten drei Zeilen unterscheidet sich von allen fünf weiteren Zeilen durch das Vorangehen des Prädikats im Verhältnis zum Subjekt. Innerhalb des Gedichtes ist der Grenzvers des fünfzeiligen Majors in den beiden Richtungen (3 + 5 und 5 + 3) durch die Anwesenheit des zeichenhaften 238 Wortes ›Bild‹ angedeutet: vgl. den fünftersten Vers – III1 ergänzt das Bild – mit dem fünftletzten – II2 erscheint mit seinem dunklen Bilde. Auch die Verteilung 239 der drei- und zweifüßigen Anverse im Gedicht kann dem Goldenen Schnitt zugesprochen werden. Eine dritte Abart des selben Verfahrens setzt die drei Langverse des Achtzeilers (2 + 1) seinen fünf Kurzversen (4 + 1) gegenüber, wobei der einzige gemeinsame Reim den Major und Minor verbindet und somit das achtzeilige Ganze krönt: IV1 glänzet – 2 umkränzet. zentrale Zeile III1 ist nach dem Gesagten außerdem noch auffällig, weil sie das S dem P voranstellt (gegenüber I1 und II1). [Anm. d. Komm.] 238 Hier ist wohl tatsächlich die Bedeutung des Wortes ›Bild‹ für semiotische Erwägungen gemeint: Das heißt, das Wort ›Bild‹ markiert jeweils die trennende Achse im Goldenen Schnitt, an der entlang der Major in den Minor gespiegelt oder anderweitig abgebildet werden könnte. [Anm. d. Komm.] 239 Hier ist diesmal nur das Zahlenverhältnis der drei sechssilbigen zu den fünf viersilbigen Anversen, nicht ihre Verteilung über die 5 : 3 bzw. 3 : 5 Zeilen des Gedichts gemeint. [Anm. d. Komm.]
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Zur Einsicht und Einfühlung in Hölderlins dialektische Poetik mit ihrem inneren Widerstreit zwischen Identität und Wechsel aller Teile ist der im Jahre 1801, also an der Schwelle der akuten Psychose, entstandene Gesang »Der Rhein« 240 aus fünf dreistrophigen »Parthien« besonders lehrreich, einschließlich der sachkundigen Randbemerkung des Verfassers: »Das Gesez dieses Gesanges ist, daß die zwei ersten Parthien der Form nach durch Progreß und Regreß entgegengesezt, aber dem Stoff nach gleich, die zwei folgenden der Form nach gleich, dem Stoff nach entgegengesezt sind, die lezte aber mit durchgängiger Metapher alles ausgleicht«.241 Oft werden der Schlußphase von Hölderlins poetischer Betätigung »Stereotypie«, »Gleichförmigkeit« und »blecherne Monotonie« vorgeworfen; 242 tatsächlich aber herrscht in Scardanellis Werkstatt eine vergleichbar ähnliche Spannung zwischen strengstem Kanon und einem erstaunlichen Reichtum schöpferischer Abstufungen und Variationen wie in der monumentalen mittelalterlichen Kunst. Des alten Hölderlin feststehende *Topoi treten in kühn erneuerten Gestaltungen auf. Wörter z. B., die in den Reimen der »Aussicht« auftreten, gehören meistens auch zum Reimrepertoire anderer Gedichte derselben Periode, aber mit unterschiedlichen Gefährten: I1 Leben reimt sonstwo mit Streben, -geben; II1 Gefilde mit Milde; III1 Zeiten mit geleiten, breiten; und nur der Schlußreim IV1 glänzet = 2 umkränzet ist zumindest in lexikalischer Hinsicht beharrlich geblieben: glänzen – kränzen.243 240 Zu »Der Rhein« vgl. StA, Bd. 2/1, S. 142–148. 241 A. a. O., Bd. 2/2, S. 722 u. 730. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Mit dieser Bemerkung, die Hölderlin über »dem Anfang des Gedichts, am oberen Rande der Seite«, notiert, erläutert er den Aufbau der »Rhein«-Hymne. [Anm. d. Komm.] 242 Als Zitat nicht nachgewiesen. An der hier referierten Einschätzung der spätesten Gedichte Hölderlins hat sich in der Hölderlin-Forschung bis heute wenig geändert. Jochen Schmidt charakterisiert Hölderlins Gedichte aus der Zeit nach seinem psychischphysischen Zusammenbruch so: »Nach einigen noch etwas weiter dimensionierten Gebilden sind es durchgehend eigentümlich spannungslose, monotone und doch in ihrer Einfachheit manchmal noch anrührende Verse. […] Stereotype Bilder, klischeehaft und zugleich transparent auf etwas nicht Gesagtes, nicht Sagbares.« Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Jochen Schmidt, Bd. 1, S. 512. [Anm. d. Komm.] 243 Vgl. dazu »Der Frühling« (»Der Tag erwacht, und prächtig ist der Himmel, […]«), StA, Bd. 2/1, S. 307. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Vgl. darüber hinaus die Gedichte »Der Sommer« (»Noch ist die Zeit des Jahrs zu sehn, und die Gefilde […]«), a. a. O., S. 297; »Der Winter« (»Wenn sich das Jahr geändert, und der Schimmer […]«), a. a. O., S. 304; »Der Frühling« (»Wenn aus der Tiefe kommt der Frühling in das Leben, […]«), a. a. O., S. 309; »Der Zeitgeist«, a. a. O., S. 310; »Freundschafft«, a. a. O., S. 311. [Anm. d. Komm.]
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Manchmal hat man irrtümlicherweise in Hölderlins »Spätlingen«, wie sie Eduard Mörike nannte,244 eine hilflose Rückkehr des kranken Greises zu Stil und Form seiner Jugendgedichte gesehen; aber schon eine knappe Übersicht aller 23 mit Scardanelli unterzeichneten Gedichte zeigt im Vergleich gewaltige Unterschiede zu Bau und Absicht der Verse aus des Dichters Anfängen.245 In den Jugendgedichten finden sich nur zufällige, einzeln vorkommende Übereinstimmungen mit den typischen Eigenschaften der Spätlinge. Nur den letzteren gehören die konstant weiblichen Versschlüsse an, die ständige Variation innerhalb des Gedichtes zwischen fünfund sechsfüßigen Jamben, eine entschiedene Vorliebe für halbierte Achtzeiler und eine Neigung zu Paarreimen. (In 14 Scardanelli-Gedichten werden sie durchweg gebraucht und in weiteren sechs wenigstens für den zweiten Vierzeiler.) 246 244 Vgl. dazu das Dokument »Mörike über das Gedicht: ›Wenn aus dem Himmel […]‹«, a. a. O., Bd. 7/3, Nr. 483, S. 30 f. Mörike bemerkt hier: »Das vorliegende Stück des geisteskranken Dichters ist während seines langen Aufenthalts in Tübingen, wo ich ihn in Gesellschaft Wilh. Waiblinger’s besuchte, um 1823 entstanden, und ich erhielt es von dem Letztern in Hölderlin’s Handschrift … Man darf es ohne Frage zu dem Lieblichsten zählen, was sich unter dem Wust dieser traurigen Spätlinge fand.« A. a. O., S. 30. Zu Hölderlins Gedicht »Wenn aus dem Himmel […]« vgl. a. a. O., Bd. 2/1, S. 269 f. [Anm. d. Komm.] 245 Vgl. dazu die zumindest tendenziell parallele Argumentation in Jakobson /Rudy, »Yeats’ ›Sorrow of Love‹ through the Years«, dt. hier Bd. 2, S. 570–630, in der für die Überarbeitung eines Gedichts durch den Dichter selbst ähnliche Akzente wahrgenommen werden wie hier für den Vergleich von Jugend- und Spätwerk. [Anm. d. Komm.] 246 In folgenden der Scardanelli-Gedichte ist durchweg der Paarreim gebraucht: »Der Frühling« (»Die Sonne glänzt, es blühen die Gefilde, […]«), StA, Bd. 2/1, S. 288; »Der Frühling« (»Der Mensch vergißt die Sorgen aus dem Geiste, […]«), a. a. O., S. 292; »Der Sommer« (»Wenn dann vorbei des Frühlings Blüthe schwindet, […]«), a. a. O., S. 293; »Der Sommer« (»Noch ist die Zeit des Jahrs zu sehn, und die Gefilde […]«), a. a. O., S. 297; »Der Sommer« (»Im Thale rinnt der Bach, die Berg’ an hoher Seite, […]«), a. a. O., S. 300; »Der Sommer« (»Die Tage gehen vorbei mit sanffter Lüffte Rauschen, […]«), a. a. O., S. 301; »Der Winter« (»Wenn sich das Jahr geändert, und der Schimmer […]«), a. a. O., S. 304; »Der Winter« (»Wenn sich der Tag des Jahrs hinabgeneiget […]«), a. a. O., S. 305; »Griechenland« (»Wie Menschen sind, so ist das Leben prächtig, […]«), a. a. O., S. 306; »Der Frühling« (»Der Tag erwacht, und prächtig ist der Himmel, […]«), a. a. O., S. 307; »Der Frühling« (»Wenn aus der Tiefe kommt der Frühling in das Leben, […]«), a. a. O., S. 309; »Der Zeitgeist«, a. a. O., S. 310; »Freundschafft«, a. a. O., S. 311; »Die Aussicht«, a. a. O., S. 312. In folgenden der Scardanelli-Gedichte ist der Paarreim zumindest im zweiten Vierzeiler gebraucht: »Aussicht« (»Der off’ne Tag ist Menschen hell mit Bildern, […]«), a. a. O., S. 287; »Winter« (»Wenn sich das Laub auf Ebnen weit verloren, […]«), a. a. O., S. 295; »Der Frühling« (»Wenn neu das Licht der Erde sich
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3. Rede und Sprachkunst der Schizophrenie Waiblingers Gedicht an den »jammerheiligen« Hölderlin wurde 1826 im Mitternachtblatt für gebildete Stände veröffentlicht mit des Herausgebers Anmerkung über den besungenen Verfasser des Romans Hyperion: »jetzt ein Geistigtodter, seit vielen Jahren irssinnig«.247 Der »Geistigtodte« setzte sein dichterisches Schaffen weitere 17 Jahre fort. Eine in Hölderlin-Studien, besonders von Psychiatern, öfters gestellte Frage gilt den Beziehungen zwischen der Entwicklung seiner Krankheit und seiner Dichtung. Eine Antwort darauf erfordert, um fruchtbar zu werden, tatsächlich interdisziplinäre Arbeit von Psychiatrie, Linguistik und Poetik und könnte, wie Jaspers 248 voraussah, »Licht werfen auf das Wesen des Schizophrenen 〈allerdings nur einen besonderen Typus innerhalb dieses weiten Krankheitsbereichs〉 und den Begriff des Schizophrenen selbst anschaulicher erfüllen« und die Diagnostik derartiger psychischer Anfälle fördern, wie es interdisziplinäre Bemühungen im Gebiete der Aphasie schon jetzt tun.249 Aber wenn es sich beispielsweise um die Sprache des kranken Hölderlin handelt, muß man mit Entschiedenheit vor dem Versuch warnen, »alle textinterpretatorischen und sprachästhetischen Gesichtspunkte« aus der Betrachtung herauszuhalten,250 denn gerade dem ästhetischen Gesichtspunkt verdanken die poetischen Texte ihre besondere Behandlung in Hölderlins Sprachwelt im Verhältnis zu den anderen Klassen und Abarten innerhalb der Gesamtheit der »Sprachbotschaften« (verbal messages), laut Bühlers 251 Fachausdruck. Der für das ganze Sprachwesen und die Schaffenskraft des geisteskranken Hölderlin grundlegende dichotome Tatbestand ist der krasse
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gezeiget, […]«), a. a. O., S. 298; »Der Herbst« (»Das Glänzen der Natur ist höheres Erscheinen, […]«), a. a. O., S. 299; »Der Winter« (»Wenn ungesehn und nun vorüber sind die Bilder […]«), a. a. O., S. 303; »Der Frühling« (»Die Sonne kehrt zu neuen Freuden wieder, […]«), a. a. O., S. 308. [Anm. d. Komm.] Zu Wilhelm Waiblingers Gedicht »An Hölderlin« vgl. a. a. O., Bd. 7/3, Nr. 685, S. 483–486. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – »An Hölderlin« wird im Mitternachtblatt für gebildete Stände, 1. Jg., Nr. 92, 2. August 1826, S. 366 f., veröffentlicht. Die ersten beiden Verse lauten: »Komm herauf, Jammerheiliger!« Der Herausgeber des Mitternachtblatts, Adolph Müllner, kommentiert den Namen Hölderlin folgendermaßen: »Verfasser des vor ungefähr 20 Jahren erschienenen und 1822 neu aufgelegten Romans Hyperion, jetzt ein Geistigtodter, seit vielen Jahren irrsinnig.« A. a. O., S. 27 u. 483. [Anm. d. Komm.] Jaspers, Strindbergh und van Gogh, S. 103. Vgl. u., S. 216, Anm. 262. [Anm. d. Komm.] Vgl. Supprian, »Schizophrenie«, S. 618. Bühler, Sprachtheorie, S. 113.
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Gegensatz zwischen dem ungeheuren Verlust der Begabung, an Gesprächen mit menschlicher Umgebung teilzunehmen, und seiner sonderbar unversehrten, begeisterten Lust und Fähigkeit zu einer mühelosen, spontanen und zielbewußten Stegreifdichtung. Alles, was zum Zwiegespräch gehört, die gegenseitige Ansprache, die Wechselrede mit Fragen und Antworten, das Leistungsvermögen des Sprechers und die Aufmerksamkeit des Zuhörers, die Sinnkraft der eigenen Aussagen und die Besinnungskraft für die des anderen, die ganze Technik der Unterredung konnte nur mühsam und lückenhaft nachgeahmt werden, sie war verworren und im wesentlichen eingebüßt. Aus der Sucht des Wahnsinnigen, »den zweiten gleich zu annulieren« und »Tag und Nacht mit sich selbst« lautgeführte Reden zu halten,252 entsteht, bei allem intrasubjektiven Gepräge solcher Äußerungen, eine Abart von partnerbezogenem Gespräch, und sie trägt in Hölderlins Sprachbetrieb dieselben Anzeichen krankhaften Verfalls wie sein verbaler Umgang mit jeglichem Gefährten. Die echten, reinen Monologe, die in erstaunlichem Gegensatz zu den Trümmern von Hölderlins alltäglicher Rederei eine unantastbare Einheitlichkeit und Ganzheit ihres Sprachgebildes aufweisen, sind die zum Lebensabend des Dichtkünstlers entstandenen Verse. Wie schon Christoph Theodor Schwab in diesem Zusammenhang vermerkt hatte, »war es wunderbar, welchen Zauber die poetische Form auf Hoelderlin ausübte«, wogegen er in Prosa leicht »in gänzliche Verwirrung« fiel.253 Schwab belegt diesen Unterschied mit einem Vergleich zweier Widmungen, die Hölderlin 1841 in dasselbe Buch einschrieb: 254 einerseits prosaische Sätze und andererseits »Überzeugung« – eine jambische vierzeilige Strophe.255 252 Als Zitat nicht nachgewiesen. Vgl. jedoch Christoph Theodor Schwabs Bemerkung über Hölderlins Verhalten Besuchern gegenüber in seiner Hölderlin-Biographie »Hölderlin’s Leben«: »[S]eine Selbstgespräche setzte er unbekümmert fort und man konnte Stunden lang bei ihm seyn, ohne etwas anderes zu hören, als einige kurze Anreden und solche schnell und hastig ausgestoßene, nie ganz verständliche Monologe.« Hölderlin, Sämmtliche Werke, Bd. 2, S. 263–333, hier: S. 324 f. [Anm. d. Komm.] 253 Christoph Theodor Schwab schreibt in »Hölderlin’s Leben«: »Im Allgemeinen war es wunderbar, welchen Zauber die poetische Form auf Hölderlin ausübte. Ich sah nie einen sinnlosen Vers von ihm, man fand oft dunkle oder matte Stellen und namentlich gegen Schluß hin unbedeutende Ausfüllsel darin, allein die Idee war nirgends ganz zu verkennen […]. Schrieb er Prosa, so war das plötzliche Versagen der Denkkraft viel auffallender, er fiel hier leicht in gänzliche Verwirrung.« Hölderlin, Sämmtliche Werke, Bd. 2, S. 263–333, hier: S. 331. [Anm. d. Komm.] 254 Trummler, Der kranke Hölderlin, S. 116. 255 Vgl. StA, Bd. 2/1, S. 360, sowie a. a. O., Bd. 2/2, S. 976–978. [Anm. v. R.J. /
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Zur späten, vom prosaischen Redestil am weitesten entfernten Dichtungsart Scardanellis paßt die von Sinclair aufgeschriebene und durch Bettina von Arnim in der Günderode wiedergegebene Erwägung des »in der Verwirrung ermatteten« Hölderlin: »die Sprache bilde alles Denken, denn sie sei größer wie der Menschengeist, der sei ein Sklave nur der Sprache, und so lange sei der Geist im Menschen noch nicht der vollkommne, als die Sprache ihn nicht alleinig hervorrufe. Die Gesetze des Geistes aber seien metrisch, das fühle sich in der Sprache, sie werfe das Netz über den Geist, in dem gefangen er das Göttliche aussprechen müsse 〈…〉«.256 Scardanellis Gedichte mit ihrem standardisierten Meter und dessen einzigem gesetzmäßigen Schwanken zwischen elf- und dreizehnsilbigen Zeilen sind Hölderlins ratlosen und mißlungenen Unterredungen völlig entgegengesetzt. G.L.-G.] – Schwab berichtet in »Hölderlin’s Leben«: »Im Jahr 1841 waren ihm seine Gedichte abhanden kommen, ich wollte ihm ein neues Exemplar derselben zum Geschenk machen; weil er es durchaus nicht annahm, bat ich ihn, mir einige Zeilen zum Andenken in das Buch zu schreiben, ehe er mir’s zurückgebe«. Hölderlin, Sämmtliche Werke, Bd. 2, S. 263–333, hier: S. 331. Hölderlin schreibt sodann in eben dieses Exemplar der von Ludwig Uhland und Gustav Schwab 1826 herausgegebenen Gedichte zum einen eine Widmung in Prosa, zum anderen den jambischen Vierzeiler »Überzeugung«. Vgl. dazu auch o., S. 196, sowie dort, Anm. 187. [Anm. d. Komm.] 256 Von Arnim, Die Günderode, Bd. 1, S. 327. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Hendrik Birus hat darauf hingewiesen, daß die Bedeutung dieses Hölderlinzitats für Jakobson noch unterstrichen wird durch andere, ähnliche poetologische Aussagen, die Jakobson an exponierter Stelle zitiert: So nennt er als eines der zwei deutschen Werke, die seiner linguistischen Forschung am nützlichsten gewesen seien, die »Schriften von Novalis«, und zitiert aus dessen Monolog: »daß es mit der Sprache wie mit den mathematischen Formeln sei – Sie machen eine Welt für sich aus – Sie spielen nur mit sich selbst, drücken nichts als ihre wunderbare Natur aus, und eben darum sind sie so ausdrucksvoll – eben darum spiegelt sich in ihnen das seltsame Verhältnißspiel der Dinge«. (Vgl. Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 672 f.) In die gleiche Richtung geht auch das Mallarme´-Zitat, das Jakobson als Motto seiner Du Bellay-Analyse wählt: »L’œuvre pure implique la disparation e´locutoire du poe`te, qui ce`de l’initiative aux mots, par le heurt de leur ine`galite´ mobilise´; ils allument de reflets re´ciproques 〈…〉« (vgl. »›Si Nostre Vie‹: Observations sur la composition & structure de mots dans un sonnet de Joachim du Bellay«, S. 239, und die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 555); und ebenso der Satz von Baudelaire, den er seiner kurzen Untersuchung über die »Blumen des Bösen‹ voranstellt: »La grammaire, l’aride grammaire elle-meˆme, devient quelque chose comme une sorcellerie e´vocatoire […]« (»Une Microscopie du dernier ›Spleen‹ dans Les Fleurs du Mal«, S. 465, deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 292). Vgl. Birus, »Hermeneutik und Strukturalismus«, S. 15 f. [Anm. d. Komm.]
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Der Schizophrene, wie Ruth Leodolter in ihren sorgfältigen Beobachtungen hervorgehoben hat, »meidet den Dialog und die Auseinandersetzung mit der Umwelt, seis bewußt oder unbewußt«; 257 in so einem Syndrom wird »die Möglichkeit bzw. Bereitschaft zu kommunizieren«, also die »dialogische Kompetenz« des Kranken mehr oder weniger eingebüßt, wogegen seine »monologische Kompetenz« vorhanden bleibt. Hölderlins Sprache offenbart ein klassisches Beispiel der zerstörten dialogischen Kompetenz bei gleichzeitiger Unversehrtheit und sogar Steigerung der ausgeprägt monologischen Meisterschaft. Scardanellis Gedichte unterscheiden sich vom gesellschaftlichen Sprachverkehr durch einen planmäßigen Verzicht auf grundlegende Gesprächsweisen. Im Gegensatz zum sprachlichen Alltagsverhalten des Geisteskranken besitzen diese Gedichte keine *deiktischen Sprachzeichen und keine Hinweise auf die aktuelle Sprechsituation. Es war Charles Sanders Peirce, der die Wesentlichkeit der verschiedenen Indices für unsere tägliche Rede besonders betont hat: »If, for example, a man remarks, ›Why, it is raining!‹ it is only by some such circumstances as that he is now standing here looking out at a window as he speaks, which would serve as an Index (not, however, as a *Symbol) that he is speaking of this place at this time, whereby we can be assured that he cannot be speaking of the weather on the satellite of Procyon, fifty centuries ago«.258 Dagegen, wie es an den Gedichten aus Hölderlins letzter Lebenszeit wiederholt beobachtet und besonders von F. Beißner 259 klargelegt wurde, regt die unmittelbare Anschau257 Leodoldter, »Gestörte Sprache oder Privatsprache. Kommunikation bei Schizophrenen«, S. 92. 258 »Wenn etwa ein Mensch sagt, ›Ach, es regnet!‹, dann ist es nur wegen solcher Umstände wie dem, daß er gerade jetzt da steht und aus dem Fenster sieht, während er das sagt, was als ein *Index (aber nicht als ein Symbol) dafür dient, daß er von diesem Ort zu dieser Zeit redet, für uns sicher, daß er keinesfalls von dem Wetter auf dem Satelliten des Procyon vor fünzig Jahrhunderten redet.« – Peirce, Collected Papers, 4. 544. 259 Beißner, »Zu den Gedichten der letzten Lebenszeit«, S. 7. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Beißner weist für seine Argumentation vor allem auf Nachrichten über den unmittelbaren Entstehungskontext einzelner Gedichte hin: »Die vierfache mögliche Abwandlung, die das Thema der Jahreszeiten immerhin erlaubt, scheint übrigens nicht einmal stets durch äußere Eindrücke hervorgerufen zu sein; denn das Gedicht ›Der Sommer‹ (Das Erndtefeld erscheint 〈…〉) ist nachweislich im Dezember 1837 niedergeschrieben. So mag manches Frühlingsgedicht im Herbst entstanden sein und manches Winterbild im Sommer. Unmittelbare Anschauung also regt den Sinn des Dichters nicht an. Die Bilder erscheinen vor seinem inneren Auge.« Damit ist freilich noch kein Verzicht auf indexikalische Zeichen erklärt, solange ein Bild von Einzeldingen statt in der unmittelbaren Anschauung vor dem geistigen Auge imaginiert wird. Beiß-
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ung den Sinn des Dichters nicht an,260 und es stimmt damit überein, »daß er eigentlich nie einen einmaligen Vorgang in seiner Besonderheit zeichnet 〈…〉. Das wird bezeugt durch die eigentümliche Vorliebe für die verallgemeinernde Konjunktion wenn«, mit der mehr als ein Drittel der sogenannten »Spätesten Gedichte« anfängt.261 Laut Beißner hält Hölderlin seinen damaligen Versen alles Eigene, Persönliche, das heißt, nach des ner fährt jedoch fort: »Damit stimmt überein [?], daß er eigentlich nie einen einmaligen Vorgang in seiner Besonderheit zeichnet, sondern immer nur das Typische sieht, wie es sich aus hundert Beobachtungen in widerspruchsloser Gültigkeit heraushebt. Das wird bezeugt durch die eigentümliche Vorliebe für die verallgemeinernde Konjunktion ›wenn‹. So stellen die Gedichte nichts als das reine Sein dar […]« (ebd.). Damit ist das erste der beiden anschließend von den Verfassern aufgeführten Argumente bereits vorgestellt; zum zweiten vgl. nächste Anm. [Anm. d. Komm.] 260 Es ist auffällig, daß die Verfasser die Rede unter Verzicht auf unmittelbar indexikalische Zeichen als eine Rede kennzeichnen, der die unmittelbare Anschauung nicht mehr zugrunde liegt, obwohl schon der Titel »Die Aussicht« als auch ein typischer Entstehungsmoment dieser späten Gedichte gerade auf eine Anschauung zu verweisen scheint: »Ich foderde ihn dazu auf mir auch wieder etwas zu schreiben, er machte nur daß Fenster auf, that einen Blick ins Freie, und in 12 Minuten war es fertig«, hatte Ernst Zimmer beschrieben (vgl. o., S. 145). Ja, auch die von Peirce zitierte Stelle verweist doch gerade auf eine Beobachtung aus dem Fenster hinaus, und den Inhalt dieser Beobachtung – »it is raining!« [›es regnet!‹] – wird man kaum bereitwilliger als jenen ›einmaligen Vorgang‹ erkennen, den Hölderlin laut Beißner »nie […] in seiner Besonderheit zeichnet«, als die Jahreszeitschilderung in dem hier analysierten Gedicht. Der tatsächliche Unterschied wird jedoch in der Argumentation der Verfasser auf den nächsten Seiten deutlich: Zum einen wird durch die Aufnahme der Kondition mit ›wenn‹ der unmittelbare Augenblick der Beobachtung in eine Regelmäßigkeit aufgelöst (die bei Peirce nicht mehr indexikalisch, sondern symbolisch hieße), zum anderen und vor allem wird die Aussicht als gemeinsame Schau eines Ersten und eines Zweiten als »eine Falle« enthüllt, »sobald es sich um zwei Teilnehmer eines Gesprächs handelt und um die Koordinierung zweier Gesichtswinkel« (vgl. u., S. 219 f.). Die Unmittelbarkeit der Anschauung, die gemeinsam mit ›shifters‹ und Indizes aus Hölderlins monologischer Dichtung verschwindet, ist also gerade insofern wirklich unmittelbar, als sie einer intersubjektiven Kommunikation mit ihrer nicht-unendlichen Gegenwart anstelle des ›unendlichen Präsens‹ ausgesetzt werden kann. [Anm. d. Komm.] 261 Vgl. StA, Bd. 2/1, S. 261–312. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Folgende der von Beißner so genannten »spätesten Gedichte« beginnen mit »Wenn«: »Wenn aus der Ferne […]«, a. a. O., S. 262 f.; »Wenn aus dem Himmel […]«., a. a. O., S. 269 f.; »Der Frühling« (»Wenn auf Gefilden neues Entzüken keimt […]«), a. a. O., S. 272; »Das fröhliche Leben« (»Wenn ich auf die Wiese komme, […]«), a. a. O., S. 274 f.; »Die Zufriedenheit« (»Wenn aus dem Leben kann ein Mensch sich finden, […]«), a. a. O., S. 278 f., »Aussicht« (»Wenn Menschen fröhlich sind, ist dieses vom Gemüthe, […]«), a. a. O., S. 281; »Der Sommer« (»Wenn dann vorbei des Frühlings Blüthe schwindet, […]«), a. a. O., S. 293; »Der Winter« (»Wenn blaicher Schnee verschönert die Gefilde, […]«), a. a. O., S. 294; »Winter« (»Wenn sich das Laub auf Ebnen weit verloren, […]«), a. a. O., S. 295; »Der Frühling« (»Wenn neu das Licht der Erde
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Dichters älterem Ausdruck, alles »Accidentelle«, sorgsam fern. Zum Vergleich der zwei Pole 262 im Sprachgebrauch des schizophrenen Dichters scheint es uns angebracht, mit Karl Bühler zu betonen, daß »Deixis und Nennen zwei zu sondernde Akte, Zeigwörter und Nenn-Wörter zwei scharf zu trennende Wortklassen sind«, und hinzuzufügen, daß, gegenüber dem »nennungsfreien Hinweisen« der quasidialogischen Tätigkeit Hölderlins in seinem geselligen Umgang, seine späte Dichtung eher auf ein entäußertes, »hinweisfreies Nennen« eingestellt ist. Die Scardanelli-Gedichte und auch die anderen Hölderlinschen Spätlinge entbehren die grammatische Klasse der ›Verschieber‹ (*shifters),263 die das berichtete Geschehen in bezug auf den Sprechakt und auf dessen Teilnehmer charakterisieren. Besonders auffallend ist die Abwesenheit sich gezeiget, […]«), a. a. O., S. 298; »Der Mensch« (»Wenn aus sich lebt der Mensch und wenn sein Rest sich zeiget, […]«), a. a. O., S. 302; »Der Winter« (»Wenn ungesehn und nun vorüber sind die Bilder […]«), a. a. O., S. 303; »Der Winter« (»Wenn sich das Jahr geändert, und der Schimmer […]«), a. a. O., S. 304; »Der Winter« (»Wenn sich der Tag des Jahrs hinabgeneiget […]«), a. a. O., S. 305; »Der Frühling« (»Wenn aus der Tiefe kommt der Frühling in das Leben, […]«), a. a. O., S. 309; »Freundschafft« (»Wenn Menschen sich aus innrem Werthe kennen, […]«), a. a. O., S. 311; »Die Aussicht« (»Wenn in die Ferne geht der Menschen wohnend Leben, […]«), a. a. O., S. 312. [Anm. d. Komm.] 262 Die beiden Pole der Aphasie werden für Jakobson zunehmend zu systematischen Äquivalenten der beiden Kategorien menschlichen Sprachgebrauchs überhaupt, der *Similarität, die für metaphorische Beziehungen, und der *Kontiguität, die für metonymische Beziehungen (unter die dann auch die *Synekdoche subsumiert wird) grundlegend ist. Vgl. Jakobson, »Two Aspects of Language and Two Types of Aphasic Disturbances«. Diese Dichotomie begann ursprünglich als Kategorie der Tropenbildung und der Gedankenführung in Jakobsons Gedichtanalysen (vgl. »Randbemerkungen zur Prosa des Dichters Pasternak«) und kehrt vom generellen linguistischen (vgl. »Quest for the Essence of Language«, wo Jakobson mit einem ähnlichen Bezug auf die Semiotik Charles Sanders Peirce’s einsetzt) und klinischen Interesse aus wieder dorthin zurück. Vgl. ferner »Aphasia as a Linguistic Topic«, bes. S. 232; »Toward a Linguistic Classification of Aphasic Impairments«, und »Linguistic Types of Aphasia«. [Anm. d. Komm.] 263 Vgl. Jakobson, »Der grammatische Bau des Gedichts von B. Brecht ›Wir sind sie‹«, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 687–716. Die besondere Herleitung der ›shifter‹ über den Peirceschen Begriff des indexikalischen Zeichens verdient hier Beachtung. Vgl. auch Jakobson, »Shifters, Verbal Categories and the Russian Verb«, bes. S. 131–134. Etwa zeitgleich mit der frühesten Arbeit an der Hölderlinanalyse entstand Jakobsons Vortrag »Aphasic Disorders from a Linguistic Angle«, in dem die gleiche Verbindung zwischen schizophrener Vermeidung von Dialogen und Mangel an ›shifters‹ hergestellt wird (vgl. bes. S. 136). Eine ähnliche, aber weniger zentrale Rolle wie hier spielt derselbe Begriff auch in »Le me´talangage d’Aragon«, bes. S. 153 f.; in »K strukture poslednich stichov Chr. Boteva«, bes. S. 529, deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 395–431, bes. S. 417;
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dieser Grundklasse im Vergleich mit den früheren, dialogisch orientierten Werken des Dichters, wo sie sich nachdrücklich und wirksam behauptete. Im Kontrast zum vollkommenen Mangel an merkmalhaften Klassen der beiden aktuellen Personen, der ersten und der zweiten, in Hölderlins Endperiode 264 zählt die Diotima-Elegie (»Wenn aus der Ferne«), um 1820 entstanden,265 in ihren 51 Zeilen 26 Pronomina der ersten und zweiten Person in verschiedenen Kasusformen plus sechs Possessiva ›mein‹ und ›dein‹ und eine hohe Anzahl von Verben derselben zwei Personen. Dem späteren harten Monopol des *merkmallosen Präsens 266 entspricht in der Diotima-Elegie ein Wettbewerb des Präsens mit 26 Beispielen des merkmalhaften Präteritums, und die modalen Verhältnisse, späterhin zum merkmallosen Indikativ herabgesetzt, waren in der Elegie auch durch imperative und konjunktive Formen (wie 42 Nehme vorlieb und denk An die 〈…〉, 49 Du seiest so allein) vertreten. Solche auf Dialog bezogene Äußerungen wie Fragen (21 Wars Frühling? war es Sommer?), Bejahungen, Anrufe (3 O du Theilhaber meiner Leiden! ), Ausrufe (46 Ach! wehe mir! ) kommen in Hölderlins Gedichten der letzten Lebenszeit nicht mehr vor. Die Mitbeteiligung des *verbum dictionis und dessen dictum, die den Sprechakt als solchen in den Vordergrund rückt, ist für die DiotimaElegie ein gleichfalls kennzeichnender und in der weiteren Entwicklung des Hölderlinschen Dichtens aufgegebener Kunstgriff: 5 So sage, wie erwartet die Freundin dich? – 9 Das muß ich sagen, einiges Gute war In deinen Bliken – 16 Ja! ich gestand es, ich war die deine. – 49 Du seiest so allein in der schönen Welt Behauptest du mir immer, Geliebter! Grammatische Züge ähnlich der »Verfahrungsweise« der besprochenen Elegie durchdringen Hölderlins Dichten der zwanziger Jahre bis zur Botschaft »Dem gnädigsten Herrn von Lebret«, anscheinend aus dem Wintersemester 1829/30.267 Die in derselben Abschrift erhaltene erste »Aussicht« (Wenn Menschen fröhlich sind ) soll dem gleichen Zeitraum
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sowie am Rande auch in »The grammatical structure of Kra´l’s Verses«, bes. S. 495 f., deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 319–353, bes. S. 344 f. Vgl. dazu außerdem Jakobsons Überlegungen in »Shakespeare’s Verbal Art in ›Th’ Expence of Spirit‹«, v. a. S. 289, und die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 622–655, v. a. S. 633. [Anm. d. Komm.] Vgl. Supprian, »Schizophrenie«, S. 620 u. 628. Zu »Wenn aus der Ferne […]« vgl. StA, Bd. 2/1, S. 262 f. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Es handelt sich hier nicht um eine Elegie in Distichen, sondern um eine alkäische Ode. Zur Datierung vgl. o., S. 174, Anm. 107. [Anm. d. Komm.] Vgl. Jakobson, »Zur Struktur des russischen Verbums«. [Anm. d. Komm.] Zum Gedicht »Dem gnädigsten Herrn von LeBret« vgl. StA, Bd. 2/1, S. 282. Zur Datierung vgl. a. a.O, Bd. 2/2, S. 908 f.
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angehören und samt dem vorhergehenden Gedicht »einem Studenten auf Verlangen für eine Pfeife Taback gefertigt« worden sein,268 doch in ihrem Bau nähert sich diese »Aussicht« den chronologisch folgenden JahreszeitStrophen 269 und besonders dem Scardanelli-Zyklus. Die allerletzten dichterischen Monologe des »größten der Schizophrenen« (wie F. L. Wells Hölderlin nannte) 270 sind durch Unterdrükkung jeder Anspielung sowohl auf den Sprechakt und dessen Zeitpunkt als auch auf die wirklichen Teilnehmer gekennzeichnet. Der tabuierte Name des Senders wird resolut durch Scardanelli ersetzt; der Konsument der Verse und das Los der mit möglichst entfernter Zeitangabe versehenen Manuskripte bleiben dem Autor recht gleichgültig. Die grammatischen Zeiten des Textes sind auf das merkmallose Präsens beschränkt. Diese »Alleinherrschaft des Präsens«, wie sie Böschenstein bezeichnet, hebt die Aufeinanderfolge der Zeiten auf und enthüllt »durch jede Jahreszeit hindurch das Ganze des Zeitumlaufs«.271 Hölderlins Abhandlung »Über die Verfahrungsweise des poe¨tischen Geistes«, die sich für des Dichters weitere Entwicklung als aufschlußreich erwies, wirft im besonderen ein neues Licht auf Scardanellis Symbolik.272 Dieser Homburger Aufsatz warnt die Poesie vor der leeren »Unendlichkeit isolirter Momente (gleichsam eine Atomenreihe)« und gleichzeitig vor dem Glauben an »eine todte und tötende Einheit«. Im dichterischen Präsens wird hier »die Vergegenwärtigung des Unendlichen« erkannt, und um diese Vergegenwärtigung zu erläutern, wird sogleich hinzugefügt: »Entgegengeseztes und Einiges ist in ihr unzertrennlich«.273 268 Zum Gedicht »Aussicht« vgl. a. a. O., Bd. 2/1, S. 281, zur Datierung vgl. a. a. O., Bd. 2/2, S. 908 f., hier: S. 908. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – »Aussicht« und »Dem gnädigsten Herrn von LeBret« sind auf einem Blatt überliefert, das auf der Rückseite den Vermerk trägt: »Zwei Gedichte von Hölderlin einem Studenten auf Verlangen für eine Pfeife Taback gefertigt.« A. a. O., Bd. 2/2, S. 908 u. S. 909, Hervorhebung im Text. [Anm. d. Komm.] 269 Vgl. dazu die Gedichte »Der Frühling« (»Wie seelig ists, zu sehn, wenn Stunden wieder tagen, […]«), a. a. O., Bd. 2/1, S. 283; »Der Herbst« (»Die Sagen, die der Erde sich entfernen, […]«), a. a. O., S. 284; sowie »Der Sommer« (»Das Erndtefeld erscheint, auf Höhen schimmert […]«), a. a. O., S. 285. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Zur Datierung vgl. a. a. O., Bd. 2/2, S. 909 f. [Anm. d. Komm.] 270 Vgl. Wells, »Hölderlin: Greatest of ›Schizophrenics‹«. 271 Böschenstein, »Hölderlins späteste Gedichte«, S. 44. 272 Der hier etwas unvorbereitet verwendete Begriff der Symbolik ist vielleicht im Sinne des vorausgegangenen Aufrufs der Terminologie von Charles Sanders Peirce gemeint und markierte dann die Redeweise Scardanellis als spezifisch regel- statt indexgeleitet; vgl. o., S. 214 f., Anm. 258–260. [Anm. d. Komm.] 273 Vgl. dazu den poetologischen Entwurf »Über die Verfahrungsweise des poe¨tischen
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Der vergeblichen Mühe Hölderlinscher Anstrengungen, dem Besucher etwas Abstraktes zu sagen, entziehen sich, wie Thürmer 274 scharfsinnig einsah, Scardanellis Dichtungen vollkommen: »Mühelosigkeit, ein Sprechen, das auch jeden Anflug von Mühe weit zurückweist, das ist der Kern der Sache«. Durch den Verzicht auf Deixis verwandeln sich die zeigefrei gewordenen Nomina solcher Gedichte wie »Die Aussicht« in einheitlich geordnete Ketten von *Abstrakta, und es ist zu vermerken, daß viele rein begriffliche Substantive, die Hölderlins Gedichten der ersten zwei Dezennien des 19. Jahrhunderts fremd blieben, erst in den spätesten Gedichten »aus der Wahnsinnszeit« auftauchten: 275 Aussicht, Erhabenheit, Erscheinung, Geistigkeit, Gewogenheit, Innerheit, Menschheit, Vergangenheit, Vertrautheit usw. Die räumliche und zeitliche Aussicht – einleuchtendes Titelwort dreier später Gedichte – stellt dem Kranken eine Falle, sobald es sich um zwei Geistes«, StA, Bd. 4/1, S. 241–265. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – »Der Poe¨tische Geist kann also in der Verfahrungsweise, die er bei seinem Geschäffte beobachtet, sich nicht begnügen, in einem harmonischentgegengesezten Leben, auch nicht bei dem Auffassen und Vesthalten desselben durch hyperbolische Entgegensezung, […] wenn es nicht in einem Wechsel von Gegensäzen, seien diese auch noch so harmonisch, seine Identität verlieren, also nichts Ganzes und Einiges mehr seyn, sondern in eine Unendlichkeit isolirter Momente (gleichsam eine Atomenreihe) zerfallen soll, – ich sage: so ist nothwendig, daß der poe¨tische Geist bei seiner Einigkeit, und harmonischem Progreß auch einen unendlichen Gesichtspunct sich gebe, beim Geschäffte, eine Einheit, wo im harmonischen Progreß und Wechsel alles vor und rükwärts gehe, und durch seine durchgängige karakteristische Beziehung auf diese Einheit nicht blos objectiven Zusammenhang, für den Betrachter, auch gefühlten und fühlbaren Zusammenhang und Identität im Wechsel der Gegensäze gewinne«. A. a. O., S. 250 f., Hervorhebungen im Text. »Dieser Sinn ist eigentlich poe¨tischer Karakter, weder Genie noch Kunst, poe¨tische Individualität, und dieser allein ist die Identität der Begeisterung, ihr die Vollendung des Genie und der Kunst, die Vergegenwärtigung des Unendlichen, der göttliche Moment gegeben. Sie ist also nie blos Entgegensezung des Einigen, auch nie blos Beziehung Vereinigung des Entgegengesezten und Wechselnden, Entgegengeseztes und Einiges ist in ihr unzertrennlich. Wenn diß ist, so kann sie in ihrer Reinheit und subjectiven Ganzheit, als ursprünglicher Sinn, zwar in den Acten des Entgegensezens und Vereinigens, womit sie in harmonischentgegengeseztem Leben wirksam ist, passiv seyn, aber in ihrem lezten Act, wo das Harmonischentgegengesezte als Harmonisches entgegengeseztes, das Einige als Wechselwirkung in ihr als Eines begriffen ist, in diesem Acte kann und darf sie schlechterdings nicht durch sich selbst begriffen, sich selber zum Objecte werden, wenn sie nicht statt einer unendlich einigen und lebendigen Einheit, eine todte und tödtende Einheit ein unendlich positives gewordenes seyn soll«. A. a. O., S. 251 f. [Anm. d. Komm.] 274 Thürmer, Zur poetischen Verfahrensweise, S. 44. 275 Vgl. Böschenstein, Konkordanz, S. 9.
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Teilnehmer eines Gesprächs handelt und um die Koordinierung zweier Gesichtswinkel. Als Chr. Th. Schwab im Januar 1841 in Hölderlins Zimmer hineintrat und die Aussicht lobte, musterte ihn der Dichter und sagte leise vor sich hin: »Er ist so schön angezogen«.276 Ende Juli desselben Jahres notierte eine neue Besucherin, Marie Nathusius, in ihrem Tagebuch: »Ich sagte zu ihm: ›Sie haben hier eine schöne Aussicht.‹ Er antwortete: ›Man kann gut aussehen‹«.277 Das semantische Feld des Verbstammes wird in beiden Fällen offenbar verdichtet und reduziert, während im Trauerlied »Wenn aus der Ferne« der Doppelsinn der *etymologischen Figur – 12 mit finstrem Aussehn und 40 aus hoher Aussicht – zum Vorschein kam.278 Nach psychiatrischen Zeugnissen über Hölderlins seelische Erkrankung 279 tritt im dichterischen Ausdruck »der Charakter des Endzustandes am klarsten in Erscheinung«, und als ein typisches Merkmal für die »Bildnerei der Schizophrenie« wird hier die »Geometrisierung« angeführt. Diese Eigenschaft hängt mit dem fortschreitenden Abnehmen der hinweisenden, deiktischen Wirksamkeit eng zusammen. Folglich werden Scardanellis Versmonologe von einer »introversiven Semiosis« beherrscht: sie werden zu einer »Mitteilung, die ihre Bedeutung in sich selbst trägt«. Wie »Die Aussicht« und verwandte Gedichte uns zeigen, bilden ihre verschiedenen Bestandteile vielgestaltige *Äquivalenzen; gerade in solchem Ineinandergreifen der Teile sowie in ihrer Integration zu einem kompositionellen Ganzen besteht die magische Anmut dieser vermeintlich naiven Verse. 276 Vgl. dazu das Dokument »Tagebuch Christoph Theodor Schwabs«, StA, Bd. 7/3, Nr. 551, S. 202–209. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Am 14. Januar 1841 berichtet Christoph Theodor Schwab über seinen Besuch bei Hölderlin in seinem Tagebuch: »Endlich wagt’ ich, ihn [Hölderlin] zu bitten, daß er mich auf sein Zimmer führe, wozu er sich gleich bereit zeigte, er machte die Thüren auf: ›Spazieren euer königliche Majestät nur zu‹; ich trat hinein und lobte die Aussicht, womit er einverstanden schien. Nun musterte er mich und sagte leis ein paarmal vor sich hin: ›Es ist ein General‹; dann wieder: ›Er ist so schön angezogen‹ (ich hatte zufällig eine seidene Weste an).« A. a. O., S. 203. [Anm. d. Komm.] 277 Vgl. dazu das Dokument »Philipp und Marie Nathusius bei Hölderlin«, a. a. O., Bd. 7/3, Nr. 579, S. 252–255. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Die Volksschriftstellerin Marie Nathusius (1817–1857) besucht mit ihrem Mann, Philipp Nathusius, Hölderlin in Tübingen. Über den Besuch bei dem kranken Dichter schreibt Marie am 25. Juli 1841 in ihr Tagebuch: »Ihm [Hölderlin] selbst war so ängstlich, und uns war es auch so gegenseitig, wir gingen gleich wieder fort. Ich sagte zu ihm: ›Sie haben hier eine schöne Aussicht.‹ Er antwortete: ›Man kann gut aussehen‹.« A. a. O., S. 253. Beißner vermutet, daß den Besuchern Hölderlins Dichtung nicht vertraut gewesen ist, vgl. a. a. O., S. 254. [Anm. d. Komm.] 278 Zu »Wenn aus der Ferne […]« vgl. a. a. O., Bd. 2/1, S. 262 f. 279 Treichler, »Die seelische Erkrankung Hölderlins«, S. 136 f.
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»Hölderlin und das Wesen der Dichtung« ist der Titel der Rede, die Heidegger vor 40 Jahren, am 2. April 1936, in Rom gehalten hat.280 Fünf Leitworte aus des Dichters Nachlaß wurden vom Philosophen ausgewählt und kommentiert, darunter das typisch Hölderlinsche Schlußwort des Gedichtes »Andenken« aus dem Jahre 1803 – Was bleibet aber, stiften die Dichter 281 – und unmittelbar zuvor die vier Zeilen, mit denen der letzte Entwurf zum unvollendeten Gedicht »Versöhnender der du nimmergeglaubt« aus dem Jahre 1801 abbricht.282 Die bedeutendste dieser Zeilen – 50 Seit ein Gespräch wir sind – veranlaßt Heidegger zu folgender Erwägung: »Wir – die Menschen – sind ein Gespräch. Das Sein des Menschen gründet in der Sprache; aber diese geschieht erst eigentlich im Gespräch. Dieses ist jedoch nicht nur eine Weise, wie Sprache sich vollzieht, sondern als Gespräch nur ist Sprache wesentlich. Was wir sonst mit ›Sprache‹ meinen, nämlich einen Bestand von Wörtern und Regeln der Wortfügung, ist nur ein Vordergrund der Sprache. Aber was heißt nun ein ›Gespräch‹? Offenbar das Miteinandersprechen über etwas. Dabei vermittelt dann das Sprechen das Zueinanderkommen.« 283 Was auch immer 280 Heidegger, »Hölderlin und das Wesen der Dichtung«. 281 Zu »Andenken« vgl. StA, Bd. 2/1, S. 188 f. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Die Verfasser zitieren hier V. 59. Zur Datierung vgl. a. a. O., Bd. 2/2, S. 800. [Anm. d. Komm.] 282 A. a. O., Bd. 2/1, S. 136 f. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Von dem hymnischen Entwurf »Versöhnender der du nimmergeglaubt« sind drei Fassungen überliefert. Die Verfasser beziehen sich hier auf den dritten Entwurf. V. 48–51 lauten: »Und andere sind noch bei ihm. Viel hat erfahren der Mensch. Der Himmlischen viele genannt, Seit ein Gespräch wir sind Und hören können voneinander.« Bei diesen drei, unvollendet gebliebenen, Entwürfen aus dem Jahr 1801 handelt es sich um Vorstufen zu der Hymne »Friedensfeier«. Vgl. a. a. O., Bd. 3, S. 531–538. Beißner vermutet, die Endfassung der »Friedensfeier« sei »wohl im Herbst 1802 entstanden«, a. a. O., S. 539. [Anm. d. Komm.] 283 Heidegger, »Hölderlin und das Wesen der Dichtung«, S. 38 f. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Wie Jakobsons Beitrag sich zu Heideggers Hölderlinlektüren verhält, läßt sich kaum auf einen einzigen Begriff bringen. Elmar Holenstein hat in der Einleitung zur ersten Veröffentlichung dieses Texts die Geste herausgestellt, mit der Jakobson Heideggers Worte an dieser Stelle nicht nur für Hölderlins Spätwerk zurückweist, sondern Heideggers Explikation von Sprache überhaupt als Gespräch zu widerlegen scheint: »Was Heidegger, im übrigen wie Jakobson von der phänomenologischen und hermeneutischen Tradition herkommend, mit einem Satz als bloßen ›Vordergrund der Sprache‹ zur Seite schiebt […], dient Jakobson gerade als Leitfaden der Sinninterpretation eines Gedichtes.« (Vgl. Holenstein, »Einführung«, S. 14.) Diese Beobachtung ist zweifellos richtig, läßt aber offen, ob Jakobson Heideggers Bemühungen tatsächlich allein nach diesem Maßstab gemessen hat oder hätte; immerhin zitieren die Verfasser in dieser Analyse an zahlreichen Stellen weitere Sekundärliteratur, die sich – teilweise ostentativ – auf Heideggers Hölderlinar-
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Hölderlins Welt- und Sprachanschauung im 18. Jahrhundert gewesen war, sein späterer Weg ist jedenfalls eine Umkehrung der zitierten Konzeption. Nicht als Gespräch, sondern nur als Gedicht ist für ihn Sprache mit ihrem mächtigen Bestand von Wörtern und spannenden Regeln der Wortfügung wesentlich, wogegen das Miteinandersprechen und Zueinanderkommen von Hölderlin, je später desto entschiedener, als ein bloßer Vorraum der Sprache abgelehnt werden: Was bleibet aber, stiften die Dichter. Das berichtete Geschehen schließt den Verweis auf den Sprechakt aus dem lediglich dichterischen Berichte aus.
VI. Diotima Die Erläuterer der Entstehungsgeschichte des Romans Hyperion oder der Eremit in Griechenland betonen nicht nur die geistige Nähe zwischen dem für das Griechentum schwärmenden Verfasser und dem Titelhelden des Buches, sondern auch das Auftauchen der lyrischen Frauengestalt und ihres Namens Diotima schon in den Vorstufen der dichterischen Arbeit am neuen Werke,284 die noch vor Hölderlins Begegnung mit Susette Gontard 285 liegen, nämlich im Entwurfe Hyperions Jugend: Jezt ehr’ ich als beiten bezieht. (Vgl. o., Anm. 38, 113, 158 u. 218.) Es sollte nicht vergessen werden, daß jene Sprache, die Jakobson bei Hölderlin nach dem Verlust des ›Gesprächs‹ noch nachweist, zwar viele auch diffizile Strukturen mit dem gesunden Sprachgebrauch teilt, aber dennoch keineswegs mehr funktionabel, vielleicht im eigentlichen Sinne überhaupt nicht Sprache ist. [Anm. d. Komm.] 284 Die Entstehungszeit von Hölderlins Briefroman Hyperion erstreckt sich über insgesamt sieben Jahre. Die Anfänge des Romans reichen bis in das Jahr 1792 zurück. Im Sommer 1794 entsteht das Fragment von Hyperion, um die Jahreswende 1794/95 folgt die metrische Fassung des Hyperion, Anfang 1795 Hyperions Jugend, in der zweiten Jahreshälfte 1795 die in der Hölderlin-Forschung sogenannte ›vorletzte‹ Hyperion-Fassung. Alle diese Versionen des Briefromans sind Fragmente geblieben. Der erste Band des endgültigen Hyperion-Romans erscheint 1797, der zweite Band 1799. Zur Entstehungsgeschichte des Hyperion-Projektes vgl. StA, Bd. 3, S. 295–335. Das Fragment von Hyperion und Hyperions Jugend enthalten eine hochstehende, ideale Frauengestalt. Im Fragment von Hyperion heißt sie Melite, in Hyperions Jugend führt Hölderlin den Namen Diotima ein. Dieser Name ist Platons Symposion entlehnt, wo sich Sokrates von der Priesterin Diotima über das Wesen des Eros unterrichten läßt. [Anm. d. Komm.] 285 Als Hölderlin im Januar 1796 bei dem Bankier Gontard in Frankfurt am Main eine Hofmeisterstelle antritt, begegnet er dort Susette Gontard-Borkenstein (1769– 1802), der Ehefrau Jakob Friedrich Gontards (1764–1843) und der Mutter von Hölderlins Zögling Henry (1787–1816) sowie den drei Töchtern Henriette, Helene und Amalie. Schon bald fassen Hölderlin und Susette eine tiefe Zuneigung zueinander. Susette
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Wahrheit, was mir einst dunkel in ihrem Bilde sich offenbarte. Das Ideal meines ewigen Daseyns, ich hab’ es damals geahndet, als sie vor mir stand in ihrer Grazie und Hoheit, und darum kehr’ ich auch so gerne zurük, zu dieser seeligen Stunde, zu dir, Diotima, himmlisches Wesen! 286 Hyperions Vision der Diotima verschmilzt mit Hölderlins Frankfurter Leidenschaft, und in des Dichters Denken und Schaffen wird die eheliche Benennung Susette Gontard folgerichtig durch die Entlehnung aus dem Symposion des Plato verdrängt. »Nicht wahr, eine Griechin?« – flüsterte Hölderlin seinem Freunde Neuffer über Frau Gontard zu,287 und in »Menons Klagen um Diotima« schwebte dem Dichter 102 die Athenerinn vor,288 wie übrigens schon im Lobgedicht »An ihren Genius«: II2 einsam und fremd sie, die Athenerin, lebt 289. Der durch Hyperions Rat – daß du mich verlässest, meine Diotima 290 – und durch die folgende dramatische Trennung der beiden Liebenden verursachte Tod der Heldin wird vom vereinsamten Helden mit dem Nachruf begleitet: verlaidet ist mir meine eigne Seele, weil ich ihrs vorwerfen muß, daß Diotima todt ist, und die Gedanken meiner Jugend, die ich groß geachtet, gelten mir nichts mehr. Haben sie doch meine Diotima mir vergiftet! 291 Ende 1799 sandte Hölderlin nach Frankfurt der von ihm gewaltsam getrennten Geliebten den soeben erschienenen zweiten Band des Hyperion, der in diesem Exemplar mit dem ersten Bande zusammengeheftet war. Vor das Titelblatt des zweiten Bandes hatte der Dichter eine eigen-
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wird für Hölderlin zur Verkörperung der in den Hyperion-Texten literarisch entworfenen Diotima-Figur. Vgl. Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Michael Knaupp, Bd. 3, S. 728, sowie von Bassermann-Jordan, »Schönes Leben! du lebst, wie die zarten Blüthen im Winter…«, S. 153–155. [Anm. d. Komm.] StA, Bd. 3, S. 217. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Der Name der Diotima wird in dieser Passage in Hölderlins Dichtung erstmals genannt. Vgl. a. a. O., S. 513. [Anm. d. Komm.] Vgl. dazu das Dokument »Karl Goks und Neuffers Besuch in Frankfurt 1797«, a. a. O., Bd. 7/2, Nr. 194, S. 82 f., hier: S. 83. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Christian Ludwig Neuffer (1769–1839), der 1786 ins Tübinger Stift aufgenommen wird, ist bis etwa 1800 einer der wichtigsten Freunde Hölderlins. Vgl. Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Michael Knaupp, Bd. 3, S. 773. [Anm. d. Komm.] Zu »Menons Klagen um Diotima« vgl. StA, Bd. 2/1, S. 75–79. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – In dieser Elegie nennt Hölderlin zum letztenmal in seinem dichterischen Werk den Namen der Diotima. [Anm. d. Komm.] Zu »An Ihren Genius« vgl. a. a. O., Bd. 1/1, S. 243. Hyperion schreibt an Diotima nach dem Scheitern der Revolution: »Misdeute mich nicht! verdamme mich nicht! ich muß dir rathen, daß du mich verlässest, meine Diotima.« A. a. O., Bd. 3, S. 119. [Anm. d. Komm.] A. a. O., Bd. 3, S. 151.
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händige Widmung an Diotima eingeklebt: Wem sonst als Dir.292 Ein erhaltenes Bruchstück von Hölderlins Begleitbrief enthält bedeutsame Angaben: »Hier unsern Hyperion, Liebe! Ein wenig Freude wird diese Frucht unserer seelenvollen Tage Dir doch geben. Verzeih mirs, daß Diotima stirbt. Du erinnerst Dich, wir haben uns ehmals nicht ganz darüber vereinigen können. Ich glaubte, es wäre, der ganzen Anlage nach, nothwendig«.293 Aber in dem Texte des Romans, welchen Hölderlin der Geliebten übersandte, wurden von ihm eigenhändig mehrere eindeutige Botschaften unterstrichen, z. B. im Briefe »Hyperion an Diotima«, mit dem das erste Buch des zweiten Bandes schließt: O das ist ja meine 〈Anagramm: Diotima!〉 lezte Freude, daß wir unzertrennlich sind 294 und Es ist unmöglich, und mein innerstes Leben empört sich, wenn ich denken will, als verlören wir uns 295. Am 22. Juni 1802 starb Susette Gontard, und vor ihrem Ende gab sie das Buch dem ihr nahestehenden Hausarzt, »damit die Zueignung nicht in unwürdige Hände falle«.296 Mit »Menons Klagen um Diotima«, die – in einer intuitiven Vorahnung von Susettes sich näherndem Untergang – um die Jahrhundertwende entstanden sind, schließt der nach Jahren und poetischen Versuchen lange Zyklus von Hölderlinschen Dichtungen, die den Namen »der schönsten der Heldinnen« 297 im Titel angeben. Das unbetitelte Fragment 292 A. a. O., Bd. 2/1, S. 359, sowie a. a. O., Bd. 3, S. 350–353. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – »Wem sonst als Dir« ist ein Zitat aus Hölderlins Fragment von Hyperion, a. a. O., Bd. 3, S. 161–184, hier: S. 178. [Anm. d. Komm.] 293 Vgl. dazu das Dokument »An Susette Gontard«, a. a. O., Bd. 6/1, Nr. 198, S. 370 f., hier: S. 370. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Die Verfasser beziehen sich auf ein in der Abschrift Gustav Schlesiers überliefertes Bruchstück eines Briefes von Hölderlin an Susette Gontard, das wahrscheinlich auf Anfang November 1799 zu datieren ist. Der nicht erhaltene vollständige Brief Hölderlins hat das für Susette bestimmte Widmungsexemplar des zweiten Hyperion-Bandes begleitet. Vgl. Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Jochen Schmidt, Bd. 3, S. 878 u. 886 f. [Anm. d. Komm.] 294 StA, Bd. 3, S. 121. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Das Zitat lautet vollständig: »O das ist ja meine lezte Freude, daß wir unzertrennlich sind, wenn auch kein Laut von dir zu mir, kein Schatte unsrer holden Jugendtage mehr zurükkehrt!« [Anm. d. Komm.] 295 A. a. O., Bd. 3, S. 122. 296 A. a. O., Bd. 3, S. 351. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Samuel Thomas von Sömmerring (1755–1830), seit 1792 praktischer Arzt in Frankfurt am Main, ist bis 1805 Hausarzt der Familie Gontard. [Anm. d. Komm.] 297 A. a. O., Bd. 2/1, S. 316. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Die Verfasser beziehen sich auf folgende Verse, die Friedrich Beißner unter dem Titel »Diotima« in der Rubrik »Pläne und Bruchstücke«, a. a. O., S. 315–341, ediert hat: »Die Helden könnt’ ich nennen Und schweigen von der schönsten der Heldinnen«. [Anm. d. Komm.]
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»Wenn aus der Ferne«,298 anscheinend am Anfang der zwanziger Jahre geschrieben, gehört zwar zur Hölderlinschen Lyrik um Diotima, wie schon Waiblinger einsah,299 doch im Gegensatz zu den übrigen Gedichten desselben Themenkreises sind die Rollen des Sprechers und des Angesprochenen hier vertauscht, so daß das Pronomen der ersten Person sich auf die unbenannte Freundin bezieht und das ›du‹ auf den gleichfalls anonymen Geliebten. Schon im Nebensatz der Anfangszeile antwortet diese Elegie auf den Ausruf, den der Dichter für seine Freundin im Hyperion unterstrichen hatte: Auch wir, auch wir sind nicht geschieden, Diotima, und die Thränen um dich verstehen es nicht.300 Das Gedicht scheint den Briefen der Diotima an Hölderlin manches zu verdanken, einer Brieffolge, die im Herbst 1798 einsetzte und im Mai 1800 schloß und die der Dichter merkwürdigerweise trotz seiner Wanderungen, Anfälle und Schicksalsschläge aufbewahrt hat.301 Man vergleiche ihren Brief vom 31. Oktober 1799 – »Doch rahte ich Dir und warne Dich für eines: kehre nicht dahin zurück, woher Du mit zerrissnen Gefühlen in meine Arme Dich gerettet« 302 – und die Verse der elegischen Ode – 33 In meinen Armen lebte der Jüngling auf, 34 Der, noch verlassen, aus den Gefilden kam, 35 Die er mir wies, mit einer Schwermuth. 303 In diesem Gedichte, wie auch in »Menons Klagen«, wechseln noch die Pronomina ›ich‹ und ›du‹ oder die entsprechenden Possessiva: 2 Ich dir noch kennbar bin; 5 So sage, wie erwartet die Freundin dich?; 16 Ja! ich gestand es, ich war die deine; 50 Behauptest du mir 298 Zur »Wenn aus der Ferne […]« vgl. a. a. O., Bd. 2/1, S. 262 f. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Zur Datierung vgl. o., S. 174, Anm. 107. [Anm. d. Komm.] 299 Vgl. dazu das Dokument »Wilhelm Waiblinger: Friedrich Hölderlins Leben, Dichtung und Wahnsinn«, StA, Bd. 7/3, Nr. 499, S. 50–88, hier: S. 73. 300 A. a. O., Bd. 3, S. 159 u. 353. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Das Zitat ist im Hyperion durch Anführungszeichen hervorgehoben. Im Widmungsexemplar für Susette Gontard hat Hölderlin diesen Satz unterstrichen. Die alkäische Ode »Wenn aus der Ferne […]« beginnt mit dem Vers »Wenn aus der Ferne, da wir geschieden sind«. A. a. O., Bd. 2/1, S. 262 f., hier: S. 262. [Anm. d. Komm.] 301 Im September 1798 verläßt Hölderlin das Haus Gontard, der genaue Anlaß ist nicht bekannt. Susette äußert sich in ihrem ersten Brief an Hölderlin dahingehend, daß eine wie auch immer geartete Form von Auseinandersetzung angenommen werden muß. Bis Juni 1800 läßt sich Hölderlin in Bad Homburg nieder. Eine Verbindung zwischen ihm und Susette bleibt während dieser Zeit in Form eines Briefwechsels und heimlicher Treffen bestehen. Der erste Brief von Susette an Hölderlin stammt aus dem Herbst 1798, der letzte vom Mai 1800. Vgl. Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Michael Knaupp, Bd. 2, S. 700–704, bes. S. 702 f., u. 864–866. [Anm. d. Komm.] 302 Vie¨tor, Die Briefe der Diotima an Hölderlin, S. 47. 303 Vgl. dazu »Wenn aus der Ferne […]«, StA, Bd. 2/1, S. 262 f., hier: S. 263.
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immer, Geliebter! und andererseits: 87 Götterkind: erscheinest du mir, und grüßest, wie einst, mich; 89 Siehe! weinen vor dir, und klagen muß ich; 304 92 Hab’ ich, deiner gewohnt, dich in der Irre gesucht, 〈…〉. Auch diese zwei Gedichte enthalten eigentlich keine Dialoge, sondern nur unbeantwortete Anreden aus weiter Ferne. Nach dem abgebrochenen Trauerlied »Wenn aus der Ferne« 305 gibt es weiter in Hölderlins Dichtung keinen Wechsel der beiden Pronomina mit Ausnahme – 7 O Theurer, dir sag ich die Wahrheit – in den fragenden und belehrenden Alkäen »An Zimmern« etwa aus dem Jahre 1825 306 und mit einem ausdrücklichen Verzicht auf Zwiegespräch im Gedicht »Das fröhliche Leben«: 15 Dieses mußt du gar nicht fragen, 16 Wenn ich soll antworten dir. 307 In den übrigen Gedichten derselben Periode ist aus den zwei Einzelpersonen innerhalb des Gedichtes höchstens eine vertreten, bis, wie vermerkt (s. oben S. 214), Hölderlins spätere Gedichte weder für die erste noch für die zweite Person der Pronomina oder Verben Platz finden. Das bevorstehende Absterben des wahren Gesprächs im geistigen Leben des Dichters tritt im Hyperion hervor als ein seltsames Vorgefühl: Wir sprachen sehr wenig zusammen – mit diesen Worten beginnt die Geschichte von Hyperions Liebe – Man schämt sich seiner Sprache.308 Und der tragischen Lösung (daß du mich verlässest) geht Hyperions offenbarendes Schreiben an Diotima unmittelbar voran: Ich bringe mich mit Mühe zu Worten 〈…〉 Glaube mir und denk, ich sags aus tiefer Seele dir: die Sprache ist ein großer Überfluß. Das Beste bleibt doch immer für sich und ruht in seiner Tiefe, wie die Perle im Grunde des Meers. 309 Die Tabuierung solcher Wortklassen, welche für die dialogische Form der Sprache kennzeichnend sind, beginnt in der späten, durchweg monologisch eingestellten und jedem »partnerbezogenen Gespräch« 310 ent304 Zu »Menons Klagen um Diotima« vgl. a. a. O., Bd. 2/1, S. 75–79. 305 Zu »Wenn aus der Ferne […]« vgl. a. a. O., Bd. 2/1, S. 262 f. 306 Zu »An Zimmern« (»Von einem Menschen sag ich, wenn der ist gut […]«) vgl. a. a. O., Bd. 2/1, S. 271. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Zur Datierung vgl. a. a. O., Bd. 2/2, S. 903 f. [Anm. d. Komm.] 307 Zu »Das fröhliche Leben« vgl. a. a. O., Bd. 2/1, S. 274 f. 308 A. a. O., Bd. 3, S. 53. 309 A. a. O., Bd. 3, S. 118. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Die ausgelassene Passage lautet: »Man spricht wohl gerne, man plaudert, wie die Vögel, so lange die Welt, wie Mailuft, einen anweht; aber zwischen Mittag und Abend kann es anders werden, und was ist verloren am Ende?« [Anm. d. Komm.] 310 Vgl. Lewandowski, Linguistisches Wörterbuch, Bd. 1, S. 223. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Lewandowski definiert den »Dialog« als »Zwiegespräch, partnerbezogenes oder interpersonales Gespräch, interaktive Kommunikation oder intentional zentrierte In-
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gegengesetzten Dichtung Hölderlins mit der Aufhebung der Pronomina der ersten und zweiten Person und erstreckt sich dann auf die belebten, hier genauer: persönlichen Nomina, die zur Bezeichnung der anredenden oder angeredeten Person besonders angemessen sind. ›Mensch‹ gilt als die einzige verallgemeinerte, jeder Individualität beraubte Bezeichnung humaner Wesen. Die letzten 32 Einzelwerke der Abteilung »Späteste Gedichte« – von »Aussicht« bis »Die Aussicht« 311 – bezeugen eine einzige, *metasprachliche Ausnahme von diesem Tatbestand: 1 Wenn Menschen sich aus innrem Werthe kennen, 2 So können sie sich freudig Freunde nennen 312. Auch der Name ›Gott‹ verschwindet aus Hölderlins Versen mit den anderen belebten Substantiven. Charakteristisch sind die persönlichen Feminina in den Alkäen des Trauerliedes »Wenn aus der Ferne« – 313 5 die Freundin, 16 die deine – und im kniffligen Satze der kurz danach entstandenen Alkäe »An Zimmern«: 6 Ein Freund ist oft die Geliebte, viel Die Kunst 314. Parallel zur Geliebten gehen in den Hölderlinschen Spätlingen auch das Nomen ›Liebe‹ und das Verb ›lieben‹ verloren, die früher in engen, paronomastischen Beziehungen mit ›Leben‹ standen. Alle diese der Hölderlinschen Dichtung von nun an fremdgewordenen Elemente brechen allerdings gleichzeitig in seinen Scheingesprächen hervor. So überraschte er z. B. 1841 den Besucher Chr. Th. Schwab, »sich als gemeinen Narren verstellend«, mit der Äußerung: »Ich bin unser Herrgott«.315 Waiblinger wunderte sich, daß Hölderlin »nicht auf Gegenstände zu sprechen gebracht werden konnte, die ihn ehedem in bessern Tagen sehr in Anspruch genommen. Von Frankfurth, Diotima, von Griechenland, seinen Poesien und dergleichen ihm einst so wichtigen Dingen redet er kein Wort«.316 Doch in der Geisteswelt des Kranken lebten diese tabu-
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teraktion, bei der Äußerungen an einen oder mehrere Partner gerichtet oder beantwortet werden.« (Ebd.) [Anm. d. Komm.] Vgl. StA, Bd. 2/1, S. 281–312. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Die einzelnen Gedichte sind o., S. 177, Anm. 115, verzeichnet. [Anm. d. Komm.] Vgl. dazu »Freundschafft«, a. a. O., Bd. 2/1, S. 311. Vgl. dazu »Wenn aus der Ferne […]«, a. a. O., Bd. 2/1, S. 262 f. Vgl. dazu »An Zimmern« (»Von einem Menschen sag ich, wenn der ist gut […]«), a. a. O., Bd. 2/1, S. 271. Vgl. dazu das Dokument »Tagebuch Christoph Theodor Schwabs«, a. a.O, Bd. 7/3, Nr. 551, S. 202–209. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Am 21. Januar 1841 schreibt Christoph Theodor Schwab über einen Besuch bei Hölderlin in sein Tagebuch: »Endlich als er mich durchaus forthaben wollte, sagte er sich als gemeinen Narren verstellend: ›Ich bin unser Herrgott‹, worauf ich endlich, als er noch die Thür aufmachte, unter Verbeugungen schied.« A. a. O., S. 205. [Anm. d. Komm.] Vgl. dazu das Dokument »Wilhelm Waiblinger: Friedrich Hölderlins Leben, Dichtung und Wahnsinn«, a. a. O., Bd. 7/3, Nr. 499, S. 50–88. [Anm. v. R.J. /
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ierten Themen immer weiter. Einmal kam es ihm plötzlich in den Sinn, nach Frankfurt zu gehen, und fünf Tage wütete er, als man es ihm unmöglich machte, sich dorthin zu begeben, wo er 1798 unter Zwang Diotima verlassen hatte.317 Das Buch über sie und den Eremiten in Griechenland blieb ihm stundenlang und über Jahrzehnte hin Lieblingsstoff zum Lesen und Rezitieren, wie es schon Waiblinger,318 später Albert Diefenbach 319 und Gustav Kühne 320 vermerken. Chr. Th. Schwab erzählt in seinem Tagebuch über seinen Besuch bei Hölderlin Anfang 1841: »Als ich in seinem Hyperion las, sagte er vor sich hin: ›Guck’ nicht so viel hinein, es ist kannibalisch‹«.321 Eine – bei Laplanche als schizophren bezeichnete 322 – rastlose Schwingung zwischen der äußersten Nähe und Entfernung liegt dem Hölderlinschen Roman zugrunde. Die Motive der Scheidung von der
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G.L.-G.] – Im Original ist das Zitat mit »Merkwürdig ist, daß er« eingeleitet. Nach »kein Wort« fährt Waiblinger nach einem Komma fort: »und wenn man auch geradezu fragt: ›Sie waren wohl schon lange nicht mehr in Frankfurth‹, so antwortet er blos mit einer Verbeugung: ›Oui, Monsieur, Sie behaupten das‹, und dann kommt eine Fluth von Halbfranzösisch.« A. a. O., S. 71 f. [Anm. d. Komm.] Vgl. a. a. O., Bd. 7/3, Nr. 499, S. 50–88. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Wilhelm Waiblinger berichtet: »Einmal kam es ihm plötzlich in Sinn, nach Frankfurth zu gehen. Man nahm ihm nun die Stiefel weg, und das erzürnte den Herrn Bibliothekar dergestalt, daß er fünf Tage im Bette blieb.« A. a. O., S. 70. [Anm. d. Komm.] Vgl. a. a. O., Bd. 7/3, Nr. 499, S. 50–88. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Wilhelm Waiblinger berichtet: »Womit er sich Tagelang beschäftigen kann, das ist sein Hyperion. Hundertmal, wenn ich zu ihm kam, hört ich ihn schon außen mit lauter Stimme declamiren. Sein Pathos ist groß, und Hyperion liegt beynahe immer aufgeschlagen da.« A. a. O., S. 65 f. [Anm. d. Komm.] Vgl. dazu das Dokument »Albert Diefenbachs Besuch im Dezember 1837«, a. a. O., Bd. 7/3, Nr. 534, S. 145–152. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Diefenbach berichtet über seinen Besuch bei Hölderlin: »Einige Dichter des vorigen Jahrhunderts, die er bei seinem Einzug in seine jetzige Wohnung vorfand (Uz, Zachariae, Cramer, Gleim, Cronegk, bes. Klopstock) sind seine einzige Lektüre, besonders der Hyperion (alte Ausgabe).« A. a. O., S. 147. [Anm. d. Komm.] Vgl. dazu das Dokument »Besuch Gustav Kühnes in Tübingen«, a. a. O., Bd. 7/3, Nr. 535, S. 153–168. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Kühne berichtet: »Hyperion lag aufgeschlagen, das unselige Buch, wo ein Werther auf classischem Boden nach Göttergestalten tappt und Ossianische Nebelgebilde umarmt.« A. a. O., S. 158. [Anm. d. Komm.] Vgl. dazu das Dokument »Tagebuch Christoph Theodor Schwabs«, a. a. O., Bd. 7/3, Nr. 551, S. 202–209. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Die Verfasser beziehen sich auf den Tagebucheintrag vom 21. Januar 1841, in dem Schwab von einem Besuch bei Hölderlin am 16. Januar 1841 berichtet. A. a. O., S. 204. [Anm. d. Komm.] Laplanche, Hölderlin, durchwegs und v. a. ab S. 123; dt. ab S. 146. Vgl. o., S. 175, Anm. 110. [Anm. d. Komm.]
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Liebe und vom Leben sind mehrfach und mehrdeutig umflochten. Im oben zitierten Absatz des Briefes vom 31. Oktober 1799 schrieb die verlassene Diotima an den Dichter: »Ich denke dann auch, besser ein Opfer der Liebe! als ohne sie noch leben«.323 In einem Hölderlinschen Bruchstück wird die aufgegebene Liebe als anthropophagisch aufgefaßt: Ähnlich dem Manne, der Menschen frisset Ist einer der lebt ohne (Liebe).324 Im selben Sinne wird der Abschied von Diotima im Gedicht »Der Abschied« gewertet: 1 Trennen wollten wir uns? wähnten es gut und klug? 2 Da wirs thaten, warum schrökte, wie Mord, die That! 325 Was im Hyperion dem Trauern der Entsagung (Wir wollen uns trennen) 326 und dem beredten Tode der Heldin folgt, sind die aussichtsvollen Schlußsätze des Romans: Wie der Zwist der Liebenden, sind die Dissonanzen der Welt. Versöhnung ist mitten im Streit und alles Getrennte findet sich wieder. Es scheiden und kehren im Herzen die Adern und einiges, ewiges, glühendes Leben ist Alles. So dacht’ ich. Nächstens mehr. 327
Die nächste weitere Erläuterung zum Hölderlinschen Mythos des prädestinierten und folgenschweren Mordes wurde durch Bettina von Arnim nach Sinclairs Auszügen aus den Reden des Dichters wiedergegeben: »Denn das Leben im Wort (im Leib) sei Auferstehung (lebendig faktisch), die bloss aus dem Gemordeten hervorgehe. – Der Tod sei der Ursprung des Lebendigen«.328 Ein später, vergeblicher Versuch, mit dem umnachteten Hölderlin ein Gespräch über seine Geliebte anzuknüpfen, wird vom Augenzeugen Johann Georg Fischer mehrfach mitgeteilt.329 – Man soll dabei nicht vergessen, daß schon für Hyperion Phrasen in memoriam der Verstorbenen und ihr Name selbst zum Tabu wurden: Schwer wird mir das Wort; das darf ich wohl gestehen 〈…〉 in meiner Nacht, in der Tiefe der Traurenden, ist 323 Vie¨tor, Briefe, S. 48. 324 StA, Bd. 2/1, S. 332. 325 A. a. O., Bd. 2/1, S. 24 f., sowie a. a. O., S. 26 f. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Die asklepiadeische Ode »Der Abschied« ist in der StA in zwei Fassungen dokumentiert. Die hier zitierten ersten beiden Verse sind in beiden Fassungen identisch. [Anm. d. Komm.] 326 A. a. O., Bd. 3, S. 131. [Anm. d. Komm.] 327 A. a. O., Bd. 3, S. 160. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Im Original ist die Passage von »Wie der Zwist« bis »ist Alles« durch Anführungszeichen hervorgehoben. [Anm. d. Komm.] 328 Von Arnim, Günderode, Bd. 1, S. 329. 329 Vgl. u., Anm. 331. [Anm. d. Komm.]
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auch die Rede am Ende.330 – Fischers Frage an den kranken Hölderlin lautete: »Ihre verherrlichte Diotima muß ein edles Geschöpf gewesen sein«, worauf, nach Fischers Wiedergabe, Hölderlin, kurz aufleuchtend, geantwortet haben soll: »Ach, reden Sie mir nicht von Diotima, das war ein Wesen! und wissen Sie: dreizehn Söhne hat sie mir geboren, der eine ist Kaiser von Rußland, der andere König von Spanien, der dritte Sultan, der vierte Papst u. s. w. Und wissen Sie was dann? 〈…〉 wisset se, wie d’Schwoba saget: Närret ist se worda, närret, närret, närret.« In einem Aufsatz »Aus Friedrich Hölderlins dunklen Tagen« fügte Fischer hinzu: »Er wiederholte das letzte Wort in solcher Heftigkeit und mit solchen Geberden, daß wir den Schmerz um den Unglücklichen nicht länger ertrugen, weshalb wir seinem Paroxismus durch Abschiednahme ein Ende machten, die er wie immer ›unterthänigst‹ erwiederte«.331 Die unbändige Absicht, den Übertreter des Tabu zu verwirren, ist offensichtlich. Wir wollen uns trennen, hatte Diotima dem Hyperion gesagt. Ich will auch keine Kinder; denn ich gönne sie der Sclavenwelt nicht.332 330 StA, Bd. 3, S. 150. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Nachdem Hyperion von Diotimas Tod erfahren hat, schreibt er an seinen Freund Notara. Die Passage lautet im Zusammenhang: »Damals schrieb ich an Notara, als ich wieder anfieng aufzuleben, von Sicilien aus, wohin ein Schiff aus Paros mich zuerst gebracht: Ich habe dir gehorcht, mein Theurer! bin schon weit von euch und will dir nun auch Nachricht geben; aber schwer wird mir das Wort; das darf ich wohl gestehen. Die Seeligen, wo Diotima nun ist, sprechen nicht viel; in meiner Nacht, in der Tiefe der Traurenden, ist auch die Rede am Ende.« [Anm. d. Komm.] 331 Vgl. das Dokument »Johann Georg Fischer und Hölderlin«, a. a. O., Bd. 7/3, Nr. 608, S. 292–308. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – In seinem Aufsatz »Aus Friedrich Hölderlins dunkeln Tagen« berichtet Fischer über einen Besuch bei dem kranken Dichter: »Darauf wandte ich mich an Hölderlin: ›Aber Ihr Hyperion hat doch großes Glück gemacht, und Ihre verherrlichte Diotima muß ein edles Geschöpf gewesen sein,‹ worauf er kurz aufleuchtend sprach: ›Ach meine Diotima! reden Sie mir nicht von meiner Diotima; dreizehn Söhne hat sie mir geboren: der eine ist Papst, der andere ist Sultan, der dritte ist Kaiser von Rußland u. s. w.‹ (er zählte an den Fingern ab). Darauf sagte er hastig und in vollständigem Bauernschwäbisch: ›Und wisset Se, wies no ganga ist? Närret ist se worde, närret, närret, närret‹ etc. etc. Er wiederholte das letzte Wort in solcher Heftigkeit und mit solchen Geberden, daß wir den Schmerz um den Unglücklichen nicht länger ertrugen, weshalb wir seinem Paroxismus durch Abschiednahme ein Ende machten, die er wie immer ›unterthänigst‹ erwiederte.« A. a. O., S. 300 f. In dem Aufsatz »Hölderlin’s letzte Verse« kommt Fischer auf dieses Erlebnis ebenfalls zu sprechen. Vgl. a. a. O., S. 294. [Anm. d. Komm.] 332 A. a. O., Bd. 3, S. 131. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Nachdem Hyperion in den griechischen Befreiungskrieg gezogen ist, schreibt ihm Diotima: »Wir wollen uns trennen. Du hast Recht. Ich will auch keine Kinder; denn ich gönne sie der Sclavenwelt nicht, und die armen Pflanzen welkten mir ja doch in dieser Dürre vor den Augen weg.« [Anm. d. Komm.]
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Nun hat sie dem befragten Hölderlin keine Sklaven, sondern 13 Weltherrscher geboren. Lebt Diotima für den Dichter 10 Reich an eigenem Geist, wie seine Ode versicherte,333 oder ist sie »Närret 〈…〉 worda«, wie er es schwäbisch ausdrückt? »Närret« nur deshalb, weil 1 sie verstehn dich nicht 334 und auch den Dichter für einen Narren halten? Wie schon Binder 335 sah, wird Diotima im Hölderlinschen Roman und in den ihr gewidmeten Oden wiederholt mit der fruchtbaren Mutter Erde und mit der allesumfassenden, prachtvollen, der schon ihrem Namen nach zum ewigen Gebären vorausbestimmten Natur assoziiert. An beide – seine Geliebte und seine tellurische Mutter – ist auch die Reue Hyperions vor Diotimas letztem Abschied gerichtet: Ich habe sehr undankbar an der mütterlichen Erde gehandelt, habe mein Blut und alle Liebesgaaben, die sie mir gegeben, wie einen Knechtlohn, weggeworfen und ach! wie tausendmal undankbarer an dir, du heilig Mädchen! 〈…〉 Hattest du mich nicht ins Leben gerufen? war ich nicht dein! 336 Die Reihe der 48 spätesten Gedichte – gemäß deren sorgsamer Anordnung in der ausführlichsten kritischen Ausgabe sämtlicher Hölderlinschen Werke – schließt mit dem Achtzeiler »Die Aussicht«.337 Es ist innerhalb der genannten Reihe und in der ganzen Sammlung das dritte Gedicht mit dem gleichen Nomen in der Überschrift. Das letzte von diesen drei Gedichten beginnt mit den Worten Wenn in die Ferne entsprechend einem Gedichtanfang derselben Reihe, nämlich dem abgebrochenen Trauerlied »Wenn aus der Ferne« (s. oben S. 217). Es soll 333 Zu »Diotima« (»Komm und besänftige mir, die du einst Elemente versöhntest […]«) vgl. a. a. O., Bd. 1/1, S. 231. 334 Zu »Diotima« vgl. a. a. O., Bd. 1/1, S. 242, sowie a. a. O., Bd. 2/1, S. 28. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Der erste Vers der alkäischen Ode »Diotima« lautet in der ersten, zweistrophigen Fassung: »Du schweigst und duldest, und sie versteh’n dich nicht«. In der erweiterten, sechsstrophigen Fassung lautet der erste Vers der Ode: »Du schweigst und duldest, denn sie verstehn dich nicht«. [Anm. d. Komm.] 335 Binder, »Hölderlins Namensymbolik«, S. 155–158. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Etwas anders als von der Paraphrase der Verfasser vielleicht nahegelegt, argumentiert Binder nicht mit einer Identität, sondern mit einer scharf begrenzten, unabgeschlossenen Annäherung der Diotima an die fruchtbare Mutter Erde: »Mit voller Absicht stellt Hölderlin die Begriffe ›mütterliche Erde‹ und Mädchen einander gegenüber; denn Diotima endet ja, ehe sie der ›mütterlichen‹ Erde gleicht.«, a. a. O., S. 155. [Anm. d. Komm.] 336 StA, Bd. 3, S. 132. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Die ausgelassene Passage lautet: »das mich einst in seinen Frieden aufnahm, mich, ein scheu zerrißnes Wesen, dem aus tiefgepreßter Brust sich kaum ein Jugendschimmer stahl, wie hier und da ein Grashalm auf zertretnen Wegen«. [Anm. d. Komm.] 337 A. a. O., Bd. 2/1, S. 261–312.
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auch vermerkt werden, daß das gemeinsame Nomen der drei »Aussicht«Gedichte auch in den Alkäen des Liedes auftaucht (40 Oder verborgen, aus hoher Aussicht, 41 Allwo das Meer auch einer beschauen kann, 42 Doch keiner seyn will).338 Beim Fehlen des Eigennamens der Heldin in beiden Gedichten – »Wenn aus der Ferne« und »Wenn in die Ferne« – darf man wagen, nicht nur in dem ersten, sondern auch in dem letzten Beispiel Diotimas heimliche Anwesenheit zu vermuten. »Die Aussicht«, wie Scardanellis Dichtkunst überhaupt, meidet Eigennamen, belebte und andere *konkrete Substantive. Eine der ersten Stellen, die Hölderlin im zweiten Band des Hyperion mit der Widmung Wem sonst als Dir 339 unterstrichen hatte, war der doppelte Ruf an die Natur und an Diotima: Längst, 〈…〉 o Natur! ist unser Leben Eines mit dir 〈…〉 göttliche Natur! da waren wir immer, wie du 340. Zwei abstrakte Feminina – die Natur und Vollkommenheit – verkörpern die verweilende, heilsame Macht, durch die alles Getrennte sich wiederfindet, wie es am Ende des Hyperion angedeutet wurde. Die Dissonanzen der Welt,341 die in den letzten Ereignissen des Romans dem Triumph der seeligen Natur 342 vorangehen, finden ihren krassen Ausdruck im alten Lied und Glauben: »Es ist auf Erden alles unvollkommen«.343 Die Gedichte aus Hölderlins hohem Alter beantworten 338 Die Verfasser zitieren aus der alkäischen Ode »Wenn aus der Ferne […]«, a. a. O., Bd. 2/1, S. 262 f. [Anm. d. Komm.] 339 Vgl. o., S. 224, sowie dort, Anm. 292. [Anm. d. Komm.] 340 StA, Bd. 3, S. 101. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Es handelt sich hier um die Verlobung zwischen Hyperion und Diotima. Die Textpassage lautet im Zusammenhang: »Längst, rief ich [Hyperion], o Natur! ist unser Leben Eines mit dir und himmlischjugendlich, wie du und deine Götter all’, ist unsre eigne Welt durch Liebe. In deinen Hainen wandelten wir, fuhr Diotima fort, und waren, wie du, an deinen Quellen saßen wir und waren, wie du, dort über die Berge giengen wir, mit deinen Kindern, den Sternen, wie du. Da wir uns ferne waren, rief ich, da, wie Harfengelispel, unser kommend Entzüken uns erst tönte, da wir uns fanden, da kein Schlaf mehr war und alle Töne in uns erwachten zu des Lebens vollen Akkorden, göttliche Natur! da waren wir immer, wie du«. Die Passagen von »Längst« bis »himmlisch« (außer: »rief ich«), von »In deinen Hainen« bis »waren, wie du« (außer: »fuhr Diotima fort«) und ab »Da wir uns« bis zum Ende des zitierten Textes hat Hölderlin im Widmungsexemplar für Susette Gontard unterstrichen. A. a. O., Bd. 3, S. 352. [Anm. d. Komm.] 341 Vgl. o., S. 229. [Anm. d. Komm.] 342 StA, Bd. 3, S. 158. Im letzten Kapitel des Hyperion-Romans schreibt Hyperion: »So gab ich mehr und mehr der seeligen Natur mich hin und fast zu endlos.« [Anm. d. Komm.] 343 A. a. O., Bd. 3, S. 156. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Der Satz lautet vollständig: »Es ist auf Erden alles unvollkommen, ist das alte Lied der Deutschen.« [Anm. d. Komm.]
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diesen Mißlaut mit einer nachdrücklichen Bejahung der Vollkommenheit. Die, wie gesagt, um die Jahrhundertwende entstandenen »Menons Klagen um Diotima« – 89 Siehe! weinen vor dir, und klagen muß ich 344 – werden durch den Schlußvers des Gedichts »Der Herbst« (September 1837) aufgefangen: 16 Und die Vollkommenheit ist ohne Klage. 345 In den Anreden der Heldin im Hyperion und in manchen Gedichten desselben Zeitraums »an Diotima« regt der Anfangslaut ihres Namens üppige Alliterationsketten an. So spricht Hyperion mit Diotima über »unsre Welt«: Auch die deine, Diotima, denn sie ist die Kopie von dir. O du, mit deiner Elysiumsstille, könnten wir das schaffen, was du bist! 346 Um die Paronomasie Demuth (d. m. t.) – Diotima (d. t. m.) bildet d einen neunfachen, meist pronominalen Anfangsklang: Aber du, mit deiner Kinderstille, du, so glüklich einst in deiner hohen Demuth, Diotima! wer will dich versöhnen, wenn das Schiksaal dich empört! 347 Aus den einzelnen Gedichten des »der schönsten der Heldinnen« 348 gewidmeten Zyklus kann man beispielsweise den zweistrophigen alkäischen Entwurf »Diotima« anführen, welcher besonders durch die Verflechtung des Namens der angesprochenen Heldin mit sieben Pronomina der zweiten Person, sieben Artikeln und *homonymen Fürwörtern 349 eine Alliteration von achtzehn initialen d erreicht, wobei die drei ersten Verse jedes Vierzeilers mit diesem Konsonanten anfangen: Du schweigst und duldest, und sie versteh’n dich nicht, Du heilig Leben! welkest hinweg und schweigst, Denn ach, vergebens bei Barbaren Suchst du die Deinen im Sonnenlichte, Die zärtlichgroßen Seelen, die nimmer sind! Doch eilt die Zeit. Noch siehet mein sterblich Lied Den Tag, der, Diotima! nächst den Göttern mit Helden dich nennt, und dir gleicht.350 344 Zu »Menons Klagen um Diotima« vgl. a. a. O., Bd. 2/1, S. 75–79. 345 Zu »Der Herbst« vgl. a. a. O., Bd. 2/1, S. 284. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Zur Datierung vgl. a. a. O., Bd. 2/2, S. 910. [Anm. d. Komm.] 346 A. a. O., Bd. 3, S. 114. 347 A. a. O., Bd. 3, S. 134. 348 Vgl. o., S. 224, sowie dort, Anm. 297. [Anm. d. Komm.] 349 Offenbar sind damit jene Pronomina gemeint, die der Form nach einander oder Artikeln gleichen: ›die‹, ›der‹ usw. Es liegt damit ein rein synchroner Homonymiebegriff vor, der keine Verschiedenheit in der Etymologie der gleichlautenden Wörter fordert. Zu den Schwierigkeiten der Abgrenzung vgl. Lewandowski, Linguistisches Wörterbuch, Bd. 1, S. 405–407.[Anm. d. Komm.] 350 Vgl. dazu die alkäische Ode »Diotima«, StA, Bd. 1/1, S. 242.
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»Die Aussicht« behält – diesmal allerdings ohne Teilnahme des Namens Diotima und des Pronomens der zweiten Person – in ihrem Achtzeiler die achtzehngliedrige Reihe der initialen d (hier je neun in jeder Strophe), wobei der bestimmte Artikel die Mehrheit gewinnt (s. oben S. 173). Das Gedicht scheint dem Namen Diotimas nicht nur den Widerhall seines Anlautes zu verdanken,351 sondern auch das feminine Genus, welches die zweite Strophe des Achtzeilers beherrscht. Feminin sind die Nomina III1 Natur und IV1 Vollkommenheit, welche zum Namen der Geliebten Hölderlins und Hyperions eine Sinnverwandtschaft bezeugen. Feminin sind alle fünf grammatischen Subjekte in den vier Zeilen der zweiten Strophe, wogegen in den ungeraden Zeilen der ersten Strophe die zwei Subjekte zum Neutrum gehören und die zwei Subjekte der geraden Zeilen auf Femininum und Maskulinum verteilt sind. Endlich ist das Subjekt, gleich der einen Diotima, in allen Versen des Achtzeilers (oder in III2 zum mindesten das erste) singulär. Mask.
Neutr.
I
1
Leben
II
1
Gefilde
Femin.
2
2
III
Zeit
Wald Natur die, 2 sie 1 Höhe 2 Blüth’ 1 2
IV
Solche auffälligen Beispiele wie die anagrammatische Ausnutzung des bestimmten Artikels und die erhöhte semantische Leistung des engen Zusammenhangs zwischen Syntax und grammatischem Geschlecht veranschaulichen den Weg des alten Hölderlin zu Scardanellis abstrakter 351 Die Aufmerksamkeit der Verfasser für die vielfachen Alliterationen auf ›d-‹ reizte schon vorher zu der Frage, ob solche Reihungen angesichts der Pronomina und Artikel im Deutschen überhaupt vermeidbar seien. Dem ließ sich bislang entgegenhalten, daß auch solche Wiederholungen wirksam seien, die sprachlich alternativlos sind (vgl. auch o., S. 182, Anm. 129). An dieser Stelle geht die Argumentation jedoch noch einen Schritt weiter: Daß die ›d-‹–Reihen tatsächlich »Der Aussicht« und ähnlichen Gedichten aus dem Spätwerk gerade die angesprochenen Dichtungen um Diotima zuordnen, kann nur mehr problematische Aussage sein, wenn dieses Phänomen in der großen Mehrzahl aller Hölderlinscher und anderer deutschen Texte auftritt, und also keine auffällige Verwandtschaft gerade zwischen diesen beiden Textgruppen mehr markiert. [Anm. d. Komm.]
Ein Blick auf »Die Aussicht« von Hölderlin
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»Verfahrungsweise des poe¨tischen Geistes« und insbesondere die Verwandlung der »mannigfaltigen Gestalten und Spiele des Künstlers« bei der Darstellung von Diotimas »Vortreflichkeit« in bare grammatische Anspielungen.352 In der erwähnten Zuschrift, die Hölderlin im Widmungsexemplar des Hyperion auf der Innenseite des Buchdeckels verborgen hat, wird der dem Tageslicht gleiche »Einfluss edler Naturen« mit den »zerstreuten Spuren« von Diotimas Vortrefflichkeit verglichen, und entsprechend verschmelzen die zwei angebeteten Götterbilder der nach Hölderlins Begegnung mit Susette Gontard entstandenen Komposition: 17 Diotima! seelig Wesen! und 55 Du, in ew’gen Harmonien Frohvollendete Natur! 353 Dieses Gedicht aus fünfzehn Achtzeilern ist erstaunlich reich an Diotima-Alliterationen (vgl. solche Verbindungen wie 37 Da die Last der Zeit oder 104 Da, da weiß ich, daß ich bin), und die zehnte Strophe mit ihren neun h im Anlaut (1 heil’gen Herzensthränen, 2 Hab’ ich, 3 Hab’, 4 Holden, 5 Hab’, 5 Herz, 354 7 heilig, 8 Himmel) scheint die Initiale des verheimlichten ›Hölderlin‹ anzudeuten, wie es auch »Die Aussicht« in der dreifachen h-Alliteration nahelegt. Soll nicht auch die Vielzahl der nd möglicherweise auf die Verbundenheit der Natur mit Diotima spielend verweisen? – Susette, die 352 StA, Bd. 2/1, S. 359. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Hölderlin schrieb in das Susette Gontard gewidmete Exemplar des ersten Hyperion-Bandes folgende Zueignung: »Der Einfluß edler Naturen ist dem Künstler so nothwendig, wie das Tagslicht der Pflanze, und so wie das Tagslicht in der Pflanze sich wieder findet, nicht wie es selbst ist, sondern nur im bunten irrdischen Spiele der Farben, so finden edle Naturen nicht sich selbst, aber zerstreute Spuren ihrer Vortreflichkeit in den mannigfaltigen Gestalten und Spielen des Künstlers.« Die gesamte Widmung ist in Susette Gontards Exemplar durch Anführungszeichen hervorgehoben. [Anm. d. Komm.] 353 Zu »Diotima« (»Lange todt und tiefverschlossen, […]«) vgl. a. a. O., Bd. 1/1, S. 216–219. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Dieses Gedicht wird in der HölderlinForschung entweder als ›Lied‹ »Diotima« oder als ›Reimhymne‹ »Diotima« bezeichnet, wie dies weiter unten auch die Verfasser tun. Es ist das erste der DiotimaGedichte, entstanden in den ersten Monaten des Jahres 1796, bald nach Hölderlins Begegnung mit Susette Gontard. Von diesem Gedicht gibt es vier Fassungen. Die Verfasser beziehen sich auf die dritte, ›mittlere‹ Fassung, entstanden in der zweiten Hälfte des Jahres 1796. Zur Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte der Reimhymne »Diotima« vgl. a. a. O., Bd. 1/2, S. 526–535. [Anm. d. Komm.] 354 Die zehnte Strophe der mittleren Fassung der Reimhymne »Diotima« lautet: »Viel der heil’gen Herzensthränen Hab’ ich schon vor ihr geweint, Hab’ in allen Lebenstönen Mit der Holden mich vereint, Hab’, ins tiefste Herz getroffen, Oft um Schonung sie gefleht, Wenn so klar und heilig offen Mir ihr eigner Himmel steht;«. A. a. O., Bd. 1/1, S. 216–219, hier: V. 73–80. [Anm. d. Komm.]
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authentische Benennung der Geliebten, klingt beim Dichter bloß einmal an und wird dabei vom erdichteten Namen Diotima begleitet und paronomastisch verschleiert. Die vierte Strophe der Diotima-Hymne von 1796 rühmt den Aufschwung der jugendlichen Leidenschaft: Da ich noch in Kinderträumen, Friedlich, wie der blaue Tag, Unter meines Gartens Bäumen Auf der warmen Erde lag, Und in leiser Lust und Schöne Meines Herzens Mai begann, Säuselte, wie Zephirstöne, Diotimas Geist mich an.355
Im Dezember 1798, kurz nachdem Johann Christian Friedrich Hölderlin gezwungen war, das Haus Gontard zu verlassen, bezauberte er Diotima durch seine geheimen Liebesbriefe,356 und inzwischen machte Hölderlins Botschaft vom Weihnachtsabend desselben Jahres an Isak Sinclair »viele Freude«: 357 der Dichter versucht die Frage darzulegen, »wie innig jedes Einzelne mit dem Ganzen zusammenhängt und wie sie beede nur Ein lebendiges Ganze ausmachen«. Und der Grundgedanke lautet: »Alles greift in einander«.358 Sonderbar greifen ineinander »DIE AUSSICHT« und das letzte Verlangen des sterbenden Empedokles laut der ersten Fassung des Trauerspiels: 1928 und SEHEN möchtst du doch, mein Auge! 359 355 Zu »Diotima« vgl. a. a. O., Bd. 1/1, S. 216–219, hier: V. 25–32. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Die Hervorhebungen stammen von den Verfassern. [Anm. d. Komm.] 356 Vgl. Vie¨tor, Die Lyrik Hölderlins, S. 123–127. 357 Vgl. dazu das Dokument »Sinclair an Muhrbeck und Zwilling«, StA, Bd. 7/2, Nr. 226, S. 130 f., hier: S. 130. 358 Vgl. dazu das Dokument »An Isaak von Sinclair«, a. a. O., Bd. 6/1, Nr. 171, S. 299– 301. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Am 24. Dezember 1798 schreibt Hölderlin an Issak von Sinclair: »Alles greift in einander und leidet, so wie es thätig ist […]. Resultat des Subjectiven und Objectiven, des Einzelnen und Ganzen, ist jedes Erzeugniß und Product, und eben weil im Product der Antheil, den das Einzelne am Producte hat, niemals völlig unterschieden werden kann, vom Antheil, den das Ganze daran an, so ist auch daraus klar, wie innig jedes Einzelne mit dem Ganzen zusammenhängt und wie sie beede nur Ein lebendiges Ganze ausmachen, das zwar durch und durch individualisirt ist und aus lauter selbstständigen, aber eben so innig und ewig verbundenen Theilen besteht.« A. a. O., S. 300 f., Hervorhebungen im Text. [Anm. d. Komm.] 359 A. a. O., Bd. 4/1, S. 80. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Die Verfasser beziehen sich auf den sechsten Auftritt der ersten Fassung des Dramas Der Tod des Empedokles (1799). Die Hervorhebung stammt von den Verfassern. [Anm. d. Komm.]
Ein Blick auf »Die Aussicht« von Hölderlin
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Wenn in die Ferne GEHT der Menschen wohnend LEBEN 〈…〉 Und alles soll VERGEHN! 〈…〉 Vergehn? 〈…〉 1903 Bereit ein Mahl 〈!〉, daß ich 〈…〉 1904 Noch Einmal 〈!〉 koste 〈…〉 der REBE Kraft 〈…〉 1933 am Tod ENTZÜNDET mir 1934 Das LEBEN sich zulezt! 360 – 2 Wo in die Ferne sich ERGLÄNZT die Zeit der REBEN 〈…〉
– –
1
1892
Editorische Notiz 1975–1976 in Einsiedeln, Schweiz und Cambridge, Mass., geschrieben, erstmals publiziert in Hölderlin – Klee – Brecht.
360 A. a. O., Bd. 4/1, S. 79–81. [Anm. v. R.J. / G.L.-G.] – Die Hervorhebungen stammen von den Verfassern. [Anm. d. Komm.]
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Roman Jakobson an Grete Lübbe-Grothues 361 19. X. 74 Liebe Grete Ihre so freundschaftliche Glückwünsche haben mich tief gerührt, und Ihre neue Beobachtungen über Hölderlins Gedicht entzücken mich durch ihre grossartige Genauigkeit, Umständlichkeit und Scharfsinn. Gestatten Sie einige weitere Bemerkungen. Handschrift. Der halbierende Schnitt nach der 6en Silbe in der zweiten Zeile wird in der folgenden, dritten Zeile durch einen Schnitt nach der 4en Silbe ersetzt, während im Verhältnis zum Versschluss beide Schnitte identisch bleiben, und dieser Wechsel ist hier in den beiden Zeilen graphisch ausgedrückt. Die rückgängige Änderung vom Schema 4 + 7 zu 6 + 7 ist in der sechsten Zeile wieder graphisch unterstrichen. Auch das Komma innerhalb der 6ten und 7ten Zeile ist behilflich, sowie die Vielsilbigkeit des Wortes Vollkommenheit in der ersten Hälfte der 7ten Zeile. *Metrum und Wort. Es ist zu notieren, dass die erste Anfangssilbe in allen Zeilen aus einem monosyllabischen Wort besteht. – Wortgrenzen b von geraden Silben des zweiten Halbverses sind im zweiten Viervers häufiger und im ersten seltener als Wortgrenzen vor ungeraden Silben. – Alle zweisilbige Wörter mit Endbetonung schliessen sich dem halbierenden Schnitte an, und alle vier diesem Schnitt vorangehende »jambische Zweisilber den nacheinanderfolgenden Kurzversen gehören. – Die einzige zweifüssigefusslange Worte (mit Hauptbetonung auf der zweiten Silbe) folgen nacheinander: vorübergleiten … Vollkommenheit. Jahreszeit. Bei Hölderlin bloss 2 Gedichte sind betitelt »Herbst« gegen 9 mit dem Titel »Frühling« und je 5, die »Sommer« und »Winter« heissen. Es würde sich lohnen, die Verteilung der Jahreszeiten in seiner fiktiven Datierung festzustellen und die Verteilung der Farben, die der Dichter den verschiedenen Jahreszeiten aneignet. Ich erwarte Ihre weiteren Beobachtungen und Schlüsse und hoffe in der nahen Zukunft Ihnen meine neue Betrachtungen mitzuteilen. Wie schade dass Sie so weit sind. Indeed I miss my wise, inspired and inspiring collaborator. Mit vielen Grüssen Ihnen und Ihrer Familie Roman 361 Die Herausgeber und Kommentatoren möchten Grete Lübbe-Grothues herzlich danken, die uns diesen Brief für den Abdruck aus ihrem Privatbesitz zur Verfügung gestellt hat. Zur Diskussion vgl. oben Anm. 5. [Anm. d. Komm.]
Ein Blick auf »Die Aussicht« von Hölderlin
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Michael Franz und Roman Jakobson Die Anwesenheit von Diotima. Ein Briefwechsel 362 Ihr Blick auf »Die Aussicht« von Hölderlin 363 hat eine Landschaft freigegeben, deren Geographie bislang unentdeckt gewesen ist. Anhand Ihrer Beschreibung der Orte und Wege in Hölderlins Gedicht, der Zusammenhänge und Entsprechungen, habe ich einen Sachverhalt finden können, der Ihnen entgangen ist. Die Anwesenheit Diotimas noch im letzten Gedicht Hölderlins haben Sie aufgrund von Alliterationsketten des Initialbuchstabens d aufgedeckt. Für dieses poetische Verfahren Hölderlins haben Sie dann auch ein früheres Beispiel angeführt: Aus den einzelnen Gedichten des »der schönsten der Heldinnen« gewidmeten Zyklus kann man beispielsweise den zweistrophigen alkäischen Entwurf »Diotima« anführen, welcher besonders durch die Verflechtung des Namens der angesprochenen Heldin mit sieben Pronomina der zweiten Person, sieben Artikeln und homonymen Fürwörtern eine Alliteration von achtzehn initialen d erreicht, wobei die drei ersten Verse jedes Vierzeilers mit diesem Konsonanten anfangen: Du schweigst und duldest, und sie versteh’n dich nicht, Du heilig Leben! welkest hinweg und schweigst, Denn ach! vergebens bei Barbaren Suchst du die Deinen im Sonnenlichte, Die zärtlichgroßen Seelen, die nimmer sind! Doch eilt die Zeit Noch stehet mein sterblich Lied Den Tag, der, Diotima! nächst den Göttern mit Helden dich nennt, und dir gleicht.364
Was Ihnen bei Ihrem Exkurs in das Gedicht »Diotima« entgangen ist, erschließt das Gedicht noch weiter: Das erste und das letzte Wort des letzten Verses der ersten Strophe beginnt mit einem s, das erste und letzte Wort des letzten Verses der (zweiten und) letzten Strophe beginnt mit 362 Vorlage: Franz, Michael u. Roman Jakobson: »Die Anwesenheit von Diotima. Ein Briefwechsel«, in: Le pauvre Holterling. Blätter zur Frankfurter Ausgabe 4/5 (1980), S. 15–18. [Anm. d. Komm.] 363 Vgl. Jakobson /Lübbe-Grothues, »Ein Blick auf ›Die Aussicht‹ von Hölderlin« (Erstdruck in Hölderlin. Klee. Brecht), o., S. 139–237, bes. Kapitel VI. »Diotima« (S. 222– 237). [Anm. d. Komm.] 364 Vgl. o., S. 233. [Anm. d. Komm.]
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Roman Jakobson und Grete Lübbe-Grothues
einem g: 4 Suchst – 4 Sonnenlichte; 8 Göttern – 4 gleicht. S. G. sind die Initialen der wirklichen Diotima Susette Gontard. Die Alliteration des initialen d, vor allem in den Zeilenanfängen, zeigen sich also als Rahmen, durch den die eigentliche Botschaft hervorgehoben wird. D D D S
S
G
G
D D D
Die sinnliche Struktur, das Schema des Gedichts besteht also darin, daß das erste und letzte Wort der Schlußzeile der ersten und letzten Strophe den Namen der Person andeutet, die Diotima ist. Dieses Schema wird bei der späteren Überarbeitung und Erweiterung des Gedichts, die zwischen erster und letzter Strophe immerhin noch so viele Strophen einfügt, wie jede einzelne Strophe Zeilen hat, beibehalten. Denn in ihm drückt sich die Intention des Gedichts aus, über sich selbst hinaus auf die wirkliche, lebendige Geliebte zu weisen. Diese wirkliche Person ist das A und O, das erste und letzte des Gedichts. Natürlich habe ich mich gefragt, warum Ihrer Akribie die singuläre Referenz der Initialen S. G. entgangen ist, und dies um so mehr, als sie Ihrem Argumentationsgang noch größere Evidenz und Stringenz sichern kann und darüber hinaus nicht ohne die Voraussetzung Ihrer Forschung gefunden werden konnte. Weil ich von der Notwendigkeit dieser Frage überzeugt bin, möchte ich sie Ihnen vorlegen. Ich erhoffe mir von Ihrer Antwort eine Perspektive, die auch meinen Überlegungen zu dem Zusammenhang, den Sie im Kapitel Diotima 365 aufgewiesen haben, eine größere Klarheit geben kann. Ihre Untersuchung hat mich zu der vorläufigen Einsicht gebracht, daß es einen Zusammenhang zwischen der »Aussicht« als einem Thema des alten Hölderlin, bzw. Scardanellis, und dem Hyperion-DiotimaThema der Jahre 1795–1800 gibt. Der Roman Hyperion und die Gedichte des Diotima-Zyklus’ enthalten jedoch keine oder nur sehr versteckte Referenz (wie oben im Beispiel aufgezeigt) auf die Geliebte Hölderlins. Es 365 S. o., Anm. 363. [Anm. d. Komm.]
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mag zunächst nur wie eine Metapher aussehen, wenn ich sage, Hölderlin habe Susette Gontard im Roman und in den Gedichten verschluckt. Der Zusammenhang zwischen Liebe und Anthropophagie ist jedoch – worauf Sie ja in Ihrer Untersuchung hingewiesen haben – Hölderlin selbst noch aufgegangen.366 Wie der Inhalt der beiden Zeilen aus dem Entwurf »Heimat« (Ähnlich dem Manne, der Menschen frisset Ist einer der lebt ohne [Liebe]) sich in den Zusammenhang ritualisierter Kommunikation, den Hölderlin andeutet, einpaßt, kann einstweilen – auch aus Gründen der mangelhaften Edition des fraglichen Gedichts in der Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe – nicht mit Sicherheit ausgemacht werden. Das schon bei der Niederschrift eingeklammerte Wort »Liebe« braucht jedenfalls grammatikalisch nicht als Adverbiale, oder zumindest nicht nur als solche, aufgefaßt zu werden. Der Zusammenhang, um den es hier geht, ist sicher konkreter, als der abstrakte, bloß vergleichende Gegensatz zwischen Liebe und Kannibalismus. Immerhin ist es konkret der »Mann«, der »Menschen frisset«. Damit deutet sich an, daß der Verfasser des Hyperion sein eigenes Verhalten als Autor in den Blick bekommt. Dafür spricht dann auch die späte Äußerung, die Sie im selben Kontext ebenfalls anführen: »Guck’ nicht so viel hinein, es ist kannibalisch« wurde a propos des Hyperion gesagt, der Susette Gontard verschweigt. Soweit in Kürze meine Vermutungen, die ich Ihrer Arbeit verdanke. Michael Franz In unserem Blick auf »Die Aussicht« von Hölderlin wurde sein zweistrophiger alkäischer Entwurf »Diotima« zitiert, welcher durch die Verflechtung mit sieben Pronomina der zweiten Person und mit anderen Wörtern eine Alliteration von achtzehn initialen D erreicht, wobei die drei ersten Verse jedes Vierzeilers mit diesen Konsonanten anfangen, und somit wird der erdichtete Beiname »der schönsten der Heldinnen« besonders hervorgehoben. Die geistreiche Vermutung, die Michael Franz neulich beifügte, ist durchaus überzeugend. Im Schlußvers jedes Vierzeilers beginnt das erste und das letzte Wort mit demselben Konsonanten: S im vierten Verse des Gedichtes (Suchst – Sonnenlichte) und G im achten (Göttern – gleicht): »S. G. sind die Initialen der wirklichen Diotima Susette Gontard.« 367 366 Vgl. o., S. 228. [Anm. d. Komm.] 367 Jakobson zitiert hier aus dem Brief von Michael Franz, vgl. o., S. 240. [Anm. d. Komm.]
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»Alles greift ineinander«, laut dem Spruche des Dichters, und vielleicht dürfte man noch weiter erschließen, daß nicht nur die Initialen, sondern der ganze graphische Bestand der alliterierenden Wörter den tabuierten Vornamen und Zunamen andeutet. Im Schlußvers des ersten Vierzeiler enthält das Anfangswort vier (und das Endwort drei) gemeinsame Buchstaben mit Susette – Suchst (und Sonnenlichte); im Schlußvers der zweiten Strophe enthält das Anfangswort Göttern gleichfalls vier gemeinsame Buchstaben mit Gontard. Die S- und D-Alliterationen sind besonders gekennzeichnet: im ersten Vierzeiler durch die D-Alliteration der drei Nachbarsilben zwischen den beiden S-Wörtern (Suchst du die Deinen in Sonnenlichte) und am Ende des zweiten Vierzeiler durch die mehrfache D-Alliteration des vorangehenden, siebten Verses (Den Tag, der, Diotima! nächst den), sowie durch das einzige Vorkommen einer D-Alliteration zweier Randwörter; die Wechselbeziehung dieser beiden wird dabei durch ihre Übereinstimmung und gleichzeitige Differenz noch zugespitzt. Warum ist uns »die singuläre Referenz der Initialen S. G. entgangen«? Vielleicht ist es Hölderlins Botschaft an Diotima,368 die darauf eine wahre Antwort gibt: Du schweigst und duldest, und sie versteh’n dich nicht, 〈…〉 Doch eilt die Zeit Noch siehet mein sterblich Lied Den Tag, der, Diotima! 〈…〉 dich nennt 〈…〉. Roman Jakobson
Literatur Jakobsons und Lübbe-Grothues’ eigene Literaturangaben sind mit ° gekennzeichnet. ° Adorno, Theodor W.: »Parataxis. Zur späten Lyrik Hölderlins«, in: Neue Rund-
schau 75 (1946), S. 15–46.
° Allemann, Beda: Hölderlin und Heidegger, Freiburg im Breisgau: Atlantis 1954 (= Zürcher Beiträge zur deutschen Literatur- und Geistesgeschichte, Nr. 6),
S. 140–149.
° Arnim, Bettina von: Die Günderode, 2 Bde., 2. Aufl. Leipzig: Grünberg 1914.
— Ilius Pamphilius, 2 Bde., Leipzig: Volckmar u. Berlin: von Arnim 1848.
° Bach, Emil: »Einst und Jetzt in Hölderlin’s Works«, in: Deutsche Beiträge 5
(1965), S. 143–156.
° — »The Syntax of Hölderlin’s Poems«, in: Texas Studies in Literature and Lan-
guage 2 (1960), S. 143–156. 368 Gemeint ist das besprochene Gedicht »Diotima«, vgl. o., S. 233. [Anm.d. Komm.]
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Bassermann-Jordan, Gabriele von: »Schönes Leben! du lebst, wie die zarten Blüthen im Winter…« Die Figur der Diotima in Hölderlins Lyrik und im »Hyperion«Projekt: Theorie und dichterische Praxis, Würzburg: Königshausen & Neumann 2004 (= Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften, Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 473). ° Beck, Adolf u. Karl-Gert Kribben: »Chronik von Hölderlins Leben«, in: Hölderlin. Eine Chronik in Text und Bild, hg. v. Beck u. Paul Raabe, Frankfurt / Main: Insel 1970 (= Schriften der Hölderlin-Gesellschaft, Bd. 6/7), S. 5– 112. ° Beißner, Friedrich: »Ein neues Gedicht aus Hölderlins Spätzeit«, in: Dichtung und Volkstum (1938), S. 341–345. ° — »Zu den Gedichten der letzten Lebenszeit«, in: Hölderlin-Jahrbuch 2 (1947), S. 6–10. ° Bennholdt-Thomsen, Anke: Stern und Blume. Untersuchungen zur Sprachauffassung Hölderlins, Bonn: Bouvier u. Co. 1967. ° Binder, Wolfgang: »Hölderlins Namenssymbolik«, in: Hölderlin-Jahrbuch 12 (1961/62), S. 95–204. ° — »Sprache und Wirklichkeit in Hölderlins Dichtung«, in: Hölderlin-Jahrbuch 8 (1954), S. 46–78. Birus, Hendrik: »Hermeneutik und Strukturalismus. Eine kritische Rekonstruktion ihres Verhältnisses am Beispiel Schleiermachers und Jakobsons«, in: Birus /Donat /Meyer-Sickendiek, S. 11–37. ° Böckmann, Paul: »Das ›Späte‹ in Hölderlins Spätlyrik«, in: Hölderlin-Jahrbuch 12 (1961–1962), S. 205–221. ° — »Sprache und Mythos in Hölderlins Dichten«, in: Die deutsche Romantik, hg. v. Hans Steffen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1967, S. 7–29. ° Böhm, Wilhelm: Hölderlin, Bd. 2, Halle /Saale 1930. ° Böschenstein, Bernhard: »Hölderlins späteste Gedichte«, in: Hölderlin-Jahrbuch 14 (1965–1966), S. 35–56. ° — Konkordanz zu Hölderlins Gedichten nach 1800, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1964. ° Bühler, Karl: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Jena: Fischer 1934. Bußmann, Hadumod: Lexikon der Sprachwissenschaft, Stuttgart: Alfred Kröner 1983. ° Cereteli, G. V.: »Metr i ritm v poe˙me Rustaveli i voprosy sravnitel’noj versifikacii« [›Metrum und Rhythmus im Poem von Rustaveli und die Fragen der vergleichenden Versifikation‹], in: Kontekst, Moskva 1973. Franz, Michael u. Roman Jakobson: »Die Anwesenheit von Diotima. Ein Briefwechsel«, in: Le pauvre Holterling. Blätter zur Frankfurter Ausgabe 4/5 (1980), S. 15–18. Gadamer, Hans-Georg: »Hegel und der Sprachforscher Roman Jakobson«, in: Roman Jakobson, Hans-Georg Gadamer u. Elmar Holenstein: Das Erbe Hegels II, Frankfurt /Main: Suhrkamp 1984 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 440), S. 13–20.
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Roman Jakobson und Grete Lübbe-Grothues
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Ein Blick auf »Die Aussicht« von Hölderlin
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Roman Jakobson und Grete Lübbe-Grothues
— »Siluanovo slavoslovie sv. Savve«, in: SW III, S. 193–205. – »Siluans Lobpreis des Hl. Sava«, übs. v. Alexander Nebrig u. Erika Greber, komm. v. Erika Greber, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 471–493. — »Skorb’ pobivaemych u drov«, in: SW III, S. 304–210. – »Das Leid jener, die beim Feuerholz erschlagen werden«, übs. v. Christian Schwarz u. Sebastian Donat, komm. v. Sebastian Donat u. Ulrich Schweier, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 656–671. — »Slavic Epic Verse: Studies in Comparative Metrics«, in: SW IV, S. 414–463. — »Slavoslovie Siluana Simeonu«, in: SW III, S. 206–214. – »Siluans Lobpreis auf Simeon«, übs. v. Alexander Nebrig u. Erika Greber, komm. v. Erika Greber, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 494–508. — »Slovenskij primer uzlovoj roli bezlicˇnych predlozˇenij v poeticˇeskom kontekste«, in: SW III, S. 577–581. – »Ein slovenisches Beispiel der Schlüsselrolle unpersönlicher Sätze im poetischen Kontext«, übs. v. Oleh Kotsyuba, komm. v. Peter Scherber, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 516–526. — »Subliminal Verbal Patterning in Poetry«, in: SW III, S. 136–147. – »Unterschwellige sprachliche Gestaltung in der Dichtung«, übs. v. Aage A. Hansen-Löve, komm. v. Aage A. Hansen-Löve u. Anke Niederbudde, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 124–153. — »The grammatical structure of Janko Kra´l’s Verses«, in: SW III, S. 482–498. – »Die grammatische Struktur von Janko Kra´ls Dichtung«, übs. v. Raoul Eshelman, komm. v. Milosˇ Sedmidubsky´, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 319–353. — »The Modular Design of Chinese Regulated Verse«, in: SW V, S. 215–223. — »Toward a Linguistic Classification of Aphasic Impairments«, in: SW II, S. 289–306. — »Two Aspects of Language and Two Types of Aphasic Disturbances«, in: SW II, S. 239–259. — »Über den Versbau der serbokroatischen Volksepen«, in: SW IV, S. 51–60. — »Une Microscopie du dernier ›Spleen‹ dans Les Fleurs du Mal«, in: SW III, S. 465–481. – »Das letzte ›Spleen‹-Gedicht aus Les Fleurs du mal unter dem Mikroskop«, übs. v. Regine Kuhn, komm. v. Barbara Vinken u. Marcus Coelen, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 288–318. Jakobson, Roman Osipovicˇ u. Lawrence G. Jones: »Shakespeare’s Verbal Art in ›Th’Expence of Spirit‹«, in: SW III, S. 284–303. – »Shakespeares Wortkunst in ›Das Versprühen des Geistes‹«, übs. v. Evi Zemanek, komm. v. Andreas Höfele, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 622–655. Jakobson, Roman Osipovicˇ u. Grete Lübbe-Grothues: »Ein Blick auf ›Die Aussicht‹ von Hölderlin«, in: SW III, S. 388–446, Erstdruck in Hölderlin – Klee – Brecht, S. 27–96. Jakobson, Roman Osipovicˇ u. Stephen Rudy: »Yeats’ ›Sorrow of Love‹ through the Years«, in: SW III, S. 601–636. – »Yeats’ ›Der Gram der Liebe‹ im Lauf der Jahre«, übs. u. komm. v. Virginia Richter, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 570–630.
Ein Blick auf »Die Aussicht« von Hölderlin
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° Jaspers, Karl: Strindbergh und van Gogh. Versuch einer pathographischen Analyse
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Roman Jakobson und Grete Lübbe-Grothues
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Ein Blick auf »Die Aussicht« von Hölderlin
249
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Roman Jakobson und Claude Le´vi-Strauss 1
»Die Katzen« von Charles Baudelaire Übersetzung aus dem Französischen Erich Köhler, V. Kuhn, Roland Posner, Dieter Wunderlich
überarbeitet von Hendrik Birus und Bernhard Teuber
Kommentar Bernhard Teuber Roman Jakobson lernte den Anthropologen Claude Le´vi-Strauss zu Beginn der 1940er Jahre während seiner Tätigkeit an der Columbia University in New York kennen; und Le´vi-Strauss verdankte ihm wichtige Anregungen, die ihn dazu bewegten, die strukturalistische Methode in die Völkerkunde einzuführen, wie sich dies an seinem Buch »Les Formes ´ele´mentaires de la parente´« [›Die elementaren Formen der Verwandtschaft‹] von 1949 zeigt. 2 In Zusammenarbeit mit Le´vi-Strauss verfaßte Jakobson 1961 in Paris eine Analyse von Baudelaires Sonett »Les Chats« aus dessen 1857 erschienener Sammlung »Les Fleurs du mal«, die sein Ko-Autor umgehend in der von ihm selbst herausgegebenen anthropologischen Fachzeitschrift »L’Homme« plazierte, wo der Aufsatz 1962 erschien. In der im nachhinein oft beschaulich anmutenden literaturwissenschaftlichen Konstellation der Zeit um 1960 kam diesem Beitrag verständlicherweise die Wirkung eines Paukenschlags zu. Der Anspruch, der in der Vorbemerkung des Zeitschriftenherausgebers eigens bekräftigt wurde, 1
2
Vorlage: Jakobson, Roman Osipovicˇ u. Le´vi-Strauss, Claude: »›Les Chats‹ de Charles Baudelaire«, in: SW III, S. 447–464. Deutsche Übersetzung auf der Grundlage von »›Les Chats‹ von Charles Baudelaire«, übs. v. Erich Köhler, V. Kuhn, Roland Posner u. Dieter Wunderlich, in: Semiotik, S. 206–232. [Anm. d. Komm.] Vgl. Le´vi-Strauss, Les structures ´ele´mentaires de la parente´, sowie die deutsche Übersetzung: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft. [Anm. d. Komm.]
252
Roman Jakobson und Claude Le´vi-Strauss
war kein geringer: Er bestand darin, eine neuartige und vielversprechende Methode vorzustellen, die fächerübergreifend angewandt werden konnte und die sich der Linguistik als ihrer neuen Leitdisziplin bedienen sollte, wodurch der Sprachwissenschaft im Sinne einer ›Allgemeinen Semiotik‹ von nun an praktisch die Zuständigkeit für alle Hervorbringungen des menschlichen Geistes zugesprochen werden konnte. Als regelrechte Provokation wurde die aus den Prämissen des russischen Formalismus herrührende Strenge der Untersuchungsmethode empfunden, da sie von der metrischen, phonologischen und syntaktischen Dimension der Zeichenverknüpfungen ausging, um erst danach, also relativ spät, zu einer Behandlung der semantischen Phänomene vorzudringen, hierin eingeschlossen die Mythologie, für welche Le´vi-Strauss als ausgewiesener Mythenforscher seine besondere Kompetenz einzubringen schien. Weiterhin war neu, daß die Deutung und Gewichtung der semantischen Elemente im wesentlichen von der Syntaktik des Textes abhängig gemacht wurde, das heißt: von der Position innerhalb des Syntagmas und seiner Konstruktionen wie auch innerhalb des metrischen Verbundes generell. In praxi bedienten sich die beiden Autoren eines Ansatzes, den Jakobson kurz zuvor in einem »seminal essay« unter dem Titel »Linguistics and Poetics« 3 expliziert hatte: Im poetischen Text ließen sich semantische Äquivalenzen und Oppositionen aus Äquivalenzen und Oppositionen anderer Ebenen des Textes herleiten. Der an der linguistischen Beobachtung und Terminologie geschärfte Kategorienapparat der Interpreten förderte dabei Beschreibungen von ungeahnter Dichte und Textsensibilität zutage und wurde auch für Jakobson selbst gewissermaßen stilbildend, insofern die »Les Chats«-Analyse am Anfang eines ganzen Reigens von Gedichtdeutungen steht, die auf identischer methodischer Grundlage eine linguistische Interpretation poetischer Texte durchexerzieren. Auf die lebhafte Diskussion und die teilweise heftige Kritik, die insbesondere von seinem »Les Chats«-Aufsatz, 4 aber auch von seinen weiteren Auslegungen (nicht zuletzt 1967 wiederum einer Studie zu Baudelaire, nämlich zu dessen letztem »Spleen«-Gedicht »Quand le ciel bas et lourd…«) ausgelöst wurde, hat sich Jakobson 1973 selbst geäußert – und zwar in einem »Postscriptum« am Ende der »Questions de poe´tique«, 5 einer französisch3 4
5
Vgl. Jakobson, »Linguistics and Poetics«, sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe. [Anm. d. Komm.] Eine Sammlung einschlägiger Stellungnahmen und Kritiken ist herausgegeben worden von Maurice Delcroix und Walter Geerts: »Les Chats« de Baudelaire. Une confrontation des me´thodes. Zum Konzept einer Grammatik der Poesie vgl. weiterhin Werth, »Roman Jakobson’s Verbal Analysis of Poetry«. [Anm. d. Komm.] Vgl. Jakobson, »Postscriptum«. [Anm. d. Komm.]
»Die Katzen« von Charles Baudelaire
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sprachigen Sammlung seiner literaturwissenschaftlichen Arbeiten. Sowohl das »Postscriptum« nach einer später ergänzten Version als auch die Analyse des »Spleen«-Gedichts sind in den vorliegenden Band aufgenommen. 6 Die affektive Geladenheit der Auseinandersetzungen um die »Les Chats«Analyse wird verständlich, wenn man bedenkt, daß sie zwar mit herkömmlichen und späteren Resultaten der Forschung zu Baudelaire keineswegs völlig unvereinbar ist (im Gegenteil: es wurde mitunter auf den konventionellen Charakter einiger Befunde hingewiesen), daß aber die Exegese von Jakobson und Le´vi-Strauss in ihrer bewundernswerten Stringenz und konzessionslosen Geschlossenheit quersteht zu einer Mannigfaltigkeit alternativer Deutungsansätze, die in der Forschung zu Baudelaire im Schwange waren oder immer noch sind. Dies gilt um so mehr, als sich die Literaturwissenschaft seit den frühen 1960er Jahren eben auf der Grundlage der strukturalistischen Analyseverfahren stürmisch weiterentwickelt hat. So sei hier kurz eine Handvoll Positionen erwähnt, die bei Jakobson und Le´vi-Strauss nicht mit berücksichtigt sind, die aber in den literaturtheoretischen und kulturwissenschaftlichen Debatten der Vergangenheit wie der Gegenwart eine herausgehobene Rolle spielen: 1. eine im weiten oder auch im engeren Sinne sozialgeschichtliche Betrachtungsweise, die in Deutschland schon lange präsent war, weil sie ihren Ausgang von den Arbeiten Walter Benjamins nahm, und welche die »Fleurs du mal« als Ausdruck einer radikalen Kritik an der modernen Massengesellschaft versteht; 2. eine Lektüre, die an die Ergebnisse der Dialogizitäts- und Intertextualitätsforschung anknüpft, die gegen Ende der 1960er Jahre von Julia Kristeva 7 im Gefolge Michail Bachtins 8 entwickelt wurde und welche die »Fleurs du mal« innerhalb einer umfassenderen ›literarischen Reihe‹ verorten möchte, um deren spannungsvolle Bezüge zur Literatur der Antike, des Mittelalters, der Renaissance oder (in jüngster Zeit) gerade auch des Barock herauszuarbeiten; 3. eine ideengeschichtlich orientierte Kommentierung, welche die philosophischen, theologischen, medizinischen oder allgemeingeschichtlichen Prämissen der von Baudelaire verhandelten Themen erkundet (etwa in Bezug auf die Frage des Bösen oder die Krankheitsbilder der Melancholie bzw. Hysterie) und die mit Referenz auf Arbeiten wie die von 6
7 8
Vgl. Jakobson, »Une Microscopie du dernier ›Spleen‹ dans Les Fleurs du Mal«, und die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 288–318 (vgl. auch die Einleitung dazu von Barbara Vinken und Marcus Coelen, a. a. O., S. 289– 291); sowie Jakobson, »Nachtrag zur Diskussion um die Grammatik der Poesie«, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 288–318. [Anm. d. Komm.] Vgl. Kristeva, »Bakthine: le mot, le dialogue et le roman«. [Anm. d. Komm.] Vgl. Bachtin, »Slovo v romane«, sowie die deutsche Übersetzung »Das Wort im Roman«. [Anm. d. Komm.]
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Jean Pommier, 9 Georges Bataille, Antoine Compagnon 10 oder Karin Westerwelle 11 nach der spezifischen Umarbeitung und Überschreibung der Vorgaben in den »Fleurs du mal« fragt; 4. eine rhetorische bzw. rhetorikgeschichtliche Lesart, die sich zunächst auf die Rehabilitierung von Baudelaires Allegorie bei Benjamin oder später Hans Robert Jauß berufen kann und die bis zu dezidiert dekonstruktiven Lektüren bei Paul de Man 12 oder Barbara Johnson 13 reicht; 5. eine dominant ästhetisch interessierte Kritik, für die im deutschen Sprachraum nach Hugo Friedrich 14 vor allem Karlheinz Bohrers Untersuchungen zu Baudelaires Trauer und zu dessen Status innerhalb einer sich formierenden europäischen Moderne repräsentativ sind. Angesichts dieses immer noch unvollständigen Tableaus wird deutlich, welch respektable Desiderate einer auf Vollständigkeit bedachten Baudelaire-Philologie Jakobson und Le´vi-Strauss mit ihrer prätendierten ›Musteranalyse‹ nicht abzudecken in der Lage sind, und außerdem, wie insulär – soll heißen: originell und demzufolge für eine Fortsetzung des Streits unersetzlich – ihre Interpretation des Sonetts »Les Chats« in einem wogenden Ozean luxurierender Aneignungsversuche letztlich geworden ist. Auch die meisten derjenigen, die Jakobsons und Le´vi-Strauss’ Schlußfolgerungen vehement (und vielleicht mit gar nicht schlechten Gründen) ablehnen, stehen heute immer noch auf solcher Riesen Schultern. Die Übertragung des Aufsatzes ins Deutsche ist ein Gemeinschaftswerk von Erich Köhler, V. Kuhn, Roland Posner sowie Dieter Wunderlich. Sie erschien 1968 als Vorabdruck in der Nummer 62/63 der Zeitschrift »Alternative«. Eine leicht überarbeitete Fassung fand im Jahr darauf Eingang in die Zeitschrift »Sprache im technischen Zeitalter«, deren Nummer 29 »Zur strukturalistischen Interpretation von Gedichten« überschrieben war und mehrere Beiträge zur Debatte um »Les Chats« enthielt. Diese Version wurde 1988 erneut von Elmar Holenstein publiziert, nämlich in einer deutschsprachigen Sammlung ausgewählter Aufsätze von Jakobson zu Themen der Semiotik. Die im Nachfolgenden abgedruckte Fassung lehnt sich an Holensteins Ausgabe an und greift nur behutsam in die Vorlage ein, die sie im 9 Vgl. Pommier, La Mystique de Baudelaire. [Anm. d. Komm.] 10 Vgl. Compagnon, Les cinq paradoxes de la modernite´. [Anm. d. Komm.] 11 Vgl. Westerwelle, Ästhetisches Interesse und nervöse Krankheit: Balzac, Baudelaire, Flaubert. [Anm. d. Komm.] 12 Vgl. de Man, Allegories of Reading: Figural Language in Rousseau, Nietzsche, Rilke, and Proust. [Anm. d. Komm.] 13 Vgl. Johnson, Barbara: De´figurations du langage poe´tique. [Anm. d. Komm.] 14 Vgl. Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik von Baudelaire bis zur Gegenwart. Von der Mitte des neunzehnten bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts. [Anm. d. Komm.]
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übrigen nach den Konventionen des vorliegenden Bandes einrichtet. Jedoch wurde die »Vorbemerkung des Herausgebers«, die Holenstein seinerseits weggelassen hatte, neu übersetzt. Bernhard Teuber
Vorbemerkung des Herausgebers 15 Man wird vielleicht darüber erstaunt sein, daß eine Fachzeitschrift für Anthropologie eine Studie veröffentlicht, die einem französischen Gedicht des 19. Jahrhunderts gewidmet ist. Dennoch gibt es hierfür eine einfache Erklärung: Wenn ein Linguist und ein Ethnologe es für richtig gehalten haben, ihre Kräfte in dem gemeinsamen Versuch zu bündeln, zu verstehen, wie ein *Sonett von Baudelaire gemacht ist, dann geschah dies, weil sie unabhängig voneinander gesehen hatten, daß sie komplementären Problemen gegenüberstehen. In den Werken der Dichtung erkennt der Linguist *Strukturen, deren Analyse auf frappante Weise mit denjenigen Strukturen übereinstimmt, die dem Ethnologen bei der Analyse der Mythen deutlich werden. Seinerseits kann der Ethnologe nicht darüber hinwegsehen, daß die Mythen nicht nur aus einer Verknüpfung von Konzepten bestehen; nein, sie stellen auch Kunstwerke dar, die bei den Zuhörern (und auch bei den Ethnologen selbst, die sie in einer verschrifteten Form zu lesen bekommen) tiefgehende ästhetische Empfindungen auslösen. Könnte es also sein, daß beide Probleme im Grunde genommen ein einziges sind? Zweifellos hat der Verfasser dieser Vorbemerkung mitunter den Mythos zum dichterischen Werk in Opposition gesetzt,16 aber diejenigen, die ihm das zum Vorwurf gemacht haben, haben nicht darauf geachtet, daß 15 Der Herausgeber der anthropologischen Fachzeitschrift L’Homme, wo der Artikel 1962 erstmals erschien, war der Ethnologe Claude Le´vi-Strauss selbst. Seine Vorbemerkung findet sich in L’Homme. Revue franc¸aise d’anthropologie 2 (1962), S. 5. [Anm. d. Komm.] 16 Vgl. Le´vi-Strauss, Anthropologie structurale [I], S. 232. [Anm. v. C.L.-S.] – Dt. Übs.: Strukturale Anthropologie [I], S. 230. – Der Verfasser bezieht sich hier ausdrücklich, in der Folge implizit auf seinen wohl berühmtesten Aufsatz »Die Struktur der Mythen«, der erstmals 1955 in englischer Sprache erschienen war. Dort definierte Le´vi-Strauss den Mythos als eine ›Redeweise‹ (»mode de discours«), bei der der Wert der Formel traduttore traditore praktisch gegen Null strebe. Demzufolge sei der Mythos seiner Natur nach rein inhaltlich (konzeptuell) definiert und von seiner sprachlichen oder gar poetischen Form prinzipiell unabhängig. [Anm. d. Komm.]
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der Begriff der *Opposition 17 selbst beinhaltet, daß die beiden Formen zunächst als einander ergänzende Terme aufgefaßt werden, die ein und derselben Kategorie angehören. Die wechselseitige Nähe, die wir hier andeuten, widerspricht demnach keineswegs dem differentiellen Charakter, den wir in früheren Arbeiten hervorgehoben haben. Hingewiesen hatten wir nämlich auf die Tatsache, daß jedes poetische Werk, isoliert betrachtet, in sich selbst seine Varianten 18 enthält, die so auf einer Achse angeordnet sind, daß man diese als Vertikale darstellen kann, da sie aus einander überlagernden Ebenen besteht: der phonologischen, phonetischen, syntaktischen, prosodischen, semantischen usw. Während der Mythos – zumindest im Extremfall – auf der semantischen Ebene allein gedeutet werden kann, wobei das System der Varianten (das für eine strukturale Analyse immer unentbehrlich ist) in diesem Fall von einer Pluralität der Fassungen desselben Mythos geliefert wird,19 d. h. durch einen horizontalen Schnitt 20 innerhalb eines Corpus von Mythen allein auf der seman17 Le´vi-Strauss verwendet im vorausgehenden Satz den Begriff »opposer« [›einander entgegensetzen‹] und im nachfolgenden »contraste« [›Kontrast‹]. Die strukturale Linguistik unterscheidet zwischen Elementen, z. B. Phonemen, die dem gleichen *Paradigma angehören und zueinander in Opposition stehen (›lesen‹ versus ›leben‹, das heißt: /s/ vs. /b/), und Elementen, die zueinander in Kontrast stehen, weil sie innerhalb eines *Syntagmas aufeinanderfolgen. Le´vi-Strauss meint hier offenkundig ein Oppositionsverhältnis, benützt aber unter Mißachtung der inzwischen eingebürgerten strukturalistischen Terminologie die Begriffe »s’opposer« (bzw. »opposition«) und »contraste« praktisch synonym. [Anm. d. Komm.] 18 Französisch »variante« [›Variante‹]. Der Begriffsgebrauch ist auch hier nicht terminologisch streng. Ein dichterisches Werk enthält, isoliert betrachtet, nicht seine eigenen ›Varianten‹ in sich, wohl aber kann man sagen, daß ein Text im Sinne der linguistischen Mehr-Ebenen-Analyse unterschiedliche ›Ebenen‹, ›Komponenten‹ oder ›Schichten‹ umfaßt. Genau dies wird der Verfasser in der Folge zum Ausdruck bringen. [Anm. d. Komm.] 19 In der Tat ist es ein Grundgedanke von Le´vi-Strauss’ Mythenanalyse, daß der Mythos eine Art von Suprastruktur darstellt, die Ferdinand de Saussures System der langue [›Sprachsystem‹] entspricht und ihre konkrete Manifestation dann in einer Vielzahl von unterschiedlichen Fassungen dieser Suprastruktur findet; die Vielzahl der Versionen eines Mythos entspricht dann der Ebene der parole [›Redeakt‹]. Doch alle Einzelmythen weisen ihrerseits dieselbe Merkmalkonfiguration auf, die auch die abstrakte Suprastruktur auszeichnet. Somit lassen sich die vielen Einzelmythen gleichzeitig miteinander wie die Stimmen einer Orchesterpartitur lesen. Vgl. »La structure des mythes«, S. 233 f. u. 240–242 (dt. Übs.: »Die Struktur der Mythen«, S. 231 f. u. S. 238–241). In der Regel geht es Le´vi-Strauss zufolge in den Mythen darum, zwei antagonistische Konzepte, die für eine Kultur von herausragender Bedeutung sind, über eine Erzählung miteinander zu artikulieren, beispielsweise Autochthonie und Heteronomie oder rohe und gekochte Nahrung. [Anm. d. Komm.] 20 Der Singular ist im Französischen generisch zu verstehen, denn das Verfahren der
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tischen Ebene. Freilich darf man nicht aus dem Blick verlieren, daß diese Unterscheidung vor allem einer praktischen Anforderung Rechnung trägt, nämlich die strukturale Analyse der Mythen auch dort noch voranschreiten zu lassen, wo ihr eine eigentlich linguistische Grundlage fehlt. Doch nur unter der Bedingung, daß man sich beider Methoden bedient – selbst um den Preis, daß man dann ganz unvermittelt die Gegenstandsbereiche zu wechseln hat 21 –, wird man in der Lage sein, die ursprünglich einmal eingegangene Wette 22 auch halten zu können. Denn wenn jede Methode je nach den Umständen gewählt werden kann, so ist dies letzten Endes nur deshalb möglich, weil beide Methoden für einander substituierbar sind, selbst wenn sie sich nicht immer komplettieren können. C. L.-S. les chats I1 2 3 4
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Les amoureux fervents et les savants auste`res Aiment e´galement, dans leur muˆre saison, Les chats puissants et doux, orgueil de la maison, Qui comme eux sont frileux et comme eux se´dentaires. Amis de la science et de la volupte´, Ils cherchent le silence et l’horreur des te´ne`bres; L’E´re`be les euˆt pris pour ses coursiers fune`bres, S’ils pouvaient au servage incliner leur fierte´. Ils prennent en songeant les nobles attitudes Des grands sphinx allonge´s au fond des solitudes, Qui semblent s’endormir dans un reˆve sans fin; Leurs reins fe´conds sont pleins d’e´tincelles magiques, Et des parcelles d’or, ainsi qu’un sable fin, E´toilent vaguement leurs prunelles mystiques.23
strukturalen Mehr-Ebenen-Analyse nimmt ja gerade nicht einen einzigen, sondern mehrere Schnitte vor, um nacheinander die verschiedenen Schichten des Textes zu untersuchen. [Anm. d. Komm.] 21 Seinen Gegenstandsbereich wechselt (französisch »changements de domaine«) hier offenkundig der Ethnologe, der sich auf ein Dokument verschriftlichter Dichtung einläßt. [Anm. d. Komm.] 22 Das Ziel der strukturalen Methode wird hier – vielleicht mit bewundernswerter Selbsterkenntnis (oder Selbstironie?) – mit einer Wette verglichen, die der Wissenschaftler mit der Wahl der strukturalistischen Methode eingegangen sei. [Anm. d. Komm.] 23 Baudelaire, Œuvres comple`tes I, S. 66; vgl. Friedhelm Kemps Prosaübersetzung in: Baudelaire, Sämtliche Werke /Briefe, Bd. 3, S. 187. [Anm. d. Komm.]
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Die glühenden Verliebten und die strengen Gelehrten Lieben gleichermaßen in ihrem reifen Lebensalter Die kraftvollen und sanften Katzen, den Stolz des Hauses, Die wie sie fröstelnd sind und wie sie seßhaft. Freunde der Wissenschaft und der Wollust, Suchen sie die Stille und das Grauen der Finsternis; Der Erebos hätte sie als Rosse seines Leichenzuges gewählt, Wenn sie ihren Stolz der Knechtschaft beugen könnten. Sie nehmen nachsinnend die edle Haltung Der großen Sphinxen ein, die tief in der Einsamkeit der Wüste hingestreckt In einen endlosen Traum zu fallen scheinen; Ihre fruchtbaren Lenden sind voll von magischen Funken, Und Goldpartikelchen, wie von feinem Sand, Besternen undeutlich ihre mystischen Pupillen.
Wenn man dem Feuilletonartikel »Le Chat Trott« von Champfleury glauben darf, in dem dieses Sonett von Baudelaire zum ersten Mal veröffentlicht wurde (Le Corsaire, 14. November 1847),24 wäre es bereits im März 1840 geschrieben worden, und der Text im Corsaire entspricht – entgegen den Behauptungen einiger Interpreten – Wort für Wort dem der Fleurs du Mal.25 24 Abgedruckt in: Baudelaire, Œuvres comple`tes I, S. 950 f. (Kommentar). – Champfleury, auch Fleury genannt, ist das Pseudonym von Jules Husson (1821–1898). Er trat als Publizist, Romancier und Kunstkritiker hervor. In dieser Eigenschaft nahm er an der Debatte um den ›Realismus‹ in der Kunst teil, die von Malern wie Courbet ausgelöst worden war, mit dem er persönlich befreundet war. 1857 veröffentlichte er eine Sammlung einschlägiger Artikel unter dem Titel Le Re´alisme. [Anm. d. Komm.] 25 Die Gedichtsammlung Les Fleurs du mal erschien erstmals 1857 in Paris, also im gleichen Jahr wie Gustave Flauberts Roman Madame Bovary. Die Fleurs du mal enthalten hierbei Gedichte, die zum Teil schon zuvor an anderen Stellen veröffentlicht worden waren. Die Sammlung entfachte umgehend einen Literaturskandal, der zu einem Prozeß führte, in dem sechs Gedichte, die sogenannten »pie`ces condamne´es« [›verbotene Stücke‹], wegen des ›Angriffs auf die öffentliche Moral‹ zensiert wurden. 1861 veröffentlichte Baudelaire eine zweite Ausgabe, die um den Zyklus der »Tableaux parisiens« [›Pariser Bilder‹] und um weitere Stücke ergänzt war, worin allerdings die beanstandeten Texte weiterhin fehlten. Maßgeblich für die heutigen Editionen ist die postume, nochmals erweiterte Ausgabe von 1868. Das Gedicht »Les Chats« (Nr. LXVI) gehört zu »Spleen et ide´al« [›Schwermut und Ideal‹], dem ersten Zyklus der Sammlung; die Überlieferung des Textes ist zuverlässig und unproblematisch. Neben dem Sonett »Les Chats« existieren in »Spleen et ide´al« zwei weitere Gedichte mit dem Titel »Le Chat« [›Die Katze‹], nämlich das
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In der Verteilung der Reime folgt der Dichter dem Schema aBBa CddC eeFgFg (wobei die Verse mit *männlichem Reim durch Großbuchstaben, die Verse mit *weiblichem Reim durch Kleinbuchstaben gekennzeichnet sind). Diese Reimkette verteilt sich auf drei Versgruppen: zwei Quartette und einen Sechszeiler, der aus zwei Terzetten besteht, die eine gewisse Einheit bilden, denn die Gruppierung der Reime wird – wie das Grammont gezeigt hat – im Sonett »durch eben dieselben Regeln geleitet wie in jeder normalen *Strophe aus sechs Versen«.26 Die Anordnung der Reime im vorliegenden Sonett folgt drei dissimilatorischen Gesetzen: 1) zwei *Paarreime dürfen nicht aufeinander folgen; 2) wenn zwei benachbarte Verse verschiedene Reime haben, dann muß einer der Reime männlich, der andere weiblich sein; 3) am Schluß von benachbarten Strophen wechseln männliche und weibliche Verse einander ab: 4 se´dentaires – 8 fierte´ – 14 mystiques. Gemäß der klassischen Konvention enden alle weiblichen Reime auf eine stumme und alle männlichen auf eine vollautende Silbe; der Unterschied zwischen den beiden Klassen von Reimen bleibt auch in der geläufigen Aussprache, die das abgetönte e der Endsilbe fallen läßt,27 erhalten, da in allen weiblichen Reimen des Sonetts auf den letzten vollen Vokal Konsonanten folgen (auste`res – se´dentaires, te´ne`bres – fune`bres, attitudes – solitudes, magiques – mystiques), während alle männlichen Reime auf Vokal ausgehen (saison – maison, volupte´ – fierte´, fin – fin). unregelmäßige Sonett Nr. XXXIV: »Viens, mon beau chat, sur mon cœur amoureux…« [›Komm, meine schöne Katze, an mein verliebtes Herz…‹] (Œuvres comple`tes I, S. 35; Sämtliche Werke /Briefe, Bd. 3, S. 119/121), worin Alexandriner mit Achtsilbern alternieren, und das zweigeteilte Gedicht Nr. LI: »Dans ma cervelle se prome`ne…« [›In meinem Hirn spaziert umher…‹] (Œuvres comple`tes I, S. 50 f.; Sämtliche Werke /Briefe, Bd. 3, S. 151–155), dessen erster Teil aus sechs und dessen zweiter Teil aus vier Quartetten besteht. [Anm. d. Komm.] 26 Grammont, Petit traite´ de versification franc¸aise, S. 86. [Anm. v. R.J. / C.L.-S.] – In der Folge wird sehr ausführlich die übliche Metrik des französischen Sonetts behandelt, die Baudelaire natürlich bestens bekannt war. Somit hält sich das Gedicht streng an das vorgegebene Schema des Sonetts und weist bezüglich der Gattungskonvention keinerlei Abweichungen auf. Die ausführliche Beschreibung der metrischen Struktur bringt darum dem Kenner französischer Versdichtung keine wirklich neuen Erkenntnisse. [Anm. d. Komm.] 27 Im Französischen wird der Schwa-Laut [ə] in den meisten Umgebungen nicht realisiert und darum als e instable oder e caduc bezeichnet. Dennoch wird er im Innern des Verses als eine metrisch vollgültige Silbe mitgezählt, und er kann – insbesondere bei emphatischer oder feierlicher Aussprache bzw. bei der poetischen oder dramatischen Rezitation – vom Sprecher jederzeit deutlich vernehmbar aktualisiert werden. [Anm. d. Komm.]
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Die enge Beziehung zwischen der Reimordnung und der Wahl der grammatischen Kategorien macht deutlich, wie wichtig die Rolle ist, die Grammatik wie Reim in der Struktur dieses Sonetts spielen. Sämtliche Verse enden mit einem *Nomen: acht mit einem Substantiv, sechs mit einem Adjektiv. Die Substantive sind sämtlich Feminina. In allen acht Versen mit weiblichem Reim, die nach der traditionellen Norm um eine Silbe, in der heutigen Aussprache wenigstens um einen postvokalischen Konsonanten länger sind,28 steht das Nomen am Versende im Plural, während die kürzeren Verse mit männlichem Reim in allen sechs Fällen auf ein Nomen im Singular enden. In den beiden Quartetten sind die männlichen Reimworte Substantive, die weiblichen Adjektive, ausgenommen das Schlüsselwort 6 te´ne`bres [›Finsternis‹], das auf 7 fune`bres [›zum Begräbnis gehörig‹] reimt. Auf das Problem der Beziehung zwischen diesen beiden Versen werden wir später zurückkommen. Was die Terzette betrifft, so enden die drei Verse des ersten mit Substantiven, die des zweiten mit Adjektiven. Der die beiden Terzette verbindende Reim (11 sans fin – 13 sable fin [›ohne Ende – feiner Sand‹]), stellt somit einem femininen Substantiv ein maskulines Adjektiv gegenüber – unter den männlichen Reimen des Sonetts ist dieses auch das einzige Adjektiv und das einzige Beispiel eines Maskulinums. Das Sonett enthält drei komplexe, mit einem Punkt abgegrenzte Sätze; das heißt, jedes der Quartette und die Gesamtheit der beiden Terzette bilden je einen Satz. Nach der Zahl der Hauptsätze und der finiten Verbformen stellen die drei Sätze eine arithmetische Progression dar: 1) ein einziges finites Verb (aiment) [›sie lieben‹]; 2) zwei (cherchent, euˆt pris [›sie suchen, hätte genommen‹]); 3) drei (prennent, sont, ´etoilent [›sie nehmen, sie sind, sie besternen‹]). Andererseits enthalten die zugehörigen Nebensätze nur jeweils ein finites Verb: 1) Qui 〈…〉 sont [›die 〈…〉 sind‹]; 2) S’ils pouvaient [›wenn sie könnten‹]; 3) Qui semblent [›die scheinen‹]. Die Dreiteilung des Sonetts impliziert eine Antinomie zwischen den strophischen Einheiten mit zwei und der strophischen Einheit mit drei Reimen. Sie wird aufgewogen durch eine Dichotomie, die das Gedicht in zwei Strophenpaare teilt: in das Paar der Quartette und in das Paar der Terzette. Dieses *binäre Prinzip, durch die grammatische Struktur des Textes gestützt, impliziert wiederum eine Antinomie: zwischen dem ersten Abschnitt mit vier und dem zweiten mit drei Reimen bzw. zwischen den ersten zwei Unterabschnitten oder Strophen mit je vier Versen und 28 Nicht ausgesprochen wird das e caduc in der weiblichen Schluß-Silbe eines Verses. [Anm. d. Komm.]
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den letzten zwei Strophen mit je drei Versen. Auf der Spannung zwischen diesen beiden Anordnungsarten und zwischen ihren *symmetrischen und asymmetrischen Elementen beruht die Komposition des ganzen Stücks. Deutlich ist ein syntaktischer *Parallelismus zwischen dem Paar der Quartette einerseits und dem der Terzette andererseits festzustellen. Das erste Quartett erhält ebenso wie das erste Terzett zwei Teilsätze, von denen der zweite – ein Relativsatz, der beide Male durch das *Pronomen qui eingeleitet wird – den letzten *Vers der Strophe bildet und sich einem maskulinen Substantiv im Plural anschließt, das im Hauptsatz als Ergänzung dient (3 Les chats [›Die Katzen‹], 10 Des 〈…〉 sphinx [›der 〈…〉 Sphinxe‹]). Das zweite Quartett (und ebenso das zweite Terzett) enthält zwei beigeordnete Sätze, von denen jeweils der zweite, der seinerseits zusammengesetzt ist, die jeweils letzten beiden Verse der Strophe (7–8 und 13– 14) umfaßt und einen Nebensatz enthält, der dem Hauptsatz durch eine Konjunktion angeschlossen ist. Im Quartett ist es ein Konditionalsatz (8 s’ils pouvaient [›wenn sie könnten‹]), im Terzett ein Vergleichssatz (13 ainsi qu’un [›so wie ein‹]). Der erste ist nachgestellt, während der zweite, unvollständige, ein Einschub ist. In der Textfassung des Corsaire (1847) entspricht die Interpunktion des Sonetts genau dieser Einteilung.29 Das erste Terzett endet wie das erste Quartett mit einem Punkt. Im zweiten Terzett und im zweiten Quartett geht den beiden letzten Versen jeweils ein Semikolon voraus. Der semantische Aspekt der grammatischen Subjekte verstärkt noch diesen Parallelismus zwischen den beiden Quartetten auf der einen und den beiden Terzetten auf der anderen Seite: I) Quartette
II) Terzette
1. Erstes 2. Zweites
1. Erstes 2. Zweites
Die Subjekte des ersten Quartetts und des ersten Terzetts bezeichnen ausschließlich belebte Wesen, während eines der beiden Subjekte des zweiten Quartetts und alle grammatischen Subjekte des zweiten Terzetts unbelebte Substantive sind: 7 E´re`be [griech. Erebos ›Unterweltsfluß‹], 12 Leurs reins [›ihre Lenden‹], 13 des parcelles [›Partikelchen‹], 13 un sable [›ein Sand‹]. Außer diesen sozusagen horizontalen Entsprechungen läßt 29 Vgl. Baudelaire, Œuvres comple`tes I, S. 956 (Kommentar). Die Interpunktion ist in den von Baudelaire später autorisierten (und sehr sorgfältig korrigierten) Druckfassungen geringfügig modifiziert worden und wird in dieser Form von den modernen Ausgaben übernommen. [Anm. d. Komm.]
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sich eine weitere Entsprechung beobachten, die man vertikal nennen könnte und die die Gruppe der beiden Quartette der Gruppe der beiden Terzette gegenüberstellt. Während alle direkten *Objekte in den Terzetten unbelebte Substantive sind (9 les nobles attitudes [›edle Haltungen‹], 14 leurs prunelles [›ihre Pupillen‹]), ist das einzige direkte Objekt des ersten Quartetts ein belebtes Substantiv (3 Les chats [›die Katzen‹]). Unter den Objekten des zweiten Quartetts findet sich neben den unbelebten Substantiven (6 le silence et l’horreur [›die Stille und das Grauen‹]) das Pronomen 7 les [›sie‹], das sich auf 3 Les chats [›die Katzen‹] im vorhergehenden Satz bezieht. Hinsichtlich der Beziehung zwischen Subjekt und Objekt zeigt das Sonett zwei Entsprechungen, die man diagonal 30 nennen könnte: Eine absteigende Diagonale vereinigt die zwei äußeren Strophen (das Anfangsquartett mit dem Endterzett) und stellt sie der aufsteigenden Diagonale gegenüber, welche die beiden inneren Strophen verbindet. In den äußeren Strophen gehört das Objekt zur gleichen semantischen Klasse wie das Subjekt: belebte Wesen im Quartett (amoureux [›Verliebte‹], savants [›Gelehrte‹] – chats [›Katzen‹]), unbelebte Wesen im Terzett (reins, parcelles – prunelles [›Lenden, Partikelchen – Pupillen‹]). In den Binnenstrophen dagegen gehört das Objekt zu einer Klasse, die der des Subjekts entgegengesetzt ist. Im ersten Terzett steht ein unbelebtes Objekt einem belebten Subjekt gegenüber (ils [= chats ›Katzen‹] – attitudes [›Haltungen‹]), während im zweiten Quartett sowohl dasselbe Verhältnis (ils [= chats ›Katzen‹] – silence, horreur [›Stille, Schrecken‹]) wie auch das umgekehrte nachweisbar ist: belebtes Objekt und unbelebtes Subjekt (E´re`be [›Erebos‹] – les [= chats ›Katzen‹]). So bewahrt jede der vier Strophen ihre Individualität: Im ersten Quartett kennzeichnet das *Merkmal der Belebtheit sowohl Subjekt wie Objekt, im ersten Terzett nur das Subjekt; im zweiten Quartett entweder nur das Subjekt oder nur das Objekt und im zweiten Terzett weder das eine noch das andere. Anfang und Schluß des Sonetts weisen in ihrer grammatischen Struktur mehrere überraschende Entsprechungen auf. Am Schluß finden sich genau wie am Anfang, aber nirgends sonst, zwei Subjekte mit einem einzigen Prädikat und einem einzigen direkten Objekt. Jedes dieser Subjekte und auch das Objekt werden durch ein Attribut bestimmt (Les amoureux fervents [›die Verliebten (die) glühenden‹], savants auste`res [›die 30 In ähnlicher Weise spricht Jakobson auch in seiner Analyse des Hussitenchorals (»›Ktozˇ jsu´ bozˇ´ı bojovnı´ci‹: Slovnı´ stavba Husitske´ho chora´lu«, S. 223 f.; dt. Übs. in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 523) von ›diagonalen Entsprechungen‹. [Anm. d. Komm.]
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Gelehrten (die) gestrengen‹] – Les chats puissants et doux [›die Katzen (die) kraftvollen und sanften‹]; des parcelles d’or [›Partikelchen von Gold‹], un sable fin [›ein Sand (ein) feiner‹] – leurs prunelles mystiques [›ihre Pupillen (die) geheimnisvollen‹]). Die beiden Prädikate, das erste und das letzte des Sonetts, sind die einzigen, die von Adverbien begleitet werden, wobei beide von Adjektiven abgeleitet und durch einen Assonanzreim gebunden sind: 2 aiment e´galement [›lieben gleichermaßen‹] – 14 e´toilent vaguement [›besternen unbestimmt‹]. Das zweite und das vorletzte Prädikat des Sonetts haben als einzige eine *Kopula mit Prädikatsnomen, und in beiden Fällen wird das Prädikatsnomen durch *Binnenreim hervorgehoben: 4 Qui comme eux sont frileux [›die wie sie sind Fröstelnde‹], 12 Leurs reins fe´conds sont pleins [›ihre Lenden (die) fruchtbaren sind voll‹]. Ganz allgemein sind die beiden äußeren Strophen als einzige reich an Adjektiven: neun im Quartett und fünf im Terzett, während die inneren Strophen insgesamt nur drei Adjektive haben (fune`bres [›zum Begräbnis gehörige‹], nobles [›edle‹], grands [›große‹]). Wie schon gesagt, gehören nur am Anfang und am Schluß des Gedichts die Subjekte derselben Klasse an wie das Objekt: im ersten Quartett der Gattung des Belebten und im zweiten Terzett der Gattung des Unbelebten. Die belebten Wesen, ihre Funktionen und ihre Aktivitäten, beherrschen die Anfangsstrophe. Die erste Zeile enthält nur Adjektive. Unter ihnen lassen die beiden substantivierten Formen, die als Subjekte dienen – Les amoureux und les savants –, verbale Wurzeln erkennen.31 Der Text wird eröffnet durch »diejenigen, die lieben« und »diejenigen, die wissen«. In der letzten Zeile des Gedichts gilt das Umgekehrte: Das *transitive Verb E´toilent [›besternen‹], das als Prädikat dient, ist von einem Substantiv abgeleitet. Letzteres ist mit der Reihe der unbelebten und konkreten *Appellativa verwandt, die dieses Terzett beherrschen und es von den drei vorhergehenden Strophen abheben. Eine klare Homophonie zwischen diesem Verb und den Gliedern der betrachteten Reihe ist erkennbar: /etiselə / – /e de parselə / – /etwalə /. Schließlich enthalten die Nebensätze im letzten Vers der zweiten und dritten Strophe jeder einen adverbalen Infinitiv – es sind die einzigen Infinitive im Gedicht: 8 S’ils pouvaient 〈…〉 incliner [›wenn sie könnten 〈…〉 beugen‹]; 11 Qui semblent s’endormir [›die scheinen in Schlaf zu fallen‹].32 31 Hinweis auf die Verwandtschaft von französisch amoureux [›verliebt‹] mit dem Verb aimer [›lieben‹] (vgl. auch amour [›Liebe‹]) sowie von savant [›gelehrt‹] mit savoir [›wissen, verstehen‹]. [Anm. d. Komm.] 32 »Adverbal« bedeutet (im Gegensatz zu »adverbial«) soviel wie ›zum Verb hinzutre-
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Wie wir gesehen haben, führen weder die dichotomische Spaltung des Sonetts noch die Gliederung in drei Strophen ein Gleichgewicht von isometrischen Teilen herbei. Zerlegt man hingegen die vierzehn Verse in zwei gleiche Teile, so würde der siebte Vers die erste Hälfte abschließen und der achte den Beginn der zweiten Hälfte markieren. Es ist bezeichnend, daß sich diese beiden mittleren Verse in ihrer grammatischen Beschaffenheit am klarsten vom Rest des Gedichts unterscheiden. In verschiedener Hinsicht zerfällt das Gedicht damit in drei Teile: in das mittlere Verspaar und zwei isometrische Gruppen, nämlich die sechs Verse, die dem Paar vorausgehen, und die sechs, die ihm folgen. Man erhält so eine Art *Distichon, das von zwei Sechszeilern eingeschlossen ist.33 Die finiten Verbformen mit den zugehörigen Subjekten sowie die Pronomina stehen im Sonett allesamt im Plural, ausgenommen der siebente Vers – 7 L’E´re`be les euˆt pris pour ses coursiers fune`bres [›der Erebos sie hätte gewählt als seine Paraderosse zum Begräbnis gehörige‹] –, der den einzigen Eigennamen des Gedichts enthält und das einzige finite Verb, das (wie das zugehörige Subjekt) im Singular steht.34 Außerdem ist er der einzige Vers, wo das Possessivpronomen (ses) auf einen Singular verweist. tend‹. Gemeint ist, daß die beiden Infinitive von den *Modalverben pouvoir [›können‹] und sembler [›scheinen‹] abhängig sind. [Anm. d. Komm.] 33 Die hier vorgeschlagene Gliederung der Textstruktur konterkariert die gattungsgemäße Konvention der Sonettform, die üblicherweise eine Gliederung in Anlehnung an die strophische Aufteilung, das heißt: entlang der Grenzen zwischen den Einzelstrophen, insbesondere zwischen den Quartetten und den Terzetten, erwarten ließe. [Anm. d. Komm.] 34 In der Tat kommt diesem Vers noch aus anderem Grunde eine zentrale Bedeutung zu: Erebos ist eine Bezeichnung für die heidnische Unterwelt und auch für die Hölle. Erebos war dem Mythos nach der Sohn des Chaos und der Bruder, Gatte oder Sohn der Nachtgöttin Nyx. Er wird angesehen als Herrscher der Finsternis und ist somit ein paganes Pendant zum princeps tenebrarum [›Fürst der Finsternis‹], zum Satan der christlichen Überlieferung. Hierzu paßt, daß im Volks- und Aberglauben den Katzen oft eine dämonische Qualität zugeschrieben wird und sie als Begleittiere der Hexen, ja sogar des Teufels gelten. Baudelaire gebraucht den Namen Erebos hier im Zusammenhang einer für ihn typischen Personifikations-Allegorie: Erebos würde gerne einen Leichenzug anführen, in dem statt edler Rappen (schwarze?) Katzen mitziehen. Ein locus classicus über den Erebos, den Baudelaire sicherlich kannte, findet sich bei Vergil im vierten Buch der Georgica (v. 471 f.) innerhalb der Erzählung vom Abstieg des Orpheus in die Unterwelt. Mit seinem Gesang gelingt es Orpheus, die verstorbenen Seelen dazu zu bewegen, sich ihm in einem langen Trauerzug anzuschließen: »at cantu commotae Erebi de sedibus imis umbrae ibant tenues simulacraque luce carentum« [›Aber vom Liede gelockt, aus des Erebus tiefsten Gründen Kamen die zarten Schatten hervor, der Lichtlosen‹]. Gerade weil der Erebos bei Vergil offenkundig Toponym und nicht mythologische
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Einzig die dritte *Person kommt im Sonett vor. Einziges *Tempus ist das Präsens, außer im siebenten und achten Vers, wo der Dichter eine imaginäre Tätigkeit ins Auge faßt (7 euˆt pris [›(er) hätte genommen‹]), die von einer irrealen Voraussetzung ausgeht (8 S’ils pouvaient [›wenn sie könnten‹]). Das Sonett zeigt eine deutliche Tendenz, jedes Verb und jedes Substantiv näher zu bestimmen. Jede Verbform wird von einem abhängigen Ausdruck (Substantiv, Pronomen, Infinitiv) oder von einem Attribut begleitet. Alle transitiven Verben regieren durchweg Substantive (2–3 Aiment 〈…〉 les chats [›(sie) lieben 〈…〉 die Katzen‹]; 6 cherchent le silence et l’horreur [›(sie) suchen die Stille und das Grauen‹]; 9 prennent 〈…〉 les 〈…〉 attitudes [›(sie) nehmen 〈…〉 die 〈…〉 Haltungen ein‹]; 14 E´toilent 〈…〉 leurs prunelles [›(sie) besternen 〈…〉 ihre Pupillen‹]). Die einzige Ausnahme bildet das *anaphorische Pronomen, das im siebenten Vers als Objekt dient: les euˆt pris [›(sie) hätte genommen‹]. Mit Ausnahme der adnominalen Ergänzungen, die nirgends im Sonett näher bestimmt werden, haben alle Substantive (einschließlich der substantivierten Adjektive) Epitheta (z. B. 3 chats puissants et doux [›(die) Katzen (die) mächtigen und sanften‹] oder andere Ergänzungen (5 Amis de la science et de la volupte´ [›Freunde der Wissenschaft und der Wollust‹]) neben sich. Die einzige Ausnahme findet man wieder im siebenten Vers: L’E´re`be les euˆt pris [›der Erebos sie hätte genommen‹]. Alle fünf Epitheta des ersten Quartetts (1 fervents [›(die) glühenden‹], 1 auste `res [›(die) strengen‹], 2 muˆre [›reif‹], 3 puissants [›(die) mächtigen‹], 3 doux [›(die) sanften‹]) und alle sechs in den beiden Terzetten (9 nobles [›(die) edlen‹], 10 grands [›(die) großen‹], 12 fe´conds [›(die) fruchtbaren‹], 12 magiques [›(die) magischen‹], 13 fin [›fein‹], 14 mystiques [›(die) mystischen‹]) sind qualifizierende Adjektive, während das zweite Quartett keine anderen Adjektive enthält als das *determinierende *Epitheton des siebenten Verses (coursiers fune`bres [›Leichenzug‹]). Es ist auch dieser Vers, der die Reihenfolge belebt-unbelebt, die das Verhältnis von Subjekt und Objekt in den anderen Versen dieses Quartetts bestimmt, umkehrt und der der einzige Vers im ganzen Sonett bleibt, der statt dessen die Reihenfolge unbelebt-belebt annimmt. Gestalt ist, fällt es auf, daß Baudelaire ihn zum virtuellen Anführer eines Leichenzuges oder gar zum Lenker eines Leichenwagens und damit zu einem allegorischen Subjekt befördert. Zur Bedeutung der Allegorie bei Baudelaire vgl. insbesondere Jauß, »Baudelaires Rückgriff auf die Allegorie«. Die von der Baudelaire-Forschung oftmals hervorgehobene Relevanz des allegorischen Verfahrens findet in der Analyse von Jakobson und Le´vi-Strauss keine Beachtung. [Anm. d. Komm.]
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Es zeigt sich, daß mehrere auffallende Besonderheiten gerade den siebenten Vers oder auch die letzten beiden Verse des zweiten Quartetts auszeichnen. Allerdings ist festzuhalten, daß die Tendenz, das mittlere Distichon hervorzuheben, mit dem Prinzip der asymmetrischen Trichotomie konkurriert. Diese stellte das gesamte zweite Quartett einerseits dem ersten Quartett, andererseits dem folgenden Sechszeiler gegenüber und hebt auf diese Weise eine zentrale Strophe hervor, die sich in mancher Hinsicht von den Randstrophen unterscheidet. Wir hatten darauf hingewiesen, daß nur im siebenten Vers Subjekt und Prädikat im Singular stehen; doch diese Beobachtung kann erweitert werden: Die einzigen Verse, in denen entweder das Subjekt oder das Objekt im Singular vorkommen, sind die des zweiten Quartetts; und wenn im siebenten Vers der Singular des Subjekts (L’E´re`be) dem Plural des Objekts (les) gegenübersteht, so kehren die benachbarten Verse dieses Verhältnis um, indem sie das Subjekt in den Plural und das Objekt in den Singular setzen (6 Ils cherchent le silence et l’horreur [›sie suchen die Stille und das Grauen‹]; 8 S’ils pouvaient 〈…〉 incliner leur fierte ´ [›wenn sie könnten 〈…〉 beugen ihren Stolz‹]). In den anderen Strophen stehen Objekt und Subjekt beide im Plural (1–3 Les amoureux 〈…〉 et les savants 〈…〉 Aiment 〈…〉 Les chats [›die Verliebten 〈…〉 und die Gelehrten 〈…〉 lieben 〈…〉 die Katzen‹]; 9 Ils prennent 〈…〉 les 〈…〉 attitudes [›sie nehmen 〈…〉 die 〈…〉 Haltungen ein‹]; 13–14 Et des parcelles 〈…〉 E´toilent 〈…〉 leurs prunelles [›und Partikelchen 〈…〉 besternen 〈…〉 ihre Pupillen‹]). Man beachte auch, daß im zweiten Quartett der Singular von Subjekt oder Objekt mit der Unbelebtheit zusammenfällt und der Plural mit der Belebtheit.35 Die Wichtigkeit der grammatischen Numeri für Baudelaire ist besonders hervorzuheben wegen der Rolle, die ihre Opposition in den Reimen des Sonetts spielt. Hinzugefügt sei, daß sich die Reime des zweiten Quartetts in ihrer Struktur von allen übrigen Reimen des Gedichts unterscheiden. Unter den weiblichen Reimen ist der des zweiten Quartetts te´ne`bres-fune`bres der einzige, der zwei verschiedene Wortarten einander gegenüberstellt. Zudem 35 Der Personifikations-Allegorie des Erebos in v. 7 wird also an dieser Stelle das Merkmal der Unbelebtheit zugewiesen. Allgemein zur Problematik der Belebtheits-/ Unbelebtheits-Prädikate im Hinblick auf Körperteile, die nach der konventionellen Analyse der strukturalen Semantik als unbelebt gelten, unter Aspekten der Rhetorik aber gerade als Synekdoche oder Metonymie eines belebten Wesens verstanden werden müssen, siehe Christoph Bodes Kritik an Jakobsons Blake-Interpretation in: »Schreiendes Baby! Grausamer Mann! William Blake entwickelt (Anglistische Perspektiven)«. [Anm. d. Komm.]
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weisen alle reimenden Zeilen des Sonetts, mit Ausnahme eben dieses einen Quartetts, eines oder mehrere identische *Phoneme auf, die der betonten Silbe (die normalerweise mit einem Stützkonsonanten versehen ist) entweder unmittelbar oder in einem gewissen Abstand vorangehen: 1 savants auste ` res – 4 se´dentaires, 2 muˆre saison – 3 maison, 9 attitudes – 10 solitudes, 11 un reˆve sans fin – 13 un sable fin; 12 ´etincelles magiques – 14 prunelles mystiques. Im zweiten Quartett hat weder das Paar 5 volupte´ – 8 fierte´ noch das Paar 6 te´ne`bres – 7 fune`bres eine Entsprechung in den dem eigentlichen Reim vorausgehenden Silben. Andererseits alliterieren die letzten Wörter des siebenten und des achten Verses: 7 fune`bres – 8 fierte´. Der sechste Vers ist an den fünften gebunden: 6 te´ne`bres wiederholt die letzte Silbe von 5 volupte´; ein Binnenreim 5 science – 6 silence verstärkt noch die Affinität der beiden Verse. So bestätigen sogar die Reime eine gewisse Lockerung der Bindung zwischen den beiden Hälften des zweiten Quartetts. In der lautlichen Textur des Sonetts spielen vor allem die nasalierten Vokale eine wichtige Rolle. Diese Vokale, die – nach einem glücklichen Ausdruck von Grammont – »durch die Nasalierung wie verwaschen sind«,36 häufen sich im ersten Quartett (9 *Nasale, zwei bis drei pro Zeile) und besonders im abschließenden Sechszeiler (22 Nasale, mit steigender Tendenz im ersten Terzett – 9 3 – 10 4 – 11 6: Qui semblent s’endormir dans un reˆve sans fin – und mit fallender Tendenz im zweiten Terzett – 12 5 – 13 3 – 14 1). Dagegen hat das zweite Quartett nur drei Nasale, je einen pro Vers, ausgenommen den siebenten, der somit als einziger Vers im Sonett keinen nasalierten Vokal enthält; und dieses Quartett ist auch die einzige Strophe, deren männlicher Reim keinen nasalierten Vokal aufweist. Dafür dominieren im zweiten Quartett statt der Vokale die konsonantischen Phoneme, besonders die *Liquiden: Nur das zweite Quartett zeigt einen Überschuß an liquiden Phonemen, nämlich 24, gegenüber 15 im ersten Quartett, 11 im ersten Terzett und 14 im zweiten Terzett. In den Quartetten ist die Zahl der /r/ identisch mit der Zahl der /l/ (19), in den Terzetten etwas niedriger. Der siebente Vers, der nur zwei /l/ enthält, hat aber fünf /r/, das heißt mehr als jeder andere Vers: L’E´re`be les euˆt pris pour ses coursiers fune`bres. Es sei daran erinnert, daß in Opposition zum /r/ das /l/ nach Grammont »den Eindruck eines Lautes macht, der weder knarrend noch kratzend noch rauh ist, sondern im Gegenteil gleichmäßig dahingleitet, fließt 〈…〉 und klar ist«.37 36 Grammont, Traite´ de phone´tique, S. 384. 37 A. a. O., S. 388.
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Die Schroffheit jedes /r/ und besonders des französischen r, im Vergleich mit dem glissando des /l/, ergibt sich deutlich auch aus der akustischen Analyse dieser Phänomene in einer neueren Untersuchung von M. Durand; 38 und das Zurücktreten des /r/ zugunsten des /l/ begleitet beredt den Übergang vom empirischen Katzenwesen zu dessen märchenhaften Transfigurationen. Die ersten sechs Verse des Sonetts werden durch ein sich wiederholendes Merkmal zusammengehalten: ein symmetrisches Paar von koordinierten Ausdrücken, verbunden durch dieselbe Konjunktion et [›und‹] (1 Les amoureux fervents et les savants auste`res [›die Verliebten (die) glühenden und die Gelehrten (die) gestrengen‹]; 3 Les chats puissants et doux [›die Katzen (die) kraftvollen und sanften‹]; 4 Qui comme eux sont frileux et comme eux se´dentaires [›die wie sie sind Fröstelnde und wie sie Seßhafte‹]; 5 Amis de la science et de la volupte ´ [›Freunde der Wissenschaft und der Wollust‹]), in dem die Zweigliedrigkeit des determinierenden Ausdrucks einen *Chiasmus bildet mit der Zweigliedrigkeit des determinierten Ausdrucks im folgenden Vers – 6 le silence et l’horreur des te´ne`bres [›die Stille und das Grauen der Finsternis‹] –, mit dem dieses binäre Konstruktionsprinzip, das fast alle Verse dieses ersten ›Sechszeilers‹ kennzeichnet, endet. Es kommt auch später nicht wieder vor. Eine Variation desselben Schemas ist die Nebeneinanderstellung ohne Konjunktion: 2 Aiment ´egalement, dans leur muˆre saison [›lieben gleichermaßen in ihrem reifen Lebensalter‹] (parallele *zirkumstantielle Ergänzungen); 3 Les chats 〈…〉, orgueil 〈…〉 [›die Katzen 〈…〉 der Stolz 〈…〉‹] (Substantiv als Apposition zu einem anderen Substantiv). Diese Paare koordinierter Ausdrücke und auch die Reime (nicht nur die *Endreime, die semantische Beziehungen unterstreichen, wie 1 auste`res [›ernst, streng, gestreng‹] – 4 se´dentaires [›seßhaft, unbeweglich‹], 2 saison [›Lebensalter‹] – 3 maison [›Haus‹], sondern auch und gerade die Binnenreime) dienen dazu, die Verse dieser Einleitung zu festigen: 1 amoureux – 4 comme eux – 4 frileux – 4 comme eux; 1 fervents – 1 savants – 2 ´ egalement – 2 dans – 3 puissants; 5 science – 6 silence. So wurden auch alle Adjektive des ersten Quartetts, die Personen charakterisieren, zu Reimworten – mit einer Ausnahme: 3 doux [›sanft‹]. Eine doppelte *Figura etymologica, die drei Versanfänge verbindet – 1 Les amoureux – 2 Aiment – 5 Amis –, trägt noch zur Geschlossenheit dieser sechszeiligen ›QuasiStrophe‹ bei; sie beginnt und endet mit einem Verspaar, dessen erste Halbzeilen jeweils reimen: 1 fervents – 2 ´egalement; 5 science – 6 silence. 38 Durand, »La spe´cificite´ du phone`me. Application au cas de R /L«.
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3 Les chats [›die Katzen‹], direktes Objekt des Satzes, der die drei ersten Sonettverse umfaßt, wird in den Sätzen der drei anschließenden Verse zum impliziten Subjekt (4 Qui comme eux sont frileux; 6 Ils cherchent le silence [›die wie sie sind Fröstelnde; Sie suchen die Stille‹]). Damit zeichnet sich eine Teilung dieses Quasi-Sechszeilers in zwei Quasi-Terzette ab. Das mittlere ›Distichon‹ rekapituliert die Metamorphose der Katzen: vom (nunmehr ebenfalls impliziten) Objekt im siebten Vers (L’E´re`be les euˆt pris [›Der Erebos sie hätte genommen‹]) zum gleichfalls impliziten grammatischen Subjekt im achten Vers (S’ils pouvaient [›wenn sie könnten‹]). In dieser Hinsicht nähert sich der achte Vers dem nachfolgenden Satz (9 Ils prennent [›sie nehmen ein‹]). Im allgemeinen bilden die nachgestellten Nebensätze eine Art Übergang zwischen dem zugehörigen Hauptsatz und der Wortgruppe, die diesem folgt. So überläßt das implizite Subjekt »chats« [›Katzen‹] des neunten und zehnten Verses im elften Vers seinen Platz dem Subjektspronomen des Relativsatzes, das auf die *Metapher »sphinx« [›Sphinx‹] bezogen ist (Qui semblent s’endormir dans un reˆve sans fin [›die einzuschlafen scheinen in einen Traum ohne Ende‹]). Damit wird dieser Vers den *Tropen genähert, die im Schlußterzett als grammatische Subjekte fungieren. Der unbestimmte Artikel, der den ersten zehn Versen mit ihren vierzehn bestimmten Artikeln völlig fremd war, ist in den letzten vier Versen des Sonetts als einziger zugelassen.39 Dank der mehrdeutigen Verweise der beiden Relativsätze, des elften und des vierten Verses, lassen die vier Schlußverse die Umrisse eines imaginären Quartetts erahnen, das scheinbar eine Entsprechung zu dem echten Quartett am Anfang des Sonetts herstellt. Andererseits hat aber auch das Endterzett eine formale Struktur, die sich in den ersten drei Zeilen des Sonetts widerzuspiegeln scheint. Das belebte Subjekt wird niemals durch ein Substantiv ausgedrückt, sondern in der ersten Zeile des Sonetts durch substantivierte Adjektive (Les amoureux, les savants [›die Liebenden, die Gelehrten‹]) und in den späteren Zeilen durch Personal- oder Relativpronomina. Menschliche Wesen erscheinen nur im ersten Satz, wo das doppelte Subjekt sie mit Hilfe substantivierter Verbaladjektive bezeichnet.40
39 Allerdings kommen mit 12 leurs reins fe´conds [›ihre fruchtbaren Lenden‹] und in 14 leurs prunelles mystiques [›ihre geheimnisvollen Pupillen‹] zwei Fügungen mit Possessivpronomina vor, die bekanntlich ebenfalls eine determinierende Funktion haben. [Anm. d. Komm.] 40 Weder das Adjektiv 1 amoureux [›verliebt‹] noch das Substantiv 1 savants [›Gelehrte‹] sind Verbaladjektive im Sinne der französischen Grammatik. [Anm. d. Komm.]
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Die Katzen, die im Titel des Sonetts genannt werden, werden im Text nur ein einziges Mal namentlich erwähnt – im ersten Satz, in dem sie direktes Objekt sind: 1 Les amoureux 〈…〉 et les savants 〈…〉 2 Aiment 〈…〉 3 Les chats [›Die Verliebten 〈…〉 und die Gelehrten 〈…〉 lieben 〈…〉 die Katzen‹]. Nicht nur das Wort »chats« kommt im Laufe des Gedichts nicht wieder vor, auch der Anfangszischlaut /ʃ/ erscheint nur noch in einem einzigen Wort: 6 /il ʃerʃə/. Er bezeichnet, hier zudem verdoppelt, die charakteristische Aktivität von Katzen. Dieser stimmlose *Zischlaut, der mit dem Namen der Titelfiguren des Sonetts verbunden ist, wird in der Folge sorgfältig vermieden. Vom dritten Vers an werden die Katzen zu einem impliziten Subjekt, das auch das letzte belebte Subjekt im Sonett ist. Das Substantiv chats wird in den Rollen des Subjekts, des Objekts und der adnominalen Ergänzung durch anaphorische Pronomina ersetzt: 6,8,9 ils, 7 les, 8,12,14 leur(s), und die *substantivischen Pronomina ils und les beziehen sich ausschließlich auf die Katzen. Diese (adverbalen) Ersatzformen treten nur in den beiden inneren Strophen, im zweiten Quartett und im ersten Terzett, auf. Im Anfangsquartett entspricht ihnen die autonome Form 4 eux (zweimal), die sich im Sonett nur auf menschliche Wesen bezieht. Das letzte Terzett enthält überhaupt kein substantivisches Pronomen. Die beiden Subjekte des Anfangssatzes haben zusammen ein einziges Prädikat und ein einziges Objekt; so finden auch 1 Les amoureux fervents et les savants auste`res [›die Verliebten (die) glühenden und die Gelehrten (die) gestrengen‹] schließlich 2 dans leur muˆre saison [›in ihrem reifen Lebensalter‹] ihre Identität in einem Zwischenwesen, einem Lebewesen, das die gegensätzlichen Züge der beiden zwar menschlichen, aber entgegengesetzten Seinsarten umfaßt. Die beiden Kategorien des Menschlichen stehen einander gegenüber als sinnlich /geistig; und ihre Vermittlung geschieht durch die Katzen.41 Die Rolle des Subjekts wird hier schon implizit von den Katzen übernommen, die zugleich Gelehrte und Liebende sind. Die beiden Quartette stellen die Figur der Katze objektiv vor, während die beiden Terzette deren Transfiguration bewirken. Jedoch unterscheidet sich das zweite Quartett fundamental vom ersten und überhaupt von allen anderen Strophen. Die *äquivoke Formulierung 6 Ils cherchent le silence et l’horreur des te´ne`bres [›sie suchen die Stille und das Grauen der 41 Die Vermittlung zwischen grundlegenden Antinomien einer Weltanschauung oder einer Gesellschaft ist Le´vi-Strauss zufolge die Aufgabe des Mythos. Insofern könnten die Katzen des Gedichts wie eine mythische Figur zwischen der Sinnlichkeit /Körperlichkeit und der Geistigkeit des Menschen vermitteln. [Anm. d. Komm.]
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Finsternis‹] gibt Anlaß zu einem Trugschluß, den der siebente Vers hervorruft und den der darauffolgende entlarvt. Der Ausnahmecharakter dieses Quartetts, vor allem die Eigentümlichkeit der zweiten Strophenhälfte (insbesondere des siebenten Verses), wird unterstrichen durch die besonderen Züge seiner grammatischen und lautlichen Textur. Die semantische Affinität zwischen 7 L’E´re`be (»finsteres, an die Hölle grenzendes Gebiet«, metonymisches Substitut für die »Mächte der Finsternis« und besonders für Erebos, den »Bruder der Nacht«) und dem Hang der Katzen zur ›grauenvollen Finsternis‹ (6 horreur des te´ne`bres), verstärkt durch die lautliche Ähnlichkeit von /tenebrə/ [›Finsternis‹] und /erebə/ [›Erebos‹], hat die Katzen, die Helden des Gedichts, schon fast mit dem schauerlichen Geschäft der coursiers fune`bres [›Paraderosse des Leichenzugs‹] in Verbindung gebracht. Handelt es sich bei der Unterstellung 7 L’E´re`be les euˆt pris pour ses coursiers [›der Erebos hätte sie für seinen Leichenzug genommen‹] um ein enttäuschtes Verlangen oder um eine Verwechslung? Die Bedeutung dieser Passage, nach der die Kritiker oft gefragt haben,42 bleibt mit Absicht offen. Jede der vier Strophen sucht den Katzen eine neue Identifikation zuzuweisen. Wenn aber das erste Quartett die Katzen mit zwei Typen der Menschengattung in Verbindung gebracht hat, vermögen sie kraft ihres Stolzes die im zweiten Quartett angestrebte neue Identifikation von sich zu weisen, die sie an eine Tiergattung binden will: die Rosse in einem mythologischen Rahmen. Innerhalb des ganzen Gedichtes ist dies die einzige Gleichsetzung, die zurückgewiesen wird. Die grammatische Komposition dieser Passage, die sich deutlich von der der anderen Strophen abhebt, verrät ihren ungewöhnlichen Charakter: irrealer Modus, Fehlen von qualifizierenden Epitheta, ein unbelebtes Subjekt im Singular,43 das ohne jedes determinierende Element bleibt und ein belebtes Objekt im Plural regiert. Aufeinander anspielende Oxymora verbinden die Strophen. 8 S’ils pouvaient au servage incliner leur fierte´ [›Wenn sie könnten zur Knechtschaft beugen ihren Stolz‹] – aber sie ›können‹ (peuvent) es nicht, denn sie 42 Vgl. L’Interme´diaire des chercheurs et curieux LXVII, Sp. 388 u. 509. [Anm. v. R.J. / C.L.-S.] – Hierbei handelt es sich um ein Periodikum, das von 1864 bis 1940 in gedruckter Form erschien und in Form von Mitteilungen Wissenswertes aus allen Lebensbereichen bot. Der Untertitel der Zeitschrift lautete: Mensuel de questions et re´ponses historiques, litte´raires, artistiques et toutes autres curiosite´s. Heute gibt es eine Version des Interme´diaire des chercheurs in elektronischer Form. [Anm. d. Komm.] 43 Erneut ist darauf hinzuweisen, daß die Personifikations-Allegorie ein Verfahren ist, welches einer unbelebten Wesenheit Merkmale der Belebtheit verleiht. [Anm. d. Komm.]
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sind die wahrhaft Mächtigen (3 puissants). Sie können nicht passiv genommen (7 pris) werden, um eine aktive Rolle zu spielen; vielmehr nehmen (9 prennent) sie selbst aktiv eine passive Rolle ein, denn sie verharren in ihrer ›Seßhaftigkeit‹ (se´dentaires). ›Ihr Stolz‹ (8 leur fierte´ ) prädestiniert sie für ›edle Haltungen der großen Sphinxe‹ (9 nobles attitudes 10 Des grands sphinx).44 Die ›ausgestreckten Sphinxe‹ (10 sphinx allonge´s) und die Katzen, die sie ›nachsinnend‹ (9 en songeant) nachzuahmen suchen, werden zusammengehalten durch ein *paronomastisches Band zwischen den zwei Partizipien, den einzigen partizipialen Formen im Sonett: /a˜sõz˜a˜/ [= 9 en songeant] und /alõz˜e/ [= 10 allonge ´s].45 Die Katzen scheinen sich mit den Sphinxen zu identifizieren, die ihrerseits ›einzuschlafen scheinen‹ (11 semblent s’endormir); doch der illusorische Vergleich, der die Katzen in ihrer Seßhaftigkeit (und implizit alle 4 comme eux [›wie sie‹]) an die Reglosigkeit übernatürlicher Wesen angleicht, bekommt den Wert einer Metamorphose. Die Katzen und die menschlichen Wesen, die ihnen gleichgesetzt werden, vermischen sich in den Fabelwesen mit Menschenkopf und Tierleib. So findet sich die zurückgewiesene Identifikation schließlich durch eine neue, gleichfalls mythologische Identifikation ersetzt. ›Nachsinnend‹ (9 en songeant) gelingt es den Katzen, sich mit den ›großen Sphinxen‹ (10 Des grands sphinx) zu identifizieren; die Metamorphose wird bekräftigt durch eine Kette von Paronomasien, die mit diesen 44 Wichtig ist, daß Baudelaires Sprachgebrauch ganz bewußt eine Unbestimmtheit bezüglich der Frage erzeugt, ob es sich bei den ›Sphinxen‹ um als wirklich imaginierte Fabeltiere oder von vornherein (bei Baudelaire sehr viel wahrscheinlicher!) um die in Stein gehauenen Statuen handelt, die sich in der ägyptischen Wüste, etwa im Umkreis der Pyramiden von Gizeh, finden. Auch im siebten Kapitel von Gustave Flauberts Lesedrama La Tentation de saint Antoine [›Die Versuchung des heiligen Antonius‹] (1874) begegnen dem Protagonisten in einer seiner Visionen zwei Fabeltiere, die Chimäre und die Sphinx: Während die Chimäre dort die romantische Imagination verkörpert, repräsentiert die Sphinx den ennui [›Langeweile, Lebensekel, Schwermut‹]. Über die Angleichung an die Sphinxe werden die Katzen bei Baudelaire offenkundig selbst zu Emblem-Tieren des ennui. [Anm. d. Komm.] 45 Auch wenn der Hinweis pedantisch erscheint: Bei en songeant [›nachsinnend‹] handelt es sich um ein Gerundium, das sogenannte ge´rondif, bei allonge´s [›hingestreckt‹] hingegen in der Tat um ein Partizip Perfekt, das sogenannte participe du passe´. Das Gerundium muß sich, das Partizip kann sich auf das Subjekt des zugehörigen (Teil-)Satzes beziehen. Subjekt des ›Nachsinnens‹ (ge´rondif ) sind die Katzen, Bezugs-Substantiv zum ›Hingestreckt-Liegen‹ (participe du passe´ ) sind hingegen die Sphinxe, die grammatisch den Status eines Genitiv-Attributs (9 Des grands sphinx) zu les nobles attitudes besitzen [›die edlen Haltungen der großen Sphinxe‹]. [Anm. d. Komm.]
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Schlüsselwörtern verbunden sind und die nasalisierte Vokale mit *dentalen und *labialen *Frikativen kombinieren: 9 en songeant /a˜sõ../ – 10 grands sphinx /…a˜sfi../ – 10 fond /fo˜/ – 11 semblent /sa˜…/ – 11 s’endormir /sa˜……/ ˜ / – 11 sans fin /sa˜fi/. Der scharfe Nasal /i/ und die – 11 dans un /.a˜zœ anderen Phoneme in dem Wort 10 sphinx /sfiks/ setzen sich im zweiten Terzett fort: 12 reins /.i/ – 12 pleins /..i/ – 12 ´etincelles /..is…/ – 13 ainsi /is/ ˜ s…/. – 13 qu’un sable //kœ Im ersten Quartett hieß es: 3 Les chats puissants et doux, orgueil de la maison [›Die Katzen (die) kraftvollen und sanften, Stolz des Hauses‹]. Bedeutet dies, daß die Katzen, stolz auf ihre Behausung, die Inkarnation dieses Stolzes sind; oder ist vielmehr das Haus stolz auf seine Katzenbewohner und legt, wie der Erebos, Wert darauf, sie zu zähmen? Wie dem auch sei, das ›Haus‹ (3 maison), das die Katzen im ersten Quartett umgrenzt, verwandelt sich in eine geräumige Wüste (10 fond des solitudes); und die Furcht vor der Kälte, die die ›fröstelnden‹ Katzen (4 frileux) und die ›glühenden‹ Verliebten (1 fervents) (man beachte die Paronomasie /firva˜/ – /frilø/) einander annähert, findet ein geeignetes Klima in der (nach Art der Gelehrten) gestrengen Abgeschiedenheit der (nach dem Muster der glühend Liebenden) sengenden Wüste, die die Sphinxe umgibt. Auf der zeitlichen Ebene hat 2 muˆre saison [›reifes Lebensalter‹], das im ersten Quartett auf 3 la maison [›das Haus‹] reimte und sich diesem in seiner Bedeutung näherte, im ersten Terzett ein klares Gegenstück gefunden: diese beiden sichtlich parallelen Gruppen (2 dans leur muˆre saison [›in ihrem reifen Lebensalter‹] und 11 dans un reˆve sans fin [›in einem endlosen Traum‹]) stehen zueinander in Opposition, wobei die eine auf die Zeitlichkeit, die andere auf die Ewigkeit anspielt. Sonst gibt es in dem Sonett keine weiteren Konstruktionen mit dans [›in‹], auch keine mit einer anderen adverbalen Präposition. Das Wunder der Katzen beherrscht die beiden Terzette. Die Metamorphose entfaltet sich bis zum Schluß des Sonetts. Schwankte im ersten Terzett das Bild der in der Wüste ausgestreckten Sphinxe schon zwischen der Kreatur und ihrem Trugbild, so verschwinden im folgenden Terzett die Lebewesen hinter Materiepartikeln. Die *Synekdochen ersetzen die Katzen-Sphinxe durch ihre Körperteile: 12 leurs reins, [›ihre Lenden‹], 14 leurs prunelles [›ihre Pupillen‹]. Das implizite Subjekt der inneren Strophen wird im zweiten Terzett wieder zur Ergänzung: die Katzen erscheinen zunächst als implizite 46 Ergänzung des Subjekts – 12 leurs reins fe´conds sont pleins [›ihre Lenden (die) fruchtbaren sind voll‹] –, dann im letzten 46 D. h. als Referent des Pronomens leurs. [Anm. d. Komm.]
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Satz des Gedichts nur noch als implizite Ergänzung des Objekts: ´ toilent vaguement leurs prunelles [›besternen unbestimmt ihre Pupil14 E len‹]. Die Katzen sind also an das Objekt des transitiven Verbs im letzten Satz des Sonetts gebunden und an das Subjekt im vorletzten, einem Attributsatz. Dadurch entsteht eine doppelte Entsprechung: einmal in Bezug auf die Katzen, die direktes Objekt im ersten Teilsatz des Sonetts sind, zum andern in Bezug auf die Katzen, die Subjekt des – gleichfalls attributiven – zweiten Teilsatzes sind. Gehörten am Anfang des Sonetts Subjekt und Objekt gleichermaßen zur Klasse des Belebten, so fallen im letzten Satz beide in die Klasse des Unbelebten. Generell sind alle Substantive des letzten Terzetts *Konkreta dieser Klasse: 12 reins [›Lenden‹], 12 ´etincelles [›Funken‹], 13 parcelles [›Partikelchen‹], 13 or [›Gold‹], 13 sable [›Sand‹], 14 prunelles [›Pupillen‹]. Dagegen waren in den vorhergehenden Strophen alle unbelebten Appellativa – ausgenommen die adnominal gebrauchten – *Abstrakta: 2 saison [›Lebensalter‹], 3 orgueil [›Stolz‹], 6 silence [›Stille‹], 6 horreur [›Grauen‹], 8 servage [›Knechtschaft‹], 8 fierte´ [›Stolz‹], 9 attitudes [›Haltungen‹], 11 reˆve [›Traum‹]. Die Unbelebtheit und das feminine Geschlecht, die dem Subjekt und dem Objekt des Schluß-Satzes gemeinsam sind – 13–14 des parcelles d’or 〈…〉 E´toilent 〈…〉 leurs prunelles [›Partikelchen von Gold 〈…〉 besternen 〈…〉 ihre Pupillen‹] –, wiegen die Belebtheit und das maskuline Geschlecht von Subjekt und Objekt des Anfangssatzes auf – 1–3 Les amoureux 〈…〉 et les savants 〈…〉 Aiment 〈…〉 Les chats [›Die Verliebten 〈…〉 und die Gelehrten 〈…〉 lieben 〈…〉 die Katzen‹]. Im ganzen Sonett ist das einzige feminine Subjekt 13 parcelles [›Partikelchen‹], und es kontrastiert mit dem Maskulinum am Ende desselben Verses, 13 sable fin; [›feiner Sand‹], das seinerseits das einzige Maskulinum unter den männlichen Reimen des Sonetts ist. Im letzten Terzett nehmen die letzten Materieteilchen abwechselnd den Platz des Objekts und des Subjekts ein. Diese weißglühenden Partikelchen sind es, die in einer neuen Identifikation, der letzten des Sonetts, mit ›feinem Sand‹ (13 sable fin) in Beziehung gesetzt und in Sterne verwandelt werden. Der bemerkenswerte Reim, der die beiden Terzette verbindet (11 fin [›Ende‹] und 13 fin [›fein‹]), ist der einzige *homonyme Reim im Sonett und der einzige männliche Reim aus verschiedenen Wortarten. Zwischen den beiden Reimwörtern besteht eine gewisse syntaktische *Symmetrie, da beide am Schluß eines Nebensatzes stehen, wobei der eine vollständig, der andere elliptisch ist. Die Entsprechung beschränkt sich durchaus nicht auf die letzte Silbe des Verses, sondern verbindet die gesamten
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Zeilen: 11 /sa˜blə sa˜dɔrmir da˜zœ˜ revə sa˜ fi / – 13 /pars elə dɔr isi kœ˜ sablə fi/. Nicht zufällig wird gerade in diesem Reim, der die beiden Terzette verbindet, der ›feine Sand‹ (13 sable fin) genannt und damit das Motiv der Wüste wieder aufgenommen, in die das erste Terzett ›den endlosen Traum‹ (11 reˆve sans fin) der großen Sphinxe verlegt hatte. ›Das Haus‹ (3 La maison), in das die Katzen des ersten Quartetts eingeschlossen sind, wird im ersten Terzett niedergerissen, wo die Einsamkeit der Wüste als regelrechtes Gegenbild zum Haus der KatzenSphinxe herrscht. Dieses »Nicht-Haus« wiederum weicht der kosmischen Vielzahl der Katzen (die, wie alle Figuren des Sonetts, als Pluralia tantum behandelt werden). Sie werden, wenn man so sagen darf, zum Haus des Nicht-Hauses, da sie in ihren Pupillen den Wüstensand und das Sternenlicht bergen. Der Epilog nimmt das Anfangsthema der in den ›kraftvollen und sanften Katzen‹ (3 Les chats puissants et doux) vereinten Liebenden und Gelehrten wieder auf. Der erste Vers des zweiten Terzetts scheint eine Antwort auf den ersten Vers des zweiten Quartetts zu geben. Die Katzen sind die ›Freunde der Wollust‹ (5 Amis 〈…〉 de la volupte´ ), ›ihre fruchtbaren Lenden sind gefüllt‹ (12 Leurs reins fe´conds sont pleins). Man könnte annehmen, daß die Fortpflanzungsfähigkeit gemeint ist, doch das Œuvre Baudelaires findet gern ambivalente Lösungen. Handelt es sich um die Kraft der Lenden oder um elektrische Funken im Fell des Tieres? Wie dem auch sei, ihnen wird eine magische Kraft zuerkannt. Aber es waren gleichfalls zwei koordinierte Ergänzungen, die das zweite Quartett eröffneten: 5 Amis de la science et de la volupte´ [›Freunde der (Natur-)Wissenschaft und der Wollust‹]; entsprechend bezieht das Schlußterzett sich nicht nur auf die ›glühend Verliebten‹ (1 amoureux fervents), sondern gleichermaßen auf die ›gestrengen Gelehrten‹ (1 savants auste`res). Im letzten Terzett reimen die Suffixe, um damit die enge semantische Beziehung hervorzuheben – einerseits zwischen 12 ´etincelles [›Funken‹], 13 parcelles d’or [›Partikelchen von Gold‹] und 14 prunelles [›Pupillen‹] der Katzen-Sphinxe und andererseits zwischen 12 ´etincelles magiques [›Funken magischen‹], die von dem Tier ausstrahlen, und 14 prunelles mystiques [›Pupillen mystischen‹], die von einem inneren Licht erleuchtet werden und für einen verborgenen Sinn offen sind. Wie um die *Äquivalenz der *Morpheme bloßzulegen,47 hat dieser Reim als einziger im 47 Die ›Bloßlegung des Verfahrens‹ (russ. obnazˇenie prie¨ma, französisch üblicherweise mise en ´evidence, hier auch mise a` nu) stellt nach der Theorie der russischen Formalisten einen Grundzug literarischer Rede dar. Hier allerdings wird nicht ein Verfahren, sondern eine sprachliche Struktur bloßgelegt. [Anm. d. Komm.]
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Sonett keinen Stützkonsonanten, und die *Alliteration der anlautenden /m/ verbindet die beiden Adjektive. Die ›grauenvolle Finsternis‹ (6 horreur des te´ne`bres) verfliegt unter diesem zwiefachen Gleißen. Dieses Licht spiegelt sich auf der lautlichen Ebene wieder in der Vorherrschaft der hellen Phoneme im nasalen Vokalismus der Schlußstrophe (6 *Palatale gegenüber 3 *Velaren), während in den vorhergehenden Strophen die Velare zahlenmäßig stark überwogen (9 gegen 0 im ersten, 2 gegen 1 im zweiten Quartett, 10 gegen 3 im ersten Terzett). Mit dem Übergewicht der Synekdochen am Schluß des Sonetts, die einerseits die Teile für das Ganze des Tiers setzen, andererseits das Ganze des Universums für dieses Tier, das ein Teil von ihm ist, scheinen die Bilder sich absichtlich im Ungenauen zu verlieren. Der bestimmte Artikel weicht dem unbestimmten, und der Ausdruck, den der Dichter seiner Verbmetapher gibt – 14 E´toilent vaguement [›besternen undeutlich‹] –, spiegelt die Poetik dieses Epilogs. Die Übereinstimmung zwischen den Terzetten und den entsprechenden Quartetten (horizontaler Parallelismus) ist erstaunlich. Antwortet das erste Terzett auf die im ersten Quartett eng gezogenen Grenzen von Raum (3 maison [›Haus‹]) und Zeit (2 muˆre saison [›reifes Lebensalter‹]), indem es diese Grenzen entfernt oder aufhebt (10 fond des solitudes [›Tiefe der Einsamkeit‹], 11 reˆve sans fin [›Traum ohne Ende‹]), so triumphiert im zweiten Terzett die Magie des von den Katzen ausgestrahlten Lichts über die 6 horreur des te´ne`bres [›Grauen der Finsternis‹], aus der das zweite Quartett beinahe trügerische Schlüsse gezogen hätte. Wir wollen nun die Stücke unserer Analyse zusammensetzen und aufzeigen, wie die verschiedenen Ebenen, die wir untersucht haben, sich dekken, ergänzen und miteinander verbunden sind, und damit dem Gedicht den Charakter eines absoluten Objekts 48 geben. 48 Zu diesem hier ganz rätselhaften Begriff heißt es in Le´vi-Strauss’ Aufsatz »Die Struktur der Mythen«: »Diese doppelte, zugleich historische und ahistorische Struktur erklärt, daß der Mythos sowohl in das Gebiet der Rede gehört (und als solcher analysiert werden kann) wie in das der Sprache (in der er formuliert wird) und dennoch auf einer dritten Ebene denselben Charakter eines absoluten Objekts aufweist.« (Strukturale Anthropologie [I], S. 230.) Im französischen Original heißt es: »Cette double structure, a` la fois historique et anhistorique, explique que le mythe puisse simultane´ment relever du domaine de la parole (et eˆtre analyse´ en tant que tel) et de celui de la langue (dans laquelle il est formule´) tout en offrant, a` un troisie`me niveau, le meˆme caracte`re d’objet absolu.« (Anthropologie structurale [I], S. 231.) [Anm. d. Komm.]
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Zunächst die Gliederung des Textes. Deutlich lassen sich mehrere Gliederungen unterscheiden, sowohl hinsichtlich der Grammatik als auch hinsichtlich der semantischen Beziehungen zwischen den verschiedenen Teilen des Gedichts. Wir haben bereits festgestellt, daß die drei Teile, die jeweils mit einem Punkt geschlossen werden, also die beiden Quartette und die Gesamtheit der beiden Terzette, eine erste Gliederung darstellen. Das erste Quartett exponiert in Form eines objektiven und statischen Tableau einen wirklichen oder auch als wirklich angenommenen Sachverhalt. Das zweite Quartett schreibt den Katzen eine Intention zu, die durch die Mächte des Erebos interpretiert wird, und den Mächten des Erebos eine auf die Katzen gerichtete Intention, die aber von diesen zurückgewiesen wird. Diese beiden Abschnitte erfassen also die Katzen von außen: in der Passivität, die die Verliebten und Gelehrten empfinden, bzw. in der Aktivität, die die Mächte der Finsternis ausüben. Diesen Gegensatz nun überwindet der letzte Teil, der den Katzen eine passive Rolle zuerkennt, die sie aktiv übernehmen und die nicht mehr von außen, sondern von innen her interpretiert wird. Eine zweite Gliederung ergibt sich, wenn man die Gruppe der zwei Terzette der Gruppe der zwei Quartette gegenüberstellt. Dabei zeigt sich eine enge Beziehung zwischen dem ersten Quartett und dem ersten Terzett, ebenso zwischen dem zweiten Quartett und dem zweiten Terzett. Denn in der Tat ist folgendes zu beobachten: 1. Die Gruppe der beiden Quartette steht zur Gruppe der beiden Terzette in Opposition, weil letztere den Betrachterstandpunkt (Verliebte, Gelehrte, Macht des Erebos) aufgeben und das Sein der Katzen jenseits aller räumlichen und zeitlichen Grenzen ansiedeln. 2. Das erste Quartett führte diese raum-zeitlichen Grenzen ein (maison [›Haus‹], saison [›Zeitraum‹]); das erste Terzett hebt sie auf (au fond des solitudes [›in der Tiefe der Einsamkeit‹], reˆve sans fin [›Traum ohne Ende‹]). 3. Das zweite Quartett definiert die Katzen durch die ›Finsternis‹, in die sie sich begeben; das zweite Terzett durch das Licht, das sie ausstrahlen (e´tincelles [›Funken‹], ´etoilent [›besternen‹]). Schließlich ist dem Vorausgegangenen noch eine dritte Gliederung hinzuzufügen. Sie faßt, diesmal in einem Chiasmus, einerseits das Anfangsquartett und das Endterzett zusammen, andererseits die inneren Strophen (das zweite Quartett und das erste Terzett): In der ersten Gruppe weisen die Hauptsätze den Katzen die Rolle der Ergänzung zu, während die beiden anderen Strophen ihnen von Beginn an die Rolle des Subjekts zuweisen.
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Diese Phänomene der formalen Distribution haben aber ihre semantische Fundierung.49 Ausgangspunkt des ersten Quartetts ist das nachbarschaftliche Zusammenleben der Katzen mit den Gelehrten oder den Verliebten im selben Haus. Aus dieser *Kontiguität ergibt sich eine doppelte Ähnlichkeit (4 comme eux, comme eux [›wie sie, wie sie‹]).50 Auch im Schlußterzett entwickelt sich eine Kontiguitätsrelation bis zur Ähnlichkeit: während aber im ersten Quartett das metonymische Verhältnis von Katzen und menschlichen Hausbewohnern deren metaphorisches Verhältnis begründet, ist diese Situation im Schlußterzett in gewisser Weise verinnerlicht: die Kontiguitätsrelation ist eher synekdochisch als eigentlich *metonymisch. Die Nennung der Körperteile der Katze (›Lenden‹, ›Pupillen‹) trägt zu einer metaphorischen Evokation der astralen und kosmischen Katze bei, die mit dem Übergang von der Genauigkeit zur Ungenauigkeit (2 ´egalement [›gleichermaßen‹] – 14 vaguement [›undeutlich‹]) zusammenfällt. Die Analogie zwischen den inneren Strophen beruht auf Äquivalenzbeziehungen, wobei die eine (›Katzen‹ und ›Paraderosse des Leichenzugs‹) vom zweiten Quartett zurückgewiesen, die andere (›Katzen‹ und ›Sphinxe‹) vom ersten Terzett angenommen wird. Im ersten Fall führt das zu einer Verweigerung der Kontiguität (zwischen den Katzen und dem Erebos), im zweiten zur Ansiedlung der Katzen ›tief in der Einsamkeit der Wüste‹. Es zeigt sich also, daß dieser Abschnitt, in Umkehrung des vorhergehenden, durch eine Äquivalenzrelation gebildet wird, die sich von der Ähnlichkeit (also einem metaphorischen Mittel) bis hin zu positiven bzw. negativen Kontiguitätsrelationen (also metonymischen Mitteln) steigert. Bisher ist uns das Gedicht als ein Gefüge von Äquivalenzen erschienen, die in ihrer Gesamtheit das Bild eines geschlossenen Systems bieten. Es bleibt ein letzter Gesichtspunkt, unter dem sich das Gedicht als 49 Dieser Satz ist ein Angelpunkt von Jakobsons Sprachdenken, wie Hendrik Birus in seinem Aufsatz über »Hermeneutik und Strukturalismus« gezeigt hat. Zum Begriff der ›Fundierung‹ vgl. das erste der zwei Mottos zu Jakobsons Büchlein Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze (1941): »Alles wahrhaft Einigende sind die Verhältnisse der Fundierung. Husserl« (S. 328). Das Zitat stammt aus Edmund Husserls Logischen Untersuchungen II/1, S. 286. [Anm. d. Komm.] 50 Die Kontiguität (oder Nachbarschaft) ist die Grundlage einer metonymischen, die Ähnlichkeit (oder *Similarität) ist die Grundlage einer metaphorischen Beziehung. Vgl. hierzu Jakobson, »Two Aspects of Language and Two Kinds of Aphasic Disturbances«, bes. S. 254–259; dt. Übs.: »Zwei Seiten der Sprache und zwei Typen aphatischer Störungen«, bes. S. 133–139. Jakobsons Gedanke ist aufgenommen und weiterentwickelt bei Ge´rard Genette, »La rhe´torique restreinte«. [Anm. d. Komm.]
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offenes System 51 darstellt, das dynamisch vom Anfang zum Ende hin fortschreitet. Es sei daran erinnert, daß wir im ersten Teil dieser Arbeit eine Teilung des Gedichts in zwei Sechszeiler herausgearbeitet haben, die getrennt sind durch ein Distichon, dessen Struktur in scharfem *Kontrast zum übrigen Text stand. In unserer Zusammenfassung haben wir diese Teilung vorläufig beiseite gelassen. Im Unterschied zu den anderen scheint sie uns nämlich die Etappen eines Fortschritts zu markieren, und zwar von der Ordnung des Realen (im ersten Sechszeiler) zu der des Surrealen (im zweiten Sechszeiler).52 Dieser Übergang vollzieht sich innerhalb des Distichons, das den Leser für einen kurzen Augenblick und durch die Häufung von semantischen und formalen Verfahren in ein zweifach irreales Universum führt, weil es mit dem ersten Sechszeiler den Charakter der Außenperspektive teilt, zugleich aber die mythologische Resonanz des zweiten Sechszeilers vorwegnimmt: Vers 1 bis 6
Vers 7 und 8
extrinsisch
intrinsisch
empirisch real
Vers 9 bis 14
mythologisch irreal
surreal
Mit diesem plötzlichen Umschwung in der Tonart wie im Thema erfüllt das Distichon eine Funktion, die derjenigen einer Modulation in musikalischen Kompositionen 53 nicht unähnlich ist. 51 Die in den 1950er und 60er Jahren vor allem in der Biologie und Soziologie entwickelte Theorie ›offener Systeme‹ thematisiert die Austauschbeziehungen zwischen System und Umwelt und soll erklären, »wieso Entropie nicht eintritt und wieso Ordnung aufgebaut wird« (Luhmann, Einführung in die Systemtheorie, S. 45; vgl. auch ders., Soziale Systeme, bes. S. 22–29). Zugleich zeigt Jakobsons /Le´vi-Strauss’ Begriffsgebrauch eine konzeptuelle Nähe zur strukturalistischen Kategorie des ›offenen Kunstwerks‹ bei Umberto Eco (vgl. Eco, Opera aperta). [Anm. d. Komm.] 52 Literarhistorisch betrachtet wäre die Semantisierung der Katzen zu altägyptischen Sphinxen vor allem als Reverenz an die Plastik der Antike (wie sie auch schon in der Dichterschule der Parnassiens begegnet) und an die Inhalte einer orientalistisch geprägten Imagination zu deuten. Daß Jakobson und Le´vi-Strauss hier Elemente des ›Surrealen‹ ausmachen wollen, zeigt, wie stark das Paradigma surrealistischer Ästhetik noch zur Mitte des 20. Jahrhunderts im französischen Kulturraum zu wirken vermochte. [Anm. d. Komm.] 53 Unter Modulation versteht man in der klassischen Harmonielehre den Übergang von einer Tonart in die andere. Jakobson /Le´vi-Strauss gebrauchen den Begriff hingegen metaphorisch und meinen damit offenbar den Übergang von einem semantischen Register zu einem anderen. [Anm. d. Komm.]
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Ziel dieser Modulation ist es, den Gegensatz aufzulösen, der implizit oder explizit seit Beginn des Gedichts zwischen metaphorischem und metonymischem Verfahren besteht.54 Die Lösung, die der zweite Sechszeiler bringt, besteht darin, diesen Gegensatz in das Innere der Metonymie zu überführen, was allein mit metaphorischen Mitteln erreicht wird. In der Tat stellt jedes der beiden Terzette die Katzen in umgekehrter Weise dar. Im ersten Terzett sind die ursprünglich im Haus eingeschlossenen Katzen, wenn man so sagen darf, ausgeströmt, um sich räumlich und zeitlich in unbegrenzten Wüsten und im endlosen Traum zu entfalten. Die Bewegung geht von innen nach außen, von den eingeschlossenen Katzen zu den Katzen in Freiheit. Die Aufhebung der Grenzen ist im zweiten Terzett durch die Katzen, die kosmische Proportionen erreichen, verinnerlicht, da sie in gewissen Teilen ihres Körpers (in den Lenden und den Pupillen) den Wüstensand und die Sterne des Himmels bewahren. In beiden Fällen vollzieht sich die Transformation mit Hilfe metaphorischer Verfahren. Doch sind die beiden Transformationen nicht ganz gleichgewichtig: Die erste enthält noch etwas Scheinhaftes (prennent 〈…〉 les 〈…〉 attitudes 〈…〉 qui semblent s’endormir [›sie nehmen 〈…〉 die 〈…〉 Haltungen ein 〈…〉 die einzuschlafen scheinen‹]) und Traumhaftes (en songeant 〈…〉 dans un reˆve [›nachsinnend 〈…〉 in einem Traum‹]), während die zweite den Vorgang durch ihren affirmativen Charakter wirklich abschließt (sont pleins 〈…〉 E´toilent [›sind voller 〈…〉 sie besternen‹]). In der ersten schließen die Katzen ihre Augen, um einzuschlafen, in der zweiten halten sie sie offen. Indes, die weitläufigen Metaphern des abschließenden Sechszeilers übersetzen lediglich einen Gegensatz, der implizit schon im ersten Vers des Sonetts formuliert war, in die Dimensionen des Universums. Die »Verliebten« und die »Gelehrten« sind zwei Begriffe, deren Inhalte sich als verengende oder erweiternde Beziehung herausstellen: Der liebende Mann ist mit der Frau vereint wie auch der Gelehrte mit dem Universum; das sind jedoch zwei Arten von Vereinigung, eine nahe und eine ferne.55 54 In La pense´e sauvage (S. 141; dt. Übs.: Das wilde Denken, S. 127) nennt es Le´viStrauss eine »loi de la pense´e mythique que la transformation d’une me´taphore s’ache`ve dans une me´tonymie« [›Gesetz des mythischen Denkens […], daß die Transformation einer Metapher in einer Metonymie endet‹]. [Anm. d. Komm.] 55 E´. Benveniste, der freundlicherweise das Manuskript dieser Studie gelesen hat, machte uns darauf aufmerksam, daß auch muˆre saison [›reifes Lebensalter‹] die Funktion eines verbindenden Gliedes zwischen les amoureux fervents [›glühend Verliebten‹] und les savants auste`res [›gestrengen Gelehrten‹] hat: Denn wirklich kommen diese sich in der Zeit ihrer Reife nahe, wenn sie sich ›gleichermaßen‹ (e´galement) mit den Katzen identifizieren. Denn, so fährt Benveniste fort, bis in ›die Zeit der Reife‹ ›glühend
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Dieselbe Beziehung evozieren die abschließenden Transfigurationen 56: Ausdehnung der Katzen in Raum und Zeit, Verdichtung von Raum und Zeit in der Figur der Katzen. Doch auch hier ist, wie wir bereits angemerkt haben, die Symmetrie zwischen den beiden Formeln nicht vollkommen. Die letztere vereinigt sämtliche Gegensätze: Die fruchtbaren Lenden erinnern an die ›Wollust‹ (volupte´ ) der Verliebten, wie die Pupillen an die ›Wissenschaft‹ (science) der Gelehrten; die ›Zauberfunken‹ (magiques) beziehen sich auf die glühende Aktivität der einen, die ›geheimnisvollen Pupillen‹ (mystiques) auf die beschauliche Haltung der anderen. Zwei Bemerkungen zum Schluß: Die Tatsache, daß alle grammatischen Subjekte des Sonetts (außer dem Eigennamen Erebos) im Plural stehen und daß alle weiblichen Reime aus Pluralformen gebildet sind, wird interessanterweise (wie übrigens das ganze Sonett) durch einige Passagen aus dem Prosagedicht Les Foules [›Die Menge‹] erhellt: Menge, Einsamkeit: gleichwertige und austauschbare Begriffe für den aktiven und fruchtbaren Dichter 〈…〉. Der Dichter genießt das unvergleichliche Privileg, daß er auf seine Weise er selbst und ein anderer sein kann 〈…〉. Was die Verliebte‹ zu bleiben, bedeutet schon, daß man außerhalb des gewöhnlichen Lebens steht, genauso wie die ›gestrengen Gelehrten‹ durch ihre Berufung außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehen: Die Eingangssituation des Sonetts ist die eines Lebens außerhalb der gesellschaftlichen Welt (trotzdem wird das Leben in der Unterwelt abgelehnt), und sie bewegt sich, auf die Katzen übertragen, von der fröstelnden Zurückgezogenheit auf die große sternklare Abgeschiedenheit zu, in der Wissenschaft und Wollust ein Traum ohne Ende sind. – Zur Stützung dieser Beobachtungen, für die wir dem Urheber danken, können einige Wendungen aus einem anderen Gedicht der Fleurs du Mal zitiert werden: »le savant amour 〈…〉 fruit d’automne aux saveurs souveraines« [›Die gelehrte Liebe 〈…〉 die Frucht des Herbstes von unübertrefflichem Geschmack‹] (L’Amour du mensonge, Les Fleurs du mal, Nr. XCVIII [Œuvres comple`tes I, S. 98 f.; vgl. Sämtliche Werke /Briefe, Bd. 3, S. 257/259]). 56 Der Begriff der »Transfiguration« erinnert in theologischer Betrachtungsweise an die Begebenheit von der ›Verklärung‹ Christi (lat. transfiguratio, griech. metamorpho¯sis), über die bei Matthäus 17,1–9 sowie an den Parallelstellen berichtet wird und die insbesondere für die Hesychasten der Ostkirche von großer Bedeutung ist. So stellt auch die Metamorphosis ein bedeutendes Motiv der Ikonenmalerei dar; im Westen berühmter ist hingegen die Darstellung durch Raffael in seinem letzten Gemälde geworden. Nicht minder wichtig – und für Jakobson vermutlich wichtiger – ist es, daß der Begriff auch auf Verwandlungssagen wie etwa Ovids Metamorphosen anspielt. Explizit oder implizit wird dann ab der Romantik die »Transfiguration« oder ›Verklärung‹ einer allzu schnöden Wirklichkeit im Medium der Dichtkunst auch als eine wesentliche Aufgabe der Literatur angesehen, etwa im sog. »Poetischen Realismus«, aber auch in Baudelaires programmatischem Streben nach dem surnaturel. [Anm. d. Komm.]
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Menschen Liebe nennen, ist recht klein, recht beschränkt und recht schwach, verglichen mit jener unaussprechlichen Orgie, mit jener heiligen Hurerei der Seele, die sich in einem Anflug von Poesie und Nächstenliebe ganz hingibt dem Unerwarteten, der sich zeigt, dem Unbekannten, der vorübergeht.57
In Baudelaires Sonett werden die Katzen anfangs als puissants et doux [›kraftvoll und sanft‹] qualifiziert, und der letzte Vers bringt ihre Pupillen mit den Sternen in Verbindung. Cre´pet und Blin verweisen auf einen Vers von Sainte-Beuve: »〈…〉 l’astre puissant et doux« [›〈…〉 das kraftvolle und sanfte Gestirn‹] (1829) und finden dieselben Epitheta in einem Gedicht von Brizeux (1832), in dem die Frauen folgendermaßen apostrophiert werden: »Eˆtres deux fois doue´s! Eˆtres puissants et doux!« [›Zwiefach begabte Wesen! Wesen, kraftvolle und sanfte!‹].58 Das würde, falls überhaupt noch nötig, bestätigen, daß für Baudelaire das Bild der Katze eng an das Bild der Frau gebunden ist. Das machen übrigens die beiden Le Chat betitelten Gedichte derselben Sammlung deutlich, nämlich das Sonett Viens, mon beau chat, sur mon cœur amoureux [›Komm, meine schöne Katze, an mein verliebtes Herz‹] (das den aufschlußreichen Vers enthält: »Je vois ma femme en esprit 〈…〉« [›Ich sehe meine Frau im Geiste 〈…〉‹]) 59 und das Gedicht Dans ma cervelle se prome`ne 〈…〉 Un beau chat, fort, doux 〈…〉 [›In meinem Hirn spaziert umher 〈…〉 eine schöne Katze, stark, sanft‹], (das geradezu die Frage stellt: »est-il fe´e, est-il dieu?« [›ist sie (die Katze) Fee, ist sie ein Gott?‹]).60 Dieses Motiv des Schwankens zwischen männlich und weiblich findet sich unterschwellig auch in Les Chats, wo es hinter beabsichtigten Am57 »Multitude, solitude: termes e´gaux et convertibles pour le poe`te actif et fe´cond. 〈…〉 Le poe`te jouit de cet incomparable privile`ge, qu’il peut a` sa guise eˆtre lui-meˆme et autrui. 〈…〉. Ce que les hommes nomment amour est bien petit, bien restreint et bien faible, compare´ a` cette ineffable orgie, a` cette sainte prostitution de l’aˆme qui se donne tout entie`re, poe´sie et charite´, a` l’impre´vu qui se montre, a` l’inconnu qui passe.« (Baudelaire, Petits Poe¨mes en prose, Nr. XII [Œuvres, Bd. I, S. 291; vgl. Sämtliche Werke /Briefe, Bd. 8, S. 149/151].) 58 Charles-Augustin Sainte-Beuve (1804–1869) war ein im literarischen Leben einflußreicher Dichter, Romanschreiber und vor allem Literaturkritiker, gegen dessen konservative Vorstellungen nachfolgende Literatengenerationen polemisierten, nicht zuletzt Marcel Proust in seiner Schrift Contre Sainte-Beuve. Julien Pe´lage Auguste Brizeux (1806–1858) war ein Dichter aus dem Umkreis von Sainte-Beuve, der sowohl in französischer als auch in bretonischer Sprache veröffentlichte. [Anm. d. Komm.] 59 Baudelaire, Les Fleurs du mal, Nr. XXXIV] (Œuvres comple`tes I, S. 35; Sämtliche Werke /Briefe, Bd. 3, S. 119/121). [Anm. d. Komm.] 60 A. a. O., Nr. LI (Œuvres comple`tes I, S. 50 f.; Sämtliche Werke /Briefe, Bd. 3, S. 151– 155). [Anm. d. Komm.]
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biguitäten erkennbar wird (Les amoureux 〈…〉 Aiment 〈…〉 Les chats puissants et doux 〈…〉; Leurs reins fe´conds 〈…〉 [›Die Verliebten 〈…〉 sie lieben 〈…〉 die Katzen, die mächtigen und sanften 〈…〉; ihre fruchtbaren Lenden 〈…〉‹]). Michel Butor sagt zu Recht, daß bei Baudelaire »die beiden Aspekte; Weiblichkeit und Übermännlichkeit keineswegs einander ausschließen, sondern miteinander in Zusammenhang stehen«.61 Alle Figuren des Sonetts sind maskulinen Geschlechts, nur les chats [›die Katzen‹] und ihr Alter ego, les grands sphinx [›die großen Sphinxen‹], haben Anteil an einer androgynen Natur.62 Dieselbe Ambiguität wird im ganzen Sonett durch die paradoxe Wahl von femininen Substantiven für die sogenannten männlichen Reime unterstrichen.63 Von der Anfangskonstellation des Gedichts an, die durch die Verliebten und die Gelehrten 61 »〈…〉 ces deux aspects: fe´minite´, supervirilite´, bien loin de s’exclure, se lient« (Butor, Histoire extraordinaire: Essai sur un reˆve de Baudelaire, S. 85). [Anm. v. R.J. / C.L.-S.] – Dt. Übs.: Butor, Ungewöhnliche Geschichte. Versuch über einen Traum von Baudelaire, S. 53. [Anm. d. Komm.] 62 In der Tat wird im Französischen le chat unterschiedslos für ›Katze‹ und ›Kater‹ gebraucht. Nur wo absolute Eindeutigkeit erstrebt wird, verwendet man für das Weibchen den Begriff la chatte. Das französische Substantiv sphinx ist seinem grammatischen Geschlecht nach immer männlich. In der Archäologie wird zwar üblicherweise die weibliche Sphinx der Griechen, die dem Ödipus am Stadttor von Theben das Rätsel stellt, vom männlichen Sphinx der Ägypter unterschieden; dies gilt aber nicht in gleichem Maße für das Imaginarium der Literaten. Die Suggestionskraft des Sonetts »Les Chats« scheint doch vor allem darin zu bestehen, daß die ›Katzen‹ für den (männlichen) Verliebten, Gelehrten (und Dichter) ein (hauptsächlich weiblich belehntes) Objekt, wo nicht perverses Surrogat, erotischer Faszination sind. So deuten denn auch die reins fe´conds [›fruchtbare Lenden‹ im Sinn eines ›fruchtbaren Schoßes‹] stärker auf die Paarungsbereitschaft einer läufigen Katze denn auf die Eskapaden eines brünstigen Katers hin. Vgl. hierzu aber die folgende Bemerkung Jakobsons aus dem »Retrospect«: »Die Kritiker, die diese Katzen für Kater halten und denen die Idee der Ambiguität die Vorstellung des Dichters zu überschreiten scheint, stoßen sich an Benvenistes Notiz (siehe oben) mit ihrer scharfsinnigen Bemerkung über das *Oxymoron reins fe´conds [›fruchtbare Lenden‹], bei dem das Substantiv auf die Kraft des Männlichen und das Adjektiv auf die Gabe des Weiblichen anspielt; die Verbindung der Wörter puissants et doux [›mächtig und sanft‹] bildet das Pendant zu diesem Schlußoxymoron.« (»Nachtrag zur Diskussion um die Grammatik der Poesie«, in diesem Band S. 769.) Die Androgynie dürfte demgegenüber eine eher untergeordnete Rolle spielen: Die Katze hat gewisse offensiv-männliche Züge, wie auch umgekehrt der ›glühend Verliebte‹ oder der ›gestrenge Gelehrte‹ ein aggressives Virilitäts-Ideal nicht zu erfüllen vermag. Nirgends kommen Jakobson und Le´vi-Strauss dem gleichsam ›perversen‹ Subtext ihres Textes näher als hier, aber er wird nicht eigentlich Gegenstand ihrer Analyse. [Anm. d. Komm.] 63 In der Broschüre Rime et sexe von L. Rudrauf ist die Darstellung einer »Theorie der Alternanz der männlichen und weiblichen Reime in der französischen Dichtung«
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gebildet wird, erlaubt es die Vermittlung der Katzen, auf die Frau zu verzichten und den »Dichter der Katzen«, der sich von der »recht beschränkten« Liebe freigemacht hat, und das Universum, das sich von der Strenge des Gelehrten befreit hat, von Angesicht zu Angesicht einander gegenüberzustellen, ja miteinander zu verschmelzen. Editorische Notiz Geschrieben in Paris 1961 und erstmals veröffentlicht in L’Homme 2 (1962), S. 5–21.
»gefolgt von einer Kontroverse« mit Maurice Grammont (S. 47 f.). Letzterem zufolge »hat man sich für die Alternanz, die im 16. Jahrhundert festgesetzt wurde und die auf dem Vorhandensein oder Nichtvorhandensein eines unbetonten e am Wortende basierte, der Bezeichnungen ›weibliche‹ und ›männliche‹ Reime bedient, weil das unbetonte e am Ende eines Wortes in den meisten Fällen das Kennzeichen des Femininums war: un petit chat / une petite chatte«. Es ließe sich jedoch besser sagen, daß die spezifische Endung des Femininums, die es vom Maskulinum abhebt, immer das »unbetonte e« enthielt. Rudrauf meldet nun gewisse Zweifel an: »Haben denn allein grammatische Überlegungen die Dichter des 16. Jahrhunderts geleitet, als sie die Regel für diese Alternanz aufstellten und die Epitheta ›männlich‹ und ›weiblich‹ wählten, um die beiden Arten des Reims zu bezeichnen? Vergessen wir nicht, daß die Dichter der Ple´iade ihre Strophen für den Gesang geschrieben haben und daß das Lied den Wechsel von starker (männlicher) und schwacher (weiblicher) Silbe viel mehr hervorhebt als der gesprochene Vortrag. Der musikalische Gesichtspunkt und der des Geschlechts müssen, mehr oder weniger bewußt, neben der grammatischen Analogie eine Rolle gespielt haben 〈…〉« (S. 49). Da ein solcher Reimwechsel, der auf dem Vorhandensein oder Nichtvorhandensein eines unbetonten e am Ende der Verse beruht, nicht mehr in der Realität der heutigen Aussprache vorkommt, sieht Grammont ihn einer Alternanz von Reimen weichen, die auf einen Konsonanten oder auf einen betonten Vokal enden. Wenn Rudrauf auch bereit ist anzuerkennen, daß »alle vokalischen Ausgänge männlich sind« (S. 46), so ist er doch zugleich versucht, eine 24stufige Skala für die konsonantischen Reime aufzustellen, »die von den schroffsten und männlichsten Endsilben bis zu den weiblich anmutigsten geht« (S. 12 f.): Die Reime mit einem stimmlosen *Okklusiv bilden den äußersten männlichen Pol (1°) und die Reime mit einem stimmhaften Frikativ den weiblichen Pol (24°) der genannten Skala. Wendet man diesen Klassifizierungsversuch auf die konsonantischen Reime der Chats an, so läßt sich eine schrittweise Bewegung auf den männlichen Pol hin beobachten, der schließlich den Gegensatz zwischen den beiden Reimarten mildert: 1 auste`res – 4 se´dentaires (Liquida: 19°); 6 te´ne`bres – 7 fune`bres (stimmhafter Okklusiv und Liquida: 15°); 9 attitudes – 10 solitudes (stimmhafter Okklusiv: 13°); 12 magiques – 14 mystiques (stimmloser Okklusiv: 1°).
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Roman Jakobson und Claude Le´vi-Strauss
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»Die Katzen« von Charles Baudelaire
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Roman Jakobson
Das letzte »Spleen«-Gedicht aus Les Fleurs du mal unter dem Mikroskop 1 Übersetzung aus dem Französischen Regine Kuhn
Kommentar Barbara Vinken und Marcus Coelen Jakobson hat dem französischen Dichter Charles Baudelaire (1821–1867) zwei Texte gewidmet. Die erste Arbeit entstand 1961 gemeinsam mit dem Anthropologen Claude Le´vi-Strauss – der gemeinhin als Begründer des humanwissenschaftlichen Strukturalismus gilt – und war dem Gedicht »Les chats« [›Die Katzen‹] gewidmet; die zweite, hier vorliegende Arbeit von 1966 gilt wieder einem einzigen Gedicht, das den Titel »Spleen« (»Quand le ciel bas…«) [›Wenn der Himmel tief…‹] trägt. Beide Gedichte Baudelaires stammen aus dessen Sammlung »Les fleurs du mal« [›Die Blumen des Bösen‹], die in drei textlich leicht voneinander abweichenden Auflagen 1857, 1861 und, nach dem Ableben des Dichters, 1868 erschienen ist. Diese Gedichtsammlung löste aufgrund ›freizügig‹ empfundener Stellen seinerzeit einen literarischen Skandal sowie einen Zensur-Prozeß aus. Jakobson und Le´vi-Strauss machten in ihrer gemeinsamen Arbeit explizit, daß es ihnen darum ging, das von ihnen analysierte Gedicht als »absolutes Objekt« 2 zu erfassen. Dies bedeutete nicht nur, sämtliche Ebenen sprachlicher 1
2
Vorlage: Jakobson, Roman Osipovicˇ, »Une microscopie du dernier ›Spleen‹ dans Les fleurs du mal«, in: SW III, S. 465–481. Erstdruck: Tel Quel 29 (1967), S. 12–24. Die Übersetzung von Regine Kuhn (© 1974 by nymphneburger in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München), die hier zugrunde liegt und an einigen Stellen modifiziert wurde, erschien in: Jakobson, Aufsätze zur Linguistik und Poetik, S. 261–278. [Anm. d. Komm.] Jakobson /Le´vi-Strauss, »›Les chats‹ de Charles Baudelaire«, S. 460, sowie in der
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Roman Jakobson
Strukturiertheit, von der phonetischen bis zur semantischen, in die Analyse mit einzubeziehen, sondern vor allem, die Kombination und gegenseitige Komplettierung dieser Ebenen aufzuzeigen. 3 Das »Objekt« Gedicht ist deshalb »absolut«, weil keine einzige Ebene in ihm sich der Analyse entziehen kann und zudem auf eine Deutung zu beziehen ist. Dieses methodische Prinzip ist auch in der Analyse des »Spleen«-Gedichts angewandt. Auch hier steht die Komposition des Ganzen im Vordergrund, wobei die Analyse in vier Aspekte gegliedert ist: (1) Die Korrespondenzen und Symmetrien der morphologischen, syntaktischen und lautlichen Elemente, die sich über das gesamte Gedicht erstrecken. (2) Im Semantischen die Beschreibung einer Bewegung, die in den Strophen I, III und IV vertikal und stetig von oben nach unten verläuft, und antithetisch dazu eine ruckartige Bewegung in umgekehrter Richtung, also von unten nach oben, in den Strophen II und IV. (3) Eine syntaktische Zweiteilung des Gedichts in eine sich über drei Strophen erstrekkende Satzkonstruktion einerseits und andererseits zwei syntaktisch voneinander unabhängige Sätze, die sich auf jeweils eine Strophe beschränken. (4) Eine Metaphernkette mit den Elementen ›Grab‹, ›Verlies‹ und ›Leichenumzug‹, die sich durch das ganze Gefüge zieht. Insgesamt stellt Jakobsons Analyse heraus, daß sich eine formale Tendenz zur Symmetrie – unabhängig von der ›Leserichtung‹ des Gedichts – und eine semantische Tendenz zur Verschiebung dieser Symmetrie hin zu einer Asymmetrie gegenüberstehen, bei der die letzte Strophe – ganz in der Logik des ›normalen‹ Leseverlaufs – wie ein Epilog besonders hervortritt. Wenn es schon in der gemeinsamen Arbeit mit Le´vi-Strauss darum ging, für alle Phänomene, die sich formal beschreiben lassen, das »semantische Fundament« 4 zu finden, also die formale Analyse in einem, wenn auch struktural differenzierten, ›Gesamtsinn‹ aufgehen zu lassen, so ist hier auffällig, wie direkt Jakobson in der Analyse von »Spleen« das »semantische Fundament« in Baudelaires eigenen Aussagen zu Fragen der Dichtung findet. Ausgehend von dem Motto, das Jakobson den Schriften Baudelaires zur Erfahrung des Rausches entnimmt und in dem der Dichter davon spricht, wie Wörter ›Fleisch und Bein‹ annehmen können und so die ›abstrakte‹ Grammatik in gewissem Sinne ›lebendig‹ wird, bemüht sich Jakobson zu zeigen, wie sehr die formalen Elemente, die er analysiert, keineswegs ›tot‹ sind, obgleich die Thematik des Gedichts insgesamt unter morbiden Vorzeichen stehe. Schon in den ersten Zeilen macht sich Jakobson für diese ›Verlebendigung‹ der
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vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 276. Vgl. die Einleitung zu diesem Text von Bernhard Teuber, S. 251–255. [Anm. d. Komm.] Vgl. ebd. [Anm. d. Komm.] Vgl. ebd. [Anm. d. Komm.]
Das letzte »Spleen«-Gedicht aus Les Fleurs du mal
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Sprache einen dem traditionellen Verständnis analytischer Wissenschaft eher fernstehenden Begriff Baudelaires, den der »sorcellerie ´evocatoire« [›Beschwörungszauber‹], zu eigen und setzt im weiteren Verlauf der Analyse seine Ergebnisse mit poetologischen Ausführungen Baudelaires in Verbindung, die im Zusammenhang mit dieser verlebendigenden Kraft im Sprachlichen stehen. 5 In gewissem Sinne ironisch ist hierbei, daß, wenn Jakobson sich am Ende seiner Analyse noch einmal auf Baudelaires Formulierungen zur Ästhetik bezieht und dessen ›Enthusiasmus‹ für die ›Abstraktionen‹ zitiert, welche Jakobson ohne weiteres mit den ›abstrakten‹ Regeln der »Grammatik der Poesie« verbindet, das Konkrete und Filigrane seiner eigenen Analyse, deren Verfahren mit diesem Verweis noch einmal gestützt werden soll, sich bereits sehr weit von dieser Abstraktion entfernt hat. Die Differenziertheit seiner Analyse der ›abstrakten‹ Grammatik ist konkreter und, metaphorisch gesprochen, ›lebendiger‹ als der Verweis auf den als ›konkret‹ verstandenen Sinn einer ›Belebung‹ der Sprache, die ihrerseits nun eher wie eine abstrakte Idee erscheint. Barbara Vinken und Marcus Coelen
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Roland Barthes hat in einem Jakobson gewidmeten Essay die Vermutung formuliert, daß die Motiviertheit der formalen, grammatischen Aspekte der Sprache durch die semantischen, auf Bedeutung abzielenden Elemente die Definition der »poetischen Funktion« als solcher bildet. Barthes nennt diese Konzeption von Sprache, in der die »Namen« und die »Wesen« der Dinge zur Deckung kommen, unter implizitem Bezug auf den Platonischen Dialog Kratylos, wo eine solche Idee formuliert ist, einen ›Kratylismus‹. Er schreckt dabei nicht vor der Konklusion zurück, daß der Kratylismus, im Sinne einer Theorie der sprachlichen Zeichen als motivierter, »das Gegenteil der Lehre der Sprachwissenschaft« darstellen würde. Diesen, mit Vorsicht, »dialektisch« zu nennenden Selbstwiderspruch innerhalb der sprachwissenschaftlichen Analyse literarischer Texte – von Barthes diskret und elegant angedeutet – hat Paul de Man expliziter gemacht und darin ihr epistemologisches Interesse gesehen. Auch Jacques Derrida hat sehr früh – 1963, also vor dem hier kommentierten Aufsatz Jakobsons – auf den Sinn und Form miteinander *totalisierenden Kern des Strukturalismus hingewiesen: »Die Struktur wird zur formalen Einheit von Form und Sinn.« (Vgl. Barthes, »Proust et les noms«, S. 76 f.; de Man, »The Resistance to Theory«, insbes. S. 8–10; Derrida, Kraft und Bedeutung, S. 11; zum Kratylismus vgl. die Studie von Gerard Genette, Mimologiques. Voyage en Cratylie.) [Anm. d. Komm.]
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Roman Jakobson La grammaire, l’aride grammaire elle-meˆme devient quelque chose comme une sorcellerie e´vocatoire; les mots ressuscitent, reveˆtus de chair et d’os, le substantif dans sa majeste´ substantielle, l’adjectif, veˆtement transparent qui l’habille et le colore comme un glacis, et le verbe, ange du mouvement, qui donne le branle a` la phrase. Baudelaire, L’Homme-Dieu 6 [›Die Grammatik, selbst die trockene Grammatik, wird eine Art beschwörender Zauberkunst; die Worte erstehen von den Toten mit Fleisch und Bein bekleidet, das Substantiv in seiner substantiellen Majestät, das Adjektiv, ein durchscheinendes Gewand, das es wie eine Glasur umhüllt und färbt, und das Verbum, der Engel der Bewegung, der den Satz vorantreibt.‹]
Das letzte der vier Gedichte, die den Titel »Spleen« tragen und zu dem Zyklus »Spleen et Ide´al«, dem ersten Teil der Fleurs du Mal, gehören, zeigt wie so viele von Baudelaires Gedichten den »Beschwörungszauber« 7 seines Werkes, selbst wenn man es linguistisch interpretiert – nach den eigenen Worten des Dichters: »meˆme au point de vue supe´rieur de la linguistique« [›selbst von dem höheren sprachlichen Gesichtspunkt aus‹].8 Ich folge der Fassung von 1861, die sich in einigen Punkten vom Text der Originalausgabe der Fleurs du Mal (1857) unterscheidet und vor allem von den Korrekturbögen der ersten Veröffentlichung des Gedichts.9 6
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Baudelaire, Les Paradis artificiels. Opium et hachisch [1860], Kap. »L’HommeDieu«, in: Œuvres comple`tes [ŒC ], Bd. 1, S. 426–437, hier: S. 431; dt. Übs.: Die künstlichen Paradiese. Opium und Haschisch, Kap. »Der Gott-Mensch«, in: Sämtliche Werke /Briefe, Bd. 6, S. 85–97, hier: S. 90. [Anm. d. Komm.] Der deutsche Ausdruck für »sorcellerie e´vocatoire« stammt aus Friedrich, Struktur der modernen Lyrik, S. 52. [Anm d. Übs.] Baudelaires Notice über den Dichter Pierre Dupont erschien 1851 in der 20. Lieferung von dessen Chants et Chansons und wurde in die posthume Sammlung L’Art romantique [1869] aufgenommen; vgl. Baudelaire, »Pierre Dupont« (ŒC II, S. 26– 36, hier: S. 26; dt. Übs.: Sämtliche Werke /Briefe, Bd. 2, S. 169–180, hier: S. 169). [Anm. d. Komm.] Baudelaire, Les fleurs du mal [1861], in: ŒC I, S. 3–134. Zu den Abweichungen zwischen den beiden Ausgaben von 1857 und 1861 vgl. den Kommentar von Claude Pichois, in: ŒC I, S. 789–828, sowie zu dem hier von Jakobson analysierten Gedicht die Anmerkungen in: ŒC I, S. 977–980, die auch eine kurze Bemerkung zu Jakobsons Analyse enthalten: »L’explication de R. Jakobson est fort minutieuse et tre`s fine (la conclusion, passe-partout, en paraıˆt d’autant plus faible).« [›Roman Jakobsons Erklärung ist sehr genau und feinsinnig (die Schlußfolgerung, von zu großer Allgemeinheit, erscheint umso schwächer).‹] [Anm. d. Komm.]
Das letzte »Spleen«-Gedicht aus Les Fleurs du mal
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I 1 Quand le ciel bas et lourd pe`se comme un couvercle 2 Sur l’esprit ge ´missant en proie aux longs ennuis, 3 Et que de l’horizon embrassant tout le cercle 4 Il nous verse un jour noir plus triste que les nuits; II 1 Quand la terre est change´e en un cachot humide, 2 Ou ` l’Espe´rance, comme une chauve-souris, 3 S’en va battant les murs de son aile timide 4 Et se cognant la te ˆte a` des plafonds pourris; III 1 Quand la pluie e´talant ses immenses traıˆne´es 2 D’une vaste prison imite les barreaux, 3 Et qu’un peuple muet d’infa ˆmes araigne´es 4 Vient tendre ses filets au fond de nos cerveaux, IV 1 Des cloches tout a` coup sautent avec furie 2 Et lancent vers le ciel un affreux hurlement, 3 Ainsi que des esprits errants et sans patrie 4 Qui se mettent a ` geindre opiniaˆtrement. V 1 — Et de longs corbillards, sans tambours ni musique, 2 De ´filent lentement dans mon aˆme; l’Espoir, 3 Vaincu, pleure, et l’Angoisse atroce, despotique, 4 Sur mon cra ˆne incline´ plante son drapeau noir.10 I 1 Wenn der tiefe und schwere Himmel drückt wie ein Deckel 2 Auf den seufzenden Geist, der gefangen von ausgedehnter Verdrossenheit ist, 3 Und wenn des Horizonts gesamten Kreis umfassend 4 Er uns gießt herab einen schwarzen Tag, trauriger als die Nächte; II 1 Wenn die Erde ist verwandelt in einen feuchten Kerker, 2 Wo die Hoffnung, wie eine Fledermaus, 3 Davonfliegt, an die Mauern schlagend mit ihrem scheuen Flügel 4 Und sich stoßend den Kopf an faulige Decken; III 1 Wenn der Regen, ausbreitend seine ungeheuren Streifen 2 Eines riesigen Gefängnisses die Gitterstäbe imitiert, 3 Und wenn ein Volk, stumm, aus verruchten Spinnen 4 Kommt, auszuspannen seine Netze im Innern unserer Hirne, IV 1 Die Glocken plötzlich tanzen mit Wut 2 Und schleudern gen Himmel ein gräßliches Gebrüll, 3 Wie herumirrende Geister ohne Heimat 4 Die beginnen zu wimmern, ohne nachzugeben. 10 ŒC I, S. 74.
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V 1 — Und lange Leichenwagen, ohne Trommeln und Musik, 2 Marschieren langsam in meiner Seele; die Hoffnung, 3 Besiegt, weint, und die Angst, grausam, despotisch, 11 4 Auf meinen gesenkten Schädel pflanzt ihre schwarze Fahne.
Das Gedicht, das aus fünf Vierzeilern besteht, erfüllt schon die zukünftige Forderung Verlaines: »Pre´fe`re l’impair« [›Ziehe vor, was noch unbestimmt /ungerade‹] (1882).12 Die drei ungeraden 13 *Strophen, die den beiden geraden gegenüberstehen, umfassen die mittlere (III) und die beiden äußeren, d. h. die Anfangs- (I) und die Schlußstrophe (V), die den drei inneren (II–IV) gegenüberstehen. Die Prinzipien der Ähnlichkeit und des *Kontrastes bestimmen das Verhältnis der mittleren Strophe zu den 11 Vgl. neben der hier eingefügten möglichst wörtlichen Übersetzung die literarische in: Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 203 f.: ›I Wenn tief und schwer der Himmel den Geist, den ächzend von Verdrossenheit geplagten, wie ein Deckel drückt und ganz den Kreis des Horizonts umfassend uns einen schwarzen Tag herabgießt, trauriger als die Nächte; // II Wenn die Erde in einen feuchten Kerker verwandelt ist, wo die Hoffnung, wie eine Fledermaus, mit scheuem Flügel die Mauern entlangstreicht und mit dem Kopf an fauliges Gebälk stößt; // III Wenn Regen in ungeheuren Streifen niederstürzt, den Gitterstäben an einem riesigen Gefängnis gleichend, und wenn ein stummes Volk verruchter Spinnen in unsern Hirnen seine Netze auszuspannen naht, // IV Dann plötzlich tanzen Glocken wütend auf und schleudern gen Himmel ein gräßliches Geheul, wie heimatlos verirrte Geister, die eigensinnig ein Gewimmer anstimmen ohne Ende. // V — Und lange Leichenwagen, ohne Trommeln und Musik, ziehen in meiner Seele langsam vorbei: die Hoffnung, die besiegte, weint, und grause Angst pflanzt herrisch auf meinem gesenkten Schädel ihre schwarze Fahne auf.‹ [Anm. d. Komm.] 12 Verlaine, »L’art poe´tique«, S. 261 f. Es handelt sich um ein programmatisches Gedicht, das Verlaine 1874 verfaßt und 1882 in Paris moderne veröffentlicht hat, um es dann als dreizehntes in die Sammlung Jadis et Nague`re (1882) aufzunehmen. Das Gedicht, das vielfach als »symbolistisches Manifest« galt, allerdings auch durchaus ironisch zu verstehen ist, beginnt mit folgender Strophe: »De la musique avant toute chose, Et pour cela pre´fe`re l’Impair Plus vague et plus soluble dans l’air, Sans rien en lui qui pe`se ou qui pose.« [›Musik sei dein Lied vor allen Dingen! drum ziehe vor, was noch unbestimmt Sich löst in der Luft, verweht, verschwimmt, Und nichts beschwere je seine Schwingen.‹] Zur Einschätzung dieses Gedichts sei der Herausgeber der Œuvres poe´tiques Verlaines, Jacques Robichez, zitiert: »Man sollte sich davor hüten, diesem sehr berühmten Gedicht, dessen Titel offenkundig parodistisch ist, zuviel Bedeutung beizumessen. Für das Verständnis des Symbolismus spielt es kaum eine Rolle.« (»L’art poe´tique«, S. 637, Anm. 2.) Jakobson nimmt in seiner kurzen Anleihe bei Verlaine keine Rücksicht auf die ironische Qualität des Gedichtes. [Anm. d. Komm.] 13 Die Wörter impair (ungerade) und pair (gerade) beziehen sich hier und im folgenden nur auf die Ziffern, die die einzelnen Strophen bei der Durchnumerierung erhalten. [Anm. d. Übs.]
Das letzte »Spleen«-Gedicht aus Les Fleurs du mal
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vorangehenden (I, II) und den folgenden (IV, V), und diese beiden Strophenpaare zeigen ihrerseits eine Konvergenz und gleichzeitig eine Divergenz des grammatischen und des lexikalischen Gefüges. Jede der drei ungeraden Strophen – »Plus vague et plus soluble dans l’air« [›sich löst in der Luft, verweht, verschwimmt‹] – enthält einen Hinweis auf die erste *Person. Hier erkennt man eine bestimmte Art zu empfinden; Baudelaire nennt sie »une manie`re lyrique de sentir« [›eine lyrische Art zu fühlen‹]: Von nun an gilt: »le poe`te lyrique trouve occasion de parler de lui-meˆme« [›der lyrische Dichter findet Gelegenheit, von sich selbst zu sprechen‹].14 Vier Pronomina der ersten Person, ein *substantivisches (I4 nous) [›uns‹] und drei *adjektivische (III4 nos; V2 und 4 mon) [›unserer‹; ›meiner‹ und ›meinen‹], erscheinen in den ungeraden Strophen, während die beiden geraden keinen Hinweis auf die erste Person enthalten. Diesen vier Pronomina der ersten Person, zweien im Plural und zweien im Singular, stellen die ungeraden Strophen genau vier Pronomina der dritten Person gegenüber, von denen wieder zwei dem Plural und zwei dem Singular angehören und bei denen gleichfalls ein substantivisches (I4 il) [›er‹] neben drei adjektivischen (III1 und 4 ses; V4 son) [›seine‹; ›ihre‹] erscheint. Von den beiden ses [›seine‹] in III und von den beiden mon [›meiner‹ und ›meinen‹] in V bezieht sich jeweils das erste auf ein Femininum (traıˆne´es, aˆme) [›Streifen‹, ›Seele‹] und das zweite auf ein Maskulinum (filets, craˆne) [›Netze‹, ›Schädel‹]. Der Übergang von dem doppelten Plural nos [›unserer‹] (oder, genauer gesagt, dem Plural des adjektivischen Possessivpronomens der ersten Person Plural) zu dem doppelten Singular mon [›meiner‹ und ›meinen‹] (oder, präziser, dem Singular des adjektivischen Possessivpronomens der ersten Person Singular) macht deutlich, daß nach und nach ein schärferes Bild eingestellt wird. In den ungeraden Strophen beziehen sich die Pronomina der dritten Person nur auf Subjekte, die etwas Feindliches darstellen: I4 il [›er‹] bezieht sich auf ciel bas et lourd [›Himmel tief und schwer‹], III1 ses [›seine‹] auf la pluie [›Regen‹], III4 ses [›seine‹] auf un peuple muet d’infaˆmes araigne´es [›ein Volk, stumm, aus verruchten Spinnen‹] und V4 son [›ihre‹] auf 14 Die Sammlung Re´flexions sur quelques-uns de mes contemporains erschien posthum 1869 und versammelt literaturkritische Aufsätze Baudelaires (ŒC II, S. 129–181, hier: S. 164 f.; dt. Übs.: Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 137–198, hier: S. 179). Jakobson pflegt hier einen sehr freien Umgang mit den von ihm zitierten Textstellen Baudelaires: Zunächst liegen die beiden Satzstücke, die er hier zusammenführt, mehr als zwei Seiten entfernt voneinander, sodann ist die Wendung Baudelaires, daß »der lyrische Dichter von sich selbst sprechen könne«, nicht unbedingt so gemeint, dass dieser Selbstbezug des Dichters sich immer grammatikalisch, im Pronomen der ersten Person Singular, niederschlagen muß. [Anm. d. Komm.]
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l’Angoisse atroce [›die grausame Angst‹]. Die Syntax dieser Strophen stellt ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen den Pronomina auf, und zwar so, daß die der ersten Person denen der dritten untergeordnet sind: I4 Il nous [›er uns‹] (Subjekt – Dativobjekt); in den Strophen III und V beziehen sich die Possessiva der dritten Person auf Akkusativobjekte und die der ersten Person auf Adverbiale: III4 Vient tendre ses filets au fond de nos cerveaux [›kommt, auszuspannen seine Netze im Innern unserer Hirne‹]; V4 Sur mon craˆne incline´ plante son drapeau noir [›auf meinen gesenkten Schädel pflanzt ihre schwarze Fahne‹]. Wie wichtig für Baudelaire diese grammatische Klasse ist, zeigt folgendes Zitat: »C’est une chose douloureuse de voir un poe`te 〈…〉 supprimer 〈…〉 les adjectifs possessifs« [›Es ist ein schmerzlicher Anblick, einen 〈…〉 Dichter 〈…〉 das besitzanzeigende Adjektiv ausmerzen zu sehen‹].15 In »Spleen« gibt es eine Kette lautlicher Korrespondenzen, die das Spiel der Personal- und Possessivpronomina begleitet und hervorhebt. So beginnt mit dem Wort nous [›uns‹] eine dreifache *Alliteration, bei der auf ein anlautendes n ein *gerundeter Vokal oder Halbvokal folgt: Il nous verse un jour noir plus triste que les nuits . Die Verbindung eines *nasalen a mit dem anlautenden Sibilanten des *Pronomens wiederholt sich in III1 ´etalant ses immenses, während in III4 ses mit cerveaux alliteriert. Die Pronomina mon und son [›meinen‹, ›ihre‹] in der fünften Strophe werden vorweggenommen durch die apophonischen Silben mit nasalem a: IV2 lancent (mit *Metathese), 3 errants et [a˜z] sans; V1 sans, 4 son; IV2 hurlement, 4 opiniaˆtrement; V2 lentement dans mon aˆme, 4 mon. Die Lautfolge lentement dans mon aˆme mit ihren vier Nasalvokalen und drei m ruft einen düsteren, verschleierten Klang hervor, wie überhaupt die ganze Schlußstrophe, in der sich die Nasalvokale am stärksten häufen [I: 10, II: 10, III: 9, IV: 8, V: 13] und in ihrer Wirkung durch *Paronomasien noch verstärkt werden: 1 longs, 2 lentement, 3 l’angoisse (auf morphonologischer Ebene steht das g in L’Angoisse dem virtuellen g in long gegenüber; vgl. das Femininum longue und long ennui). 15 Das Zitat lautet im Zusammenhang: »C’est une chose douloureuse de voir un poe`te aussi bien doue´ supprimer les articles et les adjectifs possessifs, quand ces monosyllabes ou ces dissyllabes le geˆnent, et employer un mot dans un sens contraire a` l’usage parce que ce mot a le nombre de syllabes qui lui convient.« (ŒC II, S. 144.) [›Es ist ein schmerzlicher Anblick, einen so hochbegabten Dichter den Artikel oder das besitzanzeigende Adjektiv ausmerzen zu sehen, wenn diese Ein- oder Zweisilber ihn stören, oder ihn ein Wort im Gegensinn zu dem üblichen gebrauchen zu sehen, weil dieses Wort die von ihm benötigte Silbenzahl aufweist.‹] (Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 153 f.) [Anm. d. Komm.]
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In den ungeraden Strophen tritt das Lyrische stärker hervor; dementsprechend enthalten sie zahlreiche Qualifikative. Vier Substantive in jedem dieser Vierzeiler werden von Adjektiven oder Partizipien begleitet: I: ciel, esprit, ennuis, jour [›Himmel‹, ›Geist‹, ›Verdrossenheit‹, ›Tag‹]; III: traıˆne´es, prison, peuple, araigne´es [›Streifen‹, ›Gefängnis‹, ›Volk‹, ›Spinnen‹]; V: corbillards, Angoisse, craˆne, drapeau [›Leichenwagen‹, ›Angst‹, ›Schädel‹, ›Fahne‹]. Die Verteilung aller direkten (nicht präpositionalen) Qualifikative – der Adjektive und Partizipien, die als Attribute zu Substantiven gehören, und schließlich der modalen Adverbien (»modes of existence and occurrence« [›Existenz- und Vorkommensweisen‹] nach der scharfsinnigen Definition von E. Sapir) 16 – ist vollkommen symmetrisch: Jede der beiden geraden Strophen enthält drei (II: humide, timide, pourris [›feuchten‹, ›scheuen‹, ›faulige‹]; IV: affreux, errants, opiniaˆtrement [›gräßliches‹, ›herumirrende‹, ›eigensinnig‹]), jede der äußeren Strophen sechs (I: bas, lourd, ge´missants, longs, noir, triste [›tiefe‹, ›schwere‹, ›seufzender‹, ›langer‹, ›schwarzen‹, ›trauriger‹]; V: longs, lentement, atroce, despotique, incline´, noir [›lange‹, ›langsam‹, ›grausam‹, ›herrisch‹, ›gesenkten‹, ›schwarze‹]) und die mittlere Strophe fünf (III: ´etalant, immenses, vaste, muet, infaˆmes [›ausbreitend‹, ›ungeheuren‹, ›riesigen‹, ›stumm‹, ›verruchten‹]). Attributive Partizipien erscheinen nur in den ungeraden Strophen, und zwar in jeder eines (I: ge´missant, III: ´etalant, V: incline´ ) [›seufzend‹, ›ausbreitend‹, ›gesenkten‹]. Die beiden Adjektive aus dem ersten Vierzeiler, die in nach *Genus und *Numerus gleicher grammatischer Form in der Schlußstrophe wiederkehren, erinnern daran, daß – nach den Re´flexions [›Betrachtungen‹] Baudelaires – ein Wort, das sich wiederholt, eine bestimmte Absicht (»un dessein de´termine´«) 17 des Dichters zu enthüllen scheint: I2 longs ennuis, V1 longs corbillards; I4 jour noir, V4 drapeau noir [›lange Verdrossenheit‹, ›lange Leichenwagen‹; ›schwarzen Tag‹, ›schwarze Fahne‹]. Deutlich zeigt sich die Wirkung einer besonderen Technik des Dichters: »un certain nombre de mots diversement combine´s« [›eine gewisse Anzahl unterschiedlicher Wortkombinationen‹]: 18 Im Gegensatz zur ersten Strophe ordnet die Schlußstrophe diese Adjektive solchen Substantiven zu, die 16 Sapir, Totality, S. 248. Jakobson zitiert hier ohne Seitenangabe. [Anm. d. Komm.] 17 Baudelaire, »The´odore de Banville«, in: ŒC II, S. 162–169, hier: S. 164; dt. Übs.: Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 175–183, hier: S. 177. [Anm. d. Komm.] 18 Der Aufsatz »Prome´the´e de´livre´« erschien 1846 und enthält eine höhnische Kritik des Werkes von Louis de Senneville, Pseudonyme von Louis Me´nard, einem ehemaligen Mitschüler Baudelaires; vgl. ŒC II, S. 9–11, hier: S. 11; dt. Übs.: Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 104–107, hier: S. 107. [Anm. d. Komm.]
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konkret, räumlich sind, Gegenstände aus dem menschlichen Bereich bezeichnen und als Tropen gebraucht werden. Es fällt auch auf, daß in dem ganzen Gedicht nur das erste und das letzte grammatische Subjekt durch zwei Adjektive determiniert werden: I1 le ciel bas et lourd [›der tiefe und schwere Himmel‹], V3 l’Angoisse atroce, despotique [›die grausame, despotische Angst‹]. Zwei betonte Silben – die letzte eines *Epithetons und die erste eines zweisilbigen Prädikats – treffen an der *Zäsur des ersten und auch an der des letzten Verses zusammen: I1 lourd pe`se, V4 incline´ plante [›schwer drückt‹, ›gesenkt pflanzt‹] (mit einer Alliteration der beiden Verben: pe`se-plante). Die drei inneren Strophen sind bewegter als die beiden äußeren und unterscheiden sich von diesen durch den Gebrauch von Verbalperiphrasen im letzten Satz: II3 S’en va battant 〈…〉 4 Et se cognant; III4 Vient tendre; IV4 Qui se mettent a` geindre [›davonfliegt schlagend 〈…〉 und sich stoßend‹; ›kommt auszuspannen‹; ›die beginnen zu wimmern‹]. Wenn man die beiden ersten Strophen mit den beiden letzten vergleicht, entdeckt man, daß der Wortschatz sich teilweise wiederholt; dadurch wird die Komposition des Ganzen gestützt. Die erste Strophe des einen Paares enthält im zweiten *Vers das Wort l’esprit [›der Geist‹] (I2), das als Plural und als Personifikation im vorletzten Vers der ersten Strophe des anderen Paares wieder auftritt: IV3 des esprits [›Geister‹]. Die im Kontext benachbarten Elemente verstärken diese Korrelation zwischen I2 l’esprit ge´missant [›den seufzenden Geist‹] und IV3 des esprits, 4 Qui se mettent a` geindre [›Geister, die beginnen zu wimmern‹]. Eine ähnliche Beziehung besteht zwischen den zweiten Strophen der beiden Paare: II2 l’Espe´rance [›die Hoffnung‹], V2 l’Espoir [›die Hoffnung‹], zwei Synonyme, beide mit großem Anfangsbuchstaben. Außerdem verbindet die Anziehungskraft der Paronyme die beiden Paare miteinander. Ähnlich liest man in »Le Gouˆt du Ne´ant« [›Gefallen am Nichts‹]: 19 Morne esprit, autrefois amoureux de la lutte, L’Espoir, dont l’e´peron attisait ton ardeur, Ne veut pas t’enfourcher! [›Trüber Geist, einst in den Kampf verliebt, die Hoffnung, deren Sporn den Mut dir stachelte, will dich nicht ferner reiten!‹] 19 »Le Gout de Ne´ant« ist ein weiteres Gedicht aus den in »Spleen et Ide´al« versammelten Gedichten der Fleurs du Mal (ŒC I, S. 76; dt. Übs.: Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 207). [Anm. d. Komm.]
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Der erste Teil von »Le Voyage« [›Die Reise‹] 20 schließt mit der Evokation nie gekannter Genüsse: »De vastes volupte´s 〈…〉 dont l’esprit humain n’a jamais su le nom« [›Gewaltige Lüste, die der Geist des Menschen nicht einmal dem Namen nach kennt!‹], der zweite bringt das folgende Bild: »l’Homme, dont jamais l’espe´rance n’est lasse« [›der Mensch, den die Hoffnung unermüdlich treibt‹]. Die zweiten Verse der beiden äußeren Strophen von »Spleen« weisen eine ganz deutliche Lautkorrespondenz auf: I2 Sur l’esprit ge´missant en proie 〈…〉, V2 De´filent lentement dans mon aˆme; l’Espoir ; in diesem Zusammenhang erscheint l’espoir, vaincu et pleurant, (V3) als eine lautlich-semantische Kreuzung von l’esprit und proie. Man sollte an die schöne Regel denken, mit der Saussure den Leser auffordert, auch die Korrespondenzen zu erfassen, die »unabhängig von der zeitlichen Reihenfolge der Elemente« bestehen; 21 dann bemerkt man, daß in der Reihe l’esprit, l’Espe´rance, des esprits, l’Espoir [›den Geist‹, ›die Hoffnung‹, ›Geister‹, ›die Hoffnung‹] gerade die Wörter, die am weitesten voneinander entfernt sind, da sie in den äußeren Strophen stehen, in grammatischer Hinsicht, nämlich in Genus, Numerus und Artikel, vollständig übereinstimmen. Sur [›auf‹; ›über‹] ist die erste und letzte Präposition, die in »Spleen« auftritt; man findet sie im Eingangs- und im Schlußsatz, sonst jedoch nirgends: I1 pe`se 〈…〉 2 Sur l’esprit ge´missant, V4 Sur mon craˆne incline´ plante 〈…〉. Diese beiden Konstruktionen verbindet *Spiegelsymmetrie. Die alles beherrschende, massive, lastende Bedrückung, die von oben ausgeht, und ihr Eindringen in das Innere bilden das Thema der ungeraden Strophen. Die Wörter, mit deren Hilfe dieses Eindringen dargestellt wird, sind entweder au fond de [›in‹; ›im Innern von‹] ein Ausdruck, den Baudelaire bevorzugt (vgl. die Concordance von R. F. Cargo),22 oder dans [›in‹]: III4 Vient tendre ses filets au fond de nos cerveaux [›kommt auszuspannen seine Netze im Innern unserer Hirne‹]; V2 De´filent lentement dans mon aˆme [›marschieren langsam in meiner Seele vorbei‹]. Die Korrekturbögen geben einen anderen Text: Passent en foule au fond de mon aˆme [›ziehen massenhaft tief unten durch meine Seele‹].23 Der Dichter hat schließlich das Wortspiel filets – foule [›Netze‹ – ›massenhaft‹], nach Saussure eine »lautlich-poetische Analyse«,24 durch eine »gramma20 »Le Voyage« ist das letzte Gedicht der Fleurs du Mal und gehört zu der Sammlung »La mort« (ŒC I, S. 129–134; dt. Übs.: Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 329–339). [Anm. d. Komm.] 21 Vgl. de Saussure, »Les anagrammes«, S. 254 f. 22 Vgl. Cargo, A Concordance. 23 Vgl. ŒC I, S. 979, Anm. e.) zu S. 75. [Anm. d. Komm.] 24 De Saussure, »Les anagrammes«, S. 254.
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tisch-poetische Analyse«, d. h. die *figura etymologica filets – de´filent [›Netze‹ – ›ziehen vorbei‹], ersetzt. Anstatt den präpositionalen Ausdruck au fond de [›im Innern‹] (III4) zu wiederholen, hat der Dichter die synonyme Präposition dans [›in‹] (V2) gesetzt. Die Substitution des Epithetons infaˆmes [›verrucht‹] für horribles [›schrecklich‹] in der endgültigen Fassung von »Spleen« – III3 Et qu’un peuple muet d’infaˆmes araigne´es [›und wenn ein stummes Volk verruchter Spinnen‹] – verdichtet das Bild dieses »Volkes« dadurch, daß sie die Häufung *labialer (vor allem stimmloser) *Frikative verstärkt, die nach Grammont »nur einen schwachen, klanglosen oder von einem höchst gedämpften Klang begleiteten Luftstrom hervorbringen können«: 25 III4 vient tendre ses filets au fond de nos cerveaux. In den beiden folgenden Versen wird das Bild des Lärms, der in die Stille einbricht, von einer ausdrucksvollen dreifachen Verbindung von labialen Frikativen mit dem *Vibranten r begleitet (vgl. III4 cerveaux ): IV1 Des cloches tout a` coup sautent avec furie 2 Et lancent vers le ciel un affreux hurlement. Das *Phonem f, das sich in den vier Versen III3 – IV2 fünfmal wiederholt, tritt sonst nirgends auf, ausgenommen in den figurae etymologicae in den Versen III4 filets – V2 de´filent und III4 au fond – II4 plafonds. Alle anderen Wörter mit f, die man in den Korrekturbögen und zum Teil auch in der Ausgabe von 1857 26 findet, sind ersetzt worden: I4 fait durch verse, V2 au fond de durch dans und V2 Fuyant durch vaincu. Die vier präpositionalen Ergänzungen, die wir in den ungeraden Strophen genannt haben, sind semantisch eng miteinander verbunden: I2 Sur l’esprit [›auf den Geist‹], III4 au fond de nos cerveaux [›im Innern unserer Hirne‹], V2 dans mon aˆme [›in meiner Seele‹], 4 Sur mon craˆne [›auf meinen Schädel‹]. Was die Bedeutung der Präpositionen und die Stellung der Ergänzung im Vers (Anfang des ersten oder des zweiten Halbverses) betrifft, so bilden die äußeren Glieder der aufgezählten Reihe einen Gegensatz zu den mittleren. Andererseits verbinden die Wortbedeutung der Ergänzung und ihre Stellung in der Strophe (zweiter Vers des ersten oder des zweiten Verspaares) die beiden ungeraden Glieder der Reihe und stellen sie den geraden gegenüber. Die einen gehören in den geistigen Bereich, die anderen in den konkreten. Hier zeigt sich offenkundig die Tendenz, die Ergänzung »abstrakter Ordnung« auf ein Subjekt, das »etwas Materielles« bezeichnet, zu beziehen und die Kombination von konkreten Ergänzungen mit gleichgearteten Subjekten zu vermeiden – ein Prinzip, das der Dichter nennt, wo er über das Epitheton spricht (Fuse´es, VI): 27 vgl. 25 Grammont, Le vers franc¸ais, ses moyens d’expression, son harmonie, S. 301. 26 Vgl. ŒC I, S. 979. [Anm. d. Komm.]
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I ciel [›Himmel‹] – esprit [›Geist‹]; III peuple [›Volk‹] – cerveaux [›Hirnen‹]; V corbillards [›Leichenwagen‹] – aˆme [›Seele‹], Angoisse [›Angst‹] – craˆne [›Schädel‹]. Jede der beiden Beziehungen, die zwischen den Gliedern dieser Viererreihe bestehen, wird unterstützt durch die Verteilung der Sätze, die die vier Ergänzungen enthalten. Die Sätze, die ungeraden Verspaaren zugeordnet sind, wechseln regelmäßig mit solchen aus geraden ab (I1–2, III3–4, V1–2, V3–4), und gleichzeitig verhalten sich die Entsprechungen, die jeweils die äußeren und die mittleren Glieder miteinander verbinden, spiegelsymmetrisch zueinander: I 1. Verspaar und III 2. Verspaar, vom Gedichtanfang aus gesehen. V 2. Verspaar und V 1. Verspaar, vom Gedichtende aus gesehen.
Hier prägt sich wieder die Überzeugung des Dichters aus: »Le charme infini et myste´rieux 〈…〉 tient a` la re´gularite´ et a` la syme´trie, qui sont un des besoins primordiaux de l’esprit humain, au meˆme degre´ que la complication et l’harmonie« [›Der unendliche und geheimnisvolle Zauber 〈…〉 rührt von der Regelmäßigkeit und Symmetrie her, die zu den grundlegenden Bedürfnissen des menschlichen Geistes gehören, in gleichem Maße wie die Kompliziertheit und die Harmonie‹].28 27 Die Stelle, auf die Jakobson hier anspielt, lautet: »Ciel tragique – E´pithe`te d’un ordre abstrait applique´ a` un eˆtre mate´riel.« (ŒC I, S. 653) [›Tragischer Himmel – Benennung abstrakter Art angewandt auf ein stoffliches Wesen.‹ (Intime Tagebücher, S. 16.)] »Fuse´es« ist der erste Teil der Journaux intimes, eine von Baudelaire so nicht zusammengestellte, posthume Sammlung verschiedener »autobiographischer« Texte und Fragmente. Vgl. ŒC I, S. 647–667; dt. Übs.: Intime Tagebücher, S. 13–31. [Anm. d. Komm.] 28 »Fuse´es« XV, in: ŒC I, S. 663 f. »Je crois que le charme infini et myste´rieux qui gıˆt dans la contemplation d’un navire, et surtout d’un navire en mouvement, tient, dans le premier cas, a` la re´gularite´ et a` la syme´trie qui sont un des besoins primordiaux de l’esprit humain, au meˆme degre´ que la complication et l’harmonie, – et, dans le second cas, a` la multiplication successive et a` la ge´ne´ration de toutes les courbes et figures imaginaires ope´re´es dans l’espace par les e´le´ments re´els de l’objet.« [›Ich glaube, daß der unendliche und geheimnisvolle Zauber, der in der Betrachtung eines Schiffes liegt, und vornehmlich eines Schiffes in Bewegung, in erster Linie von der Regelmäßigkeit und Symmetrie herrührt, die zu den grundlegenden Bedürfnissen des menschlichen Geistes gehören, in gleichem Maße wie die Kompliziertheit und die Harmonie; – und in zweiter Linie von der immerwiederkehrenden Vielfalt und der eingebildeten Vorstellung all der Kurven und Figuren, welche durch die tatsächlichen Grundelemente des Gegenstandes im Raume entstehen.‹] Baudelaire überträgt selbst dieses Bild in eine poetologische Beschreibung: »L’ide´e poe´tique qui se de´gage de cette ope´ration du mouvement dans les lignes est l’hypothe`se d’un eˆtre vaste, immense, complique´, mais eurythmique, d’un animal
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Eine ruckartige, von unten nach oben gerichtete Stoßbewegung ist die *antithetische Antwort, die von den geraden Strophen auf die bedrückende, von oben nach unten gerichtete Bewegung gegeben wird, die die ungeraden Strophen beherrscht. Wenn der Himmel (I1) den Ausgangspunkt in der ungeraden Gruppe darstellt, so leitet das Bild der Erde (II1) die gerade Gruppe ein. Man braucht nur die erste Strophe des Anfangs- und die des Schlußstrophenpaares einander gegenüberzustellen, um zu entdecken, daß die Richtung in den geraden Vierzeilern der in den ungeraden diametral entgegengesetzt ist: I1 le ciel (Subjekt) bas et lourd pe`se 〈…〉 [›der Himmel, der tiefe und schwere, drückt 〈…〉‹] 2 sur l’esprit (adverbiale Ergänzung) 〈…〉 [›auf den Geist‹] 3 et 〈…〉 [›und‹] 4 nous verse [›uns giesst herab‹]; IV1 Des cloches tout a` coup sautent avec furie [›die Glocken plötzlich tanzen mit Wut‹] 2 Et lancent vers le ciel (adverbiale Ergänzung) un affreux hurlement, [›und schleudern gen Himmel ein gräßliches Gebrüll‹] 3 Ainsi que des esprits (Subjekt) [›wie Geister‹] . Von den beiden parallelen *Metaphern II1 un cachot humide [›einen feuchten Kerker‹] und III2 une vaste prison [›ein riesiges Gefängnis‹] führt die eine zu dem Bild der Hoffnung, die zu entfliegen versucht und mit dem Kopf gegen verfaulte Decken stößt – II4 Et se cognant la teˆte a` des plafonds pourris [›und sich stoßend den Kopf an fauligen Decken‹]; auf die zweite folgt ein neuer *Parallelismus, das Bild der Gitterstäbe und das der Spinnennetze in unseren Hirnen – III4 au fond de nos cerveaux. Der Kontrast der verwandten Wörter II4 plafonds [›Decken‹] und III4 fond [›Innern‹] betont noch einmal die unterschiedliche Perspektive der beiden benachbarten Strophen. Es gibt in dem Gedicht zwei *konkrete Substantive, die Lebewesen bezeichnen, in der ungeraden Strophe handelt es sich um Spinnen – les infaˆmes araigne´es –, die eine Falle vorbereiten, in der geraden Strophe um eine Fledermaus – une chauve-souris –, die zu entkommen versucht oder, wie es in dem Bild heißt, das sich in der ersten Fassung von »Spleen« auf die Hoffnung bezieht, zu anderen Himmeln flieht – Fuyant vers d’autres cieux [›zu anderen Himmeln fliehend‹] (eine Formulierung, die Baudelaire später aufgegeben hat). Beide Tiermotive werden charakterisiert durch die plein de ge´nie, souffrant et soupirant tous les soupirs et toutes les ambitions humaines.« [›Der poetische Gedanke, der durch diesen Vorgang der Bewegung in den Linien ausgelöst wird, ist die Vorstellung eines ungeheuren, unermeßlichen, komplizierten, jedoch ebenmäßigen Wesens, eines von Geist erfüllten Lebewesens, welches leidet und alle Seufzer und Verlangen der Menschheit zum Ausdruck bringt.‹ (»Lichtblitze« XXII, in: Intime Tagebücher, S. 26.)] [Anm .d. Komm.]
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Wiederholung von Frikativen. So wird die Verbindung von Subjekt und Prädikat durch ein ›Lautspiel‹ hervorgehoben: II2 chauve-souris 3 s’en va. Die »Umkehrbarkeit« von Phonemen ist ein häufiger Kunstgriff in Baudelaires Dichtung: vgl. Autour des verts tapis des visages sans l’E`vres (»Le Jeu« [›Das Spiel‹]).29 Aber hier handelt es sich um den einzigen Fall, in dem sich *dentale und *palatale *Sibilanten häufen; sie kontrastieren mit dem Rahmen aus Labialen in peuple muet und nehmen das Surren der Fledermaus mit den »zaghaften Flügeln« vorweg: II1 la terre est change´e en un cachot humide, 2 Ou` l’Espe´rance, comme une chauve-souris S’en va 〈…〉. Die Expansion und Dilatation der finiten Verben ist in den geraden Strophen stärker als in den ungeraden; in diesen kommt nur das Aktiv vor, während man in den geraden Strophen passive (II1 est change´e [›ist verwandt‹]) und reflexive (II3 s’en va [›davonfliegt‹], IV4 se mettent [›beginnen‹]) Verben findet. Man beachte auch das ›indirekte Reflexiv‹ in II4 Et se cognant la teˆte [›und sich stoßend den Kopf‹] als Gegensatz zu I4 Il nous verse un jour noir [›er uns gießt herab einen schwarzen Tag‹]. In den ungeraden Strophen bezeichnet das Akkusativobjekt des finiten Verbs immer etwas Visuelles, während alle Klangelemente gedämpft werden (III3 peuple muet , V1 sans tambours ni musique , mit Alliteration, die die Affinität der beiden Bilder unterstreicht); dagegen richtet sich das einzige Akkusativobjekt in den geraden Strophen auf einen akustischen Eindruck: IV2 lancent 〈…〉 un affreux hurlement [›schleudern ein gräßliches Gebrüll‹]. Die Idee der Ausdehnung in Raum und Zeit durchdringt alle ungeraden Strophen: I2 longs [›lange‹] ennuis [›Verdrossenheit‹], 3 de l’horizon embrassant tout le cercle [›des Horizonts gesamten Kreis umfassend‹]; III1 ´etalant ses immenses traıˆne´es [›ausbreitend seine in ungeheuren Streifen‹], 2 vaste prison [›riesiges Gefängnis‹] (als Kontrast zur Enge des cachot humide [›feuchten Keller‹] II1), 4 Vient tendre ses filets [›kommt auszuspannen seine Netze‹], V1 longs corbillards 〈…〉 [›lange Leichenwagen‹] 2 De´filent lentement [›marschieren langsam vorbei‹]. Die Vorstellung des Durativen und Zusammenhängenden fehlt in den geraden Strophen; hier erhalten die Verbalperiphrasen (II3 S’en va battant les murs [›davonfliegt, an die Mauern schlagend‹] 4 Et se cognant la teˆte [›und sich stoßend den Kopf‹], IV4 Qui se mettent a` geindre [›die beginnen zu wimmern‹]) und das Adverb IV1 tout a` coup [›plötzlich‹] (»temps point« [›Zeit-Punkt‹] nach Tesnie`res Analyse der Adverbien 30 ) in Verbindung mit dem Verb sautent [›tanzen‹] eher *inchoativen und intermittierenden 29 ŒC I, S. 95 f.; dt. Übs.: Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 251/253. [Anm. d. Komm.] 30 Tesnie`re, Ele´ments de syntaxe structurale, S. 76.
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Charakter. Bei der Form lancent [›schleudern‹] (IV2) handelt es sich gerade um das Verb, das Marouzeau als Beispiel benutzt für eine »Handlung, die als auf das Anfangsstadium begrenzt gesehen wird«.31 Auch die Behandlung des Bildes zu Beginn der zweiten Strophe ist von der Vorstellung des Inchoativen geprägt; die Metapher entfaltet sich zur Metamorphose: II1 la terre est change´e en un cachot humide [›die Erde ist verwandelt in einen feuchten Keller‹]. Selbst das Epitheton errants [›herumirrende‹] (IV3) drückt etwas Unzusammenhängendes aus. Die ungeraden Strophen mit ihrem extensiven Thema gliedern sich in koordinierte Sätze, dagegen bilden die geraden Strophen, die vom Inhalt her eine ansteigende Linie bilden, eine mehrstufige *Hypotaxe: II2 ou` [›wo‹] l’Espe´rance [›die Hoffnung‹], comme [›wie‹] une chauvesouris [›eine Fledermaus‹] 3 S’en va 〈…〉 [›davonfliegt‹] und IV3 ainsi que [›wie‹] des esprits [›Geister‹] 4 qui [›die‹] se mettent 〈…〉 [›beginnen‹]. Das Bindewort comme [›wie‹] ist den beiden ersten Strophen gemeinsam (vgl. I1 pe`se comme un couvercle [›wie ein Deckel drückt‹]), aber nur in den geraden Strophen ist der elliptische Vergleich – z. B. comme (le ferait) une chauve-souris [›wie eine Fledermaus (es machen würde)‹] – Teil einer doppelten Hypotaxe, und das Bindewort trägt einen emphatischen Akzent: II2 comme steht am Ende des Halbverses, und IV3 Ainsi que [›wie‹] stellt die ersten drei Silben des Verses dar. Es ist von besonderer Bedeutung, daß die Pronomina der ersten Person, die in allen ungeraden Strophen vorkommen und den Sprecher als Opfer feindlicher Mächte bezeichnen, in den geraden Strophen verschwinden. In dem *Sonett mit dem Titel »Le Couvercle« [›der Deckel‹] nimmt Baudelaire den Wortschatz von »Spleen« wieder auf: l’homme »sur terre« [›aufs Land‹], »que son petit cerveau soit actif ou soit lent« [›mag sein kleines Hirn geschäftig oder träge sein‹], regarde »avec un œil tremblant« [›und nur mit bangem Auge wagt er aufzuschauen‹] »le Ciel! ce mur de caveau qui l’e´touffe, plafond 〈…〉 Le Ciel! couvercle noir 〈…〉« [›Himmel! Diese Kellermauer, die ihn erstickt, Hängeboden, 〈…〉 schwarz der Dekkel‹].32 Die beiden Haltungen gegenüber dem Firmament – die eine beeinflußt die ungeraden Strophen von »Spleen«, die andere spiegelt sich in den geraden – werden in »Le Couvercle« ausdrücklich charakterisiert: der Himmel erscheint gleichzeitig als »terreur du libertin« [›der den Wüstling 31 Marouzeau, Lexique de la terminologie linguistique. 32 ŒC I, S. 141. »Le couvercle« gehört zu den Gedichten, die der Ausgabe von 1868 der Fleurs du mal hinzugefügt wurden; dt. Übs.: Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 85. [Anm. d. Komm.]
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schreckt‹] und umgekehrt als »espoir du fol ermite« [›den sich der Eremit in seinem Wahn erhofft‹]. In einem anderen Sonett, das den vier Spleen-Gedichten vorausgeht und ursprünglich »Le Spleen« hieß, endgültig jedoch »La Cloche Feˆle´e« [›Die geborstene Glocke‹], besteht ein deutlicher Kontrast zwischen dem Bild der Glocke, »la cloche au gosier vigoureux qui 〈…〉 jette fide`lement son cri religieux« [›die Glocke mit rüstiger Kehle, die treulich den frommen Ruf aussendet‹], und der Seele des Dichters: »l’aˆme feˆle´e 〈…〉 sa voix affaiblie semble le raˆle e´pais d’un blesse´ qu’on oublie 〈…〉 et qui meurt, sans bouger« [›geborstene Seele, ihre kraftlose Stimme gleicht dem Röcheln eines Verwundeten, den man vergißt und der, ohne sich zu rühren, stirbt‹].33 Haß und Verachtung machen aus dem frommen Anruf der Glocke un affreux hurlement [›ein gräßliches Gebrüll‹] (»Spleen«, IV2), und die feindlichen Wesen, von denen in den Nachbarstrophen die Rede ist, erhalten rein pejorative Epitheta (III3 infaˆmes araigne´es [›verruchte Spinnen‹] und V3 Angoisse atroce [›grausame Angst‹]), während in den beiden ersten Strophen ähnliche Adjektive nicht vorkommen. In den drei zitierten *Syntagmen werden Determinat und *Determinante in ihrer Ausdruckskraft verstärkt durch einen doppelten vokalischen Anlaut, ein a zu Beginn je eines Wortes in jedem Paar; ebensowenig besitzen die beiden Wörter, die sich auf die heulenden Glocken beziehen – IV3 esprits errants [›herumirrende Geister‹] – einen anlautenden Konsonanten. In der mittleren Strophe, die den letzten Teil der dreifachen *Protasis (I1 Quand le ciel 〈…〉 3 Et que 〈…〉, II1 Quand la terre 〈…〉, III1 Quand la pluie 〈…〉 3 Et qu’un 〈…〉 [›Wenn der Himmel‹, ›und‹, ›Wenn die Erde‹, ›Wenn Regen‹, ›und wenn‹]) umfaßt, erreicht die Steigerung der Tropen ihren Höhepunkt. Auf das erste und auf das letzte Partizip Aktiv – I2 L’esprit ge´missant et III1 La pluie e´talant – folgt jeweils im nächsten Vers eine ausdrucksvolle *Inversion, wie sie sonst nicht in dem Gedicht erscheint, und zwar steht die adnominale Ergänzung vor dem Akkusativobjekt, von dem es abhängt: I3 Et que de l’horizon embrassant tout le cercle [›und wenn des Horizonts gesamten Kreis umfassend‹]; III2 D’une vaste prison imite les barreaux [›Eines riesigen Gefängnisses imitiert die Gitterstäbe‹]. Die Metapher vaste prison entspricht dem eigentlichen Ausdruck horizon, und beide sind durch einen zweisilbigen, aus vier Phonemen bestehenden Reim miteinander verbunden; von allen Reimen in »Spleen« entspricht dieser am meisten der Baudelaireschen Forderung nach »kräftigster Kolorierung« (vgl. Prome´the´e de´livre´ ) 34 – und unter33 ŒC I, S. 71; dt. Übs.: Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 198 f. [Anm. d. Komm.]
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scheidet sich von den *Endreimen durch den syntaktischen Parallelismus, bei dem die Reimwörter im Genus verschieden sind und jeweils das Genus des Subjekts wieder aufnehmen: I3 l’horizon – 4 Il; III1 la pluie – 2 prison [›des Horizonts‹ – ›er‹; ›der Regen‹ – ›Gefängnis‹]. Das erste Verspaar der mittleren Strophe führt etwas Neues ein, nämlich eine Inversion der hierarchischen Ordnung der Wörter, die in ihrer eigentlichen bzw. in metaphorischer Bedeutung verwendet werden. Den Versen III1–2 zufolge ist es la pluie ´etalant ses immenses traıˆne´es [›der Regen, ausbreitend seine ungeheuren Streifen‹], der imite les barreaux [›imitiert die Gitterstäbe‹] eines Gefängnisses, d. h. die metaphorische Ebene dient als Modell für die wirkliche. Schon die zweite Strophe hatte die Erde in ein Verlies verwandelt und damit die beiden Ebenen einander angeglichen; die folgende Strophe unterstreicht endgültig den Vorrang der metaphorischen Ebene. Das zweite Verspaar verinnerlicht ganz und gar das Symbol des kosmischen Gefängnisses, indem es die Gitter dieses ausgedehnten Verlieses und das in unseren Hirnen ausgespannte Spinnennetz nebeneinander stellt und auf diese Weise gleichsetzt. Jede Grenze und jeder Unterschied zwischen »dem Schrecken des Geheimnisses«,35 das das Universum umgibt, und dem Geheimnis, das sich in unserem Denken spiegelt, sind aufgehoben: Makrokosmos und Mikrokosmos verschmelzen, so wie es in »Correspondances« heißt: »[ils] se confondent dans une te´ne´breuse et profonde unite´« [›sie verschmelzen in einer finsteren und tiefen Einheit‹].36 Es überrascht nicht, daß in der mittleren Strophe das Substantiv hervorgehoben wird und – im Sinne des Eingangsmottos aus »L’HommeDieu« – in all seiner »substantiellen Majestät« erscheint, ausgestattet mit einem Adjektiv, »das es umkleidet und färbt«. Alle Substantive dieser Strophe, ausgenommen III1 la pluie [›der Regen‹], das erste Subjekt, besitzen Determinanten – adjektivische oder adnominale Ergänzungen. In dieser Strophe zählt man drei solche Ergänzungen; sonst findet man sie nirgends in dem Gedicht, außer in dem bereits genannten Vers der ersten Strophe, der mit dem entsprechenden Vers der dritten eng verbunden ist 34 Baudelaire spricht von »rimes puissament colore´es« [›farbkräftigen Reimen‹] in »Prome´the´e de´livre´«, ŒC II, S. 11; dt. Übs.: Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 104. [Anm. d. Komm.] 35 Der Ausdruck »la terreur du myste`re« [›Schrecken des Mysteriums‹] findet sich in »Le couvercle«, ŒC I, S. 141; dt. Übs.: Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 85. [Anm. d. Komm.] 36 Die Stelle gehört sicher zu den berühmtesten Zitaten Baudelaires. Das oft als programmatisch-symbolistisch verstandene Gedicht »Correspondances« ist das vierte der Sammlung »Spleen et Ide´al«, mit der die Fleurs du mal beginnen; vgl. ŒC I, S. 11; dt. Übs.: Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 69. [Anm. d. Komm.]
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(I3 – III2). In der mittleren Strophe werden alle adnominalen Ergänzungen ihrerseits durch vorangestellte Qualifikative ergänzt, entweder durch Adjektive oder durch Pronomina: III2 D’une vaste prison , 3 d’infaˆmes araigne´es , 4 de nos cerveaux [›eines riesigen Gefängnisses‹, ›verruchter Spinnen‹, ›unsern Hirnen‹]. Die mittlere Strophe besitzt die meisten vorangestellten Attribute und die meisten Akkusativobjekte. Alle Ergänzungen, die am Versende stehen (III1 traıˆne´es, 2 barreaux, 3 araigne´es, 4 cerveaux) [›Streifen‹, ›Gitterstäben‹, ›Spinnen‹, ›Hirnen‹], und – unabhängig von ihrer Stellung – die Akkusativobjekte sind in den Plural gesetzt, den Numerus, dessen Wert offenkundig augmentativ ist. Die inneren Verse der mittleren Strophe, also die zentralen Verse des ganzen Gedichtes, enthalten die Verwandlung der ersten Metapher, der Gitter des kosmischen Gefängnisses, in eine zweite, das Netz, das die Spinnen in unseren Hirnen ausspannen. Als einzige Verse in dem ganzen Gedicht weisen diese beiden in jedem Halbvers ein *Paroxytonon auf, also ein Wort mit Betonung auf der zweitletzten Silbe, und durch die Spannung, die zwischen dem Akzentprofil des Verses und seiner Segmentierung entsteht, heben sie sich deutlich von dem gesamten Kontext ab: III2 D’une va´ste prison imite les barreaux, 3 Et qu’un peu´ple muet d’infaˆmes araigne´es . Achtet man auf die Verteilung der grammatischen Übergangsklassen, d. h. der Verbformen ohne Personalendung (verbum infinitum) und der adverbialisierten Adjektive, bei denen der Numerus nicht ausgedrückt wird, so findet man in der ersten Hälfte von »Spleen« fünf Partizipien des Aktivs: I2 ge´missant, 3 embrassant; II3 battant, 4 cognant; III1 ´etalant [›seufzend‹, ›umfassend‹; ›schlagend‹, ›stoßend‹; ›ausbreitend‹], und in der zweiten Hälfte zwei Infinitive: III4 tendre; IV4 geindre [›auszuspannen‹; ›wimmern‹], denen zwei Adverbien folgen (IV4 opiniaˆtrement; V2 lentement) [›eigensinnig‹; ›langsam‹] und schließlich zwei Partizipien – diesmal des Passivs – (V3 vaincu, 4 incline´ [›besiegt‹, ›gesenkten‹]), während in den beiden zentralen Versen alle Übergangsformen fehlen. Nachdem wir die symmetrischen Dichotomien in »Spleen« (gerade und ungerade, zentrale und *periphere, der mittleren Strophe vorangehende und auf sie folgende, innere und äußere, Anfangs- und Schlußstrophen) diskutiert haben, müssen wir uns der syntaktischen Zweiteilung zuwenden: das Gedicht zerfällt in die drei ersten Strophen, die die Nebensätze umschließen, und die beiden letzten, die aus unabhängigen Sätzen bestehen. Der Beginn des Paares aus den beiden letzten Strophen wird – so wie Anfang und Ende des Gedichtes, also I1 und V4 – gekennzeichnet durch das unvermittelte Zusammentreffen zweier Akzente an der Zäsur: IV1 Des cloches tout a` coup sautent avec furie .
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Die beiden verschieden langen Teile zeigen ein überraschendes Gleichgewicht in der Verteilung der grammatischen Kategorien. So enthalten die drei ersten Strophen mit ihrem dreifachen Quand [›Wenn‹] sechs Verbformen mit Personalendung (zwei in jeder Strophe), die beiden letzten auch sechs (drei in jeder Strophe), alle zwölf Formen stehen im Präsens. Jeder der beiden Teile weist viermal die Konjunktion et [›und‹] auf (I1,3, II4, III3; IV2,3, V1,3); zweimal (in ungeraden Strophen: I3, III3; V1,3) leitet das et einen neuen Satz ein. Trotz der Veränderungen, die die fünfte Strophe im Laufe der verschiedenen Versionen durchgemacht hat, ist die Zahl der Konjunktionen erhalten geblieben. In den beiden letzten Strophen ist der Plural durch vier Substantive (darunter drei Subjekte) und vier Verben vertreten; dagegen stehen in den drei ersten alle Subjekte und Prädikate im Singular, während der Plural nur bei neun weniger wichtigen Satzgliedern auftritt. Im Reim stehen in den drei ersten Strophen acht Pluralformen, in den Schlußstrophen jedoch keine. Der Kontrast fällt besonders in den Strophen auf, durch die die beiden Teile aneinander grenzen: Den fünf Substantiven – es sind *Objekte und Genitivattribute –, die in der dritten Strophe im Plural stehen, setzt die vierte ebenfalls fünf Pluralformen entgegen, aber hier handelt es sich um drei Prädikate und zwei Subjekte. Im ersten Teil des Gedichtes stehen alle übergeordneten Subjekte, d. h. solche, die nicht zu einem Satz gehören, der von einem anderen Satz in derselben Strophe abhängt, im Singular. Nach ihrer Bedeutung in diesem Gedicht gehören alle zu der materiellen Unter-Klasse der Substantive, die Otto Jespersen als ›Massen-Wörter‹ (mass-words) oder ›nichtzählbare Wörter‹ (uncountables) 37 definiert, das sind solche, die infolge ihres gegebenen semantischen Wertes nur den *Singular zulassen (I1 ciel [›Himmel‹]; II1 terre [›Erde‹]; III1 pluie [›Regen‹], 3 peuple [›Volk‹]). Diese Singulare weichen dann Pluralen, die eine unbestimmte Menge angefertigter Gegenstände bezeichnen (IV1 des cloches [›Glocken‹]; V1 de longs corbillards [›lange Leichenwagen‹]), die danach ihrerseits ersetzt werden durch den obligatorischen Singular der immateriellen Unterklasse der nicht-zählbaren Wörter, entsprechend der Bedeutung, die ihnen ein Kontext verleiht, der die Idee der Vielheit ausschließt (V2 Espoir [›Hoffnung‹], 3 Angoisse [›Angst‹]). Zwei Kategorien der nicht-zählbaren Wörter beherrschen also den größten Teil des Gedichtes. In jedem Teil gibt es vier Substantive, die in der syntaktischen *Struktur jeder Strophe als übergeordnetes Subjekt fungieren, und diese acht 37 Jespersen, Essentials of English Grammar, S. 206.
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Subjekte fügen sich zu vier Paaren zusammen, deren Glieder jeweils eng miteinander verbunden sind. Gleichheit des Numerus und Gegensatz des Genus charakterisieren jedes dieser Paare: I1 le ciel, II1 la terre [›der Himmel‹, ›die Erde‹], die sich außerdem durch das *Genus verbi des Prädikats – Aktiv/Passiv – unterscheiden. Das Subjekt des Nebensatzes in der zweiten Strophe, II2 l’Espe´rance [›die Hoffnung‹], stimmt im Genus mit seiner Metapher – une chauve-souris [›eine Fledermaus‹] – überein und folgt zugleich dem des übergeordneten Subjekts; die *Personifizierung dieses *Abstraktums ist ein Verfahren, das man bei Baudelaire häufig findet: »O toi qui de la Mort, ta vieille et forte amante, Engendras l’Espe´rance, – une folle charmante! « [›O du, der mit dem Tode, deiner alten und starken Liebsten, du die Hoffnung zeugtest – eine liebenswerte Närrin!‹] 38 Die beiden mittleren Paare kehren die Reihenfolge der Genera um: III1 la pluie, 3 un peuple, mit *paronymischer Annäherung der beiden Glieder, von denen eins im eigentlichen Sinne, das andere im übertragenen verwendet wird, und die die Tendenz bezeugen, die beiden Ebenen durch den Gebrauch des Artikels zu differenzieren: Der bestimmte Artikel erscheint bei den eigentlich gebrauchten Wörtern, der unbestimmte bei den uneigentlich gebrauchten oder Tropen (vgl. I1 le ciel [›der Himmel‹] – un couvercle [›ein Deckel‹]; II1 la terre [›die Erde‹] – un cachot [›ein Kerker‹], 2 l’Espe´rance [›die Hoffnung‹] – une chauve-souris [›eine Fledermaus‹]; III1 la pluie [›der Regen‹] – une vaste prison [›ein riesiges Gefängnis‹]); IV1 Des cloches [›Glocken‹], V1 de longs corbillards [›lange Leichenwagen‹] mit Alliteration der *Velare und der traditionellen Verknüpfung von Glockengeläut und Leichenzug. Das Subjekt des Nebensatzes, esprits [›Geister‹] (IV3) entspricht im Numerus den beiden übergeordneten Subjekten und kündigt das Genus von corbillards [›Leichenwagen‹] an. Das letzte Paar kehrt zu der ursprünglichen Reihenfolge der Genera zurück: V2 l’Espoir, 3 l’Angoisse, beide mit großem Anfangsbuchstaben und verbunden durch vokalischen Anlaut und eine *Assonanz in der letzten Silbe. »Angoisse et vif espoir« [›Angst und frische Hoffnung‹] 39 sind gleichzeitig Nachbarn und Antipoden in Baudelaires Werk. Der unheilbringende Faktor, maskulin zu Beginn des Gedichtes (I1 le ciel [›der Himmel‹]), wird feminin im Epilog (V3 l’Angoisse [›die Angst‹]), 38 ŒC I, S. 123–125; dt. Übs.: Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 315–319. »Les Litanies de Satan« ist eines von drei Gedichten des »Re´volte« betitelten vorletzten Teils der Fleurs du mal. [Anm. d. Komm.] 39 ŒC I, S. 128 f.; dt. Übs.: Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 327–329. »Le reˆve d’un curieux« gehört zu den sechs Gedichten des letzten, »La mort« betitelten Teils der Fleurs du mal. [Anm. d. Komm.]
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während das tragische Schicksal, das zunächst Feminina trifft (II1 la terre, 2 l’Espe ´rance [›die Erde‹, ›die Hoffnung‹]), schließlich ein maskulines Subjekt wählt (V2 l’Espoir [›die Hoffnung‹]). Das Prinzip der Dissimilation,40 das bei der Verteilung der Genera und der Artikel auffällt, erkennt man zuweilen auch bei der Behandlung des Numerus (z. B. II3 S’en va battant les murs (Pl.) de son aile timide (Sg.!) 4 Et se cognant la te ˆte (Sg.) a` des plafonds pourris (Pl.!) [›Davonfliegt, an die Mauern schlagend mit seinem scheuen Flügel Und sich stoßend den Kopf an faulige Decken‹]). Die Struktur der zehn Reime ist ebenfalls einem dissimilatorischen Prozeß unterworfen. In fünf Fällen reimen sich Substantive und in einem Fall Adjektive miteinander; dreimal reimt sich ein Adjektiv und einmal ein *Adverb auf ein Substantiv, bei zwei Reimen ist das Genus, bei einem der Numerus unterschiedlich; was jedoch immer unähnlich bleibt, ist die syntaktische Funktion der Reimwörter. Das Unvermittelte der *Apodosis 41 (tout a` coup [›plötzlich‹]) drückt sich deutlich in der Lautstruktur der vierten Strophe mit ihren ›Versbrüchen‹ aus, in dem stoßartigen Zusammentreffen der beiden t am Anfang und am Ende der Strophe (IV1 Des cloches tout a` coup sautent avec furie , 4 Qui se mettent a` geindre opiniaˆtrement ) und in dem Adverb, das den ganzen letzten Halbvers der Strophe einnimmt, ein seltsames Wortspiel hervorruft (IV3 sans patrie , 4 opiniatrement) und als einziges von allen unveränderlichen Wörtern im Reim steht. Die Eingangsverse derjenigen ungeraden Strophen, die sich an vorausgehende gerade anschließen, unterscheiden sich von anderen Versen dadurch, daß sie sich aus regelmäßigen *Anapästen zusammensetzen: III1 Quand la pluie ´etalant ses immenses traıˆne´es ; V1 Et de longs corbillards, sans tambours ni musique . In Vers V1 wird dieses Schema besonders klar, weil der Akzent jedesmal auf ein *Oxytonon fällt, während III1 das Paroxytonon immenses enthält. Mit der fünften Strophe beginnt ganz deutlich der zweite Satz des Gedichtes, der aus drei unabhängigen Sätzen besteht und durch einen Gedankenstrich klar gegen alles Vorhergehende abgegrenzt ist. Vom ersten Vers an ruft in »Spleen« der niedrige, schwere, wie ein Deckel lastende Himmel die konventionelle Assoziation des Grabes her40 Dissimilation: ›Unähnlichmachung‹; Differenzierung zweier ähnlicher Laute oder anderer einander nahestehender Elemente in Hinblick auf größere Deutlichkeit. [Anm. d. Komm.] 41 Apodosis: »Nachsatz«; in der Rhetorik, im Gegensatz zur »spannungsschaffenden« Protasis der »spannungslösende« Bestandteil einer antithetischen Konstruktion. [Anm. d. Komm.]
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vor, aber es entwickelt sich in dem Gedicht eine ganz andere Metaphernkette: ein feuchtes Verlies mit vermoderten Mauern und Decken, ein weites vergittertes Gefängnis. »Le Couvercle« [›Der Deckel‹] benutzt jedoch dieselben Metaphern mit Bezug auf den Himmel, um so Mauer und Decke des kosmischen »Grabgewölbes« zu beschreiben, in dem der Mensch erstickt, wohin er auch gehen mag (»en quelque lieu qu’il aille« [›er mag hingehen, wo er will‹]). Obwohl die vermoderten Decken, gegen die die Hoffnung mit dem Kopf stößt, den Leser eher an einen Friedhof denken lassen könnten, verwandelt sich erst in der letzten Strophe das vorgegebene Gefängnis in ein Grab (»se transforme en tombeau« [›verwandelt zum Grab sich‹]), um die Formulierung zu gebrauchen, die Baudelaire in dem vorletzten »Spleen«-Gedicht anbietet. Wenn in der Schlußstrophe von »Spleen« der Sprecher erscheint – die Possessivpronomina der ersten Person Singular weisen auf ihn hin –, überlagert die Grabsymbolik die des Kerkers. In der Seele des Sprechers – dans mon aˆme – wird das Te Deum 42 der Glocken, das die vorletzte Strophe evoziert, umgedeutet zu einem Totengeläute, auf das ein schweigender Zug von Leichenwagen folgt. Vers V1 – Et de longs corbillards, sans tambours ni musique [›Und lange Leichenwagen, ohne Trommeln und Musik‹] – wiederholt in einer Variante die Konstruktion IV3 Ainsi que des esprits errants et sans patrie [›wie Geister, herumirrende und ohne Vaterland‹]. Nur in den beiden letzten Strophen kommt die vernichtende Präposition sans [›ohne‹] vor. Mit einem Hinweis auf Emanuel Swedenborg 43 wird der Dichter erklären: »Dans le spirituel comme dans le naturel, tout est significatif, re´ciproque, converse, correspondant« [›allem, im Bereich des Geistes wie in dem der Natur, kommt eine zeichenhafte Bedeutung zu, eines verweist auf das andere, alles ist umkehrbar und entspricht einander‹].44 Im ersten Satz der letzten Strophe wird das Geistige, die Seele des 42 Nach den Anfangsworten »Te Deum laudamus« – »Dich, Gott, loben wir!« – benannter christlicher Lobgesang; hier im weiteren Sinne die lobpreisende Zuwendung zu Gott. [Anm. d. Komm.] 43 Emanuel Swedenborg (1688–1772) schwedischer Naturforscher und Verfasser religiöser Schriften, der sich um die Schaffung einer Universalwissenschaft bemüht, in der die Begriffe der »Korrespondenz« und der »Analogie« eine wichtige Rolle spielen; seine Schriften hatten einen starken geistesgeschichtlichen Einfluß auf die Literatur des 19. Jahrhunderts, u. a. auf Balzac. [Anm. d. Komm.] 44 Der Verweis auf Swedenborg findet sich in dem Victor Hugo gewidmeten ersten Teil der Re´flexions sur certains de mes contemporains; vgl. ŒC II, S. 129–141, hier: S. 131: »D’ailleurs, Swedenborg, qui posse´dait une aˆme bien plus grande, nous avait de´ja` enseigne´ que le ciel est un tre`s grand homme; que tout, forme, mouvement, nombre, couleur, parfum, dans le spirituel comme dans le naturel, est significatif,
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Monologisierenden, der Ort für einen Trauerzug, der konkret und vielfältig ist. Das Ich, das zunächst in seinem Innern, dem geistigen Bereich, dargestellt wird, erscheint dann materialisiert und von außen betrachtet: V4 Sur mon craˆne incline´ [›auf meinen gesenkten Schädel‹] – ist incline´ [›gesenkt‹] das Zeichen der Resignation oder vielleicht der Erschöpfung, die dem Tode vorausgeht? Der Schädel, *Synekdoche für Kopf, nimmt das nackte Skelett eines Leichnams vorweg, während das Subjekt Angoisse [›Angst‹], ein personifiziertes Abstraktum, im Gegensatz zu les corbillards [›die Leichenwagen‹] aus dem ersten Satz der geistigen Sphäre angehört. Jedoch sind die Handlung, die dieses abstrakte Subjekt ausführt, und das direkte Objekt, dem sie gilt, nun wieder ganz konkret: V3 l’Angoisse atroce, despotique, 4 Sur mon craˆne incline´ plante son drapeau noir [›die Angst, die grausame, despotische, auf meinem gesenkten Schädel pflanzt ihre schwarze Fahne‹]; die schwarze Fahne ist das Emblem der Trauer. Die Vertauschbarkeit der wechselseitigen Beziehungen bleibt erhalten. Die schreckliche Vision des Begräbnisses der Welt, die sich im Geist des Einzelnen vollzieht, verschmilzt mit dem Bild dieses Einzelnen, der in dem Schrecken der Welt seinen Geist aufgibt. Zwischen die beiden Ecksätze des Epilogs ist ein dritter eingefügt. Er entspricht der zweiten Strophe, d. h. dem zweiten der drei koordinierten Sätze, die die Protasis des ersten Satzes des Gedichtes ausmachen: Dieser zweite Satz beschreibt das Schicksal der Hoffnung (Espe´rance-Espoir), die sich besiegt im Schoß des Weltalls verbirgt, nachdem sie tragisch gescheitert ist bei dem vergeblichen Versuch, mit ihrem zaghaften, schwachen Flügelschlag das Himmelsgewölbe zu treffen. Das Substantiv Espoir [›Hoffnung‹] steht zwischen corbillards [›Leichenwagen‹] und Angoisse [›Angst‹], es teilt mit dem ersten Subjekt das Genus, mit dem zweiten den Numerus. Dieser Satz, in dem wie in der zweiten Strophe jeder Hinweis auf die erste Person fehlt, wird nur von der abstrakten und unpersönlichen Vorstellung der Hoffnung bestimmt. Diese verallgemeinerte Abstraktion schafft eine tiefe Trennung zwischen den beiden Sätzen, die den Doppelaspekt des Ich, das Geistige und das Natürliche, erfassen. Der Satz, mit dem wir uns beschäftigen, der einzige in dem ganzen Gedicht, der ein *Enjambement an der Grenze zweier Verspaare und zwei kurze re´ciproque, converse, correspondant.« Dt. Übs.: Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 137– 151, hier: S. 141: ›Im übrigen hatte schon Swedenborg, der eine sehr viel größere Seele besaß, uns gelehrt, daß der Himmel ein sehr großer Mensch ist; daß allem, Gestalt, Bewegung, Zahl, Farbe, Duft, im Bereich des Geistes wie in dem der Natur, eine zeichenhafte Bedeutung zukommt, daß eines auf das andere verweist, daß alles umkehrbar ist und einander entspricht.‹ [Anm. d. Komm.]
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Rejets enthält (V2 De´filent lentement dans mon aˆme; l’Espoir, 3 Vaincu, pleure, et l’Angoisse atroce, despotique [›marschieren langsam in meiner Seele vorbei: die Hoffnung, besiegt, weint, und die Angst, die grausame, despotische‹]), setzt sich durch ein Asyndeton 45 von dem vorausgehenden introspektiven Satz ab; dieser beginnt dagegen mit Et [›Und‹] (V1), das eine *›anaphorische Verknüpfung‹ zwischen den beiden unabhängigen Sätzen bildet. Wie Tesnie`re in seinem bedeutenden Werk Ele´ments de syntaxe structurale bemerkt, »gilt, daß die beiden Sätze durch dieses Band, so locker es auch sein mag, immer ein wenig verknüpft sind«.46 Darüber hinaus verbinden das Vorhandensein der Konjunktion vor dem ersten Satz der Schlußstrophe und ihr Fehlen nach diesem die Glieder des Paares cloches – corbillards [›Glocken – Leichenwagen‹] eng und trennen sie von dem folgenden Paar Espoir – Angoisse [›Hoffnung – Angst‹]. So verbindet Spiegelsymmetrie die drei koordinierten Sätze der Schlußstrophe mit den drei koordinierten Sätzen der Protasis: I2 Sur l’esprit ge´missant [›Auf den Geist, den ächzenden‹], 4 nous verse un jour noir [›uns gießt herab einen schwarzen Tag‹]; II2 l’Espe´rance [›die Hoffnung‹]; III4 Vient tendre ses filets au fond de nos cerveaux [›kommt, auszuspannen seine Netze in unsern Hirnen‹] – V 1. Satz: dans mon aˆme [›in meiner Seele‹], 2.: l’Espoir [›die Hoffnung‹], 3.: Sur mon craˆne incline´ plante son drapeau noir [›auf meinen gesenkten Schädel ihre schwarze Fahne pflanzt‹]. Diese beiden dreigliedrigen Gruppen sind voneinander durch die Apodosis der einleitenden Periode getrennt, d. h. durch die vierte Strophe, in der der Hauptsatz ein zweiteiliges Prädikat enthält und einen Höhepunkt der aufsteigenden Bewegung ausdrückt: IV1 sautent [›tanzen‹] 〈…〉 2 Et lancent [›schleudern‹]. In der anderen geraden Strophe tritt eine ähnliche Erscheinung auf – eine Verdoppelung der Partizipien in dem Nebensatz, der von dem übergeordneten Satz in dieser Strophe, wiederum einem Nebensatz, abhängt: II1 Quand 〈…〉, 2 Ou` 〈…〉 3 S’en va battant, 〈…〉 4 Et se cognant 〈…〉 [›Wenn‹, ›wo‹ 〈…〉 ›davonfliegt, schlagend, 〈…〉‹, ›und sich stoßend 〈…〉‹]. Man erkennt bei diesem Gedicht ebenso wie bei »Les chats« [›Die Katzen‹], einem Sonett aus demselben Band,47 ganz deutlich mehrere Möglichkeiten, den Text zu gliedern; dabei kann man nämlich »von den 45 Asyndeton: Wort- oder Satzreihe, deren Glieder nicht durch Konjunktionen miteinander verbunden sind. [Anm. d. Komm.] 46 Vgl. Tesnie`re, Ele´ments de syntaxe structurale, S. 355. 47 Das Gedicht »Les chats« gehört ebenfalls zur Sammlung »Spleen et Ide´al« in Les fleurs du mal; vgl. ŒC I, S. 66. Vgl. Jakobson /Le´vi-Strauss, »›Les chats‹ de Charles Baudelaire«, sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 250–287. [Anm. d. Komm.]
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grammatischen wie auch von den semantischen Beziehungen zwischen den verschiedenen Teilen des Gedichtes ausgehen«. Unter den rivalisierenden Prinzipien, die die verschiedenen Gruppierungen der Strophen bestimmen, stellt eine symmetrische Trichotomie die Mittelstrophe den beiden vorangehenden und den beiden folgenden gegenüber und schafft ein Gleichgewicht zwischen dem ersten und dem letzten Strophenpaar (2/2). Diese Trichotomie (2 + 1 + 2) schließt andererseits ein ungleiches Verhältnis von ungeraden und geraden Strophen ein, die in wechselseitigem *Oppositionsverhältnis stehen (2/3). Eine asymmetrische Dichotomie beruht auf der syntaktischen Opposition der drei abhängigen ersten Strophen und der beiden unabhängigen Schlußstrophen (3/2). Gleichzeitig stellen die drei ersten Strophen drei koordinierte Sätze dar, die den drei koordinierten Sätzen der fünften Strophe entsprechen (3/1), während die vierte, die Apodosis – die einzige Strophe, in der es keine koordinierten Sätze, dafür jedoch im Inneren eines Satzes koordinierte Verben gibt –, das Mittelglied dieser asymmetrischen Trichotomie ausmacht (3 + 1 + 1). Eine andere, noch weniger symmetrische Dichotomie läßt sich zu den genannten Gruppierungen hinzufügen: Der Text umfaßt zwei Sätze, von denen einer aus vier, der andere aus nur einer Strophe besteht (4/1), der einzigen in dem Gedicht, die weder explizite noch elliptische Nebensätze enthält. Bei diesen vier Kompositionsprinzipien steigert jeder neue Aspekt die Bedeutung der Epilogstrophe, die schließlich den vier vorangehenden gleichwertig gegenübersteht. Der Widerwille gegen das Leben oder die Ablehnung des Seins, die in dem einsilbigen Fremdwort, das dem Gedicht als Titel dient, mitschwingen, finden ihre unvermeidliche Auflösung in den düsteren Bildern der Schlußstrophe: In einer Metamorphose verwandelt sich der Überdruß (longs ennuis), der den Geist beherrscht, in den Zug der Leichenwagen (longs corbillards) in der Seele des Sprechenden (dans mon aˆme), und der schwarze Tag (le jour noir), den ein bedrückender Himmel über uns ausgießt, wird zu der schwarzen Fahne (un drapeau noir), die die tödliche Angst auf dem Schädel aufpflanzt (sur mon craˆne). Man wird erinnert an Baudelaires Wertung der poetischen Vergleiche, Metaphern und Epitheta; als ihre Quelle nennt er: »l’ine´puisable fonds de l’universelle analogie« [›den unerschöpflichen Fundus der analogia universalis‹].48
48 ŒC II, S. 133; dt. Übs.: Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 141. [Anm. d. Komm.]
Das letzte »Spleen«-Gedicht aus Les Fleurs du mal
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Vier Gedichte in Les Fleurs du Mal tragen denselben Titel »Spleen«, ohne daß das Wort mit seiner dem Französischen (das einen Vokalvorschlag verlangt) phonetisch etwas fremden Form im Text erscheint. Das letzte Gedicht dieses Titels bringt nun aber deutliche Anspielungen auf das »Thema-Wort« in Form eines fortschreitenden *Anagramms; dabei werden vor allem die Doppelkonsonanten sp, pl wiederholt und – mit einem Wechsel der *Liquide – der Dreifachkonsonant spr: I2 esprit, 4 plus; II2 Espe ´rance, 4 plafonds; III1 pluie, 2 prison, 3 peuple; IV3 esprits; V2 l’Espoir, 3 pleure, despotique, und der letzte Vers entwirft ein vollständiges Anagramm des Wortes: V4 Sur mon craˆne incline´ plante son drapeau noir. Das erste und das dritte der Gedichte mit diesem selben Titel zeigen jeweils im ersten Vers Wörter, die auf den Konsonantismus von Spleen anspielen, das Sonett LXXV: 49 1 pluvioˆse, irrite´ contra la ville entie`re; 11 Cependant qu’en un jeu plein de sales parfums. LXXVII: 1 Je suis comme le roi d’un pays pluvieux. Das zweite »Spleen«-Gedicht beginnt mit dem Vers 1 J’ai plus de souvenirs que si j’avais mille ans und wiederholt mehrmals denselben Doppelkonsonanten: 11 plein, 13 plaintifs, 19 De´sormais tu n’es plus . Solche Bemühungen, das Titelwort eines Gedichtes anagrammatisch wieder aufzunehmen, sind keineswegs ungewöhnlich bei Baudelaire. So wiederholt das Gedicht »Le Gouffre« [›Abgrund‹],50 dessen Bedeutung für das Werk des Dichters Pierre Guiraud 51 unterstrichen hat, das Wort gouffre [›Abgrund‹] im ersten Vers und nimmt vom zweiten Vers an seine Phoneme auf: 5 partout la profondeur, la gre`ve , 6 affreux, 7 Sur le fond, 8 multiforme, 9 grand trou , 10 horreur, ou ` , 11 feneˆtres , 12 toujours, ˆ tres . 14 Nombres, E »La fureur du jeu phonique« [›die Wut des Lautspiels‹],52 so wie Ferdinand de Saussure sie in einem Brief an Meillet definiert hat, und die ungewöhnliche Verflechtung formaler, grammatischer, also abstrakter Bedeutungen, müssen einfach eine entscheidende Rolle spielen im Werk eines Dichters, der für Sprache und Schrift die Worte »Ope´ration magique« [›magische Handlung‹] und »sorcellerie e´vocatoire« [›Beschwörungs49 Es handelt sich um das erste der vier Spleen-Sonette: »Spleen (Pluvioˆse, irrite´ contre…)«, in: ŒC I, S. 72; dt. Übs.: Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 199. [Anm. d. Komm.] 50 »Le Gouffre« gehört zu den Gedichten, die der dritten Ausgabe der Les fleurs du mal von 1868 hinzugefügt wurden; ŒC I, S. 142 f.; dt. Übs.: Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 95–97. [Anm. d. Komm.] 51 Guiraud, »Le champ«. 52 De Saussure, »Lettres a` Antoine Meillet«, S. 118. [Anm. v. R.J.] – Vgl. Jakobson, »La premie`re lettre«. [Anm. d. Komm.]
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zauber‹] 53 fand und erklärte: »Le dessin arabesque est le plus ideal de tous.« [›Das Arabeskenmuster ist das spiritualistischste von allen Mustern.‹] 54 In seinem meisterhaften Aufsatz über das Werk von Euge`ne Delacroix stimmt Baudelaire mit der Meinung des Malers überein; so sehr er die Dramatik des Gegenstandes (sujet) in der Kunst schätzt, bekennt er doch, gerade die Linie in ihrer Bewegung erfülle ihn mit einem besonderen Vergnügen: »d’un plaisir tout a` fait e´tranger au sujet« [›mit einem Vergnügen, das mit dem Gegenstand nichts zu schaffen hat‹].55 Dies gilt auch für eine gut gezeichnete Figur: »[Elle] ne doit son charme qu’a` l’arabesque qu’elle de´coupe dans l’espace« [›sie verdankt ihren Zauber nur der Arabeske, die sie aus dem Raum herausschneidet‹]. Er rühmt den Adel der Abstraktion, der sich in der Linienführung und der Farbgebung des Künstlers ausprägt. Ganz offensichtlich hat die Grammatik der Poesie Baudelaire fesseln müssen, ihn, den homme de lettres,56 der »jeden Enthusiasmus, der sich auf anderes als Abstraktionen richtet«,57 als Zeichen krankhafter Schwäche verworfen hat.58 53 »Fuse´es« XI, in: ŒC I, S. 658: »De la langue et de l’e´criture, prises comme ope´rations magiques, sorcellerie e´vocatoire.« [›Die Sprache und die Schrift als magische Handlungen genommen, beschwörende Zauberei.‹] (Intime Tagebücher, S. 21.) [Anm. d. Komm.] 54 »Fuse´es« V, in: ŒC I, S. 652; dt. Übs.: Intime Tagebücher, S. 16. [Anm. d. Komm.] 55 Baudelaire, »L’œuvre et la vie d’Euge`ne Delacroix«, in: ŒC II, S. 742–770, hier: S. 753: »La ligne et la couleur font penser et reˆver toutes les deux; les plaisirs qui en de´rivent sont d’une nature diffe´rente, mais parfaitement e´gale et absolument inde´pendante du sujet du tableau.« Dt. Übs.: ›Die Linie und die Farbe, beide sind ein Anlaß zu denken und zu träumen; das Vergnügen, das wir ihnen verdanken, ist jedesmal von verschiedener Art, doch völlig gleichwertig und gänzlich unabhängig von dem Sujet des Bildes‹, in: Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 268–300, hier: S. 281. [Anm. d. Komm.] 56 »Fuse´es« V, in: ŒC I, S. 652; dt. Übs.: Intime Tagebücher, S. 16. [Anm. d. Komm.] 57 »Fuse´es« V, in: ŒC I, S. 652: »L’enthousiasme qui s’applique a` autre chose que les abstractions est un signe de faiblesse et de maladie.« Dt. Übs.: ›Begeisterung, die sich auf anderes als auf Abstraktes richtet, ist ein Anzeichen von Schwäche oder Krankheit‹, in: Intime Tagebücher, S. 16. [Anm. d. Komm.] 58 Ich freue mich, daß ich in Grenoble und Nizza den ersten Entwurf zu diesem Aufsatz mit solch kompetenten Forschern wie Herrn und Frau Gsell, mit Pierre Guiraud und Marcel Ruff habe diskutieren und die anregenden Notizen zu »Spleen« von Yves Le Hir in seinen Analyses stylistiques (Paris 1965) habe benutzen können. – Mein Dank gilt J. C. Milner für die freundschaftliche Hilfe, die er mir bei dieser Arbeit hat zuteil werden lassen, und für seine feinen linguistischen Bemerkungen. Mir liegt daran, noch eine seiner scharfsinnigen Deutungen zu erwähnen: Er sieht eine anagrammatische Anspielung auf De´sespoir in dem zweiten zu
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Editorische Notiz Erschien erstmals in Tel Quel 29 (1967), S. 12–24; die Übersetzung von Regine Kuhn, die hier zugrunde liegt und an einigen Stellen modifiziert wurde, erschien in: Jakobson, Aufsätze zur Linguistik und Poetik, S. 261–278.
Literatur Jakobsons eigene Literaturangaben sind mit ° gekennzeichnet. Barthes, Roland: »Proust et les noms«, in: ders.: Œuvres comple`tes. Nouvelle ´edition, Paris: Seuil 2002, Bd. 4, S. 66–77. Baudelaire, Charles: Intime Tagebücher und Essays, übs. v. Rudolf Palester, München: Heyne 1978. ° — Œuvres comple`tes. Texte ´etabli, pre´sente´ et annote´ par Claude Pichois, 2 Bde., Paris: Gallimard Ple´iade 1975–76 (= Bibliothe`que de la Ple´iade, Bd. 1 u. 7). — Sämtliche Werke /Briefe, hg. v. Friedhelm Kemp u. Claude Pichois, 8 Bde., München: Carl Hanser 1975–1992. [Übs. d. Briefe v. Guido Meister, Übs. d. Gedichte u. Komm. v. Friedhelm Kemp.] ° Cargo, Robert T.: A Concordance to Baudelaires Les Fleurs du mal, Chapel Hill: The University of North Carolina Press 1965. Friedrich, Hugo: Die Struktur der modernen Lyrik, erweiterte Neuausgabe, Hamburg: Rowohlt 1967. Derrida, Jacques: »Force et signification«, in: L’e´criture et la diffe´rence, Paris: Seuil 1967, S. 9–55. – »Kraft und Bedeutung«, in: Die Schrift und die Differenz, übs. v. Rodolphe Gasche´, Frankfurt /Main: Suhrkamp 1972, S. 9–53. Genette, Ge´rard: Mimologiques. Voyage en Cratylie, Paris: Seuil 1976. – Mimologiken. Reise nach Kratylien, übs. v. Michael von Killisch-Horn, Frankfurt / Main: Suhrkamp 2001. ° Grammont, Maurice: Le vers franc¸ais, ses moyens d’expression, son harmonie [1913], Paris: Delagrave 1961. ° Guiraud, Pierre: »Le champ stylistique du Gouffre de Baudelaire«, in: Orbis Litterarum 13 (1958), S. 75–84. Jakobson, Roman Osipovicˇ: Aufsätze zur Linguistik und Poetik. — »La premie`re lettre de Ferdinand de Saussure a` Antoine Meillet sur les anagrammes. Publie´e et commente´e par Roman Jakobson«, in: SW VII, S. 237– 247. — »Une microscopie du dernier ›Spleen‹ dans Les fleurs du mal«, in: SW III, S. 465–481. l’Angoisse gehörigen Attribut, dem Adjektiv V3 Despotique; dieses Epitheton steht am Versende so wie in dem vorhergehenden Vers l’Espoir, das *Antonym zu l’Angoisse; außerdem fehlt vor den beiden Paronymen atroce, despotique eine Konjunktion, sie sind also die einzigen Beispiele für Asyndeta in dem ganzen Gedicht.
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Roman Jakobson
Jakobson, Roman Osipovicˇ u. Claude Le´vi-Strauss: »›Les chats‹ de Charles Baudelaire«, in: SW III, S. 447–464. – »›Die Katzen‹ von Charles Baudelaire«, übs. v. von Erich Köhler u. a., komm. v. Bernhard Teuber, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 250–287. ° Jespersen, Otto: Essentials of English Grammar, London: Allen & Unwin 1933. ° Le Hir, Yves: Analyses stylistiques, Paris: Colin 1965. Man, Paul de: »The Resistance to Theory«, in: ders.: The Resistance to Theory, Minneapolis: Univ. of Minnesota Press 1986, S. 3–20. Marouzeau, Jules: Lexique de la terminologie linguistique, 3. Aufl. Paris: Geuthner 1951. ° Sapir, Edward: Totality, Baltimore: Waverly Press 1930 (= Language Monographs, No. 16, Linguistic Society of America). ° Saussure, Ferdinand de: »›Les anagrammes‹. Texte pre´sente´ par Jean Starobinski«, in: Mercure de France 2 (1964), S. 254–278. ° — »Lettres a` Antoine Meillet« in: Cahiers Ferdinand de Saussure 21 (1964), S. 118. Starobinski, Jean: »Les mots sous les mots: Textes ine´dites des cahiers d’anagrammes de Ferdinand de Saussure«, in: To Honor Roman Jakobson. Essays on the occasion of his seventieth birthday, Bd. 3, Den Haag u. Paris: Mouton 1967, S. 1906–1917. — Wörter unter Wörtern: Die Anagramme von Ferdinand de Saussure, übs. v. Henriette Beese, Frankfurt /Main u. Berlin: Ullstein 1980. Tesnie`re, Lucien: Ele´ments de syntaxe structurale, Paris: Klincksieck 1959. – Grundzüge der strukturalen Syntax, übs. v. Ulrich Engel, Stuttgart: KlettCotta 1980. Verlaine, Paul: »L’art poe´tique«, in: ders.: Œuvres poe´tiques, hg. v. J. Robichez, Paris: Garnier 1969. – »Dichtkunst«, in: ders.: Im schwarzen Gras Kobolde gehn. Gedichte, französisch und deutsch, hg. u. Nachwort v. Ja´nos Riesz, Leipzig: Reclam 2004.
Roman Jakobson
Die grammatische Struktur von Janko Kra´ls Dichtung 1 Übersetzung aus dem Englischen Raoul Eshelman
Kommentar Milosˇ Sedmidubsky´ Die Analyse hat den wohl originellsten Dichter der slovakischen Romantik zum Gegenstand, dessen Werk eine zwiespältige Rezeptionsgeschichte aufweist. 2 Während Kra´ls im Volkston geschriebene Balladen und Lieder schon bei ihrer Erstveröffentlichung in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts als eine meisterhafte, wenn auch etwas eigenwillige Realisierung der am Vorbild der Volksdichtung orientierten Kanons der slovakischen Romantik aufgenommen wurden und dem Autor den Ruf des begabtesten Dichters der romantischen Generation einbrachten, blieb der weitaus größere und bedeutendere Teil seines Schaffens, der in der gleichen Zeit entstanden ist, ungedruckt und weitgehend unbekannt. Als man nach dem Tod des Dichters, der nach der gescheiterten Revolution 1848 so gut wie verstummt ist, in den 80er und 90er Jahren des 19. Jahrhunderts daran ging, seinen verstreuten Nachlaß zu sammeln und zu sichten, wurde man enttäuscht. Zum Vorschein kamen sperrige, fragmentarische Texte, die zwar an die folkloristische Poetik der slovakischen Romantik anknüpften, in denen jedoch die mythopoetisch ge1
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Vorlage: Jakobson, Roman Osipovicˇ: »The Grammatical Structure of Janko Kra´l’s Verses«, in: SW III, S. 482–498. Erweiterte Version des Erstdrucks in: Sbornı´k filozofickej fakulty Univerzity Komenske´ho. Philologica 16 (1964), S. 29–40. [Anm. d. Komm.] Zur Rezeption von Kra´ls Werk vgl. die bisher beste und ausführlichste Darstellung von Mikula´ˇs Bakosˇ, »Litera´rne osudy Janka Kra´l’a«. Eine knappe, aber gut informierte Darstellung von Kra´ls Werk findet sich in: Sˇmatla´k u. a., Geschichte der slowakischen Literatur, S. 55–58. [Anm. d. Komm.]
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deutete Bildlichkeit und Motivik slovakischer Volkslieder und Volksmärchen zum Ausdrucksmittel rätselhafter Visionen und Reflexionen eines romantisch exaltierten, zerrissenen Subjekts umfunktioniert wurden, – Texte, mit denen die positivistisch orientierte Generation der Realismusepoche nichts anzufangen wußte. Das betretene Schweigen, mit dem die slovakische literarische Öffentlichkeit auf die bekannt gewordenen obskuren, chaotischen Texte des nationalen Klassikers reagierte, wurde erst in den 20er und vor allem in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts durchbrochen, als die slovakische literarische Avantgarde in der fragmentierenden, jeden eindeutigen Sinn sprengenden Schreibweise Kra´ls eine Vorwegnahme ihrer eigenen Poetik erkannte und Kra´l als den eigentlichen Begründer der modernen slovakischen Poesie entdeckte. Beteiligt an dieser Rehabilitierung Kra´ls, die sich vor allem im Zeichen des sich in den 30er Jahren formierenden slovakischen und tschechischen Surrealismus vollzog, war damals auch Roman Jakobson, der in seiner 1934 veröffentlichten Studie »Was ist Poesie?« Kra´l als ein Beispiel für die Aktualisierung der sonst unterdrückten ödipalen Phantasien in der Dichtung behandelte und ihn dabei ganz im Sinne seiner surrealistischen Rezeption als einen »Dichter von wahrhaft großem Format« charakterisierte, der »in seiner ungehobelt schönen Improvisation auf geniale Weise die Grenze zwischen schwindelerregendem Delirium und dem Volkslied verwischt« und »in seiner Einbildungskraft noch schrankenloser […] ist als Ma´cha«. 3 In dem genau dreißig Jahre später veröffentlichten Aufsatz zur Grammatik von Kra´ls Poesie geht es Jakobson nun darum nachzuweisen, daß den ›ungehobelten Improvisationen‹ Kra´ls in Wirklichkeit eine streng geordnete, 3
Jakobson, »Was ist Poesie?«, S. 75; tschechische Originalfassung: Jakobson, »Co je poesie?«, S. 28. – Karel Hynek Ma´cha, der bedeutendste Dichter der tschechischen Romantik, dient hier Jakobson – neben Vı´teˇzslav Nezval, dem prominentesten Autor der sich seit Ende der zwanziger Jahre formierenden surrealistischen Richtung der tschechischen Avantgarde und Mitbegründer der »Surrealistengruppe in ˇ SR« (1934) – als ein weiteres Beispiel dafür, wie in den von den ›Zensurder C zwängen‹ der Alltagskommunikation befreiten poetischen Texten die sonst unterdrückten tiefenpsychologischen Gehalte freigesetzt werden (»Ödipuskomplex [wie] aus einem Handbuch«, ebd.). – Jakobson, der in den Jahren 1920–1939 in der Tschechoslowakei lebte, war voll in das kulturelle Leben seines Gastlandes integriert und nahm auch – u. a. als Mitglied der Künstlergruppe »Deveˇtsil« [›Die Pestwurz‹] – einen regen Anteil an den Aktivitäten der einheimischen Avantgarde. Vgl. dazu Linhartova´, »La Place de Roman Jakobson« und Toman, »A Marvellous Chemical Laboratory«; zum möglichen Zusammenhang von Jakobsons verstärktem Interesse an den psychopoetischen Fragestellungen, wie es sich bei ihm in den 30er Jahren bemerkbar macht, mit der sich gerade in dieser Zeit durchsetzenden surrealistischen Orientierung der tschechoslowakischen Avantgarde vgl. auch Drubek-Meyerova´, »Bohemisticke´ pra´ce Romana Jakobsona«, S. 461 f. [Anm. d. Komm.]
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in sich geschlossene *Struktur zugrunde liegt, die ihnen eine geradezu ›leuchtende Integrität und Transparenz‹ verleiht. Die Untersuchung, in der dieser Nachweis geführt wird, gehört dabei zweifelsohne zu Jakobsons gelungensten Gedichtsanalysen. Das liegt nicht nur an der analytischen Luzidität, mit der hier Jakobson das komplexe Zusammenspiel poetisch relevanter Sprachstrukturen auf verschiedenen Textebenen freilegt – analysiert werden dabei vor allem die metrische, morphologische, syntaktische und lexikalische Ebene, während die Ebene der Lautinstrumentierung eher nur punktuell herangezogen wird –, sondern vor allem an der Konsequenz, mit der hier die Relevanz der Untersuchungsergebnisse für die Semantik des Gedichts herausgearbeitet wird. Das eigentliche Ziel und den Fluchtpunkt der gesamten Analyse bildet die Rekonstruktion der Sujetlogik des Textes, seiner Raumsemantik und vor allem die Untersuchung der Subjektkonstitution des lyrischen Ich, die hier mit solch einer Intensität durchgeführt wird, daß Jakobsons Kra´l-Analyse als eine der schönsten Interpretationen eines romantischen Gedichts gelten kann. Wenn die Analyse dennoch nicht voll zu überzeugen vermag, so liegt dies daran, daß sie den unfertigen, improvisatorischen Charakter von Kra´ls Poesie, in dem Jakobson 1934 einen ihrer größten Vorzüge sah, so gut wie unberücksichtigt läßt. Es werden zwar auch die Unregelmäßigkeiten in der Verteilung der grammatischen Kategorien und die sich daraus ergebenden Divergenzen einzelner Textebenen herausgearbeitet, doch dies alles dient letztlich nur dem Nachweis, daß Kra´ls Gedicht eine ›unauflösbare Ganzheit‹ bildet, in die auch die vermeintlichen Störungen der Ordnung integriert werden. Die Verfahren, die dieser zentripetalen Sinnbewegung entgegenwirken, sie fragmentieren und dezentrieren und die Kra´ls Gedichten wohl überhaupt erst die unnachahmliche Wirkung eines ›schwindelerregenden Deliriums‹ verleihen, interessieren Jakobson im Jahre 1964 offenbar nicht mehr, auch wenn er sich ihrer Bedeutung für die Wirkung von Kra´ls Poesie nach wie vor bewußt bleibt. Die von Jakobson entwickelte Methode der strukturalen Gedichtsanalyse stößt hier offensichtlich an ihre Grenzen, bleibt jedoch unbeschadet dessen eine wertvolle und unverzichtbare Grundlage auch für jene Untersuchungen, die an der Öffnung von vermeintlich geschlossenen Strukturen interessiert sind. Milosˇ Sedmidubsky´
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Roman Jakobson pretozˇe ba´senˇ, pretozˇe kra´sna ba´senˇ, pretozˇe kra´sna ba´senˇ z kra´snej knihy kra´cˇa za ba´snikom jak s kra´snou zˇenou necˇujne jej poˆvab, s ruzˇami voˆnˇa Laco Novomesky´, 1963 4
Die zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts haben eine unvergleichliche Gruppe slovakischer Dichter hervorgebracht – es sind dies Andrej Sla´dkovicˇ (1820–72), Samo Bohdan Hrobonˇ (1820–94), Janko Kra´l (1822–76) 4
›denn ein Gedicht, ein herrliches Gedicht, ein herrliches Gedicht aus einem herrlichen Buch schreitet einher mit dem Dichter wie mit einer schönen Frau lautlos ihre Anmut, mit den Rosen der Duft‹. – Das Motto ist dem Poem Vila Tereza [›Villa Theresa‹] entnommen (vgl. Novomesky´, Ba´snicke´ dielo, Bd. 2, S. 7–51, hier: S. 15), mit dem Laco Novomesky´, der wohl bekannteste Dichter der slovakischen Avantgarde der Zwischenkriegszeit, nach seiner Entlassung aus dem stalinistischen Gefängnis und dem jahrelangen Publikationsverbot 1963 in das literarische Leben zurückkehrte – ähnlich wie die Veröffentlichung der Kra´l-Analyse in dem Publikationsorgan der Philosophischen Fakultät der Comenius-Universität in Bratislava im Jahre 1964 die Rückkehr Jakobsons in das wissenschaftliche Leben seiner ehemaligen Wahlheimat einleitete, in der er seit dem Propagandafeldzug gegen den Strukturalismus im Jahre 1951 als ›persona non grata‹ galt. Novomesky´s Poem ist als eine Verteidigung der Avantgardekunst gegen deren Rekriminierung durch das stalinistische Regime der 50er Jahre konzipiert, der hier die ursprüngliche »innere Einheit dieser Kunst mit der Revolution« gegenübergestellt wird (Turcˇa´ny, »Novemeske´ho Vila Tereza«, S. 615). Der Text ist in Form der Erinnerung des Dichters an einen der Empfänge in den 20er Jahren in der ›Villa Teresa‹, dem Sitz der sowjetischen diplomatischen Vertretung in Prag, geschrieben, zu denen regelmäßig auch die Vertreter der avantgardistischen Kunstszene eingeladen wurden, die sich dafür – wie Novomesky´ in der Dedikation an seine damaligen ›Gefährten und Freunde‹ schreibt – »mit neuen Versen, mit einer neuen Komposition, mit einem neuen Lied revanchierten, stolz auf die Schirmherrschaft und das Verständnis für unsere Unruhe, die wir in sie hineinlegten« (Novomesky´, Ba´snicke´ dielo, Bd. 2, S. 9; vgl. die deutsche Teilübersetzung des Poems von Paul Wiens, in der zwar weder die Widmung noch die von Jakobson zitierten Verse enthalten sind, in der jedoch die durch die »Revolution der Poesie und Poesie der Revolution« geprägte Atmosphäre dieser Empfänge gut wiedergegeben wird – Novomesky´, Abgezählt an den Fingern der Träume, S. 86–95, hier: S. 95). Jakobson, der in dieser Zeit an der sowjetischen Prager Vertretung als Übersetzer tätig war und einen maßgeblichen Anteil an der Vermittlung der Kontakte zwischen der ›Villa Theresa‹ und der avantgardistischen Kunstszene hatte, wird zwar unter den in Novomesky´s Poem namentlich genannten ›Gefährten und Freunden‹ nicht ausdrücklich erwähnt, ist aber in der Dedikation zweifelsohne mitgemeint, zumal er damals Novomesky´ besonders nahe stand – vgl. dazu Krystyna Pomorska in dem Nachwort zu ihren ›Dialogen‹ mit Jakobson: Pomorska, »Nachwort«, S. 154; vgl. hier auch das Zitat aus Novomesky´s Artikel zu Jakobsons siebzigsten Geburtstag (1966), in dem Novomesky´ für Jakobson einen ehrenvollen Platz
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und Ja´n Botto (1829–81).5 Zwei mächtige, sich gleichzeitig entfaltende Faktoren – die Dynamik der internationalen romantischen Bewegung und die spontane, begeisterte Aufbauarbeit an einer neuen, in den frühen 40er Jahren hervorgebrachten Literatursprache 6 – drückten ihren einmaligen Stempel all diesen Schriftstellern und insbesondere Janko Kra´l auf, der zu den originellsten romantischen Sprachkünstlern der slavischen Welt gehört. Bis vor kurzem existierten drei Viertel von Kra´ls Schriften lediglich in Manuskriptform, und über mehrere Jahrzehnte hinweg waren Literaturwissenschaftler, die das unveröffentlichte Korpus seines Werkes unter-
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in der Geschichte der tschechoslowakischen Avantgarde reklamiert: »Ob man will oder nicht, Roman Jakobson ist als Russe unter Tschechen und Slowaken zu einem unveräußerlichen Teil unserer künstlerischen und wissenschaftlichen Avantgarde geworden« (ebd., die Übersetzung gibt das slovakische Original zwar nicht ganz wörtlich, aber im Prinzip richtig wieder, vgl. Novomesky´, »S avantgardou a v avantgarde«, S. 8). – Die Wahl des Mottos aus Novomesky´ ist aber nicht zuletzt auch dadurch motiviert, daß Novomesky´ in den 30er Jahren einen ganz wesentlichen Anteil an der Rehabilitierung Kra´ls im Zeichen seiner avantgardistischen Lektüre hatte und auch der erste war, der in Kra´l den eigentlichen Begründer der modernen slovakischen Poesie entdeckte – vgl. dazu das Novomesky´-Zitat, mit dem Jakobson seine Analyse schließt, und den Kommentar in Anm. 63. [Anm. d. Komm.] Es ist bezeichnend, daß Jakobson in der Aufzählung der vier führenden Dichter der slovakischen Romantik den kanonisierten Klassiker patriotischer Heldengesänge, Samo Chalupka (1812–1883), durch den Außenseiter Hrobonˇ ersetzt, dessen in einer völlig hermetischen Sprache geschriebene eschatologische Dichtungen ein ähnliches Schicksal hatten wie die handschriftlich überlieferten Texte Kra´ls, mit dem Unterschied allerdings, daß die visionären Texte Hrobonˇs bis heute keine ihrer Bedeutung angemessene Würdigung erfahren haben. [Anm. d. Komm.] Treibende Kraft der sich erst in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts konstituierenden slovakischen Romantik war die von L’udovı´t Sˇtu´r (1815–1856) angeführte Generation junger protestantischer Literaten, die 1843/44 den epochalen Entschluß faßte, die von den slovakischen Protestanten bis dahin als Literatursprache benutzte tschechische Schriftsprache durch eine neue, auf der Grundlage der mittelslovakischen Mundart geschaffene Literatursprache zu ersetzen. Die Arbeit an der neuen Sprache, der sich bald auch die bis dahin auf Westslovakisch schreibenden Katholiken angeschlossen haben, ging dabei mit der Arbeit an einem neuen Modell der nationalen Identität einher, das die Slovaken – statt der bisher vorherrschenden Vorstellung der nationalen Einheit mit den Tschechen – als eine eigenständige Nation konzeptualisierte, deren Identität man vor allem auf den autochthonen Werten der einheimischen Volkskultur gegründet hat. Die Romantik gilt daher zu Recht als die Schlüsselepoche der slovakischen Literatur- und Kulturgeschichte, die nicht nur die moderne slovakische Sprache und Literatur hervorbrachte, sondern zugleich auch die entscheidende Etappe bei der Herausbildung der modernen slovakischen Nation war – vgl. dazu ausführlicher: Sedmidubsky´, »Slowakische Literatur«, S. 483 f. [Anm. d. Komm.]
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suchten, »ratlos, als sie einige davon herausgeben wollten«, wie sein Biograph feststellt.7 Der berühmte Historiker der slovakischen Literatur, Jaroslav Vlcˇek, erklärte beim Edieren der ersten, dürftigen Auswahl von Kra´ls Werk, »es wäre nutzlos und sogar abträglich für den Ruf des Dichters, wenn all seine Verse gedruckt würden«.8 Eine weitere Auswahl seiner in Manuskriptform erhaltenen Gedichte erschien 1938,9 doch erst im Jahre 1952 wurde die erste, vorläufige Ausgabe seiner gesammelten Gedichte veröffentlicht,10 auf die sieben Jahre später eine umgearbeitete und erweiterte Edition folgte.11 Ein Dichter von ungeheurer Kraft, Spannweite, Kunstfertigkeit und Kühnheit tauchte vor den Lesern auf. Das in der folgenden Studie untersuchte Gedicht gehört zum posthum veröffentlichten Zyklus, der von Kra´ls Kommentator Dra´ma sveta [›Das Weltdrama‹] benannt wurde.12 Mehr als ein Jahrhundert trennt die Ver7 8
Pisˇu´t, Janko Kra´l’, S. 113. Vlcˇek, »Doslov«, S. 165. Selbst im Jahre 1933 behauptete Rudo Brta´nˇ, der eine Ausgabe »der besten bekannten und unbekannten Gedichte von Kra´l« vorbereitete, daß »Vlcˇek im Wesentlichen Recht hat« (Brta´nˇ, Osudy Janka Kra´l’a, S. 18). [Anm. v. R.J.] – Jaroslav Vlcˇek (1860–1930): führender Vertreter der positivistischen Schule in der tschechischen und slovakischen Literaturgeschichtsschreibung, dessen ästhetische Ansichten durch die strenge Formkunst der tschechischen und slovakischen Parnassiens der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts geprägt waren. An der Auseinandersetzung des sich formierenden Prager Strukturalismus mit den konservativen Ansichten der positivistischen Schule war in den 20er Jahren auch Roman Jakobson beteiligt, der seine innovative Verslehre nicht zuletzt in der Polemik mit Josef Kra´l entwickelte, dem Hauptvertreter der positivistischen Schule auf dem Gebiet der Metrik und Vlcˇeks Universitätskollegen – vgl. Jakobson, Über den tscheˇ eske´ prosodii‹«. – Rudo Brta´nˇ (1907– chischen Vers; passim und ders., »O Kra´loveˇ ›C 1998): eher traditionalistisch eingestellter Dichter, Kritiker und Literaturhistoriker. Die zustimmende Äußerung zu Vlcˇeks Verdikt über nachgelassene Dichtungen Kra´ls ist als ein Ausdruck von Brta´nˇs konservativen ästhetischen Ansichten zu werten und keineswegs als eine repräsentative Meinung einer Zeit, in der die Kra´lRezeption durch Dichter und Kritiker der slovakischen Kunstavantgarde bereits im vollen Gange war. [Anm. d. Komm.] 9 Kra´l’, Nezna´me´ ba´sne. 10 Kra´l’, Su´borne´ dielo (1952). 11 Kra´l’, Su´borne´ dielo (1959). 12 Pisˇu´t, Ba´snı´k Janko Kra´l’. [Anm. v. R.J.] – Kra´ls Dra´ma sveta stellt eine umfangreiche zyklische Komposition dar – in Pisˇu´ts revidierter Gesamtausgabe von Kra´ls Werk umfaßt der Zyklus 290 Seiten (Kra´l’, Su´borne´ dielo [1959], S. 323–613) –, die aus einer losen Folge von lyrischen Gedichten, dramatischen Szenen, epischen Vergangenheits- und Zukunftsvisionen, Alltagsbildern und anderen gattungstypologisch und stilistisch heterogenen Textfragmenten besteht, die in ihrer Gesamtheit ein apokalyptisch-eschatologisches Bild der Geschichte der Menschheit vermitteln. Die durch Jakobsons Kra´l-Analyse indirekt aufgeworfene Frage, ob und inwiefern
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öffentlichung dieses Meisterwerks vom Zeitpunkt seiner Entstehung; es erschien zum ersten Mal 1952 in Kra´ls gesammelten Gedichten,13 wurde aber um 1845 geschrieben. Die Handschrift des Gedichts ist im achtseitigen Skizzenheft Nr. 1 des Dichters (Zvezok 1–vı´ [›1–er Band‹]) enthalten, das im Literarischen Archiv der Matica slovenska´ aufbewahrt wird.14 In der vorliegenden Studie wird die dichterische Handhabung der grammatischen Faktur analysiert. Die im Autorenmanuskript verwendete Orthographie und Interpunktion ist ein nützliches Hilfsmittel bei einer solchen Untersuchung, und unser Dank gilt dem Literarischen Archiv für die Bereitstellung eines Mikrofilms des ganzen Skizzenheftes. Kra´ls Rechtschreibung mit sämtlichen Schwankungen und sogar mit beiläufigen Weglassungen ist im unten wiedergegebenen Text beibehalten worden, und auch bei der Wiedergabe des Autorennamens sind wir seiner eigenen Schreibweise gefolgt.15 die fragmentarische und unabgeschlossene Form des Zyklus – wie bisher angenommen – bloß ein Ausdruck des Scheiterns des Dichters an der formalen und gedanklichen Problematik einer poetischen Darstellung der Menschheitsgeschichte aufzuˇ epan aufgegriffen (C ˇ epan, »Janko Kra´l’ a romanticky´ fassen sei, wurde von Oskar C mesianizmus«, besonders S. 148–191), der die offene und fragmentierte Komposition von Dra´ma sveta als ein intentionales ›Montageverfahren‹ interpretiert, dessen ästhetische Motivation er in dem offenen, ›polyvokalen‹ Standpunkt Kra´ls zu den von ihm behandelten Fragen der Menschheitsgeschichte sieht. [Anm. d. Komm.] 13 Kra´l’, Su´borne´ dielo (1952), S. 164. [Anm. v. R.J.] – In der revidierten Ausgabe von 1959, die die bisher beste Gesamtausgabe von Kra´ls Werken darstellt, befindet sich der Text auf S. 346 f. [Anm. d. Komm.] 14 Siehe Vongrej, Janko Kra´l’, S. 2. [Anm. v. R.J.] – »Matica slovenska´« (›Slovakischer Fonds‹) – eine 1863 gegründete Stiftung zur Förderung der slovakischen Literatur und Kultur, heute eine zentrale Kulturinstitution, der auch die Nationalbibliothek und das Literaturarchiv angeschlossen sind. [Anm. d. Komm.] 15 Das Gedicht ist im Prinzip in der ursprünglichen, von L’udovı´t Sˇtu´r in seiner 1846 erschienenen Grammatik (Nauka recˇi slovenskej) kodifizierten Variante der neuen Schriftsprache geschrieben, die sich von der etwas späteren, im Wesentlichen bis heute gültigen Kodifizierung durch Martin Hatalla (Kra´tka mluvnica slovenska´, 1852) nicht nur in der Rechtschreibung, sondern z. T. auch in der Morphologie und Phonologie unterscheidet (Pauliny, Dejiny spisovnej slovencˇiny, S. 181 f. u. S. 196–198). Dies gilt auch für den Namen des Autors, der sich im Unterschied zu der heute allgemein gebräuchlichen Form ›Kra´l’‹ konsequent ›Kra´l‹ geschrieben hat, d. h. in Übereinstimmung mit der von Sˇtu´r kodifizierten Sprachnorm, die noch kein *palatalisiertes / l / kannte. Jakobsons Entscheidung, die von Kra´l selbst benutzte Schreibweise des eigenen Namens beizubehalten, wird in der vorliegenden Edition in Jakobsons Text selbst wie auch in dem Kommentar respektiert. Die Schreibweise des Autorennamens in der zitierten Sekundärliteratur, die von Jakobson uneinheitlich gehandhabt wird, richtet sich dagegen grundsätzlich nach dem Original. [Anm. d. Komm.]
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Das zur Diskussion stehende Gedicht wird durch eine Notiz eingeleitet, die es von dem vorausgehenden lyrischen Werk trennt, das »D’jeucˇa« [›Das junge Mädchen‹] heißt: »Toto prejdeˇ – d’jera jedna v hore tam je jeden starı´ cˇlovek« [›Dies verschwindet – eine Höhle im Wald, darin ein alter Mann‹].16 Daher hat der Herausgeber, Milan Pisˇu´t, dem Gedicht den Titel »Stary´ cˇlovek« [›Alter Mann‹] gegeben. 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28
Uzˇ som si pracu dokonau ˇ o som mau to som okopau C Vinˇicˇka je okopana´ Modlitba je dokonana´ ´ Udolja bujnuo, stromi velicˇiznje Tam sa mi srdce zdvı´halo – Ono po stroma´ch ak ftak ljetalo Na ˇsetko pilneˇ cˇihalo. Srdce neˇmalo mesta v hlubineˇ Oku belasjemu zavideˇlo – A ako fta´cˇik tak do husˇt’ini Do vrchou velkı´ch leteˇlo. Leteˇlo srdce ako motı´lok Sotvi zˇe dalo znamenˇja – Zmizlo na lunach huor velicˇiznı´ch Kape lu´n zˇivı´ch strasenˇja. Sadneˇm na horu tam na visoku´ Neˇbo ako sklo tak sa jagalo – Prisˇli na misel cˇasi mi davne ˇ o sa kedi si na sveteˇ stalo. C Hej ti dolina pekna´ dolinecˇka Hej ti potocˇik na postrjed lu´cˇineˇ – Pa´sou sa jelenˇ na tej lucˇineˇ – Jelenˇ a to na jed’ineˇ. Jelenˇ jelenko nozˇe si lahnˇi Ku mneˇ peknje tvoje rozˇki Esˇteˇ som dosjal veru nevideˇu Na sveteˇ takje parozˇki.
16 Wie aus dem Zitat ersichtlich ist, handelt es sich hier um eine Art szenischer Anweisung. Kra´l verwendet dieses Verfahren auch an anderen Stellen des Zyklus, um zwei oder mehrere benachbarte Texte zu einer Szenenfolge zu verknüpfen, er tut dies aber nicht konsequent genug, als daß es von daher gerechtfertigt wäre, den Gesamtzyklus als ein dramatisches Werk zu qualifizieren. [Anm. d. Komm.]
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Sem hlauku tvoju sem na koleno Neˇch ju vihladka´m po vuoli mojej – Ja tiezˇ sa tara´m po pola´ch ak ti U mnˇa je tjezˇ zvik slobodi tvojej. Jelenko drahı´, deˇ zˇe ti bı´va´ˇs Ked’ noc sa cˇjerna rozklada´ – Jelenko cˇi t’i zima[?] 17 neˇbı´va´ Ked’ bistra´ rosicˇka pada´. Deˇ vtedi bı´vasˇ ked’ ja samotnı´ Klad’jem ohnı´cˇek v hu´ˇst’ineˇ – ˇ i ti ma´ˇs druhou, ma´ˇs kamara´tou C ˇ i si len tak na jed’ineˇ. C Schon habe ich die Arbeit vollendet,18 Was ich [umzugraben] hatte, das habe ich umgegraben. Der kleine Weinberg ist umgegraben, Das Gebet ist vollendet. Üppiges Tal, riesige Bäume, Dort hob sich mein Herz empor – Es flog auf den Bäumen wie ein Vogel, Auf alles lauerte es eifrig. Das Herz hatte keinen Platz in der Tiefe, Es beneidete das blaue Auge – Und wie ein Vöglein, so ins Gebüsch, In die hohen Berge flog es. Es flog das Herz wie ein Schmetterling, Kaum gab es Zeichen von sich – Es verschwand auf den Wellen der riesigen Berge, Es schwindet das Zittern der lebendigen Wellen. Ich setze mich auf den Berg dort, auf den hohen, Der Himmel glänzte so wie Glas – Es kamen mir in den Sinn [längst] vergangene Zeiten, Was sich einst auf der Welt ereignete.
17 Das Wort ist kaum lesbar, doch Pisˇu´ts Auslegung zima [›kalt‹] scheint anfechtbar. [Anm. v. R.J.] – Vgl. Kra´l’, Su´borne´ dielo (1959), S. 347. [Anm. d. Komm.] 18 Um die Verständlichkeit des Textes nicht zu beeinträchtigen, wurde in der Übersetzung die im Autorenmanuskript fehlende Interpunktion nach der letzten Gesamtausgabe von Kra´ls Werk (Su´borne´ dielo [1959], S. 346 f.) ergänzt. Die Übersetzung stammt, wie auch die Übersetzung aller anderen Zitate aus dem Slovakischen, vom Kommentator. [Anm. d. Komm.]
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Ha, du Bergtal, schönes kleines Bergtal, Ha, du Bächlein mitten auf der Wiese – Es weidete ein Hirsch auf dieser Wiese – Ein Hirsch, und dies ganz allein. Hirsch, Hirschlein, lege dich doch hin, [Lege] zu mir dein schönes Geweih, Noch nie habe ich bislang fürwahr gesehen Auf der Welt solche Sprossen. Hierher dein Köpfchen, hierher auf das Knie, Laß es mich streicheln nach meiner Lust – Ich streife auch auf den Feldern wie du, Ich habe auch die Gewohnheit deiner Freiheit. Teures Hirschlein, wo bist du denn, Wenn die schwarze Nacht sich ausbreitet – Hirschlein, ob es dir nicht kalt ist, Wenn der schnelle Tau fällt. Wo bist du dann, wenn ich einsam Feuerchen lege im Gebüsch – Hast du Gefährten, hast du Kameraden, Oder bist du nur so allein.
Das Gedicht besteht aus zehn Vierzeilern. Der erste Vierzeiler bildet zwei Paare achtsilbiger Zeilen mit einem jeweils anderen Reim in jedem Zweizeiler – aabb. In den anderen neun Vierzeilern enthält die dritte Zeile zehn Silben, ebenso die erste, mit Ausnahme der zweiten und der sechsten Strophe, die mit einer elfsilbigen Zeile beginnen; die meisten geraden Zeilen sind achtsilbig, während sechs hypermetrische gerade Zeilen dieselbe Silbenanzahl wie die vorausgehenden ungeraden Zeilen haben. Von zwei beliebigen nicht-benachbarten Versen innerhalb eines Vierzeilers ist die nachfolgende Zeile niemals länger als die vorausgehende. Die geraden Zeilen eines jeden Vierzeilers mit Ausnahme des ersten reimen sich. In den zwei Vierzeilern, die mit einer elfsilbigen Zeile beginnen, reimt sich die dritte Zeile mit beiden geraden Zeilen. Alle neun Vierzeiler mit untereinander reimenden geraden Zeilen enden mit einem Punkt. Ein Gedankenstrich am Ende der Zeile markiert die erste der beiden sich reimenden geraden Zeilen – mit einer Ausnahme (nach der 26. Zeile). In einem der zwei Vierzeiler, in denen sich die dritte Zeile mit den beiden geraden Zeilen reimt, gibt es einen zusätzlichen Gedankenstrich zwischen der dritten und vierten Zeile (nach der 23. Zeile des Gedichts). Das ist die einzige Funktion, die diese zwei Interpunktionszeichen in der Handschrift des Gedichts ausüben. Neben die-
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sen wird nur das Komma gelegentlich verwendet; es unterstreicht den Zeileneinschnitt nach der fünften Silbe in Zeilen mit zehn oder elf Silben, und zwar dann, wenn ein solcher Einschnitt mit einer wichtigen syntaktischen Pause zusammenfällt (5., 33. und 39. Zeile). Im ersten Vierzeiler wird der gerade Zweizeiler, der durch einen eigenen Reim zusammengehalten wird, mehr oder weniger deutlich nach rechts versetzt, ebenso die sich reimenden geraden Zeilen in den übrigen Vierzeilern, sodaß die Handschrift die regelmäßige Zweiteilung eines jeden Vierzeilers signalisiert.19 Das grundlegende Maß der geraden Zeilen ist achtsilbig (14 von 20). Die Abweichungen von diesem Maß weisen eine regelmäßige Aufteilung auf. Die mittlere Strophe der ersten fünf Vierzeiler ist die erste und die mittlere Strophe der letzten fünf Vierzeiler die letzte innerhalb des Gedichts, die dieses Maß in ihrer zweiten Zeile überschreitet. Während diese Überschreitung beim dritten Vierzeiler nach dem Gedichtanfang auf die zweite Zeile beschränkt ist, wird im dritten Vierzeiler vor dem Ende des Gedichts dieselbe Überschreitung auf die vierte Zeile ausgeweitet. Das Muster 4 ·10 im dritten Vierzeiler vor dem Ende wiederholt sich im sechsten Vierzeiler vor dem Ende. Ebenso kehrt das hypermetrische Muster des dritten Vierzeilers nach dem Anfang – 2 ·10 + 10 + 8 – im sechsten Vierzeiler – 2 ·11 + 10 + 8 – wieder. (Die Rolle des elfsilbigen Schemas bei der Ersetzung des zehnsilbigen Schemas sowie die Bedeutung der gerade beschriebenen *Symmetrien werden weiter unten untersucht.) Die Versstruktur des behandelten Gedichts ähnelt dem Muster der zehnsilbigen und achtsilbigen Zeilen, das Andrej Sla´dkovicˇs Gedicht Marı´na zugrundeliegt und das von Mikula´ˇs Bakosˇ analysiert worden ist, doch Kra´ls Rhythmen sind variabler. »Die Ähnlichkeit der rhythmischen Tendenzen des zehnsilbigen und achtsilbigen Verses verstärkt den jambischen Eindruck.« 20 Die Tendenz, Betonungen auf die geraden Silben zu legen, 19 In der von Milan Pisˇu´t besorgten, bis heute maßgeblichen Gesamtedition von Kra´ls Werk wird diese graphische Anordnung nicht respektiert. Der Text wird hier außerdem – mit Ausnahme der ersten Strophe – ohne Absetzung der Strophen durch eine Leerzeile wiedergegeben. Da jedoch dieses graphische Mittel der Strophentrennung auch in der ersten Version von Jakobsons Aufsatz nicht angewendet wird, ist anzunehmen, daß dies der graphischen Anordnung der Manuskriptfassung entspricht und die graphische Strophentrennung in der erweiterten Version des Aufsatzes in SW III von Jakobson selbst stammt. Ob die graphische Absetzung der ersten Strophe in der Ausgabe von Pisˇu´t der Manuskriptfassung entspricht, ist ohne Einsicht in die Handschrift nicht zu ermitteln. Eine kritische Edition von Kra´ls Œvre fehlt bis heute. [Anm. d. Komm.] 20 Bakosˇ, Vy´vin slovenske´ho versˇa, S. 120. [Anm. v. R.J.] – Im Unterschied zu der in
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insbesondere auf die inneren unter den geraden Silben (die vierte, sechste, und achte Silbe in den zwölfsilbigen Zeilen, die vierte und sechste in den achtsilbigen Zeilen), macht sich in den längeren Zeilen stärker bemerkbar. Insbesondere die *Wortgrenze in der Mitte der zehnsilbigen Zeilen (nach der fünften Silbe) sowie die Betonung auf der zentralen geraden (sechsten) Silbe sind nahezu obligatorisch. Die mittleren Vierzeiler in den beiden Hälften von Kra´ls Gedicht, der dritte und der achte, weisen das regelmäßigste metrische Schema in der zehnten Zeile nach dem Anfang und vor dem Ende des Gedichts auf, d. h. in der Zeile, die das erste Viertel des Gedichts abschließt, sowie in derjenigen, die das letzte Viertel eröffnet. Letztere Zeile stellt eine optimale jambische Sequenz dar, die einzige von der slovakischen Kunstdichtung sonst üblichen *syllabotonischen Prosodie ist der Vers der slovakischen Romantik entsprechend ihrer Orientierung an der Poetik der Volksdichtung im Prinzip rein *syllabisch, d. h. seine einzige rhythmische Konstante bildet die Silbenzahl bzw. – bei längeren Verszeilen – noch die *Zäsur in der Versmitte, während hier die nach Versfüßen geregelte Verteilung der Wortakzente innerhalb einer Verszeile bzw. eines Halbverses bloß eine im unterschiedlichen Maße realisierte rhythmische Tendenz darstellt. – Die Tendenz zur jambischen Verteilung der Wortakzente kommt in Andrej Sla´dkovicˇs umfangreichen Liebespoem Marı´na (1846) übrigens viel stärker zur Geltung als in dem Gedicht Kra´ls, dessen metrische Geordnetheit von Jakobson ganz offensichtlich überbewertet wird. Untersucht man nämlich auch die bei Jakobson nicht berücksichtigten Akzentverhältnisse in den *Senkungen, so stellt sich heraus, daß die These von der *jambischen Neigung vorbehaltlos nur für die achtsilbigen Verszeilen gilt, während in den zehnsilbigen Versen die jambische Ordnung ganz wesentlich dadurch gestört – wenn nicht gar ganz zerstört – wird, daß die dritte und die siebte Silbe genauso häufig mit einem Wortakzent belegt werden wie die jeweils nachfolgenden *Hebungen. Die beinahe konstante Akzentuierung der sechsten Silbe und die sich daraus bei der Initialstellung des slovakischen Wortakzents automatisch ergebende konsequente Einhaltung der Wortgrenze nach der fünften Silbe sind dagegen kein Spezifikum Kra´ls, sondern ergeben sich automatisch daraus, daß im syllabischen Zehnsilber zwischen der fünften und sechsten Silbe normalerweise die Zäsur liegt (vgl. dazu Bakosˇ, Vy´vin slovenske´ho versˇa, S. 112; hier finden sich auf S. 121 auch die statistischen Angaben zur Häufigkeitsverteilung der Wortakzente in Marı´na, aus denen klar hervorgeht, daß in Sla´dkovicˇs Zehnsilber auch die Akzentverhältnisse in den Senkungen einer deutlich profilierten jambischen Tendenz entsprechen). Im Unterschied zu der Betonung der ungeraden Silben im Versinneren ist die fast regelmäßige Akzentuierung der ersten Silbe, wie man sie in Kra´ls Gedicht beobachten kann, nicht unbedingt als eine Störung der jambischen Ordnung zu werten, da im slovakischen Jambus infolge der Anfangsstellung des slovakischen Wortakzents und dem sich daraus ergebenden Mangel an ansteigenden Worttakten die sog. daktylischen Anfänge (– statt – ) toleriert und auch in streng syllabotonischen Gedichten durchaus üblich sind. Zu beachten ist dabei, daß das Zeichen / ´ / über einem Vokal nicht den Wortakzent, sondern die Vokallänge angibt. [Anm. d. Komm.]
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allen Zeilen mit einer Betonung auf der letzten Silbe – 31 Ja tjezˇ sa t ara´m po pola´ch ak t i –, wohingegen die erstere Zeile den maximalen Kontrast zur jambischen Neigung des Gedichts aufweist; sie ist die einzige, welche den Einschnitt nach der fünften Silbe und die Betonung auf der sechsten Silbe ausläßt, und sie läßt nur geradsilbige Wörter zu (2 + 4 + 4): 10 Oku b elasjemu z avideˇlo – die optimale *trochäische Sequenz. Den dritten und den sechsten Vierzeiler vom Gedichtanfang könnte man die erste und die zweite progressive Ternärstrophe nennen und den dritten und den sechsten Vierzeiler vom Gedichtende dementsprechend die erste und die zweite regressive Ternärstrophe. Die Beziehung zwischen den beiden ersten Ternärstrophen und zwischen der ersten und der zweiten Strophe innerhalb beider Ordnungen macht sich nicht nur auf der metrischen Ebene bemerkbar, sondern auch in der verbalen Organisation der vier Vierzeiler. Das Repertoire an grammatischen Kategorien ist streng selektiv, sowohl im Werkganzen als auch in dessen verschiedenen Abschnitten. Das restriktive Prinzip erhöht die künstlerische Effektivität der im Gedicht wirksamen »grammatischen Konzepte« (gemäß Edward Sapirs Terminologie 21 ). So werden durch die vollständige Abwesenheit von nicht-finiten Verbalformen die finiten Formen in den Vordergrund gerückt, und zwar sowohl die einfachen als auch die zusammengesetzten: Das Gedicht ist frei von Infinitiven, Gerundien und autonomen Partizipien. Die Auslassung des Futurs und des Konditionals – der nicht-aktuellen, potentiellen »Tempora« in der Terminologie von Pauliny 22 – läßt den *Kontrast zwischen den beiden aktuellen Tempora – dem Präsens und dem Präteritum – voll zur Geltung kommen. Das Werk unterteilt sich in zwei strophische Fünfergruppen, und diese zwei Hälften unterscheiden sich stark voneinander in der grammatischen Zusammensetzung. Insbesondere die acht Indikativformen der *perfektiven Verben in der ersten Fünfergruppe haben keine Entsprechung in der zweiten Hälfte des Gedichts. Was die *imperfektiven Verben 21 Sapir, Language, Kapitel 5: »Form in Language: Grammatical Concepts«, S. 82– 119. [Anm. v. R.J.] – Vgl. die identische Argumentation in Jakobsons Analyse von Siluans Lobpreis auf Simeon: »Unter den wirksamen künstlerischen Mitteln muß man natürlich auch die strenge Beschränkung des Repertoires grammatischer Kategorien erwähnen, welche in den Lobpreis auf Simeon Eingang finden. […] Gerade kraft dieser strengen Auswahl gewinnt er Kürze, Zielstrebigkeit und kompositorische Einheit.« (Jakobson, »Siluans Lobpreis auf Simeon«, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 506; vgl. die russische Fassung »Slavoslovie Siluana Simeonu«, S. 214.) [Anm. d. Komm.] 22 Pauliny, »Slovesny´ cˇas v slovencˇine«, S. 345 f.
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anbetrifft, so kommt deren Präteritum achtmal in der ersten Fünfergruppe vor, aber nur zweimal in den ersten zwei Strophen der zweiten Fünfergruppe und überhaupt nicht mehr in den nachfolgenden Vierzeilern, wohingegen das Präsens der Imperfektivformen elfmal in der zweiten Fünfergruppe erscheint, und zwar ausschließlich in den letzten zehn Zeilen, aber nur einmal in der ersten Fünfergruppe. Es gibt in der ersten Fünfergruppe keine Entsprechung zu solchen Formen des Personalpronomens der zweiten Fünfergruppe wie zu dem nominativischen ja [›ich‹] (zweimal), ti [›du‹] (fünfmal), zu den vollen *obliquen Formen (dlhsˇie tvary) 23 mnˇa, mneˇ [›mich, mir‹], oder zu den Possessivformen mojej [›meiner‹], tvoje, tvoju, tvojej [›dein‹, ›deine‹, ›deiner‹], noch zu den sechs Verben in der zweiten *Person. Nur die enklitische Dativform mi [›mir‹] kommt in der ersten Fünfergruppe zweimal vor (vgl. 35 t’i [›dir‹]). Das Neutrum Singular, das in der ersten Fünfergruppe überwiegt, spielt nur in einer einzigen präpositionalen Konstruktion in der zweiten Fünfergruppe (na koleno [›auf (das) Knie‹]) eine Rolle; in den ersten zwanzig Zeilen des Gedichts wird das Neutrum Singular durch fünfzehn Substantive und Pronomen vertreten (neun Nominative und sechs oblique Kasus) sowie durch elf finite Verben, die von Subjekten im Neutrum abhängen. Alle explizit ausgedrückten grammatischen Subjekte sind in der ersten Hälfte des Gedichts unbelebt, während in der zweiten Fünfergruppe solche Satzphrasen wie 23 Pa´sou sa jelenˇ [›(Es) weidete (ein) Hirsch‹], 31 Ja´ 〈…〉 sa tara´m [›Ich 〈…〉 streife‹], 33 ti bı´va´ˇs [›du bist‹], 37 ja 〈…〉 38 Klad’jem [›ich 〈…〉 Lege‹], 39 ti ma ´ˇs [›du hast‹] erscheinen. (Auf einige andere grammatische Unterschiede zwischen den beiden Fünfergruppen wird später eingegangen.) Der Anfangsvierzeiler hat einen besonderen Stellenwert in der ersten Fünfergruppe sowie im Gedicht insgesamt. Das achtsilbige Maß aller 23 Entsprechend der ursprünglichen Bestimmung des Aufsatzes als Beitrag für eine slovakische Festschrift hat Jakobson manchen Begriffen ihre slovakischen Äquivalente beigefügt, die auch in der in SW III veröffentlichten Version beibehalten wurden. – Die vollen Formen (dlhsˇie tvary) des Personalpronomens der ersten Person im Dativ (mneˇ ) und im Akkusativ bzw. Genitiv (mnˇa) werden im Unterschied zu den kurzen, *enklitischen Formen (mi, ma) in einer betonten Position und nach Präpositionen verwendet. In den fünf letzten Strophen finden sich zwei solche Formen jeweils in Verbindung mit einer Präposition im Dativ – Ku mneˇ [›Zu mir‹] – und im Genitiv – U mnˇa je [›Bei mir ist‹]. Die possessive Verwendung der Präpositionalkonstruktion »u mnˇa je« [›bei mir ist‹] in der letzten Zeile der achten Strophe ist im Slovakischen – im Unterschied zum Deutschen – zwar prinzipiell möglich, aber sehr ungewöhnlich und ist wohl als eine Entlehnung aus dem Russischen zu werten. [Anm. d. Komm.]
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Zeilen und das Reimschema aabb setzt diese Präambel von den anderen Strophen ab; ihre Zweizeiler sind einander offensichtlich gegenübergestellt, und zwar nicht nur durch verschiedene Reime, sondern auch durch den hauptsächlich jambischen Charakter der ersten zwei Zeilen und durch das trochäische Muster des zweiten Zeilenpaars, das absichtlich mit der klar jambischen Tendenz der nachfolgenden Verse in Konflikt gerät: 1 2 3 4 5 6
Uzˇ som si pr acu d okonau ˇ o som mau t o som okopau C V inˇicˇka je okopana´ M odlitba je d okonana´ ´ dolja b ujnuo, str omi v elicˇiznje U Tam sa mi s rdce zdv ´ıhalo –
In der grammatischen Zusammensetzung des Anfangsvierzeilers fallen einige Merkmale mit dem weiteren Teil der ersten Fünfergruppe zusammen, während andere sich davon absetzen; entweder kehren die letzteren in der zweiten Fünfergruppe wieder, oder sie bleiben eine distinktive Eigenschaft der Präambel selbst. Der erste Zweizeiler enthält drei Verben in der ersten Person Singular des Präteritums; zwei davon – in den Hauptsätzen – sind perfektiv, und eins davon – im Nebensatz – ist imperfektiv. Eine solche Kombination kommt in den beiden Fünfergruppen sonst nicht vor.24 In den weiteren Strophen derselben Fünfergruppe gibt es keine Kombination des Präteritums mit der ersten Person und in der folgenden Fünfergruppe keine Kombination des Präteritums mit dem perfektiven Aspekt. Der zweite Zweizeiler enthält die einzigen Passivkonstruktionen des gesamten Gedichts und die einzigen grammatisch femininen Subjekte innerhalb der ersten Fünfergruppe,25 während ein ähnliches grammatisches Paar – die Subjekte 34 noc [›Nacht‹] und 36 rosicˇka [fem. dimin. ›Tau‹] – gegen Ende des Gedichts wiederkehrt. Das mit dem alten Mann verbundene Motiv der finalen Vollendung wird durch das Adverb uzˇ [›schon‹] eingeführt, durch das Präteritum und den perfektiven Aspekt (dokonavy´ vid ) sowie durch die *lexikalische Bedeutung des Verbs dokonau – ›vollendete‹. Im zweiten Zweizeiler erscheinen dieselben perfektiven Verben in umgekehrter Reihenfolge und 24 Der in SW III edierte Text ist an dieser Stelle durch Vertauschung mehrerer Druckzeilen und ganzer Satzteile sowie durch die Auslassung eines ganzen Satzes beschädigt und wurde hier unter der Einbeziehung der Erstfassung von 1964 emendiert. [Anm. d. Komm.] 25 Gemeint sind die Subjekte 3 Vinicˇka [dimin. ›Weinberg‹] und 4 Modlitba [›Gebet‹], die im Slovakischen feminin sind. [Anm. d. Komm.]
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verwandelt in eine Passivkonstruktion, die das Agens verdeckt und die spezifischen Ziele der Handlungen in den Brennpunkt rückt. Die Vollendung des letzten Gebets schließt das Anfangsbild der vollendeten Arbeit ab, und das, »was ich [umzugraben] hatte« (2 Cˇo som mau) wird als »ein kleiner Weinberg« (fem. dimin. 3 Vinicˇka) umdefiniert, der umgegraben wurde (okopana´). In der Bildhaftigkeit der Volksdichtung besitzen der kleine Weinberg und das Umgraben eine klar umrissene *Konnotation: ›umgraben‹ bedeutet sich lieben, wie Potebnja in seiner berühmten Monographie über den Symbolismus slavischer Lieder herausgestellt hat.26 Der semantische *Parallelismus beider Zeilen wird durch eine *Assonanz verstärkt, die sieben Silben umfaßt: 3 4
Vinˇicˇka je okopana´ Modlitba je dokonana´
Der von dem alten Mann gesprochene Epilog, der die Präambel ausfüllt, wird durch zwei dramatische Szenen abgelöst – die nächsten vier Strophen (nennen wir sie den Hauptteil der ersten Fünfergruppe) sowie die ganze zweite Fünfergruppe. Beide Szenen werden durch verblose Paare ´ dolja 〈…〉, stromi [›Tal 〈…〉, Bäuparataktischer Substantive eröffnet: 5 U me‹] und 21 dolina 〈…〉 potocˇik [›Bergtal 〈…〉 Bächlein‹]. Diese zwei Konstruktionen (und keine anderen) werden von Elfsilbern getragen – den längsten Zeilen des Gedichts –, und der Parallelismus beider Vierzeiler wird durch die Beteiligung deren jeweils dritter Zeile am Reim der geraden Zeilen verstärkt: 6 zdvı´halo – 7 ljetalo – 8 ˇcihalo [›hob – flog – lauerte‹] und 22 lu´ˇcineˇ – 23 lucˇineˇ – 24 na jed’ineˇ [›Wiese – Wiese – allein‹]. Der lebendige Kontrast zwischen dem aktiv Männlichen und dem passiv Weiblichen, der in den zwei Zweizeilern der Präambel verkörpert ist – dokonau, okopau [›(hat) vollendet, (hat) umgegraben‹] und okopana´, dokonana´ 27 [›umgegraben, vollendet‹] – weicht der Dominanz des Neutrums in sämtlichen weiteren Strophen der ersten Fünfergruppe ab ihrer ´ dolja bujnuo [›üppiges Tal‹]. Die erste Person – das Anfangsphrase – 5 U dreifache som [›bin‹] des ersten Vierzeilers 28 – wandelt sich von einem Agens in einen vage umrissenen Empfänger von Handlungen, in den 26 Potebnja, Ob”jasnenija narodnych pesen, Bd. 2, S. 234: »rubit’ = orat’ = kopat’ = kosit’ = ljubit’« [›hauen = pflügen = graben = mähen = lieben‹]. 27 Das grammatische Genus wird im Slovakischen – wie auch in anderen slavischen Sprachen – auch durch die Endungen des aktiven und passiven Partizips ausgedrückt. [Anm. d. Komm.] 28 In der Übersetzung ist die erste Person des Hilfsverbs »byt’« [›sein‹] durch entsprechende Formen des Hilfsverbs »haben« wiedergegeben. [Anm. d. Komm.]
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enklitischen Dativ mi [›mir‹], während die Rolle des Agens zum *pars pro toto, srdce [›Herz‹], wird, das mit einem anderen *synekdochischen Bild, oko [›Auge‹], konkurriert. Der Kontrast zwischen dem horizontalen Tal und den vertikalen stromi velicˇiznje ›riesigen Bäumen‹ eröffnet die jähe Aufwärtsbewegung, die in den drei internen Strophen der ersten Fünfergruppe dargestellt wird. Das Herz steigt an den Bäumen hinauf in die Höhe. Kra´l adaptiert und objektiviert die in umgangssprachlichen Ausdrücken enthaltenen verbalen *Metaphern,29 um das Aufsteigen des Herzens des alten Mannes darzustellen. Srdce [›Herz‹], dreimal genannt und einmal als ono [›es‹] bezeichnet, zudem durch neun Prädikate begleitet, ist das einzige grammatische Subjekt in den zehn mittleren Zeilen der Fünfergruppe (6.–15. Zeile). Dreimal erscheint das Bild des fliegenden Herzens, jedesmal gefolgt von einem Vergleich mit einem geflügelten Wesen, und diese metaphorischen Zusätze sind die einzigen belebten Substantive und die einzigen Singularformen der maskulinen Substantive in der ganzen Fünfergruppe. Die erste Darstellung des Flugs – 7 po stroma´ch ak ftak ljetalo [›Auf (den) Bäumen wie (ein) Vogel flog (es)‹] – in der unbestimmten Vielfalt des imperfektiven Aspekts wird von der determinierten Form gefolgt, die mit einer intendierten Richtung der Handlung (smer dejania) einhergeht – 11 ako fta´ˇcik 〈…〉 12 Do vrchou velkı´ch leteˇlo [›wie (ein) Vöglein 〈…〉 In (die) hohen Berge flog (es)‹]. Die nachfolgenden Vergleiche spielen auf die immer kleiner werdende Gestalt des Herzens an, als dieses vom Tal abhebt: 7 ak ftak – 11 ako fta´ˇcik – 13 Leteˇlo srdce ako motı´lok [›wie (ein) Vogel – wie (ein) Vöglein – (Es) flog (das) Herz wie (ein) Schmetterling‹]. Die *Inversion Leteˇlo srdce [›(Es) flog (das) Herz‹] entfernt das Agens und nimmt dessen baldiges Verschwinden vorweg, das in den nachfolgenden Zeilen erzählt wird. Diese führen den perfektiven Aspekt wieder ein, der in der Präambel verwendet wurde: 14 Sotvi zˇe dalo znamenˇja – 15 Zmizlo na lunach huor velicˇiznı´ch [›Kaum gab (es) Zeichen (von sich) – (Es) verschwand auf (den) Wellen (der) riesigen Berge‹]. Das Herz des alten Mannes verschwindet über ›den Wellen der riesigen Berge‹, 29 Gemeint sind hier offenbar die in der Umgangssprache bereits weitgehend lexikalisierten Verbalmetaphern, die darauf basieren, daß ein Verb, das normalerweise ein belebtes Subjekt voraussetzt, synekdochisch mit einem Körperteil verknüpft wird. Umgangssprachliche Ausdrücke im eigentlichen Sinne des Wortes kommen dagegen in dem Text kaum vor, wohl aber viele grammatische Formen, *Lexeme und Wendungen, die vom Standpunkt der heutigen schriftsprachlichen Norm als mundartlich zu bezeichnen wären. In bezug auf die Entstehungszeit des Gedichts ist jedoch diese Unterscheidung kaum zu treffen, da die Sprache, in der es geschrieben ist, zu diesem Zeitpunkt noch über keine feste schriftsprachliche Norm verfügte. [Anm. d. Komm.]
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nachdem es seinen ungestümen Flug an den riesigen Bäumen des Tals (5 stromi velicˇiznje) hinauf begonnen hat. Das imperfektive Präsens, das plötzlich die Kette der Perfektiv- und Präteritumsformen unterbricht, und das sehr kühne Bild, welches das zitternde Herz mit der welligen Fläche der Gebirgskette verbindet – 16 Kape lu´n zˇivı´ch strasenˇja [›(Es) schwindet (der) lebendigen Wellen Zittern‹] verewigen das kosmische Thema des Verschwindens. Majakovskijs Analogie dazu: »V konce koncov — vsemu konec. Drozˇi konec tozˇe.« [›Letzten Endes — hat alles ein Ende. Auch das Zittern hat ein Ende.‹] 30 Anstatt der drei Vergleiche, die in dem zweiten, dritten und vierten Vierzeiler verwendet werden und die sich ab inanimali ad animale entfalten, entfaltet sich der Vergleich im fünften Vierzeiler zum ersten und letzten Mal im Gedicht ab inanimali ad inanimale 31 und verbindet zwei unbelebte Substantive im Neutrum: 18 Neˇbo ako sklo [›Himmel wie Glas‹]. Die Sequenz der *Verbalaspekte in den Präterita des fünften Vierzeilers entspricht genau derjenigen der vorherigen Strophe; vgl. impf. 13 Lete ˇlo [›flog‹] – pf. 14 dalo [›gab‹], 15 Zmizlo [›verschwand‹] und impf. 18 sa jagalo [›glänzte‹] – pf. 19 Pris ˇli [›kamen‹], 20 sa 〈…〉 stalo [›sich 〈…〉 ereignete‹]. Handlungen, die sich auf direkte *Objekte beziehen, hören mit der Präambel auf. Das reflexive *Genus verbi des ersten Verbs in der nachfolgenden, zweiten Strophe – 6 Tam sa mi srdce zdvı´halo [›Dort sich hob mir (das) Herz‹] – signalisiert die Abwesenheit eines externen Objektes. Dasselbe Genus verbi kehrt zweimal in der letzten Strophe der ersten Fünfergruppe wieder. Die dritte und vierte Strophe enthalten zwei *transitive Verben, doch beide befinden sich in negierten Sätzen: 9 neˇmalo mesta [›hatte nicht Platz‹] (mit dem Objekt im Genitiv) und 14 Sotvi zˇe dalo znamenˇja [›Kaum gab (es) Zeichen (von sich)‹] (möglicherweise auch mit einem Genitiv; vgl. solche geläufigen Wendungen wie sotva zazˇila dobre´ho slova [›sie hat kaum ein gutes Wort erfahren‹]).32 30 Pro ˙eto (›Deshalb‹). [Anm. v. R.J.] – Es handelt sich um die Schlußverse des »Poslednjaja smert’« [›Der letzte Tod‹] überschriebenen Abschnitts aus dem zweiten Gesang von Majakovskijs 1923 erschienenen Poem (v. 1525–1527). Vgl. Majakovskij, Polnoe sobranie socˇinenij, Bd. 4, S. 135–184, hier: S. 177. [Anm. d. Komm.] 31 Vgl. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, S. 287; Besharov, Imagery of the Igor’ Tale, S. 9–11. 32 Oravec, »Podstata za´porove´ho genitivu«, S. 88. [Anm. v. R.J.] – Im Slovakischen wird – wie auch in anderen slavischen Sprachen – das Akkusativobjekt in negativen Sätzen unter bestimmten Bedingungen durch ein Genitivobjekt, den sog. Genitiv der Verneinung, ersetzt. Im vorliegenden Falle läßt sich die Frage, ob es sich um einen Akkusativ oder Genitiv handelt, nicht eindeutig entscheiden, da bei dem
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Weitere gemeinsame Merkmale verbinden den fünften und zweiten Vierzeiler, die beide periphere Strophen im Hauptteil der ersten Fünfergruppe darstellen. Der maskuline Nominativ Plural – 5 stromi velicˇiznje [›riesige Bäume‹] – führt das erste dynamische Motiv, den Aufstieg des Herzens (vgl. 7 po stroma´ch [›auf den Bäumen‹], 12 do vrchou velkı´ch [›in (die) hohen Berge‹]), ein, und eine identische Form leitet das zweite dynamische Motiv, den Anbruch der vergangenen Zeiten ein – 19 Prisˇli na misel ˇcasi mi davne [›(Es) kamen in (den) Sinn mir vergangene Zeiten (mask.)‹]. Sowohl im neuen wie im vorausgegangenen narrativen Ereignis nimmt die erste Person lediglich als ein enklitischer Dativ mi [›mir‹] (6 Tam sa mi srdce zdvı´halo [›Dort sich hob mir (das) Herz‹]) teil, der nicht das Agens, sondern lediglich die Richtung der Handlungen und den Besitzer von deren Subjekt bzw. deren adverbialem *Modifikator bezeichnet.33 Die narrativen Sätze dieser Strophe werden aber durch die Form der ersten Person Singular des perfektiven Präsens in seiner hortativen Funktion eingeleitet 34 – 17 Sadneˇm na horu tam na visoku´ [›(Laß mich) setzen auf (den) Berg dort, auf (den) hohen‹] –, als ob sich der alte Mann dem Aufstieg des Herzens anschließen sollte (vgl. dasselbe richtungsweisende Adverb in 6 Tam sa mi srdce zdvı´halo [›Dort sich hob mir (das) Herz‹]). Noch einmal tritt eine gleichartige, jedoch explizitere Aufforderung in der achten Strophe auf – 30 Neˇch ju vihladka´m [›Laß es (mich) streicheln‹]; so zeigt die zweite regressive Ternärstrophe ihre vorwegnehmende Rolle in bezug auf die erste. Die aufsteigende Bewegung der drei vorausgehenden Strophen setzt sich in dieser letzten Strophe der ersten Fünfergruppe fort – ›dort auf den Berg, auf den hohen‹, wo es dort weiter oben nichts mehr gibt außer ›dem Himmel, der wie Glas glänzt‹ (eine Gleichsetzung zweier unbelebter Wörter) –, während auf der anderen Seite die Sehnsucht, sich hinzusetzen, die ganze Tendenz der zweiten Fünfergruppe hin zum Talboden und zum Stillstand vorhersagt. Substantiv »znamenje« [›Zeichen‹] Akkusativ Plural morphologisch identisch ist mit Genitiv Singular. [Anm. d. Komm.] 33 Pauliny, Sˇtruktu´ra slovenske´ho slovesa, S. 62: »Datı´v vyjadruje osobu, pre ktoru´ sa cˇinnost’ kona´, azˇ v druhom rade 〈…〉. Vyjadruje majitel’a subjektu alebo predmetu, ktory´ funguje ako prı´slovkove´ urcˇenie, vyjadruju´c miesto, na ktorom sa dejanie kona´, alebo ku ktore´mu (od ktore´ho) smeruje.« [›Der Dativ drückt die Person, wegen der die Tätigkeit stattfindet, erst an zweiter Stelle aus 〈…〉. Er drückt den Besitzer des Subjekts oder eines Gegenstandes aus, der als eine adverbiale Bestimmung funktioniert, die den Ort zum Ausdruck bringt, an dem die Handlung stattfindet oder an den (oder von dem aus) sie gerichtet ist.‹] 34 Siehe Miko, »Prı´tomny´ cˇas oznamovacieho spoˆsobu«, S. 353: »dej zˇiadany´, postulovany´« [›die erwünschte, postulierte Handlung‹].
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Mit der Kulmination des Aufstiegsthemas scheint sich der Lauf der Zeit umzukehren. ›Was sich einst in der Welt ereignete‹, kehrt zum alten Mann zurück. Diese Schlußzeile der ersten Fünfergruppe – 20 Cˇo sa kedi si na sveteˇ stalo [›Was sich einst auf (der) Welt ereignete‹] – sticht durch ihre vier /s/ hervor sowie durch ihre zehn kurzen Vokale, die den zehn kurzen Vokalen des korrespondierenden Verses entsprechen – 18 Neˇbo ako sklo tak sa jagalo [›(Der) Himmel wie Glas, so glitzerte (er)‹]. Die zweite Fünfergruppe, welche die vergangenen Zeiten darstellt, wie sie dem alten Mann ›in den Sinn kamen‹, und ebenso der Hauptteil der ersten Fünfergruppe, in der die Geschichte seiner Tagträume durch das vollständige Ende seiner Arbeit hervorgerufen wird, beginnen mit Vierzeilern, die sowohl divergieren als auch konvergieren. Von den rein nominalen Konstruktionen, die beide Vierzeiler eröffnen, ist die erste – ´ dolja bujnuo, stromi velicˇiznjeˇ [›Üppiges Tal, riesige Bäume‹] – ein 5 U vorweggenommener adverbialer Modifikator, der sich auf den darauffolgenden Satz bezieht – 6 Tam sa mi srdce zdvı´halo [›Dort sich hob mir (das) Herz‹], während im zweiten Fall beide unabhängige Substantive wie *Apostrophen funktionieren – 21 Hej ti dolina 〈…〉 〈!〉 22 Hej ti potocˇik 〈…〉 〈!〉 [›Ha, du Bergtal 〈…〉 〈!〉 Ha, du Bächlein 〈…〉 〈!〉‹]. In beiden Konstruktionen sind beide Substantive unbelebt, aber die sechste Strophe antwortet auf das Neutrum des zweiten Vierzeilers mit einem Femininum ´ dolja – 21 dolina [›Tal‹ – fem. ›Bergtal‹]) sowie mit mit gleicher Wurzel (5 U einem maskulinen Singular auf den maskulinen Plural (5 stromi – 22 potocˇik [›Bäume‹ – mask. ›Bächlein‹]). In der zweiten Fünfergruppe ersetzen feminine Nominative (34 noc, 36 rosicˇka [›Nacht‹, fem. ›Tau‹]) die Neutra der Strophen II–V,35 und zum ersten Mal erscheint das unbelebte Maskulinum in seiner Singularform (38 ohnı´ˇcek [mask. ›Feuerchen‹]). Zum wiederholten Mal wirkt das Diskursuniversum 36 etwas personalisierter. Das einzige Verb im sechsten Vierzeiler – 23 Pa´sou sa [›weidete‹] – ist die letzte Form der dritten Person im ganzen Text und unter den Präterita die letzte affirmative und reflexive Konstruktion. Das einzige weitere Präteritum – 27 Esˇteˇ som dosjal veru nevideˇu [›Noch habe (ich) bislang fürwahr nicht gesehen‹] – kontrastiert offensichtlich mit der ersten Zeile des Gedichts, in der Uzˇ som 〈…〉 dokonau [›Schon habe (ich) 〈…〉 vollendet‹] das Ende durch solche Mittel wie das Adverb ›schon‹, den perfektiven Aspekt und das Verb selbst betont, wohingegen in der siebten 35 In SW III irrtümlich: »Strophen II–IV«. [Anm. d. Komm.] 36 Vgl. Jakobsons Aufsatz »Linguistik und Poetik«, wo dieser Begriff ebenfalls verwendet wird, sowie Hendrik Birus’ Kommentar dazu (s. Bd. 1, S. 158, Anm. 10). [Anm. d. Komm.]
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Strophe die zurückkehrende Vergangenheit ankündigt, daß ›fürwahr bislang‹ kein vorausgehendes ›schon‹ stattgefunden hat. Die Wiederherstellung der vergangenen Zeit ersetzt schließlich das Präteritum durch das Präsens, welches das einzige verbale *Tempus ist, das in der zweiten Hälfte der zweiten Fünfergruppe zugelassen ist: Die letzten zehn Zeilen des Gedichts enthalten elf Formen des Präsens. Die bereits erwähnte Korrespondenz zwischen den Versmustern der beiden progressiven Ternärstrophen, der ersten und der dritten, hat auch ein semantisches Pendant: zwei ähnliche Diminutiva vor dem Zeileneinschnitt – 11 A ako fta´ˇcik [›Und wie (ein) Vöglein‹] und 22 Hej ti potocˇik [›Ha, du Bächlein‹] – und die zwei ähnlichen Adverbiale in der zweiten Hälfte derselben Zeilen – 11 tak do husˇt’ini [›so ins Gebüsch‹] und 22 na postrjed lu´ˇcineˇ [›mitten auf (der) Wiese‹]. Der wesentliche Unterschied besteht allerdings zwischen dem Herzen oder dem Vogel, die aus der unerträglichen Tiefe unwiderstehlich hinaufgezogen werden, und auf der anderen Seite der Erdverbundenheit, die sich am Anfang der zweiten Fünfergruppe zeigt und in den folgenden Strophen entwickelt wird. Die Wiederkehr der Vergangenheit verwandelt den Aufstieg in eine Fixierung am Grund. Ein trance-artiger Wechsel zwischen gleitendem Aufsteigen und jähem Fallen ist der Dreh- und Angelpunkt der dramatischen Lyrik Kra´ls. »Meine Seele«, sagt der Dichter in einem der Sechszeiler in »Tu´zˇenie« [›Sehnsucht‹, 1845], »fliegt einmal aufwärts und einmal plötzlich wieder hinunter« – Letı´ hned’ hore a hned’ dolu zase.37 Es ist bezeichnend, daß unter den sechs Fällen der Präposition na [›auf‹] in der zweiten Fünfergruppe fünf – vor allem alle drei Erscheinungsformen in der sechsten Strophe – den richtungslosen *Lokativ benutzen,38 wohingegen von allen Fällen (ebenfalls sechs) derselben Präpo37 Kra´l’, Su´borne´ dielo (1959), S. 59. Anregende Bemerkungen zum Thema der Mobilität in der Bildhaftigkeit Kra´ls liefert Kochol, Poe´zija ˇstu´rovcov, S. 243–288; vgl. S. 282: »Pohybovost’ ako za´kladny´ konsˇtruktı´vny princı´p Kra´l’ovho umelecke´ho zobrazovania, jeho ba´snickej ˇstruktu´ry i ako podstatny´ prı´znak ba´snikovho gnozeologicke´ho u´silia, nastol’ovania a riesˇenia ideologicky´ch a tematicky´ch u´loh v jeho poe´zii 〈…〉« [›Die Beweglichkeit als ein grundsätzliches Konstruktionsprinzip von Kra´ls künstlerischer Bildhaftigkeit, seiner dichterischen Struktur und als ein wesentliches Merkmal der gnoseologischen Bemühung seiner Dichtung, der Inthronisierung und Lösung ideologischer und thematischer Aufgaben in seiner Dichtung 〈…〉‹]. 38 Die Präpositionalkonstruktion »na jed’ineˇ« in der 24. und 40. Zeile wurde hier mangels einer besseren Lösung mit »allein« übersetzt. Die Konstruktion ist vermutlich Kra´ls Eigenprägung und könnte in wörtlicher Übersetzung etwa mit »im Alleinsein« wiedergegeben werden. [Anm. d. Komm.]
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sition in der ersten Fünfergruppe vier mit dem Akkusativ verbunden sind – drei von ihnen in der fünften Strophe.39 Die anderen Präpositionen werden in jeder der beiden Fünfergruppen insgesamt viermal verwendet, und zwar mit dem Lokativ und dem Genitiv. In beiden Kombinationen mit dem Genitiv weist die erste Fünfergruppe das richtungsweisende do [›nach‹, ›in‹] auf, wohingegen der einzige *präpositionale Genitiv in der zweiten Fünfergruppe das richtungslose u [›bei‹] ist. In den affirmativen Sätzen 40 der zweiten Fünfergruppe drücken alle Tätigkeitsverben ein Absinken oder ein Sich-Ausbreiten über eine Fläche aus: 23 Pa´sou sa jelenˇ ›ein Hirsch weidete‹, 25 nozˇe si lahnˇi ›leg dich hin‹, 30 Ne ˇch ju vihladka´m po vuoli mojej ›Laß mich deinen kleinen Kopf streicheln‹, 31 Ja tiezˇ sa tara´m po pola´ch ›auch ich streife über die Felder‹, 34 noc sa 〈…〉 rozklada ´ ›die Nacht breitet sich aus‹, 36 rosicˇka pada´ ›der kleine Tau fällt‹, 38 klad’jem ohnı´ˇcek ›ich mache [wörtlich: lege] ein kleines Feuer‹.41 Die Bewegungen verlieren ihre Dynamik, und die unabhängigen Sätze der letzten neun Zeilen beschränken ihre finiten Formen auf grammatische und formale, ja sozusagen pronominale Verben – das *intransitive ›sein‹ (32 je [›ist‹], 33, 37 bı´va´ˇs [›bist‹], 35 neˇbı´va´ [›ist nicht‹], 40 si [›bist‹]) und das transitive ›haben‹ (zweimal 39 ma´ˇs [›hast‹]). Bestimmt eine fortschreitende Steigerung die Bilderkette in der ersten Fünfergruppe – Tal, Bäume, Berge, Himmel –, so folgt die Anordnung der Bilder in den ersten Strophen der zweiten Fünfergruppe der Methode des fortschreitenden Einengens, einem geläufigen Kompositionsverfahren in slavischen Volksliedern, das in der ausführlichen Beschreibung von Boris Sokolov als eine innere Verkettung von Bildern bestimmt wurde, die sich allmählich vom weitesten bis zum engsten Bild hin verringern.42 Dieses konzentrische Prinzip hat eine Analogie in der Filmkunst, in der ein fortschreitend verengtes Blickfeld ein häufig verwendetes Verfahren ist. Der sechste und der siebte Vierzeiler evozieren nacheinander das Bergtal (21 dolina), die durch ein Bächlein geteilte Wiese (22 lu´ˇcina), den auf der Wiese weidenden Hirsch (23 jelenˇ ), dessen Geweih (26 rozˇki) und schließlich dessen Sprossen (28 parozˇki). Eigentlich weist die Reduktions39 Die Präpositionalkonstruktion »na misel« (Akkusativ) in der 20. Zeile ist in der Übersetzung mit »in den Sinn« wiedergegeben. [Anm. d. Komm.] 40 Als ›affirmative Sätze‹ bezeichnet Jakobson alle Sätze ohne Satznegation. [Anm. d. Komm.] 41 Die Zitate werden hier von Jakobson z. T. nicht wörtlich übersetzt, sondern bloß paraphrasiert. [Anm. d. Komm.] 42 Sokolov, »E˙kskursy v oblast’ poe˙tiki«, hier Abschnitt III. A: »Postepennoe suzˇenie obrazov« [›Allmähliche Einengung der Bilder‹], S. 38–53.
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abfolge eine noch längere Sequenz auf. Der Hinweis auf das Bergtal wird vom Diminutiv 21 dolinecˇka [›das kleine Bergtal‹] gefolgt, und der Hirsch wird zunächst mit seinem vollen Namen und dann mit einem diminutiven *Hypokoristikum, 25 jelenko, benannt.43 In der slavischen Folklore ist der Hirsch mit seinem außerordentlichen, wundersamen, nie zuvor gesehenen Geweih ein traditionelles *Symbol der Liebe und der Männlichkeit, ein alter ego des jungen Burschen.44 So verspricht in einem alten russischen Hochzeitslied der auf der Wiese weidende Hirsch dem Burschen, ihm bei der Hochzeit behilflich zu sein: ›Mit meinem goldenen Geweih werde ich dein ganzes Haus beleuchten und all deinen Gästen Freude bringen, am meisten der Braut‹.45 In einem ukrainischen Lied wünscht sich der Hirsch Zutritt zu den Weidegründen des Junggesellen: »Voz’my zˇ rozˇen’ky do svitlycˇen’ky, A parozˇen’ky do komoron’ky« [›Nimm das Geweih in das Vorderzimmer und die Sprossen ins Schlafzimmer‹].46 In einem symbolischen serbischen Liebeslied nimmt der Hirsch das Mädchen auf sein Geweih (»Uze momu na roge«) und wirft es über einen Bach.47 In Kra´ls Gedicht sind sämtliche Reime grammatische, doch das abschließende Bild, rozˇki-parozˇki [›Geweih-Sprossen‹], wird durch einen übertrieben *grammatischen Reim hervorgehoben, der nicht nur die Suffixe, sondern auch die Wurzel einschließt. In der mittleren Strophe der zweiten Fünfergruppe wird der Hirsch mit der ersten Person von Kra´ls Komposition identifiziert und offen als das metaphorische Glied eines Vergleichs – 31 Ja tiezˇ 〈…〉 ak ti [›Ich auch 〈…〉 wie du‹] – präsentiert, und zwar in auffälliger Korrespondenz mit dem parallelen, elften Vers des Gedichts – ako fta´ˇcik tak [›wie (ein) Vöglein so‹]. Die identische Anordnung beider Vergleiche akzentuiert deren Kontrast. Die Transpositionen sind grundsätzlich verschieden – ab inanimali ad animale in der dritten Strophe der ersten Fünfergruppe und ab animali ad animale in der letzten Fünfergruppe. Das figurale, metaphorische Glied der Vergleiche behält seinen zoomorphischen Charakter bei, 43 Vgl. Letz, »Deminutı´va v poe´zii Janka Kra´l’a«; Kochol, Poe´zija Sˇtu´rovcov, S. 221– 233. 44 Potebnja, Ob”jasnenija narodnych pesen, S. 321–329. Zur wohltätigen und magischen Rolle des Hirsches und dessen Geweih in der slavischen Folklore, in Hochzeitsritualen und in volkstümlicher Organotherapie siehe Sumcov, »Tur v narodnoj slovesnosti«; und Va´clavı´k, Vy´rocˇnı´ obycˇeje, S. 416 f. 45 ›Zolotymi rogami ves dvor osvecˇu, Vsech ja tvoich-tech gostej vzveselju, Pusˇcˇe tovo ja nevestu tvoju‹, zitiert nach: Potebnja, Ob”jasnenija narodnych pesen, S. 322. [Anm. d. Komm.] 46 A. o. O., S. 324. [Anm. d. Komm.] 47 A. a. O., S. 322. [Anm. d. Komm.]
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während ihr sachlicher Bestandteil, der in der ersten Fünfergruppe seine anthropomorphische Natur hinter dem pars pro toto ›Herz‹ verbarg, durch das Pronomen ja [›ich‹] des letzten Vergleichs bloßgelegt wird. Das metaphorische Glied dieses Vergleichs wird objektiviert und auf die ganze Fünfergruppe ausgedehnt. Der Hirsch wird apostrophiert und zum Adressaten der Botschaft des alten Mannes, zum virtuellen Empfänger seiner Fragen und zur dramatis persona ti [›du‹], der zweiten Person des Handlungsablaufs, die sowohl durch Ähnlichkeit als auch durch einen absichtlich eingesetzten *Kontiguitätsbezug in den Rufen des ja [›ich‹] mit diesem assoziiert wird: 25 Jelenˇ jelenko nozˇe si lahnˇi [›Hirsch, Hirschlein, leg dich doch (hin)‹], 26 Ku mneˇ peknje tvoje rozˇki 〈…〉 [›Zu mir dein schönes Geweih 〈…〉‹], 29 Sem hlauku tvoju sem na koleno [›Hierher dein Köpfchen, hierher auf (das) Knie‹]. Der wiederholte Ablativ 29 sem [›hierher‹] kontrastiert mit dem ebenfalls zweimaligen Vorkommen des entsprechenden ablativischen Adverbs 6, 17 tam [›dort‹] in der ersten Fünfergruppe. Zwei Gedichte in Kra´ls dramatischem Zyklus, »Der alte Mann« sowie die großartige, vorausgehende Komposition »D’jeucˇa« – ›Das junge Mädchen‹ 48 –, kontrastieren miteinander und zeigen zugleich eine enge Verknüpfung hinsichtlich ihrer symbolischen Bildhaftigkeit. Die Bäume, das kleine Mädchen und das Herz drängen alle aufwärts (horeka´ sa do vı´ˇsi strmjace [›die ihr in die Höhe hinaufragt‹]). Das Mädchen setzt sich auf den Berg und fordert das Vöglein auf, ins Tal zu fliegen, zum kleinen Fluß, zur Hütte nebenan und zu deren kleinem Fenster, hinter dem die Mutter des Mädchens beim Feuer sitzt und die Haare ihres liegenden Säuglings streichelt (Ved’ ho tu lezˇjaco vid’ı´ˇs [›Du siehst ihn doch, wie er hier liegt‹]). Beim Anblick des geliebten Sohnes fühlt die Mutter sich, als ob sie wie eine Pappel oder Esche im Frühling wüchse (zweites aufwärtsgerichtetes Motiv des Gedichts). Auf die Bitte ihrer Mutter hin singt die kleine Tochter von einem Mädchen, das Gänse über Felder und Hügel treibt (zweites abwärtsgerichtetes Motiv) und das seinerseits singt: »〈…〉 weiße Gans, hätte ich deine Flügel, würde ich nicht über die Wiesen gehen, sondern würde hoch in den Himmel fliegen, 〈…〉 den kein Auge gesehen hat und nur die Seele betrachten kann« 49 (drittes aufwärtsgerich48 Kra´l’, Su´borne´ dielo (1959), S. 344 f. [Anm. d. Komm.] 49 »〈…〉 hus bielena´, keby mala tvoje kriela, nesˇla by ja lu´kami, no by pod nebom letela, [s obla´cˇkami gagotala hor’ po nebi – ta vysoko – ] kde len si dusˇa myslı´, nie to by zasiahlo oko« (Kra´l’, Su´borne´ dielo [1959], S. 345; die in der Übersetzung ausgelassene Passage ist in eckigen Klammern hinzugefügt). Im Original ist die zitierte Textstelle nur in englischer Übersetzung, ohne Kennzeichnung der Vers-
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tetes Motiv). Doch – wie die Schlußstrophe antwortet – hat deine Seele, verzaubertes Mädchen, Flügel wie eine Taube, und du kannst uns erzählen, was du da oben getroffen hast (Povez na´m ˇcos tam sku´sila) (drittes abwärtsgerichtetes Motiv). In den aufwärtsgerichteten Motiven beider benachbarten Gedichte gibt es eine Rivalität zwischen interner und externer Sicht – das Herz des alten Mannes beneidet (zavideˇlo) sein Auge, weil, so darf man schließen, letzteres bis hin zu den Bergspitzen sehen (videˇlo) kann, während das Auge des Mädchens nicht so weit in den Himmel hineinsehen konnte wie ihre Seele. In den abwärtsgerichteten Motiven ist das Thema einer überraschenden neuen Vision (27 Esˇteˇ som 〈…〉 nevideˇu [›noch habe (ich) 〈…〉 nicht gesehen‹] und Ved’ ho 〈…〉 vid’ı´ˇs [›du siehst ihn doch‹]) eng verbunden mit dem liegenden Körper und dem gestreichelten Kopf eines geliebten Wesens, das wiederholt angesprochen wird – 33 Jelenko drahı´ [›teures Hirschlein‹]; Milı´ muoj milı´ [›Liebster, mein Liebster‹] – und als Objekt der Sehnsucht auftritt (30 Neˇch 〈…〉 vihladka´m po vuoli mojej [›Laß 〈…〉 streicheln nach meiner Lust‹] und ked’ t’a ja vid’ı´m Srdcom mi precha´dza zˇiara [›wenn ich dich sehe, durchströmt Hitze mein Herz‹]). In »Der alte Mann« ist diese Stelle mit auffälligen *Paronomasien durchdrungen: 29 hlauku – 30 vihladka´m [›Köpfchen – streicheln‹]; ein anderes Wortspiel verbindet die erste Zeile der achten Strophe sowie der beiden angrenzenden Strophen: 25 jelenko nozˇe – 29 na koleno – 33 Jelenko [›Hirschlein doch – auf (das) Knie – Hirschlein‹]. Das Thema des Umherstreifens von Feld zu Feld als selbstgewählte Gewohnheit sowohl des Mannes als auch des Hirsches sowie das Thema der schwarzen Nacht, die sich über die Wanderer ausbreitet, zeigt offen die gleiche seltene Konsonantengruppe, die im Bild des wie Glas glänzenden Himmels über dem Mann auf dem Berg enthalten ist: 18 ako sklo tak sa – 32 zvik slobodi – 34 rozklada´ [›wie Glas so – Gewohnheit (der) Freiheit – breitet (sich) aus‹]. Es ist bemerkenswert, daß wir in all diesen Lautfiguren dem gleichen *Velar /k/ begegnen, der in der ersten Fünfergruppe eine Kette von Variationen um die Wörter oko ›Auge‹ und ako, ak ›wie‹ bildet: 1 dokonau – 2 okopau – 3 okopana ´ – 4 dokonana´ – 7 ak ftak – 8 ˇsetko – 10 oku – 11 a ako fta ´ ˇcik tak – 13 ako motı´lok – 16 kape – 17 visoku´.50 grenzen und Auslassungen und ab der vierten Zeile nur paraphrasierend wiedergegeben. Hier die Übersetzung dieser Passage (samt der ausgelassenen Zeilen) im Wortlaut: ›sondern würde unter dem Himmel fliegen, [mit den Wolken schnattern hoch über dem Himmel – dort hoch – ] wo (es) sich nur die Seele denkt, das Auge (es) aber nicht erreichen kann‹. [Anm. d. Komm.] 50 Die Relevanz der phonemischen Faktur in den Versen Kra´ls und insbesondere die
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In »Das Mädchen« transformiert das Thema der Mutterschaft die abwärtsgerichtete Bewegung in eine neue, aufwärtsgerichtete (A hore rastjem ako ten topol [›Und ich wachse hinauf wie eine Pappel‹]), wohingegen die Sehnsucht des alten Mannes unerfüllt bleibt. Unbeantwortete Fragesätze durchziehen die letzte Fünfergruppe. Entweder ganze Strophen (die neunte und die zehnte) oder zumindest ihre ersten Hälften sind reichlich versehen mit diesem Satztypus. In der sechsten Strophe enthalten die ersten zwei Zeilen eine doppelte Anrede (oslovenie), in der siebenten Strophe sind es zwei Imperativkonstruktionen – die eine explizit (25 nozˇe si lahnˇi [›leg dich doch hin‹]), die andere elliptisch (26 Ku mneˇ peknje tvoje rozˇki [›Zu mir dein schönes Geweih‹]). Schließlich trifft man in der achten Strophe auf eine elliptische Imperativkonstruktion (29 Sem hlauku tvoju [›Hierher dein Köpfchen‹]), die von einer hortativen Konstruktion (30 Neˇch ju vihladka´m [›Laß es (mich) streicheln‹]) gefolgt wird. Beide Schlußstrophen bestehen allein aus Fragesätzen – einer Ergänzungsfrage (doplnovacia ota´zka) in den ersten zwei Zeilen von jeder Strophe (33 deˇ zˇe ti bı´va´ˇs 34 Ked’ 〈…〉, [›wo bist du denn, Wenn 〈…〉‹], 37 Deˇ vtedi bı´vasˇ ked’ 〈…〉 [›Wo bist du dann, wenn 〈…〉‹]), einer Entscheidungsfrage (zist’ovacia ota´zka) in den letzten zwei Zeilen der neunten Strophe (35 Cˇi ti 〈…〉 neˇbı´va´ 〈…〉 36 Ked’ [›Ob (es) dir 〈…〉 nicht ist Wenn 〈…〉‹]) und einer Alternativfrage (rozlucˇovacia ota´zka) in den letzten zwei Zeilen der zehnten Strophe: 39 40
Cˇi ti ma´ˇs druhou, ma´ˇs kamara´tou Cˇi si len tak na jed’ineˇ 〈?〉 Ob du Gefährten hast, Kameraden hast, (Oder) ob (du) nur so allein bist 〈?〉
Bei den Substantiven im Gedicht dürfen nur die maskulinen der belebten Klasse angehören. Es handelt sich um Tiernamen, die ausschließlich im Nominativ Singular verwendet werden und die eine metaphorische Funktion besitzen (ftak, fta´ˇcik, motı´lok, jelenˇ [›Vogel‹, ›Vöglein‹, ›Schmetterling‹, ›Hirsch‹]), sowie um zwei personale Substantive, die ausschließlich in der vorletzten Zeile vorkommen (druhou, kamara´tou [›Gefährten, Kameraden‹]); ihr Akkusativ Plural stellt genau jene Form dar, die stets die perSchlüsselrolle der wiederholten *Verschlußlaute kann an Hand der Lautdichte des 1844 geschriebenen Gedichts »Moja piesenˇ« [›Mein Lied‹] exemplifiziert werden (siehe Su´borne´ dielo [1959], S. 126 f.): »Pod jablonkou pa´vy pa´sla, tvrdo zaspala, tvrdo, tvrdo, tvrdulienko, ako ta´ skala« [›Unter einem Apfelbaum weidete sie Pfaue, fest schlief sie ein, fest, fest, gar so fest wie ein Fels‹]: pod – pa´vy – pa´sla – zaspala – ta skala; pod jablonkou – tvrdulienko – ako – skala; tvrdo – tvrdo, tvrdulienko – ta´.
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sonale Subkategorie des *Genus angibt. Doch diese zwei Substantive – die einzigen personalen im ganzen Gedicht – werden nur eingeführt, um die Nichtexistenz ihrer Designate anzuzeigen. Transitive Konstruktionen mit einem und demselben Verb mat’ [›haben‹] erscheinen in der jeweils zweiten Zeile vor dem Ende und nach dem Anfang – 2 Cˇo som mau to som okopau [›Was (ich) hatte, das habe (ich) umgegraben‹]. Abgesehen von dieser sozusagen Abschied nehmenden Präambel sind direkte Objekte auf solche negative Sätze wie 27 Esˇteˇ som 〈…〉 nevideˇu [›Noch habe (ich) 〈…〉 nicht gesehen‹] beschränkt sowie auf die Imperativ- und Hortativformen der auf fatale Weise unverwirklichbaren Appelle – 26 tvoje rozˇki [›dein Geweih‹], 29 hlauku tvoju [›dein Köpfchen‹], 30 ju [›es‹]. Und nachdem verzweifelte Fragen die fruchtlosen Appelle verdrängt haben, wird im einzigen affirmativen Satz, der über ein Objekt verfügt, auf das eine Handlung direkt einwirkt – der *hypotaktischen Konstruktion 37 Deˇ vtedi bı´vasˇ ked’ ja samotnı´ 38 Klad’jem ohnı´ˇcek v hu´ˇst’ineˇ [›Wo bist du dann, wenn ich einsam Lege Feuerchen im Gebüsch‹] – offen die Unmöglichkeit ausgedrückt, das Feuer mit dem gesuchten Begleiter zu teilen. Die letzte Frage – 39 ›hast du Gefährten, hast du Kameraden, oder bist du nur so alleine?‹ – ist in Wirklichkeit vorher beantwortet worden. Die erste von zwei scheinbar alternativen Wahlmöglichkeiten wurde von vornherein ausgeschlossen, und ständige Einsamkeit wird endgültig bestätigt – 24 Jelen ˇ a to na jed’ineˇ [›(Ein) Hirsch, und dies ganz allein‹]. So enden die erste und die letzte Strophe der zweiten Fünfergruppe mit einem identischen Ausdruck. Jelenˇ ›der Hirsch‹, der zum ersten Mal in dieser ersten Strophe der zweiten Fünfergruppe benannt und zum letzten Mal in der Schlußzeile des Gedichts angesprochen wird, wird dort zudem in ein umgekehrtes *Kryptogramm eingraviert: 40 Cˇi si len tak na jed’ineˇ. Diese kurze, schwach klingende, lediglich aus kurzen Vokalen bestehende Zeile hebt sich vor dem Hintergrund der vorausgehenden Zeilen innerhalb desselben Vierzeilers ab. Das *akzentuierende jambische *Versmaß, zu dem der Vers tendiert, wird durch die Länge der Hebungen vor dem Zeileneinschnitt sowie vor dem Versende in der ersten Zeile des Vierzeilers 37 Deˇ vtedi bı´vasˇ ked’ ja samotnı´ ( – – ) wie auch durch die Länge der inneren Hebungen in der zweiten Zeile 38 Klad’jem ohnı ´ˇcek v hu´ˇst’ineˇ ( – – – ) unterstützt, während in der dritten, wahnhaft-herausfordernden Zeile eine Spannung zwischen der leicht jambischen Tendenz der *Wortakzente und der *anapästischen Verteilung der Längen entsteht, 39 Cˇi ti ma´ˇs druhou, ma´ˇs kamara´tou ( – – – ).51
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Wenn die ersten Leser der unveröffentlichten Manuskripte Kra´ls – und zwar insbesondere Jaroslav Vlcˇek – meinten, seine posthumen Gedichte seien voller abstruser Passagen, »dunkel nicht nur in ihrem Stil, sondern auch in ihrem Gehalt, in ihrem Gegenstand und in zahlreichen Anspielungen«,52 dann zeigt diese Behauptung das wahre Ausmaß der Kluft, welche die noetische Haltung der Kritiker von Kra´ls poetischem Universum trennte. Die innerste Verschmelzung der lexikalischen und grammatischen Bildhaftigkeit verleiht selbst den komplexesten seiner Verse eine leuchtende Integrität und Transparenz.53 In einem solchen Gedicht wie »Der alte Mann« verschwindet jegliche Spur von Vagheit, sobald wir uns dessen bewußt sind, daß die Selektion und Verteilung der verschiedenen grammatischen Kategorien keineswegs beiläufig geschieht. So findet man z. B. unter den Nominativen und unter den adverbialen Formen ohne Präpositionen innerhalb der ersten Strophe keine Substantive außer den drei Feminina der ersten Person; innerhalb der weiteren vier Strophen befinden sich überhaupt keine Feminina, sondern elf Neutra und drei Maskulina im Singular und nur zwei Maskulina im Plural, und innerhalb der letzten fünf Strophen wird der Singular durch neun Maskulina plus sechs Feminina und der Plural durch vier Maskulina vertreten. Die semantische Konnotation der grammatischen Genera, die manche französischen Linguisten sexuisemblance 54 nennen, findet hier einen klar ausgeprägten Ausdruck.55 51 Wie Bakosˇ (Vy´vin slovenske´ho versˇa, S. 170) herausgestellt hat, spielt die Quantität eine autonome Rolle im Vers der Sˇtu´rschen Schule der Poesie. 52 Vlcˇek, »Doslov«, S. 105; vgl. Pisˇu´t, Janko Kra´l’, S. 113: »Nebolo mozˇno vyrozumiet’, cˇo maju´ znacˇit’ vy´razy, monolo´gy a dialo´gy, nebolo mozˇno dovidiet’, kam smeruju´.« [›Man konnte weder verstehen, was die Ausdrücke, Monologe und Dialoge bedeuten sollen, noch konnte man ersehen, wohin sie führen.‹] 53 Laut L’udovı´t Sˇtu´rs Formulierung von 1875 »muß ein Dichter über eine Vorstellungskraft verfügen, die durch seine Bildhaftigkeit objektiviert wird, und ein solcher anschaulicher (na´zorny´) Dichter ist unser Janko Kra´l’«. (Sˇtu´r, »Predna´ˇsky o poesii slovanskej«, H. 4, S. 136.) [Anm. v. R.J.] – Die Formulierung kann nicht von 1875 stammen, da Sˇtu´r bereits 1856 gestorben ist. Der von Jakobson zitierte Text stellt vielmehr eine posthume Veröffentlichung von Sˇtu´rs ›Vorlesungen‹ dar, die dieser bereits 1844/45 gehalten hat. Vgl. auch die neue, kritische Edition des Textes – Sˇtu´r, O poe´zii slovanskej, S. 31; zur Entstehungszeit der ›Vorlesungen‹ vgl. das Vorwort des Herausgebers: Vongrej, »Sˇtu´rova poe´zia slovanska´«, S. 7–9. [Anm. d. Komm.] 54 Damourette u. Pichon, Des Mots a` la pense´e, Kapitel 4: »Sexuisemblance du substantif nominal«, S. 354–423. 55 Vgl. dazu Jakobsons Henri-Rousseau-Analyse, wo Jakobson ausführlich auf das Phänomen der sexuisemblance eingeht – Jakobson, »On the Verbal Art of Blake and
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Wir haben gesehen, wie der perfektive Aspekt und die transitiven Präterita in der ersten Person durch Passivkonstruktionen mit femininen Subjekten verdrängt werden und wie diese der knappen Ankündigung der abschließenden Handlungen des alten Mannes dienen. Das Thema der vier weiteren Strophen ist die Metamorphose des Heldendaseins in einen Trancezustand voller unbelebter, neutraler Objekte, die durch Hinweise belebt werden, die von maskulinen Tiermetaphern und metaphorisch gebrauchten Verben ausgehen. Die Länge der ›riesigen Bäume‹ und der ›vergangenen Zeiten‹,56 zwei maskuline Pluralformen, bereitet den Weg für beide nachfolgenden dynamischen Motive – aufwärts in den Himmel und dann abwärts ins Tal. Das Thema der letzten fünf Strophen, die wiederbelebte Vergangenheit, macht Schluß mit jedweder allmählichen Entwicklung und Erfüllung; das Präteritum wird durch das Präsens ersetzt, der perfektive Aspekt durch den imperfektiven. Statik gewinnt die Oberhand über Dynamik, Zustand über Handlung. Das Ich des alten Mannes, das in den vier vorausgehenden Strophen unterdrückt wird, rückt in den Brennpunkt. Die zweite Person wird demonstrativ eingeführt, die Botschaft sucht nach einem Adressaten, der auf sie antworten könnte. Die narrative Haltung wird durch Appelle – zuerst Imperative, dann Interrogativkonstruktionen – ersetzt, die sich an den Hirsch, das metaphorische alter ego des Helden, richten. Die asexuellen Neutra weichen sexus-orientierten Geschlechtsmerkmalen. Während in der Präambel beide femininen Subjekte in den Handlungen des Helden eingeschlossen waren, agiert im letzten Teil des Gedichts das neu auftretende Paar femininer Subjekte – ›die schwarze Nacht‹ und ›der schnelle Tau‹ 57 – wie feindliche Kräfte. Anziehende Symbole werden von den maskulinen Pluralformen in sowohl der ersten als auch der letzten Fünfergruppe getragen; doch auf die leitende, erleichternde Anwesenheit der ›riesigen Bäume‹ und der ›längst vergangenen Zeiten‹ – ˇcasi 〈…〉 davne –, die in der zweiten und fünften Strophe der ersten Fünfergruppe dargestellt wird, antwortet die letzte Fünfergruppe in ihrer zweiten Strophe durch eine Anspielung auf die quälende Entferntheit des Geweihs (rozˇki 〈…〉 parozˇki) und in ihrer fünften Strophe auf die traurige Abwesenheit von Freunden und Kameraden – 39 druhou 〈…〉 kamara´tou – (man beachte die Symmetrie zwischen der jeweils 19. Zeile der ersten und der zweiten Fünfergruppe!). Die ersten zwei Personen Other Poet-Painters«, bes. S. 335 f.; sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 25–27. [Anm. d. Komm.] 56 Im Slovakischen maskulin. [Anm. d. Komm.] 57 Im Slovakischen feminin. [Anm. d. Komm.]
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weisen keine eigentliche Kontiguität auf, sondern eine bloße *Similarität, die auf ihre ständige Einsamkeit zurückgeht: 37 ja samotnı´ [›ich einsam‹] – ˇ i si len tak na jed’ineˇ [›Oder bist (du) nur so alleine‹]. Daher verwan40 C deln sich sowohl die dringenden Appelle des alten Mannes (mit ihrer frenetischen Wiederholung der Pronomina und Verben der zweiten Person) als auch das Gedicht insgesamt in ein verzweifeltes Selbstgespräch. Die auffällige Diskrepanz zwischen Kra´ls Sprachkunst und dem heimischen literarischen Dogma des ausgehenden 19. Jahrhunderts führte zum Glauben an den rohen, rudimentären, skizzenhaften und obskuren Charakter der vom ›sonderbaren Janko‹ geschriebenen Gedichte, vor allem hinsichtlich der von ihm nie veröffentlichten Werke.58 So nannte sie Vlcˇek im Jahre 1893 »Improvisationen, geschrieben für den Augenblick, ungeschliffen, künstlerisch unreif«,59 und auch Tichomı´r Milkin schreibt in seiner Replik auf Vlcˇeks Auswahl, daß Kra´l »ungeschliffen [ist], roh, wie Gold im ungeschmolzenen Erz«.60 Zuweilen werden wir noch belehrt, daß Kra´ls Dichtung »nicht nur ein Torso [ist], aber bis zu einem bestimmten Grad auch eine Lauge, Lava, die aus dem Inneren des Dichters hervorbricht, aber noch nicht durch die reinigende Glut eines Künstlers hindurchgegangen ist«.61 Man kann leicht dieselben Klischees erkennen, die häufig in Bezug auf Cyprian K. Norwid 62 verwendet wurden, einen überragenden Meister 58 »Ako epiteton constans ostali mu prı´davky ›Divny´ Janko‹, podivı´n, tula´k, divous, improviza´tor, cˇuda´k, zanovit a podobne´.« [›Als epitheton constans sind ihm Beinamen geblieben wie »Sonderbarer Janko«, Sonderling, Vagabund, Eigenbrötler, Improvisator, Kauz, Dickkopf u. ä.‹] (Brta´nˇ, Osudy, S. 22.) [Anm. v. R.J.] – Kra´ls Ruf als Sonderling geht zweifelsohne auch auf seine exzentrische, vagabundierende Lebensweise zurück, die bereits zu seinen Lebzeiten das Bild eines zerrissenen, mit sich selbst und der Welt entzweiten Dichters entstehen ließ, wie auch auf eine entsprechende Selbststilisierung Kra´ls in den Texten selbst, die schon in seinen in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts veröffentlichten Gedichten deutlich zur Geltung kommt. Das bekannteste Beispiel ist die 1844 erschienene Ballade »Zakliata panna vo Va´hu a divny´ Janko« [›Die verzauberte Jungfrau im Waag und der sonderbare Janko‹], deren autobiographisch stilisierter Held bereits die meisten Attribute trägt, die in dem oben angeführten Zitat Kra´l selbst zugeschrieben werden. [Anm. d. Komm.] 59 Vlcˇek, »Doslov«, S. 165. [Anm. d. Komm.] 60 Milkin [Rez.], Versˇe Janka Kra´l’a, S. 73. Die Rezension ist mit Milkins Pseudonym ›Mentor‹ unterschrieben. – Tichomı´r Milkin (1864–1920), führender Literaturkritiker und Dichter des katholischen Flügels der slovakischen Literatur der Jahrhundertwende, dessen ästhetische Ansichten – ähnlich wie die von Vlcˇek – durch die Formästhetik Herbarts und die aus der dichterischen Praxis der Parnassiens abgeleiteten Ideale einer strengen Formkunst geprägt waren. [Anm. d. Komm.] 61 Kochol, Poe´zija Sˇtu´rovcov, S. 214.
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unter den Romantikern der Weltliteratur; ebenfalls findet man sie auf Frans Hals und Manet oder Monet angewandt sowie in der Musik auf Berlioz und Musorgskij, der durch seine Umgebung retouchiert und aufpoliert wurde. Das Märchen vom häßlichen Entlein zeigt sich wieder in den verschiedensten Facetten. Eine andere Sprache wird häufig für Stammeln gehalten, eine nicht-konforme Virtuosität wird als Formlosigkeit interpretiert, auserwählte Variabilität wird mit Plumpheit verwechselt, absichtliche enigmatische Unbestimmtheit wird als enttäuschende Obskurität oder als die Fragmentiertheit einer bloß vernachlässigten Skizze abgetan, und im stupenden Zusammenspiel von Symmetrie und Ungleichgewicht neigen einseitig ausgerichtete Kritiker dazu, Harmonie zu übersehen und lauter Chaos wahrzunehmen. »Der alte Mann«, wie so viele Gedichte von Janko Kra´l, die über ein Jahrhundert unveröffentlicht blieben, exemplifiziert eine außerordentlich strukturierte, unauflösbare Ganzheit von wirkungsvollen und vitalen Bestandteilen. Wie der prominenteste slovakische Dichter unserer Zeit es prägnant zum Ausdruck brachte, hat Janko Kra´l »der slovakischen Literatur die Poesie vorgestellt«,63 und in der Tat verlangt Kra´ls revolutionäres Erbe eine umfassende und tiefgreifende Untersuchung. Editorische Notiz Geschrieben in Cambridge, Mass. (USA), Februar 1964; ursprünglich für die Festschrift für Andrej Mra´z und Ja´n Stanislav (Bratislava) gedacht; 64 in SW veröffentlicht in erweiterter Form. 62 Vgl. Jakobsons Norwid-Analysen »›Przeszłos´c´‹ Cypriana Norwida« und »›Czułos´c´‹ Cypriana Norwida« sowie die deutschen Übersetzungen in der vorliegenden Ausgabe. [Anm. d. Komm.] 63 Novomesky´, Romboid. [Anm. v. R.J.] – Das Zitat ist der Widmung entnommen, mit der Novomesky´ seinen 1932 erschienenen, dezidiert avantgardistischen Gedichtband Romboid [›Rhomboid‹] dem ›verwehten Gedächtnis von Janko Kra´l’‹ zugeeignet hat – »Zaviatej pamiatke Janka Kra´l’a, ktory´ predstavil poe´ziu slovenskej literatu´re« (Novomesky´, Ba´snicke´ dielo, Bd. 1, S. 93). Die Widmung und das programmatische Bekenntnis zu Kra´l in dem Eröffnungsgedicht des Bandes – Kra´l wird hier in einer Reihe mit Villon, de Sade und dem tschechischen Avantgardisten Nezval genannt – leiteten die dichterische Rehabilitierung Kra´ls durch die literatische Avantgarde der 30er Jahre ein und dürften auch die ›surrealistische‹ Lektüre Kra´ls durch Roman Jakobson in dessen 1934 erschienenen Aufsatz »Was ist Poesie?« angeregt haben. [Anm. d. Komm.] 64 Andrej Mra´z (1904–1964), Literaturhistoriker und Kritiker, Leiter des Lehrstuhls für slovakische Literatur an der Comenius-Universität in Bratislava, Mitglied der slovakischen Akademie der Wissenschaften; Forschungsschwerpunkte: Literatur des
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Roman Jakobson
Literatur Jakobsons eigene Literaturangaben sind mit ° gekennzeichnet. Bakosˇ, Mikula´ˇs: »Litera´rne osudy Janka Kra´l’a« [›Literarische Schicksale von Janko Kra´l’‹], in: Slovenska´ literatu´ra 9 (1962), S. 129–145 u. 304–320. ° — Vy´vin slovenske´ho versˇa od ˇskoly Sˇtu´rovej [›Die Entwicklung des slovakischen Verses seit der Sˇtu´r-Schule‹], 3. Aufl. Bratislava: Slovenska´ akade´mia vied a umenı´ 1966. ° Besharov, Justinia: Imagery of the Igor’ Tale in the Light of Byzantino-Slavic Poetic Theory, Leiden: E. J. Brill 1956 (= Studies in Russian Epic Tradition, Bd. 2). ° Brta´nˇ, Rudo: Osudy Janka Kra´l’a. Sˇtu´dia a ˇcla´nky [›Die Schicksale von Janko Kra´l’. Studien und Aufsätze‹], Turcˇiansky Sv. Martin: Vsˇeslovanska´ slovesnost 1946. ˇ epan, Oskar: »Janko Kra´l’ a romanticky´ mesianizmus« [›Janko Kra´l’ und roC mantischer Messianismus‹], in: Janko Kra´l’. Zbornı´k statı´, hg. v. Stanislav Sˇmatla´k, Bratislava: Tatran 1976, S. 100–192. ° Damourette, Jacques u. Eduard Pichon: Des Mots a` la pense´e. Essai de grammaire de la langue franc¸aise, Bd. 1, 2. Aufl. Paris: Artrey 1951. Drubek-Meyerova´, Natasˇa: »Bohemisticke´ pra´ce Romana Jakobsona aneb Procˇ je cˇesky´ Jakobson zanedba´va´n« [›Bohemistische Arbeiten Roman Jakobsons oder Warum wird der tschechische Jakobson vernachlässigt‹], in: Sveˇtova´ li´ stav pro tera´rneˇveˇdna´ bohemistika, Bd. 2, hg. v. Lubosˇ Merhaut, Praha: U ˇ R 1996, S. 460–474. cˇeskou literaturu AV C Jakobson, Roman Osipovicˇ: »Co je poezie?«, in: ders.: Poeticka´ funkce, hg. v. Miˇ ervenka, Jinocˇany: H & H 1995, S. 23–33. – »Was ist Poesie?«, übs. roslav C v. Felix Philipp Ingold, in: Poetik, S. 67–82. — »›Czułos´c´‹ Cypriana Norwida«, in: SW III, S. 508–518. – »›Gefühl‹ von Cyprian Norwid«, übs. v. Sylwia Grzesinska, Anna Auguscik u. Imke Mendoza, komm. v. Imke Mendoza u. Małgorzata Zemła, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 375–394. — »Linguistik und Poetik«, übs. v. Stephan Packard, komm. v. Hendrik Birus, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 154–216. ˇ eske´ prosodii‹« [›Über Kra´ls »Tschechische Prosodie«‹], in: Kri— »O Kra´loveˇ ›C tika 2 (1925), H. 3, S. 110–114. 19. Jahrhunderts, realistische Prosa, slovakisch-slavische Literaturbeziehungen. – Ja´n Stanislav (1904–1977), Sprachwissenschaftler, Direktor des Instituts für slavische und vergleichende Sprachwissenschaft an der Comenius-Universität, Mitglied der slovakischen Akademie der Wissenschaften; Forschungsschwerpunkte: historische Grammatik, Dialektologie, Onomastik, slovakisch-slavische Sprach- und Kulturbeziehungen. – Der periodische Sammelband der Philosophischen Fakultät der Universität in Bratislava, in dem der Aufsatz erschienen ist, ist nur Andrej Mra´z gewidmet. [Anm. d. Komm.]
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— »On the Verbal Art of Blake and Other Poet-Painters«, in: SW III, S. 322– 344. – »Zur Wortkunst von William Blake und anderen Dichter-Malern«, übs. v. Roger Lüdeke, Dieter Münch u. Grete Lübbe-Grothues, komm. v. Roger Lüdeke u. Sebastian Donat, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 1–43. — »›Przeszłos´c´‹ Cypriana Norwida«, in: SW III, S. 499–507. – »›Vergangenheit‹ von Cyprian Norwid«, übs. v. Sylwia Grzesinska, Anna Auguscik u. Imke Mendoza, komm. v. Imke Mendoza u. Małgorzata Zemła, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 354–374. — »Slavoslovie Siluana Simeonu«, in: SW III, S. 206–214. – »Siluans Lobpreis auf Simeon«, übs. v. Alexander Nebrig u. Erika Greber, komm. v. Erika Greber, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 494–508. — Über den tschechischen Vers. ° Kochol, Viktor: Poe´zija ˇstu´rovcov. Samo Chalupka, Andrej Sla´dkovicˇ, Janko Kra´l’, Ja´n Botto [›Poesie der Sˇtu´r-Schule. Samo Chalupka, Andrej Sla´dkovicˇ, Janko Kra´l’, Ja´n Botto‹], Bratislava: Vydavatel’stvo Slovenskej akade´mie vied 1955. ° Kra´l’, Janko: Nezna´me´ ba´sne [›Unbekannte Gedichte‹], hg. v. Stanislav Mecˇiar, Turcˇiansky Sv. Martin: Matica slovenska´ 1938. ° — Su´borne´ dielo [›Gesammeltes Werk‹], hg. v. Milan Pisˇu´t, Martin: Matica slovenska´ 1952. ° — Su´borne´ dielo [›Gesammeltes Werk‹], hg. v. Milan Pisˇu´t, Bratislava: Slovenske´ vydavavatel’stvo kra´snej literatu´ry 1959. ° Lausberg, Heinrich: Handbuch der literarischen Rhetorik, München: Hueber 1960. ° Letz, Belo: »Deminutı´va v poe´zii Janka Kra´l’a« [›Diminutiva in der Poesie Janko Kra´l’s‹], in: ders.: Kmenˇoslovne´ u´vahy, Turcˇiansky Sv. Martin: Matica slovenska´ 1943 (= Spisy jazykove´ho odboru Matice slovenskej, Bd. 3), S. 53–60. Linhartova´, Veˇra: »La place de Roman Jakobson dans la vie litte´raire et artistique tsche`coslovaque«, in: Roman Jakobson: Echoes of his scholarship, hg. v. Daniel Armstrong, Lisse: De Ridder 1977, S. 219–235. Majakovskij, Vladimir: Polnoe sobranie socˇinenij [›Vollständige Sammlung der Werke‹], 13 Bde., hg. v. Akademija nauk SSSR. Institut mirovoj literatury im. A. M. Gor’kogo, Moskva: Gosudarstvennoe izdatel’stvo chudozˇestvennoj literatury 1955–1961. ° Miko, Frantisˇek: »Prı´tomny´ cˇas oznamovacieho spoˆsobu vo vy´zvovej funkcii« [›Indikativ Präsens in der Aufforderungsfunktion‹], in: Slovenska´ recˇ 21 (1956), S. 351–355. Milkin, Tichomı´r [Rez.]: Versˇe Janka Kra´l’a, hg. v. Jaroslav Vlcˇek, Turcˇiansky Sv. Martin: Knı´htlacˇiarsky spolok 1893, in: Litera´rne listy 3 (1893), H. 5, S. 73. Novomesky´, Laco: Abgezählt an den Fingern der Träume, hg. v. Manfred Jähnichen, Berlin: Volk und Welt 1971. — Ba´snicke´ dielo [›Dichterisches Werk‹], hg. v. Karol Rosenbaum, 2 Bde., Bratislava: Slovensky´ spisovatel’ 1971. ° — Romboid [›Rhomboid‹], Lamacˇ pri Bratislave: Za´hrada 1932.
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Orol. Obra´zkovy´ ˇcasopis pre za´bavu a poucˇenie 6 (1875), H. 4–8 u. 11, S. 110– 114, 134–141, 167–170, 189–196, 226 f. u. 311–315. ° Sumcov, Nikolaj Fedorovicˇ: »Tur v narodnoj slovesnosti« [›Der Wisent in der Wortkunst des Volkes‹], in: Kievskaja starina 6 (1887), H. 17 (Gesamtfolge), S. 65–90. Toman, Jindrˇich: »A Marvellous Chemical Laboratory and its Deeper Meaning: Notes on Roman Jakobson and the Czech Avant-Garde Between the Two Wars«, in: Language, Poetry and Poetics. The Generation of the 1890s: Jakobson, Trubetzkoy, Majakovskij, hg v. Krystyna Pomorska u. a., Berlin, New York u. Amsterdam: Mouton de Gruyter 1987, S. 313–346. Turcˇa´ny, Viliam: »Novomeske´ho ›Vila Tereza‹« [›Novomesky´s »Villa Theresa«‹], in: Slovenska´ literatu´ra 21 (1974), S. 614–623. ° Va´clavı´k, Antonı´n: Vy´rocˇnı´ obycˇeje a lidove´ umeˇnı´ [›Kalenderbräuche und Volksˇ eskoslovenska´ akademie veˇd 1959. kunst‹], Praha: C °Versˇe Janka Kra´l’a [›Gedichte Janko Kra´l’s‹], hg. v. Jaroslav Vlcˇek, Turcˇiansky Sv. Martin: Knı´htlacˇiarsky u´cˇastina´rsky spolok 1893, S. 165. Vlcˇek, Jaroslav: »Doslov« [›Nachwort‹], in: Versˇe Janka Kra´l’a, hg. v. Jaroslav Vlcˇek, Turcˇiansky Sv. Martin: Knı´htlacˇiarsky ucˇastina´rsky spolok 1893, S. 163–170. ° Vongrej, Pavol: Janko Kra´l’, Martin: Matica slovenska´ 1960 (= Rukopisne´ fondy Litera´rneho archı´vu Matice slovenskej, Bd. 3). — »Sˇtu´rova poe´zia« [›Sˇtu´rs Poesie‹], in: L’udovı´t Sˇtu´r: O poe´zii slovanskej, S. 5– 11.
Roman Jakobson
»Vergangenheit« von Cyprian Norwid 1 Übersetzung aus dem Polnischen Sylwia Grzesinska, Anna Auguscik und Imke Mendoza
Kommentar Imke Mendoza und Małgorzata Zemła Jakobson widmete zwei Gedichten Cyprian Norwids (1821–1883) aus dem Zyklus »Vade-mecum« (1866) ausführliche Analysen und machte dessen Schaffen damit zum Schwerpunkt eigener polonistischer Interessen. Die intensive Beschäftigung Jakobsons mit Norwid bezieht sich vor allem auf die Innovationen, die Norwids Schaffen, v. a. aber der Gedichtzyklus Vade-mecum für das Verständnis der Sprache der polnischen Poesie bedeutete. 2 Norwid entwickelte ein neues Bewußtsein für die poetischen Verfahren, und seine metapoetischen Aussagen klingen nicht selten wie eine Vorwegnahme der Ideen des großen Linguisten und machen ihn so zum Komplizen seiner Analysen. Doch Norwids Verhältnis zur poetischen Sprache und seine Umformulierung der Aufgaben der Poesie resultierten aus seiner Einschätzung der eigenen Epoche und aus seiner Reflexion über die Zeit überhaupt. 3 Einen zentralen 1
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Vorlage: Jakobson, Roman Osipovicˇ: »›Przeszłos´c´‹ Cypriana Norwida«, in: SW III, S. 499–507. Erstdruck in: Pamie˛tnik Literacki LIV (1963), H. 1–2, S. 449–456. Der Text entstand 1960–1961 als polnische Erläuterung zu »Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie«. [Anm. d. Komm.] Das zu dessen Lebzeiten kaum wahrgenommene Schaffen Norwids übte auf die polnische Dichtung im gesamten 20. Jahrhundert einen enormen Einfluß aus. [Anm. d. Komm.] Oft wird Norwid als ein Gegenpol zu Charles Baudelaire in der europäischen Dichtung gesehen. Die Einschätzung der Gesellschaft, die Baudelaire in seinem Prosawerk Le spleen de Paris hinterließ, kann nach Jauß mit der von Norwid verglichen werden. Doch die Konsequenzen für die Dichtung waren bei beiden Poeten ganz unterschiedliche: Baudelaire zog sich von der Realität zurück, Norwid hingegen nahm die Herausforderung an: »Norwids Vade-mecum lädt uns dazu ein, den
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Platz in Norwids Schaffen nimmt das Motiv der Vergangenheit ein. Die Entschlüsselung seiner diesbezüglichen Position ist jedoch nicht einfach, da Norwid oft ein ausgesprochen dunkler Dichter ist. Jakobsons Besprechung von Norwids Gedicht »Przeszłos´´c« (›Die Vergangenheit‹) ist in vieler Hinsicht beispielhaft für seine linguistisch ausgerichtete Analysemethode – in seiner gründlichen Untersuchung der syntaktischen sowie der lautlichen Ebene, wohl vor allem aber in seiner Analyse der metrischen Qualitäten dieses Gedichts. Der für Norwid so wichtigen Problematik der Vergangenheit wird Jakobsons Untersuchung allerdings nicht gerecht. 4 Jakobson kommt diesbezüglich manchmal zu verblüffenden, aber dennoch unrichtigen Ergebnissen – was aber den Wert seiner detaillierten und feinsinnigen Gedichtanalyse nicht schmälert. 5 Imke Mendoza und Małgorzata Zemła
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Nie Bo´g, stworzył przeszłos´c´ i ´smierc´ i cierpienia, Lecz o´w, co prawa rwie, Wie˛c, nieznos´ne mu, dnie; Wie˛c, czuja˛c złe, chciał odepchna˛c´ wspomnienia! Acz niebyłz˙e jak dziecko, co wozem leci Powiadaja˛c: »o ! da˛b Ucieka!… w lasu gła˛b…« — Gdy da˛b stoi, wo´z z soba˛ unosi dzieci. Przeszłos´c´, jest to dzis´, tylko cokolwiek dale´j: Za kołami to wies´, Nie, jakies´ tam, cos´ gdzies´, Gdzie nigdy ludzie niebywali!… 6
Bezug von Dichtung, Selbsterfahrung und Zeit dort wieder zu suchen, wo ihn der Kanon der vermeintlich weltlosen ›Poe´sie pure‹ verdeckte oder wo moderne Dichter ihre Verpflichtung, ›zuerst Zeitgenossen zu sein‹ am Rande dieses herrschenden ästhetischen Kanons abzugelten versuchten.« (Jauß, »Vorwort«, in: Norwid, Vademecum. Gedichtzyklus [1866], S. 20.) [Anm. d. Komm.] Implizit wird Jakobson diesbezüglich auch von Jastrun kritisiert, vgl. ders., »Interpretacje. Trzy wiersze z Vade-mecum«, S. 6 f. [Anm. d. Komm.] Jakobsons Analyse zeigt z. B., daß die drei Strophen von »Przeszłos´c´« sich auf jeder der von ihm behandelten Ebenen unterscheiden. Für seine Interpretation nützt er jedoch die eher zweifelhaften Ähnlichkeiten, die er zwischen der zweiten und dritten Strophe findet. Die Unterschiede, die es in diesen beiden Strophen hinsichtlich der Auffassung von Vergangenheit gibt, werden von ihm dadurch eingeebnet. [Anm. d. Komm.] Norwid, Vade-mecum. Podobizna autografu z przedmowa˛ W. Borowego, S. 10.
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Nicht Gott erschuf Vergangenheit und Tod und Leiden, Sondern jener, der die Gesetze zerreißt, So sind ihm die Tage unerträglich; So wollte er, das Böse fühlend, die Erinnerungen abstoßen! Doch war er nicht wie das Kind, das im Wagen dahinfliegt Das sagt: »oh! eine Eiche Sie läuft weg!… in des Waldes Innere…« — Wenn doch die Eiche steht, der Wagen die Kinder fortbringt. Vergangenheit, das ist heute, nur ein wenig weiter: Hinter den Rädern das Dorf, Nicht, irgendwelche, etwas irgendwo, Wo niemals Menschen waren!…
I Diesem Gedicht aus dem Jahr 1865 zufolge, dem zweiten Werk aus dem Zyklus Vade-mecum,7 wird der kindliche Mythos von der Vergangenheit im eigentlichen Sinne, also von etwas Verflossenem, wirklich Vergangenem, Verlorenem, etwas Menschenleerem und Unmenschlichem, durch jenen erschaffen, »co prawa rwie« [›der die Gesetze zerreißt‹], das heißt, der Gottes Gesetze der Ewigkeit mit seiner quälenden Idee vom ewigen Tod zertritt.8 »Wie˛c nieznos´ne mu, dnie« [›So sind ihm die Tage unerträglich‹], 7
Nachdem der Brockhausverlag in Leipzig im Jahre 1866 den Druck von Vademecum ablehnte, gelang es Norwid nur noch, einzelne Gedichte aus dem Zyklus in Zeitschriften unterzubringen. Auf dem Manuskript trug der Dichter zahlreiche Veränderungen ein, so daß einige Gedichte bis zu vier Versionen haben. Manche Eintragungen sind leider gar nicht mehr zu entziffern. Die Frage, welche von den möglichen Versionen die am meisten ausgereifte ist, ist Gegenstand von zahlreichen Diskussionen der Herausgeber. Das Manuskript fand erst 1898 in dem Dichter, Übersetzer und Literaturkritiker Zenon Przesmycki (1861–1944) einen Käufer, der seine Bedeutung richtig einschätzen und würdigen konnte. Die Veröffentlichungen in Przesmyckis berühmter Zeitschrift Chimera (1901–1907) machten Norwid innerhalb der polnischen Kulturelite bekannt, aber auch Przesmycki konnte sich nicht dazu durchringen, den Zyklus als Ganzes zu verlegen. Die erste Gesamtausgabe ist die Faksimileausgabe Borowys aus dem Jahr 1947. Leider läßt die technische Seite des Faksimiles einiges zu wünschen übrig und kann aus heutiger Sicht nicht als verläßlich gelten. Nicht nur sind Norwids Veränderungen schlecht sichtbar, auch sind manche Interpunktionszeichen unlesbar (vgl. Fert, »Vade-mecum jako problem edytorski«, S. 50 f.). In seiner »Przeszłos´c´«-Analyse arbeitet Jakobson mit einer Version des Gedichtes, in die Elemente aus der älteren und Elemente aus der späteren Redaktion übernommen wurden (vgl. Anm. 26). [Anm. d. Komm.]
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denn in seinem Unheil verkündendem Truggebilde entschwindet die Kette der Tage mit der Erinnerung an diese »w lasu gła˛b« [›in des Waldes Innere‹], abgenutzt von den Rädern der Zeit, während in Wirklichkeit, laut Norwids *figura etymologica,9 der Wagen sowohl »o´w« [›jener‹] als auch seine Mitwandernden fortbringt, während die Vergangenheit unbeweglich und unveränderlich bleibt.10 Das heißt, wie Norwid in seinem Post scriptum verkündet, »Nie tylko przyszłos´c´ wieczna jest – nie tylko! I przeszłos´c´, owszem, wiecznos´ci jest doba˛« [›Nicht nur ist die Zukunft ewig – nicht nur! Natürlich ist auch die Vergangenheit eine Zeit der Ewigkeit‹] (1861).11 Der Gegensatz zwischen der fiktiven Welt des »o´w« [›jener‹] und der Wirklichkeit ist in allen drei *Strophen durch eine verknüpfend-*kontrastive Relation ausgedrückt. Auf den Wechsel der Verneinung 1 Nie Bo´g [›nicht Gott‹] zu dem affirmativen 2 Lecz o´w [›sondern jener‹] antwortet die dritte Strophe mit der umgekehrten Anordnung der Aussage 9 jest to [›das ist‹] und der folgenden Verneinung 11 nie, jakies´ tam [›nicht, irgendwelche‹], die die Vermutung des »o´w« [›jener‹] widerlegt; auf die verneinende Frage über die Sicht des »o´w« [›jener‹] – 5 Acz 12 niebyłz˙e [›Doch war (er) nicht‹] in der mittleren Strophe antwortet der kontrastierende Satz polemisch: 8 Gdy 〈na odwro´t〉 da˛b stoi, [a] wo´z 〈…〉 unosi 〈…〉 [›Wenn doch 〈im Gegensatz〉 (die) Eiche steht, [und] (der) Wagen 〈…〉 fortbringt 〈…〉‹]. 8
»o´w, co prawa rwie« [›jener, der die Gesetze zerreißt‹] ist für Gomulicki, Jastrun und Czaplejewicz der Satan. Vgl. folgenden Kommentar von Gomulicki: »›der, der die Gesetze zerreißt‹: der Satan, über den gesagt wird, daß er den Tod auf die Erde gebracht hat, (Sapient., II 2: ›durch die Mißgunst des Teufels kam der Tod in den Erdkreis‹) und der auch die Vergangenheit geschaffen hat, wobei er fälschlicherweise annahm, daß er gleichzeitig auch die Erinnerung an vergangene Dinge ausgelöscht hat.« (In: Norwid, Wiersze. Dodatek krytyczny, S. 752.) S. auch Jastrun, »Interpretacje. Trzy wiersze z Vade-mecum«, S. 6 f. und Czaplejewicz, »Przeszłos´c´«. [Anm. d. Komm.] 9 Nieznos´ny ›unerträglich‹ und unosic´ ›fortbringen‹ gehen beide auf die Wurzel nos´-/ nosz- ›tragen‹ zurück. [Anm. d. Komm.] 10 Bezeichnenderweise endet diese kurze Interpretation, die Jakobson seiner Analyse vorausschickt, mit der zweiten Strophe des Gedichtes, die dritte Strophe wird hier nicht berücksichtigt. Doch die Vorstellung der Vergangenheit als unbeweglich und unveränderlich wäre nicht in Norwids Sinne. Gerade die dritte Strophe macht das deutlich. [Anm. d. Komm.] 11 Vgl. Norwid, »Post scriptum«, in: ders., Wiersze. Tekst, S. 503. Das Gedicht ist tatsächlich ein poetisches Postskriptum, das Norwid seiner eigenen Horazübersetzung hinzufügte, wobei er sich mit der Aktualität der Lektüre der Klassiker auseinandersetzte (vgl. Gomulickis Kommentar zu diesem Gedicht in: Norwid, Wiersze. Dodatek krytyczny, S. 659). [Anm. d. Komm.] 12 Zur Bedeutung von acz bei Norwid s. Słownik je˛zyka Cypriana Norwida. Zeszyt pro´bny, S. 58–60. [Anm. d. Komm.]
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Die fragende Äußerung der zweiten Strophe eröffnet ein zusammengesetztes Simile, das mit dem übrigen Text durch seine konkret greifbaren Substantive – dziecko [›Kind‹], wo´z [›Wagen‹], da˛b [›Eiche‹], las [›Wald‹], koła [›Räder‹], wies´ [›Dorf‹] – kontrastiert; diese *konkreten, gängigen Wörter, die im figurativen Sinne gebraucht werden, treten vor dem Hintergrund der ersten Stophe mit ihrer durch und durch *abstrakten nominalen Lexik – przeszłos´´c [›Vergangenheit‹], ´smierc´ [›Tod‹], cierpienia [›Leiden‹], prawa [›Gesetze‹], wspomnienia [›Erinnerungen‹] – deutlich hervor. Die Verwendungsweise dieser typisch abstrakten Begriffe wiederum verleiht ihnen in solchen ungewöhnlichen, leicht *metaphorischen Verbindungen wie 1 stworzył przeszłos´´c [›erschuf Vergangenheit‹], 4 odepchna˛c´ wspomnienia [›abstoßen (die) Erinnerungen‹], 2 prawa rwie [›Gesetze zerreißt‹] (letzteres ersetzt die erloschene idiomatische Metapher »prawa łamie« [›Gesetze bricht‹] und schafft eine subtile *Paronomasie: r. w. – rw) gewissermaßen eine übertragene, konkretisierte Bedeutung. Außer dem zusammengesetzten Vergleich – jak dziecko, co 〈…〉 [›wie (das) Kind, das 〈…〉‹] – gibt es hier nur zwei belebte Substantive, beide mit einer verallgemeinernden Bedeutung; beide sind Subjekte von negierten Aussagen in den zwei Rahmenversen des Gedichts – 1 Nie Bo´g stworzył [›Nicht Gott erschuf‹] und 12 nigdy ludzie niebywali [›niemals Menschen waren‹]. Die einzige Bezeichnung für ein belebtes Wesen in den affirmativen Konstruktionen ist das Pronomen »o´w« [›jener‹], zunächst explizit, dann ´ w« [›jener‹] und auf der anderen Seite zeitliche Begriffe oder implizit. »O *Symbole, insbesondere das Titelsubstantiv »przeszłos´c´« [›Vergangenheit‹], das ein typisches Abstraktum ist, stellen überhaupt die einzigen Subjekte in den affirmativen Aussagen des Gedichts dar. Bedeutungshaft ist der konsequente Unterschied im Gebrauch der Prädikatsformen. Präteritale Prädikate werden nur im Zusammenhang mit belebten Subjekten verwendet: 1 stworzył [›erschuf‹], 4 chciał [›wollte‹], 5 acz niebyłz ˙e [›doch war (er) nicht‹], 12 niebywali [›nicht waren‹]. Die präteritalen Verbformen, die ausschließlich mit einem belebten Subjekt stehen, zeigen die Belebung des Präteritums an. In den affirmativen Sätzen ist eben »o´w« [›jener‹], der Erfinder der Vergangenheit, durch Verben im Präteritum charakterisiert. Nur in den abhängigen Attributsätzen – 2 o ´w, co prawa rwie [›jener, der (die) Gesetze zerreißt‹] und 5 dziecko, co wozem leci [›(das) Kind, das (im) Wagen eilt‹] – kommt das Präsens vor. Doch im Verhältnis zu »o´w« [›jener‹] und »dziecko« [›Kind‹] wird das Verb eigentlich zum Attribut, außerdem behält das Relativpronomen »co« [›das‹], das Norwid besonders gerne verwendet, eine poetische
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Verbindung mit dem Fragepronomen »co« [›was‹], es ist also sozusagen imstande, die Vorstellung eines unbelebten Bezugswortes zu evozieren, wie der Traktat von Filip Nereusz Golan´ski »O wymowie i poezji« [›Über die Redekunst und die Poesie‹] (Wilno 1825), zitiert von Stanisław Urban´czyk, bestätigt.13 Unbelebte Subjekte, das heißt Zeitbegriffe bzw. ihre metaphorischen Vertreter, stehen nur mit Prädikaten im Präsens – 3 anieznos´ne mu dnie [›(sind) unerträglich ihm (die) Tage‹], 6–7 da˛b ucieka [›(eine) Eiche entschwindet‹], oder 8 stoi [›steht‹], 8 wo´z z soba˛ unosi [›(der) Wagen fortbringt‹], 9 przeszlos´´c, jest [›Vergangenheit, ist‹] usw. Die erste Strophe, deren Hauptsubjekt »o´w« [›jener‹] ist, widmet diesem ganze fünf lexikalische Verben im Präteritum Aktiv, sofern es sich um Prädikate unabhängiger Äußerungen handelt (1 stworzył [›erschuf‹], 2 co rwie [›der reißt‹], 4 czuja˛c [›fühlend‹], 4 chciał odepchna˛c´ [›wollte abstoßen‹]). Die Prädikate, die zu »o´w« [›jener‹] gehören, haben kein Prädikatsnomen. In den unabhängigen Sätzen werden sie durch Verben im Präteritum repräsentiert. Auf diese Weise wird der Protagonist als ein Handelnder dargestellt, der symbolisch an die Vergangenheit gefesselt ist. Nur im Nebensatz erscheint hier ein Zeitbegriff als selbständiges Subjekt, Sätze mit einem einfachen Prädikat machen Platz für eine satzwertige Konstruktion 14 mit Prädikatsnomen: 3 wie˛c, nieznos´ne mu, dnie [›so, unerträglich (sind) ihm, (die) Tage‹]. Dieser sechssilbige Vers, der in jeder Silbe einen *Nasalkonsonanten enthält, zeichnet sich darüber hinaus dadurch aus, daß er das einzige attributive 15 Adjektiv des ganzen Gedichts enthält. Im ganzen Gedicht gibt es keine Adjektivattribute, schmückende Tendenzen jeglicher Art sind ihm fremd. Unter den 67 Wörtern des Gedichts befinden sich nur zwei Adjektive: das Prädikatsnomen 3 nieznos´ne [›unerträglich‹] und im nächsten Vers ein *direktes Objekt 4 czuja˛c złe [›fühlend (das) Böse‹], also eigentlich ein Substantiv in Form eines Adjektivs.16 Doch selbst das erwähnte Prädikatsnomen, das deverbative Adjektiv 3 nieznos´ne [›unerträglich‹] dient eindeutig als *Äquivalent für den Ausdruck »o´w nie znosi dni« [›jener kann die Tage nicht ausstehen‹]. 13 Urban´czyk, Zdania rozpoczynane wyrazem ›co‹ w je˛zyku polskim. 14 Mit »satzwertige Konstruktion« wird der von Klemensiewicz (s. unten) stammende Begriff oznajmienie übersetzt, der wiederum eine Konstruktion ohne finites Verb bezeichnet. [Anm. d. Komm.] 15 D. h. ein Adjektiv, das nicht substantivisch verwendet wird, vgl. auch unten. [Anm. d. Komm.] 16 D. h. ein substantiviertes Adjektiv: Das Neutrum des Adjektivs zły ›böse‹ wird wie ein Substantiv verwendet (złe ›das Böse‹). [Anm. d. Komm.]
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Die Verwendung abstrakter Termini in der Eigenschaft als Subjekt konkreter Äußerungen und der Einsatz greifbarer Metaphern wie »da˛b« [›Eiche‹] oder »wo´z« [›Wagen‹] zielt auf die Reifikation 17 von Zeitbegriffen ab, was das Hauptthema von Norwids Przeszłos´´c [›Vergangenheit‹] ist. Die rhetorische Frage,18 mit der die zweite Strophe beginnt, verwandelt den Urheber der Handlung aus der ersten Strophe in das verschwiegene Subjekt des Vergleichssatzes 19 – 5 acz niebyłz˙e jak dziecko [›doch war (er) nicht wie (das) Kind‹]. Als Attribut für das Prädikatsnomen dient hier eine mehrfach zusammengesetzte Äußerung – 5 co wozem leci [›das (im) 17 Im polnischen Original benützt Jakobson an dieser Stelle den Terminus reifikacja, mit dem er das russische vesˇˇcnost’ ›Verdinglichung‹ übersetzt. Die Begriffe vesˇˇc’, vesˇˇcizm gehören zur Terminologie des russischen Formalismus und wurden, ähnlich wie die eng damit zusammenhängenden Begriffe faktura, fakturnost’ aus dem theoretischen Diskurs der bildenden Kunst der Avantgarde in die Poetologie übernommen (vgl. Jakobson, »›Gefühl‹ von Cyprian Norwid«, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 385, Anm. 43). Beide drücken die antimimetische Einstellung der Avantgarde-Kunst aus. Kandinskij spricht von zwei gegenläufigen Richtungen, die das Bestreben nach der Verdinglichung einschlagen kann: Die eine ist die »Dekontextierung der Verfahren, die er als ›große Abstraktion‹ bezeichnet« (man könnte hier von reiner Faktur sprechen) und die andere die »Dekontextierung jedes beliebigen Gegenstandes aus seinem konventionellen, pragmatischen Zusammenhang, die er als ›große Realistik‹ bezeichnet« (Hansen-Löve, Der russische Formalismus, S. 80). Beide Richtungen lassen sich auch kombinieren. In der Wortkunst hat die erste der beiden Richtungen ihre Entsprechung in dem metalogischen Wort der zaum’-Sprache, »welches, vom gegenständlichen Sinn befreit, aufgrund seiner materiellen (lautlichen, graphischen usw.) Eigenschaften zum ästhetisch bedeutsamen Faktum wird« (Günther, »Ding [Vesˇcˇ’]«, S. 179 f., vgl. auch Hansen-Löve, Der russische Formalismus, S. 101). In der realistischen Kunst muß der Künstler die Gegenstände aus ihrem gewöhnlichen Kontext herausreißen und in eine neue Bedeutungsreihe eingliedern. Sˇklovskij weist dabei auf die besondere Rolle der Bilder und Tropen hin, die durch eine semantische Verschiebung »einen Gegenstand in etwas Fühlbares« verwandeln (Sˇklovskij, Sbornik statej, 1923, S. 115 f.; zit. nach Günther, »Ding [Vesˇcˇ’]«, S. 180). In diesem Sinne werden nach Jakobson die Zeitbegriffe von Norwid unter Verwendung von »greifbaren Metaphern« verdinglicht. Die Funktion der Verdinglichung richtet sich gegen die Entfremdung des Menschens: »Nur das Schaffen neuer Kunstformen kann dem Menschen das Erleben der Welt zurückgeben, die Dinge auferwecken und den Pessimismus töten.« (»Voskresˇenie slova«, zit. nach Günther, ebenda.) [Anm. d. Komm.] 18 Der Status als rhetorische Frage von II5 wird durch die Partikel z˙e markiert. [Anm. d. Komm.] 19 Emendation: Dieser Satz ist in SW verunstaltet. Im Original steht: »Retoryczne pytanie, kto´rym zaczyna sie˛ druga strofa, przeobraz˙a sprawce˛ czynnos´ci ze strofy pierwszej w przemilczany podmiot zdania poro´wnawczego – 5 acz niebyłz˙e jak dziecko«. (vgl. Pamie˛tnik Literacki LIV [1963], H. 1–2, S. 451). Die Übersetzung folgt der Version in Pamie˛tnik Literacki. [Anm. d. Komm.]
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Wagen fliegt‹] usw. –, wo in der Metaphorik der stammelnden, kindlichen Sprechweise und der entschlossenen Replik des Autors ein dramatischer Zusammenstoß zeitlicher Faktoren mit »o´w« [›jener‹] stattfindet, ausgedrückt durch einfache Prädikate im Präsens. Die einzigen explizit erwähnten Subjekte der zweiten Strophe sind metaphorische Substantive in abhängigen Äußerungen, die als QuasiZitat auftreten – 6 o! da˛b! / Ucieka!…w lasu gła˛b… [›oh! (eine) Eiche! / (sie) entschwindet!… in (des) Waldes Innere…‹], kombiniert mit der satzwertigen Partizipialkonstruktion 20 6 powiadaja˛c [wörtl.: ›sagend‹] (nach der Terminologie von Klemensiewicz, die ich hier oft anwende 21 ). Die Strophe endet mit einer abhängigen Äußerung einer weiteren Stufe, zusammengesetzt aus zwei *asyndetischen, kontrastiven Sätzen, die beide jeweils ein metaphorisches Subjekt enthalten, das vorher schon einmal erwähnt wurde – 8 Gdy da˛b stoi, wo´z z soba˛ unosi dzieci [›Wenn doch (die) Eiche steht, (der) Wagen fortbringt (die) Kinder‹]. Der Protagonist der ersten Strophe, zu einem untätigen Objekt der letzten abhängigen Äußerung degradiert, verschwindet von der Bildfläche des Gedichts.22 Der Anfangsvers der mittleren Strophe überträgt das Bild des Schöpfers der Vergangenheit von einer realen auf eine metaphorische Ebene – 5 dziecko, co wozem leci [›(das) Kind, das (im) Wagen fliegt‹]. Der letzte Vers der gleichen Strophe wiederum, der sich auf den ersten reimt (leci – dzieci) [›eilt – Kinder‹], schließt die Erzählung vom Protagonisten ab und eröffnet zugleich ohne explizite Verbindung in metaphorischen Anspielungen – »Zamkna˛c´-odemkna˛c´-zaro´wno sie˛ uczem« 23 [›Abschließen-auf20 Vgl. Anm. 14. [Anm. d. Komm.] 21 Klemensiewicz, Zarys skladni polskiej. 22 Für die zweite Strophe muß man aber einen anderen Protagonisten annehmen als für die erste. In der ersten Strophe besitzt der Protagonist Macht und Wissen: Er erschuf die Vergangenheit und gleichzeitig will er das Gedächtnis auslöschen. In der zweiten Strophe dagegen ist der Protagonist ganz passiv und unwissend. Dieses Unwissen führt zu Wahrnehmungsfehlern. Czaplejewicz, der die Dialogizität im Gedicht »Przeszłos´c´« untersuchte, stellte fest, daß in der zweiten Strophe das Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit aus einer anderen Perspektive betrachtet wird. Demnach verändert sich in der zweiten Strophe des Gedichts nicht nur der Protagonist, sondern auch der Sprecher, der in den drei Strophen des Gedichts nacheinander insgesamt drei verschiedene ideologische Positionen bezieht. »Der Inhalt des Gedichts ist nicht der Dialog als eine Art des Sprechens, sondern als Drama, das im Dialog die Wahrheit gebiert. Der Dichter zeigt nicht einen Dialog, sondern verwendet seinen Mechanismus, um zur Wahrheit über das Thema der Vergangenheit zu gelangen.« (Czaplejewicz, »Przeszłos´c´«, S. 159.) [Anm. d. Komm.] 23 Zweite Zeile aus dem zweiten Vierzeiler des bereits zitierten Gedichts »Post scriptum« (vgl. Anm. 11). [Anm. d. Komm.]
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schließen-(ich) lerne auf jeden Fall‹] – das Thema der beständigen Vergangenheit (8 da˛b stoi [›(die) Eiche steht‹]), das in der Abschlußstrophe wörtlich genannt und erweitert wird. »Przeszłos´c´« [›Vergangenheit‹] wird zum einzigen unabhängigen Subjekt und zum Thema der Strophe, das passende Verb des Prädikats tritt hier als explizite oder implizite Form der dritten *Person des Verbs byc´ [›sein‹] im Präsens auf. In dieser Strophe kommt nur dieses »abstrakte« oder »grammatische« (nicht aber lexikalische), ich würde sagen »pronominale« Verb vor und zwar als Semelfaktivum 24 bzw. Iterativum.25 Die weiteren Bestandteile sind fast nur Adverbien, besonders *Pronominaladverbien, sowie Pronomina überhaupt. Die Grenzen zwischen der selbständigen und der auxiliaren Bedeutung des Verbs und entsprechend zwischen der Funktion von Prädikatsnomen bzw. adverbialer Bestimmung beim Existenzverb sind hier fließend, ja sogar absichtlich verwischt, z. B. in dem *Oxymoron 9 Przeszłos´´c jest to dzis´, tylko cokolwiek dale´j [›Vergangenheit, das ist heute, nur ein wenig weiter‹] (vgl. die Variante Przeszłos´´c, jest ci dzis´, i te dzis´ dale´j [›Vergangenheit, das ist heute und dieses heute weiter‹]).26
24 D. h. ein Verb, das eine einmalige Handlung bzw. Geschehen bezeichnet. [Anm. d. Komm.] 25 D. h. ein Verb, das eine wiederholte Handlung bzw. Geschehen bezeichnet. [Anm. d. Komm.] 26 Auf dem Brockhaus-Manuskript von »Przeszłos´c´« trug Norwid später zwei Veränderungen ein: das ursprüngliche lecz am Anfang der zweiten Strophe wurde in acz geändert, in der dritten Strophe wurde die von Jakobson zitierte Veränderung vorgenommen. Die Version, die Jakobsons Analyse zugrunde liegt, ist also hybrid. Jakobson übernimmt diese hybride Version von Gomulicki (vgl. Norwid, Wiersze. Tekst, S. 548), der solche Hybriden eigentlich ablehnte. Fert, ein späterer Herausgeber, entschied sich dagegen in beiden Fällen für die neuere Version, die er jedoch etwas anders als Jakobson aus dem Manuskript entziffert: » P r z e s z ł o ´s c´ j e s t i d z i ´s , i te dzis´ dalej:« [›Vergangenheit ist auch heute und dieses heute weiter‹, Sperrung original] (vgl. Norwid, Vade-mecum, S. 19). Gomulickis und Ferts Versionen unterscheiden sich in ihrer Semantik: Während in »Przeszłos´c´ jest to dzis´, tylko cokolwiek dale´j« der Akzent auf der Gegenwart liegt und festgestellt wird, daß das übliche Verständnis von Vergangenheit, die eigentlich ein etwas nach hinten verschobenes Heute ist, illusorisch ist, betont die zweite Version »Przeszłos´c´ jest i dzis´, i te dzis´ dale´j« das Weiterleben der Vergangenheit in der Gegenwart, wobei das Adverb dalej ›weiter‹ hier in seinen beiden Bedeutungen erscheint: als rückwärts und gleichzeitig auch vorwärts gerichtete Bewegung in Raum oder Zeit. Der dynamische Aspekt der Vergangenheit, die damit auch in der Zukunft weiterwirkt, wird also extrem gesteigert (vgl. Ferts Kommentar zu »Przeszłos´c´« in: a. a. O., S. CI f.). [Anm. d. Komm.]
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Autograph von Cyprian Norwids Gedicht »Przeszłos´c´«. Nationalbibliothek Warschau, Katalognummer II 6313. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung der Nationalbibliothek Warschau.
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Ein charakteristisches Merkmal der »przeszłos´c´« [›Vergangenheit‹] in dem zitierten Vers und in der nächsten Metapher, dem einzigen substantivischen Substantiv 27 in der Strophe – 10 za kołami to wies´ [›hinter (den) Rädern das (ist) (das) Dorf‹] –, ist die nie abtrennbare, unveränderliche Anwesenheit des Vergangenen, ausgedrückt durch das *deiktische Adverb dzis´ [›heute‹] und die Gegenwart, wie auch durch die Überzeitlichkeit der Präsensform des Verbs byc´ [›sein‹]. Die Adverbien, die »re˛ka˛ dosie˛z˙na˛« [›mit erreichender Hand‹] die Nähe der Vergangenheit messen – 9 tylko cokolwiek dalej [›nur ein wenig weiter‹] –, werden durch eine deutliche Paronomasie verstärkt – 10 za kołami to wies´ [›hinter (den) Rädern das (ist) (das) Dorf‹]. Eine solche fühlbare Unmittelbarkeit des Erlebens der Vergangenheit, die eine »wiecznos´c´ w wieczystej połowie« 28 [›Ewigkeit in (der) ewigen Hälfte‹] hat, wird einer verworrenen, vernichtenden Abstrahierung gegenüber gestellt, die von »o´w« [›jener‹] geschaffen wurde: 11 Nie, jakies ´ tam, cos´, gdzies´, 12 Gdzie nigdy ludzie niebywali!… [›Nicht, irgendwelche, etwas irgendwo, Wo niemals Menschen waren‹]. Die Indefinitpronomina – jakies´, cos´, gdzies´ [›irgendwelche, irgendwas, irgendwo‹] – werden in einer Prädikation, die aus komplementären identifizierenden Aussagen besteht, Wörtern mit gleichen Endkonsonanten gegenübergestellt – dzis´, wies´ [›heute, Dorf‹]. Die Reihe dzis´-gdzies´ – gdzieludzie [›heute-irgendwo – wo-Menschen‹] verschärft das Spiel mit den *palatalen Konsonanten, wobei sie an die dreifache Palatalisierung am Ende der vorigen Strophe – »unosi dzieci« [›die Kinder fortbringt‹] – anknüpft und durch das infantile Lispeln an das metaphorische Motiv der Kindersprache aus der zweiten Strophe erinnert.29 Ebenso verbinden die Bilder der Räder und des Wagens, in dem das Kind eilt, die beiden Strophen miteinander.30 27 Poln. rzeczownik substantywny. Es ist nicht ganz klar, was Jakobson hier meint. In der betreffenden Strophe gibt es vier »substantivische« Substantive, d. h. Substantive, die nicht das Resultat einer Substantivierung eines zu einer anderen Wortart gehörenden Wortes sind (przeszłos´´c, kołami, wies´, ludzie). [Anm. d. Komm.] 28 Ein Fragment des ersten Verses des zweiten Vierzeilers von »Post scriptum« (vgl. Anm. 11, 23 und 30). [Anm. d. Komm.] 29 Die von Jakobson aufgezählten lautlichen Eigenschaften der dritten Strophe haben jedoch eine andere Funktion als in der zweiten Strophe, wo sie sowohl das Objekt als auch das Subjekt der Aussage charakterisieren. Der erste Vers der dritten Strophe hat eine geradezu formelhafte Klarheit und Präzision (vgl. Anm. 26; im heutigen Polnischen ist die ältere, durch Gomulickis editorische Tätigkeit bekannt gewordene und von Jakobson übernommene Version dieses Verses ein geflügeltes Wort). Die auf diese Sentenz folgenden Verse mit ihrem »Lispeln« und den gehäuften Indefinita haben im Vergleich zur zweiten Strophe eine parodierende Funktion und
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Es ist schwer, ein auffälligeres Beispiel für eine zielgerichtete und wirkungsvolle Gegenüberstellung grammatischer Kategorien zu finden, als die Gegensätze zwischen dem ersten und dem letzten Vierzeiler in Norwids Gedicht, der Strophe des »o´w« [›jenes‹] und der Strophe der »przeszłos´c´« [›Vergangenheit‹]. In der dritten Strophe ist das Substantiv »przeszłos´c´« [›Vergangenheit‹] das Hauptsubjekt, die Rolle von abhängigen Gliedern hingegen übernehmen fast nur Pronominaladverbien und die explizite oder implizite Form des »pronominalen« Verbs. In der ersten Strophe hingegen wird das Hauptsubjekt durch das Pronomen »o´w« [›jener‹] ausgedrückt, der Basisbestand an abhängigen Gliedern wird nicht durch pronominale, also grammatische Ausdrücke gebildet, wie in der dritten Strophe, sondern durch eigentlich lexikalische Ausdrücke, nämlich durch fünf aktive Verben, begleitet von sechs Substantiven im Akkusativ. In der Strophe über »przeszłos´c´« [›Vergangenheit‹] ist das Subjekt selbst wesenhaft und wird nur relativ bestimmt, weil die Pronomina an sich keine *lexikalische Bedeutung haben. Im Gegensatz dazu ist in der Strophe über »o´w« [›jener‹] das Wesen des Subjekts relativ, unmittelbar gegeben sind nur seine einzelnen Erscheinungsformen. Ihr gegenseitiges Verhältnis ist durch verschiedene Konjunktionen genau festgelegt (zweimal durch verbindendes i [›und‹], durch das gegensätzliche lecz [›aber‹] und wieder zweimal durch das konsekutive wie˛c [›also‹]), während die substantielle Einheitlichkeit der dritten Strophe in einem hartnäckigen Asyndeton zum Ausdruck gebracht wird. Das wiederholte Präteritum der ersten Strophe stößt die Taten des »o´w« [›jener‹] »w lasu gła˛b« [›in des markieren nach Czaplejewicz zusätzlich die »dritte Stimme«, die im Gedicht spricht (vgl. Czaplejewicz, »Przeszłos´c´«, S. 158). [Anm. d. Komm.] 30 Bezeichnenderweise läßt Jakobson in dieser Aufzählung gerade das Motiv aus, durch das sich die dritte Strophe am deutlichsten von der zweiten abhebt: »Hinter den Rädern« ist in der dritten Strophe »das Dorf« (»wies´«), und nicht, wie in der zweiten »die Eiche« (»da˛b«). Das Dorf bedeutet bei Norwid nach Czaplejewicz »konkretne z˙ycie tocza˛ce sie˛ woko´ł nas, z˙ywe rojowisko ludzkie« [›das konkrete Leben, das sich um uns abspielt, ein lebendiges Gewimmel von Menschen‹] (ebd.). Dieses Leben ist der Gegenwart zwar nicht unmittelbar zugänglich (es befindet sich bereits »hinter den Rädern«, oder, wie Norwid in dem von Jakobson im vorliegenden Aufsatz bereits zweimal zitierten Gedicht »Post scriptum« sagt, »Co stało sie˛ juz˙, nie odstanie chwilka˛… / Wro´ci Idea˛, nie powro´ci s o b a˛« [Sperrung original] [›was schon passiert ist, kann man nicht mehr in einem Augenblick zurückholen… / Es kommt als Idee zurück, nicht selbst‹] (ebd.). Doch das Leben bedeutet Kontinuität, und wenn jemand dies vergißt und die Vergangenheit wie etwas Unbewegliches, Lebloses betrachtet, benimmt er sich wie »jener, der sich auf das Grab seines Bruders (begibt), um zu Botanisieren! Kräuter zu sammeln!« (»To, jakby poszedł kto na grobie brata / herboryzowac´! Zioła rwac´!…«, ebd.) [Anm. d. Komm.]
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Waldes Innere‹], im Gegensatz zur überzeitlichen Gegenwart, die durch das Präsens, das die Abschlußstrophe dominiert, symbolisiert wird.
II Wie die grammatische Faktur des Gedichts, so betont auch sein rhythmischer und lautlicher Aufbau die innere Geschlossenheit, gleichzeitig aber auch die individuellen Züge aller drei Strophen von Przeszłos´´c [›Vergangenheit‹]. Die mittlere Strophe enthält zwei 12-silbige Verse, die durch einen *weiblichen Reim verbunden und durch ein Paar benachbarter, durch einen *männlichen Reim verbundener Sechssilbler voneinander getrennt sind. Die beiden umarmenden Strophen unterscheiden sich von der mittleren nur durch einen geringeren Umfang der Abschlußverse: elf Silben im letzten Vers des ersten Vierzeilers und neun im letzten Vers der dritten Strophe. Die beiden weiblichen Verse der mittleren Strophe sind durch zusammenfallende *Wortgrenzen in die Silbensegmente 4 + 3 + 5 31 gegliedert: 32 31 Jakobson verwendet das Adjektiv sylabiczny ›Silben-, silbisch‹ in diesem Artikel im Sinne von ›sich auf die Silbenzahl beziehend‹. In der deutschen Übersetzung werden die Ausdrücke silbisch und Silben- entsprechend verwendet. [Anm. d. Komm.] 32 Bei der metrischen Analyse dieses Gedichtes nützt Jakobson vor allem die Ergebnisse seiner Untersuchungen zum Verhältnis von Wortgrenze und Phrasierung in der poetischen Sprache. Phrasieren ist eine Eigenheit der akustischen Wahrnehmung: Die sukzessive auftretenden akustischen Impulse werden dabei nicht einfach als eine Lautreihe, sondern immer als in kleine Gruppen gegliedert rezipiert. Das Sprechen ist hierbei eine Ausnahme: »Bei ihm ist das Phrasieren akustisch nicht gegeben. Und doch gliedern wir die aufgenommene Rede nicht willkürlich, vielmehr gibt es in unserem Sprachbewußtsein eine a priori gegebene verbindliche Gegebenheit der Gliederung, namentlich die Gliederung in *Worteinheiten.« Daß »das Phrasieren gleichbedeutend mit der Aufteilung der Rede in Worteinheiten ist«, und dies »insbesondere in der poetischen Sprache […], deren *Rhythmus wir erleben (der einzigen rhythmischen Sprache)«, zeigt Jakobson in der unten erwähnten Arbeit am Beispiel der Zäsur. Seit Boileau wurde die Zäsur immer wieder mit einer syntaktischen Pause verwechselt, Jakobson beweist dagegen, daß sie einen in Bezug auf die Syntax autonomen Charakter besitzt. Parallelen zu Jakobsons Überlegungen kann man in den Arbeiten von anderen deutschen und russischen Metriktheoretikern der Zwischenkriegszeit finden (Jakobson, Über den tschechischen Vers, v. a. S. 39–43). Vgl. auch Jakobson, »Slavic Epic Verse«, S. 452–454, mit einer etwas anderen Terminologie zu den unterschiedlichen metrischen und sprachlichen Konstituenten und dem Zusammenhang zwischen ihnen. Zum Problem der Wortgrenzen vgl. Jakobson, »Die Poesie Dalmatiens am Ende des 15. Jahrhunderts: Dzˇore
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Acz niebyłz˙e / jak dziecko, / co wozem leci — Gdy da˛b stoi, / wo´z z soba˛ / unosi dzieci 33 Doch war (er) nicht / wie (das) Kind, / das (im) Wagen dahinfliegt — Wenn doch (die) Eiche steht / und (der) Wagen / (die) Kinder fortbringt
Sowohl in der ersten als auch in der letzten Strophe beginnen die beiden weiblichen Verse mit identischen Silbengruppen: in der Anfangsstrophe mit dem Paar 4 + 4 (1 Nie Bo´g stworzył / przeszłos´´c i ´smierc´ – 4 Wie˛c czuja˛c złe / chciał odepchna˛c´ [›Nicht Gott erschuf / Vergangenheit und Tod – das Böse fühlend / wollte abstoßen‹]) und in der letzten Strophe mit einem fünfsilbigen Segment (9 Przeszłos´´c, jest to dzis´ – 12 Gdzie nigdy ludzie [›Vergangenheit, das ist heute – wo niemals Menschen‹]). Die benachbarten weiblichen Verse sind durch ihre Silbengliederung eng verbunden: Der vierte Vers endet und der fünfte beginnt mit der Gruppe 4 + 3 (4 chciał odepchna˛c´ – wspomnienia! – 5 Acz niebyłz˙e / jak dziecko [›wollte – die Erinnerungen abstoßen! – Doch war (er) nicht / wie (das) Kind‹]); auf der anderen Seite wird das Schema des achten Verses 7 + 5 im neunten Vers in der umgekehrten Reihenfolge 5 + 7 wiederholt (9 Przeszłos´´c jest to dzis´, / tylko cokolwiek dale´j [›Vergangenheit das ist heute, / nur ein wenig weiter‹]). Schließlich enden nur zwei Verse mit silbisch identischen Einheiten, und zwar der Anfangs- und der Abschlußvers (1 〈…〉 i cierpienia – 12 〈…〉 niebywali [›und Leiden – nicht waren‹]). So sind also in jeder Strophe von Przeszłos´´c [›Vergangenheit‹] die ersten Segmente der weiblichen Verse isosilbisch, in der mittleren Strophe bilden beide weiblichen Verse eine in bezug auf ihre Phrasierung vollkommene *Symmetrie und sind außerdem mit der Phrasierung der Nachbarverse in der Anfangs- bzw. Abschlußstrophe verbunden. Zu guter Letzt sind die beiden äußeren Verse des Gedichts durch identische Silbensegmente gekennzeichnet. Maria Grze˛dzielska schreibt zu den Norwidschen Zwölfsilblern: »die Freiheit, innerhalb der Gedichte zu phrasieren, die rhythmische Wellenbewegung, das sich Annähern und wieder Entfernen der Betonungen, das Ansteigen und Zerfließen von Wellen ist das Ergebnis der Ablehnung einer *Zäsur« [›swoboda frazowania wewna˛trz wierszy, owo falowanie rytmu, zbliz˙ania sie˛ i oddalania akcento´w, wzbierania i rozpływania sie˛ fali – Drzˇic´s Gedicht ›Auf der Jagd‹«, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 541 f., sowie Jakobson /Jones, »Shakespeares Wortkunst in ›Das Versprühen des Geistes‹«, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 628 u. 630. [Anm. d. Komm.] 33 Die betonten Silben von uns kursiviert. [Anm. d. Komm.]
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to wynik odrzucenia ´srednio´wki‹ 34 ]. Besonders interessant am Gedicht Przeszłos´´c [›Vergangenheit‹] ist die Fülle an betonten einsilbigen Wörtern, die an die Stelle der normalen weiblichen *Kadenz 35 treten. Außer zwei männlichen Auslauten in jeder Strophe enthält Przeszłos´´c [›Vergangenheit‹] vierzehn einsilbige vollakzentuierte Wörter innerhalb eines Verses,36 die Hälfte davon kommt in der ersten Strophe vor (Bo´g [›Gott‹], ´smierc´ [›Tod‹], o´w [›jener‹], wie˛c [›also‹] (2x), złe [›böse‹], chciał [›wollte‹]), und die restlichen sieben in den zwei nächsten Strophen, drei in der zweiten Strophe (o! [›oh!‹], da˛b [›Eiche‹], wo´z [›Wagen‹]) und vier in der dritten (jest [›ist‹], dzis´ [›heute‹], tam [›irgendwo‹], cos´ [›irgendwas‹]). Der rhythmische Aufbau des einleitenden Vierzeilers, in dem »o´w, co prawa rwie« [›jener, der die Gesetze zerreißt‹] dargestellt wird, stützt sich auf zwei intonatorisch abgetrennte, vollakzentuierte Einsilbler und vor allem auf die *anaphorische Gegenüberstellung der zwei Protagonisten mit *assonantischen Namen: Bo´g [›Gott‹] und o´w [›jener‹]. Vollakzentuierte Einsilbler erscheinen in allen Versen von Przeszłos´´c [›Vergangenheit‹], mit Ausnahme der einleitenden Zeile im zweiten Vierzeiler und der Abschlußzeile des dritten Vierzeilers, d. h. mit Ausnahme der beiden Sätze mit einer negierten Form des Verbs byc´ [›sein‹] bzw. bywac´ [›zu sein pflegen‹]: 5 12 5 12
Acz niebyłz˙e jak dziecko, co wozem leci Gdzie nigdy ludzie niebywali!… Doch war (er) nicht wie (das) Kind, das (im) Wagen dahinfliegt Wo niemals Menschen waren!…
Mit den vollakzentuierten Wörtern ist das Repertoire an betonten Einsilblern in diesem Gedicht nicht erschöpft. Von den zwölf Versen beginnen sechs mit potentiell betonten einsilbigen Wörtern, d. h. mit Wörtern, die in einer neutralen Aussage *Proklitika sind und in emphatischen Stilen eine selbständige Betonung erhalten können. Eben eine solche Emphase wird durch die kontrastierende, gegenüberstellende Funktion dieser Einsilbler suggeriert, besonders in der ersten Strophe: [–] Bo´g, stworzył 〈…〉 [›Nicht Gott, erschuf 〈…〉‹] Lecz ´w, co prawa rwie, [›sondern jener, der (die) Gesetze zerreißt‹] ......... [–] o Wie ˛ c [–], nieznos´ne mu, dnie; [›so, unerträglich (sind) ihm, (die) Tage‹] ........... Wie ˛ c , czuja ˛c złe, 〈…〉 [›so, fühlend (das) Böse 〈…〉‹] 37 ...........
Nie ........
34 Grze˛dzielska, »Stro´j ›Polki‹ Norwida«, S. 336. 35 Da der Akzent im Polnischen meistens auf die vorletzte Silbe fällt, kommt im polnischen Vers die weibliche Kadenz am häufigsten vor. [Anm. d. Komm.] 36 D. h.: nicht am Ende des Verses. [Anm. d. Komm.] 37 Die betonten Silben haben wir kursiviert, die »potentiell betonten« gepunktet un-
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Die Tendenz zu einsilbigen Phrasierungstakten 38 wird durch die ungewöhnliche Interpunktion 39 in Norwids Autograph betont: 1 Nie Bo´g, stworzył [›Nicht Gott erschuf‹] – 3 nieznos´ne mu, dnie [›unerträglich (sind) ihm (die) Tage‹] – 11 Nie, jakies´ tam, cos´ gdzies´ 〈…〉 [›Nicht, irgendwelche, etwas irgendwo 〈…〉‹]. Unsere Interpretation der einleitenden Einsilbler in der ersten Strophe wird auch durch deren lautliches Gewebe unterstützt. Das /e/ durchdringt alle diese vier Wörter (Nie – lecz – wie˛c – wie˛c), betontes /e/ kommt außerdem in allen vier Reimwörtern vor (cierpienia – rwie – dnie – wspomnienia). Dabei gibt es in dem Gedicht eine allgemeine Tendenz zu Reimen auf –/e/– (vier von sechs Reimen) und eine Dominanz von betontem /e/ (21 /e/ von 48 vollakzentuierten Vokalen in allen drei Strophen). Die *Einstellung auf diesen Vokal ist schon im Titelwort Przeszłos´´c [›Vergangenheit‹] spürbar, sowie im ersten Vers, in dem dreimal ein /e/ vorkommt: in eben dem Titelsubstantiv, hier vom Autor hervorgehoben, und in zwei weiteren Akkusativen: 1
Nie Bo´g, stworzył przeszłos´c´ i ´smierc´ i cierpienia, Nicht Gott, erschuf Vergangenheit und Tod und Leiden,
Diesen drei betonten /e /, die durch zweisilbige Intervalle voneinander getrennt sind, entspricht dieselbe Anordnung dieses Vokals im vierten Vers: terstrichen. Mit dem Gedankenstrich hinter den ersten drei Einsilblern bezeichnet Jakobson die semantische Verbindung zum folgenden Vers. [Anm. d. Komm.] 38 Die Phrasierungstakte sind durch die Wortgrenzen vorgegeben, vgl. Anm. 32 zum Zusammenhang zwischen Phrasierung und Wortgrenze. [Anm. d. Komm.] 39 Norwids Interpunktion ist Gegenstand von unzähligen Debatten. Keiner der Herausgeber hält sich strikt an Norwids Angaben, die in vielen Fällen äußerst ungewöhnlich sind. Nach Fert wird die Übernahme von Norwids Interpunktion zusätzlich dadurch erschwert, daß er einmal der älteren polnischen Tradition folgte, nach der die Interpunktion die Intonation und die rhetorischen Eigenschaften des Gedichts hervorheben sollte, einmal wieder der neueren, die sich um 1850 etablierte und in der immer mehr die aus dem Deutschen übernommenen Regeln befolgt wurden, denen zufolge die Interpunktion eher der Hervorhebung der logischen und syntaktischen Satzstrukturen diente (Fert, »Vade-mecum jako problem edytorski«, S. 50 f., vgl. auch: Go´rski, Tekstologia i edytorstwo dzieł literackich, S. 236–254, und Puzynina, Słowo Norwida, S. 30–32). Dementsprechend wird der erste Vers von »Przeszłos´c´« entweder als »Nie Bo´g stworzył p r z e s z ł o ´s c´, i ´smierc´, i cierpienia,« (Gomulicki) oder als »Nie Bo´g stworzył p r z e s z ł o ´s c´ i ´smierc´, i cierpienia,« (Fert) gelesen, der dritte Vers entsprechend als »Wie˛c – nieznos´ne mu dnie;« oder als »Wie˛c nieznos´ne mu, dnie«. Jakobson hingegen weist darauf hin, daß Norwids Interpunktion zumindest manchmal in Verbindung mit der Metrik gesehen werden muß. [Anm. d. Komm.]
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Wie˛c, czuja˛c złe, chciał odepchna˛c´ wspomnienia! So, fühlend (das) Böse, wollte (er) abstoßen (die) Erinnerungen!
Als Ergebnis entsteht ein Quadrat aus vier betonten /e/ auf jeder Seite, das die erste Strophe umfaßt. e e e e e e e e
e e e e
Der *Parallelismus der einleitenden Phrasierungstakte in den Versen der Anfangsstrophe findet in dem betonten /u/ der zweiten Silbe, das die drei ersten Verse (Bo´g-o´w-czuja˛c 40 [›Gott-jener-fühlend‹]) verbindet, eine Stütze, sowie dadurch, daß in der dritten Silbe aller vier Verse der gleiche Laut, nämlich /o/ steht (stworzył-co-nieznos´ne-czuja˛c [›erschuf-welcherunerträglich-fühlend‹]). Die zweite Strophe, die einen weiblichen Reim mit betontem /e/ mit einem männlichen Reim auf /o/ kombiniert, stellt den zwölf betonten /e/ der Anfangsstrophe acht betonte /o/ gegenüber, von denen die Hälfte auf den letzten Vers entfällt (8 – Gdy da˛b 41 stoi, wo´z 42 z soba˛ unosi dzieci [›Wenn doch (die) Eiche steht, (der) Wagen fortbringt (die) Kinder‹]), parallel zu den vier betonten /e/ im letzten Vers der vorigen Strophe. Auf den gleichmäßigen, *daktylischen Verlauf des vierten Verses antwortet der achte mit einer ungezwungenen und verdichteten, unkomplizierten Verteilung der Akzente. Der Übergang von der hellen Dominante /e/ zum entsprechenden dunklen 43 Laut /o/, beide weder *kompakt noch *diffus, begleitet das strenge Verwerfen der mythischen Fiktion von »o´w« [›jener‹] in der zweiten Strophe, während das Schlußurteil in der dritten Strophe die Kollision von dunklen und hellen Vokalen gegen das tonal neutrale, offene, kompakte, farbige 44 /a/ tauscht, das alle Verse der Stanze 45 verbindet (dalej [›weiter‹] – za kołami [›hinter (den) Rädern‹] – jakies´ tam Aussprache: [buk-uf-ujonts]. [Anm. d. Komm.] Aussprache: [domp]. [Anm. d. Komm.] Aussprache: [vus]. [Anm. d. Komm.] *Hell und *dunkel bezeichnen hier die entsprechenden Merkmale in Jakobsons System *distinktiver Merkmale (engl. acute : grave, vgl. Glossar). [Anm. d. Komm.] 44 Zur Farbigkeit von Vokalen s. Jakobson, »Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze«, S. 378–388 (Abschn. 25–27). Vgl. auch Jakobson, »Pusˇkins Verse über die Mädchen-Statue, die Bacchantin und die Demütige«, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 80 f. [Anm. d. Komm.] 45 Im Gegensatz zu dt. Stanze kann poln. stanca unter anderem auch zur Bezeichnung aller Strophen, die vier oder mehr Verse zählen, verwendet werden. [Anm. d. Komm.]
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[›irgendwelche‹] – niebywali [›niemals waren‹]) und den Schlußreim von Przeszłos´´c [›Vergangenheit‹] hervortreten läßt. Um noch einmal auf die potentiell betonten Wörter zurückzukommen, möchten wir anmerken, daß auch das deiktische to [›das‹] dazu zählt, das in einer neutralen Äußerung keinen Akzent trägt, in einer emphatischen Äußerung aber leicht einen selbständigen Akzent bekommen kann, z. B. 9 jest [–] to [–] dzis´ [›ist [–] das [–] heute‹]. Die Gliederung des Textes in kleine Phrasierungstakte wird durch das bewußte Arbeiten mit der Nachbarschaft zweier betonter Silben innerhalb des Verses besonders ausdrucksvoll signalisiert: 1 Nie Bo´g, stworzył – 4 Wie ˛c, czuja˛c złe, chciał – 6 o! da˛b – 8 – Gdy da˛b stoi, wo´z z soba˛. Gerade beim Kurzschließen zweier Betonungen tritt eine Pause besonders deutlich hervor. Eine sehr auffällige Form dieses »staccato«-Stils ist die Häufung von voll- und potentiell betonten Wörtern in der dritten Strophe, wo die Replik »owemu, co prawa rwie« [›jenem, der die Gesetze zerreißt‹] schließlich zu einer Reihe von kompakten, gewichtigen, rücksichtslos ins Ohr des Lesers dringenden, unwiderruflichen Feststellungen wird: to wies´ Nie, jakies´ tam, cos´, gdzies´, Gdzie nigdy 〈…〉 das (ist) (das) Dorf Nicht, irgendwelche, etwas, irgendwo Wo niemals 〈…〉
Editorische Notiz Geschrieben in Cambridge, Mass. und Stanford, California, 1960–1961 als Erläuterung zur polnischen Übersetzung von »Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie« und zuerst veröffentlicht in Pamie˛tnik Literacki LIV (1963), H. 1–2, S. 449–456.
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Literatur Jakobsons eigene Literaturangaben sind mit ° gekennzeichnet. Czaplejewicz, Eugeniusz: »Przeszłos´c´« [›Vergangenheit‹], in: Cypriana Norwida kształt prawdy i miłos´ci. Analizy i interpretacje, hg. v. Stanisław Makowski, Warszawa: Wydawnictwa Szkolne i Pedagogiczne 1986, S. 144–159. Fert, Jo´zef: »Vade-mecum jako problem edytorski« [›Vade-mecum als herausgeberisches Problem‹], in: Studia Norwidiana 2, hg. v. Jan Błon´ski u. a., Lublin: Wydawnictwo Towarzystwa Naukowego Katolickiego Uniwersytetu Lubelskiego 1984, S. 45–61. Go´rski, Konrad: Tekstologia i edytorstwo dzieł literackich [›Textologie und die Edition von literarischen Werken‹], Warszawa: Pan´stwowe Wydawnictwo Naukowe 1978. ° Grze˛dzielska, Maria: »Stro´j ›Polki‹ Norwida« [›Die Kleidung der »Polin« Norwids‹], in: Dziesie˛ciolecie Wyz˙szej Szkoły Pedagogicznej w Krakowie. 1946– 1956. Zbio´r rozpraw i artykuło´w, Krako´w: Pan´stwowe Wydawnictwo Naukowe 1957, S. 31–345. Günther, Hans: »Ding (Vesˇcˇ’)«, in: Glossarium der russischen Avantgarde, hg. v. Alexander Flaker, Graz-Wien: Droschl 1989, S. 179–187. Hansen-Löve, Aage A.: Der russische Formalismus, Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1978. Jakobson, Roman Osipovicˇ: »Die Poesie Dalmatiens am Ende des 15. Jahrhunderts: Dzˇore Drzˇic´s Gedicht ›Auf der Jagd‹«, übs. v. Oleh Kotsyuba u. Sebastian Donat, komm. v. Renate Lachmann, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 536–552. — »›Gefühl‹ von Cyprian Norwid«, übs. v. Sylwia Grzesinska, Anna Auguscik u. Imke Mendoza, komm. v. Imke Mendoza u. Małgorzata Zemła, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 375–394. — »Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze«, in: SW I, S. 328–401. — »Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie«, übs. u. komm. v. Sebastian Donat, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 256–301. — »›Przeszłos´c´‹ Cypriana Norwida«, in: Pamie˛tnik Literacki LIV (1963), H. 1–2, S. 449–456. — »›Przeszłos´c´‹ Cypriana Norwida«, in: SW III, S. 499–507. — »Pusˇkins Verse über die Mädchen-Statue, die Bacchantin und die Demütige«, übs. u. komm. v. Sebastian Donat, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 77–120. — »Slavic Epic Verse. Studies in Comparative Metrics«, in: SW IV, S. 414– 463. — Über den tschechischen Vers. Jakobson, Roman Osipovicˇ u. Lawrence G. Jones: »Shakespeares Wortkunst in ›Das Versprühen des Geistes‹«, übs. v. Evi Zemanek, komm. v. Andreas Höfele, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 622–655.
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Jastrun, Mieczysław: »Interpretacje. Trzy wiersze z Vade-mecum. 1. ›Przeszłos´c´‹, 2. ›Stolica‹, 3. ›Nerwy‹« [›Interpretationen. Drei Gedichte aus Vade-mecum. 1. »Vergangenheit«, 2. »Die Hauptstadt«, 3. »Nerven«‹], in: Poezja 6 (1970), S. 6–16. ° Klemensiewicz, Zenon: Zarys skladni polskiej [›Abriß der polnischen Syntax‹], 2. Aufl. Warszawa: Pan´stwowe Wydawnictwo Naukowe 1957. Norwid, Cyprian: Vade-mecum, hg. v. Jo´zef Fert, Biblioteka Narodowa, Bd. I/271, 2. Aufl. Wrocław-Warszawa-Krako´w: Zakład Narodowy im. Ossolin´skich – Wydawnictwo 1999. — Vade-mecum. Gedichtzyklus (1866), hg., eingel. und übers. v. Rolf Fieguth, München: Wilhelm Fink Verlag 1981. ° — Vade-mecum. Podobizna autografu z przedmowa˛ W. Borowego [›Vade-mecum. Faksimile des Autographs mit einem Vorwort von W. Borowy‹], Warszawa: Towarzystwo Naukowe Warszawskie 1947. — Wiersze. Dodatek krytyczny [›Gedichte. Kritischer Zusatz‹], hg. u. eingel. v. Juliusz W. Gomulicki, Warszawa: Pan´stwowy Instytut Wydawniczy 1966 (= Cyprian Norwid: Dzieła zebrane, 2 Bde., hg. v. Juliusz W. Gomulicki, Bd. 2). — Wiersze. Tekst [›Gedichte. Text‹], hg. u. eingl. v. Juliusz W. Gomulicki, Warszawa: Pan´stwowy Instytut Wydawniczy 1966 (= Cyprian Norwid: Dzieła zebrane, 2 Bde., hg. v. Juliusz W. Gomulicki, Bd. 1). Puzynina, Jadwiga: Słowo Norwida [›Das Wort Norwids‹], Wrocław u. a.: Zakład Narodowy im. Ossolin´skich – Wydawnictwo PAN 1990. Słownik je˛zyka Cypriana Norwida. Zeszyt pro´bny [›Wörterbuch der Sprache Norwids. Probeheft‹], hg. v. Jolanta Chojak u. a., Warszawa: Uniwersytet Warszawski, Wydział Polonistyki 1988. ° Urban´czyk, Stanisław: Zdania rozpoczynane wyrazem ›co‹ w je˛zyku polskim [›Mit »co« beginnende Sätze im Polnischen‹], Krako´w: Polska Akademia Umieje˛tnos´ci 1939 (= Prace Komisji Je˛zykowej, Bd. 28).
Roman Jakobson
»Gefühl« von Cyprian Norwid 1 Übersetzung aus dem Polnischen Sylwia Grzesinska, Anna Auguscik und Imke Mendoza
Kommentar Imke Mendoza und Małgorzata Zemła
Die Analyse von »Czułos´´c« [›Gefühl‹] ist chronologisch die letzte von Jakobsons polonistischen Arbeiten. Er behandelt hier eines der bekanntesten Gedichte Norwids, dessen Rezeptionsgeschichte mit Zenon Przesmyckis Interpretation anläßlich der Erstveröffentlichung des Gedichtes 2 begann und an der sich bis Jakobsons Besprechung eigentlich nichts Wesentliches geändert hat. Jakobsons präzise und eindrucksvolle Analyse hat neue Maßstäbe für das Verständnis von »Czułos´´c« [›Gefühl‹] gesetzt. 3 Umso bedauerlicher ist es, daß diese Arbeit in Polen bis heute nicht veröffentlicht wurde. 4 Imke Mendoza und Małgorzata Zemła 1
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Vorlage: Jakobson, Roman Osipovicˇ: »›Czułos´c´‹ Cypriana Norwida«, in: SW III, S. 508–518. Erstdruck in: For Wiktor Weintraub. Essays in Polish Literature, Language, and History presented on the occasion of his 65 th Birthday, hg. v. Victor Erlich u. a., The Hague u. Paris: Mouton 1975, S. 227–237. [Anm. d. Komm.] Mit den bis dahin gängigen Interpretationen von »Czułos´c´« setzt sich Jakobson gegen Ende seiner Analyse kritisch auseinander. [Anm. d. Komm.] Als einer der wenigen polnischen Wissenschaftler bezieht sich Roman Jaskierny auf Jakobsons Ergebnisse, vgl. ders., »Rytm wewne˛trzno-logiczny liryko´w Norwida«, v. a. S. 430. [Anm. d. Komm.] Einer Veröffentlichung in Polen steht ohne Zweifel auch der dichte, äußerst komplexe Stil des polnischen Originals im Wege, wodurch die Arbeit sogar für polnische Muttersprachler stellenweise schwer verständlich ist. [Anm. d. Komm.]
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Unter Beibehaltung von Orthographie und Interpunktion rekonstruieren wir nach Norwids Manuskript 5 das Gedicht LVI aus der Sammlung Vade-mecum (1865–1866),6 die seinen Worten zufolge zeigen sollte, »co jest włas´ciwa je˛zyka polskiego liryka« 7 [›was die eigentliche Lyrik der polnischen Sprache ist‹], im Verlauf des vergangenen Jahrhunderts aber nicht zum Druck gelangte. Das hier untersuchte Gedicht wurde zum ersten Mal von Zenon Przesmycki (Pseudonym Miriam) 8 in »Chimera«, VII, (1904), Seite 150,9 publiziert. ´ 10 CZUŁOS´C 1 2 3
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Czułos´c´, bywa jak pełny wojen krzyk; 11 I jak szemrza˛cych z´ro´deł pra˛d I jako wto´r pogrzebny…
Jakobson meint hier natürlich die Reinschrift, die Norwid 1866 für den BrockhausVerlag in Leipzig anfertigte (vgl. die deutsche Übersetzung der Analyse Jakobsons von »Przeszłos´c´« in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 357, Anm. 7). Jakobson rekonstruiert das Gedicht jedoch nicht aus dem Manuskript, das in der Nationalbibliothek in Warschau aufbewahrt wird (Biblioteka Narodowa, Katalognr. II 6313), sondern aus Borowys Faksimile (Norwid, Vade-mecum. Podobizna autografu z przedmowa˛ W. Borowego, S. 64), das aber im Falle von »Czułos´c´« keine großen Schwierigkeiten zu bereiten scheint. Zur technischen Seite des Faksimiles vgl. Jakobsons Analyse von »Przeszłos´c´«, S. 357, Anm. 7. [Anm. d. Komm.] 6 Norwid, Vade-mecum. Podobizna autografu z przedmowa˛ W. Borowego, S. 64. 7 Dieser Satz stammt aus einem Brief an Norwids Freund Bronisław Zaleski aus dem Jahre 1867 (Norwid, Listy, S. 540 f.). Norwid wendet sich damit vor allem gegen die *syllabische und *syllabotonische Praxis der polnischen Spätromantik (»to, co Polacy zwa˛ liryka˛, jest s i e k a n k a˛ i m a z u r k i e m « [›was die Polen Lyrik nennen, ist Gehacke und Gehüpfe‹], a. a. O., S. 541). Das Polnische mit seiner festen Betonung auf der vorletzten Silbe eignet sich nicht besonders gut für eine streng verstandene Syllabotonik. Die Dichter der Hochromantik, wie Mickiewicz und Słowacki, die auch syllabotonische Gedichte schrieben, mieden eine absolute Regelmäßigkeit. Norwids Rhythmik kann in mancher Hinsicht als Fortsetzung der Hochromantik gelten, geht jedoch sehr oft über diese Praxis hinaus. (Vgl. v. a. Jakobsons Analyse von »Przeszłos´c´«, und die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 367–371.) [Anm. d. Komm.] 8 Vgl. S. 357, Anm. 7 in der deutschen Übersetzung von Jakobsons Analyse von Norwids »Przeszłos´c´« in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 354–374. [Anm. d. Komm.] 9 Przesmycki druckte dieses Gedicht in einem Artikel über die Gedichte Norwids ab, s. Przesmycki, »Cypriana Norwida Dzieła zebrane«, S. 150. [Anm. d. Komm.] 10 »Czułos´c´« bedeutet im heutigen Polnischen ›Zärtlichkeit‹, im 19. Jh. bedeutete das Wort dagegen ›Gefühl‹, ›Empfindung‹. Für die Übersetzung scheint uns das dt. Gefühl am besten zu passen, weil es u. E. die verschiedenen Erscheinungsformen und
»Gefühl« von Cyprian Norwid 4 5 6
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I jak plecionka długa z włoso´w bla˛d, Na kto´rej wdowiec nosic´ zwykł Zegarek sre´bny.12 – – – GEFÜHL
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Gefühl, ist oft wie der Kriege voller Schrei; Und wie der plätschernden Bäche Strömung Und wie Grabgesang… Und wie der lange Zopf aus blondem Haar, An welchem der Witwer zu tragen pflegt Die silberne Uhr. – – – 13
Das Sextett besteht aus zwei Terzetten, von denen jedes im Autorenmanuskript der Sammlung Vade-mecum durch ein Kreuzchen über und unter dem Dreizeiler getrennt ist. Czułos´´c [›Gefühl‹], erst Titel- und dann Anfangssubstantiv des Sextetts, ist im Text Norwids durch ein Komma von dem darauf folgenden Verb getrennt, was eine Pause zwischen Subjekt und Prädikat erzeugt und diese zwei Komponenten gleichsam in eingliedrige Gebilde verwandelt.14 Das ganze Gedicht besteht aus einem komplexen Satz mit vier vergleichenden Phrasen und dem *»Tenor« aller Vergleiche, dem *abstrakten Substantiv czułos´´c [›Gefühl‹]. Die Unvollendetheit dieser Aussage, die Möglichkeit, weitere Vergleiche anzuschließen, mit einem Wort, das – um mit Norwid zu sprechen 15 – »Fragmenthafte« des Gedichts wird durch
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die Tiefe von czułos´´c am besten wiedergibt. Vgl. Puzynina: »Wenn wir zum Beispiel den Titel von Norwids Gedicht ›Czułos´c´‹ mit der heutigen Bedeutung dieses Wortes lesen, verstehen wir das Gedicht, in dem verschiedene Erscheinungsformen von Gefühl und Empfindsamkeit betrachtet werden (so eine Bedeutung hatte dieses Wort auch im 19. Jh.), falsch.« (Puzynina, Słowo Norwida, S. 13.) [Anm.d. Komm.] Emendation: Im Original irrtümlich Doppelpunkt. Borowys Faksimile läßt auf ein Semikolon schließen, so wird diese Stelle auch von Jakobson interpretiert (vgl. Anm. 5). [Anm. d. Komm.] Sre´bny – dialektale Form von sre´brny (vgl. Karłowicz, Słownik gwar polskich, S. 213), möglicherweise eingeführt, um einen Reim zu pogrzebny zu erzielen (vgl.: Norwid, Vade-mecum, hg. v. Fert, S. 100, Anm. 6). [Anm. d. Komm.] Nachdichtung von Fieguth: »Empfindung – gibt es wie voller Schrei der Kriege, Und wie murmelnder Quellen Strom, Und wie ein Grabgesang… Und wie die lange Kordel aus blonden Haaren, An der der Witwer zu tragen pflegt Die Silberuhr – – –« (Norwid, Vademecum. Gedichtzyklus (1866), S. 153.) [Anm. d. Komm.] Vgl. andere anerkannte Redaktionen dieses Verses: »Czułos´c´ – bywa jak pełny wojen krzyk,« in: Norwid, Wiersze. Tekst, S. 619, und »Czułos´c´ bywa – jak pełny wojen krzyk;« in: Norwid, Vade-mecum, hg. v. Fert, S. 99. [Anm. d. Komm.] Siehe Norwid, Vade-mecum, hg. v. Gomulicki, S. 25.
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das gänzliche Fehlen eines Punktes und den Ersatz des abschließenden Ausrufezeichens (das aus dem Manuskript gestrichen wurde) durch einen dreifachen Gedankenstrich unterstrichen. Jeder der vier koordinierten Vergleiche wurde vom Dichter mit einer eigenständigen syntaktischen Charakteristik versehen, die in den gedruckten Ausgaben durch redaktionelle ›Korrekturen‹ der Interpunktion Norwids verwischt wurde, Korrekturen, die seinen »groz´nym ostrzez˙eniom o roli jednej ›kommy‹ w utworze poetyckim« [›strengen Warnungen bezüglich der Rolle jedes einzelnen Kommas in einem literarischen Werk‹] 16 zuwiderliefen. Wir betrachten hier vor allem die nivellierende Setzung eines Kommas zwischen die Verse des ersten Dreizeilers,17 wobei beim Dichter selbst keiner dieser Vergleiche mit einem Komma anfängt oder aufhört.18 Die beiden äußeren Vergleiche der vierteiligen Kette, das anfängliche und abschließende jak [›wie‹], die auf die längsten, zehnsilbigen Verse des Gedichts, den ersten und den vierten, entfallen, werden einander besonders kraftvoll gegenübergestellt. Das Semikolon, Zeichen einer langen inneren Pause, trennt im Manuskript des Dichters den initialen Vergleich von den übrigen. Der abschließende Vergleich wird, im Unterschied zu den drei einzeiligen *Figuren, zu einem komplexen Satz mit einem abhängigen Attributsatz (4 plecionka, 5 Na kto´rej [›4 Zopf, 5 An welchem‹]) erweitert und nimmt das ganze Terzett ein. Von den vorherigen Vergleichssätzen ist er durch Auslassungspunkte, d. h. eine emotionale Pause, abgegrenzt. Im Gegensatz zur räumlichen Ausdehnung des abschließenden Vergleichs – er erstreckt sich auf die Hälfte der Verse – wird sein semantischer Kern am stärksten zusammengedrängt: die Thematik des ersten Vergleichs, die Welt als Arena der Kriege, wird im vierten Vergleich auf eine einzelne Uhr an einem Haarzopf zurückgeführt. Der *Kontrast zwischen diesen Bildern wird durch den charakteristischen Unterschied zwischen den zwei ungeraden und den zwei geraden Vergleichen noch gesteigert: die rein akustische Sphäre der ungeraden Vergleiche (1 krzyk, 3 wto´r [›1 Schrei, 3 Grabgesang‹]) wechselt in den geraden Vergleichen zu visuellen Bildern mit akustischer Begleitung: 2 I jak szemrza˛cych z´ro´deł pra˛d, 16 Siehe a. a. O., S. 228. 17 Das Komma wird an dieser Stelle sowohl von Gomulicki (Norwid, Wiersze. Tekst, S. 619) als auch viel später von Fert (Norwid, Vade-mecum, hg. v. Fert, S. 99) hinzugefügt. [Anm. d. Komm.] 18 Zu Norwids Interpunktion vgl. die deutsche Übersetzung von Jakobsons Analyse von »Przeszłos´c´« in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 370, Anm. 39. [Anm. d. Komm.]
»Gefühl« von Cyprian Norwid
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4, 6 plecionka długa z włoso ´w bla˛d, Na kto´rej. 〈…〉 Zegarek sre´bny [›2 (der) plätschernden Bäche Strömung, 4, 6 (der) Zopf aus blondem Haar, an welchem 〈…〉 (die) silberne Uhr‹], wobei zegarek sre´bny [›silberne Uhr‹] normalerweise mit Ticken assoziiert wird. Charakteristisch ist auch, daß die beschriebenen Töne immer leiser werden: Schrei – Plätschern – Grabgesang – Bewegung der Uhr. Zwischen den mittleren Gliedern der Kette, dem zweiten und dem dritten Vers, gibt es im Manuskript keinerlei Interpunktionszeichen. Die beiden geraden, visuellen Vergleiche werden durch ihre räumliche und zeitliche Spannweite verbunden: der zweite Vers evoziert fließende Gewässer, das zweite Terzett einen langen Zopf mit einer Uhr, die durch ihr ununterbrochenes Ticken die Zeit mißt. Die wechselseitigen Verbindungen zwischen allen sechs Versen sind außerordentlich mannigfaltig und verbinden nach Norwids Nomenklatur den »sens« [›Sinn‹] mit dem »tok« [›Verlauf‹], die innere mit der äußeren Versform, und dienen so der untrennbaren dialektischen Bindung zwischen dem »Fragmenthaften« und der »Ganzheit«, so wie es den Anforderungen, die der Autor des Vade-mecums an die »vollkommene Lyrik« stellt, entspricht. Alle vier Vergleiche (1 jak [›wie‹], 2 i jak [›und wie‹], 3 i jako [›und wie‹], 4 i jak [›und wie‹]) werden in *rhythmischer Hinsicht ihrem gemeinsamen Tenor gegenübergestellt: die *trochäische *Struktur der ersten zwei Wörter des Gedichts – Czułos´´c, bywa [›Gefühl, ist oft‹] – wechselt im restlichen Text in einen durchgängigen *jambischen Verlauf, mit der Betonung auf jeder geraden Silbe im Vers, angefangen mit den Wörtern 1 jak pełny wojen krzyk [›wie (der) Kriege voller Schrei‹] bis zur letzten Zeile: 6 Zegarek sre´bny [›silberne Uhr‹]. Das ist eine ausdrucksvolle Illustration zu folgender These Norwids: »Zachowane powinny byc´ i nie zgładzone noz˙em te okresy, gdzie forma z forma˛ mija sie˛ i pozostawia szpary« 19 [›Es sollten beibehalten und nicht mit dem Messer geglättet werden die Ränder, bei denen zwei Formen einander verfehlen und Unebenheiten zurücklassen‹].20 Darüber hinaus erstreckt sich der jambische Verlauf innerhalb der Terzette auf die Übergänge von einem Vers zum anderen, d. h. in jedem Terzett sind die beiden Anfangsverse *männlich, nur die Abschlußverse der beiden Terzette erhalten eine weibliche *Kadenz. Beide Terzette sind dadurch charakterisiert, daß die Silbenzahl in den aufeinanderfolgenden Versen abnimmt: der erste Vers eines jeden Terzetts
19 Siehe Norwid, Vade-mecum, hg. v. Gomulicki, S. 27. 20 Der Satz stammt aus dem bereits erwähnten Brief an Bronisław Zaleski (Norwid, Listy, S. 540; vgl. o., Anm. 7). [Anm. d. Komm.]
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ist zehnsilbig, der zweite achtsilbig. Die Silbenzahl in den Abschlußversen ist unterschiedlich: sieben im ersten und fünf im zweiten Terzett. Auf die »fünffüßigen« folgen die »vierfüßigen« Verse und darauf ein »drei-« bzw. »zweifüßiger«. Die zwei kurzen Verse sind durch einen *weiblichen Reim verbunden, während die langen Verse sich *spiegelsymmetrisch 21 reimen. Es entsteht die Struktur: ABc-BAc. So reimen die zehnsilbigen Verse auf die achtsilbigen. Der Abstand zwischen den sich reimenden Versen ist allerdings in allen drei Fällen unterschiedlich: drei Verse zwischen den Reimen A, zwei zwischen den Reimen c und einer zwischen den B-Reimen. Das nächste Gedicht aus dieser Sammlung – »Niebo i ziemia« [›Himmel und Erde‹] (LVII) 22 – besteht ebenfalls aus zwei Dreizeilern, aber hier sind die Anfangszeilen durch einen Reim verbunden, während die nächsten zwei Zeilen einen spiegelsymmetrischen Reim bilden: abc – acb (troi/nieustannemi/poz˙a˛da – stoi /ogla˛da /ziemi [›träumt /unaufhörlich /begehrt – steht /schaut/(die) Erde‹]). In rein lautlicher, phonetischer Hinsicht gehören von den 23 betonten Vokalen 23 (BV) des ganzen Gedichts dreizehn, also mehr als die Hälfte, zu den relativ hinteren *gerundeten Vokalen, 8 [o] und 5 [u], und sieben zu den hinteren ungerundeten. Das heißt, alles in allem sind es 20 relativ hintere Vokale gegenüber drei [e], den einzigen vorderen BV. Das *Phonem /i/ wird unter dem Ton nur durch seine relativ hintere Variante [y] 24 repräsentiert.25 Außer den drei *hellen (acute) Vokalen besteht also der betonte Vokalismus des ganzen Gedichts aus *dunklen (grave) Lauten, von denen die Mehrheit (65%) gerundete Vokale sind, also Vokale, die noch dazu *erniedrigt (flat) sind.26 In den drei Reimen des Sechszeilers kommen Vokale aller drei Tonalitäts-Typen vor,27 wobei diese drei Typen in den Versen des zweiten Terzetts in der Reihenfolge angeordnet sind, 21 Zu Jakobsons System verschiedener Symmetrieformen und ihrer Bedeutung in seinen Analysen s. den Kommentar zu Jakobsons Analyse der »Lyrischen Prophezeiungen Aleksandr Bloks«, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 461, Anm. 12. [Anm. d. Komm.] 22 Norwid, Vade-mecum. Podobizna autografu z przedmowa˛ W. Borowego, S. 64. 23 Hinweis zur Betonung: Im Polnischen sitzt der *Wortakzent auf der vorletzten Silbe. [Anm. d. Komm.] 24 Phonetisch gesehen ist [y] ein mittlerer bis vorderer Vokal, wird aber dennoch weiter hinten artikuliert als das vordere [i]. [Anm. d. Komm.] 25 Vgl. Stieber, Historyczna i wspo´łczesna fonologia je˛zyka polskiego, S. 102. 26 Siehe Jakobson /Halle, Podstawy je˛zyka, S. 79 f. 27 D. h. die Kombinationen dunkel /erniedrigt [o], dunkel /nicht-erniedrigt [y] und hell /nicht-erniedrigt [e]. [Anm. d. Komm.]
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wie sie im Gedicht zum ersten Mal vorkommen. In dem Reim 2 pra˛d – 4 bla ˛d [›Strömung – blondem‹] (anstelle des korrekten blond ) wird die lautliche Fülle des Reimes im Manuskript des Dichters graphisch veranschaulicht. Wie Norwid in »Kolebka pies´ni« [›Wiege der Lieder‹], dem Gedicht LXXXI aus dieser Sammlung, schrieb, »Rym 〈…〉 – we wne˛trzu lez˙y, nie w kon´cach wierszy« 28 [›liegt der Reim im Inneren, nicht am Ende der Verse‹]. Die Verse, die durch einen *Endreim verbunden sind, ähneln sich auch dadurch, daß jeweils die ersten betonten Vokale gleich sind: [u] [y] 1 Czułos ´´c 〈…〉 krzyk – [u] [y] 5 Na kto´rej 29 〈…〉 zwykł (eigentlich [zwyk]); [a] [on] 2 jak 〈…〉 pra˛d – [a] [on] 4 I jak 〈…〉 bla˛d; 30 [a] [e] 3 I jako… pogrzebny – [a] [e] 6 Zegarek sre´bny. Schließlich ist jedes Paar der sich reimenden männlichen Verse dadurch verbunden, daß die zweiten bzw. vorletzten BV des Verses gleich sind: der zweite Vokal in den Versen 2 szemrza ˛cych – 4 plecionka 31 (mit derselben Verbindung von [o] und tautossyllabischem [n]), der vorletzte BV in dem Paar 1 wojen – 5 nosic´. In jedem dieser Verse stimmt der zweite BV mit seinem letzten oder vorletzten BV überein: 2 szemrza˛cych – pra˛d, 4 plecionka – bla˛d ([on] in allen vier Fällen, mit einem *Chiasmus der zwei Substantive und der zwei Adjektive, die eine unterschiedliche Form, aber die gleiche genitivische Funktion haben); 1 bywa – krzyk (die zweite betonte Silbe 32 des Verses ist identisch mit der letzten), aber 5 wdowiec – nosic´ (die zweite ist identisch mit der vorletzten). Die BV sind absolut regelmäßig über das Sextett verteilt. Sie unterscheiden sich vor allem hinsichtlich ihrer Stellung, also danach, ob sie am Anfang, am Ende oder innerhalb des Verses vorkommen. Hinsichtlich der Stellung im Sextett muß man weiter einen Anfangsvers, einen Abschlußvers und vier innere Verse unterscheiden. Der Abschlußvers, der nur fünf Silben hat, besitzt keine inneren BV. Der Anfangsvers ist durch die Exposition von vier unterschiedlichen BV charakterisiert, während die inneren Verse nur je drei BV aufweisen. Im Anfangsvers werden in den zwei BV-Paaren (das erste Paar besteht aus geschlossenen Vokalen, das zweite 28 Norwid, »LXXXI. Kolebka pies´ni. (Do spo´łczesnych ludowych pies´niarzy)«, in: ders., Wiersze. Tekst, S. 644 f. [Anm. d. Komm.] 29 Hinweis zur Aussprache: na kto´rej [na kturej]. [Anm. d. Komm.] 30 Hinweis zur Aussprache: pra˛d [prond], bla˛d [blond]. [Anm. d. Komm.] 31 Hinweis zur Aussprache: szemrza˛cych [ʃemontsyx], plecionka [pletonka]. [Anm. d. Komm.] 32 Gemeint ist hier und beim nächsten Paar natürlich: die Vokale sind identisch. [Anm. d. Komm.]
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aus offenen) ein erniedrigtes [u] mit einem *nicht-erniedrigten [y], sowie ein nicht-erniedrigtes [e] mit einem erniedrigten [o] kombiniert: 1 Czułos´´c, bywa jak pełny wojen 〈…〉. Die versabschließenden BV des Sextetts bilden einen Kontrast von zwei erniedrigten [o] mit vier nicht-erniedrigten Vokalen, zwei dunklen [y] und zwei hellen [e]. In den versinitialen BV wiederum werden zwei erniedrigte [u] vier nicht-erniedrigten [a] gegenübergestellt. In den männlichen Versen ist einer der umarmenden BV (zweimal am Anfang und zweimal am Schluß) ein erniedrigter Vokal, während der zweite nicht-erniedrigt ist. In den weiblichen Versen ist keiner der umarmenden BV erniedrigt, aber der erste und der letzte Vokal kontrastieren hinsichtlich des *Merkmals dunkel vs. hell. In allen sechs Versen sind die umarmenden BV entweder beide geschlossen oder beide offen. Was die inneren BV betrifft, so werden neun erniedrigte Vokale zwei nicht-erniedrigten im ersten Vers gegenübergestellt, nämlich [y] und [e]. Diese neun Vokale bestehen aus drei [u] und sechs [o]. Davon stehen drei [o] jeweils an zweiter und die drei weiteren an vorletzter Stelle der Reihenfolge der betonten Vokale eines Verses: auf der einen Seite 2 szemrza˛cych, 4 plecionka, 5 wdowiec und auf der anderen 1 wojen, 4 włoso´w, 5 nosic ´. In allen drei Versen, in denen betontes [u] nicht am Anfang steht, eröffnet es die zweite Hälfte des Verses: 2 I jak szemrza˛cych z´ro´deł pra˛d; 3 I jako wto´r pogrzebny; 4 I jak plecionka długa z włoso´w bla˛d. Jeder Vers außer dem letzten, fünfsilbigen enthält ein betontes [u], entweder im Versinnern oder am Anfang. Die Verteilung der BV erlaubt einige verallgemeinernde Schlußfolgerungen: [a] erscheint nur am Anfang eines Verses, [y] und [e] nur am Ende, abgesehen von der ersten Zeile. Zu einem abschließenden [y] gesellt sich am Anfang der Zeile der entsprechende erniedrigte Vokal [u]. Durch eine solche Umrahmung (1 Czułos´´c 〈…〉 krzyk, 5 Na kto´rej 〈…〉 zwykł) werden diejenigen Verse hervorgehoben, die die einzigen finiten Verbformen des ganzen Textes enthalten, wobei es sich, und das ist charakteristisch für den nominalen Charakter des Gedichts, in beiden Fällen um ein Hilfsverb handelt; das eine folgt auf das erste Substantiv, das gleichzeitig das Schlüsselwort des Gedichtes ist, und das andere steht unmittelbar vor dem letzten Substantiv. Der einzige Fall, bei dem ein [y] in der Versmitte zugelassen wird, ist das erste der zwei erwähnten lautähnlichen Verben. Mit eben diesem betonten Vokal schließen die Vershälften der Anfangszeile, wobei die Halbverse in rhythmischer, syntaktischer und semantischer Hinsicht kontrastieren: bywa – krzyk [›ist oft – Schrei‹]. Der Vokal [e] kommt als BV dreimal vor und ist der einzige helle BV im ganzen Gedicht. In den kurzen Versen, die die beiden Terzette ab-
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schließen, steht er am Schluß und unterstreicht somit den weiblichen Reim noch zusätzlich. Das ist der einzige *grammatische Reim 33 im ganzen Sextett. Die morphologische Ähnlichkeit der beiden sich reimenden Wörter, 2 pogrzebny – 6 sre´bny, erstreckt sich noch auf eines der drei maskulinen Attribute, nämlich auf 1 pełny, das den ersten Vergleich eröffnet. Die Übereinstimmung der Endsilbe [ny], die durch einen konsonantischen Laut von dem betonten [e] getrennt ist, bewirkt eine zusätzliche Hervorhebung dieser drei Vokale vor dem Hintergrund der in dem Gedicht dominierenden dunklen BV. In den inneren Versen des Sextetts sind alle inneren BV erniedrigte Vokale und haben somit die tiefste *Tonalität. Für die beiden geraden, visuellen Vergleiche ist die Senkung der Tonalität der ersten drei BV charakteristisch ([a] – [o] – [u]). Im weiteren wird mit erniedrigten Vokalen gespielt: 2 I jak szemrza˛cych z´ro´deł pra˛d; 4 I jak plecionka długa z włoso´w bla˛d, 5 Na kto´rej wdowiec nosic´ 〈…〉. Nach dem Infinitiv bricht die längste, siebengliedrige Kette von erniedrigten BV mit der doppelten Reihe [on] – [u] – [o] ab und macht für die einzige Reihe dreier nichterniedrigter Vokale im ganzen Gedicht Platz, 5 zwykł 6 zegarek sre´bny, mit einer dreifachen *Alliteration von *dentalen *Frikativen. Um einen Ausdruck Norwids aus »Kolebka pies´ni« [›Wiege der Lieder‹] zu gebrauchen, »Tam z=siedmia sie˛ brzmienie i tam sie˛ z=traja« [›Ver=siebenfacht sich dort der Klang und dort ver=dreifacht er sich‹].34 Der sechste und letzte Vers unterscheidet sich von allen anderen durch das Fehlen von erniedrigten Vokalen. Von den drei visuellen Attributen des Gedichts (die sich nur im zweiten Terzett befinden), werden die zwei leuchtenden *Epitheta durch ihre Abschlußposition innerhalb des Verses bzw. Satzes hervorgehoben. Aber im Gegensatz zum letzten Epitheton, bei dem das Ansteigen der Tonalität von [a] bis zum vorderen [e] (oder vielleicht sogar bis zu seiner verengten Dublette [e´]) 35 gleichsam den silbernen Widerschein der Uhr begleitet, ist das erste Epitheton bla˛d Teil der an einen Trauerzug gemahnenden Reihe der sieben dunklen, erniedrigten BV und nimmt in dieser Reihe den vierten, also mittleren Platz ein. Es zeigt sich hier der »ungewöhnliche Sinn« des Autors für das Helldunkel. Es ist charakteristisch, daß Wyka in Norwid einen Dichter-Maler sieht, »wyczulonego na obserwacje˛ ´swiatło33 Ausführlicher zu den verschiedenen Reimtypen anhand polnischer Beispiele s. Jakobson, »Polnische Illustrationen zu ›Linguistik und Poetik‹«, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 217–236. [Anm. d. Komm.] 34 Norwid, Vade-mecum. Podobizna autografu z przedmowa˛ W. Borowego, S. 82. 35 Vgl. Nitsch, Z historii polskich rymo´w, S. 43–51.
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cienia« [›der auf das Beobachten des Helldunkel sensibilisiert ist‹] und »s´wiadomego, z˙e nad ta˛ umieje˛tnos´cia˛ panuje« [›der sich dessen bewußt ist, daß er diese Fähigkeit beherrscht‹]. Nicht zufällig hat der Autor von »Bransoletka« 36 [›Armband‹] Rembrandt und Raphael einander gegenübergestellt, weil jener »odkrył i objawił głe˛boka˛ ´swiatła tkliwos´c´ i mistyczna˛ logike˛« 37 [›des Lichts tiefe Empfindsamkeit und mystische Logik entdeckte und offenbarte‹].38 In dem Schlüsselwort czułos´´c [›Gefühl‹] stehen die Anfangs- und Schlußkonsonanten durch ihre Zugehörigkeit zu zwei (von drei) im Polnischen streng getrennten *Sibilantenreihen in Kontrast.39 Die *Affrikate [cˇ] wird durch vier postalveolare Frikative im gleichen Terzett unterstützt – zwei [sˇ] und zwei [zˇ]: das Schlußwort krzyk [›Schrei‹] entspricht dem Anfangswort czułos´´c [›Gefühl‹], in den weiteren Versen folgen 2 szemrza˛cych [›plätschernden‹] und 3 pogrzebny [›Grab-‹]. Die postalveolaren Frikative verschwinden im zweiten Terzett. Den fünf postalveolaren Frikativen der ersten drei Zeilen entsprechen fünf dentale Frikative, die im ersten Terzett überhaupt nicht vorkommen, gleichzeitig bilden sie einen Kontrast zu jenen. Hinsichtlich ihres Typs sind sie gleich angeordnet: 1 [c] (5 wdowiec), 2 [s] (4 włoso´w, 6 sre´bny) und 2 [z] (5 zwykł, 6 zegarek). Die beiden alveopalatalen Konsonanten, die das Wort 1 czułos´´c [›Gefühl‹] abschließen und die durch einen dritten Sibilanten derselben Reihe [z´] (2 z´ro´deł) [›(der) Bäche‹] unterstützt werden, finden eine enge Parallele in den drei Alveopalatalen des zweiten Terzetts: 4 plecionka [›Zopf‹], und besonders 5 nosic´ [›tragen‹] (nos´ic´), wo wir ein deutliches Echo des Schlußmorphems des Wortes »czułos´c´« [›Gefühl‹] haben. Es ist interessant, daß in Norwids Manuskript dieser Zusammenhang durch ein überflüssiges *Palatalisierungszeichen 40 in der Form nosic´ noch unterstrichen wurde. Die auf die zwei hier verglichenen Wörter folgenden verba finita, 36 Norwid, »Bransoletka. Legenda dziewie˛tnastego wieku«, in: ders., Proza, S. 61–65. [Anm. d. Komm.] 37 Wyka, Cyprian Norwid: poeta i sztukmistrz, S. 132–137. 38 Norwid, »Bransoletka. Legenda dziewie˛tnastego wieku«, in: ders., Proza, S. 65. [Anm. d. Komm.] 39 Das Konzept des »Schlüsselworts« spielt in mehreren Gedichtanalysen von Jakobson eine wichtige Rolle. Vgl. »Skorb’ pobivaemych u drov«, S. 307 f., und die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 665 f., sowie »Ein Blick auf ›Die Aussicht‹ von Hölderlin«, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 175 u. 188. [Anm. d. Komm.] 40 Vor dem Buchstaben i wird im Polnischen die alveopalatale Aussprache des betreffenden Frikativs normalerweise nicht bezeichnet. [Anm. d. Komm.]
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1 bywa jak [›ist oft wie‹] und 5 zwyk(ł) [›gewöhnt war‹], d. h. der Anfang und das Ende der Vergleiche, haben das betonte [y] sowie die Konsonanten [v] und [k] gemeinsam: bywa jak – zwyk. Der vierte, abschließende Vergleich ist durch die Ähnlichkeit der Lautverbindungen nicht nur mit dem ersten, sondern auch mit den übrigen Vergleichen verwandt. Ebenso ähneln sich auch die beiden Verbindungen von Substantiv und Epitheton 2 szemrza˛cych z´ro´deł [›der plätschernden Bäche‹] und »6 zegarek sre´bny [›silberne Uhr‹]. Dem Anfang des dritten Vergleichs entspricht der Anfang des Nebensatzes im darauf folgenden Vergleich: 5 na kto´rej wdowiec. Schließlich verbinden Wiederholung und Variation von Konsonantengruppen im Wortinnern und an der Wortfuge die beiden Bilder im Rahmen der Terzette: 1 krzyk – 2 jak szemrza ˛cych – 3 pogrzebny ([ksˇ] – [ksˇ] – [gzˇ]); 2 pra˛d – 3 wto´r pogrzebny ([pr] – [rp]); 4 z włoso´w – 5 zwykł ([zv] – [zv]). Die deutliche Verschmelzung von sieben nicht-sonoren Konsonanten mit den *Lateralen [l] und [ł] 41 vor dem ersten Vokal in den vier Wörtern des Verses 42 läßt sie zu einer langen untrennbaren Ganzheit verschmelzen: 4 jak plecionka długa z włoso´w bla˛d.
Die grammatische Faktur 43 von Norwids Gedicht ist nicht weniger verdichtet als sein Lautgewebe und ist zudem außerordentlich mit Bedeutung aufgeladen. Aufgrund seiner morphologischen und syntaktischen 41 Im heutigen Standardpolnischen ist aus dem harten Lateral [l], graphisch repräsentiert durch den Buchstaben »ł«, ein labiovelarer Approximant [w] geworden. [Anm. d. Komm.] 42 Hier ist der vierte Vers gemeint. [Anm. d. Komm.] 43 Den Begriff Faktur (faktura) übernahm die formalistische Poetologie aus dem theoretischen Diskurs der kubofuturistischen bildenden Kunst. Im Gegensatz zu den meisten Techniken der traditionellen Malerei, die das Verfahren und die Materialität des Kunstwerks zu verbergen suchten, erzeugt die kubofuturistische Faktur z. B. durch die Heterogenität des Materials und die Art und Weise seiner Funktionalisierung in der Collage ein »gesteigertes ›Materialempfinden‹ (osˇcˇusˇcˇenie materiala) und damit eine Intensivierung der sensuellen Wahrnehmung allgemein, zweitens aber einen Verfremdungseffekt der ›Entblößung‹ bzw. Bloßlegung (obnazˇenie), der die gesamte Struktur des Kunstwerks zum Gegenstand der Reflexion macht«. Das Prinzip der Komposition tritt im Kubofuturismus in Konkurrenz zu dem der Konstruktion, der auf die Faktur bezogen wird. In der Theorie der Formalisten wird die Faktur auf die Materialität der Wortkunst, vor allem auf ihre lautlich-prosodischen Charakteristika angewendet. Faktur im weiteren Sinne bedeutet bei den Kubofuturisten und Formalisten jegliche »verfremdete Machart« und in der ProsaTheorie der 20-er Jahre allgemein »Materialorientiertheit«. (Vgl. Hansen-Löve, »Faktur, Gemachtheit«, S. 213.) [Anm. d. Komm.]
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Struktur muß »Czułos´c´« [›Gefühl‹] in zwei ganz unterschiedliche Abschnitte geteilt werden. Die ersten vier Verse bilden den Hauptsatz, während die zwei nächsten auf den Nebensatz fallen. Von den acht Substantiven des Hauptsatzes stehen fünf (drei maskuline und zwei feminine) im Nominativ Singular und drei im Genitiv Plural (jeweils eines aus jedem *Genus). Weil es im Hauptsatz außer dem Nom. Sg. und dem Gen. Pl. keine anderen Deklinationsformen gibt, erlaube ich mir, meine früheren Anmerkungen über das Verhältnis zwischen Genitiv und Plural in der slavischen Deklination (insbesondere der russischen) hier anzuführen: The plural indicates that more than one unit is contemplated, whereas singular is noncommittal. 〈…〉 In the pair of grammatical numbers, the plural is the marked opposite of the singular. The genitive focuses upon the extent to which the entity takes part in the message. 〈…〉 The nominative is an unmarked case, and the genitive is opposed to this ›zero-case‹ by one single mark: the genitive is a mere quantifier. In GPl both the case and the number are quantifiers. 〈…〉 The distinction between this twofold quantifier and its doubly unmarked counterpart occupies a particular place in the Slavic declensional system.44
Wie in »Kolebka pies´ni« [›Wiege der Lieder‹] ausgedrückt, przedmiot sie˛ harmonia˛ dostraja [›stimmt sich der Gegenstand harmonisch hinzu‹ 45 ]. Der dreifache *Parallelismus von Gen. Pl. und Nom. Sg. in drei (von vier) Vergleichen mit dem Gefühl (der erste, zweite und vierte Vers) hält das mehrteilige Simile zusammen und wandelt es in eine geschlossene, geometrisch einfache Ganzheit um. Aufgrund der Assoziation zu den umgebenden Versen nehmen wir auch 3 wto´r pogrzebny [›Grabgesang‹] als wto´r pogrzebo´w [›Gesang der Begräbnisse‹] wahr. 44 Jakobson, »The Relationship between Genitive and Plural in the Declension of Russian Nouns«, S. 148 f. Vgl. Schenker, Polish declension, S. 81. [Anm. v. R.J.] – Deutsche Übersetzung: ›Der Plural weist darauf hin, daß mehr als eine Einheit betrachtet wird, während der Singular neutral ist. 〈…〉 Bei der Numerusopposition ist der Plural im Gegensatz zum Singular *merkmallos. Der Genitiv betont das Ausmaß, in dem die Entität an der Nachricht teilnimmt. 〈…〉 Der Nominativ ist ein merkmalloser Kasus, der Genitiv unterscheidet sich von diesem ›Null-Kasus‹ in einem einzigen Punkt: der Genitiv ist ein reiner Quantifikator. Im Genitiv Plural sind sowohl Kasus als auch Numerus Quantifikatoren. 〈…〉 Der Unterschied zwischen diesem zweifachen Quantifikator und seinem zweifach merkmallosen Pendant nimmt einen besonderen Platz im slavischen Deklinationssystem ein.‹ [Anm. d. Komm.] 45 Übersetzung nach Fieguth (Norwid, Vade-mecum. Gedichtzyklus (1866), S. 181). [Anm. d. Komm.]
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Alle drei Genitive zählen die Vielheit der Quellen auf, aus denen die durch den Nominativ bezeichnete Einheit entspringt: Kriege erzeugen einen Schrei der Massen, der anschwellende Strom fließt aus unterirdischen Quellen, und aus der Menge der Haare der verstorbenen Frau wurde ein Zopf geflochten und aufbewahrt. Von den fünf Nominativen des Hauptsatzes gehören die ersten und die letzten zwei zu Substantiven, die direkt oder indirekt mit Verben assoziiert werden (1 czułos´´c-czuc´, 1 krzyk-krzyczec´; 3 wto´r-wto´rowac´, 4 plecionka-ples´´c [›1 Gefühl-fühlen, 1 Schrei-schreien; 3 Gesang-singen, 4 Zopfflechten‹]), während der dritte, mittlere Nominativ, 2 pra˛d [›2 Strömung‹], eine Tätigkeit bezeichnet, aber kein ihm entsprechendes Verb besitzt. Die maskulinen Nominative, alle drei kurz und einsilbig, sind auf die drei Vers-Vergleiche des ersten Terzetts verteilt und fungieren als *nomina actionis: 1 krzyk, 2 pra˛d, 3 wto´r [›1 Schrei, 2 Strömung, 3 Grabgesang‹]. Diese drei Substantive werden von zwei femininen Nominativen umrahmt, die *symmetrisch am Anfang des ersten und des zweiten Terzetts stehen. Keines dieser *deverbativen Substantive bezeichnet eine Handlung: das Anfangsbild des vierten Vergleichs, 4 plecionka [›Zopf‹], nennt das Resultat einer Handlung, während der allgemeine Tenor aller vier Vergleiche, 1 czułos ´´c [›Gefühl‹], einen Gefühlszustand ausdrückt. Czułos´´c [›Gefühl‹], der Tenor aller vier Vergleiche, der das erste Terzett eröffnet, und plecionka [›Zopf‹], der einleitende Nominativ des letzten Vergleichs, der das ganze zweite Terzett einnimmt, stehen sich von allen Nominativen im Hauptsatz am nächsten. Mit diesen zwei femininen Substantiven kontrastieren hier drei maskuline nomina actionis. Die Aktualisierung des grammatischen Genus zeigt sich nicht nur in den weiblichen Assoziationen zu Gefühl und Zopf, sondern auch in dem Genusunterschied, der für die Verbindungen der Nominative mit den abhängigen Genitiven charakteristisch ist: letztere unterscheiden sich in ihrem Genus vom jeweils übergeordneten Nominativ: 1 wojen krzyk, 2 z´ro´deł pra˛d, 4 plecionka z włoso ´w [›1 (der) Kriege Schrei, 2 (der) Bäche Strömung, 4 Zopf aus Haar‹]. Czułos ´´c [›Gefühl‹] und plecionka [›Zopf‹] stimmen in *Numerus, Genus und Kasus überein. Auf dem Hintergrund all dieser Übereinstimmungen tritt die Divergenz zwischen dem konkret greifbaren Wesen der »plecionka« [›Zopf‹] und dem rein abstrakten Charakter von »czułos´c´« [›Gefühl‹] besonders scharf hervor, was ein überzeugendes Beispiel für eine grammatische Trope, wie sie Charles Sanders Peirce beschrieben hat,46 ist.47 Der letzte Vergleich, der einzige konkret-materielle 46 Peirce, Collected Papers II: »If the proposition has an abstract subject, as ›Redness‹ or
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und individualisierte, unterscheidet sich durch seine ganze grammatische und lexikalische Struktur grundlegend von allen Vergleichen des ersten Terzetts. Nur im vierten Vergleich sind die Substantive mit visuellen Epitheta ausgestattet (4 długa, bla˛d, 6 sre´bny [›4 lange, blond, 6 silbern‹]). Nur bei »plecionka« [›Zopf‹] werden im Text »Czułos´c´« [›Gefühl‹] präpositionale Ausdrücke verwendet (4 z włoso´w, 5 na kto´rej [›4 aus Haar, 5 an welchem‹]). Von den beiden Substantiven des vierten Verses (plecionka, włoso´w [›Zopf, Haar‹]) unterscheiden sich alle sechs Substantive des ersten Terzetts durch eine Null-Endung, die den Stamm oder die bloße Wurzel zum Vorschein bringt (1 czułos´´c, wojen, krzyk [›Gefühl, Kriege, Schrei‹], usw.). Nur der vierte Vergleich verfügt über einen untergeordneten Satz. Dieser Satz löst die enge Dichotomie von Kasus und Numerus im Hauptsatz auf und führt neue Kasus (*Lokativ 5 na kto´rej und Akkusativ 6 zegarek [›Uhr‹]) in den Text ein, sowie ein belebtes Substantiv (5 wdowiec [›Witwer‹]) und ein infinites und *transitives Verb (5 nosic´ [›tragen‹]), jeweils die einzigen Vertreter ihres Typs. Alle diese Formen bilden ein narratives Gerüst von syntaktischen Beziehungen zwischen Urheber, Objekt und Umständen der Handlung; diese Beziehungen kontrastieren mit der Reihe von Verbindungen zwischen den Substantiven, auf die sich der Hauptsatz zurückführen läßt. Das Gefühl hat verschiedenartige Erscheinungsformen und Eigenschaften. Durch die Fülle seiner Kraft kann es einem ungezügelten Schrei ähneln, bei dem der Schlachtruf mit einem verzweifelten Schluchzen verschmilzt und der all die unzähligen Kriege füllt. Der elementare, unerschöpfliche und unaufhörliche Drang des Gefühls läßt einen Vergleich mit der Strömung der unzähligen Quellen zu. Die Assoziierung mit dem Trauerritual, das einen Verlust zum Ausdruck bringt, verbindet das Ge›justice‹, it may be 〈…〉 treated, after the style of the scholastics, 〈…〉 as a proposition whose real construction is disguised by a grammatical trope« [›Wenn die Proposition ein abstraktes Subjekt hat, wie etwa ›Röte‹ oder ›Gerechtigkeit‹, kann sie, entsprechend des Stils der Scholastiker, wie eine Proposition behandelt werden, deren wirkliche Konstruktion durch eine grammatische Trope getarnt wird‹] (§ 2.316, S. 181). 47 A. a. O. behandelt Peirce die sprachliche Realisierung von logischen Propositionen. Eine Proposition enthält nach Peirce ein Subjekt und ein Prädikat (jeweils im logischen, nicht im syntaktischen Sinne), wobei sich ein Subjekt im einfachsten Fall auf ein einzelnes, existierendes Ding bezieht. Steht nun ein Abstraktum an Subjektsstelle, kann man das laut Peirce auf zwei Arten behandeln: zum einen als eine sprachliche Erscheinung, d. h. eben als grammatische Trope, zum anderen als Integral über die existierenden Einzeldinge, die die passende Eigenschaft aufweisen. Jakobson verwendet diesen Begriff auch bei der Analyse von »Siluans Lobpreis auf den Hl. Sava«, vgl. Bd. 1, S. 484 der vorliegenden Ausgabe. [Anm. d. Komm.]
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fühl mit dem Grabgesang. Schließlich verwandelt das Trauerritual des verwitweten Mannes (5 nosic´ zwykł [›5 pflegt (zu) tragen‹]) die Erinnerung an die Verstorbene – das Ticken der Uhr an dem Zopf aus ihrem Haar – in ein konkretisiertes, unbewegliches *Symbol eines langandauernden Gefühls. In jedem der vier Teile des zusammengesetzten Simile zeichnet sich zum einen deutlich ein spezifisches tertium comparationis und zum anderen eine enge kompositorische Beziehung zwischen allen vier herausgearbeiteten Attributen des Gefühls ab. Die Metaphorik der ersten zwei Zusammenstellungen entwickelt sich parallel zur *Metonymie der nächsten zwei: die ungewöhnliche Stärke, die im ersten Vers als eine gemeinsame Eigenschaft dargestellt wird, wodurch das Gefühl mit »pełny wojen krzyk« [›(der) Kriege voller Schrei‹] verbunden wird, verwandelt sich im zweiten Vers in ein schnelles Anwachsen fließender Kräfte. Die enge Verbindung zwischen dem Gefühl und dem beweinten Verlust, das Thema des dritten Verses, wird im nächsten Vergleich zu einer dauerhaften *Synekdoche, zu einem Teil der in die Ewigkeit dahin gegangenen Frau, zum materialisierten Andenken, das über den Verlauf der Zeit triumphiert. Unmittelbar auf den Vergleich des Gefühls mit den drei dynamischen Prozessen, dem Schrei der Kriege, der Strömung der Bäche und dem Grabgesang, folgt der Vergleich mit einem Bündel aus drei Faktoren: der Zopf aus Haaren, das statische Ergebnis einer Handlung, verschmilzt mit der Uhr, die den Lauf der Zeit verkörpert. Diese beiden Objekte werden zum Gegenstand einer andauernden Handlung, die durch den Infinitiv des transitiven Verbs nosic´ [›tragen‹] wiedergegeben wird, das durch seine Stabilität das finale tertium comparationis suggeriert. Im zweiten Terzett verwandeln sich die vielfältigen großräumigen Bilder in einzelne kleine Gegenstände, und die Kunst des Helldunkels, die Details in vielsagende Symbole verwandelt, schafft mit der unerwarteten Verbindung von włoso´w bla˛d [›blondem Haar‹] mit dem Silber der Uhr ein kraftvolles Finale des Sextetts. Sie bildet eine Art Begleitung zu dem Evangeliums-Zitat aus Norwids Gedicht »Jasnos´c´ i ciemnos´c´« [›Licht und Dunkelheit‹] aus dem Jahre 1850: »s´wiatłos´´c (bowiem) w ciemnos´ciach ´swieci, a ciemnos´ci jej nie ogarne˛ły« 48 [›(Denn) das Licht scheint in der Dunkelheit, die Dunkelheit aber hat sich seiner nicht bemächtigt‹].49 48 Hier handelt es sich um eine Abhandlung in Form eines Briefes, die Norwid 1850 als Antwort auf die Vorwürfe von Zygmunt Krasin´ski und August Cieszkowski, die Norwid »Dunkelheit« im Denken und Dichten vorwarfen, verfaßte. (Norwid, »Jasnos´c´ a ciemnos´c´«, in: ders., Proza, S. 181–184.) [Anm. d. Komm.] 49 Joh. I, 5. Vgl. folgende Übersetzung in: Pismo S´wie˛te Starego i Nowego Testamentu
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Dieser viergliedrige Vergleich von »Gefühl« hat mittlerweile von seiten der Kritik eine Reihe verwunderter Bemerkungen hervorgerufen, die wir heute in dem von J. W. Gomulicki 50 verfaßten »Kommentar« zu Norwids Werken zusammengestellt finden können. Die gesamte Kritik versucht in allen oder in einem Teil der Vergleiche des Dichters eine »Beurteilung der Werte« oder die ironische Darstellung einer »Pseudoempfindung«, einer »falschen Empfindung«, eines »trivialen und unverschämten Exhibitionismus« oder überhaupt »grelle und sentimentale Gefühle«, von denen »keines eine wahre Empfindung ist«,51 zu finden. Die Fehlerhaftigkeit dieser Beurteilungen, die Norwid eine absichtliche oder unbewußte Anhäufung von »gewöhnlichen Interpretationen« des Wortes czułos´´c zuschreiben, die unsinnig weit entfernt von seiner »eigentlichen Bedeutung« sind, besteht darin, daß die Poetik der Vergleiche überhaupt und insbesondere der Simile Norwids nicht verstanden wird.52 Der Dichter hatte keinesfalls die Absicht, verschiedene Formen des Gefühls zu »exemplifizieren«; keinesfalls verbinden die Vergleichsausdrücke als Ganze die Bilder mit dem Tenor des Vergleichs (in diesem Fall mit dem Gefühl), sondern nur das tertium comparationis. So sind jegliche Versuche, bei Norwid die ihm verhaßte »Lyrik des Schauderns« zu finden, völlig willkürlich, wie auch die entsprechende Interpretation seiner Vergleiche, z. B. die Assoziierung von »pełny wojen krzyk« [›(der) Kriege voller Schrei‹] mit dem »erregten Schrei des Mädchens, das den in den Krieg ziehenden Geliebten verabschiedet«.53 Noch mehr sündigen »durch flache Sentimentalität« diejenigen, die versuchen, dem Dichter Zwang anzutun, indem sie aus den szemrza˛cych z´ro´deł pra˛d [›Strom plätschernder Bäche‹] eine »ruhige und sich unaufhörlich realisierende Empfindung einander liebender Gatten« 54 herauslesen; diejenigen, die versu-
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(Biblia Tysia˛clecia), S. 1216: »a ´swiatłos´c´ w ciemnos´ci ´swieci i ciemnos´c´ jej nie ogarne˛ła.« [Anm. d. Komm.] Norwid, Wiersze. Dodatek krytyczny, S. 810–813. Wosiek, Ironia w liryce Norwida, S. 244 f. Eine umfassendere Passage aus dieser Abhandlung wird von Gomulicki in Norwid, Wiersze. Dodatek krytyczny, S. 811, zitiert. Der vollständige Satz lautet: »Z˙adne z uczuc´ krzykliwych, sentymentalnych nie jest prawdziwa˛ czułos´cia˛.« [›Keines der grellen, sentimentalen Gefühle ist eine wahre Empfindung.‹] Die davor zitierten Satzfragmente stammen aus dem Kommentar Gomulickis. [Anm. d. Komm.] Möglicherweise hat auch die Interferenz der modernen Bedeutung von czułos´´c ›Zärtlichkeit‹ mit der, die bei Norwid vorliegt, zu diesen Interpretationen beigetragen (vgl. o. Anm. 10). [Anm. d. Komm.] Dieses Zitat stammt aus Gomulickis Interpretation, die sich in seinem Kommentar befindet (s. Norwid, Wiersze. Dodatek krytyczny, S. 811). [Anm. d. Komm.] Ebd. [Anm. d. Komm.]
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chen, das von Norwid unpersönlich gemeinte Terzett mit einer ganzen Gruppe von handelnden Personen zu bevölkern: einem Mädchen, einem Geliebten, Ehegatten, einer Mutter und ihrem Einzelkind.55 Und sogar »des Lichts Empfindsamkeit und mystische Logik« des finalen Terzetts entpuppt sich in den Augen der Interpreten als nichts anderes als ein bloßes satirisches Gnomon gegen die Verwandlung von Zöpfen aus dem Haar von Frauen, Kindern und Geliebten in »eine der modischsten Kurzwaren«.56 Wenn es dem Dichter auch nicht bestimmt war, den Druck seiner wichtigsten Gedichtsammlung zu sehen und sogar ein so herausragender Kritiker wie Jo´zef Ignacy Kraszewski im Jahre 1866 sich nicht um die Herausgabe von Vade-mecum bemühen wollte, da er meinte, daß bei diesem Autor »die Wunderlichkeit das Talent überragte und es auffraß«,57 so konnte der empfindliche Norwid seinerzeit dennoch nicht umhin, die Blindheit und Taubheit seiner Richter gegenüber dieser versteckten Orgie von lautlichen und semantischen Figuren, auf denen »Czułos´c´« [›Gefühl‹] und der ganze Zyklus von kleinen Formen aufbaut, zu bemerken und auch für die Zukunft vorherzusehen. Nicht zufällig wird der Brief-Epilog zu Vade-mecum durch eine Sentenz eröffnet, die eine Art Zitat aus dem angeblichen »Dictionnaire contemporain« ist: absurdite´ – Toute chose avance´e par nos antagonistes – contraire a` notre routine ou au dessus de notre intelligence 58 [›Absurdität – jede Angelegenheit, die durch unsere Gegner vorgebracht wird – entgegen unserer Gewohnheit oder über unseren Verstand hinaus‹].59 55 Ebd. [Anm. d. Komm.] 56 Gomulicki schreibt darüber wie folgt: »[…] ›lange Zöpfe aus blondem Haar‹ waren in den Jahren 1855–1865 eine der modischsten Kurzwaren, und während des Krimkriegs wanderten vermutlich ganze Tonnen solcher Zöpfe – angefertigt aus den Haaren von Ehefrauen, Kindern und Geliebten – aus Paris in die Lager der tapferen Soldaten Napoleons III.« (A. a. O., S. 813.) [Anm. d. Komm.] 57 »[…] dziwactwo przerosło o wiele talent i zjadło go.« Jakobson zitiert den bis dahin nur im Manuskript zugänglichen Brief Kraszewskis an Bronisław Zaleski nach Gomulicki (vgl. ders., »Uwagi o Vade-mecum Norwida«, in: Norwid, Vade-mecum, hg. v. Gomulicki, S. 31). [Anm. d. Komm.] 58 Norwid, Vade-mecum. Podobizna autografu z przedmowa˛ W. Borowego, S. 117. 59 Norwid, »Do Walentego Pomiana Z(akrzewskiego) zwierzaja˛c mu re˛kopisma naste˛pnie wyszłe w XXI tomie Biblioteki P(isarzy) P(olskich)«, in: ders., Wiersze. Tekst, S. 679–686. Bisher konnte nicht festgestellt werden, welcher Quelle diese Sentenz entnommen wurde. Es ist nicht auszuschließen, daß sie von Norwid selbst stammt (vgl. dazu den Kommentar Gomulickis in: Norwid, Wiersze. Dodatek krytyczny, S. 861). [Anm. d. Komm.]
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Editorische Notiz Geschrieben 1973 in Peacham, Vermont, und zuerst veröffentlicht im Band For Wiktor Weintraub.60
Literatur Jakobsons eigene Literaturangaben sind mit ° gekennzeichnet. Fert, Jo´zef: »Vade-mecum jako problem edytorski« [›Vade-mecum als herausgeberisches Problem‹], in: Studia Norwidiana 2, hg. v. Jan Błon´ski u. a., Lublin: Wydawnictwo Towarzystwa Naukowego Katolickiego Uniwersytetu Lubelskiego 1984, S. 45–61. For Wiktor Weintraub. Essays in Polish Literature, Language, and History presented on the occasion of his 65 th Birthday, hg. v. Victor Erlich u. a., The Hague u. Paris: Mouton 1975. Go´rski, Konrad: Tekstologia i edytorstwo dzieł literackich [›Textologie und die Edition von literarischen Werken‹], Warszawa: Pan´stwowe Wydawnictwo Naukowe 1978. Hansen-Löve, Aage A.: »Faktura, Gemachtheit«, in: Glossarium der russischen Avantgarde, hg. v. Alexander Flaker, Graz u. Wien: Droschl 1989, S. 212– 219. Jakobson, Roman Osipovicˇ: »›Czułos´c´‹ Cypriana Norwida«, in: For Wiktor Weintraub. Essays in Polish Literature, Language, and History presented on the occasion of his 65 th Birthday, hg. v. Victor Erlich u. a., The Hague u. Paris: Mouton 1975, S. 227–237. — »›Czułos´c´‹ Cypriana Norwida«, in: SW III, S. 508–518. — »Lyrische Prophezeiungen Aleksandr Bloks«, übs. u. komm. v. Sebastian Donat, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 452–491. — »Polnische Illustrationen zu ›Linguistik und Poetik‹«, übs. v. Sylwia Grzesinska, Anna Auguscik u. Imke Mendoza, komm. v. Imke Mendoza u. Małgorzata Zemła, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 217–236. — »Skorb’ pobivaemych u drov«, in: SW III, S. 304–210. – »Das Leid jener, die beim Feuerholz erschlagen werden«, übs. v. Christian Schwarz u. Sebastian Donat, komm. v. Sebastian Donat u. Ulrich Schweier, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 656–671. 60 Wiktor Weintraub (1908–1988), Spezialist für polnische Literaturgeschichte. Studium in Krakau und Paris. 1941–1942 im diplomatischen Dienst der polnischen Emigrationsregierung in der Sowjetunion. Seit 1954 Slavistik-Professor an der Harvard University. Bekannt sind v. a. seine Arbeiten zur Literatur und Kultur der polnischen Renaissance (Nowe studia o Janie Kochanowskim, 1991) und zum Schaffen der wichtigsten Dichter der polnischen Romantik, v. a. Adam Mickiewicz (Literature as Prophecy, 1959). [Anm. d. Komm.]
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° — »The Relationship between Genitive and Plural in the Declension of Russian
Nouns«, in: SW II, S. 148–153. — »›Vergangenheit‹ von Cyprian Norwid«, übs. v. Sylwia Grzesinska, Anna Auguscik u. Imke Mendoza, komm. v. Imke Mendoza u. Małgorzata Zemła, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 354–374. ° Jakobson, Roman Osipovicˇ u. Morris Halle: Podstawy je˛zyka [›Grundlagen der Sprache‹], Wrocław, Warszawa u. Krako´w: Zakład Narodowy Imienia Ossolin´skich – Wydawnictwo 1964. Jakobson, Roman Osipovicˇ u. Grete Lübbe-Grothues: »Ein Blick auf ›Die Aussicht‹ von Hölderlin«, komm. v. Gabriele v. Bassermann u. Stephan Packard, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 138–249. Jaskierny, Roman: »Rytm wewne˛trzno-logiczny liryko´w Norwida« [›Der innere logische Rhythmus der Gedichte Norwids‹], in: Ruch Literacki 6 (1980), S. 427–437. Karłowicz, Jan: Słownik gwar polskich [›Wörterbuch der polnischen Dialekte‹], Krako´w: Akademia Umieje˛tnos´ci 1907, Bd. 5. ° Nitsch, Kazimierz: »Z historii polskich rymo´w« [›Zur Geschichte der polnischen Reime‹], in: ders.: Wybo´r pism polonistycznych, Bd. 1, Wrocław: Zakład Naukowy im. Ossolin´skich – Wydawnictwo 1954, S. 33–77. Norwid, Cyprian: Listy [›Briefe‹], hg. v. Juliusz W. Gomulicki, Warszawa: Pan´stwowy Instytut Wydawniczy 1968 (= Pisma wybrane, 5 Bde., hg. v. Juliusz W. Gomulicki, Bd. 5). — Proza [›Prosa‹], hg. v. Juliusz W. Gomulicki, Warszawa: Pan´stwowy Instytut Wydawniczy 1968 (= Dzieła wybrane, 5 Bde., hg. v. Juliusz W. Gomulicki, Bd. 4). ° — Vade-mecum, hg. u. eingel. v. J. W. Gomulicki, Warszawa: Pan´stwowy Instytut Wydawniczy 1962. — Vade-mecum, hg. v. Jo´zef Fert, 2. Aufl. Wrocław, Warszawa u. Krako´w: Zakład Narodowy im. Ossolin´skich – Wydawnictwo 1999 (= Biblioteka Narodowa, Bd. I/271). — Vade-mecum. Gedichtzyklus (1866), hg., eingel. u. übs. v. Rolf Fieguth, Vorwort v. Hans Robert Jauß, München: Wilhelm Fink Verlag 1981. ° — Vade-mecum. Podobizna autografu z przedmowa˛ W. Borowego [›Vade-mecum. Faksimile des Autographs mit einem Vorwort von W. Borowy‹], Warszawa: Towarzystwo Naukowe Warszawskie 1947. ° — Wiersze. Dodatek krytyczny [›Gedichte. Kritischer Zusatz‹], hg. u. komm. v. J. W. Gomulicki, Warszawa: Pan´stwowy Instytut Wydawniczy 1966 (= Dzieła zebrane, 2 Bde., hg. v. Juliusz W. Gomulicki, Bd. 2). — Wiersze. Tekst [›Gedichte. Text‹], hg. v. Juliusz W. Gomulicki, Warszawa: Pan´stwowy Instytut Wydawniczy 1966 (= Dzieła zebrane, 2 Bde., hg. v. Juliusz W. Gomulicki, Bd. 1). ° Peirce, Charles S.: Collected Papers of Charles Sanders Peirce, Vol. II: Elements of Logic, hg. v. Charles Hartshorne u. Paul Weiss, Cambridge, Mass: Harvard University Press 1932.
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Die Struktur von Botevs letztem Gedicht 1 Übersetzung aus dem Bulgarischen und Kommentar Alexander Nebrig ›Botev und Levski‹ – die Namen des bulgarischen Dichters und des Geistlichen und Revolutionärs, dessen er in der Totenklage gedenkt, besitzen im nationalen Gedächtnis Bulgariens eine Schlüsselfunktion. Die formelhafte Verbindung der jung Gestorbenen steht für den Befreiungskampf gegen die Osmanen im 19. Jahrhundert und ebenso für die Freiheit schlechthin. Jakobsons Entscheidung, ein Gedicht von solcher Suggestivkraft wie Christo Botevs »Obesvaneto na Vasil Levski« [›Die Erhängung Vasil Levskis‹] zu analysieren, ist zweifach motiviert: Auch Botev, als Revolutionär das Gegenteil eines mit Wörtern spielenden Ästheten, formt die Sprache gesetzmäßig und kunstvoll. Die Einfachheit des Gedichts, von elitären Kritikern als epigonale Folklore abgetan, beruht auf einer *Struktur der Wiederholung, die bis in den Phonembestand differenzierend eindringt, und ist Ergebnis eines um Präzision ringenden Kunstwillens, abzulesen an der Genese des Textes. Die Möglichkeit des Fassungsvergleichs – wie in der Yeats-Analyse – bildet den 1
Vorlage: Jakobson, R[oman] O[sipovicˇ]: »Strukturata na poslednoto Boetvo stichotvorenie«, in: Ezik i literatura, 16 (1961), H. 2, S. 1–14. Diese bulgarische Fassung [= B] kürzte und überarbeitete Jakobson leicht für die russische Übersetzung [= R] »K strukture poslednych stichov Chr. Boteva«, in: SW III, S. 519–533. Die Übersetzung folgt der bulgarischen Erstfassung, um den Zusammenhang der Botev-Analyse, vorgetragen 1960 in Sofia, mit Jakobsons Aufsatz »Poe˙zija grammatiki i grammatika poe˙zii« beizubehalten. So fehlen in der russischen Fassung die ersten neun Absätze, die dem Kapitel »Grammaticˇeskij parallelizm« aus »Poe˙zija grammatiki« entnommen sind. Da es sich bei diesen neun Absätzen um direkte Übernahmen (mit Ausnahme der leicht abgewandelten grammatischen Beispielsätze) aus »Poe˙zija grammatiki« handelt, habe ich meine Übersetzung und die meisten Anmerkungen dem Text von Sebastian Donat in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 256–301, angeglichen. Ab dem zehnten Absatz folgt die Übersetzung dann wieder dem bulgarischen Text. Abweichungen von der russischen Fassung aus den Selected Writings werden nur erwähnt, sobald sie sachlich begründet sind. [Anm. d. Übs./Komm.]
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anderen Grund für die Auswahl dieses Gedichts, und die Interpretation der Überarbeitung stützt maßgeblich Jakobsons Beweisführung. Die Botev-Analyse von 1961 gehört in das unmittelbare Umfeld des programmatischen Aufsatzes »Poe˙zija grammatiki i grammatika poe˙zii«, mit dessen prägnant gekürztem Eröffnungskapitel über den grammatischen *Parallelismus sie einsetzt. Die Analyse der Wiederholungen auf der Ebene der *Morpheme, der Syntax und des Lauts legt für »Obesvaneto na Vasil Levski« den ›Weg einer allmählichen Objektivierung‹ offen. Dabei verliert Jakobsons rigider Strukturalismus das Anliegen des Gedichts, des hingerichteten Levskis zu gedenken, nicht aus den Augen, sondern zeigt, wie innerhalb der einzelnen Sprachebenen sämtliche Elemente dazu dienen, den sprachlichen Gedenkort zu stiften. Im Anhang zur Botev-Analyse folgt der fast zwanzig Jahre später in der Festschrift für Peta˘r Dinekov (1979) publizierte kurze Nachtrag von einer Seite, der die *anagrammatische Verbindung zwischen dem Titel und der zentralen dritten *Strophe des Gedichts aufdeckt. Alexander Nebrig Wenn wir solche Beispiele wie mat’ obizˇaet docˇ’ [›die Mutter beleidigt die Tochter‹] und kosˇka lovit mysˇ’ [›die Katze fängt die Maus‹] vergleichen, dann fühlen wir nach Edward Sapir, »instinktiv, ohne den geringsten Versuch einer bewußten Analyse, daß beide Sätze genau demselben Modell folgen, daß sie wirklich ein und denselben Basissatz darstellen, der sich nur in der materialen Ausstattung unterscheidet. Anders gesagt, sie drücken identische Relationsvorstellungen auf identische Weise aus.« 2 Umgekehrt können wir den Satz oder seine einzelnen Wörter »unter rein relationaler, nicht-materialer Ebene« 3 ändern, ohne die ›materiellen Accessoires‹ zu berühren. Die Veränderungen können die syntaktischen Beziehungen betreffen (vgl. mat’ obizˇaet docˇ’ [›die Mutter beleidigt die Tochter‹] und docˇ’ obizˇaet mat’ [›die Tochter beleidigt die Mutter‹]) oder aber lediglich die morphologischen Beziehungen (mat’ obidela docˇerej [›die Mutter hat die Töchter beleidigt‹] unter Modifikation von *Tempus und *Aspekt beim Verb sowie des *Numerus beim zweiten Nomen). 2
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Sapir, Language. An Introduction to the Study of Speech, Kap. V. – Die zitierte Passage findet sich auf S. 89. Sie lautet im Original: »We feel instinctively, without the slightest attempt at conscious analysis, that the two sentences fit precisely the same pattern, that they are really the same fundamental sentence, differing only in their material trappings. In other words, they express identical relation concepts in an identical manner.« [Anm. d. Übs./Komm.] Vgl. ebd. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Ungeachtet der Existenz von Grenz- und Übergangsbildungen unterscheidet die Sprache klar zwischen materialen und relationalen Vorstellungen, die ihren Ausdruck zum einen auf der lexikalischen, zum anderen auf der grammatischen Ebene der Rede finden. Die wissenschaftliche 4 Linguistik übersetzt die tatsächlich in der Rede vorhandenen grammatischen Vorstellungen in ihre technische ›Metasprache‹, ohne dem untersuchten Sprachsystem willkürliche oder fremdsprachige Kategorien aufzuzwingen. Häufig findet ein Unterschied in den *grammatischen Bedeutungen keine Entsprechung in den realen Erscheinungen, die in der Rede behandelt werden. Wenn jemand sagt, daß mat’ obidela docˇ’ [›die Mutter die Tochter beleidigt hat‹], ein anderer aber gleichzeitig behauptet, daß docˇ’ byla obizˇena mater’ju [›die Tochter von der Mutter beleidigt wurde‹], kann man beiden Zeugen keine widersprüchlichen Aussagen vorwerfen – ungeachtet der Gegensätzlichkeit der grammatischen Bedeutungen, die mit dem Unterschied bei *Genus verbi und Kasus verbunden sind. Es ist ein und derselbe faktische Zusammenhang, der durch die folgenden Sätze widergespiegelt wird: »lozˇ’ (ili lgan’e¨ ) – grech« [›die Lüge (oder das Lügen) ist eine Sünde‹], »lozˇ’ grechovna« [›die Lüge ist sündhaft‹], »lgan’e¨ grechovno« [›das Lügen ist sündhaft‹], »lgat’ grech (ili gresˇno)« [›zu lügen ist Sünde (oder sündhaft)‹], »lgat’ – gresˇit’ (ili solgat’ – sogresˇit’ )« [›zu lügen heißt sündigen‹ 5 ], »lzˇecy (ili lzˇivye ili lgusˇˇcie) – gresˇniki (ili gresˇny ili gresˇat) [›Lügner (oder Verlogene oder Lügnerische) sind Sünder (oder sündhaft oder sündigen‹], »lzˇec (i. t. d.) – gresˇnik (i. t. d.)« [›der Lügner (usw.) ist ein Sünder (usw.)‹]. Der Unterschied liegt nur in der Form der Mitteilung. Das im Wesen der Sache identische Urteil kann operieren mit Benennungen einerseits der handelnden Personen im Plural oder im verallgemeinernden Singular (lzˇecy, gresˇniki [›die Lügner, die Sünder‹] oder lzˇec, gresˇnik [›der Lügner, der Sünder‹]) oder andererseits der Handlungen selbst (lgat’, gresˇit’ [›lügen, sündigen‹]). Die Handlungen können ihrerseits als unabhängig und abstrakt (lgan’e¨, pregresˇen’e [›Lügen, Versündigung‹], ja sogar vergegenständlicht dargestellt werden (lozˇ’, grech [›Lüge, Sünde‹]); schließlich können sie als Eigenschaften auftreten, die einem 4
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›Wissenschaftlich‹ dient hier als Abgrenzungssignal von anderen, nach Jakobsons Maßstäben ›unwissenschaftlichen‹ linguistischen Umgangsweisen mit dem Problem der grammatischen Vorstellungen, die den genannten Kriterien nicht gerecht werden. [Anm. d. Übs./Komm.] Der Unterschied zwischen lgat’ und solgat’ bzw. gresˇit’ und sogresˇit’ liegt im Aspekt: lgat’ und gresˇit’ sind imperfektiv, solgat’ und sogresˇit’ sind *perfektiv. [Anm.d. Übs./ Komm.]
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Subjekt zugeschrieben werden (gresˇen [›sündhaft‹] u. ä.). Wortarten spiegeln Sapir zufolge zusammen mit anderen grammatischen Kategorien vor allem unsere Fähigkeit wider, die Wirklichkeit in verschiedenartige formale Muster einzuordnen.6 Bentham hat als erster die Vielfalt der ›sprachlichen Fiktionen‹ aufgedeckt, die dem grammatischen Bau zugrunde liegen und in der Sprache eine breite und notwendige Anwendung finden. Die Fiktionen darf man weder der uns umgebenden Wirklichkeit noch der schöpferischen Einbildungskraft der Linguisten zuschreiben, und Bentham hat recht mit seiner Behauptung, daß »sie in ihrer unwahrscheinlichen und gleichzeitig unvermeidlichen Existenz gerade und nur der Sprache verpflichtet sind«.7 Die notwendige und zwangsläufige Rolle, die den grammatischen Bedeutungen in der Rede zukommt und die ihr charakteristisches unterscheidendes *Merkmal ausmacht, ist gründlich von Sprachwissenschaftlern aufgezeigt worden, insbesondere von Boas, Sapir und Whorf.8 Wenn auch die Diskussion über die kognitive Rolle und den kognitiven Wert der grammatischen Bedeutungen sowie über den Grad des Widerstands des wissenschaftlichen Denkens gegenüber dem Druck der grammatischen Schablonen noch nicht abgeschlossen ist, so steht doch eines fest: Von allen Bereichen der sprachlichen Tätigkeit läßt gerade das poetische Schaffen den ›sprachlichen Fiktionen‹ die größte Bedeutung zukommen. Die wiederholte »grammatische Figur«, die Gerard Hopkins, der geniale Neuerer nicht nur in der Poesie, sondern auch in der Poetik, gemeinsam mit der »Lautfigur« als grundlegendes Prinzip des Verses ansah,9 zeigt sich besonders anschaulich in solchen Gedichtformen, in denen der 6 7 8 9
Vgl. »Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie«, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 262, Anm. 17. [Anm. d. Übs./Komm.] Ogden, Bentham’s Theory of Fictions, S. 15. – Die Passage lautet im Original: »To language, then – to language alone – it is that ficticious entities owe their existence; their impossible, yet indispensable, existence.« [Anm. d. Übs./Komm.] Jakobson, »Boas’ View of Grammatical Meaning«, S. 489–496; Sapir, Language, Kap. V; Whorf, Language, Thought, and Reality. [Anm. d. Übs./Komm.] Die zwei fundamentalen Gestaltungsmittel des Verses seien die ›figur of spoken sound‹ wie die ›figur of grammar‹. So heißt es zu Beginn des Aufsatzes »Rhythm and the Other Structural Parts of Rhetoric-Verse«: »Definition of verse – Verse is speech having a marked figure, order/ of sounds independent of meaning and such as can be shifted from one word or words to others without changing. It is figure of spoken sound.« Hopkins, The Journals and Papers, S. 267–288, hier: S. 267. Und weiter heißt es: »Beyond verse as thus defined there is a shape of speech possible in which there is a marked figure and order not in the sounds but in the grammar« (ebd.). – Vgl. auch Jakobson, »Linguistics and Poetics«, S. 29 u. 38, sowie die Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 173 u. 186. [Anm. d. Übs./Komm.]
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grammatische Parallelismus, der benachbarte Zeilen zu Verspaaren und fakultativ zu Gruppen größeren Umfangs vereinigt, einer metrischen Konstante nahekommt. Die oben angeführte Sapirsche Bestimmung läßt sich völlig auf solche parallele Reihen anwenden: »sie [stellen] wirklich ein und denselben Basissatz dar […], der sich nur in der materialen Ausstattung unterscheidet.« 10 Nach diesem Prinzip sind der altertümliche chinesische 11 Vers, der biblische 12 Vers sowie der Vers der ugro-finnischen 13 und der mongolischen 14 Folklore aufgebaut, desgleichen einige Genres der russischen Volksdichtung. Im Dialog »Über den Ursprung der Schönheit« 15 (1865), einem überaus wertvollen Beitrag zur Dichtungstheorie, bemerkt Hopkins, daß wir uns bei all unserer Vertrautheit mit dem kanonischen Parallelismus des biblischen Prototyps nicht über die wichtige Rolle im klaren sind, die der Parallelismus in unserem dichterischen Schaffen spielt: »Ich denke, sie wird jeden überraschen, wenn sie zum ersten Mal aufgezeigt werden wird.« 16 Trotz vereinzelter Erkundungsstreifzüge in das Gebiet der poetischen Grammatik 17 stellt die Rolle der ›grammatischen Figur‹ in der Dichtung der Welt zu allen Zeiten nach wie vor eine Überraschung für die Literaturwissenschaftler dar, obwohl der erste Hinweis schon vor knapp einhundert Jahren von Hopkins gegeben wurde. 10 Vgl. o. S. 396. [Anm. d. Übs./Komm.] 11 Tchang Tcheng-Ming, Le Paralle´lisme dans le vers du Cheu King. [Anm. d. Übs./ Komm.] 12 Newman /Popper, Studies in Biblical Parallelism und Popper, Parallelism in Isaiah. [Anm. d. Übs./Komm.] 13 Vgl. Steinitz, Der Parallelismus in der finnisch-karelischen Volksdichtung; Jakobson, »Aktuelle Aufgaben der Bylinenforschung«, S. 10, vgl. den Wiederabdruck in SW IV, S. 61–63; Austerlitz, Ob-Ugric Metrics. [Anm. d. Übs./Komm.] 14 Poppe, Der Parallelismus in der epischen Dichtung der Mongolen. [Anm. d. Übs./ Komm.] 15 Hopkins, Journals and Papers, S. 86–114. [Anm. d. Übs./Komm.] 16 A. a. O., S. 106. – Vgl. den Wortlaut des Originals: »Hebrew poetry, you know, is structurally only distinguished from prose by its being paired off in parallelisms, subdivided of course often into lower parallelisms. This is well-known, but the important part played by parallelism in our poetry is not so well-known: I think it will surprise anyone when first pointed out.« [Anm. d. Übs./Komm.] 17 Davie, Articulate Energy; Berry, Poet’s Grammar; Pospelov, Sintaksicˇeskij stroj stichotvornych proizvedenij Pusˇkina. – Vgl. aber Jakobsons kritische Auseinandersetzung mit Berry als Anhänger des »outdated dogma of ›Classical Grammarians‹« in seiner Marvell-Analyse: Jakobson, »Andrew Marvell’s Poem ›To His Coy Mistress‹«, S. 341– 348, hier: S. 342, sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 672–687, hier: S. 678. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Wenn die unvoreingenommene, aufmerksame, detaillierte und ganzheitliche Beschreibung die grammatische Struktur eines einzelnen Gedichts aufdeckt, dann kann das Bild der Auswahl, Verteilung und Wechselbeziehung der verschiedenen morphologischen Klassen und syntaktischen Konstruktionen den Beobachter durch unerwartete, auffallend symmetrische Anordnungen, proportionale Konstruktionen, kunstvolle Anhäufungen *äquivalenter Formen und grelle *Kontraste in Erstaunen versetzen. 18 Charakteristisch sind ebenfalls radikale Einschränkungen im Repertoire der verwendeten grammatischen Kategorien: Mit der Aussparung der einen gewinnen die anderen an poetischer Einprägsamkeit. Die Wirksamkeit solcher Verfahren unterliegt keinerlei Zweifel, und jeder beliebige feinsinnige Leser empfindet, wie Sapir sagen würde, instinktiv den künstlerischen Effekt dieser grammatischen Bewegungen, »ohne den geringsten Versuch einer bewußten Analyse«, und in dieser Beziehung erweist es sich häufig, daß der Dichter einem solchen Leser ähnlich ist. Der geübte Zuhörer oder Vortragende von Volksdichtung, die auf einem mehr oder weniger konstanten Parallelismus aufgebaut ist, erfaßt dementsprechend Abweichungen von dieser Norm, obwohl er unfähig ist, sie zu analysieren – genauso, wie serbische Guslaren 19 und ihr Publikum jedwede Abweichung vom Silbenschema der epischen Gesänge und von der unveränderlichen Position der sogenannten *Zäsur bemerken und häufig tadeln, obwohl sie nicht in der Lage sind, zu bestimmen, worin der Fehler liegt. Zu den grammatischen Kategorien, die für Entsprechungen auf der Basis von Ähnlichkeit und Kontrast genutzt werden, gehören in der Dichtung alle Klassen der flektierbaren und nicht-flektierbaren Wortarten, Numeri, Genera, Kasus, Tempora, Aspekte, Modi, Genera verbi, Klassen der *abstrakten und *konkreten Wörter, Negationen, finite und *unpersönliche Verbformen, definite und indefinite Pronomina, die Artikel sowie schließlich die verschiedenen syntaktischen Einheiten und Konstruktionen. 18 Zur Kritik an dieser Kernaussage und ihrer Relativierung vgl. Birus, »Hermeneutik und Strukturalismus«, S. 19–21. [Anm. d. Übs./Komm.] 19 Von srb.-kr. ›gusle‹: ein- oder zweiseitige Kniegeige. Vgl. hierzu eingehender Jakobson, »Slavic Epic Verse«, S. 414–63, ders., »Über den Versbau der serbokroatischen Volksepen«, S. 51–60. Zusammenfassend auch in »Linguistics and Poetics«, S. 34 f., bzw. in der deutschen Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 181 f. Vgl. auch Jakobson, »On the So-Called Vowel Alliteration in Germanic Verse«, S. 189–197, bes. S. 195 f., sowie auch die deutsche Übersetzung dieser Passage von Tarcisius Schelbert als Anhang zu Jakobson, »Unterbewußte sprachliche Gestaltung in der Dichtung«, S. 311–327, hier: S. 325–327. [Anm. d. Übs./ Komm.]
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Um die Funktion des grammatischen Parallelismus zu zeigen, habe ich verschiedenartige dichterische Werke verschiedener Epochen und Schulen aus den verschiedensten Sprachen analysiert – slavischen, romanischen und germanischen.20 Aus dem bulgarischen poetischen Schaffen habe ich das Gedicht von Christo Botev »Obesvaneto na Vasil Levski« [›Die Erhängung Vasil Levskis‹] gewählt.21 Nicht nur, weil ich dieses letzte Werk des bedeutenden slavischen Dichters für den Höhepunkt seines Schaffens halte, sondern auch, weil dies nach den Worten des hellsichtigen Botev-Spezialisten Ivan Chadzˇov die einzigen Verse sind, die uns Einblicke in das »poetische Labor« 22 des Dichters gewähren. Neben der letzten Redaktion des Gedichts über Levski, gedruckt im Kalender von 1876, verfügen wir über die erste Redaktion, die sich deutlich von der zweiten unterscheidet und nach dem Tod des Dichters in Nova Ba˘lgarija (12. 8. 1876) veröffentlicht wurde,23 sowie über die handschriftliche Skizze in Botevs Notizheft.24 Schließlich hat mich bei der Auswahl des Gegenstands für die linguistische Analyse der Wunsch geleitet, die Poetik an Versen sichtbar zu machen, die von einem Schriftsteller geschaffen wurden, dem stets jeder Ornamentalismus, jede 20 Vgl. Jakobson, »Poe˙zija grammatiki i grammatika poe˙zii«, S. 70, sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 272, wo Jakobson auf die Botev-Analyse und weitere Analysen zum Parallelismus verweist. [Anm. d. Übs./ Komm.] 21 Hier setzt die russische Fassung der Botev-Analyse ein (SW III, S. 519). [Anm. d. Übs./Komm.] 22 Chadzˇova˘, »Iza˘ poeticˇeskata laboratorija na Boteva«, S. 34–49. In R fehlt die Rede vom ›poetischen Labor‹ gänzlich. Dafür nennt er dort (SW III, S. 520) einen thematisch ähnlichen Aufsatz von Chadzˇova˘, »Chadzˇova˘, Belezˇkite˘ va˘ licˇnoto teftercˇe na Boteva«, S. 67–98, deutsche Zusammenfassung, S. 97 f. [Anm. d. Übs./Komm.] 23 Von Botev in Bukarest gegründete Zeitschrift. Das erste Exemplar erschien (nach dem Julianischen Kalender) am 5. Mai 1876, also zwei Wochen vor seinem Tod, vgl. Vestnicite na Christo Botev. [Anm. d. Übs./Komm.] 24 Für die wertvollen Hinweise und die Hilfe während meiner Arbeit zu Botevs Versen bekunde ich meine aufrichtige Wertschätzung gegenüber Prof. L. Andrejcˇin und Prof. P. Dinekov. In Dankbarkeit möchte ich an meine Lehrer Vjacˇeslav Sˇcˇepkin und Kiril Christov erinnern, die mir das Werk des großen bulgarischen Dichters noch näher brachten. [Anm. v. R.J.] – Mit dem seinerzeit wichtigsten bulgarischen Grammatiker Ljubomir Dimitrov Andrejcˇin (1910–1975) sowie dem Philologen und Spezialisten der Folkloristik Peta˘r Nikolov Dinekov (1910–1992) standen Jakobson bei seiner Arbeit eine linguistische und eine literaturwissenschaftliche Autorität zur Seite. Dinekov, mit beinah 2000 Veröffentlichungen (vgl. Nikolova, »90 godini ot rozˇdenieto na Akademik Peta˘r Dinekov«, S. 7) nicht nur quantitativ einer der wichtigsten bulgarischen Philologen, machte sich um die Verbreitung von Botevs Œuvre verdient, s. dazu Lekov, »Akademik Peta˘r Dinekov izsledovatel i populjarizator«, S. 31 f. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Predigt einer Kunst um der Kunst willen zutiefst fremd geblieben sind. Das sind die Verse eines Revolutionärs und Agitators.25 Deshalb ist die wesentliche Rolle der sprachlichen und spezieller der grammatischen Verarbeitung in solch einem Beispiel außerordentlich lehrreich.26 ќЅ≈—¬јЌ≈“ќ Ќј ¬ј—»Ћ Ћ≈¬— »
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ќ, майко мо¤, родино мила, защо тъй жално, тъй милно плачеш? √арване и ти, птицо проклета, на чий гроб там тъй грозно грачеш? ќх, зна¤, зна¤, ти плачеш, майко, затуй, че ти си черна робин¤, затуй, че тво¤т свещен глас, майко, е глас без помощ, глас във пустин¤. ѕлачи! “ам близо край град —офи¤ стърчи, аз вид¤х, черно бесило, и твой един син, Ѕългарийо, виси на него със страшна сила. √арванът грачи грозно, зловещо, псета и вълци ви¤т в пол¤та, старци се мол¤т богу горещо, жените плачат, пищ¤т децата.
V 1 «имата пее свойта зла песен, 2 вихрове гон¤т тръни в полето, 25 Christo Botev wurde am 25. 12. 1847 (nach dem Julianischen Kalender 6. 1. 1848) in Kalofer als Sohn eines Lehrers geboren. Er besuchte das Gymnasium in Odessa, ohne dieses allerdings abzuschließen. Nachdem er einige Zeit in Kalofer in der Schule seines Vaters unterrichtet hatte, wurde er am Ende der 1860 Jahre politisch aktiv. Wie viele andere Bulgaren, die gegen die Herrschaft des Osmanischen Reiches kämpften, übersiedelte er nach Rumänien, wo er 1868 in Bukarest auf den Diakon und Revolutionär Vasil Ivanov Ka˘ncˇev, gen. Levski (1837–1873) traf. Gemeinsam mit Levski, der von den osmanischen Behörden bald nach seiner Festnahme hingerichtet wurde (6. bzw. 19. 2.), war er maßgeblich an der Organisation des Befreiungskampfes beteiligt, der 1876 schließlich zum sogenannten Aprilaufstand führte – symbolischer Auslöser sollte der Gedenktag für die Slavenapostel Kyrill (826/27–869) und Method (815–885) sein. Über 30000 Menschen, darunter den 28 jährigen Botev am 20. 5. 1876 (nach Julianischem Kalender 1. 6.), kostete er das Leben. – Botevs lyrisches Werk beschränkt sich auf zwanzig Gedichte. [Anm. d. Übs./Komm.] 26 S. Chadzˇova˘, »Iza˘ poeticˇeskata laboratorija na Boteva«, S. 34–49, sowie auch das Buch des Verfassers Stichotvorenijata na Boteva, bes. S. 224–250.
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и студ, и мраз, и плач без надежда нав¤ват на теб скръб на сърцето.27 OBESVANETO NA VASIL LEVSKI
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O, ma´jko mo´ja, rodı´no mı´la, zasˇto´ ta˘j zˇa´lno, ta˘j mı´lno pla´cˇesˇ? Ga´rvane i tı´, ptı´co prokle´ta, na cˇ´ıj grob ta´m ta˘j gro´zno gra´cˇesˇ? Och, zna´ja, zna´ja, ti pla´cˇesˇ, ma´jko, zatu´j, cˇe tı´ si cˇe´rna robı´nia, zatu´j, cˇe tvo´jat sve´ˇsten glas, ma´jko, e gla´s bez po´mosˇt, gla´s va˘v pustı´nija. Pla´cˇi! Tam blı´zo kra´j grad So´fija sta˘rcˇ´ı, az vidja´ch, cˇe´rno besı´lo, i tvo´j edin sı´n, Ba˘lga´rijo, visı´ na ne´go sa˘s stra´ˇsna sı´la. Ga´rvana˘t gra´cˇi gro´zno, zlove´ˇsto, pse´ta i va˘´lci vı´jat v polja´ta, sta´rci se mo´ljat bo´gu gore´ˇsto, zˇenı´te pla´cˇat, pisˇtja´t deca´ta. Zı´mata pe´e svo´jta zla pe´sen, vı´chrove go´njat tra˘´ni v pole´to, i stu´d, i mra´z, i pla´cˇ bez nade´zˇda navja´vat na te´b skr a˘´b na sa˘rce´to.28 DIE ERHÄNGUNG VASIL LEVSKIS
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O, meine Mutter, Heimat geliebte, warum weinst du so traurig, so kummervoll? Rabe und du, verfluchter Vogel, auf wessen Grab dort krächzt du so schrecklich?
27 Botev, Sa˘brani Sa˘ˇcinenija, Bd. 1, S. 76 f. – Hingewiesen sei hier auf die französische Nachdichtung von Paul E´luard, die 1952 mit siebzehn anderen Gedichten Botevs und einem biographischen Essay von Jakobsons Freundin aus Kindheitstagen, Elsa Triolet (1896–1970), bei E´diteurs Franc¸ais Re´unis erschien. »La pendaison de Vassil Levsky« ist abgedruckt in: E´luard, Œuvres comple`tes, Bd. 2, S. 502. – S. zur Ausgabe von 1952 die Besprechung von Doncˇev, »Botev va˘v Francija i v Italija«, S. 70–73, hier: S. 70 f. [Anm. d. Übs./Komm.] 28 Die Zäsuren teilen den Vers in zwei Halbverse, auf die Jakobson eingeht, s. u. S. 408. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Ach, ich weiß, ich weiß, du weinst, Mutter, weil du eine schwarze Sklavin bist, weil deine heilige Stimme, Mutter, eine Stimme ist ohne Hilfe, eine Stimme in einer Wüste. Weine! Dort nah bei der Stadt Sofija erhebt sich, ich sah’s, ein schwarzer Galgen, und dein einziger Sohn, o Bulgarien, hängt an ihm mit grauenvoller Kraft. Der Rabe krächzt schrecklich, böse, Köter und Wölfe heulen in den Feldern, Greise beten heiß zu Gott, die Frauen weinen, die Kinder schreien. Der Winter singt sein böses Lied, Stürme jagen Dornen im Feld, und Kälte, und Frost, und Weinen ohne Hoffnung wehen dir Trauer ins Herz.
In den fünf Quartetten, aus denen das Gedicht »Obesvaneto na Vasil Levski« besteht, erscheint das Leitmotiv der Wurzel placˇ- [›wein-‹] in Kombination mit verschiedenen Endungen. Im zweiten Vers der ersten Strophe bildet die zweite Person Singular Präsens das Prädikat einer Frage I2 zasˇto 〈…〉 placˇesˇ? [›warum 〈…〉 weinst (du)?‹]. Im ersten Vers der zweiten Strophe ist die gleiche Form Teil einer positiven Antwort II1 znaja, ti placˇesˇ [›(ich) weiß, du weinst‹]. Die dritte Strophe beginnt mit einer Imperativform erneut im Singular: III1 Placˇi! [›Weine!‹] – In den letzten beiden Strophen stehen die Wörter, die die Wurzel placˇ- enthalten, nicht im ersten, sondern jeweils im zweiten Verspaar. Die leidende, als weinende Mutter *personifizierte Heimat, an die sich der Dichter in den ersten drei Strophen wendet, wird am Ende der vierten Strophe 29 durch eine konkrete Pluralform ersetzt – 4 zˇenite placˇat [›die Frauen weinen‹], die eines der handelnden Subjekte des *parataktischen komplexen Satzes ist. Endlich, in der abschließenden Phrase des Werks, im vorletzten Vers der fünften Strophe, wird die Wurzel placˇ [›wein-‹] substantiviert, mit einer »attributiven Ergänzung« 30 versehen – V3 bez nadezˇda [›ohne Hoffnung‹], und tritt als eines von drei gleichartigen Subjekten auf.31 29 Emendation: Jakobson schreibt fälschlich ›dritte Strophe‹, dieser Fehler wurde in der russ. Fassung verbessert (SW III, S. 520). [Anm. d. Übs./Komm.] 30 Chadzˇov, Stichotvorenijata na Boteva, S. 244. [Anm. v. R.J.] – In R (SW III, S. 520) fällt das Zitat weg, und Jakobson schreibt: ›mit einem eigenen Attribut‹. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Überhaupt ist die Entwicklung des lyrischen Themas im Gedicht der Weg einer allmählichen Objektivierung, die ihren Ausdruck in den morphologischen und syntaktischen Wechselbeziehungen innerhalb der fünf Strophen findet. Die zwei Verben der ersten Strophe – I2 placˇesˇ, 4 gracˇesˇ [I2 ›weinst, 4 krächzt‹] – stehen in der zweiten Person Singular Präsens. Substantive ohne Präposition finden sich hier nur im Vokativ: 32 I1 O, majko, 1 rodino, 3 garvane, 3 ptico [I1 ›O, Mutter, 1 Heimat, 3 Rabe, 3 Vogel‹]. In der zweiten Strophe erscheint neben den sich wiederholenden Wörtern aus dem ersten Quartett – II1 placˇesˇ, majko, 3 majko [II1 ›weinst, Mutter, 3 Mutter‹] eine eingeschobene Verbalform in der ersten Person: II1 znaja, znaja [›weiß, weiß‹]. Weiter erscheinen zusammengesetzte Prädikate mit dem Hilfsverb ›sein‹ in der zweiten 2 si [›bist‹] und in der dritten Person 4 e [›ist‹]. Einzig in die Nebensätze dringen auch zwei Substantive ein, das eine als Subjekt – II3 glas [›Stimme‹] – das andere als Prädikatsnomen – 2 robinja [›Sklavin‹].33 Das einzige *substantivische Personalpronomen aus den ersten zwei Strophen steht in der zweiten Person I3, II1,2 ti [›du‹].34 Das erste Verspaar der dritten Strophe beendet die erste Hälfte, d. h. zehn der zwanzig Verse des Werks. Und in diesem Zweizeiler erscheint zum letzten Mal das Verb in der zweiten Person, aber dieses Mal im Imperativ – III1 Placˇi [›Weine‹]. Erneut tritt auch ein Verb in der ersten Person auf, wieder in einem eingeschobenen Satz: III2 az vidjach [›ich sah‹]. Das ist das einzige Beispiel für eine Vergangenheitsform – alle anderen indikativischen Verbformen des Gedichts stehen im Präsens. Einzigartig für das ganze Gedicht ist auch die Form des Personalpronomens der ersten Person az [›ich‹], die jenen eingeschobenen Satz verstärkt.35 Die erwähnten zwei Verben der ersten Person – II1 znaja [›weiß‹], III2 vidjach [›sah‹] – stehen lexikalisch den vom bulgarischen 31 In R (SW III, S. 520) hinzugefügt: »die mit dem gemeinsamen abschließenden Prädikat V4 navjavat [›wehen‹] verbunden sind«. [Anm. d. Übs./Komm.] 32 Die Vokativmorpheme im Bulgarischen sind -o und -e. [Anm. d. Übs./Komm.] 33 In R (SW III, S. 521) hinzugefügt: »und in dieser neuen Rolle das zweimal wiederholte 4 glas [›Stimme‹]«. [Anm. d. Übs./Komm.] 34 Die römischen Zahlen verweisen auf die Strophen des Gedichts, und der nebenstehende Index der arabischen Ziffern auf die Verse in den entsprechenden Strophen. [Anm. v. R.J.] – Dieser Satz in R (SW III, S. 521): »Die Pronomina der zweiten Person ti [›du‹] in den ersten beiden Strophen dienen als Subjekte.« [Anm. d. Übs./Komm.] 35 Im Bulgarischen wird das Personalpronomen nur verstärkend eingesetzt, ist also in der Rede fakultativ. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Sprachgefühl vorgegebenen grammatischen Formen zur Nacherzählung 36 entgegen, die für Berichte dieser Art geläufig sind,37 und streben eindringlich danach, die Wörter des Autors zu einer unmittelbaren Zeugenaussage zu erheben. Der dritte Vers der Mittelstrophe, d. h. der erste Vers aus der zweiten Hälfte des Werks, enthält die letzte *Apostrophe – III3 Ba˘lgarijo [›Bulgarien‹] – und das letzte Possessivpronomen in der zweiten Person tvoj [›dein‹], das auch das letzte dialogische Pronomen im Werk ist (vgl. neben den Personalpronomen az [›ich‹] und ti [›du‹] solche pronominalen Attribute wie II3 tvojat [›der deine‹], I1 moja [›meine‹] und I4 ˇcij [›wessen‹]).38 Die Verteilung der Vokative auf die ersten drei Strophen, wo sie einzig anzutreffen sind, bildet eine geometrische Regression: 4 : 2 : 1. Daneben ist merkwürdig, daß alle diese Apostrophen ausschließlich in den ungeraden Versen vorkommen – je zwei im ersten und dritten Vers der ersten Strophe, je eine in den entsprechenden Versen der zweiten und eine einzige im dritten Vers der dritten Strophe.39 Die Orientierung am Dialog, die für die ersten drei Strophen charakteristisch ist, wird durch den beschreibenden Stil reiner Aussagesätze in den letzten zwei Strophen abgelöst. In der Mitte des Gedichts macht sich auch eine weitere grammatische Veränderung bemerkbar – zum ersten Mal ist in der dritten Strophe ein substantivisches Subjekt mit einem 36 Das bulgarische Verbalsystem verfügt über einen besonderen Modus, den sog. Narrativ, der bei der Wiedergabe von Ereignissen, über die der Sprecher nicht aus eigener Anschauung berichtet, verwendet wird. Vgl. Anm. 37. [Anm. v. I.M.] 37 In R fehlt die Bemerkung über die ›grammatischen Formen zur Nacherzählung‹ wohl deshalb, weil der Narrativ keinen wie hier behaupteten Platz in der bulgarischen Alltagssprache einnimmt. Der von Jakobson gebrauchte Terminus ›preizkazvane‹ stammt von Ljubomir Andrejcˇin, dem Jakobson zu Beginn der Botev-Analyse seinen Dank ausspricht, vgl. o. S. 401, Anm. 24. Andrejcˇins sehr einflußreiche, normative bulgarische Grammatik Osnovna ba˘lgarska gramatika von 1944 versuchte die bulgarischen Formen des Narrativs erstmalig zu systematisieren. Sein Begriff ›preizkazvane‹ bedeutet ›Umerzählung‹. Vgl. zur historischen Würdigung und Kritik seiner Grammatik im Hinblick auf den Narrativ Roth, Die indirekten Erlebnisformen im Bulgarischen, S. 6–14. Jakobson wird weiter unten erneut eine Bemerkung zum Narrativ in R unterdrücken, vgl. u. S. 418, Anm. 77. [Anm. d. Übs./Komm.] 38 Zwar findet sich im Schlußvers des Werks noch ein Personalpronomen der zweiten Person – V4 teb [›dir‹], aber es hat eine unbestimmt-persönliche Bedeutung, d. h. es ist nicht dialogisch. 39 Im Unterschied zur linearen Regression, bei der die Folge um eine bestimmte konstante Zahl abnimmt (7, 5, 3, 1), ist für die geometrische Regression ein bestimmter Quotient relevant. Hier halbiert sich die Zahl mit jedem Glied (4, 2, 1), denkbar wäre auch, dass sie sich drittelt. Das Prinzip der geometrischen Regression ist mathematisch erst für große Zahlenfolgen interessant. [Anm. d. Übs./Komm.]
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einfachen verbalen Prädikat 40 verbunden: III2 sta˘rcˇi 〈…〉 besilo, 3 sin 〈…〉 4 visi [III2 ›Galgen 〈…〉 ragt, 3 Sohn 〈…〉 4 hängt‹]. Dabei ist auffällig, daß diese beiden Verben einen Zustand bezeichnen, wohingegen die Verben der dritten Person, die eine Handlung ausdrücken, sich ausschließlich auf die letzten beiden Strophen verteilen. Die fünf Prädikate in der vierten Strophe sind Verbformen, die Emotionen ausdrücken: IV1 gracˇi, 2 vijat, 3 sa molat, 4 plac ˇat, 4 pisˇtjat, [IV1 ›krächzt, 2 heulen, 3 beten, 4 weinen, 4 schreien‹]. Diese Strophe ruft schließlich die Prädikate der Hauptsätze aus den ersten zwei Strophen variierend in Erinnerung – I2 placˇesˇ, 4 grac ˇesˇ, II1 placˇesˇ [I2 ›weinst, 4 krächzt, II1 weinst‹], indem sie diese in den epischen Bereich der dritten Person transponiert. Wenn im ersten Vers dieser Strophe jener ›ptica prokleta‹ [›verfluchte Vogel‹] in einer *synekdochischen Einsamkeit verbleibt – IV1 garvana˘t gracˇi [›der Rabe krächzt‹], erscheint im folgenden Vers ein Plural, der in den ersten drei Strophen gänzlich unbekannt ist: IV2 Pseta i va˘lci vijat v poljata [›Köter und Wölfe heulen in den Feldern‹]. So stehen in den zwei letzten Strophen zwölf Substantive und Verben im Plural. In der ersten Strophe wendet sich der Dichter an die ›majka rodina‹ [›Mutter Heimat‹] und konstruiert auf der Basis des letzten Wortes eine erweiterte und isolierte Apposition: I1 rodino milo [›Heimat geliebte‹]. Das andere Objekt der Anrede kontrastiert mit dem ersten: I3 garvane, 3 ptico prokleta [I3 ›Rabe, 3 verfluchter Vogel‹]. Die zweite Strophe übernimmt nur den ersten Teil der ersten Anrede – II1,3 majko – und führt auf diese Weise die lyrische Personifikation zu höchster Kompaktheit. Die dritte Strophe dagegen konkretisiert die Gestalt der Heimat, indem sie direkt die Ereignisse beschreibt und lokalisiert: III1 tam blizo kraj grad Sofija [›dort nah bei der Stadt Sofija‹]. Die Heimat wird auch dadurch konkret, daß sie mit ihrem eigenen Namen angeredet wird – III3 Ba˘lgarijo [›Bulgarien‹]. In der vierten Strophe erscheint ›garvana˘t‹ 41 [›der Rabe‹] erneut mit seinem ›grozno gracˇene‹ [›schaurigen Gekrächze‹], aber nicht mehr als Apostrophe, sondern als Subjekt. Bulgarien zerfällt in eine Menge von Lebewesen, und Tiere und Menschen, die in den heimatlichen Feldern zu hören sind, geben zahlreiche Ausdrücke ihres traurigen Gefühls. Eines der Details aus der Massenszene – IV4 zˇenite placˇat [›die Frauen weinen‹] – 40 D. h. ein Prädikat, das nicht mit der *Kopula ›sa˘m‹ oder mit einem Prädikatsnomen gebildet wird. 41 Der bulgarische bestimmte Artikel wird nachgestellt, d. h. die Form garvana˘t ist folgendermaßen zu analysieren: garvan-a˘t ›Rabe-der‹. Zum *enklitischen Artikel im Bulgarischen s. Mayer, The Definite Article in Contemporary Standard Bulgarian. [Anm. d. Übs./Komm.]
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wird als weitere Variation des zentralen lyrischen Bildes erkennbar, das Bild der weinenden Mutter, mit dem das Gedicht einsetzt. Die letzte Strophe besitzt dieselbe Struktur wie die vorletzte, nur werden die Lebewesen durch personifizierte Naturgewalten ersetzt. Dieses Verhalten kontrastiert mit dem Kummer der lebendigen Natur: V1 Zimata pee 〈…〉 zla pesen [›der Winter singt 〈…〉 (ein) böses Lied‹]. Im dritten und vierten Vers aber mündet eine polysyndetische Anhäufung von substantivischen Subjekten im Maskulinum in eine Handlung der Trauer – V4 navjavat 〈…〉 skra˘b [›wehen 〈…〉 Trauer‹], die mit den Äußerungen der Lebewesen und der Gewalten im Kontrast steht. Die Aufmerksamkeit des Betrachters richtet sich auf den gezeigten Kontrast auch durch die metrischen Mittel. Von allen zwanzig Versen des Gedichts haben nur die ersten drei Verse der vierten Strophe und die ersten zwei Verse der fünften den grammatischen Akzent 42 auf den ersten und den vorletzten Silben in jedem Halbvers: IV
1 2 3
V
1 2
Ga´rvana˘t gra´cˇi gro´zno zlove´ˇsto, pse´ta i va´˘lci vı´jat v polja´ta, sta´rci se mo´ljat bo´gu gore´ˇsto, Zı´mata pe´e svo´jta zla pe´sen, Vı´chrove go´njat tra˘´ni v pole´to.
Wir erlauben uns an dieser Stelle einen knappen Exkurs zu Fragen, die mit der Struktur des Botevschen Verses verbunden sind.43 In allen poetischen Werken Botevs sind die Verse in je zwei Halbverse mit einer regelmäßigen oder beinah regelmäßigen ›Zäsur‹ geteilt. Besteht der zweite Halbvers aus drei Silben, ist der erste Halbvers stets länger und zählt in verschiedenen Gedichten entweder sechs, fünf oder vier Silben. Aber der zweite Halbvers kann auch mehr als drei Silben enthalten, und zwar genau: vier Silben in acht oder neun der zwanzig uns überlieferten Botevschen Gedichte bzw. fünf in den restlichen sieben. In allen diesen Fällen ist im ersten Halbvers die Silbenzahl gleichgroß wie im zweiten.44 Jedes der sieben zehnsilbigen Gedichte zeigt klar seine *rhythmische Eigenart, und Peta˘r Dinekov hat völlig recht, wenn er in seiner jüngsten Arbeit über die Dichtung Christo Botevs urteilt, daß der Dichter »eine größere Vielfalt der Formen und einen größeren Reichtum 42 Wort-, Wortgruppen- oder Satzakzent, der semantische oder syntaktische Strukturen transparent macht. [Anm. v. I.M.] 43 Botevs Vers ist *syllabisch, die Betonungen werden frei gesetzt. Der Dekasyllabus in »Obesvaneto« wird in zwei Versen nicht beachtet: zu diesen I4 und III3, wo eine Silbe fehlt, vgl. Jakobson im Anhang zur Analyse, S. 425. [Anm. d. Übs./Komm.] 44 Hierzu zählt auch »Obesvaneto na Vasil Levski«. [Anm. d. Übs./Komm.]
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in der melodischen Ausführung der Verse gesucht« 45 habe. Neben den obligatorischen Komponenten, die in Botevs Versen nur relativ selten Abweichungen von der Norm gestatten – d. h. 1) Abweichungen von der Gesamtzahl der Silben im Vers, 2) von der Stelle der Zäsur und 3) von der Stelle des *Wortakzents auf der vorletzten Verssilbe –, finden wir nicht wenige bedeutungsvolle rhythmische Variationen, die jedem Gedicht einen individuellen Stempel aufdrücken und im Rahmen des besonderen Werks einzelne Verse oder Versgruppen hervorheben. So ist zum Beispiel in allen Versen Botevs mit zehn Silben die Anzahl der Wortakzente auf der ersten Verssilbe größer 46 als die Anzahl der Wortakzente auf der zweiten Silbe, nur in »Obesvaneto« und vor allem in »Chadzˇi Dimita˘r« 47 erreicht die Häufigkeit der starken Wortakzente auf der zweiten Verssilbe einen Anteil von siebzig Prozent, wohingegen in den restlichen Gedichten dieses *Versmaßes sich die Anzahl der Akzente zwischen einem Anteil von vierzig bis fünfzig Prozent bewegt. Im zweiten Halbvers erhält gewöhnlich die zweite Silbe den Akzent, aber wieder weichen »Obesvaneto« und besonders »Chadzˇi Dimita˘r« von den restlichen Gedichten ab – der Prozentsatz der Akzente auf der siebenten Verssilbe ist in ihnen kleiner als der auf der sechsten Silbe. Die vierte Silbe des zweiten Halbverses trägt einzig keinen Akzent in einigen Strophen von »Chadzˇi Dimita˘r« und »Borba«. Den zweiten Rang in der Häufigkeit der Betonungen nimmt immer die vierte Silbe des ersten Halbverses ein, in »Obesvaneto« dagegen liegt der Akzent auf dieser Silbe in 95 Prozent aller Verse, in »Elegija« liegt der Akzent auf ihr nur in 67 Prozent der Verse. Diese Varianten, wie auch die Schwankungen in der Häufigkeit der Wortakzente auf den schwachen Silben in jedem Halbvers – d. h. die dritte und die fünfte –, tragen maßgeblich zur künstlerischen Färbung der verschiedenen Werke Botevs wie ihrer einzelnen Teile bei. Sie bestätigen den sorgfältigen Vergleich von Ruse Rusev zwischen den Versformen Botevs und den Bestrebungen eines anderen bedeutenden Experimentators derselben Zeit – Gerard Hopkins – auf dem Gebiet des gegenläufigen oder des »kontrapunktischen Rhythmus«,48 nach der Terminologie des englischen Dichters und Theoretikers. 45 Dinekov, »Poezijata na Christo Botev«, S. 117–142, hier: S. 140. 46 Emendation: In B und R steht ›kleiner‹, was sachlich und innerhalb der Logik des Satzes nicht stimmt. [Anm. d. Übs./Komm.] 47 S. Botev, Sa˘brani sa˘ˇcinenija, Bd. 1, S. 66–68. [Anm. d. Übs./Komm.] 48 Ruseva˘, »Metricˇni problemi u Boteva˘«, S. 1276. [Anm. v. R.J.] – Rusev charakterisiert den Vers Botevs mit Hopkins’ Konzept des »Reversed Feet« bzw. »Reversed or Counterpoint Rhythm«. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Botevs Vers stützt sich zweifelsohne auf Vorbilder der bulgarischen Folklore. Eine analoge Ausrichtung des Verses beobachtet man auch an anderen berühmten Dichtern dieser Zeit, die in slavischen Ländern ohne feste literarische Traditionen geschaffen haben. Charakteristisch ist das gemeinsame Schicksal dieser Versuche: mit der Entstehung einer städtischen Bildungselite wächst gleichzeitig die Abwehr gegen das Volkstümliche im Versbau. Damit einher geht das Streben, einen metrischen Kanon zu kodifizieren, der sich eindeutig von den dörflichen Formen unterscheidet und sich dem Kanon des klassischen russischen Verses angleicht. In Bulgarien ersetzt die Verstechnik von Vasov, in der Slovakei die von Hurban Vajansky´ und Hviezdoslav, in der Ukraine die von Kulisˇ dementsprechend die Versformen von Botev, Janko Kra´l’ und Taras Sˇevcˇenko.49 Trotz der engen genetischen Verbindung der letzten drei Dichter mit dem Volkslied ist eine epigonale Nachahmung fertiger Muster ihrem Schaffen sehr fremd. In ihren Rhythmen, vor allem bei Botev, zeigen sich, ja überwiegen sogar eigenständige schöpferische Bestrebungen, die ohne Vergleich sind in der mündlich überlieferten Liedtradition. Neben dem Akzent ist ein weiteres Mittel, das bei Botev zur rhythmischen Variation und künstlerischen Differenzierung der einzelnen Gedichte wie ihrer Teile breite Verwendung findet, die Anordnung der *Wortgrenzen. Schon Ljubomir Andrejcˇin stellt die entsprechende Bedeutung dieser hilfreichen (nicht zwingenden) Zäsuren heraus,50 und Dinekov hebt zu recht die harmonische und gleichzeitig abwechslungsreiche Reihung der »zweisilbigen und dreisilbigen Wort-Schritte« 51 hervor. Im Hinblick auf die Anordnung der Wortgrenzen verteilen sich Botevs Gedichte mit einem zehnsilbigen Versmaß auf drei Typen. Zum ersten Typ zählt »Obesvaneto« mit der maximalen Anzahl an Wortgren49 Ivan Vasov (1850–1921), Svetoza´r Hurban Vajansky´ (1847–1916), Pavol Orsza´gh Hviezdoslav (1849–1921), Pantelejmon Oleksandrovyc Kulisˇ (1819–1897), Janko Kra´l’ (1822–1876) und Taras Sˇevcˇenko (1814–1861). [Anm. d. Übs./Komm.] 50 Andrejcˇin, »Rita˘ma˘t na sticha u Christo Botev«, S. 9–15, hier: S. 14. [Anm. v. R.J.] – Dort heißt es: ›Ohne daß wir uns einer eingehenden Analyse widmen, möchten wir hervorheben, daß die Grenzen zwischen den dreisilbigen Gruppen mit wenigen Ausnahmen hinter die abschließenden Wörter fallen, was darauf hinweist, daß diese Grenzen den Vers in rhythmische Einheiten gliedern, die sich zusätzlich von den einfachen Versfüßen abheben.‹ [Anm. d. Übs./Komm.] 51 Dinekov, »Poezijata na Christo Botev«, S. 138. [Anm. v. R.J.] – Dort heißt es (hier gleich in deutscher Übersetzung): ›Daneben führt die Reihenfolge von drei- und zweisilbigen Wörtern zu einer interessanten harmonischen und gleichzeitig vielgestaltigen Linie: 3–2–2–3 / 2–3–2–3 / 3–2–3–2.‹ – Zur Wortgrenze s. Jakobson, Über den tschechischen Vers, Kap. V. [Anm. d. Übs./Komm.]
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zen nach der zweiten Silbe in beiden Halbversen. Der zweite Typ wird vertreten durch das Gedicht »Majce si« mit der maximalen Anzahl an Wortgrenzen nach der dritten Silbe in jedem Halbvers. Der größte Teil der Botevschen Werke im zehnsilbigen Versmaß wird charakterisiert durch die maximale Anzahl an Wortgrenzen nach der dritten Silbe im ersten Halbvers und nach der zweiten Silbe im zweiten. Zu diesem aufsteigend-absteigenden Typ zählt z. B. »Borba«, wo sich vor der dritten Silbe des Verses annähernd dreißig Prozent und nach ihr sechzig Prozent der Wortgrenzen befinden. Andererseits liegen im zweiten Halbvers ungefähr sechzig Prozent der Wortgrenzen vor der dritten Silbe und nur ungefähr dreißig Prozent folgen ihr. Alle diese Besonderheiten lassen sich im Lichte des semantischen Aufbaus der jeweiligen Gedichte leicht interpretieren.52 Aber kehren wir wieder zur Struktur von »Obesvaneto« zurück.53 Es ist klar, daß die metrischen Ähnlichkeiten zwischen den ersten Versen der vierten und der fünften Strophe in diesem Werk nicht von Zufall sein können.54 Die Korrespondenz im Aufbau dieser Verse wird hervorgerufen durch die syntaktische und semantische *Symmetrie zwischen den ersten beiden Halbversen – IV1 Garvana˘t gracˇi, V1 Zimata pee [IV1 ›der Rabe krächzt, V1 der Winter singt‹] – sowie auch durch die gleiche Wurzel in den achten Silben – IV1 zlo- [›bös-‹] und V1 zla [›böse‹]. Ähnlich sind die Schlußwörter auch in den zweiten Versen der vierten und fünften Strophe: IV2 v poljata [›in den Feldern‹] bzw. V2 v poleto [›im Feld‹]. Bezeichnend sind auch die folgenden Reihungen: IV3 goresˇto – V3 nadezˇda und IV4 decata – V4 sa˘rceto. Daß Botev bewußt die Reihung von auslautenden o und a einsetzt, sieht man an den Reimen in der dritten Strophe: III1 Sofı´ja – 3 Ba˘lgarı´jo und umgekehrt III2 besı´lo – 4 sı´la. Der erste Halbvers des dritten Verses in der vierten Strophe – IV3 starci se moljat [›Greise beten‹] – und die entsprechende Passage in der fünften Strophe – V3 i stud, i mraz [›und Kälte, und Frost‹] ähneln 52 Den Nachweis für den hier en passant behaupteten Nexus zwischen *Metrum bzw. Rhythmustyp und Semantik bleibt Jakobson in fast allen Gedichtanalysen schuldig, s. hierzu Donat, »Metrum und Semantik bei Roman Jakobson«. [Anm. d. Übs./ Komm.] 53 Nach diesem Exkurs zum Vers Botevs schließt Jakobson unmittelbar an die oben abgedruckten fünf Verse an und wendet sich den beiden Schlußstrophen vier und fünf zu. [Anm. d. Übs./Komm.] 54 Die Ähnlichkeiten bestehen darin, daß die Verse IV1–3 und V1–2 den Akzent in beiden Halbversen auf der ersten und auf der vorletzten Silbe haben, vgl. o. S. 408. [Anm. d. Übs./Komm.]
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einander hinsichtlich des Lautbestands ihrer betonten Silben: sta´r…mo´… und stu´…mra´. Placˇ am Ende desselben Verses der letzten Strophe führt uns zurück zum Motiv der weinenden Frauen und zu seinem Urbild: I1 majko moja, rodino mila [›Mutter meine, Heimat geliebte‹]. Auch nicht vergessen wird am Ende des Gedichts selbst die zweite Apostrophe der Anfangsstrophe. Das Bild des ›zla pesen na zimata‹ [›bösen Lieds des Winters‹] der letzten Strophe vereinigt sich unvermeidlich mit ›slovesˇtoto gracˇene‹ [›dem schaurigen Gekrächze‹] des Raben zu Beginn der vorhergehenden Strophe. Mehr noch: in den zwei Strophen wird der erste Vers deutlich gegenüber den verbleibenden Versen durch seine grammatische Struktur hervorgehoben. Dieser unterscheidet sich in beiden Fällen durch den Singular des Subjekts und des Prädikats – IV1 garvana˘t gracˇi [›der Rabe krächzt‹] und V1 zimata pee [›der Winter singt‹] – von den verbleibenden Versen dieser Strophen, wo die Prädikate im Plural mit Subjekten im Plural bzw. mit einer Gruppe von gleichartigen Subjekten verknüpft sind. Neben der ausschließlichen dritten Person und der Dominanz des Plurals treten die letzten beiden Strophen auch durch den Gebrauch von mit Artikel versehenen Nomina hervor in Übereinstimmung mit der Gesamttendenz des zweiten, beschreibenden Gedichtteils und in Kontrast zum anfänglichen Dialogteil. In den ersten drei Strophen zählt man insgesamt neunzehn Substantive, davon nur eines mit einem bestimmten Artikel (im Nebensatz der zweiten Strophe: II3 tvojat svesˇten glas [›die deine heilige Stimme‹]),55 in den beiden letzten Strophen dagegen, die ebenfalls neunzehn Substantive enthalten, gibt es acht Formen mit einem bestimmten Artikel. Die von Botev gemachte Änderung des Ausdrucks III3 tvojat edin sin [›der deine einzige Sohn‹] zu einem Ausdruck ohne Artikel tvoj edin sin [›dein einziger Sohn‹] zeigt klar das Bestreben des Dichters, die übertriebene Präzision an dieser Stelle des Gedichts zu vermeiden.56 Die letzten zwei Strophen unterscheiden sich erheblich von den ersten zwei nicht nur morphologisch, sondern auch syntaktisch. Für die zwei Schlußstrophen sind die parataktischen Satzverknüpfungen charak55 Der Artikel wird im Bulgarischen immer an das erste Glied der Nominalgruppe angefügt. Deshalb trägt hier das Possessivpronomen tvoj [›dein‹] den Artikel. [Anm. v. I.M.] 56 Vgl. Chadzˇov, Stichotvorenijata na Boteva, S. 248 f. [Anm. v. R.J.] – Im Deutschen ist die Überarbeitung schwer nachzuvollziehen, da Nominalgruppen mit Possessivpronomina in der Regel keinen Artikel tragen. [Anm. d. Übs./Komm.]
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teristisch, die aus gleichen einfachen Sätzen aufgebaut sind, sowie auch die Sätze, die in sich je ein Prädikat und mehrere Subjekte enthalten. In den ersten zwei Strophen gibt es keine Parataxe; nur *Hypotaxe (in der zweiten Strophe) oder eine Einfügung von eingeschobenen Sätzen, Apostrophen und Interjektionen. Mit anderen Worten: Die Anfangsstrophen unterscheiden sich von den Schlußstrophen durch den hierarchischen Charakter ihrer syntaktischen Struktur, d. h. durch den Gegensatz über- und untergeordneter syntaktischer Einheiten. In dieser Hinsicht nimmt die dritte Strophe eine Mittelstellung ein, indem sie sowohl eine koordinative Verknüpfung, einen eingeschobenen Satz – III2 az vidjach [›ich sah‹] –, als auch eine Apostrophe – III3 Ba˘lgarijo [›Bulgarien‹] – enthält. Die letzte Strophe im Werk, eine Strophe, die zwar von der Struktur her eng mit der vorletzten verbunden ist, zeigt gleichzeitig einige nur für sie charakteristische grammatische Besonderheiten. Wenn sich die erste Strophe von den übrigen durch die geringste Anzahl an Substantiven (fünf) und das vollständige Fehlen wichtiger präpositionsloser Formen unterscheidet, enthält die abschließende Strophe dagegen die höchste Zahl an Substantiven (elf; bei sechs bis acht Substantiven in den dazwischen liegenden Strophen), und jedes in ihr vorkommende Verb besitzt ein *direktes Objekt – V1 pee 〈…〉 pesen, 2 gonjat 〈…〉 tra˘ni, 4 navjavat 〈…〉 skra˘b [V1 ›singt Lied, 2 jagen Dornen, 4 wehen Trauer‹], während im restlichen Text direkte Objekte fehlen. Somit sind alle Prädikate der letzten Strophe *transitive Verben, Verben, die Andrejcˇin zu recht als ›objektivni‹ bezeichnet mit der Erklärung, daß bei ihnen »das Gewicht der Bedeutung auf den Gegenstand fällt, der von der Handlung berührt wird«.57 Umgekehrt sind alle Verben, die ein Gefühl ausdrücken und die in der vierten Strophe in der dritten Person stehen, aber in den ersten beiden Strophen in der zweiten, *intransitiv. Dies sind auch jene Verben der dritten Person, die einen Zustand bezeichnen (in der dritten Strophe). Transitiv sind nur die ›Verba sciendi‹ der eingeschobenen Sätze (Formen in der ersten Person), doch auch sie sind ohne Objekt. Der Weg von der lyrischen Versinnbildlichung, die in den Apostrophen und Fragen der ersten Strophe einen Ausdruck findet, zu dem Bericht darüber, wie die Erhängung Vasil Levskis im bulgarischen Volk widerhallte, dringt ins Bewußtsein des Lesers durch den Übergang von der Ebene der *Tropen und *Figuren hin zu einer eigentlichen und 57 Andrejcˇina˘, Osnovna ba˘lgarska gramatika, S. 153. [Anm. v. R.J.] – Zu dieser Grammatik s. o. S. 406, Anm. 37. [Anm. d. Übs./Komm.]
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faktischen Redeweise. Eine der wirkungsvollsten Paradoxien in dieser an künstlerischen Überraschungen reichen Dichtung Botevs besteht in der Weise, mit der das syntaktische Schema des Satzes in der letzten Strophe semantisch gefüllt wird.58 ›Die Person, die die Handlung ausführt‹, ist hier weder eine Person, noch ein Gegenstand. Als Subjekte erscheinen hier Naturgewalten oder menschliche Äußerungen: V1 Zimata, 2 vichrove, 3 i stud, i mraz, i plac ˇ [V1 ›der Winter, 2 Stürme, 3 und Kälte, und Frost, und Weinen‹]. Die mit ihnen verbundenen Verben erhalten wieder eine bildhafte, übertragene Bedeutung – das sind lexikalisierte Tropen. Die Verben V1 pee [›singt‹] und V2 gonjat [›jagen‹], wie wir gezeigt haben, führen zu einer personifizierten Wahrnehmung ihrer Subjekte – V1 zimata [›der Winter‹] und V2 vichrove [›Stürme‹]. Die Darstellung stürmischer Winde als ›zla pesen‹ [›böses Lied‹] ist *metaphorisch, gleichzeitig ist das Subjekt zimata [›der Winter‹] *metonymisch. Der Ersetzung zugrunde liegt die ›Nachbarschaft‹ zwischen zima [›Winter‹] und ›vjata˘r‹ [›Wind‹] (bzw. vichrove [›Stürme‹]). Die semantische Nachbarschaft wird durch den gleichen Ort und die gleiche syntaktische Funktion beider Wörter – zimata und vichrove – in den beiden benachbarten Versen unterstützt, die zwei benachbarte koordinierte Sätze sind. Weiter fällt auf, daß das folgende Prädikat navjavat [›wehen‹], das semantisch zum vorherigen Subjekt vichrove [›Stürme‹] paßt, syntaktisch von ihm getrennt ist und metonymisch mit einzelnen Subjekten verbunden ist – V3 stud, 3 mraz, 3 placˇ [V3 ›Kälte, 3 Frost, 3 Weinen‹].59 Zudem wird eine lexikalisierte Metapher verwendet: die Bedeutung des Verbs ›navjavat‹ [›wehen‹] wird aus der physischen Welt in den Bereich der Psyche übertragen, und das Objekt ›navjavaneto‹ [›das zu Wehende‹] wird ein abstraktes Wort: V4 skra˘b [›Trauer‹]. Die künstlerische Stärke der beiden Schlußstrophen im letzten Gedicht Botevs wurde manches Mal hervorgehoben. »Unmöglich, diese erschrekkenden Strophen zu lesen, ohne zu erschaudern«, bekennt Dinekov.60 Von eben diesen acht Versen ist auch Gencˇo Keremidcˇiev begeistert: »Bei welchem anderen bulgarischen Dichter können wir eine ähnliche Wucht, Kraft und Lebendigkeit des Gefühls beobachten«? 61 Nach den Worten Bojan Penevs »hätte Botev kaum 〈…〉 durch ein anderes Bild das Weinen der Waisen und Hoffnungslosen wie den Schrecken vor dem Todeskampf 58 Die letzte Strophe wechselt wieder auf die Ebene der Tropen und Figuren. [Anm. d. Übs./Komm.] 59 In R ist das letzte Subjekt ›placˇ‹ fortgelassen. [Anm. d. Übs./Komm.] 60 Dinekov, »Silata i krasotata na Botevata poezija«, S. 18. 61 Keremidcˇieva˘, »Gradacii i antitezi u Botjova«, S. 56.
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ausdrücken können. Das Schluchzen verklingt im Wind, der sich über die gefrorene Wüste ausbreitet – nur sie bleibt allein mit diesen wilden, gepeitschten Dornen«.62 Das Weinen der als Mutter versinnbildlichten Heimat entfaltet sich im vielgestaltigen Bild der weinenden Frauen, in deren Weinen sich metonymisch und metaphorisch mannigfaltige Stimmen von Menschen und Tieren einreihen. Als Hintergrund des Übergangs von einem Motiv zum anderen dient eine Reihe von Anspielungen auf bekannte und deswegen nicht zu erläuternde *Paronomasien: ›va˘lci vijat, vjata˘r vee i vie, ot vicha˘ra se vijat tra˘ni po poleto‹ [›die Wölfe heulen, der Wind weht und wirbelt, vom Wind wirbeln die Dornen auf dem Feld‹].63 Aber in diesen Versen mit ihrer bunten Reihung substantivischer Subjekte – V1 garvana˘t [›der Rabe‹], 2 pseta [›Hunde‹], 2 va˘lci [›Wölfe‹], 3 starci [›Greise‹], 4 zˇenite [›die Frauen‹], 4 decata [›die Kinder‹], V1 zimata [›der Winter‹], 2 vichrove [›Stürme‹], 3 stud [›Kälte‹], 3 mraz [›Frost‹], 3 placˇ [›Weinen‹] –, in dieser, nach einem Kritiker, »vaterländischen Allgemeinheit«,64 gibt es keine Helden, und bei der ganzen Fülle von Verben, ist kein Platz für wirkliche menschliche Handlungen. Mit den Worten des Dichters gesprochen: II4 glas bez pomosˇt, 4 va˘v pustinja [II4 ›Stimme ohne Hilfe‹, 4 ›in (einer) Wüste‹] ist das einzige Thema, das sich in diesen Strophen entfaltet. Helden, bis auf den Helden im Titel,65 gibt es im gesamten Gedicht nicht, und es wird nur schlicht gesagt, jener sei: III3 tvoj edin sin, Ba˘lgarijo [›dein einziger Sohn, Bulgarien‹]. In der ersten Fassung des Werks, betitelt »Djakon Vasil Levski«, war das Wort »edin« kursiv gesetzt.66 Die Verse sprechen nur einmal direkt über ihn: im letzten Vers der ersten Hälfte des 62 Penev, »Christo Botev«, S. 104. [Anm. v. R.J.] – Bojan Penev (1882–1927) ist der bedeutendste bulgarische Literaturhistoriker vor dem zweiten Weltkrieg. – Hiermit schließt die Behandlung der Schlußstrophen, und Jakobson wendet sich dem Motiv des Helden zu. [Anm. d. Übs./Komm.] 63 Satz fehlt in R. [Anm. d. Übs./Komm.] 64 Chadzˇov, Stichotvorenijata na Boteva, S. 250. Dieses nicht belegte Zitat ist das Fazit von Chadzˇovs Analyse, worin er von einer »otecˇestvena vceobsˇtnost« spricht. [Anm. d. Übs./Komm.] 65 Im Anschluß an die Analyse, fast zwanzig Jahre später, wendet sich Jakobson diesem Phänomen nochmals zu und deckt auf, wie der Name des Helden, der im Gedicht selbst ungenannt bleibt, die letzte Zeile der zentralen dritten Strophe generiert: mittels der anagrammatischen Wiederholung der Buchstaben aus dem Namen des beklagten Toten, s. den Anhang S. 425 f. Zu Jakobsons Anagramm-Begriff s. Erika Grebers Einleitung zu »Siluans Lobpreis auf den Hl. Sava«, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 473 f. [Anm. d. Übs./Komm.] 66 Chadzˇov, Stichotvorenijata na Boteva, S. 225.
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Kunstwerks – III2 Sta˘rcˇi, az vidjach, ˇcerno besilo [›Ragt, ich sah, ein schwarzer Galgen‹]. Der Anfang der zweiten Hälfte antwortet mit dem Ende desselben komplexen Satzes: III3–4 i tvoj edin sin, Ba˘lgarijo, visi na nego sa˘s strasˇna sila [›Und dein einziger Sohn, Bulgarien, hängt daran mit grauenvoller Kraft‹]. Die ungewöhnliche, seltsam anmutende Verbindung eines Verbs, das einen äußeren Zustand bezeichnet – III4 visi [›hängt‹] –, mit einer derart aktiven Adverbialbestimmung wie 4 sa˘s strasˇna sila [›mit grauenvoller Kraft‹] besitzt ihren hohen künstlerischen Sinn, da das Subjekt des Satzes das einzige wirkliche Agens ist. Diese Adverbialbestimmung sticht besonders deutlich heraus vor dem Hintergrund der viel gewöhnlicheren Bestimmung im Vers über den gefallenen Chadzˇi Dimita˘r: junak v mladost i v sila ma˘zˇka [›ein Held voll Jugend und männlicher Stärke‹].67 In der ersten Fassung des Werks verschwand die Kraft des Helden mit seiner Hinrichtung: VI1–2 〈…〉 Junasˇka sila Tvojte tirane skricha va˘ zemjata! [›Heldenkraft die deine Peiniger unter der Erde versteckten!‹] 68 Und die Worte sa˘s strasˇna sila, auch wenn sie neben dem Bild des gehängten Helden stehen, bezogen sich mittels der Zeichensetzung nicht auf ihn, sondern auf die schreckliche Umgebung: visi na nego 〈…〉 Sa˘s strasˇna sila zimata pee svojta zla pesen [›hängt daran 〈…〉 Mit grauenvoller Kraft singt der Winter sein böses Lied‹]. In der letzten Redaktion dagegen ist diese ›Kraft‹ aufgrund jener kühnen, seltsam anmutenden grammatischen Verbindung in ein unersetzliches Attribut des getöteten Helden gewendet: ›strasˇna-ta sila‹ [›die grauenvolle Kraft‹] ist nun »eines der Attribute des Apostels«,69 wie Chadzˇov richtig gezeigt hat. Der kraftvollen und aktiven Adverbialbestimmung sa˘s strasˇna sila [›mit grauenvoller Kraft‹] am Schluß der zentralen Strophe stellen die beiden schließenden Zweizeiler der ersten beiden und der letzten beiden Strophen sichtbar passive Attribute entgegen, die, eingeführt von der antonymischen Präposition bez [›ohne‹],70 die allgemeine Schwäche beklagen, vor deren Hintergrund der Sofioter Galgen emporragt: II4 glas bez pomosˇt [›Stimme ohne Hilfe‹] und dementsprechend V3 placˇ bez nadezˇda [›Weinen ohne Hoffnung‹]. Nicht zufällig hat die letzte Konstruktion die 67 S. Botev, Sa˘brani sa˘ˇcinenija, Bd. 1, S. 66, I3. – An dieser Stelle sei auf die wichtige Studie von Radosvet Kolarov hingewiesen. Kolarov, aufbauend auf Jakobsons Analyse der Syntax, der Morpheme und des Lautbestands, wendet sich ganz dem ›semantischen System‹ von »Obesvaneto« zu, das als eine »Transformation des semantischen Systems von ›Chadzˇi Dimita˘r‹« zu verstehen sei, s. Kolarov, »›Obesvaneto na Vasil Levski‹ i poetikata na Botev«, S. 61. [Anm. d. Übs./Komm.] 68 Botev, Sa˘brani sa˘ˇcinenija, Bd. 1, S. 574. [Anm. d. Übs./Komm.] 69 Chadzˇov, Stichotvorenijata na Boteva, S. 241. 70 Im Gegensatz zu sa˘s [›mit‹]. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Wendung der ersten Fassung placˇ beznadezˇden [›Weinen hoffnungslos‹] ersetzt, und dies obwohl die Ersetzung den vorher bestehenden rudimentären *Reim beseitigt: pesen – beznadezˇden.71 Durchgängig ist die Verteilung der präpositionalen Konstruktionen in »Obesvaneto na Vasil Levski« streng symmetrisch. So tritt die direkte Verbindung der Präposition na [hier: ›auf /an /in‹] mit einem Pronomen der Reihe nach dreimal im Schlußvers der ersten, dritten und letzten Strophe auf – interrogativ I4 na ˇcij grob 〈…〉 gracˇesˇ? [›auf wessen Grab 〈…〉 krächzt du?‹], *anaphorisch III4 visi na nego [›hängt an ihm‹] und unbestimmt-persönlich V4 navjavat na teb [›weht dir‹]. Und einzig in diesen Fällen erscheinen ein Fragepronomen, ein Pronomen der dritten Person und eine *oblique Form eines Personalpronomens. Diese Verbindungen mit na fragen danach und antworten darauf, wer wie getötet wurde, und zuletzt wenden sie das anfängliche – II1 ti placˇesˇ, majko [›du weinst, Mutter‹] – in die abschließenden Wörter V4 navjavat na teb skra˘b na sa˘rceto [›wehen dir Trauer ins Herz‹], die sich an jeden Empfänger der Botschaft richten, »an jeden einzelnen Interpreten des Gedichts«.72 Der Schluß der ersten zwei Strophen eröffnet eine dritte triadische Serie präpositionaler Verbindungen durch das Bild des Evangeliums II4 glas va˘v pustinja [›Stimme in (einer) Wüste‹].73 Danach substituiert jede der beiden letzten Strophen pustinja durch eine im gegebenen Kontext völlig synonyme Konstruktion: IV2 v poljata [›in den Feldern‹] und V2 v poleto [›im Feld‹]. Der Dichter wählt kunstvoll aus und verteilt gesetzmäßig ähnliche und gegensätzliche morphologische Kategorien und syntaktische Schemata, und vor dem Hintergrund zahlreicher *Paradigmen ein und derselben Klasse treten einzelne Formen sonst nicht verwendeter Kategorien hervor. Solche sind z. B. in der dritten Strophe die für das ganze Werk einzige Imperativform III1 Placˇi! [›Weine!‹] oder auch der einzige Fall eines Personalpronomens in der ersten Person, das zudem mit der einzigen *Aorist-Form 74 verbunden ist: III2 az vidjach [›ich sah‹]. 71 In der behandelten Fassung besteht nur noch eine *Assonanz: pesen – nadezˇda. – Hiermit schließen die Ausführungen zum ›Helden‹. [Anm. d. Übs./Komm.] 72 Chadzˇov, Stichotvorenijata na Boteva, S. 244. [Anm. d. Übs./Komm.] 73 Joh 1,23. – An dieser Stelle sei auch auf die Golgatha-Analogie hingewiesen, vgl. dazu Radevs Kommentar zu »Obesvaneto na Vasil Levski«, in: Botev, Poezija. Publicistika, S. 140–142. [Anm. d. Übs./Komm.] 74 Bulg. ›minalo sva˘rsˇeno vreme‹, wörtl. ›abgeschlossene Vergangenheit‹: Im Bulgarischen werden vier Vergangenheitstempora unterschieden: Aorist, Imperfekt, Perfekt und Plusquamperfekt. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Ein wesentliches Stimulans zur Konzentration der Aufmerksamkeit auf die grammatische Struktur sind die traditionellen Formen des Parallelismus, z. B. die Symmetrie der beiden Fragesätze in den zwei Verspaaren der Anfangsstrophe und damit verbunden die Dopplung von Vokativformen sowohl im ersten, als auch im dritten Vers. Ein weiterer, nicht nur einmal bemerkter Zug in Botevs Œuvre 75 sind die wörtlichen Wiederholungen oder variierenden Wiederholungen, die die verschiedenen Teile des Gedichts miteinander verbinden. Um aber diese grammatische Symbolik leicht erkennbar und künstlerisch wirkungsvoll zu gestalten,76 sind strenge Auswahl und Reduktion des Bestands der zahlreichen grammatischen Kategorien, die in das jeweilige Werk eingehen, unabdingbar. So fehlen beispielsweise gänzlich Verben im vollendeten Aspekt und Verbformen im Narrativ 77 in Botevs letztem Gedicht, und wenn man die oben erwähnten einzelnen Abweichungen in der dritten Strophe nicht mitrechnet, stehen alle Verbformen im Indikativ Präsens. In diesem Zusammenhang ist die Tatsache lehrreich, daß Botev in seinem Werk die letzte, sechste Strophe der ersten Fassung fortgelassen hat: Sie führte in das Gedicht die Komposition des Ganzen zerstörende Aorist-Formen der dritten Person Singular wie Plural ein – a˘mrja, skricha [›starb‹, ›versteckte‹] (und in Botevs Notizheft 78 zudem – mla˘kna [›verstummte‹], kresna [›schrie‹], svalicha [›stürzte‹], und sogar das Perfekt bila [›war‹]). Zudem mißachtete die sechste Strophe die Konturen der Intonation in der dichterischen Rede, indem sie aufeinanderfolgende Ausrufesätze einführte. Andererseits kehrte diese Schlußstrophe zum dialogischen Genre der Anfangsstrophen, zu ihrem grammatischen Aufbau wie ihrer lexikalischen Zusammensetzung zurück: O, majko moja, rodino mila, Placˇi za nego, ka˘lni sa˘dbata! [›O, Mutter meine, Heimat geliebte, Weine um ihn, flehe das Schicksal an!‹] 79 Dieser Rondeau-artige Stil mit abschließender Rückkehr der anfänglichen Vokative, einem Refrain gleich, zerstörte die Ent75 Vgl. Vasilev, »Botevite stilno-ezikove pochvati«, S. 29–32, bes. S. 31. 76 Dieser ›Gestaltungsprozeß‹ gleicht einer Umformung, die schließlich zur Vollendung führt, weshalb Jakobson mehrmals auf die frühe Fassung zurückgreift, wo Auswahl und Reduktion weniger streng bzw. zielbewußt gehandhabt würden. In B steht für ›gestalten‹ »napravi« (S. 12), in R »obratit’« (SW III, S. 530), was beides nicht nur machen, sondern auch umformen meinen kann. [Anm. d. Übs./Komm.] 77 Dieses Beispiel fehlt in R. In B (S. 12): »preizkazvani glagolni formi«. Bereits zu Beginn des Aufsatzes hat Jakobson eine Stelle über den Narrativ für die russische Fassung nicht übernommen. Vgl. o. S. 406, Anm. 37. [Anm. d. Übs./Komm.] 78 Vgl. dazu Chadzˇov, Stichotvorenijata na Boteva, S. 232. [Anm. d. Übs./Komm.] 79 Botev, Sa˘brani Sucˇinenija, Bd. 1, S. 574. [Anm. d. Übs./Komm.]
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wicklung des lyrischen Themas, und anstelle der Poesie von Anspielungen, die das ganze Gedicht auszeichnet, trat hier eine in die Augen stechende maßlose publizistische Sentimentalität, die den Höhepunkten Botevs zutiefst fremd ist. Die Kürzung und die bewußte Überarbeitung von Botevs Gedicht, zuerst betitelt »Djakon Vasil Levski«, mit dem Ziel, den erstaunlich vollendeten Text zu erreichen, der im Kalender von 1876 abgedruckt ist, zeugen wortmächtig von der reifen Meisterschaft des Dichters und Künstlers.80 Diese Umarbeitung ist auch aufschlußreich für die lautliche, oder genauer ›lautbildliche‹, Organisation des Gedichts, weshalb L. Andrejcˇin recht hat, wenn er dafür hält, daß die künstlerische Analyse der lautlichen Seite in Botevs Versen von der Bedeutung nicht absehen könne.81 So lautete z. B. der zweite Vers in der ersten Redaktion: Zasˇto ta˘j gorko, ta˘j skra˘bno placˇesˇ? [›Warum so bitter, so traurig weinst (du)?‹] Im endgültigen Text heißt es dagegen: I2 zasˇto ta˘j zˇalno, ta˘j milno placˇesˇ? [›Warum so traurig, so kummervoll weinst (du)?‹] Das Lautthema des Raben – das Botev, wie Iv. Burin gezeigt hat,82 dem Volkslied Garvan i ranen junak [›(Ein) Rabe und (ein) verwundeter Held‹] entnimmt, wo Garvan gracˇi vo gora zelena [›(ein) Rabe krächzt im grünen Wald‹] – setzt sich zusammen aus der wiederholten Kombination eines *velaren *Verschlußlauts, stimmhaft oder stimmlos, mit der *Liquida /r/ und gewöhnlich mit dem Vokal /a/ oder /o/: I3–4 garvane, i ti, ptico prokleta, na ˇcij grob tam ta˘j grozno gracˇesˇ? und entsprechend – IV1 garvane gracˇi grozno. Dasselbe 80 Vgl. auch Jakobsons Yeats-Analyse in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 570– 630, in der es ebenfalls um die Vollendung eines Gedichtes durch Überarbeitung geht – dort allerdings mit großem zeitlichen Abstand. [Anm. d. Übs./Komm.] 81 Andrejcˇin, »Ezik i stil na Christo Botev«, S. 572. [Anm. v. R.J.] – Gegen die Formalisten gesprochen, gleich in deutscher Übersetzung, heißt es ebd.: »Die reine lautliche Seite der Wörter spielt lange nicht eine solche isolierte expressive Rolle und bedingt lange nicht zu solch einem Grade den künstlerischen Wert der poetischen Werke, wie die Formalisten glauben.« Vgl. auch Jakobsons Abgrenzung gegenüber einem ›phonetischen Isolationismus‹ in »Linguistics und Poetics«, S. 38, hier in der deutschen Übersetzung der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 186: »Alle Versuche, solche dichterischen Konventionen wie Metrik, Alliteration oder Reim auf die klangliche Ebene zu beschränken, sind spekulative Erörterungen ohne jede empirische Rechtfertigung. Die Abbildung des Gleichungs-Prinzips (equational principle) auf die Sequenz hat eine viel tiefere und weitreichende Signifikanz. Vale´rys Sichtweise von der Dichtung als einem ›Zögern zwischen Klang und Sinn‹ ist viel realistischer und wissenschaftlicher als jedes Vorurteil zugunsten eines phonetischen Isolationismus.« Vgl. weiter SW III, S. 43–45, bzw. in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 193–197. [Anm. d. Übs./Komm.] 82 Burin, Botev i narodnija poeticˇen genij, S. 137.
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Lautthema erscheint, wenn sich in der dritten Strophe der schwarze Galgen erhebt III1 kraj grad Sofija (ursprünglich do grad ). In der zweiten Redaktion ist das Motiv des Krächzens klar getrennt von dem mütterlichen Weinen der Heimat, das charakterisiert wird durch wiederholte *Nasale und die Liquida /l/: I1–2 O, majko moja, rodino mila, zasˇto ta˘j zˇalno, ta˘j milno placˇesˇ?, wogegen die erste Redaktion dem zweiten Vers noch willkürlich das Motiv des Raben vorschrieb: Zasˇto ta˘j gorko, ta˘j skra˘bno placˇesˇ? Interessant ist, daß die erste Skizze des Werks durch eine *Alliteration die Mörder Levskis mit dem Krächzen des Raben zusammenführte: »›Dolu gjaura˘t‹ – kresna pasˇata« [›»Runter mit dem Gjaur« – schrie der Pascha‹], und am Ende dieser ursprünglichen Strophe stand: »tvojat sin, majko, svalicha v groba˘t, skricha v zemjata« [›Dein Sohn, Mutter, stürzte ins Grab, versteckte (sich) in der Erde‹]. Die geraden Verse der ersten Strophe führen durch den Reim die Verben pla´ˇcesˇ [›weinst‹] und gra´ˇcesˇ [›krächzt‹] in zwei parallelen Fragesätzen zusammen. Der letzte dieser zwei Verse wird vom Reim und vom Verb gracˇesˇ selbst verstärkt durch eine anschauliche lautliche Variation, die den gesamten Vers durchdringt: I4 na ˇc´ıj grob ta´m ta˘j gro´zno gra´ˇcesˇ.83 Die Verbindungen der *Affrikate /cˇ/ mit vorderen Vokalen – /cˇi/ im ersten Halbvers und mit nachtonigen /cˇe/ (was /cˇi/ sehr nahe kommt) im zweiten werden von den folgenden zwei Strophen übernommen: in jeder von diesen wiederholt der zweite Vers diese Verbindung auch in beiden Halbversen, und die zwei benachbarten, ungeraden Versreihen (II1,3) oder eine von ihnen (III1) enthalten je die gleiche Affrikate, die sich mit dem Vokal /e/ oder /i/ verbindet. Die vom Autor gestellten Fragen – an wessen Grab der Rabe krächze und worüber die nicht zu tröstende Mutter weine – erhalten seitens des Autors selbst eine Antwort nach traditionell rhetorischem Verfahren. Das wiederkehrende *Epitheton ˇceren [›schwarz‹], in der Apostrophe an den Raben fortgelassen, wird vom Dichter in die beiden Antworten verlegt, indem es zunächst mit seiner übertragenen Bedeutung ›die Mutter‹ als II2 ˇcerna robinja [›schwarze Sklavin‹] bestimmt und anschließend ›den schwarzen Galgen‹ (III2 ˇcernoto besilo) sowohl im wörtlichen, als auch im übertragenen Sinn charakterisiert. Die Antwort auf die Frage nach dem Leid der Mutter vollzieht sich in der vierfachen Wiederholung von /cˇe/: II1–3 ti placˇesˇ majko, zatuj, cˇe ti si cˇerna robinja, Zatuj, cˇe tvojat 〈…〉 [›du weinst Mutter darüber, daß 83 In R (SW III, S. 531) dahinter: »Ich unterstreiche: nacˇ´ıjgro〈…〉 jgro´〈…〉 nogra´ˇce.« [Anm. d. Übs./Komm.]
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du eine schwarze Sklavin bist, darüber, daß dein 〈…〉‹]. Und die Antwort auf die an den Raben gerichtete Frage begleitet ihrerseits das Epitheton ˇcerno mit lautähnlichen Lautverbindungen – ˇc´ı: III1 placˇi – rcˇ´ı: III2 sturcˇi – ˇc´er: cˇerno. Der letzte Vers der Frage an den Raben und der erste Vers der Antwort auf diese Frage sind bewußt lautähnlich: I4 na ˇcij grob tam ta˘j grozno gracˇesˇ (.acˇij gro. tam ..j groz.o gra…) – III1 Placˇi, tam blizo kraj grad Sofija (..acˇi tam …zo kraj gra……). Das zentrale Bild von »Obesvaneto« ist III2 ˇc´ernoto besı´lo [›der schwarze Galgen‹]. Und wenn die erste akzentuierte Silbe dieser Wortverbindung ˇc´er- die Anfangskette lyrischer Motive beschließt, so führt umgekehrt die zweite betonte Silbe -sı´- in das eröffnende Verspaar der zweiten Gedichthälfte hinein und vereint es. Dies sind die *Phoneme /s/ und /i/ mit den sich ihnen anschließenden *Sonoranten /l/ und /n/: III2 〈…〉 besilo, 3 i tvoj edin sin 〈…〉 4 visi na nego sa˘s strasˇna sila. Die eindringliche Alliteration der *Zischlaute sofija – starci – sa˘s strasˇna sila festigt diesen Zusammenhalt. Die der Lage nach mittlere Strophe mit dem Helden, ein Märtyrer am Galgen, ist auch im Hinblick auf ihre Funktion in der Komposition des Gedichts zentral, das klar sowohl hinsichtlich ihrer formal-grammatischen, als auch semantischen Zusammensetzung die zwei Anfangsstrophen, die zwei Schlußstrophen und schließlich die dazwischen liegende dritte Strophe voneinander unterscheidet. Charakteristisch ist die besondere Stellung dieser dritten Strophe in bezug auf die Auswahl der stark betonten Vokale. Sie unterscheidet sich von allen anderen Strophen dadurch, daß in ihr die *diffusen, d. h. geschlosseneren betonten Vokale (i, a˘, u) die *kompakten, d. h. offeneren Vokale überwiegen (e, a, o): 84 diffus kompakt
I 6 10
II 5 11
III 10 5
IV 3 13
V 5 11
Andererseits entfallen auf die dritte Strophe ein Maximum an hellen (d. h. vorderen), stark betonten Vokalen und ein Minimum an dunklen (d. h. hinteren), und auf die benachbarten, d. h. geraden Strophen des Gedichts, entfallen umgekehrt ein Minimum an hellen und ein Maximum an dunklen Vokalen unter starker Betonung. 84 Zur Charakterisierung des Sonoritäts-Merkmals ›kompakt‹ vs. ›diffus‹ als einem von zwölf distinktiven Phonemmerkmalen vgl. in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, den Kommentar von Donat zur Analyse von »Ty chocˇesˇ’ znat’«, S. 705, Anm. 45. [Anm. d. Übs./Komm.]
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hell dunkel
I 7 9
II 5 11
III 12 3
IV 5 11
V 9 7
Speziell in der vorletzten Silbe aller acht Halbverse der dritten Strophe erscheinen nur helle Vokale: 7 /i/ und 1 /e/. Unter den ungerundeten (*erhöhten 85) Vokalen überwiegen die dunklen in den zwei geraden Strophen, die hellen Vokale dagegen sind häufiger in allen ungeraden Strophen, besonders aber in der dritten: hell dunkel
I 7 6
II 5 7
III 12 2
IV 5 8
V 9 4
Die Lautsymbolik der hellen diffusen Vokale, die in der dritten Strophe überwiegen, tritt besonders klar vor dem Hintergrund der beiden Nachbarstrophen hervor mit ihren dominierenden dunklen kompakten Vokalen. Die synästhetische Verknüpfung 86 der Vokale, die die Mittelstrophe dominieren, mit den Vorstellungen von Klarheit, Schärfe, Härte, Höhe und Enge macht diese Vokale zu einem angemessenen Begleiter des Sinns und der Bedeutung in den Versen über den Helden,87 der sich über das gesamte unterdrückte Land am Sofioter Galgen erhebt. Der Pol der Helle, der Vokal /i/, der in symmetrischer Folgerichtigkeit beispielsweise im ersten Verspaar der dritten Strophe erscheint: III1 Placˇ´i, tam bli´zo kraj grad Sofi´ja 2 Sta˘rcˇ´i, az vi´djach, ˇc´erno besi´lo, kontrastiert scharf mit dem Pol der Kompaktheit, dem Vokal /a/, der uneingeschränkt im ersten Vers der Übergangsstrophe regiert: II2 Och, zna´ja´, zna´ja´ ti pla´ˇcesˇ, ma´jko. Die Verteilung der distinktiven Merkmale,88 die die Phoneme und Phonemverbindungen von Botevs Versen charakterisieren, äußert sich in solch einem hohen Grade nach einer gesetzmäßigen Organisation, daß der Gedanke an Zufall kaum wahrscheinlich ist. 85 Die Verwendung des Begriffs erhöht (diezni) ist hier nicht ganz klar. Ungerundete Laute sind *nicht-erniedrigt. Das ist jedoch nicht das gleiche wie erhöht, es handelt sich vielmehr um zwei getrennte Merkmale (erniedrigt /nicht-erniedrigt und erhöht /nicht-erhöht). [Anm. v. I.M.] 86 Vgl. das Kapitel »Synesthesia« in Jakobson /Waugh, The Sound Shape of Language, S. 191–198, sowie die deutsche Übersetzung Die Lautgestalt der Sprache, S. 207– 214. [Anm. d. Übs./Komm.] 87 Im Original ›bogatir‹, das den Helden der altrussischen Epen meint. [Anm. d. Übs./Komm.] 88 Vgl. Jakobson, »Zur Notwendigkeit einer sachlichen und terminologischen Unterscheidung«. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Gerade die innovatorischen Bestrebungen Botevs, die ihren höchsten Ausdruck in seinem letzten Gedicht fanden, waren Grund für die Verlegenheit und sogar für abschätzige Urteile, die über ihn von Zeitgenossen geäußert wurden, die dem literarischen Konservatismus anhingen. Deshalb zum Beispiel wurde »Obesvaneto« von Zachari Stojanov, Ivan Vasov und Pencˇo Slavejkov verurteilt.89 Die Sorglosigkeit des Übersetzers gegenüber der lautlichen, grammatischen und lexikalischen Struktur der Verse, die durch einen großen Dichter und Experimentator geschaffen wurden, welcher Christo Botev ist, droht sein künstlerisches Meisterwerk schlichtweg in »ein schlechtes Gedicht« zu verdrehen, wie die strenge, aber überzeugende Kritik von R. Makreeva 90 und das nicht weniger überzeugende, von ihr angeführte Beispiel zeigen, das die gesamte poetische Intention des bulgarischen Originals vernichtet: Tak placˇ’ zˇe, placˇ’! … Na kraju Sofii v petle kacˇaetsja syn tvoj milyj. Ego kaznili tirany zlye. I, me¨rtvyj, polon on strasˇnoj sily… 91 89 Der Dichter, Kritiker und Übersetzer Pencˇo Slavejkov (1866–1912) äußerte in der einflußreichen Literaturzeitschrift Misa˘l (gleich in deutscher Übersetzung): »Falls wir annehmen, dieses dumme Lied sei tatsächlich von Botev, könnte es uns als gutes Beispiel dienen, wie seine ersten Entwürfe waren, die er dann sorgfältig durchgesehen und korrigiert hat.« Slavejkov merkt über den ersten Herausgeber des Gedichts Zachari Stojanov an: »Daß Z[acharij] Stojanov dieses Lied Botev zuschreibt, beweist noch gar nichts.« Slavejkova˘, »›Zˇiva˘ e toj, zˇiva˘ e …‹«, S. 295. – Barbara Beyer, in einer Untersuchung zu Botevs Gedicht »Do moeto pa˘rvo libe« [›Meiner ersten Liebe‹] (erschienen 1871), spricht von einer besonderen Grenzstellung der Botevschen Lyrik in der bulgarischen Literaturentwicklung: Sie enthalte bereits ein »Aussagepotential, durch welches sich die bevorstehende Ablösung des für die Epoche der Nationalen Wiedergeburt relevanten Literaturmodells ankündigt«. Texte, in denen sich dieses besonders manifestierte, wie z. B. auch »Obesvaneto na Vasil Levski«, hätten nur zögerlich eine Popularisierung als Lieder erfahren, vgl. Beyer, »›Do moeto pa˘rvo libe…‹ Gedanken zur Poetik Christo Botevs«, S. 319. [Anm. d. Übs./Komm.] 90 Makreeva, »Ruskijat prevod na Botevite stichotvorenija«, S. 371. [Anm. v. R.J.] – Die Übersetzungen der Gedichte Botevs finden sich in einer Anthologie zur bulgarischen Dichtung (»Antologija bolgarskoj poe˙zii«), die 1956 erschien. Die Übertragungen der Botevschen Gedichte stammen von sechs verschiedenen Übersetzern. Die Übersetzung von »Obesvaneto« gehöre darin zu den zwei schlechtesten. Den Übersetzer nennt Makreeva nicht beim Namen. [Anm. d. Übs./Komm.] 91 Abgedruckt a. a. O., S. 372. Hervorhebung von R. J. – Die Passage zur Übersetzung fehlt in R. – Eine sehr ähnliche Argumentation zu Tuwims Pusˇkin-Übersetzung findet sich am Ende des zweiten Abschnitts von »Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie«, s. in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 280 [Anm. d. Übs./Komm.]
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›So weine doch, weine! … Am Ende von Sofija am Strick hängt dein geliebter Sohn. Ihn haben hingerichtet böse Tyrannen. Und, der Tote, er ist voll von grausamer Kraft.‹
Auf welcher Ebene wir auch Botevs poetische Symbolik untersuchen mögen – grammatischer, lexikalischer oder phonologischer –, überall entdeckt man, daß der natürliche und charakteristische Eindruck von Schlichtheit und Kraft des Gefühls, den der feinsinnige Leser von den Botevschen Versen erhält, um den Preis einer komplizierten und raffinierten Meisterschaft erreicht wird, die dem Erforscher der Botevschen Poetik eine besonders aufmerksame und allseitige Strukturanalyse abverlangt.92
92 Mit diesem Fazit ordnet Jakobson das Gedicht, ja die Poetik Botevs der rhetorischen Tradition zu, die den Autor lehrt, den Effekt der Natürlichkeit und Authentizität (natura) durch Kunst (ars) zu erlangen. Innerhalb des Aufsatzes kehrt Jakobson zu jenem Satz aus der »Poesie der Grammatik« zurück, der gegen Beginn der Botev-Analyse steht, vgl. o. S. 400. Damit habe er, könnte man zusammenfassen, die Struktur des Eindrucks, den der ›feinsinnige Leser‹ erhalte, aufgelöst. [Anm. d. Übs./Komm.]
Die Struktur von Botevs letztem Gedicht
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Anhang Die Überschrift von Botevs letztem Gedicht 93 In seiner glanzvollen Studie »Va˘zrozˇdenski pisateli« [›Schriftsteller der Wiedergeburt‹] 94 stellt Peta˘r Dinekov das Hauptmotiv in den Abschiedsstanzen 95 des Dichters klar heraus: als Ersatz für die fehlende Biographie des Helden tragen die Verse die tiefe Trauer des gesamten Volkes, welche die Hinrichtung ›deines, Bulgarien, einzigen Sohnes‹ ausgelöst hat. Nur zwei der zwanzig Zeilen berühren unmittelbar den Hingerichteten, und beide verkürzen merklich das Versmaß, das allen anderen Versen zugrunde liegt, den Dekasyllabus 5 + 5. Dies führt zu viersilbigen Halbversen: der erste in der vierten Zeile – I4 na ˇcij grob tam ta˘j grozno gracˇesˇ? [›auf wessen Grab dort so schrecklich krächzt du?‹] und der zweite in Zeile elf – III3 i tvoj edin sin, Ba˘lgarijo [›und dein einziger Sohn Bulgarien‹]. Die erste dieser zwei Zeilen fragt nach dem beweinten Märtyrer, die zweite preist ihn. Diese Konzentration auf die Hinrichtung des Apostels 96 wird vom Gedichttitel selbst vorgegeben. So wie der innere Aufbau der Titelformel widerspricht auch deren enge Wechselbeziehung mit der dritten, d. h. mit der zentralen Strophe des gesamten Textes entschieden dem gelegentlich geäußerten Zweifel, der Titel stamme nicht vom Dichter selbst. Aller 93 Vorlage: Jakobson, Roman Osipovicˇ: »Zaglavie poslednych Botevskich stichov«, in: SW III, S. 534–535. Erschien zuerst 1979 in der Festschrift für Peta˘r Dinekov als »Zaglavie poslednych stichov Boteva«, in: Literaturoznanie i folkloristika. V ˇcest na 70–godisˇninata na akademik Peta˘r Dinekov, Sofija 1983: Izdatelstvo na Ba˘lgarskata Akademija na Naukite, S. 288. – Zu Dinekov s. o. S. 401, Anm. 24. [Anm. d. Übs./Komm.] 94 Dinekov, Va˘zrazˇdenski Pisateli, 1962, zu Botev s. das Kapitel »Poezijata na Christo Botev«, S. 287–342, hier: S. 323. [Anm. v. R.J.] – Jakobsons ›Aufhänger‹ ist folgendes Zitat, gleich in deutscher Übersetzung: »Wir erfahren fast nichts über die Biographie, die äußere Erscheinung und die innere Welt von Levski. 〈…〉 Und trotzdem erscheint uns nach der Lektüre des Gedichts das majestätische Bild des Apostels, er wird uns ganz vor Augen geführt, wir sind bei ihm. Botev erreicht dies durch die Vermittlung des Eindrucks, des Gefühls und der Reaktionen, die der Tod Levskis in seinem Bewußtsein und im Bewußtsein des Volkes auslöst.« – Diese Beobachtung motiviert Jakobson über die anagrammatische Faktur der Mittelstrophe: Der Held ist im Text präsent, ohne explizit genannt oder beschrieben worden zu sein. [Anm. d. Übs./Komm.] 95 ›Stanze‹ meint hier Strophe. [Anm. d. Übs./Komm.] 96 Vasil Levski trug den Beinamen ›Apostel‹. Sein Wirken bestand darin, die Idee der nationalen Befreiung als eine Botschaft unter das bulgarische Volk zu tragen. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Roman Jakobson
Wahrscheinlichkeit nach übernahm ihn der erste Herausgeber dieser Verse Zachari Stojanov dem durch Botev zum Druck vorbereiteten Wandkalender von 1876, der heute verschwunden ist: 97 OBESVANE NA VASIL LEVSKI. [›Erhängung Vasil Levskis‹]
Die sich als Inversion wiederholende Reihe dreier Konsonanten in der vollständigen Bezeichnung des Helden, die das abhängige Glied des Titeltextes bildet – v. s.l / l.vs –, findet einen doppelten Halt in dessen übergeordnetem Glied. Zudem nehmen an den beschriebenen Wiederholungen alle Konsonanten der Titelkonstruktion teil mit Ausnahme der beiden Verschlußlaute, die, so ist anzumerken, in symmetrischer Nachbarschaft mit angrenzenden Vokalen stehen (ob- und -ki). SVAN / NAVAS ESV / EVS
Die dritte Strophe bestätigt auf lautlicher und semantischer Ebene die tragische Verbindung zwischen dem ›schwarzen Galgen‹ und dem gehängten Sohn der ›schwarzen Sklavin‹: die Formen III2 ˇcerno besilo – 3 sin – 4 Visi na nego sa ˘ s strasˇna sila erneuern das Grauen der Titelverbindung obesvane na vasil, die der letzten Zeile des zentralen Vierzeilers einen anagrammatischen Aufbau gibt.
Editorische Notiz Geschrieben im Oktober 1979 für den Band zu Ehren des bulgarischen Wissenschaftlers P. Dinekov.
97 S. Stojanov, Sa˘ˇcinenija na Christo Botjov, S. 43, angeführt von Undzˇiev /Undzˇieva, Christo Botev – Zˇivot i delo, S. 515. – Im zuletzt genannten Titel wird Jakobsons Botev-Analyse von 1961 mehrfach zitiert. Die Botev-Monographie stellt gleichzeitig einen Forschungsüberblick über die immense Literatur zu Botev dar. S. die Besprechung von Topalov in Literaturna Misa˘l. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Literatur Jakobsons eigene Literaturangaben sind mit ° gekennzeichnet. ° Andrejcˇin, Ljubomir Dimitrov: »Ezik i stil na Christo Botev« [›Sprache und Stil
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Roman Jakobson
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— »Poe˙zija grammatiki i grammatika poe˙zii«, in: SW III, S. 63–86. – »Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie«, übs. u. komm. v. Sebastian Donat, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 256–301. — »Siluanovo slavoslovie Sv. Save«, in: SW III, S. 193–204. – »Siluans Lobpreis auf den Hl. Sava«, übs. v. Alexander Nebrig u. Erika Greber, komm. v. Erika Greber, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 471–493. — »Slavic Epic Verse: Studies in Comparative Metrics«, in: SW IV, S. 414– 463. — »Slavoslovie Siluana Simeonu«, in: SW III, S. 205–214. – »Siluans Lobpreis auf Simeon«, übs. v. Alexander Nebrig u. Erika Greber, komm. v. Erika Greber, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 494–508. ° — »Strukturata na poslednoto Botevo stichotvorenie« [›Die Struktur des letzten Botevschen Gedichts‹], in: Ezik i literatura 16 (1961), H. 2, S. 1–14. — »›Ty chocˇesˇ’ znat’: kto ja?‹ Razbor tobol’skich stichov Radisˇcˇeva«, in: SW III, S. 311–321. – »›Du möchtest wissen: Wer bin ich?‹ Eine Analyse der Tobolsker Verse Radisˇcˇevs«, übs. u. komm. v. Sebastian Donat, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 688–710. — »Über den Versbau der serbokroatischen Volksepen«, in: SW IV, S. 51–60. — »Unterbewußte sprachliche Gestaltung in der Dichtung«, übs. v. Wolfgang Klein u. Tarcisius Schelbert, in: Poetik, S. 311–327. — »Zaglavie poslednych Botevskich stichov« [›Der Titel des letzten Botevschen Gedichts‹], in: SW III, S. 534–535. ° — »Zaglavie poslednych stichov Boteva« [›Der Titel des letzten Gedichts Boetvs‹], in: Literaturoznanie i folkloristika. V ˇcest na 70–godisˇninata na akademik Peta˘r Dinekov, Sofija: Izdatelstvo na Ba˘lgarskata Akademija na Naukite 1983, S. 288. — »Zur Notwendigkeit einer sachlichen und terminologischen Unterscheidung«, in: Aufsätze zur Linguistik und Poetik, S. 279 f. Jakobson, Roman Osipovicˇ u. Stephen Rudy: »Yeats’ ›Sorrow of Love‹ through the Years«, in: SW III, S. 601–638. – »Yeats’ ›Der Gram der Liebe‹ im Lauf der Jahre«, übs. u. komm. v. Virginia Richter, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 570–630. Jakobson, Roman Osipovicˇ u. Linda R. Waugh: »The Sound Shape of Language«, in: SW VIII, S. 1–315. – Die Lautgestalt der Sprache, übs. v. Christine u. Thomas F. Shannon, Berlin u. New York: Walter de Gruyter 1986 (= Janua Linguarum. Series Maior, Bd. 75). ° Keremidcˇieva˘, G[encˇo]: »Gradacii i antitezi u Botjova« [›Gradationes und Antithesen bei Botev‹], in: Rodna Recˇ 7 (1933), H. 1, S. 54–62. Kolarov, Radosvet: »›Obesvaneto na Vasil Levski‹ i poetikata na Botev (Opit za osˇte edna interpretacija)« [››Obesvaneto na Vasil Levski‹ und die Poetik Botevs (Versuch einer weiteren Interpretation)‹], in: Literaturna Misa˘l 22 (1978), H. 1, S. 60–84. Lekov, Docˇo: »Akademik Peta˘r Dinekov izsledovatel i populjarizator ba˘lgarskata va˘zracˇdenska literatura« [›Das Akademiemitglied Peter Dinekov, Erforscher
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Roman Jakobson
und Popularisierer der bulgarischen Literatur der Wiedergeburt‹], in: V pamet na Peta˘r Dinekov. Tradicija. Priemstvenost. Novatorstvo, hg. v. Konstantin Kosev u. a., Sofija: Pecˇatnica na Akademicˇno izdatelstvo ›Prof. Marin Drinov‹ 2001, S. 26–34. ° Makreeva, Rajna T.: »Ruskijat prevod na Botevite stichotvorenija v ›Antologija bolgarskoj poe˙znii‹« [›Die russische Übersetzung der Botevschen Gedichte in der ›Anthologie der bulgarischen Dichtung‹], in: Ba˘lgarski ezik. Dvumesecˇno naucˇno-populjarno spisanie 10 (1960), H. 1, S. 369–372. Mayer, Gerald L.: The Definite Article in Contemporary Standard Bulgarian, Berlin u. Wiesbaden: Otto Harrassowitz 1988 (= Osteuropa-Institut an der Freien Universität Berlin. Balkanologische Veröffentlichungen, Bd. 14). Newman, Louis Israel u. William Popper: Studies in Biblical Parallelism, Berkeley: University of California Press 1918 (= University of California Publications. Semitic Philology, Bd. 1, Nr. 2–4). Nikolova, Svetlina: »90 godini ot rocˇdenieto na Akademik Peta˘r Dinekov« [›90. Geburtstag des Akademiemitgliedes Peta˘r Dinekov‹], in: V pamet na Peta˘r Dinekov. Tradicija. Priemstvenost. Novatorstvo, hg. v. Konstantin Kosev u. a., Sofija: Pecˇatnica na Akademicˇno izdatelstvo ›Prof. Marin Drinov‹ 2001, S. 7–16. Ogden, C[harles] K[ey]: Bentham’s Theory of Fictions, 2. Aufl. London: Routledge & Kegan Paul 1951. ° Penev, Bojan: »Christo Botev«, in: Christo Boteva˘. Po slucˇaj petdesetgodisˇninata ota˘ sma˘rt’ta mu, izdanie na ministerstvoto na narodnoto prosveˇˇstenie [›Christo Botev. Anläßlich seines hundertfünfzigsten Todestages, hg. v. Ministerium für Volksbildung‹], Sofija: Da˘rzˇavna pecˇatnica 1926, S. 79–115. Poppe, Nikolaus: »Der Parallelismus in der epischen Dichtung der Mongolen«, in: Ural-Altaische Jahrbücher 20 (1958), S. 195–228. Popper, William: Parallelism in Isaiah, Berkeley: University of California Press 1923 (= Studies in Biblical parallelism, Bd. 3). ° Pospelov, Nikolaj Semenovicˇ: Sintaksicˇeskij stroj stichotvornych proizvedenij Pusˇkina [›Der syntaktische Bau der Werke Pusˇkins in Versform‹], Moskva: Izdatel’stvo Akademii nauk SSSR 1960. Roth, Juliana: Die indirekten Erlebnisformen im Bulgarischen. Eine Untersuchung zu ihrem Gebrauch in der Umgangssprache, München: Verlag Otto Sagner 1979 (= Slavistische Beiträge, Bd. 130). ° Ruseva˘, R[use]: »Metricˇni problemi u Boteva˘« [›Metrische Probleme bei Botev‹], in: Ucˇilisˇten pregled 39 (1940), H. 10, S. 1262–1277. Sapir, Edward: Language. An Introduction to the Study of Speech, New York: Harcourt u. Brace and Company 1921. ˇ iva˘ e toj, zˇiva˘ e …‹« [›»Er lebt, lebt…«‹], in: Misa˘l’ 6 Slavejkova˘, Pencˇo: »›Z (1906), H. 5, S. 291–299. Steinitz, Wolfgang: Der Parallelismus in der finnisch-karelischen Volksdichtung. Untersucht an den Liedern des karelischen Sängers Arhippa Perttunen, Helsinki: Suomalainen Tiedeakatemia, Academia Scientarum Fennica 1934 (= FF Communications, Bd. 115).
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Roman Jakobson und Boris Cazacu
Analyse des Gedichts »Wiedersehen« von Mihail Eminescu 1 Übersetzung aus dem Französischen und Kommentar Matei Chihaia Das Werk Mihai Eminescus steht im Mittelpunkt des rumänischen Kanons; und »Revedere« [›Wiedersehen‹], das mit einer kosend-beschwörenden Doppelanrede beginnt und mit den Säulenpaaren einer menschenleeren Weltordnung endet, gehört wiederum zu den bekanntesten seiner Gedichte. Weshalb sich der Bukarester Sprachwissenschaftler Boris Cazacu und Roman Jakobson ausgerechnet diesen Text zu einer gemeinsamen Analyse ausgesucht haben, hängt wohl zum einen mit dem Eminescu-Bild zusammen, das sein Biograph George Ca˘linescu Anfang der vierziger Jahre in seiner monumentalen Literaturgeschichte zeichnet: Eminescu sei kein Naturdichter, heißt es da, sondern der Dichter einer bäuerlichen Metaphysik. Und diese These wird gerade an »Revedere« belegt, wo der Mensch den Numinosa Wald, See, Fluß, Mond machtlos gegenüberstehe. Das entspricht, so Ca˘linescu, der Sorglosigkeit des Bauern, der sich und sein Feld von überlegenen Naturmächten bewegt wisse und jeden Versuch, in den Lauf der Natur einzugreifen, mit ironischer Zurückhaltung 1
Vorlage: Jakobson, Roman Osipovicˇ u. B. Cazacu: »Analyse du poe`me ›Revedere‹ de Mihail Eminescu«, in: Cahiers de linguistique the´orique et applique´e 1 (1962), S. 47– 53 (im folgenden »Zeitschrift«), und mit gleichem Titel in SW III, S. 536–543 (im folgenden »SW«). Der Text ist in der ersten Ausgabe der vom Sprachwissenschaftlichen Institut der Rumänischen Akademie in Bukarest herausgegebenen Zeitschrift erschienen. Diese insgesamt französischsprachige Zeitschrift war besonders dem Austausch mit der westlichen Forschung gewidmet und die Methode der Beiträge weitgehend vom Strukturalismus geprägt. Der Vorname des Autors Boris Cazacu wird in seinen wissenschaftlichen Publikationen übrigens konsequent abgekürzt. SW nivelliert diesen Unterschied, indem sie auch »Roman« zu »R.« verkürzt. Was den Vornamen des Dichters angeht, so verwenden Jakobson /Cazacu die altertümlicher klingende Form »Mihail«, während »Mihai«, etwa auch in der Werkausgabe, gebräuchlicher ist. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Roman Jakobson und Boris Cazacu
betrachte. 2 Zum anderen wählt Tudor Vianu in einem 1960 erschienenen Abriß »Revedere« als einzige, paradigmatische Illustration seiner These von der Besonderheit der rumänischen Literatur: Deren Hauptcharakteristik, das harmonische Gleichgewicht von Mensch und Natur, unterscheide die *»opposition non-antagoniste«, den ›Gegensatz ohne Antagonismus‹, bei Eminescu von dem Entfremdungsthema der westlichen Romantik. 3 Auch wenn Vianu eigens auf das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit eingeht, bleibt in seiner Argumentation die sprachliche *Struktur den thematischen und stimmungsmäßigen Affinitäten zur Volksliteratur untergeordnet. Jakobson und Cazacu hingegen rekonstruieren das Verhältnis von Mensch und Wald nicht mit Hilfe weltanschaulicher, sondern zunächst einmal sprachlicher Strukturen: mit Hilfe von *Metrum, *Rhythmus und Semantik. Während das Ich bei Ca˘linescu ein anschauendes Ich ist, dem sich der Wald als faszinierendes Numinosum offenbart, ist es bei Jakobson /Cazacu ein kommunizierendes Ich, das nach einer gemeinsamen Sprache mit der Natur sucht und dessen Scheitern den Dialog zum Abbruch bringt. Implizit wird damit auch die Interpretation von Vianu widerlegt, für den das Gedicht das »revoir de deux amis de longue date« [›Wiedersehen zweier alter Freunde‹] inszeniert, der also die Entfremdung noch viel stärker negiert als Ca˘linescu. Mit Blick auf diese Vorlage kann es als strategisches Verschweigen gelten, daß von den Bezügen zur Volksliteratur bei Jakobson und Cazacu überhaupt nicht die Rede ist. So fällt es etwa auf, daß ausgerechnet der Dialektologe Cazacu nichts zur regionalen Besonderheit der Sprache Eminescus kommentiert. Nun wählen sie als Textgrundlage auch nicht die erste, von Titu Maiorescu besorgte Buchedition der Gedichte, sondern die spätere, von Perpessicius (D. Panaitescu, 1891–1971) betreute Akademieausgabe, in der der Untertitel »Iˆn forma˘ populara˘« [›In volkstümlicher Form‹] fehlt. Und auch die Erwähnung der »doina«, die als lyrische Gattung bei Vianu das Kontinuum zwischen Folklore und Höhenkamm belegt, wird in ihrer Analyse nicht berücksichtigt. Insgesamt entfernt diese sich also von einem kulturanthropologischen Modell, das Vianu und Ca˘linescu als Selbstverständlichkeit voraussetzen können. Der Philosoph und Schriftsteller Lucian Blaga hatte in den dreißiger Jahren die Volkslyrik und Eminescus Dichtung gleichermaßen von dem typischen Naturraum Rumäniens abgeleitet. 4 Dies entspricht der Richtung, in welche das 2 3 4
Ca˘linescu, Istoria literaturii romıˆne, S. 458 f. [Anm. d. Übs./Komm.] Vianu, Permanences de la litte´rature roumaine, S. 11 f. [Anm. d. Übs./Komm.] Blaga, Spat¸iul mioritic [›Der mioritische Raum‹], S. 201–214. Zur Spannung zwischen diesem Modell und der Historizität /Literarizität des Naturraums in der Lyrik vgl. Chihaia, »Codrii lui Mihai Eminescu« [›Mihai Eminescus Wälder‹]. [Anm. d. Übs./Komm.]
Analyse des Gedichts »Wiedersehen« von Mihail Eminescu
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Erscheinen des sechsten Bands der Werkausgabe, 5 schon ein Jahr nach Erscheinen von Jakobsons /Cazacus Aufsatz, die rumänische Eminescu-Forschung weist. Die ›Suche des lyrischen Ich nach einer gemeinsamen Sprache mit der Natur‹ weicht hier einem Thema, das sich viel eher an die Positionen von Ca˘linescu und Vianu anschließen läßt: der Suche des Dichters nach der nationalen Folklore. Matei Chihaia Mihail Eminescus Gedicht mit dem Titel Revedere, auf 1879 datiert,6 ist in Dialogform verfaßt.7 1 2 3
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»Codrule, codrut¸ule, Ce mai faci, dra˘gut¸ule, Ca˘ de cıˆnd nu ne-am va˘zut, Multa˘ vreme au trecut, S¸i de cıˆnd m-am depa˘rtat Multa˘ lume am ˆımblat.«
– »Foreˆt, mignonne foreˆt, Comment vas-tu, ma jolie, Car depuis que nous ne nous sommes pas vus Bien de temps s’est e´coule´ Et depuis que je me suis e´loigne´ Bien des lieues j’ai parcourues.«
»Ia eu fac ce fac de mult Iarna viscolu-l ascult, Crengile-mi rupıˆndu-le, Apele-astupıˆndu-le, Troienind ca˘ra˘rile S¸i gonind cıˆnta˘rile; S¸i mai fac ce fac de mult, Vara doina mi-o ascult Pe ca˘rarea spre izvor Ce le-am dat-o tuturor, ˆImplıˆndu-s¸i cofeile Mi-o cıˆnta˘ 8 femeile.«
– »Vois, je fais meˆmes choses toujours, En hiver j’e´coute la bise Qui mes douces branches brise Qui les vives eaux arreˆte Et recouvre les sentiers Et en chasse les chansons. Et je fais meˆmes choses que toujours En e´te´, j’e´coute la doı¨na; Sur les layons de la source Qu’a` tout venant j’ai offerts, Les femmes la chantent pour moi En remplissant leurs cruches.«
Vgl. Perpessicius, »Eminescu ¸si folclorul«. [Anm. d. Übs./Komm.] So die Datierung von Perpessicius, nach dessen Ausgabe (Eminescu, Opere I, S. 123 f.) der Text zitiert wird. [Anm. d. Übs./Komm.] Eminescus »Revedere« wurde von Titu Maiorescu auch schon in die erste Sammlung Poesii, S. 169–171, aufgenommen, auf die sich einige der im Folgenden angemerkten Varianten beziehen. Auf den Titel des Gedichts folgt in der Maiorescu-Ausgabe klein und kursiv die Bemerkung »(In forma˘ populara˘)«, also »In volkstümlicher Form«, die in der Analyse Jakobsons fehlt. Die einzelnen Teile des Dialogs werden außerdem, wie auch in der Edition Perpessicius, mit Geviertstrichen eingeleitet, statt in Anführungszeichen gesetzt, während Cazacu und Jakobson in der Zeitschrift gleich beides, also Striche und Anführungszeichen, setzen. [Anm. d. Übs./Komm.] Maiorescu, »Mi-or cıˆnta«. [Anm. d. Übs./Komm.]
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»Codrule cu rıˆuri line, Vreme trece, vreme vine, Tu din tıˆna˘r precum es¸ti Tot mereu ˆıntineres¸ti.«
– »Foreˆt aux calmes rivie`res, Que le temps passe ou revienne, Toi, aussi jeune que tu sois, A rajeunir, sans cesse, pourvois.«
23
»Ce mi-i vremea, cıˆnd de veacuri
24
Stele-mi scıˆnteie pe lacuri Ca˘ de-i vremea rea sau buna˘, Vıˆntu-mi bate, frunza-mi suna˘; S¸i de-i vremea buna˘, rea, Mie-mi curge Duna˘rea. Numai omu-i schimba˘tor, Pe pa˘mıˆnt ra˘ta˘citor, Iar noi locului ne ¸tinem, Cum am fost as¸a ra˘mıˆnem:
»Eh! qu’importe pour moi le temps puisque, des sie`cles durant, Les e´toiles brillent dans mes eaux, Et qu’il fasse mauvais ou beau, Le vent souffle, la feuille chante, Et qu’il fasse beau ou mauvais, Le Danube coule a` mon gre´. Il n’y a que l’homme de changeant Dans ce grand monde mouvant. Tandis que nous autres euˆmes Place a` nous et restaˆmes ce que nous fuˆmes: La mer et ses rivie`res, La terre et ses de´serts, La lune et le soleil, La foreˆt et ses sources.« 9
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Marea ¸si cu rıˆurile, Lumea ¸si pustiurile, Luna ¸si cu soarele, Codrul cu izvoarele.«
Diese Übersetzung fußt, wie aus einer anderen Stelle des Aufsatzes deutlich wird, auf einer von Tudor Vianu verwendeten Übersetzung ins Französische, mit der sie auch weitgehend übereinstimmt; vgl. u. S. 446 u. Anm. 42. Diese findet sich zusammen mit einer ans Gegenwartsrumänisch angepaßten Fassung von »Revedere« als einziges und damit zentrales Beispiel des schmalen Heftes Permanences, S. 11 f. Vianu selbst divergiert in seinem Kommentar aber an zwei Kernstellen von dieser Übersetzung, so daß man annehmen kann, daß entweder der eine oder der andere französische Text nicht von ihm stammt: So lautet der Titel in der Fußnote, in der das gesamte Gedicht übersetzt wird, »Retour«, der Kommentar spricht davon aber als »Revoir«, und »Codrut¸ule« wird das eine Mal als »mignonne foreˆt« übersetzt, das andere Mal aber als »bois gentil«. In beiden Fällen ist die Version des Kommentars, also ungefähr »Wiedersehen« und »freundlicher Wald«, textnäher als die eigentliche Übersetzung mit »Zurückkehren« und »hübscher Wald«. Eine mögliche Erklärung für diese Divergenz könnte sein, daß Vianu hier auf eine Übersetzung zurückgreift, die nicht von ihm selbst stammt, ohne den Autor eigens zu nennen; besonders kommt dafür seine Frau, Elena Vianu, in Frage, die als literarische Übersetzerin arbeitete. Aber auch umgekehrt wäre es denkbar, daß ein unbekannter Übersetzer eines von Vianu auf Rumänisch verfaßten Kommentars seine Version nicht mehr mit dem französischen Gedicht abgestimmt hat. Auf jeden Fall überarbeiten Jakobson und Cazacu auch diese Übersetzung von »Revedere« an den Stellen, wo offensichtliche Fehler vorliegen, so etwa in der ersten Strophe, wo die vierte Zeile – wichtig wegen des zentralen Begriffs »vreme« – nicht übersetzt wurde, und in der zweiten, wo in v. 8 statt »brise« natürlich »bise« stehen muß. [Anm. d. Übs./Komm.]
Analyse des Gedichts »Wiedersehen« von Mihail Eminescu 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28
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»Wald, lieber Wald,10 Wie geht es Dir, Du Liebster, Denn seit wir uns nicht mehr gesehen haben, Ist viel Zeit vergangen, Und seit ich fortgegangen bin Habe ich viel Welt durchwandert.« »Na,11 ich tue das, was ich seit langem tu Winters höre ich dem Schneesturm zu, Der mir die Äste bricht, Und die Wege bedeckt, Der die Wasser verpfropft Und die Gesänge verscheucht; Und ich tue so, was ich seit langem tu, Sommers höre ich meiner Doina 12 zu Auf dem Pfad zur Quelle Den ich allen geschenkt habe, Wenn sie ihre Krüge füllen Singen es mir die Frauen vor.« »Wald mit sanften Flüssen, Zeit kommt, Zeit geht, Du, so jung wie Du bist Immer noch verjüngst Du Dich.« »Was kümmert mich das Wetter, wo seit Ewigkeiten Sterne auf meinen Seen Funken sprühen Denn sei das Wetter schlecht oder gut, Der Wind durchweht mich, mein Blatt rauscht; Und sei das Wetter gut, schlecht, Meine Donau strömt.
10 Tiktin, Rumänisch-Deutsches Wörterbuch, S. 386 f., betont, daß »codru« nicht weniger als ein großer, dichter, mit alten Bäumen bestandener Wald sei; so erkläre sich vielleicht die Notwendigkeit der zahlreichen Diminutiva wie »codris¸or« oder »codrulet¸«, um kleinere Formen zu beschreiben. Das von Eminescu verwendete »codrut¸ule« ist allerdings eine ungebräuchliche Analogbildung zu »dra˘gut¸ule« im Zusammenhang affektiven Sprachgebrauchs (vgl. v. Aichelburg, »Mihai Eminescu en Allemand«, S. 40). [Anm. d. Übs./Komm.] 11 Tiktin, Rumänisch-Deutsches Wörterbuch, S. 746, schlägt »Ach!« oder »Gott!« für diese dem familiären Register zugehörige Einleitung vor, die »das Folgende als nichts Auffälliges, Besonderes« hinstellen soll. [Anm. d. Übs./Komm.] 12 Die »Doina«, ist eine lyrische Gattung rumänischer Volksliteratur. Wie schon V. Alecsandri in der vorausgehenden Generation sammelte Eminescu solche Volksliedtexte; einige Verse aus »Revedere«, darunter der Anfang, speisen sich aus diesem Material (vgl. Eminescu, Opere VI, S. 238). [Anm. d. Übs./Komm.]
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Nur der Mensch ist wechselhaft, auf der Erde umherirrend, Wir jedoch halten die Stellung,13 So wie wir waren bleiben wir: Das Meer und mit ihm die Flüsse, Die Welt und die Wüsten, Der Mond und die Sonne, Der Wald und die Quellen.« 14
In zwei Ansätzen wendet sich der Dichter an den Wald, und jedes Mal antwortet ihm dieser. Jeder dieser beiden Wortwechsel enthält 18 Verse, die sich jeweils unterschiedlich auf die beiden Gesprächspartner verteilen. Im ersten Fall folgt auf die Ansprache des Dichters, die aus sechs Versen besteht, eine Erwiderung des Waldes, die zweimal so lang ist. Diese Replik zerfällt in zwei Perioden, die, je sechs Verse lang, von einer ähnlichen Zeile eingeleitet werden: 7 »Ia eu fac ce fac de mult« [›Na, ich tue das, was ich seit langem tu‹] – 13 »S¸i mai fac ce fac de mult« [›Und ich tue so, was ich seit langem tu‹].15 Die erste Hälfte des Gedichts weist in der Tat eine ternäre Struktur auf: sie enthält drei Reihen von drei Doppelversen mit *Paarreimen (aabbcc). In metrischer und grammati13 Tiktin, Rumänisch-Deutsches Wörterbuch, S. 920, schlägt für diesen Vers die Übersetzung »kommen nicht vom Fleck« vor. [Anm. d. Übs./Komm.] 14 In dem Übersetzungsband, der 1989 zum 100. Todestag erschien, ist eine Nachdichtung abgedruckt, der es ohne allzu viele semantische Abweichungen gelingt, Reimschema und Metrum zu erhalten: »›Lieber Wald, o Wäldchen mein, Sag: was machst du so allein? Seit wir uns zuletzt gesehn, Mußte so viel Zeit vergehn, Und seitdem ich dir entschwand, Irrte ich durch manches Land!‹ ›Sieh, ich tue was ich tat: Lausche, wenn der Winter naht Und zerrüttet mein Geäst, Bäche jäh erstarren läßt, Meine Wege dicht beschneit Und verscheucht die Sänger weit; Sieh, ich tue was ich tat: Hör ein Sommerlied vom Pfad, Der zum Bache führt, erschallen; Dieses Bächlein gab ich allen Frauen, die mit frohem Singen In den Krügen Wasser bringen.‹ ›Wald mit deinen sanften Seen, Zeiten kommen, Zeiten gehn, Bist du noch so jugendlich, Immerfort verjüngst du dich.‹ ›Was ist Zeit, wenn schon seit je Sterne leuchten mir im See? Denn ob gut, ob schlecht das Wetter, Rauscht der Wind durch meine Blätter; Ob das Wetter schlecht, ob gut, Strömt dahin der Donau Flut. Nur der Mensch ist wandelbar. Ziellos irrt er immerdar; Wir allein verweilen hier, Wie wir waren, bleiben wir: Flüsse, Meere mit den Küsten Und die Welt mit ihren Wüsten, Sonnenschein und Mondeshelle Und der Wald mit Bach und Quelle.‹« (Franyo´, »Wiedersehen«, S. 38 f.) [Anm. d. Übs./Komm.] 15 Das gilt auch für die Maiorescu-Ausgabe, in der die Gliederung durch die Interpunktion sogar noch deutlicher hervortritt: Anstelle des Semikolons steht dort ein Punkt und nach den Einleitungen jeweils ein Doppelpunkt. [Anm. d. Übs./ Komm.]
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scher Hinsicht zerfällt jeder dieser Sechszeiler in zwei Teile, von denen einer nur einen Doppelvers und der andere zwei enthält.16 »Revedere« ist in trochäischen Dimetern 17 verfaßt, und die erste Hälfte des Gedichts weist nur die *katalektische Variante dieses *Versmaßes auf.18 Diese erscheint in zwei deutlich verschiedenen Formen. Eine Form *oxytonen Typs, die den grammatischen Akzent 19 auf der siebten Silbe trägt, dazu auf der dritten Silbe und manchmal auch auf der ersten (60%), seltener auf der fünften (20%). Die andere Form gehört zum *proparoxytonen Typ,20 der keinen grammatischen Akzent auf die siebte Silbe setzt, statt dessen aber immer die fünfte Silbe und oft auch die erste (70%), aber ziemlich selten die dritte (fast 30%) betont.21 Folglich sind es die geradzahligen *Hebungen, die durch den oxytonen Typ (Pe ca˘rarea spre izvo´r Ce le-am da´t-o tuturo´r), die ungeradzahligen Hebungen, die durch den proparoxytonen Typ bekräftigt werden (Lu´na ¸si cu soarele, Co´drul cu izvoarele).22 Der Vers mit zwei Akzenten herrscht im propar16 Das gilt jedenfalls für die Frage; in der Antwort des Walds divergieren metrische und grammatische Gliederung, in der ein einzelner Vers als Einleitung von der Periode der übrigen fünf Verse unterschieden werden kann. [Anm. d. Übs./ Komm.] 17 Wir verwenden den Begriff Dimeter, der in der klassischen Verslehre gebräuchlich ist. Es muß betont werden, daß es sich um Verse von vier »Versfüßen« handelt, die man auch mit dem Ausdruck Tetrameter bezeichnen könnte. 18 Das heißt, die Verse zählen nur sieben Silben, so daß der letzte *Trochäus nur aus einer Hebung ohne *Senkung besteht. Die *akatalektische Variante zählt acht Silben, also vier ganze Füße. [Anm. d. Übs./Komm.] 19 Wort-, Wortgruppen- oder Satzakzent, der semantische oder syntaktische Strukturen transparent macht. [Anm. v. I.M.] 20 Die Zeitschrift schreibt jeweils »du type«, während SW zu »de type« korrigiert. [Anm. d. Übs./Komm.] 21 Diese Angaben beziehen sich nur auf die erste Hälfte des Gedichts, da es in der zweiten auch acht *paroxytone Verse gibt. Da genau zehn Verse dieser Gedichthälfte oxyton sind, lassen sich die Prozentzahlen unmittelbar in Verszahlen umrechnen; die 20%, in denen die fünfte Silbe betont wird, entsprechen also genau den Versen 7 und 13. Für die acht Proparoxytona muß auf- und abgerundet werden. Die erste Silbe wird in sechs davon betont, die dritte lediglich in zweien, 11 und 12. [Anm. d. Übs./Komm.] 22 Auch diese Interpretation des Rhythmus soll die Ablösung Eminescus von der Folklore der rumänischen Doina-Dichtung unterstreichen, bis hin zur Wahl des an der französischen *syllabischen Metrik orientierten Konzepts des »accent grammatical« oder ›grammatischen Akzents‹. Der Kulturphilosoph Lucian Blaga hatte 1936 in seiner Analyse des »mioritischen Raumes« (benannt nach der Schäferballade Miorit¸a) den ähnlichlautenden Vers »Soarele ¸si luna« [›Die Sonne und der Mond‹] als Folge von Trochäen mit dem regelmäßigen Auf und Ab der rumänischen Hügellandschaft in Zusammenhang gebracht (Blaga, Spat¸iul mioritic, S. 19–23). Während Blaga die
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oxytonen Typ vor (85% der Fälle), während der Vers oxytonen Typs oft drei Akzente (53%), manchmal sogar vier (13%) aufweist.23 Der erste Doppelvers des ersten Sechszeilers des Gedichts gehört zum proparoxytonen Typ, und die beiden folgenden Doppelverse formen ein oxytones Quartett. Dafür beginnt der zweite Sechszeiler, welcher die Antwort des Walds an den Dichter einleitet, mit einem oxytonen Doppelvers, gefolgt von einem proparoxytonen Quartett. Der dritte Sechszeiler, welcher die feierliche Rede des Waldes abschließt, nimmt den proparoxytonen Doppelvers und das oxytone Quartett aus der Ansprache des Dichters wieder auf, diesmal jedoch in umgekehrter Reihenfolge. Der grammatische Aufbau dieser drei Sechszeiler entspricht ihrer metrischen Zweiteilung. So folgt auf die Anrufung, die den ersten Doppelvers bildet (1–2), ein Quartett (3–6), dessen letzte zwei Verse den beiden ersten in ihrem syntaktischen und lexikalischen Aufbau entsprechen: 3 5 3 5
Ca˘ de cıˆnd nu ne-am va˘zut[,] 4 Multa˘ vreme au trecut[,] 24 S¸i de cıˆnd m-am depa˘rtat 6 Multa˘ lume am ˆımblat.
Denn seit wir uns nicht mehr gesehen haben, 4 Ist viel Zeit vergangen, Und seit ich fortgegangen bin 6 Habe ich viel Welt durchwandert.
Abneigung der Volkslyrik gegen den »hüpfenden *Daktylus« und Eminescu als Dichter eines Naturraums unmittelbar mit der Landschaft in Zusammenhang bringt, durchkreuzen Jakobson und Cazacu diese harmonisierende Interpretation, indem sie auf die rhythmische Privilegierung bestimmter Hebungen aufmerksam machen. [Anm. d. Übs./Komm.] 23 Diese Prozentzahlen beziehen sich nun auf das gesamte Gedicht und nicht mehr nur auf die erste Gedichthälfte. Schon im vorhergehenden Satz wird der Fokus dementsprechend erweitert, indem ein Satz vom Schluß des Textes als Beispiel angeführt wird (Lu´na ¸si cu soarele, Co´drul cu izvoarele). Auch wäre ein Verhältnis von 85 : 53 : 13 für die genau zehn oxytonen Verse der ersten Hälfte nicht sinnvoll. Rechnet man diese Angaben hingegen, auf den ganzen Text bezogen, in Verszahlen um, erhält man ein Verhältnis von 10 : 2 Versen für den proparoxytonen Typ (insgesamt zwölf Verse) und ein Verhältnis von 8 : 2 : 6 Versen für den oxytonen Typ (insgesamt 16 Verse). Von diesen Zahlen ausgehend, ergeben sich aber bei genauerer Rundung auf ganze Prozentzahlen 50% (statt 53%) oxytone Verse mit drei Akzenten, so daß es sich hier wahrscheinlich um einen Druckfehler handelt, der aus der Zeitschrift in SW übernommen wurde. Erstaunlich ist, daß trotz der Themaerweiterung weiterhin nur von oxytonen und proparoxytonen Versen die Rede ist, und nicht auch von den Paroxytona, die in der zweiten Gedichthälfte vorkommen. [Anm. d. Übs./Komm.] 24 SW übernimmt hier aus der Zeitschrift zwei Zitierfehler, indem am Ende des dritten Verses das Satzzeichen ausgelassen und am Ende des vierten ein Punkt statt eines Kommas gesetzt wird. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Im zweiten Sechszeiler stehen die finiten Formen (7–8) sowie die alliterierenden Anfänge (Ia eu 〈…〉 Iarna) der ersten beiden Verse den vier folgenden Versen mit ihren vier Gerunden gegenüber (9–12). Der abschließende Doppelvers des letzten Sextetts (17–18) unterscheidet sich vom vorhergehenden Quartett durch *Genus, *Numerus und *Person seiner Hauptbegriffe. Die zweite Hälfte des Gedichts teilt sich gleichfalls in drei komplexe Phasen, deren erste, eine neuerliche Rede des Dichters, sich auf ein einziges Quartett beschränkt (19–22) und deren zwei folgende Perioden, eine sechs (23–26) und die andere acht Verse lang (29–36), die endgültige Antwort des Waldes enthalten. Die drei Teile dieser zweiten Unterhaltung bilden also eine arithmetische Folge – 4 : 6 : 8. Jede der beiden Perioden der Rede des Waldes gliedert sich in zwei Unterabschnitte auf. Das Sextett vom Anfang der zweiten Antwort des Waldes besteht ebenso wie dasjenige, das die erste Replik einleitet, aus einem Doppelvers (23–24) und einem Quartett, welches durch den syntaktischen und lexikalischen *Parallelismus seiner beiden Hälften zementiert wird (25 Ca˘ de-i vremea rea sau buna˘ 〈…〉 [›Denn sei das Wetter schlecht oder gut 〈…〉‹], 27 S¸i de-i vremea buna˘, rea 〈…〉 [›Und sei das Wetter gut, schlecht 〈…〉‹]). Der Parallelismus aller vier Verse, die das Gedicht abschließen (33– 36), stellt sie in einen Gegensatz zu den vier vorhergehenden Versen. Diese Aufteilung der letzten Periode in zwei Quartette wird durch den proparoxytonen Charakter des letzten Quartetts unterstützt, der sie vom unmittelbar vorhergehenden Quartett unterscheidet und eine Korrespondenz zwischen dem Ende des Gedichts und seinem Anfang evoziert: 1 Codrule, codrut ¸ule [›Wald, lieber Wald‹] – 36 Codrul cu izvoarele [›Der Wald und die Quellen‹]. Was die anderen Verse der zweiten Hälfte von »Revedere« betrifft, so folgen ihre metrischen Varianten nicht der syntaktischen Aufteilung des Textes.25 Alle diese Verse tragen den Akzent auf der siebten Silbe (mit der Ausnahme der Zeile 28 Mie-mi curge Duna˘rea [›Meine Donau strömt‹], die durch einen dreisilbigen *Reim an v. 27 gebunden ist: 27 S¸i de-i vremea buna˘, rea [›Und sei das Wetter gut, schlecht‹]).26 Unter diesen Versen jedoch zeigen zehn die akatalektische Variante des trochäischen Dimeters, 25 Die zweite Rede des Waldes ist also rhythmisch deutlich unregelmäßiger als die erste. [Anm. d. Übs./Komm.] 26 V. 27 trägt den Akzent auf der fünften Silbe, ist also wie vv. 35–36 katalektisch und proparoxyton. Ansonsten sind die Verse der zweiten Gedichthälfte vor dem letzten Quartett entweder siebensilbig oxytonisch (vv. 21–22 u. 29–30) oder achtsilbig paroxytonisch (vv. 19–20, 23–26 u. 31–32). [Anm. d. Übs./Komm.]
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die in der ersten Hälfte des Gedichts noch nicht vorkam (19–20, 23–26, 31–34). Diese Achtsilber unterscheiden sich durch eine ausgeprägte Tendenz zur grammatischen Akzentuierung sowohl ungeradzahliger als auch geradzahliger Hebungen (man findet darin 50% der Verse mit drei und 37% mit vier Akzenten): 25 Ca˘ de-i vremea rea sau buna˘ 26 Vıˆntu-mi bate, frunza-mi suna˘ [›Denn sei das Wetter schlecht oder gut Der Wind durchweht mich, mein Blatt rauscht‹].27 Der Aufbau des Gedichts läßt sich mit folgendem Schema veranschaulichen: (2 + 4) + (2 + 4) + (4 + 28 2) + 4 + (2 + 4) + (4 + 4).
Diese Architektonik des Gedichts gestattet uns, die Verteilung der verschiedenen grammatischen Kategorien, die der Entwicklung des lyrischen Themas dienen, zu analysieren und zu interpretieren.29 Es sind die syntaktischen Parallelismen im Inneren der Doppelverse und der Quartette, die besagte Kategorien den Lesern dieses Werks besonders spürbar werden lassen. 27 These und Beleg sind nicht ganz einleuchtend. Am nächsten käme den 37% mit vier Akzenten ein Verhältnis von 3 : 8; da aber weiter oben betont wird, daß überhaupt nur 13% der oxytonen Verse, also genau drei, so viele Betonungen haben, bleibt nur die Möglichkeit, daß einer oder zwei dieser drei unter den akatalektischen steht. Dafür kommt dann der zitierte Vers 26 in Frage, eventuell mit dem ähnlich gebauten Vers 20. In jedem Fall handelt es sich nicht um 37%, sondern um 33% bzw. 66%. Da es insgesamt 14 Verse mit drei Akzenten geben soll, wirkt die Angabe von 50%, also sieben akatalektischen Versen mit drei grammatischen Betonungen, zumindest wahrscheinlich, wozu dann Vers 25 das Beispiel wäre. Anders als im Fall der Verse 15–16 und 35–36 wurden bei diesem Beleg aber keine Akzente eingetragen. Hier werden, wie im größten Teil der Argumentation, nur die Ergebnisse präsentiert, ohne auch den Weg nachvollziehbar zu machen, der dazu führt. Der gesamte Absatz wirkt wie ein Nachtrag von zwei Einzelbeobachtungen, die zur bereits in den vorhergehenden Absätzen dargestellten prosodischen Gliederung des Gedichts nichts Entscheidendes mehr hinzufügen, bevor diese dann schematisch veranschaulicht wird. Es fehlt also eine Analyse, die sich über die Prozentzahlen hinaus unter einem qualitativen Aspekt mit den zahlreichen rhythmischen Besonderheiten des Gedichts befaßte; nur ein Beispiel ist die Verschiebung des ersten Akzentes auf die zweite Silbe in Vers 31 (»Iar no´i«), die das später unter grammatisch-semantischem Aspekt ausführlicher kommentierte Pluralsubjekt des Waldes hervorhebt. [Anm. d. Übs./Komm.] 28 SW übernimmt an dieser Stelle aus dem Erstdruck eine geschlossene Klammer statt eines Pluszeichens, obwohl es sich hier offensichtlich um einen Satzfehler handelt. [Anm. d. Übs./Komm.] 29 Gemeint sind die im Folgenden diskutierten Aspekte von *Tempus, Genus, Numerus. Es handelt sich also wirklich um ganz basale Kategorien der Grammatik, die hier analysiert werden, und nicht um beliebig viele für die aktuelle Analyse konstruierte *Paradigmen. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Das Wort vreme ›Zeit /Wetter‹ 30 ist der Dreh- und Angelpunkt des Gedichts. Es erscheint sechsmal, davon dreimal in der Ansprache des Dichters (4, 20 bis 31 ) und dreimal in der Rede des Waldes (23, 25, 27). Der sehr allgemeine und unausweichliche Charakter dieses Begriffs wird durch den konstant artikellosen Gebrauch des Substantivs vreme in der Ansprache des Dichters unterstrichen (z. B. Vreme trece, vreme vine), während er in der Rede des Waldes immer mit Artikel versehen ist.32 Gleiches gilt für lume, das, als Reiseweg des Dichters verstanden und in dem Quartett der ersten Anrede an den Wald mit vreme verknüpft (6 Multa˘ lume am ˆımblat [›Habe ich viel Welt durchwandert‹]), sein Widerspiel in dem letzten vom Wald geäußerten Quartett findet, wo der bestimmte Artikel dem gleichen Nomen beigefügt wird, um das konkrete Bild der Welt und ihrer Wüsten wachzurufen (34 Lumea ¸si 33 pustiurile [›Die Welt und die Wüsten‹]). Überdies ist das Fehlen des Artikels eine allgemeine Markierung, welche die Reden des Dichters von denjenigen des Waldes unterscheidet. In seinen scharfsinnigen E´tudes sur le temps humain (Edinburgh 1949) hat Georges Poulet die traditionelle Angst herausgearbeitet, welche das Intervall zwischen Vergangenheit und Gegenwart einflößt.34 Es ist diese durchdringende Empfindung, die den Dichter beim Wiedersehen ergreift, 3–6 »Denn seit wir uns nicht mehr gesehen haben, Ist viel Zeit vergangen, Und seit ich fortgegangen bin, Habe ich viel Welt durchwandert«.35 30 Die zwei Bedeutungen von »vreme« bzw. »temps« lassen sich im Deutschen nicht mit einem einzigen Wort wiedergeben. [Anm. d. Übs./Komm.] 31 bis: lat. ›und folgende‹. [Anm. d. Übs./Komm.] 32 Die französische Übersetzung, die Jakobson und Cazacu anführen, nivelliert allerdings diesen Unterschied, indem sie auch in Vers 20 »le temps« schreibt. [Anm. d. Übs./Komm.] 33 In der Zeitschrift fälschlich »cu«. [Anm. d. Übs./Komm.] 34 Gemeint sind Georges Poulets Etudes sur le temps humain, Edinburgh: Edinburgh University Press 1949, die ein Jahr später bei Plon erscheinen und von Poulet bis in die sechziger Jahre zu einem vierbändigen Werk ausgebaut worden sind. In der Einleitung (S. I–XLVII) zu dieser Sammlung von Essays zur Literaturgeschichte wird ein Überblick über die »angoisse existentielle de l’homme« angesichts der Vergänglichkeit gegeben (Poulet, Etudes sur le temps humain, Paris: Plon 1950, S. X), die Poulet aber durchaus historisch spezifiziert. Eine »angoisse traditionnelle«, wie Jakobson und Cazacu hier schreiben, ist diese Angst besonders mit Blick auf die romantische Tradition der Dichtung. In diesem Zusammenhang findet sich auch die Formulierung der These, die hier wohl gemeint ist: »Une distance infinie se´pare de nouveau le pre´sent du passe´« (a. a. O., S. XXXIV). [Anm. d. Übs./Komm.] 35 Hier wird die französische Version der Verse zitiert, die weiter oben schon auf Rumänisch angeführt wurden – als Beleg für den syntaktischen Parallelismus dieses
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Roman Jakobson und Boris Cazacu
Aber die Frage der Veränderung in der Zeit, impliziert in der stereotypen Formel, mit der sich der Dichter an den Wald richtet – »Wie geht es Dir« 36 (2 Ce mai faci) –, wird durch diesen augenblicklich zurückgewiesen: »Na, ich tue das, was ich seit langem tu« (7 Ia eu fac ce fac de mult), »Und ich tue so, was ich seit langem tu« (13 S¸i mai fac ce fac de mult). So wird das atemporale Präsens ins Gedicht eingeführt, um als grammatisches Leitmotiv 37 zu dienen. Der Wald bleibt passiv, hört bald dem Lied der Frauen zu, die ihre Krüge füllen, bald dem Schneegestöber, das die Wege bedeckt und die Lieder von ihnen vertreibt. Kein Wechsel der Jahreszeiten kann etwas an dieser ewigen Fortdauer ändern. Der eigensinnige Dichter bemüht sich, aus diesem Kommen und Gehen der Zeit (30 Vreme trece, vreme vine) das Wunder der Verjüngung der Natur herauszufinden, aber der Wald erwidert schlagfertig diesem menschlichen Mythos: »Was kümmert mich die Zeit / das Wetter« (23 Ce mi-i vremea). Das Wetter mag schlecht sein oder gut (25 Ca˘ de-i vremea rea sau buna˘), das Wetter gut oder schlecht (27 S¸i de-i vremea buna˘, rea),38 unerschütterlich beharrt die Beständigkeit der Dinge gemäß dem letzten Teil dieser Rede und des gesamten Gedichts: 29–32 »Nur der Mensch ist wechselhaft, auf der Erde umherirrend, Wir jedoch halten die Stellung, So wie wir waren bleiben wir«.39
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Quartetts und – noch allgemeiner – die grammatische Zweigliedrigkeit, die der »bipartition me´trique« entspricht. Meine deutsche Übersetzung unterscheidet sich von der französischen nur in der Interpretation von »lume«, das ich im Singular und mit Blick auf die romantische Tradition, als »Welt« und nicht als »Meilen« (»lieues«) übersetze. [Anm. d. Übs./Komm.] Die französische Übersetzung »Que fais-tu a` pre´sent« erhält die Zeitimplikation des rumänischen »mai«, was sich im Deutschen nicht so einfach wiedergeben läßt. [Anm. d. Übs./Komm.] Im Original deutsch. [Anm. d. Übs./Komm.] An dieser Stelle wird es deutlich, daß Jakobson und Cazacu mit der Interpretation der französischen Übersetzung einverstanden sind, die »vreme« in v. 20 als »Zeit«, in vv. 23, 25 und 27 aber als »Wetter« versteht. Ich habe versucht, dieses Mißverständnis im Deutschen nachzubilden, wo es aber noch unwahrscheinlicher hervortritt als im Rumänischen oder Französischen, wo immerhin die Signifikanten gleich sind: Die menschliche Sorge um die Jahreszeiten, die mit dem Begriff der Zeit formuliert wird, kann für den Wald nur ein Interesse am Wetter bedeuten. Im Wortlaut von Eminescus Gedicht ist es allerdings nicht ausgeschlossen, daß auch der Wald »vreme« im Sinn des Menschen als »Zeit« verwendet. [Anm. d. Übs./ Komm.] Hier wird nicht der gesamte letzte Teil zitiert, sondern nur der Anfang; es fehlt noch das letzte Quartett (vv. 33–36), in dem die Bestandteile dieser unvergänglichen Welt aufgezählt werden. [Anm. d. Übs./Komm.]
Analyse des Gedichts »Wiedersehen« von Mihail Eminescu
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Der Dichter versucht, sich mit der Natur zu vereinigen,40 und er anthropomorphisiert sie, indem er sich mit Hilfe von Vokativen (1, 2, 19), von Verbformen (2, 21, 22) und Pronomina (21) der zweiten Person an den Wald wendet. Er bemüht sich, ihn näherzubringen, ihn menschlicher zu machen, indem er ihn mit liebkosenden Verkleinerungsformen (1, 2) und schmeichelnden *Epitheta überhäuft: 2 dra˘gut¸ule, 21 tıˆna˘r, wovon ersteres eine frappierende *Paronomasie zwischen dem *determinierenden dra˘gut¸ule und dem davon determinierten codrut¸ule schafft: /dr. g/ – /k. dr/. Hingegen schließt die Sprache des Waldes den Vokativ, und auch die Verben und Pronomina der zweiten Person aus. Während man keine Pronominalform der ersten Person in den Anreden des Dichters findet, erscheint das »Ich«, das ihnen fremd bleibt, dafür im Vokabular des »lieben Waldes« (codrut¸ule). Seine erste Rede beginnt genau mit dem emphatischen Nominativ »Ich« (eu), während der Dativ des gleichen Pronomens mi (der ›ethische Dativ‹) im zweiten Teil der ersten Rede des Waldes erscheint (14 Vara doina mi-o ascult [›Sommers höre ich meiner Doina zu‹]) und sodann den ganzen ersten Teil seiner zweiten Rede zementiert (23 Ce mi-i 〈…〉 – 24 Stele-mi 〈…〉 – 26 Vıˆntu-mi 〈…〉 frunza-mi [23 ›Was kümmert mich‹ – 24 ›Sterne auf meinen‹ – 26 ›der Wind durchweht mich 〈…〉 mein Blatt‹]); und mit dieser verdoppelten Form beendet er diesen Teil auch (28 Mie-mi curge Duna˘rea [›Meine Donau strömt‹]). Alles geschieht ›nach meinem Gutdünken‹, so verkünden es uns alle diese egozentrischen Äußerungen. Auf die Dialogform der Ansprachen des Dichters antwortet der Wald mit teilnahmslosen Monologen, die weder den Gesprächspartner noch allgemein irgendeine Person in Betracht ziehen. Was kümmert ihn die Veränderlichkeit des Wetters oder des Menschengeschlechts? Der Gesprächspartner des Dichters bezeichnet diesen weder durch ein Verb noch durch einen Vokativ noch durch ein Pronomen. Er greift nur auf den 40 Im Französischen steht »communier«, was möglicherweise ein Satzfehler statt »communiquer« ist. Die Argumentation erwähnt nichts von einer Vereinigung des Sprechers mit dem Wald, wohl aber geht es hier um die Anstrengung, mit der Natur eine gemeinsame Sprache zu finden, mit ihr zu kommunizieren. Zu diesem Zweck anthropomorphisiert er sie. Vielleicht wird hier aber Jakobsons Interpretation durch die Vorstellung Tudor Vianus überlagert, die er doch indirekt widerlegt. Vianu behauptet nämlich tatsächlich eine typisch rumänische ›Verschmelzung‹ von Mensch und Natur: »La nature et l’homme fusionnent chez nos poe`tes a` tel point que l’homme retrouve dans la nature ses propres sentiments et aspirations.« [›Die Natur und der Mensch verschmelzen bei unseren Dichtern so sehr, daß der Mensch in der Natur seine eigenen Gefühle und Bestrebungen wiederfindet.‹] (Vianu, Permanences, S. 11.) [Anm. d. Übs./Komm.]
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gattungsmäßigsten Ausdruck zurück, »der Mensch« (omu-), und dies nur, um die zeitliche menschliche Welt, die sich verändert und bewegt, als einzige Ausnahme (29 Numai omu-i [›Nur der Mensch ist‹]) einer zeitlosen und beständigen kosmischen Ordnung zu denunzieren. Die in »Revedere« eng miteinander verknüpften Worte – om und vreme – bringen das Spiel der wiederkehrenden /m/ mit sich: 3 ne-am 〈…〉 4 multa˘ vreme 〈…〉 5 m-am 〈…〉 6 multa ˘ lume am ˆımblat 〈…〉 25 vremea 26 vıˆntu-mi 〈…〉 frunza-mi 〈…〉 27 vremea 28 mie-mi 〈…〉 29 Nuai omu-i schimba˘tor . Alle *Phoneme von vreme sind Gegenstand expressiver Wiederholungen: 20 vreme trece, vreme vine 〈…〉 21 precum 〈…〉 22 mereu ˆ ıntineres¸ti.41 Die erste Person Plural erscheint am Anfang des Gedichts, in der ersten Ansprache des Dichters (3 nu ne-am va˘zut [›wir uns nicht mehr gesehen‹]), und erscheint dann wieder gegen Ende (31, 32) in drei Verbformen und im emphatischen Pronomen noi [›wir‹]. Während aber in der Apostrophe des Dichters an den Wald beide mit einbezogen wurden, schließt das »wir« des Waldes den Dichter und den Menschen im allgemeinen aus. Zu Recht übersetzt Tudor Vianu dieses noi mit »nous autres« [›wir anderen‹].42 Alle acht Substantive des letzten Quartetts, die den 41 Diese phonetische Rekurrenz wird besonders hervorgehoben, weil sie die zentrale Bedeutung von »vreme« unterstreicht. Als Onomatopöie zum Rauschen von Wind und Wald sind die Wiederholungen von /v/ und /u/ noch auffälliger. Aber die Analyse auf Phonemebene soll eben mehr leisten als die mimetische Dimension zu bestätigen; die Befunde werden erst durch ihre Relation zu anderen Ebenen relevant. – Daß Jakobson der Onomatopöie große Aufmerksamkeit gewidmet hat, zeigen die einschlägigen Stellen in seinem Buch Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze (bes. S. 375) und in The Sound Shape of Language (bes. S. 184– 186, 199 u. 237); zu ihrer Poetizität vgl. seine zustimmende Bemerkung zu Poes Verweis auf die Onomatopöie in »The Raven« gleich auf der ersten Seite von »Six lec¸ons sur le son et le sens« (S. 321) und seinen Verweis auf »the onomatopetic sequence bı´m-bo´m familiar to the native folklore« in den »Notes on the Makeup of a Proverb« (S. 714). [Anm. d. Übs./Komm.] 42 Tudor Vianu (1897/98–1964), Professor für Ästhetik an der Bukarester Universität bis 1948, ab 1955 Mitglied der Rumänischen Akademie, seit 1958 Generalsekretär der rumänischen UNESCO-Kommission, seit 1959 Inhaber des Lehrstuhls für Weltliteratur und Komparatistik, verstarb kurz nach seiner Ernennung zum UNESCO-Botschafter. Zur Quelle der hier angeführten Übersetzung vgl. o. S. 436, Anm. 9. Obwohl der Name Vianus hier verhältnismäßig beiläufig fällt, kann die Interpretation als eine implizite Antwort auf seinen kurzen Abriß rumänischer Literaturgeschichte verstanden werden, der von der rumänischen UNESCO-Kommission herausgebracht wurde und in dem »Revedere« als zentraler Beleg-Text figuriert. Wenn Jakobson und Cazacu der Übersetzung Vianus ausgerechnet an dieser Stelle Recht geben, so unterstreichen sie damit ihren Widerspruch gegen die Hauptthese seiner Interpretation, nämlich das freundschaftliche Einverständnis, das
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Inhalt des noi bestimmen, gehören zu den unbelebten Substantiven. Außerdem gibt es unter den 35 Substantiven, die man in dem Gedicht findet, nicht ein einziges belebtes, aber unpersönliches Nomen, und nur zwei persönliche Nomina, die in dem letzten Teil jedes der beiden Monologe des Waldes vorkommen. Es sind dies der Singular maskulin 43 29 omu-i [›der Mensch ist‹] beziehungsweise der Plural der entsprechenden femininen Form 18 femeile [›die Frauen‹]. Die Strenge, mit der Substantiva nach ihrem grammatischen Genus ausgewählt werden, verschärft sich noch, wenn man beobachtet, daß von allen Bezeichnungen unbelebter Gegenstände die einzigen maskulinen Substantive, welche die Aussagen des Gedichts enthalten, die Sonne (35 soarele) und der Wald (36 codrul) im letzten Doppelvers von »Revedere« und die Vokativformen des letzteren Nomens am Anfang der zwei Apostrophen des Dichters sind (1, 19). Nicht nur, daß die einzige wirkliche Person des Gedichts weder genannt noch bezeichnet wird, sondern auch der nominale Bestand von »Revedere« ist auf alles das eingeschränkt, was im offensichtlichsten Gegensatz zum Helden steht, mit Ausnahme der beiden Gattungsbegriffe, die beide je einmal erwähnt werden: Der besagte Bestand ist auf die unbelebte Kategorie eingeschränkt und schließt, abgesehen von den peripheren Zeilen des Gedichts, das maskuline Genus aus.44 Die Gegenstände, Ich und Wald bei aller Opposition »dans une ambiance des paix et harmonie« [›in einer Stimmung der Harmonie und de Friedens‹] vereine (Vianu, Permanences, S. 12). Als entscheidend für die rumänische Besonderheit Eminescus hebt Vianu hervor, daß die Natur hier, anders als bei westeuropäischen Autoren wie »Voltaire, Leopardi ou Vigny«, dem lyrischen Ich kein Gefühl der Einsamkeit oder des Schreckens einflöße, es sich vielmehr mit ihr, bei allen Unterschieden, wie mit einem treuen, alten Freund vereinen könne, ohne daß dieser irgendwie hochmütig wirke. Gerade das »nous autres«, das eine scharfe Trennlinie zwischen der belebten und der unbelebten Welt zieht, widerspricht dem. An mehreren Stellen wirkt es so, als würden die Formulierungen von Jakobson und Cazacu diejenigen von Vianus Kommentar direkt aufgreifen, um sie zu widerlegen. So vor allem die »monologues impassibles« [›teilnahmslosen Monologe‹] des Waldes, die sich vielleicht auf die generelle These Vianus beziehen: »On chercherait en vain dans notre litte´rature cette vision de l’impassibilite´ de la nature, – isolant l’homme dans un univers indiffe´rent ou hostile« [›Man sucht in unserer Literatur vergeblich nach dieser Vision einer Teilnahmslosigkeit der Natur, die den Menschen in einem gleichgültigen oder feindseligen Universum isoliert‹] (a. a. O., S. 11). Eben eine solche Isolation des Menschen arbeiten Jakobson und Cazacu an dem Gedicht heraus, das für Vianu eine harmonische Heimkehr in den sicheren Hafen der Natur darstellte. [Anm. d. Übs./Komm.] 43 In der Zeitschrift irrtümlich »29 omul«, wodurch natürlich das maskuline Genus noch deutlicher wird. [Anm. d. Übs./Komm.]
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die der Wald nennt, erscheinen ohne Epitheta in den Monologen; er stellt so rıˆurile [›Flüsse‹] kurz und knapp gegen die rıˆuri line [›sanften Flüsse‹] des Dichters; ebenso lumea [›Welt‹] gegen multa˘ lume [›viel Welt‹], codrul [›Wald‹] gegen codrule 〈…〉 dra˘gut¸ule [›Wald 〈…〉 Du Liebster‹]. Die Auswahl grammatischer Kategorien, von denen der Autor Gebrauch macht, kann sich auf das ganze Gedicht ausdehnen oder auf bestimmte Teile beschränken, die anderen Teilen entgegengestellt werden. So unterscheidet sich, wie wir schon bemerkt haben, in den beiden Hälften von »Revedere« der jeweils erste Teil, die Apostrophe des Dichters an den Wald, wesentlich und in mehreren Hinsichten von den Monologen des Waldes. Aber die unterschiedliche Verteilung der verschiedenen Kategorien im Text beschränkt sich nicht auf den *Kontrast zwischen den Reden des Dichters und des Waldes. Der Vergleich der beiden Monologe des Waldes offenbart zum einen einige signifikante Besonderheiten im Aufbau jeder dieser beiden Reden, und zum anderen erfordern 45 ihre Untergliederung in zwei Teile und der gesamte Aufbau jeder der beiden Hälften des Gedichts eine vergleichende Analyse auf der Ebene der Grammatik. Was das Verbalsystem angeht, so werden durch das gesamte Gedicht gewisse Einschränkungen in der Wahl morphologischer Kategorien auferlegt. So ist der Gebrauch von Verbformen auf den Indikativ, auf das Präsens und das Perfekt beschränkt. Die zweite Person erscheint nicht im Plural; und im Singular wird sie nur in den Apostrophen des Dichters gebraucht, wo sie sich, wie es für diese Anrufungen typisch ist, mit den anderen Personen des Verbs vermischt.46 44 Mit den »lignes pe´riphe´riques« ist zunächst einmal der im vorhergehenden Absatz angesprochene letzte Doppelvers des Gedichts gemeint, wo »codrul« und »soarele« stehen. Die Formulierung ist aber offen genug, um auch die am Strophenrand stehenden Verse 1 und 19 mit zu erfassen, wo das maskuline »codru« im Vordergrund steht. Die These über das Vorherrschen des femininen Genus in diesem Gedicht läßt sich kaum belegen und steht in einer gewissen Spannung zur zuvor notierten Beobachtung, daß Vers 17–18 durch ihr feminines Genus mit dem vorherigen Quartett kontrastieren. Zwar sind die zentralen Ausdrücke »vremea« und »lumea« tatsächlich Feminina, aber ansonsten läßt sich eher eine Gleichverteilung beobachten. [Anm. d. Übs./Komm.] 45 SW korrigiert an dieser Stelle »exige« zu »exigent«. Der Fehler deutet jedoch vielleicht an, daß zwischen Untergliederung und Aufbau für Jakobson und Cazacu kein signifikanter Unterschied besteht, beides an dieser Stelle gemeinsam als Aspekte der relevanten Struktur eine vergleichende grammatische Analyse erfordert. [Anm. d. Übs./Komm.] 46 Das heißt, der Sprecher gebraucht das »du« zusammen mit dem »wir« und dem »ich«; das gilt aber nur für die erste seiner Reden, nicht für die zweite, wo das »du« alleine stehen bleibt. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Die erste Person Plural zeigt die Eröffnung des Gedichts (3) und sein Ende (31–33) an, deren formale Entsprechung ihren semantischen Kontrast hervorhebt. Das Perfekt verknüpft seinerseits den Anfang (3–6) mit dem Ende (32) sowie den rein nominalen Charakter des ersten Verses und des letzten Quartetts (33–36); aber erneut offenbaren formale Ähnlichkeiten eine semantische Divergenz: In der einleitenden Apostrophe des Dichters markieren die Vergangenheitsformen den zeitlichen Abstand, während die abschließende Replik des Waldes, indem sie synonyme Verben im Präsens und in Vergangenheitsformen einander gegenüberstellt, die Gleichheit der beiden Zeiten behauptet.47 Dementsprechend bildet der Vokativ des ersten Verses, das heißt der affektive Appell des Menschen an das Universum, mit dem nominalen Bezug des letzten Quartetts auf ein unbelebtes und unmenschliches Universum eine tragische Dissonanz. Die Vergangenheitsformen und die Nominalphrasen sind so ausgesucht, daß sie das Gedicht einrahmen und außerdem seine beiden Hälften voneinander abgrenzen. Das Motiv des Weges, der »allen« offen steht, beginnt mit einem rein nominalen Vers (15) und einem Verb im Perfekt (16), gelangt zu dem Bild der Frauen, die singen (18 cıˆnta˘ im Präsens), während sie ihre Krüge füllen, und zieht sich dann zugunsten der zweiten Apostrophe des Dichters zurück: »Wald mit sanften Flüssen« (19 Codrule cu rıˆuri line). Diese Passage ist die einzige, wo die Lehre des Waldes menschlicher und milder wird, so daß der Dichter das Motiv der Wasserläufe aufnimmt, um einen neuen Appell zu versuchen. Am Ende des ersten Monologs ersetzen schließlich die beiden Perfektformen sowie die dritte Person Plural das Präsens und die erste Person Singular, die bisher in der Rede vorherrschten. Der zweite Monolog stürzt diese Ordnung um und schafft, durch den Kontrast zur ersten Rede, eine Art *Chiasmus. Die beschreibenden Verse des ersten Monologs enden, die des zweiten beginnen wieder mit der dritten Person Plural – der Person, die man vergeblich in den lyrischen Apostrophen des Dichters suchte (18 Mi-o ciˆnta˘ femeile – 24 Stele-mi sciˆnteie [›Singen es mir die Frauen vor 〈…〉 Sterne auf meinen Seen Funken sprühen‹]). Es ist die dritte Person, die sich daraufhin durchsetzt und im ersten Teil des zweiten Monologs dazu dient, einerseits die unveränderlichen und anmutigen Elemente der Natur, andererseits das schwankende und von der Zeit 47 Auch wenn hier im Plural von »Verben« die Rede ist, gibt es nur ein einziges, nämlich das Verb ›sein‹, als Präsens »23/25/27/29 -i« und Perfekt »32 am fost«, auf das die Beschreibung genau zutrifft. »32 Ra˘mıˆnem« [›wir bleiben‹] ist dazu kein Synonym, und ebenso wenig die übrigen Verben, die alle im atemporalen Präsens stehen. [Anm. d. Übs./Komm.]
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besessene Menschengeschlecht Revue passieren zu lassen. Die Anordnung der Numeri (Singular-Plural) bleibt diejenige des ersten Monologs, aber die der Personen verläuft umgekehrt. Die erste Person Plural bemächtigt sich des zweiten Teils des Monologs und beendet das Gedicht durch eine stolze und bestimmte Erklärung über die kosmische Unwandelbarkeit. Die Antinomie wird bloßgelegt; die Anstrengung des Helden, eine gemeinsame Sprache mit der Natur zu finden, ist gescheitert; und der Dialog bricht ab. Editorische Notiz Geschrieben 1960 in Bukarest und Cambridge, Mass., und veröffentlicht in den Cahiers de linguistique the´orique et applique´ 1 (Bukarest 1962), S. 47–53.
Literatur Jakobsons und Cazacus eigene Literaturangaben sind mit ° gekennzeichnet. Aichelburg, Wolf v.: »Mihai Eminescu en Allemand«, in: Centenarul Eminescu, Paris 1989, Madrid: Fundacio´n Cultural Rumana 1994, S. 37–40. Blaga, Lucian: Spat¸iul mioritic [›Der mioritische Raum‹], Bukarest: Humanitas 1994. Chihaia, Matei: »Codrii lui Mihai Eminescu« [›Mihai Eminescus Wälder‹], in: Vatra 408–409 (März-April 2005), S. 176–178. Ca˘linescu, George: Istoria literaturii romıˆne de la origini pıˆna˘ ˆın prezent (1941) [›Geschichte der rumänischen Literatur von den Anfängen bis in die Gegenwart‹], 2 Aufl. Bucures¸ti: Minerva 1982. Eminescu, Mihai: Opere I [›Werke I‹], hg. v. Perpessicius, Bukarest: Ed. Funda¸tiilor Regale 1939. — Opere VI [›Werke VI‹], hg. v. Perpessicius, Bukarest: Ed. Academiei R. P. R. 1963. — Poesii [›Gedichte‹] (1884), hg. v. Titu Maiorescu, Nachdr. Bukarest: Editura Academiei R. P. R. 1989. Franyo´, Zolta´n: »Wiedersehen«, in: Mihai Eminescu: Gedichte. Zum 100. Todestag des Dichters, Bukarest: Kriterion Verlag 1989, S. 38 f. Jakobson, Roman Osipovicˇ: »Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze«, in: SW I, S. 328–401. — »Notes on the Makeup of a Proverb«, in: SW III, S. 712–714. — »Six lec¸ons sur le son et le sens«, in: SW VIII, S. 317–390. Jakobson, Roman Osipovicˇ u. Boris Cazacu: »Analyse du poe`me ›Revedere‹ de Mihail Eminescu«, in: Cahiers de linguistique the´orique et applique´e 1 (1962), S. 47–53. – Wiederabdruck in: SW III, S. 536–543.
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Jakobson, Roman Osipovicˇ u. Linda R. Waugh: »The Sound Shape of Language«, in: SW VIII, S. 1–315. – Dt. Übs.: Die Lautgestalt der Sprache, übs. v. Christine Shannon u. Thomas F. Shannon, Berlin u. New York: Walter de Gruyter 1986 (= Janua Linguarum. Series Maior, Bd. 75). Perpessicius: »Eminescu ¸si folclorul« [›Eminescu und die Folklore‹], in: Mihai Eminescu: Opere VI [›Werke VI‹], hg. v. Perpessicius, Bukarest: Ed. Academiei R. P. R. 1963, S. 9–20. ° Poulet, Georges: Etudes sur le temps humain, Edinburgh: Edinburgh University Press 1949. — Etudes sur le temps humain, Bd. I, Paris: Plon 1950. Tiktin, Hariton: Rumänisch-Deutsches Wörterbuch, Bukarest: Staatsverlag 1903. Vianu, Tudor: Permanences de la litte´rature roumaine, Bukarest: UNESCO 1960 (Commission nationale de la Re´publique Populaire Roumaine pour l’UNESCO).
Roman Jakobson
Lyrische Prophezeiungen Aleksandr Bloks 1 Übersetzung aus dem Russischen und Kommentar Sebastian Donat Jakobsons Untersuchung von Aleksandr Bloks »Ein Mädchen sang« gehört zu seinen am weitesten und überzeugendsten ausgearbeiteten strukturalen Gedichtanalysen. Dies liegt sicher zunächst am Gegenstand: Die vielfältigen *Parallelismen in dem bekannten Gedicht des russischen Symbolisten springen förmlich ins Auge, und Jakobson ist somit bei seinem Nachweis poetischer *Äquivalenzen nicht dazu gezwungen, besonders ›ausgefallene‹ sprachliche *Strukturen herauszuarbeiten. Wenn er dies dennoch tut (wie beispielsweise bei der Unterscheidung von offenen und geschlossenen Reimen oder der fast versfußmetrisch genauen Behandlung von Bloks locker regulierten Rhythmen), so folgt er damit keinem mechanischen Analyseprogramm, das die Abarbeitung sämtlicher Textebenen vorschreibt. Ganz im Gegenteil: Die Untersuchung von »Ein Mädchen sang« ist in hohem Maße durch die erkennbare Relevanz des minutiös Analysierten gekennzeichnet. Die Freilegung der Sprachstrukturen erfolgt unter der Maßgabe ihrer Funktion für die Aussage und Atmosphäre des Gedichtes. Unbeschadet aller grundsätzlich angebrachten Vorbehalte gegenüber Jakobsons Tendenz zur ›schrankenlosen Semantisierung formaler Strukturen‹ (Hendrik Birus) vermag dieser Versuch in der vorliegenden Analyse über weite Strecken zu überzeugen. Dies liegt sicher nicht zuletzt daran, daß Jakobson (auch dies ist keinesfalls selbstverständlich in seinen Analysen) das Gedicht behutsam in den Lebens- und Werkkontext 1
Vorlage: Jakobson, Roman Osipovicˇ: »Stichotvornye proricanija Aleksandra Bloka«, in: SW III, S. 544–567. Vgl. den Erstdruck des ersten Teils: »›Devusˇka pela‹. Nabljudenija nad jazykovym stroem stansov Aleksandra Bloka«, in: Orbis Scriptus. Dmitrij Tschizˇewskij zum 70. Geburtstag, hg. v. Dietrich Gerhardt, Wiktor Weintraub u. Hans-Jürgen zum Winkel, München: Fink 1966, S. 385–401. [Anm. d. Übs./Komm.]
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einbindet und damit in der Lage ist, die Relevanz und den repräsentativen Charakter seiner Einzelbeobachtungen zu demonstrieren. Ungeachtet der engen thematischen Verwandtschaft der untersuchten Gedichte unterscheidet sich Jakobsons Analyse von Bloks »Stimme aus dem Chor« deutlich von der umfangreichen Studie zu »Ein Mädchen sang«. Der fast doppelt so lange sechsstrophige Text wird auf viel knapperem Raum auf einen zentralen Aspekt hin untersucht: auf die »Poetik von Gleichheit und Wandel«. Dabei konzentriert sich Jakobson auf zwei Strukturebenen: einerseits auf die Verben und Pronomina des Gedichts, andererseits auf dessen Versbau und Reimbindung. Das auf den ersten Blick verwirrende *Paradigma von Verbindungen zwischen den Strophen erweist sich in dieser reduzierten Untersuchung als gleichermaßen substantiell wie nachvollziehbar. Doch Jakobson zeigt nicht nur die vor allem in der Verteilung der Wortarten beeindruckende Architektur des Gedichtes auf, sondern er stellt ihr von Beginn an die inhaltliche Dynamik des Textes gegenüber, die sich vor allem in seiner unregelmäßigen Versstruktur manifestiert. Ja, wie bei der Analyse von »Ein Mädchen sang« wird das Gedicht auch hier in Bloks Schaffens- und Zeitkontext eingebunden. Diese Kombination von restriktiver, zielgerichteter Auswahl der Untersuchungsebenen und enger Anbindung an den Gedichtgegenstand macht Jakobsons Auseinandersetzung mit Bloks »Stimme aus dem Chor« zu einer seiner luzidesten Analysen. Sebastian Donat
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I. »Ein Mädchen sang«. Beobachtungen zum sprachlichen Bau der Strophen 2 Aleksandr Bloks 1
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ƒевушка пела в церковном хоре ќ всех усталых в чужом краю, ќ всех корабл¤х, ушедших в море, ќ всех забывших радость свою. “ак пел ее голос, лет¤щий в купол, » луч си¤л на белом плече, » каждый из мрака смотрел и слушал, ак белое платье пело в луче.
De´vusˇka pe´la v cerko´vnom cho´re O vse´ch usta´lych v cˇuzˇo´m kraju´, O vse´ch korablja´ch, usˇe´dsˇich v mo´re, O vse´ch zaby´vsˇich ra´dost’ svoju´. Tak pe´l e´ go´los, letja´ˇscˇij v ku´pol, I lu´cˇ sija´l na be´lom plecˇe´, I ka´zˇdyj iz mra´ka smotre´l i slu´ˇsal, Kak be´loe pla´t’e pe´lo v lucˇe´.
» всем казалось, что радость будет, 10 ◊то в тихой заводи все корабли, 11 ◊то на чужбине усталые люди 9
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—ветлую жизнь себе обрели.
» голос был сладок и луч был тонок, 14 » только высоко, у ÷арских ¬рат, 15 ѕричастный “айнам, – плакал ребенок 16 ќ том, что никто не придет назад.3 13
I vse´m kaza´los’, cˇto ra´dost’ bu´det, ˇ to v tı´choj za´vodi vse´ korablı´, C ˇ to na cˇuzˇbı´ne usta´lye lju´di 11 C 12 Sve ´tluju zˇ´ızn’ sebe´ obrelı´. 9
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I go´los byl sla´dok i lu´cˇ byl to´nok, I to´l’ko vyso´ko, u Ca´rskich Vra´t, 15 Pric ˇa´stnyj Ta´jnam, – pla´kal rebe´nok 16 O to ´ m, cˇto nikto´ ne pride´t naza´d. 13 14
Jakobson verwendet hier den Begriff »stansy«, der spezifischer als »Strophen« ist, jedoch andererseits keinesfalls mit dem auf die italienische Strophenform der ottave rime beschränkten deutschen Wort »Stanzen« (achtzeilige Strophen mit dem Reimschema abababcc) wiedergegeben werden kann. Vgl. die folgende Begriffsbestimmung (hier gleich in deutscher Übersetzung): »Stanzen: […] in der Dichtung des 18.–19. Jahrhunderts elegisches Gedicht in Strophen von geringem Umfang (üblicherweise Vierzeiler, am häufigsten in vierhebigen *Jamben), mit obligatorischer Pause (Punkt) am Strophenende; der Inhalt ist zumeist meditativ […], seltener auch Liebesthematik.« (Gasparov, Art. »Stansy«.) [Anm. d. Übs./Komm.] Vgl. Blok, Stichotvorenija. Kniga vtoraja (1904–1908), S. 63 f., sowie das Verzeichnis der Varianten, a. a. O., S. 322 f., und den Kommentar, a. a. O., S. 644–646. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Ein Mädchen sang im Chor der Kirche Über alle Erschöpften im fremden Land, Über alle Schiffe, die ins Meer abgefahren sind, Über alle, die ihre Freude vergessen haben.
Und allen schien, daß Freude kommen wird, 10 Daß alle Schiffe in einer stillen Bucht sind, 11 Daß in der Fremde die erschöpften Menschen 12 Sich ein helles Leben gewonnen hätten.
So sang ihre Stimme, die in die Kuppel flog, Und ein Strahl glänzte auf der weißen Schulter, Und jeder aus der Finsternis schaute und hörte, Wie das weiße Kleid im Strahl sang.
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Und die Stimme war süß und der Strahl war fein, 14 Und nur oben, bei der Königstür, 15 Beteiligt an den Geheimnissen, – weinte das Kind 16 Darüber, daß niemand zurückkommen wird.4
Die im August 1905 geschriebenen Strophen Bloks wurden zuerst in der Zeitung »Nasˇa zˇizn’« [›Unser Leben‹] am 18. Februar 1906 veröffentlicht.5 Mit dem Subjekt und dem Prädikat »devusˇka pela« [›(ein) Mädchen sang‹] beginnt das Gedicht; mit dem Prädikat und Subjekt »plakal rebenok« [›weinte (das) Kind‹] schließt sein letzter selbständiger Satz. Unter allen Substantiven des Textes finden sich keine weiteren belebten Nomina im Singular, und »pela« [›sang‹] ist die einzige feminine Verbform im gesamten Gedicht. Das Mädchen sang mit süßer Stimme – das ist, in Prosasprache übersetzt, das durchgehende Motiv der Strophen, aber ab der zweiten Strophe wird die *Synekdoche »golos« [›Stimme‹] zum unabhängigen Subjekt, und ihr naheliegendes *Epitheton wird gegen Ende in der Form eines Prädikats realisiert: 1 Devusˇka pela – 5 Tak pel ee golos – 13 I golos byl sladok [›1 (Ein) Mädchen sang – 5 So sang ihre Stimme – 13 Und (die) Stimme war süß‹]. Der erste Flügel dieses Triptychons ist ein Satz, der sich über eine Serie gleichartiger Ergänzungen mit *anaphorischer Wiederholung der Präposition 2,3,4 O vsech [›Über alle‹] erstreckt. Die Einleitung des zweiten Teils – 5 Tak pel ee golos [›So sang ihre Stimme‹] wird ergänzt durch drei koordinierte Sätze mit der dreifachen anaphorischen Wiederholung der Konjunktion 6,7,9 I [›Und‹], wobei nach dem dritten dieser Sätze wiederum drei abhängige Sätze folgen, die ana4 5
Vgl. die Nachdichtung von Johannes von Guenther in: Block, Gesammelte Dichtungen, S. 105. [Anm. d. Übs./Komm.] Vgl. den Kommentar in Blok, Stichotvorenija. Kniga vtoraja (1904–1908), S. 644– 646. [Anm. d. Übs./Komm.]
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phorisch durch die Konjunktion 9,10,11 ˇcto [›daß‹] eingeleitet werden. Schließlich eröffnet die dritte Variante des Leitmotivs – »I golos byl sladok« [›Und (die) Stimme war süß‹] – eine Serie von drei koordinierten Sätzen mit anaphorischer Wiederholung der Konjunktion »i« [›und‹] (13 I golos byl – 13 i lucˇ byl – 14,15 I 〈…〉 plakal rebenok [›13 Und (die) Stimme war – 13 und (der) Strahl war – 14,15 Und 〈…〉 weinte (das) Kind‹]). Die gesamte Erzählung gliedert sich gewissermaßen in drei Kapitel: »Devusˇka«, »Devusˇka i kazˇdyj«, »Devusˇka i rebenok« [›Mädchen‹, ›Mädchen und jeder‹, ›Mädchen und Kind‹]. Das singende Mädchen und das weinende Kind haben ein und dasselbe Thema. Die Mädchenstimme und das Kinderweinen antworten unterschiedlich auf das Schicksal der Reisenden. Auf ein und dasselbe Gebet des Mädchens reagieren »kazˇdyj iz mraka« [›jeder aus (der) Finsternis‹] und das Kind »vysoko, u Carskich Vrat« [›oben, bei (der) Königstür‹] jeweils auf ihre Weise. Die letzte Zeile des Gedichts – 16 O tom, ˇcto nikto ne pridet nazad [›Darüber, daß niemand nicht 6 kommt zurück‹] – verbindet die Präposition »o« [›über‹], die im ersten Teil dreimal eingesetzt wurde, mit der Konjunktion »cˇto« [›daß‹], die am Ende des zweiten Teils dreimal wiederholt wurde, – die Erscheinung des Kindes zieht gewissermaßen einen Schlußstrich unter die ungeraden Strophen: unter den Gesang des Mädchens und die weltlichen Hoffnungen. Der durch die grammatische *Figur zugespitzte *Kontrast zwischen dem Gebet 3 O vsech 〈…〉 usˇedsˇich [›Für alle 〈…〉 abgefahrenen‹] und dem Weinen 16 O tom, ˇcto nikto ne pridet nazad [›Darüber, daß niemand nicht kommt zurück‹] umschließt die Strophen. Mit dieser thematischen Trichotomie, deutlich gestützt durch die dreigliedrigen anaphorischen Strukturen innerhalb jeder der drei Teile, verbindet das Gedicht einen dichotomischen Schnitt in zwei parallele Abschnitte (I und II) mit je zwei Strophen – einer ungeraden (1) und einer geraden (2): 7 6 7
Im Russischen wird auch die Verneinung der Verbform gefordert. [Anm. d. Übs./ Komm.] Gegen diese von Jakobson detailliert herausgearbeitete symmetrische Struktur (Tryptichon, vertikaler und horizontaler Parallelismus) hat Dorothea Bergstraesser ausgehend vom Bedeutungsganzen des Gedichts dessen asymmetrische Struktur geltend gemacht: »Wesentlich ist mir […] nicht, das Gedicht im Sinn der kompositionellen Simultaneität aller Teile zu analysieren, wie sie das von Jakobson entworfene Bild des Triptychons nahelegt, sondern der Entwicklung des Themas im Sinne des Nacheinander der Rede zu folgen. Ich behaupte deshalb zunächst aufgrund der Vokalisation, der Syntax, der Thematik, der Lexik, der Morphologie der Verben und des Lokativs die Sonderstellung der letzten Strophe und damit eine asymmetrische Gliederung des Gedichts als seine evidente Struktur.« (Bergstraesser,
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Strophe:
⎧ ⎨ ⎩
Abschnitt: 1) ungerade: 2) gerade:
I) erster 1.I 2.I
II) zweiter 1.II 2.II
Jede der vier Strophen des Gedichts besteht aus vier Versen, die durch *Hebungen in vier metrische Segmente unterteilt sind (mit jeweils einer Hebung pro Segment). Das Gedicht gliedert sich einerseits in ungerade und gerade Strophen, andererseits in zwei Abschnitte mit jeweils einer ungeraden und einer geraden Strophe. Die Strophe gliedert sich in ungerade *weibliche und gerade *männliche Verse und in Zweizeiler mit jeweils einem weiblichen und einem männlichen Vers. Der Vers gliedert sich in ungerade und gerade Segmente (und entsprechende Hebungen) mit je zwei Segmenten in jedem Halbvers. Mit einem Wort: Alles stellt eine komplexe Hierarchie von Übereinstimmungen dar. Jede der vier Strophen bildet eine geschlossene Periode. Syntaktische Übereinstimmungen verbinden beide ungeraden Strophen (einführender horizontaler 8 Parallelismus) und auch beide geraden Strophen (abschließender horizontaler Parallelismus). Jede ungerade Strophe umfaßt eine einfache und jede gerade eine komplexe Periode. Sowohl die erste Strophe des Gedichts (1.I) als auch die dritte (1.II) enthält jeweils einen unabhängigen Satz, und auf die dreigliedrige Reihe paralleler *indirekter Objekte der ersten Strophe (2–4) antwortet die dritte Strophe ihrerseits mit drei parallelen Nebensätzen (9–12). Auf der anderen Seite umschließen beide geraden Strophen – die zweite (2.I) und die vierte (2.II) – je drei unabhängige koordinierte Sätze, wobei auf den dritten Satz in beiden Fällen ein Nebensatz folgt, der den letzten Vers der Strophe bildet. Bildet der syntaktische Bestand der Perioden einen horizontalen Parallelismus, so folgt die Zuordnung der Teile der Satzperioden auf die Zeilen der Strophe eher einem vertikalen Parallelismus. In der ersten Strophe nimmt jedes gleichartige Glied des Komplexes jeweils eine Zeile ein,
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»Ergänzende Beobachtungen zu Aleksandr Bloks ›Devusˇka pela‹. Zu Roman Jakobsons Beitrag«, S. 208.) [Anm. d. Übs./Komm.] Die Bezeichnungen ›horizontaler‹ und ›vertikaler Parallelismus‹ gewinnen ihre Anschaulichkeit allein aus der typographischen Anordnung (zwei Spalten), in der Jakobson das Bloksche Gedicht präsentiert. Vgl. das verwandte Verfahren in seiner Analyse des Hussitenchorals: Jakobson, »›Ktozˇ jsu´ bozˇ´ı bojovnı´ci‹: Slovnı´ stavba Husitske´ho chora´lu«, sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 509–535. – Es sei darauf hingewiesen, daß im weiteren Verlauf der vorliegenden Analyse diese ›typographischen‹ Bezeichnungen der Strophenpaare teilweise in Widerspruch zur semantisch-topographischen Analyse geraten: Denn danach eröffnet sich in den ungeraden Strophen eine ›horizontale‹ und in den geraden eine ›vertikale Perspektive‹. Vgl. u. S. 464. [Anm. d. Übs./Komm.]
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und die syntaktische Gliederung der Periode fällt auf diese Weise genau mit der Unterteilung der Strophe in ihre einzelnen Verse zusammen. Entsprechend fallen die Grenzen aller vier Sätze in der zweiten Strophe mit den Versgrenzen zusammen. Dabei enthält in beiden Strophen des ersten Abschnitts – und nur in ihnen – der erste Vers keine syntaktische *Anapher. Vgl. einerseits 1 Devusˇka pela, 5 Tak pel ee golos [›1 (Ein) Mädchen sang, 5 So sang ihre Stimme‹], aber andererseits 9 I vsem kazalos’, 13 I golos byl sladok [›9 Und allen schien, 13 Und (die) Stimme war süß‹]. Auch zwischen den beiden Strophen des zweiten Abschnitts läßt sich die beobachtete Übereinstimmung in der Gliederung des Vierzeilers in vier Sätze beobachten. In beiden Fällen nehmen die beiden ersten Sätze jeweils einen Halbvers ein (9 I vsem kazalos’, ˇcto radost’ budet; 13 I golos byl sladok, i lucˇ byl tonok [›9 Und allen schien, daß Freude kommen wird; 13 Und (die) Stimme war süß, und (der) Strahl war fein‹]), während einer der beiden weiteren Sätze einen Vers und der andere zwei Verse überspannt – in der vorletzten Strophe folgt dabei ein zweizeiliger Satz (Verse 11–12) auf einen einzeiligen (Vers 10), in der letzten Strophe dagegen geht einem einzeiligen Satz (Vers 16) ein zweizeiliger voraus (Verse 14– 15). Für den horizontalen Parallelismus, d. h. für die Entsprechungen zwischen beiden ungeraden Strophen einerseits und beiden geraden Strophen andererseits, sind neben den auffallenden Ähnlichkeiten im syntaktischen Bau der Perioden auch Übereinstimmungen in der Versstruktur charakteristisch. Das *Versmaß der Strophen ist ein vierhebiger Dol’nik 9 mit regelmäßig abwechselnder männlicher und weiblicher *Kadenz (acht ohne und acht mit einsilbiger *Senkung am Versende) und mit fast durchgängigem einsilbigen *Auftakt (vierzehn Zeilen). Unter Abzug der Senkungen am Versende schwanken die Zeilen zwischen neun und zehn Silben – mit jeweils acht Beispielen für jede der beiden Gruppen – mit 26 zweisilbigen und 22 einsilbigen Senkungen zwischen den Hebungen.10 Die beiden einzigen Zeilen mit zweisilbigem Intervall im Versinneren und einsilbigem an den beiden Rändern ( – – – – ) finden sich in den 9
In der russischen Metriktheorie geläufige Bezeichnung für ein Versmaß, bei dem die Zahl der Hebungen streng, die Zahl der Senkungen dagegen relativ locker reguliert ist (zwischen den Hebungen befinden sich 1–2 Senkungen). Vgl. Gasparov, Art. »Dol’nik«, wo Bloks »Devusˇka pela« als Musterfall für den vierhebigen Dol’nik angeführt wird. [Anm. d. Übs./Komm.] 10 Die Summe der Silben in allen drei Intervallen zwischen den Hebungen beträgt vier bis fünf, zusammen mit dem (einsilbigen oder fehlenden) Auftakt fünf bis sechs. Der gesamte männliche Vers umfaßt neun bis zehn Silben und der weibliche zehn bis elf.
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beiden ungeraden Strophen. Von dieser Art ist die Zeile mit der ersten der drei Präpositionen »o« [›über‹] in der ersten Strophe (2 O vse´ch usta´lych v ˇcuzˇo´m kraju´ [›Über alle Erschöpften im fremden Land‹]) und dann die Zeile mit der ersten der drei Konjunktionen »cˇto« [›daß‹] in der dritten Strophe (9 I vse´m kaza´los’, ˇcto ra´dost’ bu´det [›Und allen schien, daß Freude kommen wird‹]). Die einzigen beiden Zeilen ohne Auftakt sind die einzigen nichtanaphorischen Verse in beiden ungeraden Strophen – in der ersten (1 De´vusˇka pe´la v cerko´vnom cho´re [›(Ein) Mädchen sang im Chor der Kirche‹]) und in der dritten (12 Sve´tluju zˇ´ızn’ sebe´ obrelı´ [›(Ein) helles Leben sich gewonnen hätten‹]).11 Es ist interessant, daß in der ersten Strophe alle drei anaphorisch verbundenen Verse gleichzeitig durch eine ausdrucksstarke innere Variation charakterisiert sind. In der zweiten und dritten Zeile fungiert das Pronomen »vsech« [›alle‹] als Attribut, in der vierten dagegen als Objekt; der *Lokativ 2 ustalych [›Erschöpften‹] dient als Objekt, die analogen Formen 3 usˇedsˇich [›abgefahren‹] und 4 zabyvsˇich [›vergessen habend‹] dagegen treten als isolierte Attribute auf. Entsprechend verändert sich die Abstufung der Betonungen und die Verteilung der syntaktischen Pausen. Auch die dritte Strophe zeichnet sich durch einen Reichtum an inneren Variationen aus. Von den drei Endungen der *Worteinheiten im Inneren der Zeile – männlich (m), weiblich (w) und daktylisch (d) – fehlt die dritte in der vierten Strophe völlig und erscheint in den ersten beiden Strophen jeweils einmal am Anfang der Zeile (1 De´vusˇka, 8 Kak be´loe). In der dritten Strophe dagegen tritt die *daktylische Endung in den drei letzten Versen auf, wobei sie einmal die zweite (10 za´vodi), einmal die dritte (11 usta´lye) und einmal die erste Stelle (12 sve´tluju) einnimmt: 9 mww – 10 wdm – 11 mwd – 12 dmm. Noch enger als die ungeraden Strophen sind die beiden geraden Strophen durch gemeinsame Besonderheiten im Versbau miteinander verbunden. Nur in diesen Strophen begegnet der Typ – – – – (): 5 7 13 14 16
Tak pe´l ee go´los, letja´ˇscˇij v ku´pol I ka´zˇdyj iz mra´ka smotre´l i slu´ˇsal I go´los byl sla´dok i lu´cˇ byl to´nok I to´l’ko vyso´ko, u Ca´rskich Vra´t O to´m, cˇto nikto´ ne pride´t naza´d.
11 Vgl. aber die rhythmische Rekonstruktion in Makarova, »Osobennosti muzykal’nogo procˇtenija ritmiki dol’nika v vokal’nych zˇanrach (na materiale stichotvorenija A. Bloka ›Devusˇka pela v cerkovnom chore‹)«, S. 26 f., wo auch v. 11 aufˇ to´ na cˇuzˇbı´ne usta´lye lju´di«. [Anm. d. Übs./Komm.] taktlos gelesen wird: »C
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In beiden Strophen ist die Zeile zwischen den reimenden Versen dieses Typs nach folgendem Schema gebaut: – – – – (). Zusammen mit den benachbarten Versen bildet sie eine * a n t i s y m m e t r i s c h e F i g u r , indem sie die zweisilbigen Intervalle durch einsilbige ersetzt (d. h. die kleinste gerade Anzahl durch die kleinste ungerade) und umgekehrt: 12 6 15
I lu´cˇ sija´l na be´lom plecˇe´ Pricˇa´stnyj Ta´jnam, – pla´kal rebe´nok
Nicht weniger deutlich ist der horizontale Parallelismus auf der lexikalischen Ebene. Worüber das Mädchen im Chor der Kirche sang, wird vom Dichter in der ersten Strophe erzählt. Denn als Antwort auf die Worte der Fürbitte »für die Seefahrer, Reisenden, Kranken und Leidenden« 13 erfleht 12 Vgl. Sˇubnikov, Simmetrija i antisimmetrija konecˇnych figur. [Anm. v. R.J.] – In seinem Aufsatz »The Modular Design of Chinese Regulated Verse« (bes. S. 219 f.) geht Jakobson ausführlicher auf die verschiedenen Möglichkeiten symmetrischer Strukturen in Metren ein, die zwischen ›schweren‹ und ›leichten‹ Silben unterscheiden. Auch dort bezieht er sich u. a. auf die Grundsatzüberlegungen des Mathematikers und Kristallographen Sˇubnikov. Auf der Basis zweier dichotomischer Prinzipien der Wiederaufnahme (Reihenfolge der Elemente: identisch vs. gespiegelt; und ›Vorzeichen‹ der Elemente: identisch vs. umgekehrt) unterscheidet Jakobson insgesamt vier Symmetrieformen (hier veranschaulicht an einem einfachen viersilbigen Beispiel): 1) proper symmetry (direkte Symmetrie) – – – → – – – , 2) reflexive symmetry (Spiegelsymmetrie) – – – → – – – , 3) proper antisymmetry (Antisymmetrie) – – – → – sowie 4) reflexive antisymmetry (gespiegelte Antisymmetrie) – – – → – . – In seiner Anwendung der Symmetrieformen auf Bloks Gedicht geht Jakobson allerdings noch einen Schritt weiter, indem er das Prinzip des ›Vorzeichens‹ nicht auf die *Opposition ›schwere‹ vs. ›leichte‹ Silbe bezieht, sondern auf die Anzahl der unbetonten Silben zwischen den Hebungen: minimales geradzahliges Intervall (zweisilbig) vs. minimales ungeradzahliges Intervall (einsilbig). – (2) – (2) – (1) – (vv. 5, 7, 13, 14, 16) → – (1) – (1) – (2) – (vv. 6, 15). Gemäß der oben erläuterten Terminologie handelt es sich hier also um Typ 3: Proper antisymmetry. – Die verschiedenen Symmetrieformen gehören zu den grundsätzlichsten und wichtigsten Strukturmodellen in Jakobsons Analysen. Sie werden nicht nur auf den Versrhythmus, sondern auch auf andere Textebenen angewendet. Vgl. Jakobson /Lübbe-Grothues, »Ein Blick auf ›Die Aussicht‹ von Hölderlin«, in der vorliegende Ausgabe, Bd. 2, S. 138–249, hier: S. 164, 183 f., 204 f. u. 206 f.; sowie Jakobson /Valesio, »Vocabulorum constructio in Dante’s Sonnet ›Se vedi li occhi miei‹«, S. 179, und die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 439–470, hier: S. 446, 448, 449 f., 455 f. und 466. [Anm. d. Übs./Komm.] 13 Vgl. den Kommentar von Ludolf Müller zu diesem Gedicht: »Das Gedicht spielt an auf die ›Große Ektenie‹ der Chrysostomus-Liturgie, in der es heißt: ›Für die Seefahrenden, die Reisenden, die Kranken, die Mühseligen, die Gefangenen und für ihr Heil lasset uns zum Herrn beten…‹« (Russische Gedichte über Gott und Welt, Leben und Tod, Liebe und Dichtertum, S. 149). [Anm. d. Übs./Komm.]
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der Chor die göttliche Gnade und Hilfe. Entsprechend der dritten Strophe nähert sich das Flehen des Mädchens in den Augen der Gläubigen der Umsetzung in die Wirklichkeit. Auf die Worte der Sorge 3 O vsech korabljach, usˇedsˇich v more [›Über alle Schiffe, abgefahren ins Meer‹], das zentrale Motiv der ersten Strophe (das mittlere Element der dreigliedrigen Konstruktion), antwortet die dritte ihrerseits durch das mittlere Element der dreigliedrigen Struktur, 10 Cˇto v tichoj zavodi vse korabli [›Daß in (einer) stillen Bucht (sind) alle Schiffe‹], wobei die »korabli« [›Schiffe‹] sich vom anfänglichen indirekten Objekt zum Subjekt entwickeln. Gleichzeitig wechseln die angrenzenden Motive der anfänglichen Fürbitte, das erste und das dritte, ihre Plätze in der gedanklichen Antwort der Laien: Ein *Chiasmus verwandelt das abschließende Gedenken 4 O vsech, zabyvsˇich radost’ svoju [›An alle, vergessen habend Freude ihre‹] in den grundlegenden Glauben daran, 9 ˇcto radost’ budet [›daß Freude kommen wird‹], wiederum mit der Veränderung der »radost’« [›Freude‹] vom Objekt zum unmittelbaren Subjekt und mit dem etymologischen Spiel mit zwei *antithetischen Verbformen ein und derselben Wurzel 14 » z a b y v ˇs i c h radost’« [›vergessen habend Freude‹] und »radost’ b u d e t « [›Freude wird (kommen)‹].15 Eine *Spiegelsymmetrie verwandelt die anfänglichen Worte der Fürsprecherin für 2 vsech ustalych v ˇcuzˇom kraju [›alle Erschöpften im fremden Land‹] in die abschließende Beteuerung der dritten Strophe, ˇ to na ˇcuzˇbine ustalye ljudi 12 Svetluju zˇizn’ sebe obreli [›11 Daß in (der) 11 C Fremde (die) erschöpften Menschen 12 (Ein) helles Leben sich gewonnen hätten‹]. Das Adjektiv, das anfänglich zum Objekt 2 O vsech ustalych [›Über alle Erschöpften‹] gewandelt worden war, findet sich als aufgehobenes, überwundenes Epitheton beim neuen Subjekt »ljudi« [›Menschen‹] – der einzigen Pluralform unter den drei belebten Substantiven, 14 Vgl. die Infinitive byt’ ›sein‹ und za-byt’ ›vergessen‹. [Anm. d. Übs./Komm.] 15 Vgl. in den Versen vom Oktober desselben Jahres: »Poka takoj zˇe nisˇcˇij ne budesˇ’, 〈…〉 obo vsem ne zabudesˇ’« [›Solange du kein ebensolcher Bettler sein wirst, 〈…〉 wirst du alles nicht vergessen‹]. Die kontrastive Gegenüberstellung beider Verben desselben Stammes – sprichwörtlich geworden in »Zˇiv budu, ne zabudu« [›Ich bleibe lebendig, werde nicht vergessen‹] – wiederholt sich bei Blok mehrfach: »Ja sego´dnja ne po´mnju, cˇto by´lo vcˇera´, Po utra´m zabyva´ju svoı´ vecˇera´, V be´lyj de´n’ zabyva´ju ognı´, Po nocˇa´m zabyva´ju dnı´.« [›Ich erinnere mich heute nicht, was gestern war, Morgens vergesse ich meine Abende, Am hellen Tag vergesse ich die Feuer, In den Nächten vergesse ich die Tage.‹] [Anm. v. R.J.] – Die von Jakobson zuerst angeführte Passage stammt aus dem Gedicht »Vot On – Christos« [›Dort ist Er – Christus‹], v. 17–19. Vgl. Blok, Stichotvorenija. Kniga vtoraja (1904–1908), S. 66 f., hier: S. 67. Das zweite Zitat ist der Anfang des Gedichts »Ja segodnja ne pomnju« [›Ich erinnere mich heute nicht‹]. Vgl. Blok, Stichotvorenija. Kniga tret’ja (1907–1916), S. 45 f., hier: S. 45. [Anm. d. Übs./Komm.]
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die in den Strophen vorkommen, wobei alle drei jeweils nur einmal und nur in der Rolle des Subjekts auftreten. Später werden wir noch zum horizontalen Parallelismus auf der lexikalischen Ebene der geraden Strophen zurückkehren. Hier sei noch zum Subjekt »ljudi« [›Menschen‹] angemerkt, daß Pluralformen mit von ihnen abhängigen Verben ausschließlich in den ungeraden Strophen vorkommen: 3 korabljach, usˇedsˇich [›Schiffe, abgefahren‹]; 4 vsech, zabyvsˇich [›alle, vergessen habend‹]; 10 v tichoj zavodi vse korabli [›in (einer) stillen Bucht (sind) alle Schiffe‹] (mit der *Nullform des Verbes »byt’« [›sein‹] 16 ); 11 ljudi 12 〈…〉 obrelı ´ [›11 Menschen 12 〈…〉 gewannen‹]. Von den quantifizierenden Pronomina begegnen in den ungeraden Strophen ausschließlich Pluralformen (aggregating *totalizers, entsprechend der Klassifikation von E. Sapir 17): 2,3,4 O vsech [›Über alle‹], 9 vsem [›allen‹] (Dativ Plural), 10 vse [›alle‹] (Nominativ Plural); in den geraden Strophen dagegen begegnen nur Singularformen – das disjunktive 7 kazˇdyj [›jeder‹] (singularized totalizer 18 ) und das negative 16 nikto [›niemand‹] (totalized negative 19 ). Reflexive Pronomina (einschließlich der reflexiv-possessiven Form) begegnen nur in den Schlußversen beider ungeraden Strophen und verweisen in beiden Fällen auf das Agens im Plural: 4 O vsech zabyvsˇich radost’ svoju [›Über alle vergessen habend Freude ihre‹]; 11 ljudi 12 Svetluju zˇizn’ sebe obreli [›11 Menschen 12 (Ein) helles Leben sich gewonnen hätten‹]. Die übrigen beiden Pronomina, beide im Singular, finden sich in den geraden Strophen: 5 ee [›ihre‹] und 16 o tom [›über das‹]. 16 Das russische Verb byt’ ›sein‹ hat keine Präsensformen. Für die dritte Person existieren zwar Präsensformen (est’ bzw. sut’ ), diese werden aber nur in wissenschaftlichen Texten verwendet. [Anm. d. Übs./Komm.] 17 Sapir, Totality. [Anm. v. R.J.] – Jakobson bezieht sich hier wohl auf den vierten der von Sapir unterschiedenen sechs Typen von ›totalized existents‹: »The aggregate of existents, each of which is considered as having functional reality. […] This type may be named ›aggregate‹ or ›simple aggregate‹.« (A. a. O., S. 9.) [Anm. d. Übs./ Komm.] 18 Vgl. a. a. O., S. 12: »the itemizing or singularizing totalizers […], of which ›each‹ and ›every‹ are the type, do not directly express totality but definitely imply it in a reference which is individual in form. In other words, ›every a‹ singles out a particular a only to emphasize the point that all the other a’s of the set differ in no relevant aspect from it.« [Anm. d. Übs./Komm.] 19 Vgl. a. a. O., S. 21: »Logically, the negated totalizer should include the totalized negative, i. e. opposite or contrary, as a possibility, but ordinarily this interpretation is excluded and the totalized negative (contrary) is expressed by negating the corresponding unitizer or non-specifying selective.« Vgl. auch die Übersicht a. a. O., S. 22. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Die deutliche Tendenz der ungeraden Strophen zum Plural und der geraden zum Singular, wie überhaupt der markante morphologische und syntaktische Gegensatz zwischen den ungeraden und geraden Strophen fordert eine semantische Erläuterung. Unter allen Satzgliedern kann man für die Strophen Bloks die Adverbialbestimmungen des Ortes als die charakteristischsten ansehen. Im Gedicht sind zwölf Wörter dieser Kategorie vorhanden, d. h. im Durchschnitt drei pro Vierzeiler; sie alle fallen auf gerade *Versakzente, vier von ihnen finden sich am Ende des ersten und acht am Ende des zweiten Halbverses. Außer zwei Adverbien fungieren in dieser Rolle zehn Substantive, davon sechs Lokative mit den Präpositionen »v« [›in‹] und »na« [›auf‹], zwei Akkusative mit der Präposition »v« [›in‹] und zwei Genitive mit den Präpositionen »iz« [›aus‹] und »u« [›bei‹]. Die Hälfte der Substantive wird von adjektivischen Attributen begleitet. Kurz gesagt: Das Gedicht ist buchstäblich mit Adverbialbestimmungen des Ortes ausgeschmückt. Sie stellen genau die Hälfte der Reimwörter, und auf alle diese Adverbialbestimmungen zusammen mit ihren Attributen entfällt mehr als ein Viertel des ganzen Textes. In der ungewöhnlichen Fülle der Adverbialbestimmungen des Ortes zeigt sich überzeugend, daß sich diese Strophen auf räumliche Beziehungen stützen. In der ersten Strophe bringt das vom Kirchenchor umrahmte Mädchen den Zuhörern sowohl die Schiffe, die ins Meer abgefahren sind, als auch das fremde Land in Übersee näher – so daß sich gemäß der dritten Strophe allen der Glaube an eine stille Bucht mitteilt, die allen Schiffen einen Zufluchtsort gewährt hat, sowie an ein helles Leben, das sich die Reisenden in der Fremde gewonnen haben. Die sich in den beiden ungeraden Strophen eröffnende Weite verschwindet in den geraden Strophen und weicht einer senkrechten Perspektive innerhalb der Kirche mit der sich niedersenkenden Finsternis, dem nach oben fliegenden Gebet und dem Strahl, der von oben in den Chorraum fällt. Die Gegenüberstellung der beiden Akkusative mit der Präposition »v« [›in‹] symbolisiert anschaulich die unterschiedliche Tendenz der ungeraden und geraden Strophen: Während die erste Strophe von den 3 korabljach, usˇedsˇich v more (→) [›Schiffe, abgefahren ins Meer‹] spricht, stellt die zweite die 5 golos, letjasˇˇcij v kupol (↑) [›Stimme, fliegend in (die) Kuppel‹] dar. Genau diese vertikale Perspektive eröffnet 14 vysoko, u Carskich Vrat [›oben, bei (der) Königstür‹] den Blick auf das ›an den Geheimnissen beteiligte‹ Kind, d. h. auf das Jesuskind auf dem Bild der Gottesmutter, das sich dem Brauch gemäß an der Ikonostase links von der Königstür erhebt, unmittelbar unter der Ikone des Heiligen Abendmahls, die die Königstür krönt.20
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Durch die traurige Nachricht O tom, ˇcto nikto ne pridet nazad [›Darüber, daß niemand nicht kommt zurück‹] zerreißt die letzte, d. h. die zweite der geraden Strophen die Verbindung zu denen, die zur See und nach Übersee gefahren sind. Der Horizont wird verengt, und zusammen mit dem Verlust der räumlichen Verbindung geht auch die zeitliche Perspektive verloren. Der Glaube an das Zukünftige (9 radost’ budet [›Freude wird (kommen)‹]) verschwindet mit der Verneinung der Rückkehr (16 nikto ne pridet [›niemand nicht kommt‹]). Genau auf den Kontrast der aufeinanderfolgenden weitenorientierten und höhenorientierten Strophen gründet sich das lyrische Thema des gesamten Gedichts und das vielseitige Spiel der grammatischen Gegenüberstellungen und Annäherungen, das die künstlerische Bedeutung seiner lexikalischen Bilder bei weitem übersteigt. Dieser Kontrast liefert den Schlüssel zu dem, was V. M. Zˇirmunskij »die eigentliche Methode der Symbolisierung« in der Poetik Bloks nennt.21 Der Streit zwischen der Symbolik des Plurals in den ungeraden Strophen und der des Singulars in den geraden ist eng verbunden mit dem unauflösbaren Konflikt zwischen der Entfaltung der ersteren in die Breite und in die Ferne und der linearen Tendenz der letzteren in die Höhe und in die Tiefe (13 lucˇ byl tonok [›(der) Strahl war fein‹]). In den Pronomina vse, vsech, vsem [›alle‹ (Nominativ), ›alle‹ (Lokativ), ›allen‹ (Dativ)] haben die ungeraden Strophen absichtlich die Vorstellung von allen in der Kirche und allen in der Fremde verschmolzen. Bedeutet die Erkenntnis der Nichtrückkehr im Epilog der vierten Strophe den Verlust der Freude nur für jeden auf diesem Ufer, der von der Ankunft der Schiffe geträumt hat, oder aber auch für alle diejenigen, von denen geglaubt wurde, daß sie an jenem Ufer »Svetluju zˇizn’ sebe obreli« [›(Ein) helles Leben sich gewonnen hätten‹]? Ein stehendes Motiv in der Dichtung Bloks dieser Zeit war die Abfahrt ohne Rückkehr, Schiffe, die »za cˇertu morej« 22 [›hinter die Grenze der Meere‹] aufgebrochen waren, und das Verlangen »ustalych 20 Vgl. die Photographie sowie die schematische Darstellung und die Erläuterung in Lexikon der Kunst. Malerei, Architektur, Bildhauerkunst, Bd. 6, S. 126 f. [Anm. d. Übs./Komm.] ˇ irmunskij, »Poe˙zija Aleksandra Bloka«, S. 240. [Anm. v. R.J.] – Bei Zˇirmunskij 21 Z heißt es an der angeführten Stelle (hier gleich in deutscher Übersetzung): »Im zweiten Gedichtband ändert sich nicht nur der Inhalt der *Symbole […], sondern die eigentliche Methode der Symbolisierung. Die Symbole verlieren ihre statische Unbeweglichkeit, sie gewinnen Bewegung und Dynamik.« [Anm. d. Übs./Komm.] 22 Jakobson bezieht sich hier wahrscheinlich auf das Gedicht »Tak bylo« [›So war es‹] aus dem Zyklus »Ee pribytie« [›Ihre Ankunft‹]. Vgl. Blok, Stichotvorenija. Kniga vtoraja (1904–1908), S. 47, v. 12. [Anm. d. Übs./Komm.]
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ljudej« [›erschöpfter Menschen‹], daß sie zurückkehren und die Herzen »Novoj Radost’ju« 23 [›Mit neuer Freude‹] entzünden würden.24 Im lyrischen Drama »Korol’ na plosˇcˇadi« [›Der König auf dem Platz‹] wechseln sich die Aufrufe derjenigen, die fest an die Ankunft der Schiffe geglaubt haben – »K vesel’ju! K vesel’ju! Morja zapevajut« 25 [›Zur Freude! Zur Freude! Es singen die Meere!‹ 26 ] – ab mit den Stimmen des Zweifels, die flüstern: »Korabli s morja! Da ved’ e˙to bezumie! – Esli oni verjat v e˙to, znacˇit uzˇ bol’sˇe ne vo cˇto verit’!« 27 [›Vom Meer die Schiffe! Aber das ist ja Wahnsinn! Wenn die schon an sowas glauben, gibt es nichts mehr, woran man glauben könnte!‹ 28 ] – Die Schiffe kommen nicht an. Der Sturm vernichtet sie. »Pogibnut ili prosto ne zachotjat vernut’sja?« 29 [›Werden sie umkommen, oder wollen sie einfach nicht zurückkehren?‹] Das Stück wiederholt die bekannten Bilder: »narod uveren, cˇto korabli prinesut spasenie« 30 [›das Volk ist überzeugt, die Schiffe würden die Rettung bringen‹ 31 ], wobei unterdessen wiederum »placˇet rebenok« 32 [›ein Kind weint‹ 33 ]. Ein Motiv hat sich der Symbolik Bloks bemächtigt: 23 Wahrscheinlich mit Bezug auf das Gedicht »Golos v tucˇach« [›Stimme in den Gewitterwolken‹] aus demselben Zyklus. Vgl. a. a. O., S. 48 f., v. 17 f. [Anm. d. Übs./Komm.] 24 In den reimlosen Versen des Poems »Nocˇnaja fialka« [›Nächtliches Veilchen‹], das im November desselben Jahres (1905) begonnen wurde, verwandelte sich – wie der Autor in einer Anmerkung versichert – »die Annäherung der großen Schiffe« in »eine fast genaue Beschreibung eines Traums von mir«: »Sly´ˇsu, sly´ˇsu skvoz’ so´n Za stena´mi raska´ty, Otdale´nnye vsple´ski, Bu´dto da´l’nij pribo´j, Bu´dto go´los iz ro´diny no´voj, Bu´dto cˇa´jki kricˇa´t, Ili sto´nut gluchı´e sire´ny, Ili go´nit igra´jusˇcˇij ve´ter Korablı´ iz vese´loj strany´. I necˇa´janno Ra´dost’ pricho´dit 〈…〉« [›Ich höre, ich höre im Traum Hinter den Wänden Donnern, Entferntes Plätschern, Wie eine ferne Brandung, Wie eine Stimme aus der neuen Heimat, Als ob Möwen schreien, Oder taube Sirenen stöhnen, Oder der spielende Wind treibt Schiffe aus einem fröhlichen Land. Und unverhofft kommt die Freude 〈…〉‹] [Anm. v. R.J.] – Jakobson zitiert hier vv. 255–264 des genannten Poems (vgl. Blok, Stichotvorenija. Kniga vtoraja [1904–1908], S. 23–33, hier: S. 32) sowie aus den Anmerkungen Bloks (vgl. a. a. O., S. 582). [Anm. d. Übs./Komm.] 25 Vgl. Blok, »Korol’ na plosˇcˇadi«, in: ders., Teatr, S. 22–60, hier: S. 33. [Anm. d. Übs./Komm.] 26 Nachdichtung von Johannes von Guenther »Der König auf dem Stadtplatz«, in: Block, Gesammelte Dichtungen, S. 327–374, hier: S. 340. [Anm. d. Übs./Komm.] 27 Blok, Teatr, S. 27. [Anm. d. Übs./Komm.] 28 Block, Gesammelte Dichtungen, S. 331 f. [Anm. d. Übs./Komm.] 29 Zitat nicht identifiziert. [Anm. d. Übs./Komm.] 30 Blok, Teatr, S. 47. [Anm. d. Übs./Komm.] 31 Block, Gesammelte Dichtungen, S. 359. [Anm. d. Übs./Komm.] 32 Blok, Teatr, S. 58. [Anm. d. Übs./Komm.] 33 Block, Gesammelte Dichtungen, S. 371. [Anm. d. Übs./Komm.]
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In seinen Versen dieser Zeit ist es unausbleiblich, daß »razdaetsja detskij placˇ« 34 [›das Weinen eines Kindes ertönt‹]. Am Ende der untersuchten Strophen werden sowohl die Geheimnisse als auch die Königstür, die mit dem weinenden Kind verbunden sind, mit großem Anfangsbuchstaben geschrieben, das Kind selbst jedoch unorthodox mit einer kleinen Letter. Es ist allein geblieben, als vom Bild der Unverhofften Freude 35 die Fürsprecherin für »vsech zabyvsˇich radost’ svoju« [›alle vergessen habend Freude ihre‹] in den Chorraum herabgestiegen ist, um sich dem Chor anzuschließen und den Menschen zu verkünden, daß die Freude nahe ist.36 Isoliert waren Mädchen und Knabe auch in den ebenfalls 1905 entstandenen Versen über die Schöne Dame in der Menge derjenigen, die ohne Wiederkehr in See gestochen sind: »Ona ne pridet nikogda.« [›Sie wird niemals kommen.‹] 37 Das tragische Thema der betrogenen Hoffnung auf die Wiederkehr der Schiffe hat den Dichter möglicherweise aufs Neue im Zusammenhang mit dem Schrecken von Tsuschima (Mai 1905) 38 ergriffen. Später erinnerte er daran: 34 Jakobson zitiert hier v. 8 des 1906 entstandenen Gedichts »Neznakomka« (vgl. Blok: Stichotvorenija. Kniga vtoraja [1904–1908], S. 122 f., hier: S. 122). Vgl. die deutsche Nachdichtung »Die Unbekannte« von Rainer Kirsch in: Blok, Gedichte – Poeme, S. 104. [Anm. d. Übs./Komm.] 35 Bezeichnung für die Ikone der Gottesmutter. [Anm. d. Übs./Komm.] 36 Gewiß eine gewagte Interpretation Jakobsons; vgl. Bergstraesser, »Ergänzende Beobachtungen zu Aleksandr Bloks ›Devusˇka pela‹«, S. 209: »die Vorstellung, daß das Mädchen, das da singt, die aus der Ikone herabgestiegene Muttergottes sei, [ist] auf keine Weise belegbar.« – Allerdings findet sich das Motiv der wiederholten Menschwerdung von Gottesmutter und Jesuskind im direkten Zusammenhang mit Kirchenraum und Ikone auch in Bloks ebenfalls 1905 entstandenem Gedicht »Ty prochodisˇ’ bez ulybki« [›Du gehst vorüber ohne Lächeln‹]; vgl. Blok, Stichotvorenija. Kniga vtoraja (1904–1908), S. 118 f., sowie den Kommentar, a. a. O., S. 754–756. [Anm. d. Übs./Komm.] 37 Jakobson bezieht sich hier möglicherweise auf einen Mini-Gedichtzyklus Bloks vom Juli 1905, bestehend aus »U morja« [›Am Meer‹], »Poe˙t« [›Der Dichter‹] und »Balagancˇik« [›Kleine Schaubude‹]. Dort findet sich sowohl das angeführte Personal (Mädchen und Knabe in »Balagancˇik«, die »Prekrasnaja Dama« [›Schöne Dame‹] in »Poe˙t«) als auch der zitierte Vers (v. 24 von »Poe˙t«). Vgl. Blok, Stichotvorenija. Kniga vtoraja (1904–1908), S. 57–59, sowie den Kommentar, a. a. O., S. 633– 637. [Anm. d. Übs./Komm.] 38 Der japanisch-russische Krieg von 1904/05 begann mit dem japanischen Angriff auf den russischen Marinestützpunkt Port Arthur (8./9. 2. 1904), der im Januar 1905 von Rußland aufgegeben werden mußte. Rußlands Niederlage wurde besiegelt durch die Seeschlacht vom 27. 5. 1905 in der Tsuschimastraße, in der die veraltete russische Flotte vollständig aufgerieben wurde. [Anm. d. Übs./Komm.]
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–аскинулась необозримо ”же кровава¤ зар¤, √роз¤ јртуром и ÷усимой 39 Raskinulas’ neobozrimo Uzˇe krovavaja zarja, Grozja Arturom i Cusimoj Es erstreckte sich unübersehbar Schon die blutige Morgenröte, Ankündigend Arthur und Tsuschima
Aber korabli [›Schiffe‹] war, wie von Mocˇul’skij festgestellt wurde, seit der Kindheit ein »magisches Wort für Blok«.40 Zweimal in den ungeraden Vierzeilern der Strophen wiederholt, ist es im Kontext jeder der vier Strophen kunstvoll orchestriert. Die Form 3 korablja´ch mit den *Velaren /k/ und /ch/ am Anfang und Ende und mit dem *Vibranten /r/ in der mittleren Silbe findet ihre Stütze in den übrigen Versen der ersten Strophe: 1 De´vusˇka 〈…〉 cerko´vnom cho´re – 2 kraju´ – 4 zaby´vsˇich ra´dost’. Die zweite Strophe übernimmt und variiert eher die übrigen nichtsilbischen *Phoneme desselben Wortes –*Labial und *Lateral: 5 pe´l 〈…〉 ku´pol – 6 be´lom plecˇe – 7 ka´zˇdyj iz mra´ka – 8 be´loe pla´t’e pelo v lucˇe. Übrigens entfällt von den 32 Lateralen /l/ und /l’/ des gesamten Textes fast die Hälfte (15) auf die zweite Strophe. Der Eingangsvers der dritten Strophe – 9 I vse´m kaza´los’, cˇto ra´dost’ bu´det [›Und allen schien, daß Freude kommen wird‹] – gibt sowohl lautlich als auch inhaltlich die ˇ to v tı´choj za´vodi vse´ korablı´, und das reimende gute Nachricht vor, 10 C Verb 12 obreli´ reproduziert fast den gesamten lautlichen Bestand des ›magischen Wortes‹. In der letzten Strophe gibt die tragische Antithese der vorgespiegelten Schiffe, der Halbvers 15 plakal rebenok [›weinte ein Kind‹], eine neue Variation desselben lautlichen Themas: /karabl,ı´ – abr,il,ı´ – pla´kal r,ib,o´nak/.
39 Es handelt sich um v. 105–107 aus dem 2. Kapitel von Bloks Poem »Vozmezdie« [›Vergeltung‹]. Vgl. Blok, Stichotvorenija i poe˙my (1917–1921), S. 47. [Anm. d. Übs./Komm.] 40 Mocˇul’skij, Aleksandr Blok, S. 166. [Anm. v. R.J.] – Vgl. die kommentierte Neuausgabe von Mocˇul’skijs Blok-Monographie in: ders., Aleksandr Blok. Andrej Belyj. Valerij Brjusov, S. 15–254, hier: S. 102. Die entsprechende Passage bei Mocˇul’skij lautet (hier gleich in deutscher Übersetzung): »Schiffe ist ein magisches Wort für Blok: auf seinen offenen, luftigen Lauten schaukeln leichtbeflügelte Vögel, mit dünnen Masten und geblähten Segeln. Schon als Kind zeichnete er Schiffe: sie waren für ihn ein Bild des Glücks, der Hoffnung und der Befreiung.« [Anm. d. Übs./Komm.]
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Das morphologische Skelett der Strophen muß einer Betrachtung vor dem Hintergrund ihres semantischen Bestands unterzogen werden. Verben sind hier nur durch vierzehn Vertreter des finiten Systems (einschließlich einer Nullform 41) und durch drei Partizipien vertreten. Alle finiten Formen beschränken sich auf die *merkmallose Kategorie der dritten *Person.42 Sowohl Verben als auch Pronomina der ersten und zweiten Person fehlen, obwohl sie in vielen anderen Gedichten Bloks keine unwichtige konstruktive Rolle spielen. Die finiten Formen in den unabhängigen Sätzen der Strophen »Ein Mädchen sang« zeigen eine strenge Einheitlichkeit: Es sind aktive Verben des *imperfektiven Aspekts 43 in der dritten Person Singular Präteritum Indikativ – 1 pela, 5 pel, 6 sijal, 7 smotrel i slusˇal, 9 kazalos’, 13 byl 〈…〉 byl, 15 plakal [›1 sang, 5 sang, 6 glänzte, 7 schaute und hörte, 9 schien, 13 war 〈…〉 war, 15 weinte‹]. Nur die Verben in untergeordneten Konstruktionen weisen eine größere Vielgestaltigkeit der Kategorien auf. Auf die Präteritalpartizipien des *perfektiven Aspekts in der ersten Strophe – 3 O vsech korabljach, usˇedsˇich v more, 4 O vsech zabyvsˇich radost’ svoju [›3 Über alle Schiffe, abgefahren ins Meer, 4 Über alle, vergessen habend Freude ihre‹], antwortet die dritte Strophe durch einen Nebensatz – 11,12 Cˇto na ˇcuzˇbine ustalye ljudi Svetluju zˇizn’ sebe obreli [›Daß in (der) Fremde (die) erschöpften Menschen (Ein) helles Leben sich gewonnen hätten‹] – mit einem Verb desselben *Tempus und desselben Aspekts, während die geraden Strophen beider Abschnitte keine vollendete Vergangenheit aufweisen, weil in ihnen die zeitliche Perspektive überhaupt fehlt. Bei Betrachtung der verbalen Merkmale des vertikalen Parallelismus stellt man fest, daß beide Strophen des ersten Abschnitts sich durch eine große Häufigkeit von Verben auszeichnen. Genau in diesen Strophen finden wir Partizipien in der Funktion isolierter Attribute (3 korabljach, usˇedsˇich, 4 vsech, zabyvsˇich; 5 golos, letjasˇˇcij [›3 Schiffe, abgefahren, 4 alle, vergessen habend; 5 Stimme, fliegend‹]) – im Gegensatz zu den partizipienlosen Strophen des zweiten Abschnitts; auf der anderen Seite gibt es im ersten Abschnitt nur sogenannte k o n k r e t e , lexikalische Verben, 41 Vgl. o. Anm. 16. [Anm. d. Übs./Komm.] 42 Zu den verschiedenen Korrelationen von ›merkmalhaften‹ und ›merkmallosen‹ Formen in bezug auf das russische Verb vgl. Jakobson, »Zur Struktur des russischen Verbums«, für die ›Personenkorrelationen‹ bes. S. 9. [Anm. d. Übs./Komm.] 43 Zu den *Verbalaspekten vgl. Jakobson, »Zur Struktur des russischen Verbums«, S. 6, sowie ders., »Shifters, Verbal Categories, and the Russian Verb«, S. 137 f., und die deutsche Übersetzung »Verschieber, Verbkategorien und das russische Verb«, S. 43 f. [Anm. d. Übs./Komm.]
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während die Strophen des zweiten Abschnitts das a b s t r a k t e , durch und durch grammatische Existenzverb in seinen verschiedenen Formen und Funktionen im Überfluß aufweist: 9 radost’ budet, 10 v tichoj zavodi vse korabli [›9 Freude wird (kommen), 10 in (einer) stillen Bucht (sind) alle Schiffe‹] (mit der Nullform des genannten Verbs); 13 I golos byl sladok, i lucˇ byl tonok [›Und (die) Stimme war süß, und (der) Strahl war fein‹]. 14,15 I tol’ko 〈…〉 plakal rebenok [›Und nur 〈…〉 weinte das Kind‹] ist die einzige positive und konkrete Handlung innerhalb der abschließenden Strophe. Auf der Ebene des Präsens (genauer: des Nicht-Präteritums) des perfektiven Aspekts stellt die dritte Strophe die Frage nach dem Künftigen, die am Ende der vierten Strophe durch eine übereinstimmende Verbform unterstrichen wird, jedoch in Begleitung der Negation »ne« [›nicht‹] – der einzigen negativen Konstruktion im ganzen Text. Damit erscheint das Präsens des perfektiven Aspekts nur in den beiden Strophen des zweiten Abschnitts, wobei es die zeitliche Perspektive in der ungeraden Strophe entfaltet und im Gegensatz dazu den außerzeitlichen Charakter der geraden Strophe verstärkt. Dabei kann man in der dritten Strophe neben den Präteritalformen des imperfektiven Aspekts (9 kazalos’ [›schien‹]) und des perfektiven Aspekts (12 obreli [›gewannen‹]) und dem perfektiven Präsens (9 budet [›wird‹]) auch eine Nullform des imperfektiven Präsens feststellen: 44 10 v tichoj zavodi (#) vse korabli [›in (einer) stillen Bucht (#) alle Schiffe‹]. Die handelnden Personen in den geraden Strophen sind gleichsam von außen beschrieben, während die ungeraden Strophen sich auf die Nacherzählung der Reden und Erlebnisse der handelnden Personen selbst konzentrieren. In Verbindung mit dem eher darstellenden Charakter der geraden Strophen erlangen die Verben in ihnen eine adverbiale Charakteristik. Das Vorkommen von Adverbien in diesen Strophen bei deren Abwesenheit in den ungeraden Strophen ist ein Beispiel für den abschließenden horizontalen Parallelismus. Der pronominale Charakter der beiden miteinander verbundenen Adverbien der zweiten Strophe – 5 Tak pel, 8 Kak 〈…〉 pelo [›5 So sang, 8 Wie 〈…〉 sang‹] – stellt sie den beiden Adverbialbestimmungen des Ortes in der vierten Strophe gegenüber: 14 vysoko 〈…〉 15 plakal, 16 ne pridet nazad [›14 oben 〈…〉 15 weinte, 16 nicht kommt zurück‹]. 44 Das Präsenspartizip führt keine zeitliche Perspektive in den Vers 5 Tak pel ee golos, letjasˇˇsij v kupol [›So sang ihre Stimme, die in die Kuppel flog‹] ein, weil das Präsenspartizip Gleichzeitigkeit im Verhältnis zum übergeordneten finiten Verb »pel« [›sang‹] bedeutet.
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Wie bereits eingangs festgestellt wurde, gehören sowohl das einzige Subjekt als auch das einzige Prädikat der ersten Strophe zum Femininum – »Devusˇka pela« 45 [›(Ein) Mädchen sang‹]; und dies ist sowohl innerhalb der unabhängigen Sätze des ganzen Gedichts der einzige feminine Nominativ, wie dies die einzige Femininform aller finiten Verben ist, die sich nicht nur nach dem *Numerus unterscheiden, sondern im Singular auch nach dem *Genus – d. h. von elf finiten Präteritalformen ist dies die einzige Femininform. Der erste Vers der zweiten Strophe überführt den Gesang des Mädchens auf eine synekdochische Ebene und ersetzt unter Beibehaltung des Anfangs-Verbs das Femininum von Subjekt und Prädikat durch das Maskulinum: 5 Tak pel ee golos [›So sang ihre Stimme‹]. Außerdem sind in den unabhängigen Sätzen der genannten Strophe sämtliche Subjekte und Prädikate im Singular maskulin: 5 pel ee golos, 6 lucˇ sijal, 7 kazˇdyj 〈…〉 smotrel i slusˇal [›5 sang ihre Stimme, 6 (ein) Strahl glänzte, 7 jeder 〈…〉 schaute und hörte‹]. Diese Regel erstreckt sich über beide geraden Strophen, während sich in den ungeraden Strophen unter den Subjekten und Prädikaten im Singular keine einzige Maskulinform findet. Der Schlußvers der zweiten Strophe transponiert den Gesang des Mädchens in einen Nebensatz, der dasselbe Verb nochmals wiederholt, dabei jedoch zur neutralisierten und indifferenten Kategorie des Neutrums übergeht und dieses Prädikat mit einem *metonymischen Subjekt verbindet, dem einzigen neutralen Subjekt im gesamten Gedicht: 8 Kak beloe plat’e pelo [›Wie (das) weiße Kleid sang‹]. Aus dem Nebensatz springt das Neutrum des Prädikats hinüber in den angrenzenden Vers der dritten Strophe mit seinem *unpersönlichen Verb, dem einzigen neutralen Prädikat in den unabhängigen Sätzen der Strophen: 9 I vsem kazalos’ [›Und allen schien‹]. Dieser unpersönlichen neutralen Form stellen die Nebensätze derselben dritten Strophe zunächst ein feminines Subjekt gegenüber, das an das Subjekt der ersten Strophe anklingt, danach genusneutrale Pluralformen – zwei Subjekte und das Prädikat 12 obreli [›gewannen‹]. Auf diese Weise geht die zweite Strophe in der Behandlung der finiten Formen des Präteritums vom doppelt *merkmalhaften Femininum zum einfach merkmalhaften Maskulinum in den unabhängigen Sätzen und zum merkmallosen Neutrum im Nebensatz über; 46 die dritte Strophe führt zunächst das Neutrum in einen unabhängigen Satz ein und danach die genusneutrale Pluralform in den letzten 45 Die Präterialendungen der russischen Verben zeigen den Numerus und im Singular auch das Genus des Subjektes an. (Plural: -i; Singular maskulin: endunglos ([Nullendung, Singular feminin: -a; Singular neutrum: -o].) [Anm. d. Übs./Komm.] 46 »Neuter 〈…〉 proves to be the least specified – the unmarked gender – among
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Nebensatz. Der erste Vers der vierten Strophe kehrt zum Motiv des Gesangs des Mädchens zurück und greift die Lexik der zweiten Strophe auf (5 go´los, 6 I lucˇ, 8 v lucˇe – 13 golos 〈…〉 i lucˇ [›5 Stimme, 6 Und (der) Strahl, 8 im Strahl – 13 Stimme 〈…〉 und (der) Strahl‹]), wobei er ihr Spiel mit den lateralen Phonemen bis zum Äußersten treibt (fünf /l/ in der dreizehnten Zeile im Vergleich zu drei bis vier /l/ und /l’/ in jedem Vers der dritten Strophe), dabei aber auf die aktiven Verben seines Vorbildes (5 pel ee golos, 6 lucˇ sijal [›5 sang ihre Stimme, 6 (ein) Strahl glänzte‹]) verzichtet und erstmals ein attributives Prädikat in das Gedicht einführt: 13 I golos byl sladok, i lucˇ byl tonok [›Und (die) Stimme war süß, und (der) Strahl war fein‹]. Das konkrete Verb der Abschlußstrophe, dem Beginn der Strophen – 1 Devusˇka pela [›(Ein) Mädchen sang‹] – entgegengesetzt und gleichklingend, ist dem neuen Helden zugeordnet: 15 plakal rebenok [›weinte (das) Kind‹]; und so wie das Femininum der ersten Strophe beherrscht das Maskulinum in der letzten Strophe die Subjekte und Prädikate der unabhängigen Sätze (13 golos byl, lucˇ byl, 15 plakal rebenok [›13 (die) Stimme war, (der) Strahl war, 15 weinte (das) Kind‹]) wie auch das Subjekt des Nebensatzes (16 nikto [›niemand‹]). So wird das Genus, die in der Alltagssprache am stärksten formalisierte grammatische Kategorie, für die Entwicklung des lyrischen Themas der Strophen benutzt. Stimmt die letzte Strophe in einigen Zügen mit der ersten überein (fallender diagonaler Parallelismus), so ist die strukturelle Verbindung beider innerer Strophen noch auffälliger (steigender diagonaler Parallelismus oder, unter dem Aspekt der Trichotomie, die Einheit der mittleren Sektion). Die inneren Strophen, die zweite und die dritte, besorgt durch die Teilnahme der Gemeindemitglieder, sind den beiden äußeren Strophen gegenübergestellt, die niemanden außer den individuellen Helden wahrnehmen. Nur die inneren Strophen sind reich an qualitativen Epitheta (6 na belom plecˇe, 8 beloe plat’e, 10 v tichoj zavodi, 11 ustalye ljudi, 12 Svetluju z ˇizn’ [›6 auf (der) weißen Schulter, 8 (das) weiße Kleid, 10 in (einer) stillen Bucht, 11 (die) erschöpften Menschen‹, 12 Helles Leben]), während in den äußeren Strophen *Qualitätsadjektive in attributiver Funktion fehlen. caseless forms 〈namely the short forms of the adjectives in positive degree and the preterit forms of the verb〉. Here a ›subjective‹ class is opposed as marked to the unmarked neuter, and the former signals that the verb or short adjective actually relates to a subject, namely to a more specified, marked feminine or to a less specified and, in this respect, unmarked masculine, whereas the neuter may relate either to a subject in neuter gender or to a lack of a substantial headword.« (Jakobson, »The Gender Pattern of Russian«, S. 185.)
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Beide inneren Strophen entsprechen sich auch hinsichtlich der Reimgestalt. Das traditionelle Minimum der geforderten Lautübereinstimmungen wird nur in zwei Reimen des Gedichts nicht erfüllt, und zwar gerade in den *weiblichen Reimen beider inneren Strophen: 5 kupol – 7 slusˇal, 9 budet – 11 ljudi, und nur in zwei * männlichen Reimen derselben Strophen dehnt sich der Gleichklang auf Konsonanten der Silben aus, die der letzten Hebung vorausgehen: 6 be´lom plecˇe´ – 8 pe´lo v lucˇe´, 10 korabli´ – 12 obreli ´. In beiden inneren Strophen werden die Verse sowohl von offenen als auch von geschlossenen Silben beendet: Beide männlichen Reime sind offen, und von den weiblichen Reimen ist einer geschlossen und der andere verbindet eine geschlossene Endsilbe (9 bu´det) mit einer offenen (11 lju´di). Demgegenüber gibt es in den anderen Strophen keine Vermischung von geschlossenen und offenen Versausgängen, wobei zwischen beiden Strophen ein deutlicher Kontrast erscheint: In der ersten Strophe enden alle Verse mit einer offenen Silbe und sind gleichsam gemäß der offenen Endung der Anfangsdominante d e v u ˇs k a [›Mädchen‹] stilisiert, in der abschließenden Strophe dagegen enden im Gegensatz zu allen anderen Strophen nicht nur die weiblichen, sondern auch die männlichen Verse mit einer geschlossenen Silbe (14 Vra´t – 16 naza´d ) und verallgemeinern gleichsam die Nullendung des finalen Nomens r e b e´ n o k [›Kind‹]. Die Verteilung der Wörter in nicht-kongruierenden, d. h. unabhängigen, und regierten Kasusformen ist in den Strophen Bloks streng gesetzmäßig. Von den 32 Substantiven, substantivierten Adjektiven und *substantivischen Pronomina fallen sechzehn auf die ungeraden Strophen (je acht auf jede) und genauso viele auf beide geraden Strophen. Der letzte Vers jeder ungeraden Strophe verfügt über einen präpositionslosen Akkusativ in semantisch korrelierten Kontexten: 4 O vsech zabyvsˇich radost’ svoju – 12 Svetluju zˇizn’ sebe obreli [›4 Über alle vergessen habend Freude ihre – 12 (Ein) helles Leben sich gewonnen hätten‹], und diese im gesamten Text einzigen Beispiele *transitiver Verben mit *direkten Objekten sind noch zusätzlich hervorgehoben durch den perfektiven Aspekt beider Verben und die Verbindung mit dem einzigen Reflexivpronomen, das sowohl dem Vergessen der Freude als auch dem Gewinn des hellen Lebens eine eigenständige intime Bedeutung verleiht. Während der einführende horizontale Parallelismus den präpositionslosen Akkusativ verwendet, stehen die beiden alleinstehenden präpositionalen Akkusativkonstruktionen im Dienst des einführenden vertikalen Parallelismus. Von dieser Art sind die Beispiele des Akkusativs mit der Präposition »v« [›in‹] in den am engsten benachbarten weiblichen Versen der beiden Strophen des ersten
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Abschnitts, beide in Verbindung mit einem Partizip und in scharfer Entgegensetzung, worauf bereits oben hingewiesen wurde: 3 usˇedsˇich v more – 5 letjas ˇˇcij v kupol [›3 abgefahren ins Meer – 5 fliegend in (die) Kuppel‹]. Der abschließende horizontale Parallelismus beruht auf den Genitivformen, die nur in den beiden geraden Strophen anzutreffen sind – zweimal in der zweiten und einmal in der vierten. Der Genitiv, der seiner Natur nach der Ebene von Metonymie und Synekdoche nahe steht, die diese Strophen durchdringt, ist durch das Motiv der Zugehörigkeit gekennzeichnet. 5 Tak pel ee golos [›So sang ihre Stimme‹] – zum Agens wird die Synekdoche, das tatsächliche Agens (das Mädchen) wird in der Verkürzung des Genitivs gegeben; zudem wird er nicht genannt, sondern durch einen pronominalen anaphorischen Verweis ersetzt, um schließlich in der vierten Strophe völlig in den Hintergrund zu treten: 13 I golos byl sladok [›Und (die) Stimme war süß‹]. Im Spiel des Helldunkel ist 7 kazˇdyj [›jeder‹] mit dem Genitiv iz mraka [›aus (der) Finsternis‹] halb als *pars pro toto verbunden, halb per id quod continet, id quod continetur ostenditur 〈…〉 aut contra [›durch das, was enthält, wird das, was enthalten wird, aufgezeigt 〈…〉 oder umgekehrt‹].47 Dieser Adverbialbestimmung des Ortes steht in der vierten Strophe die isolierte Adverbialbestimmung 14 u Carskich Vrat [›bei der Königstür‹] gegenüber, die äußerlich und innerlich mit dem Bild des weinenden Kindes verbunden ist. Und zusammen mit dem sich anschließenden isolierten Glied, dem a d v e r b i a l e n A t t r i b u t 15 Pric ˇastnyj Tajnam – plakal [›Beteiligt (an den) Geheimnissen – weinte‹],48 teilt sie nach dem ersten auch die mittleren Verse der letzten Strophe durch eine bedeutsame Pause in zwei Teile und verleiht ihr einen doppelten – elegisch weltlichen und hieratischen Sinn. Die vierte, abschließende vertikale Spielart des Parallelismus zeigt sich im Deklinationssystem der Strophen in den präpositionslosen Dativformen, die genauso ausschließlich auf die dritte und vierte Strophe verteilt sind wie die Beispiele des Genitivs auf die zweite und vierte Strophe. D. h. auf die erste der beiden Strophen fallen zwei Vorkommen (9 vsem kazalos’; 12 sebe obreli [›9 allen schien; 12 sich gewannen‹]), und auf die zweite fällt eines (12 Pricˇastnyj Tajnam [›Beteiligt (an den) Geheimnissen‹]). Es gibt im Gedicht keine Dativformen mit Präposition. Mag auch allen die Freude vorschweben und den erschöpften Menschen scheinbar ein helles Leben zuteil geworden sein – entsprechend der Replik der vierten Strophe ist jedoch nur das Kind beteiligt an den Geheimnissen. 47 Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, Bd. 1, § 568, S. 292–394, hier: S. 293. 48 Grammatika russkogo jazyka. Tom 2, Sintaksis. Cˇast’ pervaja, § 907, S. 646.
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Der *Instrumental kommt in den Strophen nicht vor; die in ihnen am weitesten verbreiteten Fälle sind der immer präpositionslose Nominativ und der immer mit einer Präposition auftretende Lokativ. Alle zwölf Beispiele des Nominativs sind symmetrisch verteilt: vier fallen auf beide ungeraden Strophen (1 Devusˇka, 9 radost’, 10 korabli, 11 ljudi [›1 Mädchen, 9 Freude, 10 Schiffe, 11 Menschen‹]) und jeweils vier auf die geraden Strophen des ersten (5 golos, 6 lucˇ, 7 kazˇdyj, 8 plat’e [›5 Stimme, 6 Strahl, 7 jeder, 8 Kleid‹]) und des zweiten Abschnitts (13 golos, luc ˇ, 15 rebenok, 16 nikto [›13 Stimme, Strahl, 15 Kind, 16 niemand‹]). Dabei entstehen semantische Dreierketten: Mädchen – Stimme – Stimme; Strahl – Freude – Strahl; Kleid – Schiffe – Kind; jeder – Menschen – niemand. In jeder geraden Strophe bildet der Nominativ drei Subjekte in Hauptsätzen und eins in einem Nebensatz, in den ungeraden Strophen enthält dagegen die erste nur ein unabhängiges Subjekt und die dritte lediglich drei abhängige. Auf diese Weise kippt die dritte Strophe die Hierarchie der ersten; genauer: Beide ungeraden Strophen ergänzen einander, während die beiden übrigen parallel in ihrer selbständigen Abgeschlossenheit sind. Von den acht unabhängigen oder regierten Kasusformen der ersten Strophen gehören fünf dem Lokativ an (wenn man auch die kongruenten Formen hinzurechnet, machen die Lokativformen elf von fünfzehn aus). Den fünf Lokativen der ersten Strophe (1 v cerkovnom chore, 2 O vsech ustalych, v ˇcuzˇom kraju, 3 O vsech kora´bljach, 4 O vsech [›1 im KirchenChor, 2 Über alle Erschöpften, im fremden Land, 3 Über alle Schiffe, 4 Über alle‹]) stellen die übrigen Strophen zusammen genauso viele Lokativformen gegenüber (6 na belom plecˇe, 8 v lucˇe, 10 v tichoj zavodi, 11 na ˇcuzˇbine, 16 O tom [›6 auf (der) weißen Schulter, 8 im Strahl, 10 in (einer) stillen Bucht, 11 in (der) Fremde, 16 Über das‹]). Wenn man zu den Beispielen des Lokativs alle übrigen präpositionalen Verbindungen hinzunimmt, so finden sich in den Strophen des zweiten Abschnitts je zwei Konstruktionen mit Präpositionen und in jeder Strophe des ersten Abschnitts genau so viele wie in den beiden folgenden Strophen zusammen, d. h. in der zweiten vier und in der ersten sechs. Die gebräuchlichste Präposition – »v« [›in‹] –, die in sechs dieser vierzehn Verbindungen eingeht, zeigt eine arithmetische Regression in ihrer Verteilung auf die Strophen von der ersten bis zur vierten, nämlich 3 : 2 : 1 : 0, und wiederum enthält die erste Strophe genauso viele Beispiele wie alle übrigen zusammengenommen. Der Lokativ in eigentlicher lokaler Bedeutung (mit den Präpositionen v [›in‹] und na [›auf‹]) begegnet nur in den ersten drei Strophen, jeweils zweimal in jeder von ihnen. Er bildet dabei deutliche semantische Entgegen-
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setzungen: 1 v cerkovnom chore – 2 v ˇcuzˇom kraju; 6 lucˇ 〈…〉 na belom plecˇe – 8 beloe plat’e 〈…〉 v luc ˇe; 10 v tichoj zavodi – 11 na ˇcuzˇbine [›1 im Kirchen-Chor – 2 im fremden Land; 6 Strahl 〈…〉 auf (der) weißen Schulter – 8 weißes Kleid 〈…〉 im Strahl; 10 in (einer) stillen Bucht – 11 in (der) Fremde‹]. Die Aufteilung der Lokativformen in den verschiedenen Verbindungen und überhaupt der präpositionalen Konstruktionen illustriert die besondere Stellung, die die erste Strophe im Vergleich mit allen übrigen Strophen, insbesondere mit der entgegengesetzten, letzten Strophe, einnimmt. Die von den Kommentatoren wiederholt festgestellte Meisterschaft Bloks in der Auswahl, genauen Verteilung und Wiederholung der betonten Vokale 49 und ihrer Kombinationen 50 kommt in den untersuchten Strophen überzeugend zum Ausdruck. Von den 64 betonten Vokalen zählen wir im Text 20 /a´/,51 17 /e´/, 13 /o´/, 8 /u´/ und 6 /ı´/. Auf die *diffusen (geschlossenen) Phoneme /u´/ und /ı´/ entfällt nur eine unbedeutende Minderzahl der betonten Vokale, insgesamt 14, und die Hälfte von ihnen fällt auf die dritte Strophe (5 /ı´/ und 2 /u´/), das Minimum dagegen auf die vierte (1 /u/). Von den Phonemen, die einander aufgrund ihrer hohen und niedrigen *Tonalität entgegengesetzt sind, dominieren die hochtonalen (hellen) /e´/ und /ı´/ spürbar in den ersten drei Strophen über die niedrigtonalen (dunklen) /o´/ und /u´/ (23–12). Dies wird erreicht durch das Übergewicht des Phonems /e´/ über /o´/ in der ersten (6–4) und besonders in der zweiten Strophe (7–1) und danach in der dritten durch die Vorherrschaft beider hellen Vokale (9) über /u´/ (2) bei völligem Ausbleiben von /o´/. Die vierte Strophe bringt einen scharfen Wechsel: /e´/ und /ı´/ verschwinden gänzlich, während die Anzahl der dunklen Vokale auf neun ansteigt, wobei /o´/ achtmal und /u´/ nur einmal auftritt. Auf diese Weise ist der Klangcharakter der betonten Vokale gekennzeichnet durch ein Maxi49 Zu Jakobsons System der *distinktiven Phonemmerkmale (darunter *dunkel vs. hell und *kompakt vs. diffus) vgl. Jakobson /Halle, »Phonology and Phonetics«, S. 478– 486, und dies., »The Revised Version of the List of Inherent Features«, sowie die deutsche Übersetzung »Phonologie und Phonetik«, S. 71–81. Vgl. auch Jakobson / Waugh, The Sound Shape of Language, S. 95–113, sowie die deutsche Übersetzung Die Lautgestalt der Sprache, S. 100–120. [Anm. d. Übs./Komm.] ˇ ukovskij, Kniga ob Aleksandre Bloke, Kapitel »Inercija zvukov«, S. 65–84, 50 Vgl. C hier: S. 76.: »Ni u kakogo drugogo poe˙ta ne bylo takogo povysˇennogo osˇusˇcˇenija glasnych.« [›Bei keinem anderen Dichter gab es eine solche erhöhte Wahrnehmung der Vokale.‹] R. Abernathy widmete dieser Frage eine an genauen Beobachtungen reiche Arbeit: »A Vowel Fugue in Blok«. 51 In einem Fall weist der metrisch schwere Vokal /a/ eigentlich keine Wortbetonung auf, – – – – : 11 Cˇto na ˇcuzˇbı´ne usta´lye lju´di [›Daß in (der) Fremde (die) erschöpften Menschen‹].
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mum dunkler und kompakter (offener) betonter Vokale in der letzten Strophe und gleichzeitig durch ein Maximum heller und diffuser Phoneme in der vorletzten Strophe. Die Lautsymbolik 52 der hellen, diffusen Vokale trägt das Motiv der sich nähernden Freude, während die dunklen, kompakten Phoneme des Finales das tragische Weinen des Kindes wiederholen. Nur drei betonte Vokale können in den Grenzen eines Halbverses wiederholt werden – /e´/, /o´/ und /a´/, und jedes dieser drei Paare /e´/ – /e´/, /o´/ – /o´/ und /a´/ – /a´/ findet sich im Gedicht jeweils dreimal, einmal in einer und zweimal in einer anderen, immer geraden Strophe, wobei jede der dreimaligen Verbindungen unbedingt zum Teil in den ungeraden, zum Teil in den geraden Strophen erscheint und dabei in den letzten einen anderen Halbvers als in den ersten einnimmt. Die paarweisen Verbindungen /e´/ – /e´/ und /o´/ – /o´/ werden im Anfangsvers vorgegeben – 1 De´vusˇka pe´la v cerko´vnom cho´re [›(Ein) Mädchen sang im Kirchen-Chor‹]. Das erstmals im der ersten Hälfte des ersten Verses der ersten Strophe erscheinende Paar /e´/ – /e´/ wird im zweiten Halbvers der geraden Zeilen der zweiten Strophe zweimal wiederholt – 6 na be´lom plecˇ´e; 8 pe´lo v lucˇ´e [›6 auf (der) weißen Schulter; 8 sang im Strahl‹], während sich das Paar /o´/ – /o´/ aus der zweiten Hälfte des ersten Verses der ersten Strophe zweimal in die vierte Strophe ausbreitet und zweimal im ersten Halbvers ihrer geraden Zeilen wiederholt wird – 14 I to´l’ko vyso´ko; 16 O to´m, ˇcto nikto´ [›14 Und nur oben; 16 Darüber, daß niemand‹]. Die Wiederholung /a´/ – /a´/ erscheint ihrerseits einmal in der zweiten und zweimal in der vierten Strophe, und zwar zweimal im ersten Halbvers der ungeraden Zeilen – 7 I ka´zˇdyj iz mra´ka; 15 Pricˇa´stnyj Ta´jnam [›7 Und jeder aus (der) Finsternis; 15 Beteiligt (an den) Geheimnissen‹] – und einmal in der zweiten Hälfte des vierten Verses – 14 u Ca´rskich Vra´t [›an (der) Königstür‹]. An zweiter Stelle im Halbvers findet sich das Phonem /e´/ nur in paarweisen Verbindungen /e´/ – /e´/. Beginnend mit dem Anfangswort »Devusˇka« [›Mädchen‹] fällt die erste Hebung in allen vier Versen der ersten Strophe auf /e´/, und in den ersten beiden Strophen entfallen 11 von 16 ungeraden Hebungen auf /e´/. Die dominante Rolle geht vom /e´/ auf das zwar helle, aber im Unterschied zu /e´/ diffuse Phonem /ı´/ über, das hauptsächlich in geraden Hebungen auftritt, darunter dreimal nach /e´/: 10 vse´ korablı´; 12 Sve´tluju zˇ´ızn’ sebe´ obrelı´ [›10 alle Schiffe; 12 (Ein) helles Leben sich gewonnen hätten‹]. 52 Zur Frage der Lautsymbolik vgl. Jakobson /Waugh, The Sound Shape of Language, bes. Kap. IV, 1 »Sound Symbolism«, und die deutsche Übersetzung Die Lautgestalt der Sprache. [Anm. d. Übs./Komm.]
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In der vierten Strophe erscheinen nach einer Ausnahme nur /o´/ und /a´/. Das Phonem /a´/, das als Pol der Kompaktheit bestimmt wird und synästhetisch mit Räumlichkeit und Schwere verbunden ist,53 wächst in der Zahl schrittweise von der ersten Strophe bis zur letzten. Sowohl im ersten als auch im letzten Halbvers der Abschlußstrophe folgt /a´/ auf /o´/ – 12 I go´los byl sla´dok; 16 ne pride¨t naza´d [›12 Und (die) Stimme war süß; 16 nicht kehrt zurück‹]. Die Wiederholung jedes dieser beiden Phoneme entfaltet dasselbe, zunehmend bedrückende vokalische Thema im Verlauf der folgenden Zeile – 14 I to´l’ko vyso´ko, u Ca´rskich Vra´t [›Und nur oben, bei (der) Königstür‹]; und dasselbe Thema variiert der Abschlußvers mit dem dreimaligen /o´/ und dem einmaligen /a´/, der damit den ersten Halbvers zunächst der zweiten und danach der ersten Zeile derselben Strophe nachbildet: 16 O to´m, ˇcto nikto´ ne pride´t naza´d [›Darüber, daß niemand nicht kehrt zurück‹]. Durch den Austausch aller /o´/ durch das Phonem /a´/ und umgekehrt verbindet die A n t i s y m m e t r i e 54 durch den engen vokalischen Zusammenhang beide semantisch verknüpften Zeilen – die letzte und die vorletzte: 15 Pricˇa´stnyj Ta´jnam, – pla´kal rebe¨nok [›Beteiligt (an den) Geheimnissen – weinte (das) Kind‹], wobei das mit dem /a´/ benachbarte /o´/ in beiden Versen, und nur in ihnen, auf einen *weichen Konsonanten folgt: 15 pla´kal rebe¨nok – 16 ne pride¨t naza´d [›15 weinte (das) Kind – 16 nicht kehrt zurück‹]. Diese beiden abschließenden Zeilen, die einzigen Verse der Strophen mit drei identischen Vokalen in benachbarten Hebungen (a´-a´-a´, o´-o´-o´), bilden darüber hinaus eine antisymmetrische Figur durch die Verteilung der einsilbigen und zweisilbigen Intervalle zwischen den Hebungen, wie oben bereits festgestellt wurde. Schließlich nehmen diese Zeilen, die das Wesen des ganzen Gedichts tiefgreifend verändern, in ihm auch hinsichtlich des Bestands der Endungen im Versinneren einen besonderen Platz ein. Erstens finden sich nur in dieser Strophe Zeilen mit drei gleichartigen inneren Endungen – ausschließlich weiblichen (14 I to´l’ko / vyso´ko, / u Ca´rskich / Vra´t, 15 Pricˇa´stnyj / Ta´jnam, – / pla´kal / rebe¨nok) oder nur männlichen (16 O to´m, / ˇcto nikto´ / ne pride¨t / nazad ). Zweitens wiederholt sich innerhalb der ersten drei Strophen der Bestand der Endungen im Versinneren niemals – im Gegensatz zu den inneren Zeilen der vierten Strophe: 14 www – 15 www. Drittens befinden sich beide abschließenden Zeilen nach dem Bestand ihrer gesamten Endungen (einschließlich des Versausgangs) wiederum in einer antisymmetrischen Beziehung: der vorletzte Vers mit vier weiblichen Endun53 Zur synästhetischen Verknüpfung von Lauten vgl. das Kapitel »Synesthesia« in: Jakobson /Waugh, The Sound Shape of Language, S. 191–198, sowie die deutsche Übersetzung Die Lautgestalt der Sprache, S. 207–214. [Anm. d. Übs./Komm.] 54 Zu den verschiedenen Symmetrieformen vgl. o. Anm. 12. [Anm. d. Übs./Komm.]
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gen wird in die vier männlichen Endungen der letzten Zeile umgewendet (15 wwww – 16 mmmm). Der tragische Ausgang der Strophen findet in der dreifachen Antisymmetrie einen verdichteten Ausdruck. Der Klangcharakter der Reimhebungen unterscheidet sich in den drei ersten Strophen scharf von der Verteilung der Vokale unter den übrigen Hebungen. Von den acht Reimen des ganzen Gedichts enthalten nur die beiden männlichen Reime der inneren Strophen helle Vokale, während alle vier weiblichen Reime zusammen mit dem männlichen Reim der Anfangsstrophe von dunklen Vokalen durchdrungen sind – vier /o´/ in den weiblichen Reimen beider äußeren Strophen und sechs /u´/: 2 kraju´ – 4 svoju´, 5 ku ´ pol – 7 slu´ˇsal, 9 bu´det – 11 lju´di. Auf diese Weise fallen sechs der acht betonten /u´/ auf Reime, und die beiden restlichen gehören in ungeraden Hebungen der beiden geraden Strophen zum Wort »lucˇ« [›Strahl‹]. Der Klang der Reime ist relativ unabhängig vom Lautgewebe des ganzen Verses. Die weiblichen Reime auf /o´/ spannen einen Faden von der Eingangszur Schlußstrophe, und die durchweg niedrige Tonalität der betonten Vokale in den Reimen der ersten Strophe nimmt den dominierenden Ton der ganzen Strophe über das Weinen des Kindes vorweg. Der gleichzeitig dunkle und diffuse Vokal /u´/, der drei Reime der ersten drei Strophen durchzieht, verleiht dem gesamten Gang des lyrischen Themas einen dumpfen und finsteren Hintergrund, der die lautgestaltlichen Variationen innerhalb des Verses von der Einleitung bis zum Ausgang der dritten Strophe hervorhebt. Über der vierten Strophe dagegen liegt und lastet vom Beginn bis zum Ende ihrer Verse das abschließende vokalische Thema der dichten und hoffnungslosen Finsternis.
II. Über »Die Stimme aus dem Chor« Die erste Zeile des Gedichts »Devusˇka pela« [›Ein Mädchen sang‹], das im August 1905 geschrieben wurde, endete mit den Worten v cerkovnom chore [›im Chor der Kirche‹], und die letzte Zeile begann mit dem Satz I golos byl sladok [›Und die Stimme war süß‹]. Das war die Inspiration, die Blok aus dem Gedicht übernahm, mit dem er bis zu seinem Tod gern das Programm seiner öffentlichen Lesungen beendete.55 Das war die Inspiration für sein Gedicht »Golos iz chora« [›Die Stimme aus dem Chor‹]; 55 Vgl. den folgenden Auszug aus den Erinnerungen Samuil Mironovicˇ Aljanskijs an die Lesung Bloks am 9. 5. 1920 in Moskau (hier gleich in deutscher Übersetzung): »Als letztes trug der Dichter an diesem Abend das Gedicht vor, das er besonders gerne las: ›Ein Mädchen sang im Chor der Kirche‹ […]. Ich denke, daß das Publikum dieses Gedicht gut kannte, und vielleicht gerade deswegen führte es zu
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an ihm arbeitete Blok vom Beginn der zehner Jahre bis zum Februar 1914 und notierte kurz nach der Fertigstellung in seinem Notizbuch: »Pachnet vojnoj« 56 [›Es riecht nach Krieg‹]. I1 aк чaсто плaчем – вы и ¤ –
3
Ќaд жaлкой жизнию своей! ќ, если б знaли вы, друзь¤,
4
’олод и мрaк гр¤дущих дней!
2
IV 1 » век последний, ужaсней всех, 2 ”видим и вы и ¤. 3 ¬сЄ небо скроет гнусный грех, 4 Ќa всех устaх зaстынет смех, 5 “оскa небыти¤…
II1 “еперь ты милой руку жмешь, 2 »грaешь с нею, шут¤, 3 » плaчешь ты, зaметив ложь, 4 »ли в руке любимой нож, 5 ƒит¤, дит¤!
V 1 ¬есны, дит¤, ты будешь ждaть – 2 ¬еснa обмaнет. 3 “ы будешь солнце нa небо звaть – 4 —олнце не встaнет. 5 » крик, когдa ты нaчнешь кричaть, 6 aк кaмень, кaнет…
III1 Ћжи и ковaрству меры нет,
VI 1 Ѕудьте ж довольны жизнью своей, 2 “ише воды, ниже трaвы! 3 ќ, если б знaли, дети, вы,
ј смерть – дaлекa. ¬сЄ будет чернее стрaшный свет, 4 » всЄ безумней вихрь плaнет ≈ще векa, векa! 5 2 3
I1 Kak cˇa´sto pla´cˇem – vy´ i ja´ – 2 Nad z ˇa´lkoj zˇ´ızniju svoe´j! 3 O, e ´sli b zna´li vy´, druz’ja´, 4 Cho ´ lod i mra´k grjadu´ˇscˇich dne´j!
4
’олод и мрaк гр¤дущих дней! 57
IV 1 I ve´k posle´dnij, uzˇa´snej vse´ch, 2 Uvı´dim i vy´ i ja´. 3 Vse ¨ ne´bo skro´et gnu´snyj gre´ch, 4 Na vse ´ch usta´ch zasty´net sme´ch, 5 Toska´ neby´tija…
einem Triumph, wie es ihn an diesem Abend noch nicht gegeben hatte.« (Aleksandr Blok v vospominanijach sovremennikov, Bd. 2, S. 300.) [Anm. d. Übs./Komm.] 56 Blok, Zapisnye knizˇki 1901–1920, S. 210 (Eintrag vom 28. 2. 1914). [Anm. d. Übs./Komm.] 57 Vgl. Blok, Stichotvorenija. Kniga tret’ja (1907–1916), S. 39 f. [Anm. d. Übs./ Komm.]
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II1 Tepe´r’ ty mı´loj ru´ku zˇme´ˇs’, 2 Igra ´esˇ’ s ne´ju, ˇsutja´, 3 I pla ´cˇesˇ’ ty´, zame´tiv lo´zˇ’, 4´ Ili v ruke´ ljubı´moj no´zˇ, 5 Ditja´, ditja´! III1 Lzˇ´ı i kova´rstvu me´ry ne´t, 2 A sme ´rt’ – daleka´. 3 Vse ¨ bu´det cˇerne´e stra´ˇsnyj sve´t, 4 I vse ¨ bezu´mnej vı´chr’ plane´t 5 Esˇcˇe´ veka´, veka´! I1 Wie oft weinen wir – ihr und ich – 2
Über unser armseliges Leben!
O, wenn ihr kennen würdet, Freunde, 4 Die Kälte und das Dunkel der künftigen Tage! 3
II1 Jetzt drückst du der Lieben die Hand, 2 Spielst mit ihr, scherzend, Und du weinst, wenn du eine Lüge bemerkst, 4 Oder in der Hand der Geliebten ein Messer, 5 Kind, Kind! 3
V 1 Vesny´, ditja´, ty bu´desˇ’ zˇda´t’ – 2 Vesna´ obma´net. 3 Ty bu ´ desˇ’ so´lnce na ne´bo zva´t’ – 4 So´lnce ne vsta´net. 5 I krı ´k, kogda´ ty nacˇne´ˇs’ kricˇa´t’, 6 Kak ka´men’, ka´net… VI 1 Bu´d’te zˇ dovo´l’ny zˇ´ızn’ju svoe´j, 2 Tı´ˇse vody´, nı´zˇe travy´! 3 O, e ´sli b zna´li, de´ti, vy´, 4 Cho´lod i mra´k grjadu´ˇscˇich dne´j!
IV 1 Und das letzte Jahrhundert, schrecklicher als alle, 2 Werden sowohl ihr als auch ich sehen. 3 Den ganzen Himmel wird verbergen die schändliche Sünde, 4 Auf allen Lippen wird ersterben das Lachen, 5 Die Trauer der Nichtexistenz… V 1 Auf den Frühling, Kind, wirst du warten – 2 Der Frühling wird das Versprechen nicht halten. 3 Du wirst die Sonne an den Himmel rufen – 4 Die Sonne wird nicht aufgehen. 5
6
III1 Lügen und Tücke haben kein Maß, 2 Und der Tod ist weit. 3 Immer schwärzer wird die schreckliche Welt, 4 Und immer verrückter der Wirbel der Planeten Noch Jahrhunderte, Jahrhunderte! 5
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Und der Schrei, wenn du beginnen wirst zu schreien, Wird, wie ein Stein, verschwinden…
VI 1 Seid doch zufrieden mit eurem Leben, 2 Stiller als Wasser, niedriger als Gras! 3 O, wenn ihr, Kinder, kennen würdet, 4 Die Kälte und das Dunkel der künftigen Tage! 58
58 Vgl. die Nachdichtung von Johannes von Guenther in: Block, Gesammelte Dichtungen, S. 194 f. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Es ist schwer, unter den Gedichten Bloks eine anschaulichere Illustration zu seinem Bekenntnis zu finden, das Eingang in das Vorwort zum Poem »Vozmezdie« [›Vergeltung‹] gefunden hat: »Ich habe mir angewöhnt, Fakten aus allen Lebensbereichen zusammenzustellen, die meinem Blick zur gegebenen Zeit zugänglich sind, und ich bin überzeugt, daß sie alle zusammen einen einheitlichen musikalischen Sinn ergeben.« 59 Auch wenn der Autor sein Gedicht »Golos iz chora« [›Die Stimme aus dem Chor‹] zeitweilig für ein »sehr unangenehmes«, aus unerfindlichen Gründen geschriebenes Gedicht hielt, das besser »unausgesprochen geblieben wäre«, so stellte er doch fest: »Aber ich mußte es aussprechen.« 60 Und im Verzeichnis der Gedichte, die Blok auf Abendlesungen Anfang 1918 vortrug, d. h. genau in den Tagen der Arbeit am Poem »Dvenadcat’« [›Zwölf‹], ist »Golos iz chora« [›Die Stimme aus dem Chor‹] als zweiter von elf Texten aufgeführt. Offenbar fand die Formulierung »v ruke ljubimoj nozˇ« [›in der Hand der Geliebten (ein) Messer‹] einen Widerhall in den Worten, von denen ˇ ukovskijs sein neues Poem ausgehend Blok nach dem Zeugnis Kornej C zu schreiben begann: »Uzˇ ja nozˇicˇkom polosnu polosnu« 61 [›Schon steche, steche ich mit dem Messerchen‹].62 Die Zusammenstellung der Bilder der zweiten Strophe des »Chors« – ty miloj ruku zˇmesˇ’ [›du drückst der Geliebten die Hand‹] und v ruke ljubimoj nozˇ [›in der Hand der Geliebten ein Messer‹] hat ihren Ursprung in den eng verbundenen und ihrerseits gereimten Zeilen:
59 Vgl. Blok, Stichotvorenija i poe˙my (1917–1921), S. 48–51, hier: S. 49. [Anm. d. Übs./Komm.] 60 So äußerte sich Blok nach der Erinnerung Vsevolod Aleksandrovicˇ Rozˇdestvenskijs im Anschluß an seinen Vortrag des Gedichts auf einer Lesung 1920. Vgl. Blok, Stichotvorenija. Kniga tret’ja (1907–1916), S. 635, sowie Aleksandr Blok v vospominanijach sovremennikov, Bd. 2, S. 213 f. [Anm. d. Übs./Komm.] 61 Die Passage findet sich in Bloks Poem »Dvenadcat’« [›Die Zwölf‹], Str. 8 (Blok, Stichotvorenija i poe˙my [1917–1921], S. 7–20, hier: S. 17, v. 238 f.). Vgl. die deutsche Übersetzung von Alfred Edgar Thoss in: Blok, Gedichte – Poeme, S. 233–244, hier: S. 241. [Anm. d. Übs./Komm.] ˇ ukovskij vom 12. Januar 1921 62 Vgl. den Tagebucheintrag von Kornej Ivanovicˇ C (hier gleich in deutscher Übersetzung): »Es gefiel ihm [Blok] sehr, als ich sagte, daß ›er an seinen Vokalen nicht schuld sei‹; ›ja, ja, ich bemerke sie nicht, ich denke nur an die Konsonanten, verhalte mich ihnen gegenüber bewußt, an ihnen bin ich schuld. Meine ›Dvenadcat’‹ [»Die Zwölf«] begannen auch mit dem Konsonanten zˇ: ›Uzˇ ja nozˇicˇkom Polosnu, polosnu‹ [»Schon mit (dem) Messerchen (Ich) steche, ˇ ukovskaja, »Pis’ma Bloka k K. I. C ˇ ukovskomu i otryvki iz dnev(ich) steche«].« (C ˇ ukovskogo«, S. 254.) [Anm. d. Übs./Komm.] nika K. I. C
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“ы милой руки страстно жал ¬ ночи таинственной, —мотри – блеснет сквозь ночь кинжал ¬ руке убийственной.63 Ty mı´loj ru´ki stra´stno zˇa´l V nocˇ´ı taı´nstvennoj, Smotrı´ – blesne´t skvoz’ no´cˇ’ kinzˇa´l V ruke´ ubı´jstvennoj. Du hast der Geliebten leidenschaftlich die Hände gedrückt In der geheimnisvollen Nacht, Sieh – es funkelt durch die Nacht der Dolch In der Hand der Getöteten.
Wie auch immer man diese nachdrückliche Kontinuität des Motives erklären mag – kein Zweifel besteht daran, daß das Gedicht »Golos iz chora« [›Die Stimme aus dem Chor‹] dem Rat der »Avtobiografija« [›Autobiographie‹] des Dichters aus dem Jahr 1909 folgt: »Es gibt eine Mathematik des Wortes (wie auch eine Mathematik für alle anderen Künste), besonders in Gedichten.« 64 Bereits ein flüchtiger Blick reicht aus, um die Gesamtheit der grammatischen Konstruktionen zu bemerken, die dem gesamten Gedichttext zugrunde liegt und die seine dramatische Entwicklung bestimmt. In der sechsstrophigen Komposition des »Chors« nimmt jede folgende Strophe ein Wort der vorhergehenden Strophe auf und unterzieht es einer bestimmten morphologischen oder syntaktischen Veränderung. Dabei fällt dieses Wort jeweils in die ungeraden Zeilen der beiden miteinander verbundenen Strophen: I1 placˇem → II3 placˇesˇ’ [›I1 weinen → II3 weinst‹]; II3 lozˇ’ → III1 Lzˇi [›II3 Lüge → III1 Lügen‹]; III5 veka → IV1 vek [›III5 Jahrhunderte → IV1 Jahrhundert‹] (vgl. auch das Adverb III3 vse¨ [›immer‹] → das *adjektivische Pronomen IV3 vse¨ [›ganzen‹]); das direkte Objekt IV3 nebo → V3 na nebo [›IV3 (den) Himmel → V3 an (den) Himmel‹]; V1 ditja → VI3 deti [›V1 Kind → VI3 Kinder‹]. Der letzte Zweizeiler der sechsten Strophe kehrt zum Text des zweiten Zweizeilers 65 der ersten Strophe zurück und wiederholt ihn, wobei er nur die Anrede verändert: VI3 deti, vy – I3 vy, druz’ja [›VI3 Kinder, ihr – I3 ihr, Freunde‹]. 63 Jakobson zitiert hier aus einem der handschriftlichen Entwürfe Bloks zur »Stimme aus dem Chor«. Vgl. Blok, Stichotvorenija. Kniga tret’ja (1907–1916), S. 261, l. 3. [Anm. d. Übs./Komm.] 64 Vgl. Blok, Avtobiografija 1915. Dnevniki 1901–1921, S. 434. [Anm. d. Übs./ Komm.] 65 Im Original irrtümlich ›Halbverses‹. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Die sechs Strophen mit unterschiedlichem Bau und unterschiedlicher Verszahl bilden zwei parallele Abschnitte von jeweils drei Strophen: Die drei Strophen des Anfangsabschnittes (I–III) stehen den drei Strophen des Endabschnittes (IV–VI) gegenüber. Beide Abschnitte unterscheiden sich sogar in ihrer graphischen Gestalt: Die Strophen sind im Anfangsabschnitt durch Ausrufezeichen voneinander getrennt, im Endabschnitt dagegen durch Auslassungspunkte. Dies spiegelt den Unterschied im Intonationsprofil der Strophen wider. In beiden Abschnitten werden die Übergangsstrophen (II, V) zwei Paaren von Grenzstrophen gegenübergestellt: den Eingangs- (I, IV) und den Schlußstrophen (III, VI). Außerdem weisen die Rand- (I, VI) und die Mittelstrophen (III, IV) jeweils besondere Merkmale auf. Abschnitt:
⎧ Eingang
Anfang I
Ende IV
II
V
III
VI
⎪
Strophen: ⎨ Übergang ⎪
⎩ Schluß
⎧ ⎪ ⎨ ⎪ ⎩
⎧ ⎪ ⎨ ⎪ ⎩
Mittelstrophen
Randstrophen
Der Ausgangspunkt aller drei Strophen des Anfangsabschnittes ist die Gegenwart und ihre Beziehung zu den künftigen Jahrhunderten und Tagen – im Gegensatz zum Ausgangspunkt des gesamten Endabschnittes, der das letzte der künftigen Jahrhunderte in seinem radikalen Unterschied zur gegenwärtigen Erfahrung zeichnet. Die Thematik der drei Anfangsstrophen umfaßt: I) den Versuch des Herangehens an die Gegenwart ohne Berücksichtigung der unheimlichen Zukunft; II) die Skizze der Leidenschaften der Gegenwart; III) den Weg in das nächste Jahrhundert. Die symmetrische Antwort der drei weiteren Strophen lautet: IV) die Prophezeiung der Schrecken des nächsten Jahrhunderts, das wir alle erblicken werden, V) die Erscheinung seiner eisigen und düsteren Tage sowie schließlich VI) der Aufruf zur Rechtfertigung der Gegenwart im Lichte ihrer Gegenüberstellung mit dem unsagbaren Schrecken der bevorstehenden Prüfungen und mit der künftigen Trauer über die Nichtexistenz zu Lebzeiten. Die sechste Strophe widerspricht der ersten dadurch, daß sie auf die kirchliche Form des zeremoniellen Weinens über das Leben und auf die moralisierende Ablehnung des Alltäglichen verzichtet. Der Epilog ruft auf zur Versöhnung gerade mit dem jetzigen stillen, niedrigen, alltäglichen Leben. Dieser nach der Einschätzung des Autors »sehr unangenehme« Aufruf zum Leben im Kleinen wird vom Dichter mit dem
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Quietismus der verbreiteten Redensart 66 zu einer sarkastischen Harmonie verschmolzen: Bu´d’te zˇ dovo´l’ny zˇ´ızn’ju svoe´j, /t’isˇ/ /dav/ /nizˇ/ /va/ Tı´ˇse vody´, nı´zˇe travy´! /t’isˇ/ /vad/ /nizˇ/ /av/.
Eine ›objektive‹ Übersetzung des höhnischen Imperativs in die Sprache der Alltagsprosa findet sich bei Blok in den Zeilen eines Briefes kurz vor seinem Tod: »Also kann man nicht mehr sagen: ›uns geht es auch heute gut‹ – hat doch das dreckige, näselnde, heimatliche Mütterchen Rußland wie eine Sau sein Ferkel gefressen.« 67 Die Substantive (wenn man auch die substantivierten Adjektivformen der zweiten Strophe – II1 miloj [›(der) Lieben‹] und 4 ljubimoj [›(der) Geliebten‹] – hinzuzählt) sind gleichmäßig auf beide Abschnitte verteilt; ihre Anzahl beläuft sich auf 22 Formen in jedem Abschnitt. Die Mannigfaltigkeit der prädikativen Formen wird in hohem Maße genutzt. Besonders aufschlußreich ist die Auswahl und Verteilung der Verben und der pronominalen Subjekte in bezug auf Person und Numerus. Beide Eingangsstrophen (I und IV) verbinden in den pronominalen Formen ihrer ersten Verspaare den *Adressanten mit dem kollektiven Adressaten seiner Rede. Dabei kombinieren sie dieses zusammengesetzte Subjekt mit – im weiteren Verlauf des Gedichts verstummenden – Verbformen in der ersten Person Plural: I1 Kak ˇcasto placˇem – vy i ja – [›I1 Wie oft weinen (wir) – ihr und ich –‹]; IV2 Uvidim i vy i ja [›IV2 Werden sowohl ihr als auch ich sehen‹]. Außerhalb dieser Verbindung kennt der »Chor« weder pronominale noch Verbformen in der ersten Person, d. h. im gesamten Text gibt es weder das Pronomen my [›wir‹] noch Verben in der ersten Person Singular. Das zweite Verspaar 68 der beiden Randstrophen isoliert im beiden gemeinsamen Refrain die Form vy [›ihr‹] vom begleitenden ja [›ich‹] und verwendet sie in Verbindung mit dem Konjunktiv: I3 O, esli b znali vy, 66 Vgl. den entsprechenden Eintrag in der Sprichwortsammlung Russkie narodnie zagadki, poslovicy, pogovorki, S. 169. [Anm. d. Übs./Komm.] ˇ ukovskij vom 26. 5. 1921. Vgl. 67 Die Passage stammt aus Bloks Brief an Kornej C Blok, Pis’ma 1898–1921, S. 537. – Das Binnenzitat stammt aus Bloks Gedicht »V ˇ ukovskomu« [›In das Album C ˇ ukovskijs‹] vom 6. 12. 1919. Vgl. Blok, albom C Stichotvorenija i poe˙my (1917–1921), S. 89 f., hier: S. 90, v. 40. [Anm. d. Übs./ Komm.] 68 Im Original irrtümlich ›Der zweite Halbvers‹. [Anm. d. Übs./Komm.]
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druz’ja [›I3 O, wenn kennen würdet ihr, Freunde‹]; IV3 O, esli b znali, deti, vy [›IV3 O, wenn kennen würdet, Kinder, ihr‹]. Im zweiten Fall verwandelt sich durch die Trennung vom Pronomen ja [›ich‹], das durch den Beginn der ersten Strophe aufgerufen wird, der Terminus deti [›Kinder‹] aus einer einfachen Anrede in eine spezifische Apposition zum Pronomen vy [›ihr‹] (= ihr in euerer Kindlichkeit). Von dieser Art ist in noch stärkerem Maße die semantische Färbung der Singularform ditja [›Kind‹] in beiden Übergangsstrophen (II5 Ditja, ditja! [›II5 Kind, Kind!‹]; V1 Vesny, ditja, ty budesˇ’ zˇdat’ [›V1 (Auf den) Frühling, Kind, du wirst warten‹]). Die letzte Strophe stellt der Konjunktiv- eine Imperativform voran (VI1 Bud’te zˇ dovol’ny [›VI1 Seid doch zufrieden‹]). Dagegen beschränkt sich außerhalb der betrachteten Beispiele die Verwendung der Verben lediglich auf den Indikativ und dabei ausschließlich auf den Singular. Eine charakteristische Besonderheit der Übergangsstrophen, die nicht nach dem Beispiel der übrigen unmittelbar an einen individuellen Adressaten gerichtet sind, bilden die Verben der zweiten Person Singular. In beiden Strophen finden sich je drei, wobei sie in der Strophe des Anfangsabschnittes uneingeschränkt herrschen (II1 ty miloj ruku zˇmesˇ’, 2 Igraesˇ’, 3 I placˇesˇ’ ty [›II1 du drückst (die) Hand (der) Geliebten, 2 (Du) spielst, 3 Und weinst du‹]), in der parallelen Strophe des Endabschnittes dagegen die ungeraden Verse besetzen (V1 ty budesˇ’ zˇdat’ ; 3 Ty budesˇ’ 〈…〉 svat’ ; 5 ty nacˇnesˇ’ kricˇat’ [›V1 du wirst warten; 3 Du wirst 〈…〉 rufen; 5 du beginnst (zu) schreien‹]) – als Gegengewicht zu den Formen der dritten Person in den drei geraden Versen (2 obmanet, 4 ne vstanet, 6 kanet [›2 betrügt, 4 nicht aufgeht, 6 verschwindet‹]). Dabei besitzen sowohl die zusammengesetzten imperfektivischen 69 Formen in den ungeraden Versen als auch die einfachen perfektivischen Beispiele in den geraden Strophen futurische Bedeutung. Die Entgegensetzung der perfektivischen Formen der fünften Strophe und der imperfektivischen Formen der zweiten Strophe mit der semantischen Hinzufügung der zeitlichen Beziehungen findet eine Entsprechung im Paar der Eingangsstrophen: I1 placˇem 70 – IV2 Uvidim, 3 skroet, 71 4 zastynet [›I1 weinen – IV2 werden sehen, 3 wird verbergen, 4 wird ersterben‹]. 69 Jakobson bezieht sich hier auf die unterschiedliche Realisierung des Futur in beiden Verbalaspekten. Während bei perfektiven Verben die einfachen Formen des Indikativ Präsens futurische Bedeutung haben, wird bei imperfektiven Verben das Futur durch Kombination aus flektierten Futurformen des Hilfsverbs »byt’« [›sein‹] und dem Infinitiv gebildet. [Anm. d. Übs./Komm.] 70 Imperfektivische Verbform. [Anm. d. Übs./Komm.] 71 Sämtlich perfektivische Verbformen. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Beide Abschlußstrophen sind deutlich durch die Verwendung von Adjektiven in prädikativen Formen und Funktionen miteinander verbunden – ein Kennzeichen der Herrschaft der Zustände über die Handlungen: III2 smert’ – daleka [›III2 (der) Tod (ist) weit‹]; 3 Vse¨ budet ˇcernee strasˇnyj svet [›3 Immer wird schwärzer (die) schreckliche Welt‹]; 4 I vse¨ besumnej vichr’ planet [›4 Und immer verrückter (der) Wirbel (der) Planeten‹] – VI1 Bud’te zˇ dovol’ny [›VI1 Seid doch zufrieden‹]; 2 Tisˇe vody, nizˇe travy! [›2 Stiller (als) Wasser, niedriger (als) Gras!‹]. In der symmetrischen Konstruktion der beiden Strophen wird jeweils eine nominale Adjektivform zwei parallelen Komparativformen vorangestellt. In jeder der beiden Strophen wird jeweils einmal eine *Kopula verwendet (III3 budet ˇcernee; VI1 Bud’te zˇ dovol’ny [›III3 wird schwärzer; VI1 Seid doch zufrieden‹]). Ziehen wir einige Schlüsse: Pronominale und Verbformen der zweiten Person kommen in der »Stimme« nur jeweils in der zweiten, der Übergangsstrophe beider Abschnitte vor: II1 ty 〈…〉 zˇmesˇ’, 2 Igraesˇ’, 3 placˇesˇ’ ty [›II1 du 〈…〉 drückst, 2 Spielst, 3 weinst du‹]; V1 ty budesˇ’ zˇdat’, 3 Ty budesˇ’ 〈…〉 zvat’, 5 ty nacˇnesˇ’ kricˇat’ [›V1 du wirst warten, 3 Du wirst 〈…〉 rufen, 5 du beginnst (zu) schreien‹]. Die erste Person Singular bei den Pronomina und die erste Person Plural bei den Verben kommt nur in den jeweils ersten Verspaaren beider Abschnitte vor: I1 placˇem – vy i ja [›I1 (wir) weinen – ihr und ich‹]; IV2 Uvidim i vy i ja [›IV2 (Werden) sehen sowohl ihr als auch ich‹]. Verbformen in der zweiten Person Plural erscheinen in der ersten und letzten Strophe des Gedichts, das Pronomen vy [›ihr‹] darüber hinaus wiederum in der ersten Strophe des zweiten Abschnitts: I1 vy i ja, 3 esli b znali vy [›I1 ihr und ich, 3 wenn kennen würdet ihr‹]; IV2 i vy i ja [›IV2 sowohl ihr als auch ich‹]; VI1 Bud’te zˇ, 3 esli b znali 〈…〉 vy [›VI1 Seid doch, 3 wenn kennen würdet 〈…〉 ihr‹]. Schließlich finden sich in jedem Paar paralleler Strophen nur in der Strophe eines Abschnitts Verbformen der dritten Person Singular: im Anfangsabschnitt in der Schlußstrophe (III) und im Endabschnitt in der Eingangs(IV) und Übergangsstrophe (V). Auf diese Weise schließen sich die Verbformen der dritten Person Singular und der zweiten Person Plural wechselseitig aus. Letztere treten nur in der Eingangsstrophe des Anfangsabschnittes und in der Schlußstrophe des Endabschnittes auf, die Formen der dritten Person Singular tauchen dagegen nur in der Schlußstrophe des Anfangsabschnitts und in der Eingangsstrophe des Endabschnitts auf. Beide Randstrophen sprechen von den künftigen Tagen (I4, IV4), beide Mittelstrophen dagegen von den herannahenden Jahrhunderten (III4, IV1). Die wiederholte betonte Silbe in III5 veka´, veka´, in Übereinstimmung mit dem Wort kava´rstvu der ersten Zeile und mit dem Reim
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daleka´, findet ihren Widerhall entweder komplett oder reduziert auf den ersten velaren Konsonanten am Ende der beiden folgenden Strophen, die Angst vor der Zukunft verbreiten: IV5 toska (mit der gleichzeitigen dreifachen bedeutsamen Wiederholung IV4 Na vse´ch usta´ch zasty´net 〈…〉 5 Toska ´ : /sta´/ – /ast/ – /tas/); V5 krik, kagda ty nacˇnesˇ’ kricˇat’, 6 kak kamen’ kanet. 2
Der bis zum letzten Detail vom Dichter durchdachte grammatische Bau der sechs Strophen der »Stimme« widerspricht aufs schärfste dem merkwürdigen Mißklang im metrischen Bestand des sechsstrophigen Gedichts. Das Basismetrum des »Chors«, der vierhebige *Jambus mit männlicher Kadenz, liegt zwanzig der insgesamt neunundzwanzig Zeilen des Gedichts zugrunde, dabei finden sich einzelne hypermetrische Silben in fünf Strophen. Jede der beiden Randstrophen besteht aus vier vierfüßigen Zeilen mit *Kreuzreim. Dabei sind *choriambische Abweichungen zugelassen, in einem Fall sogar eine doppelte (VI2 Tisˇe vody, nizˇe travy!).72 Die Strophen II, III und IV bestehen aus je fünf Versen. Dabei reimen jeweils drei vierfüßige Verse (der erste, dritte und vierte) und jeweils zwei drei- oder zweifüßige Verse (d. h. der zweite und vierte), wobei nur der zweite Vers eine hypermetrische Silbe zuläßt. Die fünfte Strophe schließlich umfaßt sechs Verse: drei ungerade vierfüßige mit männlichem Reim und drei gerade zweifüßige mit den einzigen weiblichen Reimen im gesamten Text (V2 obmanet – 4 vstanet – 6 kanet). Die Verschiedengestaltigkeit der Strophenformen unterstützt in ihrem deutlichen Kontrast zur grammatischen Architektonik des »Chors« zweifellos die autonome Wahrnehmung der beiden heterogenen Konzeptionen. Beide Ebenen – die *grammatische Semantik und die metrische Ordnung – verbinden auf herausfordernde Weise die Poesie der Gleichheit und des Wandels: Die choriambischen Abweichungen und supermetrischen Verlängerungen verwischen die Grenze zwischen Jamben und Dol’niki,73 und die parallelen Strophen beider Abschnitte sind nach dem Prinzip der differierenden Verszahl aufgebaut (4–5, 5–6, 5–4). Andererseits ist die frappierende grammatische Übereinstimmung der Strophen verbunden mit ihrem inhaltlichen Zwist. Das ist der Charakter der Poesie, das ist im Grunde genommen die Basis des Schaffens von Aleksandr Blok, und in besonderem Maße ist dies das Wesen seiner Prophezeiungen über die Tage des letzten Jahrhunderts. 72 Metrische Notation des Verses: – – – –. [Anm. d. Übs./Komm.] 73 Vgl. o. Anm. 9. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Editorische Notiz Teil I wurde geschrieben 1962 in Blue Lake, California und zuerst veröffentlicht in der Festschrift für D. Tschizˇewskij 74 Orbis Scriptus, München 1966, S. 385–401. Teil II wurde 1968 in Verbindung mit Gastvorträgen über die Grammatik der Poesie an der Yale University entworfen und abgeschlossen in Peacham, Vermont, im Sommer 1979.
Literatur Jakobsons eigene Literaturangaben sind mit ° gekennzeichnet. ° Abernathy, Robert: »A Vowel Fugue in Blok«, in: International Journal of Slavic
Linguistics and Poetics 7 (1963), S. 88–107. Aleksandr Blok v vospominanijach sovremennikov. V dvuch tomach [›Aleksandr Blok in Erinnerungen von Zeitgenossen. In zwei Bänden‹], hg. v. Vladimir Nikolaevicˇ Orlov, Moskva: Chudozˇestvennaja literatura 1980. Bergstraesser, Dorothea: »Ergänzende Beobachtungen zu Aleksandr Bloks ›Devusˇka pela‹. Zu Roman Jakobsons Beitrag«, in: Studia Slavica. Beiträge zum VIII. Internationalen Slawistenkongreß in Zagreb 1978, hg. v. Hans-Bernd Harder u. Bernd E. Scholz, Giessen: Wilhelm Schmitz Verlag 1981 (= Marburger Abhandlungen zur Geschichte und Kultur Osteuropas, Bd. 21), S. 207–212. Block, Alexander: Gesammelte Dichtungen, übs. v. Johannes von Guenther, München: Willi Weismann Verlag 1947. Blok, Aleksandr Aleksandrovicˇ: Avtobiografija 1915. Dnevniki 1901–1921 [›Autobiographie 1915. Tagebücher 1901–1921‹], hg. v. Vladimir Nikolaevicˇ Orlov, Moskva u. Leningrad: Gosudarstvennoe izdatel’stvo chudozˇestvennoj literatury 1963 (= Sobranie socˇinenij v vos’mi tomach, Bd. 7). — Pis’ma 1898–1921 [›Briefe 1898–1921‹], hg. v. M. I. Dikman, Moskva u. Leningrad: Gosudarstvennoe izdatel’stvo chudozˇestvennoj literatury 1963 (= Sobranie socˇinenij v vos’mi tomach, Bd. 8). — Stichotvorenija i poe˙my (1917–1921) [›Gedichte und Poeme (1917–1921)‹], Moskva: Nauka 1999 (= Polnoe sobranie socˇinenij i pisem. V dvadcati tomach, Bd. 5). — Stichotvorenija. Kniga tret’ja (1907–1916) [›Gedichte. Drittes Buch (1907– 1916)‹], Moskva: Nauka 1997 (= Polnoe sobranie socˇinenij i pisem. V dvadcati tomach, Bd. 3). ˇ yzˇevsky (1894–1977), bedeutender 74 Dmitrij bzw. Dmytro I. Tschizˇewskij bzw. C ukrainischer Slavist und Komparatist, lehrte u. a. an der Freien Ukrainischen Universität in Prag, ferner an den deutschen Universitäten Halle und Marburg, später in Harvard (USA), ab 1956 in Heidelberg. Vgl. Strelka, »Die internationale Bedeutung Dmitrij Tschizˇewskijs«. [Anm. d. Übs./Komm.]
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— Stichotvorenija. Kniga vtoraja (1904–1908) [›Gedichte. Zweites Buch (1904– 1908)‹], Moskva: Nauka 1997 (= Polnoe sobranie socˇinenij i pisem. V dvadcati tomach, Bd. 2). — Teatr [›Theater‹], Moskva u. Leningrad: Gosudarstvennoe izdatel’stvo chudozˇestvennoj literatury 1961 (= Sobranie socˇinenij v vos’mi tomach, Bd. 4). — Zapisnye knizˇki 1901–1920 [›Notizbücher 1901–1920‹], hg. v. Vladimir Nikolaevicˇ Orlov, Moskva: Chudozˇestvennaja literatura 1965. Blok, Alexander: Gedichte – Poeme, hg. v. Fritz Mierau, München u. Zürich: Piper 1989. ˇ ukovskaja, E. C.: »Pis’ma Bloka k K. I. C ˇ ukovskomu i otryvki iz dnevnika K. I. C ˇ ˇ ukovskij und Auszüge aus den Cukovskogo« [›Briefe von Blok an K. I. C ˇ Tagebüchern von K. I. Cukovskij‹], in: Aleksandr Blok. Novye materialy i issledovanija, 5 Teile, Moskva: Izdatel’stvo »Nauka« 1980–1993 (= Literaturnoe nasledstvo, Bd. 92), T. 2, S. 232–272. ˇ ukovskij, Kornej Ivanovicˇ: Kniga ob Aleksandre Bloke [›Ein Buch über Alek°C sandr Blok‹], Berlin: E˙pocha 1922, Nachdr. Paris: YMCA-Press 1976. Gasparov, Michail Leonovicˇ: Art. »Dol’nik« [›Dol’nik‹], in: Literaturnaja ˙enciklopedija terminov i ponjatij, hg. v. A. N. Nikoljukin, Moskva: NPK »Intelvak« 2001, Sp. 235. — Art. »Stansy« [›Stanzen‹], in: Literaturnaja ˙enciklopedija terminov i ponjatij, hg. v. A. N. Nikoljukin, Moskva: NPK »Intelvak« 2001, Sp. 1027. ˇ ast’ pervaja [›Grammatik der °Grammatika russkogo jazyka. Tom 2, Sintaksis. C russischen Sprache. Bd. 2, Syntax. Erster Teil‹], Moskva: Izdatel’stvo Akademii nauk SSSR 1954. Jakobson, Roman Osipovicˇ: »›Devusˇka pela‹. Nabljudenija nad jazykovym stroem stansov Aleksandra Bloka« [›»Ein Mädchen sang«. Beobachtungen zum sprachlichen Bau der Strophen Aleksandr Bloks‹], in: Orbis Scriptus. Dmitrij Tschizˇewskij zum 70. Geburtstag, hg. v. Dietrich Gerhardt, Wiktor Weintraub u. Hans-Jürgen zum Winkel, München: Wilhelm Fink 1966, S. 385–401. — »›Ktozˇ jsu´ bozˇ´ı bojovnı´ci‹: Slovnı´ stavba Husitske´ho chora´lu«, in: SW III, S. 215–231. – »›Die die Gottes-Kämpfer sind‹: Der Wortbau des HussitenChorals«, übs. u. komm. v. Hendrik Birus, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 509–535. — »Shifters, Verbal Categories, and the Russian Verb«, in: SW II, S. 130–147. – »Verschieber, Verbkategorien und das russische Verb«, übs. v. Gabriele Stein, in: Form und Sinn, S. 35–54. — »Stichotvornye proricanija Aleksandra Bloka« [›Lyrische Prophezeiungen Aleksandr Bloks‹], in: SW III, S. 544–567. ° — »The Gender Pattern of Russian«, in: SW II, S. 184–186. — »The Modular Design of Chinese Regulated Verse«, in: SW V, S. 215–223. — »Zur Struktur des russischen Verbums«, in: SW II, S. 3–15. Jakobson, Roman Osipovicˇ u. Morris Halle: »Phonology and Phonetics«, in: SW I, S. 464–504. – »Phonologie und Phonetik«, übs. v. Georg Friedrich Meier, Wolfgang Raible u. Regine Kuhn, in: Aufsätze zur Linguistik und Poetik, S. 54–11.
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— »The Revised Version of the List of Inherent Features«, in: SW I, S. 738–742. Jakobson, Roman Osipovicˇ u. Grete Lübbe-Grothues: »Ein Blick auf ›Die Aussicht‹ von Hölderlin«, komm. v. Gabriele von Bassermann-Jordan u. Stephan Packard, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 138–249. Jakobson, Roman Osipovicˇ u. Paolo Valesio: »Vocabulorum constructio in Dante’s Sonnet ›Se vedi li occhi miei‹«, in: SW III, S. 176–192. – »Vocabulorum constructio in Dantes Sonett ›Wenn Du meine Augen siehst‹«, übs. v. Sara Terpin u. Thomas Wild, komm. v. Christoph Schamm u. Evi Zemanek, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 439–470. Jakobson, Roman Osipovicˇ u. Linda R.Waugh: The Sound Shape of Language, in: SW VIII, S. 1–315. – Die Lautgestalt der Sprache, übs. v. Christine u. Thomas F. Shannon, Berlin u. New York: Walter de Gruyter 1986 (= Janua Linguarum. Series Maior, Bd. 75). ° Lausberg, Heinrich: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, 2 Bde., München: Max Hueber 1960. Lexikon der Kunst. Malerei, Architektur, Bildhauerkunst, 12 Bde., hg. v. Wolf Stadler, Erlangen: Karl Müller Verlag 1994. Makarova, S. A.: »Osobennosti muzykal’nogo procˇtenija ritmiki dol’nika v vokal’nych zˇanrach (na materiale stichotvorenija A. Bloka ›Devusˇka pela v cerkovnom chore‹)« [›Besonderheiten des musikalischen Vortrags des Rhythmus des Dol’niks in Vokalgenres (anhand des Gedichts von A. Blok »Ein Mädchen sang im Chor der Kirche«)‹], in: Filologicˇeskie nauki 2 (1996), S. 24–34. ° Mocˇul’skij, Konstantin Vasil’evicˇ: Aleksandr Blok, Paris: YMCA-Press 1948. — Aleksandr Blok. Andrej Belyj. Valerij Brjusov, hg. v. Vadim Krejd, Moskva: Respublika 1997. Russische Gedichte über Gott und Welt, Leben und Tod, Liebe und Dichtertum, übs. v. Ludolf Müller, München: Wilhelm Fink 1979 (= Forum Slavicum, Bd. 51). Russkie narodnie zagadki, poslovicy, pogovorki [›Russische Volksrätsel, Sprichwörter und Redensarten‹], hg., eingel. u. komm. v. Jurij Geogievicˇ Kruglov, Moskva: Prosvesˇcˇenie 1990. ° Sapir, Edward: Totality, Baltimore: Waverly Press 1930 (= Language Monographs, Bd. 6). Strelka, Joseph P.: »Die internationale Bedeutung Dmitrij Tschizˇewskijs unter besonderer Berücksichtigung Österreichs«, in: Viribus Unitis. Österreichs Wissenschaft und Kultur im Ausland. Impulse und Wechselwirkungen. Festschrift für Bernhard Stillfried aus Anlaß seines 70. Geburtstags, hg. v. Ilona Slawinski u. Joseph P. Strelka, Bern u. a.: Peter Lang 1996, S. 385–397. °Sˇubnikov, A. V.: Simmetrija i antisimmetrija konecˇnych figur [›Symmetrie und Antisymmetrie von Endfiguren‹], Moskva: Izdatel’stvo Akademii nauk SSSR 1951. ˇ irmunskij, Viktor Maksimovicˇ: »Poe˙zija Aleksandra Bloka« [›Die Dichtung °Z Aleksandr Bloks‹], in: ders.: Voprosy teorii literatury, Leningrad 1928, Nachdr. ’s-Gravenhage: Mouton & Co. 1962 (= Slavistic Printings and Reprintings, Bd. 34), S. 190–268.
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Aus den kleinen Sachen Velimir Chlebnikovs: Wind – Singen 1 Übersetzung aus dem Russischen Aage A. Hansen-Löve
Kommentar Aage A. Hansen-Löve [A. H.-L.] und Anke Niederbudde [A. N.] Der Begriff »kleine Sachen« bezieht sich auf poetische Texte, die in der russischen Avantgardepoetik auch programmatisch mit dem Begriff »Ding« (vesˇˇc’) bezeichnet wurden, um die Gemachtheit und Materialität der »Faktur« (faktura) des Kunst-Objekts zu unterstreichen. In diesem Sinne wurde aus dem poetischen Wort, sowohl was seine lautliche Materialität als auch seine semantische Wortwörtlichkeit anbetrifft, ein autonomes Phänomen der künstlerischen bzw. poetischen »Empfindung« bzw. des »Kunst-Denkens«. Gerade diesem hat Roman Jakobson in seiner Schrift »Die neueste russische Poesie« (»Novejsˇaja russkaja poe˙zija«, 1919) eine epochemachende poetologische Studie gewidmet, die aus der Kunstlehre des russischen Futurismus (Chlebnikovs) eine allgemeine Poetik und Ästhetik extrapoliert (vgl. Bd. 1, S. 1–123). Mit seinem Vortrag »Aus den kleinen Sachen Velimir Chlebnikovs: Wind – Singen« macht Jakobson viele Jahre später (1967/79) 2 diese Spezifik der russischen Avantgarde-Kunst erneut zum Thema einer Studie. Er analysiert hier zwei Vierzeiler aus Chlebnikovs Werk, die den Abschluß des GedichtZyklus »Vojna v mysˇelovke« [›Krieg in der Mausefalle‹] bilden. Wesentliche 1 2
Vorlage: Jakobson, Roman Osipovicˇ: »Iz melkich vesˇcˇej Velimira Chlebnikova: veter – penie«, in: SW III, S. 568–576. [Anm. v. A.N.] Der Text basiert auf einer Vorlesung aus dem Jahr 1967, die 1979 überarbeitet wurde. [Anm. v. A.N.]
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Charakteristika von Chlebnikovs Werk lassen sich an diesem kleinen Text beispielhaft darlegen. Dies gilt etwa für die von Chlebnikov entwickelte »transrationale« Dichtersprache – die Futuristen bezeichneten sie konsequent als »zaum’«, d. h. jenseits des Verstandes liegend –, welche Chlebnikov nicht nur als neologistisches Kunst- und Kulturprodukt, sondern auch als ein Naturphänomen sah. So verstandene Dichtersprache erwächst mythologisch aus den »Wurzeln« des Welt-Sprach-Baumes. Jakobsons Analyse von »Veter – penie« [›Wind – Singen‹] entschlüsselt die in den kleinsten Lauteinheiten eingeschlossene Semantik des Gedichts. Auf der weltanschaulichen Ebene sind die beiden Vierzeiler »Veter – penie« als Anti-Kriegs-Texte zu lesen. Gerade zu Beginn des I. Weltkriegs war es für Chlebnikov besonders wichtig, den pazifistischen Charakter des russischen Futurismus bzw. seines Zukünftlertums (budetljanstvo) dem aggressiven Kriegsgeheul der italienischen Futuristen entgegenzusetzen. Die Reduktion der Kunst auf den Dynamismus technischer bzw. urbaner Verkehrs- und Kommunikationsmittel – bis hin zur Begeisterung für Krieg und Gewalt – prägte im Gegensatz zum russischen Futurismus die Italiener zutiefst: »Unversehens erwies sich nun der Krieg als die realisierte Kampfmetapher der künstlerischen Avantgarde. Die russischen Neuerer […] erkannten diese fatale Peinlichkeit sofort und widerstanden deshalb – im Unterschied zu den italienischen Futuristen – mehrheitlich der Versuchung, sich den Krieg als Fortsetzung der Kunstrevolution mit anderen Mitteln nutzbar zu machen.« 3 Jakobsons Vortrag zu »Veter – penie« bietet eine detaillierte Analyse von Chlebnikovs Versen, darüber hinaus ist er auch ein nachdrückliches Dokument der engen Beziehung Jakobsons zu Chlebnikov. Immer wieder verweist Jakobson auf seine enge Bekanntschaft mit Chlebnikov in der Zeit, in der dieses Gedicht entstanden ist. Der Plan einer Veröffentlichung von Chlebnikovs Werk 1919/20 wird ebenso angesprochen wie sein eigener Vortrag zu Chlebnikov 1919 im Moskauer Linguisten-Zirkel. 4 Der Text enthält also auch viele rückblickende Reminiszenzen Jakobsons an seine eigene Frühzeit als Literaturwissenschaftler und ist Zeugnis der engen Verflechtung von Avantgarde-Kunst und Literaturwissenschaft in Rußland zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Aage A. Hansen-Löve und Anke Niederbudde
3 4
Ingold, Der große Bruch, S. 233; zum Pazifismus des russischen Futurismus vgl. auch Erbslöh, »Pobeda nad solncem«, S. 88. [Anm. v. A.H.-L.] Veröffentlicht unter dem Titel Die neueste russische Poesie (Novejsˇaja russkaja poe˙zija); vgl. o. S. 493. [Anm. v. A.H.-L.]
Aus den kleinen Sachen Velimir Chlebnikovs: »Wind – Singen«
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Die kleinen Sachen sind dann bedeutsam, wenn sie ebenso die Zukunft beginnen, wie ein fallender Stern hinter sich einen Feuerschweif hinterläßt; sie müssen eine solche Geschwindigkeit haben, daß sie sich zur Gegenwart durchschlagen.5 Chlebnikov, »Svojasi« [›Mein Eignes‹] 6
Bei der Beurteilung der »Rede-Sache« 7 schon in den ersten Zeilen der Einleitung zu Sangesi 8 macht Chlebnikov die Erwähnung, daß »sich die Erzählung aus Wörtern aufbaut wie aus Bausteinen eines Gebäudes. Als 5
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Für Chlebnikov ist der Dichter Teil des Erd-Leibes und somit auch der kosmischen Sphäre, der er selbst als Stern bzw. Komet angehört (zur Komet-Motivik vgl. Grübel, Sirenen und Kometen; zu Chlebnikovs Welt-Sprach-Körper s. Hansen-Löve, »Die Entfaltung des ›Welt-Text‹-Paradigmas in der Poesie Velimir Chlebnikovs«). Nicht zufällig sieht auch Kazimir Malevicˇ den Dichter Chlebnikov als Komet, freilich eher kritisch als einen solchen, der sich außerhalb der kosmischen Regeln und Sternbahnen bewegt und in seiner zaum’-Poetik auf Abwege gerät: »Freie Kometen geraten zuweilen in die Gefangenschaft der Welt, die sie dann in ihr System einschließt. Es geschah, daß einige meiner Zeitgenossen in die Gefangenschaft der Erde gerieten. Velimir Chlebnikovs Sangesi war ein solcher Komet […]. Wie mir scheint gehört seine Poesie dem Verstand an.« (Malevicˇ, »Alpha und Beta«, S. 150.) [Anm. v. A.H.-L.] Chlebnikov, Sobranie proizvedenij, II, 8. [Anm. v. R.J.] – »Svojasi« wurde von Chlebnikov als Vorwort zu einer (letztlich nicht realisierten) Ausgabe entworfen (vgl. unten S. 511 f. u. Fußnote 62). »Svojasi« ist ein Neologismus, der mit der Übersetzung »Mein Eignes« nur unzureichend wiedergegeben wird. Eine deutsche Übersetzung des Textes findet sich in: Chlebnikov, Werke, 2, S. 9–12. [Anm. v. A.N.] Die »Rede-Sache« (recˇevoe delo) meint bei Chlebnikov und den Futuristen sowohl eine dinghafte *Einstellung zum poetischen Text bzw. zu seiner Sprache als KunstObjekt als auch so etwas wie »Sprech-Akt«, insoferne als delo nicht nur die »Sache« bezeichnet, sondern auch eine Handlung, die zu ihrer Erzeugung führt. Eine dritte Bedeutung von delo entstammt dem juristischen wie philosophischen Kontext, wobei hier der »Casus« als gerichtlicher oder philosophischer »Fall« anhängig ist. Im übrigen wird bei den Futuristen in ihren metapoetischen Äußerungen nicht immer terminologisch konsequent formuliert; dies gilt für die oft irreführende Gleichsetzung von »Rede« (recˇ’ ) und »Sprache« (jazyk) ebenso wie etwa die Vertauschung von »Laut« (zvuk) bzw. Phonem und »Buchstabe« (bukva) bzw. Graphem im Begriffsapparat der futuristischen Manifeste. [Anm. v. A.H.-L.] Zangezi [›Sangesi‹] gehört zu den Haupt- und Schlüsselwerken Chlebnikovs (erschienen in Moskau 1922; Abdruck in: Sobranie proizvedenij, III, S. 315–368; dt. Übers. in: Chlebnikov, Werke, Bd. 1, S. 349–390), eine ausführliche Darstellung des literar- und kunsthistorischen Kontextes von Zangezi bietet: Kowtun, Sangesi. Die russische Avantgarde. Chlebnikov und seine Maler. Vgl. auch die klassische Darstellung bei Markov, Russian Futurism: A History, S. 202 f.; zu Zangezi siehe auch: Langer, Kunst – Wissenschaft – Utopie, S. 530–565. [Anm. v. A.H.-L.]
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Einheit dient der kleine Stein gleichgroßer Wörter. 〈…〉 Die Übergeschichte oder Hintergeschichte 9 setzt sich zusammen aus selbständigen Abschnitten, von denen ein jeder über seinen besonderen Gott verfügt, über einen besonderen Glauben und eine besondere Regel.« (III, 317) 10 Die aus verschiedenen Elementen bestehende Montage der kleinen Werke und die nicht selten ganz unterschiedliche zeitliche Zuordnung ihrer Entstehung zerstören keineswegs die architektonische Einheit von Chlebnikovs Übergeschichten, sondern entfalten und entwickeln im Gegenteil ihre gesamtheitliche künstlerische Problematik. Vor sechzig Jahren, im Frühling des Jahres 1919, wurde mir das Manuskript der Übergeschichte unter dem Titel Vojna v mysˇelovke [›Krieg in der Mausefalle‹] 11 vom Autor übergeben, damit es eingeschlossen würde in die geplante Ausgabe »Vsego socˇinennogo V. Chlebnikovym« [›Alles von V. Chlebnikov Geschaffenen‹]. 12 Der gesamte Text dieses Manuskripts wurde reproduziert in der glasplattengraphischen Ausgabe der Serie Neizdannyj Chlebnikov [›Unpublizierter Chlebnikov‹], No. 5 (1928) 13 und in den Sobranie proizvedenij Velimira Chlebnikova [›Gesammelten Werken Velimir Chlebnikovs‹],14 II (1930), S. 244–258. Wenn nicht nähere Angaben gemacht werden, gehen unsere Zitate aus den Schriften Chlebnikovs auf jene fünfbändige Ausgabe zurück (Leningrad, 1928–1933). Verweise auf die einzige kritische Ausgabe des auktorialen Nachlasses, Neizdannye proizvedenija Velimira Chlebnikova [›Die 9
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Man könnte »sverchpovest’« und »zapovest’« auch übersetzen: »Hypernarration« und »Transnarration«: Im ersten Fall geht es um die Zusammenfassung einer vielschichtigen Hierarchie von narrativen Sujets unter ein Megasujet, im zweiten Fall bezeichnet za-povest’ – analog zu za-um’ – ein Jenseits der narrativen Sujets, das ebenso den ordo naturalis überschreitet wie im Fall der futuristischen Poetik die za-um’-Sprache die »praktische Sprachbenützung« (vgl. dazu: Hansen-Löve, Der russische Formalismus, S. 99–172; Ingold, Der große Bruch, S. 170–176). [Anm. v. A.H.-L.] Deutsche Übersetzung nach Chlebnikov, Werke, Bd. 1, S. 349. [Anm. v. A.N.] Chlebnikov, Sobranie proizvedenij, II, S. 244–258; Kommentar ebd., S. 319– 320, verfaßt 1915–1917; 1919 abgeschlossen und Jakobson übergeben. [Anm. v. A.H.-L.] Zu der 1919/20 geplanten Gesamtausgabe, die nicht zustande kam, vgl. Chlebnikovs Briefe an Osip Brik (vom 23. 2. 1920 und 30. 4. 1920): Chlebnikov, Werke, Bd. 2, S. 501 f. [Anm. v. A.N.] Die »Gesellschaft der Freunde Chlebnikovs« gab 1928–1933 dreißig Hefte Neizdannyj Chlebnikov [›Unveröffentlichter Chlebnikov‹] unter der Redaktion A. Krucˇenychs heraus (Mitarbeiter: V. Kamenskij, V. Majakovskij u. a.). [Anm. v. A.N.] Die Sobranie proizvedenij [›Gesammelte Werke‹] Velimir Chlebnikovs wurden 1928– 33 von J. Tynjanov u. N. Stepanov in 5 Bänden (I–V) herausgegeben, ein Nachdruck erschien 1968–72 in München (Wilhelm Fink Verlag). [Anm. v. A.N.]
Aus den kleinen Sachen Velimir Chlebnikovs: »Wind – Singen«
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unedierten Werke Velimir Chlebnikovs‹] unter der sorgfältigen redaktionellen Betreuung N. Chardzˇievs (Moskau, 1940), werden einfach mit dem Jahr 1940 bezeichnet.15 Das bemerkenswerte Finale des gesamten Zyklus Vojna v mysˇelovke [›Krieg in der Mausefalle‹] setzt sich aus zwei Vierzeilern zusammen, von denen ein jeder über einen *Kreuzreim verfügt. 1 2 3 4 5 6 7 8 1 2 3 4 5 6 7 8 1 2 3 4 5 6 7 8
¬етер – пение ого и о чем? Ќетерпение ћеча стать м¤чом. я умер, ¤ умер и хлынула кровь ѕо латам широким потоком. ќчнулс¤ ¤ иначе, вновь ќкинув вас воина оком.16 Ve´ter – pe´nie Kogo´ i o cˇe´m? Neterpe´nie Mecˇa´ stat’ mjacˇo´m. Ja u´mer, ja u´mer i chly´nula kro´v’ Po la´tam ˇsiro´kim poto´kom. Ocˇnu´lsja ja ´ınacˇe, vno´v’ Okı´nuv vas vo´ina o´kom. Wind – Singen Wessen und über was? Ungeduld Des Schwertes ein Ball zu werden. Ich bin gestorben, ich bin gestorben und es ergoß sich das Blut Über die Harnische in breitem Strome. Ich erwachte anders, aufs Neue Euch mit des Kriegers Auge umfassend.
Der zweite von beiden Vierzeilern besteht aus einem *amphibrachischen *Versmaß, vierfüßig im Anfangsvers, dreifüßig in allen anderen. Diesem regelmäßig gegliederten Versfußmaß des zweiten Vierzeilers sind die f ü n f g l i e d r i g e n Verse des gesamten ersten Vierzeilers entgegengesetzt 15 Die Chlebnikov-Ausgabe des Jahres 1940 stammt von Nikolaj Chardzˇiev und Teodor Gric: Chlebnikov, Neizdannye proizvedenija; zu Chardzˇiev als Kunst- und Literaturwissenschaftler, Editor und Malevicˇ-Freund, Kunstsammler und Publizist vgl. die umfangreiche Festschrift: Poe˙zija i zˇivopis’. Sbornik trudov pamjati N. I. Chardzˇieva (hg. v. M. B. Mejlach u. D. V. Sarab’janov). [Anm. v. A.H.-L.] 16 Dieses Finale von »Vojna v mysˇelovke« findet sich in: Chlebnikov, Sobranie proizvedenij, II, S. 258. [Anm. v. A.N.]
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mit der Betonung auf der ersten und der dritten Silbe in den ungeraden Verszeilen, auf der zweiten und finalen in den geraden; d. h. das Verhältnis zwischen den ungeraden und geraden Verszeilen (besonders innerhalb des ersten Verspaars) ist *antisymmetrisch in der Behandlung beider Halbverse.17 Das zweite Verspaar gestattet leichte Abweichungen – die Neigung zur Unbetontheit der Anfangssilbe in der dritten Zeile (neterpenie [›Ungeduld‹]) und die fakultative Betonung des syntaktischen Verbums 18 stat’ [›werden‹] in der Mittelsilbe der vierten Zeile; hier macht sich die Wechselwirkung beider Verszeilen in der Behandlung der Anfangssilbe der Halbverse bemerkbar.19 Mit dem ersten dieser zwei Vierzeiler wird seinerseits ein Gedichtentwurf eröffnet, der im Sammelband My [›Wir‹] (Moskau, 1920) 20 mit zwei weiteren der Reihe nach folgenden Vierzeilern abgedruckt ist – *daktylischen und danach amphibrachischen –, wo die letzte, vierfüßige Verszeile dem dreifüßigen Bestand aller anderen gegenübersteht: Ћюди лелеют день смерти, “очно любимый цветок. ¬ струны великих поверьте, Ќыне играет восток. Ѕыть может, нам новую гордость ¬олшебник си¤ющих гор даст » многих людей проводник я разум одену, как белый ледник. Lju´di lele´jut den’ sme´rti, To´cˇno ljubı´myj cveto´k. V stru´ny velı´kich pove´r’te, Ny´ne igra´et vosto´k. 17 Im Rückgriff auf Jakobsons Theorie der vier Symmetrieformen handelt es sich hier unter Umständen um folgendes: Jakobson teilt die Verse des ersten Vierzeilers in Halbverse auf, die jeweils aus einer zwei- und einer dreisilbigen Einheit bestehen (gewissermaßen ein zwei- und ein dreisilbiger Versfuß). Diese Halbverse verhalten sich zwischen den ungeraden und den geraden Versen genau *spiegelsymmetrisch: Aus »–« wird »–« und aus »–« wird »–«. Der Hinweis stammt von Sebastian Donat (vgl. seinen Kommentar zu Jakobson, »Lyrische Prophezeihungen Aleksandr Bloks«, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 461, Anm. 12). [Anm. v. A.H.-L.] 18 D. h. ein Verb, das weniger durch seine Semantik, sondern vielmehr durch seine syntaktische Funktion definiert ist. [Anm. v. I.M.] 19 Gemeint ist im Anschluß an S. Donat (vgl. Anm. 17) wohl, daß im zweiten Verspaar die jeweils ersten Silben der Halbverse zur Nichtrealisierung von *›Hebungen‹ bzw. *›Senkungen‹ tendieren. [Anm. v. A.H.-L.] 20 Abgedruckt in: Chlebnikov, Sobranie proizvedenij, III, S. 26. [Anm. v. A.N.]
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Byt’ mo´zˇet, nam no´vuju go´rdost’ Volsˇe´bnik sija´jusˇcˇich go´r dast I mno´gich ljude´j provodnı´k Ja ra´zum ode´nu, kak be´lyj lednı´k. Die Menschen beklagen den Todestag Wie eine geliebte Blüte. Glaubt an die Saiten der Großen, Nun spielt der Osten. Vielleicht gibt uns einen neuen Stolz Der Zuschauer der leuchtenden Berge Und als vieler Menschen Führer Ziehe ich den Verstand an wie einen weißen Gletscher.
Andererseits treten die Abschlußverse von Vojna v mysˇelovke [›Krieg in der Mausefalle‹] als letzte der zwei *Strophen des Achtzeilers »Mracˇnoe« [›Finsteres‹] auf, der erstmals in Chlebnikovs Izbornik stichov 1907–1914 gg. [›Gedichtsammlung 1907–1914‹] (St. Petersburg, 1914) erschienen ist und wieder gedruckt wurde in Sobranie proizvedenij Velimira Chlebnikova [›Gesammelte Werke Velimir Chlebnikovs‹] (II, 96) – in diesem Kontext geht den vier kreuzweise gereimten 21 Amphibrachen ein ebenso kreuzweise gereimter Vierzeiler von vierfüßigen Jamben voraus: огда себе ¤ надоем, я брошусь в солнце золотое, рыло щем¤щее одем, ѕорок смешаю и св¤тое. я умер, ¤ умер, и хлынула кровь ѕо латам широким потоком. ќчнулс¤ ¤, иначе, вновь ќкинув вас воина оком. Kogda´ sebe´ ja nadoe´m, Ja bro´ˇsus’ v so´lnce zoloto´e, Krylo´ ˇscˇemja´ˇscˇee odem, Poro´k smesˇa´ju i svjato´e. Ja u´mer, ja, u´mer, i chly´nula kro´v’ Po la´tam ˇsiro´kim poto´kom. Ocˇnu´lsja ja ´ınacˇe, vno´v’ Okı´nuv vas vo´ina o´kom. Wenn ich mich langweile, Werfe ich mich in die goldene Sonne, Ziehe den traurig stimmenden Flügel an, 21 Wörtlich »kreuzweisen Amphibrachen«. [Anm. v. A.H.-L.]
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Laster vermenge ich und Heiliges. Ich bin gestorben, ich bin gestorben, und es ergoß sich das Blut Über die Harnische in breitem Strome. Ich erwachte, anders, aufs Neue Euch mit des Kriegers Auge umfassend.22
Die enge organische Verbindung beider Vierzeiler, die das Werk Vojna v mysˇelovke [›Krieg in der Mausefalle‹] gemessen an dem wahrlich weitaus zufälligeren und oberflächlicheren Bezug eines jeden von ihnen zu jenen Kontexten anschließt, in denen sie zu Lebzeiten des Autors gedruckt wurden (der zweite Vierzeiler im Jahr 1914, der erste Vierzeiler erst im Jahr 1920), diese Verbindung also läßt einen unweigerlich die ursprüngliche Zusammengehörigkeit beider Strophen konstatieren, ungeachtet dessen, daß erst im 19er Jahr das Autor-Manuskript der oben genannten Übergeschichte schließlich die Einheit dieses bemerkenswerten Achtzeilers bewiesen hat. Offenbar war Chlebnikov unmittelbar mit der Autor-Lesung des Gedichtzyklus »O cˇem poet veter« [›Worüber der Wind singt‹], geschaffen von Alexander Blok im Jahr 1913, bekannt – und das noch vor seinem Erscheinen in Russkaja mysl’ [›Russischer Gedanke‹] im Jahre 1915. Dieser Zyklus und seine Überschrift selbst konnten Chlebnikov eine direkte Gleichsetzung von Wind und Singen eingeben, und die Verszeile 2 Kogo i o ˇcem [›Wessen und über was‹] überschneidet sich mit der Überlegung Bloks »Vse ravno vse projdet, Vse ravno ved’ nikto ne pojmet, Ni tebja ne pojmet, ni menja, Ni cˇto veter poet nam zvenja.« [›Ohnedies alles vergeht, Ohnedies wird doch keiner verstehen, Weder dich verstehen, noch mich, Noch das, was der Wind uns singt, wenn er tönt.‹] 23 Schließlich ist 3 Neterpenie 4 Mec ˇa stat’ mjacˇom [›3 Ungeduld 4 Des Schwertes ein Ball zu werden‹] verwandt mit dem Blokschen Traum zu erlangen »Tumannyj chod Inych mirov, I temnyj vremeni polet Sledit’ i vmeste s vetrom pet’.« [›Dem nebligen Gang Anderer Welten, Und dem dunklen Flug der Zeit Zu folgen und zusammen mit dem Wind singen.‹] 24 Der abrupte Übergang 22 Vgl. auch die Übersetzung von Elke Erb in: Chlebnikow, Ziehn wir mit Netzen die blinde Menschheit, S. 45. [Anm. v. A.N.] 23 Vgl. die russische Ausgabe: Blok, »O cˇem poet veter«, S. 195. [Anm. v. A.N.] 24 Ebd. Die Verwandtschaft beider Gedichte besteht sowohl in der stereotypen Verbindung von Wind und Singen als auch in der Assoziation dieser beiden Motive einer Natur-Dichtung mit der Thanatopoetik, also der Fixierung einer jeden Dichtung am Tod. Es fällt in diesem Zusammenhang auf, daß Jakobson immer wieder Gedichte wählt, die sich mit dem Tod auseinandersetzen. Am deutlichsten wird dies in seinem ungewöhnlich emotionalen Aufsatz anläßlich des Selbstmords Majakovskijs (Jakobson, »Von einer Generation, die ihre Dichter vergeudet hat«). [Anm. v. A.H.-L.]
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vom Thema des Windes zum wiederholten Ausruf 5 Ja umer, ja umer [›Ich bin gestorben, bin gestorben‹] nähert sich dem eiligen Wechsel abgebrochener Rufe am Ende des Blokschen Zyklus an »Idet k nam veter ot zari… Umri.« [›Es kommt zu uns der Wind aus der Dämmerung… Stirb.‹] 25 In seinen Artikeln über Sprache und Literatur erzählte Chlebnikov in verschiedenen Tonarten, wie er »Muster der eigenständigen Sprache 26 studierte und herausfand, daß die Zahl Fünf außerordentlich bemerkenswert sei für sie; in dem Maße, als dies auch für die fünf Finger der Hand gelte« (V, 185).27 Die fünffache Gliederung wirkt sich sowohl auf der lautlichen, als auch der grammatischen und der lexikalischen wie auch der unmittelbar versologischen Ebene der künstlerischen Rede aus. Zum Teil mit merklich ähnlichen, zum Teil im Gegensatz dazu mit offensichtlich unterschiedlichen Besonderheiten beider Vierzeiler ist das zweistrophige Finale von Vojna v mysˇelovke [›Krieg in der Mausefalle‹] erfüllt. Auf einschmeichelnde Weise kontrastiert der fünfgliedrige Bau der ersten vier Zeilen scharf mit dem aufdringlichen amphibrachischen Metrum der nachfolgenden Strophe. Die Verteilung der beiden grundlegenden morphologischen Kategorien – der Substantiva und der lexikalischen Verbalformen 28 – charakterisiert spürbar Ähnlichkeit und Differenz beider Strophen. Beide beinhalten jeweils f ü n f 29 Substantiva (d. h. lexikalische, nicht pronominale substantivische Formen): 1 veter; 1 penie; 3 neterpenie; 4 mecˇa; 4 mjacˇom [›1 Wind; 1 Singen; 3 Ungeduld; 4 (des) Schwertes; 4 Ball‹] in der ersten Strophe und entsprechend in der zweiten 5 krov’; 6 latam; 6 potokom; 8 voina; 8 okom [›5 Blut; 6 Harnische; 6 Strom; 8 Kriegers; 8 Auge‹]. Wir stellen fest, daß zwei *symmetrisch angeordnete Zeilen des Achtzeilers 25 Blok, »O cˇem poet veter«, S. 192. [Anm. v. A.N.] 26 Chlebnikov verwendet hier den Begriff samovitaja recˇ’ [›selbsttätige Rede‹ bzw. ›Sprache‹] aus dem terminologischen Reservoire der futuristischen Manifeste Anfang der 10er Jahre synonym mit samocennost’ und samocel’nost’, d. h. ›Eigenwertigkeit‹ und Autotelie der poetischen Sprache bzw. ästhetischen Funktion (vgl. Ingold, Der große Bruch, S. 172–178; dort auch die deutsche Übersetzung der wichtigsten Manifeste der Futuristen, a. a. O., S. 307–333). [Anm. v. A.H.-L.] 27 Chlebnikov, »Razgovor dvuch osob« [›Gespräch zwischen zwei Personen‹], deutsche Übersetzung: Chlebnikov, Werke, 2, S. 81–85. [Anm. v. A.N.] 28 Also Verben, die durch ihre *lexikalische Bedeutung definiert sind – im Gegensatz zu den syntaktischen Verben, vgl. Anm. 18. [Anm. v. I.M.] 29 Die Fünfzahl als Konstruktionsprinzip behandelt Jakobson ausführlich in seinem Artikel: »Unterschwellige sprachliche Gestaltung in der Dichtung«, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 124–153; vgl. daneben auch »›Ty chocˇesˇ’ znat’: kto ja?‹ Razbor tobol’skich stichov Radisˇcˇeva«, S. 315 f., und die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 699 f. [Anm. v. A.H.-L.]
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über keine Substantiva verfügen – die zweite vom Anfang an gerechnet, und die zweite vom Ende her. Als Gegengewicht zum abschließenden Vierzeiler mit seiner F ü n f h e i t der lexikalischen Verbalformen (5 umer; 5 umer; 5 chlynula; 7 ocˇnulsja; 8 okinuv [›5 bin gestorben; 5 bin gestorben; 5 ergoß; 7 erwachte; 8 umfassend‹]) verfügt der Anfangsvierzeiler über gar keine solchen Formen. Die *Kopula 4 stat’ [›werden‹] (ebenso wie auch die Variante byt’ mjacˇom [›ein Ball sein‹] im Text des Sammelbandes My [›Wir‹]) gehört ganz offensichtlich nicht in den Kreis der lexikalischen Formen. Die wechselseitige Nähe aller fünf Verbalformen ist durch das Vorhandensein des Vokals /u/ in einer jeden von ihnen und durch die völlige Abwesenheit dieses *Phonems in den übrigen Wörtern des Achtzeilers verstärkt. Die zwei markierten (genauer: *merkmalhaften) Kategorien, nämlich der *perfektive Aspekt und das Präteritum, mit denen die Endstrophe alle f ü n f ihrer Verbalformen versehen hat, profilieren noch mehr die Verbhaftigkeit dieser Strophe im Unterschied zum vorhergehenden, verblosen Vierzeiler. Die Fünfergliederung, die besonders bemerkbar und in den kleinen Formen wirksam ist, steigert die Teilhabe der grammatischen Kategorien an der poetischen Symbolik.30 So steht zum Beispiel das Maskulinum, welches die F ü n f z a h l der Substantiva verbindet, beginnend beim ersten Wort der Verse 1 Veter [›Wind‹] bis zu 8 voina [›Kriegers‹] der letzten Verszeile (wobei allen beiden maskulinen Formen neutrale Substantiva folgen – 1 penie, 8 okom [›1 Singen, 8 (mit dem) Auge‹]), all das steht beredt dem einzigen Fall eines Femininums entgegen – 5 krov’ [›Blut‹] – und wirft ein Licht auf die komplizierte Kampfthematik beider Strophen. Drei Paare von Pronomina, die im Rahmen des Verses oder des Doppelverses einander ablösen, verschärfen die Bedeutsamkeit der grammatischen Kategorien des Maskulinums und der Belebtheit. Solcherart ist die kontrastierende Nähe des Genitivs 2 kogo [›wessen‹] und des *Lokativs 2 o ˇ cem [›über was‹]; solcherart ausdrucksvoll ist die wiederholte Formel 5 ja umer, ja umer [›ich (bin) gestorben, ich (bin) gestorben‹]; und solcherart ist schließlich die dramatische Gegenüberstellung von *Person und *Numerus in dem abschließenden Doppelvers: 7 Ocˇnulsja ja [›Erwachte ich‹] – 8 Okinuv vas [›Betrachtend Euch‹]. 30 Gerade darin besteht ja die Grundidee von Jakobsons Grammatik-Poetik, wie er sie seit seiner Moskauer Zeit – gipfelnd dann in der Schrift Poetry of Grammar and the Grammar of Poetry – lebenslang verfolgt hatte. Vgl. Jakobson, »Poe˙zija grammatiki i grammatika poe˙zii«, sowie die deutsche Übersetzung »Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie«, in dieser Ausgabe, Bd. 1, S. 256–301. [Anm. v. A.H.-L.]
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Bemerkenswert ist die enge grammatische und kompositionelle Verbindung zwischen den zwei belebten, maskulinen attributiven Genitiven – zwischen dem Fragepronomen 2 kogo [›wessen‹] am Anfang und dem Substantiv 8 voina [›(des /eines) Kriegers‹] am Ende des Achtzeilers. Die Gemeinsamkeit zwischen diesen zwei Genitiva findet eine Unterstützung in einer ausgeprägten lautlichen Ähnlichkeit: 2 Kogo i o / kavo´ i a / – 8 voina okom / vo ´ ina o´kam /. Die Verbindung zwischen der ersten und letzten geraden Zeile wird gleichfalls unterstrichen durch die einzigen Beispiele der Konsonanten k und v in der ersten Strophe – 2 kogo,31 entsprechend dem Überfluß solcher Beispiele am Ende des Achtzeilers: 8 Okinuv vas voina okom. Überhaupt kann man eine bedachte Verteilung der Ähnlichkeiten und *Kontraste zwischen den Konsonanten beider Strophen vermerken, wie zum Beispiel die Abwesenheit von paarigen stimmhaften Konsonanten im gesamten Achtzeiler, die zu einer viel markanteren qualitativen Differenzierung der Wahrnehmung der Konsonanten verhilft. Das in der russischen Rede relativ seltene Phänomen des *Hiatus ist in beiden entgegengesetzten Verszeilen durch gleich zwei Beispiele vertreten. Der zweite Vierzeiler zählt f ü n f Fälle eines Hiatus; neben den zwei angeführten Beispielen auch 5 ja umer (zweimal) und 7 ja inacˇe. Leicht verständlich ist die Gemeinsamkeit zwischen den Widerklängen von 2 kogo i – 8 vo´ina, den einzigen Beispielen für o´ am Anfang eines Hiatus. Interessant ist, daß im gesamten Achtzeiler ein Hiatus in allen Verszeilen zu finden ist, die mit Pronomina versehen sind, und einzig in solchen Versen vorkommt, dabei schließt er sich in f ü n f von sieben Fällen unmittelbar an das Pronomen an (2 kogo; 2 o ˇcem; 5 ja, ja; 7 ja). Die Verbindung der Pronomina, von explizit grammatischen Wörtern, mit dem Hiatus, der die Vokale von den dazwischenstehenden Konsonanten freimacht, drängt einen dazu, sich an ein von Chlebnikov und seinen Mitgenossen nach dem Almanach Sadok sudej [›Richterfalle‹] des Jahres 1913 genanntes Manifest mit einer These zu den Vokalen zu erinnern, die aufgefaßt werden »als Zeit und Raum (Art des Strebens)« im Gegensatz zu »Farbe, Laut, Geruch« der Konsonanten.32 Ein Hiatus geht dem letzten Wort des Achtzeilers voraus – 8 okom [›(mit dem) Auge‹], und mit der Wurzel ok- bringt die poetische Etymologie 33 einen vokalischen Anfang beider abschließenden, auf einen 31 Der Buchstabe g in kogo wird im Russischen als v ausgesprochen. [Anm. v. A.N.] 32 Vgl. das Manifest »Sadok sudej« [›Die Richterfalle‹] im gleichnamigen futuristischen Almanach des Jahres 1913 (russisch in: Manifesty i programmy, S. 51–53; dt. Übersetzung in: Ingold, Der große Bruch, S. 310). [Anm. v. A.H.-L.] 33 Die »poetische Etymologie« bildet schon in Jakobsons früher Chlebnikov-Studie
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Hiatus orientierten Verszeilen hervor – 7 Ocˇnulsja [›Erwachte‹] und 8 Okinuv [›Umfassend‹]. Vnov’, d. h. ein neuerlich und aufs Neue sich belebender Blick eines fallenden und auferstehenden Kriegers, eingestreut in den farbigen *paronomastischen Kontext (5 chlynula; 7 ocˇnulsja; 7 inac ˇ e; 7 vnov’; 8 okinuv; 8 voina), antwortet mit einem unerwarteten Sieg auf einen scheinbar tödlichen, mit dem Schwert ausgeführten Schlag und auf das Blut, das hervorsprudelt 6 po la´tam ˇsirokim poto´kom. Das verbale Bild eines bislang unerforschlichen Schicksals klingt tief als Chlebnikovs *Anagramm 34 inmitten der Wortverbindung 5 krov’ 6 ˇsirokim potokom. »Schicksal [rok], gesatteltes und aufgezäumtes, hüte dich!«, schrieb der Autor im Jahre 1916, – »Noch ein Schlag des Windes, und es beginnt ein neues wildes Galoppieren der Verfolgungsjagd der Reiter des Schicksals« (V, 144).35 Am offensichtlichsten sind die Paronomasien 36 des ersten Vierzeilers, wo die syntaktischen Abhängigkeiten erheblich abgedämpft sind, und die Erzählung abgelöst wird durch die zweifache Frage: 2 Kogo i o ˇcem? [›Wessen und über was?‹] Der *Reim, der beide ungeraden Verszeilen unter Abziehung ihres Anfangskonsonanten umfaßt, 1 Veter – penie 3 Neterpenie, bindet an die gegenübergestellten Wörter eine eng verkettete semantische Einheit, ähnlich dem türkischen »Schmücken des Wortes durch ein ergänzendes fast gleichartiges Glied«, – entsprechend der Definition Chlebnikovs, »lyki-myki 37 ist das muselmanische Denken« (1940, 369).38 »Die neueste russische Poesie« (vgl. in dieser Ausgabe, Bd. 1, S. 74, Anm. 240) den Kern seiner Wortkunsttheorie: Dabei wird eine linguistisch »falsche« Etymologie, d. h. Herleitung von Wörtern ernst genommen als eine authentische Sprachwirklichkeit, die auch jenseits linguistischer Regeln ihre Gültigkeit hat – und zwar in allen Bereichen der kreativen Sprachbenutzung: vom Traum und Unbewußten über die Folklore oder Kindersprache bis hin zur Poetik. [Anm. v. A.H.-L.] 34 Zu Jakobsons Anagrammtheorie vgl. auch den Aufsatz: »Unterschwellige sprachliche Gestaltung«, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 124–153. [Anm. v. A.N.] 35 Chlebnikov, »Mozˇno kupat’sja v kolicˇestve slez…« [›Man kann in der Menge der Tränen baden…‹], in: ders., Sobranie proizvedenij, V, S. 144. [Anm. v. A.N.] 36 Während das Anagramm die Verteilung von Wortteilen über andere Wortgefüge primär graphisch, also visuell wahrnehmbar macht (daher auch bei Jakobson die graphische Markierung mit Kursiv- und Nichtkursivsetzung, Fettdruck etc.), funktionieren die Paronomasien (bzw. Kalauer) primär lautlich, also im Rahmen des Mediums der Mündlichkeit bzw. Akustik. Beide Verfahren zusammen gehören zum Grundbestand einer Archipoetik, wie sie in archaischen (folkloristischen) Texten ebenso wirksam ist wie in hoch-poetischen – zumal in der zaum’-Dichtung Chlebnikovs (Jakobson, »Die neueste russische Poesie«, S. 85 ff.); vgl. dazu auch: Hansen-Löve, »Velimir Chlebnikovs Onomatopoetik. Name und Anagramm«; Lachmann, Gedächtnis und Literatur, S. 55–64; Greber, Textile Texte, S. 169–225. [Anm. v. A.H.-L.]
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Mecˇ’ [›Schwert‹] und mjacˇ [›Ball‹] – das sind die beliebtesten Paarwörter im Schaffen Chlebnikovs, eines der Beispiele seiner ParonomastikTheorie der »Inneren Flexion«,d 39 die es gestattet, in den ihrer Bedeutung nach weit auseinanderliegenden »Wort-Verwandten« ihren gemeinsamen Inhalt zusammen mit »der Veränderung der Ausrichtung« (V, 171 f.) zu entdecken. Schon im Poem »Chadzˇi Tarchan«, geschrieben »nicht später als 1911–12« (I, 313) und erstmals gedruckt 1913, werden beide Wörter bemerkenswert miteinander kombiniert: Vojna i mecˇ, vy ˇcasto tol’ko mjacˇ Laptoju zanjatych morej [›Krieg und Schwert, ihr seid oft nur ein Ball Der mit dem Ballspiel beschäftigten Meere‹] (I, 119). In »Deti vydry« 40 [›Kinder der Otter‹] (1911–13) ist igra v mjacˇ [›das Ballspiel‹], das verbunden ist mit svecˇoj imenem razum [›der Kerze namens Verstand‹], entgegengestellt der Kombination der Losungen Mecˇ v ladon’ svoju voz’mi, 〈…〉 Mudrecov zˇe sonnych bros’ [›Nimm das Schwert in deine Hand, 〈…〉 Laß die verträumten Helden‹] (II, 146 und 150). Das Poem des Jahres 1910, »Vojna-smert’« [›Krieg-Tod‹], das beginnt mit novym grochotom mecˇej [›dem neuen Krachen der Schwerter‹], ändert unvermittelt und scharf den Ton, sobald Na zemlju padaet, ˇcerneja, mjacˇ [›Auf die Erde, sich schwärzend, ein Ball fällt‹] (II, 187 und 189).41 Mit dem Thema Mecˇ zabyli dlja mjacˇa [›Das Schwert vergaßen sie für den Ball‹] beginnt und mit demselben Thema mit einer zeitlichen Verschiebung [vremenny´m sdvigom] – Mecˇ zabudut dlja mjacˇa [›Das Schwert werden sie vergessen für den Ball‹] – endet die epische Skizze, die vor 1911 verfaßt wurde (II, 222).42 37 »Lyki« bedeutet »Bast«, »myki« ist ein Neologismus. Die Verbindung taucht in Krucˇenychs »Deklaracija slova, kak takovogo« [›Deklaration des Wortes als solchen‹] (1913) auf: »3) Der *Vers erbringt (unbewußt) Reihen von Vokalen und Konsonanten. DIESE REIHEN SIND UNANTASTBAR. Es ist besser, ein Wort durch ein anderes zu ersetzen, das nicht vom Sinn, sondern vom Klang her ähnlich ist (lyki – myki – kyka).« (Übers. aus: Ingold, Der große Bruch, S. 324.) [Anm. v. A.N.] 38 Dieses Zitat befindet sich nicht an der angegebenen Stelle in den Neizdannye proizvedenija Chlebnikovs. [Anm. v. A.H.-L.] 39 Ausführlich zur Erzeugung paronomastischer Ketten, die bei Chlebnikov als Gedichttexte figurieren, schon bei Jakobson, »Die neueste russische Poesie« (vgl. in dieser Ausgabe, Bd. 1, S. 81, Anm. 267 zur »Inneren Flexion« bzw. »Inneren Deklination« [vnutrennee sklonenie] als Verfahren der Wortabwandlung). Nicht zufällig beschäftigt sich Jakobson im selben Kontext auch mit dem mecˇ-mjacˇ-Komplex (a. a. O., S. 83 das entsprechende Zitat aus »Chadzˇi Tarchan«). [Anm. v. A.H.-L.] 40 Chlebnikov, »Deti Vydry« [›Kinder der Otter‹], in: ders., Sobranie proizvedenij, II, S. 142–179, Kommentar: S. 311; dt. Übersetzung »Die Kinder der Otter«, in: Chlebnikov, Werke, Bd. 1, S. 42–64. [Anm. v. A.H.-L.] 41 Verfaßt 1913, in: Chlebnikov, Sobranie proizvedenij, II, S. 187–192. [Anm. v. A.H.-L.]
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Bei allen semantischen Varianten ist das Bild des Balles [mjacˇ ] für Chlebnikov verbunden mit der Kreislinie – im Unterschied zum unebenen, an Ecken reichen Raum des »groben«, zerstörerischen Schwertes [mecˇ ].43 Am Ende eines Briefes, den er im Jahre 1916 an zwei junge Japaner schickte, schreibt Chlebnikov: »Das aber ist wunderbar, daß ihr den Ball des Schlagballspiels in unsere Herzen geworfen habt. Das ist deshalb gut, weil es uns das Recht gibt, den zweiten Schritt zu tun, 〈…〉 denn im Zurückspielen des Balls besteht das Schwertspiel.« 44 Dem blutüberströmten, gequälten Körper, dem Krieg und Tod verbreitenden Schwert, stellte Chlebnikov das kosmisch unbegrenzte Bild des Balles gegenüber, der die Beherrschung des Maßes der Weltzeit verheißt. Das Umschmieden »des Windes der Pest in den Wind des Traumes« und »der Sieg mit Zahl und Wort über Krieg und Tod« – das ist die Thematik Chlebnikovs, die sich mit dem Mythos der Umgestaltung des Schwertes in den Ball verflicht. Gleichzeitig mit dem Bild des »Pestwindes« bemerken wir eine gleichartige lautbildliche Widmung des Poems »Gibel’ Atlantidy« [›Der Untergang von Atlantis‹] an zwei grausame Kräfte – an das Schwert [mecˇu] und die Pest [cˇume] (I, 94–103).45 Die Kasusformen 4 mecˇa´ und mjacˇo´m [›(des) Schwertes‹ und ›(mit dem) Ball‹], die eine lautliche Übereinstimmung beider unbetonten Wurzeln hervorrufen, verstärken die Orientierung auf den graphischen, buchstäblichen Bestand der Verse und kommen gleichzeitig der poetischen Leidenschaft am Erraten von *Homonymen entgegen; die Polysemie der Wörter ist ein starker Hebel der Dichtung Chlebnikovs: Kosa to ukrasˇaet, 42 Chlebnikov, »Napisannoe do vojny« [›Vor dem Krieg Geschriebenes‹], in: ders., Sobranie proizvedenij, II, S. 222 f. [Anm. v. A.H.-L.] 43 Der mecˇ-mjacˇ-Komplex ist nicht nur ein ideales Beispiel für eine durch »innere Flexion« (e → a) generierte »Entfaltung« (razvertyvanie) von neuen Wörtern und Bedeutungszusammenhängen aus invarianten Konsonantenkomplexen (/m/ – /cˇ/), sondern kann auch als Paradebeispiel für archetypische »Urworte« im Sinne Goethes gelten, deren Gegensinn gleichwohl erst das paradoxale Ganze des *Symbols ermöglicht, wie dies ja auch C. G. Jung in seiner Archetypologie und Symbollehre vielfach dargelegt hatte. Der »Gegensinn« entfaltet sich aus der *Opposition von »rund« bzw. »kreisförmig« und »gerade« bzw. »linear« auf der wörtlichen Ebene, und auf der figuralen als Opposition von Frieden bzw. Weiblichkeit und Krieg bzw. Männlichkeit. Vgl. dazu auch Freud, »Über den Gegensinn der Urworte«. [Anm. v. A.H.-L.] 44 Chlebnikov, »Pis’mo dvum japoncam« [›Brief an zwei Japaner‹], in: ders., Sobranie proizvedenij, V, S. 154 f.; dt. Übersetzung in: V. Chlebnikov, Werke, Bd. 2, S. 245 f., Kommentar: S. 571. [Anm. v. A.N.] 45 Chlebnikov, »Gibel’ Atlantidy« [›Der Untergang von Atlantis‹], verfaßt 1909–11, veröffentlicht 1912, in: Sobranie proizvedenij, II, S. 94–103. [Anm. v. A.H.-L.]
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spuskajas’ na plecˇi, to kosit travu [›Der Zopf /die Sichel 46 schmückt einmal den Scheitel, herabfallend auf die Schultern, einmal mäht sie das Gras‹] (II, 93).47 Absichtlich symmetrisch ist der Übergang vom Paar der Homonyme zu einer ganz einfachen Wiederholungskonstruktion der folgenden Zeile, 5 Ja umer, ja umer [›Ich bin gestorben, ich bin gestorben‹], denn im Grunde verwandelt sich das wiederholte »umer« [›bin gestorben‹] in das »ocˇnulsja inacˇe« [›erwachte anders‹]. Als »Krieger der Zukunft« [Vojnom budusˇˇcego] bezeichnete sich Chlebnikov in seinem letzten Brief an Elena Guro vom 12. 1. 1913 (1940, 364), einige Monate später, in seinem Brief über ihr Ende, fragte er, »sollten die Toten die Lebenden beweinen oder die Lebenden die Toten« (1940, 366). In dem Achtzeiler, der in der Folge als Finale für das Werk Vojna v mysˇelovke [›Krieg in der Mausefalle‹] dienen sollte, war der verstorbene Held erwacht, 8 okinuv vas voina okom [›umfassend euch (mit des) Kriegers Auge‹]. Und in Übereinstimmung mit Chlebnikovs Überlegung »O prostych imenach jazyka« [›Zu den einfachen Namen der Sprache‹] ist die erste Bedeutung des Wortes Vy [›Sie‹] – »eine heranstürmende Seite, eine eindringende« (IV, 205). Die Form 8 vas [›Euch‹], die letzte der pronominalen Reihe des Achtzeilers, fällt unweigerlich ins Auge als hier einziges Beispiel eines Akkusativ – bei völliger Absenz anderer *transitiver Verben, außer dem *Adverbialpartizip okinuv [›umfaßt habend‹]. Der Krieger, der sich nach der Verwandlung des Schwertes in einen Ball sehnt, behält die Oberhand. Eine ungewöhnliche Schlüsselwortverbindung ist: 7 ocˇnulsja ja inacˇe. Von den f ü n f vorhandenen *Affrikaten ˇc gehören die drei übrigen zur ersten Strophe. Alle fünf treten in Nachbarschaft mit *nasalen Konsonanten auf, – in der zweiten Strophe, wie erwähnt, in der Nachbarschaft mit n, und in der ersten in der Nachbarschaft mit m: 2 o cˇem, 4 mecˇa i mjacˇom. 46 Die Homonymie von kosa (= weiblicher Zopf) und kosa (= Sichel bzw. Sense) gehört zu den produktivsten in der russischen Mythopoetik, verbindet sie doch wie mecˇ [›Schwert‹] und majcˇ [›Ball‹] das konstruktive Prinzip (Zopf) mit dem destruktiven der Sichel bzw. Sense, mit der die Menschen ebenso abgemäht werden wie die Ähren des Feldes. Auch hier macht sich der erwähnte »Gegensinn der Urworte« geltend, da hier das Erossymbol des Zopfes mit dem Thanatossymbol der Sichel in ein und demselben Wort verschmilzt. Gerade in der Mythopoetik des russischen Symbolismus (vor allem bei Aleksandr Blok, Andrej Belyj oder Vjacˇeslav Ivanov) finden sich zahlreiche Beispiele für die Entfaltung dieser Homonymie (vgl. HansenLöve, Der russische Symbolismus, Bd. II, S. 89–92 u. 154–156). [Anm. v. A.H.-L.] 47 Aus dem Gedicht »Son – to sosed snega vesnoj…« [›Traum – ist Nachbar des Schnees im Frühling…‹] (1912). [Anm. v. A.N.]
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Die Kombination der Affrikate ˇc mit den nasalen Konsonanten fand eine weite Verbreitung in den schöpferischen Experimenten Chlebnikovs. Der Reim seines Poems »Rusalka i poe˙t« 48 [›Die Nixe und der Dichter‹] verwendete die im Anfang russischer Wörter seltene Kombination eines nasalen Konsonanten und einer Affrikate im Übermaß: »Smechu vremja! Zvezdam cˇas! Vosklicali, vetrom mcˇas’« [›Dem Lachen Zeit! Den Sternen Stunde bzw. Zeit! Schrien sie als Wind einhereilend‹] (I, 151). Die verhältnismäßige Nähe der Affrikaten zu den Nasalen ist reich an verschiedenen Variationen. Die Verse der Nixe in »Lesnaja toska« 49 [›Waldsehnsucht‹] lauten: »Verju, veter ljubit ne o cˇem, Grustit’ neucˇem« 50 [›Ich glaube, der Wind liebt nichts, Trauert um den Ignoranten‹] (I, 166). Besonders reich an ähnlichen Zusammentreffen von Konsonanten sind die zaum’-Verse Chlebnikovs. Solcherart ist der Lautbestand der Reden, die vom Autor der Übergeschichte Sangesi verschiedenstämmigen Göttern in den Mund gelegt werden. So wird Veles 51 die Replik zugeschrieben »pencˇ’, pancˇ’, pen’cˇ’,« und Eros »emcˇ’, amcˇ, umcˇ! du´mcˇi, da´mcˇi, do´mcˇi«. Die Götter fliegen, wobei sie ausrufen: »juncˇi, ˙encˇi, uk!« 52 (III, 320 und 339). Chlebnikov unternahm unentwegte Anstrengungen, um mithilfe des Vergleichs von Wörtern einer Sprache oder sogar eines ganzen Kreises von Sprachen die allgemeine Bedeutung einzelner Redelaute zu finden, wobei er glaubte, daß »ein jeder konsonantische Laut in sich ein gewisses Bild 48 Das Poem heißt entweder »Poe˙t« (1919, Sobranie proizvedenij, I, S. 145–164) oder mehrfach in Chlebnikovs Manuskripten »Rusalka i poe˙t« (vgl. Kommentar, a. a. O., S. 314). [Anm. v. A.H.-L.] 49 Chlebnikov, »Lesnaja toska« (1920/21), in: ders., Sobranie proizvedenij, I, S. 165– 173. [Anm. v. A.H.-L.] 50 Neucˇ bezeichnet sowohl einen Ungebildeten bzw. Ignoranten als auch überhaupt einen Flegel. [Anm. v. A.H.-L.] 51 Neben Perun einer der zentralen ostslavischen Götter (vgl. dazu: Ivanov /Toporov, Issledovanija v oblasti slavjanskich drevnostej, S. 31 ff.). [Anm. v. A.H.-L.] 52 Die hier zitierten zaum’-Ausdrücke sind naturgemäß unübersetzbar: Es handelt sich dabei um jenen Typus der zaum’-Sprache, der ausschließlich oder weitgehend aus erfundenen, d. h. nicht aus einer konkreten Sprache abgeleiteten Morphologie besteht. Dieser Typus dominiert in der Phase des »Alogismus« (1913/1914) vor allem bei Krucˇenych und Malevicˇ, aber auch im Dadaismus (Jakobson, »Dada«, S. 103– 108). – Dem steht gegenüber die Synthese einer neologischen zaum’-Sprache aus Wurzel- und grammatischen *Morphemen des Russischen, wobei die Innovation nicht auf der Ebene der Elemente, sondern der unkonventionellen Kombination liegt (Jakobson, »Die neueste russische Poesie«, s. oben, Bd. 1, S. 70, Anm. 225; vgl. Hansen-Löve, Der russische Formalismus, S. 121–127, u. Hansen-Löve, »Krucˇenych vs. Chlebnikov. Zur Typologie zweier Programme im russischen Futurismus«, S. 25 ff.). [Anm. v. A.H.-L.]
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birgt und ein Name ist«. Wie denn auch insbesondere die Ergebnisse seiner Forschungen darin resultieren (V, 234–37): 53 »cˇ ist nicht nur ein Laut, ˇc ist auch ein Name, ein unteilbarer Sprachkörper. Wenn sich erweist, daß ˇc in allen Sprachen ein und dieselbe Bedeutung hat, dann ist die Frage einer Weltsprache gelöst«, verkündet Chlebnikov überzeugt: Nachdem wir »Wörter auf ˇc« gesammelt und verglichen haben, »sehen wir, daß sie alle einen Körper im Umschlag eines anderen bedeuten; ˇc – bedeutet Umschlag«.54 Der Held der Erzählung »Ka« Echnaton schreit bei seinem Tode: »mancˇ’! mancˇ’! mancˇ’!« (IV, 67).55 Im oben zitierten Artikel über die Ergebnisse, »Nasˇa osnova« [›Unsere Grundlage‹], bemerkt Chlebnikov, daß »solche Wörter zu keiner Sprache gehören, gleichzeitig aber etwas sagen, etwas Unfaßbares, aber gleichwohl Existierendes. 〈…〉 Die Tatsache, daß in den Verwünschungen, Beschwörungen die zaum’-Sprache dominiert und die Vernunft-Sprache verdrängt, beweist, daß sie über eine besondere Macht über das Bewußtsein verfügt, über eine besondere Daseinsberechtigung neben der vernünftigen Sprache« (V, 235). Freilich 53 Chlebnikov, »Nasˇa osnova« [›Unsere Grundlagen‹], § 2 »Zaum’«, deutsche Übersetzung in Chlebnikov, Werke, 2, S. 321–335. Vgl. auch Chlebnikovs Selbstkommentar: »Das Alphabet, vielen Völkern gemeinsam, ist ein kurzes Wörterbuch der räumlichen Welt, die eurer Kunst, Maler, und eurem Pinsel so nahe ist. […] Das einzelne Wort gleicht einem kleinen Arbeitsbündnis, wo der erste Laut des Wortes einem Vorsitzenden des Bündnisses gleicht, der die ganze Menge der Laute des Wortes verwaltet. Wenn man alle Wörter, die mit ein und demselben konsonantischen Laut beginnen, sammelt, so wird sich erweisen, daß diese Wörter, ähnlich wie Himmelssterne, oft aus einem Punkt des Himmels fallen, all diese Wörter aus ein und demselben Punkt des Denkens vom Raum fliegen. Dieser Punkt ist dann auch als Bedeutung des Lauts im Alphabet angenommen worden, als des einfachsten Namens.« (Chlebnikov, »An die Maler der Welt«, in: Werke, Bd. 2, S. 314.) [Anm. v. A.H.-L.] 54 Gerade der ˇc-Laut bzw. das entsprechende Graphem ч eignet sich ideal zur lautund buchstabensemantischen Klassifizierung im Sinne von Chlebnikovs »Sternensprache«: Der »Laut-Name« /cˇ/ bezeichnet die semantische Kategorie des *metonymischen ›Umschließens‹ bzw. ›Einschließens‹ (als totum), das in sich eine Reihe von partes (symbolisiert durch den Lautnamen /m/) umfaßt. Dies gilt etwa für das Wort ˇcasˇa (d. h. Pokal, Trinkgefäß) oder aber auch das bei Chlebnikov zentrale Leitmotiv des ˇcerep (d. h. des Totenschädels). Vgl. Chlebnikov, »Wörterbuch der Sternensprache«, in: ders., Sobranie proizvedenij, III, S. 376 f., sowie Chlebnikov, »An die Maler der Welt«, Werke, Bd. 2, S. 312–315; ders., »Unsere Grundlage«, a. a. O., S. 328 ff.; vgl. auch Hansen-Löve, »Der ›Welt ˘ Schädel‹ in der Mythopoesie V. Chlebnikovs«, S. 159 f. [Anm. v. A.H.-L.] 55 Chlebnikov, »Ka«, 1915/16, in: ders., Sobranie proizvedenij, IV, S. 47–69; dt. Übersetzung in: Werke, Bd. 2, S. 127–145. [Anm. v. A.H.-L.]
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bringen die biographischen Aufzeichnungen, die »Svojasi« Chlebnikovs ein bezeichnendes Eingeständnis anläßlich eben dieses Beispiels einer zaum’-Rede: »Zur Zeit der Niederschrift riefen die Worte des sterbenden Echnaton ›mancˇ, mancˇ!‹ aus ›Ka‹ fast Schmerz hervor; ich konnte sie nicht lesen ohne einen Blitz zwischen mir und ihnen zu sehen; jetzt aber sind sie für mich nichts mehr. Weshalb – weiß ich selbst nicht.« (II, 9) 56 Es ist unmöglich, sich hier nicht an das flackernde Licht zu erinnern (sei es ein »Blitz« oder ein »Nichts«) eines älteren und verwandten Lautcharakters, zu dem Pusˇkins auf seine Weise zaum’-hafter, todbringender »ancˇar« 57 gehört. Das berühmte *Palindrom Chlebnikovs (II, 43), »Pereverten’« [›Umdreher‹ 58 ], erstmals publiziert im zweiten Band von Sadok sudej [›Richterfalle‹], baut auf meisterhafte Weise seine vierte Strophe auf drei ˇc, zwei m und vier n auf, und als Zentrum dient die *Instrumentalform mecˇem (»cˇin zvan mecˇem navznicˇ’« [›Der Rang gerufen mit dem Schwert rücklings‹]), die sich parallel zum nominativischen Zentrum der fünften Verszeile verhält (»golod cˇem mecˇ dolog« [›Der Hunger als das Schwert lang‹]).59 Vgl. die Verschmelzung des zehnfachen m mit dem neunfachen ˇc in dem »von beiden Seiten verstehbaren« Bericht des Dichters über Ra56 Eben dieses Beispiel bringt Jakobson auch am Ende seiner Chlebnikov-Studie »Die neueste russische Poesie« (s. oben, Bd. 1, S. 112), um damit auch die rezeptionsästhetische Relativität und Abnützbarkeit der reinen Laut-zaum’-Dichtung hervorzuheben, während die semantische zaum’-Sprache, also die okkasionelle Kombination von vorhandenen (russischen) Wort-Wurzeln bzw. Wurzel-Wörtern weitaus produktiver und kreativer erscheint. Einen ähnlichen aus dem »Moskauer Linguistik Zirkel« hergeleiteten Standpunkt vertrat später auch G. Vinokur in seiner Studie Majakovskij, novator jazyka [›Majakovskij, der Sprachneuerer‹] (Moskau 1943), wo er die linguistisch auflösbaren Wortspiele gerade Majakovskijs der reinen zaum’-Technik Chlebnikovs gegenüberstellt und somit auch für relevanter erklärt als den reinen Verfremdungs-Effekt einer konkreten Laut-Dichtung oder einer hermetischen Privatsprache, die zu Unrecht den Anspruch erhebt, eine »universelle« zu sein. [Anm. v. A.H.-L.] 57 Chlebnikov bezieht sich auf Puschkins Ballade »Ancˇar« (russ.: Pusˇkin, »Ancˇar«, deutsche Übersetzung: Puschkin, »Antiar«). Antiaris toxicaria ist der giftige Upasbaum. [Anm. v. A.N.] 58 Unter diesem Titel in der Übersetzung von Rosemarie Ziegler in der deutschen Ausgabe Chlebnikov, Werke, Bd. 2, S. 307. Zu den *Inversionen auf der Wort-, Satzund Sujetebene bei Chlebnikov vgl. ausführlich Jakobson, »Die neueste russische Poesie«, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 1–123, hier: S. 36–43. [Anm. v. A.H.-L.] 59 Vgl. diese Übersetzung von Rosemarie Ziegler, in: Chlebnikov, Werke, Bd. 2, S. 307: gemeint ist wohl: »Der Hunger ist länger als das Schwert«, was aber das Palindrom golod / dolog verhindern würde. [Anm. v. A.H.-L.]
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zins Folter: »mecˇi bicˇem! mucˇ cˇum. mecˇet, tecˇ’ cˇem? mat’ cˇem mecˇtam.« (I, 214) [›schlage mit der Peitsche! […] Qual der Pest. er schleudert, womit fließen? Die Mutter womit den Träumen?‹] 60 Auf die Verse von Sadok sudej [›Richterfalle‹], zweifellos verwandt mit dem Achtzeiler über das Schwert [o mecˇe], den Ball [o mjacˇe] und über den »anders erwachten« Krieg, gab Svojasi [›Mein Eignes‹] eine eindringliche Antwort: »Ich schrieb in reinem Wahn den ›Pereverten’‹ [›Umdreher‹] und als ich eben auf mich die Wirkung der Verse verspürte ›cˇin zvan… mecˇem navznicˇ’‹ [›Der Rang, gerufen… rücklings mit dem Schwert‹] (der Krieg) und verspürte, wie sie später zu einer Leere wurden, ›pal a narod chud i duch vorona lap‹ [›fiel das Volk mager und der Geist der Krähenpfoten‹], da verstand ich sie als widergespiegelte Strahlen der Zukunft, geworfen vom unterbewußten ›Ich‹ auf den Verstandes-Himmel.« (II, 8 f.) Vor sechzig Jahren, im Frühling 1919, im Zusammenhang mit der Vorbereitung einer Werksammlung Chlebnikovs für den Druck, liefen lebhafte Gespräche des Dichters mit dem Redakteur der geplanten Ausgabe,61 und gerade in Verbindung mit diesen Gesprächen wurden die einleitenden Sätze unter der neuerfundenen Überschrift 62 Svojasi geschrieben. In ihnen wie in den mündlichen Debatten und in den beredten Anmerkungen der späteren Chlebnikovschen Notizbücher (vgl. V, 255–275) prägten sich klar jene Fragen aus, die zu jener Zeit wie auch später den »Weichensteller auf dem Wege der Begegnung von Vergangenheit und Zukunft« bewegten, entsprechend der »schweren Aufgabe«, die sich der Zukünftler 63 auferlegt hatte (V, 163). Von der Prüfung der zaum’ durch die Zeit berichtet wieder und wieder Svojasi [›Mein Eignes‹], und 60 »Razin« in der Übersetzung von Rosemarie Ziegler, a. a. O., Bd. 2, S. 328. [Anm. v. A.H.-L.] 61 Also mit Jakobson selbst, der hier an die Anfangsbemerkung oben S. 496 anknüpft. [Anm. v. A.H.-L.] 62 Gemeint ist der Neologismus Svojasi, der gemäß dem Kommentar in Chlebnikov, Sobranie proizvedenij, II, S. 301, von Jakobson selbst vorgeschlagen worden war. [Anm. v. A.H.-L.] 63 Der Begriff budetljanin ist ein Neologismus, den jene Futuristen, die sich von der westlichen Avantgarde bewußt absetzen wollten, gerne für sich benutzten: Er bedeutet wörtlich übersetzt »Zukünftler« und verweist durch die russische Ersetzung des internationalen Terminus »Futurismus« bzw. »Futurist« auf die autochthone Eigenständigkeit der russischen Avantgarde und ihrer neoprimitivistischen Ausrichtung. (Vgl. dazu auch die nach wie vor lesenswerte Überblicksdarstellung von Vladimir Markov, Russian Futurism, S. 27 ff., 86 u. 130.) Neoprimitivistische Tendenzen der russischen Avantgarde Mitte der 10er Jahre vertraten – neben Chlebnikov oder Vasilij Kamenskij – in der Malerei besonders Michail Larionov, Olga Rozanova, aber auch Malevicˇ oder Kandinskij. [Anm. v. A.H.-L.]
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mit dem Verweis auf diese Erprobung durch die Zeit endete auch (oder eher: brach ab) mein Versuch eines Vorworts zur Buchausgabe der gesammelten Werke Chlebnikovs, entworfen und in eben jenem Spätfrühling diskutiert im Moskauer Linguistik-Zirkel.64 Gerade dem »Gesandten der Erdkugel« 65 Chlebnikov schien die hellseherische Wahrnehmung der Verbindung und Trennung der Zeiten in der Menschenrede gegeben mit ihren beständigen Verwandlungen des zaum’-Feldes in das der Vernunft, der märchenhaften Vorwegnahme in Wirklichkeit, des Wunders in Alltag und des Üblichen in ein Wunder, der Verständigkeit in Spott, und des Schimpfes in Liebkosung. Er überprüfte im Pusˇkinschen Werk »das schwankende Gesetz der Zeit« (V, 272). Der gestählte Sprachschöpfer [recˇetvorec] wußte, daß »eine Sache [vesˇˇc’], die nur in neuen Worten geschrieben ist, das Bewußtsein nicht berührt«,66 gleichzeitig verstand er aber auch, daß »die Wörter dann besonders stark sind, wenn sie lebendige Augen sind für das Geheimnis, und durch den Glimmer des Alltagssinnes ein zweiter Sinn schimmert«.67 Editorische Notiz Der Text basiert auf einer Harvard-Vorlesung aus dem Jahr 1967, die im Sommer 1979 in Peacham, Vermont, überarbeitet wurde.
64 Vgl. Jakobson, »Novejsˇaja russkaja poe˙zija. Nabrosok pervyj: Podstupy k Chlebnikovu«, S. 354. [Anm. v. R.J.] – Vgl. die kommentierte Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 1–123. [Anm. v. A.H.-L.] 65 Die Proklamation »Vozzvanie Predsedatelej zemnogo ˇsara« [›Aufruf der Vorsitzenden des Erdballs‹] wurde 1917 verfaßt; russ. Fassung in: Chlebnikov, Sobranie proizvedenij, V, S. 162–164; deutsche Übersetzung von Rosemarie Ziegler in: Chlebnikov, Werke, Bd. 2, S. 256–258. Die Selbstbezeichnung Chlebnikovs als »Vorsitzender des Erdballs« gehört in die für den Futurismus typische Gestik der Selbstüberhöhung, die im übrigen auch den hyperbolischen Stil Majakovskijs prägte. Vgl. Chlebnikovs Selbstanpreisungen: »In dieser Zeit war ich bereits zum König der Zeit gewählt […] und war zum Oberhaupt des ersten Staates der Zeit auf dem gesamten Erdball erklärt worden.« (Chlebnikov, »Ka«, Werke, Bd. 2, S. 162.) – Darüber hinaus sieht sich der Dichter nicht nur als Sprach- und Mythenschöpfer, sondern als Demiurg seines von ihm selbst kreierten Welt-Buches: Insoferne ist er auctor mundi und Autor des Textes in einer Person. (Zur »Konkurrenz« zwischen dem »Vorsitz« Chlebnikovs und Malevicˇs als »Präsident des Weltalls« vgl. HansenLöve, »Die Kunst ist nicht gestürzt«, S. 269 ff.) [Anm. v. A.H.-L.] 66 Chlebnikov, »Iz zapisnych knizˇek« [›Aus den Notizbüchern‹], in: ders., Sobranie proizvedenij, V, S. 270. [Anm. v. A.N.] 67 A. a. O., S. 269. [Anm. v. A.N.]
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Literatur Jakobsons eigene Literaturangaben sind mit ° gekennzeichnet. Blok, Aleksandr Aleksandrovicˇ: »O cˇem poet veter« [›Worüber der Wind singt‹], in: ders.: Sobranie socˇinenij i pisem v dvadcati tomach [›Gesammelte Werke und Briefe in zwanzig Bänden‹], Bd. 3, Moskva: Nauka 1997, S. 191–195. ° Chlebnikov, Velimir: Izbornik stichov [›Gedichtauswahl‹], hg. v. A. Krucˇenych, St. Peterburg: EUY 1914. ° — Sobranie proizvedenij [›Gesammelte Werke‹], 5 Bde., hg. u. komm. v. J. Tynjanov u. N. Stepanov, Leningrad: Izdatel’stvo pisatelej 1928–1933 (Nachdr.: Sobranie socˇinenij, 3 Bd., München: Wilhelm Fink Verlag 1968–1972). ° — Neizdannye proizvedenija [›Unedierte Werke‹], hg. v. N. Chardzˇiev u. T. Gric, Moskva: Gosudarstvennoe izdatel’stvo »Chudozˇestvennaja literatura« 1940 (Nachdr.: Sobranie socˇinenij, Bd. 4, München: Wilhelm Fink Verlag 1971). Chlebnikow, Welimir: Werke, hg. v. Peter Urban, Band 1: Poesie, Band 2: Prosa Schriften Briefe, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch 1972. — Ziehn wir mit Netzen die blinde Menschheit, hg. v. M. Erb, Berlin: Verlag Volk und Welt 1984. Erbslöh, Gisela: »Pobeda nad solncem«. Ein futuristisches Drama von A. Krutschonych, München: Sagner 1976 (= Slavistische Beiträge, Bd. 99). Freud, Sigmund: »Über den Gegensinn der Urworte«, in: ders.: Werke aus den Jahren 1909–1913, London: Imago 1943 (= Gesammelte Werke, hg. v. Anna Freud u. a., Bd. 8), Nachdr. 1955, S. 214–221. Greber, Erika: Textile Texte. Poetologische Metaphorik und Literaturtheorie. Studien zur Tradition des Wortflechtens und der Kombinatorik, Köln, Weimar u. Wien: Böhlau Verlag 2002 (= Pictura et poesis, Bd. 9). Grübel, Rainer Georg: Sirenen und Kometen. Axiologie und Geschichte der Motive Wasserfrau und Haarstern in slavischen und anderen europäischen Literaturen, Frankfurt /Main u. a.: Lang 1995 (= Slavische Literaturen. Texte und Abhandlungen, Bd. 9). Günther, Hans: »Ding – vesˇcˇ’«, in: Glossarium der russischen Avantgarde, hg. v. A. Flaker, Graz u. Wien: Verlag Droschl 1989, S. 179–187. Hansen-Löve, Aage A.: »Die Entfaltung des ›Welt-Text‹-Paradigmas in der Poesie Velimir Chlebnikovs«, in: Velimir Chlebnikov. A Stockholm Symposium. April 24, 1983, hg. v. N. A. Nilsson, Stockholm: Almqvist & Wiksell 1985 (= Acta Universitatis Stockholmiensis, Stockholm Studies in Russian Literature, Bd. 20), S. 27–88. — »Die Kunst ist nicht gestürzt«, in: Kazimir Malevicˇ, Gott ist nicht gestürzt. Schriften zu Kunst, Kirche, Fabrik, hg. u. komm. v. Aage A. Hansen-Löve, München: Carl Hanser Verlag 2004, S. 255–599. — »Faktur, Gemachtheit«, in: Glossarium der russischen Avantgarde, hg. v. A. Flaker, Graz u. Wien: Verlag Droschl 1989, S. 212–219.
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Aus den kleinen Sachen Velimir Chlebnikovs: »Wind – Singen«
515
— »Von einer Generation, die ihre Dichter vergeudet hat«, übs. v. Iris Knoop, in: Poetik, S. 158–191. Kowtun, Evgenij F.: Sangesi. Die russische Avantgarde. Chlebnikow und seine Maler, übs. v. Georg Kobro, Zürich: Edition Stemmle 1993. Lachmann, Renate: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne, Frankfurt /Main: Suhrkamp 1990. Langer, Gudrun: Kunst – Wissenschaft – Utopie. Die »Überwindung der Kulturkrise« bei V. Ivanov, A. Blok, A. Belyj und V. Chlebnikov, Frankfurt /Main: Vittorio Klostermann 1990. Malevicˇ, Kazimir: »Alpha und Beta«, in: Jewgenij F. Kowtun: Sangesi. Die russische Avantgarde. Chlebnikov und seine Maler, übs. v. Georg Kobro, Zürich: Edition Stemmle 1993, S. 146–150. Manifesty i Programmy russkich futuristov [›Manifeste und Programme der russischen Futuristen‹], hg. v. Vladimir Markov, München: Fink 1972. Markov, Vladimir: Russian Futurism: A History, Berkeley: University of California Press 1968. Poe˙zija i zˇivopis’. Sbornik trudov pamjati N. I. Chardzˇieva [›Dichtung und Malerei. Sammelband zum Angedenken an N. I. Chardzˇiev‹], hg. v. M. B. Mejlach u. D. V. Sarab’janov, Moskva: Jazyki russkoj kul’tury 2000. Pusˇkin, Aleksandr Sergeevicˇ: »Ancˇar« [›Antiar‹], in: ders.: Polnoe sobranie socˇinenij. V 17 tomach, Bd. 3, Moskva u. Leningrad: Izdatel’stvo Akademii Nauk SSSR 1943, S. 133 f. Puschkin, Alexander Sergejewitsch: »Antiar«, in: ders.: Gesammelte Werke in sechs Bänden, hg. v. Harald Raab, Bd. 1, Frankfurt /Main: Insel Verlag 1973, S. 300 f. Vinokur, Grigorij Osipovicˇ: Majakovskij, novator jazyka [›Majakovskij, der Sprachneuerer‹], Moskva 1943, Nachdr. München: Fink 1967 (= Slavische Propyläen, Bd. 34).
Roman Jakobson
Ein slovenisches Beispiel der Schlüsselrolle unpersönlicher Sätze im poetischen Kontext 1 Übersetzung aus dem Russischen Oleh Kotsyuba
Übersetzung aus dem Slovenischen und Kommentar Peter Scherber Jakobsons relativ kurze Analyse des Gedichts »Mrtva nevesta« [›Die tote Braut‹] nähert sich ihrem Gegenstand aus einer in der bisherigen slovenischen Forschung nicht gekannten Perspektive. Die stilistische Funktion einer *unpersönlichen Schreibweise als konstitutiv für dieses Gedicht und zugleich als Nachweis einer für das Slovenische typischen und einzigartigen poetischen Ausdrucksmöglichkeit ist hier von Jakobson erstmalig festgestellt worden. Insoweit ist diese linguistisch fundierte Analyse auch eine Herausforderung für die künftige Beschäftigung mit dem poetischen Werk Oton Zˇupancˇicˇs. Zˇupancˇicˇ begann seine Laufbahn als Lyriker und Dramatiker im Kontext der slovenischen ›Moderne‹, einer nationalen und lokalen Spielart der um 1900 überall in Europa auftretenden symbolistischen Strömungen und Bewegungen. Charakteristisch ist dabei Zˇupancˇicˇs Auffassung vom Volkslied 2 als einer authentischen poetischen Ausdrucksform der im Prozeß der wachsenden Selbstbestimmung sich formierenden und vor allem literarisch dominierten Nationalkultur Sloveniens. Dies begründete auch die literaturgeschichtliche Bedeutung von Zˇupancˇicˇ als einem bereits zum Klassiker des 20. Jahrhunderts kanonisierten Nationaldichter. 1
2
Vorlage: Jakobson, Roman Osipovicˇ: »Slovenskij primer uzlovoj roli bezlicˇnych predlozˇenij v poe˙ticˇeskom kontekste«, in: SW III, S. 577–581. Vgl. den Erstdruck in: Papers in Slavic Philology 1. In Honor of James Ferrel, Ann Arbor: University of Michigan 1977, S. 142–145. [Anm. d. Übs.] Zum folkloristischen Aspekt vgl. Cankar, Obiski, S. 167–176; Petre`, »Iz Zˇupancˇiˇ upancˇicˇ in ukrajinska poezija«; ferner zahlreiche Äußeruncˇeve poetike«; Glazer, »Z gen von Zˇupancˇicˇ selbst in Zˇupancˇicˇ, Zbrano delo, Bd. 7. [Anm. d. Komm.]
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Roman Jakobson
»Mrtva nevesta« gehört zu den wenig beachteten Gedichten Zˇupancˇicˇs. Im Jahre 1911 geschrieben 3 und in einem literarischen Kalender für 1913 erstmalig gedruckt, 4 wird es für den 1920 erschienenen Gedichtband »V zarje Vidove« [›In die Morgenröte des St. Veitstages‹] 5 ausgewählt und dort in den letzten von drei Gedichtzyklen eingerückt. 6 Damit erhielt »Mrtva nevesta« eine durchaus respektable Position innerhalb der Werkshierarchie (GedichtZyklus-Gedichtband-Gesamtwerk), die von der bisherigen slovenischen literaturwissenschaftlichen Forschung kaum zur Kenntnis genommen worden ist. Es gibt nur sehr wenige Erwähnungen des Gedichts. Während Glazer und Mahnicˇ 7 in ihrer Charakterisierung kaum über die Feststellungen Tesnie`res 8 hinausgehen, hat sich erst 1988 Irena Novak-Popov substantieller zu dem Gedicht geäußert und ihm einige analytische Betrachtungen gewidmet. 9 Peter Scherber
3 4 5
6 7
8
9
(Var. 1): Handschrift im Nachlaß Zˇupancˇicˇs in der National- und Universitätsbibliothek Ljubljana, Mapa 3, Pesmi 1898–1920, ovoj 31. Die Handschrift hat keinen Titel und trägt das Datum vom 11. August 1911. [Anm. d. Komm.] (Var. 2): Literarna pratika za 1914. leto, S. 50, jetzt unter dem Titel »Na grobu« [›Am Grabe‹]. [Anm. d. Komm.] Mit diesem Titel meint Zˇupancˇicˇ einerseits die Sommersonnenwende als einem Scheitelpunkt seines eigenen poetischen Schaffens – der St. Veitstag am 28. bzw. nach julianischem Kalender am 15. Juni gilt aber auch traditionell als ein Tag südslavischer Zeitenwenden: Am Veitstag (Vidovdan), dem 28. Juni 1389 fand die entscheidende Schlacht auf dem Amselfeld statt, und am selben Tag 1914 wurde in Sarajevo der österreichisch-ungarische Thronfolger von einem serbischen Attentäter ermordet, was dann nach Beendigung des 1. Weltkriegs auch zur Begründung einer sehr begrenzten slovenischen Autonomie innerhalb Jugoslaviens geführt hat. [Anm. d. Komm.] (Var. 3): Handschrift im Nachlaß Zˇupancˇicˇs (Rokopis V zarje Vidove, Blatt 67) und Druckfassung (Var. 4): Zˇupancˇicˇ, V zarje Vidove, S. 73. [Anm. d. Komm.] Zˇupancˇicˇ, Izbrane pesmi, S. 125 (hier gleich in deutscher Übersetzung): »ursprünglicher als die Liebe vom Kind zu den Eltern und der Schwester zum Bruder und stärker als der Tod ist die Liebe zwischen Mann und Frau«. Mit fast denselben Worten charakterisiert es Mahnicˇ und nennt das Gedicht »einfach in den Mitteln, aber erschütternd in seiner Wirkung«; Mahnicˇ, Obdobje moderne, S. 174. [Anm. d. Komm.] »Le loi d’amour est maintenant pour lui une loi de la conscience morale et nationale. Aussi n’accorde-t-il pas a` l’amour filial et fraternel la meˆme valeur qu’a` celui qui unit l’homme et la femme, et qui est plus fort que la mort elle-meˆme« [›Das Gesetz der Liebe ist für ihn ein Gesetz des sittlichen und staatsbürgerlichen Gewissens. Auch schreibt er der Kinder- und Geschwisterliebe nicht denselben Wert zu wie der Liebe, die Mann und Frau vereinigt und die stärker ist als selbst der Tod.‹]; Tesnie`re, Oton Joupantchitch, S. 184 f. [Anm. d. Komm.] Sie spricht von einer ›schicksalhaften erotischen Verpflichtung, welche die Grenzen des menschlichen Lebens überschreitet‹ und fügt hinzu (hier gleich in deutscher
Die Schlüsselrolle unpersönlicher Sätze im poetischen Kontext
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»Die Kraft der Worte«, »l’art de les mettre en valeur par des alliances heureuses« 10, »die Macht der Suggestion«, »die Tiefe der Ausdrucksstärke« – solcherart sind die begeisterten Äußerungen über den Wortkünstler ˇ upancˇicˇ, mit welchen Lucien Tesnie`re seine französischen ÜberOton Z setzungen von dessen slovenischen Gedichten kommentiert. In der Geˇ upancˇicˇ im Laufe ihrer dichtminiatur »Mrtva nevesta« (1914) 11 erreichte Z drei Terzette durch die einfallsreiche Variation von fünf unpersönlichen Sätzen und begleitenden lautlichen und grammatischen Mitteln eine seltene liedhafte Klarheit und bildliche Geschmeidigkeit. I 1 »Hcˇerka, hcˇerka, ti je hudo´ 2 po materi, po oc ˇetu?« – 3 Tiho, tiho je pod zemljo ´. II 1 »Sestra, sestrica, ti je tezˇko´ 2 za brati, za sestra ´mi?« – 3 Tiho, tiho je v jami. ˇ uj, nevesta, dragi sem tvoj, III 1 »C 2 is ˇcˇem ljubezni po svetu…« – 12 3 V grobu je vzdihnilo: »Joj, prejoj!«… Übersetzung): »Ohne mich in die Erörterung poetischer Gattungen zu vertiefen, weise ich auf die Möglichkeit hin, daß der Text ein verschwommenes und lyrisiertes Modell einer romantischen Ballade darstellt, bzw. deren symbolistische Transformation. Die ›Geschichte‹ ist verdichtet auf das Zusammentreffen und den Versuch eines Dialoges zwischen Lebenden und Toten, der nur den beiden getrennten Geliebten gelingt, auch wenn der Seufzer der toten Braut aus dem Grabe heraus ohne weitere Konsequenzen bleibt.« – Novak-Popov, »Vesolje v kaplji rose: prispevek k pomenski analizi Zˇupancˇicˇeve zbirke V zarje Vidove«, S. 424. [Anm. d. Komm.] 10 ›Die Kunst, sie [die Worte] durch glückliche Verbindung sehr wertvoll darzustellen.‹ [Anm. d. Übs.] – Die genannten Zitate lauten im Satzzusammenhang bei Tesnie`re: »Il sent la force des mots, connaıˆt de les mettre en valeur par des alliances heureuses, et sa langue atteint ainsi a` une puissance d’e´vocation et a` une intensite´ expressive qui sont uniques en slove`ne et qui plongent ses compatriotes dans l’admiration« [›Er spürt die Kraft der Worte, versteht es, sie durch glückliche Verbindungen zu verschönern, und so erreicht seine Sprache eine Beschwörungskraft und Intensität, die einzig sind im Slovenischen und die seine Landsmänner mit Bewunderung erfüllt.‹] – Tesnie`re, Oton Joupantchitch, S. 357 f. [Anm. d. Komm.] 11 Die Handschrift (Var. 1) ist unbetitelt und mit dem Datum vom 11. 8. 1911 versehen. Der erste Druck 1914 (Var. 2) trug den Titel »Na grobu«. In der Handschrift der Gedichtsammlung V zarje Vidove (1920) (Var. 3) ist der ursprüngliche Titel »Na grobu« durchgestrichen und durch den endgültigen Titel »Mrtva nevesta« ersetzt worden. Die Druckfassung (Var. 4) ist seitdem bezüglich Titel und Textform nicht mehr verändert worden. [Anm. d. Übs./Komm.] 12 Die Textwiedergabe bei Jakobson ist fehlerhaft; nämlich: I1 Hcerka, hcerka […];
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Roman Jakobson
I 1 »Tochter, Tochter, ist es dir schlimm 13 2 Nach der Mutter, nach dem Vater?« – 3 Still, still ist es unter der Erde. II 4 »Schwester, Schwesterchen, ist es dir schwer 14 5 Nach den Brüdern, nach den Schwestern?« – 6 Still, still ist es in der Grube. III 7 »Hör zu, Braut, ich bin dein Liebster, 8 Suche die Liebe in der Welt…« – 9 Im Grab seufzte es: »Joj, prejoj!« [›Weh, o weh!‹] …
In jedem Terzett sind die ersten zwei Verse eine direkte, an die Tote gerichtete Rede der Lebenden, und der dritte Vers, die anonyme Schlußreplik, gibt Auskunft darüber, ob eine Antwort folgte und, falls ja, welche. Der unpersönliche Satz, der den Schlußvers eines jeden Terzetts bildet, enthält keine Objekte und ist stets mit einer Adverbialbestimmung des Ortes ausgestattet – I 3 pod zemljo´ [›unter (der) Erde‹], II 3 v jami [›in (der) Grube‹], III 3 v grobu [›im Grab‹],
wodurch die Friedhofsumgebung immer mehr präzisiert und betont wird. Hingegen versieht jeder der zwei unpersönlichen Sätze, auf denen die direkte Rede in den beiden Anfangsterzetten aufbaut, die unpersönliche Konstruktion mit einem direkten, *präpositionslosen pronominalen Objekt im Dativ und ferner mit zwei präpositionalen, *symmetrisch verteilten nominalen Nebenobjekten: I 1 ti je hudo´ 2 po materi, po ocˇetu [›1 ist (es) dir schlimm 2 nach (der) Mutter, nach (dem) Vater‹]; II 1 ti je tezˇko´ 2 za brati, za sestra´mi [›1 ist (es) dir traurig 2 nach (den) Brüdern, nach (den) Schwestern‹].
Die unpersönlichen Sätze der direkten Rede mit ihren zweistufigen Objekten und den fehlenden Adverbialbestimmungen sind den unpersönliI2 po materie […]; III3 […] vzdı´hnilo […]. Daher oben zitiert nach: Zˇupancˇicˇ, Zbrano delo, Bd. 3, S. 61; dieser Text folgt der Ausgabe: Zˇupancˇicˇ, V zarje Vidove, S. 73. [Anm. d. Übs./Komm.] 13 In direkter Übersetzung aus dem Slovenischen: ›dir ist schlimm‹, d. h. ohne ein Subjekt, wie es im Deutschen erforderlich wäre, und ohne die Umkehrung der Reihenfolge im Fragesatz (mit dem unpersönlichen Subjekt ›es‹). [Anm. d. Übs./ Komm.] 14 Vgl. die vorangehende Anmerkung. [Anm. d. Übs./Komm.]
Die Schlüsselrolle unpersönlicher Sätze im poetischen Kontext
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chen Sätzen der Schlußrepliken entgegengesetzt, die mit Adverbialbestimmungen des Ortes versehen sind, jedoch keine Objekte enthalten. Für den symmetrischen Aufbau der gesamten Komposition und für die strenge Übereinstimmung zwischen den grammatischen Kategorien und den syntaktischen Funktionen ist es unter anderem charakteristisch, daß alle Substantive (insgesamt fünf), die als *indirekte Objekte dienen, zur belebten Unterkategorie gehören und sich in jedem Terzett in dessen mittlerer Zeile befinden. Die direkte Rede des dritten Terzetts *kontrastiert anschaulich mit den Anfangstiraden der vorhergehenden *Strophen. An die Stelle der Fragesätze tritt das imperative Cˇuj [›Hör zu‹]. Die zweifache Anrede Hcˇerka, hcˇerka [›Tochter, Tochter‹], die scheinbar von jedem der Elternteile getrennt ausgeht, und entsprechend Sestra, sestrica [›Schwester, Schwesterchen‹] von Seiten der Brüder und Schwestern wird durch eine einzelne Anrede nevesta [›Braut‹] und einen einzigen Sprecher ersetzt. Dem unpersönlichen Satz mit dem zusammengesetzten Prädikat, das eine *Kopula und ein Adjektiv verbindet – ti je hudo´, ti je tezˇko´ [›dir ist (es) schlimm‹, ›dir ist (es) schwer‹] – setzt der erste Vers des letzten Terzetts ein ebenfalls zusammengesetztes Prädikat entgegen, jedoch mit der Ersetzung der unpersönlichen neutralen Form durch die erste *Person und das Maskulinum – dragi sem tvoj [›(ich) bin (es), dein Liebster‹]. Dabei hat sich übrigens die pronominale Form des Adressaten der Rede von einem Objekt, das von einem Adjektiv abhängt – I1, II2 ti je [›dir ist (es)‹] – zu einem von einem Adjektiv abhängigen Possessivattribut gewandelt – III1 dragi tvoj [›Liebster dein‹] (die einzigen drei pronominalen Formen innerhalb des Neunzeilers, während die französische Übersetzung zu 14 Pronomina greifen mußte). Das Gedicht enthält keine *Epitheta, und alle sieben Adjektive erfüllen eine prädikative Funktion. Der zweite Vers des letzten Terzetts führt in die direkte Rede zum ersten Mal einen Indikativsatz mit einem einfachen verbalen Prädikat ein, und zwar wiederum in Form der ersten Person. Im gesamten Neunzeiler ist dies das einzige Beispiel eines Satzes, der gleichzeitig sowohl mit einem Objekt, isˇˇcem ljubezni [›suche (die) Liebe‹] als auch mit einer Adverbialbestimmung po svetu [›in (der) Welt‹] ausgestattet ist, d. h. mit einer Adverbialbestimmung des Ortes in völliger Übereinstimmung mit den Adverbialbestimmungen, die der Schlußvers jedes der drei Terzette enthält. In Verbindung mit der Behauptung im Maskulinum – dragi sem tvoj [›(ich) bin dein Liebster‹ bzw. wortwörtlich: ›Liebster (ich) bin dein‹] – ist der Übergang der Adverbialbestimmungen vom Femininum zum Maskulinum bezeichnend:
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I 3 pod zemljo´, [›unter (der) Erde‹] II 3 v jami – [›in (der) Grube‹] III 2 po svetu, 3 v grobu [›2 in (der) Welt, 3 im Grab‹ 15 ].
In Bezug auf das substantivierte Adjektiv ljubezni [›(die) Liebe‹] im zweiten Vers der dritten Strophe muß dessen besonders verbaler Charakter erwähnt werden: Auf das letzte Terzett entfallen vier von den acht Verben des gesamten Gedichts. Auf das verbale Prädikat der vorletzten Zeile antwortet die letzte mit dem im gesamten Gedicht einzigen Beispiel eines unpersönlichen Satzes mit einem autosemantischen konkreten Verb: V grobu je vzdihnilo [›Im Grab seufzte (es)‹]. Die dritte Strophe unterscheidet sich überhaupt deutlich von den ersten zwei durch die drei einzigen autosemantischen Verben (Cˇuj, isˇˇcem, vzdihnilo [›Hör zu, (ich) suche, seufzte (es)‹]) und überdies durch die drei einzigen persönlichen Konstruktionen (und zwar in den ersten zwei Personen), die alle im zweizeiligen Ruf des Verliebten an die verlorene Braut konzentriert sind: Cˇuj, dragi sem tvoj, isˇˇcem [›Hör zu‹, ›(ich) bin (es) dein Liebster‹, ›(ich) suche‹]. Die als Substitut für einen Ausrufesatz dienende Interjektion (oder, in der Sˇachmatovschen Terminologie, der »unpersönliche Interjektionssatz«) Joj, prejoj! [›Weh, o weh!‹] beendet den Vers, das Terzett und das ganze pesem [›Gedicht‹]. Den passiven, unbeantworteten Fragen, ob sich die Verstorbene nach den Verwandten sehnt, ist die kosmische Einsamkeit des nach Liebe verlangenden Helden scharf entgegengesetzt. Die semantische Individualität aller fünf unpersönlichen Sätze, die sieben der neun Verse von »Die tote Braut« füllen, die syntaktischen Wechselbeziehungen dieser sieben Zeilen sowie die charakteristischen Züge ihrer Übereinstimmungen mit und Unterschiede zu den zwei benachbarten persönlichen Zeilen, kurzum – der gesamte innere Aufbau ˇ upancˇicˇs verblaßt zwangsläufig oder geht und Sinn der drei Terzette Z sogar gänzlich verloren bei der Übersetzung in eine Sprache, die über kein solch elastisches und umfangreiches System von unpersönlichen Konstruktionen verfügt. Liest man beispielsweise das Eröffnungsterzett »Fillette, fillette, t’ennuies-tu de ta me`re, de ton pe`re?« – Muet, tout est muet, sous la terre,16 15 Die slovenischen Wörter svet, grob sind beide Maskulina. [Anm. d. Übs.] 16 ›»Töchterchen, Töchterchen, sehnst du dich nach deiner Mutter, nach deinem Vater?« – Still, alles ist still unter der Erde.‹ (Tesnie`re, Oton Joupantchitch, S. 212.) [Anm. d. Komm.]
Die Schlüsselrolle unpersönlicher Sätze im poetischen Kontext
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oder den letzten Vers »He`las, trois fois he`las«, a soupire´ la tombe…,17
dann versteht man, ob man will oder nicht, die Qualen des Übersetzers, die der feinsinnige Linguist Tesnie`re durchlitten hat, der in sein Motto ˇ upancˇicˇs eine scherzhafte zum gesamten übersetzten Band der Gedichte Z Selbstanklage wegen eines neuen Judaskusses eingefügt hat: »je t’ai traduit dans ma langue«.18 Kennzeichnend für alle acht (oder, nach Sˇachmatov, neun) Sätze, die ˇ upancˇicˇs bilden, ist die völlige Abwesenheit von expliden Neunzeiler Z ziten Subjekten und Akkusativobjekten. Das Thema des Todes scheint ein verbales Verbot über die direkte Benennung des Subjekts und des von der Handlung betroffenen Objekts zu verhängen. Auffällig ist die Gemeinsamkeit der Bedeutungen aller *indirekten nominalen Objekte, die, ich wiederhole, in der mittleren Zeile eines jeden Terzetts konzentriert sind: Sie bezeichnen durchgehend die spürbar fehlenden Protagonisten, wobei in den ersten zwei Terzetten die Rede von denjenigen ist, welche die verstorbene Heldin verloren hat, und im dritten von der verlorenen Heldin. Die Adverbialbestimmungen der Schlußzeilen in allen drei Terzetten sind synonym und verengen konsequent den Fokus: pod zemljo´ – v jami – V grobu [›unter (der) Erde – in (der) Grube – im Grab‹]. Der dritte Vers eines jeden Terzetts ist mit einem schlichten Reim mit einem der zwei anderen Verse verbunden: I 1 hudo´ – 3 zemljo´ [›I1 schlimm – 3 Erde‹]; II 2 za sestra´mi – 3 v jami [›II2 nach (den) Schwesterchen – 3 in (der) Grube‹]; III 1 tvoj – 3 prejoj [›III1 dein – 3 o Weh‹] (in den Zeilen, die mit einem ausdrucksvollen siebenfachen j durchdrunˇ uj, -tvoj; -je, -Joj, prejoj!). gen sind: C
17 ›»Ach, dreimal ach«, hat das Grab geseufzt…‹ (A. a. O., S. 213.) [Anm. d. Komm.] 18 ›Ich habe dich in meine Sprache übersetzt.‹ (A. a. O., S. VII.) Das Zitat, auf einer Widmungsseite vor der Einleitung plaziert, ist der letzte Vers eines slovenischen Vierzeilers mit französischer Übersetzung, den Tesnie`re aus vier unterschiedlichen Gedichten Zˇupancˇicˇs montiert hat, wobei der letzte Vers kein Zitat, sondern eine – hier ›scherzhafte Selbstanklage‹ genannte – Veränderung von Tesnie`re darstellte. Statt bei Zˇupancˇicˇ: »in odhitel sem – Juda II. – v mrak« [›und ich – Judas II. – enteilte in das Dunkel‹] heißt es bei Tesnie`re: »in prevedel sem te – Juda III. – na svoj jezik« bzw. »et – troisie`me Judas – je t’ai traduit dans ma langue« [›und ich habe dich – Judas III. – in meine Sprache übersetzt‹]. In diesem Motto ist natürlich auch das *Wortspiel »traduttore – tradittore« versteckt. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Die Anfangszeile der direkten Rede im ersten Terzett ist durch einen lautlichen und grammatischen *Parallelismus mit der entsprechenden Zeile des nächsten Terzetts verbunden: I 1 ti je hudo´ [›dir ist (es) schlimm‹] – II 2 ti je tezˇko´ [›dir ist (es) schwer‹].
Die Schlußzeile der direkten Rede im ersten Terzett ist durch einen offensichtlichen formalen Parallelismus mit der entsprechenden Zeile des Schlußterzetts verkuppelt, wobei die syntaktischen Funktionen und die Satzintonationen auffallend kontrastieren: I 2 po ocˇetu? – [›nach (dem) Vater? –‹] III 2 po svetu. [›in (der) Welt.‹]
Die Kopula, die allen drei Anfangs- und Schlußversen der Terzette gemeinsam ist, ist in das Spiel der lautlichen Wiederholungen einbezogen, die die direkte Rede eines jeden Terzetts sehr deutlich seiner anonymen Replik gegenüberstellen: I1 II 1 III 1
ti je hudo´ – 3 Tiho, tiho je; ti je tezˇko´ – 3 Tiho, tiho je; Cˇuj 〈…〉 tvoj – 3 V grobu je.
In einer frühen handschriftlichen Variante des dritten Terzetts diente das Gewebe der Wiederholungen als ein malerischer Hintergrund für die Lyrik der direkten Rede: III 1 nevesta, 〈…〉 sem tvoj, 2 sam, sam-sam cat na sveti,19
doch die weitere Überarbeitung der zweiten Zeile, die das ursprüngliche Motiv und insbesondere das *Anagramm 1 nevesta – 2 na sveti ge19 Der Hg. der maßgeblichen Werksausgabe, D. Pirjevec, äußerte sich hierzu in seinem Kommentar (Zbrano delo 3, S. 367; hier gleich in deutscher Übersetzung): »Die Niederschrift in der Mappe III, Ordner 31 ist ohne Titel, sie hat das Datum vom 11. August 1911 und sein achter Vers lautet: […]«. Neben den für die Textform weniger wesentlichen typographischen Zeichensetzungen und markierten Akzenten unterscheiden sich alle 4 Varianten vor allem in der 7. und 8. Verszeile. (Var. ˇ uj, nevesta, dragi sem tvoj, III2 sam, sam-samcat na svetu – [›Hör zu, 1) lautet: III1 C Braut, ich bin dein Liebster, allein, ganz allein bin ich auf der Welt‹]. (Var. 2) lautet: ˇ ujesˇ nevesta, dragi sem tvoj, III2 isˇcˇem ljubezni po svetu…«. [›ich suche die III1 »C ˇ uj, nevesta, dragi sem tvoj, III2 sam sem Liebe in der Welt‹]. (Var. 3) lautet: III1: »C samcat na svetu…« [›Hör zu, Braut, ich bin dein Liebster, allein bin ich, allein auf ˇ uj, nevesta, dragi sem tvoj, III2 isˇcˇem ljubezni po der Welt‹]. (Var. 4) lautet: III1: »C svetu…« [›Hör zu, Braut, [ich] bin dein Liebster, ich suche [die] Liebe in der Welt…‹]. [Anm. d. Komm.]
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dämpft hatte, brachte einen fast anagrammatischen Übergang vom leidenden Verlangen hin zum Friedhofsecho im letzten Vers hinein: III 2 ljubezni – 3 V grobu je vzdihnilo.
Editorische Notiz Geschrieben in Cambridge, Massachusetts, 1972, und zum ersten Mal veröffentlicht in: Papers in Slavic Philology 1. In Honor of James Ferrel. Ann Arbor: University of Michigan 1977, S. 142–145.
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Roman Jakobson
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Roman Jakobson und Peter Colaclides 1
Grammatische Bildlichkeit in Kavafis’ Gedicht »Gedenke, Leib…« 2 Übersetzung aus dem Englischen und Kommentar Charitini Douvaldzi Mit dieser von den Verfassern selbst als bloße »Skizze« bezeichneten Studie gelingt Jakobson eine konsequente Eng- und Vorführung der in dem 1961 erschienenen Aufsatz »Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie« formulierten These vom Wechselspiel grammatischer Figuren und lexikalischer Tropen. Jakobson konstatierte dort in der Lyrik Pusˇkins einen Wettstreit des »morphologischen und syntaktischen Gewebes« »mit der künstlerischen Rolle der Wort-Tropen« – bei dem das erstere »nicht selten […] zum hauptsächlichen, ja sogar einzigen Träger ihrer [sc. der Verse] verborgenen Symbolik« wird. Wie er dort Pusˇkins Liebesgedicht »Ja vas ljubil« als Exempel ›bilderloser Poesie‹ analysierte, so dominiert für ihn hier die der Grammatik eigene Bild1
2
Peter Colaclides, geb. 1920 in Istanbul, studierte erst in Athen und dann in Paris bei E´mile Benveniste, bevor er in die Vereinigten Staaten auswanderte und mit Jakobsons Hilfe eine Stelle als »Visiting Assistant Professor« am MIT bekam. Er unterrichtete an den Universitäten Brandeis, Ottawa, und CUNY, bevor er 1968 Professor für Klassische Philologie an der University of California, Irvine wurde. Seinem Interesse an der neugriechischen Literatur ging er in verschiedenen Studien nach, wie der in Zusammenarbeit mit der Linguistin Irene Philippaki-Warburton verfaßten strukturalistischen Gedichtinterpretation von Kavafis’ Pa´rthen (1983). Im Kavafis-Jubiläumsjahr leitete Colaclides das Kavafis gewidmete »Dritte Symposion über die Dichtung« an der Universität von Patras. In seinem Vortrag »I glo´ssa tou Kava´fi«, welcher den zweiten Tag des Symposions eröffnete, arbeitete er seine Überlegungen zu Kavafis’ »grammatischem Bewußtsein« aus und fügte zur grammatischsyntaktischen Analyse-Ebene die der Bachtinschen Polyphonie hinzu. Colaclides ist 1985 in den USA gestorben. [Anm. d. Übs./Komm.] Vorlage: Jakobson, Roman u. Peter Colaclides: »Grammatical Imagery in Cavafy’s Poem UymhÂsoy, sv Ä ma…«, in: SW III, S. 582–590. Vgl. den gleichnamigen Erstdruck in: Linguistics 20 (1966), S. 51–59. Die beiden Fassungen stimmen vollkommen miteinander überein. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Roman Jakobson und Peter Colaclides
lichkeit und Symbolik, welche – angesichts der radikalen »Ökonomie der Mittel« und der totalen Abwesenheit jeglicher ›üblichen‹ Metaphorik – in der »engen oder sogar konstanten Verkettung mehrerer grammatischer Konzepte« besteht: Handelt »die grammatische Symbolik des Gedichts von einigen unzertrennlichen Komplexen«, so fungieren grammatische Kategorien gleichzeitig als ›signans‹ und ›signatum‹, als ›vehicle‹ und ›tenor‹ des »Bildes«. Als Skizze erscheint die Kavafis-Gedichtanalyse in mehrfacher Hinsicht. Auf den ersten Blick scheint sie rudimentär und kaum vollendet: hier begnügt sich Jakobson mit dem Nachweis der grammatischen Strukturen und unternimmt nur selten den Schritt zu ihrer ›Semantisierung‹. Anders als in der späteren Yeats-Interpretation, 3 die gestützt auf dessen eigene poetologische Aussagen die »offene Symbolik« von »Patterns« thematisiert, geht die vorliegende Studie kaum zur Aufschließung von »semantischen Korrespondenzen« über. So ergibt sich hier die Auslassung fast aller semantischen Information aus einem konsequenten Verständnis der Boas’schen These, daß »jeder Unterschied in den grammatischen Kategorien semantische Information enthält« 4: In der Interpretation gerade dieses sich so sehr auf Synekdochen und Metonymien verlassenden Gedichts scheint die abwesende semantische Dimension einem interpretatorischen ›totum‹ zuzugehören, welches in der grammatisch-syntaktischen ›pars‹ bildlich-synekdochisch repräsentiert ist. Die ›Verbindung und Konkurrenz‹ besteht hier zwischen den Verkettungen, die das Gedicht aufstellt, und den Korrelationen und deren Verwandtschaften, welche Jakobson in seiner Suche nach »Gesamtbedeutungen« grammatischer Kategorien aufgedeckt hat. 5 Andererseits ist das Skizzenhafte der Kavafis-Analyse nicht zuletzt durch das kaum annotierte Diagramm, welches das Gedicht auf sein syntaktisches Skelett reduziert, als Anspielung auf die Nähe von Grammatik und Geometrie zu verstehen. Wenn – so das Stalin-Zitat in »Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie« – die Geometrie ihre »eigenen Gesetze aufstellt, indem sie von den konkreten Gegenständen abstrahiert, die Gegenstände als Körper betrachtet, die von allem Konkreten losgelöst sind, und die Beziehungen zwischen ihnen nicht als konkrete Beziehungen zwischen den und den 3 4 5
Vgl. Jakobson /Rudy, »Yeats’ ›Sorrow of Love‹ Through the Years«, sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 570–630. [Anm. d. Übs./ Komm.] Jakobson, »Boas’ View of Grammatical Meaning«, S. 493; dt. Übs.: »Der Begriff der grammatischen Bedeutung bei Boas«, S. 72. [Anm. d. Übs./Komm.] Für eine Diskussion der »Frage der Gesamtbedeutungen der grammatischen Formen« sowie deren Forschungsgeschichte siehe Jakobson, »Beitrag zur allgemeinen Kasuslehre«, bes. S. 23–25. Nach Jakobson bildet die Frage der Gesamtbedeutungen »naturgemäß die Grundlage der Lehre von dem grammatischen System der Sprache« (a. a. O., S. 23). [Anm. d. Übs./Komm.]
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konkreten Gegenständen definiert, sondern als Beziehungen zwischen den Körpern schlechthin, die von allem Konkreten losgelöst sind«, so wird die geometrische, von jeder Semantisierung freie Behandlung von Kavafis’ Gedicht – welches nicht bloß vom Körper handelt, sondern sogar das Abstrakte im Physisch-Konkreten verankert – zum Sinnbild der Theorie selbst. Symptomatisch ist, daß die sonst extrem karge, faktisch-linguistische Sprache von Jakobson und Colaclides sich bloß zweimal erlaubt, durch epithetische Ausschmückung und paraphrastische Nachgiebigkeit ihre semantische Abstinenz zu brechen: wenn sich die Verfasser über die »tragische Klimax« bei dem »frustrierenden« »katastrophalen« Hindernis auslassen, welches alle sexuellen Erwartungen verletzt – eine »frustration«, deren grammatisches und rhythmisches Spiegelbild zu Jakobsons poetologischen Lieblingsthemen gehört 6 –, und wenn sie das Abstraktum »Begierden« mit einer Überzahl von Epitheta bekleiden, da diese ohnehin »unverkörpert« und »unterdrückt« geblieben sind. Charitini Douvaldzi
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
SVMA, uymhÂsoy oÍxi moÂno toÁ poÂso aÆgaphÂuhkew, oÍxi monaÂxa taÁ krebbaÂtia oÏpoy plaÂgiasew, aÆlla kÆ eÆkeiÄnew teÁw eÆpiuymiÂew poyÁ giaÁ seÂna gyaÂlizan meÁw staÁ maÂtia faneraÂ, kÆ eÆtreÂmane meÁw sthÁn fvnhÁ – kai kaÂpoio tyxaiÄon eÆmpoÂdio teÁw mataiÂvse. TvÂra poyÁ eiËnai oÏla piaÁ meÂsa stoÁ pareluoÂn, moiaÂzei sxedoÁn kai steÁw eÆpiuymiÂew eÆkeiÄnew saÁn naÁ doÂuhkew – pv Ä w gyaÂlizan, uymhÂsoy, meÁw staÁ maÂtia poyÁ seÁ kyÂttazan. pv Ä w eÍtreman meÁw sthÁn fvnhÂ, giaÁ seÂ, uymhÂsoy, sv Ä ma.
1918 7 1 2 3 4 5 6
6 7
´ MA, thymı´sou o´chi mo´no to po´so agapı´thikes, SO o´chi mona´cha ta krevva´tia o´pou pla´giases, alla´ k’ ekeı´nes tes epithymı´es pou gia se´na ya´lizan mes sta ma´tia fanera´, k’ etre´mane mes stin fonı´ – kai ka´poio tychaı´on empo´dio tes mataı´ose.
Vgl. Jakobson, »Linguistics and Poetics«, S. 33, sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 179 f. [Anm. d. Übs./Komm.] Das Gedicht, welches Robert Liddell (Cavafy. A Critical Biography, S. 170) das beste erotische Gedicht des höchst produktiven Schaffensjahres 1916 nennt, wurde im Mai 1916 verfaßt und erschien zuerst in der Zeitschrift Gra´mmata im Dezember 1917/ Januar 1918; inzwischen in: Kavafis, Ta Piı´mata, S. 95. [Anm. d. Übs./Komm.]
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To´ra pou eı´nai o´la pia me´sa sto pareltho´n, moia´zei schedo´n kai stes epithymı´es ekeı´nes san na do´thikes – po´s ya´lizan, thymı´sou, mes sta ma´tia pou se kı´ttazan; po´s e´treman mes stin fonı´, gia se´, thymı´sou, so´ma.
Eine versuchsweise, so weit wie möglich wörtliche Übersetzung wäre: 8 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
LEIB, gedenke nicht nur, wie sehr du geliebt worden bist, nicht nur der Betten, in die du dich gelegt hast, sondern auch jener Begierden, die für dich deutlich in den Augen glänzten und in der Stimme bebten – und die irgendein zufälliges Hindernis vereitelt hat. Jetzt, wo alles nun in der Vergangenheit liegt, scheint es fast, als hättest du dich auch jenen Begierden hingegeben – wie sie glänzten, gedenke, in den Augen, die dich anschauten; wie sie in der Stimme bebten, für dich, gedenke, Leib.
Die primäre Teilung dieses Gedichts ist dichotom: es besteht aus zwei komplexen Sätzen, die aufgrund der ungeraden Gesamtverszahl ungleich sind. Der erste Satz umfaßt sechs, der zweite fünf Zeilen. Die *Struktur jedes Satzes ist trichotom: das *transitive Verb des einzigen im ersten Satzgefüge enthaltenen Hauptsatzes regiert drei *Objekte, die je von einem bestimmten Artikel im Akkusativ eingeleitet werden (1 to), unmittelbar gefolgt von einem Objektsatz; 2 ta krevva´tia [›die Betten‹], durch den Nebensatz 2 o´pou pla´giases [›in die du dich gelegt hast‹] modifiziert; und 3 tes epithymı´es [›die Begierden‹], durch drei untereinander koordinierte Teilsätze näher bestimmt. Die Dreiteilung des Hauptsatzes des ersten Satzgefüges ist zu der Unterteilung des zweiten Satzgefüges in drei unabhängige Sätze parallel. Im ersten Satzgefüge setzt der Hauptsatz seine dritte Konstituente der ersten und zweiten entgegen: 1 o´chi mo´no 〈…〉 [›nicht nur 〈…〉‹], 2 o´chi mona´cha 〈…〉 [›nicht nur 〈…〉‹] – 3 alla´ k’ 〈…〉 [›sondern auch 〈…〉‹].9 Die drei Nebensätze, die das letzte Objekt dieses 8
9
Für freiere Übertragungen siehe The Poems of C. P. Cavafy, übs. v. John Mavrogordato, S. 95; The Complete Poems of Cavafy, übs. v. Rae Dalven, S. 82. [Anm. v. R.J. / P.C.] – Vgl. hierzu die deutschen Übersetzungen »Gedenke, Leib…« (in: Kavafis, Brichst du auf gen Ithaka…, S. 83) bzw. »Körper, erinnere dich…« (in: Kavafis, Das Gesamtwerk, S. 106 f.). [Anm. d. Übs./Komm.] Die gleich am Anfang dieser Studie erscheinende Spannung zwischen dichotomischen und trichotomischen Strukturen wird sich sowohl auf der Ebene des Gedichts als auch für die Interpretation als besonders relevant erweisen. Obgleich das Gedicht
Grammatische Bildlichkeit in Kavafis’ Gedicht »Gedenke, Körper…«
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Hauptsatzes näher bestimmen, folgen dem gleichen Teilungsprinzip: 3 pou 〈…〉 ya ´ lizan 〈…〉 [›die 〈…〉 glänzten 〈…〉‹], 5 k’ etre´mane 〈…〉 [›und bebten 〈…〉‹] – 5 kai 〈…〉 6 mataı´ose [›und 〈…〉 vereitelte‹]. Umgekehrt trennen die drei Hauptsätze des zweiten Satzgefüges das erste Prädikat im Indikativ von den zwei abschließenden Imperativen: 8 moia´zei 〈…〉 [›es scheint 〈…〉‹] – 〈…〉 10 thymı´sou 〈…〉 [›〈…〉 gedenke 〈…〉‹]; 〈…〉 11 thymı´sou [›〈…〉 gedenke‹]. Jeder der beiden Sätze umfaßt fünf Nebensätze; während jedoch den Nebensätzen im ersten Satzgefüge ihre Bezugswörter vorangehen, ist die Reihenfolge im zweiten Satzgefüge umgekehrt: es geht hier jedem Nebensatz ersten Grades ein Nebensatz zweiten Grades voraus: 1) 7 to´ra pou selbst durch die Ermahnung, nicht bloß der ersten zwei Konstituenten, sondern auch einer dritten zu gedenken, einen von Jakobson und Colaclides notierten Übergang von einem binärem zu einem ternären System zu ermöglichen scheint, kehren die Verfasser in ihren zusammenfassenden Bemerkungen zur binären Denkweise zurück: »Die Konjugation erstreckt sich nur auf einige offensichtlich binäre Oppositionen« (s. u. S. 549). Während Jakobson im Anschluß an Saussures These, wonach »la langue peut se contenter de l’opposition de quelque chose avec rien« (Saussure, Le Cours de Linguistique ge´ne´rale, S. 124; dt. Übs.: »Die Sprache kann sich begnügen mit der Gegenüberstellung von Etwas mit Nichts« [Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, S. 103]), das Konzept des »Nullzeichens« am Ende der 30er Jahre entfaltete und nur für Oppositionen »zweier grammatischer Kategorien« nutzbar machte, ist es hier gerechtfertigt zu fragen, ob man dieses Konzept nicht auch auf dreigliedrige »Oppositionen« anwenden könne. Zumindest in Bezug auf die Kategorie der grammatischen Person wäre dies im Sinne Benvenistes, auf den sich die Verfasser selbst in der vorliegenden Studie beziehen: »Il faut donc rechercher comment chaque personne s’oppose a` l’ensemble des autres et sur quel principe est fonde´e leur opposition, puisque nous ne pouvons les atteindre que par ce qui les diffe´rencie.« (Benveniste, »Structure des relations de personne dans le verbe«, S. 226; dt. Übs.: »Man muß also untersuchen, in welcher Weise jede Person in Opposition zu der Gesamtheit der anderen steht und auf welchem Prinzip ihre Opposition begründet ist, denn wir können sie nur durch das erreichen, was sie differenziert.« [Benveniste, »Die Struktur der Personenbeziehungen im Verb«, S. 252.]) Das Neugriechische bietet eine Reihe von grammatischen Kategorien, die als dreigliedrige Oppositionen angesehen werden können: Die Kategorien der Person, des *Genus, des Genus verbi und des Modus verbi sind alle ternär strukturiert. Die Ermahnung, auch der unerfüllten Begierden zu gedenken (im Gegensatz zu den zwei ›erfüllten‹, im grammatischen Sinne ›gefüllten‹ Kategorien), suggeriert eine Affinität zwischen den Begierden und allen »Nullkategorien« im Gedicht, welche sich einzig im Gegensatz zu zwei gefüllten (und zueinander in Opposition stehenden) Kategorien denken lassen: so die erste Person als das »Nullzeichen« der »offensichtlich binären Opposition« zwischen der zweiten und dritten; das Maskulinum als das »Nullgenus«, nicht etwa »im Gegensatz zum Femininum« (Jakobson, »Das Nullzeichen«, S. 221), sondern im Gegensatz zur im Gedicht belegten expliziten Opposition zwischen dem Femininum und dem Neutrum. [Anm. d. Übs./Komm.]
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eı´nai 〈…〉 [›jetzt, wo 〈…〉 ist‹], 2) 9 po´s ya´lizan [›wie sie glänzten‹], 3) 11 po ´s ´etreman 〈…〉 [›wie sie 〈…〉 bebten‹]. Überdies folgt auf den ersten Hauptsatz in diesem Satzgefüge ein anderer Nebensatz zweiten Grades (8 kai 〈…〉 9 san na do´thikes [›als hättest du dich 〈…〉 hingegeben‹]); auf den zweiten Hauptsatz folgt ein Nebensatz dritten Grades (10 pou se kı´ttazan [›die dich anschauten‹]). Das syntaktische Muster des Gedichts läßt sich durch ein Diagramm darstellen.
Drei der vier Hauptsätze des Gedichts weisen den gleichen Imperativ thymı´sou [›gedenke‹] auf; ein weiterer bietet das *unpersönliche Verb moia´zei [›es scheint‹]. Kurz gesagt: keiner der Hauptsätze läßt ein grammatisches
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Subjekt zu.10 In den Nebensätzen erscheinen die finiten indikativischen Verbformen entweder ohne explizites Subjekt (in fünf der zehn Fälle), oder es wird die nichtflektierende Relativpartikel pou (als Subjekt) für die Verben der Zeilen 4, 5 und 10 benutzt. Die einzigen zwei Nominative des gesamten Gedichts sind allein in den Randzeilen zu finden, die die zwei komplexen Sätze voneinander absondern: das *Pronomen 7 o´la [›alles‹] in der Anfangszeile des zweiten Abschnittes und das Substantiv 6 empo´dio [›Hindernis‹] in der Schlußzeile des ersten Abschnittes. So ist jedes Satzgefüge von zwei unabhängigen Deklinationsformen eingerahmt – von einem Nominativ und einem Vokativ: Der Anfangssatz fängt mit dem Vokativ so´ma [›Leib‹] an und enthält in seiner letzten Zeile den Nominativ empo´dio [›Hindernis‹], während der Schlußsatz umgekehrt den Nominativ o´la [›alles‹] am Anfang zeigt und mit dem Vokativ so´ma [›Leib‹] endet. Das einzige Substantiv im Nominativ gehört der sechsten, mittleren Zeile des Gedichts. Es ist die zweite von drei strikt lexikalischen Einheiten der mittleren Zeile (im Gegensatz zu der streng grammatischen Pronominalform tes [›die /sie‹]); daher steht empo´dio [›Hindernis‹] genau im Zentrum der gesamten Komposition. Dieses Wort zeichnet sich in mehrfacher Hinsicht aus. Unter allen bezeichnenden (nicht-vokativischen) Substantiven 11 im Gedicht wird allein dieses ohne bestimmten Artikel 10 Das nicht zugelassene grammatische Subjekt darf nicht etwa mit dem impliziten Subjekt (wie dem der Nebensätze, s. u.) verwechselt werden. Im Neugriechischen wird das grammatische Subjekt in personalpronominaler Form üblicherweise ausgelassen und damit impliziert; doch ist diese Subjekt-Ellipse von den Konstruktionen zu unterscheiden, die kein grammatisches Subjekt zulassen. Vgl. Jakobson über das nicht-grammatische Subjekt im Imperativ: »Das Personalpronomen beim Imperativ (ty´ idı´ ) ist seiner Funktion nach eher Anrede als Subjekt.« (Jakobson, »Zur Struktur des russischen Verbums«, S. 10.) Dadurch, daß keiner der Hauptsätze ein grammatisches Subjekt zuläßt, wird das Subjekt zur syntaktischen Nullkategorie des Gedichts. Jakobson spricht von einem »Nullsubjekt« in Bezug auf die subjektlosen Sätze im Russischen: »Die Unterordnung der Akkusativbedeutung in der Abstufung der Bedeutungen einer Aussage bleibt auch in den subjektlosen Sätzen in Kraft. Die Besonderheit dieser Sätze liegt darin, daß die Stelle des führenden Gegenstandes, ohne aufgehoben zu sein, vakant bleibt. Man könnte, syntaktisch gesehen, von einem ›Nullsubjekt‹ sprechen.« (Jakobson, »Beitrag zur allgemeinen Kasuslehre«, S. 34.) [Anm. d. Übs./Komm.] 11 Die Opposition von bezeichnenden Substantiven bzw. Kasus und nicht-bezeichnendem Vokativ ist auf das Bühlersche »Organon-Modell« und die Unterscheidung zwischen den drei Funktionen der Sprache zurückzuführen: Ausdruck, Appell und Darstellung (in Bühlers 1918 verfaßter Arbeit noch »Kundgabe, Auslösung und Darstellung« genannt; vgl. Bühler, Sprachtheorie, S. 28). Diese Unterscheidung gewinnt an Relevanz für die vorliegende Studie, wenn man Jakobsons Bemerkungen über die
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Roman Jakobson und Peter Colaclides
gebraucht; so entspricht diese Form auch in dieser Hinsicht dem ersten und letzten Wort des Gedichtes, dem Vokativ so´ma [›Leib‹]. Das zentrale Affinität von Vokativ (Kasus) und Imperativ (Modus) in Betracht zieht: »Die Sprachwissenschaft hat eingesehen, dass der Vokativ sich nicht auf derselben Ebene befindet, wie die übrigen Kasus, und dass die vokativische Anrede ausserhalb des grammatischen Satzes steht; ebenso ist der echte Imperativ von den übrigen verbalen Kategorien abzusondern, da er durch dieselbe Funktion wie der Vokativ gekennzeichnet ist. Der Imperativ darf nicht syntaktisch als prädikative Form behandelt werden; die imperativen Sätze sind, gleich der Anrede, volle und zugleich unzerlegbare ›vokativische einteilige Sätze‹ […].« (Jakobson, »Zur Struktur des russischen Verbums«, S. 10; vgl. ebd., Fn. 4: »Schon Aksakov hat erkannt: ›der Imperativ ist ein Ausruf; er entspricht dem Vokativ‹.«) Die Entsprechung zwischen Vokativ und Imperativ ist ein Beispiel für die »enge Verwandtschaft der nominalen und verbalen Korrelationen« (Jakobson, »Beitrag zur allgemeinen Kasuslehre«, S. 37) und eröffnet die Möglichkeit eines Hintergrunds von weiteren gesamt-grammatischen Entsprechungen, vor dem die vom Gedicht selbst aufgestellten Verkettungen grammatischer Kategorien erst verstanden und gewürdigt werden können. – Darüber hinaus ist Jakobsons Beschreibung des Imperativs für Kavafis’ Gedicht von besonderer Bedeutung: »dieser Modus ist ›zweiflächig‹: einerseits gehört er samt allen übrigen verbalen Kategorien zur darstellenden Sprache, anderseits – als eigentlicher ›Imperativ‹ – dient er der Auslösungsfunktion, nach K. Bühlers Terminologie« (Jakobson, »Zur Struktur des russischen Verbums«, S. 10). Auf das Gedicht bezogen, betont die Dreiteilung der sprachlichen Funktionen einerseits die bemerkenswerte Abwesenheit der Ausdrucksfunktion – welche Bühler gerade der lyrischen Diktion als dominante Funktion zuspricht: »Man muß also nicht erst zum Lyriker gehen, um die Ausdrucksfunktion als solche zu entdecken; nur freilich wird die Ausbeute beim Lyriker reicher sein« (Bühler, Sprachtheorie, S. 32). Andererseits ergibt sich aus dem Bühlerschen Modell eine »Zweiflächigkeit« im Gedicht selbst, die die Ebene des Sprechakts (auf der die Ausdrucks- und die Appellfunktionen wirken) der dargestellten Ebene entgegensetzt. Während auf der Ebene der Darstellung Jakobson und Colaclides berechtigt sind, von bloß zwei »Hauptdarstellern« (s. u. S. 549: »die zweite, angesprochene, und die dritte, besprochene Person«) zu sprechen, muß die erste Person zumindest implizit im Sprechakt vorhanden sein: »A` la 2e personne, ›tu‹ est ne´cessairement de´signe´ par ›je‹ et ne peut eˆtre pense´ hors d’une situation pose´e a` partir de ›je‹; et, en meˆme temps, ›je‹ e´nonce quelque chose comme pre´dicat de ›tu‹.« (Benveniste, »Structure des relations de personne dans le verbe«, S. 228; dt. Übs.: »In der zweiten Person wird ›du‹ notwendigerweise durch ›ich‹ bezeichnet und kann nicht außerhalb einer Situation vorgestellt werden, die ausgehend von ›ich‹ geschaffen wird; gleichzeitig sage ›ich‹ etwas als Prädikat von ›du‹ aus.« [Benveniste, Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, S. 254.]) Die Unterscheidung der zwei Ebenen läuft parallel zur Trennung von Haupt- und Nebensätzen: Die drei performativen Imperative »gedenke« sind Hauptsatzprädikate, was sie auf die gleiche Sprachfläche mit dem unpersönlichen »es scheint« stellt. So entspricht diese *unpersönliche Konstruktion der Ausdrucksfunktion und kann selbst als performativ verstanden werden: Im Aufdecken der Ähnlichkeitsbeziehung – oder in der kontrafaktischen Verwandlung des Scheiterns der Begierden in deren Erfüllung – vollzieht sich die performative Geste des poetischen Sprechakts. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Wort ist auch das einzige von einem adjektivischen *Epitheton begleitete: tychaı´on empo´dio [›zufälliges Hindernis‹]. Auch ist es das einzige Bezugswort, das von seinem Pronominalattribut – 5 ka´poio [›irgendein‹] – durch ein *Enjambement getrennt ist. Darüberhinaus fungiert es als das Bezugswort für die einzige transitive Konstruktion, die die zweite *Person weder als Agens noch als Ziel gebraucht: empo´dio tes mataı´ose [›die 〈…〉 Hindernis vereitelt hat‹].12 In Gedichten mit ungeraden Verszahlen 12 Am Zentralwort empo´dio [›Hindernis‹] läßt sich der komplizierte ›Wettstreit‹ aufzeigen, der einerseits zwischen der grammatisch-syntaktischen und der semantischpragmatischen Ebene des Gedichts und andererseits zwischen den allgemein-grammatischen Gesamtbedeutungen und den vom Gedicht selbst aufgestellten Verkettungen besteht. Durch die besondere Stellung, welche grammatisch und syntaktisch dem Wort empo´dio reserviert ist, spricht das Gedicht diesem ›Hindernis‹ am stärksten das Kennzeichen von Subjektivität zu. Nicht nur ist empo´dio das einzige Substantiv im Nominativ und das einzige explizite Subjekt (außer dem summarischen indefiniten o´la [›alles‹]) im ganzen Gedicht; auch seine Stellung als einziges explizites Subjekt eines transitiven Verbs verstärkt seine Subjektivität: »Die geeignetste Vorstellung des handelnden Subjekts und insbesondere des Subjekts der transitiven Handlung ist das belebte Wesen und die des Objekts der unbelebte Gegenstand […]. Eine Rollenvertauschung – ein unbelebter Gegenstand fungiert als Subjektnominativ, ein belebtes Wesen ev. als Objektakkusativ – erhält entsprechend einen gewissen Beigeschmack der *Personifizierung […] bei den transitiven Verben ist der Mensch Subjekt katÆ eÆjoxhÂn […].« (Jakobson, »Beitrag zur allgemeinen Kasuslehre«, S. 36 f.) Dabei ist empo´dio semantisch und pragmatisch am weitesten von einem belebten Wesen entfernt: Es ist das einzige nicht einmal synekdochisch-metonymisch mit dem Menschen in Verbindung zu bringende Substantiv im Gedicht (im Gegensatz zu den Substantiven ma´tia [›Augen‹] oder fonı´ [›Stimme‹]). Dadurch, daß empo´dio »als das Bezugswort für die einzige transitive Konstruktion [fungiert], die die zweite Person weder als Agens noch als Ziel gebraucht«, markiert es den ersten und einzigen Eintritt eines wirklich ›Dritten‹ in das besprochene Drama des Gedichts. Die grammatische Subjektivität von empo´dio steht in einer Spannungsbeziehung zu seiner Funktion als 3. Person. Benveniste spricht der sogenannten ›dritten Person‹ nicht bloß die Eigenschaft der Subjektivität, sondern auch die der Person ab: »la personne n’est propre qu’aux positions ›je‹ et ›tu‹. La 3e personne est, en vertu de sa structure meˆme, la forme non-personnelle de la flexion verbale. […] En effet une caracte´ristique des personnes ›je‹ et ›tu‹ est leur unicite´ spe´cifique: le ›je‹ qui e´nonce, le ›tu‹ auquel ›je‹ s’adresse sont chaque fois uniques. Mais ›il‹ peut eˆtre une infinite´ de sujets – ou aucun.« (Benveniste, »Structure des relations de personne dans le verbe«, S. 230; dt. Übs.: »die Person [ist] nur für die Positionen ›ich‹ und ›du‹ geeignet […]. Die 3. Person ist aufgrund ihrer Struktur die unpersönliche Form der Verbalflexion. […] In der Tat ist eins der Kennzeichen der Personen ›ich‹ und ›du‹ ihre spezifische Einzigkeit: das aussagende ›ich‹, das ›du‹, an welches das ›ich‹ sich wendet, sind jedesmal einzig. Dagegen kann ›er‹ unendlich viele Subjekte sein – oder gar keins.« [Benveniste, »Die Struktur der Personenbeziehungen im Verb«, S. 257.]) Durch die Charakterisierung des Hindernisses als »zufällig«
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unterscheidet sich die mittlere Zeile oft durch ihre grammatische Aufmachung von den anderen. Unter den Verbformen in der dritten Person steht 6 mataı´ose [›vereitelt hat‹] (1) als einzige im Singular als persönliches Prädikat (im Gegensatz zu sechs persönlichen Prädikaten im Plural und zum einzigen anderen Singular, dem unpersönlichen 8 moia´zei [›es scheint‹]); und (2) ist 6 mataı ´ose die einzige Verbform der dritten Person, die im *Aorist vorkommt, im Gegensatz zu fünf Formen im Imperfekt und zwei im Präsens. Andererseits weist das Gedicht keine Form der zweiten Person im Präsens oder Imperfekt auf; von den verschiedenen Varianten des Indikativs verwendet der Dichter in dieser Komposition für die zweite Person ausschließlich den Aorist. Die zweite Person Aorist erscheint dreimal (1 agapı´thikes, 2 pla´giases, 9 do´thikes [›geliebt worden bist‹, ›dich hingelegt hast‹, ›hättest dich hingegeben‹]).13 Nehmen wir hinzu, daß auch der Imperativ dreimal und ebenfalls bloß in seiner aoristischen Variante vorkommt,14 so dürfen wir schließen, daß von den zwei *Verbalaspekten, von (tychaı´on) und durch das Begleitwort ka´poio [›irgendein‹] nimmt das Gedicht die Subjektivität wieder weg, welche es grammatisch-syntaktisch dem empo´dio zuspricht. So bestätigt das Gedicht auf der semantischen und pragmatischen Ebene die Gesamtbedeutung der dritten Person, die es grammatisch und syntaktisch systematisch hinterfragt oder ganz auf den Kopf stellt. [Anm. d. Übs./Komm.] 13 Die Verfasser scheinen hier zu suggerieren, daß alle drei Aoristformen im Indikativ stehen. Jedoch stellt do´thikes [›hättest dich hingegeben‹] ein Problem dar: obwohl morphologisch eine aoristische Form, ist do´thikes von der Konjunktivpartikel na begleitet und hat im Kontext des Vergleichs moia´zei san na do´thikes die Funktion und Bedeutung eines kontrafaktischen, irrealen Konditionals, die durch den Konjunktiv (im Deutschen: Konjunktiv II) ausgedrückt werden (vgl. auch die engl. Übs., auf die sich Jakobson und Colaclides im Original beziehen: »as if you gave yourself«). Mirambel, auf den sich die Verfasser selbst beziehen, spricht – vielleicht in Anlehnung an das Französische – von einem Konditionalmodus im Neugriechischen (Mirambel, Grammaire du grec moderne, S. 173). Die ›Akademie-Grammatik‹ analysiert die entsprechenden deutschen als-ob-Sätze aufschlußreicherweise als verdichtete Konditionalsätze: »Wird die Modalität eines als bekannt vorausgesetzten, in der gegebenen Situation nicht realen Sachverhalts zum Vergleich benutzt, so treten wie wenn und (für den irrealen Fall) als wenn oder als ob als subordinierende Verknüpfungszeichen an die Spitze von q´. Sie leiten Sätze ein, die als Reduktionen zu komplexen Vergleichssätzen mit wie (und subordiniertem Konditionalsatz) erklärbar sind. […] Die irrealen Vergleichssachverhalte werden in der Regel mit dem Konjunktiv II ausgedrückt: Frau T. redete auf mich ein, als ob sie dafür bezahlt würde […] Frau T. redete auf mich ein, wie eine Marktfrau auf jemanden einredet, wenn sie ihre Waren anpreist […].« (Grundzüge einer deutschen Grammatik, S. 814.) [Anm. d. Übs./Komm.] 14 Von einer »aoristischen Variante« des Imperativs von thyma´mai zu sprechen ist irreführend. Anders als die aktiven Verben haben die medio-passiven im Neugrie-
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denen der eine durch Präsens- und der der andere durch Aoriststämme ausgedrückt wird,15 der erstere im Gedicht auf die dritte Person (fünf Beispiele im Plural, zwei im Singular) beschränkt ist, während der »aoristische« Aspekt in der Regel nur in der zweiten Person Singular benutzt wird.16 In der sechsten Zeile finden wir, wie schon erwähnt, die einzige Ausnahme: die dritte Person des Aorists mataı´ose [›vereitelt hat‹]. Es wurden mehrere semantische Begriffspaare versuchsweise zur Benennung der griechischen Aspekte angewandt – *perfektiv /imperfektiv, punktuell /linear, terminativ /progressiv; da sich jedoch bis jetzt keine chischen bloß eine Imperativform (die aoristische). Die fehlende Form eines präsentischen Imperativs wird in medio-passiven Verben durch eine periphrastische Konstruktion mithilfe der Konjunktivpartikel na ersetzt (welche allerdings für die aktiven Verben auch möglich ist). [Anm. d. Übs./Komm.] 15 Im Neugriechischen muß man zwischen drei Aspektbedeutungen unterscheiden, wobei der Aspekt eng, aber etwas anders als im Altgriechischen mit der Kategorie *Tempus verflochten ist: präsentisch oder imperfektiv (Präsens, Imperfekt oder Präteritum, Futur I), perfektiv oder aoristisch (Aorist und Futur II) und perfektisch (Präsens Perfekt, Plusquamperfekt, Futur III). Während der *imperfektive Aspekt eine Handlung progressiv bzw. durativ darstellt, stellt der aoristische Aspekt die Handlung synoptisch oder punktuell dar, und der perfektische (kompletive oder stative) als vollendet. Bezeichnend für den Unterschied zwischen dem aoristischen und dem perfektischen Aspekt ist, daß im Neugriechischen das Präsens Perfekt als ein Tempus der Gegenwart und nicht der Vergangenheit angesehen wird (es wird vom präsentischen Zeitpunkt gesagt, daß in ihm eine vergangene Handlung als vollendet gilt, während der Aorist die vergangene Handlung selbst zum Thema macht). Relevant wird diese Unterscheidung erst mit Jakobsons und Colaclides’ Zuweisung von agapı´thikes und do´thikes zum aoristischen Aspekt, da besonders im Medium-Passiv der perfektive Aspekt ebenso gut durch den Aorist wie durch das Präsens Perfekt ausgedrückt werden kann (vgl. das dt. Zustandspassiv). [Anm. d. Übs./Komm.] 16 Die überraschende Bedeutung dieser Beschränkung des Präsensstammes auf die dritte Person mag erst durch die Bemerkung Benvenistes deutlich werden: »Mais de la 3e personne, un pre´dicat est bien e´nonce´, seulement hors du ›je-tu‹; cette forme est ainsi excepte´e de la relation par laquelle ›je‹ et ›tu‹ se spe´cifient. […] C’est bien l’›absent‹ des grammairiens arabes. […] la ›3e personne‹ n’est pas une ›personne‹; c’est meˆme la forme verbale qui a pour fonction d’exprimer la non-personne.« (Benveniste, »Structure des relations de personne dans le verbe«, S. 228; dt. Übs.: »Von der 3. Person jedoch wird ein Prädikat wohl ausgesagt, aber außerhalb von ›ich-du‹; diese Form wird so aus der Beziehung ausgeklammert, durch die ›ich‹ und ›du‹ gekennzeichnet sind […] Es ist sehr wohl der ›Abwesende‹ der arabischen Grammatiker. […] die ›3. Person‹ ist keine ›Person‹; es ist dieselbe Verbform, deren Funktion es ist, die nichtPerson auszudrücken.« [Benveniste, »Die Struktur der Personenbeziehungen im Verb«, S. 254 f.]) Die sogenannte ›dritte Person‹ befindet sich außerhalb der kommunikativen Ebene des ›ich – du‹ und suggeriert somit das Abwesende, welches im Gedicht durch den ›präsentischen‹ Stamm ausgezeichnet ist. [Anm. d. Übs./Komm.]
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dieser Bezeichnungen sprachlich eingebürgert hat, behalten wir hier die rein formalen Begriffe aoristisch /präsentisch bei. Die zwei Aspekte spielen gleichwertige Rollen im Gedicht: vier Aoriste und drei aoristische Imperative machen die sieben Belege des »aoristischen« Aspekts aus, während die sieben Belege des »präsentischen« Aspekts aus fünf Formen im Imperfekt und zwei im Präsens bestehen. Die aoristischen Formen sind *symmetrisch im Gedicht verteilt: Ein Aorist zeichnet die mittlere Zeile aus, während drei Aoristformen dem *Exordium (zwei Aoriste und ein Imperativ in den zwei Anfangszeilen) und drei weitere dem Epilog (ein Aorist und zwei Imperative in den drei Schlußzeilen) zugehören. Die sechste, mittlere Zeile trägt die tragische Klimax des ganzen, auf das katastrophale empo´dio [›Hindernis‹] eingestellten Gedichts. Der frustrierende Schluß des ersten Satzgefüges und die Anfangszeile des zweiten Satzgefüges enthalten die einzigen Sätze mit expliziten Subjekten – nominal im ersteren, pronominal (7 o´la [›alles‹]) im letzteren Fall.17 Die siebte Zeile leitet eine Revision der vergangenen Erlebnisse ein, und im Lichte der Gegenwart erscheinen die unterdrückten Begierden der vergangenen Zeit neubelebt und befriedigt. Das Präsens, das auf die siebte und achte Zeile beschränkt ist, hebt sich eindeutig von den drei Präteritumformen der dritten Person in den drei vorangehenden Zeilen (4.–6.) und wiederum von den drei ähnlichen Formen in den drei folgenden Zeilen (9.–11.) ab. Das Schlüsselwort des Gedichts, der im Titel angekündigte und im Text dreimal wiederholte Imperativ thymı´sou [›gedenke‹], bildet eine wichtige *figura etymologica: 1 thymı´sou 〈…〉 3 tes epithymı´es [›gedenke der Begierden‹]; und in der achten Zeile erscheint das gleiche Substantiv zum zweiten Mal, um die höchste und immerwährende Rolle der vergangenen 17 Kavafis’ Sparsamkeit der Mittel führt hier zu einer paradoxen Zuweisung von Subjektivität. Die einzigen expliziten Subjekte kommen in der dritten Person vor, d. h. in derjenigen Person, die Benveniste zufolge gar keine ist. Die zweite Person fungiert als implizites Subjekt, während die erste, die einzige ›subjektive‹ Person, nicht einmal implizit als Subjekt fungiert. »On pourra donc de´finir le ›tu‹ comme la personne non-subjective, en face de la personne subjective que ›je‹ repre´sente; et ces deux ›personnes‹ s’opposeront ensemble a` la forme de ›non-personne‹ (= ›il‹).« (Benveniste, »Structure des relations de personne dans le verbe«, S. 232; dt. Übs.: »Man kann also das ›du‹ als die nicht-subjektive Person gegenüber der subjektiven Person, die von ›ich‹ dargestellt wird, definieren; und diese beiden ›Personen‹ stehen gemeinsam zu der Form der ›Nicht-Person‹ (= ›er‹) in Opposition.« [Benveniste, »Die Struktur der Personenbeziehungen im Verb«, S. 260.]) [Anm. d. Übs./Komm.]
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unverkörperten Begierden im Leben des apostrophierten Körpers zu bestätigen.18 Die Spannung zwischen dem letzten Verb des ersten Satzes (6 mataı´ose [›vereitelt hat‹]) und dem zentralen Verb des zweiten Satzes (9 do´thikes [›hättest dich hingegeben‹]), d. h. zwischen dem zufälligen Scheitern 18 »Unverkörpert« (unembodied ) scheint mir eine wenig geglückte Charakterisierung der (zwar unbefriedigten, aber gerade am Körper verankerten und als verkörpert erinnerten) Begierden zu sein. Die eindeutige Privilegierung dieser ›unverkörperten‹ Begierden, deren Rolle die Verfasser eine ›höchste‹ (supreme) nennen, gibt etwas von der metaphysischen Erblast zu erkennen, die Jakobson von Derrida unterstellt wird. Derrida zitiert ihn in der Grammatologie (S. 27), um zu illustrieren, daß die Unterscheidung zwischen signans und signatum als eine »zwischen Sinnlichem und Intelligiblem […] noch von den umsichtigsten Linguisten und Semiologen als selbstverständlich hingenommen« werde: »Gewiß kann die semiologische, genauer die linguistische ›Wissenschaft‹ die Differenz zwischen Signifikant und Signifikat – also die Idee des Zeichens – ohne die Differenz zwischen Sinnlichem und Intelligiblem nicht aufrechterhalten, ohne gleichzeitig den grundlegenderen und tiefer eingebetteten Verweis auf ein Signifikat beizubehalten, das als Intelligibles ›bestehen‹ kann, noch bevor es ›hinausfällt‹ und vertrieben wird in die Äußerlichkeit des sinnlichen Diesseits« (a. a. O., S. 28). In der Kavafis-Interpretation machen die Verfasser die unerfüllten Begierden zu einem solchen ›höheren‹ Intelligiblen. Während aber die unerfüllten Begierden, anders als die in der sexuellen Erfahrung erfüllten, ein semiotisches Verhältnis einführen, da sie erst als Symptome dem Körper (den Augen, der Stimme) abgelesen und entziffert werden müssen, sind sie selber sinnlicher Natur und haben bloß in ihrer ›Exteriorität‹ für das Gedächtnis Wert. So läßt sich die Opposition zwischen Körperlichem und Bedeutetem nicht einfach auf das Gedicht applizieren, da hier eine Inversion der binären Verhältnisse unternommen wird: Zunächst ist das angeblich Verkörperte selbst durch Tropen signifiziert (wie durch die metonymische Substitution der Betten für die Liebhaber); andererseits ist für Kavafis oft das Unerfüllte nicht das Unverkörperte oder Intelligible, sondern gerade das als (junger) Körper Aufbewahrte. Vgl. das Gedicht Epithymı´es [›Begierden‹] (1906), welches sowohl der grammatisch-syntaktischen Struktur als auch dem Thema nach dem hier analysierten Gedicht am nächsten steht: SaÁn svÂmata vëraiÄa nekrv Ä n poyÁ deÁn eÆgeÂrasan kaiÁ ta Ækleisan, meÁ daÂkrya, seÁ maysvleiÄo lamproÂ, meÁ roÂda stoÁ keÂfali kaiÁ staÁ poÂdia giasemiaÁ – eÍtsÆ h eÆpiuymiÂew moiaÂzoyn poyÁ Ä w hëdonh Ä w miaÁ eÆpeÂrasan xvriÁw naÁ eÆkplhrvuoyÄn´ xvriÁw nÆ aÆjivueiÄ kamiaÁ th nyÂxta, hÍ eÏna prviÈ thw feggeroÂ. [›Wie schöne Körper Toter, die nicht altgeworden
sind, und die sie eingeschlossen haben, mit Tränen, in ein hehres Grabhaus, mit Rosen auf dem Haupte und zu Füßen Jasmin – so scheinen die Begierden, die vergangen sind, ohne erfüllt zu werden; ohne daß eine je gewürdigt wäre einer Nacht der Wollust oder eines ihrer lichten Morgen.‹] (Kavafis, Ta Piı´mata, Bd. 1, S. 100; vgl. die beiden, »Begierden« überschriebenen Übersetzungen in: Kavafis, Brichst du auf gen Ithaka…, S. 86, u. in: Kavafis, Das Gesamtwerk, S. 66.) – Die Paradoxie, die darin besteht, daß der frühe Tod den jugendlichen Körper vor dem Altern schützen soll, ist vielleicht nur durch Rekurs auf das Gedächtnis aufzulösen. Das Gedächtnis – die Bewahrung des Materiellen und Körperlichen vor dem zer-
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der Begierden und ihrer Apotheose, drückt sich verdichtet in den auffälligen Übereinstimmungen zwischen den zwei Sätzen aus. Die Züge des ersten Satzes werden vom zweiten zum Teil wiederholt, zum Teil umgekehrt. Unbedingt gibt es entweder eine einfache oder eine *Spiegelsymmetrie, die sogar die feinen Einzelheiten umfaßt. So enthalten die zwei Sätze je drei transitive Verben: 1 thymı´sou [›gedenke‹] am Anfang, 1 agapı´thikes [›geliebt worden bist‹] am Ende derselben Anfangszeile und 6 mataı ´ose [›vereitelt hat‹] am Ende der Schlußzeile [des ersten Satzes]; wiederum im zweiten Satz 10 thymı´sou am Anfang, 10 kı´ttazan [›anschauten‹] am Ende genau derselben Zeile und 11 thymı´sou am Ende der Schlußzeile. Von den elf Nomina des Elfzeilers steht nur das zentrale im Nominativ; das erste und das letzte stehen im Vokativ, während die übrigen acht – vier in jedem Satz – Akkusativformen sind: VAAAAN-AAAAV. Alle diese Nomina sowie die drei singularischen Akkusativformen des Pronomens der zweiten Person und die *substantivischen Pronomina im störenden Effekt der Zeit – kann hier als dem klassischen kle´os äquivalent verstanden werden, das dem homerischen Helden Achill nur um den Preis seines frühen Todes versprochen wird (siehe Ilias 9.410–415, wo Achill sich für kle´os entscheidet und damit seine Rückkehr nach Hause, no´stos, verliert). Vgl. Jusdanis zur Funktion von Gedächtnis und Poesie bei Kavafis: »the row of periods following the title of ›Body Remember…‹ indicates the process by which the actual pleasures of youth are remembered. Memory in Cavafy serves as a defence against the decay of time. But memory is always a memory of an absence, it is a supplement to a lack, and its effects are only temporary. For although the individual may be reunited briefly with a former wholeness, these felicitous moments are liable to be forgotten in time, and with the poet’s death, they may be obliterated. In order for experience to be irrevocably salvaged it must be elevated to the absolute realm of aesthetic form, it must be transformed into art. For Cavafy ultimate redemption, the answer to death, can only be provided by writing.« (Jusdanis, The Poetics of Cavafy, S. 91 f.) Jusdanis verfehlt allerdings das Wesentliche dieses Gedichts: daß es hier nicht etwa um die Rekonstruktion oder Aufbewahrung einer »former wholeness« geht, sondern um die poetische Transformation gerade der Insuffizienz von Erfahrung (und der unbefriedigten Begierden) in einen Schein von Präsenz, wobei sich die »passage of time« für diese Transformation äußerst dienstbar erweist und ihr zu Hilfe kommt: Die Erinnerung gleicht einem Vergessen des Nicht-Faktuellen der Erfahrung, einem Verwischen der Differenz zwischen Erfüllung und Nicht-Erfüllung oder sinnlicher und phantasmatischer Realität. Auch ist für Kavafis die »passage of time« dem Tod nicht etwa äquivalent, sondern entgegengesetzt. Denn es handelt sich bei den meisten Gedichten um einen frühen Tod, der den jugendlichen Körper gerade vor dem Altern und den negativen Wirkungen der Zeit bewahrt. Dichtung ist einem solchen frühen Tod äquivalent – und nicht etwa, wie Jusdanis behauptet, die ›Antwort auf den Tod‹. [Anm. d. Übs./Komm.]
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allgemeinen sind unbelebt; 19 so figurieren all die dramatis personae als bloße *Metonymien (z. B. die Betten statt der Liebhaber oder die Begierden statt der Begehrenden) und *Synekdochen (z. B. der Körper statt der körperlichen Person).20 Dieser Zug, zusammen mit der völligen Abwesenheit von Maskulina, ist für die grammatische Bildlichkeit des Gedichts 19 Im Hinblick auf die fonı´ [›Stimme‹] läßt sich diese These hinterfragen. Durch ihren virtuellen Bezug auf den Sprechakt vermag die dritte Nicht-Person von fonı´ etwas Persönliches zu reklamieren. Es geht hier nicht um eine logozentrische Gleichung von Stimme und Präsenz: Im physisch-sinnlichen Kontext des Gedichts, in dem Körper und Körperteile wie Augen figurieren, wird die Stimme am wenigsten konkret oder präsent. Trotzdem kann sie – anders als die übrigen Körperteile – semiotisch nicht nur als Synekdoche der Person, sondern auch als Indiz (im Peirceschen Sinne) von Belebtheit fungieren. Die Stimme ist auch gleichzeitig mit der ersten Person verbunden: derjenigen, die ›ich‹ sagt. So wie die erste Person ist die Stimme auch nur durch den Akt des Sprechens zu definieren. [Anm. d. Übs./Komm.] 20 Es ist bemerkenswert, daß die Verfasser hier – anders als wenn sie unten von ›Hauptdarstellern‹ (»costarring persons«) sprechen – unter dramatis personae nicht die grammatische Kategorie der Person verstehen, sondern die auf der semantischen Ebene des Gedichts ›figurierenden‹ oder implizierten Menschen. Während bei der Analyse von Pusˇkins Liebesgedicht »Ja vas ljubil’…« die grammatischen Personen ohne weiteres in dramatische umgedacht werden können – wenn nämlich Jakobson schreibt, daß vor allem »der kunstvolle Wechsel der grammatischen Personen zum Mittel spannungsvoller Dramatik« wird (»Poe˙zija grammatiki i grammatika poe˙zii«, S. 63; dt. Übs.: »Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie«, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 259) –, stimmen in Kavafis’ Gedicht die grammatischen Personen nicht mit den dramatischen Teilnehmern überein. Aufgrund des performativen Imperativs thymı´sou [›gedenke‹], welcher der erzählten besprochenen Situation eine die erste sprechende oder befehlende Person notwendig implizierende Sprechsituation entgegenstellt, sind im Gedicht zwei verschiedene ›Dramen‹ zu unterscheiden: das, welches sich im Präsens zwischen einem impliziten ›Ich‹ und dem vokativisch angesprochenen Körper abspielt, in dem es um ›Verhandlungen‹ zwischen Gedächtnis, faktischer und phantasmatischer Realität geht; und das ins Gedächtnis zurückgerufene vergangene Drama zwischen eben diesem Körper und der Mehrzahl von metonymisch-synekdochisch figurierenden ›Liebhabern‹. Die zweite grammatische Person ist die einzige, die an beiden Situationen teilnehmen darf (außer dem ›alles‹, was aber nicht als Person verstanden werden kann). So kommt hier der zweiten Person die Rolle zu, die im autobiographischen Erzählen für die erste Person reserviert ist: die Spaltung in ein erzählendes und ein erzähltes ›Ich‹. Hier dagegen gibt es ein angesprochenes (zum Sich-Erinnern aufgefordertes) und ein besprochenes ›Du‹. Dabei werden die Funktionen des Erinnerns und des Erzählens auseinandergehalten: dem ›Du‹ ist das Gedenken reserviert, das den Raum zwischen Sprechen /Erzählen und sinnlichem Erfahren überbrückt. Daher kann man bezweifeln, ob der Körper tatsächlich als Synekdoche bloß der ›körperlichen Person‹ und nicht etwa der ›ganzen Person‹ benutzt werde: die erste Person befiehlt; die zweite interagiert mit der dritten; und insofern sie mit der ersten interagiert, wird die zweite Person auch zum mentalen Akt aufgefordert. Die Tei-
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von Bedeutung.21 Der Nominativ im Zentrum und die Vokative an den Rändern sind Neutra im Singular. Die vier Nomina im Akkusativ des zweiten Satzes bieten, denen im ersten Satze gleich, eine gesetzmäßige Abwechslung der zwei Genera, und die letzten drei der vier Akkusative sind in den zwei Sätzen lexikalisch identisch: Neutrum (2 ta krevva´tia, 7 to lung der Person in den ›Körper‹ und dessen ›Nulloppositionsglied‹ (Geist, Stimme?) läuft parallel zur Spaltung der Dramatik in das Drama des Gedächtnisses und das der Erfahrung, ja auch parallel zur Spaltung der *deiktischen Funktionen der Personen: die erste und sprechende, die zweite und angesprochene, die dritte und abwesende. Soweit die 2. Person die 1. Person impliziert, impliziert auch der physische Körper die Stimme, die über sich in der 1. Person sprechen könnte. Es ist hier die 1. Person, die in zwei Personen aufgespalten wird, wobei die erste, das ›Ich‹, sich einzig in ihrer deiktischen Definition als ›Sprecher‹ manifestiert und nur den physischen Körper – das ›Du‹ – handeln bzw. behandelt werden läßt. Der physische, besprochene, in Handlungen der Darstellungsebene involvierte Körper wird aufgefordert, an dem Akt des Gedenkens teilzunehmen und sich damit seinem synekdochischen ›Anderen‹ im Sprechakt zu gesellen. Die Aufforderung, der unerfüllten Begierden zu gedenken, entspricht dieser Synekdoche selbst, denn der Körper wird ermahnt, durch das Gedächtnis das Faktische der sinnlichen Erfahrung zu negieren und die semiotischen Körperzeichen der Begierden als Synekdochen ihrer Erfüllung zu verstehen. [Anm. d. Übs./Komm.] 21 Dies ist das erste von zwei Beispielen, in denen Jakobson und Colaclides auf die besondere Bedeutung eines ›Zugs‹ (feature) für die grammatische Bildlichkeit des Gedichts hinweisen, ohne diesen aufzuschließen. Wollen wir ihren Begriff der ›grammatischen Bildlichkeit‹ ernstnehmen, so dürfen wir die Synekdochen im Gedicht nicht auf die von den Verfassern hier angeführten, traditionell verstandenen Beispiele von *pars pro toto-Beziehungen beschränken. Sowohl die implizite Vergegenwärtigung einer ›Nullkategorie‹ wie des Maskulinums, welche gerade durch ihre Auslassung relevant wird, als auch das Implizieren oder Evozieren der ersten Person durch die zweite gehören zum Bereich des Synekdochischen (vgl. Jakobson, »Das Nullzeichen«). So kommen die verschiedenen Ebenen der Analyse durch ihre gemeinsame Beschwörung des Abwesenden zusammen: die ›Sparsamkeit‹ der grammatisch-syntaktischen Mittel entspricht einerseits der fast vollkommenen semantischen Abstinenz der Gedichtinterpretation; andrerseits ist sie das grammatische Pendant des ›geizigen‹ Gedächtnisses Kavafis, das sich nicht einmal das Vergessen der unerfüllten Begierden glaubt leisten zu können. Mit den Worten Marguerite Yourcenars: »Nous sommes ici […] dans le domaine de la concentration la plus egocentrique et de la thesaurisation la plus avare. De sorte que le geste du poe`te et de l’amant maniant ses souvenirs n’est pas si diffe´rent de celui du collectionneur d’objects pre´cieux ou fragiles, coquillages ou gemmes […].« (Yourcenar, Pre´sentation critique de Constantin Cavafy, S. 36; dt. Übs.: »Wir sind hier im Bereich egozentrischster Konzentration, geistigen Hortens, und stehen in diametralem Gegensatz zu ungestümer Begeisterung und mitreißendem Schwung. Die Haltung des Dichters unterscheidet sich kaum von der eines Sammlers wertvoller oder zerbrechlicher Gegenstände, Muscheln oder Gemmen […].« [»Konstantinos Kavafis. Eine Einführung«, S. 32.]) [Anm. d. Übs./Komm.]
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pareltho´n [›der Betten‹, ›der Vergangenheit‹]) + Femininum (3,8 tes epithymı´es [›der /den Begierden‹]) + Neutrum (4,10 ta ma´tia [›den Augen‹]) + Femininum (5,11 tin fonı´ [›der Stimme‹]). Der anfängliche Vokativ, es sei noch einmal gesagt, steht im Singular, während die weiteren Nominalformen zwei Reihen von Pluralformen bilden, auf welche jeweils eine gleichwertige Reihe von Singularformen folgt: drei Pluralformen (2 ta krevva´tia, 3 tes epithymı´es, 4 ta ma´tia [›der Betten‹, ›der /den Begierden‹, ›den Augen‹]) + drei Singularformen (5 tin fonı´, 6 empo´dio, 7 to pareltho´n [›der Stimme‹, ›Hindernis‹, ›der Vergangenheit‹]) + zwei Plurale (8 tes epithymı´es, 10 ta ma´tia [›den Begierden‹, ›den Augen‹]) + zwei Singulare (11 tin fonı´, 11 so´ma [›der Stimme‹, ›Leib‹]). Es gibt lexikalische, oder zumindest phonematische, Ähnlichkeiten zwischen den aufeinanderfolgenden Versen des ersten Satzes und den entsprechenden Zeilen des zweiten Satzes: die ähnlichen Zweisilber 1 so ´ma – 7 to´ra [›Leib‹ – ›jetzt‹] jeweils am Anfang der zwei Sätze, die *alliterierenden 2 mona´cha [›nur‹] und 8 moia´zei [›es scheint‹] in ihren zweiten Zeilen, das Pronomen 3,9 ekeı´nes [›jenen‹] in der jeweiligen dritten Zeile jedes Satzes, die Wortgruppe 4,10 mes sta ma´tia fanera´ [›in den Augen deutlich‹] in der vierten Zeile und 5,11 etre´man(e) mes stin fonı´ [›bebten in der Stimme‹] in der fünften. Doch die auffälligsten *Parallelismen sind »epanaleptischer« Natur. Sie verknüpfen das Ende des Schlußsatzes mit dem Anfang des Anfangssatzes. Auf die Verwandtschaft zwischen dem Exordium und dem Epilog, d. h. zwischen den ersten drei und den letzten drei Zeilen des Gedichts, weist die identische Sequenz von zwei daktylischen und einer trochäischen Betonungsklauseln hin: 1 agapı´thikes, 2 pla´giases, 3 se´na – 9 ya´lizan, 10 kı ´ttazan, 11 so´ma [›geliebt worden bist‹, ›dich hingelegt hast‹, ›dich‹ – ›glänzten‹, ›anschauten‹, ›Leib‹]. Im übrigen Gedicht (von der vierten bis zur achten Zeile) gehören alle Verbformen zur dritten Person Singular und Plural, wohingegen im Exordium und im Epilog die zweite Person vorkommt: als einzige in den ersten drei Zeilen und mit der dritten Person Plural abwechselnd in den letzten drei. Die zweite Person Singular kommt dreimal im Exordium (1 thymı´sou, 1 agapı´thikes, 2 pla´giases [›gedenke‹, ›geliebt worden bist‹, ›dich hingelegt hast‹]) vor und dreimal im Epilog (9 do´thikes, 10,11 thymı´sou [›hättest dich hingegeben‹, ›gedenke‹]). Das Gedicht gebraucht das Medium nur in den Formen der zweiten Person, und wir finden zwei medio-passive Verben im Exordium (1 thymı´sou, 1 agapı´thikes [›gedenke‹, ›geliebt worden bist‹]) und wieder zwei (eins davon wird zweimal wiederholt) im Epilog (9 do´thikes, 10,11 thymı´sou [›hättest dich hingegeben‹,
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›gedenke‹]).22 Das Medium signalisiert, daß das fokussierte Ens 23 des erzählten Ereignisses von diesem Ereignis selbst betroffen wird, ob es sich um eine reflexive Handlung (do´thikes [›hättest dich hingegeben‹]) oder 22 Man beachte den Übergang von »Medium« zu »medio-passiv«; vgl. dazu die neuere linguistische These, daß Medium und Passiv auf ein einziges Genus verbi zurückgehen: »Für das Verständnis des Status der Aktiv-Passiv-Opposition ist der Umstand besonders gravierend, daß diese Opposition selbst keinesfalls eine universelle Kategorie darstellt. […] Andererseits stellt sich in den Sprachen, in denen diese Opposition besteht, die passive Bedeutung der an der Genus verbi-Opposition beteiligten Formen als eine spätere Funktion, als eine Kategorie von offensichtlich sekundärem Charakter heraus. […] Die Herausbildung des Passivsystems im Griechischen und Altindischen verlief auf der Grundlage einer Umdeutung der Medialformen einerseits und einer Anschließung heterogener Bildungen […] andererseits. So bildete sich die Passivität hier innerhalb des Systems des Mediums, als eine der Varianten im Rahmen einer breiteren medialen Bedeutung, heraus.« (Guchman, »Die Ebenen der Satzanalyse und die Kategorie des Genus verbi«, S. 9 f.) – Für eine Kritik an der Anwendung von Jakobsons binärem System auf die Kategorie des Genus verbi siehe Rokoszowa (Zum Anthropozentrismus in der Sprache, S. 20 f.), die die »prinzipielle Wende in der Interpretation der Kategorie des Genus verbi«, die sich in der Zeitspanne des Strukturalismus ereignet hat, dem strukturalistischen Postulat der Synchronie zurechnet: »Das Postulat der Synchronie war ein wesentliches Hindernis für die Verbreitung der Theorie von den Oppositionen innerhalb der morphologischen Systeme, die von V. Brøndal 1943 vorgeschlagen wurde. Seine Theorie hatte einen historischen Charakter und bezog sich auch auf Tatsachen, die von den Strukturalisten als diachronisch klassifiziert wurden. Als eine allgemein anerkannte Untersuchungsmethode verbreitete sich dagegen das Jakobsonsche Verfahren zur Bestimmung der binären Oppositionen vom Typ *merkmallos (neutral) – *merkmalhaltig. […] Das binäre System unterliegt Veränderungen, die sich auf verschiedene Art und Weise vollziehen, und Entwicklungstendenzen, die in verschiedenen Richtungen verlaufen, widerspiegelt. In das binäre System wird ein zusätzliches, eigenständiges Element eingegliedert. […] Neben den binären Oppositionen kann es aber auch zur Herausbildung eines dritten Gliedes kommen, das gleichzeitig die Eigenschaften eines neutralen und eines merkmalhaltigen Gliedes besitzt.« Während sich das Medium und das Passiv im Altgriechischen formal (morphologisch) nur im Aorist und Futur voneinander unterscheiden, verfügt das Neugriechische grammatisch-morphologisch bloß über zwei Genera verbi, Aktiv und Passiv, wobei es allerdings zwischen drei *Diathesen unterscheidet. So können morphologisch passive Verben mediale oder passive Diathese haben. [Anm. d. Übs./Komm.] 23 Ens (lat. ›Wesen‹) kommt kaum als sprachwissenschaftlicher Begriff vor. Jakobson und Colaclides scheinen hier den Ausdruck in Anlehnung an Agens und Patiens zu gebrauchen und damit die Abgrenzung der semantischen von der rein syntaktischen Terminologie und Satzebene aufrechtzuerhalten. – »Die Elemente des formal-syntaktischen Satzmodells sind ihrem Wesen nach strukturelle Kategorien, für die die inhaltlichen Verbindungen, die zwischen den Konstituenten der Aussage bestehen, irrelevant sind. Deshalb sind in der Anwendung auf das grammatische Subjekt Charakteristiken wie Agens oder Patiens eigentlich unpassend. Sie qualifizieren die
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um eine transitive handelt und ob das Ens als Agens (thymı´sou [›gedenke‹]) oder als Patiens der letzteren (agapı´thikes [›geliebt worden bist‹]) beteiligt ist.24 Man findet tatsächlich einen aufschlußreichen Schlüssel zur grammatischen Symbolik von Kavafis’ Gedicht in der auffälligen Tatsache, daß die zweite Person die einzige ist, die im Medium erscheint,25 Einheiten einer anderen Ebene, nämlich den semantisch-syntaktischen Aspekt des Satzes.« (Guchman, »Die Ebenen der Satzanalyse und die Kategorie des Genus verbi«, S. 17.) [Anm. d. Übs./Komm.] 24 Hätten die Verfasser hier zwischen den zwei Diathesen von Passiv und Medium unterschieden, so hätte sich eine differenziertere Analyse ergeben: Das Gedicht scheint tatsächlich in der zweiten Person zwischen der binären Opposition AktivPassiv und dem dritten Glied Medium zu unterscheiden: Die besprochene, faktische Erfahrung wird einmal durch ein passives Verb passiver Diathese (agapı´thikes ›du bist geliebt worden‹) und einmal durch ein aktives Verb aktiver Diathese ( pla´giases ›du hast dich hingelegt‹) ausgedrückt; dagegen sind die Prädikate, die mit dem Akt des Gedenkens zu tun haben, passive Verben medialer Diathese: thymı´sou [›gedenke‹] (deponens) und do´thikes [›du hast dich hingegeben‹] (reflexiv). Im Bereich des Faktischen herrscht eine Identität von ›Stimme‹ und Diathese, die im Bereich der Erinnerung durchbrochen wird. Parallel zu dieser Teilung läuft auch die Distribution der Verbalmodi: Dem Faktischen ist der Indikativ reserviert, während sich das Gedenken im Imperativ und Konjunktiv abspielt. Jakobson und Colaclides verpassen hier die Möglichkeit, eine dreigliedrige Opposition zu beleuchten und zu semantisieren, die das Medium als drittes Glied der binären Opposition ›Aktiv – Passiv‹ entgegenstellt und die Ur-Bedeutung des Medium aktiviert: nach Benveniste ein »Wort für sich« vs. ein »Wort für ein anderes«. (Benveniste, »Actif et moyen dans le verbe«, S. 170; dt. Übs.: »Aktiv und Medium im Verb«, S. 191.) [Anm. d. Übs./Komm.] 25 Dies ist das zweite Beispiel für Jakobsons und Colaclides’ quasi-deiktische Semantisierung, die sich in der sprachlichen Geste des Hinweises auf das Bedeutsame erschöpft. So kommen hier die Verfasser einer Thematisierung von Kavafis’ Homosexualität so nahe wie möglich, ohne sie freilich zu berühren. Ob man es hier mit einer offensichtlichen grammatischen Bildlichkeit (dem Gebrauch des mediopassiven Genus verbi) oder eher mit einer nicht minder offensichtlichen Bildlichkeit der grammatischen Terminologie zu tun habe (der durch die Gedichtinterpretation nahegelegten sexuellen Re-Metaphorisierung des Terminus genus verbi im Sinne von ›Wort-Geschlecht‹), bleibe dahingestellt. Erwähnt sei jedoch, daß pathitiko´s [›passiv‹] im Neugriechischen sowohl das grammatische Passiv als auch »denjenigen, der die feminine-weibliche Rolle in einer homosexuellen Beziehung hat« zu seinen lexikalischen Denotaten zählt (Kriaras, Lexiko´ tis sı´nchronis ellinikı´s dimotikı´s glo´ssas, S. 1031, Art. »pathitiko´s«) – eine Korrespondenz zwischen ›Handlungsrichtung‹ und ›sexueller Richtung‹, die im Altgriechischen durch die Unterscheidung des aktiven Partizips des Verbs eÆraÄn [›lieben‹] und des Nomen eÆrv Ä n [›der Liebende, Liebhaber‹] vom medio-passiven Partizip eÆrvÂmenow [›der Geliebte‹] zum Ausdruck kommt (vgl. Platon, Phaidros, 263 c 11). In der Kavafis-Forschung gehört diese Interpretation des Passivs zu den frühesten Beispielen einer Semantisierung grammatischer Kategorien. Bezeichnend ist Malanos’ Bemerkung in seiner 1933 verfaßten Kavafis-Monographie, hier gleich in dt. Übs.: »Das Gedicht ›Thymı´sou, so´ma‹,
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d. h. in dem *Genus verbi, welches, nach Benvenistes scharfsinniger Formulierung »indique un proce`s dont le sujet est le sie`ge; le sujet est inte´rieur au proce`s«.26 Das Wesentliche des zweiten Satzes besteht in der umgekehrten Wiederholung einiger zentraler Wortfolgen des ersten Satzes. Die anfängliche Anrede 1 so´ma, thymı´sou [›Leib, gedenke‹] kommt in umgekehrter Reihenfolge am Ende des Gedichtes wieder vor: 11 thymı´sou, so´ma [›gedenke, Leib‹]; die letztere Variante, welche die Betonung auf den Imperativ »gedenke« legt, wird zum Titel des Gedichtes befördert. Das Hauptobjekt der Erinnerung – 3 ekeı´nes tes epithymı´es [›jener Begierden‹] – kehrt im zweiten Satz als 8 stes epithymı´es 9 ekeı´nes [›den Begierden jenen‹] wieder, wo sowohl die *Inversion als auch das Enjambement dem Demonstrativum »jenen« eine höhere Relevanz geben.27 Und schließlich wird die Sequenz 3 gia se´na 4 ya ´ lizan mes sta ma´tia 〈…〉 5 etre´mane mes stin fonı´ [›für dich glänzten in den Augen 〈…〉 bebten in der Stimme‹] im zweiten Satz umgekehrt: 9 ya ´ lizan 〈…〉 10 mes sta ma´tia 〈…〉 11 ´etreman mes stin fonı´, gia se´ [›glänzten 〈…〉 in den Augen 〈…〉 bebten in der Stimme, für dich‹], mit besonderer Emphase auf der Aufforderung, des Bebens zu gedenken. Während sie das Gewicht neu verteilen, versinnbildlichen diese Inversionen gleichzeitig das Thema der Rückkehr als das Leitmotiv des Schlußsatzes. Der zweite Satz ist als Antwort auf den ersten konstruiert, während das Muster des letzteren zu einem dichten Zusammenspiel seiner eigenen Konstituenten tendiert. Die drei einleitenden Zeilen sind durch einen grammatischen Parallelismus verknüpft: 1 o´chi mo´no [›nicht nur‹] – 2 o´chi mona´cha 〈…〉 [›nicht nur 〈…〉‹] – 3 alla´ k’ 〈…〉 [›sondern auch 〈…〉‹]. Der Kontrast zwischen den »Betten, in die du dich hingelegt hast« und den ungesättigten Begierden »für dich (oder nach dir)« findet einen wortspielartigen Ausdruck: 2 o´pou pla´giases – 3 alla´ 〈…〉 pou gia se´na [›in die du in dem wir, gleich im ersten Vers, das Verb agapo´ [›lieben‹] im Passiv [pathitikı´ fonı´ ›passive Stimme‹] finden. […] Das ganze Gedicht drückt ein effeminiertes Interesse an seinem [Kavafis’] Körper aus, während der letzte Vers, mit seinen konsekutiven Wagnissen, eine Erfindung seiner Wollust ist.« (Malanos, O piitı´s K. P. Kava´fis. O a´nthropos kai to ´ergo tou, S. 94.) [Anm. d. Übs./Komm.] 26 Benveniste, »Actif et moyen dans le verbe«, S. 125 ff. [Anm. v. R.J. / P.C.] – Wieder abgedruckt in: Benveniste, Proble`mes de linguistique ge´ne´rale, S. 172; dt. Übs.: »[…] zeigt das Verb einen Prozeß an, dessen Sitz das Subjekt ist; das Subjekt befindet sich innerhalb des Prozesses.« (Benveniste, »Aktiv und Medium im Verb«, S. 194.) [Anm. d. Übs./Komm.] 27 Die Doppeldeutigkeit des Begriffs Inversion – (a) ›Umstellung der Satzglieder‹, (b) ›Homosexualität‹ – erlaubt hier die weitere Semantisierung der Figur. [Anm. d. Übs./Komm.]
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dich hingelegt hast‹ – ›sondern 〈…〉 die für dich‹] und 2 ta krevva´tia – 4 sta ma ´ tia [›der Betten‹, ›in den Augen‹]. Erneut verbindet ein grammatischer und phonematischer Parallelismus die zwei Zeilen, die beide Manifestationen der gescheiterten Begierden darstellen: 4 mes sta 〈…〉 fanera´ – 5 mes stin fonı´ [›in den 〈…〉 deutlich‹, ›in der Stimme‹]. Die Haupt-*Paronomasie besteht jedoch im Konsonantenmuster des Vokativs 1 so´ma [›Leib‹], welches im anschließenden Imperativ thymı´sou [›gedenke‹] umgekehrt wird. Weitere Wörter der gleichen Zeile – mo´no to po´so [›nur wie sehr‹] – verstärken diese Lautfigur. Wenn der gleiche Imperativ zunächst in der zehnten Zeile und dann, zusammen mit dem Vokativ, im Schlußvers des Gedichts wiederkehrt, unterstützt eine erneute Häufung von /m/ und /s/ diese Schlüsselworte: 10 thymı´sou, mes sta ma´tia pou se kı´ttazan; 11 po´s ´etreman mes stin fonı´, gia se´, thymı´sou, so´ma [›gedenke, in den Augen, die dich anschauten; wie sie bebten, in der Stimme, für dich, gedenke, Leib‹].28 28 Die Verfasser erwähnen nicht, daß bei der Wiederholung der Zeilen 4–5 in den Zeilen 9–11 der grammatische Parallelismus zwischen po´s ya´lizan, […] mes sta ma´tia [›wie sie glänzten in den Augen‹] und po´s ´etreman mes stin fonı´ [›wie sie bebten in der Stimme‹] durch die Hinzufügung eines neuen Relativsatzes zu ma´tia [›Augen‹] gestört wird: 9 po´s ya´lizan, 10 thymı´sou, mes sta ma´tia pou se kı´ttazan; 11 po´s ´etreman mes stin fonı´, gia se´, thymı´sou, so´ma. [›wie sie glänzten, 10 gedenke, in den Augen, die dich anschauten; 11 wie sie in der Stimme bebten, für dich, gedenke, Leib.‹] Der Relativsatz pou se kı´ttazan [›die dich anschauten‹] hat keine Parallele bei fonı´ [›Stimme‹]. Wenn die Betten als Metonymie für die Liebhaber und die Augen als ihre Synekdoche zu verstehen sind, so ist der angesprochene Leib als Patiens in Bezug auf drei verschiedene Agentes in drei verschiedenen Teilbereichen des Sinnlichen anzusehen: das Taktile bei krevattia [›Betten‹] und agapı´thikes [›geliebt worden‹], das Sichtbare bei ma´tia [›Augen‹] und kı´ttazan [›anschauten‹], das Akustische bei fonı´ [›Stimme‹] – nur fehlt bei diesem letzten Sinn (dieser letzten Synekdoche der dritten Person) das Prädikat, welches die Art der Bezugnahme von fonı´ auf so´ma [›Leib‹] erklären könnte. Wollte man den gestörten Parallelismus wiederherstellen und, analog zu kı´ttazan, ein Prädikat zum Subjekt fonı´ mit dem Objekt so´ma konstruieren, so bliebe nur etwas wie ›besingen‹ oder ›besprechen‹ offen. So wird fonı´ zum Platzhalter für die ausgelassene erste Person, die aus der zweiten angesprochenen Person zu erschließen ist und sich durch den Akt des Sprechens-Dichtens definieren läßt. Diese fonı´ ist auch für das unpersönliche moia´zei [›es scheint‹] verantwortlich; der poetische Akt besteht in dieser Transformation von unerfüllten Begierden in erfüllte. Wenn der Leib, um dieser Begierden zu gedenken, sie sich verkörpert vorstellen soll (im Leib des anderen verankert), so wird das Gedicht selbst zur Verkörperung der nun wie erfüllt scheinenden Begierden: der letzte Vers reproduziert, in seinem staccato-artigen Rhythmus, das Beben der Stimme, deren Erinnerung er wachrufen will. So wird fonı´ selbst zur Verkörperung des sprechenden erzählenden Ichs, und das Gedicht erhält eine selbstreflexive Wendung, die an Sapphos Fragment 31 erinnert: ein Gedicht, das auch von den körperlichen Zeichen des Verlangens handelt und das ›Brechen‹ der poetischen
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Um unsere grammatische Analyse wiederaufzunehmen und zusammenzufassen, sollten wir festhalten, daß Kavafis’ Komposition eine bemerkenswert intensive Ausnutzung morphologischer und syntaktischer Strukturen mit einer strengen Sparsamkeit der Mittel verbindet. Die Vielfältigkeit griechischer grammatischer Kategorien wird im Gedicht einsichtsvoll und konsequent eingeschränkt. Die Deklination wird auf zwei *Oppositionen reduziert: der Vokativ steht im Gegensatz zu den bezeichnenden Formen 29 – dem Nominativ und Akkusativ –, und der letztere ist ein abhängiger Kasus im Gegensatz zum Nominativ und Vokativ.30 Diese beiden unabhängigen Fälle erscheinen nur im Singular. Der Genitiv ist nicht belegt.31 Die Akkusativform des Substantivs wird durchgängig vom bestimmten Artikel begleitet; dieser ist der einzig verwendete Artikel im Gedicht und kommt nur im Akkusativ vor. Es gibt keine Maskulina und keine belebten Nomina, keine Partizipien und keine Adjektive, abgesehen von der einen beredten Ausnahme tyxaı´on [›zufälliges‹] in der mittleren Zeile. Der Gebrauch von Personalpronomina beschränkt sich auf den Akkusativ der zweiten Person Singular im Exordium und im Epilog: 3 se ´na, 10,11 se´ [›dich‹, ›dich‹]. Stimme thematisiert. Siehe Nagys Interpretation des *Hiatus in der 9. Zeile des Fragments (aÆllaÁ kaÁmÆ meÁn glv Ä ssa mÆ eÍage; dt. Übs.: »Meine Zunge brach mir entzwei« [Frühgriechische Lyriker, T. 3, S. 18 f., Frg. 2]) als lautliche Reproduktion des besprochenen ›Brechens‹ (Nagy, Comparative Studies in Greek and Indic Meter, S. 45). Zur Selbstreflexivität bei Kavafis vgl. Iatrou, »›Chartı´n perigramme´non‹: To ›Pa´rthen‹ tou Kava´fi os pı´ima piitikı´s«. [Anm. d. Übs./Komm.] 29 S. o. Anm. 11. [Anm. d. Übs./Komm.] 30 »Die Angabe des Vorhandenseins eines Bezugs ist also das *Merkmal des A[kkusativs] im Gegensatz zum N[ominativ]; es ist mithin angebracht, den A[kkusativ] als das merkmalhaltige, bzw. den N[ominativ] als das merkmallose Glied einer Bezugsrelation zu betrachten. […] Die Signalisierung der abhängigen Stellung des durch den A[kkusativ] bezeichneten Gegenstandes verurteilt die Kasusform selbst zur abhängigen Rolle im Satze im Gegensatz zum N[ominativ], der an sich keine *syntagmatischen Beziehungen kennzeichnet.« (Jakobson, »Beitrag zur allgemeinen Kasuslehre«, S. 32.) [Anm. d. Übs./Komm.] 31 Für die ›grammatische Bildlichkeit‹ des Gedichts ist die Abwesenheit des Genitivs insofern von Bedeutung, als sie die Entsprechung – wenn nicht sogar Austauschbarkeit – zwischen grammatischen Kategorien und rhetorischen Tropen bestätigt. Der einzige im Gedicht nicht vorkommende Kasus entspricht nach Jakobson der einzigen im Gedicht festzustellenden ›traditionellen‹ Trope, der Metonymie oder Synekdoche: »Diese *Einstellung nicht auf den Gegenstand, sondern auf den angrenzenden Inhalt oder auf einen Teil des Gegenstands zeugt vom metonymischen Wesen des G[enitiv]s oder im Falle des partitiven G-s von einer besonderen Spielart der Metonymität und zwar von einer synekdochischen Wesensart« (a. a. O., S. 41). [Anm. d. Übs./Komm.]
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Zusammengesetzte Verbformen sind ausgeschlossen. Die Konjugation erstreckt sich nur auf einige offensichtlich *binäre Oppositionen: aoristischer versus präsentischer Aspekt, Medium-Passiv vs. Aktiv, Imperativ vs. Indikativ und, innerhalb des letzteren, Präteritum vs. Präsens. Es gibt nur zwei Personen: die zweite, angesprochene, und die dritte, besprochene.32 Während die zweite Person auf den Singular beschränkt ist, wird die dritte in beiden Numeri mit deutlicher Bevorzugung des Plurals gebraucht. Andererseits ist die dritte Person auf das Aktiv beschränkt, sei es in transitiven oder *intransitiven Konstruktionen; während der zweiten Person sowohl das Aktiv als auch das Medium-Passiv zur Verfügung stehen und sie in transitiven Konstruktionen ausschließlich vom MediumPassiv Gebrauch macht. Die zwei Verbalaspekte verteilen sich auf die zwei Personen: die zweite Person ist auf den aoristischen Aspekt beschränkt, die dritte auf den präsentischen (mit einer auffälligen Ausnahme in der mittleren Zeile). Die zweite Person hat die Wahl zwischen Imperativ und Indikativ und die dritte zwischen Präsens und Imperfekt. So werden diejenigen Handlungen, welche sich auf den Adressaten zentrieren, bloß festgestellt; während jene Ereignisse, wann immer die Handlung einem extrinsischen Faktor (»einer dritten Person«) zugeschrieben wird, in ihrer Entfaltung und ihrem Fortschreiten repräsentiert werden: selbst wenn sie sich auf die Vergangenheit beziehen (7 pia me´sa sto pareltho´n [›nun in der Vergangenheit‹]), erscheinen sie als eine immerwährende, nicht epische, sondern dramatische Vergangenheit.33 In Mirambels präziser Formulierung, cette opposition est a` deux termes: d’une part, wie beim Imperfekt der unerfüllten Wünsche, c’est la notion du de´veloppement continu ou de de´multiplication de l’action; d’autre part, wie beim Aorist der vergangenen erfüllten Begierden und des zufälligen Hindernisses, c’est la notion d’absence de de´veloppement ou de ponctualite´. 34 32 Die Semantisierung der zwei belegten Personen, d. h. ihre Einbettung in ein Kommunikationsmodell, das den Teilnehmern – und damit den grammatischen Kategorien – verschiedene Rollen zuweist, erlaubt uns, hier nicht nur von der ersten, sprechenden Person als der ›Nullperson‹ zu sprechen, sondern auch von dem Akt des Sprechens bzw. Dichtens als dem gerade durch dessen Auslassung unterstrichenen kommunikativen Akt. [Anm. d. Übs./Komm.] 33 »Weil das Präsensstammsystem, in diesem Falle das Imperfekt, somit das Verweilen bezeichnet, vermag es uns die Handlung zu veranschaulichen und sie zu beschreiben, im Gegensatz zum Aorist, der sie nur konstatiert.« (Stamatia KrawczynskiMitsoura, »Der Aspekt in Bezug auf den Aorist und das Imperfekt im Mittel- und Neugriechischen«, S. 227. Vgl. Tzartzanos, Neoellinikı´ Sı´ntaxis, S. 209 u. 212; Seiler, L’ aspect et le temps dans le verbe ne´ogrec, S. 55 f.; Kahane, »The Tense System of Modern Greek«.)
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Vielleicht die beeindruckendste Eigenschaft der morphologischen Struktur von Kavafis’ Gedicht ist die enge, oder sogar konstante, Verkettung mehrerer grammatischer Konzepte; zum Beispiel suggeriert das Medium die zweite Person, und diese letztere impliziert wiederum den Singular und den aoristischen Aspekt, wobei der präsentische Aspekt die dritte Person impliziert. So handelt die grammatische Symbolik dieses Gedichts von einigen unzertrennlichen Komplexen. Die Syntax des Gedichts, so wie seine Morphologie, zeigt eine vorausgehende exklusive Auswahl der zu gebrauchenden Strukturen und daher eine viel höhere semantische Ladung dieser typisierten Muster und ihrer Verteilung auf die Komposition als Ganzes.35 Syntaktisch bildet das Gedicht zwei Sätze, einen von sechs und einen von fünf Zeilen, wohingegen die morphologische Zusammensetzung den Text in drei symmetrische Abschnitte teilt – das dreizeilige Exordium, welches auf die Verb- und Pronominalformen der zweiten Person beschränkt ist, die fünfzeilige eigentliche Narratio, auf welche die dritte Person alleinigen Anspruch hat, und wieder die drei Zeilen eines zusammenfassenden Epilogs mit beiden Personen als Hauptdarstellern 36. Der Wende- und Mittelpunkt des mittleren Abschnitts und des gesamten Gedichts, die sechste Zeile des letzteren, unterscheidet sich auf augenfällige Weise von der grammatischen Struktur aller anderen Verse und teilt das Vorkommen von unabhängigen Nominalformen mit den zwei äußersten Zeilen, der ersten und der elften. Die grammatisch abweichende Mittelzeile der elf Verse ist gleichzeitig in Bezug auf deren syntaktische Zweiteilung ein asymmetrisches, überzähliges Segment. Der zweite und dritte Abschnitt des gesamten Gedichts, die den Gebrauch der dritten Person gemeinsam haben, sind mit ihrem eigenen mittleren *Distichon versehen: den Zeilen sieben und acht, die ihr Präsens den Präterita der sechs Zeilen ihrer Umgebung entgegensetzen. Die Spannung zwischen der morphologischen und der syntaktischen Struktur des Gedichts erhöht die poetische Schärfe seiner grammatischen Mittel. 34 Mirambel, La Langue grecque moderne, S. 134. [Anm. v. R.J. / P.C.] – Dt. Übs.: ›Diese Opposition hat zwei Glieder: einerseits den Begriff der kontinuierlichen Entwicklung oder der Feineinstellung der Handlung; andererseits den Begriff der Abwesenheit von Entwicklung oder der Punktualität.‹ [Anm. d. Übs./Komm.] 35 Diese Verkettungen zwischen den exklusiv gebrauchten Kategorien suggerieren selbst eine Verkettung zwischen den ausgelassenen ›Nullkategorien‹: Das ausgelassene grammatische Subjekt im Hauptsatz suggeriert das fehlende Maskulinum, welches selbst mit der ausgelassenen ersten Person in enge Beziehung tritt. [Anm. d. Übs./Komm.] 36 Im Original: »with two costarring persons«. [Anm. d. Übs./Komm.]
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In seiner Einleitung zu Dalvens Übersetzung von K. P. Kavafis’ Werken behauptet W. H. Auden 37, dieser Dichter habe niemals *Metaphern oder Vergleiche benutzt; seine Verse böten reine, von jeglicher Ausschmückung freie Tatsachenbeschreibungen, so daß man nicht etwa von Kavafis’ Bildlichkeit sprechen kann.38 Jedoch ist – wie die vorliegende Skizze exemplifiziert – die grammatische Bildlichkeit das stärkste Kunstmittel dieses Künstlers; sie wandelt seine nüchternen Beschreibungen in ein hervorragendes kaleidoskopisches Spiel von wirklichen le´xeos sche´mata 39 um, die auf einem breiten Spektrum von morphologischen und syntaktischen Ähnlichkeiten und Kontrasten, von verschiedenen Aspekten von *Kontiguität und Ferne, von strenger Selektion und dichter Aggregation, von schwindelmachenden Symmetrien und den *Lizenzen für deren Verletzung basieren. Editorische Notiz Verfaßt 1965 in Cambridge, Massachusetts, und veröffentlicht in Linguistics 20 (März 1966).
Literatur Jakobsons und Colaclides’ eigene Literaturangaben sind mit ° gekennzeichnet. ° Auden, Wystan Hugh: »Introduction«, in: The Complete Poems of C. P. Cavafy,
übs. v. Rae Dalven, New York: Harvest Book 1976.
´ mile: »Actif et moyen dans le verbe«, in: Journal de Psychologie XLIII °Benveniste, E (1950), S. 125 ff.; inzwischen in: ders.: Proble`mes de linguistique ge´ne´rale, Bd. 1, Paris: Gallimard 1966, S. 168–175. – »Aktiv und Medium im Verb«, in: ders.: Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, übs. v. Wilhelm Bolle, München: List 1974 (= List Taschenbücher der Wissenschaft, Bd. 1428), S. 189–198. — »Structure des relations de personne dans le verbe«, in: ders.: Proble`mes de linguistique ge´ne´rale, Bd. 1, Paris: Gallimard 1966, S. 225–236. – »Die 37 Wystan Hugh Auden (1907–1973): englisch-amerikanischer Dichter, Literaturkritiker und Dramatiker. [Anm. d. Übs./Komm.] 38 »Nor can one speak of Cavafy’s imagery, for simile and metaphor are devices he never uses; whether he is speaking of a scene, of an event, or an emotion, every line of his is plain factual description without any ornamentation whatsoever.« (Auden, »Introduction«, S. xvi.) [Anm. d. Übs./Komm.] 39 Griech. ›Wortfiguren‹. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Struktur der Personenbeziehungen im Verb«, in: ders.: Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, übs. v. Wilhelm Bolle, München: List 1974 (= List Taschenbücher der Wissenschaft, Bd. 1428), S. 251–264. Bühler, Karl: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, ungekürzter Neudruck der Ausg. v. 1934, Geleitwort v. Friedrich Kainz, Stuttgart u. New York: Gustav Fischer 1982 (= Uni-Taschenbücher, Bd. 1159). Colaclides, Peter: »I glo´ssa tou Kava´fi« [›Kavafis’ Sprache‹], in: Praktika´ trı´tou symposı´ou pı´isis, 1.–3. Juli 1983, Patras Universität, hg. v. Sokratis Skartsis, Athina: Gnosi 1984, S. 119–146. Colaclides, Peter u. Irene Philippaki-Warburton: »To ›Pa´rthen‹ tou Kava´fi« [›Kavafis’ »Pa´rthen«‹], in: I Le´xi 52 (1986), S. 122–128. Derrida, Jacques: Grammatologie, übs. v. Hans-Jörg Rheinberger u. Hanns Zischler, Frankfurt /Main: Suhrkamp 1983 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 417). Frühgriechische Lyriker, T. 3: Sappho, Alkaios, Anakreon, deutsch v. Zoltan Franyo´ u. Peter Gan, griech. Text bearb. v. Bruno Snell, Red.: Hadwig Helms, 2. Aufl. Berlin: Akademie-Verlag 1981 (= Schriften und Quellen der Alten Welt, Bd. 24,3). Grundzüge einer deutschen Grammatik, von einem Autorenkollektiv unter der Leitung v. Karl Erich Heidolph, Walter Flämig u. Wolfgang Motsch, 2. Aufl. Berlin: Akademie-Verlag 1984. Guchman, Mirra Moiseevna: »Die Ebenen der Satzanalyse und die Kategorie des Genus verbi«, in: Satzstruktur und Genus verbi, hg. v. Ronald Lötzsch u. Rudolf Ruzicka, Berlin: Akademie-Verlag 1976, S. 9–32. Iatrou, Maria: »›Chartı´n perigramme´non‹: To ›Pa´rthen‹ tou Kava´fi os pı´ima piitikı´s« [›»Beschriebenes Blatt«: Kavafis’ »Parthen« als poetologisches Gedicht‹], in: Entefktı´rio 32 (1995), S. 67–73. Jakobson, Roman Osipovicˇ: »Beitrag zur allgemeinen Kasuslehre. Gesamtbedeutungen der russischen Kasus«, in: SW II, S. 23–71. — »Boas’ View of Grammatical Meaning«, in: SW II, S. 489–496. – »Der Begriff der grammatischen Bedeutung bei Boas«, in: Form und Sinn, S. 68–76. — »Das Nullzeichen«, in: SW II, S. 220–222. — »Linguistics and Poetics«, in: SW III, S. 18–51. – »Linguistik und Poetik«, übs. v. Stephan Packard, komm. v. Hendrik Birus, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 154–216. — »Poe˙zija grammatiki i grammatika poe˙zii«, in: SW III, S. 63–86. – »Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie«, übs. u. komm. v. Sebastian Donat, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 256–301. — »Zur Struktur des russischen Verbums«, in: SW II, S. 3–15. Jakobson, Roman Osipovicˇ u. Peter Colaclides: »Grammatical Imagery in Cavafy’s Poem UymhÂsoy, sv Ä ma…«, in: SW III, S. 582–590. – Erstdruck in: Linguistics 20 (1966), S. 51–59. Jakobson, Roman Osipovicˇ u. Stephen Rudy: »Yeats’ ›Sorrow of Love‹ Through the Years«, in: SW III, S. 601–638. – »Yeats’ ›Der Gram der Liebe‹ im Lauf
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Roman Jakobson
Über die Wortkunst Kazimierz Wierzyn´skis 1 Übersetzung aus dem Russischen Sebastian Donat
Kommentar Imke Mendoza und Małgorzata Zemła Jakobson und Wierzyn´ski (1894–1969) verband in den USA in den sechziger Jahren eine persönliche Freundschaft, die die Grundlage einer engen »Arbeitsgemeinschaft« bezüglich poetologischer Fragen zwischen dem Linguisten und dem Dichter bildete. Jakobson gelang es offensichtlich, Wierzyn´ski für seine linguistische Arbeit zu begeistern. 2 Es ist sicherlich angebracht, diese Fakten bei der Betrachtung von Jakobsons Analyse von Wierzyn´skis Gedicht aus dessen Debüt-Band »Wiosna i wino« [›Frühling und Wein‹] mit zu berücksichtigen. Die Analyse ist durch eine Klarheit und Leichtigkeit gekennzeichnet, die sie mit Wierzyn´skis Frühschaffen zu teilen scheint, sowie durch eine für Jakobson sehr ungewöhnliche, ausführliche Beschäftigung mit der Bildlichkeit des Gedichtes. Die Analyse wirft zudem ein neues Licht auf »Wiosna i wino«, das hinsichtlich seiner künstlerischen Qualitäten nicht immer unumstrittene Erstlingswerk des herausragenden polnischen Dichters. 3 Imke Mendoza und Małgorzata Zemła 1 2
3
Vorlage: Jakobson, Roman Osipovicˇ: »O slovesnom iskusstve Kazimira Vezˇin’skogo«, in: SW III, S. 591–600. [Anm. d. Übs.] Vgl. folgende Passage aus einem Brief Wierzyn´skis an Krystyna Pomorska: »Ich muß mir mit seinen Aufsätzen die Nächte um die Ohren schlagen, sonst werde ich von seiner überspannten Linguistik noch völlig überholt! Er glaubt, bei mir in dieser Hinsicht gewisse Fortschritte zu bemerken…« (Jakobson /Pomorska, Poesie und Grammatik, S. 155; das russische Original in SW VIII, S. 578). [Anm. d. Komm.] Zur Rezeption von Wiosna i wino in der Zwischenkriegszeit s. Andres, Kazimierz
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Das folgende Gedicht, das auf der plastischen Gegenüberstellung zweier der Anordnung nach ähnlicher *unpersönlicher Sätze aufgebaut ist, nahm der Dichter Kazimierz Wierzyn´ski in seinen frühen Lyrikzyklus Wiosna i wino [›Frühling und Wein‹] (1919) auf: I
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II
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III
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I
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II
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III
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Zno´w miejsca znalez´c´ z˙adnego nie moge˛ I tylko is´c´ mi sie˛ chce wprost przed siebie, Nogami deptac´ byle jaka˛ droge˛ I potem noca˛ kłas´c´ sie˛ spac´ na niebie. Wie˛c ide˛, ide˛ – i wa˛cham powietrze I tak mi dobrze jest bez kapelusza, Z˙e włosy staja˛ mi de˛ba na wietrze I po hiszpan´sku gwiz˙dz˙e we mnie dusza. Słon´ce do głowy mi strzela i bije, Psy nawet cudze liz˙a˛ mie˛, przybłe˛de˛… Juz˙ wiem, z˙e znowu sie˛ dzisiaj upije˛ I z˙e z wszystkimi całowac´ sie˛ be˛de˛.4 Wieder kann ich keinen Platz finden Und ich möchte nur vor mich hin gehen, Mit den Füßen irgendeinen Weg treten Und danach nachts mich schlafen legen im Himmel. Also gehe ich, gehe ich – und rieche die Luft Und so gut ist es mir ohne Hut, Daß die Haare mir zu Berge stehen im Wind Und in mir die Seele auf Spanisch pfeift.5 Die Sonne schießt und steigt 6 mir in den Kopf, Sogar fremde Hunde lecken mich, den Landstreicher… Bereits jetzt weiß ich, daß ich mich heute betrinke Und daß ich mich mit allen küssen werde.
Ein reflexives Verb mit einem dreifachen Infinitiv und mit dem *enklitischen Dativ eines Personalpronomens 7, I2 I tylko is´´c mi sie˛ chce 〈…〉
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Wierzyn´ski, S. 28–34. Zu Wierzyn´skis Zweifeln bezüglich des in diesem Band vertretenen Poesiemodells vgl. Wierzyn´ski, Pamie˛tnik poety, S. 91 f. [Anm. d. Komm.] Vgl. Wierzyn´ski, »Zno´w miejsca znalez´c´ z˙adnego nie moge˛«, in: Poezje zebrane, S. 28. [Anm. d. Übs.] Auf die Nachahmung der polnischen Wortfolge (›und auf Spanisch pfeift in mir die Seele‹) wurde hier verzichtet, damit die syntaktische Struktur des Verses, d. h. die gemeinsame Unterordnung der koordinierten Zeilen 3 und 4 unter Zeile 2 deutlich wird. [Anm. d. Komm.] Wörtliche Übersetzung bije – ›schlägt‹. [Anm. d. Übs.]
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I3 〈…〉 deptac´ 〈…〉 I4 〈…〉 kłas´´c sie˛ 〈…〉 [›I2 Und nur gehen möchte (ich) 8 〈…〉 I3 〈…〉 treten 〈…〉 I4 〈…〉 sich legen‹], bildet den Kern des ersten der beiden unpersönlichen Sätze, und dem zweiten liegt eine verbale *Kopula mit einem Prädikativ und mit demselben pronominalen Dativ zugrunde: II2 I tak mi dobrze jest [›II2 Und so gut ist (es) mir‹]. Das Gedicht besteht aus drei Vierzeilern, jeweils mit *Kreuzreim und mit einer abschließenden Pause sowie in der schriftlichen Form mit einem entsprechenden Punkt. Die grammatische Verteilung der Reime spielt eine merkliche Rolle in der Wechselbeziehung aller drei Vierzeiler und in den unterscheidenden Besonderheiten eines jeden von ihnen. In den beiden äußeren Zeilen des gesamten Gedichts, d. h. in der ersten Zeile der Anfangsstrophe (I1) und in der vierten (vom Ende her ersten) Zeile der letzten *Strophe (III4(–1)), reimen Verbformen der ersten *Person mit Akkusativformen von Substantiven: I1 moge˛ – 3 droge˛ [›I1 (ich) kann – 3 (den) Weg‹] und entsprechend am Ende des Gedichts III4(–1) be˛de˛ – 2(–3) przybłe˛de˛ [›III4(–1) (ich) werde – 2(–3) (den) Landstreicher‹]. In allen übrigen Reimen antworten deklinierbare Wörter nur auf deklinierbare, konjugierbare nur auf konjugierbare, und zwar bei konsequenter Nichtübereinstimmung anderer grammatischer *Merkmale: In der dritten Strophe reimen verschiedene Personen der Verben (III1 bije – 3 sie˛ upije˛ 9 [›III1 schlägt – 3 mich betrinke‹]), und die Reime der ersten beiden Strophen kombinieren einen der ›direkten‹ 10 mit einem der *›Umfangskasus‹ 11: den Nominativ mit dem Genitiv (II4 dusza – 2 bez kapelusza [›II4 Seele (Nom.) – 7
Im Polnischen haben bestimmte Formen des Personalpronomens eine lange und eine kurze Variante. Letztere ist enklitisch, d. h. sie bildet eine intonatorische Einheit mit dem vorhergehenden Wort. [Anm. d. Komm.] 8 Das Verb chciec´ ›wollen‹ kann im Polnischen nicht nur persönlich, sondern auch *unpersönlich verwendet werden, das ›logische Subjekt‹ steht dabei im Dativ. Eine wörtliche Übersetzung der fraglichen Stelle ins Deutsche würde lauten: ›Und nur gehen (es) sich mir möchte‹. [Anm. d. Komm.] 9 Der Buchstabe e˛ wird im Auslaut häufig als [e] ausgesprochen. [Anm. d. Komm.] 10 In der Terminologie, die Jakobson in seiner Kasustheorie verwendet, fallen unter den russ. Begriff prjamoj padezˇ sowohl der Nominativ als auch der Akkusativ, s. Jakobson, »Morfologicˇeskie nabljudenija nad slavjanskim skloneniem (Sostav russkich padezˇnych form)«, S. 159. Im Gegensatz zur üblichen Wiedergabe dieses Begriffs mit casus rectus wird er hier – wie auch in anderen Aufsätzen in diesem Band – mit direkter Kasus übersetzt, um eine Konfusion mit der gängigeren Terminologie, die nur den Nominativ als »casus rectus« (d. h. »prjamoj padezˇ«) und alle anderen, incl. des Akkusativs, als *»oblique Kasus« (russ. »kosvennye padezˇi«) bezeichnet, zu vermeiden. [Anm. d. Komm.] 11 Das Merkmal der Umfangskasus, d. h. des Genitivs und des Lokativs, ist die Einschränkung des Umfangs des Gegenstandes, s. Jakobson, »Beitrag zur allgemeinen
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2 ohne Hut (Gen.)‹]) oder aber den Akkusativ mit dem * Lokativ (I2 przed siebie – 4 na niebie; II1 wa˛cham powietrze – 3 na wietrze [›I2 vor mich – 4 im Himmel; II1 rieche Luft – 4 im Wind‹]), wobei in der Anfangsstrophe ein Nomen mit einem Pronomen verbunden wird. Wir merken an, daß beide Akkusative am Ende der Verse der Anfangsstrophe ebenso wie beide Verbformen der ersten Person am Ende der Verse der letzten Strophe zu benachbarten Zeilen gehören. Also ist der konsequent substantivische Satz von Reimen im mittleren Vierzeiler dem gemischten Wortartenbestand in den Reimen der beiden Randstrophen gegenübergestellt, d. h. auf der einen Seite dem Anfangsvierzeiler mit seinen drei deklinierbaren Wörtern (zwei substantivischen Nomina und einem *substantivischen Pronomen) und mit einem Verb als erstem Glied des Anfangsreims (I1 nie moge˛ [›I1 (ich) nicht kann‹]) sowie auf der anderen Seite dem Schlußvierzeiler mit drei Verben und einem Substantiv als erstem Glied des Schlußreims (III3 przybłe˛de˛ [›III3 (den) Landstreicher‹]). Die Nebenpause, die durch ein Komma in den ersten beiden Strophen des gedruckten Textes und durch die drei Punkte in seiner letzten Strophe umgesetzt wird, teilt diese Strophen in Verspaare. Die Konjunktion i [›und‹] vor der zweiten Zeile aller Zweizeiler außer III2 (wo vielleicht die Anwesenheit derselben Konjunktion vor der vorletzten Silbe der Zeile III1 sein erneutes Auftauchen drei Silben weiter verhindert hat), schließt die Zeilen jedes der übrigen fünf Zweizeiler fest zusammen. In der Anfangsstrophe unterscheidet sich das zweite Verspaar mit den nebeneinander liegenden Infinitivkonstruktionen beider Zeilen syntaktisch vom ersten Verspaar, aber auch von allen anderen Zeilen des Gedichts durch das Fehlen von finiten Verbformen. In den folgenden Strophen dagegen enthält das zweite Verspaar die im gesamten Gedicht einzigen Beispiele von Nebensätzen, wobei sowohl in der mittleren als auch in der letzten Strophe das zweite Verspaar zwei gleichartige koordinierte Nebensätze, jeweils einen pro Zeile, mit den Konjunktionen II3 Z˙e – 4 I [›II3 Daß – 4 Und‹] und III3 z ˙e – 4 I z˙e [›III3 daß – 4 Und daß‹] aufweist. Das Vorhandensein ausschließlich abhängiger Wortgefüge im zweiten Verspaar 12 der Anfangsstrophe und das Vorhandensein abhängiger Sätze ausschließlich im zweiten Verspaar der übrigen beiden Strophen deutet auf das
Kasuslehre. Gesamtbedeutungen der russischen Kasus«, S. 65 und passim. [Anm. d. Komm.] 12 Emendation: Im Original verwendet Jakobson hier (und an weiteren Stellen in diesem Absatz) das Wort ›polustisˇie‹ – ›Halbvers‹, gemeint ist jedoch offensichtlich die ›Halbstrophe‹ bzw. das Verspaar. [Anm. d. Übs.]
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Überwiegen von abhängigen Konstruktionen am Ende aller drei Strophen im Vergleich zu ihrem unabhängigeren Anfang hin und zeugt von der ausgeprägten kompositorischen Individualität nicht nur der Vierzeiler, sondern auch der Verspaare. Vor dem Hintergrund der durchsichtigen Strophik tritt ein anderes, autonomes und nicht weniger markantes Prinzip der Unterteilung der Verse in wiederum drei gleiche Gruppen hervor, von denen jede ihrerseits aus vier Versen besteht, wobei neben Fällen unmittelbarer Nachbarschaft auch Gemengelagen 13 zugelassen sind. Diese Klassifikation beruht auf dem unterschiedlichen Status des Subjekts in den Sätzen, die alle zwölf Verse des Gedichts ausfüllen. Die unpersönlichen Sätze, die a) in der Anfangsstrophe die letzten drei Verse, vom zweiten bis zum vierten, und b) den zweiten Vers der folgenden, mittleren Strophe, d. h. insgesamt vier Verse einnehmen, sind einerseits den vier Zeilen mit Verbformen der ersten Person ohne das amplifizierende Pronomen 14 ja [›ich‹], d. h. a) dem Anfangsvers der ersten und zweiten Strophe und b) den beiden letzten Versen der dritten Strophe, entgegengesetzt, andererseits den vier Zeilen mit nominalen Subjekten und einem Verb der dritten Person, d. h. a) dem letzten Verspaar der zweiten und b) dem Anfangsverspaar der dritten Strophe. Eine graphische Tabelle gibt die Ordnung dieser drei Tetraden, d. h. der Vierergruppen von Versen anschaulich wieder: Mit einem Plus (+) sind die Zeilen der persönlichen Sätze mit einem expliziten nominalen Subjekt in Verbindung mit einem kongruierenden verbalen Prädikat gekennzeichnet; mit einem Minus (–) die Zeilen mit Verben der ersten Person und implizitem pronominalem Subjekt, und mit einem Nullzeichen (#) sind die Zeilen der unpersönlichen Sätze markiert, wobei für die Kennzeichnung der Zeilen ohne finite Formen das Nullzeichen in quadratische Klammern eingerückt ist: [#].
13 Der landwirtschaftliche Begriff Gemengelage (russ. ˇcerespolosica) veranschaulicht sehr schön die Tatsache, daß Verse, die zu einer Gruppe gehören, nicht unbedingt nebeneinander liegen müssen. [Anm. d. Komm.] 14 Mit dem Begriff »amplifizierendes Pronomen« bezeichnet Jakobson hier ein Personalpronomen, das grammatische Informationen, wie z. B. *Numerus und Person, die schon an der Verbform ausgedrückt sind, verdoppelt. [Anm. d. Komm.]
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Das Gedicht beginnt und endet mit einem Satz der ersten Person, und sowohl in der Anfangs- als auch in der Endstrophe ist die erste Person besonders hervorgehoben durch den *Reim ihrer Verbformen entweder mit dem Akkusativ eines Satzes, der zu den zwei anderen Tetraden gehört (I1 nie moge˛ – 3 droge˛; III4 be˛de˛ – 2 przybłe˛de˛ [›I1 (ich) nicht kann – 3 (den) Weg; III4 (ich) werde – 2 (den) Landstreicher‹]) oder mit Verbformen der dritten Person (III3 sie˛ upije˛ – 1 bije 15 [›III3 mich betrinke – 1 schlägt‹]). Im vorliegenden Text kann ein Satz der ersten Person auf jeden beliebigen aus den drei Satzklassen folgen, d. h. sowohl auf einen Satz der ersten und der dritten Person oder auf einen unpersönlichen. Auf einen Satz der ersten Person kann entweder ein anderer Satz der ersten Person folgen oder ein unpersönlicher, aber kein Satz der dritten Person. Auf einen Satz der dritten Person und auf einen unpersönlichen kann entweder ein Satz der ersten oder der dritten Person folgen, aber kein unpersönlicher Satz. Jedem der beiden unpersönlichen Sätze geht ein Satz der ersten Person voraus, und er fällt auf den ersten Vers der Anfangsstrophe und danach der mittleren Strophe. In beiden Fällen bedeutet der Übergang vom persönlichen zum unpersönlichen Satz eine Ersetzung einer objektiven Aussage durch eine subjektive: Zuerst wird das Bekenntnis der Unmöglichkeit ersetzt durch den Ausdruck des Wunsches (I1 znalez´´c 〈…〉 nie moge˛ – 2 is´´c mi sie˛ chce [›I1 finden kann 〈…〉 (ich) nicht – 2 gehen möchte (ich)‹]); dann führt die erzählerische Mitteilung vom erfüllten Wunsch zur emotionalen Wertung des Geschehenen (II1 wie˛c ide˛, ide˛ – 2 i tak mi dobrze jest [›II1 also gehe (ich), gehe (ich) – 2 und so mir gut ist‹]). Von besonderer Art ist das Verhältnis zwischen jeder der drei Klassen von Sätzen – (+), (–), (#) – und der Strophik des Gedichts. Mit der Strophengrenze fällt der Übergang vom unpersönlichen Satz (#) zum Satz der ersten Person (–) zusammen, mit der Verspaargrenze im Stropheninneren der Übergang vom unpersönlichen Satz zum Satz der dritten Person (+) und von letzterem zum Satz der ersten Person, während der unpersönliche Satz den Satz der ersten Person im Inneren des Verspaars ablöst. Jeder der drei unabhängigen Sätze der ersten Person beginnt mit einem einsilbigen *anaphorischen Wort, das auf etwas zuvor Gesagtes oder Beabsichtigtes verweist: I1 Zno´w 〈…〉 nie moge˛ [›I1 Wieder 〈…〉 (ich) nicht kann‹]; (I2 is´c´ mi sie˛ chce [›Gehen möchte (ich)‹]) – II1 Wie˛c ide˛ [›Also gehe (ich)‹]; III3 Juz˙ wiem, z˙e znowu [›Bereits weiß (ich), daß 15 Der Buchstabe e˛ wird im Auslaut häufig als [e] ausgesprochen. [Anm. d. Komm.]
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wieder‹]. Hier wiederholt der adverbiale Beginn des Nebensatzes, znowu [›wieder‹], das anfängliche zno´w [›wieder‹], doch dieses Mal, im Schlußverspaar, führt das gleiche Adverb nicht mehr die Gegenwart, sondern die Zukunft ein (III3 znowu sie˛ dzisiaj upije˛ 〈…〉 całowac´ sie˛ be˛de˛ [›wieder (ich) mich heute betrinke 〈…〉 küssen (ich) mich werde‹]) und bringt damit das Motiv der stetigen, vielleicht sogar ewigen Wiederkehr hinein: Wieder kann ich nicht und wieder werde ich. Nic sie˛ nie zmieni [›Nichts wird sich ändern‹], skandiert der Dichter im Achtzeiler »Jeno rados´ci« 16 [›Nichts als Freude‹] im selben lyrischen Zyklus. Die Schlußlosung des Zwölfzeilers – III4 z wszystkimi całowac´ sie˛ be˛de˛ [›mit allen küssen mich werde‹] – findet zwei bemerkenswerte grammatisch-semantische Analogien in der Anfangsstrophe. Dazu gehören vor allem, in Übereinstimmung mit der Form całowac´ [›küssen‹], die finalen adverbalen Infinitive,17 die in allen Zeilen der Anfangsstrophe auftreten, zu welchen Sätzen diese Zeilen auch gehören, d. h. sowohl in Sätzen der ersten Person als auch in unpersönlichen (I1 znalez´´c 〈…〉 nie moge˛, 2 is´´c mi sie˛ chce 〈…〉 3 deptac´ 〈…〉 4 kłas´´c sie˛ spac´ [›I1 finden 〈…〉 nicht kann (ich), 2 gehen möchte (ich) 〈…〉 3 treten 〈…〉 4 sich schlafen legen‹]). Dagegen gibt es in der mittleren Strophe keine Infinitive. Zweitens kennen nur die erste Strophe und das Ende der dritten Strophe die im Werk des Autors umfangreich verwendeten *adjektivischen verallgemeinernden Pronomina verschiedener Schattierungen (I1 miejsca z˙adnego, 3 byle jaka˛ droge˛ [›I1 Platz keinen, 3 irgendeinen Weg‹]) und andererseits III4 z wszystkimi [›mit allen‹]), wobei der Genitiv der Negation 18 des Negativpronomens – z˙adnego (keines) – im Anfangssatz mit der Verneinung, die dem weiteren Text fremd ist, dem Kollektivpronomen der offenkundig bejahenden (wiem, z˙e [›weiß, daß‹]) Schlußzeile gegenübergestellt wird – z wszystkimi [›mit allen‹], wobei das Pronomen byle jaka˛ (welchen auch immer), eine Variante der verallgemeinernden Pronomen, eine Zwischenstellung einnimmt. Darüber hinaus weisen sowohl die Anfangsstrophe als auch das Schlußverspaar zwei Paare reflexiver Verben auf, die, ich wiederhole, den Bestand an direkten Handlungsträgern entweder verringern oder annullieren, genauer gesagt, den Bestand derjenigen, die in der gegebenen Verbalkonstruktion als direkt an der Handlung Beteiligte genannt und behandelt werden: I2 mi sie˛ chce 〈…〉 4 kłas´´c sie˛ – III3 znowu sie˛ dzisiaj upije˛ 〈…〉 4 całowac´ sie˛ 16 Vgl. Wierzyn´ski, Poezje zebrane, Bd. 1, S. 10. [Anm. d. Übs.] 17 D. h. ein Infinitiv, der von einem Verb abhängt, wobei die ganze Konstruktion finale Bedeutung hat. [Anm. d. Komm.] 18 Im Polnischen steht in verneinten Sätzen das *direkte Objekt in der Regel im Genitiv. [Anm. d. Komm.]
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be˛de˛ [›I2 mir möchte (es) sich 〈…〉 4 sich legen – III3 wieder mich heute betrinke 〈…〉 4 küssen mich werde‹]. Sowohl in der ersten als auch in der letzten Strophe geht das erste der beiden Reflexivpronomen einer finiten Verbform voraus, und das zweite folgt unmittelbar auf einen Infinitiv. Alle Zeilen mit finiten Verben enthalten einen Verweis auf die erste Person, der in den Sätzen der ersten Person unmittelbar durch die Verbform ausgedrückt wird und in den beiden andern Satztypen durch ein Pronomen der ersten Person: I2, II2,3, III1 mi [›mir‹], II4 we mnie [›in mir‹] und III2 mie˛ [›mich‹]. Mit einem Wort: Die erste Person zeichnet sich ab als einziger und unwandelbarer Held des ganzen Gedichts. Wir merken an, daß der Text weder den Nominativ ja [›ich‹] noch pronominale Formen der zweiten Person oder Possessivpronomen kennt. In jeder Strophe bilden die Verbformen der ersten Person die gleiche Anzahl wie die Verbformen der dritten Person, zu denen freilich auch die finiten Verben der unpersönlichen Sätze hinzugezählt werden müssen. Die Anfangsstrophe enthält je eine Form der ersten und der dritten Person (I1 nie moge˛ – sie˛ chce [›I1 nicht kann (ich) – sich (es) möchte‹]), die mittlere je drei (II1 ide˛, ide˛, wa˛cham – 2 jest, 3 staja˛, 4 gwiz˙dz˙e [›II1 gehe, gehe, rieche – 2 ist, 3 stehen, 4 pfeift‹]) und die letzte auch je drei, aber in umgekehrter Reihenfolge (III3 wiem, sie˛ upije˛, be˛de˛ – 1 strzela, bije, 2 liz˙a˛ [›III3 (ich) weiß, mich betrinke, werde – 1 schießt, schlägt, 2 lecken‹]). Insgesamt zählt das Gedicht sieben Verbformen der ersten und sieben der dritten Person. Während die unpersönlichen Sätze der Darstellung der Absichten und Emotionen gewidmet sind, die den lyrischen Helden beherrschen, und seine bewußte und aktive Erfahrung in den Sätzen der ersten Person ausgesprochen wird, so rücken die zweigliedrigen Sätze der dritten Person (+) nicht den Helden in den Vordergrund, sondern einzelne mit ihm verbundene innere und äußere Faktoren. In der Tetrade der Verse mit zweigliedrigen Sätzen der dritten Person sind die Nominative, d. h. die Kasusformen, die allen anderen Versen fremd sind, zum Zwecke der besseren Wahrnehmbarkeit auf verschiedene Weise einander gegenübergestellt. Zwei Nominative im Singular werden von zwei Nominativen im Plural mit identischer Endung umsäumt, und die mit den letzteren kongruenten Verbformen im Plural stechen als einzige im Text hervor: II3 włosy staja˛ – 4 dusza – III1 Słon´ce – 2 Psy liz˙a˛ [›II3 Haare stehen – 4 Seele – III1 Sonne – 2 Hunde lecken‹]. Auf der anderen Seite sind beide Nominative der mittleren Strophe, die Subjekte der Nebensätze, durch ein *synekdochisches Verhältnis zur ersten Person charakterisiert (II3 włosy staja˛ mi; 4 gwiz˙dz˙e we mnie dusza
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[›II3 Haare stehen mir; 4 pfeift in mir Seele‹]), und zwar im Gegensatz zu beiden Nominativen der Schlußstrophe, den Subjekten zweier unabhängiger Sätze, die sich in einem *metonymisch äußerlichen Verhältnis zur ersten Person befinden (III1 Słon´ce do głowy mi strzela; 2 Psy nawet cudze liz˙a˛ mie˛ [›III1 Sonne in Kopf mir schießt; 2 Hunde sogar fremde lecken mich‹]). Und schließlich stellt die Anwesenheit der zwei neben der ersten Person des Autors am Geschehen Beteiligten zwei ungerade Verse (II3 włosy 〈…〉 na wietrze; III1 Słon´ce do głowy [›II3 Haare 〈…〉 im Wind; III1 Sonne in Kopf‹]) den beiden geraden Versen gegenüber, in denen als einziger Partner des nominalen Subjekts ein Pronomen der ersten Person dient (II4 we mnie dusza; III2 Psy 〈…〉 mie˛ [›II4 in mir Seele; III2 Hunde 〈…〉 mich‹]), das mit dem possessiven Dativ der benachbarten Zeilen kontrastiert (II3 19 włosy 〈…〉 mi; III2 do głowy mi [›III3 Haare 〈…〉 mir; III2 in Kopf mir‹]). Damit finden alle drei symmetrischen Beziehungen ihren markanten grammatisch-semantischen Ausdruck in der Gruppe der vier Sätze der dritten Person: Ihre zwei inneren Glieder werden den beiden äußeren gegenübergestellt, die zwei vorausgehenden den zwei nachfolgenden und beide ungeraden den beiden geraden. Damit wird gewissermaßen das dreifache System der Reimbindung innerhalb eines Vierzeilers, d. h. das Schema des *umarmenden, *Paar- und *Kreuzreims auf den grammatischen Bau übertragen.20 Zu den beliebtesten Bildern des Zyklus Wiosna i wino [›Frühling und Wein‹] gehört die Gegenüberstellung von Hut und barhäuptigem Dichter. Kapelusz biore˛ pod pache˛ i droga˛ 〈…〉 Ide˛ 〈…〉 Gwiz˙dz˙˛e i ´spiewam 〈…〉 Hej, jak mi dobrze, jak ´swiez˙o, rados´nie, Jak lekko! 21 [›(Den) Hut nehme (ich) unter die Achsel und (den) Weg 〈…〉 Gehe (ich) 〈…〉 (Ich) pfeife und singe 〈…〉 Ach, wie gut (es) mir (ist), wie frisch, fröhlich, Wie leicht!‹] – Im Gedicht »Ten wiatr, ten wiatr, ten psotnik« 22 [›Dieser Wind, dieser Wind, dieser Frechdachs‹] heißt es von einem frechen Wind, der den Hut vom Kopf eines verträumten Dichters auf der Straße gerissen 19 Emendation: Im Original fälschlicherweise II4. [Anm. d. Übs.] 20 Eine Parallele zu dieser Übertragung der verschiedenen Reimordnungen auf die grammatische (bzw. allgemeine) Anordnungsstruktur eines Gedichtes findet sich in Jakobson /Jones, »Shakespeare’s Verbal Art in ›Th’Expence of Spirit‹«, S. 286 (vgl. die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 627). Dort bezieht sich Jakobson nicht auf vier Zeilen, sondern auf die vier ›Strophen‹ des Sonetts 129 bzw. jeglichen vierstrophigen Gedichts. [Anm. d. Übs.] 21 Vgl. Wierzyn´ski, Poezje zebrane, S. 22. [Anm. d. Übs.] 22 Vgl. a. a. O., S. 27. [Anm. d. Übs.]
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hat: Jak po zaułkach kre˛tych, Po moich mys´lach lata [›Wie in gewundenen Gäßchen, in meinen Gedanken fliegt (er)‹], und der Hut fliegt zusammen mit dem Wind. Nagle widze˛: kapelusz Leci po trotuarze! Jak ´smieszne to, jak ´smieszne! [›Plötzlich sehe (ich): (der) Hut fliegt über (den) Bürgersteig! Wie lustig (ist es), wie lustig!‹] Inzwischen erkennt der Dichter plötzlich, wessen Kopfbedeckung dies ist, und eine umgekehrte Synekdoche verwandelt den Hut in ein unabhängiges Ganzes und den Besitzer in seinen Bestandteil. – Juz˙ wiem: ja jestem sercem Owego kapelusza [›Schon weiß (ich): Ich bin (das) Herz (von) jenem Hut‹]. Im Gedicht »Zno´w miejsca…« [›Wieder (keinen) Platz…‹] wird im Lob des Fehlens des Huts beim Fußgänger-Dichter nicht die Beteiligung des Windes an seinem Verschwinden getadelt, sondern durch die konsekutive Konjunk˙ e [›Daß‹] wird eine Tetrade eröffnet, die von den spannenden tion II3 Z Erlebnissen des barhäuptigen Wanderers im Wind erzählt. Die Ausdruckskraft aller vier Sätze dieser Vers-Tetrade ist aufgebaut auf der ungewöhnlichen Umarbeitung idiomatischer Wortverbindungen und zusätzlich auf den seltsamen Variationen des Inventars an überraschend kombinierten Bildern, das in den selben Gedichtzyklus eingeflossen ist. Die idiomatische Trope – włosy staja˛ mi de˛ba [›(die) Haare stellen (sich) mir gerade auf / stehen zu Berge‹] (vor Schrecken) – verliert ihre übertragene Bedeutung in der Kombination mit der adverbialen Bestimmung II3 na wietrze [›im Wind‹]; d. h. »auf dem unbedeckten Kopf wirbelt der Wind die Haare auf«. Die Kontamination des Begriffs udar słoneczny [›Sonnenstich‹, wörtl. ›Sonnenschlag‹] mit dem Ausdruck cos´ mu strzeliło do głowy (er hat sich etwas in den Kopf gesetzt) erscheint in der neuen Verbindung III1 Słon´ce do głowy mi strzela i bije [›Sonne in (den) Kopf mir schießt und schlägt‹], die das Bild eines »unbedeckten Kopfes unter der sengenden Sonne« evoziert. Ähnlich ist ein Motivkreis in einem Gedicht desselben Zyklus, mit der Überschrift »Miramare« 23: zuerst słon´ce rozkwitłe w upałach [›(die) Sonne blühte in (der) Hitze auf‹] und später das Verspaar – Wino powietrza uderza do głowy I wiatr we włosach z marzeniami tan´czy [›(Der) Wein der Luft steigt (wörtl.: schlägt) in (den) Kopf Und (der) Wind tanzt in (den) Haaren mit (den) Träumen‹]. In dem von uns untersuchten Zwölfzeiler folgt auf die Geschichte der Haare im Wind ein mit ihr koordinierter Satz: II4 I po hiszpan´sku gwiz˙dz˙e we mnie dusza [›Und auf Spanisch pfeift in mir (die) Seele‹]. Im oben zitierten Gedicht »Kapelusz biore˛ pod pache˛« 24 [›(Den) Hut nehme (ich) 23 Vgl. a. a. O., S. 26. [Anm. d. Übs.] 24 Vgl. a. a. O., S. 22. [Anm. d. Übs.]
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unter (die) Achsel‹] ist das Verb Gwiz˙dz˙˛e [›Pfeift‹] umrahmt von Bildern des Weges mit unbedecktem Kopf und seelischer Nähe zur Sonne: Jakem szcze˛´sliwy – powiedziec´ nie umiem! O, miec´ tak dusze˛ do słon´ca rozs´miana˛! [›Wie glücklich (bin ich) – (ich) weiß (das) nicht (zu) erzählen! Oh, (eine) so zur Sonne lachende Seele (zu) haben!] Das Gedicht mit der ersten Titelzeile – Sprzedaj sie˛ wiatrom i gwiz˙dz˙ razem z nimi 25 [›Ergebe dich (den) Winden und pfeife mit ihnen‹] – und mit der zweiten, präzisierenden Zeile – Na to, co było i na to, co be˛dzie! [›Auf das, was war, und auf das, was sein wird‹] – liefert uns die Kontamination des Ausdrucks »wiatr gwiz˙dz˙e« [›(der) Wind pfeift‹] mit dem idiomatischen »gwiz˙dz˙e˛ na to« [›(ich) pfeife darauf‹] mit demselben leichtsinnig-geringschätzigen Ton, von dem viele Gedichte in Frühling und Wein durchdrungen sind. In einem der Gedichte dieses Zyklus, das mit der Zeile Gwiz˙dz˙˛e na wszystko i gram serenade˛ 26 [›(Ich) pfeife auf alles und spiele (eine) Serenade‹] beginnt, schließen sich an das Pfeifen übermütige Worte über einen Wettkampf mit der Sonne (i na słon´ce jade˛ Kawaleryjska˛ szarz˙a˛ mego ´smiechu [›ich fahre gegen die Sonne mit dem Kavallerieangriff meines Lachens‹]), über die Teilnahme am himmlischen Wind (Szumie˛, jak wiatrak niebieskiej wichury [›(Ich) rausche, wie die Windmühle des himmlischen Windwirbels‹]) und schließlich über den ständigen Einlaß in den Himmel an – wyskakuje˛ do nieba ze sko´ry [›(ich) springe zum Himmel aus (der) Haut heraus‹] – mit einer merkwürdigen Verschmelzung von zwei scherzhaften Redewendungen, podskakiwac´ do nieba [›zum Himmel hochspringen‹] und wyskakiwac´ ze sko´ry [›aus (der) Haut herausspringen‹ 27 ]. Im Gedicht »Zno´w miejsca…« [›Wieder (keinen) Platz…‹] gibt es ein in bezug auf die Verbindung zum Himmel ähnliches Motiv I4 kłas´´c sie˛ spac´ na niebie [›legen sich schlafen im Himmel‹]. Dieses außerhalb der Tetrade der Sätze der dritten Person einzige Beispiel einer grotesken Verschiebung stehender Redewendungen folgt deutlich dem Vorbild der lexikalischen Metonymie, die in das Nachbargedicht desselben Zyklus eingegangen ist, d. h. in den aus nur einem unpersönlichen Satz mit zehn symmetrischen Infinitiven bestehenden Achtzeiler: 6 Lez˙ec´ na słon´cu, jak nicpon´, ladaco 28 [›6 (Du) liegst in (der) Sonne wie (ein) Nichtsnutz, (du) Taugenichts‹]. Auch hier wird der Sonne der für den 25 Vgl. a. a. O., S. 18. [Anm. d. Übs.] 26 Vgl. a. a. O., S. 45. [Anm. d. Übs.] 27 Wyskakiwac´ ze sko´ry bedeutet soviel wie ›über seinen Schatten springen‹. [Anm. d. Übs.] 28 Vgl. »Tak bosko rzucac´ na wiatr swoje słowa« [›So göttlich (ist es zu) werfen in den Wind seine Worte‹], in: Wierzyn´ski, Poezje zebrane, S. 28. [Anm. d. Übs.]
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Autor unvergängliche Wind gegenübergestellt, diesmal in der lexikalisierten *Metapher des Titelverses: Tak bosko rzucac´ na wiatr swoje słowa 29 [›So göttlich (ist es zu) werfen in (den) Wind seine Worte‹]. Es scheint so, als ob das Gedicht »Tan´ce po ´swiatach« 30 [›Tänze in (den) Welten‹], das sich im genannten Zyklus in der Nähe befindet, die anschaulichste Analogie zum Motiv der »vor sich hin pfeifenden Seele« liefert. Die Quelle des bezeichnenden Mottos »Zreszta˛ sie˛ gwiz˙dz˙e, ´sni…« [›Übrigens sich pfeift, träumt…‹] ist Leopold Staff. Die zwei ersten Verse – Tan´ce po ´swiatach z wiatrem popod re˛ce! Dusza na bakier! O, mys´li w gwizdaniu! [›Tänze in den Welten bei (dem) Wind eingehakt! Die Seele schief aufgesetzt! Oh, Gedanken im Pfeifen!‹] – sind ein weiteres Beispiel für jene enge assoziative Kette, die für die Dichtung des jungen Wierzyn´ski zentrale Bilder miteinander verbunden hat: Hier ist jedes durch jedes ersetzbar, die schief aufgesetzte Seele tritt an die Stelle des hinuntergeworfenen Huts, und es sind beliebige Annäherungen möglich, wie die unerwartete Nachbarschaft von Tanz und Wind, von Seele und Pfeifen. Als Antwort auf dieses, sei es verwegenes, sei es inniges Pfeifen usta dziewcze˛ce Same az˙ prosza˛ sie˛ przy powitaniu! [›(die) Mädchenlippen laden selbst (dazu) ein bei (der) Begrüßung!‹] Dementsprechend endet das Gedicht »Zno´w miejsca…« [›Wieder (keinen) Platz…‹] mit der Voraussage III4 z wszystkimi całowac´ sie˛ be˛de˛ [›mit allen küssen (ich) mich werde‹]. Der mit der letzten Zeile reimende Vers – III2 Psy nawet cudze liz˙a˛ mie˛, przybłe˛de˛… [›III2 Hunde sogar fremde lecken mich, (den) Landstreicher…‹] – stellt eine Apposition um, die in der festen idiomatischen Wortverbindung psy-przybłe˛de˛ [›streunende Hunde‹] üblich ist, aber hier dem Autor-Ich angegliedert wird. Die Assoziation des barhäuptigen Kopfes, der Seele und der Sonne mit dem Wind breitet sich offensichtlich auch auf den letzen der vier Sätze mit einem Subjektsnominativ 31 (III2) aus. Ten wiatr, ten wiatr, ten psotnik ´swiata [›Dieser Wind, dieser Wind, dieser Frechdachs der Welt‹] im Gedicht über den frechen Wind verbindet durch eine *Paronomasie die Substantive wiatr [›Wind‹] und ´swiat [›Welt‹], und gleichzeitig belebt der etymologische Instinkt die verwandtschaftlichen Bande zwischen den Wörtern psy, psota und psotnik [›Hunde, Spaßmacherei, Frechdachs‹], und das attributivische *Syntagma wiatr29 Vgl. ebd. – rzucac´ na wiatr swoje słowa heißt auch ›leere Versprechungen machen‹. [Anm. d. Übs.] 30 Vgl. a. a. O., S. 30. [Anm. d. Übs.] 31 D. h. Sätze mit einem expliziten Subjekt, das dann eben im Nominativ steht. [Anm. d. Komm.]
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psotnik [›Wind-Frechdachs‹] erlaubt es, auch die Hunde zum Kreis der »Wind«-Assoziationen hinzuzufügen. Bis zur letzten Zeile gibt es außer dem Autor keine anderen handelnden Figuren in Übereinstimmung mit einem anderen lyrischen Bekenntnis des Dichter-Vagabunden: »Nie spotkam na szcze˛´scie Nikogo.« [›Begegne (ich) zum Glück Niemandem‹]. Das erste belebte Nomen in unserem Gedicht – III2 Psy [›Hunde‹] schließt den Kreis der Sätze der dritten Person, und erst im Abschlußvers kommt der Autor in Berührung mit der menschlichen Gattung, doch nicht einzeln, sondern III4 z wszystkimi [›mit allen‹]. Zwei stilistische Dubletten, eine zoologisch oder vulgär, lizac´ sie˛ [›sich lecken‹], die andere menschlich, całowac´ sie˛ [›sich küssen‹], veranlassen dazu, den ersten der beiden durch einen Reim verbundenen Verse, III2 nawet cudze liz˙a˛ mie˛ [›sogar fremde lecken mich‹], als scherzhaftes Präludium zum zweiten Vers mit dem gleichen Reim anzusehen, III4 z wszystkimi całowac´ sie˛ be˛de˛ [›mit allen küssen (ich) mich werde‹]. Die Tetrade der Verse mit Sätzen der dritten Person ist von den Nachbarversen abgegrenzt. Auf der einen Seite stellt das komplette Fehlen von Substantiven beide Sätze der ersten Person am Ende des Gedichts (III3, 4) markant allen vier Sätzen der dritten Person (II3-III2) mit ihren sieben Substantiven gegenüber. Auf der anderen Seite ist von den beiden Versen mit finiten Verben, die zu den unpersönlichen Sätzen gehören, der eine schlichtweg frei von Substantiven (I2 I tylko is´´c mi sie˛ chce wprost przed siebie [›Und (ich) möchte nur vor mich hin gehen‹], und der andere, der unmittelbar an die Sätze der dritten Person angrenzt, verfügt zwar scheinbar über ein Substantiv, doch die begleitende Präposition annulliert es, d. h. sie signalisiert die Abwesenheit des bezeichneten Gegenstands (II2 bez kapelusza [›ohne Hut‹]), und genau auf seine Abwesenheit reagieren die Sätze der dritten Person unmittelbar. Eine dem Genitiv der Negation in der präpositionalen Konstruktion bez kapelusza [›ohne Hut‹] ähnliche Rolle spielt der Genitiv im ersten, verneinenden Satz der ersten Person: I1 miejsca znalez´´c z˙adnego nie moge˛ [›Platz finden keinen nicht kann (ich)‹]. Alle drei syntaktischen Spielarten der Konstruktionen mit finiten Verben, die in den Strophen von »Zno´w miejsca…« [›Wieder (keinen) Platz…‹] eingesetzt werden, unterscheiden sich substantiell voneinander sowohl hinsichtlich der zugewiesenen Funktionen als auch in bezug auf die Verteilung und das Wechselverhältnis aller dieser drei Spielarten im Verlauf des Gedichts. Das Bild des nochmals (zno´w) und nochmals (znowu) ununterbrochenen Umherziehens umfaßt alle vier Zeilen der Verben in der ersten Person und kommentiert gewissermaßen die These des
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˙ ycie bez nazwy, bez dna i bez kon´ca [›(ein) Leben ohne BezeichAutors Z nung, ohne Boden und ohne Ende‹] aus dem Gedicht mit der Überschrift »Tyle jest we mnie bajecznej pogody« 32 [›Soviel ist in mir (an) traumhaftem Wetter 33‹]. Das vom Weg selbst erzählende mittlere und dichteste der drei nicht benachbarten Segmente der Tetrade der ersten Person, II1 Wie˛c ide˛, ide˛ – i wa˛cham powietrze [›Also gehe (ich), gehe (ich) – und rieche Luft‹], unterscheidet sich von allen anderen Zeilen des Gedichts durch die Anhäufung dreier finiter Formen und die syntaktische Pause zwischen den Verben, die zusammenfällt mit der *Zäsur (bezeichnet durch den einzigen Gedankenstrich im gesamten gedruckten Text). Der zweite Halbvers, das einzige Beispiel eines finiten Verbs mit einem direkten nominalen Objekt, wa˛cham powietrze [›rieche Luft‹], nähert sich der Wortverbindung an, die in der Mitte des Gedichts »Akacje na ulicach juz˙ kwitna˛« 34 [›Akazien blühen schon auf (den) Straßen‹], ebenfalls im selben Zyklus, die beiden an der Handlung Beteiligten unmittelbar miteinander identifiziert – Jestem aria˛ powietrza [›(Ich) bin (die) Arie (der) Luft‹]. Beide unpersönlichen Sätze mit den gleichartigen einleitenden Adverbien – I2 I tylko [›Und nur‹], II2 I tak [›Und so‹] – fügen den Nachrichten von der Tätigkeit der ersten Person ein Zeugnis seiner inneren Erlebnisse hinzu. Die Funktion des, wenn auch nur impliziten, Subjekts, die in den Sätzen der ersten Person im Personalpronomen erhalten blieb, ist in den unpersönlichen Sätzen annulliert. Statt dessen geht in den Sätzen der dritten Person die hauptsächliche, führende Rolle auf verschiedene, teilweise innerlich und teilweise äußerlich benachbarte, hier Autonomie erlangende Faktoren über, während der Held dieser Verse selbst, der auf die Rolle eines *indirekten und danach eines direkten Objekts (III2) reduziert wird, anschaulich unter die treffende, durch eine Wortneubildung bekräftigte Selbstbestimmung des Autors von Frühling und Wein fällt: Zda sie˛ nie z˙yje˛ – jestem z˙yty 35 [›(Es) kommt (mir) vor, (als ob ich) nicht lebe(n würde) – (ich) werde gelebt‹]. Ähnlich ist sowohl die Losung als auch ihr Hintergrund in einem der frühen Gedichte Wierzyn´skis: »Der warme Wind führt mich an der Nase herum 〈…〉 Aber die Sonne scheint! Und keine Widerrede!« (I zno´w jest tak ni w pie˛´c, ni w dziewie˛´c 36 [›Und wieder ist (es) so nicht in fünf, nicht in neun 37‹]). 32 Vgl. a. a. O., S. 42. [Anm. d. Übs.] 33 Wierzyn´ski spielt hier mit der zweiten Bedeutung von pogoda ›ausgeglichene Stimmung, heitere Gelassenheit‹. [Anm. d. Komm.] 34 Vgl. a. a. O., S. 27. [Anm. d. Übs.] 35 Vgl. »I zno´w jest tak ni w pie˛c´, ni w dziewie˛c´« [›Und wieder ist (es) so nicht in fünf, nicht in neun‹], a. a. O., S. 35 f. [Anm. d. Übs.]
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Editorische Notiz Geschrieben 1972 in Cambridge, Mass. und Antonı´n Dosta´l 38 gewidmet.
Literatur Jakobsons eigene Literaturangaben sind mit ° gekennzeichnet. Andres, Zbigniew: Kazimierz Wierzyn´ski. Szkice o two´rczos´ci literackiej [›Kazimierz Wierzyn´ski. Skizzen zum literarischen Schaffen‹] Rzeszo´w: Wydawnictwo Wyz˙szej Szkoły Pedagogicznej 1997. Jakobson, Roman Osipovicˇ: »Beitrag zur allgemeinen Kasuslehre. Gesamtbedeutungen der russischen Kasus«, in: SW II, S. 23–71. ° — »Morfologicˇeskie nabljudenija nad slavjanskim skloneniem (Sostav russkich padezˇnych form)« [›Morphologische Beobachtungen zur slavischen Deklination. (Der Bestand der russischen Kasusformen)‹], in: SW II, S. 154–183. — »O slovesnom iskusstve Kazimira Vezˇin’skogo«, in: SW III, S. 591–600. Jakobson, Roman Osipovicˇ u. Lawrence G. Jones: »Shakespeare’s Verbal Art in ›Th’Expence of Spirit‹«, in: SW III, S. 284–303. – »Shakespeares Wortkunst in ›Das Versprühen des Geistes‹«, übs. v. Evi Zemanek, komm. v. Andreas Höfele, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 622–655. Jakobson, Roman Osipovicˇ u. Krystyna Pomorska: Besedy [Dialogues], in: SW VIII, S. 437–582. – Dialoge. Wierzyn´ski, Kazimierz: Pamie˛tnik poety [›Die Memoiren des Dichters‹], hg. v. Paweł Ka˛dziela, Warszawa: Oficyna Wydawnicza Interim 1991. — Poezje zebrane [›Gesammelte Gedichte‹], Bd. 1, hg. v. Waldemar Smaszcz, Białystok: Wydawnictwo Łuk 1994.
36 Vgl. ebd. [Anm. d. Übs.] 37 Ein deutsches *Äquivalent für diese Redewendung wäre etwa ›nicht Fisch, nicht Fleisch‹. [Anm. d. Übs.] 38 Antonı´n Dosta´l (1906–1997), tschechischer Slavist und Byzantinist. [Anm. d. Komm.]
Roman Jakobson und Stephen Rudy
Yeats’ »Der Gram der Liebe« im Lauf der Jahre 1 Übersetzung aus dem Englischen und Kommentar Virginia Richter Jakobsons zusammen mit seinem Schüler, dem amerikanischen Slavisten Stephen Rudy, verfaßte Untersuchung von Yeats’ »Sorrow of Love« hebt sich von seinen anderen Gedichtinterpretationen dadurch ab, daß hier das Augenmerk auf der Analyse zweier sehr unterschiedlicher Varianten des gleichen Gedichts liegt. Die Autoren vergleichen die Fassungen von 1892 und 1925 hinsichtlich der thematischen Strukturierung, Grammatik (Verwendung und Verteilung von -ing-Formen, Substantiven, Attributen, Pronomina, Adverbien, Artikeln, *Konnektiven und Verben), Satzstruktur und Aussage, phonologischer *Struktur, Versmuster, Konstruktionsprinzipien und semantischen Entsprechungen. Dabei steht weitgehend die linguistische Komposition der beiden Fassungen im Mittelpunkt; erst bei der vergleichenden Untersuchung der beiden letztgenannten Aspekte, also auf der semantischen Ebene, wird in größerem Maße auf zusätzliches Hintergrundmaterial zur Stützung der textimmanenten Analyse zurückgegriffen, vor allem auf Yeats’ esoterisches System, das er in »A Vision« herausgearbeitet hat, sowie auf autobiographische Aussagen des Dichters. Gerade diese Versuche einer Kontextualisierung, die seltsam assoziativ wirken, stellen jedoch den am wenigsten überzeugenden Teil des Aufsatzes dar. Das Ergebnis der Analyse besteht darin, daß die endgültige Fassung auf fast allen Ebenen deutlich an *Symmetrie in der Verteilung der grammatischen und sonstigen linguistischen Kategorien gewinnt. Zugleich wird der *Kontrast zwischen den beiden äußeren Quartetten und dem Binnenquartett des dreistrophigen Gedichts, der bereits in der frühen Fassung angelegt war, 1
Vorlage: Jakobson, Roman u. Stephen Rudy: »Yeats’ ›Sorrow of Love‹ Through the Years«, in: SW III, S. 601–638. Erstdruck: Yeats’ »Sorrow of Love« Through the Years, Lisse: The Peter de Ridder Press 1977. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Roman Jakobson und Stephen Rudy
noch weiter verstärkt. Auch die interne Differenzierung der Quartette, die mit der *binären *Opposition einer ›oberirdischen‹ vs. einer ›irdischen/ menschlichen‹ Ebene arbeitet, wird in der zweiten Fassung konsequenter durchgeführt. Damit erreicht die späte Bearbeitung eine größere Dichte und zugleich Sparsamkeit in der Auswahl und Anordnung linguistischer Elemente, und wird damit ›poetischer‹ im Sinne von Jakobsons Definition der poetischen Funktion. Der Vergleich der beiden Fassungen von »The Sorrow of Love« zeigt damit beispielhaft das zentrale Anliegen der Jakobsonschen Poetik: nämlich die Interpretation von Lyrik wegzuführen von diffusen emotionalen Reaktionen und letztlich unbegründeten ästhetischen Urteilen zu einer quantifizierenden und kontrastiven strukturalen Analyse der sprachlichen Bauteile des Gedichts, um damit gleichsam die ›Schönheit‹ des Gedichts objektiv faßbar zu machen. Jakobson und seinem Mitautor gelingt es, durch das Vorführen jedes einzelnen Analyseschritts deutlich zu machen, daß »die strenge Auswahl und Anordnung der Wortsymbole, die in ›The Sorrow of Love‹ aufgeboten werden, um ein harmonisches System reicher semantischer Verbindungen aufzubauen« (vgl. 19.8, unten), in der Fassung von 1925 eine ungleich größere Stringenz erreicht hat. Man mag nicht mit jeder einzelnen Behauptung Jakobsons und Rudys einverstanden sein und sich gerade von der Kleinschrittigkeit ihres Verfahrens, das stellenweise geradezu in einen Zählwahn mündet, erdrückt fühlen; doch als Gesamtergebnis läßt sich sicherlich festhalten, daß »Yeats’ ›Der Gram der Liebe‹ im Lauf der Jahre« zu den fundiertesten Anwendungsbeispielen einer solchen Poetik gehört. 2 Virginia Richter 2
Im englischen Sprachraum wurde Roman Jakobson zwar als einer der wichtigsten Vertreter des Formalismus und Strukturalismus rezipiert und teilweise ›kanonisiert‹ (vgl. etwa die Einführung von Hawkes, Structuralism and Semiotics, S. 76–87). Die Einschätzung seiner strukturalen Poetik wurde jedoch durch die Kritik Cullers (Structuralist Poetics, S. 57), der Jakobson einen überzogenen Szientismus und Automatismus der total(itär)en Texterfassung vorwarf, weitgehend auf eine einseitige Weise determiniert; vgl. hierzu Jakobsons ungemein heftige Erwiderung in seinem »Nachtrag zur Diskussion um die Grammatik der Poesie« (in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 759–761 u. 775–780), sowie Birus, »Hermeneutik und Strukturalismus«, S. 19 f. – Eine weitere Kritik an Jakobson findet sich in Attridge, »Closing Statement: Linguistics and Poetics in Retrospect«, S. 15–32; eine fundierte, deutlich positivere Auseinandersetzung mit Jakobsons Poetik in: Bradford, Roman Jakobson, bes. S. 9–73, sowie Cureton, »Jakobson Revisited«. Trotz aller Kontroversen wirkt Jakobson an angloamerikanischen Universitäten nach wie vor als wichtiger Anreger; in der deutschen Anglistik wird er dagegen weitgehend ignoriert. [Anm.d. Übs./Komm.]
Yeats’ »Der Gram der Liebe« im Lauf der Jahre
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Why, what could she have done being what she is? Was there another Troy for her to burn? Nun, was hätte sie tun können, da sie war, was sie ist? Gab es ein zweites Troja für sie zu verbrennen? – »No Second Troy«, 1910.3
I. Einleitung 1.0 Paul Vale´ry, zugleich ein Dichter und ein wißbegieriger Theoretiker der Dichtkunst als einer ›Kunst der Sprache‹, erinnert an die Geschichte über den Maler Degas, der gern Gedichte schrieb, sich aber einmal gegenüber Mallarme´ beklagte, daß er sich nicht imstande fühle, in der Dichtung das zu erlangen, was er sich vorgenommen habe, obwohl er ›voller Ideen‹ sei.4 Mallarme´s treffende Antwort lautete: »Ce n’est pas avec des ide´es, mon cher Degas, que l’on fait des vers. C’est avec des mots.« [›Verse macht man nicht mit Ideen, mein lieber Degas. Man macht sie mit Worten.‹] 5 Aus Vale´rys Sicht hatte Mallarme´ recht, denn das Wesen der 3
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Gedicht von W. B. Yeats aus der Sammlung The Green Helmet and Other Poems (1910). Alle Gedichte von Yeats werden nach der Variorum Edition of the Poems of W. B. Yeats zitiert; hier S. 256 f. Dt. Übs.: »Kein zweites Troja«, übs. v. Susanne Schaup, in: Yeats, Ausgewählte Gedichte, S. 75. Im folgenden wird auf vorliegende deutsche Übertragungen verwiesen; die hier angegebenen, möglichst wörtlichen Übersetzungen sind jedoch von mir. [Anm. d. Übs./Komm.] Ste´phane Mallarme´ (1842–1898) war der wichtigste Vertreter – als Dichter wie als Theoretiker und Anreger – des Französischen Symbolismus, Yeats’ Generationsgenosse Paul Vale´ry (1871–1945) sein bedeutendster Schüler. Mit Mallarme´ und Vale´ry verbindet Yeats – neben den allgemeinen Merkmalen des Symbolismus wie zweckfreie Ästhetik, Verabsolutierung der Kunstmittel, Abstraktion, Musikalität der Sprache etc. – vor allem eine analytische, ja geradezu mathematische Haltung zur poetischen Sprache; damit stehen diese Dichter im Gegensatz zu dem einer traditionelleren Poetik verpflichteten Maler Edgar Degas (1834–1917). [Anm. d. Übs./ Komm.] Vale´ry, »Poe´sie et pense´e abstraite«, S. 1324; dt. Übs.: »Dichtkunst und abstraktes Denken«, S. 152. Vgl. auch die Parallelstelle in »Degas Danse Dessin«, wo Vale´ry, im Anschluß an die Anekdote, fortfährt: »Degas disant du dessin qu’il e´tait la manie`re de voir la forme, Mallarme´ enseignant que les vers sont faits de mots, re´sumaient, chacun dans son art, ce que l’on ne peut pleinement et utilement entendre ›si on ne l’a de´ja` trouve´‹.« [›Wenn Degas vom Zeichnen sagte, es sei die Art und Weise, wie man die Form sieht, und Mallarme´ lehrte, die Verse seien aus Wörtern gemacht, so versuchten sie damit, jeder innerhalb seiner Kunst, etwas zu formulieren, was man völlig und im richtigen Sinn nicht zu erfassen vermag, »so man es nicht schon erfahren hat«.‹] (S. 1208; dt. Übs.: »Tanz, Zeichnung und Degas«, S. 319.) [Anm. d. Übs./Komm.]
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Dichtung liegt gerade in der poetischen Umgestaltung von Wortmaterial und im Verbinden seiner phonetischen und semantischen Aspekte. 6 1.1 William Butler Yeats verteidigte in einem 1898 geschriebenen Aufsatz für eine »Kunst, die nicht nur Geschichten erzählt«,7 die Auffassung, daß »Muster und Rhythmus der Weg zu einem offenen Symbolismus« 8 seien. Laut Yeats »sind die Künste bereits voll Muster und Rhythmus. Gegenständliche Bilder interessieren uns nicht länger 〈…〉«.9 In diesem Zusammenhang nimmt er gerade auf Degas Bezug, nach Yeats’ Meinung ein Künstler, dessen übermäßiges und eigensinniges Verlangen, das Leben ›abzubilden‹ – »und zwar das intensivste und kraftvollste Leben« 10 – seinem Werk geschadet hatte. Der Nachdruck, den der Dichter auf Muster legte, erinnert an Benjamin Lee Whorf, den scharfsinnigen Linguisten, der erkannte, daß »das strukturelle Moment der Sprache immer das Moment der ›Lexation‹ (Na¯ma) oder der Namensgebung [beherrscht und kontrolliert]« (»the ›patternment‹ aspect of language always overrides and controls the ›lexation‹ or name-giving aspect«); 11 und eine Untersuchung der Funktion von »Mustern« (›patterns‹) in Yeats’ eigener Lyrik wird überaus reizvoll, besonders wenn man den stetigen und sorgfältigen Veränderungen seiner eigenen Werke gegenübersteht.12 6 7
Vale´ry, »Poe´sie et pense´e abstraite«, S. 1320; dt. Übs.: S. 148. Yeats, »Symbolism in Painting«, S. 148; dt. Übs.: »Der Symbolismus in der Malerei«, S. 142. [Anm. d. Übs./Komm.] 8 Yeats, Memoirs, S. 283. 9 Ebd. 10 A. a. O., S. 284. 11 Whorf, Language, Thought, and Reality, S. 258. [Anm. v. R.J. / S.R.] – Dt. Übs.: Sprache, Denken, Wirklichkeit, S. 60. [Anm. d. Übs./Komm.] 12 Zum Begriff des ›Musters‹ bzw. ›patterns‹ bei Jakobson, insbesondere zur auch für die Yeats-Analyse relevanten Frage, ob der ›Bauplan des Dichtwerks‹ vom Dichter ›überlegt rational‹ oder ›unterschwellig‹ (›subliminal‹) geschaffen wird, s. Jakobsons Aufsatz »Subliminal Verbal Patterning in Poetry«, dt. Übs. in der vorliegenden Ausgabe Bd. 1, S. 124–153. Vgl. dazu Yeats’ Beschreibung des künstlerischen Schaffensprozesses: »The purpose of rhythm, it has always seemed to me, is to prolong the moment of contemplation, the moment when we are both asleep and awake, which is the one moment of creation, while it holds us waking by variety, to keep us in that state or perhaps real trance, in which the mind liberated from the pressure of the will is unfolded in symbols. […] So I think that in the making and in the understanding of a work of art, and the more easily if it is full of patterns and symbols and music, we are lured to the threshold of sleep, and it may be far beyond it, without knowing that we have ever set our feet upon the steps of horn or of ivory.« (»The Symbolism of Poetry«, S. 159 f.) [›Der Zweck des Rhythmus, so hat es mir immer scheinen wollen, besteht darin, den Moment der Kontemplation zu
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II. Text und Varianten 2.0 Bereits 1899 hielt Yeats fest, daß er »〈…〉 bestimmte Gedichte überarbeitete und zu einem großen Teil neu schrieb«.13 Sein Motto der Collected Works in Verse and Prose (Stratford-on-Avon, 1908) lautet: The friends that have it I do wrong When ever I remake a song, Should know what issue is at stake: It is myself that I remake.14 Die Freunde, die meinen, daß ich einen Fehler begehe Jedesmal wenn ich ein Lied neu mache, Sollten wissen, was auf dem Spiel steht: Mich selbst mache ich neu.
Und im Januar 1927 erwähnt er »neue Bearbeitungen, an denen mein Herz sehr hängt«, und fügt bezeichnenderweise hinzu, »man ist immer dabei, totes Holz herauszuschneiden«.15 Für die Ausgabe seiner Early Poems and Prose von 1925 »veränderte er beträchtlich« mehrere seiner Gedichte, darunter »The Sorrow of Love« [›Die Trübsal der Liebe‹],16 »bis ganz neue Gedichte daraus werden. Welche Veränderungen auch immer ich vornahm, sie sind immer der Versuch, besser auszudrücken, was ich als sehr junger Mann dachte und fühlte.« 17 2.1 »The Sorrow of Love«, das wir von nun an als SL bezeichnen werden, ist im Manuskript des Autors vom Oktober 1891 erhalten (SL
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verlängern, jenen Moment, da wir zugleich schlafen und wachen und der der einzige schöpferische Augenblick ist; indem er uns mit betörender Monotonie einschläfert, hält er uns zugleich durch Abwandlung wach und versenkt uns so in jenen Zustand von vielleicht echter Trance, in dem das von dem Druck des Willens befreite Gemüt sich in Symbolen entfaltet. […] Ich meine deshalb, daß wir beim Schaffen und Aufnehmen eines Kunstwerkes, und um so leichter, je voller es ist an Ordnungen [Mustern] und Symbolen und Musik, auf die Schwelle des Schlafes gelockt werden und vielleicht weit darüber hinaus, ohne zu ahnen, daß wir je unsere Füße auf die Stufen aus Horn oder aus Elfenbein gesetzt haben.‹] (»Der dichterische Symbolismus«, S. 154 f.) [Anm. d. Übs./Komm.] Yeats, Variorum Edition, S. 846. A. a. O., S. 778. A. a. O., S. 848. Unter diesem Titel erschien Richard Exners bekannte Übersetzung (in: Yeats, Ausgewählte Gedichte, S. 41). Sorrow ließe sich natürlich auch mit ›Gram‹, ›Leid‹, ›Kummer‹, ›Unglück‹ oder auch ›Klage‹ übersetzen; s. u. die Prosaübersetzung im Anschluß an die Gedichtvarianten. [Anm. d. Übs./Komm.] Yeats, Variorum Edition, S. 842.
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1891), dann in zwei Varianten von 1892, die leicht voneinander abweichen, die eine im Band The Countess Kathleen and Various Legends and Lyrics (SL 1892) und die andere in der Wochenzeitung The Independent vom 20. Oktober 1892 (SL 1892 Ind ) veröffentlicht.18 Einzelne Verän18 In den Gedichten, die in The Countess Kathleen and Various Legends and Lyrics vereint sind, finden sich bereits die Einflüsse, die auch für Yeats’ weiteres Werk von zentraler Bedeutung sein werden: Neben der Verarbeitung irischer Mythen und Volksdichtungen sind dies vor allem Yeats’ Beschäftigung mit Esoterik und seine Auseinandersetzung mit dem Französischen Symbolismus. Sein Interesse am Okkulten bestand bereits, seit er die Schule verlassen hatte, und fand in den frühen 1890ern einen ersten Höhepunkt in seiner Mitgliedschaft in der rosenkreuzerischen Geheimgesellschaft »Order of the Golden Dawn« [›Orden des Goldenen Sonnenaufgangs‹]. Die Erfahrungen mit der theatralischen Initiationssymbolik des Ordens – zur zweitägigen Aufnahmezeremonie in den inneren Kreis des Ordens, der sich Yeats im Januar 1893 unterzog, gehörte eine symbolische Kreuzigung – trugen ebenso wie seine Forschungen zu William Blake – für eine Blake-Ausgabe, die Yeats zusammen mit dem Dichter und Maler Edwin Ellis 1893 herausbrachte – zur Ausformung einer eigenen, symbolistischen poetischen Sprache bei. Ebenso wichtig war Yeats’ zunächst indirekter und bald auch direkter Kontakt mit den französischen Symbolisten: Angeregt durch seinen Freund Arthur Symons machte er sich (in Übersetzung) mit dem Werk Baudelaires, Mallarme´s und Verlaines vertraut; bei einer Reise nach Paris im Februar 1894 traf er Paul Verlaine. Yeats schloß sich an die Ästhetik der französischen Dichter an, jedoch mit einem wichtigen Unterschied; in den Worten seines Biographen Terence Brown: »He shared certainly the French Symbolist sense of poetry as an art form that could induce transcendental consciousness, but for Yeats, increasingly, that transformation was to have significance in the human world.« [›Er teilte sicherlich das Gefühl der französischen Symbolisten für Dichtung als eine Kunstform, die ein transzendentales Bewußtsein herbeiführen kann, aber für Yeats mußte diese Verwandlung zunehmend eine Bedeutung für die menschliche Welt haben.‹] (Brown, The Life of W. B. Yeats, S. 72.) D. h. Yeats verband seine symbolistische Poetik mit einer aktiven religiösen und politischen Praxis. Die drei zentralen Themenkomplexe – Irishness, Okkultismus und Symbolismus – sind bereits in der Gedichtsammlung von 1892, die auch die Dramen The Countess Kathleen und The Land of Heart’s Desire enthält, deutlich sichtbar. Zu einer theoretischen Ausarbeitung seiner ästhetischen Position kommt es jedoch erst ab Mitte der 1890er Jahre, etwa in seinen Aufsätzen zu Blake und dem grundlegenden Essay-Paar »Symbolism in Painting« [›Der Symbolismus in der Malerei‹] und »The Symbolism in Poetry« [›Der dichterische Symbolismus‹], in denen er eine Verbindung zwischen dem poetischen Symbol als einer Beschwörungsformel und einer transzendenten Realität, die dadurch hervorgerufen wird, herstellt: »A symbol is indeed the only possible expression of some invisible essence, a transparent lamp about a spiritual flame« [›Ein Symbol ist tatsächlich die einzige Ausdrucksmöglichkeit für eine unsichtbare Wesenheit, eine transparente Lampe um eine göttliche Flamme‹]. (»William Blake and his Illustrations to the Divine Comedy«, S. 116; dt. Übs.: »William Blake und seine Illustrationen zur Göttlichen Komödie«, S. 109.) Die Gedichte in The Countess Kathleen and Various Legends and Lyrics sind in zwei Zyklen aufgeteilt, »Crossways« und »The Rose«; diese Zyklen bilden auch die
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derungen erschienen später in Yeats’ Poems (1895) und in deren überarbeiteter Fassung (1899). Der gründlich umgestaltete Text erschien zuerst in Yeats’ Early Poems and Stories (SL 1925), die dazugehörigen Anmerkungen, die SL ausdrücklich erwähnen, wurden oben zitiert. Für einen ausführlichen Überblick über die Editionsgeschichte siehe Yeats,19 G. Monteiro 20 und R. Ellmann.21 2.2 Des Dichters »The Sorrow of Love«, dessen Textveränderungen über drei Jahrzehnte hinweg verfolgt werden können, erwies sich als ergiebiges Untersuchungsmaterial. Die vergleichende Wiedergabe von SL 1925 und der ersten Fassung in einem von Yeats’ Bänden, SL 1892, folgt mit allen wesentlichen Textvarianten: The Sorrow of Love (Endgültige Fassung, 1925) I
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III
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The brawling of a sparrow in the eaves, The brilliant moon and all the milky sky, And all that famous harmony of leaves, Had blotted out man’s image and his cry. A girl arose that had red mournful lips And seemed the greatness of the world in tears, Doomed like Odysseus and the labouring ships And proud as Priam murdered with his peers; Arose, and on the instant clamorous eaves, A climbing moon upon an empty sky, And all that lamentation of the leaves, Could but compose man’s image and his cry.
Grundlage für die Aufteilung in späteren Ausgaben der gesammelten Lyrik. Die sorgfältige Anordnung der Gedichte bereits in diesem frühen Band zeugt von Yeats’ Bewußtsein, an einem ›Œuvre‹ zu arbeiten (vgl. Brown, Life, S. 74); dieses Bewußtsein drückte sich auch in der Sorgfalt aus, die für die Gestaltung der frühen LyrikBände aufgewandt wurde: »Both The Countess Kathleen and Poems were exquisitely designed physical objects which advertised their distinctiveness as works of high art and spiritual intention in the mannered Celticism and medievalism of their production.« [›Sowohl The Countess Kathleen als auch Poems [1895] waren auserlesen gestaltete Gegenstände, die ihre Besonderheit als Werke der hohen Kunst und des geistigen Anspruchs im stilisierten ›Keltentum‹ und der Mittelaltermanier der Buchherstellung vor sich hertrugen.‹] (A. a. O., S. 74 f.) Mit dieser Veröffentlichung gelang es Yeats denn auch, sich als einer der wichtigsten Nachwuchsdichter englischer Sprache zu etablieren. [Anm. d. Übs./Komm.] 19 Variorum Edition, S. 119 f. 20 Monteiro, »Unrecorded Variants in Two Yeats Poems«, S. 367 f. 21 Ellman, Richard: The Identity of Yeats, S. 122 und Anm. 317.
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Der Gram der Liebe I Das Gezänk der Spatzen in der Dachtraufe, Der leuchtende Mond und all der milchige Himmel, Und all die berühmte Harmonie der Blätter Hatten das Bild des Menschen und seinen Schrei ausgelöscht. II Ein Mädchen erhob sich, das rote trauervolle Lippen hatte Und die Größe der Welt in Tränen zu sein schien, Verurteilt wie Odysseus und die sich mühenden Schiffe Und stolz wie Priamos, der mit seinen Gefährten Ermordete. III Erhob sich, und in dem Augenblick die lärmende Dachtraufe, Ein steigender Mond auf einem leeren Himmel, Und all die Wehklagen der Blätter Konnten nur zusammensetzen des Menschen Bild und seinen Schrei.
The Sorrow of Lovea (Erste Buchfassung, 1892) I
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II
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III
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a
The quarrelb of the sparrows in the eaves, The full round moon and the star-laden sky, And the loud song of the ever-singing leavesc Had hidd away earth’s old and wearye cry. And And And And
then you came with those red mournful lips, with you came the whole of the world’s tears, all the sorrowsf of her labouring ships all the burdeng of her myriadh years.
And now the sparrows warringi in the eaves, The crumblingj moon, the whitek stars in the sky, And the loud chaunting of the unquiet leaves,l Are shaken with earth’s old and wearye cry.
1892 Ind: the World [›der Welt‹] 1892 Ind: quarreling [›das Streiten‹] c 1892: leaves, [›Blätter,‹] d 1892: hushed [›besänftigt‹] e 1892 Ind: bitter [›bitter‹] f 1891 Ind: sorrow [›Gram‹]; 1895: trouble [›Last‹] g 1895: trouble h 1891: million b
i
1891: angry sparrows [›zornige Spatzen‹]; 1892 Ind: warring sparrows [›kämpfende Spatzen‹] j 1891 und 1892 Ind: withered [›verdorrt‹]; 1895: curd-pale [›quark-bleich‹] k 1892 Ind: pale [›bleich‹] l 1891: The wearisome loud chaunting of the leaves, [›Der ermüdende laute Choral der Blätter,‹]
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Der Gram der Liebe I Der Streit der Spatzen in der Dachtraufe, Der volle runde Mond und der sternenbeladene Himmel. Und das laute Lied der ewig-singenden Blätter Hatten verborgen der Erde alten und müden Schrei. II Und Und Und Und
dann kamst Du mit jenen roten trauervollen Lippen, mit Dir kam das Ganze von der Welt Tränen, alle Leiden ihrer sich mühenden Schiffe alle Last ihrer Myriaden von Jahren.
III Und nun die Spatzen, die sich in der Dachtraufe bekriegen, Der zerbröckelnde Mond, die weißen Sterne im Himmel, Und der laute Choral der unruhigen Blätter Werden erschüttert durch der Erde alten und müden Schrei.
2.3 Tatsächlich bietet das Gedicht zwei zutiefst unterschiedliche Texte, die frühe Fassung von 1892, mit einer Reihe von Varianten vom Manuskript von 1891 bis zu den abschließenden Retuschen von 1895, und andererseits die letzte, grundlegend überarbeitete Fassung von 1925. Die abschließende Überarbeitung war so umfassend, daß das Vokabular der beiden Varianten nur folgende Gemeinsamkeiten aufweist: 1) die Reimworte – in einigen Fällen mit den vorausgehenden Hilfswörtern (I1 in the eaves, 2 and 〈…〉 the 〈…〉 sky, 3 of 〈…〉 leaves, 4 and 〈…〉 cry; III3 of the 〈…〉 leaves, 4 and 〈…〉 cry) und mit der Ausnahme einer Ersetzung (1925: II4 peers für 1892: years) – oder mit ihren Attributen im inneren Quartett (II1 red mournful, 3 labouring); 2) sieben einleitende einsilbige Hilfswörter (fünf and, zwei the, ein had ); 3) ein Substantiv im Innern des zweiten Verses jedes Quartetts (I2 moon, II2 world, III2 moon).
III. Gestaltung 3.0 Das Gedicht besteht aus drei Quartetten, die in ihrer Struktur zwei offenkundige *binäre *Oppositionen aufweisen: Die beiden äußeren Quartette (I und III) zeigen gemeinsame *Merkmale, die sich vom inneren Quartett (II) abheben, während sie sich zugleich in ihrer Binnenstruktur voneinander unterscheiden. 3.1 Sowohl in der frühen wie in der endgültigen Fassung stellt das Gedicht zwei gegensätzliche thematische Ebenen, jeweils eine untere und eine obere, einander gegenüber. Jeder sind sechs Zeilen gewidmet. Der obere Bereich, der als die ›oberirdische‹ Ebene bezeichnet werden kann,
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wird in den ersten drei Zeilen jedes äußeren Quartetts behandelt. Die untere Ebene steht in den vier Versen des inneren Quartetts und im vierten Vers jedes äußeren Quartetts im Brennpunkt. Der letzte Vers dieser beiden Quartette (I4 und III4) bezeichnet seinen Gegenstand als earth [›Erde‹] in der frühen Fassung des Gedichts und als man [›Mensch‹] in der späten Fassung, und demzufolge kann die untere Ebene als ›irdisch‹ in bezug auf SL 1892 und als spezifisch ›menschlich‹ in SL 1925 bezeichnet werden. 3.20 Nur die äußeren Quartette bezeichnen explizit die beiden unterschiedlichen Ebenen und bringen sie in einen Gegensatz. In beiden Fassungen des Gedichts zeichnet das Anfangsquartett das Ergebnis dieses Kampfes als Sieg, und das Schlußquartett – als Niederlage der oberirdischen Ebene. Das Ausmaß dieser Resultate jedoch variiert beträchtlich in den beiden Fassungen des Gedichts. In der frühen Fassung (SL 1892 ) bestehen die beiden rivalisierenden Ebenen nebeneinander weiter, und nur ihre Hierarchie wandelt sich: Am Anfang verdeckt der obere Bereich ›den alten und müden Schrei der Erde‹ (I4 Had hid away earth’s old and weary cry), aber am Ende sind es die Figuren des oberen Bereichs, die ›vom Schrei der Erde erschüttert werden‹ (III4 Are shaken with earth’s 〈…〉 cry). Diese weiterbestehende *Kontiguität der gegensätzlichen Bereiche erwidert die späte Fassung des Gedichts (SL 1925) zunächst mit der Auslöschung der menschlichen Ebene (die oberirdischen Elemente ›hatten das Bild des Menschen und seinen Schrei ausgelöscht‹, I4 Had blotted out man’s image and his cry) und dann, umgekehrt, mit der Auflösung des Oberirdischen in der menschlichen Ebene (die Figuren des oberen Bereichs ›konnten nur das Bild des Menschen und seinen Schrei zusammensetzen‹, III4 Could but compose man’s image and his cry). (In der Ausdrucksweise des französischen Übersetzers Yves Bonnefoy: »Ne purent eˆtre qu’a` l’image de l’homme et son cri d’angoisse« [›Können nur das Bild des Menschen und sein Angstschrei sein‹],22 und in R. Exners deutscher Übersetzung: »Verdichten sich zu Menschenruf und Menschenbild«.23 Wie die Concordance to the Poems of W. B. Yeats angibt, kommt das Verb compose in Yeats Gedichten nur einmal vor: im letzten Vers von SL 1925.24 ) 3.21 Die bloße, in *metonymischen Begriffen beschreibbare Kontiguität, welche die beiden Bereiche der äußeren Quartette in SL 1892 22 Yeats, »Le Chagrin De L’Amour«, übs. v. Yves Bonnefoy, S. 65. [Anm. d. Übs./ Komm.] 23 Yeats, Ausgewählte Gedichte S. 41. [Anm. d. Übs./Komm.] 24 Parrish, A Concordance to the Poems of W. B. Yeats, S. 159.
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charakterisiert, wird in SL 1925 zu einer wechselseitigen Metamorphose zweier *kontrastierenden Gruppen von Gegebenheiten. Der Wechsel von lautlichen und visuellen Erscheinungen, die den oberen Bereich beschreiben, bleibt in beiden Fassungen gültig (der Lärm der Spatzen, der Blick in den Himmel, das Geräusch der Blätter), aber in der frühen Fassung wird er dem bloß hörbaren Aspekt des unteren Bereichs gegenübergestellt, während letzterer in SL 1925 einer ähnlichen Differenzierung (›Bild‹ und ›Schrei‹) folgt, wodurch der untere Bereich in Übereinstimmung mit der zweifachen Natur der oberirdischen Ebene entfaltet wird. 3.3 Im Binnenquartett von SL 1925 wird die Heldin,25 die plötzlich auftaucht (II1 A girl arose), durch eine Kette von Vergleichen (II2 seemed, 25 Die Identifizierung der Heldin als Helena wird im Gedicht selbst erst in der späten Fassung durch die explizite Nennung des Priamos und des Odysseus nahegelegt. Die Ambivalenz der Yeats’schen Heldin, die Schönheit mit Trauer und Zerstörung verbindet, läßt sich mit Homers Schilderung von Helena, die gerade wegen ihrer Schönheit zur Ursache des trojanischen Kriegs wurde, verknüpfen. Das Urteil der belagerten Trojaner, als Helena im III. Gesang der Ilias auf der Stadtmauer erscheint, um für Priamos die kämpfenden griechischen Helden zu identifizieren, schwankt in ähnlich ambivalenter Weise zwischen Bewunderung und Angst: »Tadelt nicht die Troer und die hellumschienten Achaier, / Die um ein solches Weib so lang ausharren im Elend! / Einer unsterblichen Göttin fürwahr gleicht jene von Ansehn! / Dennoch kehr, auch mit solcher Gestalt, sie in Schiffen zur Heimat, / Ehe sie uns und den Söhnen hinfort noch Jammer bereitet!« (Homer, Ilias, übs. v. J. H. Voß, III, S. 156–160.) – Bezugnahmen auf den Trojanischen Krieg und auf Helena im besonderen finden sich in verschiedenen Gedichten von Yeats, etwa in »A Woman Homer Sung« und in »No Second Troy«, dessen Schlußverse Jakobson zum Motto der vorliegenden Gedichtanalyse gewählt hat (beide aus dem Zyklus The Green Helmet and Other Poems von 1910). In beiden Gedichten wird die Helena-Figur (deren Name ungenannt bleibt) zugleich als Unglücksbringerin und Inspirationsquelle des Dichters – oder sogar als in sich selbst gültiges Kunstwerk, das eine größere Realität hat als die Alltagswirklichkeit – beschrieben, so etwa in der Schlußstrophe von »A Woman Homer Sung«: »For she had fiery blood / When I was young, / And trod so sweetly proud / As ’twere upon a cloud, / A woman Homer sung, / That life and letters seem / But an heroic dream.« [›Denn sie hatte feuriges Blut / Als ich jung war / Und schritt so lieblich stolz / Wie auf einer Wolke, / Eine Frau, von der Homer sang / So daß Leben und Dichtung scheinen / Wie ein heldenhafter Traum.‹] (Variorum Edition, S. 255). Vgl. auch »When Helen Lived« (Responsibilities, 1914), sowie »Leda and the Swan« (The Tower, 1928) – in letzterem Gedicht führt der intime Akt der Gewalt, dessen Opfer das ›Mädchen‹ (hier Helenas Mutter Leda) wird, unmittelbar zur größeren Gewalt des Trojanischen Kriegs: »A shudder in the loins engenders there / The broken wall, the burning roof and tower / And Agamemnon dead.« [›Ein Erzittern in den Lenden zeugt dort / Die zerstörte Mauer, das brennende Dach und den Turm / Und Agamemnon tot.‹] (Variorum Edition, S. 441.) [Anm. d. Übs./Komm.]
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3 like, 4 as) mit der tragischen und heroischen menschlichen Welt identifiziert. Das System von *Metaphern,26 das dem Binnenquartett von SL 1925 unterliegt, unterscheidet sich offensichtlich von der launischen metathetischen Konfrontation der beiden soziativen Präpositionen with (II1 And then you came with 〈…〉, 2 And with you came 〈…〉) in SL 1892 und von der Reihe summierender *Totalisierer 27 (II2 the whole of 〈…〉, 3 And all the 〈…〉 of, 4 And all the 〈…〉 of ) in der frühen Fassung. Der erste dieser Totalisierer (II2 the whole of he world’s tears) wurde in SL 1925 in II2 the greatness of the world in tears umgewandelt, was in einem groben semantischen Kontrast zu I2 The brawling of a sparrow in the eaves steht, während zugleich ein ausdrucksvoller formaler *Parallelismus vorgeführt wird, der die unversöhnlichen Abweichungen zwischen den beiden Ebenen noch weiter betont.
3.4 Zum gleichzeitigen Zusammenklang und Mißklang zwischen den Teilen jedes der vollständigen Gedichte fügt Yeats’ Glaubensbekenntnis als Dichter und schöpferischer Visionär eine andere Vereinigung von Beständigkeit und Veränderbarkeit hinzu, nämlich seine Sicht von Entwicklung als »ein zeitliches Bild von dem, was in sich selbst bleibt«, um Hegel 28 anzuführen, wie er von dem Dichter zitiert wird.29 Die beiden 26 Der Gegensatz von Metapher, die sich auf Ähnlichkeitsbeziehungen gründet, und Metonymie, die durch Kontiguität, also ein räumliches Verhältnis, konstituiert wird, spielt eine wesentliche Rolle in Jakobsons linguistischen Arbeiten nach dem Zweiten Weltkrieg; vgl. seinen wegweisenden, 1956 erstmals veröffentlichten Aufsatz »Zwei Seiten der Sprache und zwei Typen aphatischer Störungen«, S. 117–141 (englische Originalversion: »Two Aspects of Language and Two Types of Aphasic Disturbances«, S. 239–259). Jakobsons Verknüpfung der beiden *Tropen Metapher und Metonymie als grundlegende Modelle der Bedeutungserzeugung mit spezifischen Formen von Sprachstörungen wurde über die Linguistik hinaus beachtet; vgl. etwa Jacques Lacans Aufsatz »L’instance de la lettre dans l’inconscient ou la raison depuis Freud«, auf Deutsch: »Das Drängen des Buchstaben im Unbewußten oder die Vernunft seit Freud«, S. 15–55. [Anm. d. Übs./Komm.] 27 Vgl. Jakobsons Anmerkung zur Funktion ›singularisierenden Totalisierer‹ in »Vocabulorum constructio in Dante’s ›Se vedi li occhi miei‹«, S. 182 f.; dt. Übs. in dieser Ausgabe Bd. 1, S. 453. [Anm. d. Übs./Komm.] 28 Nicht (wie angegeben) in Hegels Logik zu finden; ja, nach Auskunft von Walter Jaeschke (Leiter der Hegel-Forschungsstelle der Ruhr-Universität Bochum) bestehen »große Zweifel, ob es sich überhaupt um ein Hegel-Zitat handelt. Es könnte sich eher um den Text eines englischen Hegelianers handeln (und davon gab es Ende des 19. Jahrhunderts ja genug) – aber auch dies scheint mir gar nicht so wahrscheinlich. Mein Eindruck ist eher, daß die Proklos-Problematik von Yeats, A Vision, S. 248, fortgeführt wird. In Hegels Proklos-Darstellung in den philosophiegeschichtlichen Vorlesungen (Jubiläumsausgabe, Bd. 19, S. 77–92) gibt es Passagen,
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Arten von fortwährendem Konflikt zwischen dem Sein und seinem Gegenteil umfassen laut Yeats sowohl ›Koexistenz‹ als auch ›Aufeinanderfolge‹, und im zur Debatte stehenden Fall gilt dies für die dramatische Spannung sowohl zwischen den inneren und äußeren oder Anfangs- und Schlußstrophen innerhalb einer Fassung des Gedichts als auch zwischen seinen beiden verschiedenen Fassungen, deren letztere vom Autor einerseits als ein »vollkommen neues« Gedicht gesehen wird 30 und andererseits als immer noch zugehörig »zu der Zeit, in der es erstmals verfaßt wurde«.31 Wie die einzelnen *Strophen von SL 1892 oder 1925, die ihre *Antithese innerhalb der jeweiligen Fassung finden, stehen diese beiden Fassungen gegenseitig in einem antithetischen Kampf und einer harmonischen Komplementarität. 3.5 In der »Widmung« zu seinen Early Poems and Stories (1925) beschließt Yeats seine Bemerkungen über die neuen Fassungen einiger Gedichte, die »vor seinem siebenundzwanzigsten Jahr« geschrieben wurden, mit der Überzeugung: »Ich habe eine angemessenere Einfachheit gefunden«.32 Kritiker haben, mit seltenen Ausnahmen,33 die Überarbeitung von SL mit Aussagen abgelehnt wie: »die neue Fassung ist in ihrer Gesamtheit unausgereift und unverständlich«; 34 »das Gedicht wurde seines lebendigen Gehalts beraubt«; 35 die früheren Fassungen von SL »waren an sich logischer und unprätentiöser und damit bezaubernder«.36 Es erscheint notwendig, solche unbegründeten polemischen Erwiderungen auf des Dichdie etwas in diese Richtung deuten«. [Anm. d. Übs./Komm.] 29 Yeats, A Vision, S. 249. 30 Yeats, Variorum Edition, S. 842. 31 A. a. O., S. 855. [Anm. v. R.J.] – Der vollständige Kommentar (aus dem Vorwort zu den Selected Poems, 1929) lautet: »I have arranged in chronological order whatever lyrical and narrative poems of mine best please my friends or myself, or best illuminate one another. Though I have often in these last thirty years corrected the earliest, I leave all, even the two in »The Rose« that are almost wholly new, in their original context, for all belong in thought and sentiment to the time when they were first written.« [›Ich habe diejenigen Gedichte chronologisch angeordnet, die meinen Freunden oder mir am besten gefallen oder die sich gegenseitig am besten erhellen. Obwohl ich in den letzten dreißig Jahren die frühesten oft überarbeitet habe, belasse ich alle, sogar die beiden in »The Rose«, die fast völlig neu sind, in ihrem ursprünglichen Kontext, denn alle gehören in Gedanken und Empfinden in die Zeit, in der sie erstmals verfaßt wurden.‹] [Anm. d. Übs./Komm.] 32 Yeats, Variorum Edition, S. 855. 33 Cowell, W. B. Yeats, S. 144. 34 MacNeice, The Poetry of W. B. Yeats, S. 71. 35 Hone, W. B. Yeats, S. 126. 36 Saul, Prolegomena to the Study of Yeats’s Poems, S. 56.
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ters eigene Sicht durch einen detaillierten und objektiven Vergleich von Yeats’ Gedicht in seinen zwei Phasen zu ersetzen.
IV. Grammatik 4.0 Vor dem Hintergrund der offenkundigen grammatischen Symmetrie,37 die den drei Quartetten zugrundeliegt und sie vereint – und diese Symmetrie ist wirklich in SL 1925 am größten –, erhält die bedeutsame Individualität jeder Strophe im dramatischen Aufbau des gesamten Gedichts eine besondere Kraft und Beredsamkeit. Die ganz eigenen und thematisch verwandten Merkmale, die die einzelnen Quartette, ihre Verspaare und einzelnen Zeilen voneinander unterscheiden, werden entweder durch erkennbare Abweichungen von den vorherrschenden morphologischen und syntaktischen Matrizen oder durch das Auffüllen dieser Matrizen mit semantisch abweichenden lexikalischen und *phraseologischen Konstituenten erzielt.38 Robert Frosts von I. A. Richards geschätzte Me37 Zu den verschiedenen Formen von Symmetrie bei Jakobson vgl. Anm. 12 zu seiner Analyse »Lyrische Prophezeiungen Aleksandr Bloks«, übs. u. komm. v. Sebastian Donat, in der vorliegenden Ausgabe Bd. 2, S. 461. [Anm. d. Übs./Komm.] 38 Yeats’ Gedicht zeigt damit eine hohe Komplexität der beiden grundlegenden Operationen von Sprache, Selektion und Kombination, deren bewußter, d. h. autoreflexiver, Einsatz das Besondere der poetischen Funktion im Gegensatz zu den anderen sprachlichen Funktionen ausmacht. Hier sei noch einmal an Jakobsons berühmte Definition des poetischen Verfahrens erinnert: »The selection is produced on the basis of equivalence, similarity and dissimilarity, synonymy and antonymy, while the combination, the build-up of the sequence, is based on contiguity. The poetic function projects the principle of equivalence from the axis of selection into the axis of combination. Equivalence is promoted to the constitutive device of the sequence. In poetry one syllable is equalized with any other syllable of the same sequence; word stress is assumed to equal word stress, as unstress equals unstress; prosodic long is matched with long, and short with short; word boundary equals word boundary, no boundary equals no boundary; syntactic pause equals syntactic pause, no pause equals no pause.« [›Die Selektion findet auf der Grundlage von Äquivalenz, von Similarität und Dissimilarität, Synonymie und Antonymie statt, während die Kombination, die Zusammenfügung zur Sequenz, auf Kontiguität basiert. Die poetische Funktion bildet das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination ab. Die Äquivalenz wird dabei zum konstitutiven Verfahren für die Sequenz erhoben. In der Dichtung wird die eine Silbe irgendeiner zweiten Silbe in derselben Sequenz angeglichen; Wortbetonung gleich Wortbetonung und unbetont gleich unbetont; prosodische Länge paßt zu prosodischer Länge, und die Kürze zur Kürze; Wortgrenze gleich Wortgrenze, keine Grenze gleich keine Grenze; syntaktische Pause gleich syntaktische Pause, keine Pause gleich keine Pause.‹] Jakobson, »Linguistics and Poetics«, S. 27; vgl. die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 170 f. Der folgende mi-
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tapher über die Vorliebe der Dichter, Tennis mit einem Netz zu spielen, gilt nicht nur für *Metrum und *Reim, sondern auch für das grammatische Muster eines Gedichts.39
V. -ing-Formen 1925 5.0 Bevor wir uns dem grundlegenden grammatischen Gegensatzpaar – Substantiv und Verb – zuwenden, wollen wir die morphologische Zwischenform erwähnen, die laut Strang »am besten unverbindlich als -ingForm bezeichnet wird«.40 Solche Formen tauchen in jeder Strophe von SL 1925 einmal auf, wobei sie jedesmal das Motiv der Bewegung in den nominalen Teil der drei Sätze einführen: die erste in substantivischer Funktion, I1 The brawling, und die beiden anderen in adjektivischem Gebrauch, II3 the labouring ships und III2 A climbing moon. nutiöse Textvergleich zeigt anhand der Veränderungen, die Yeats in den verschiedenen Bearbeitungsstufen vorgenommen hat, welche Entscheidungen der Dichter traf, um die Äquivalenz- und Kontrastbeziehungen auf den verschiedenen linguistischen Ebenen zu verstärken. [Anm. d. Übs./Komm.] 39 Der amerikanische Dichter Robert Frost (1874–1963) verglich das Schreiben von Lyrik in freien Versen mit Tennisspielen ohne Netz. Darauf bezieht sich I. A. Richards in dem Aufsatz »Poetry as an Instrument of Research« (S. 220), in dem er mögliche Wege erörtert, die die Dichtung in naher Zukunft einschlagen könnte. Die vollständige Passage lautet: »We are underestimating, all the time, the complexity of the choices behind even our simplest remarks. The poet is, among other things, the adept in such choosing. Rhyme and metre are the invaluable, traditional means (which can still be much developed) of imposing a more exacting search upon the working poet, a search into the possibilities of the language for the situation with which the poem is grappling. Robert Frost much enjoyed telling Carl Sandburg once that, as to free verse, he personally preferred to play tennis with a net. Coming poets, I fancy, may play on smaller courts.« [›Wir unterschätzen ständig die Komplexität der Entscheidungen, die sogar hinter unseren einfachsten Bemerkungen stehen. Der Dichter ist, unter anderem, der Meister solcher Entscheidungsprozesse. Reim und Metrum sind die unschätzbaren traditionellen Mittel (die immer noch viel weiter entwickelt werden können), dem praktizierenden Dichter eine anspruchsvollere Suche aufzuerlegen, eine Suche nach den Möglichkeiten der Sprache für die Situation, mit der der Dichter gerade ringt. Robert Frost fand großes Vergnügen darin, Carl Sandburg zu sagen, daß, was freie Verse betreffe, er persönlich es vorzöge, Tennis mit einem Netz zu spielen. Kommende Dichter, stelle ich mir vor, werden möglicherweise auf kleineren Plätzen spielen.‹] Carl Sandburg war einer der wichtigsten amerikanischen Vertreter des vers libre in der Nachfolge Walt Whitmans. [Anm. d. Übs./Komm.] 40 Strang, Barbara: Modern English Structure, S. 175.
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1891–1892 5.1 Wie SL 1925 enthielt das Manuskript von 1891 eine -ing-Form in jedem Quartett, zwei von den dreien in adjektivischer und eine in substantivischer Funktion (I3 ever-singing, II3 labouring, III3 the 〈…〉 chaunting). Ihr hervorstechendes Muster in SL 1891 war ihre Plazierung im dritten Vers jedes Quartetts. SL 1892 weist eine größere Tendenz zur Dynamik im dritten Quartett auf, in dem man, neben dem bereits erwähnten substantivischen III3 the 〈…〉 chaunting, die beiden Attribute 1 warring und 2 crumbling findet.
VI. Substantive 1925 3
6.0 Das Gedicht enthält 27 (3 ) Substantive, neun (32) in jedem Quartett, von denen drei in jedem Quartett in Verbindung mit einer Präposition auftreten: I 1 (of) sparrow, (in) eaves; 2 moon, sky; 3 harmony, (of) leaves; 4 man’s image, cry. II 1 girl, lips; 2 greatness, (of) world, (in) tears; 3 Odysseus, ships; 4 Priam, (with) peers. III 1 (on) instant, eaves; 2 moon, (upon) sky; 3 lamentation, (of) leaves; 4 man’s image, cry.
6.1 Ein geradzahliger Vers in jedem Quartett hat drei Substantive (I4, II2, III4) und alle anderen Verse zwei Substantive. Diese Regel kann noch genauer bestimmt werden. In den äußeren (ungeraden) Quartetten enthält der gerade Vers des geraden Verspaars eine ungerade Zahl von Substantiven (3), während im inneren (geraden) Quartett diese ungerade Zahl von Substantiven (3) im geraden Vers des ungeraden Verspaars zu finden ist. Jeder andere Vers des Gedichts enthält eine gerade Anzahl von Substantiven (2).41 6.2 Jedes Quartett enthält ein einziges *abstraktes Substantiv, jedes länger als eine Silbe und jedes gefolgt von der gleichen Präposition: I3 harmony (of); II2 greatness (of); III3 lamentation (of). 41 Ergänzend ließe sich anmerken, daß die Substantive in den äußeren Quartetten mit zwei Ausnahmen identisch sind: Lediglich I1 sparrow wird durch III1 instant und I3 harmony durch III3 lamentation ersetzt. Besonders die zweite Ersetzung bildet einen starken semantischen Kontrast, der die Spannung zwischen den beiden äußeren Quartetten bei aller strukturellen Äquivalenz, die durch die identischen Substantive verstärkt wird, deutlich macht. [Anm. d. Übs./Komm.]
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6.3 Das Gedicht enthält sechs personale (menschliche, d. h. dem Wer-Genus zugehörige) Substantive, von denen zwei *Gattungsnamen (II1 girl, 4 peers) und zwei Eigennamen (3 Odysseus, 4 Priam) im inneren Quartett erscheinen, während jedes der äußeren Quartette nur ein personales Substantiv aufweist, das besitzanzeigende man’s in I4 und III4. Von diesen sechs personalen Substantiven gehört nur eines (II1 girl) zum femininen (she-)*Genus, während die anderen fünf dem maskulinen (he-) Genus angehören. 6.40 Nur Substantive fungieren als Reimworte, und der Plural kommt nur in Reimen vor: Acht von den zwölf Reimworten sind Substantive im Plural. Könnte dieser Hang der gereimten Versschlüsse zum Plural nicht vielleicht einen Kontrast zwischen dem Rahmen der Verse und ihrem Inneren unterstreichen? Ist nicht das Versinnere der eigentliche Schauplatz, auf dem die individuellen Schauspieler des Dramas auftreten, wie die ›zankenden Spatzen‹ und der ›glänzende Mond‹, ›ein Mädchen‹ und ›Mensch‹, ›Odysseus‹ und ›Priamos‹? 6.41 Die Unterschiedenheit der Reime wird nicht nur durch ihre grammatischen Besonderheiten betont, sondern auch durch den gleichmäßigen Gebrauch von einsilbigen Wörtern in allen Reimen des Gedichts und durch die allen gemeinsamen vokalischen Eigenschaften: Die Reime des ersten Quartetts, die alle im dritten wiederholt werden, bauen auf dem *Phonem /i/, entweder allein oder als unsilbisches Ende des Diphthongs /ai/, auf, während alle vier Verse des zweiten Quartetts /I/ verwenden, das ungespannte (kurze) Gegenstück des gespannten 42 /i/. 6.42 Die zwei Bestandteile jedes der sechs Reime sind morphologisch homogen, aber syntaktisch heterogen. In jedem Quartett endet ein Vers mit einem grammatischen Subjekt (I2 sky, II3 ships, III1 eaves), einer mit einem *direkten Objekt (I4 cry, II1 lips, III4 cry) und zwei mit präpositionalen Konstruktionen (I1 in the eaves, 3 of leaves; II2 in tears, 4 with his peers; III2 upon an empty sky, 3 of the leaves). 6.43 Der Abwechslungsreichtum im syntaktischen Gebrauch der Reimsubstantive, der in SL 1925 erreicht wird, fehlt in der frühen Fassung, in der zehn der Reimworte zu präpositionalen Konstruktionen gehören. Die einzige Ausnahme in SL 1892 ist der Reim des Subjekts I2 sky mit dem direkten Objekt I4 cry, der grammatisch den auffälligen Gegensatz der oberirdischen und der irdischen Ebene unterstreicht (vgl. 3.2 ff. oben). 42 Das Paar gespannt /ungespannt gehört zu Jakobsons *distinktiven Merkmalen. Gespannte Laute sind durch deutlich abgegrenzte Resonanzbereiche charakterisiert. Auf der artikulatorischen Ebene entspricht das einer stärkeren Zusammenziehung des Ansatzrohres. [Anm. v. I.M.]
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1892 6.5 Die Verteilung der Substantive ist hier weniger symmetrisch als in der endgültigen Fassung. Die Gesamtsumme liegt bei 25 Substantiven in SL 1892, wobei die Anzahl pro Quartett zwischen neun (I) und acht (II und III) schwankt. Ein Vers jedes Quartetts enthält drei Substantive; zwei Verse jeweils zwei Substantive; und ein Vers zwei oder eines. 6.6 Alle drei abstrakten Substantive von SL 1925 sind Neuerungen der endgültigen Fassung; die frühe Fassung entbehrt jeglicher Abstrakta. Es gibt keine eigentlichen personalen Substantive, aber SL 1892 enthält drei Possessivformen, jede in einem geraden Vers eines anderen Quartetts und jedes zu einem Substantiv gehörig, das, in Jespersens Begriffen, »eine gewisse Annäherung an die *Personifizierung« 43 aufweist: II2 the world’s tears und I4, III4 earth’s cry, wobei das letztere bezüglich seiner Stellung mit der Possessivform des eigentlichen personalen Substantivs in SL 1925, I4, III4 man’s, übereinstimmt. (Was die Personalisierung der Possessiva in SL 1892 angeht, vgl. solche Verse in Yeats’ Werk wie »The wandering earth herself 〈…〉« [›Die wandernde Erde selbst 〈…〉‹] 44 oder »before earth took him to her stony care« [›bevor ihn die Erde in ihre steinige Obhut nahm‹].45 Es ist bemerkenswert, daß in beiden Fassungen das Possessivum immer auf die metrische *Senkung fällt (vgl. 17.30 ff.). Die Zunahme an Personalisierung bei den Substantiven von SL 1925 wird ebenfalls durch die Ersetzung des Personalpronomens you in II1–2 von SL 1892 durch das Substantiv II1 girl (vgl. 19.7) bezeugt. 6.7 Die Zahl der Plurale bei den Reimworten bleibt in beiden Fassungen gleich, aber SL 1892 hat zusätzlich vier Substantive im Plural innerhalb des Verses, je eines in den Quartetten I und II und zwei in Quartett III: I1 sparrows; II3 sorrows, III1 sparrows, 2 stars. Alle vier inneren Plurale werden von *Sibilanten eingerahmt, ein /s/ am Anfang und ein /z/ am Ende, und haben einen betonten Vokal, der von einem /r/ gefolgt wird. Somit fehlt in SL 1892 die grammatische Differenzierung zwischen dem Inneren und dem Versende, die in SL 1925 durch die Beschränkung auf Substantive im Plural auf das letztere (vgl. 6.40) erreicht wird. 6.8 Das Wort sorrows in II3 wurde anscheinend in der endgültigen Fassung verworfen, um die Wiederholung von Worten aus dem Titel inner43 Jespersen, The Philosophy of Grammar, S. 237. 44 Yeats, Variorum Edition, S. 65, Vs. 18. 45 A. a. O., S. 126, Vs. 4.
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halb des Texts zu vermeiden; ähnlich wie der vorläufige Titel von SL 1892 Ind, »The Sorrow of the World« [›Der Gram der Welt‹], widerrufen wurde, weil world, nicht love, im Text vorkommt. Die *wortspielartige Gegenüberstellung von II3 sorrows und I1, III1 sparrows wurde in SL 1925 auf den Titel und die Eröffnungszeile begrenzt, in der sparrow 46 die Singularform von Sorrow nachahmt. Dieser Wechsel vom Plural zum Singular, der nicht nur bezüglich der *grammatischen Bedeutung, sondern auch des Klangs (vgl. 16. 2 unten) – I1 The brawling of a sparrow 〈…〉 – wirkungsvoll ist, stieß auf den Einwand des Kritikers Parkinson, dem »brawling nicht ganz richtig [erschien]: kann ein einzelner Spatz zanken?« 47 Vgl. jedoch solche Verwendungen dieses Worts in Yeats’ Dichtung, wie »big brawling lout« [›großer krakeelender Lümmel‹] 48 oder »I took you for a brawling ghost« [›Ich hielt dich für einen zankenden Geist‹].49
VII. Pränominale Attribute 1925 7.0 Die Wortverbindungen, die aus Substantiven und pränominalen 50 Attributen (eigentlichen Adjektiven und -ing-Formen) gebildet werden, zeigen in den drei Quartetten von SL 1925 ein auffallend symmetrisches Muster: VERS: ⎧ I: QUARTETT ⎨ II: ⎩ III:
1.
2. 2
⎪
⎪
2 1
2
3. 1 1
4.
GESAMT: = 3 = 3 = 3 =
9
7.1 Jedes Quartett enthält zwei Verse mit und zwei Verse ohne pränominale Attribute. Im jeweils vierten Vers aller Quartette gibt es gar keine pränominalen Attribute. Von den ersten drei Versen jedes Quartetts enthält ein Vers zwei, ein Vers ein, sowie ein Vers keine pränominalen Attribute. Der dritte Vers enthält nicht mehr als ein pränominales Attribut (I3 famous, II3 labouring, III3 –). Wenn einer der ersten drei Verse keine 46 Emendation statt sparrows; denn in der Eröffnungszeile der Fassung von 1925 heißt es ja gerade »a sparrow«. [Anm. d. Übs./Komm.] 47 Parkinson, W. B. Yeats Self-Critic, S. 168. 48 Yeats, Variorum Edition, S. 301, Vs. 9. 49 A. a. O., S. 304, Variante von Vs. 41. 50 D. h. vor dem Nomen stehend. [Anm. v. I.M.]
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pränominalen Attribute enthält, wird ein benachbarter Vers zwei davon haben: I1 –, 2 brilliant, milky; II1 red, mournful, 2 –; III2 climbing, empty, 3 –. Im Gegensatz zu den äußeren Quartetten mit pränominalen Attributen in benachbarten Versen hat das innere Quartett solche Attribute nur in den ungeraden Versen. Der Vers ohne pränominale Attribute rückt von Quartett zu Quartett weiter vor, so daß seine Verteilung eine abfallende Kurve bildet. Die Verteilung pränominaler Attribute in den ersten drei Versen des letzten Quartetts weist eine *Spiegelsymmetrie zu der des Anfangsquartetts auf (1, 2, – ˘ –, 2, 1).51
1892 7.2 Die frühe Fassung von SL ist fast doppelt so reich an pränominalen Attributen mit einer *epithetischen Funktion (insgesamt 17–18) und hat eine höhere Anzahl solcher Attribute in den äußeren im Vergleich zu den inneren Quartetten: sieben in I (2 full round, 2 star-laden, 3 loud, 3 eversinging, 4 old and weary) und sieben in den beiden frühesten Fassungen von III (1891 und 1892 Ind ), während in SL 1892, auf Grund der Ersetzung des pränominalen Attributs 1891: angry (1892 Ind: warring) sparrows durch III1 sparrows warring, ihre Anzahl auf sechs herabgesetzt ist: 2 crumbling, 2 white, 3 loud, 3 unquiet, 4 old and weary. Andererseits enthält II nur vier pränominale Attribute: 1 red mournful, 3 labouring, 4 myriad. 7.3 Man könnte sagen, daß die in SL 1925 gefundenen Änderungen im Einklang mit Schlagworten stehen, wie Marianne Moores Warnung vor dem Gebrauch von zu vielen Adjektiven und Adverbien, die sich auf die Vorstellung stützt, daß »Lyrik lauter Substantive und Verben« sei.52 Wie Parkinson feststellt, verringert der überarbeitete Text des Gedichts »die Anzahl und sinnliche Referenz der Epitheta«.53 Yeats selbst erkennt eine Tendenz zur Abblätterung [›exfoliation‹] seines Stils an.54 51 Diese Beobachtungen über die Verteilung der vorangestellten Attribute sind zwar zutreffend; würde man jedoch alle Adjektive zählen, ob sie nun attributiv gebraucht werden oder nicht, so würde I4 proud die Zahl der Adjektive, einschließlich attributiver -ing-Formen, im Binnenquartett auf 4 erhöhen. Ohne die -ing-Formen wäre das Verhältnis der Adjektive pro Quartett 3 : 3 : 2. Jakobsons Behauptung, 3 sei die grundlegende operative Größe in der Fassung von 1925, stützt sich somit auch auf eine geschickte Klassifizierung seiner Belege. [Anm. d. Übs./Komm.] 52 New York Times, 22. März 1962, S. 31. [Anm. v. R.J. / S.R.] – Das Zitat konnte nicht überprüft werden. An der angegebenen Stelle befindet sich kein entsprechender Artikel von bzw. kein Interview mit Marianne Moore. [Anm. d. Übs./Komm.] 53 Parkinson, Yeats Self-Critic, S. 172.
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VIII. Nachgestellte Attribute 8.0 SL 1925 enthält nachgestellte (semiprädikative) Attribute nur im zweiten Verspaar des Binnenquartetts (vgl. 15.0). Das dreimalige Vorkommen umfaßt zwei passivische Perfektpartizipien (II3 Doomed, 4 murdered ) und ein Adjektiv (II4 proud ). Das einzige nachgestellte Attribut in SL 1892 (III1 sparrows warring in the eaves) fehlte noch in den beiden frühesten Fassungen (1891, 1892 Ind ).
IX. Pronomina 1925 9.0 Nur drei Pronomina kommen im Gedicht vor. Alle drei sind attributiv, und jedes von ihnen – his, that, all – wird dreimal wiederholt, was eine Gesamtsumme von neun ergibt. His hat die vorletzte Silbe des letzten Verses in jedem Quartett inne und bezieht sich ausdrücklich auf ein maskulines Substantiv: I4 his cry, II4 his peers, III4 his cry (man’s in I4 und III4; Priam in II4). That erscheint in einem ungeraden Vers jedes Quartetts als ein Demonstrativpronomen, das sich, in einer eher überspannten Weise, auf Abstrakta in den äußeren Quartetten bezieht (I3 that 〈…〉 harmony, III3 that lamentation), und als ein Relativpronomen, das sich auf ein feminines Substantiv im inneren Quartett bezieht (II1 a girl 〈…〉 that) – in Übereinstimmung mit der subordinierenden Struktur dieser Strophe (vgl. 14.1). All kommt nur in den äußeren Quartetten vor – zweimal in benachbarten Versen des ersten und einmal im dritten, nämlich in den Verbindungen and all the (I2), And all that (I3, III3) – und bezieht sich auf Singular-Substantive der oberirdischen Ebene, I2 sky, I3 harmony of the leaves, III3 lamentation of the leaves.
1892 9.1 Die äußeren Quartette von SL 1892 sind frei von Pronomina, wohingegen das innere Quartett sieben enthält. In SL 1925 »ließ« Yeats »die Simulation der Anredestruktur fallen«,55 während alle frühen Versionen von SL zweimal im ersten Verspaar vom Personalpronomen you mit Bezug auf den weiblichen Adressaten des Gedichts Gebrauch machen, 54 Yeats, Autobiography, S. 291. 55 Parkinson, Yeats Self-Critic, S. 168.
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und dann im zweiten Verspaar von her in bezug auf die ›Welt‹ (world ), die mit der Adressatin verschmilzt: II1 you came with 〈…〉 2 And with you came the whole of the world’s tears. Alle Verse des inneren Quartetts werden vom she-Genus dominiert, welches in beiden Versen des zweiten Verspaars direkt ausgedrückt wird und auf welches klar im you und world des ersten Verspaars angespielt wird (vgl. 6. 6 oben). In SL 1925 weicht das feminine Pronomen des ersten Verspaars (das relative that von II1) dem maskulinen Pronomen des zweiten Verspaars (II4 his); und die Aufteilung in zwei Zweizeiler mit kontrastierendem Genus wird durch die Verteilung femininer und maskuliner Substantive gestützt (II1 girl und 2 world vs. 3 Odysseus, 4 Priam, peers). Zweimal steht dann wieder das Pronomen all vorn in den benachbarten Versen des zweiten Verspaars im inneren Quartett von SL 1892 (II3,4 And all the 〈…〉), wo es sich auf Substantive der irdischen Ebene bezieht (II3 sorrows, 4 burdens); in SL 1925 findet sich, im Gegenteil, dieses Pronomen in den äußeren Quartetten (I3, II3 And all that 〈…〉), wo es sich auf die oberirdische Ebene bezieht (vgl. 9. 0 oben). Schließlich verstärkt II1 those, im Kontext von you came with those red mournful lips, die odenhafte 56 Art der direkten Ansprache in der frühen Fassung und hebt die Rollen des Anredenden wie der Angeredeten stärker hervor (vgl. 19.7).
X. Adverbien 10.0 Zwei Adverbien, II1 then und III1 now, denen jeweils die verseinleitende Konjunktion And vorangeht, eröffnen die zwei Sätze des zweiten und dritten Quartetts von SL 1892 (man beachte auch eine dritte adverbiale Form im ersten Quartett, welche ein Teil des komplexen Adjektivs I3 And 〈…〉 ever-singing ist). Alle drei verschwinden in SL 1925 (vgl. 18. 71 unten).
XI. Artikel 1925 11.0 Das neunmalige Vorkommen von the in den drei Quartetten stellt eine arithmetische Regression dar: 4 – 3 – 2. In der ersten Hälfte des Gedichts enthalten drei Verse jeweils zwei bestimmte Artikel und drei keinen einzigen, wohingegen die zweite Hälfte drei Verse mit jeweils ei56 Vgl. hierzu die bahnbrechende Untersuchung von Jakobsons formalistischem Mitstreiter Jurij Tynjanov, »Die Ode als oratorisches Genre«. [Anm. d. Übs./Komm.]
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nem bestimmten Artikel und drei ohne einen solchen umfaßt. In jedem Quartett des Gedichts gibt es zwei Verse mit und zwei ohne bestimmten Artikel. 2. 2 the 2 the
1. 2 the
VERS: ⎧ I: QUARTETT ⎨ II: ⎩ III: ⎪
⎪
1 the
3. 1 the 1 the
4.
GESAMT: 4 3 2 =
9
Nur ein Vers pro Quartett, und zwar immer ein anderer Vers, enthält sowohl den bestimmten Artikel und pränominale Attribute: I2, II3, III1. Jedes Quartett hat einen Vers mit dem unbestimmten Artikel a und / oder an, was mit der regelmäßigen Verteilung von Versen mit bestimmten Artikeln (2 Verse pro Quartett) verglichen werden kann. Der letzte Vers jedes Quartetts ist vollkommen frei von Artikeln. 11.1 Die Verteilung von Artikeln beschränkt sich auf die beiden ersten Verse des ersten Quartetts und bildet ein Rechteck. Im zweiten und dritten Quartett erstrecken sich die Artikel jeweils über die ersten drei Zeilen und bilden die Figur eines schiefwinkligen Vierecks: 57
I:
The The
II:
A the
III:
The A
a
the the
the the an the 1892
57 Man fragt sich, was dieser Befund zu bedeuten hat. Auch wenn sich bei den bestimmten Artikeln allein eine Degression 4 : 3 : 2 und damit bei gutem Willen ein Muster feststellen läßt, so scheint das Verhältnis der Artikel insgesamt (5 : 4 : 4) keine größeren Schlußfolgerungen über die Struktur des Gedichts und das Verhältnis der einzelnen Strophen zuzulassen. Ein ›Muster‹ wird durch das Darüberprojizieren von geometrischen Formen nahegelegt; diese Suggestion erscheint mir jedoch nicht völlig überzeugend. [Anm. d. Übs./Komm.]
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1892 11.2 Von den Artikeln fehlt a völlig in SL 1892, wohingegen die Verteilung der bestimmten Artikel – 18 im gesamten Gedicht: sieben in jedem der äußeren Quartette und vier im inneren – auffallend dem identischen Muster pränominaler Attribute in den beiden frühesten Fassungen des Gedichts entspricht (vgl. 7. 2 oben). Schließlich ist zu beachten, daß in jedem Quartett von SL 1892 nur in einem Vers der bestimmte Artikel fehlt: im letzten Vers der äußeren Quartette und im ersten Vers des inneren Quartetts.
XII. *Konnektive 1925 12.0 Das Gedicht enthält zwei gleichsetzende Konjunktionen, die sich beide auf das Binnenquartett beschränken (II3 like, 4 as), gegenüber neun *kopulativen Konjunktionen, drei Fällen von and in jedem Quartett. Die andere Klasse von Konnektiven, nämlich die Präpositionen (die hier of, in, with, on und upon umfassen), beläuft sich wie die kopulativen Konjunktionen auf neun in toto, drei pro Quartett. Die beiden letzteren Klassen von Konnektiven zusammengenommen lassen sich neunmal in jeder Hälfte des Gedichts nachweisen (I1 – II2 und II3 – III4). 12.1 Die Verteilung dieser zwei Kategorien (kopulative Konjunktionen und Präpositionen) bildet einen identischen *Chiasmus in den beiden Verspaaren jedes Quartetts: ERSTES VERSPAAR: ZWEITES VERSPAAR: QUARTETT:
KONJ. 1 2 3
+ Chiasmus
PRÄP. 2 1
= = =
GESAMT 3 3
3
=
6
So zeigt im Übergang vom ersten zum zweiten Verspaar jedes Quartett die gleiche Bewegung von der durch Präpositionen ausgeübten Rektion zur grammatischen Kongruenz, die durch die kopulative Konjunktion and getragen wird. Diese Regel des Übergangs von der Überlagerung zur Gruppierung könnte der stetigen Abwesenheit von maskulinen personalen Substantiven im ersten Verspaar aller drei Quartette und der Anwesenheit solcher Substantive im letzten Verspaar jedes Quartetts gegenübergestellt werden (vgl. 6.3).
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1892 Anders als SL 1925 fehlt es der frühen Fassung an jeglichen vergleichenden Konjunktionen (vgl. 3. 3 oben). Was die kopulativen Konjunktionen und die Präpositionen angeht, stimmt deren Verteilung in den beiden Verspaaren des ersten Quartetts mit der von SL 1925 überein. Die Tendenz zu einer höheren Zahl von Präpositionen im ersten Verspaar, im Gegensatz zum zweiten, läßt sich auch in den beiden anderen Quartetten von SL 1892 beobachten, aber die Verteilung ist weniger gleichmäßig als in SL 1925, wo das im ersten Quartett eingeführte Muster für das ganze Gedicht beibehalten wird. Somit zeigt die Verteilung nach Verspaaren als Ganzes gesehen in SL 1892 das folgende Muster:
ERSTE VERSPAARE: ZWEITE VERSPAARE: QUARTETTE:
+
KONJ. 4 6 10
PRÄP. 7 5 12
= = =
GESAMT 11 11
=
22
Mit anderen Worten, die Gesamtzahl aller Konnektive ist durch die erste Fassung des Gedichts hindurch die gleiche für die ungeraden und geraden Verspaare. Diese Gleichheit wird in SL 1925 durch die gleiche Anzahl kopulativer Konjunktionen und Präpositionen im Gedicht als Ganzem wie in jedem einzelnen seiner Quartette und durch die Gesamtzahl solcher Formen in jedem Verspaar des gesamten Texts noch verstärkt (vgl. 12. 1 oben).
XIII. Finite Verben 1925 13.0 In der ersten Hälfte des Gedichts werden drei Verse ohne finite Verben (I1–3) von drei Versen gefolgt, die jeder eines oder mehrere finite Verben enthalten (I4 – II2); in der zweiten Hälfte des Gedichts enthält der letzte Vers jeder dreizeiligen Gruppe (II3 – III1, III2–4) ein finites Verb. 13.1 Die Zahl der finiten Verben ist auf sechs Aktiv-Formen begrenzt, die sich auf die dritte *Person beziehen. Drei dieser Formen (1 + 2) erscheinen in den äußeren Quartetten und drei im ersten Verspaar des Binnenquartetts. Das Verhältnis von Verben zu Substantiven ist 1: 3 im inneren und 1: 8 in den beiden äußeren Quartetten.
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13.2 Alle drei semantischen Typen von Verben, die von Jespersen 58 umrissen werden – *Tätigkeitsverben, Vorgangsverben und *Zustandsverben –, treten, jeder zweimal, unter den sechs finiten Formen von SL 1925 auf. Die Tätigkeitsverben sind durch zwei zusammengesetzte Formen vertreten, die jeweils an den ersten Halbvers des letzten Verses beider äußeren Quartette (I4 Had blotted out, III4 Could but compose) gebunden sind. Die Zustandsverben sind auf das erste Verspaar des inneren Quartetts beschränkt (II1 had, 2 And seemed ). Das wiederholte Vorgangsverb tritt im Anfangshalbvers des Binnen- und des Schlußquartetts auf (II1 arose, III1 Arose). In SL 1925 bestehen die Handlungsverben in ihrer zusammengesetzten Form aus vier Silben, die Tätigkeitsverben aus zwei, die Zustandsverben aus nur einer Silbe. 13.3 Die finiten Verben der drei Quartette zeigen ein durchgehendes Wechselspiel. Die einleitenden und abschließenden Prädikate des Gedichts (I4 Had blotted out, III4 Could but compose), seine einzigen zusammengesetzten Verbformen und seine einzigen Tätigkeitsverben, werden dramatisch gegeneinander ausgespielt. Das Hilfsverb (I4 Had 〈…〉) weicht offenkundig dem unabhängigen Auftreten des gleichen Verbs (II1 had 〈…〉 lips), welches sich dann mit dem einzigen anderen Zustandsverb, II2 And seemed 〈…〉, paart. Das einzige Vorgangsverb, arose, das den ganzen Satz des Binnenquartetts anführt (II1 A girl arose), wird wiederholt, um das dritte Quartett einzuleiten (III1 Arose, and 〈…〉), und schließlich bildet es einen *Binnenreim mit dem letzten Verb des Gedichts, III4 〈…〉 compose.59
1892 13.4 SL 1925 enthält eine hohe Zahl von finiten Verben und zeigt zugleich eine größere grammatische Einheitlichkeit in ihrem Gebrauch als die erste Fassung. Das Verbrepertoire in SL 1892 ist auf vier finite Verben beschränkt, zwei im ersten Verspaar des Binnenquartetts und zwei in den letzten Versen der äußeren Quartette. Das Verhältnis von Verben zu Substantiven ist hier 1: 4 im Binnenquartett und 1: 8 in den äußeren Quartetten. Das Binnenquartett verwendet zweimal das gleiche Präteritum, came, zunächst in bezug auf die zweite Person (II1 you came with 〈…〉) 58 Jespersen, Philosophy, S. 86. 59 Es ließe sich noch ergänzen, daß sich II1 arose und III4 compose jeweils an der gleichen Stelle im Versgefüge befinden, nämlich jeweils das dritte Wort im Vers sind. Dadurch werden das zweite und dritte Quartett gleichsam ›umschlungen‹ und miteinander verklammert – ein Eindruck, der noch durch den Binnenreim III1 Arose verstärkt wird. [Anm. d. Übs./Komm.]
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und dann in bezug auf die dritte Person (II2 with you came the whole 〈…〉). Die zusammengesetzten finiten Formen der äußeren Quartette, die einzigen Tätigkeitsverben, unterscheiden sich in *Tempus und *Diathese (I4 Had hid away, III4 Are shaken). 13.5 Im Gegensatz zu SL 1925 fehlt es der frühen Fassung an Zustandsverben. Die Tätigkeitsverben in den beiden Fassungen sind an den letzten Vers der äußeren Quartette gebunden, während das erste Verspaar des inneren Quartetts die Vorgangsverben in SL 1892 und die Zustandsverben in SL 1925 enthält. Das Vorgangsverb kommt zweimal sowohl in der frühen wie in der endgültigen Fassung vor, aber in der ersteren bezieht es sich auf unterschiedliche Personen (jeweils die zweite und dritte) und in der letzteren kann es als echte Wiederholung gewertet werden (da es sich in beiden Fällen auf II1 A girl bezieht). In SL 1925 gehört dieses Vorgangsverb zum Anfangshalbvers des inneren und des letzten Quartetts, während es in SL 1892 an den Anfangshalbvers des ersten und des zweiten Verses des Binnenquartetts gebunden ist. 13.6 Trotz dieser Variationen folgen die verschiedenen semantischen Verbtypen in beiden Fassungen der gleichen Spiegelsymmetrie: Tätigkeit Vorgang Zustand Zustand Vorgang Tätigkeit
1925 Had blotted out arose had seemed Arose Could but compose
1892 Had hid away came
came Are shaken
XIV. Koordination und Subordination von Teilsätzen 1925 14.0 Der wesentliche Unterschied zwischen dem Binnenquartett und den beiden äußeren Quartetten liegt in ihrer unterschiedlichen syntaktischen Organisation. Das erste und dritte Quartett sind auf einer Koordination der vier elliptischen Sätze aufgebaut: I a) 1 The brawling 〈…〉 〈Had blotted out 〈…〉〉; b) 2 The brilliant moon 〈Had blotted out 〈…〉〉; c) 2 and all the milky sky 〈Had blotted out 〈…〉〉; d) 3 And 〈…〉 that harmony 〈…〉 4 Had blotted out man’s image and his cry; III a) 〈a girl〉 1 Arose; b) 1 and 〈…〉 eaves 〈Could but compose 〈…〉〉; c) 2 A 〈…〉 moon 〈…〉 〈Could but compose 〈…〉〉; d) 3 And 〈…〉 that lamentation 〈…〉 4 Could but compose man’s image and his cry.
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14.1 In der Binnenstrophe ist im Gegensatz dazu die syntaktische Einteilung in vier Teile auf grammatische Subordination gegründet: II a) 1 A girl arose; b) 1 that had 〈…〉 2 And seemed 〈…〉; c) 3 Doomed 〈…〉 4 And proud 〈…〉; d) 4 murdered 〈…〉 (vgl. 15.0). Jeder der zwei inneren Teile dieses Quartetts – b) und c) – ist wiederum in zwei koordinierte Abschnitte geteilt, die jeweils beide durch die Konjunktion and miteinander verbunden sind.
1892 14.2 Jedes der äußeren Quartette bildet einen Satz von vier koordinierten Subjekten, die elliptisch mit ein und demselben Prädikat verbunden sind: I a) 1 The quarrel 〈…〉 〈Had hid away 〈…〉〉; b) 2 The 〈…〉 moon 〈Had hid away 〈…〉〉; c) 2 and 〈…〉 the sky 〈Had hid away 〈…〉〉; d) 2 And the 〈…〉 song 〈…〉 4 Had hid away earth’s old and weary cry; III a) 1 And now the sparrows 〈…〉; b) 2 The 〈…〉 moon 〈…〉; c) 2 the 〈…〉 stars 〈…〉; d) 3 And the 〈…〉 chaunting 〈…〉 4 Are shaken with earth’s old and weary cry. Im Gegensatz zu SL 1925 bildet das Binnenquartett in der frühen Fassung auch einen koordinierten Satz, der aus einem vollständigen Vordersatz besteht – a) II1 And then you came 〈…〉 – gefolgt von einer elliptischen Kombination eines Prädikats mit drei folgenden Subjekten – b) 2 And with you came the whole 〈…〉; c) 3 And 〈with you came〉 all the sorrows 〈…〉; d) 4 And 〈with you came〉 all the burden 〈…〉. 14.3 Somit bleibt in SL 1892 Koordination das Bauprinzip innerhalb jedes der drei Quartette, während SL 1925 die äußeren, koordinierten Quartette dem inneren Quartett gegenüberstellt, das auf dem Prinzip der Subordination errichtet ist (vgl. 19.5).
XV. Prädikation 1925 15.0 In den äußeren Quartetten sowohl der frühen wie der endgültigen Fassung haben alle Nominalsubjekte der ersten drei Verse ihr Prädikat im vierten Vers abzuwarten. Im Binnenquartett von SL 1925 nimmt der Hauptsatz – II1 A girl arose – den Anfangshalbvers des ersten Verses ein, aber den Rest des ersten Verspaars haben zwei parallel subordinierte Sätze inne, deren unterschiedliche Prädikate sich auf das gleiche vorhergehende Subjekt beziehen; wohingegen in den äußeren Quartetten unterschiedli-
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che koordinierte Subjekte sich auf ein und dasselbe abschließende Prädikat beziehen. Im zweiten Verspaar dieses Binnenquartetts beginnen die zwei Verse mit Halb-Prädikaten von kontrahierten parallelen Nebensätzen (II3 Doomed – 4 And proud) die einem vorangehenden Bezugselement untergeordnet sind und im abschließenden Halbvers von einem Partizipialsatz niedrigeren syntaktischen Rangs gefolgt werden (II4 murdered with his peers).
1892 15.1 Der grundlegende Strukturunterschied zwischen dem Binnenquartett von SL 1892 und seinen äußeren Quartetten besteht in der progressiven Richtung der letzteren im Gegensatz zur regressiven Ausrichtung des ersteren.60 Obwohl das Binnenquartett wie die äußeren Quartette durch koordinierte Subjekte mit einem gemeinsamen Prädikat gebildet wird, gibt es einen wesentlichen Unterschied in der Reihenfolge der Elemente: In den äußeren Quartetten wird das Prädikat dem Subjekt nachgestellt, während es im inneren Quartett davor erscheint (II2 〈…〉 came the whole 〈…〉 3 And all the sorrows 〈…〉 4 And all the burden). In den Worten von A Vision, »wirbeln diese Gegensatzpaare 〈Subjekt und Prädikat〉 in gegensätzliche Richtungen«.61 Das gleiche kann über das Unterscheidungskriterium für den Gegensatz von innerem vs. äußere Quartette in SL 1925, d. h. das Prinzip der Subordination im Gegensatz zum Prinzip der Koordination (vgl. 14. 3 oben), gesagt werden. 15.2 Jede dieser beiden Fassungen von SL enthält eine Abweichung vom Gegensatz zwischen dem innerem und den äußeren Quartetten, der durch den Ausdruck von Subjekt und Prädikat hergestellt wird. In SL 1892 ist der erste Satz des Binnenquartetts der einzige in der Strophe, der das Prädikat dem Subjekt nachstellt (II1 And then you came 〈…〉). In SL 1925 ist der elliptische Anfangssatz des dritten Quartetts, III1 Arose, der sich auf das Subjekt II1 A girl bezieht, der einzige unter den elliptischen Sätzen der Strophe, der das Subjekt anstelle des Prädikats ausläßt. Es ist bezeichnend, daß in beiden Fassungen von SL die Abweichung in bezug auf das einzige Verb geschieht, das zweimal wiederholt wird und das das Erscheinen der Heldin ankündigt. 60 Zu diesen Begriffen vgl. Halliday, »Class in Relation to the Axes of Chain and Choice in Language«, S. 5–15; und Yngve, »The Depth Hypothesis«, S. 130–138. 61 Yeats, A Vision, S. 74.
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XVI. Laute 16.0 Yeats’ Meditation von 1900 zufolge »erwecken alle Klänge, alle Farben, alle Formen entweder durch die ihnen innewohnenden Energien oder auf Grund langer Assoziierung unfaßbare und doch genaue Empfindungen oder, wie es mir als Gedanke näher liegt, rufen bestimmte körperlose Kräfte zu uns herab, deren Schritte über unsere Herzen wir Empfindungen nennen«.62 16.1 Die phonologische Assoziation, die in der frühen Version von SL zwischen dem Titel des Gedichts und der Laut-Bildlichkeit des ersten Quartetts aufgebaut wird, wird in SL 1925 beibehalten: Sorrow – I1 sparrow, und Love – I3 leaves. Innerhalb der zwölf Verse des Gedichts erzeugt das Zusammenspiel von lautlich verbundenen Wörtern eine Verwandtschaft und einen Kontrast entweder zwischen den Bestandteilen desselben Verses oder zwischen verschiedenen Versen innerhalb desselben Quartetts und sogar innerhalb desselben Verspaars oder umgekehrt zwischen den einander entsprechenden Versen zweier unterschiedlicher Quartette. Das Auftreten ausdrucksvoller Konsonantencluster durch den Gebrauch engverknüpfter Wortgruppen und vokalischer Synkopen 63 unterstützt und erweitert die Anwendung dieses poetischen Verfahrens.64 16.2 Neben anderen Gründen für die Textänderungen in der endgültigen Fassung der äußeren Quartette (vgl. 19. 10 unten) spielt die *paronomastische Verbindung eine große Rolle, die in diesen beiden Strophen zwischen dem hörbaren Geschehen, das jeweils in ihrem ersten Vers berichtet wird, und den sichtbaren Erscheinungen, auf die in ihren zweiten Versen verwiesen wird, hergestellt wird. Überdies verbindet vor allem im ersten Quartett eine deutliche *Alliteration diese zwei Vokabeln des ersten Verspaars, die jeweils auf das Hören und das Sehen ausgerichtet sind, mit dem Prädikat des vierten Verses: I1 brawling /br.l/ – 2 brilliant /br.l/ – 62 »All sounds, all colours, all forms, either because of their preordained energies or because of long association, evoke indefinable and yet precise emotions, or, as I prefer to think, call down among us certain disembodied powers, whose footsteps over our hearts we call emotions […].« (Yeats, »The Symbolism of Poetry«, S. 156 f. [Anm. v. R.J. / S.R.]) – Dt. Übs.: »Der dichterische Symbolismus«, S. 151. [Anm. d. Übs./Komm.] 63 Von griech. synkope¯ ›das Zusammenstoßen‹, ›Ausstoßen‹: »Vorgang und Ergebnis des Wegfalls eines unbetonten Vokals im Wortinneren«, vgl. Bußmann [Hg.], Lexikon der Sprachwissenschaft, S. 673. [Anm. d. Übs./Komm.] 64 I. O. device – engl. Entsprechung für russ. prie¨m ›Kunstgriff, Verfahren‹: Schlüsselbegriff der Literaturtheorie des Russischen Formalismus. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Had blotted /bl/, und III1 clamorous /kl.m/ – 2 climbing /kl.m/ – 2 empty /mp/ – 3 lamentation /l.m/ – 4 Could but compose /k.mp/. Das Verbindungs-Cluster /db/ ist beiden abschließenden Prädikaten der äußeren Quartette gemeinsam (I4 had blotted out – III4 Could but). Man beachte auch die ähnliche Verbindung /tk/ von III1 instant clamorous – III4 but compose. Es ist erwähnenswert, daß keines der zitierten Wörter in der frühen Fassung vorkam. 4
16.3 Moon, das bedeutsame Wortbild, das in allen Varianten von SL den zweiten Vers der zwei äußeren Strophen eröffnet (vgl. 19. 21 unten), findet keine weitere Unterstützung für sein Anfangs-/m/ durch das ganze erste Quartett der frühen Fassung hindurch, und das einzige ergänzende Beispiel von /m/ im dritten Quartett – III2 crumbling moon von SL 1892 – wird in allen Ausgaben ab 1895 durch das nasal-freie Epitheton curd-pale ersetzt. Aber die letztere Form bewahrt das /k/, /r/, /l/ ihres Vorgängers (der sogar Einfluß ausgeübt haben muß auf die Lautgestalt und das Suffix des entsprechenden Attributs climbing in SL 1925). Die chromatische und paronomastische Korrespondenz zu III2 The curd-pale /rd…l/ oder crumbling /r.m.l/ moon war eingeschlossen in II1 red mournful /r.dm…l/ lips des Binnenquartetts mit drei weiteren verstärkenden Vorkommen von /m/: II1,2 came und 4 myriad (vgl. 16. 8 und 19.30). Es war die zentrale Neuerung von SL 1925 in den äußeren Quartetten, daß 2 moon 65 in dem anderen geraden Vers der gleichen Strophen mit seinem vokalischen, grammatischen (he-Genus) und semantischen Gegenstück – I4 und III4 man’s (vgl. 19.11) – versehen wurde. 16.4 In den äußeren Quartetten von SL 1925 bauen die Abstrakta des dritten, dazwischenliegenden Verses – I3 harmony /m.n/ und III3 lamentation /m.n/ – eine paranomastische Brücke zwischen I, III2 moon und 4 man’s; zur gleichen Zeit intensivieren sie das antithethische Verhältnis zwischen der inneren und den äußeren Strophen, während in SL 1892 die abschließenden Verspaare der äußeren Quartette wiederholt I3 the loud /l.d/ song (oder III3 chaunting) of the 〈…〉 leaves mit I4 und III4 earth’s old /.ld/ and weary cry konfrontieren. 16.5 In SL 1925 besitzen die geraden Verse der äußeren Quartette, im Gegensatz zu den ungeraden Versen, eine eindeutige *männliche *Zäsur nach der zweiten *Hebung des *jambischen Fünfhebers. In den äußeren Quartetten endet der erste Halbvers der zweiten Zeile mit moon, und der zweite Halbvers in der vierten Zeile beginnt mit man’s. Das Anfangs-/m/ 65 Gemeint ist: I2 und III2 moon. [Anm. d. Übs./Komm.]
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der zwei Gegenstücke wird von der phonemischen Umgebung symmetrisch verstärkt. Im Gegensatz zum einzigen Paar von dunklen (*labialen) *Nasalen in SL 1895 und den nachfolgenden Ausgaben vor 1925 (I2 und III2 moon) zählen die äußeren Quartette von SL 1925 vierzehn Beispiele dieses Phonems: Innerhalb des Anfangsquartetts erscheint /m/ zweimal in jedem geraden Vers und in dem dazwischenliegenden Vers (I2 moon 〈…〉 milky sky, 4 man’s image, 3 famous harmony); das Schlußquartett hat ein /m/ in jedem ungeraden Vers und drei in jedem geraden Vers (III1 clamorous, 2 climbing moon 〈…〉 empty sky, 3 lamentation, 4 compose man’s image). Die doppelte Kette der /m.n/-Erwiderungen ist besonders wirkungsvoll: I moon – harmony – man’s; III moon – lamentation – man’s. Es ist auch bezeichnend, daß das Schlußbild des einsamen Mondwanderers die größte Anhäufung von Nasalen enthält: III2 A climbing moon upon an empty sky (mit sieben Nasalen: drei labialen, drei *dentalen und einem *velaren). 16.6 Im einleitenden Vergleich des Binnenquartetts zeigen die Laute des *›Tenors‹, II1 girl /g.rl/, eine zweifache Bindung an das *›Vehikel‹,66 II2 greatness /gr/ of the world /rl/. In diesem Zusammenhang ist es erwähnenswert, daß Marjorie Perloff zu Recht auf die ›gerollten rs‹ in den aufgezeichneten Lesungen seiner eigenen Texte durch den Dichter hinwies; 67 die Vokale mit r-Färbung schließen im Englischen ein postvokalisches /r/ in Yeats’ Lautmuster ein, so daß der Vokal in girl und world hier wirklich von einem Paar *liquider Phoneme /rl/ gefolgt wird. Die sieben Fälle eines tautosyllabischen 68 /r/ trennen deutlich das Binnenquartett von SL 1925 von den äußeren Quartetten, wo /r/, mit einer Ausnahme (I3 harmony), in der Regel eine prävokalische Stellung einnimmt. 16.7 Das einzige innere Substantiv, das beiden Fassungen der zweiten Strophe gemeinsam ist – II2 world – wird in beiden mit einem Antezedens ausgestattet, das in seinem *Sonoranten-Cluster /rl/ analog ist: In SL 1925 wird der vorhergehende Vers des gleichen Quartetts mit dem Substantiv II1 girl eröffnet, während in SL 1892 die entsprechende Verszeile des Anfangsquartetts zwei komplexe Epitheta aufweist, jedes mit einem 66 In der auf I. A. Richards zurückgehenden Metapherntheorie bezeichnet das ›Vehikel‹ die wörtliche Bedeutung der Metapher, der ›Tenor‹ dagegen die übertragene Bedeutung. Vgl. Richards, Philosophy of Rhetoric, S. 98–100; dt. Übs.: Richards, »Die Metapher«, S. 36 f. [Anm. d. Übs./Komm.] 67 Perloff, Rhyme and Meaning in the Poetry of Yeats, S. 29. 68 Von griech. to` auto´ ›dasselbe‹: »Zu ein und derselben Silbe gehörig« (Bußmann [Hg.], Lexikon der Sprachwissenschaft, S. 680). [Anm. d. Übs./Komm.]
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Cluster dieser Liquide – I2 full round /lr/ 〈…〉 star-laden /rl/ – mit einem Echo im /rl/ von II3 her lab(ou)ring 〈…〉. 16.8 Im Binnenquartett von SL 1925 sind zwei subordinierte Konstruktionen – die erste und letzte nicht nur in dieser Strophe, sondern im Gedicht als Ganzem – durch ihre melancholische Stimmung miteinander verbunden und bilden eine komplexe Paronomasie: II1 had red mournful 〈…〉 – 4 murdered /dr.dm.r – m.rd.rd/. Es ist merkwürdig, daß Parkinson das letztere »wichtige Wort« als prosaisch, ungeordnet, und »nicht fähig, am alliterativen Muster teilzunehmen« 69 herabsetzte: II4 proud /pr/ – Priam /pr/ – peers /p.r/.70 Ein alliteratives Muster beschließt jedes äußere Quartett in SL 1892 (I3 harmony – 4 Had – 4 his, III4 Could – compose – cry), zusammen mit einem dreifachen vokalischen ›Anlaut‹ 71; I4 away earth’s old und III4 Are shaken with earth’s old 〈…〉. Außerdem kann man beobachten, daß, obwohl es nicht an der Alliteration der anlautenden Konsonanten teilnimmt, II4 murdered in SL 1925 dennoch mit den Worten des vorangehenden Halbverses verbunden ist: proud /pr.d/ – /rd.rd/ und Priam /pr.m/ – /m.r/. Die zwei Randverse des inneren Quartetts inspirierten Yeats von SL 1892 an, eine paronomastische Verbindung in ihren düsteren Bildern zu suchen: II1 mournful /m.r/ lips – 4 myriad /m.r/ years. In SL 1925 werden beide Verse in ihrer Lautform offenkundig von der Bildlichkeit der umgebenden Verspaare eingerahmt: I3 harmony of leaves /rm.n…l/ – II1 red mournful lips /r.dm.rn..l/ – II4 murdered /m.rd.rd/ – III1 clam(o)rous eaves /l.m.r/. 16.9 Die einzigen Epitheta, die in SL 1925 aus der frühen Fassung des Gedichts beibehalten wurden, sind diejenigen, die an die Reimwörter der ungeraden Verse im Binnenquartett gebunden sind: II1 red mournful lips und 3 lab(ou)ring ships. Das letztere Attribut teilt seine Laute /l.br/ mit II4 burden /b.r/ aus SL 1892 und II3,4 trouble /r.b.l/ aus SL 1895. In SL 1925 zerbirst die innere Antithese (a sparrow – the world ) der äußerlich ähnlichen Verse I1 und II2 (the 〈…〉 of 〈…〉 in 〈…〉; vgl. 3. 3 oben) in den größtmöglichen semantischen Gegensatz zwischen dem Zwitschern eines einzigen kleinen Vogels und dem schweren Schaukeln von Odysseus’ Schiffen: I1 brawling – II3 lab(ou)ring, verbunden durch das gemeinsame Suffix -ing und durch ihre identischen, aber unterschiedlich angeordneten 69 Parkinson, Yeats Self-Critic, S. 169. 70 Im unmittelbaren Kontext, d. h. unter den alliterativen Wörtern proud, Priam und peers, fällt murdered, das einzige (orthographisch) dreisilbige Wort des Verses, allerdings wirklich aus dem Rahmen. [Anm. d. Übs./Komm.] 71 Im Original deutsch. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Wurzelkonsonanten /br.l/ – /l.br/. Die gleichen Verse dieser beiden Quartette waren in SL 1892 durch die wortspielartige Paranomasie I1 of the sparrows – II3 the sorrows of verbunden (vgl. 6.8).
XVII. Versmuster 17.0 Eine detaillierte strukturale Analyse des männlichen jambischen Fünfhebers, in dem SL geschrieben ist, würde offensichtlich eine sorgfältige Untersuchung der Produktion des Dichters und seiner Zeitgenossen in diesem und verwandten Metren erfordern. Mit Ausnahme einiger vorläufiger Aufrisse von Dougherty und Bailey 72 hat eine systematische, linguistisch gestützte Erforschung der modernen englischen Verskunst kaum begonnen 73 – verglichen mit mindestens sechs Jahrzehnten slavistischer, insbesondere russistischer Untersuchungen im Bereich der Metrik, mit ihren historisch wie methodologisch fruchtbaren Ergebnissen in solchen Fragen wie der *rhythmischen Bedeutung von *Wortgrenzen und von höheren syntaktischen Einheiten unterschiedlicher Ebenen. 17.1 Für das Hauptthema unserer Studie – die umfassende Untersuchung der grundlegenden Oppositionen, die einerseits die Beziehung zwischen den verschiedenen Teilen des Gedichts in jeder Fassung und andererseits die zwischen SL 1892 und SL 1925 bestimmen – liegt der erhellendste Aspekt der Verse im unterschiedlichen Muster der beiden grundlegenden prosodischen Worttypen, die die Hebungen des binären Metrums erfüllen. Diese beiden Typen wurden sowohl in der russischen Tradition metrischer Studien als auch in den neuesten Beiträgen zur englischen Verskunst deutlich unterschieden. So hebt P. Kiparsky einerseits »Angehörige lexikalischer Kategorien – Substantive (einschließlich Teilen von Komposita), Adjektive, Verben und Adverbien« und andererseits »Angehörige nicht-lexikalischer Kategorien (wie sein, der, und, mit)«, die in der Wortfügung zusammen mit den lexikalischen Gliedern stehen, heraus.74 (Die russische Tradition benennt diese zwei Klassen von Einheiten als ›lexikalisch‹ beziehungsweise ›formal‹.75 ) In SL 1925 beispiels72 Dougherty, A Study of Rhythmic Structure in the Verse of William Butler Yeats; Bailey, »Linguistic Givens and Their Metrical Realization in a Poem by Yeats«. 73 Hinzuweisen wäre hier noch auf folgende neuere Arbeiten: Attridge, The Rhythms of English Poetry; Fabb, Linguistics and Literature; Fussell, Poetic Meter and Poetic Form; Hayes, Metrical Stress Theory. [Anm. d. Übs./Komm.] 74 Kiparsky, »Stress, Syntax, and Meter«, S. 581. 75 Vgl. Jakobson, »Der grammatische Bau des Gedichts von B. Brecht ›Wir sind sie‹«, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 699 f. [Anm. d. Übs./Komm.]
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QUARTETT
I
II
III
ZAHL DER REALISIERTEN HAUPTBETONUNGEN
weise besteht ein bedeutender Unterschied zwischen Hebungen, die den hauptsächlichen oder einzigen Akzent der einzelnen lexikalischen Bestandteile tragen, z. B. I2 milky sky mit zwei *Hauptbetonungen, im Gegensatz zu I3 harmony mit der Hauptbetonung auf der ersten, oder I1 in the eaves mit der Hauptbetonung auf der dritten Silbe. SL 1892
SL 1925 4 3 2 1 4 3 2 1 4 3 2 1 I
II
III HEBUNG
IV
V
I
II
III
IV
V
HEBUNG
Häufigkeit von Hauptbetonungen auf den Hebungen der beiden Versionen
17.20 In SL 1925 zeigen die äußeren Quartette eine klar regressive, wellenförmige Kurve in der Behandlung der Hebungen: Die drei ungeraden Hebungen tragen einen größeren Prozentsatz der Hauptbetonungen – und können somit als ›schwere‹ Hebungen bezeichnet werden – als die beiden geraden (›leichten‹) Hebungen (s. Abbildung). In diesen beiden äußeren Quartetten, wie in allen Strophen von SL ungeachtet der Fassung, erhält die letzte Hebung in allen Versen durchgehend eine Hauptbetonung. Im Anfangsquartett von SL 1925 erhalten alle drei ungeraden (schweren) Hebungen eine Hauptbetonung in allen Versen, während die vierte und die zweite Hebung eine Hauptbetonung nur jeweils in Vers 1 und 2 tragen. 17.21 Im letzten Quartett bleibt die zahlenmäßige Überlegenheit der Hauptbetonungen auf den ungeraden Hebungen gegenüber den ge-
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raden Hebungen gültig, wird aber durchgehend reduziert, wodurch die wellenförmige Kurve, die das Anfangsquartett zeigt, etwas abgeflacht wird: Die erste und die dritte Hebung tragen jeweils drei Hauptbetonungen, die zweite und die vierte aber zwei. 17.22 Im Gegensatz zu den äußeren Quartetten, mit ihrer Abfolge Abstieg /Aufstieg (4–2–4 und 3–2–3), zeigt das innere Quartett die umgekehrte Abfolge (3–4–2), gefolgt von einem allmählichen Anstieg (3–4), so daß es sich ein weiteres Mal auffällig von den beiden äußeren Quartetten unterscheidet (vgl. bes. 18.30 ff. unten). 17.23 In SL 1892 trägt, wie erwähnt, die letzte Hebung jedes Verses immer eine Hauptbetonung, aber in den anderen vier Hebungen ist die Wellenlinie viel weniger ausgeprägt als in SL 1925: Neben einer Abfolge von Aufstieg und Abstieg können zwei benachbarte Hebungen eine gleiche Anzahl von Hauptbetonungen aufweisen. Somit erscheint eine Spiegelsymmetrie zwischen dem Anfangs- und Schlußquartett: Abstieg – Aufstieg – Gleichheit und Gleichheit – Aufstieg – Abstieg (s. Abbildung). Die Abfolge Gleichheit – Aufstieg (3–3–4), die die Ordnung der Hebungen im Anfangs- und Binnenquartett abschließt, eröffnet das Schlußquartett. Hinsichtlich dieser Beziehung nimmt das Binnenquartett in SL 1892 eine Zwischenstellung zwischen den beiden äußeren Quartetten ein. 17.30 Innerhalb des Verses treten einsilbige lexikalische Wörter in Senkungen auf und werden in SL 1892 zehnmal von Hebungen mit Hauptbetonung gefolgt, und zwar viermal in jedem äußeren Quartett (mit beständiger lexikalischer Symmetrie zwischen I und III: moon – star – loud – earth’s) und zweimal im inneren Quartett: I2 full round moon, 2 star-laden, 3 loud song, 4 earth’s cold; II1 red mournful, 2 world’s tears; III2 curd-pale moon, 2 white stars, 3 loud chaunting, 4 earth’s old. 17.31 Jedes Quartett der Endfassung bewahrt nur ein einziges Beispiel der gleichen Erscheinung, wobei II1 red mournful wörtlich wiederholt und das Possessivum earth’s durch I4 und III4 man’s ersetzt wird. Das Vermeiden der Füllung innerer Senkungen durch betonte einsilbige Wörter ist nahezu eine Regel.76 76 Jakobson erwähnt hier nur beiläufig, daß das Schlüssellexem man sowohl in I4 als auch in III4 unbetont bleibt – im Gegensatz zu den ›oberirdischen‹ Substantiven moon und sky in I2. Besonders im Schlußquartett ist man zwischen compose und image gleichsam eingequetscht und muß unbetont bleiben. Jakobsons Behauptung, daß im Schlußvers der dritten Strophe der Konflikt zwischen dem oberirdischen und dem menschlichen Bereich mit einem Sieg des letzteren aufgelöst werde (vgl. 3.20, oben), wird zumindest auf der metrischen Ebene nicht bestätigt: Der ›Sieger‹ verblaßt sozusagen in seiner prosodischen Umgebung. Das könnte zu Überlegungen
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17.4 Nur SL 1925 enthält Beispiele für den Standardgebrauch von betonten Einsilbern in der Anfangssenkung (Anakrusis): II3 Doomed like Odysseus, III4 Could but compose.77
XVIII. Konstruktionsprinzipien 1925 18.00 SL 1925 zeigt eine erstaunliche Symmetrie in der Verteilung der grammatischen Hauptkategorien auf die drei Quartette – eine Symmetrie, die in der frühen Fassung entweder fehlt oder gedämpft ist. Sie kann in der Tat als ein Beispiel für den ›geometrischen Symbolismus‹ gewertet werden,78 der eine so lebendige Kraft sowohl in der unterbewußten Bildersprache des Dichters wie in seinem abstrakten Denken darstellte. Das operative Prinzip, das die Symmetrien des Gedichts bestimmt, ist hier die Zahl 3 und ihre Exponenten (32, 33). Beim Nachdenken über das ›Große Rad‹ 79 als das ›Hauptsymbol‹ des Universums besteht Yeats darauf, daß Anlaß geben, ob der Schlußvers des Gedichts nicht anders interpretiert werden könnte: man’s image nicht als Überwindung der oberirdischen Elemente, sondern als ihr substanzloser Schatten. [Anm. d. Übs./Komm.] 77 Im Verhältnis zur ausführlichen Analyse grammatischer Muster werden Rhythmus und Metrum eher kurz abgehandelt. Dies bestätigt Sebastian Donats Beobachtung, daß von einer tragenden Rolle des Metrums in Jakobsons Gedichtanalysen keine Rede sein könne; s. Donat, »Metrum und Semantik bei Roman Jakobson«, S. 266. Für eine ausführlichere Untersuchung dieser Aspekte s. »The Sorrow of Love« in Cureton, »Jakobson Revisited«, S. 374–383. [Anm. d. Übs./Komm.] 78 Yeats, A Vision, S. 80. 79 Wie schon oben ausgeführt, beschäftigte sich Yeats zeitlebens mit esoterischem Gedankengut. Nach seiner Heirat mit der medial begabten Georgie Hyde-Lees (1917) begannen er und seine Frau, mit ›automatischem Schreiben‹ zu experimentieren; aus diesen Niederschriften ging die erste Fassung von A Vision (1925) hervor. Dieser Version (Untertitel: An Explanation of Life Founded upon the Writings of Gireldus and upon Certain Doctrines Attributed to Kusta Ben Luka) ist in den Paratexten und im Vorwort ein Spiel mit Authentizitäts- und Mittelalterfiktionen vorangestellt, das eines Umberto Eco würdig wäre. Dazu gehört auch die zweimalige Abbildung eines ›Großen Rades‹, auf dem die Mondphasen in Relation zu menschlichen Eigenschaften abgebildet sind: zunächst in einer ›mediävalisierenden‹ Version, die der (vom fiktiven Owen Aherne verfaßten) Einleitung vorangestellt ist; dann als Diagramm der 28 Mondphasen, das die entsprechenden Erläuterungen im Kapitel »The Great Wheel« illustriert (s. A Critical Edition of Yeats’s A Vision [1925], S. xiv u. 13). 1938 erscheint eine komplett überarbeitete Fassung, in der die Mittelalterfiktion durch einen markierten Modernitätsgestus abgelöst ist: Dem Text ist nun ein »Packet for Ezra Pound« vorangestellt, in dem Yeats quasi einen neuen Glauben ankündigt: »I send you the introduction of a book which will […] pro-
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»jede Dreier-Gruppe selbst ein Rad ist«.80 In seiner Beschreibung der 28 Phasen charakterisiert Yeats die erste Phase als »nicht menschlich«,81 so daß drei hoch drei (33) tatsächlich den gesamten menschlichen Bereich erschöpft.82 18.01 Insgesamt gibt es 27 Substantive (33), 9 pro Quartett (32), welche 3 Abstrakta und 3 Substantive mit Präpositionen einschließen, wovon jedes einmal pro Quartett vorkommt (vgl. 6.0, 6.2). Eine Gesamtsumme von drei -ing-Formen ist vorhanden, je eine pro Quartett (vgl. 5.0). Pränominale Attribute und Pronomina belaufen sich jeweils auf 9 (32), die ersteren symmetrisch verteilt (3 pro Quartett; vgl. 7.1), die letzteren nur eine teilweise Symmetrie aufweisend (drei unterschiedliche Pronomina, zwei von ihnen tauchen in jedem Quartett auf; vgl. 9.0). Der bestimmte Artikel kommt ebenfalls insgesamt 9 mal vor (vgl. 11.0). Die Konnektive belaufen sich auf 18, wovon 9 (32) kopulative Konjunktionen sind und 9 (32) Präpositionen, jede mit 3 Auftritten pro Quartett (vgl. 12.0). Nur bei der Verteilung der Verben findet das Dreier-Prinzip eher seinen Ausdruck in einer Dichotomie von inneren vs. äußeren Strophen als in ihrer symmetrischen *Äquivalenz (vgl. 13.1).83 claim a new divinity« [›Ich sende Dir die Einleitung zu einem Buch, das eine neue Gottheit verkünden wird‹] (A Vision, rev. Fassung, S. 27) – eine Gottheit, die sich aus einem Mix aus europäischer Bildungstradition, mittelalterlicher Esoterik, Astrologie und dem Glauben an die visionäre Kraft des Dichters zusammensetzt. Jakobson beruft sich auf die Neuauflage der zweiten Fassung, die 1956, posthum um Yeats’ letzte Revisionen ergänzt, erschien. Auf diese Fassung letzter Hand beziehen sich auch im folgenden alle Zitate. – Das ›Große Rad‹, das wichtigste Konzept in A Vision, setzt sich aus 28 Mondphasen zusammen, die 28 menschlichen ›Inkarnationen‹ entsprechen: einerseits Charaktertypen, andererseits Entwicklungsstadien. Das Leben jedes Individuums, aber auch jede abgeschlossene Handlung durchläuft den vollständigen Zyklus von ›vollständiger Objektivität‹ (Phase 1, Norden) über die ›Entdeckung der Kraft‹ (Phase 8, Westen) zu ›vollständiger Subjektivität‹ (Phase 15, Süden), und wieder zurück über das ›Brechen der Kraft‹ (Phase 22, Osten) zum Ausgangspunkt (s. A Vision, S. 80 f.). »The Sorrow of Love« beschreibt die Phasen 14–16. [Anm. d. Übs./Komm.] 80 Nicht gefunden. Angabe bei Jakobson: Yeats, A Vision, S. 82 f. [Anm. d. Übs./ Komm.] 81 Yeats, A Vision, S. 105. 82 Yeats’ Verwendung von Tropen, insbesondere von Allegorie und Symbol, wird von Raymond J. Wilson III untersucht. Dabei verwendet Wilson Yeats’ Gedichte allerdings eher als Steinbruch, um sein von Jakobson und Ricœur abgeleitetes Modell des metaphorischen und metonymischen Symbols bzw. der metaphorischen und metonymischen Allegorie zu illustrieren. Entgegen den Erwartungen, die sein Titel wecken könnte, geht er nicht auf Jakobsons Analyse von »The Sorrow of Love« ein. Vgl. Wilson, »Metaphoric and Metonymic Allegory«, S. 219–227. [Anm. d. Übs./Komm.]
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1892 18.02 Die beeindruckende symmetrische Identität, die durch die Verteilung grammatischer Kategorien zwischen den Strophen von SL 1925 hergestellt wird, fehlt in SL 1892 fast völlig. Von den Hauptkategorien sind nur die Possessiva gleichmäßig verteilt, eines pro Strophe (vgl. 6.6). Anstelle der Äquivalenzsymmetrie von SL 1925 findet man in SL 1892 einen dissimilatorischen Gebrauch der grammatischen Mittel, um das innere von den beiden äußeren Quartetten zu unterscheiden. 18.10 In SL 1892 wird der Gegensatz zwischen den drei Quartetten entweder durch das Vorhandensein bestimmter grammatischer Kategorien im inneren Quartett vermitttelt, verbunden mit ihrer Abwesenheit in I und III, oder durch eine gleichmäßige Verteilung bestimmter Kategorien in den beiden äußeren Quartetten im Gegensatz zu ihrer geringeren Häufung im inneren, und dabei stellt die Zahl 7 anstelle der 3 das operative Prinzip dar. 18.11 Demgemäß gibt es einerseits 7 Pronomina im Binnenquartett, während die äußeren Quartette von SL 1892 völlig frei von dieser Kategorie sind (vgl. 9.1). Andererseits hat das innere Quartett eine niedrigere Zahl (4) sowohl von pränominalen Attributen (vgl. 7.2) als auch von bestimmten Artikeln (vgl. 11.2) aufzuweisen als die äußeren Quartette, die jeweils 7 solcher Einheiten enthalten (vgl. jedoch 7.2). 18.12 Das Binnenquartett von SL 1892 unterscheidet sich von den äußeren auch durch den wiederholenden Charakter des ersten Teils der beiden Verse in jedem Verspaar (und ihren ausgeprägten Gebrauch von *Oxytona – vgl. 19.41) und durch das Vorhandensein von verdopppelten grammatischen Wörtern (den Pronomina II1,2 you, 3,4 all, 3,4 her und den 83 Wie bereits angemerkt, lassen sich aber auch grammatische Kategorien finden, die nicht in das Prinzip der 3 passen: Die Zahl der unbestimmten Artikel ergibt 4, die der Partizip-Perfekt-Formen 2 (Doomed und murdered ), die der gleichsetzenden Konjunktionen ebenfalls 2 (like und as) und schließlich die der Eigennamen auch 2 (Odysseus und Priam). Daneben findet man, wie Richard Cureton angemerkt hat, bei Einbeziehung weiterer Kategorien wie Modalität, *Aspekt, Morphologie oder Farbe auch noch Einzelelemente, die keine Entsprechungen haben: So ist could in III4 das einzige Verb im Modus der Möglichkeit, had blotted out in I4 das einzige Verb im Plusquamperfekt, cry in I4, III4 das einzige Wort, das durch morphologische Konversion gebildet wird, und red in II2 die einzige Farbe (s. Cureton, »Jakobson Revisited«, S. 370). Man kann also den Jakobsonschen ›Zählwahn‹ durchaus noch weiter treiben. Allerdings ergeben Einzelelemente kein ›pattern‹; vielleicht ist das der Grund, warum diese Kategorien bei Jakobson und Rudy keine Erwähnung finden. [Anm. d. Übs./Komm.]
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soziativen Präpositionen 1,2 with), die in den äußeren Quartetten fehlen, hier aber strikt nach Verspaaren verteilt sind: II1 And then you came with 〈…〉 – 2 And with you came 〈…〉; 3,4 And all the 〈3 sorrows, 4 burden〉 of her 〈…〉. (In SL 1892 und den folgenden Ausgaben vor 1925 war der Parallelismus der Versanfänge im zweiten Verspaar vollständig: II3,4 And all the trouble of her 〈…〉). Das innere Quartett wird zudem vom sheGenus dominiert (vgl. 9.1), worauf in den letzten Versen der beiden äußeren Quartette lediglich angespielt wird (vgl. 6.6). 18.13 Schließlich unterscheidet sich das Binnenquartett von SL 1892, obwohl es dem Koordinations-Prinzip der beiden äußeren Quartette folgt, von ihnen hinsichtlich ihrer Prädikation. Während die beiden äußeren Quartette auf einem progressiven Prinzip der vier koordinierten Subjekte beruhen, die elliptisch an ein und dasselbe abschließende Verb gebunden sind, wird das Binnenquartett mit einem vollständigen ›Subjekt-Prädikat‹-Satz eröffnet, kehrt dann jedoch im zweiten Vers die Anordnung der Elemente in eine Abfolge ›Prädikat – Subjekt‹ um (s. 14.2). 18.2 Es ist bemerkenswert, daß die beiden Fassungen bei verschiedenen Gelegenheiten identische grammatische Kategorien zu entgegengesetzten Zwecken einsetzen. Allgemein, wie etwa bei pränominalen Attributen, Artikeln und Pronomina, bezeichnen die Kategorien, die in den Quartetten in SL 1925 Äquivalenz bedeuten, in SL 1892 einen Kontrast. Der umgekehrte Fall findet ebenfalls statt: Possessiva, die in der frühen Fassung eines der wenigen Mittel waren, um Äquivalenz zwischen den Quartetten herzustellen, sind ganz im Gegenteil eines der wenigen Mittel, um das innere und die äußeren Quartette in der späten Fassung zu kontrastieren.
1925 18.3 Trotz der überwältigenden Vorliebe der Endfassung für Äquivalenzsymmetrien anstelle des Kontrasts unterscheidet sich das Binnenquartett von SL 1925 genauso dramatisch von den beiden äußeren Quartetten wie das von SL 1892. In der Aufeinanderfolge bricht jeder Vers dieses Quartetts offenkundig mit dem Muster der ersten Strophe, das einen eigenen Satz bildet, der in der Endfassung vom übrigen Text durch den einzigen Punkt des Gedichts abgetrennt wird. Im Gegensatz zu den äußeren Quartetten, die völlig auf dem Prinzip der Koordination aufgebaut sind, beruht es auf Subordination (14.0) und enthält die beiden einzigen Zustandsverben, die sich in dem Gedicht finden lassen (13.5). Der Anfangsvers des inneren Quartetts ist der einzige Vers, in denen man zwei
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finite Verbformen findet; darüber hinaus gehört eine von diesen zum Hauptsatz (II1 arose) und die andere zum ersten Nebensatz des Textes (II1 had ). Der zweite Vers dieses Quartetts eröffnet die spiegelbildliche Abfolge ausdifferenzierter Verbtypen, welche ein Echo der Tätigkeits-, Vorgangs- und Zustandsverben bildet, die bisher, jedoch in umgekehrter Reihenfolge, erschienen sind. Er eröffnet auch die Gruppe von drei Vergleichen, die die metaphorische Beschaffenheit dieses Quartetts im Gegensatz zu der metonymischen Struktur der beiden äußeren kennzeichnen.
18.4 An der Grenze zwischen den beiden Gedichthälften eröffnet der dritte Vers des Binnenquartetts in SL 1925 das Verspaar II3,4, dessen grammatische Aufmachung auffällig von allen übrigen Versen des Gedichts abweicht. Dieses Verspaar besitzt als einziges: 1) drei personale Substantive des he-Genus, nämlich zwei Eigennamen (II3 Odysseus, 4 Priam) und das *Appellativum 4 peers; 2) drei nachgestellte semiprädikative Attribute (II3 Doomed, 4 proud und murdered ); 3) die beiden einzigen Gleichsetzungs-Konjunktionen (3 like, 4 as); und 4) die einzige soziative Präposition in SL 1925 (4 with). Im Gegensatz zu diesem Verspaar hat das erste Verspaar des gleichen Quartetts drei finite Verbformen (II1 arose, had, 2 seemed ) und zwei Substantive des she-Genus (1 girl, 2 world – vgl. 6.6). Auf diese Weise markiert eine scharf umrissene Gruppe von Eigenschaften die Grenzlinie zwischen den beiden Gedichthälften. 18.5 Die Teilung des Gedichts in zwei Hälften von je sechs Versen, die weiterhin in zwei Dreiergruppen unterteilt sind, wird auch durch die Verteilung bestimmter grammatischer Kategorien nahegelegt. In der ersten Hälfte des Gedichts werden drei verblose Verse von drei Versen gefolgt, die jeder mindestens ein Verb enthalten; in der zweiten Hälfte hat jede der Dreiergruppen ein Verb in seinem letzten Vers. Der bestimmte Artikel weist ebenfalls eine symmetrische Verteilung nach Hälften und Dreiergruppen auf: In der ersten Hälfte wird eine Dreiergruppe, die zwei bestimmte Artikel pro Vers enthält, von einer Dreiergruppe gefolgt, der gar keine hat; in der zweiten Hälfte alterniert eine Dreiergruppe, die ein the pro Vers enthält, mit einer Dreiergruppe, die wiederum frei von bestimmten Artikeln ist. Darüber hinaus teilen sich die 18 kopulativen Konjunktionen und Präpositionen gleichmäßig in zwei Gruppen von 9, jeweils eine in jeder Hälfte des Gedichts. 18.60 Eine weitere Einteilung in zwei Gruppen von jeweils sechs Versen wird eindeutig durch den Inhalt nahegelegt. Wie oben erwähnt (3.1),
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sind in beiden Fassungen sechs Verse dem ›Oberirdischen‹ und sechs Verse dem ›Irdischen‹ (SL 1892) oder ›Menschlichen‹ (SL 1925) gewidmet. Diese Aufteilung wird durch die Verteilung von personalen und nicht-personalen Substantiven und Pronomina gestützt: Die personalen sind ausschließlich an die sechs ›irdischen‹ oder ›menschlichen‹ Verse gebunden. Die beiden Fassungen unterscheiden sich jedoch in der Genusbestimmung der personalen Substantive und Pronomina der irdischen Ebene. In SL 1892 beziehen sich die vier Verse des Binnenquartetts und der jeweils letzte Vers der äußeren Quartette ausschließlich auf das feminine Genus. In SL 1925 jedoch sind die ›menschlichen‹ Verse gemäß dem Genus aufgeteilt: Diejenigen, die zu den zweiten Verspaaren der Quartette gehören, sind als maskulin gekennzeichnet (I4, II3,4, III4); die anderen als feminin (II1,2). Die grammatische Differenzierung der Verspaare findet also ihren stetigen Ausdruck in der verhältnismäßigen Verteilung der kopulativen Konjunktionen und Präpositionen (12.1). Die Aufteilung der Quartette in Verspaare wird durch das alternierende Reimschema gefördert (ABAB). 18.61 Bezeichnenderweise tauchen Verben in beiden Fassungen nur in den sechs Versen auf, die sich auf die irdische oder menschliche Ebene beziehen. Die einzige Ausnahme von dieser Regel ist die bloße wiederholende Übernahme aus dem Binnenquartett, III1 Arose, in SL 1925 (vgl. 15.2). 18.70 Die äußeren (marginalen) und inneren Abschnitte der einzelnen Verse werden mit grammatischen Mitteln gegeneinander abgesetzt. Die Versenden in beiden Fassungen sind dadurch begrenzt, daß die Reimwörter einsilbige Substantive sind, und dadurch, daß Substantive im Plural in SL 1925 ausschließlich – und in SL 1892 überwiegend – den Reimen angehören (vgl. 6. 40 und 6.7). In SL 1925 tritt jedes innere *konkrete Substantiv in eine metonymische Beziehung zum nachfolgenden Reimwort, welches in den meisten Fällen seinen Rahmen näher bestimmt: I1 a sparrow in the eaves, 2 The 〈…〉 moon and all the milky sky; II2 A girl 〈…〉 that had red mournful lips, 3 Odysseus and the labouring ships, 4 Priam murdered with his peers; III2 A 〈…〉 moon upon an empty sky. 18.71 In SL 1925 wird der letzte Vers jedes Quartetts grammatisch signalisiert durch die Anwesenheit eines Substantivs mit maskulinem menschlichen Genus (I4 man’s, II4 Priam, III4 man’s) und eines korrespondierenden possessiven his, das sich auf diese Substantive bezieht und ansonsten abwesend ist, sowie durch das Fehlen sowohl von Artikeln (vgl. 11.0) als auch pränominalen Attributen (vgl. 7.1).
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18.72 Der Übergang von einer Phase zur nächsten, der in SL 1892 von dem Adverbienpaar II1 then und III1 now angezeigt wird, ist in SL 1925 verwischt. Dort ist, in Übereinstimmung mit A Vision, »jedes Bild von jedem anderen getrennt, denn wenn Bild mit Bild verbunden wäre, würde die Seele aus ihrer unbeweglichen Trance erwachen«.84 Die *Einstellung auf die Zeit in SL 1892 und deren Ausschluß in SL 1925 werden besonders fühlbar, wenn man die sechs Zeitangaben in der frühen Fassung – I3 ever-〈…〉, 4 old; II1 then, 4 myriad years; III1 now, 4 old – dem völligen Fehlen solcher Angaben in der Endfassung gegenüberstellt. 18.8 In beiden Fassungen sind die den beiden äußeren Quartetten gemeinsamen Eigenschaften offensichtlich, wie auch immer ihre Beziehung (Äquivalenz oder Kontrast) zum inneren aussieht. Die Äquivalenz der beiden wird semantisch unterstrichen, besonders in SL 1925, wo die ersten drei Verse jeweils eine metonymische Kontiguität von oberirdischen Bildern, visueller Art im geraden, lautlicher in den ungeraden Versen, darstellen und damit dem Wechsel von ›des Menschen‹ sichtbarem ›Bild‹ (image) ›und seinem‹ hörbaren ›Schrei‹ (cry) in I4, III4 entsprechen. In SL 1892 wird die irdische Ebene, auf die im letzten Vers jedes äußeren Quartetts angespielt wird, ausschließlich in lautlichen Bildern (I4, III4 earth’s old and weary cry) beschrieben. 18.90 Die Gegensätzlichkeit der beiden äußeren Quartette findet in der frühen Fassung einen schärferen grammatischen Ausdruck, siehe die Unterschiede in Tempus und *Genus verbi durch das Auftreten des Präsens und des Passivs – III4 Are shaken (vgl. 13.4) – und die Beschränkung präpositionsloser Reimwörter auf das erste Quartett (vgl. 6.43); wohingegen SL 1925 vor allem auf lexikalische Mittel zurückgreift, um die beiden äußeren Quartette miteinander zu kontrastieren. So verkehrt beispielsweise eine ironische Wendung die syntaktische Hierarchie der beiden ersten Reimwörter: In I2 ist sky ein Subjekt und I1 eaves eine Adverbialbestimmung des Orts, während im dritten Quartett die Rolle des Subjekts III1 eaves zugewiesen und 2 sky zu einer Adverbialbestimmung des Orts herabgestuft wird (siehe ferner 19.0 ff., unten). 18.91 Die zusammengesetzten Präteritalformen des Prädikats in den beiden äußeren Quartetten von SL 1925 stehen semantisch im Gegensatz zueinander: Das erste ist zerstörerisch und der Vergangenheit zugewandt, das letzte aufbauend und vorausschauend.
84 Yeats, A Vision, S. 136.
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XIX. Semantische Entsprechungen 19.0 In den Epitheta der Manuskriptfassung (SL 1891) kann man beobachten, was der Dichter eine »erzwungene Anziehungskraft zwischen Gegensätzen« 85 nennt; III3 The wearisome 〈!〉 loud chaunting of the leaves [›Der ermüdende laute Choral der Blätter‹] taucht plötzlich wieder auf in III4 shaken with earth’s old and weary 〈!〉 cry [›erschüttert durch der Erde alten und müden Schrei‹]. 19.10 Im Vergleich mit SL 1892 erreicht die Endfassung einen größeren Gegensatz zwischen den beiden äußeren Quartetten, indem das Bild der oberirdischen Ebene im dritten Quartett geschwächt wird und dadurch die Beziehung zwischen den beiden gegensätzlichen Sphären in den Vordergrund tritt. Die Merkmale, die die oberirdischen Verse des ersten Quartetts füllten, nehmen in SL 1892 und SL 1925 zahlenmäßig allmählich ab, und ihre Epitheta werden gedämpfter: I1 a sparrow [›ein Spatz‹], der in SL 1925 für I1 und III1 the sparrows [›die Spatzen‹] aus SL 1892 ersetzt, verschwindet hinter der *Metonymie III1 clamorous eaves [›lärmende Dachtraufe‹] in der letzten Strophe der Endfassung; die famous harmony of leaves [›die berühmte Harmonie der Blätter‹], die I3 schmückte, weicht in III3 ihrer schlichten lamentation [›Wehklage‹]; I2 the starladen sky [›der sternenbeladene Himmel] und the milky sky [›der milchige Himmel‹], die grammatischen Subjekte der beiden Fassungen, verwandeln sich im letzten Quartett von SL 1925 in eine bloße *zirkumstantielle Ortsbestimmung mit einem mageren Epitheton, III2 upon an empty sky [›auf leerem Himmel‹]. 19.11 Am Ende der beiden äußeren Quartette bezeichnen die Possessiva earth’s in SL 1892 und man’s in SL 1925 das wichtigste Wesen der niederen Ebene (vgl. 3.1). In der frühen Fassung stand I2 und III2 sky in direktem Gegensatz zu earth’s 〈…〉 cry im nächsten geraden Vers des gleichen Quartetts, während in der Endfassung eine analoge Opposition die Anfangssubstantive der entsprechenden Verse I2 und III2 moon bezüglich I4 und III4 man’s umschließt. 19.20 Die Schwelle der Neunziger war für Yeats durch eine »ständige Entdeckung mystischer Wahrheiten« gekennzeichnet; 86 die Hervorbringung von SL 1891 gehört zur Zeitspanne dieser wachsenden Neigung zu esoterischer Forschung, mit einem Glauben an die Entsprechungen zwischen Seele und Körper des Menschen und den Planeten vom Saturn bis zum Mond.87 85 A. a. O., S. 93. 86 Yeats, Memoirs, S. 30. 87 A. a. O., S. 23. [Anm. v. R.J. / S.R.] – S. o., Anm. 18. [Anm. d. Übs./Komm.]
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19.21 Der Mondkörper, als das Hauptsymbol in der Mythologie des Dichters, wurde von Yeats mit besonderer Beharrlichkeit im ersten Entwurf seiner Abhandlung A Vision (1925) hervorgehoben, die zur gleichen Zeit und mit ebenso großem Eifer vorbereitet wurde wie die Endfassung von »The Sorrow of Love« (die vom Autor in ein anderes Buch jenes Jahres, seine Early Poems and Stories, aufgenommen wurde). In seiner Anmerkung von 1925 zur letzteren Sammlung bezeugt Yeats, daß er »nun wieder einmal in A Vision mit diesem Gedanken beschäftigt ist: den Gegensätzen von Tag und Nacht und von Mond und Sonne«; er wendet sich unmittelbar dem Gedichtzyklus The Rose zu und erzählt, daß ihm »bei der erstmaligen Lektüre dieser Gedichte seit vielen Jahren« 88 klar wurde, daß ihre Heldin »als mit dem Menschen mitleidend und nicht als etwas, das von ferne erstrebt und betrachtet wird«, vorgestellt worden war.89 19.22 Bereits in der frühen Fassung von SL standen die gegensätzlichen Bilder von I2 The full round moon [›Der volle runde Mond‹] und III2 The crumbling (1891: withered ) moon [›Der zerbröckelnde (verdorrte) Mond‹] offenbar mit der langsam heranreifenden mystischen Lehre des Autors in Beziehung, die er später in A Vision systematisierte. Diese »Philosophie des Lebens und des Todes« 90 fand ihre poetische Verkörperung 88 Yeats, Variorum Edition, S. 842. 89 Mit Heldin ist bei Yeats die ›Rose‹ aus dem Titel des Gedichtzyklus gemeint; der ganze Satz lautet: »I notice upon reading these poems for the first time for several years that the quality symbolised as The Rose differs from the Intellectual Beauty of Shelley and of Spenser in that I have imagined it as suffering with man and not as something pursued and seen from afar.« [›Bei der erstmaligen Lektüre dieser Gedichte seit vielen Jahren fällt mir auf, daß die Eigenschaft, die als Die Rose symbolisiert wird, sich von der Geistigen Schönheit Shelleys und Spensers darin unterscheidet, daß ich sie mir als mit dem Menschen mitleidend vorgestellt habe und nicht als etwas, das von ferne erstrebt und betrachtet wird.‹] (Yeats, Variorum Edition, S. 842.) Yeats bezieht sich hier also nicht direkt auf das ›Mädchen‹ aus »The Sorrow of Love«. – Shelleys metaphysische Ansichten waren entscheidend für Yeats’ Vorstellung der visionären Funktion von Dichtung und der Rolle des Dichters als Verkünders einer höheren als der politischen Freiheit: »his liberty was so much more than the liberty of [William Godwin’s] Political Justice that it was one with Intellectual Beauty, and […] the regeneration he foresaw was so much more than the regeneration many political dreamers have foreseen« (»The Philosophy of Shelley’s Poetry« [1900], S. 67; dt. Übs.: »daß seine Freiheit so viel mehr war als die Freiheit in Politische Gerechtigkeit; daß sie eins ist mit geistiger Schönheit […], und daß die Regeneration, die er im Sinne hatte, so viel mehr bedeutete als die Regeneration, die viele politische Phantasten vorausgesehen hatten‹ [»Die Philosophie in Shelleys Dichtung«, S. 72]). Auf diese Art von umfassender, geistiger und seelischer, Regeneration zielt Yeats mit A Vision. [Anm. d. Übs./Komm.] 90 Yeats, Variorum Edition, S. 821.
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in der Phantasmagorie »The Phases of the Moon« [›Die Mondphasen‹], erstmals 1919 gedruckt 91 und später in die erste Ausgabe von A Vision aufgenommen. Dieses Gedicht ruft die Stufe herbei »When the moon’s 91 »The Phases of the Moon« (The Wild Swans at Coole, 1919; Variorum Edition S. 372–377, vgl. Kommentar auf S. 821), ist ein Dialog zwischen Michael Robartes, einer Persona des Dichters, und dessen ebenso fiktivem Freund Owen Aherne, die angesichts eines »dwindling and late-risen moon« [›schwindenden und spät aufgegangenen Mondes‹], in der Nähe eines von einem Dichter bewohnten Turms – also in Anspielung auf Yeats’ Dichterturm auf Lady Gregorys Landsitz Coole Park – ein reichlich abgehobenes Gespräch über den Mond führen. Robartes beschreibt die 28 Mondphasen folgendermaßen (hier nur bis Phase 15): »Twenty-and-eight the phases of the moon,/ The full and the moon’s dark and all the crescents,/ Twentyand-eight, and yet but six-and-twenty/ The cradles that a man must needs be rocked in:/ For there’s no human life at the full or the dark./ From the first crescent to the half, the dream/ But summons to adventure and the man/ Is always happy like a bird or a beast;/ But while the moon is rounding towards the full/ He follows whatever whim’st most difficult/ Among whims not impossible, and though scarred,/ As with the cat-o’nine-tails of the mind,/ His body moulded from within his body/ Grows comelier. Eleven passes, and then/ Athene takes Achilles by the hair,/ Hector is in the dust, Nietzsche is born,/ Because the hero’s crescent is the twelfth./ And yet, twice born, twice buried, grow he must,/ Before the full moon, helpless as a worm./ The thirteenth moon but sets the soul at war/ In its own being, and when that war’s begun/ There is no muscle in the arm; and after,/ Under the frenzy of the fourteenth moon,/ The soul begins to tremble into stillness,/ To die into the labyrinth of itself! […] All thought becomes an image of the soul/ Becomes a body: that body and that soul/ Too perfect at the full to lie in a cradle,/ Too lonely for the traffic of the world:/ Body and soul cast out and cast away/ Beyond the visible world.« (Yeats, Variorum Edition, S. 373 f., vv. 31–63; dt. Übs.: ›Achtundzwanzig Phasen des Mondes,/ Der Vollmond und der Neumond und alle Mondsicheln,/ Achtundzwanzig, und doch nur sechsundzwanzig/ Die Zahl der Wiegen, in denen der Mensch gewiegt werden muß:/ Denn es gibt kein menschliches Leben bei Vollmond oder bei Neumond./ Von der ersten Sichel bis zum Halbmond rufen die Träume/ Zum Abenteuer auf, und der Mensch/ Ist immer glücklich wie ein Vogel oder ein Tier;/ Aber während sich der Mond zum vollen rundet/ Folgt er derjenigen Laune, die am schwierigsten ist/ Unter den nicht unmöglichen Launen, und obwohl narbig/ Wie mit der neunschwänzigen Katze des Geistes/ Wird sein Körper, aus dem Innern des Körpers geformt/ Anmutiger. Elf schreiten vorbei, und dann/ Nimmt Athene Achill beim Haar,/ Hektor ist im Staub, Nietzsche wird geboren,/ Denn die Sichel des Helden ist die zwölfte./ Und doch, zweimal geboren, zweimal begraben, muß er wachsen,/ Vor dem Vollmond, hilflos wie ein Wurm./ Der dreizehnte Mond versetzt die Seele in Kriegszustand/ Im eigenen Wesen, und sobald dieser Krieg begonnen hat/ Gibt es keinen Muskel im Arm; und danach,/ In der Raserei des vierzehnten Mondes,/ Beginnt die Seele in die Stille hineinzuzittern,/ Um im Labyrinth ihrer selbst zu sterben! […] Jeder Gedanke wird ein Bild, und die Seele/ Wird ein Körper: dieser Körper und diese Seele/ Zu vollkommen bei Vollmond, um in einer Wiege zu liegen,/ Zu einsam für das Geschäft der Welt:/ Körper
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full« [›Wenn der Mond voll ist‹],92 unmittelbar gefolgt von »the crumbling of the moon« [›dem Bröckeln des Mondes‹],93 und richtet den Blick auf die unterschiedlichen Wirkungen dieser Phasen »Upon the body and upon the soul« [›Auf den Körper und auf die Seele‹].94 Bezeichnenderweise wurde von 1895 an crumbling [›bröckelnd‹] in SL durch den Tropus 95 curd-pale [›quark-bleich‹] ersetzt, und in der Endfassung des Gedichts wurden diese beiden wirkungsvollen Epitheta durch entlegenere Anspielungen ersetzt: I2 The brilliant moon und III2 A climbing moon, letztere zweideutig (steigt der Mond zum Zenith oder zur nächsten Phase
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und Seele hinausgestoßen und verstoßen/ Jenseits der sichtbaren Welt.‹) Yeats ordnet jeder Mondphase einen menschlichen Typus zu: Hektor und Achilles in Phase 12 etwa stehen für den Helden, der sich selbst überwindet. Die Wesen des Vollmonds (völlige Subjektivität und Schönheit) stehen in Kontrast zu den unpoetischen Alltagsmenschen, die an ihnen vorüberlaufen – sie sind Symbole im Sinn von Yeats’ Poetik, die eine transzendente Schönheit offenbaren: »Robartes: When the moon’s full those creatures of the full/ Are met on the waste hills by countrymen/ Who shudder and hurry by: body and soul/ Estranged amid the strangeness of themselves,/ Caught up in contemplation, the mind’s eye/ Fixed upon images that once were thought;/ For separate, perfect, immovable/ Images can break the solitude/ Of lovely, satisfied, indifferent eyes.« (A. a. O., S. 375, vv. 75–83; dt. Übs.: ›Robartes: Wenn der Mond voll ist, treffen diese Wesen der Fülle/ Auf den öden Hügeln auf Landsleute/ Die schaudern und vorbeihasten: Körper und Seele/ Entfremdet inmitten der Fremdheit ihrer selbst,/ Unterbrochen im Nachsinnen, das innere Auge/ Fixiert auf Bilder, die einstmals gedacht wurden;/ Denn gesonderte, vollkommene und unbewegliche/ Bilder können die Einsamkeit durchbrechen/ Von schönen, satten, gleichgültigen Augen.‹) Die fremde Schönheit und Fülle der Vollmond-Menschen wird ironisch der von Robartes und Aherne angenommenen Sterilität des Dichters, ihres entfremdeten Freundes, gegenübergestellt, der im Turm bei Kerzenlicht seiner Suche nach mystischer Weisheit nachgeht: »An image of mysterious wisdom won by toil;/ And now he seeks in book or manuscript/ What he shall never find.« (A. a. O., S. 373, vv. 18–20; dt. Übs.: ›Ein Bild geheimnisvoller Wahrheit, die durch Plackerei gewonnen wurde;/ Und nun sucht er im Buch oder Manuskript/ Was er niemals finden wird.‹) Vgl. die deutsche Übersetzung Werner Vordtriedes: »Die Mondphasen«, in: Yeats, Werke. Bd I: Ausgewählte Gedichte, S. 132–136. [Anm. d. Übs./Komm.] Yeats, Variorum Edition, S. 375, vv. 75–83. Ebd. vv. 87–94. A. a. O. S. 376, v. 93. Genau genommen liegt hier kein Tropus, d. h. ein im übertragenen Sinne gebrauchter Ausdruck, vor, obwohl dieser Farbbezeichnung eine Ähnlichkeitsassoziation zugrundeliegt. Wegen der Dominanz dieses Assoziationstyps werden aber Metaphern wie Vergleiche von Jakobson unterschiedslos dem ›metaphorischen Pol‹ der Sprache zugeordnet. Vgl. Jakobson, »Two Aspects of Language and Two Types of Aphasic Disturbances«, bes. S. 254–259; dt. Übs.: »Zwei Seiten der Sprache und zwei Typen aphatischer Störungen«, bes. S. 133–139. [Anm. d. Übs./Komm.]
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auf?) und erstere, brilliant, nach dem Bekenntnis des Autors aufgrund ihrer »Erstarrung und Trübheit« gewählt, so »daß alles sozusagen mit Gleichgültigkeit aus der Erinnerung aufzutauchen scheint, mit der Ausnahme irgendeines lebendigen Bildes«.96 Dieses »eine lebendige Bild« muß das dominante Substantiv moon selbst gewesen sein, das zentrale visuelle Motiv, das beiden Bildern der oberirdischen Ebene in SL 1925 gemeinsam ist (vgl. 16.3). 19.23 »Der Vollmond ist Phase 15«,97 schreibt Yeats, und »während wir uns Phase 15 nähern, nimmt die persönliche Schönheit zu, und in Phase 14 und Phase 16 wird die größte menschliche Schönheit möglich«.98 Während das Binnenquartett von SL auf Phase 15 anspielt, spiegeln die beiden äußeren Quartette ihre angrenzenden Phasen wider. Under the frenzy of the fourteenth moon, The soul begins to tremble into stillness, To die into the labyrinth of itself! 99 In der Raserei des vierzehnten Mondes, Beginnt die Seele in die Stille hineinzuzittern, Um im Labyrinth ihrer selbst zu sterben!
»Man’s image and his cry«, dem Anfangsquartett von SL 1925 zufolge ›gelöscht‹, entspricht dem Lied von Robartes in »The Phases of the Moon« und seinen weiteren Versen, die den Vollmond ankündigen: All thought becomes an image and the soul Becomes a body 〈…〉 100 Jeder Gedanke wird ein Bild, und die Seele Wird ein Körper 〈…〉
– oder in der Ausdrucksweise von SL 1925, II1 A girl arose. And after that the crumbling of the moon. The soul remembering its loneliness Shudders in many cradles; all is changed.101 Und danach das Bröckeln des Mondes. Die Seele, die sich an ihre Einsamkeit erinnert, Schaudert in vielen Wiegen; alles ist verändert. 96 97 98 99 100 101
Yeats, Autobiography, S. 291. Yeats, A Vision, S. 78. A. a. O., S. 131. Yeats, Variorum Edition, S. 374, vv. 53–55. Ebd. v. 58 f. A. a. O., S. 375, vv. 87–89.
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Wie in A Vision erklärt wird, »gibt es immer ein Element von Raserei«, aber »Phase 16 steht immer im Gegensatz zu Phase 14, trotz ihrer Ähnlichkeit einer äußersten Subjektivität 〈…〉. Sie hat ihre Antithese gefunden, und daher Selbsterkenntnis und Selbstbeherrschung.« 102 Kurz, es ist die Phase, in der die körperlichen Illusionen von Phase 14 ›nur das Bild des Menschen und seinen Schrei zusammensetzen‹: Could but compose man’s image and his cry. 19.30 Dem Binnenquartett fehlen solche Gegensatzpaare wie sky und earth von SL 1892 oder moon und man von SL 1925. Aber zugleich weist der Mond der beiden äußeren Quartette eine besondere Verbindung zur Heldin des angrenzenden inneren Quartetts auf. In SL 1892 stellen die einander gegenübergestellten Schilderungen von I2 The full round moon und II1 those red mournful lips eine mehrfache Korrespondenz in der morphologischen und phonologischen Aufmachung der beiden Sätze zur Schau: full – 〈…〉 ful und /r.ndm.n/ – /r.dm.rn/. 19.31 »Mein Liebes-Kummer 〈!〉«, sagt Yeats, »war meine Besessenheit, die mich weder bei Tag noch bei Nacht verließ«,103 und ein Abschnitt im ersten Entwurf von Yeats’ Autobiography mit einer mehr als freien Paraphrase von Leonardo da Vincis Notizbüchern 104 erhellt das Bild 102 Yeats, A Vision, S. 137 f. 103 Yeats, Memoirs, S. 74. 104 Der Abschnitt aus Leonardos Notizbüchern, auf den sich Yeats wohl bezieht, lautet in der englischen Ausgabe: »Behold now the hope and desire of going back to one’s own country or returning to primal chaos, like that of the moth to the light, of the man who with perpetual longing always looks forward with joy to each new spring and each new summer, and to the new months and the new years, deeming that the things he longs for are too slow in coming; and who does not perceive that he is longing for his own destruction. But this longing is in its quintessence the spirit of the elements, which finding itself imprisoned within the life of the human body desires continually to return to its source. And I would have you to know that this same longing is in its quintessence inherent in nature, and that man is a type of the world.« (The Notebooks of Leonardo da Vinci, Bd. 1, S. 80 f.; dt. Übs.: ›Siehe nun die Hoffnung und das Begehren, ins eigene Land zurückzugehen oder ins Urchaos zurückzukehren, wie die der Motte ins Licht oder des Mannes, der mit unendlicher Sehnsucht immer mit Freude vorwärts blickt auf jeden neuen Frühling und jeden neuen Sommer, auf die neuen Monate und die neuen Jahre, und glaubt, daß die Dinge, nach denen er sich sehnt, zu langsam kommen; und der nicht merkt, daß er sich damit nach seiner eigenen Zerstörung sehnt. Aber dieses Sehnen ist in seinem Kern der Geist der Elemente, der, da er sich im Leben des menschlichen Körpers eingekerkert sieht, sich ständig danach sehnt, zu seiner Quelle zurückzukehren. Und man muß wissen, daß dieses selbe Sehnen in seinem Kern der Natur innewohnt, und daß der Mensch ein Modell der Welt ist.‹) Vgl. Yeats, Memoirs, S. 88,
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in III2 climbing moon und sein Gegenstück, das ›sich erhebende‹ II2 girl 〈…〉 that had red mournful lips von SL 1925: »At last she came to me in I think January of my thirtieth year 〈…〉. I could not give her the love that was her beauty’s right. 〈…〉 All our lives long, as da Vinci says, we long, thinking it is but the moon that we long 〈for〉, for our destruction, and how, when we meet 〈it〉 in the shape of a most fair woman, can we do less than leave all others for her? Do we not seek dissolution upon her lips?« 105 [›Endlich kam sie zu mir im, glaube ich, Januar meines dreißigsten Jahrs 106 〈…〉. Ich konnte ihr nicht die Liebe geben, die ihrer Schönheit Anm. 3. – Der Gedanke einer Rückkehr zum Ursprung, die mit einer Sehnsucht nach Selbstauflösung gleichgesetzt wird, ähnelt frappierend dem Gedanken Freuds, daß alles Organische danach strebt, wieder in den unbelebten Zustand zurückzukehren: »Wenn wir es als ausnahmslose Erfahrung annehmen dürfen, daß alles Lebende aus inneren Gründen stirbt, ins Anorganische zurückkehrt, so können wir nur sagen: Das Ziel alles Lebens ist der Tod, und zurückgreifend: Das Leblose war früher da als das Lebende.« (Freud, »Jenseits des Lustprinzips«, S. 248.) Freud veröffentlichte »Jenseits des Lustprinzips« im Jahr 1920, also genau zwischen Yeats’ erstem Entwurf der Autobiographie (1915), in dem sich die Leonardo-Anspielung findet, und der ersten Ausarbeitung seines metaphysischen Systems in A Vision (1925). Die betont wissenschaftliche Einkleidung der metaphysischen Reflexionen Freuds steht in einem scharfen Kontrast zur unverblümten, zugleich aber geradezu mathematisch durchkonstruierten Esoterik von Yeats; dennoch spiegelt der Gedanke eines Strebens nach Selbstauflösung, d. h. eines ›Todestriebs‹, bei beiden eine ähnliche Desillusionierung gegenüber der europäischen Zivilisation im Umfeld des Ersten Weltkriegs wider. [Anm. d. Übs./Komm.] 105 Yeats, Memoirs, S. 88. 106 Yeats’ erste Begegnung mit Maud Gonne fand am 30. Januar 1889 statt, als er 23 Jahre alt war. Seine sofortige, glühende und doch unentschlossene Liebe zu der irischen Nationalistin war die wichtigste, wenn auch überwiegend unglückliche emotionale Beziehung seines Lebens. Die Erinnerung an diese erste Begegnung wird in den Memoiren mythisch aufgeladen: »I had never thought to see in a living woman so great beauty. It belonged to famous pictures, to poetry, to some legendary past. A complexion like the blossom of apples, and yet the face and body had the beauty of lineaments which Blake calls the highest beauty because it changes least from youth to age, and a stature so great that she seemed of divine race. Her movements were worthy of her form, and I understood at last why the poet of antiquity, where we would but speak of face and form, sings, loving some lady, that she paces like a goddess. […] As I look backward, it seems to me that she brought into my life in those days – for as yet I saw only what lay upon the surface – the middle of the tint, a sound as of a Burmese gong, an overpowering tumult that had yet many pleasant secondary notes.« (Yeats, Memoirs, S. 40; dt. Übs.: ›Ich hatte niemals erwartet, in einer lebenden Frau eine so große Schönheit zu sehen. Sie gehörte zu berühmten Bildern, zur Dichtung, zu einer legendären Vergangenheit. Ein Teint wie Apfelblüten, und doch hatten Gesicht und Körper die Schönheit der Züge, die Blake die höchste Schönheit nennt, weil sie sich von der Jugend bis zum
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zustand. 〈…〉 Unser ganzes Leben lang, wie da Vinci sagt, sehnen wir uns – mit dem Gedanken, es sei der Mond, nach dem wir uns sehnen – nach unserer Zerstörung; und wie, wenn wir 〈ihr〉 in der Gestalt der schönsten Frau begegnen, können wir weniger tun, als alle anderen für sie aufzugeben? Suchen wir nicht unsere Auflösung auf ihren Lippen?‹] Diesen Zeilen könnte man einen früheren Absatz aus den gleichen Memoirs (S. 72) gegenüberstellen, das Geständnis des Dichters aus seinem siebenundzwanzigsten (33) Jahr: »Ich glaube, meine Liebe schien fast hoffnungslos 〈…〉. Ich hatte seit meiner Kindheit nie die Lippen einer Frau geküßt.« 107 Alter am wenigsten verändert, und einen so vorzüglichen Wuchs, daß sie einer göttlichen Rasse anzugehören schien. Ihre Bewegungen waren ihrer Gestalt würdig, und ich verstand endlich, warum die antiken Dichter, die eine Dame liebten, dort, wo wir nur von Gesicht und Gestalt gesprochen hätten, sagten, daß sie wie eine Göttin schreite. […] Zurückblickend scheint es mir, daß sie in jenen Tagen – denn zunächst sah ich nur, was an der Oberfläche lag – die Mitte eines Farbtons in mein Leben brachte, einen Klang wie von einem burmesischen Gong, einen überwältigenden Aufruhr, der noch viele angenehme Untertöne hatte.‹) Die Ambivalenz, die schon in der Euphorie der ersten Begegnung mitschwingt, bestimmt auch die Wiederbegegnung im ›dreißigsten Jahr‹, die vermutlich erst stattfand, als Yeats 31 Jahre alt war (vgl. a. a. O., S. 88, Anm. 2). [Anm. d. Übs./Komm.] 107 Es ist nicht ganz klar, was Jakobson mit dieser Zusammenstellung von Passagen über Yeats’ Sexualität sagen will. In welcher Weise dienen sie dazu, die vorangegangene strukturale Textanalyse zu kontextualisieren und damit zu stützen bzw. zu erweitern? Handelt es sich nicht eher um eine relativ willkürliche Zusammenstellung von Zitaten, die selbst wiederum aus dem Kontext gerissen sind, um die in der Endfassung des Gedichts festgestellten Zahlenverhältnisse biographisch zu motivieren? Dieser Versuch, über die strukturale Analyse im engeren Sinn hinauszugehen, ist insgesamt wenig überzeugend. Der Hinweis, daß 27 = 33 ist, erscheint einerseits banal, andererseits auch eher willkürlich; genausogut könnte man sich auf andere, nicht durch 3 teilbare Lebensdaten beziehen. Das Zitat der gesamten Passage, aus der Jakobson nur zwei Satzbruchstücke anführt, ist hier aufschlußreich, denn aus diesem Absatz, in dem es vor allem um Yeats’ Verhältnis zur Onanie geht, könnte man genausogut die enorme Bedeutung des fünfzehnten Lebensjahrs (= 3 x 5) ableiten: »It began when I was fifteen years old. I had been bathing, and lay down in the sun on the sand on the Third Rosses [3!] and covered my body with sand. Presently the weight of the sand began to affect the organ of sex, though at first I did not know what the strange, growing sensation was. It was only at the orgasm that I knew, remembering some boy’s description or the description in my grandfather’s encyclopedia. It was many days before I discoverd how to renew that wonderful sensation. From that on it was a continual struggle against an experience that almost invariably left me with exhausted nerves. Normal sexual intercourse does not affect me more than other men, but that, though never frequent, was plain ruin. It filled me with loathing of myself; and yet at first pride and perhaps, a little, lack of obvious opportunity, and now love kept me in unctuous celibacy. When I returned to London in my twenty-seventh year I think my love seemed almost
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19.32 Der Abriß von Phase 15 in A Vision setzt hinzu, daß »nun Betrachtung und Begehren, in eins vereint, eine Welt bewohnen, in der jedes geliebte Bild eine körperliche Gestalt hat, und jede körperliche Gestalt geliebt wird. Diese Liebe kennt das Begehren nicht, denn Begehren bedeutet Anstrengung 〈…〉. Da jegliche Anstrengung aufgehört hat, ist jeder Gedanke zu einem Bild geworden, weil kein Gedanke existieren könnte, wenn er nicht zu seiner eigenen Auslöschung gebracht würde.« [»Now contemplation and desire, united into one, inhabit a world where every beloved image has bodily form, and every bodily form is loved. This love knows nothing of desire, for desire implies effort 〈…〉. As all effort has ceased, all thought could exist if it were not carried towards its own extinction«.] 108 19.33 Das Motto zur Betrachtung des Dichters über die Fünfzehnte Mondphase lautet: »Keine Beschreibung, außer daß dies eine Phase vollkommener Schönheit ist«.109 In SL 1892 hebt sich das Binnenquartett, das auf diese besondere Phase ausgerichtet ist, auffällig von den äußeren Quartetten in grammatischer und kompositorischer Beziehung ab (vgl. 18.10 ff.). Jedes der beiden Verspaare ist nach einem weitgehend *pleonastischen Schema errichtet. Die beiden ersten Verse zeigen eine wortspielartige Gegenüberstellung von zwei identischen soziativen Präpositiohopeless, and I knew that my friends had all mistresses of one kind or another and that most, at need, went home with harlots. […] I had never since childhood kissed a woman’s lips.« (Yeats, Memoirs, S. 71 f.; dt. Übs.: ›Es fing an, als ich fünfzehn Jahre alt war. Ich war schwimmen gewesen, und legte mich in die Sonne am Strand bei den Third Rosses und bedeckte meinen Körper mit Sand. Alsbald begann das Gewicht des Sands das Sexualorgan zu beeinflussen, obwohl ich zunächst nicht wußte, was das seltsame, sich steigernde Gefühl war. Erst beim Orgasmus verstand ich es, da ich mich an die Beschreibung irgendeines Jungen oder die Beschreibung in der Enzyklopädie meines Großvaters erinnerte. Es dauerte viele Tage, bevor ich herausfand, wie man jene wunderbare Empfindung erneuern konnte. Seitdem gab es einen unaufhörlichen Kampf gegen eine Erfahrung, die mich ausnahmslos mit erschöpften Nerven zurückließ. Normaler Geschlechtsverkehr zieht mich nicht mehr in Mitleidenschaft als andere Männer, aber das, obwohl ich es nicht oft tat, war schlicht der Untergang. Es erfüllt mich mit Ekel vor mir selbst; und dennoch hielten mich zunächst Stolz und vielleicht, ein wenig, der Mangel an offensichtlichen Gelegenheiten, und nun die Liebe, in einem salbungsvollen Zölibat. Als ich in meinem siebenundzwanzigsten Jahr nach London zurückkehrte, schien mir, glaube ich, meine Liebe fast hoffnungslos, und ich wußte, daß alle meine Freunde Geliebte irgendeiner Art hatten und daß die meisten, bei Bedarf, mit Huren mitgingen. […] Ich hatte seit meiner Kindheit nie die Lippen einer Frau geküßt.‹) [Anm. d. Übs./ Komm.] 108 Yeats, A Vision, S. 136. 109 A. a. O., S. 135.
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nen, eine *synekdochisch (II1 you came with those 〈…〉 lips) und die andere rein metonymisch (II2 with you came the whole of the world’s tears). In SL 1892 brachte das zweite Verspaar eine siebensilbige Tautologie zustande: II3,4 And all the trouble of her 〈…〉, mit einer hervorstechenden Lautfigur: /r.b.l/ – /l.b.r/ (labouring) – /r.b.l/. 19.40 Die relative Isolation der zweiten Strophe gegenüber den anderen Quartetten von SL 1892 erhält bis zu einem gewissen Grad ein Gegengewicht durch die gleichrangigen Entsprechungen zwischen der frühen Fassung dieses Binnenquartetts und einigen benachbarten Gedichten des The Rose genannten Zyklus. Indem er über die Geburt »jener Frauen, die in ihrer Schönheit am meisten anrühren«, schreibt, stellt Yeats in A Vision fest, daß Helena der Phase 14 angehört.110 Die Anspielung auf Troja, die später in SL 1925 offengelegt wird, bleibt in der ersten Fassung eher undeutlich, wird aber klar in einem Gedicht, »The Rose of the World« 110 A. a. O., S. 132. [Anm. v. R.J. / S.R.] – Helena wird hier folgendermaßen charakterisiert: »Helen was of that phase; and she comes before the mind’s eye elaborating a delicate personal discipline, as though she would make her whole life an image of a unified antithetical energy. While seeming an image of softness and of quiet, she draws perpetually upon glass with a diamond. Yet she will not number among her sins anything that does not break that personal discipline, no matter what it may seem according to others’ discipline; but if she fail in her own discipline she will not deceive herself, and for all the languor of her movements, and her indifference to the acts of others, her mind is never at peace. She will wander much alone as though she consciously mediated her masterpiece that shall be the full moon, yet unseen by human eyes, and when she returns to her house she will look upon her household with timid eyes, as though she knew that all powers of self-protection had been taken away, that of her once violent primary tincture nothing remained but a strange irresponsible innocence.« (A. a. O., S. 132 f.; dt. Übs.: ›Helena gehörte jener Phase an; und sie erscheint vor dem inneren Auge, wie sie an einer empfindlichen persönlichen Disziplin arbeitet, als ob sie ihr ganzes Leben zum Bild einer vereinheitlichten antithetischen Energie machen wollte. Während sie ein Bild der Weichheit und der Stille zu sein scheint, zieht sie fortwährend einen Diamanten über Glas. Aber sie wird zu ihren Sünden nichts zählen, was nicht diese persönliche Disziplin bricht, ungeachtet dessen, was es nach der Disziplin anderer zu sein scheint; aber wenn sie in ihrer eigenen Disziplin versagt, wird sie sich nichts vormachen, und bei aller Trägheit ihrer Bewegungen und ihrer Gleichgültigkeit gegenüber Handlungen anderer hat ihr Geist niemals Frieden. Sie wird viel allein herumwandern, als ob sie bewußt über ihr Meisterwerk nachdenken würde, das bei Vollmond, doch dem menschlichen Auge unsichtbar dasein wird, und wenn sie in ihr Haus zurückkehrt, wird sie ihren Haushalt mit schüchternen Augen ansehen, als ob sie wüßte, daß alle Fähigkeiten zum Selbstschutz weggenommen worden sind, daß von ihrer einstmals gewalttätigen primären Färbung nichts geblieben ist außer einer seltsamen verantwortungslosen Unschuld.‹) [Anm. d. Übs./Komm.]
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[›Die Rose der Welt‹], enthüllt, das sich in dem Zyklus The Rose in der Nachbarschaft von SL befindet: Who dreamed that beauty passes like a dream? For these red lips, with all their mournful pride, Mournful that no new wonder may betide, Troy passed away in one high funeral gleam, And Usna’s children died.111 Wer träumte, daß Schönheit wie ein Traum vorbeigeht? Für diese roten Lippen, mit all ihrem trauervollen Stolz, Trauervoll daß kein neues Wunder geschehen würde, Verging Troja in einem hohen Begräbnisschimmer, Und Usnas Kinder starben.
19.41 Nicht nur phraseologische, sondern auch versifikatorische Eigenschaften offenbaren die Affinität zwischen dem inneren Quartett von SL 1892 und den anderen Gedichten des gleichen Zyklus. Das wiederholte arose in II1 und III1 von SL 1925 läßt einen Kritiker, John Unterecker, eine doppelte Vision von »a girl arose« und »a girl, a rose« 112 sehen. Der Vers II1 ist der einzige in dem Gedicht, in dem alle drei Hebungen von einer Wortgrenze gefolgt werden – A girl/ arose/ that had/ red 〈…〉 (vgl. in SL 1892 den entsprechenden Vers – II1 And then/ you came/ with those/ red 〈…〉 – und in SL 1925 solche eröffnenden Oxytona im selben Quartett wie II2 And seemed/, 4 And proud/); interessanterweise hat das Gedicht »The Rose« (1892), das den gleichnamigen Zyklus eröffnet,113 im ersten Vers den identischen Rhythmus – »Red Rose,/ proud Rose,/ sad Rose/ 〈…〉« [›Rote Rose, stolze Rose, traurige Rose‹], der wörtlich am Ende des Gedichts (Vers 24) wiederholt wird wie auch im Anfangsvers der zweiten zwölfzeiligen Strophe – 13 »Come near,/ come near,/ come near/ 〈…〉« [›Komm nah, komm nah, komm nah‹]. 111 Das Gedicht »The Rose of the World« erschien erstmals 1892 im National Observer unter dem Titel »Rosa Mundi« und wurde dann unter seinem neuen Titel in den ›Rose‹-Zyklus von The Countess Kathleen and Various Legends and Lyrics aufgenommen (Variorum Edition, S. 111). Die ›roten trauervollen Lippen‹ beziehen sich sowohl auf die irische mythische Figur Deirdre als auch auf Helena, beides schöne, unheilbringende Frauengestalten, die in Yeats’ Privatmythologie mit Maud Gonne assoziiert werden. Die ›Kinder Usnas‹ sterben wegen der Rivalität um Deirdre zwischen König Conchobar und Naoise, eben einem von Usnas Söhnen. [Anm. d. Übs./Komm.] 112 Unterecker, A Reader’s Guide to William Butler Yeats, S. 159. 113 Dieses Gedicht erschien sowohl in The Countess Cathleen and Various Legends and Lyrics von 1892 als auch in den Poems von 1895, s. Variorum Edition, S. 100 f. [Anm. d. Übs./Komm.]
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19.42 Wir suchen nach Entsprechungen zwischen »The Sorrow of Love« und den benachbarten Gedichten in The Rose, aber es gibt noch eine verlockende Frage: die nach Schlüsselwörtern,114 die in den umgebenden Gedichten im Überfluß vorhanden sind und die in SL stillschweigend übergangen wurden. Zusammen mit SL ist das Gedicht »When You Are Old« 115 an Maud Gonne gerichtet,116 und es ist der einzige andere Text in dem Zyklus The Rose, der aus drei Quartetten von jambischen Fünfhebern besteht. Es ist kaum zufällig, daß in diesem Gedicht, das in der Ausgabe von 1892 direkt vor und in den Ausgaben ab 1895 unmittelbar nach »The Sorrow of Love« plaziert ist, die Vokabel love, die in SL auf den Titel beschränkt ist, sechsmal vorkommt: viermal als Verb im zweiten Quartett (II1 How many loved 〈…〉, 2 And loved your beauty, 3 But one man loved 〈…〉, 4 And loved the sorrows 〈…〉 [›Wie viele liebten 〈…〉, Und liebten deine Schönheit, Aber ein Mann liebte 〈…〉, Und liebte die Sorgen 〈…〉‹]) und zweimal als Substantiv (II2 with love false or true, III2 〈…〉 how Love fled [›mit Liebe wahr oder falsch, Wie die Liebe floh‹]). In SL bleiben sowohl die Liebe als auch Helena ungenannt. 19.5 Was Helenas Schicksal angeht, »liegt es nicht daran, daß sie so wenig begehrt, so wenig gibt, daß Männer in ihren Diensten sterben und morden werden?« 117 Dem Binnenquartett von SL 1892 zufolge wird sie von the whole of the world’s tears [›dem Ganzen von der Welt Tränen‹] begleitet, während in der endgültigen Fassung dieser Strophe the world in tears [›der Welt in Tränen‹] selbst, die zweite dramatis persona, als eine ihrer metaphorischen Inkarnationen erscheint. Ihre weiteren Verkörperungen, die Männer, die in der Szene des folgenden Verspaars »sterben und morden«, vervollständigen die Liste der personalen Substantive, und ihre untergeordnete Pyramide unterscheidet scharf die innere Strophe von SL 1925 von den umgebenden Konstrukten (vgl. 14.1), eine Unähnlichkeit, die weiter durch die Tatsache verstärkt wird, daß die dritte zentrale Hebung, die in den beiden äußeren Quartetten die stärkste ist, im inneren Quartett die leichteste Hebung ist (vgl. 17.20). 19.6 The world ist übrigens der allgemeine Wesenszug, der in A Vision den Phasen 14, 15, 16 des Großen Rades zugeordnet ist, mit dem fol114 Vgl. dazu Jakobsons Hervorhebung der »Schlüssel-Wortfügung« ›Gottes-Kämpfer‹ (bozˇ´ı bojovnı´ci) in »›Ktozˇ jsu´ bozˇ´ı bojovnı´ci‹: Slovnı´ stavba husitske´ho chora´lu«, S. 215; dt. Übs. in dieser Ausgabe, Bd. 1, S. 511. [Anm. d. Übs./Komm.] 115 Variorum Edition, S. 120 f. [Anm. d. Übs./Komm.] 116 Vgl. Bradford, »Yeats and Maude Gonne«, S. 452–474. 117 Yeats, A Vision, S. 133.
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genden sorrow; 118 und unter dem Titel »The Sorrow of the World« erschien denn auch SL 1892 Ind (vgl. 6.8). 19.7 Während die Ähnlichkeitsassoziation die Gestaltung des Binnenquartetts von SL 1925 leitet, kommt in der frühen Fassung des Gedichts die führende Rolle den Kontiguitätsbeziehungen zu. Das völlige Fehlen von menschlichen Substantiven (vs. vier in der gleichen Strophe von SL 1925), der Überschuß an Pronomina (sieben vs. zwei in der Endfassung) und vor allem das wiederholte you von SL 1892, dem A girl von SL 1925 entspricht: all dies zeugt von der *deiktischen Funktion, die dem Binnenquartett in der frühen Fassung zugrundeliegt. Mengenangaben wie II2 the whole of the world’s tears [›das Ganze von der Welt Tränen‹] und II4 myriad years [›Myriaden (von) Jahren‹] sind dem Wortschatz äußerer Beziehungen verwandt. Die Strophe, die der Phase 15 gewidmet ist, zeigt an (SL 1892) oder benennt (SL 1925), gebietet aber in jedem Fall der ›Beschreibung‹ Einhalt (vgl. 19.33). 19.8 Die Kritiker mögen sich darüber streiten, welche der beiden Fassungen ›unvollkommener‹ ist und welche mehr ›Nachsicht‹ erfordert. Dennoch, die strenge Auswahl und Anordnung der verbalen *Symbole, die in »The Sorrow of Love« aufgeboten werden, um ein harmonisches System reicher semantischer Verbindungen aufzubauen, und, in Yeats’ Worten, »zuviele sind in das Gewebe 〈seines〉 Werks eingewoben, um einen detallierten Bericht von ihnen zu geben, eine nach der anderen«,119 rechtfertigen in der Tat die Behauptung des Dichters: And words obey my call. 120 Editorische Notiz Geschrieben in Peacham, Vermont, in den Sommern 1975 und 1976 und erstmals als eigene Monographie bei Peter de Ridder Press (Lisse) 1977 veröffentlicht.
118 A. a. O. S. 102. 119 Yeats, Variorum Edition, S. 843. 120 ›Und Worte gehorchen meinem Ruf‹ (»Words«, in: The Green Helmet and Other Poems [1910], in: Variorum Edition S. 255 f.). [Anm. d. Übs./Komm.]
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Roman Jakobson und Stephen Rudy
° — Sprache, Denken, Wirklichkeit. Beiträge zur Metalinguistik und Sprachphilo-
sophie, hg. u. übs. v. Peter Krausser, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1963. Wilson, Raymond J. III: »Metaphoric and Metonymic Allegory: Ricœur, Jakobson, and the Poetry of W. B. Yeats«, in: Analecta Husserliana 42 (1994), S. 219–227. Yeats, William Butler: A Critical Edition of Yeats’s A Vision (1925), hg. v. George Mills Harper u. Walter Kelly Hood, London u. Basingstoke: Macmillan 1978. ° — A Vision, A Reissue. With the Author’s Final Revisions, 2. Aufl. (1956: 1. Aufl. der revidierten Fassung von 1938) New York: Macmillan 1961. ° — Ausgewählte Gedichte, hg. von Werner Vordtriede, Neuwied u. Berlin: Luchterhand 1960 (= Werke, 6 Bde, hg. v. Werner Vordtriede, Bd. 1). — Autobiographie, übs. v. Susanne Schaup, Frankfurt /Main: Luchterhand 1991. ° — Early Poems and Stories, London: Macmillan 1925. ° — Essays and Introductions, London: Macmillan 1968. – Essays und Einführungen, hg. v. Werner Vordtriede, Neuwied /Berlin: Luchterhand 1960 (= Werke, 6 Bde, hg. v. Werner Vordtriede, Bd. 5). ° — »Le Chagrin De L’Amour«, übs. v. Yves Bonnefoy, in: Argile 1 (1973), S. 65. ° — Memoirs. Autobiography – First Draft. Journal, hg. v. Denis Donoghue, London: Macmillan 1972. ° — »Symbolism in Painting«, in: Essays and Introductions, S. 146–152. – »Der Symbolismus in der Malerei«, übs. v. Elizabeth Gilbert, in: Essays und Einführungen, S. 140–146. — The Autobiography of William Butler Yeats: Consisting of Reveries over Childhood and Youth, The Trembling of the Veil and Dramatis Personae, Garden City, NY: Doubleday 1958. — The Countess Kathleen and Various Legends and Lyrics, London: T. Fisher Unwin 1892. — »The Philosophy of Shelley’s Poetry«, in: Essays and Introductions, S. 65–95. – »Die Philosophie in Shelleys Dichtung«, übs. v. Elizabeth Gilbert, in: Essays und Einführungen, S. 72–103. ° — »The Symbolism of Poetry«, in: Essays and Introductions, S. 153–164. – »Der dichterische Symbolismus«, übs. v. Wolfgang Kayser, in: Yeats, Essays und Einführungen, S. 147–159. ° — Variorum Edition of the Poems of W. B. Yeats, hg. v. Peter Allt u. Russell K. Alspach, New York: Macmillan 1957. — »William Blake and his Illustrations to the Divine Comedy«, in: ders., Essays and Introductions, S. 116–145. – »William Blake und seine Illustrationen zur Göttlichen Komödie«, übs. v. Elizabeth Gilbert, in: Yeats, Essays und Einführungen, S. 109–139. ° Yngve, Victor H.: »The Depth Hypothesis», in: Proceedings of Symposia in Applied Mathematics 12 (1961), S. 130–138.
Roman Jakobson und Luciana Stegagno Picchio
Die dialektischen Oxymora von Fernando Pessoa 1 Übersetzung aus dem Französischen und Kommentar Jörg Dünne Die zusammen mit der italienischen Lusitanistin Luciana Stegagno Picchio 2 verfaßte Analyse von Fernando Pessoas bekanntem Gedicht »Ulysses« [›Odysseus‹] aus der nationalistischen Gedichtsammlung »Mensagem« [›Botschaft‹] ist eine der zwei Gedichtanalysen Jakobsons zu zeitlich weit auseinanderliegenden portugiesischen Texten. 3 Sie korrespondiert darüber hinaus eng mit mindestens zwei weiteren Texten, die ebenfalls der *Figur des *Oxymorons gewidmet sind: Die von Philip Sidney über Joachim du Bellay bis hin zu Pessoa reichende Reihe von Texten mit oxymoraler *Struktur 4 deutet das historische Potential von Jakobsons Analysen an, indem sie eine zunehmende Komplexitätssteigerung des poetischen Gebrauchs des Oxymorons auf dem Weg in die Moderne erkennbar werden läßt. 1
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Vorlage: Jakobson, Roman u. Stegnano-Picchio, Luciana: »Les oxymores dialectiques de Fernando Pessoa«, in: SW III, S. 639–659. Erstdruck in: Langages 12 (1968), S. 9–27. Zweiter Abdruck in: Jakobson, Roman: Questions de Poetique, Paris: Le Seuil, 1973, S. 463–483. [Anm. d. Übs./Komm.] Luciana Stegagno Picchio, geb. 1920, 1969–1996 Professorin für portugiesische und brasilianische Sprache und Literatur an der Universität »La Sapienza« in Rom, u. a. Verfasserin einer Storia del teatro portoghese; ihre gesammelten Aufsätze zur Literatur erscheinen 1979 in einer portugiesischen und 1982 in einer französischen Fassung (La me´thode philologique), letztere mit einem Vorwort Roman Jakobsons. Stegagno Picchio lernt Jakobson in den späten 60er Jahren kennen und arbeitet mit ihm in den USA zusammen, wo auch der gemeinsame Pessoa-Aufsatz entsteht. [Anm. d. Übs./Komm.] Vgl. außerdem Jakobsons Analyse einer mittelalterlichen ›cantiga‹ von Martin Codax, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 426–438. [Anm. d. Übs./Komm.] Vgl. Jakobson, »The Grammatical Texture of a Sonnet from Sir Philip Sidney’s Arcadia«, sowie Jakobson, »›Si Nostre Vie‹: Observations sur la composition & structure de motz dans un sonnet de Joachim du Bellay« und die Übersetzungen in der vorliegenden Ausgabe. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Roman Jakobson und Luciana Stegagno Picchio
Der inspirierende Kerngedanke des Pessoa-Aufsatzes selbst besteht darin, daß eine oymorale Struktur das Prinzip sowohl für textimmanente semantische *Oppositionen als auch für die Herausbildung der berühmten Heteronyme bildet, d. h. der von verschiedenen imaginären Dichterpersönlichkeiten verfaßten Texte in Pessoas Gesamtwerk. Die rhetorisch zweifellos sehr auffällige Oppositionsstruktur des Analysetextes, deren Hervorhebung Jakobson und Stegagno Picchio ausführlich anhand der lautlichen Struktur, der grammatikalischen Besonderheiten und der Metrik des Gedichts analysieren, basiert auf Pessoas Gedanken über die legendäre Herleitung des Namens ›Lissabon‹ von Odysseus. Die oxymorale Spannung besteht darin, daß der Held an sich ›nichts‹, d. h. ein bloßer Mythos, ist, aber ›alles‹, d. h. die gesamte portugiesische Identität, hervorgebracht hat – dabei wird das Begründungsverhältnis zwischen der mythischen Figur und der realen Identität Lissabons bzw. Portugals zu einem kontradiktorischen Gegensatz von Leben und Tod zugespitzt. 5 Wenn Jakobson und Stegagno Picchio programmatisch behaupten, Pessoa lasse sich unter Zuhilfenahme von Aussagen aus seiner Korrespondenz und seinen philosophisch-ästhetischen Schriften als »Dichter der Strukturierung« charakterisieren, so ist ihre These durchaus angreifbar, da sie die poetologischen Texte Pessoas weitgehend zusammenhanglos zitieren und dabei vom wissens- und subjektgeschichtlichen Kontext der oxymoralen bzw. paradoxen Identitätszuschreibungen absehen. Nicht zuletzt an dieser unzureichend geklärten Frage der Funktion oxymoraler Strukturen entzündet sich jedoch die lebhafte Rezeption der vorliegenden Analyse in der lusitanistischen Literaturwissenschaft. 6 5 6
Zu Jakobsons /Stegagno Picchios Analyse der Überführung konträrer in kontradiktorische Aussagen in dem Gedicht s. u., Anm. 47. [Anm. d. Übs./Komm.] Die theoretischen Ansätze zweier der wichtigsten Pessoa-Forscher der jüngeren Zeit (Seabra, Fernando Pessoa ou o poetodrama; und Gil, Fernando Pessoa ou la me´taphysique des sensations) lassen sich auf den von Jakobson und Stegagno Picchio eröffneten Ansatz zurückführen, Pessoas Schreiben – und vor allem die Genese seiner Heteronyme – über die rhetorische Figur des Oxymorons zu erfassen, wobei sich beide nicht damit zufrieden geben, in den Oxymora einfach eine wesentliche Struktur von Pessoas Textproduktion zu sehen, sondern diese mit weiterführenden philosophischen Grundkonzepten verbinden: Während Seabras Ansatz dazu tendiert, die oxymoralen Spannungen in Pessoas Heteronymie sowie in seinen Texten letztlich unter dem philosophischen Dach einer coincidentia oppositorum zu harmonisieren, radikalisiert der Ansatz von Gil unter Zugrundelegung der Differenzphilosophie von Gilles Deleuze diese Spannung zu einem Schauplatz unablässiger Differenzproduktion. Zu dem von Deleuze und Gil geprägten Ansatz, schreibende Subjektkonstitution im Zeichen von oxymoralen Gegensätzen und Heteronymie zu denken, vgl. auch Dünne, »Vermessung der Distanz zu sich selbst und den Dingen«. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Eine besonders wichtige Voraussetzung für die Rezeption Jakobsons in dieser stark vom Strukturalismus geprägten wissenschaftlichen Diskussion liefert der persönliche Dialog mit dem brasilianischen Dichter und Kritiker Haroldo de Campos, welcher nicht nur den fertigen Aufsatz ins Portugiesische übersetzt, sondern auch an seiner Fertigstellung mit ergänzenden und korrigierenden Lektürevorschlägen maßgeblich beteiligt ist. Zur Dokumentation dieses Austauschprozesses wird der folgenden Analyse im Anhang dieser Ausgabe ein ausführlicher, bisher nur auf Portugiesisch veröffentlichter Kommentar von Campos zu Jakobsons Pessoa-Analyse beigegeben. 7 Jörg Dünne
No TEMPO em que festejavam o dia dos meus anos, Eu era feliz e ningue´m estava morto.8
I Seit seinem Tod am 30. November 1935 wird der Geburtstag von Fernando Pessoa immer mehr gefeiert. Während er weitgehend unpubliziert 7 8
Vgl. im vorliegenden Band, S. 669–686. [Anm. d. Übs./Komm.] ›Zu der Zeit, als mein Geburtstag gefeiert wurde, War ich glücklich und noch niemand war tot.‹ Vgl. Pessoa, Obra poe´tica, S. 343 (2. Aufl. 1965: S. 379); frz. Übs.: Guibert, Fernando Pessoa, S. 160 [Anm. v. R.J. / L.S.P.] – Bei Jakobson /Stegagno Picchio findet sich oft, aber nicht durchgängig die französische Übersetzung portugiesischer Originaltexte Pessoas, die in den meisten Fällen aus der ausführlich eingeleiteten Anthologie von Armand Guibert: Fernando Pessoa stammt. Hier werden die portugiesischen Originale durchgängig übersetzt; wo Jakobson /Stegagno Picchio nur die französische Übersetzung aufführen, wird eine deutsche Übersetzung mit einem Hinweis auf die entsprechende Stelle im portugiesischen Originaltext geliefert. Von den französischen Pessoa-Übersetzungen bei Guibert werden zumindest die Stellenangaben beibehalten, auf die Jakobson und Stegagno Picchio explizit verweisen, weil sowohl ihr Textverständnis als auch das herangezogene Textkorpus von diesen Übersetzungen maßgeblich beeinflußt sind. Ich verwende nach Möglichkeit die von Jakobson /Stegagno Picchio zitierten Standardausgaben; ansonsten wird – mangels einer vollständigen kritischen Ausgabe der Werke Pessoas – nach der kompakten dreibändigen, von Anto´nio Quadros herausgegebenen Gesamtausgabe (Obra poe´tica e em prosa) zitiert. Die Übersetzungen wurden von mir in Anlehnung an die bestehenden Übersetzungen von Georg Rudolf Lind in der beim Züricher Ammann Verlag in Auszügen erschienenen Werkausgabe angefertigt; die entsprechenden Stellenbelege sowie wichtige Abweichungen von Linds Übersetzungen werden bei den entsprechenden Textstellen in Anmerkungen aufgeführt. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Roman Jakobson und Luciana Stegagno Picchio
und – sogar in seiner Heimat – unbekannt starb, reicht heute [1968] die Feier seines achtzigsten Geburtstags, des 13. Juni 1888, weit über die Grenzen der portugiesischsprachigen Länder hinaus. Der Name Fernando Pessoa verlangt, in die Reihe der großen Künstler aus aller Welt aufgenommen zu werden, die im Laufe der 80er Jahre geboren sind: Picasso, Joyce, Braque, Stravinsky, Chlebnikov,9 Le Corbusier. All die typischen Züge dieser großen Gruppe finden sich bei dem portugiesischen Dichter in verdichteter Form wieder. »Die außergewöhnliche Fähigkeit dieser Entdecker, sich unablässig über ihre gerade erst erworbenen Gewohnheiten hinwegzusetzen, verbunden mit einer bislang ungekannten Gabe, jede beliebige alte Tradition, jedes beliebige ausländische Modell zu erneuern, ohne die Signatur ihrer persönlichen Individualität in der erstaunlichen Polyphonie immer neuer Schöpfungen zu opfern, hängt eng zusammen mit ihrem einzigartigen Gespür für die dialektische Spannung zwischen den Teilen und dem sie vereinenden Ganzen, sowie zwischen den verbundenen Teilen, insbesondere zwischen den beiden Aspekten jedes künstlerischen Zeichens, seinem Signifikant und seinem Signifikat.« 10 Pessoa muß zu den großen Dichtern der »Strukturierung« gezählt werden: 11 Seiner Meinung nach erreichen sie »in dem, was sie ausdrük9
Vgl. zum Vergleich Chlebnikov – Pessoa die Bemerkungen von Haroldo de Campos in Punkt 2) seiner »Randbemerkungen zu einer Pessoa-Analyse«, als Anhang in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 672 f. [Anm. d. Übs./Komm.] 10 Jakobson, »Retrospect«, in: SW I, S. 632. [Anm. v. R.J. / L.S.P.] – Die Stelle weist in der französischen Übersetzung, der ich hier folge, leichte Veränderungen gegenüber dem englischen Originaltext auf: »The extraordinary capacity of these discoverers to overcome again and again the faded habits of their own yesterdays, together with an unprecedented gift for seizing and shaping anew every older tradition or foreign model without sacrificing the stamp of their own permanent individuality in the amazing polyphony of ever new creations, is intimately allied to their unique feeling for the dialectic tension between the parts and the uniting whole, and between the conjugated parts, primarily between the two aspects of any artistic sign, its signans and its signatum.« [Anm. d. Übs./Komm.] 11 Brief an Francisco Costa, 10. August 1925, in: Pessoa, Obra poe´tica e em prosa, Bd. 2, S. 275 f.; frz. Übs.: Guibert, Fernando Pessoa, S. 212 f. Die Zitate, auf denen Jakobsons /Stegagno Picchios Interpretation beruhen, sind aus dem Zusammenhang gerissen und dabei z. T. in ihrer Bedeutung verändert worden; deswegen hier das Zitat in seinem Kontext auf Portugiesisch sowie in deutscher Übersetzung: »Parece a` primeira vista, e na˜o olhando sena˜o a literatura, que este crite´rio e´ especialmente destinado a antepor os poetas de ›variedade‹, os Shakespeare e os Brownings, aos poetas de ›estruturac¸a˜o‹ – Homeros, Dantes, Miltons. Na˜o e´ bem assim. Um Homero, um Dante, um Milton, como, em grande pore´m menor grau, um Camo˜es, sa˜o e´ certo mais limitados que Shakespeare no que exprimem, sa˜o, mais
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ken, mehr Komplexität, da sie ihren Ausdruck konstruieren, architektonisch formen, strukturieren«, und dieses Kriterium zeichnet sie gegenüber denjenigen Autoren aus, denen »die Qualitäten fehlen, die die konstruktive Komplexität ausmachen«.12 certamente ainda, menos profundos na expressa˜o; sa˜o, pore´m, mais complexos, porque exprimem construindo, arquitectando, estruturando, e Shakespeare – patentemente um precipitado e um impaciente – e naturalmente falho de qualidades de complexidade construtiva.« [›Es scheint auf den ersten Blick, und wenn man nur auf die Literatur schaut, als wäre dieses Kriterium (sc. die zuvor im Brief erläuterte intensive Fiktion von nicht wirklich Empfundenem) dazu bestimmt, die Dichter der ›Abwechslung‹, die Shakespeares und die Brownings, den Dichtern der ›Strukturierung‹ vorzuziehen – den Homers, Dantes, Miltons. Doch dem ist nicht ganz so. Ein Homer, ein Dante, ein Milton wie auch weitgehend, jedoch in geringerem Maße ein Camo˜es, sind sicherlich begrenzter als Shakespeare in dem, was sie ausdrücken; sie sind mit noch größerer Gewißheit weniger tief in ihrem Ausdruck; sie erreichen aber in dem, was sie ausdrücken, mehr Komplexität, da sie ihren Ausdruck konstruieren, architektonisch formen, strukturieren, und Shakespeare – in seiner offensichtlichen Überstürztheit und Ungeduld – fehlen von Natur aus die Qualitäten, die die konstruktive Komplexität ausmachen.‹] Statt um eine von Jakobson /Stegagno Picchio suggerierte eindeutige Bevorzugung der Dichter der »Strukturierung« geht es vielmehr um ihre Gleichberechtigung gegenüber den Dichtern der »Abwechslung«, d. h. vor allem Shakespeare. Allerdings kommen die Autoren am Ende ihres Aufsatzes noch einmal differenzierter auf diesen Gegensatz zurück (siehe unten, S. 662). Vgl. außerdem Haroldo de Campos’ interessante Anmerkungen zu den Dichtern der »Strukturierung« und der »Abwechslung«, die diesen Gegensatz u. a. aus Jakobsons eigenen theoretischen Kategorien aus Linguistik und Poetik heraus entwickeln (»Randbemerkungen zu einer Pessoa-Analyse«, S. 681–683). [Anm. d. Übs./Komm.] 12 Dieser Begriff taucht in den ästhetischen Überlegungen Pessoas häufig auf. In einem handschriftlichen Dokument von 1925 ist zu lesen, daß sich das Fortleben eines Werks seiner Konstruktion verdankt: »Uma obra sobrevive em raza˜o de sua construc¸a˜o, porque, sendo a construc¸a˜o o sumo resultado da vontade e da inteligeˆncia, apoia-se nas duas faculdades cujos princı´pios sa˜o de todas as e´pocas, que sentem e querem da mesma maneira, embora sintem de diferentes modos.« (Pessoa, Pa´ginas de Este´tica e de Teoria e Crı´tica Litera´rias, S. 32.) [›Ein Werk überlebt aufgrund seiner Konstruktion, denn da die Konstruktion das höchste Ergebnis des Willens und der Intelligenz darstellt, stützt sie sich auf die beiden Vermögen, deren Prinzipien allen Epochen gemeinsam sind, die allesamt darin übereinstimmen, zu empfinden und zu begehren, selbst wenn sie auf verschiedene Art empfinden mögen.‹] Vgl. Stegagno Picchio, »Pessoa, uno e quattro«, S. 379 u. 386. [Anm. v. R.J. / L.S.P.] – Auch hier wird wieder, wie bereits oben bemerkt, die Strukturierung fälschlich zu Pessoas einzigem Kriterium für die Dauerhaftigkeit eines Werkes gemacht; in Wahrheit handelt es sich aber in dem Fragment mit dem Titel »artes de influenciar« [›Künste der Einflußnahme‹] um eine Aufzählung verschiedener Kriterien, deren erstes die Strukturierung ist. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Das Werk des portugiesischen Dichters stellt eine »wesentlich dramatische« Kunst dar, deren Komplexität einer umfassenden Strukturierung unterworfen wird.13 Die angebliche mangelnde Kohärenz sowie die Widersprüche in den poetischen und theoretischen Schriften Pessoas spiegeln in Wahrheit den »inneren Dialog« 14 des Autors wider, den dieser in die Komplementarität dreier imaginärer Dichter zu verwandeln versucht.15 Alberto Caeiro sowie seine Schüler Ricardo Reis und A´lvaro de Campos – die »drei Hypostasen«, wie sie Armand Guibert, Übersetzer und Experte in der Kommentierung der Texte Pessoas, nennt 16 – entstanden aus der Einbildungskraft des Dichters, der jeden von ihnen mit einer eigenen Biographie und einem Zyklus von Gedichten versah, die in ihren künstlerischen Tendenzen sowie in ihrer Philosophie sehr persönlich gehalten waren. Von diesen drei mythischen Figuren scheinen Ricardo 13 ›Der zentrale Punkt meiner künstlerischen Persönlichkeit besteht darin, daß ich ein dramatischer Dichter bin; ich besitze immer und bei allem, was ich schreibe, die innere Exaltiertheit des Dichters und die Entpersönlichung des Dramaturgen.‹ [Anm. v. R.J. / L.S.P.] – In der mir zugänglichen zweiten Aufl. [o. J.] taucht die von Jakobson /Stegagno Picchio nach der ersten Auflage belegte Originalstelle dieses Zitats (Pessoa, Pa´ginas de doutrina este´tica, S. 226 ff.) nicht auf. Es handelt sich um eine Passage aus einem Brief Pessoas an Joa˜o Gaspar Simo˜es vom 11. 12. 1931; in der von mir verwendeten Gesamtausgabe findet sich der Text in: Pessoa, Obra poe´tica e em prosa, Bd. 2, S. 302; dt. Übs. angelehnt an Pessoa, Dokumente zur Person und ausgewählte Briefe, S. 146 f. [Anm. d. Übs./Komm.] 14 Peirce, The Simplest Mathematics, S. 10 [§ 6]. [Anm. v. R.J. / L.S.P.] – Die Fußnote fehlt in der Erstveröffentlichung und wurde, wie auch einige andere in der Folge vermerkte Passagen, erst für die Selected Writings hinzugefügt. Der Verweis auf Peirce überrascht hier zunächst – Jakobson und Stegagno Picchio verweisen auf eine Stelle aus dem Vorwort zu Band 4 der Collected Papers, in dem es um den Zusammenhang von Denken und dessen graphischer Darstellung geht. Es handelt sich trotz der Anführungszeichen nicht um ein wörtliches Zitat – die entsprechende Stelle lautet bei Peirce: »[…] thinking always proceeds in the form of a dialogue – a dialogue between different phases of the ego – so that, being dialogical, it is essentially composed of signs, as its matter, in the sense in which a game of chess has the chessmen for its matter.« [›Denken vollzieht sich immer in Form eines Dialogs – ein Dialog zwischen verschiedenen Phasen des Ich – von der Art, daß es in seiner dialogischen Natur wesentlich aus Zeichen zusammengesetzt ist, die seine Materie bilden, und zwar in dem Sinn, wie die Schachfiguren die Materie eines Schachspiels bilden.‹] [Anm. d. Übs./Komm.] 15 Zur Heteronymie bei Pessoa vgl. die klassischen Studien von Jorge de Sena, Fernando Pessoa & C a hetero´nima. Neuere Untersuchungen zur Heteronymie bei Pessoa in besserer Kenntnis des umfangreichen Nachlasses heben nicht so sehr die stilisierte Dreizahl als vielmehr die Proliferation zahlloser Heteronyme hervor – vgl. z. B. Lopes, Pessoa por conhecer. [Anm. d. Übs./Komm.] 16 Vgl. Guibert, Fernando Pessoa, S. 34–65 (Kap. III). [Anm. d. Übs./Komm.]
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Reis und A´lvaro de Campos, zwei *antithetische Dichter, die Poetik ihres Meisters, Alberto Caeiro, zugleich zu übernehmen und zurückzuweisen, und alle drei entlasten ihren Autor – seinem eigenen Glaubensbekenntnis nach »vielgestaltig bis zum Exzeß« – von der Vormundschaft, die durch seine eigene literarische Vergangenheit ausgeübt wird.17 Die drei genannten Zyklen nehmen einen breiten und bedeutenden Platz in der Gesamtheit der Schriften Pessoas ein. Einige Monate vor seinem Tod offenbarte der Dichter in einem Brief an Adolfo Casais Monteiro die Architektonik dieses Dramas für drei Personen; wir zitieren in der Folge aus dem, was Guibert »eines der ergreifendsten Dokumente der Literaturen überhaupt« nennt 18: »Dann erschuf ich eine inexistente coterie [›Sippschaft‹]. Ich fixierte das alles in den Gußformen der Realität. Ich stufte die Einflüsse ab, lernte die Freundschaften kennen, vernahm in mir die Diskussionen und die abweichenden Auffassungen, und bei alledem kommt es mir so vor, als sei ich selbst, der Urheber von alledem, dabei am wenigsten beteiligt gewesen.« 19 Guibert hebt zu Recht hervor, daß man unmöglich »den selbstgewissen und authentischen Ton eines solchen Zeugnisses anzweifeln« 20 könne. Die Erzählung des Dichters muß tatsächlich wörtlich genommen werden: »Als Alberto Caeiro erschienen war, versuchte ich 17 Brief an Armando Coˆrtes Rodrigues, 19. 1. 1915, in: Pesssoa, Pa´ginas de doutrina este´tica, S. 19–27, hier 27. Vgl. Guibert, Pessoa, S. 209f; vgl. Pessoa, Obra poe´tica: Poemas completos de Alberto Caeiro (S. 197–246); Odes de Ricardo Reis (S. 253– 296), Poesias de A´lvaro de Campos (S. 301–423) [zweisprachige deutsche Übersetzungen von Georg Rudolf Lind: Pessoa, Alberto Caeiro – Dichtungen / Ricardo Reis – Oden; Pessoa, A´lvaro de Campos, Poesı´as – Dichtungen; Anm. d. Übs./Komm.]. Vgl. die Beobachtungen von Pessoa über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede sowie über die Gegensätze und ›Kontroversen‹ zwischen den drei Heteronymen in Pessoa, Pa´ginas ´ıntimas e de auto-interpretac¸a˜o, S. 329–424 (Kap. VI–VIII). 18 Guibert, Pessoa, S. 26; »Carta soˆbre a geˆnese dos heteroˆnimos« [›Brief über die Entstehung der Heteronyme‹] (an Adolfo Casais Monteiro vom 13. Januar 1935), in: Pessoa, Pa´ginas de doutrina este´tica, S. 193–206. [dt. Übs. in: Pessoa, Dokumente zur Person und ausgewählte Briefe, S. 159–169] – »Pessoas independentes de ti« [›von dir unabhängige Personen‹], wie Pessoa schreibt, der mit der Doppelbedeutung von Eigenname und *Gattungsname (Pessoa /persona) spielt: Pessoa, Obra poe´tica, S. 387. [Anm. v. R.J. / L.S.P.] – Deutsche Übs. nach Pessoa, A´lvaro de Campos, Poesı´as – Dichtungen, S. 213. [Anm. d. Übs./Komm.] 19 Abgewandelte Übersetzung nach Lind, der vor allem die Druckmetaphorik des zweiten Satzes außer acht läßt und übersetzt: »Ich bestimmte alles nach den Regeln der Realität.« (In Pessoa, Dokumente zur Person und ausgewählte Briefe, S. 165; port.: Pessoa, Pa´ginas de doutrina este´tica, S. 202.) [Anm. d. Übs./Komm. – die Zitate aus dem genannten Brief über die Entstehung der Heteronyme werden von Jakobson /Stegagno Picchio nicht einzeln belegt.] 20 Guibert, Pessoa, S. 27. [Anm. d. Übs./Komm.]
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alsbald – instinktiv und unbewußt – Schüler für ihn zu entdecken. Ich entriß den latenten Ricardo Reis seinem falschen Heidentum, entdeckte seinen Namen und paßte ihn sich selbst an – denn in diesem Augenblick sah ich ihn bereits.« 21 Die Signatur des Meisters Ca-eir-o geht mit zwei *Metathesen (ir – ri und eir – rei) 22 in den Vor- und in den Nachnamen ein, die »angepaßt« werden, um den Schüler Ricardo Reis zu bezeichnen; von den 11 Buchstaben dieses onomastischen Glücksgriffs wiederholen neun (d. h. alle außer dem Endkonsonanten der beiden Stämme) die von Caeiro. Außerdem spiegeln sich die erste Silbe dieses Namens und das Ende des Vornamens mit einer Metathese im Namen des Schülers Ricardo.23 »Und auf einmal stieg vor mir durch eine der von Ricardo Reis entgegengesetzte Ableitung ein neues Individuum auf. In einem Wurf kam auf der Schreibmaschine, ohne Unterbrechung oder Verbesserung, die Triumph-Ode von A´lvaro de Campos ans Licht – die Ode mit diesem Namen und der Mensch mit diesem Namen.« 24 Im Hinblick auf die Namengebung verleiht diese »Ableitung« den beiden Vornamen Alberto und A´lvaro sowie den beiden Nachnamen Caeiro und Campos das gleiche Paar von Anfangsbuchstaben, während der Vorname des Schülers, A´lvaro, mit der gleichen Silbe endet wie der Name des Meisters Caeiro. Diese Briefsendung vom 13. Januar 1935 wurde nach der Gedichtsammlung Mensagem [›Botschaft‹] (Dezember 1934) verfaßt, Pessoas einzigem zu Lebzeiten erschienenen portugiesischen Buch. Die Geschichte der drei imaginären Künstler, die ihren Schöpfer als »dabei am wenigsten beteiligt« 25 hinstellen, steht mit dem Gedicht »Ulysses« in engem Zusammenhang, das den Vorrang und die Vitalität des Mythos im Verhältnis zur Realität verkündet. In der Botschaft besingt dieser aus 15 Versen bestehende Text Odysseus als sagenhaften Gründer Lissabons 26 sowie der portugiesischen Nation und rühmt den rein imaginären Charakter seiner 21 Übersetzung nach Lind (dt. in: Pessoa, Dokumente zur Person und ausgewählte Briefe, S. 164; port.: Pessoa, Pa´ginas de doutrina este´tica, S. 202). [Anm. d. Übs./ Komm.] 22 Die in Klammern stehende Erläuterung fehlt in der Erstveröffentlichung. [Anm. d. Übs./Komm.] 23 Der Satz fehlt in der Erstveröffentlichung. [Anm. d. Übs./Komm.] 24 Übersetzung nach Lind (in: Pessoa, Dokumente zur Person und ausgewählte Briefe, S. 164 f.; port.: Pessoa, Pa´ginas de doutrina este´tica, S. 202). [Anm. d. Übs./ Komm.] 25 A. a. O., S. 165 (dt.); port.: a. a. O., S. 202. [Anm. d. Übs./Komm.] 26 Zur legendären Etymologie (›Lisboa‹ < ›Ulisipo‹) des Namens Lissabon vgl. u. a. den Eintrag »LISBOA (Origem do nome)«, in: Diciona´rio da histo´ria de Lisboa, S. 499. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Taten; er begründet damit, trotz dieser Überlagerung des wirklichen Lebens durch den Mythos, die heroische Geschichte Portugals; insbesondere folgen ihm die zahlreichen Gedichte, die die berühmtesten Männer der Nation über die Jahrhunderte hinweg glorifizieren. Hier der Wortlaut dieses Gedichts, des ersten in dem heraldischen Zyklus »Os castelos« [›Die Schlösser‹]: 27 Ulysses I
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II
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III
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O mytho e´ o nada que e´ tudo. O mesmo sol que abre os ce´us E´ um mytho brilhante e mudo – O corpo morto de Deus, Vivo e desnudo. Este, que aqui aportou, Foi por na˜o ser existindo. Sem existir nos bastou. Por na˜o ter vindo foi vindo E nos creou. Assim a lenda se escorre A entrar na realidade, E a fecundal-a decorre. Em baixo, a vida, metade De nada morre. Odysseus 28
I
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Der Mythos ist das Nichts, das alles ist. Die Sonne selbst, die die Himmel 29 öffnet, Ist ein strahlender und stummer Mythos –
27 Pessoa, Obra poe´tica, S. 72. Die Orthographie folgt der Erstausgabe. [Anm. v. R.J. / L.S.P.] – Die von Jakobson und Stegagno Picchio verwendete Ausgabe der Gedichte Pessoas behält die zum Teil bewußt archaisierende Orthographie Pessoas bei (vgl. a. a. O., S. 70, FN 1), die sich z. B. in der Schreibung von I1 mytho und von III3 fecundal-a niederschlägt (nach der portugiesischen Orthographiereform von 1911 wären die eigentlich korrekten Formen hier ›mito‹ bzw. ›fecunda´-la‹). Vgl. Pessoas Schriften zum Thema der etymologisierenden Orthographie in A lı´ngua portuguesa sowie das Nachwort der Herausgeberin Luı´sa Medeiros: »Em demanda da ortografia etimolo´gica«. [Anm. d. Übs./Komm.] 28 Übersetzung unter Vergleich mit Linds Übersetzung in: Pessoa, Esoterische Gedichte. Mensagem – Botschaft. Englische Gedichte, S. 63. Ich versuche, gegenüber der Übersetzung von Lind die Wortstellung sowie die Morphologie des Originaltextes genauer nachzubilden; semantisch weicht meine Übersetzung von seiner vor allem in zwei Punkten ab: II2 foi übersetze ich, wie Jakobson /Stegagno Picchio, mit ›er war‹
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II
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III
1 2 3 4 5
Der tote Leib Gottes, Lebendig und nackt. Der, der hier an Land ging, War, weil er nie existierte. Ohne zu existieren, genügte er uns. Weil er nicht gekommen war, war er im Begriff zu kommen 30 Und erschuf uns. So entströmt die Legende Beim Eintreten in die Wirklichkeit Und sie verfließt dabei, diese zu befruchten. Unten stirbt das Leben, Hälfte von nichts.31
II Jeder der drei Fünfzeiler schließt zwei verschiedene *Reime in sich, von denen einer die Versklauseln der drei ungeraden und einer die der geraden Verse der *Strophe vereint. Die Klausel umfaßt die beiden letzten Vokale des Verses, von denen der erste akzentuiert ist. Alle Konsonanten, die jedem dieser beiden Vokale folgen, stimmen, der traditionellen Norm statt mit ›er ging‹ (die Vergangenheitsform beider Verben ist im Portugiesischen gleich); III1 a lenda se escorre [frz.: ›la le´gende jaillit‹] übersetze ich, ebenfalls wie Jakobson /Stegagno Picchio, mit ›die Legende entströmt‹ statt, wie Lind, ungenau mit ›die Sage versiegt›; dagegen bevorzuge ich mit Lind in I2 ›die Sonne selbst‹ statt, wie bei Jakobson ›dieselbe Sonne‹ [frz.: ›le meˆme soleil‹] für O mesmo sol. Die gesamte Übersetzung von Lind lautet: »Der Mythos ist das Nichts, das alles ist. Die Sonne selbst, die uns den Himmel aufschließt, ein glänzender und stummer Mythos – und Gottes toter Leib nackt und lebendig. Der hier an Land gegangen ist, der ging, weil er nie existiert hat. Niemals vorhanden und uns doch genug. Weil er nicht kam, ist er gekommen und erschuf uns. Und so versiegt die Sage beim Eintritt in die Wirklichkeit, befruchtet sie und stirbt selbst ab. Unten vergeht das Leben, das halbe Nichts.« [Anm. d. Übs./Komm.] 29 Mit der im Deutschen ungewöhnlichen Pluralform wird der *Numerus des portugiesischen Originals nachgebildet, wobei die Verwendung des Plurals im Original nicht besonders hervorgehoben ist. [Anm. d. Übs./Komm.] 30 Verlaufsform des Präteritums, das auch in der französischen Übersetzung von Jakobson /Stegagno Picchio [›il fut l’arrivant‹] nachgebildet wird. [Anm. d. Übs./ Komm.] 31 Die deutsche Übersetzung kann die Satzstellung des Portugiesischen nicht nachbilden; folglich ist das charakteristische *Enjambement zwischen III4 metade [›Hälfte‹] und III5 de nada« [›von nichts‹], auf das Jakobson /Stegagno Picchio weiter unten (vgl. S. 643) eingehen, in der Übersetzung aufgelöst. [Anm. d. Übs./Komm.]
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entsprechend, lautlich überein. Wo ein Konsonant zwischen den zwei Vokalen fehlt, ist der zweite Vokal unsilbisch: I2 ce´us [›Himmel‹] – 4 Deus [›Gott‹], II1 aportou [›ging an Land‹] – 3 bastou [›genügte‹] – 5 creou [›erschuf‹].32 Als zweiten Vokal des Reims benutzen alle fünf Verse innerhalb jeder Strophe das gleiche *Phonem in seinen silbischen oder unsilbischen Varianten. Wo die Klausel ohne intervokalische oder Endkonsonanten ist und wenn dem betonten Phonem ein Konsonant vorausgeht, ist dieser Teil des Reims.33 Der erste Vokal der Reime wird in den ungeraden Versen aller Strophen abgerundet (abgeschwächt), nicht jedoch in den geraden Versen. Der letzte Vers jeder Strophe ist von seinem Beginn bis zur Versklausel drei Silben lang, alle anderen Verse sechs Silben.34 So umfaßt jede Strophe vier vollständige Verse, gefolgt von einem Teilvers. An den 32 Bei den genannten Beispielen handelt es sich jeweils um Diphthonge. [Anm. d. Übs./Komm.] 33 Diese umständliche Beschreibung bezieht sich allein auf die Verse II1 aportou und II3 bastou. [Anm. d. Übs./Komm.] 34 In der portugiesischen Metrik werden, wie in den anderen romanischen Sprachen auch, Versarten silbenzählend bestimmt. Darauf gehen Jakobson /Stegagno Picchio mit Ausnahme einer kurzen Bemerkung zur Synaloephe (vgl. den folgenden Satz des Haupttextes) nicht näher ein – ihr Interesse liegt vor allem auf anderen metrischen Phänomenen wie z. B. der Rhythmisierung des Verses. Dennoch setzt ihre Analyse die Kenntnis grundlegender metrischer Regeln voraus, die in der Folge, soweit dies für die Gedichtanalyse relevant ist, kurz zusammengefaßt und am vorliegenden Gedicht veranschaulicht werden soll (vgl. grundlegend zur portugiesischen Metrik Carvalho, Teoria geral da versificac¸a˜o): Bei der Verszählung ist zum einen zwischen den Wortgrenzen auf Synaloephen (unten als › ‹ wiedergegeben) und *Hiate (›‹) zu achten, zum anderen innerhalb eines Worts auf Diphthonge (unterstrichen) sowie ggf. *Synäresen bzw. Diäresen. Schließlich gibt es bezüglich der Silbenzählung noch eine Besonderheit der modernen portugiesischen Lyrik, die mit dem von Jakobson /Stegagno Picchio beschriebenen Phänomen der Versklausel in Verbindung steht: Unabhängig von der tatsächlichen Silbenzahl zählt man die letzte Tonsilbe eines Verses, mit der – in den Worten von R. J./L. S.-P. – die Klausel beginnt, als letzte Silbe des Verses; die folgenden Silben (eingeklammert) sind für die Verslänge nicht mehr von Belang. – Hier eine kurze Übersicht über die genannten metrischen Besonderheiten im vorliegenden Gedicht, aus der hervorgeht, daß es sich in dem Gedicht durchgängig um einen siebensilbigen Vers handelt, mit Ausnahme des jeweils letzten Verses einer Strophe, der viersilbig ist: ›O mytho e´ o [doppelte Verschleifung /Triphthong] nada que e´ tu(do) / O mesmo sol que abre os ce´us / e´ um mytho brilhante e mu(do) – / O corpo morto de Deus / Vivo e desnu(do). // Este, que aqui aportou, / Foi por na˜o ser existin(do). / Sem existir nos bastou. / Por na˜o ter vindo foi vin(do) / E nos creou. // Assim a lenda se escor(re) / A entrar na realida(de), / E a fecundal-a decor(re). / Em baixo, a vida, meta(de) / de nada mor(re).‹ [Anm. d. Übs./Komm.]
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*Wortgrenzen findet sich bei der Verbindung zweier Vokale, von denen mindestens der erste unbetont ist, eine *Synaloephe, d. h. eine Zusammenziehung zu einer Silbe durch *Elision oder Verschmelzung zu einem Diphthong. Diese traditionelle Regel reduziert die Anfangsvokale, denen im Versinneren kein Konsonant vorausgeht, auf ein Minimum, und ihre Seltenheit macht das Auftreten vokalischer Anlaute am Beginn des Verses besonders auffällig; vor dem Vers liegt notwendig eine metrische Pause, unabhängig davon, welche Form sie in verschiedenen Vortragsstilen erhält.35 Die Verteilung der Vokale und Konsonanten im Anlaut folgt einem klaren und regelmäßigen Schema: 1. 2. 3. 4. 5.
i V V V V K
ii V K K K V
iii V V V V K
Es fallen der strenge *Parallelismus der beiden Randstrophen, die identische Behandlung des Beginns aller Strophen (V V V) und die *antisymmetrische Verteilung der Vokale und Anfangskonsonanten im fünften Vers der drei Strophen (K V K) im Verhältnis zu den Versen 2–4 (V K V) auf. Die konsonantischen Versanfänge sind stimmlos in der Mittelstrophe und stimmhaft in den beiden anderen Strophen. Der *Kontrast zwischen der Mittelstrophe und den beiden Randstrophen wird auch in der syntaktischen Aufteilung der drei Fünfzeiler sichtbar. Die Mittelstrophe teilt sich in drei Sätze auf: Der mittlere Vers dieser Strophe sowie des gesamten Gedichts, II3 Sem existir nos bastou [›Ohne zu existieren, genügte er uns‹], bildet einen selbständigen Satz und wird von zwei Sätzen mit ihrer Länge von zwei Versen eingerahmt. Jede der beiden Randstrophen ist aus zwei Sätzen gebildet, von denen der äußere kürzer ist als der innere. Der zweite Vers des Gedichts teilt mit dem vorletzten das Fehlen einer syntaktischen Pause am Ende des Versschlusses I2 O mesmo sol que abre os ce´us 3 E´ um mytho 〈…〉 [›I2 Die Sonne selbst, die die Himmel öffnet 3 ist ein 〈…〉 Mythos‹]; III4 Em baixo, a vida, metade 5 De nada, morre [›III4 Unten, das Leben, Hälfte 5 von Nichts, stirbt‹]. Diese *Symmetrie ist für einen Unterschied in der relativen Länge der beiden Sätze im Inneren dieser Strophen verantwortlich: In der ersten Strophe umfaßt der kurze Satz einen einzigen Vers (1) und 35 Der Teilsatz nach dem Semikolon fehlt in der Erstveröffentlichung. [Anm.d. Übs./ Komm.].
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der lange Satz vier Verse (2–5), beim entsprechenden Verhältnis in der dritten Strophe stehen sich ein Satz über die drei Anfangsverse hinweg (1–3) und der Satz der beiden folgenden Verse (4–5) gegenüber.
III Das Oxymoron ist die dominante Figur des ganzen Gedichts, und diese Verbindung von Wörtern tritt in zwei unterschiedlichen Varianten auf: ein Ausdruck wird mit dem kontradiktorischen oder dem konträren Begriff verbunden. 36 Die Verteilung dieser Kunstgriffe 37 im Texte von »Ulysses« ist streng symmetrisch. Die Besonderheit der Anlaute in den drei inneren Versen des zweiten Fünfzeilers im Verhältnis zu den entsprechenden Versen der beiden anderen Strophen und zu den äußeren Versen desselben Fünfzeilers findet in der Verteilung der Oxymora eine auffällige Entsprechung. Der dritte Vers des mittleren Fünfzeilers – anders ausgedrückt: der mittlere Vers des Gedichts – und die beiden benachbarten Verse sind die einzigen, die zwei Verbalausdrücke in Beziehung setzen: eine positive [bejahte] Nebensatzstruktur in Form eines Verbs im Präteritum wird einer negativen [verneinten] 38 Nebensatzstruktur, d. h. einem Infinitiv mit Präposition, gegenübergestellt: Die Präposition ist dabei von sich aus privativ – sem [›ohne‹] im mittleren Vers (II3), oder ihr folgt ein negatives [verneintes] Präverb nach – por na˜o [›weil…nicht‹] in den beiden benachbarten Versen (II2, 4). Der mittlere Vers wird konzessiv nuanciert: »obwohl er nicht kam«,39 während die beiden angrenzenden Verse klare kausale Aussagen bilden: »weil er nicht existierte«, »weil er nicht kam«. 36 Vgl. hierzu weiter unten, Anm. 47. [Anm. d. Übs./Komm.] 37 Die Formulierung ›proce´de´‹ [wörtl.: ›Verfahren‹] im französischen Original wird hier als Äquivalent des russischen ›prie¨m‹ verstanden. [Anm. d. Übs./Komm.] 38 Das französische Gegensatzpaar ›positiv‹ vs. ›ne´gatif‹, das eine Art Leitmotiv in Jakobsons /Stegagno Picchios Analyse der Oxymora darstellt, kann im Deutschen in bezug auf semantische Oppositionen wörtlich übersetzt werden; in bezug auf syntaktische Zusammenhänge bedeutet es allerdings eher ›bejaht‹ vs. ›verneint‹. Um der charakteristischen Verschränkung von semantischer und syntaktischer Analyse bei Jakobson /Stegagno Picchio möglichst genau folgen zu können, verwende ich hier durchgängig die wörtliche Übersetzung ›positiv‹ vs. ›negativ‹ und ergänze sie in Klammern, wo nötig, um die genannte Variante. [Anm. d. Übs./Komm.] 39 Irrtum von Jakobson /Stegagno Picchio: Der mittlere Vers (II3) spricht von der Nichtexistenz Odysseus’ (sem existir) und nicht von seiner ausbleibenden Ankunft. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Bezüglich der *lexikalischen Bedeutungen der gegenübergestellten Verben verkündet der Dichter die Nichtigkeit der phänomenalen Existenz zugunsten des noumenalen Seins 40: II2 Foi por na˜o ser existindo [›War, weil er nicht existierte‹]; foi, Präteritum des Verbs ser, überlagert also ser existindo, eine Konstruktion, die das Verb »sein« auf die Rolle einer *Kopula reduziert, die ihrem Attribut, dem Gerundium mit durativer Nuancierung existindo, untergeordnet ist. Man könnte fast übersetzen: »sich in einem Zustand des Dahinlebens befinden«,41 und man würde mit Bachelard feststellen, daß »nicht alles auf dieselbe Art wirklich ist« und daß »die Existenz keine monotone Funktion ist«.42 Der Übergang vom Negativen zu Positiven [von der Verneinung zur Bejahung] wird im folgenden Vers durch die Einführung eines konkreten, *totalisierenden Verbs verstärkt – 3 bastou [›genügte‹] – und schließlich noch durch die Opposition zweier *homonymer nominaler Formen des Verbs vir: derselbe Signifikant vindo steht für das Partizip der Vergangenheit und für das Gerundium: ter vindo, Infinitiv des Perfekts, und foi vindo [›er war kommend‹], Kombination der 40 Die Unterscheidung von phainomena und noumena, d. h. von sinnlich und vernunftmäßig Erkennbarem, geht zurück auf die Philosophie Kants, wobei sich Pessoas Insistenz auf der übersinnlichen Wirklichkeit von etwas nicht erscheinungsmäßig Gegebenem demonstrativ gegen die kantische Beschränkung des Vernunftgebrauchs auf sinnlich Wahrnehmbares richtet (vgl. Kant, »Vorrede«, in: Kritik der reinen Vernunft, S. 11–19 [A VII–XXII]). Zum Spiel Pessoas mit dem Gegensatzpaar noumena und phainomena vgl. auch Anm. 42, zum Verhältnis von ser und existir vgl. auch Haroldo de Campos in Punkt 4) seiner »Randbemerkungen zu einer Pessoa-Analyse«, S. 676. [Anm. d. Übs./Komm.] 41 Frz.: ›eˆtre vivotant‹ – die französische Sprache kennt selbst Gerundialkonstruktionen wie die portugiesische; deren Fehlen wird hier im Deutschen mit der Umschreibung ›sich in einem Zustand befinden‹ wiederzugeben versucht; außerdem hat das von Jakobson verwendete Suffix ›viv-oter‹ im Französischen eine negative Konnotation, die eine Verlangsamung des Lebens im Sinne eines Vegetierens beschreibt. [Anm. d. Übs./Komm.] 42 Bachelard, La philosophie du non, S. 54; dt. Übs., S. 69. Vgl. Pessoa, Textos filoso´ficos, Bd. 1, S. 154: »Vimos que todas as coisas se dividem, por assim dizer, em noumena e phainoumena.« [›Man sieht, daß sich alle Dinge sozusagen in noumena und phainoumena aufteilen lassen.‹] Es scheint so, als würde Pessoa eine ›falsche‹, poetische und *paronomastische, etymologische Verbindung zwischen noumena und phainomena herstellen – er schreibt phainoumena [statt ›phainomena‹] (die Beobachtung stammt von Haroldo de Campos, dem Übersetzer der brasilianischen Ausgabe dieses Aufsatzes: »Os oximoros diale´ticos de Fernando Pessoa«, S. 100). [Anm. v. R.J. / L.S.P., mit Ausnahme der ersten Literaturangabe fehlt die Fußnote in der Erstveröffentlichung.] – Weitere Übersetzungen des Aufsatzes sind – in Anlehnung an die Pessoa-Bibliographie auf den Internetseiten des Instituto Camo˜es (Nunes, »Fernando Pessoa: Estudos«) – in der Bibliographie am Ende dieses Kommentars aufgeführt. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Kopula im Präteritum mit dem Gerundium. Die *Konnotation einer mythischen Dauer legt sich über die empirische Absage an ein vorübergehendes Ereignis der Vergangenheit. Unter Beibehaltung der grammatikalischen Bestandteile von Vers 2 kehrt Vers 4: foi – foi, por na˜o ser – por na˜o ter, (ser) existindo – (foi) vindo [›er war – er war, weil er nicht war – weil er nicht hat, existierend sein – kommend sein‹] ihre Reihenfolge um und akzentuiert den Übergang vom Negativen zum Positiven [von der Verneinung zur Bejahung], indem er ersterem die Position des Vordersatzes (*Protasis) und letzteren die des Nachsatzes (*Apodosis) zuweist. Der Held der zentralen Strophe, Odysseus, dessen legendäre Landung in der Tejomündung sich nur einer paronomastischen Verbindung seines Namens [Ulysses] mit Lisboa [Lissabon] verdankt und dessen Existenz selbst einen mythischen Charakter hat, hatte sich der Odyssee zufolge den Namen Niemand (OyËtiw eÆmoi g' oÍnoma) zugelegt.43 Im Vers von Pessoa wird er nur durch einen *anaphorischen Verweis (II1 Este [›Der /Dieser‹]) auf den Titel des Gedichts bezeichnet. Das dreifache Oxymoron des betreffenden Fünfzeilers gipfelt in der Apotheose der väterlichen Macht dieser physisch abwesenden und nicht existierenden Gestalt: II5 E nos creou [›Und erschuf uns‹]. Der mittlere Vers des Gedichts konkretisiert das nominale Oxymoron des Anfangsverses und transponiert es in verbale Ausdrücke: Der Held, der nicht existiert hat und folglich auf der historischen Ebene ein bloßes nada [›Nichts‹] ist, hat uns vollständig erfüllt 44 und ist somit auf der übernatürlichen Ebene ein tudo [›Alles‹] geworden. Insgesamt entsprechen die drei mittleren Verse mit ihren Verbindungen kontradiktorischer Ausdrücke den beiden Rändern des Gedichts, d. h. dem ersten und dem letzten Vers. Diese zentralen bzw. die Randverse benutzen als einzige die Verneinung, um sie mit einem positiven Ausdruck zu konfrontieren, die Arten der Verneinung unterscheiden sich jedoch. Die »Nukleusnegation«, die ein negatives Substantiv verwendet – nada [›nichts‹] – charakterisiert die beiden Randverse des »Ulysses«, während die zentralen Verse sich der »konnexionellen Negation« bedienen, die das Verb um die Markierung des Entzugs von etwas ergänzt.45 43 Homer, Odyssee, Gesang 9, V. 366; dt. Übs. (v. Johann Heinrich Voss), S. 119. [Anm. d. Übs./Komm.] 44 Jakobson /Stegagno Picchio übersetzen nos bastou mit »nous a comble´« [›hat uns erfüllt‹] anstatt wörtlich mit »genügte uns« [›nous a suffi‹] – sie scheinen somit irrtümlich die Wortbedeutung von port. ›abastar‹ und nicht von ›bastar‹ zugrunde zu legen. [Anm. d. Übs./Komm.] 45 Vgl. Tesnie`re, E´le´ments de syntaxe structurale, S. 217–221 (Kap. 87 f). [Anm.
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Das Oxymoron des Eingangsverses – I1 o nada que ´e tudo [›das Nichts, das alles ist‹] – ordnet den positiven [bejahten] Ausdruck dem negativen [verneinten] formal unter; dagegen wird auf der Ebene der Semantik die positive Gesamtheit der negativen Gesamtheit übergeordnet. Im letzten Vers des Gedichts bestimmt das Substantiv nada das *Syntagma – III4 metade 5 de nada [›III4 die Hälfte 5 von Nichts‹] –; dabei widerspricht der Teilungsausdruck metade, der den Begriff eines positiven Ganzen impliziert, dem negativen Ganzen de nada und verleiht der Apposition den Sinn einer seltsamen und tristen *Hyperbel. Ein identisches Gefälle zwischen der formalen und semantischen Hierarchie (die semantische Überlagerung des Determinierten durch den Determinierenden) ist an jeder der beiden Außenpositionen des Gedichts erkennbar, wobei andererseits der Schlußsatz die innere Ordnung aller vorangegangenen Oxymora umkehrt und den Übergang vom Positiven zum Negativen durchsetzt. Bezüglich der Abfolge der Ausdrücke in der Sequenz entspricht der Gedichtanfang der Anordnung von Vers II4 (negativ → positiv), während Vers II2 und das Ende des Gedichts die entgegengesetzte Anordnung aufweisen (positiv → negativ). Die Gegenüberstellung der Oxymora und ihrer Bestandteile an den beiden Rändern des Gedichts einerseits und im Mittelvers andererseits läßt eine *Spiegelsymmetrie deutlich werden. Die beiden Randstrophen enthalten aber noch zwei weitere Oxymora, die ihrerseits auf der Verbindung von Gegenteiligem beruhen und beide mit dem letzten Verspaar des Fünfzeilers in Verbindung stehen – sie gehorchen dem Prinzip der direkten Symmetrie. Nebenbei sei darauf hingewiesen, daß dasselbe Verspaar in den beiden Randstrophen eine komplexe Apposition beinhaltet. Aber bezüglich der Abfolge der beiden Ausdrücke im Inneren der Figur und ihrer semantischen Hierarchie folgen diese beiden Oxymora wiederum dem Prinzip der Spiegelsymmetrie. Alle beide bringen dieselben Gegensätze ins Spiel: das Leben und den Tod.46 v. R.J. / L.S.P.] – Deutsche Übersetzung nach Tesnie`re, Grundzüge der strukturalen Syntax, S. 154–157. [Anm. d. Übs./Komm.] 46 Dieser Typ von Oxymoron geht auf eine mittelalterliche Tradition zurück; es lassen sich viele Beispiele dafür bei Gottfried von Straßburg finden, wie zum Beispiel: sus lebet ir leben, sus lebet ir tot. / sus lebent sie noch und sint doch tot / und ist ir tot der lebenden brot [deutsch im Original; es handelt sich um die Verse 238–240 des Tristan, Anm. d. Übs./Komm.]: Scharschuch, Gottfried von Straßburg: Stilmittel – Stilästhetik, S. 19 f. Vgl. »A vida na˜o concorda consigo pro´pria porque morre. O paradoxo e´ a fo´rmula tı´pica da Natureza. Por isso toda a verdade tem uma forma paradoxal.« [›Das Leben stimmt mit sich selbst nicht überein, weil es stirbt. Das Paradox ist die typische Formel der Natur. Deshalb hat alle Wahrheit paradoxe
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So wird der »tote Leib Gottes« – I4 corpo morto de Deus – durch ein zweites *Epitheton, das nun vom determinierten Nomen abgetrennt ist, für »lebendig« erklärt – I5 vivo [›lebendig‹]. Das ist ein Beispiel für den allmächtigen Mythos: Der Sonnenaufgang öffnet den [wörtl.: ›die‹] Himmel und verbindet sich dabei, der kirchlichen Symbolik entsprechend, mit dem Bild der Wiederauferstehung. Andererseits erhält am Ende der letzten Strophe das »Leben« – III4 vida – das Prädikat »stirbt« 5 morre. Die Wortfolge morto-vivo [›tot-lebendig‹], die mit dem himmlischen Mythos des Übergangs vom Tod zum Leben verbunden ist, wird von der entgegengesetzten Reihenfolge vida-morre [›Leben-stirbt‹] abgelöst und somit vom irdischen Motiv (III4 Em baixo [›unten‹]) des Triumphs des Todes über das Leben. Der charakteristische Zug des gesamten Gedichts ist eine Spannung zwischen der Negation und der Affirmation: Die konträren Ausdrücke verwandeln sich in kontradiktorische 47 – das beständige Leben wird zu Nichts –, und die negativen Ausdrücke der beiden inneren Oxymora verbinden sich als Abschluß des letzten Verses des Gedichts. So ersetzt schließlich das nada [›Nichts‹], das im Gegensatz zum metaphysischen Sein steht, das »Nichts« im Sinn einer fehlenden physischen Existenz, das in der Definition des Mythos zu Beginn des Gedichts beschworen wird. In den Oxymora des Autors verwandeln sich die üblichen Synonyme in *Antonyme, aber sogar die scheinbare Identität von Klang und Sinn zwischen den lexikalischen Elementen und den entsprechenden Oxymora wendet sich ins *Äquivoke um – in Übereinstimmung mit der Poetik Pessoas, der den Doppelsinn in gängigen Wörtern sucht und sie in Homonymen-Paaren verdoppelt. So zum Beispiel bedeutet »obdachlos und Gestalt.‹] Pessoa, Pa´ginas ´ıntimas, S. 124 (Antwort auf einen literarischen Fragebogen vom 30. 4. 1916). [Anm. v. R.J. / L.S.P.] 47 In der formalen Logik heißen Urteile kontradiktorisch, wenn sie nicht zugleich wahr oder falsch sein können, d. h. kein Drittes möglich ist (›lebendig – tot‹). Konträre Urteile können nicht zugleich wahr, aber zugleich falsch sein, d. h. es besteht die Möglichkeit eines Dritten (›rot – gelb – grün‹). Die gegenseitige Überführbarkeit konträrer und kontradiktorischer Aussagen ist ein Aspekt der Philosophie Fichtes, den Gotthard Günther in die formallogischen Begriffe gefaßt hat (Günther, Idee und Grundriß einer Nicht-Aristotelischen Logik, v. a. Kap. 1, 2 u. Nachwort). Jakobsons scharfsinniger Aufweis einer Überführung konträrer in kontradiktorische Aussagen bei Pessoa macht als Gesamtbewegung des Gedichts eine Zuspitzung der oxymoralen Struktur durch die zunehmend metaphysische Aufladung des ›Nichts‹ deutlich: Während die mythische Existenz des Odysseus zu seiner physischen Inexistenz noch in einem auflösbaren (konträren) Widerspuch steht, kann man dies für das ›sterbende Leben‹ in den letzten beiden Versen nicht mehr behaupten – es ist in sich kontradiktorisch. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Bettler auf meine Art zu sein nicht, obdachlos und Bettler auf die übliche Art zu sein« usw.48 Anders ausgedrückt unterscheiden sich die offensichtlich ähnlichen oder fast synonymen Wörter in ihren Bedeutungen, weil sie ihren Ursprung in verschiedenen, im Gebrauch jedoch vermischten Idiomen haben. In der Tat stellen die Oxymora Pessoas diese funktionalen Dialekte sowie die unvereinbaren Konzeptionen, die sie widerspiegeln, einander gegenüber und grenzen sie voneinander ab. In den drei Strophen des Gedichts bildet die Verteilung der sieben Oxymora (2 + 3 + 2), die sich vor dem Hintergrund der sieben Zeilen ohne eine solche Figur (2 + 2 + 3) abzeichnen, eine Gesamtheit mit fester Form und Verteilung: I 1 eröffnend (A1) 2 3 4 ⎫ am Ende ⎬ 5 ⎭ des Prologs (B1)
II
III
vorangestellt (C1) zentral (D) nachgestellt (C2)
⎫ ⎬ ⎭
am Ende des Epilogs (B2) und abschließend (A2)
IV Die drei Strophen sind durch eine Kette lautlicher Korrespondenzen verbunden, die die Oxymora des Gedichts hervorheben und miteinander verknüpfen. So findet der Schwellenvers O mytho ´e o nada que ´e tudo [›Der Mythos ist das Nichts, das ist alles (Anpassung der Satzstellung im Relativsatz an das portugiesische Original)‹] sein Echo in den, vor allem konsonantischen, Phonemen der abschließenden Apposition – III4 metade 5 de nada [›Hälfte von nichts‹]. Auf die sechs /m/ der ersten vier Verse (I1 mytho [›Mythos‹] – 2 mesmo [›selbst‹] – 3 mytho [›Mythos‹] – mudo [›stumm‹] – 4 morto [›tot‹] antworten die zwei /m/ des Schlußsatzes (III4 metade [›Hälfte‹] – 5 morre [›stirbt‹]), die vom Vierzeiler am Beginn durch neun Verse ohne dieses Phonem getrennt sind. Das Ende der beiden Randstrophen variiert die Reihenfolge einer ähnlichen Folge von Phonemen: I4 〈…〉 morto de deus [›〈…〉 tot 〈…〉 von Gott‹], 5 vivo e desnudo [›Lebendig und nackt‹] – III4 〈…〉 vida, metade [›Leben, Hälfte‹] 5 de nada [›von nichts‹]. Die gleiche hervorstechende Figur, bekannt unter der Bezeichnung »Dorica Castra«,49 erscheint auch in den beiden folgenden 48 Pessoa, Obra poe´tica, S. 414: »Sim, ser vadio e pedinte, como eu sou, / Na˜o e´ ser vadio e pedinte, o que e´ corrente«; frz. Übs.: Guibert, Fernando Pessoa, S. 16. 49 Vgl. Godel, »Dorica Castra«, S. 760–769, hier S. 761 f. [Anm. v. R.J. / L.S.P.] – Es
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Passagen: I4 de deus [›Gottes‹] und III4 metade 5 de nada [›Hälfte von nichts‹] (mit verschiedenen Varianten des Phonems /e/). Die lautliche Anordnung der gesamten dritten Strophe bereitet die Sequenz de nada [›von nichts‹] des Schlußverses vor, deren *Anagramm man in der Form III2 na realidade [›in die Wirklichkeit‹] und in der Wiederholung der Silben de und da erkennen kann, wobei letztere meistens auf ein /n/ folgt: 1 lenda [›Legende‹] – 3 fecunda [›befruchten‹] – decorre [›verfließt‹] – 4 vida [›Leben‹] – metade [›Hälfte‹]. Die Kombination eines *labialen *Okklusivs und eines /r/ wiederholt sich mit Variationen in den drei inneren Versen der ersten Strophe: 2 abre [›öffnet‹] – 3 brilhante [›strahlend‹] – 4 corpo [›Leib‹]; dieses Nomen und sein assonierendes Attribut – corpo morto [›toter Leib‹] – scheinen sich im ersten Verb der mittleren Strophe zu kreuzen – 1 aportou [›ging an Land‹] –, das an der lautlichen Struktur beider Wörter teilhat und dessen Anfangssilbe in den Oxymora dieser Strophe zweimal wieder auftaucht: 2 por [›weil /wegen‹] – 4 por. Eine dreimal wiederholte Konsonantengruppe verbindet die beiden ersten Oxymora der selben Strophe: 2 existindo [›existierte /existierend‹] – 3 existir [›existieren‹] – bastou [›genügte‹]; um die Liste der dreifachen Gleichklänge abzuschließen, sei vermerkt, daß der zweite Ausdruck des letzten Oxymorons der ersten Strophe – 5 vivo [›lebendig‹] – seine Tonsilbe mit denen des letzten Oxymorons der zweiten Strophe teilt: 4 Por na˜o ter vindo foi vindo [›Weil er nicht gekommen war, war er im Begriff zu kommen‹]. Der Satz geht so weiter: 5 e nos creou [›Und erschuf uns‹], und die Schlußfolgerung, die am Beginn der dritten Strophe daraus gezogen wird – »So entströmte die Legende« –, stützt sich in ihrer lautlichen Struktur ebenfalls auf diesen benachbarten Satz: II4 vindo 5 E nos creou [›im Begriff zu kommen / und erschuf uns‹] – III1 Assim a lenda se escorre [›So entströmt die Legende‹].
V Die untersuchten Verfahren charakterisieren »Ulysses« als geschlossene Struktur 50 mit einer geordneten Beziehung zwischen dem Zentrum und handelt sich hierbei um eine rhetorische Klangfigur, deren Name zugleich Beispiel ist: Ein Wort endet auf die Silbe, auf die das folgende beginnt: »Dorica castra« [›(das) griechische Lager‹] – der Ausdruck findet sich in der klassischen lateinischen Dichtung u. a. bei Vergil. [Anm. d. Übs./Komm.] 50 Vgl. den Übergang vom ›geschlossenen‹ zum ›offenen System‹ in der Analyse von Baudelaires »Les chats« (Jakobson /Le´vi-Strauss, »›Les chats‹ de Charles Baudelaire«, S. 461; vgl. die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 279). [Anm. d. Übs./Komm.]
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den Rändern des Gedichts sowie den offensichtlichen Ähnlichkeiten zwischen den Bestandteilen der Randbereiche. Dabei zeigen bereits die untersuchten Oxymora der ersten Strophe, und vor allem die spiegelsymmetrischen Erscheinungen, in ihrer Verteilung eine bedeutsame Differenz zwischen den Oxymora der ersten Strophe und denen der dritten an, insbesondere den Übergang vom Negativen zum Positiven am Beginn und denjenigen vom Positiven zum Negativen am Ende des Gedichts. Eigentlich hebt die gleichgewichtige Verteilung von Auffälligkeiten über die drei Strophen hinweg nur die besonderen Züge jedes einzelnen Fünfzeilers sowie das gleichzeitige Spiel von Divergenzen und Konvergenzen hervor. Die Spannungen im Inneren dieser Triade sind so komplex wie die Beziehungen zwischen den drei Heteronymen Pessoas im »Werk Caeiro-Reis-Campos«.51 Durch die Verkettung der morphologischen Kategorien und der syntaktischen Strukturen wird erst die markierte Individualität jeder Strophe deutlich, und die Machart des gesamten Werks enthüllt sich, auch wenn man eher auf andere Verfahren in der Verknüpfung der syntaktischen und morphologischen Klassen achtet, vor allem derer, die das Gedicht zusammenhalten und es zu einer symmetrischen und geschlossenen Komposition werden lassen. So enthält jede Strophe nur ein einziges *transitives Verb, das von einem *direkten Objekt begleitet wird: I2 que abre os ce´us [›die die Himmel öffnet‹], II5 [Este] 52 nos creou [›(Der) erschuf uns‹], III3 a fecundal-a [›sie zu befruchten‹]. Es fällt die *inchoative Komponente, die jedem dieser Verben inhärent ist, auf. Den zwei Sätzen bzw. den zwei grammatischen Subjekten der Anfangsstrophe entspricht dieselbe Anzahl an Sätzen und Subjekten in der Schlußstrophe, während in der Mittelstrophe die Zahl der Sätze zu- und die der Subjekte abnimmt: 2 + 1 für erstere, 2–1 für letztere. Diese Veränderung eines Mehr zu einem Weniger kann als Antisymmetrie bezeichnet werden. In der mittleren Strophe teilt der Satz des mittleren Verses bestimmte syntaktische Eigenschaften mit den benachbarten Versen, die in ihrer grammatischen Fügung eng miteinander verbunden sind (s. o.). Die Parallelität der zwei äußeren Sätze geht sogar noch weiter: Dem Verb foi [›war‹], mit dem der zweite Vers beginnt, geht ein anderes Präteritum 51 Brief an Armando Coˆrtes-Rodrigues vom 15. Januar 1915; Übersetzung nach Lind in: Pessoa, Dokumente zur Person und ausgewählte Briefe, S. 63; port. in: Pessoa, Obra poe´tica e em prosa; Bd. 2, S. 178. [Anm. d. Übs./Komm.] 52 Die Ergänzung in eckigen Klammern fehlt in der Erstveröffentlichung. [Anm. d. Übs./Komm.]
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voraus, II1 aportou [›ging an Land‹], und dem gleichen foi, das den vorletzten Vers beschließt, folgt ein weiteres Präteritum nach, II5 creou [›erschuf‹]. Insgesamt enthält jeder Vers der Mittelstrophe ein Präteritum; eine dieser fünf Formen gehört dem mittleren Satz an, und zwei gehören zu jedem der beiden Randsätze; die drei abhängigen Infinitive sind auf die drei Sätze verteilt. Demgegenüber gibt es in jeder der Randstrophen nur drei Sätze, die Verben Platz bieten (I1,2,3 und III1,3,5). Im ersten Satz jeder dieser Strophen ist das verbum finitum zweimal vertreten.
VI Die grammatische Einzigartigkeit jeder Strophe und die besonderen Beziehungen, die sie mit jeder der beiden anderen Strophen unterhält, lassen die dramatische Bewegung des Themas hervortreten. Das Vokabular der Anfangsstrophe enthält die einzigen Adjektive (insgesamt fünf) des Gedichts (dazu kommt das *adjektivische Pronomen I2 mesmo [›selbst‹]) 53 und sieben Substantive (dazu kommt das *substantivische Pronomen I1 tudo [›alles‹]), gegenüber fünf Substantiven in der Schlußstrophe und gar keinem in der mittleren Strophe. Die beiden »restriktiven« Relativpronomen – I1,2 que [›das /die‹] (man bemerke die fehlenden Kommata! 54 ) – sind den Adjektiven eng verwandt. Wie die beiden anderen Strophen verfügt auch die erste nur über ein einziges transitives Verb. Mit Ausnahme dieses Verbs (I2 abre [›öffnet‹]) ist die einzige Verbform der Strophe die Kopula ´e [›ist‹], die dreimal vorkommt – 1(2x), 3 – und dem Subjekt ein nominales Attribut zuweist. Diesem Universum der Entitäten mit ihren dauernden Eigenschaften stellt die zweite Strophe eine Kette von Vorfällen und Ereignissen gegenüber, die nacheinander negiert bzw. affirmiert werden. Mit höchster Meisterschaft baut Pessoa die drei Sätze dieses Fünfzeilers, ohne auf ein einziges Substantiv oder Adjektiv zurückzugreifen. Fünf Vorkommen des Präteritums, zwei des Infinitivs, zwei des Gerundivum und ein Partizip machen den Großteil des Wortschatzes dieser Strophe aus und finden sich, mit Ausnahme des Infinitivs, nirgendwo anders. Das Verbum ser [›sein‹], das in der vorangegangenen Strophe einfache Kopula war, dient in der zentralen Strophe dazu, Absolutheit und Ganzheit zu bezeichnen – 53 Die Ergänzung in Klammern fehlt in der Erstveröffentlichung. [Anm. d. Übs./ Komm.] 54 Im Portugiesischen wie im Französischen steht ein *restriktiver Relativsatz nicht zwischen Kommata, im Gegensatz zu einem nicht-restriktiven Relativsatz. [Anm. d. Übs./Komm.]
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II2 foi [›war‹] – und tritt in der Folge in eine ungewöhnliche und fesselnde Kombination mit Gerundialformen – II2 na˜o ser existindo [›er existierte nicht /nicht existierend sein‹], 4 foi vindo [›war er im Begriff zu kommen / war kommend‹]. Die zweite Strophe zeichnet sich nicht nur durch das Fehlen von Substantiven und Adjektiven sowie durch häufige Verbformen aus, sondern auch durch Ausdrücke, die von Tesnie`re als ›anaphorisch‹ bezeichnet werden und die auf Sachverhalte verweisen, die den Kontext des Gedichts überschreiten.55 Hier gilt es sich zu vergegenwärtigen, daß sich im Vers – II1 Este, que aqui aportou [›Der, der hier an Land ging‹] – das Pronomen este [›dieser‹] nicht auf Verse des Gedichts, sondern auf seinen Titel »Ulysses« bezieht; der Relativsatz, eingeleitet durch das Pronomen que [›der‹] und zwischen Kommata stehend, ist nicht »restriktiv«- dieses anaphorische Pronomen behält seinen Wert einer autonomen Anspielung auf den genannten Helden. Das Adverb aqui [›hier‹] enthält einen Verweis auf den Namen der Stadt Lisboa [›Lissabon‹], die auf der Titelseite des Buchs Mensagem [›Botschaft‹] erscheint. Schließlich impliziert das Personalpronomen nos [›uns‹] – als *indirektes Objekt zum *intransitiven Verb II3 bastou [›genügte‹] und als direktes Objekt zum transitiven Verb II5 creou [›erschuf‹] – erneut eine Überschreitung der Grenzen des Textes und insbesondere einen Hinweis auf den Autor und die Empfänger der Botschaft. Im Gegensatz zu diesen anaphorischen Verweisen beziehen sich diejenigen der folgenden Strophe – III1 Assim [›So‹], 3 a fecundal-a [›sie zu befruchten‹] – nur auf den Text des vorangehenden Verses. Es sei ebenfalls vermerkt, daß in der zentralen Strophe der anaphorische Verweis mit einer *deiktischen Bezeichnung von raumzeitlich der Sprechsituation nahestehenden Objekten einher geht. Anders ausgedrückt, schafft der heroische Mythos eine zeitliche und räumliche Nähe zwischen dem fabelhaften Helden einerseits und dem Dichter mit seiner Umgebung andererseits. Die drei ungeraden Verse, die die anaphorischen Verweise umschließen, stehen im Gegensatz zu den zwei geraden Versen, in denen die Negation na˜o [›nicht‹] vorkommt. Die Pronomina der zweiten Strophe antworten auf das Fragepronomen quem [›wer?‹] und sind die einzigen Wörter des Gedichts, die menschliche Wesen bezeichnen. Die Pronomina der anderen Strophen beziehen sich ausschließlich auf Unbelebtes, und die Nomina, die in diesen beiden Strophen vorkommen und das Gewicht des poetischen 55 Vgl. Tesnie`re, E´le´ments, S. 85–91 (Kap. 42 f.) [Anm. v. R.J. / L.S.P.] – Vgl. Tesnie`re, Grundzüge der strukturalen Syntax S. 84–90. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Themas tragen, gehören ebenfalls alle der unbelebten Gattung an, mit Ausnahme des übernatürlichen I4 Deus [›Gott‹]. Dieser dient dazu, die dem Attribut beigefügten Apposition zu bestimmen, und besetzt somit den niedrigsten Ort unter allen syntaktischen Konstituenten des Gedichts: 〈…〉 sol 〈…〉 ´e um mytho 〈…〉 [›〈…〉 Sonne 〈…〉 ist ein 〈…〉 Mythos‹] – o corpo 〈…〉 de Deus [›der…Leib 〈…〉 von Gott‹]. Während der Mythos der ersten Strophe für immer mit den »Himmeln« (ce´us) verbunden ist, ist »der« (este) der mittleren Strophe mit der Heimaterde des Dichters verbunden, und zwar trotz der empirischen Argumente, die durch diese Verse aufgehoben werden. Auf diesen Mythos reagiert schließlich der abschließende Fünfzeiler mit seiner Betrachtung der kontinuierlichen Verbindung zwischen der Legende und der Realität. Eine von ihnen tritt in die andere ein, um sie zu befruchten, denn das sich selbst überlassene Leben (oder vielleicht jede Form von Leben überhaupt) wird ausgelöscht. Man muß bemerken, daß die Verbalmetapher fecundal-a [›sie befruchten‹] – in Übereinstimmung mit der Poetik Pessoas ein lebendiger *Tropus und keine bloße rhetorische Formel ist: Sie bringt die Vorstellung eines Mythos in Verbindung mit der Realität ins Spiel,56 die ›unten‹ [Em baixo] bleibt, und das Bild des Legenden-Samens, der aus dem Mythos ›entströmt‹ [escorre], um mitten in die Realität ›einzutreten‹ [entrar].57 Auf die Vorrangstellung der substantivischen oder adjektivischen Nomina in der ersten Strophe und das Monopol der verschiedenen Verbformen in der zweiten Strophe antwortet die dritte mit einer gleich großen Zahl von Substantiven und Verben: fünf Wörtern aus beiden Klassen, d. h. zwei abhängigen Substantiven (2 na realidade [›in die Wirklichkeit‹], 5 De nada [›von nichts‹]) und drei unabhängigen (1 lenda [›Legende‹], 56 Ich korrigiere hier den Text der Selected Writings und übersetze, der portugiesischen Übersetzung von Haroldo de Campos folgend, ›bringt (…) ins Spiel‹ für frz. ›sugge`re‹ (vgl. Jakobson, »Os oximoros diale´ticos de Fernando Pessoa«, S. 108: ›sugere a ide´ia‹). In SW findet sich das im Französischen seltene Verbum ›supe`re‹ [›überwindet‹], das im Kontext des Satzes wenig Sinn ergibt. Offensichtlich hat sich der Fehler bei der nachträglichen Einfügung des gesamten Absatzes in SW eingeschlichen (vgl. nächste Fußnote). [Anm. d. Übs./Komm.] 57 Der vorliegende Absatz fehlt in der genannten Erstveröffentlichung des Beitrags. Offensichtlich wurde Roman Jakobson diese zunächst nicht berücksichtigte erotische Konnotation der sich ejakulationsartig ergießenden Legende von einem seiner zahlreichen Korrespondenten und Diskussionspartner vorgeschlagen. In Punkt 8) seiner »Randbemerkungen zu einer Pessoa-Analyse« weist Haroldo de Campos noch auf einen anderen Aspekt hin, nämlich die etymologischen Bedeutung von ›legenda‹ als ›das zu Lesende‹ (vgl. S. 679). [Anm. d. Übs./Komm.]
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4 vida [›Leben‹], metade [›Hälfte‹]), zwei abhängigen Infinitiven (2 entrar [›eintreten‹], 3 fecundar [›befruchten‹]) und drei unabhängigen verba finita (1 se escorre [›entströmt‹], 3 decorre [›verfließt‹], 5 morre [›stirbt‹]). Die Gegenüberstellung der Substantive und der Verben ist im letzten Oxymoron des Gedichts besonders packend, da dieses als einziges die beiden entgegengesetzten Wortarten, III4 vida 〈…〉 5 morre [›Leben 〈…〉 stirbt‹] einander gegenüberstellt, während man in den dem morre vorausgehenden Oxymora eine Verbindung zweier ähnlicher Ausdrücke feststellen kann – Attribute (I1) oder Epitheta (I4–5), danach eine Gegenüberstellung zweier Verbal- (II2,3,4) oder Nominalformen (III4 metade [›Hälfte‹], 5 De nada [›von nichts‹]), von denen eine mit und eine ohne Präposition auftritt. Die hohe symbolische Kraft der Verbalkategorien im Text von »Ulysses« steht in Beziehung zur begrenzten Zahl der Formen, die das Gedicht zuläßt und einsetzt: sieben Präsens- und fünf vollendete Präteritumsformen in der dritten *Person Singular (insgesamt zwölf verba finita, was den 12 substantivischen Nomen des Gedichts entspricht), fünf Infinitive einschließlich eines Infinitivs im Präteritum, der aus dem Hilfsverb ter [›haben /sein‹] und dem Partizip der Vergangenheit gebildet wird, und schließlich zwei Gerundia. Das atemporale Präsens der ersten Strophe, das in der Geschichte von Odysseus durch das Präteritum ersetzt wird, wird in der Schlußstrophe wieder aufgenommen. Andererseits folgen in dieser Strophe die *Tätigkeitsverben aufeinander und setzten die in der vorhergehenden Strophe begonnene Serie mit derselben syntaktischen Hierarchie von verba finita und Infinitiven fort. Die vier Tätigkeitsverben, die sich im ersten Satz der Schlußstrophe konzentrieren, beziehen sich alle auf das Subjekt III1 lenda [›Legende‹], während der zweite und letzte Satz das einzige *Zustandsverb, 5 morre [›stirbt‹], mit dem entgegengesetzten Subjekt 4 vida [›Leben‹] verknüpft. In der Wahl der Substantive unterscheidet sich diese Strophe, die dem Leben hier unten (4 Em baixo) gewidmet ist, von der ersten Strophe in zweierlei Hinsicht. In der ersten Strophe spielen neben den *abstrakten Nomina *konkrete Wörter wie I2 sol [›Sonne‹], ce´us [›Himmel‹], 4 corpo [›Leib‹] eine Hauptrolle, während die Schlußstrophe nur abstrakte Nomina benutzt. Das Maskulinum ist das einzige in den ersten beiden Strophen vorkommende *Genus; dagegen sind die vier Substantive in den vier vollständigen Versen der Schlußstrophe alle feminin, und nur das Substantiv des gestutzten Verses III5 nada [›nichts‹] ist maskulin. Anzumerken ist, daß der Schlußvers des Gedichts dieses letzte Substantiv des ganzen Textes dem Anfangsvers entlehnt – dabei handelt es
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sich im ganzen Gedicht um das einzige volle Wort 58, das von einer Strophe auf eine andere übertragen wird. Dieser Begriff setzt sich übrigens von den anderen maskulinen Wörtern des Gedichts durch seine Abweichung von der eigentlichen maskulinen Form, die achtzehn Mal im Text von »Ulysses« belegt ist, ab.59 Insgesamt ist das maskuline Genus mit zwanzig Wörtern in der Anfangsstrophe und das feminine mit acht Wörtern in der Schlußstrophe vertreten. Der Gegensatz zwischen den femininen Nomina der Schlußstrophe und den Maskulina der vorhergehenden Strophen tritt besonders deutlich in der Ersetzung des femininen III1 lenda [›Legende‹] durch das maskuline I1,3 mytho [›Mythos‹] hervor. Diese Verteilung der Genera im Gedicht ist zu geordnet, um zufällig zu sein, aber vor dem Versuch einer semantischen Interpretation des beobachteten Zustands ist zunächst ein aufschlußreiches Detail im Umgang mit den maskulinen Substantiven zu vermerken. Mit Ausnahme von I2 ce´us stehen alle Substantive des Gedichts im Singular, und kein maskulines Substantiv im Singular übernimmt die Rolle eines direkten oder indirekten Objekts des Verbs, d. h. keines von ihnen hat eine Handlung, die sich auf es richtet, auszuhalten. Diese Funktion eines Objekts des Verbs wird dagegen von den femininen Nomina oder Pronomina ausgefüllt – III2 A entrar na realidade [›Beim Eintreten in die Wirklichkeit‹], 3 a fecundal-a [›diese zu befruchten‹] –, sowie von den Nomina oder Pronomina im Plural – I2 abre os ce´us [›öffnet die Himmel‹], II3 nos (indirektes Objekt) bastou [›genügte uns‹], 5 nos (direktes Objekt) creou [›erschuf uns‹]. Auf Portugiesisch ist das maskuline Nomen im Singular ein bloßes Substantiv für sich allein, ohne jegliche darüber hinaus gehende *Merkmalhaftigkeit, da es weder dem merkmalhaften Genus noch dem merkmalhaften *Numerus angehört.60 Im symbolischen System des Gedichts wird dieses Substantiv also als unabhängig 58 Im frz. Original mot plein, d. h. eines der Wörter »charge´s d’une fonction se´mantique, c’est-a`-dire [de] ceux dont la forme est associe´e directement a` une ide´e, qu’elle a pour fonction de repre´senter et d’e´voquer« (»mit einer semantischen Funktion, d. h. deren Form direkt mit einer Vorstellung verbunden ist, die sie repräsentieren und hervorrufen sollen«). Tesnie`re, E´le´ments, S. 53–55 (Kap. 28), hier S. 53. – Vgl. Tesnie`re, Grundzüge der strukturalen Syntax, S. 63–66, hier S. 63. [Anm. v. I.M.] 59 Vgl. Mattoso Caˆmara jr., »Considerac¸o˜es sobre o ge´nero em portugueˆs«. [Anm. v. R.J. / L.S.P.] – Die Fußnote und der sich daran anschließende Satz des Haupttextes (»Insgesamt […]«) fehlen in der Erstveröffentlichung. [Anm. d. Übs./Komm.] 60 Vgl. Jakobson, »Zur Struktur des russischen Verbums«, v. a. S. 3 f.; »Shifters, Verbal Categories, and the Russian Verb«, v. a. S. 136 f. [dt. Übs. v. a. S. 42, Anm.d. Übs./ Komm.]; »The Gender Pattern of Russian«; »On the Rumanian Neuter«; sowie
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von jeder äußeren Handlung und jeder Interaktion dargestellt, und somit unabhängig vom Joch der tatsächlichen Existenz, wie es die zweite Strophe ausdrücken wird. Aber sobald die Paarung von Realität und Mythos stattfindet, verliert dieser seine Reinheit und verfällt zu einer Legende, die eine bloße Übersetzung des mytho brilhante e mudo [›strahlender und stummer Mythos‹] in die gemeine Sprache ist. Der Dichter läßt die Frage, ob das Leben hier unten trotz des Auftretens der Legende oder aber wegen ihres Ausbleibens stirbt, absichtlich offen. Wie es sich damit auch verhält, »das Nichts« des ersten Verses verliert seinen anfänglichen Gegenbegriff, tudo [›alles‹]. Die Spannung zwischen diesen beiden Auffassungen vom Leben ist die letzte der dialektischen Antinomien, die das Gedicht strukturieren. O mytho ´e o nada que ´e tudo [›Der Mythos ist das Nichts, das alles ist‹], und jedes *merkmallose Substantiv in der ersten Strophe, so etwa sol [›Sonne‹] und corpo de Deus [›Leib Gottes‹], »ist ein Mythos« – E´ um mytho –; somit stellt es tatsächlich ein Nichts vor, das alles ist. In »Ulysses« geben, wie gerade festgestellt wurde, die maskulinen Nomina niemals den Gegenstand einer Handlung wieder, treten aber auch nicht als Agentes auf, was genauso bedeutsam ist. Die einzige syntaktische Funktion, die das Gedicht den merkmallosen Substantiven zuweist, ist entweder die des Hauptsatzgliedes – Subjekt oder attributives Nomen – in einer gleichungsartigen Proposition (Nomen – Kopula ´e [›ist‹] – Nomen) oder diejenige einer Apposition in Verbindung mit einem der beiden Hauptsatzglieder; schließlich können diese Substantive auch die Funktion eines abhängigen Attributs 61 ausüben, das die Apposition bestimmt: I4 corpo morto de Deus [›toter Leib Gottes‹], III4 vida, metade 5 De nada [›Leben, Hälfte / von nichts‹]. Sobald die Handlung mit ihrer zeitlichen Markie»Signe ze´ro«, S. 213 [dt. Übs. S. 46, Anm. d. Übs./Komm.]: »Das Femininum sagt folgendes aus: wenn das Bezeichnete eine Person ist oder wenn es *personifiziert werden kann 〈und in poetischer Sprache kann alles, was bezeichnet wird, personifiziert werden〉, so gehört diese Person mit Sicherheit dem weiblichen Geschlecht an (e´pouse [›Gattin‹] bezeichnet immer die Frau). Dagegen gibt die allgemeine Bedeutung des Maskulinums nicht unbedingt das Geschlecht an: ´epoux [›Gatte‹] bezeichnet entweder, in eingeschränkter Hinsicht, den Ehemann (e´poux et e´pouse [›Gatte und Gattin‹) oder – verallgemeinernd – l’un des deux ´epoux, les deux ´epoux [›einen der beiden Gatten, die beiden Gatten‹].« [Anm v. R. J. / L.S.P.]. – Im Gegensatz zur deutschen Übersetzung, die russische Beispiele anführt, folge ich hier dem Text in SW, der die Beispiele ins Französische übersetzt. Vgl. ansonsten auch Jakobsons in deutscher Sprache verfaßten Aufsatz »Das Nullzeichen«. [Anm.d. Übs./Komm.] 61 Vgl. Tesnie`re, E´le´ments, S. 150–154 (Kap. 65) [Anm. v. R.J. / L.S.P.] – Vgl. Tesnie`re, Grundzüge der strukturalen Syntax, S. 132 f. [gekürzt]. [Anm. d. Übs./Komm.]
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rung, dem Präteritum, auftritt, wird das Substantiv zum Tabu und wird in der mittleren Strophe durch anaphorische Substitute ersetzt; wenn die Aktivität sich auf Dauer stellt und auf einer niedrigeren Stufe verwirklicht, dann verweiblicht außerdem die Schlußstrophe die verwendeten Begriffe und bedient sich eines abrupten Enjambements,62 um das doppelte tragische Oxymoron zuzuspitzen, das das Gedicht beendet: Em baixo, a vida, metade De nada, morre. Unten, das Leben, Hälfte Von nichts, stirbt
Man fühlt sich an die Abneigung des Dichters gegenüber den literarischen Dingen erinnert, »die nicht eine fundamentale metaphysische Idee enthalten, das heißt durch die nicht, und sei es nur wie ein Windhauch, ein Begriff von Ernst und Geheimnis des Lebens hindurchgeht«.63
VII Die Grammatik der Reime spiegelt die Verschiedenheit sowie die Verwandtschaft der drei Strophen lebhaft wider. In den Reimen des Gedichts benutzen die ungeraden Verse einer Strophe nie dieselbe Wortklasse wie 62 In der portugiesischen Übersetzung von Haroldo de Campos ist an dieser Stelle noch folgende Fußnote von Jakobson /Stegagno Picchio eingefügt: »Dieses Enjambement hebt die unterteilende Bedeutung des Worts metade [›Hälfte‹] hervor, indem es das Syntagma metade / de nada [›Hälfte von nichts‹] gewaltsam zerschneidet.« (Jakobson, »Os oximoros diale´ticos de Fernando Pessoa«, S. 111.) [Anm. d. Übs./Komm.] 63 Brief an Armando Coˆrtes-Rodrigues vom 15. Januar 1915, deutsche Übersetzung nach Lind in: Pessoa, Dokumente zur Person und ausgewählte Briefe, S. 63; frz. Übs.: Guibert, Fernando Pessoa, S. 209; port.: Pessoa, Obra poe´tica e em prosa; Bd. 2, S. 178. [Anm. v. R.J. / L.S.P.] – In der portugiesischen Übersetzung von Haroldo de Campos ist dieser Absatz im Haupttext noch um eine Passage ergänzt, die weder in der Erstveröffentlichung noch in SW auftaucht, die aber aber vor allem deswegen von Bedeutung ist, weil sie als einzige Stelle der ganzen Analyse ausführlich auf die im Titel angesprochene dialektische Struktur der Oxymora Pessoas Bezug nimmt: »In einem seiner vielfältigen Aspekte kann die Dialektik der *Symbole, die in den drei Strophen des Gedichts alternieren, durch das folgende Schema graphisch dargestellt werden: These: Das Ewige Der Himmel Antithese: Das Vergangene Der Erdboden Synthese: Das Ewige Der Erdboden Oder, in anderen Worten: Hier unten geht das Leben ewig vorbei.« (Jakobson, »Os oximoros diale´ticos de Fernando Pessoa«, S. 111.) [Anm. d. Übs./Komm.]
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die geraden Verse. Die folgende Tabelle veranschaulicht die morphologischen Kategorien in den Reimen der drei Strophen: Strophe
ungerade Verse
gerade Verse
I II III
Pronomen und Adjektive Konjugierte Verben Konjugierte Verben
Substantive nominale Formen des Verbs Substantive
So entsprechen die ungeraden Verse der dritten Strophe denen der zweiten und die geraden Verse denen der ersten. In beiden Fällen wird die Affinität jedoch durch eine Abweichung durchkreuzt: die dritte Strophe stellt das Präsens dem Präteritum der zweiten Strophe gegenüber und das Femininum dem Maskulinum der ersten Strophe. Der Übergang von den Nominalreimen der ersten Strophe zur Gegenüberstellung von Nominalund Verbalreimen in der Schlußstrophe wird von einer Erweiterung der grammatischen Korrespondenzen im Reim begleitet. Die erste Strophe erforderte nur eine Identität des Genus, unterstützt entweder durch den gleichen Numerus und die gleiche Endung auf einen einzigen Vokal oder durch die bloße Zugehörigkeit zur selben Wortart (I2 ce´us [›Himmel‹] – 4 Deus [›Gott‹]). In der zweiten Strophe reimen sich Endungen mit zwei Vokalen. Die Reime der dritten Strophe führen die Identität des *Morphems ein, das der Endung vorausgeht (Wortbildungssuffix: III2 realidade [›Wirklichkeit‹] – 4 metade [›Hälfte‹] oder Wurzel: III1 escorre [›entströmt‹] – 3 decorre [›verfließt‹]); einmal mehr stellt der Schluß des Gedichts, III5 morre [›stirbt‹] eine Ausnahme dar. Es läßt sich feststellen, daß sich die Glieder eines Oxymorons in »Ulysses« nie gegenseitig reimen und daß die Abfolge der Reime zu der der Oxymora ein Gegengewicht liefert: Im Laufe des Gedichts werden die Reime, wie dies die folgende Tabelle zeigt, immer grammatischer, während die grammatische *Äquivalenz zwischen den Gliedern der Oxymora, die in der ersten Strophe vollständig ist, in der Folge verfällt und sich schließlich in eine Opposition zwischen Nomen und Verb verwandelt: identische Morpheme in den Reimen
grammatische Beziehung zwischen den Gliedern des Oxymorons
I Endungen auf einen Vokal
syntaktische und morphologische Äquivalenz Wortarten identisch, unterschiedliche syntaktische Funktionen syntaktische und morphologische Opposition im Schlußoxymoron
II Endungen auf zwei Vokale III Endungen und Morpheme vor den Endungen in zwei Paaren sich entsprechender Wörter
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VIII Man wird schwerlich eine »größere Vollkommenheit und sorgfältigere Ausarbeitung« 64 *rhythmischer Vielfalt zusammen mit einer strengen Einheit des *Metrums finden, als sie Pessoa auf diesem knappen Raum von 15 Zeilen in Übereinstimmung mit ihrem semantischen Profil entfaltet. In den vollständigen Versen sind die dritte und die sechste Silbe durchgängig unbetont; die vierte Silbe ist durch zwei Silben von der letzten, betonten Silbe getrennt und trägt den *Wortakzent außer in zwei Versen: I3 E´ um mytho brilhante e mudo [›Ist ein strahlender und stummer Mythos‹], wo der Wortakzent auf die fünfte Silbe fällt, und III2 A entrar na realidade [›Beim Eintreten in die Wirklichkeit‹], wo ein einziges Wort mit seinem *Proklitikon vier Vortonsilben enthält. Die dritte und die sechste Silbe sind durchgängig unbetont. Am Beginn eines vollständigen Verses ist die erste Silbe in den Randstrophen stets unbetont, aber in den ersten beiden Versen der zweiten Strophe trägt sie den Wortakzent. Der Akzent trifft die zweite Silbe in den vier Vollversen der ersten Strophe und in drei Versen der dritten Strophe, aber die gleiche Silbe bleibt in der zweiten Strophe unbetont. So enthalten die Verse II3,4 und III3 nur zwei betonte Wörter. Es läßt sich feststellen, daß jede rhythmische Abweichung eine teilweise Entsprechung in einem der beiden angrenzenden Verse findet: der Akzent, der in I3 die fünfte anstatt der vierten Silbe trifft, wird durch den Vers I2 vorweggenommen, der den Wortakzent der fünften und überdies der vierten Silbe zuweist (O mesmo sol qu(e) abr(e) os ce´us [›Die Sonne selbst, die die Himmel öffnet‹]); der Vers III2, der nur zwei Silben mit Wortakzent enthält, entspricht in dieser Hinsicht dem Vers III3. Die vollständigen Verse behandeln die ersten Silben auf drei verschiedene Arten: der Wortakzent betrifft A) die zweite, B) die erste oder C) keine der beiden. Die Anfangsstrophe bleibt dem Typ A treu; neben ihr erscheint der Typ C einmal in der Schlußstrophe (III3), während die mittlere Strophe als einzige den Typ A ausschließt und Typ B (II1,2) verwendet, der sich mit Typ C abwechselt (II3,4). Einmal mehr läßt sich die Tendenz zu einem binären Parallelismus der rhythmischen Varianten beobachten. In den beiden ersten Versen der 64 Im selben Brief Pessoas; vgl. Guibert, Fernando Pessoa, S. 207. [Anm. v. R.J. / L.S.P.] – Die deutsche Übersetzung nach Lind in: Pessoa, Dokumente zur Person und ausgewählte Briefe, S. 63; vgl. Pessoa, Obra poe´tica e em prosa; Bd. 2, S. 177. Der Kontext der Stelle ist wiederum von Jakobson /Stegagno Picchio leicht modifiziert: es geht darum, daß Pessoa im Zuge seiner Entwicklung von sich künftig »größere Vollkommenheit und sorgfältigere Ausarbeitung« fordert, und nicht darum, daß dies bereits realisiert wäre. [Anm. d. Übs./Komm.]
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mittleren Strophe hebt der Anfangsakzent das Wesen des heroischen Mythos hervor, sein Subjekt und sein Prädikat, die beide durch abstrakt grammatische Begriffe ausgedrückt werden: II1 Este 〈…〉 2 Foi [›II1 Der 〈…〉 2 War‹]. Der Vers III3 teilt, wie wir bereits angemerkt haben, den charakteristischen Zug des vorangehenden Verses III2: Jeder Vers des Paares enthält nur zwei Wortakzente, ebenso wie der zweite Zweizeiler der mittleren Strophe, II3, 4; von ihrer Verbalstruktur her unterscheiden sich diese vier Verse von allen anderen Versen des Gedichts: Nur sie beginnen mit einem Infinitiv, der dem konjugierten Verb untergeordnet ist. So 65 gleicht die affirmative Absicht der Protasen III2 A entrar na realidade [›Beim Eintreten in die Wirklichkeit‹], 3 E a fecundal-a [›Und (…) diese zu befruchten‹] die *zirkumstanziellen und negativen Protasen 66 der Zeilen II3, 4 aus. Für die rhythmische Individualität der Strophen sind vor allem die *Zäsuren verantwortlich, d. h. die Versstellen, wo sich – ausschließlich oder bevorzugt – die Grenzen der betonten Wörter (einschließlich ihrer proklitischen und enklitischen Umgebung) 67 anordnen. Die folgende Tabelle illustriert die Verteilung dieser Zäsuren ( ) und der Silben mit Wortakzent (–) und ohne Akzent () in den Versen von »Ulysses« (die durch Synaloephen wegfallenden Silben werden in dem Schema selbstverständlich nicht aufgeführt): I1 2 3 4 5
– – – –
– –
– –
– –
– – – – –
65 Ich lasse einen sowohl in der Erstveröffentlichung als auch in der Fassung der SW an dieser Stelle nach ›so‹ (frz. ›ainsi‹) eingefügten Verweis auf den Beginn von Vers III1 (assim) des Gedichttextes aus. Dieser Hinweis scheint mir irrtümlich eingefügt zu sein, da das ›ainsi‹ eigentlich nicht als Zitat des Primärtextes verwendet wird, sondern Teil der syntaktischen Struktur des Textes von Jakobson /Stegagno Picchio ist. [Anm. d. Übs./Komm.] 66 Jeweils Pluralform von Protasis [›Vorsatz‹]: Jakobson /Stegagno Picchio bedienen sich dieses rhetorischen Ausdrucks, um die zitierten Satzteile in III2 und III3 mit den hier folgenden Passagen zu konfrontieren: II2 Sem existir und II3 Por na˜o ter vindo. [Anm. d. Übs./Komm.] 67 Jakobson /Stegagno Picchio beziehen sich hier implizit auf die aus der russischen Metriktheorie stammende Vorstellung einer rhythmisch-betonungsmäßigen *›Worteinheit‹, der etwaige Proklitika oder Enklitika untergeordnet sind. Vgl. hierzu ausführlicher Sebastian Donats Kommentar zu Jakobsons Analyse »›Du möchtest wissen: Wer bin ich?‹ Eine Analyse der Tobolsker Verse Radisˇcˇevs«, S. 695, Anm. 17. [Anm. d. Übs./Komm.]
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II 1 2 3 4
– –
5
III 1 2 3 4 5
– –
–
– – – –
– – – – –
–
– – – – –
– – –
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Dem betonten Vokal des Reims geht weder in den vollständigen noch in den gestutzten Versen des Gedichts eine Zäsur voraus, mit Ausnahme des letzten Worts, III5 morre [›stirbt‹], das durch diese abgehackte Einteilung besonders ausdrucksstark wird und in frappierender Weise dem längsten Schlußsegment mit vier Vortonsilben gegenüber tritt – III2 na realidade [›in die Wirklichkeit‹]. Die vollständigen Verse der Anfangsstrophe haben immer eine Zäsur nach der dritten und siebenten Silbe und zeigen eine Vorliebe für *Paroxytona im Inneren des Verses (sechs von acht Wörtern, die auf eine der beiden Zäsuren folgen). Dagegen kommt in der mittleren Strophe die Zäsur nie vor der vierten Silbe, sondern folgt ihr in den ersten drei Versen. In dieser Strophe fallen vier von sechs Betonungen auf die letzte Silbe des Worts und die *männlichen Zäsuren lassen den männlichen Charakter des Reims hervortreten, der die ungeraden Verse verbindet: II1 aportou [›ging an Land‹] – 3 bastou [›genügte‹] – 5 creou [›erschuf‹]. Der monosyllabische Charakter der Klausel dominiert ihre bivokalische Struktur. Die Schlußstrophe hat keine Zäsur nach der vierten Silbe, und in den drei Versen, in denen diese Silbe betont ist, folgt die Zäsur auf die fünfte Silbe nach dem Modell der Anfangsstrophe. Andererseits läßt die fehlende Zäsur nach der dritten Silbe die beiden Nicht-Anfangsstrophen mit der Anfangsstrophe in Kontrast treten. Neben diesen Kennzeichen, die die dritte Strophe mit einer der beiden anderen verbinden, weist die dritte Strophe einen nur ihr eigenen Zug auf: Wenn 68 eine Betonung auf der zweiten Silbe liegt, folgt auf diese eine Zäsur. Folglich sind in der Schlußstrophe die drei Wörter, die eine Betonung auf der zweiten Wortsilbe haben, alle oxytonal, während die drei Wortakzente, die auf die vierte Silbe des Verses fallen, zu paroxytonalen Wörtern gehören. Der 68 Ich folge der Erstveröffentlichung und übersetze ›wenn‹ [›quand‹] statt ›quant‹, das nur in einer präpositionalen Verbindung (»quant…a`« [›was …betrifft‹]) Sinn ergeben würde. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Kontrast zwischen den Paroxytona der ersten Strophe und den Oxytona der zweiten verwandelt sich in eine regelmäßige Abwechslung dieser zwei prosodischen Typen innerhalb der dritten Strophe, die die auseinanderstrebenden Eigenheiten der vorderen Strophen vereint. Die erste Strophe, die der Verherrlichung des Mythos gewidmet ist, zeichnet sich durch die Klarheit ihrer metrischen Anlage aus. Diese sehr deutliche Anordnung muß die vokalische Harmonisierung der gesamten Strophe inspiriert haben. Die beiden letzten Vokale der Anfangs-Paroxytona bilden ein Netz von durchgängigen Korrespondenzen mit den beiden Reimvokalen. Das Phonem /u/ ist hier der einzige nachtonige Vokal am Ende und am Beginn des Verses. Die Vokale unter dem ersten bzw. letzten Wortakzent in den drei ungeraden Versen der Anfangsstrophe realisieren die Phoneme /i/ und /u/, die beide *diffus, zugleich aber in Bezug auf ihre *Tonalität 69 einander entgegengesetzt sind. Diese sechs Wörter heben sich vor dem Hintergrund der geraden Verse der Strophe hervor, die keinen diffusen Vokal in ihren betonten Silben zulassen: 1 mytho [›Mythos‹] – tudo [›alles‹], 3 mytho – mudo [›stumm‹], 5 vivo [›lebendig‹] – desnudo [›nackt‹]. Sie heben das erste Substantiv und das Leitmotiv des Gedichts, mytho, hervor, und damit den einzigen lexikalischen Ausdruck, der innerhalb einer Strophe wiederholt wird und sich durch ein Umstellungsspiel auszeichnet: 1 O mytho ´e 〈…〉 que 〈…〉 ´e 〈…〉, 2 O 〈…〉 que 〈…〉, 3 ´e um mytho. [›1 Der mythos ist 〈…〉 das 〈…〉 ist 2 Die 〈…〉, die 〈…〉 3 ist ein Mythos.‹] Der dreifache lautliche Wechsel bringt die wirkungsvollsten Wörter zur Verherrlichung des Mythos hervor, dem als allmächtig (tudo), unaussprechlich (mudo), lebendig (vivo) und unverkleidet (desnudo) Beifall gespendet wird.
IX Die Untersuchung von »Ulysses« läßt, ohne daß es nötig wäre, andere Beispiele zu berücksichtigen, deutlich werden, was es im Werk und in der ästhetischen Lehre Fernando Pessoas bedeutet, ein wirklicher »Dichter der Strukturierung« zu sein; ein solcher Dichter scheint ihm in dem, was er ausdrückt, notwendigerweise begrenzter sowie weniger tiefgründig in seinem Ausdruck als die Dichter der Abwechslung; gerade deswegen ist er jedoch auch komplexer, da er, nach den Worten des Autors selbst, seinen Ausdruck »konstruiert, architektonisch formt, strukturiert« (s. o.).70 69 Die Vokale /i/ und /u/ unterscheiden sich hinsichtlich der *Merkmale *erniedrigt (/u/) vs. *nicht-erniedrigt (/i/) und *dunkel (/u/) vs. *hell (/i/) [Anm. v. I.M.].
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Nada [›Nichts‹], das wiederholte Wort, das die drei Strophen von »Ulysses« einrahmt, gestattet einen Einblick in die monolithische Geschlossenheit des architektonischen Prinzips, das für den poetischen Ausdruck Pessoas leitend ist. Nada, »Nichts«, eine negative Ganzheit, wird tudo, »Allem«, einer positiven Ganzheit, gegenüber gestellt, und diese beiden totalisierenden Quantoren werden ihrerseits einem aufteilenden Quantor, metade, »Hälfte«, gegenüber gestellt, und der Kontrast der beiden Geschlechter, das Maskulinum von nada und tudo gegenüber dem Femininum von metade, verstärkt diese Opposition noch.71 In zwei Gedichten von Pessoa, die beide 1933, kurz vor der Zusammenstellung der Gedichtsammlung Mensagem [›Botschaft‹], verfaßt wurden, findet man dieselben Personen des Dramas, aber ihre gegenseitigen Beziehungen scheinen zu variieren. In einem Ricardo Reis zugeschriebenen und auf den 14. Februar 1933 (einer Zeit, zu der Pessoa unter schweren neurotischen Störungen litt) datierten Sechszeiler ist es die Gesamtheit, das Ganze, das das Nichts aussticht, und jedes Stückchen verkörpert das Ganze und geht in ihm auf: Para ser grande, seˆ inteiro: nada Teu exagera ou exclui. Seˆ todo em cada coisa. Po˜e quanto e´s No mı´nimo que fazes. Um groß zu sein, sei ganz: Nichts, was dir eigen ist übertreibe oder schließe aus. Sei ganz in jedem Ding. Lege, was du bist in dein geringstes Tun.72 70 Pessoa, Obra poe´tica e em prosa; Bd. 2, S. 275 f. Vgl. zum Verhältnis von Strukturierung und Abwechslung die Bemerkungen weiter oben, Anm. 11. [Anm. d. Übs./Komm.] 71 In der portugiesischen Übersetzung findet sich an dieser Stelle folgende Fußnote des Übersetzers Haroldo de Campos, die eine strittige Genusbestimmung von Jakobson und Stegagno Picchio erläutert: »Von seiner Bedeutung her ist das Indefinitpronomen tudo [›alles‹], wie auch algo [›etwas‹] und nada [›nichts‹] sowie die Demonstrativa isto [›dieses (hier)‹], isso [›das (da)‹] und aquilo [›jenes (dort)‹] ein Neutrum. Aber das Genus des Neutrum, das man im Portugiesischen nur hier und ohne besondere Merkmalhaftigkeit findet, verhält sich bezüglich der Konkordanz wie ein Maskulinum und kann morphologisch zu letzterem Genus hinzugezählt werden, das in Opposition zum Femininum steht: Ela ´e meu tudo [›Sie ist mein Alles‹], quero algo bom [›ich will etwas Gutes‹], o nada implaca´vel [›das unerbittliche Nichts‹], isto ´e mau [›das ist schlecht‹]. (Diese Anmerkung wurde von Joaquim Mattoso Caˆmara jr. auf die Bitte des Übersetzers [Haroldo de Campos] hin eingefügt. Hierzu bemerkte Roman Jakobson in einem Brief an den Übersetzer, daß ihm von einem synchronen Standpunkt aus tudo [›alles‹] im modernen Portugiesisch männlich erschiene.« (Jakobson, »Os oximoros diale´ticos de Fernando Pessoa«, S. 117.) [Anm. d. Übs./Komm.] 72 Pessoa, Obra poe´tica, S. 239 [2. Aufl.: S. 289]; vgl. Guibert, Fernando Pessoa,
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Dagegen führt in der Schlußstrophe eines Gedichts mit dem Datum 13. September 1933, das im Cancioneiro enthalten ist, die Verringerung des Ganzen (tudo) auf seine Hälfte (metade) zu dem umfassenden Bild einer Verwandlung des Unendlichen (infinito) in ein Nichts (nada): Tudo que fac¸o ou medito Fica sempre na metade. Querendo, quero o infinito. Fazendo, nada e´ verdade. Alles, was ich tue oder überlege bleibt immer bei der Hälfte stehen In meinem Wollen will ich das Unendliche In meinem Tun ist nichts Wahrheit.73
Im Grunde sind diese drei Dramen des Ganzen, des Nichts und der Hälfte Variationen desselben Themas: »Ich will das Unendliche«, das Ganze ist das Ziel dessen, »was ich tue oder überlege«; die fünf beschwörenden Imperative des zitierten Sechszeilers wollen das Nichts abschaffen und das Geringste (mı´nimo) in das Ganze einfügen; schließlich ist es das »So-sei-es«, die intentionale Wahrheit des Mythos, der zu Beginn von »Ulysses« das Nichts in ein Ganzes verwandelt, während die Taten, die in actu existieren, das Ganze zerstückeln, auflösen und vernichten: Fazendo, nada ´e verdade [›In meinem Tun ist nichts Wahrheit‹].74
S. 200. [Anm. v. R.J. / L.S.P.] – Abgewandelte Übersetzung nach Pessoa, Alberto Caeiro – Dichtungen / Ricardo Reis – Oden, S. 172. Die beiden Schlußverse des Gedichts werden hier nicht angeführt; es endet folgendermaßen: Assim em cada lago a lua toda Brilha, porque alta vive. [›So scheint in jedem See der ganze Mond, weil er hoch oben lebt.‹] [Anm. d. Übs./Komm.] 73 Pessoa, Obra poe´tica, S. 106 [2. Aufl.: S. 172]. [Anm. v. R.J. / L.S.P.] – Es handelt sich nicht, wie behauptet, um die Schluß-, sondern um die Anfangsstrophe des Gedichts, das so endet: »Que nojo de mim me fica Ao olhar para o que fac¸o! Minha alma e´ lu´cida e rica, E eu sou um mar de sargac¸o – Um mar onde bo´iam lentos Fragmentos de um mar de ale´m… Vontades ou pensamentos Na˜o o sei e sei-o bem.« [›Welch Ekel über mich bleibt mir beim Blick auf das, was ich tue! Meine Seele ist klar und reich Und ich bin eine Sargassosee (Meer voller Sargassotang, auch: Teil des Nordatlantik) Eine See, auf der langsam Fragmente eines jenseitigen Meeres treiben… Wünsche oder Gedanken? Ich weiß es nicht und weiß es wohl.‹] [Anm. d. Übs./Komm.] 74 Es bleibt uns schließlich noch die angenehme Aufgabe, denjenigen, die uns bei dieser Arbeit unterstützt haben, unseren Dank auszusprechen: Haroldo de Campos, Joaquim Mattoso Caˆmara jr. und Nicolas Ruwet. [Anm. v. R.J. / L.S.P.].
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Editorische Notiz Geschrieben in Cambridge, Mass. 1968 und zuerst publiziert 1968 in Langages (Paris) 12, S. 9–27.
Literatur Jakobsons eigene Literaturangaben sind mit ° gekennzeichnet. ° Bachelard, Gaston: La philosophie du non, 2. Aufl. Paris: Presses universitaires de
France 1954. – Die Philosophie des Nein, übs. v. Gerhard Schmidt u. Manfred Tietz, Frankfurt /Main: Suhrkamp 1980 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 325). Campos, Haroldo de, »Randbemerkungen zu einer Pessoa-Analyse«, übs. u. komm. v. Jörg Dünne, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 669–686. Carvalho, Amorim de, Teoria geral da versificac¸a˜o [›Allgemeine Verstheorie‹], 2 Bde., Lisboa: Ed. Imperio 1987. Diciona´rio da histo´ria de Lisboa [›Lexikon der Geschichte Lissabons‹], hg. v. Francisco Santana u. Eduardo Sucena, Lisboa: Quintas 1994. Dünne, Jörg: »Vermessung der Distanz zu sich selbst und den Dingen – Selbstpraxis und Sensationismus in Fernando Pessoas Livro do desassossego«, in: Autobiographisches Schreiben und philosophische Selbstsorge, hg. v. Maria Moog-Grünewald, Heidelberg: Winter 2004 (= Neues Forum für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Bd. 22), S. 175–198. Gil, Jose´: Fernando Pessoa ou la me´taphysique des sensations, Paris: E´ditions de la Diffe´rence 1988. ° Godel, Robert: »Dorica Castra: sur une figure sonore de la poe´sie latine«, in : To Honor Roman Jakobson. Essays on the Occasion of his Seventieth Birthday, La Haye u. Paris: Mouton 1967, Bd. 1, S. 760–769. ° Guibert, Armand: Fernando Pessoa, Paris: Seghers 1960. Günther, Gotthard: Idee und Grundriß einer Nicht-Aristotelischen Logik, 3. Aufl. Hamburg: Meiner 1991. Homerus: Odysseae libri I–XII, hg. v. Thomas W. Allen, 2. Aufl. Oxford: Clarendon Press 1990 (= Homeri Opera, 5 Bde, hg. v. David B. Monros u. Thomas W. Allen, Bd. 3). – Odyssee, übs. v. Johann Heinrich Voss, hg. v. Peter von der Mühll, Zürich: Diogenes 1980. Jakobson, Roman Osipovicˇ: »Das Nullzeichen«, in: SW II, S. 220–222. — »›Du möchtest wissen: Wer bin ich?‹ Eine Analyse der Tobolsker Verse Radisˇcˇevs«, übs. u. komm. v. Sebastian Donat, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 688–710. — »Martin Codax’s Poetic Texture: A Revised Version of a Letter to Haroldo de Campos«, in: SW III, S. 169–175. – »Die poetische Textur bei Martin Codax. Revidierte Fassung eines Briefs an Haroldo de Campos«, übs. u. komm. v. Horst Weich, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 426–438.
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Roman Jakobson und Luciana Stegagno Picchio
° — »On the Rumanian Neuter«, in: SW II, S. 187–189. ° — »Retrospect«, in: SW I, S. 629–658. ° — »Shifters, Verbal Categories, and the Russian Verb«, in: SW II, S. 130–157. –
»Verschieber, Verbkategorien und das russische Verb«, übs. v. Gabriele Stein, in: Form und Sinn, S. 35–54. — »›Si Nostre Vie‹: Observations sur la composition & structure de motz dans un sonnet de Joachim du Bellay«, in: SW III, S. 239–274. – »›Wenn unser Leben‹. Betrachtungen zur Komposition und Struktur der Wörter in einem Sonett von Joachim Du Bellay«, übs. v. Christoph Schamm u. Evi Zemanek, komm. v. Hannes Schneider, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 553–606. ° — »Signe ze´ro«, in: SW II, S. 211–219. – »Das Nullzeichen«, übs. v. Regine Kuhn, in: Aufsätze zur Linguistik und Poetik, S. 44–53. ° — »The Gender Pattern of Russian«, in: SW II, S. 184–186. — »The Grammatical Texture of a Sonnet from Sir Philip Sidney’s Arcadia«, in: SW III, S. 275–283. – »Die grammatische Textur eines Sonetts aus Sir Philip Sidneys Arcadia«, übs. v. Lavinia Brancaccio u. Stephan Packard, komm. v. Hans-Walter Gabler, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 607–621. ° — »Zur Struktur des russischen Verbums«, in: SW II, S. 3–15. Jakobson, Roman Osipovicˇ u. Claude Le´vi-Strauss: »›Les chats‹ de Charles Baudelaire«, in: SW III, S. 169–175. – »›Die Katzen‹ von Charles Baudelaire«, übs. v. Erich Köhler u. a., komm. v. Bernhard Teuber, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 250–287. Jakobson, Roman Osipovicˇ u. Luciana Stegnano-Picchio: »Les oxymores dialectiques de Fernando Pessoa«, in: SW III, S. 639–659. Erstveröffentlichung in: Langages 12 (1968), S. 9–27 [weiterer französischer Abdruck in: Jakobson, Roman: Questions de Poetique. Paris, Le Seuil, 1973, S. 463–483]. ° — »Os oxı´moros diale´ticos de Fernando Pessoa«, übs. v. Haroldo de Campos, in: Roman Jakobson: Linguı¨stica. Poe´tica. Cinema. Roman Jakobson no Brasil [›Linguistik. Poetik. Kino. Roman Jakobson in Brasilien‹], hg. v. Haroldo de Campos, Sa˜o Paulo: Ed. Perspectiva 1970, S. 93–118 [außerdem: »Os oxı´moros diale´cticos de Fernando Pessoa«, in: Lingüı´stica e literatura 70 (1980), S. 17–41]. — »Los oxı´moros diale´cticos de Fernando Pessoa«, übs. v. Juan Almela, in: Jakobson, Roman: Ensayos de Poe´tica [›Essays zur Poetik‹], Madrid: Fondo de Cultura Econo´mica 1977 [zuvor bereits abschnittsweise in Plural 7 (April 1972), S. 5–8, und 8 (Mai 1972), S. 36–38]. Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft, hg. v. Wilhelm Weischedel, 12. Aufl. Frankfurt /Main: Suhrkamp 1992 (= ders.: Werkausgabe, hg. v. Wilhelm Weischedel, 12 Bde, Bd. 3/1). Lopes, Teresa Rita: Pessoa por conhecer [›Der unbekannte Pessoa‹], 2 Bde., Lisboa: Estampa 1990. ° Mattoso Caˆmara jr., Joaquim: »Considerac¸o˜es sobre o ge´nero em portugueˆs« [›Überlegungen zum Genus im Portugiesischen‹], in: Estudos linguı´sticos 1 (1966), H. 2, S. 1–9.
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Haroldo de Campos
Randbemerkungen zu einer Pessoa-Analyse 1 Übersetzung aus dem brasilianischen Portugiesisch und Kommentar Jörg Dünne Der folgende Brief von Haroldo de Campos 2 an Roman Jakobson stellt nicht nur ein interessantes Dokument aus der ›Werkstatt‹ der Entstehung Jakobsonscher Texte dar, das über den dialogischen Arbeitsprozeß ihres Autors Aufschluß gibt. Er zeigt auch, wie Jakobsons Lyrikanalysen ausgehend vom brasilianischen Konkretismus eine erstaunlich lebhafte und produktive Resonanz in der Lusitanistik gefunden haben, 3 die auch darüber hinaus Beachtung verdient. 1
2
Am 2. 7. 1968 schickte mir Roman Jakobson die erste Fassung seines Versuchs über Fernando Pessoa, zusammen mit einem Brief, in dem er mich um kritische Beobachtungen dazu bat. Die vorliegenden Anmerkungen wurden ihm in Entsprechung dieser Bitte übermittelt. Später, als er bei seinem Brasilienbesuch [im September 1968, Anm. d. Übs./Komm.] von der Vorbereitung dieses Bandes [der von Campos herausgegebenen Sammlung von Jakobson-Aufsätzen, Anm. d. Übs./Komm.] erfahren hatte, schlug er mir vor, diese Anmerkungen in den Band aufzunehmen. Zu diesem Zweck habe ich den Text in portugiesischer Sprache (ursprünglich war er auf Französisch geschrieben worden) unter Beibehaltung der Briefform überarbeitet, wobei einige nebensächliche Punkte ausgelassen und dafür einige Fußnoten ergänzt wurden. [Anm. v. H.d.C.] – Erstveröffentlichung des Briefs in: Roman Jakobson, Lingüı´stica. Poe´tica. Cinema. Roman Jakobson no Brasil, hg. u. übs. v. Haroldo de Campos u. a., Sa˜o Paulo: Ed. Perspectiva 1970, S. 195–204. [Anm. d. Übs./Komm.] Der brasilianische Lyriker, Essayist und Literaturkritiker Haroldo de Campos (1929– 2003) gehört zu den Gründern und wichtigsten Vertretern des ›Konkretismus‹. Diese Bewegung, die in der Tradition der brasilianischen Avantgarde steht (vgl. insbesondere Oswald de Andrades berühmtes »Manifesto antropo´fago« [›Menschenfressermanifest‹] von 1928), wird von Campos zusammen mit seinem Bruder Augusto und De´cio Pignatari (s. u., Anm. 25) in den 50er Jahren mit der Herausgabe der Zeitschrift Noigrandes ins Leben gerufen; sie hat auf die Entwicklung der
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Haroldo de Campos’ ursprünglich in französischer Sprache verfaßter Brief an Jakobson fällt in die Zeit zwischen einer nicht überlieferten Rohfassung von dessen gemeinsam mit Luciana Stegagno Picchio erarbeiteter PessoaAnalyse im Frühsommer 1968 und der Erstveröffentlichung des Textes in der Zeitschrift »Langages« am Ende desselben Jahres. 4 In seinen respektvollen Kommentaren erweitert Campos zum einen den Kontext der Analysen Jakobsons und Stegagno Picchios auf das Gesamtwerk Pessoas – einige dieser Vorschläge werden von Jakobson für die Erstveröffentlichung aufgegriffen. Zudem erweist sich Campos auch als ein an Jakobsons eigenen Kategorien und Gedichtanalysen geschulter sowie insbesondere in der internationalen Avantgardepoetik bewanderter 5 kritischer Leser, was seinen Brief zum paradigmatischen Dokument einer funktionierenden, die Grenzen zwischen Literaturproduktion und Literaturkritik übergreifenden ›strukturalistischen Tätigkeit‹ in den späten 60er Jahren des 20. Jahrhunderts macht. 6 Jörg Dünne Sa˜o Paulo, 14. Juli 1968 Lieber Freund, ich kann Ihnen kaum meine Begeisterung und Bewunderung bei der Lektüre Ihrer Arbeit ausdrücken. Ich habe sie im Laufe der letzen Tage dreimal hintereinander genau gelesen und mir scheint, sie stellt die strengste und kreativste bisher überhaupt unternommene Analyse eines Gedichts (und mittelbar der ganzen Poetik) Pessoas dar. Es handelt sich um eine Hommage, die es wahrlich mit dem Genie des Dichter der
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konkreten Poesie in Europa und Amerika entscheidenden Einfluß. Vgl. insbesondere die 1965 formulierte Teoria da poesia concreta. Vgl. zur Person und zum Werk von Campos die von Carmen Arruda de Campos und Graziela M. de Castro betreute Website »Haroldo de Campos«. [Anm. d. Übs./Komm.] Zur Rezeption Jakobsons in der lusitanistischen Philologie vgl. die Einleitung zu seiner Pessoa-Analyse (in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 631–633). [Anm. d. Übs./Komm.] Siehe oben, Anm. 1. [Anm. d. Übs./Komm.] Siehe unten die Überlegungen Campos’ zum Zusammenhang von ›Strukturierung‹ und poetischer Funktion (Punkt 9 seiner Ausführungen) sowie seinen Vergleich zwischen Pessoa und Chlebnikov (Punkt 2). [Anm. d. Übs./Komm.] Vgl. Roland Barthes, »L’activite´ structuraliste«. In umgekehrter Richtung ist Jakobsons zweite lusitanistische Gedichtanalyse einer mittelalterlichen ›cantiga‹ von Martin Codax als Brief an Campos entstanden und zunächst in portugiesischer Sprache veröffentlicht worden (vgl. die deutsche Fassung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 426–438). [Anm. d. Übs./Komm.]
Randbemerkungen zu einer Pessoa-Analyse
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Botschaft aufnehmen kann und die obendrein dazu ausersehen ist, sich als Prüfstein für die künftige Pessoaforschung zu erweisen. Ich bin froh darüber (und danke dabei dem Zufall, der den Dichtern günstig gesinnt ist…), vielleicht einen entfernten Einfluß auf die Ereigniskette gehabt zu haben, die Sie dazu gebracht hat, ein Gedicht Pessoas zum Gegenstand Ihrer Analyse zu wählen und freue mich ebenso über die so effiziente Zusammenarbeit mit unserer gemeinsamen Freundin Luciana Stegagno Picchio. Die Gegenüberstellung Ihrer Analyse mit dem Text von Pessoas »Odysseus« hat mir eine große intellektuelle Freude bereitet, die man vielleicht mit dem Bild eines Kristalls im Vergleich mit seinem Kristallogramm vergleichen könnte, wobei sich das Strahlen des ersteren in der Feinheit und Genauigkeit des letzeren verlängert und verdoppelt. Ich werde also mit der größten Bescheidenheit Ihrem großzügigen Angebot Folge zu leisten versuchen und Ihnen weiter unten einige Lektürenotizen unterbreiten – es handelt sich dabei eher um Randbemerkungen zu Ihrer Analyse, Variationen über die in ihr angeschnittenen Themen, die Ihnen vielleicht hilfreich sein könnten, als um kritische Bemerkungen zu Ihrer Arbeit. Meine Beobachtungen sind nicht die eines Pessoa-Experten – ein Titel, den ich gar nicht anstreben will –, sondern die eines brasilianischen Dichters und Liebhabers von Gedichten, der den Autor von »Odysseus« für den größten modernen Dichter seiner Sprache hält.
1. Die Gedichtauswahl Meiner Meinung nach ist die Auswahl des Gedichts »Odysseus« 7 ein wesentlicher Bestandteil des großartigen Erfolgs Ihrer Analyse. »Odysseus« zählt ohne Zweifel zu den erstklassigen Texten Pessoas, d. h. zu den Stücken, die das Beste seiner Lyrik repräsentieren – das ist allerdings eine Bemerkung a posteriori, denn ich habe die Gedichte aus der Botschaft schon vor langer Zeit gelesen. Ebenso verhält es sich auch mit dem Dante-Sonett und dem Brecht-Gedicht in Ihren früheren Arbeiten.8 Ich frage mich allerdings, ob man dasselbe von einem Gedicht wie »Les chats« im Verhältnis zum Gesamtkorpus des Baudelaireschen Werkes sagen könnte 7 8
Pessoa, Obra poe´tica, S. 72. Vgl. Text und Übersetzung in Jakobson /Stegagno Picchio, »Die dialektischen Oxymora von Fernando Pessoa«, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 639 f. [Anm. d. Übs./Komm.] Vgl. Jakobson /Valesio, »Vocabulorum constructio in Dante’s Sonnet ›Se vedi li occhi miei‹« und die deutsche Übersetzung, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 439– 470; sowie Jakobson, »Der grammatische Bau des Gedichts von B. Brecht ›Wir sind sie‹«, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 687–716. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Haroldo de Campos
(in Ihrer Studie über »Les chats« ist es eher die bemerkenswerte Analyse als das Gedicht an sich, die in mir Interesse und vielleicht auch ästhetisches Vergnügen erweckt).9 Ich wage hier einmal zu behaupten – sicherlich mit der tendenziösen Sicht eines Dichters, der vor allem an der Schaffung von Texten interessiert ist –, daß die Qualität der Textauswahl ein wenig von vornherein, gleichsam im Sinn einer Möglichkeitsbedingung, über den letztlichen Erfolg der Analyse oder zumindest über ihre Reichhaltigkeit entscheidet. Die Operation der Auswahl, d. h. die Bestimmung des Analyseobjekts, wird so bereits zur ersten konstitutiven Entscheidung der kritischen Tätigkeit.
2. Pessoa und Chlebnikov 10 Mir war es zuvor nicht in den Sinn gekommen, eine Beziehung zwischen Pessoa und Chlebnikov herzustellen. Bei der Lektüre des Beginns Ihrer Untersuchung beginne ich nun, ein ganzes Netz von Korrespondenzen, von ›Wahlverwandtschaften‹ aufzudecken, die sich wie ein Nimbus entsprechen und über die gleiche Epoche hinaus die strukturelle Verwandtschaft zwischen beiden Dichtern deutlich machen: Pessoa – Mystischer oder mythischer Nationalismus (Sebastianismus) – Interesse an der Magie, am Okkultismus, an der Astrologie – die (ironische) Utopie der Größe Portugals, des Fünften Spirituellen Reichs des Ersehnten (D. Sebastia˜o), dessen Über-Camo˜es er dann wäre – seine Ablehnung sozialer Integration und seine Selbstvernichtung in einem mittelmäßigen Alltag 9
Chlebnikov – Mythischer oder mystischer Panslavismus – Interesse an Beschwörungsformeln, Zaubersprüchen, Zauberern, religiösen Sekten (von den Persern auch als ›russischer Derwisch‹ bezeichnet) – Utopie der ›Republik der Weisen‹; öffentliche Ernennung Ch’s zur (ironisch gemeinten) ›Präsidentschaft über den Erdkreis‹ – seine Untauglichkeit fürs praktische Leben
Vgl. Jakobson /Le´vi-Strauss, »›Les chats‹ de Charles Baudelaire«, sowie die deutsche Übersetzung, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 250–287. [Anm. d. Übs./ Komm.] 10 Vgl. hierzu die kursorischen Bemerkungen Jakobsons /Stegagno Picchios in: »Die dialektischen Oxymora«, Abschnitt I, S. 634; diese Bemerkungen berufen sich wiederum auf einen früheren Text Jakobsons (»Retrospect«, in: SW I, S. 632). [Anm. d. Übs./Komm.]
Randbemerkungen zu einer Pessoa-Analyse
– die weitgehende Unbekanntheit für eine breite Öffentlichkeit und im Gegenzug das Prestige im Kreis der Freunde – die posthume Veröffentlichung seiner Schriften und der Nachruhm als größter Neuerer in der Dichtung seiner Sprache
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– dass.
– dass.
Meine Kenntnis der Dichtung Chlebnikovs ist beschränkt. Dennoch habe ich den Eindruck, daß ein Gedicht wie z. B. das, welches auf S. 72 der Leningrader Ausgabe (1960) 11 erscheint, auch von Pessoa unterschrieben hätte sein können. Was mir insbesondere an diesem Gedicht auffällt, ist das zusammengesetzte Wort vremysˇi – kamysˇi [in etwa: ›Zeiten-Binsen‹], in dem ich eine Vorgehensweise wiederfinde, die auch Pessoa schätzt, nämlich die ›Ontologisierung‹ der Zeit, die dialektische Verschmelzung der Lebewesen mit der Zeit. Um dilatado e mu´rmuro momento De tempos-seˆres de quem sou o viver? 12 Ein gedehnter und murmelnder Augenblick von Zeiten-Wesen, deren Lebendigsein ich bin?
3. Die Architektur der Heteronyme. Die Frage der Authentizität Die linguistische Genese der Heteronyme Pessoa, die Sie in Ihrer Untersuchung mit bewundernswerter phonologischer Imagination im Ausgang 11 Hier der Text des Gedichts von Chlebnikov in der Übersetzung von Augusto de Campos (Poesia Russa Moderna, S. 69): »Tempos-juncos Na margem do lago, Onde as pedras sa˜o tempo, Onde o tempo e´ de pedra. No lago da margem, Tempos, juncos, Na margem do lago Santos, juntos.« – Vgl. das russische Original nach einer neueren Ausgabe (Chlebnikov, Literaturnaja avtobiografija, S. 75): »Vremysˇi – kamysˇi Na ozera berege, Gde kamen’ja vremenem, Gde vremja kamen’em. Na berega ozere Vremysˇi – kamysˇi, Na ozera berege Svjasˇcˇenno ˇsumjasˇcˇie.« – Wörtliche Übersetzung: ›Zeiten [unübersetzbarer Neologismus, enthält den Wortkern von vremja (Zeit) und Teile des Wortkerns sowie das Suffix von kamysˇi (Binsen)] – Binsen An des Sees Ufer, Wo Steine Zeit sind, Wo Zeit Stein ist. An des Ufers See Zeiten – Binsen, An des Sees Ufer Heilig rauschende‹. (Vgl. auch die Zusammenstellung von fünf Nachdichtungen in Chlebnikov, Werke, S. 80 f.)] [Anm. d. Übs./Komm., mit Unterstützung von S. Donat] 12 Pessoa, Obra poe´tica, S. 159. [Anm. v. H.d.C.]
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vom Spiel der *Metathesen und der Übereinstimmungen zwischen Buchstaben aufgezeigt haben,13 ist so beeindruckend wie die Entdeckung RAVEN /NEVER in der Analyse des Poe-Gedichts.14 Ich möchte nur noch hinzufügen, daß der Name Pessoa selbst bei seiner Verwendung als gewöhnliches Substantiv diese onomastische Spur in sich enthält. In einem A´lvaro de Campos zugeschriebenen Gedicht (»Psiquetipia« oder »Psicotipia«) schreibt der Dichter: Sı´mbolos. Tudo sı´mbolos… 〈…〉 Sera´s tu´ um sı´mbolo tambe´m? Symbole. Alles Symbole… 〈…〉 Bist etwa auch du ein Symbol? 15
Und bei der Betrachtung seiner Hände auf dem Tisch sagt er zu sich selbst, sie seien: Pessoas independentes de ti… Personen, unabhängig von dir… 16
In einer »Bibliographischen Tafel«, die 1928 publiziert wurde, findet man folgende Aussage Pessoas über die Heteronyme: Estas individualidades devem ser consideradas como distintas do autor delas. Forma cada uma uma espe´cie de drama; e todas elas formam outro drama. E´ um drama em gente, em vez de em atos. Diese Individualitäten müssen als von der ihres Autors verschieden betrachtet werden. Jede bildet eine Art von Drama; und alle zusammen bilden ein weiteres Drama. Es handelt sich um ein Drama aus Personen und nicht aus Akten.17 13 Vgl. Jakobson /Stegagno Picchio, »Die dialektischen Oxymora«, S. 638. [Anm. d. Übs./Komm.] 14 In Jakobson, »Linguistics and Poetics« S. 43; vgl. die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 194. [Anm. d. Übs./Komm.] 15 Pessoa, Obra poe´tica, S. 387; deutsche Übersetzung nach Pessoa, A´lvaro de Campos, Poesı´as – Dichtungen, hg. u. übs. v. Lind, S. 213. [Anm. d. Übs./Komm.] 16 Ebd. Jakobson und Stegagno Picchio greifen dieses Zitat in »Die dialektischen Oxymora«, S. 637, Anm. 18, auf. [Anm. d. Übs./Komm.] 17 »Ta´bua bibliogra´fica« (zuerst in Presenc¸a 17 (Dezember 1928); hier nach Pessoa, Obra poe´tica e em prosa, Bd. 3, S. 1424–1426, hier: 1425; deutsche Übersetzung: Pessoa, Dokumente zur Person und ausgewählte Briefe, S. 11–13, hier: S. 11 (der letzte Satz fehlt in der Übersetzung von Lind). [Anm. d. Übs./Komm.]
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Der mexikanische Dichter Octavio Paz, Übersetzer Pessoas ins Spanische, stellt fest: Su secreto, por lo dema´s, esta´ escrito en su nombre: Pessoa quiere decir persona en portugue´s y viene de persona, ma´scara de los actores romanos. Ma´scara, personaje de ficcio´n, ninguno: Pessoa. Sein Geheimnis steht übrigens bereits in seinem Namen geschrieben: Pessoa bedeutet im Portugiesischen Person und kommt von persona, Maske der römischen Schauspieler. Maske, fiktive Person, niemand: Pessoa.18
Ich glaube, daß das Problem der ›Authentizität‹ und /oder der ›Mystifizierung‹ Pessoas bezüglich der Heteronyme demjenigen ähnlich ist, das bei Poe in bezug auf die Genese des »Raven« und seiner Erklärung post festum, d. h. »The Philosophy of Composition«,19 auftritt.20 »Fingieren 18 Paz, »El desconocido de sı´ mismo«, S. 150; deutsche Übersetzung [von mir überarbeitet] in Pessoa, Algebra der Geheimnisse, S. 85. [Anm. d. Übs./Komm.] 19 Poe, »The Philosophy of Composition« (Erstveröffentlichung im April 1846). [Anm. d. Übs./Komm.] 20 Erst nach der Niederschrift dieser »Bemerkungen«, aber durch sie ausgelöst, kam mir der Gedanke, das Problem folgendermaßen zu formulieren: Pessoas Heteronyme sind ein außergewöhnlicher stilistischer Kunstgriff, durch den er es geschafft hat, seine Gedichte zu schreiben und gleichzeitig über sie aus verschiedenen metasprachlichen Distanzen heraus nachzudenken. Die gesamte Frage der ›Aufrichtigkeit‹ und /oder ›Mystifizierung‹, über die so viel Tinte geflossen ist, löst sich auf, sobald man die Verdoppelungen der Pessoaschen Heteronymie im Licht dieser metasprachlichen Funktion versteht, die die vagen und irrelevanten *Konnotationen des genannten Begriffspaars aus der Diskussion ausschließt. Das Heteronym diversifiziert den allgemeinen *Code der Dichtung Pessoas in einen spezifischen Subcode und prüft bzw. kritisiert dadurch die Möglichkeiten, diesen Code zu aktualisieren. Eher als um ein biographisches Phänomen handelt es sich dabei um ein Phänomen des Textes oder der Schrift. Wie auch das Problem der Ironie Pessoas eines des Textes (und des Codes) ist: »Das Wesen der Ironie besteht darin, daß man die Zweitbedeutung eines Textes aus keinem seiner Wörter erschließen kann, wobei sich diese Zweitbedeutung aus der Tatsache erschließt, daß der Text unmöglich das meinen kann, was er sagt.« (Definition von Jorge de Sena, Da Poesia portugueˆsa, S. 185). Diese Ironie Pessoas (die implizite Rede seiner Heteronyme) ist eine Sprachfigur, die dem »tropologischen Raum« (Foucault) eingeschrieben ist, in dem sich das Selbe in Bedeutungsverdoppelungen verbreitet. [Anm. v. H.d.C.] – Als wörtliches Zitat konnte diese Stelle bei Michel Foucault nicht identifiziert werden; am ehesten scheint das von Campos Gemeinte auf Foucaults Blanchot-Interpretation »La pense´e du dehors« (deutsche Übersetzung: »Das Denken des Draußen«) anwendbar, in der es u. a. um die Selbstverdoppelung der Sprache und ihre Hinwendung zu einem ortlosen Draußen des Denkens geht. Explizit findet sich der Gedanke einer »tropological inauguration of the subject« [›tropologischen Begründung des Subjekts‹] mit Bezug auf Foucault meines Wissens erst bei Butler, The Psychic Life of Power, S. 3. [Anm. d. Übs./Komm.]
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bedeutet sich selbst erkennen« 21 – so lautet Pessoas Devise. Er »erfand die Biographien zu den Werken und nicht die Werke zu den Biographien«, kommentiert der Dichter und Kritiker Adolfo Casais Monteiro.22 »Er selbst wird zu einem der Werke seines Werks«, fügt Octavio Paz hinzu.23
4. Foi por na˜o ser existindo 24 Im Original findet sich ein Spiel zwischen ›ser‹ [›sein‹] und ›existir‹ [›existieren‹], das sogar in einer wörtlichen Übersetzung schwer wiederzugeben ist. Die Grundbedeutung dieser Zeile ist meiner Meinung nach: ›Foi existindo, por na˜o ser.‹ [›Er war existierend, da er nicht war.‹] Foi existindo, etwa im Sinn von: ›er gewann im Laufe der Zeit an Existenz‹, ›nahm eine Existenz an‹. Aber es gibt auch die Deutung ser existindo, die dem infiniten Charakter des Verbums ›ser‹ einen Beiklang von semantischer ›Dauer‹, einen Fortsetzungsimpuls verleiht. Dies hieße: ›Foi, por na˜o ser existindo‹ = Foi, d. h. er war aus dem Grund, daß er nicht tatsächlich existiert hat, daß er nicht auf der Ebene der materiellen Existenz vorhanden war. Beide Interpretationen, die nicht unvereinbar, sondern komplementär zueinander sind, fügen sich in die von Ihnen in Ihrer Untersuchung entwickelte Analyse ein. Diese mittlere Strophe [in der der gerade analysierte Vers vorkommt, Anm. d. Übs./Komm.] ist die Schlüsselstrophe des Gedichts. Sie legt folgende, sich machtvoll aufdrängende Einschätzung nahe: Pessoa ist der Dichter des Verbums ›sein‹ und seiner Verdoppelungen und Entwicklungen, wobei sich die Affirmationen und Negationen abwechseln. All die Verbalausdrücke dieser Strophe werden in gewisser Weise als die Avatare oder Hypostasen eines einzigen, impliziten oder expliziten Grundverbums ser [›sein‹] angesehen (wobei das Verbum ser in seinem *intransitiven Gebrauch auch ›existieren‹ bedeutet). Um diesen linguistisch-existenziellen 21 Pessoa, Pa´ginas de doutrina este´tica, S. 132. Der 1927 zum ersten Mal in der Zeitschrift Presenc¸a veröffentlichte Text mit dem Titel »Ambiente«, der dieses Zitat enthält, ist Pessoas Heteronym A´lvaro de Campos zuzuschreiben. [Anm. d. Übs./ Komm.] 22 Zit. nach Paz, »El desconocido de sı´ mismo«, S. 158; deutsche Übersetzung nach »Fernando Pessoa. Der sich selbst Unbekannte«, S. 97. [Anm. d. Übs./Komm.] 23 Ebd. [Anm. d. Übs./Komm.] 24 Das Folgende ist ein Kommentar Campos’ zu Vers II2 des Pessoa-Gedichts. Jakobson und Stegagno Picchio akzentuieren ihre Interpretation des Verses in »Die dialektischen Oxymora«, S. 644, etwas anders. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Transformismus in all seiner Wirksamkeit zu erfassen, könnte man gleichsam diese gesamte Strophe dadurch ›übersetzen‹, daß man sie auf Ausdrücke mit dem Verbum ›ser‹ reduziert: Este, que aqui foi, Foi por na˜o ser. Sem ser foi para no´s como se fosse. Por na˜o ter sido, foi E no´s (grac¸as a este que foi na˜o sendo) somos. Der, der hier war. War, weil er nicht war. Ohne zu sein, war er für uns, als ob er wäre. Weil er nicht gewesen ist, war er Und wir (dank dem, der war, ohne zu sein) sind.
5. Tudo, nada, metade Diese drei Begriffe tauchen in einer dialektischen Beziehung in einem anderen, sehr charakteristischen Gedicht von Pessoa auf: Tudo que fac¸o ou medito Fica sempre na metade.25 Querendo, quero o infinito. Fazendo, nada e´ verdade.26 Alles, was ich tue oder überlege bleibt immer bei der Hälfte stehen In meinem Wollen will ich das Unendliche In meinem Tun ist nichts Wahrheit.
25 De´cio Pignatari [zusammen mit Augusto und Haroldo de Campos der bedeutendste Vertreter des Konkretismus in Brasilien, s. o. Einleitung zu diesem Brief, S. 669; Anm. d. Übs./Komm.] hat im Gespräch mit Roman Jakobson hierzu etwas Interessantes bemerkt: Bei der Darstellung des ›raumschaffenden‹ visuellen Effekts des *Enjambements, das das Wort metade [›Hälfte‹] im vorletzten Vers [III4] des »Odysseus« syntaktisch hervorhebt, hat Pignatari aufgrund der dabei hervortretenden *Homonymie in ihm das *Syntagma meta de [›Ziel von‹] ›entziffert‹, d. h.: vida [›Leben‹] (hier embaixo [›unten‹], irdisch, alltäglich) = meta de nada [›Ziel von nichts‹] = morte [›Tod‹]. [Anm. v. H.d.C.] 26 Pessoa, Obra poe´tica, S. 172. [Anm. v. H.d.C.] – Dieser von Campos vorgeschlagene Paralleltext wird von Jakobson /Stegagno Picchio am Ende von »Die dialektischen Oxymora« (S. 664) eingefügt. [Anm. d. Übs./Komm.]
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6. Das Spiel mit Gegensätzen: Das Leben und der Tod. Das Oxymoron Pessoa schreibt: E comecei a morrer muito antes de ter vivido.27 Und ich begann zu sterben, lange, bevor ich gelebt hatte.
Gemäß der in Ihrer Untersuchung enthaltenen Analyse der Oxymora von »Odysseus« läßt sich folgendes Diagramm von *Oppositionen bzw. *binären Beziehungen 28 erstellen: Sonnenmythos (rein) (Gott) Irdische Legende (unrein) (Odysseus)
Sonne (Himmel)
Leben
Erde
Tod
Ebenfalls mit Bezug auf dieses Diagramm laßt sich folgender Vers aus einem anderen Gedicht anführen, der die dialektische und einheitsstiftende Macht des *Oxymorons bei Pessoa deutlich macht: A terra e´ feita de ce´u.29 Die Erde ist aus Himmel gemacht.
7. Räumliche und zeitliche Nähe zwischen dem Held und dem Dichter Pessoa ist ein Meister der ›Synchronie‹, der gleichzeitigen Durchdringung von Zeit und Raum. Einer seiner berühmtesten Verse lautet: Eu era feliz? Na˜o sei: Fui-o outrora agora.30 27 Pessoa, Obra poe´tica, S. 150. [Anm. v. H.d.C.] 28 Eine abgewandelte Form dieses Diagramms, das weder in der Erstveröffentlichung noch in SW auftaucht, wird in die von Haroldo de Campos besorgte portugiesische Übersetzung des Textes von Jakobson und Stegagno Picchio aufgenommen. Vgl. »Die dialektischen Oxymora«, S. 657, Anm. 63. [Anm. d. Übs./Komm.] 29 Pessoa, Obra poe´tica, S. 161. [Anm. v. H.d.C.] 30 A. a. O., S. 141. Die umkehrbare Verflechtung von Vergangenheit (outrora [›früher‹]) und Gegenwart (agora [›jetzt‹]) entsteht hier aus dem klugen *paronomastischen Effekt (*Homoioteleuton), der die beiden Zeitadverbien solidarisch zusammenschweißt und sie wie eine Einheit, wie eine Wortmontage klingen läßt: outroragora. [Anm. v. H.d.C.]
Randbemerkungen zu einer Pessoa-Analyse
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War ich glücklich? Ich weiß nicht: Ich war es früher jetzt.
8. Legende In Anschluß an Ihre Analyse, und ergänzend dazu, glaube ich, daß man das Wort lenda [›Legende‹] auch im etymologischen Sinn entziffern könnte: vom lateinischen legenda, was gelesen werden muß, was gelesen wird (legere). Die lenda [›Legende‹] der dritten Stophe, so wie sie in Ihrer Untersuchung interpretiert wird, ist nichts anderes als eine Übersetzung des Sonnenmythos der ersten Strophe in eine ›Verfallsstufe‹. Dieser ›Verfall‹ läßt sich außerdem, so scheint mir, durch die Tatsache erklären, daß die Legende der gelesene Mythos ist. Sie ist definitions- und ursprungsgemäß ein beliebiger literarischer Sachverhalt, der gelesen werden muß. Nun hebt die Analyse in Ihrer Arbeit an einer Stelle die Aversion des Dichters gegen die literarischen Dinge hervor, »die nicht eine grundlegende metaphysische Idee enthalten«.31 In einem berühmten Gedicht – »O 31 Brief an Armando Coˆrtes-Rodrigues vom 15. Januar 1915, in: Pessoa, Obra poe´tica e em prosa; Bd. 2, S. 178, deutsche Übersetzung nach Lind in: Pessoa, Dokumente zur Person und ausgewählte Briefe, S. 63. Vgl. auch die Verwendung des Zitats in Jakobson /Stegagno Picchio, »Die dialektischen Oxymora«, S. 657 und Anm. 63. [Anm.d. Übs./Komm.] – Pessoa bezieht sich auf die »unehrliche Literatur«, eine gewollt zweideutige Bezeichnung in der Lexik eines Dichters, der behauptet: »fingir e´ conhecer-se« [›fingieren heißt sich selbst erkennen‹; Pessoa, Pa´ginas de doutrina este´tica, S. 132; s. o. Abschnitt 3 u. Anm. 21, Anm. d. Übs./Komm.]. Aber auf einer tieferen Ebene impliziert diese Position eine ironische Ausweitung – das selbstreflexive Verlachen der Literatur überhaupt. Dem könnte man mit Gewinn folgende Beobachtungen von Roland Barthes zur Seite stellen (»Drame, poe`me, roman«, S. 596): »〈…〉 ce langage ennemi, c’est la Litte´rature, non seulement institutionnelle, sociale, mais aussi inte´rieure, cette cadence toute faite qui de´termine en fin de compte les ›histoires‹ qui nous arrivent, puisque ressentir, si l’on n’y prend pas garde incessamment, c’est nommer. Ce langage est mensonge, car, de`s qu’il touche la vision ve´ritable, celle-ci s’e´vanouit; mais si l’on y renonce, une langue de ve´rite´ se met a` parler.« [Anm. v. H.d.C.] – Deutsche Übersetzung: ›〈…〉 diese feindliche Sprache ist die Literatur, nicht nur in institutioneller und sozialer Hinsicht, sondern auch in sich, dieser vorgegebene Schluß, der letztlich die »Geschichten« bestimmt, die uns zustoßen, da Empfinden, wenn wir nicht unablässig aufpassen, mit Benennen zusammenfällt. Diese Sprache ist Lüge, weil sie die wahrhaftige Sicht in dem Moment auflöst, in dem sie sie berührt; aber wenn man auf sie verzichtet, dann fängt eine Sprache der Wahrheit an zu sprechen.‹ Campos zitiert Barthes in portugiesischer Sprache und offensichtlich in eigener Übersetzung, wobei er gleichzeitig die Quelle des französischen Textes angibt; hier wurde dagegen auf das Original zurückgegriffen, von dem auch die Übersetzung ins Deutsche stammt. [Anm. d. Übs./Komm.]
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poeta e´ um fingidor« (Autopsicografia) 32 [›Der Dichter ist einer, der fingiert (Autopsychographie)‹] – bezeichnet Pessoa den ›fingierten‹ oder ›fiktiven‹ Schmerz, der in einem poetischen Text präsentiert wird, mit dem Ausdruck »dor lida« [›gelesener Schmerz‹]. Auch andere Verse könnte man in Zusammenhang mit meinem Argument anführen: A alma e´ literatura E tudo acaba em nada e verso.33 Die Seele ist Literatur Und alles endet im Nichts und im Vers. O sol doira sem literatura.34 Die Sonne bräunt ohne Literatur. Livros sa˜o papeis pintados com tinta.35 Bücher sind mit Tinte angemalte Papiere. Ah, ja´ esta´ tudo lido 36 Mesmo o que falta ler! 37 Ach, schon ist alles gelesen Sogar das, was noch gelesen werden muß! Ergo a cabec¸a estonteada Do lido e do va˜o 38 Ich richte meinen Kopf auf, der betäubt ist Vom Gelesenen und Nichtigen.
32 Pessoa, Obra poe´tica, S. 164 f. [Anm. v. H.d.C.] – Vgl. die deutsche Übersetzung von Paul Celan (Pessoa, »Autopsychographie«, S. 567). [Anm. d. Übs./Komm.] 33 Pessoa, Obra poe´tica, S. 562; man bemerke das Spiel mit tudo und nada. [Anm. v. H.d.C.] 34 A. a. O., S. 188. [Anm. v. H.d.C.] 35 A. a. O., S. 189. [Anm. v. H.d.C.] 36 Vgl. Mallarme´, »Brise marine« (»La chair est triste, he´las! et j’ai lu tous les livres.« [›Das Fleisch ist traurig, ach! und ich habe alle Bücher gelesen.‹]); in: Œuvres comple`tes, Bd. 1, S. 15. [Anm. v. H.d.C.] – Deutsche Übersetzung in: Mallarme´, Sämtliche Dichtungen, S. 35. [Anm. d. Übs./Komm.] 37 Pessoa, Obra poe´tica, S. 500. [Anm. v. H.d.C.] 38 A. a. O., S. 582 f. [Anm. v. H.d.C.]
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Lenda do sonho que vivo, Perdido por a salvar… Mas quem me arrancou o livro Que eu quis ter sem acabar? 39 Legende des Traums, den [bzw. die] ich durchlebe Verloren, um sie [die Legende] zu retten… Doch wer hat mir das Buch entrissen, das ich ohne Ende haben wollte?
9. Dichter der Strukturierung In Ihrer Untersuchung wird Pessoa den »Dichtern der Strukturierung« zugeteilt (nach einem Kriterium von Pessoa selbst aus einem Brief an Francisco Costa).40 Diese Einteilung erscheint mir genau getroffen. Tatsächlich gehört Pessoa zur Linie der Dichter als Ingenieure und Geometer, die von Poe (den er übersetzt hat) und von Mallarme´ (den er sicherlich genau gelesen hat und der offensichtlich die hermetischen *Sonette der ersten Phase der Dichtung Pessoas beeinflußte, wie z. B. »Passos da Cruz« 41 von 1914–15) herkommen. Hier einige chrarakteristische Passagen Pessoas: Trac¸o so`zinho, no meu cubı´culo de engenheiro, o plano, Firmo o projeto, aqui isolado, Remoto ate´ de quem sou.42 39 A. a. O., S. 567. [Anm. v. H.d.C.] 40 Vgl. Pessoa, Obra poe´tica e em prosa, Bd. 2, S. 275 f.; die entsprechenden Überlegungen von Jakobson /Stegagno Picchio in »Die dialektischen Oxymora« finden sich als Rahmen ihrer Analyse in den Abschnitten I und IX, S. 634–636 bzw. 662; vgl. außerdem meine Kommentare in der Einleitung, S. 632, sowie S. 634, Anm. 11. [Anm. d. Übs./Komm.] 41 Pessoa, Obra poe´tica, S. 123–129. Vgl. Pessoa, Pa´ginas de doutrina este´tica, S. 133: »Bei Luı´s de Montalvor 〈…〉 vermischt sich die Empfindsamkeit mit der Intelligenz – so wie bei Mallarme´, jedoch anders – und bildet ein drittes Vermögen der Seele, das sich einer Definition entzieht. Wir können gleichermaßen behaupten, daß er [Montalvor] das denkt, was er empfindet, und daß er empfindet, was er denkt. Er verwirklicht wie kein anderer lebender Dichter im In- oder Ausland die Harmonie zwischen dem, was die Vernunft verneint und dem, was die Empfindung nicht kennt.« Für Jorge de Sena [in seinem Kommentar zu Pessoas »Luı´s de Montalvor«, Pa´ginas de doutrina este´tica, S. 247; Anm. d. Übs./Komm.] ist dies die »schönste Definition« der Dichtung von Pessoa selbst. [Anm. v. H.d.C.] 42 Pessoa, Obra poe´tica, S. 389. [Anm. v. H.d.C.] – Titel des Gedichts: »Datilografı´a« [›Maschinenschreiben‹] von A´lvaro de Campos; deutsche Übersetzung [stark abge-
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Ich entwerfe allein in meinem Ingenieurskämmerchen den Plan, unterzeichne das Projekt, hier isoliert, entfernt sogar von dem, der ich bin. Toda a emoc¸a˜o verdadeira e´ mentira na inteligeˆncia 〈…〉 43 Jede wahrhafte Empfindung ist im Verstand Lüge 〈…〉 O que em mim sente esta´ pensando.44 Was in mir empfindet, denkt. Nada de este´ticas com corac¸a˜o: sou lu´cido. Nichts von Ästhetiken mit Herz: ich bin luzide.45
Die zitierten Zeilen kann man mit dieser Äußerung Mallarme´s über das konfrontieren, was man den Mallarme´schen ›esprit de ge´ome´trie‹ [›geometrischen Geist‹, frz. im Orig.] nennen könnte: 〈…〉 Ich könnte mir nur schwer etwas vorstellen oder es weiterverfolgen, ohne das Papier mit Geometrie zu bedecken, in der sich der Mechanismus, natürlich meines Denkens, widerspiegelt.46
Es scheint mir klar, daß man die »Dichter der Strukturierung« den »Dichtern der Emotion« oder des »Ausdrucks« gegenüberstellen muß, und auch, daß man von ersteren behaupten kann, sie seien »begrenzter« (dadurch, daß sie notwendigerweise ihre Mittel und ihren Stoff begrenzen müssen, um darüber besser die Kontrolle zu behalten), und von letzteren, daß sie »abwechlungsreicher« erscheinen (aufgrund der Abwesenheit
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wandelt] nach Pessoa, A´lvaro de Campos, Poesı´as – Dichtungen, hg. u. übs. v. Lind, S. 217. [Anm. d. Übs./Komm.] Pessoa, Pa´ginas de doutrina este´tica, S. 132. [Anm. v. H.d.C.] – Titel des Tetxes: »Ambiente« von A´lvaro de Campos. [Anm. d. Übs./Komm.] Pessoa, Obra poe´tica, S. 144. [Anm. v. H.d.C.] A. a. O., S. 415. [Anm. v. H.d.C.] – Deutsche Übersetzung nach Pessoa, A´lvaro de Campos, Poesı´as – Dichtungen, hg. u. übs. v. Lind, S. 271. [Anm. d. Übs./Komm.] Französisches Original: »Car il me serait difficile de concevoir quelque chose ou de le suivre sans couvrir le papier de ge´ome´trie ou` se re´fle´chit le me´canisme e´videmment de ma pense´e.« (Brief an Victor-E´mile Michelet vom 18. 10. 1890, in: Mallarme´, Œuvres comple`tes, Bd. 1, S. 803). Schwierig ist hier die Übersetzung des Adverbs ›e´videmment‹: Während Campos es adjektivisch auffaßt und übersetzt: »o mecanismo evidente de meu pensamento« [›der evidente Mechanismus meines Denkens‹] (»Notas«, S. 203), verstehe ich »e´videmment« in dem Sinn, daß sich in den geometrischen Figuren ›logischerweise‹ der Mechanismus des Denkens (und kein anderer) widerspiegelt. [Anm. d. Übs./Komm.]
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dieser rationalen Kontrolle, dieses »Dämons der Hellsichtigkeit« – das ist beispielweise der Fall der Surrealisten). Um in Ihren Begiffen aus »Linguistik und Poetik« 47 zu sprechen, würde ich sagen, daß die »Dichter der Strukturierung« in ihrer sprachlichen Mitteilung neben der »poetischen Funktion« die *»metasprachliche Funktion« bevorzugen, da sie selbst im Akt des Dichtens immer von der Frage besessen sind, was das Gedicht eigentlich ist. Die »Dichter des Ausdrucks« bevorzugen in der romantischen Tradition neben der »poetischen Funktion« die *»emotive Funktion«, ›das Herz‹, ›das Gemüt‹ [im Original deutsch]. Ich verstehe, daß man von ersteren sagen kann, sie seien »komplexer«, dagegen bin ich mir nicht sicher, ob man diesen Dichtern der *»Struktur« und der »Komplexität« »Tiefe« absprechen kann. Sind nicht »die Gegenstände der reinen und komplexen Einbildungskraft oder des Intellekts«,48 von denen Mallarme´ im Vorwort von Un coup de De´s spricht, nicht ebenfalls, und zwar fast notwendigerweise, »tiefe« Belange? Über eine genauere Analyse dieser per Opposition verbundenen Konzepte, die auf die Ästhetik Pessoas zurückgehen, würde ich mich in Ihrer Untersuchung freuen.49 Haroldo de Campos
47 Vgl. aber »Linguistics and Poetics«, S. 27; sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 171. [Anm. d. Übs./Komm.] 48 Französisches Original: »tels sujets d’imagination pure et complexe ou intellect«, in: Mallarme´, Œuvres comple`tes, Bd. 1, S. 392; deutsche Übersetzung: Mallarme´, Dichtungen, S. 225. [Anm. d. Übs./Komm.] 49 Nach Pessoa sind Homer, Dante und Milton »Dichter der Strukturierung«, Shakespeare und Browning dagegen »Dichter des Ausdrucks«. Das Konzept der »Tiefe« ist, wie andere im semantischen System Pessoas, von Ambiguität durchzogen. Wo es hier partikularisierend auftritt, um den Effekt einer distinktiven Opposition zwischen zwei Typen von Dichtung und Poetik zu erzielen, erscheint es in einem anderen Text Pessoas (»Luı´s de Montalvor«, Pa´ginas de doutrina este´tica, S. 174) in einer generalisierenden Bedeutung und charakterisiert dabei die Dichtung überhaupt: »Und da aufgrund der Tatsache, daß alles wesentlich subjektiv ist, ein Begriff vom Universum selbst das ganze Universum ist, ist jeder Mensch wesentlich schöpferisch. Er muß allerdings erst noch wissen, daß er es ist, und er muß zu erkennen geben, daß er es weiß: Dies auszudrücken nennt man, wenn es tief ist, Dichtung.« [Anm. v. H.d.C.] – Vgl. die »Carta de Fernando Pessoa a Francisco Costa« (vom 10. August 1925), in: Pessoa, Obra poe´tica e em prosa, Bd. 2, S. 275f; ausschnittsweise französische Übersetzung bei Guibert, Fernando Pessoa, S. 212 f.; vgl. den Wortlaut der Passage in »Die dialektischen Oxymora«, S. 634, Anm. 11. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Randbemerkungen zu einer Pessoa-Analyse
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— »Martin Codax’s Poetic Texture: A Revised Version of a Letter to Haroldo de Campos«, in: SW III, S. 169–175. – »Die poetische Textur bei Martin Codax. Revidierte Fassung eines Briefs an Haroldo de Campos«, übs. u. komm. v. Horst Weich, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 426–438. — »Retrospect«, in: SW I, S. 629–658. ° Jakobson, Roman Osipovicˇ u. Claude Le´vi-Strauss: »›Les chats‹ de Charles Baudelaire«, in: SW III, S. 169–175. – »›Die Katzen‹ von Charles Baudelaire«, übs. v. Erich Köhler u. a., komm. v. Bernhard Teuber, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 250–287. Jakobson, Roman Osipovicˇ u. Luciana Stegagno Picchio, »Die dialektischen Oxymora von Fernando Pessoa«, übs. u. komm. v. Jörg Dünne, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 631–668. ° Jakobson, Roman Osipovicˇ u. Paolo Valesio: »Vocabulorum constructio in Dante’s Sonnet ›Se vedi li occhi miei‹«, in: SW III, S. 176–192. – »Vocabulorum constructio in Dantes Sonett ›Wenn Du meine Augen siehst‹«, übs. v. Sara Terpin u. Thomas Wild, komm. v. Christoph Schamm u. Evi Zemanek, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 439–470. Mallarme´, Ste´phane: Œuvres comple`tes, 2 Bde., hg. v. Bertrand Marchal, Paris: Gallimard 1998 (=Bibliothe`que de la Ple´iade). — Sämtliche Dichtungen [frz.-dt.], übs. v. Carl Fischer u. Rolf Stabel, Nachw. v. Johannes Hauck, München u. Wien: Hanser 1992. Paz, Octavio: »Fernando Pessoa, El desconocido de sı´ mismo«, in: ders.: Excursiones /Incursiones [›Exkursionen /Inkursionen‹], 2. Aufl. Me´xico D. F.: Fondo de cultura econo´mica 1998 (= Obras completas, 14 Bde, hg. v. Octavio Paz, Bd. 2), S. 150–169. – »Fernando Pessoa. Der sich selbst Unbekannte«, in: Pessoa, Fernando: Algebra der Geheimnisse. Ein Lesebuch, hg. v. Georg Rudolf Lind u. a., Frankfurt /Main: Fischer 1990, S. 85–115. Pessoa, Fernando: Alberto Caeiro – Dichtungen / Ricardo Reis – Oden [port.-dt.], hg. u. übs. v. Georg Rudolf Lind, Zürich: Ammann Verlag 1986. — A lı´ngua portuguesa [›Die portugiesische Sprache‹], hg. v. Luı´sa Medeiros, Lisboa: Assı´rio & Alvim 1997. — A´lvaro de Campos, Poesı´as – Dichtungen [port.-dt.], hg. u. übs. v. Georg Rudolf Lind, Zürich: Ammann Verlag 1987. — »Autopsychographie«; übs. v. Paul Celan, in: ders.: Übertragungen II, Frankfurt /Main: Suhrkamp 1986 (= Gesammelte Werke, 5 Bde, hg. v. Beda Allemann u. Stefan Reichert, Bd. 5), S. 566 f. — Dokumente zur Person und ausgewählte Briefe, hg. u. übs. v. Georg Rudolf Lind, Zürich: Ammann Verlag 1988. — Esoterische Gedichte. Mensagem – Botschaft. Englische Gedichte [port.-dt.], hg. u. übs. v. Georg Rudolf Lind, Zürich: Ammann Verlag 1989. ° — Obra poe´tica [›Lyrisches Werk‹], hg. v. Maria Aliete Dorez Galhoz, 2. Aufl. Rio de Janeiro: Aguilar 1965. — Obra poe´tica e em prosa [›Lyrisches und narratives Werk‹], 3 Bde., hg. v. Anto´nio Quadros, Porto: Lello & Irma˜o 1986.
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Haroldo de Campos
° — Pa´ginas de doutrina este´tica [›Texte zur ästhetischen Theorie‹], hg. v. Jorge de
Sena, 2. Aufl. Lisboa: Inque´rito o. J. Poe, Edgar Allan: »The Philosophy of Composition«, in: ders.: Essays and Reviews, hg. v. G. R. Thompson, New York: The Library of America 1984, S. 13–25 [zunächst in: Graham’s Magazine (April 1846), S. 163–167.] °Poesia Russa Moderna [›Moderne russische Lyrik‹], hg. v. Agusto de Campos, Haroldo de Campos u. Boris Schnaidermann, Rio de Janeiro: Civilizac¸a˜o Brasileira 1968. ° Sena, Jorge de: Da Poesia portuguesa [›Über die portugiesische Lyrik‹], Lisboa: A´tica 1959.
Roman Jakobson
Der grammatische Bau des Gedichts von B. Brecht »Wir sind sie« 1 Kommentar Hendrik Birus Diese von vornherein als Schlußstück von Jakobsons Buch »Die Poesie der Grammatik und die Grammatik der Poesie« geplante Brecht-Analyse war zugleich (wie nicht selten) eine adressatenbezogene Gelegenheitsschrift: zunächst ein Akademie-Vortrag in Ost-Berlin, dann ein Festschrift-Beitrag für Wolfgang Steinitz, den bahnbrechenden Erforscher der »Grammatik des Parallelismus«, speziell in der finnisch-karelischen Volksdichtung, den Jakobson bereits aus der Emigrationszeit kannte und der nach dem Krieg als Direktor des Instituts für Finnougristik an der Humboldt-Universität und Vizepräsident der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, ja zeitweilig als Mitglied des ZK der SED fungierte. Kein Wunder, daß formale und ideologische Momente von Brechts Poetik hier gleichermaßen ernst genommen werden. Indem sie das durch den Verzicht auf Reim und metrische Normierung bedingte Hervortreten des Parallelismus der einzelnen Verse und der grammatischen Architektonik des ganzen Gedichts herausarbeitet, bewährt sich Jakobsons strukturale Analyse zugleich als eine sprach- und literaturwissenschaftliche Einlösung der als Motto vorangestellten essayistischen Thesen Arnold 1
Vorlage: Jakobson, Roman Osipovicˇ: »Der grammatische Bau des Gedichts von Bertolt Brecht ›Wir sind sie‹«, in: SW III, S. 660–676. Leicht veränderte Version des Erstdrucks: Jakobson, Roman: »Der grammatische Bau des Gedichts von B. Brecht ›Wir sind sie‹«, in: Beiträge zur Sprachwissenschaft, Volkskunde und Literaturforschung. Wolfgang Steinitz zum 60. Geburtstag am 28. Februar 1965 dargebracht, Berlin: Akademie-Verlag 1965, S. 175–189. Zur Korrektur der zahlreichen Versehen der Druckvorlage diente der Abdruck des Aufsatzes in: Jakobson, Hölderlin · Klee · Brecht. Zur Wortkunst dreier Gedichte, eingel. u. hg. v. Elmar Holenstein, Frankfurt /Main: Suhrkamp 1976 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 162), S. 107–128; aus ihm wurde beim Abdruck von Brechts Gedicht auch die römische Numerierung der ›Strophen‹ übernommen. [Anm. d. Komm.]
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Zweigs (der ebenfalls aus der Emigration nach Ost-Berlin zurückgekehrt war) zur geheimen Gesetzmäßigkeit und Musikalität von Brechts Versen. Mit ihrer Hervorhebung der »pronominalen Manier« als Ausdruck von Brechts Einstellung auf gestische Sprechbarkeit und seiner (auch lehrstück-dramaturgischen) Nutzung der »shifters« 2 als Kunstgriff erweist sich diese Analyse schließlich als komplementär zu der von Hölderlins letztem, jeden kommunikativen Austausch verweigernden Gedicht. Hendrik Birus Nirgendwo sind die geheimnisvollen Gesetze verletzt, Gesetze der Interferenz, des Sichkreuzens und Synkopierens, mit denen im dichterischen Gebilde der innere Sinn und der grammatische Satzbau gegeneinanderspielen; nirgendwo auch hört man so hinreissend geheime Musik wie in diesen Versen, zum Beispiel denen aus der Mutter und der Maßnahme 〈…〉 Arnold Zweig, 1934.3
Dies sind die Worte, die Bertolt Brecht (1898–1956) zur Verteidigung der grammatischen Eigengesetzlichkeit seiner Verse anführte: »Ego, poeta Germanus, supra grammaticos sto.« 4 Mit Recht hatte A. N. Kolmogorov 5 den grammatischen Bau der Poesie als deren allzu wenig beachtete Dimension gekennzeichnet. Zwar gibt es unter den Literaturforschern der verschiedenen Länder, Sprachen, Lehrmeinungen und Generationen noch immer solche, die in einer Strukturanalyse von Versen einen verbrecherischen Einbruch der Sprachwissenschaft in eine verbotene Zone erblikken, aber es gibt auch Sprachforscher verschiedener Observanz, die von vornherein die Dichtersprache aus dem Kreis der die Linguistik interessierenden Themen ausschließen.6 Es ist eben Sache der Troglodyten,7 Troglodyten zu bleiben. 2 3 4 5
6 7
Vgl. Jakobson, »Shifters, Verbal Categories, and the Russian Verb«; dt. Übs.: »Verschieber, Verbkategorien und das russische Verb«. [Anm. d. Komm.] A. Zweig, »Aufgang Bertolt Brechts«, S. 346. [Anm. d. Komm.] ›Ich, ein deutscher Dichter, stehe über den Grammatikern.‹ (Lat.; zit. in: Feuchtwanger, »Bertolt Brecht«, S. 362). [Anm. d. Komm.] Andrej Nikolaevicˇ Kolmogorov (1903–1987), führender russischer Mathematiker und Logiker; seine quantitativen Analysen poetischer Texte, besonders zu Pusˇkin, gehen wesentlichen Entdeckungen der mathematischen Informationstheorie und Semiotik voraus; vgl. seine Würdigung in SW V, S. 573. [Anm. d. Komm.] Vgl. eine entsprechende Bemerkung in »Linguistik und Poetik« (S. 20 f.; dt. Übs. in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 161). [Anm. d. Komm.] Höhlenbewohner (griech.). [Anm. d. Komm.]
Der grammatische Bau des Gedichts von B. Brecht »Wir sind sie«
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B. Brechts Gedicht, das wir hier behandeln, ist in seinem Lehrstück Die Maßnahme enthalten,8 wurde aber später selbständig im Gedichtband Lieder Gedichte Chöre (Paris 1934) 9 veröffentlicht: I
1 2 3 4
II
5 6 7 8
III
9 10 11 12 13 14 15 16
Wer aber ist die Partei? Sitzt sie in einem Haus mit Telefonen? Sind ihre Gedanken geheim, ihre Entschlüsse unbekannt? Wer ist sie? Wir sind sie. Du und ich und ihr – wir alle. In deinem Anzug steckt sie, Genosse, und denkt in deinem Kopf. Wo ich wohne, ist ihr Haus, und wo du angegriffen wirst, da kämpft sie. Zeige uns den Weg, den wir gehen sollen und wir Werden ihn gehen wie du, aber Gehe nicht ohne uns den richtigen Weg Ohne uns ist er Der falscheste. Trenne dich nicht von uns! Wir können irren, und du kannst recht haben, also Trenne dich nicht von uns! 10
IV 17 Dass der kurze Weg besser ist als der lange, das leugnet keiner 18 Aber wenn ihn einer weiss 19 Und vermag ihn uns nicht zu zeigen, was nützt uns seine Weisheit? 20 Sei bei uns weise! 21 Trenne dich nicht von uns!
In der genannten Pariser Ausgabe ist das Gedicht nach der ersten fragenden *Strophe 11 »Wer aber ist die Partei« betitelt, in der Berliner Anthologie 8
Vgl. Brecht, Die Maßnahme. Lehrstück [Fassung 1931], S. 343 f.; inzwischen in: Brecht, Werke, Bd. 3, S. 99–125, hier: S. 119 f. In der Fassung 1930 (Werke, Bd. 3, S. 73–98) fehlt das Gedicht noch. Zur moralischen Problematik dieses bolschewistischen Lehrstücks vgl. noch immer Reinhold Grimms kurz vor Jakobsons Analyse erschienenen Essay »Zwischen Tragik und Ideologie« (zuerst unter dem Titel »Ideologische Tragödie und Tragödie der Ideologie. Versuch über ein Lehrstück von Brecht«). [Anm. d. Komm.] 9 Brecht /Eisler, Lieder Gedichte Chöre, S. 76 f.; inzwischen in: Brecht, Werke, Bd. 11, S. 197–254, hier: S. 234 f. [Anm. d. Komm.] 10 Anders als in den zitierten Brecht-Ausgaben und im Gegensatz zur folgenden Analyse steht hier in allen Abdrucken von Jakobsons Aufsatz versehentlich ein Punkt. [Anm. d. Komm.] 11 Wird der Begriff der ›Strophe‹ traditionell für einheitlich regulierte Teile eines Gedichts gebraucht (vgl. Wagenknecht, Deutsche Metrik, S. 20 u. 137), so meint er hier bloße Versgruppen. [Anm. d. Komm.]
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Brechts Hundert Gedichte (1951) 12 nach der ersten antwortenden Zeile der zweiten Strophe »Wir sind sie«. Das Gedicht stammt aus der Blütezeit seines Schaffens, die sich annähernd mit dem dritten Jahrzehnt seines Lebens und dem dritten Dezennium unseres Jahrhunderts deckt: diese Periode wird eingeleitet durch Die Dreigroschenoper (1928) 13 sowie den Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny (1928–29),14 und durch zwei nicht minder bedeutende Dramen Leben des Galilei (1938–39) 15 sowie Mutter Courage und ihre Kinder (1939) 16 abgeschlossen. In die gleiche Zeitspanne kämpferischen Suchens »unter schwierigen Umständen« fällt auch Wolfgang Steinitz’ Buch über den *Parallelismus in der finnisch-karelischen Volkspoesie.17 Die »Grammatik des Parallelismus«,18 eine kühne Fragestellung, hat in diesem Werk zum ersten Mal eine wissenschaftliche Lösung erfahren. Der grammatische Parallelismus dient als kanonisches Mittel in der von Steinitz sorgfältig untersuchten finnisch-karelischen Tradition und ganz allgemein in der uralischen und altaischen Folklore, aber auch in vielen anderen Arealen der Weltpoesie; er gehört z. B. zum unabdingbaren Prinzip der altchinesischen Wortkunst, er liegt dem chanaanischen und insbesondere dem altbiblischen *Vers zugrunde.19 Aber auch in jenen Versifikationssystemen, in denen der grammatische Parallelismus nicht zu den obligatorischen Regeln zählt, unterliegt seine kardinale Rolle im Aufbau und in der Komposition der Verse keinem Zweifel. Die programmatischen Thesen des Forschers bleiben für alle poetischen Formen in Kraft: »Die Untersuchung des Wortparallelismus wird nach verschiedenen Richtungen hin zu geschehen haben. Einmal handelt es sich um die inhaltlichen Beziehungen der Wortpause: nach welchen (psychologischen) Gesetzen findet die Parallelisierung statt. Sodann: welche formale Übereinstimmung herrscht zwischen den parallelen Worten (bzw. Elementen). Sehr wichtig erscheint auch die 12 13 14 15 16 17 18
Brecht, Hundert Gedichte. 1918–1950, S. 243 f. [Anm. d. Komm.] Brecht, Werke, Bd. 2, S. 229–315. [Anm. d. Komm.] A. a. O., S. 333–392. [Anm. d. Komm.] Brecht, Werke, Bd. 5, S. 7–115. [Anm. d. Komm.] Brecht, Werke, Bd. 6, S. 7–86. [Anm. d. Komm.] Steinitz, Der Parallelismus in der finnisch-karelischen Volksdichtung. A. a. O., S. XII. Schon in seiner Sammelrezension »Aktuelle Aufgaben der Bylinenforschung« (1936) hatte Jakobson Steinitz’ Buch als »bahnbrechende[n] Versuch einer ›Grammatik des Parallelismus‹« gewürdigt, dies aber mit kritischen Einschränkungen versehen (vgl. SW IV, S. 62 f.). [Anm. d. Komm.] 19 Vgl. das 1. Kapitel von »Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie«; und Jakobsons Aufsatz »Grammatical Parallelism and its Russian Facet«; dt. Übs. in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 256–301 u. 302–364. [Anm. d. Komm.]
Der grammatische Bau des Gedichts von B. Brecht »Wir sind sie«
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Feststellung der grammatischen Kategorien, die parallelisiert werden. Weiterhin sind die Begriffskategorien, die parallelisiert werden, und die Beziehungen, die zwischen Wortparallelismus und *Alliteration bestehen, zu untersuchen.« 20 Diese Probleme tauchen auf bei aufmerksamer Lektüre des Brechtschen Gedichts »Wir sind sie«, eines Musterbeispiels jener künstlerischer Neuerungen des Dichters, die in seinem Aufsatz »Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen« eine klare Charakteristik erhielten.21 Die Unterdrückung des *Reims und der metrischen Norm läßt die grammatische Architektonik des Verses im ganzen Gedicht besonders deutlich hervortreten. In den Kommentaren zu Brechts Schaffen wurden seine bevorzugten Kunstmittel – Kontrastierung zusammengehöriger Sätze, Parallelismus, Wiederholung, *Inversion – mit seiner aufschlußreichen Antwort auf die Frage eines Journalisten verglichen, welches Buch den Dichter am meisten beeinflußt hätte; die Antwort lautete: »Sie werden lachen – die Bibel.« 22 Das oben angeführte Gedicht besteht aus vier Strophen, entsprechend der Zahl der »vier Agitatoren« in Brechts Lehrstück, die vor einem Gericht des »Kontrollchores« ihr Gespräch mit dem von ihnen getöteten »jungen Genossen« wiedergeben: »Sie stellen sich drei gegen einen auf, einer von den vieren stellt den jungen Genossen dar.« 23 Die erste Strophe gibt die Rede des jungen Genossen wieder, die übrigen drei Strophen sind den Agitatoren in den Mund gelegt, wobei laut Anweisung des Verfassers »der Text der drei Agitatoren aufgeteilt werden kann«.24 Die Länge der vier Strophen ist verschieden: auf zwei Vierzeiler (I, II) folgt ein Achtzeiler 20 Steinitz, Der Parallelismus in der finnisch-karelischen Volksdichtung, S. 179; die beiden ersten Sätze sind in SW III, S. 661 wohl versehentlich weggefallen. [Anm. d. Komm.] 21 »Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen«, in: Das Wort, 1939; jetzt auch in: Brecht, Versuche, H. 12, Nr. 27/32, S. 137–143. [Anm. v. R.J.] – Inzwischen in: Brecht, Werke, Bd. 22, S. 357–365. [Anm. d. Komm.] 22 Die Dame, Berlin, 10. 1. [vielmehr: 1. 10.] 1928, Beilage Die losen Blätter, [H. 1, 1928/29, S. 16]. Vgl. Brandt, »Brecht und die Bibel«, S. 171. [Anm. v. R.J.] – Brechts aus einem einzigen elliptischen Satz bestehende Antwort auf die Umfrage: »Welches Buch hat Ihnen in Ihrem Leben den stärksten Eindruck gemacht?« ist inzwischen abgedruckt und kommentiert in: Brecht, Werke, Bd. 21, S. 248 u. 697 f. [Anm. d. Komm.] 23 Brecht, Die Maßnahme. Lehrstück [Fassung 1931], S. 323. [Anm. v. R.J.] – Inzwischen in: Brecht, Werke, Bd. 3, S. 100 f. (Szenenanweisung zur Maßnahme). [Anm. d. Komm.] 24 Brecht, Werke, Bd. 24, S. 97–101, hier: S. 100 (»Anmerkungen« zu Die Maßnahme). [Anm. d. Komm.]
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(III) und ein Fünfzeiler (IV). Gemäß der skurrilen und aufdringlich konsequenten Interpunktion Brechts enthalten die Strophen mit der geringsten Verszahl, nämlich die beiden ersten Strophen,25 je vier Gesamtsätze (sentences 26 ), die Strophen mit mehr als vier Versen, nämlich die beiden letzten, je drei Gesamtsätze. Auf die vier Fragesätze der ersten Strophe, die je einen Vers einnehmen, antwortet die zweite Strophe mit Aussagesätzen zu wiederum je einem Vers. Sowohl die dritte als auch die vierte Strophe enden auf je zwei Ausrufungssätze 27, wobei der Fragesatz der vierten Strophe 28 an die vier Fragesätze der ersten Strophe anklingt. Der erste Satz der dritten Strophe ist seinerseits mit den vier Aussagesätzen der zweiten Strophe durch seine Aussageform innerlich verwandt. In diesem syntaktischen Zug, wie auch in einer ganzen Reihe anderer grammatischer Eigenheiten, offenbart sich die geschlossene Komposition des Gedichts. Das folgende Schema gibt die syntaktischen Entsprechungen innerhalb der Strophen wieder: I IV
???? ?!!
II III
…. .!!
Das Bertolt-Brecht-Archiv in Berlin hat uns liebenswürdigerweise den gleichen Text in zwei verschiedenen Varianten zur Verfügung gestellt, die im Zuge der Arbeit Brechts an seinem Lehrstück Die Maßnahme entstanden waren (die erste Variante trägt die Signatur 460/33, die zweite die Signatur 401/32–33). Ein Vergleich der beiden Varianten untereinander ebenso wie eine Gegenüberstellung der in den Drucktext des Lehrstücks aufgenommenen Version mit der endgültigen Redaktion des in den Band Lieder Gedichte Chöre aufgenommenen Gedichts zeigt, daß sich die ursprüngliche Phrasierung des Textes von der späteren Redaktion immerhin unterschied. Sowohl in den beiden Varianten des Brecht-Archivs, als auch im Drucktext des Lehrstücks stand am Ende des Verses 7 In deinem Anzug steckt sie, Genosse, und denkt in deinem Kopf 29 noch kein Punkt, wobei Brecht ganz allgemein das Komma am Versende hartnäckig ausließ. In der älteren handschriftlichen Version lautete der 18. Vers ursprünglich »aber wer weiss ihn? und wenn ihn einer weiss«, doch wurden die hier 25 Im Erstdruck (S. 177) und in SW III (S. 662) fälschlich »Vers« statt »Strophe«. [Anm. d. Komm.] 26 S. u., S. 711. [Anm. d. Komm.] 27 Im Erstdruck stets: »Ausrufesätze«. [Anm. d. Komm.] 28 Wie in Anm. 25. [Anm. d. Komm.] 29 Brecht, Werke, Bd. 3, S. 117, Z. 35. [Anm. d. Komm.]
Der grammatische Bau des Gedichts von B. Brecht »Wir sind sie«
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Typoskript von Bertolt Brechts Gedicht »Wir sind sie« aus Die Maßnahme (frühe Variante). Bertolt-Brecht-Archiv, Berlin, Signatur 460/33. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp-Verlags Frankfurt /Main.
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Typoskript von Bertolt Brechts Gedicht »Wir sind sie« aus Die Maßnahme (spätere Variante). Bertolt-Brecht-Archiv, Berlin, Signatur 401/32–33. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp-Verlags Frankfurt /Main.
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durch Kursivschrift hervorgehobenen Worte der Maschinenschrift später vom Autor selbst getilgt. Im Urtext sah die Verteilung der Sätze innerhalb der Strophen folgendermaßen aus: I IV
???? ??!!
II III
… .!!
Der gemeinsame Nenner der Strophen I und II ließe sich demnach folgendermaßen formulieren: alle Sätze umfassen je einen Vers und sind innerhalb der Strophe syntaktisch gleichartig; die Strophen III und IV enden auf je zwei Ausrufungssätze; die Strophen I und IV enthalten je vier, die Strophen II und III je drei Sätze; außer den beiden Ausrufungssätzen, die sowohl die III. als auch die IV. Strophe beschließen, sind alle Sätze in der I. und der IV. Strophe Fragesätze, in der II. und III. Strophe Aussagesätze. Nicht nur die Verteilung grammatisch verschiedener Satztypen, sondern vor allem die Verteilung der grammatischen Kategorien innerhalb der vier Strophen zeigt eindeutig, daß das Gedicht in zwei Paare von Strophen gegliedert ist, in ein Anfangspaar und in ein Endpaar. Die grammatischen Übereinstimmungen zwischen den beiden Strophen innerhalb jedes dieser Paare kann man als Binnenpaar-Entsprechungen ansehen. Solche Binnenpaar-Entsprechungen gibt es sowohl innerhalb des Anfangs- als auch innerhalb des Endpaares. Andererseits lassen sich grammatische Eigentümlichkeiten feststellen, die je zwei Strophen verschiedener Paare eigen sind, mit anderen Worten Zwischenpaar-Entsprechungen. Es ist bezeichnend, daß das Gedicht »Wir sind sie« eigentlich keine grammatischen Übereinstimmungen zwischen den beiden ungeraden und den beiden geraden Strophen kennt,30 wobei aber andererseits gemeinsame Züge die zweite Strophe mit der dritten und die erste Strophe mit der vierten verbinden. Dies bedeutet so viel, daß die beiden Strophenpaare hier nicht durch direkte, sondern durch Spiegelbildsymmetrie 31 miteinander verknüpft sind, wobei alle vier Strophen ein geschlossenes grammatisches Ganzes bilden: die erste Strophe steht in Korrelation mit der zweiten, die zweite mit der dritten, die dritte mit der vierten und die vierte mit der ersten. Die grammatischen Entsprechungen zwischen der Anfangs- und der Endstrophe werden im weiteren als periphere, die zwischen der zweiten und der dritten Strophe als mittlere Entsprechungen 30 Vgl. aber S. 708. [Anm. d. Komm.] 31 Zu den verschiedenen Symmetriearten vgl. Sebastian Donat zu Jakobsons BlokAnalyse »Stichotvornye proricanija Aleksandra Bloka«, hier Bd. 2, S. 461, Anm. 12. [Anm. d. Komm.]
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bezeichnet. Der Vergleich der Verteilung der Gesamtsätze in den Strophen verschiedener Redaktion zeigt, daß der Urtext Zwischenpaar-Entsprechungen bevorzugte, während die Endfassung den Binnenpaar-Entsprechungen den Vorrang gab.32 Der weitere Textabschnitt, der dem hier wiedergegebenen Gespräch des »jungen Genossen« mit den Agitatoren folgt, die Chornummer »Lob der Partei«,33 ist zugleich mit den übrigen Tiraden des Kontrollchores dazu berufen, in Brechts Stück eine rein organisatorische, strategische Rolle zu spielen. Dies hängt wiederum mit der Forderung des Dichters zusammen »melodische Buntheit zu vermeiden«.34 Das Streben nach einheitlicher Form dieses Chorals offenbart sich in einem kanonischen, wahrlich biblischen Parallelismus, der den ersten vier der sechs Zweizeiler dieses Panegyrikums 35 zugrunde liegt: 1 2 3 4 5 6 7 8
Der einzelne 36 hat zwei Augen Die Partei hat tausend Augen. Die Partei sieht sieben Staaten Der Einzelne sieht eine Stadt. Der Einzelne hat seine Stunde Aber die Partei hat viele Stunden. Der Einzelne kann vernichtet werden Aber die Partei kann nicht vernichtet werden.
Abgesehen von der strengen grammatischen und lexikalischen *Symmetrie, wird jedes Verspaar durch dreifache Klangwiederholung zusammengeschweißt: 1 einzelne – zwei – 2 Partei; 1 augen – 2 tausend – augen; 32 Daß dieser Analyseschritt auf einer Übertragung der drei Reimarten von Vierzeilern (*Paar-, *Kreuz- und *Blockreime) auf die nächsthöhere Ebene möglicher Entsprechungen innerhalb von Vier-Strophen-Gedichten beruht, wird später in Jakobsons Shakespeare-Analyse »Shakespeare’s Verbal Art in ›Th’Expence of Spirit‹« (S. 291) explizit gemacht; ja, es heißt hier (gleich in dt. Übersetzung): »es ist genau diese Hierarchie der drei interstrophischen Korrelationen […], welche die vierstrophigen Gedichte jedes Wortkünstlers individualisiert und diversifiziert« (in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 635 f.). [Anm. d. Komm.] 33 Brecht, Werke, Bd. 3, S. 120. [Anm. d. Komm.] 34 Brecht, Die Maßnahme. Lehrstück [Fassung 1931], S. 352. [Anm. v. R.J.] – Inzwischen in: Brecht, Werke, Bd. 24, S. 99 (»Anmerkungen« zu Die Maßnahme). [Anm. d. Komm.] 35 Loblied (griech.). [Anm. d. Komm.] 36 Im Abdruck des »Lobs der Partei« in Brecht, Die Maßnahme. Lehrstück [Fassung 1931], S. 344 f., und in den Hundert Gedichten (S. 242) wird »Einzelne« durchgängig groß, in den Stücken und in den Gedichten der ›Großen kommentierten Berliner und Frankfurter Ausgabe‹ von Brechts Werken durchgängig klein geschrieben. [Anm. d. Komm.]
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Partei – 4 einzelne – eine; 3 sieht – sieben – 4 sieht; 5 einzelne – seine – Partei; 7 vernichtet – 8 nicht – vernichtet. Das Gedicht »Wir sind sie«, welches im Lehrstück vor dem Panegyrikum steht, im Sammelband Lieder Gedichte Chöre aber unmittelbar auf dieses folgt, verwendet, bei aller Launenhaftigkeit seiner Komposition, überaus anschaulich die Gegenüberstellung gleichförmiger syntaktischer Konstruktionen und zwar unter Ausnützung gleichartigen Wortmaterials: 3 6
1 4
Wer aber ist die Partei? Wer ist sie?
3
Sind ihre Gedanken geheim, ihre Entschlüsse unbekannt?
7
In deinem Anzug steckt sie, Genosse, und denkt in deinem Kopf.
8
Wo ich wohne, ist ihr Haus, und wo du angegriffen wirst, da kämpft sie.
Der Text ist durchwirkt von so typischen Äußerungen des Parallelismus, wie etwa Wiederholung einzelner Wörter oder ganzer Wortgruppen (z. B. 14, 16, 21 Trenne dich nicht von uns! ), oder Variierung einzelner Wörter, d. h. Ausnützung verschiedener Glieder eines *Paradigmas bzw. verschiedener Bildungen von ein und derselben Wurzel: in einem Haus – 8 ihr Haus, 9,11 den Weg – 17 der Weg, 9,15 wir – ohne uns – 14,16 von uns, 9 gehen sollen – 10 werden gehen – 11 gehe, 9 zeige – 19 zu zeigen; 3 Gedanken – 7 denkt, 11 richtigen – 15 recht haben, 18 weiss – 19 Weisheit – 20 weise. 2
11,12
Sowohl das *Polyptoton 37 als auch das *Paregmenon 38 lassen die grammatischen Kategorien um so schärfer hervortreten, so daß ihre Verteilung zu einem erstrangigen Faktor des gesamten Gedichtes wird. Innerhalb des Gesamttextes, der 142 Wörter enthält, bietet das quantitative Verhältnis zwischen den einzelnen Wortklassen eine Reihe charakteristischer Eigentümlichkeiten. Das Gedicht enthält 13 substantivische Nomina und 40 *substantivische Pronomina, ferner 8 adjektivische 37 Zumeist *anaphorische Wortwiederholung mit Lockerung der Flexionsform von Nomina und Pronomina sowie Adverbialbildung von Adjektiven und Pronominalstämmen (vgl. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, Bd. 1, S. 325– 329, §§ 640–648); von Jakobson hier im weiteren Sinne auch auf verbale Veränderungen angewandt. [Anm. d. Komm.] 38 Wie lat. *derivatio: flexionsändernde Wortwiederholung und etymologisierende Stammwiederholung (vgl. a. a. O., S. 328, § 648). [Anm. d. Komm.]
Der grammatische Bau des Gedichts von B. Brecht »Wir sind sie«
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Nomina und ebensoviele *adjektivische Pronomina, denen sich 7 Artikelformen hinzugesellen (eine *Nullform 39 des unbestimmten Artikels steht außerhalb der von uns gezählten tatsächlich vorhandenen Wörter). Bei Vorhandensein von 6 *pronominalen Adverbien fehlen nominale Adverbien völlig. Die Verben sind durch 20 *lexikalische und 13 *formale Verben vertreten, die sich von der ersteren nicht nur durch ihren semantischen Bau und ihre syntaktische Funktion, sondern auch durch spezifische Eigentümlichkeiten im Paradigma des Präsens unterscheiden: ist, vermag.
1,4,12,17 19
3,5
sind,
20
sei,
8
wirst,
10
werden,
9
sollen,
16
kannst,
15
können,
Fügt man den 61 Pronomina (einschließlich der 7 Artikelformen) die 13 formalen Verben und die 27 »Partikeln« (Präpositionen, Konjunktionen, Modalpartikel 40 ) hinzu, so ergibt sich, daß 101 Wörter, d. h. über 70% der Gesamtwortzahl des Gedichts auf *formale, *grammatische Wörter (Greimas’ mots-outils [›Hilfs-Wörter‹]) entfallen.41 Während in den *lexikalischen Wörtern (mots pleins [›Voll-Wörter‹]) die Wurzelmorpheme 42 eine lexikalische, alle übrigen *Morpheme (*Affixe 43) dagegen eine grammatische, formale Bedeutung haben, besitzen die formalen Wörter, und zwar sowohl die mono- wie die polymorphematischen, keinerlei Morpheme mit *lexikalischer Bedeutung, so daß jedes vorhandene Morphem 39 Gemeint ist v. 2: »Telephonen« (s. u., S. 702); vgl. Jakobsons Aufsätze »Signe ze´ro« (1937) und »Das Nullzeichen« (1939). [Anm. d. Komm.] 40 »M[odal]partikel [z. B. aber, nur] fügen der Satzbedeutung bestimmte Verwendungsbedingungen hinzu, die sich in der Regel auf Einstellungen der Kommunikationsteilnehmer zu der vom Satz ausgedrückten Proposition beziehen.« (Bußmann [Hg.], Lexikon der Sprachwissenschaft, S. 439.) [Anm. d. Komm.] 41 Greimas, »Remarques sur la description me´canographique des formes grammaticales«, S. ix: »3–0. Les classes morphologiques«. [Anm. v. R.J.] – Greimas schreibt (hier gleich in deutscher Übersetzung): »Wenn man alle [geschriebenen] Wörter betrachtet, unterscheidet man zunächst einmal nach zwei Gruppen: einerseits die Voll-Wörter, die aus einer Wurzel und einem bzw. mehreren Flexionselementen bestehen [*Merkmale von Morphemen, Ableitungen], und andererseits die HilfsWörter, die entweder aus Wurzeln ohne Flexionselemente bestehen [Adverbien, Konjunktionen] oder aus Flexionselementen mit einer Null-Wurzel [Demonstrativ-, Possessiv-, Personalpronomina, Artikel etc.]«. [Anm. d. Komm.] 42 Morphem: »Neben ›Phonem‹ theoretischer Grundbegriff strukturalistischer Sprachanalyse: kleinste bedeutungstragende Elemente der Sprache, die als phonologischsemantische Basiselemente nicht mehr in kleinere Elemente zerlegt werden können, z. B. Buch, drei, es, lang.« (Bußmann [Hg.], Lexikon der Sprachwissenschaft, S. 448.) [Anm. d. Komm.] 43 »Sammelbezeichnung für nicht frei vorkommende, reihenbildende Wortbildungsund Flexionselemente.« (A. a. O., S. 53.) [Anm. d. Komm.]
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lediglich eine formale Bedeutung besitzt.44 Ein formales Wort gibt keinerlei *konkrete, materielle Charakteristik, es nennt weder noch beschreibt es irgendwelche Erscheinungen an sich; es zeigt bloß die Beziehungen, die zwischen den Erscheinungen bestehen, an und bestimmt sie. Bezeichnenderweise weichen in diesem Gedicht die Nomina vor den Pronomina zurück, die die Verbindung zwischen der bezeichneten Erscheinung mit dem Kontext und dem Redeakt herstellen. In dieser pronominalen Manier findet offenbar jene *Einstellung auf Sprechbarkeit ihren krassesten Ausdruck, die mit der Bühnenerfahrung Brechts aufs engste zusammenhängt und in seinem Aufsatz »Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen« beschrieben ist: […] ich dachte immer an das Sprechen. Und ich hatte mir für das Sprechen (sei es der Prosa oder des Verses) eine ganz bestimmte Technik erarbeitet. Ich nannte sie gestisch. Das bedeutete: die Sprache sollte ganz dem Gestus der sprechenden Person folgen.45
In der Sprache kommt die *deiktische Natur des *Pronomens dem Gestus am nächsten, und es ist wohl kein Zufall, daß der Verfasser acht Verse 44 Das Wesen der Pronominalität ist von A[leksandr] M[atveevicˇ] Pesˇkovskij klar umrissen worden: »ѕapaдоксальность этих слов заключаетс¤, стало быть, в том, что у них с о в с е м н е т в е щ е с т в е н н о г о значени¤, a что y них и основное 〈корневое〉 значение – формальное и добавочное 〈суффиксальное〉 – формальное. ѕолучаетс¤, так сказать, ›форма на форме‹. ѕон¤тно, что в грамматике така¤ группа слов (имеюща¤с¤, между прочим, в каждом ¤зыке и везде, разумеетс¤, в ничтожной пропорции ко всем другим словам ¤зыка) занимает совершенно особое положение; 〈…〉 она с у г у б о грамматична, так как по з н а ч е н и ю исключительно формальна и так как корневое значение в ней н а и б о л е е о б щ е и н а и б о л е е о т в л е ч е н н о из всех грамматических значений.« (Russkij sintaksis v naucˇnom osvesˇˇcenii, S. 155 f.) [Anm. v. R.J.] – Dt. Übs. nach dem Abdruck in: Jakobson, Hölderlin · Klee · Brecht, S. 127 f.: »Die Paradoxie dieser Wörter besteht also darin, daß sie keinerlei materielle Bedeutung haben, sondern daß bei ihnen sowohl die Grund-〈Stamm-〉Bedeutung als auch die zusätzliche 〈suffixbedingte〉 formal sind. Es ergibt sich sozusagen eine ›Form über der Form‹. Natürlich hat in der Grammatik diese Wortgruppe (die es übrigens in jeder Sprache gibt und natürlich überall in einem unbedeutenden Verhältnis zu allen anderen Wörtern der Sprache) eine völlig Sonderstellung inne; 〈…〉 sie ist äußerst grammatisch, weil sie ihrer Bedeutung nach ausschließlich formal ist und weil ihre Stammbedeutung die allerallgemeinste und -abstrakteste von allen *grammatischen Bedeutungen ist.« [Anm. d. Komm.] 45 Vgl. Brecht, »Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen«, in: Das Wort, S. 124 / Versuche 27/32, S. 139. [Anm. v. R.J.] – Inzwischen in: Brecht, Werke, Bd. 22, S. 359. [Anm. d. Komm.]
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Lucretius’ mit 16 Pronomina als anschauliches Beispiel des Reichtums an gestischen Elementen anführt.46 Denken wir nur an jene durchweg pronominalen Zeilen Brechts, von denen die mittlere als fakultativer Titel des ganzen Gedichts verwendet wurde. Diese drei Zeilen bestehen aus neun Pronomina und weiteren vier Formalwörtern: 4 5 6
Wer ist sie? Wir sind sie! Du und ich und ihr – wir alle,
Es ist zu erwarten, daß die zahlreichen Pronomina des Gedichts »Wer aber ist die Partei«, insbesondere aber die 38 persönlichen und die entsprechenden possessiven Formen, d. h. 51% aller deklinierbaren Wörter, im Aufbau des Gedichts sowie in dessen dramatischer Entfaltung eine ganz wesentliche Rolle spielen. Zu den Binnenpaar-Entsprechungen gehört das Auftreten der femininen Form sie und des entsprechenden Possessivs ihr nur in der I. und II. Strophe: beide Strophen enthalten je vier Belege, wobei in jeder der beiden Strophen je zwei dieser Belege auf eine Zeile entfallen, während je zwei Zeilen je einen Beleg enthalten. Erst in der III. und IV. Strophe tauchen Personalpronomina in *obliquen Kasus auf: uns 5 x in der III. und 4 x in der IV. Strophe, dich 2 x in der III. und 1 x in der IV. Strophe. Die ersten beiden Strophen enthalten 15 substantivische Pronomina im Nominativ und kein einziges in einem obliquen Kasus. In den Strophen III. und IV. verknüpft das Pronomen der, die, das den Hauptsatz mit dem Nebensatz der Anfangszeile: 9 Zeige uns den Weg, den wir gehen sollen, und 17 Dass der kurze Weg besser ist als der lange, das leugnet keiner. Es sei hier, was die Zwischenpaar-Entsprechungen betrifft, vermerkt, daß der Nominativ der persönlichen und possessiven Pronomina der 1. und 2. *Person in den Strophen I und IV fehlt, während das Pronomen du je zweimal in Strophe II und III auftritt, das Pronomen wir zweimal in II und dreimal in III, die Pronomina ich, ihr und dein aber ausschließlich in Strophe II. Darüber hinaus erscheint das *Interrogativpronomen nur in den peripheren Strophen: zweimal (im Nominativ) wer in I und einmal (im Akkusativ) was in IV. Schließlich ist das Vorkommen des unbestimmten Artikels einer in IV als Widerhall des unbestimmten Artikels in I aufzufassen, wobei hier die Form ein und die Null-Form des Plurals (2 in einem Haus mit Telefonen) auftritt. 46 Brecht, Werke, Bd. 22, S. 359; zit. Lukrez, De rerum natura I, 150–155, in der Übersetzung Karl Ludwig Knebels: Von der Natur der Dinge (Leipzig 21831). [Anm. d. Komm.]
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Das Gedicht enthält 13 Substantive, von denen nur die Anrede Genosse, die außerhalb der Sätze steht, die Kategorie der Belebtheit aufweist. Von den übrigen 12 Substantiven treten vier im ersten, zwei im zweiten Strophenpaar im Nominativ auf und ebensoviel (4 + 2) in *merkmalhaltigen,47 d. h. obliquen Kasus. Davon stehen drei *abstrakte Substantive (3 Gedanken, Entschlüsse, 19 Weisheit) und ein Kollektivum (1 Partei) nur im Nominativ, wobei sie ausschließlich den peripheren Strophen angehören, während die eigentlichen unbelebten Dingnamen entweder nur in präpositionalen Verbindungen im Dativ und nur im ersten Strophenpaar stehen, oder aber sie stehen erst in einem obliquen Kasus und nehmen beim Übergang in die folgende Strophe die Nominativform an: dies ist das statische Bild des Anfangspaares 2 in einem Haus – 8 ist ihr Haus, und das dynamische Bild des Endpaares 9 den Weg, 11 den richtigen Weg – 17 der kurze Weg. Es sei noch am Rand vermerkt, daß feminine Substantive nur in den peripheren Strophen stehen: 1 die Partei? – 19 Weisheit? . Von den substantivischen Pronomina der 3. Person bezieht sich jedes ausnahmslos auf ein unbelebtes *Nomen: sie = die Partei, er = der Weg. Zusammen mit dem Interrogativpronomen 1, 4 wer, welches den Text eröffnet, kündigt die Verwendung des anaphorischen 2, 4 sie (und ihre) für das Substantiv Partei den Übergang zur Kategorie der Belebtheit an, der gleich zu Beginn der II. Strophe durch die Gleichsetzung des sie mit wir und durch Verdrängung des ersten Pronomens durch das zweite in den beiden Endstrophen vollzogen wird. Die Überzeugungskraft einer solchen Metamorphose ist gestützt durch die synekdochische 48 Annäherung dieses sie an die eigentlich persönlichen Pronomina im Singular: 7
in deinem Anzug steckt sie, Genosse, und denkt in deinem Kopf. Wo ich wohne, ist ihr Haus, und wo du angegriffen wirst, da kämpft sie.
Lediglich in der ersten Strophe gibt es pluralische Substantive: 2 mit Telefonen, 3 Gedanken, Entschlüsse. Diese Pluralia bereiten gleichsam den Platz für den Plural der Personalpronomina vor, den sie dann in den Strophen II–IV an diese abtreten. Sieht man vom isolierten 6 ihr ab, so schließt hier das Pronomen wir nicht nur den Sprecher ich und den 47 Zur *Opposition von »merkmalhaft (oder merkmalhaltig, merkmaltragend ) vs. merkmallos« vgl. Jakobsons Aufsätze »Mark and Feature« (S. 123) u. »Krugovorot linguisticˇeskich terminov«; in dem Postscriptum zu seinen Aufsätzen zur Linguistik und Poetik, »Zur Notwendigkeit einer sachlichen und terminologischen Unterscheidung«, wendet sich Jakobson scharf gegen die »unschicklichen Lehnwörter ›markiert‹, ›unmarkiert‹« (S. 280). [Anm. d. Komm.] 48 Als totum pro parte (›Ganzes für den Teil‹). [Anm. d. Komm.]
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direkt Angesprochenen du ein, sondern auch eine Vielzahl namenloser Angesprochener – ihr. Eine gegenseitige Implikation verbindet auf Biegen und Brechen die Formen du (II–III) und dich (III–IV) mit den Formen wir (II–III) und uns (III–IV). Das ich fordert die Teilnahme des du im gleichen Vers: 6 Du und ich, 〈…〉, 8 Wo ich 〈…〉 und wo du 〈…〉. In der zweiten Strophe sind sowohl das ich als auch das du Teile des kollektiven wir alle; dabei ist hier wir gleichgesetzt mit jedem dieser Teile, ja mehr noch, wir ist unabtrennbarer Teil sowohl des ich als auch des du. Ist aber das du in dieser Strophe ein *pars pro toto und wir ein totum pro parte,49 so ändert sich dieses Verhältnis kraß in den folgenden Strophen: der innere, synekdochische 50 Zusammenhang verwandelt sich mit einem Schlag in eine metonymische äußere Affinität 51 und steigert sich zu einem tragischen Konflikt zwischen dem Einzelnen und dem Kollektiv: es kommt zum »Verrat«, wie Brecht die ganze Szene mit diesen Versen in seinem Stück genannt hatte.52 Das inklusive wir, welches den Angesprochenen einschließt, wird abgelöst vom exklusiven wir, welches der zweiten Person gegenübergestellt ist.53 Die semantische Labilität und die 49 Lat. ›Teil fürs Ganze‹ und ›Ganzes für den Teil‹: zwei Grundformen der Synekdoche (vgl. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, Bd. 1, S. 295–298, §§ 572– 577). [Anm. d. Komm.] 50 Während Jakobson sonst zumeist die Synekdoche als eine Spielart der *Metonymie behandelt (vgl. »Randbemerkungen zur Prosa des Dichters Pasternak«, S. 423; auch in: Jakobson, Poetik, S. 200; u. »Two Aspects of Language and Two Types of Aphasic Disturbances«, hier: S. 254–259; dt. Übs.: »Zwei Seiten der Sprache und zwei Typen aphatischer Störungen«, hier: S. 133–139), unterscheidet er hier zwischen einem engeren Begriff der Metonymie, der auf einer äußeren *Kontiguität besteht, und einem weiteren Metonymie-Begriff, der auch die Synekdoche einschließt. Vgl. auch Birus’ Reallexikon-Artikel »Metonymie«. [Anm. d. Komm.] 51 In der Interpretation der Verse von Majakovskijs »Chorosˇo« (›Gut und schön!‹) im 1. Kapitel von Jakobsons »Poe˙zija grammatiki i grammatika poe˙zii« (S. 65; dt. Übs. in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 263) wird der Metonymie ebenfalls eine isolierende Funktion zugeschrieben. [Anm. d. Komm.] 52 Brecht, Werke, Bd. 3, S. 117. [Anm. d. Komm.] 53 In der Bühnenbearbeitung des Dialogs ist die gegenseitige Beziehung zwischen dem du und dem wir, zwischen dem »jungen Genossen« und den »vier Agitatoren«, eindrucksvoll durch die Anweisung des Verfassers unterstrichen: »Jeder der vier Spieler soll die Gelegenheit haben, einmal das Verhalten des jungen Genossen zu zeigen, daher soll jeder Spieler eine der vier Hauptszenen des jungen Genossen spielen.« (Brecht, Die Maßnahme. Lehrstück [Fassung 1931], S. 354 [vgl. Brecht, Werke, Bd. 24, S. 100].) Diese Umschaltung [im Erstdruck des Jakobson-Aufsatzes, S. 183: »Umfunktionierung«] macht die Rolle der Wechselwörter (*shifters), die die Personalpronomina nun einmal in erster Linie in der Sprache spielen, zu einem Kunstgriff (vgl. »Shifters, Verbal Categories, and the Russian Verb«).
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innere Widersprüchlichkeit, die dem Personalpronomen der 1. Person Plural innewohnt, wird zum Leitmotiv im »Lied des Kulis«, welches Brecht ursprünglich (1930) in sein Lehrstück Die Ausnahme und die Regel aufgenommen hatte,54 welches aber später selbständig unter dem vielsagenden Titel »Lied vom ich und wir« gedruckt wurde.55 Die Endstrophe dieses Lieds entblößt die *metasprachliche,56 pronominale Thematik: Wir und: ich und du 57 das ist nicht dasselbe. Wir erringen den Sieg Und du besiegst mich.
Die Formen du und wir gehen aus der zweiten Strophe in die dritte über, aber außer dem Nominativ, dem einzigen Kasus der Personalpronomina in den beiden Anfangsstrophen, tauchen in der dritten Strophe der Akkusativ 14, 16 dich auf neben dem Nominativ 10, 15 du und die akkusativisch-dativische Form 9, 11, 12, 14, 16 uns neben dem Nominativ 9 bis,58 15 wir ; darüber hinaus erhält hier ein neues zentrales Motiv – der Weg – eine anaphorische Bezeichnung im Nominativ 12 er und im Akkusativ 10 ihn. Somit treten die pronominalen Mitwirkenden am Sujet des Gedichts zum ersten Mal in der dritten Strophe in der Rolle der *Objekte der Handlung auf. Es ist hervorzuheben, daß von den 8 lexikalischen Verben 59 der III. Strophe sechs, in der IV. Strophe alle fünf den Akkusativ regieren, während in den beiden Anfangsstrophen weder ein Akkusativ noch ein präpositionsloser Dativ vorkommt und die *transitive Konstruktion durch eine Passivform ersetzt ist: 8 wo du angegriffen wirst. Den Präpositionalfügungen der Anfangsstrophen fehlt jedwede Dynamik: 2 in einem Haus mit Telefonen, 7 in deinem Anzug 〈…〉 in deinem Kopf. Demgegenüber sind 54 Vgl. Brecht, Die Ausnahme und die Regel. Lehrstück, S. 159. [Anm. v. R.J.] – Inzwischen in: Brecht, Werke, Bd. 3, S. 235–260, hier: S. 247. [Anm. d. Komm.] 55 Vgl. Brecht, Gedichte, Bd. 3 (1961), S. 211. [Überschrift generell in Versalien; im Inhaltsverzeichnis: kleingeschriebenes »ich« und »wir«.] [Anm. v. R.J.] – In der ›Großen kommentierten Berliner und Frankfurter Ausgabe‹ nur mit dem *Incipit »Hier ist der Fluss« (Brecht, Werke, Bd. 14, S. 108; vgl. auch den Kommentar S. 509). [Anm. d. Komm.] 56 »Man hat in der modernen Logik zwei Ebenen der Sprache unterschieden: Die ›Objektsprache‹, die von Gegenständen redet, und die ›Metasprache‹, die von Sprache redet. Aber die Metasprache […] spielt auch in der Alltagssprache eine wichtige Rolle.« (»Linguistics and Poetics«, S. 25; dt. Übs. in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 167.) [Anm. d. Komm.] 57 Bei Jakobson fälschlich: »Wir und ich: ich und du«. [Anm. d. Komm.] 58 Lat. ›zweimal‹. [Anm. d. Komm.] 59 Im Gegensatz zu ›Hilfsverben‹. [Anm. d. Komm.]
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in den beiden Endstrophen fast alle Kasusformen durch das ablativische Motiv der Trennung zusammengefaßt: 11 Gehe nicht ohne uns; 12 ohne uns; 14, 16, 21 Trenne dich nicht von uns. Innerhalb der beiden Anfangsstrophen treten in den obliquen Kasus nur Substantive, und zwar nur in Verbindung mit Präpositionen auf, während sich in den beiden Endstrophen ausschließlich Pronomina mit Präpositionen verbinden. Die Fragen und Antworten der beiden Anfangsstrophen befassen sich mit den inneren Beziehungen der Erscheinungen unabhängig von deren weiterer Entwicklung und möglicher praktischer Schlußfolgerungen; in der dritten Strophe sind dagegen die beiden Brennpunkte 60 des Schemas – du und wir – ebenso wie die Resultante der beiden Kräfte – er, nämlich der gesuchte Weg – nacheinander in verschiedener perspektivischer Verkürzung gegeben. Das Thema der Kollisionen und ihrer Überwindung wird immer eindringlicher. In der Schlußstrophe schwindet der selbstgenügsame Nominativ aller drei Pronomina vollends und räumt seinen Platz zur Gänze den obliquen Formen (21 dich, 18 ihn und 19 bis, 20, 21 uns) ein. Und wenn das betont unpersönliche anaphorische sie (4 Wer ist sie?) in der zweiten Strophe vom persönlichen wir abgelöst wurde, so ist andererseits in der IV. Strophe das persönliche du polemisch durch den entpersonifizierenden Nominativ 18 einer ersetzt. Zu den Neuerungen, die die Endstrophen von den Anfangsstrophen abheben, gehören auch syntaktische Vergleiche, die Konfrontierung zweier mit einem Mal getrennter Faktoren: wir 10 Werden ihn gehen wie du oder zweier entgegengesetzter Wege, von denen »wir« den einen bekennen und »du« den anderen: 17 der kurze Weg besser ist als der lange. Nebenbei bemerkt steht in der gedruckten Ausgabe des Lehrstücks wie der lange,61 und diese umgangssprachliche Form verband syntaktisch den zweiten Vergleich mit dem ersten. Von der Bildhaftigkeit 62 der Anfangsstrophen gehen die weiteren Strophen zu einem rückhaltlosen Ansturm sich wiederholender Stoßparolen über. Der passiven Aufeinanderfolge von Verben im *merkmallosen indikativen Modus 63 in den beiden Anfangsstrophen stehen in den Endstrophen (neben fünf indikativischen Formen) sechs imperativische und 60 Hier wird offenkundig das Bild der Ellipse mit ihren zwei »Brennpunkten« und der Ellipsenbahn als »Resultante«, d. h. dem umfangsgleichen Dreieck mit dem Abstand der Brennpunkte als Hypotenuse, aufgerufen, die »nacheinander in verschiedener perspektivischer Verkürzung gegeben« sind. [Anm. d. Komm.] 61 Brecht, Werke, Bd. 3, S. 120, Z. 10. [Anm. d. Komm.] 62 Im Sinne konkreter Anschaulichkeit. [Anm. d. Komm.] 63 Zur Merkmallosigkeit bzw. Merkmalhaftigkeit der verschiedenen Verbkategorien
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fünf Verbindungen von *Modalverben mit dem Infinitiv gegenüber: 9 gehen sollen, 10 werden gehen, 15 können irren, kannst recht haben, 19 vermag zu zeigen. Ganz allgemein kennzeichnet die beiden Endstrophen der Sättigungsgrad mit merkmalhaften Kategorien: es sind dies die merkmalhaften Modi und Kasus, ebenso wie die 20 Pluralformen der Personalpronomina, gegenüber nur dreien in den beiden Anfangsstrophen. Bezeichnenderweise bildet das Formalverb werden, welches in den beiden inneren Strophen vorkommt, in der II. Strophe (mit dem Partizip) die *Diathese, in der III. Strophe dagegen (mit einem Infinitiv) eine Modalform 64: 8 angegriffen wirst und 10 werden gehen. Parallel mit dem Imperativ und mit den übrigen merkmalhaften modalen 65 Formen dringen in den Text Verneinungssätze ein, die der I. und II. Strophe fremd sind. Die Negation nicht wird fünfmal in den Endstrophen wiederholt. Außerdem erscheint in der IV. Strophe das Negativpronomen 17 keiner und die rhetorische Frage 19 was nützt uns in der Bedeutung ›es nützt uns nicht‹. Alle pronominalen Bezeichnungen der Helden werden von verstärkenden Anklängen im Kontext des Gedichts begleitet. Dementsprechend ist die Form 2 Ist sie der ersten Niederschrift (460/33) im zweiten maschinenschriftlichen Manuskript (401/33) zunächst beibehalten und später gestrichen worden, um durch eine neue, mit Bleistift geschriebene Version Sitzt sie abgelöst zu werden. So lautet auch die endgültige Fassung der beiden Anfangsstrophen: 2 sitzt sie – 3 sind sie – 5 sind sie – 7 sie – 8 sie. Es ist charakteristisch, daß die die zweite Strophe eröffnende Verbindung Wir sind sie vom deutschen Leser als Verletzung der syntaktischen Norm 66 aufgefaßt wird und daß in den weiteren Strophen zusammen mit dem sie auch das sind verschwindet. Das Pronomen 5 wir ist durch die *Assonanz mit dem l Wer der ersten Strophe mitbestimmt. Die die erste Strophe abschließende Frage 4 Wer ist sie? wird an der Schwelle der zweiten Strophe durch parallele *Phoneme und Formen der Antwort 5 Wir sind sie abgelöst. Den grammatisch und phonologisch gleichartigen Kontext unterstreichen die Wiederholungen 5 wir – 6 Du und ich und ihr vgl. schon Jakobsons Aufsatz »Zur Struktur des russischen Verbums« (1931). [Anm. d. Komm.] 64 Hier keine Modusform (wie Konjunktiv), sondern Tempusform: Futurum. [Anm. d. Komm.] 65 Modal: »die Art und Weise des Ablaufs bzw. Vollzugs von Prozessen bezeichnend, die subjektive Einstellung des Sprechers zum Inhalt seiner Aussage ausdrückend« (Conrad, Lexikon sprachwissenschaftlicher Termini, S. 151). [Anm. d. Komm.] 66 In SW III, S. 671 fälschlich: »Form«. [Anm. d. Komm.]
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– wir alle 8 wo – wohne – wo – wirst. Die dritte Strophe schafft eine enge Alliterationsverbindung zwischen den Wörtern wir und Weg, von denen das zweite auch in die folgende Strophe übergeht, so daß beide Strophen in ein Netz identischer Anlautkonsonanten verstrickt werden: 9 Weg – wir – wir – 10 Werden – wie – 11 Weg – 15 Wir – 17 Weg – 18 wenn – weiss 19 was – Weisheit – 20 weise. Die die beiden Endstrophen durchdringende oblique pronominale Kasusform uns ist durch die Wiederholung der anklingenden Konjunktion und vorbereitet und gestützt: 6 und – und – 7 und – 8 und – 9 uns – und – 11 uns – 12 uns – 14 uns – 15 und – 16 uns – 19 Und – uns – uns – 20 uns – 21 uns . Dem Verdacht über die Wohnstätte der Partei und über die Rätselhaftigkeit ihrer Bestrebungen und Ratschlüsse, der in den eindringlichen Fragen der ersten Strophe aufklingt, wird durch die Assonanzen 67 der folgenden Strophe aufs entschiedenste begegnet: 1 〈…〉 die Partei? 2 〈…〉 in einem Haus 〈…〉? 3 〈…〉 Gedanken geheim, 〈…〉 unbekannt? – 7 In deinem Anzug steckt sie, Genosse, und denkt in deinem Kopf. 8 〈…〉 angegriffen 〈…〉 kämpft. Nicht »in einem« Haus, sondern »in deinem« Anzug und »in deinem« Kopf steckt und denkt die Partei, wie der eigenartige Rührreim 68 der zweiten Strophe antwortet, wobei das anlautende d des Pronomens der 2. Person durch diese und durch die folgenden Strophen hindurchgeht: 6 Du – 7 deinem – denkt – deinem – 8 du – da – 9 den Weg, den – 10 du – 11 den – 13 Der – 14 dich – l5 du – 16 dich – 17 Dass der – der – das – 21 dich. Die Kette identischer Diphthonge (Partei – in einem – geheim), durch die die Andeutungen des jungen Genossen über die Entfremdung der Partei zusammengehalten werden, ist durch zweifache Bestätigung der unverbrüchlichen Verbindung zwischen ihm und der Partei pariert: 7 in deinem usw. 67 Jakobson gebraucht hier einen viel lockereren Begriff der ›Assonanz‹ als in der deutschen Metrik üblich. Vgl. etwa die Explikation in Zymners Reallexikon-Artikel »Assonanz«: »Übereinstimmung der Vokale zweier Wörter eines Verstextes mindestens ab ihrer letzten betonten Silbe (Beipiel: Rose /Wintermode)« oder selbst Wagenknechts lockerere Bestimmung dieser »gewissermaßen zwischen Anfangs- und *Endreim stehende[n] Reimart der ›Assonanz‹«: »Sie beruht auf der Übereinstimmung allein der Vokale *akzentuierter Silben« (Wagenknecht, Deutsche Metrik, S. 35). Darüber gehen die von Jakobson markierten Lautfolgen weit hinaus. [Anm. d. Komm.] 68 Sehr freier Gebrauch des Begriffs *›rührender Reim‹: eigentlich »Spielart des *Erweiterten Reims: bei Übereinstimmung auch der anlautenden Konsonanten (gleiten: begleiten). Als ›rime riche‹ in der französischen Versdichtung gesucht; in der deutschen, mit Ausnahme der Renaissancepoesie, zumeist gemieden.« (Wagenknecht, Deutsche Metrik, S. 135.) [Anm. d. Komm.]
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Der *Kontrast einem – deinem der Anfangsstrophen 69 findet seinen Widerhall im umgekehrten Kontrast der Endstrophe 17 keiner – 18 einer. Wenn sich die Partei aus dem gesichtslosen sie der ersten Strophe im weiteren in ein pluralisches persönliches wir verwandelt, so wird im Gegensatz dazu das persönliche du der beiden inneren Strophen durch ein degradierendes, unbestimmtes einer ersetzt. Nur in den geraden Strophen treten universale Pronomina auf: das positive alle in II und das negative keiner in IV – wohl das einzige Beispiel einer *direkten Symmetrie innerhalb der Strophenpaare des Gedichts, wenn man von der Alternation der merkmalhaften Kasus in den ungeraden Strophen mit dem Nominativ der gleichen Nomina in den folgenden geraden Strophen absieht (siehe oben). Doch im Gegensatz zur Solidarität zwischen dem wir und dem alle der zweiten Strophe bilden die Pronomina keiner und einer, von denen Peirce das erstere zu den universal selectives, das zweite zu den particular selectives rechnet,70 eine tiefe Antinomie. Die Entzweiung zwischen dem jungen Genossen und der Partei, die in der ersten Strophe die Frage nach der Entfremdung der Partei bewirkt hatte, suggeriert am Ende die fatale Schlußfolgerung über die Entfremdung des Genossen selbst. Das Pronomen keiner, hervorgehoben durch einen *Chiasmus der Alliterationen – 17 Dass der kurze Weg besser ist als der lange, das leugnet keiner –, andererseits das Pronomen einer und das entsprechende Possessiv seine, diese drei pronominalen Nominative verleihen der ganzen Strophe ein einheitliches diphthongisches Leitmotiv: 17 leugnet keiner – 18 einer weiss – 71 19 zeigen – seine Weisheit – 20 Sei bei uns weise! . In jedem dieser vier Verse klingt unter der Endbetonung der gleiche Diphthong auf, den Zweilaut der Coda 72 des ersten Verses aufgreifend: Wer aber ist die Partei?, und derselbe Diphthong begleitet im weiteren Verlauf die Entwicklung desselben Themas in der folgenden Erwiderung des Kontrollchores »Lob der Partei«: 1 Der Einzelne hat zwei Augen 2 Die Partei hat tausend 69 Emendation für »Anfangesstrophe«: »deinem« findet sich erst in Strophe II. [Anm. d. Komm.] 70 Peirce, Collected Papers, Bd. 2, S. 164 [2.289]. 71 Daß die Verteilung der Diphthonge, besonders des Zweilauts /ai/ in den Versen des Gedichtes »Wir sind sie« keinesfalls zufällig ist, kann statistisch bestätigt werden. In den 41 Silben der 4. Strophe gibt es 10 /ai/ Diphthonge; insbesondere sind in den 5 Silben des 20. Verses 3 /ai/ Diphthonge vorhanden, während bloss drei derartiger Diphthonge innerhalb der 38 Silben der 1. Strophe enthalten sind; innerhalb der 45 Silben der 2. Strophe gibt es nur zwei Diphthonge, während unter den 56 Silben der 3. Strophe nur die erste einen Diphthong besitzt. 72 ›Schlußteil‹ (ital.), hier das letzte Wort: »Partei«. [Anm. d. Komm.]
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Augen 3 Die Partei – 4 Der Einzelne – eine – 5 Der Einzelne – seine – 6 die Partei – 7 Der Einzelne – 8 die Partei. Die erwähnte Verallgemeinerung des Diphthonges /ai/ in der letzten betonten Silbe der ersten vier Zeilen der Strophe IV des Gedichts »Wir sind sie« gehört erst der Endredaktion an: im zwanzigsten Vers bieten die früheren Niederschriften und der Drucktext des Lehrstückes Die Maßnahme eine andere Wortfolge: Sei weise bei uns! Diese Version bewahrte einen strengen Parallelismus zum folgenden Vers: 21 Trenne dich nicht von uns! und eine deutliche dreifache *Paronomasie 18 einer weiss – 19 seine Weisheit – 20 sei weise 〈…〉. Andererseits verschärft die Endredaktion das Paregmenon,73 indem sie alle drei aufeinanderfolgenden Verse auf verwandte und gleichklingende Wörter ausgehen läßt und damit das Mittelglied und die zentrale Coda 74 der ganzen fünfzeiligen Strophe hervorhebt. 1 Die Partei, das erste Substantiv des Gedichts, und das letzte Nomen 19 Weisheit, beide im gleichen Kasus, unterscheiden sich von anderen substantivischen Nomina auch durch das gleiche *Genus, lassen beide den Vers auf den gleichen Diphthong ausklingen und stehen beide am Schluß einer Frage, der ersten und der letzten Frage des ganzen Textes, der Frage nach der Partei, die den Abtrünnigen so sehr bewegt (1 Wer ist die Partei?), und der im Namen der Partei vorgebrachten Frage 75 nach dem klügelnden Abtrünnigen. Abstrakte Nomina verbinden den dritten Vers der Anfangsstrophe mit dem dritten Vers der Endstrophe. Die einleitende Strophe stellt die geheimen Absichten der Partei in Frage: 3 Sind ihre Gedanken geheim, ihre Entschlüsse unbekannt? Die Endstrophe reagiert darauf mit einer schon von vornherein beantworteten Frage, ob denn der Weitblick individueller verborgener Absichten von gesellschaftlichem Nutzen sei: 19 was nützt uns seine Weisheit? Die im oben angeführten Zitat Arnold Zweigs erwähnten Gesetze der Interferenz 76 und des Sichkreuzens werden anhand des untersuchten Gedichts anschaulich illustriert (s. o., S. 688). Die grammatische Architektonik des Gedichts verbindet zwei Gliederungsprinzipien: das Prinzip der Aufgliederung des Gedichts in je zwei Paare von Strophen, also eine doppelte Dichotomie,77 mit einem anderen Prinzip, welches, im 73 S. o., S. 698, Anm. 38. [Anm. d. Komm.] 74 Den Schlußteil des mittleren Verses der letzten Strophe: »Weisheit«. [Anm. d. Komm.] 75 Emendation für »die im Namen der Partei vorgebrachte Frage«. [Anm. d. Komm.] 76 ›Überlagerung, gegenseitiges Einwirken‹ (lat.). [Anm. d. Komm.] 77 ›Zweiteilung‹ (griech.). [Anm. d. Komm.]
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Unterschied zum vorangehenden, kein Vierfaches 78 voraussetzt und folglich ein Zentrumsprinzip darstellt. Die erste, zweite und vierte Strophe enthalten je vier unabhängige Elementarsätze (clauses 79 ) mit finitem Verb, während die dritte Strophe vier solcher Elementarsätze im ersten Gesamtsatz (Vers III1 – III5) und vier in den beiden folgenden Gesamtsätzen (Vers III6 – III8) 80 enthält. Somit zerfällt das Gedicht in fünf symmetrische syntaktische Gruppen mit je vier unabhängigen Elementarsätzen. Nur in den drei letzten Gruppen treten Imperativsätze auf, je zwei von den vier unabhängigen Elementarsätzen jeder Gruppe: der erste und dritte Elementarsatz in der dritten Gruppe, der erste und vierte in der vierten Gruppe, der dritte und vierte in der fünften Gruppe: 1) 2) 3) 4) 5)
ist – sitzt – sind – ist sind – steckt und denkt – ist – kämpft zeige – werden gehen – gehe nicht – ist trenne dich nicht – können – kannst – trenne dich nicht leugnet – nützt – sei – trenne dich nicht
Es ist zu erwähnen, daß ursprünglich (in der Niederschrift 401/33) die vierte Gruppe von der dritten durch eine Leerzeile getrennt war, doch hat der Korrekturstift des Dichters das Spatium zwischen Zeile 13 und 14 getilgt. Von diesen fünf Vierergruppen sind alle drei ungeraden Gruppen durch das Vorhandensein eines *adversativen aber gekennzeichnet, und nur innerhalb dieser ungeraden Gruppen erscheint in unmittelbarer Nähe der Konjunktion jedesmal der bestimmte Artikel. Dieser Artikel hebt die beiden zentralen substantivischen Nomina des ganzen Gedichts – Partei und Weg – hervor und stellt sie zur Diskussion. Seiner Funktion nach fällt der Artikel mit dem analogen Demonstrativpronomen zusammen, indem er semantisch dem lateinischen ille [›jener‹] gleichkommt. In der Anfangsstrophe des Gedichts »Wer aber ist die Partei?« wird das im Titel stehende Nomen durch den Nominativ des bestimmten Artikels eingeführt, unmittelbar auf die Einführungsfrage folgt der parallele Fragesatz des zweiten Verses mit zwei unbestimmten Artikeln im Dativ: die Form einem und die Nullform des Plurals 2 Sitzt sie in einem Haus mit Telefonen? Es ist bezeichnend, daß gerade jene Frage durch den unbestimmten Artikel 78 Bei R. J. wohl Druckfehler: Vielfaches. [Anm. d. Komm.] 79 Syntaktische Konstruktionen mit finiter Verbform; insofern in der grammatischen Hierarchie zwischen phrases and sentences (s. o., S. 692) stehend (vgl. Bußmann, Lexikon der Sprachwissenschaft [Hg.], S. 517, s. v. ›Phrase‹). [Anm. d. Komm.] 80 Während Jakobson sonst die Verse des Gedichts fortlaufend durchzählt, gibt er hier irritierender Weise die interne Zeilenzahl der dritten Strophe an. [Anm. d. Komm.]
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ausgezeichnet ist, die in der nächsten Strophe beseitigt wird: 8 Wo ich wohne, ist ihr Haus. Entsprechend den drei grammatischen Artikeln der ersten der ungeraden Gruppen enthält die zweite (die mittlere) ungerade Gruppe ihrerseits drei Artikel, diesmal freilich drei bestimmte Artikel männlichen Geschlechts: Zeige uns den Weg 〈…〉 〈…〉 aber Gehe nicht ohne uns den richtigen Weg Ohne uns ist er der falscheste. Schließlich verbinden sich in der dritten ungeraden Gruppe zwei bestimmte Artikel, die sich wiederum auf Weg beziehen, mit dem etymologisch und funktionsmäßig verwandten das; und wenn in der Anfangsgruppe die adversative Konjunktion der dreigliedrigen Gruppe voranging und in der zweiten Gruppe sich in diese einkeilte, so steht in der Endgruppe die gleiche Konjunktion hinter der entsprechenden Gruppe: 17 Dass der kurze Weg besser ist als der lange, das leugnet keiner/ Aber 〈…〉. Es ist auffallend, daß adjektivische Nomina nur in den ungeraden Gruppen erscheinen: in der ersten und fünften sind es je zwei Beispiele in prädikativer Funktion – 3 sind geheim, 〈…〉 unbekannt und 17 besser ist, 81 20 sei bei uns weise –, in der dritten und fünften je zwei * Antonyme in attributiver Funktion, einmal mit explizitem, das andere Mal mit impliziertem Beziehungswort: 11 Gehe nicht ohne uns den richtigen Weg 12 Ohne uns ist er 13 Der falscheste 〈Weg〉 und 17 Dass der kurze Weg besser ist als der lange 〈Weg〉, das leugnet keiner. Es zeigt sich, daß hier die Bewertung aufs engste mit den ungeraden Abschnitten, den Knotenpunkten der Kontroverse, verbunden ist. Die zweite der drei ungeraden Gruppen, der mittlere Abschnitt des ganzen Gedichts, verbindet alle vier Elementarsätze, und zwar abwechselnd imperative und deklarative 82 Sätze zu einem einzigen Gesamtsatz, dem längsten Satz des Gedichts. Der auf die adversative Konjunktion folgende negative Aufforderungssatz, der von zwei positiven Aussagesätzen 83 umrahmt ist und der genau den zentralen Vers des ganzen Gedichts einnimmt, ist zugleich auch dessen zentraler Leitsatz – Gehe nicht ohne uns den richtigen Weg. 84 Das dialektische Spiel der Antonyme verwandelt diesen richtigen Weg unmittelbar in den falschesten, wenn ihn einer weiss Und vermag ihn 81 82 83 84
›Gegenworte‹ (griech.). [Anm. d. Komm.] Hier im weiteren Sinne von ›Aussagesatz‹. [Anm. d. Komm.] In der Erstfassung (S. 188) versehentlich: »Fragesätzen«. [Anm. d. Komm.] Die Erstfassung fährt fort: »– während die beiden peripheren aber [vv. 1 u. 18] symmetrische Fragesätze einführen.« [Anm. d. Komm.]
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uns nicht zu zeigen. Die Didaktik des Gedichts ist bewußt zweideutig und birgt einen unabwendbaren Konflikt in sich. Der Zweifel – wer weiss – war vom Verfasser ausgestrichen worden, und es schien, als sei der zweiten Person das Wissen um den kürzesten, den sichersten Weg zugeschrieben, den wir gehen sollen und wir werden ihn gehen, sobald er uns gezeigt wird. Es schien als handle es sich hier lediglich um eines: Gehe nicht allein, sondern zeige uns deinen sicheren Weg! Die Mitwirkenden des Lehrstückes geben jedoch diesen Versen einen zutiefst vieldeutigen Sinn. Die Worte – Wir können irren, und du kannst recht haben – werden vom jungen Genossen wörtlich aufgefaßt: »Weil ich recht habe, kann ich nicht nachgeben.« Die Ratgeber des jungen Genossen interpretieren aber ihre eigene Aufforderung »zeige uns den richtigen Weg« als einen Befehl »zeige, beweise uns die Richtigkeit des eingeschlagenen Weges« (Versuche uns zu überzeugen), und ihr hartes Urteil lautet: Du hast uns nicht überzeugt.85 Die verlockende Bitte – Zeige uns den Weg, den wir gehen sollen – klingt in Wirklichkeit wie eine hemmende Frage – »sollen wir den gehen?« –, und das feierliche Gelöbnis – und wir Werden ihn gehen wie du – wandelt sich zu einem unerbittlichen Verbot, den eingeschlagenen Weg fortzusetzen. Das sichere ist nicht sicher, sagt der Dichter im »Lob der Dialektik«.86 Aus der Prämisse Wir können irren, und du kannst recht haben, folgert keineswegs die Annahme deines richtigen Weges, sondern der Befehl: also Trenne dich nicht von uns! Der Wanderer, der dieses dreifache Gebot überhörte, ist damit unwiederbringlich verurteilt: Dann muß er verschwinden, und zwar ganz. 87 »Ich hielt es nicht 88 für meine Aufgabe, all die Disharmonien und Interferenzen, die ich stark empfand, formal zu neutralisieren«, schrieb Brecht über die Quellen seiner dramatischen Poesie.89 »Es handelte sich, wie man aus den Texten sehen kann, nicht nur um ein ›Gegen-den85 Beide kursivierten Sätze sind interpretierende Zusätze Jakobsons. [Anm.d. Komm.] 86 Brecht, Werke, Bd. 11, S. 237 f. (v. 10); zuerst (ohne v. 1–8) am Schluß von Brechts ›Schauspiel‹ Die Mutter. Nach Gorki (Werke, Bd. 3, S. 261–324, hier: S. 324). [Anm. d. Komm.] 87 Brecht, Die Maßnahme. Lehrstück [Fassung 1931], S. 347. [Anm. v. R.J.] – Inzwischen in: Brecht, Werke, Bd. 3, S. 123, Z. 24. [Anm. d. Komm.] 88 In der Erstfassung des Jakobson-Aufsatzes (S. 189) war das »nicht« ausgefallen, in SW III, S. 676 versehentlich nach »für« plaziert; in Jakobson, Hölderlin · Klee · Brecht (S. 127) korrigiert. [Anm. d. Komm.] 89 »Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen«, in: Versuche, Nr. 12, H. 27– 32, S. 138. [Anm. v. R.J.] – Inzwischen in: Brecht, Werke, Bd. 22, S. 359. [Anm. d. Komm.]
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Strom-Schwimmen‹ in formaler Hinsicht, einen Protest gegen die Glätte und Harmonie des konventionellen Verses, sondern immer doch schon um den Versuch, die Vorgänge zwischen den Menschen als widerspruchsvolle, kampfdurchtobte, gewalttätige zu zeigen.« 90 Editorische Notiz Zuerst präsentiert als eine Vorlesung an der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin am 14. Oktober 1963 und publiziert in: Beiträge zur Sprachwissenschaft, Volkskunde und Literaturforschung. Wolfgang Steinitz zum 60. Geburtstag am 28. Februar 1965 dargebracht, Berlin: Akademie-Verlag 1965, S. 175–189.
Literatur Jakobsons eigene Literaturangaben sind mit ° gekennzeichnet. Birus, Hendrik: Art. ›Metonymie‹, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, 3 Bde., hg. v. Klaus Weimar u. a., Berlin u. New York: de Gruyter 1997–2003, Bd. 2, S. 588–591. ° Brandt, Thomas O.: »Brecht und die Bibel«, in: Publications of the Modern Language Association 79 (1964), Nr. 1, S. 171–176. ° Brecht, Bertolt: Die Ausnahme und die Regel. Lehrstück, in: ders.: Versuche, H. 10, Nr. 22/23/24: Herr Puntila und sein Knecht Matti [u. a.], Berlin: AufbauVerlag 1952. ° — Die Maßnahme. Lehrstück [Fassung 1931], in: ders.: Versuche, Heft 1–4, Nr. 1–12: Der Oceanflug [u. a.], Berlin: Aufbau Verlag 1963, S. 322–354 [Erstdruck von H. 4: Berlin: Kiepenheuer 1931], S. 322–354. ° — Gedichte, Bd. 3, Frankfurt /Main: Suhrkamp 1961. ° — Hundert Gedichte. 1918–1950, Berlin: Aufbau-Verlag 1951. ° — »Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen«, in: Das Wort. Literarische Monatsschrift (1939), Jg. 4, photomechan. Nachdruck Berlin: Rütten und Loening 1968, H. 3, S. 122–127. – Wiederabdruck in: ders.: Versuche, H. 12, Nr. 27/32: Der gute Mensch von Sezuan [u. a.], Berlin: Aufbau-Verlag 1961, S. 137–143. — Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, 30 Bde. u. Registerbd., hg. v. Werner Hecht u. a., Berlin u. Weimar: Aufbau-Verlag, u. Frankfurt /Main: Suhrkamp 1988–2000. ° Brecht, Bertolt u. Hanns Eisler: Lieder Gedichte Chöre. Mit 32 Seiten Notenbeilage, Paris: E´ditions du Carrefour 1934. 90 Ebd. – Vgl. hierzu Donat, »Es klang aber fast wie deine Lieder…«, S. 367 f. [Anm. d. Komm.]
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Bußmann, Hadumod: Lexikon der Sprachwissenschaft, 2., völlig neu bearb. Aufl., Stuttgart: Kröner 1990 (= Kröners Taschenausgabe, Bd. 452). — (Hg.): Lexikon der Sprachwissenschaft, 3., aktualisierte u. erw. Aufl., Stuttgart: Kröner 2002. Conrad, Rudi: Lexikon sprachwissenschaftlicher Termini, Leipzig: Bibliographisches Institut 1985. °Die losen Blätter. Gratis-Beilage der »Dame«, H. 1, 1928/29. Donat, Sebastian: »Es klang aber fast wie deine Lieder…«. Die russischen Nachdichtungen aus Goethes »West-östlichem Divan«, Göttingen: Wallstein 2002 (= Münchener Komparatistische Studien, Bd. 1). Feuchtwanger, Lion: »Bertolt Brecht« (1957), in: Erinnerungen an Brecht, zusammengestellt v. Hubert Witt, Leipzig: Reclam 1964 (= Reclams UniversalBibliothek, Bd. 117), S. 358–364. ° Greimas, A[lgirdas] J[ulius]: »Remarques sur la description me´canographique des formes grammaticales«, in: Bulletin d’information du Laboratoire d’analyse lexicologique II; Besanc¸on: Faculte´ des lettres et sciences humaines 1960, S. i-xxv. Grimm, Reinhold: »Ideologische Tragödie und Tragödie der Ideologie. Versuch über ein Lehrstück von Brecht«, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 78 (1959), S. 394–424. — »Zwischen Tragik und Ideologie«, in: ders., Strukturen. Essays zur deutschen Literatur, Göttingen: Sachse & Pohl 1963, S. 248–271. Jakobson, Roman Osipovicˇ: »Aktuelle Aufgaben der Bylinenforschung«, in: SW V, S. 61–63. — »Das Nullzeichen«, in: SW II, S. 220–222. — »Der grammatische Bau des Gedichts von Bertolt Brecht ›Wir sind sie‹«, in: SW III, S. 660–676. – »Der grammatische Bau des Gedichts von B. Brecht ›Wir sind sie‹«, in: Beiträge zur Sprachwissenschaft, Volkskunde und Literaturforschung. Wolfgang Steinitz zum 60. Geburtstag am 28. Februar 1965 dargebracht, Berlin: Akademie-Verlag 1965, S. 175–189. — »Grammatical Parallelism and its Russian Facet«, in: SW III, S. 98–135. – »Der grammatische Parallelismus und seine russische Spielart«, übs. v. Tarcisius Schelbert, Sebastian Donat u. Stephan Packard, komm. v. Elena Skribnik, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 302–364. — Hölderlin · Klee · Brecht. Zur Wortkunst dreier Gedichte, eingel. u. hg. v. Elmar Holenstein, Frankfurt /Main: Suhrkamp 1976 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 162), S. 107–128. — »Krugovorot lingvisticˇeskich terminov« [›Veränderung linguistischer Begriffe‹], in: SW I, S. 734–737. — »Linguistics and Poetics«, in: SW III, S. 18–51. – »Linguistik und Poetik«, übs. v. Stephan Packard, komm. v. Hendrik Birus, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 154–216. — »Mark and Feature«, in: SW VII, S. 122–124.
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— »Poe˙zija grammatiki i grammatika poe˙zii«, in: SW III, S. 63–86. – »Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie«, übs. u. komm. v. Sebastian Donat, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 256–301. — »Randbemerkungen zur Prosa des Dichters Pasternak«, in: SW V, S. 416– 432. ° — »Shifters, Verbal Categories, and the Russian Verb«, in: SW II, S. 130–147. – »Verschieber, Verbkategorien und das russische Verb«, in: Form und Sinn, S. 35–54. — »Signe ze´ro«, in: SW II, S. 211–219. – »Das Nullzeichen«, übs. v. Regine Kuhn, in: Aufsätze zur Linguistik und Poetik, S. 44–53. — »Stichotvornye proricanija Aleksandra Bloka«, in: SW III, S. 544–567. – »Lyrische Prophezeiungen Aleksandr Bloks«, übs. u. komm. v. Sebastian Donat, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 452–491. — »Two Aspects of Language and Two Types of Aphasic Disturbances«, in: SW II, S. 239–259. – »Zwei Seiten der Sprache und zwei Typen aphatischer Störungen«, in: Aufsätze zur Linguistik und Poetik, S. 117–141. — »Zur Notwendigkeit einer sachlichen und terminologischen Unterscheidung«, in: Aufsätze zur Linguistik und Poetik, S. 279 f. — »Zur Struktur des russischen Verbums«, in: SW II, S. 3–15. Jakobson, Roman Osipovicˇ u. Lawrence G. Jones: »Shakespeare’s Verbal Art in ›Th’Expence of Spirit‹«, in: SW III, S. 284–303. – »Shakespeares Wortkunst in ›Das Versprühen des Geistes‹«, übs. v. Evi Zemanek, komm. v. Andreas Höfele, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 622–655. Lausberg, Heinrich: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, 2 Bde., 2. Aufl., München: Hueber 1973. Lukrez: Über die Natur der Dinge. Lateinisch u. Deutsch, übs. v. Josef Martin, Berlin: Akademie-Verlag 1972 (= Schriften u. Quellen der Alten Welt, Bd. 32). – Von der Natur der Dinge, übs. v. Karl Ludwig Knebel, 2. verm. u. verb. Aufl., Leipzig: Göschen 1831. ° Peirce, Charles Sanders: Collected Papers, Bd. 2: Elements of Logic, hg. v. Charles Hartshorne u. Paul Weiss, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1932. ° Pesˇkovskij, A[leksandr] M[atveevicˇ]: Russkij sintaksis v naucˇnom osvesˇˇcenii [›Russische Syntax in wissenschaftlicher Beleuchtung‹], 8. Aufl., Moskva: Jazyki slavjanskoj kul’tury 2001. ° Steinitz, Wolfgang: Der Parallelismus in der finnisch-karelischen Volksdichtung, untersucht an den Liedern des karelischen Sängers Arhippa Perttunen, Helsinki: Academia Scientiarum Fennica 1934 (= Folklore Fellows Communications, No. 115). Wagenknecht, Christian: Deutsche Metrik. Eine historische Einführung, 3. Aufl. München: Beck 1993. Zweig, Arnold: »Aufgang Bertolt Brechts«, in: ders., Essays, Bd. 1: Literatur und Theater, Berlin: Aufbau-Verlag 1959 (= Ausgewählte Werke, Bd. 15), S. 342– 347.
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Zymner, Rüdiger: Art. »Assonanz«, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, 3 Bde., hg. v. Klaus Weimar u. a., Berlin u. New York: de Gruyter 1997–2003, Bd. 1, S. 156 f.
Roman Jakobson und Linda R. Waugh
Einige Schlussfolgerungen aus einem Gedicht von Cummings – Sprache und Dichtung 1 Übersetzung aus dem Englischen und Kommentar Andreas Mahler Jakobsons und Waughs Überlegungen zu einem Gedicht von E. E. Cummings sind Teil einer größeren Untersuchung mit dem Titel »The Sound Shape of Language« [›Die Lautgestalt der Sprache‹] und entstammen dortselbst dem vierten und letzten Kapitel, das der Sprach- und Klangmagie gewidmet ist (»The Spell of Sounds«). Jakobson und Waugh unterwerfen Cummings’ vierstrophiges, sechzehnzeiliges Gedicht »love is more thicker than forget« zunächst den üblichen Analyseprozeduren der Spiegelung und Parallelisierung und entdecken ein komplexes Netz an morphologischen, syntaktischen, metrischen und nicht zuletzt lautlichen Bezügen. Aus dem Befund einer eingehend belegten, dichten Textur entwickeln sie sodann über das Gedicht hinausgehende Überlegungen zur *Struktur der Sprache. Cummings’ Text dient ihnen als Indiz für die insbesondere in der Sprachlernforschung angenommene Existenz einer unterhalb der kleinsten bedeutungstragenden Elemente, aber oberhalb der Laute angesiedelten ›submorphemischen‹ Sprachstruktur, welche sich aus Silbenzahl, Betonungsmuster und Kernlauten zusammensetzt und beim Aufbau des mentalen Lexikons vor allem eine mnemotechnische Funktion erfüllt. Damit weist Jakobsons/Waughs Beitrag einerseits einen Weg in spätere Fragestellungen der 1
Vorlage: Jakobson, Roman u. Linda R. Waugh: »Inferences from a Cummings Poem« u. »Language and Poetry«, in: SW VIII, S. 225–233 u. 233 f. – Erstfassung in: Jakobson, Roman u. Linda Waugh, unter Mitarbeit v. Martha Taylor: The Sound Shape of Language, Brighton, Sussex: Harvester Press 1979, S. 222–230 u. 230 f. Deutsche Erstübersetzung: »Folgerungen aus einem Gedicht von Cummings« u. »Sprache und Dichtung«, in: Jakobson, Roman u. Linda R. Waugh: Die Lautgestalt der Sprache, übs. v. Christine Shannon u. Thomas F. Shannon, Berlin u. New York: Walter de Gruyter 1986 (= Janua Linguarum. Series Maior, Bd. 75), S. 245–255 u. 255 f. [Anm. d. Übs./Komm.]
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kognitiven Sprachwissenschaft und zeigt andererseits, daß Cummings’ intensive Spracharbeit scheinbar spielerisch und doch fast systematisch bis dahin unentdeckte Dimensionen der Sprachlichkeit erschließt und damit weitaus mehr darstellt als das vielfach inkriminierte bloße ›Kindergelalle‹. Andreas Mahler
Einige Schlußfolgerungen aus einem Gedicht von Cummings Das Werk von E. E. Cummings (1894–1962) hat Vorwürfe laut werden lassen, es sei »eine Art Kindergelalle«, und feindselige oder zumindest verblüffte Fragen hervorgerufen, die in Irene R. Fairleys Studien zu Cummings ihren ironischen Niederschlag gefunden haben: »Wie kommt es, daß er so viele grammatische Verstöße begehen kann, ohne den Leser zu verlieren? Wie können wir die in seinen Gedichten allenthalben auffindbare Agrammatikalität erklären?« 2 Er selbst sagte über seine Gedichte: »Everywhere tints childrening, innocent, spontaneous, true« [›Alles klingt nach Kinderspiel, unschuldig, spontan, wahr‹].3 Eine aufmerksame Analyse eines der fünfzig von Cummings im Jahre 1950 veröffentlichten Texte 4 zeigt seine »unhintergehbare Beschäftigung mit dem Verb«.5 I
1 2 3 4
II
1 2 3 4
III
1 2 3 4
IV
1 2 3 4
2 3 4 5
love is more thicker than forget more thinner than recall more seldom than a wave is wet more frequent than to fail it is most mad and moonly and less it shall unbe than all the sea which only is deeper than the sea love is less always than to win less never than alive less bigger than the least begin less littler than forgive it is most sane and sunly and more it cannot die than all the sky which only is higher than the sky
Fairley, »Syntax as Style«, S. 105, u. E. E. Cummings and Ungrammar, S. 1. Cummings, Complete Poems, S. 462. Siehe a. a. O., S. 530. A. a. O., S. 223.
Einige Schlußfolgerungen aus einem Gedicht von Cummings
I
1 2 3 4
II
1 2 3 4
III
1 2 3 4
IV
1 2 3 4
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liebe ist mehr dicker als vergessen mehr dünner als erinnern seltener als eine welle naß ist häufiger als scheitern sie ist höchst irr und mondlich und soll weniger nichtsein als das ganze meer das allein tiefer ist als das meer liebe ist weniger immer als gewinnen weniger nie als lebendig weniger größer als das geringste beginnen weniger kleiner als vergeben sie ist höchst heil und sonnlich und kann nicht noch mehr sterben als der ganze himmel der allein höher ist als der himmel
Das *jambische Gedicht zerfällt in vier *Strophen, von denen jede für sich eine deutliche syntaktische Einheit bildet. Der Anfang jeder Strophe ist durch ein is in der ersten *Hebung markiert, dem entweder das Subjekt love, das die 1. und 3. Strophe eröffnet, oder ein *anaphorisches it zu Beginn der 2. und 4. Strophe vorangeht. Jede der vier Strophen besteht aus vier Zeilen. Die beiden ungeraden Zeilen jedes Vierzeilers weisen eine engere metrische Zusammengehörigkeit zueinander auf als zu den geraden Zeilen; auch die letzteren sind sich ähnlicher als den ungeraden Zeilen. Übereinstimmend sind die Zeilen jedes Vierzeilers über *Kreuzreime miteinander verbunden. Alle Zeilen der ungeraden Vierzeiler enden konsonantisch, während alle Zeilen der geraden Vierzeiler vokalisch enden. Im Gegensatz zu den konsonantischen Schlüssen der vorangehenden ungeraden Vierzeiler indizieren die vokalischen Schlüsse den stärker abschließenden Charakter der geraden Vierzeiler. In jedem ungeraden Vierzeiler sind die ungeraden Zeilen und in jedem geraden Vierzeiler die geraden Zeilen miteinander durch regelmäßige *Reime verbunden (I1 forget – 3 wet, III1 win – 3 begin, II2 unbe – 4 sea, IV2 die – 4 sky), während die geraden Zeilen der ungeraden Vierzeiler und auch die ungeraden Zeilen der geraden Vierzeiler *Halbreime benutzen, die die Übereinstimmung der Endlaute auf die Laute nach dem betonten Vokal beschränken (I2 recall – 4 fail, III2 alive – 4 forgive, II1 moonly – 3 only, IV1 sunly – 3 only). Diese Verteilung zeigt eine gewisse Übereinstimmung zwischen der *Opposition ungerade ∼ gerade in den Zeilen wie den Vierzeilern.
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Alle ungeraden Zeilen enthalten eine größere Silbenzahl als die geraden Zeilen. Alle geraden Zeilen des Gedichts sind Dreiheber mit *männlicher Endung und bestehen dementsprechend aus sechs Silben. Die ungeraden Zeilen der ungeraden Vierzeiler sind Vierheber mit männlicher Endung und enthalten dementsprechend jeweils acht Silben. Die ungeraden Zeilen der geraden Vierzeiler sind Dreiheber mit *weiblicher Endung und dementsprechend aus sieben Silben zusammengesetzt. Demzufolge sind die ungeraden Zeilen der ungeraden Vierzeiler die einzigen Vierheber des Gedichts und die ungeraden Zeilen der geraden Vierzeiler die einzig weiblichen Zeilen. Die Kürze der geraden Zeilen trägt zu deren abschließendem Charakter im Vergleich zu den vorangehenden ungeraden Zeilen bei. Die vier ungeraden Zeilen der geraden Vierzeiler haben die einzigen weiblichen Versschlüsse, und alle vier sind durch den gleichen Halbreim -nly gebunden. Der Zeilenaufbau zeigt in beiden ungeraden Vierzeilern eine *Äquivalenzstruktur und unterscheidet sich von dem der geraden Vierzeiler, die ihrerseits einander ähnlich sind. Die *Zäsur findet sich regelmäßig nach einer *Senkung in den ungeraden Vierzeilern (nach I1 thicker, 2 thinner, 3 seldom, 4 frequent; III1 always, 2 never, 3 bigger, 4 littler), wohingegen die geraden Vierzeiler in den ersten drei Zeilen ihre Zäsur nach der *Hebung und nur in der Schlußzeile nach der Senkung haben (II1 mad, 2 less, 3 sea; IV1 sane, 2 more, 3 sky; aber II4 deeper, IV4 higher). Dieser Unterschied hebt die Schlußzeile der geraden Vierzeiler hervor und akzentuiert so die Teilung des Gedichts in zwei Oktaven, von denen jede durch das Nomen love als das einzige artikellose Substantiv im Gedicht eröffnet wird. Darüber hinaus haben diese Zeilen als Folge des besonderen Aufbaus der Schlußzeilen in den geraden Vierzeilern das *rhythmische Profil mit den Schlußzeilen der ungeraden Vierzeiler gemein: I4 more frequent / than to fail, II4 is deeper / than the sea; III4 less littler / than forgive, IV4 is higher than the sky. Das gesamte Gedicht weist eine strenge selektive Vereinfachung hinsichtlich der grammatischen Kategorien und eine auffällige Originalität bezüglich ihrer syntaktischen Verwendung auf. Im Gedicht gibt es nur neun ›formale‹ (›grammatische‹) Verben 6 – alle finit: die *Kopula is jeweils einmal pro Zweizeiler, außer im sechsten, und ein *Modalverb in der zweiten Zeile jedes geraden Vierzeilers – II2 it shall unbe – IV2 it cannot die. Die Infinitive der ›lexikalischen‹ Verben erscheinen nur am 6
Vgl. ähnliche Überlegungen in Jakobson, »Der grammatische Bau des Gedichts von B. Brecht ›Wir sind sie‹«. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Ende der Zeile: einmal in jedem geraden Vierzeiler und dreimal in jedem ungeraden. Das Gedicht enthält acht Substantive, zwei in jedem Vierzeiler; aber in den ungeraden Vierzeilern finden sie sich in allen vier ungeraden Zeilen (I1 love, 3 a wave; III1 love, 3 the least), wohingegen in den geraden Vierzeilern jede Zeile der geraden Zweizeiler mit je einem zweifach wiederholten Substantiv versehen ist, das jeweils in beiden Vierzeilern neben Begleitwörtern erscheint (II3 all sea which, 4 the sea; IV3 all the sky which, 4 the sky). Die Grenze zwischen Adjektiven und Adverben ist verwischt. Lexikalische Adjektive kommen im Gedicht nie attributiv vor. Alle sind prädikativ und fungieren als Adjektive oder als adverbiale Steigerungsformen: entweder als Superlative (II1 it is most mad and moonly; IV1 it is most sane and sunly) oder als Komparative, die letzteren in zwölf sogenannten »than-constructions«.7 Diese Konstruktionen füllen alle Zeilen des Gedichts außer den zwei erwähnten Zeilen mit den vier analytischen Superlativen aus. Der einzige Fall eines than, dem ein Satz folgt – I3 more seldom than a wave is wet –, liefert uns das einzige Adjektiv im sogenannten ›positiven Komparationsgrad‹. Than kommt viermal in den vier Zeilen jedes ungeraden Vierzeilers vor, und zwei thans erscheinen in den geraden Zweizeilern der geraden Vierzeiler. Das hervorstechende Thema in Cummings’ Gedicht ist das gleiche wie in Edward Sapirs Untersuchung »Grading« [›Steigerung‹], die wie das Gedicht in den späten 30er Jahren 8 geschrieben wurde. Am Beginn seiner ›Study in Semantics‹ hat der letztere dieser beiden Experten der Mysterien verbaler Arbeit und verbaler Kunst einmal behauptet: »Man kann sagen, daß Urteile wie ›mehr als‹ und ›weniger als‹ auf der Vorstellung von Umhüllung beruhen.« 9 Die Skala der Gradierung im Gedicht ist zugleich auf subtile Weise komplex wie durchsichtig. Der Text beginnt mit einer Kette von vier komparativen more (I1–4) und einem superlativischen most (II1) und kehrt am Schluß zurück zur Sequenz von most und more in umgekehrter Reihenfolge (IV1,2); eine Gruppe von fünf less liegt zwischen diesen zwei most, und jedes less ist mit zwei Adjektiven verbunden. Ein raffiniertes *spiegelsymmetrisches System liegt dem Verhältnis der zwei ungeraden Vierzeiler zugrunde. Die acht than-Konstruktionen be7 8 9
Siehe Strang, Modern English Structure, S. 134 f. Sapirs Aufsatz stammt aus dem Jahr 1924. [Anm. d. Übs./Komm.] Sapir, »Grading. A Study in Semantics«, S. 122. [Anm. v. R.J. / L.W.] – Mit dem Bild der ›Umhüllung‹ meint Sapir ein mengenmäßiges Hinzufügen (›mehr als‹) oder ein Wegnehmen (›weniger als‹). [Anm. d. Übs./Komm.]
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inhalten vier Komparative mit more im ersten Vierzeiler und analog dazu vier mit less im dritten. Die zwei Anfangskomparative des ersten Vierzeilers und die letzten zwei des dritten überblenden 10 analytische und flektierende Formen der Komparation; darüber hinaus verfügen sie über eine räumliche Vorstellung (I1 more thicker, 2 more thinner etc.). Die letzten zwei Komparative des ersten Vierzeilers und die ersten zwei des dritten sind rein analytische Komparative mit einer zeitlichen Vorstellung (wovon drei Adverben sind: I3 more seldom, III1 less always etc.). Alle vier räumlichen Komparative haben den gleichen Wurzelvokal /i/, und darüber hinaus haben die ersten zwei ein anlautendes /u/ gemeinsam. Aufgrund der oben erwähnten Überblendung werden die zwei gegenläufigen Zweizeiler der ungeraden Vierzeiler auf seltsame Weise unterlaufen: I1 more thicker than forget, 2 more thinner than recall und III3 less bigger than the least begin, 4 less littler than forgive. Die *figura etymologica less littler steht dem substantivierten Superlativ least und der schillernden *Paronomasie bigger – begin, die kindlicher Folklore ähnelt 11 und durch die Sequenz /gi/ in forgive verstärkt wird, gegenüber. Desgleichen bauen die beiden Vierzeiler eine Spiegelsymmetrie in ihren Halbversen auf. Dementsprechend stimmen I1 forget und III4 forgive miteinander sowohl bezüglich der Lautung ([f..g]) als auch der Bedeutung (vergeben und vergessen) überein, und der erste Zweizeiler des ersten Vierzeilers und der letzte Zweizeiler des dritten Vierzeilers enden jeweils auf zweisilbige Verbformen (I1 forget, 2 recall ; III3 begin, 4 forgive). Die letzte Zeile des ersten Zweizeilers und die erste Zeile des dritten enden auf einsilbige Infinitive mit to, und I3 und III2 sind die einzigen Zeilen in diesen Vierzeilern mit einem nicht auf ein Verb endenden Schluß (wet – alive). Die *Antonymie I4 to fail – III1 to win bestärkt die Spiegelsymmetrie zwischen den zwei ungeraden Vierzeilern. Die than-Konstruktionen in den geraden Vierzeilern, jeweils zwei, unterscheiden sich von denen der ungeraden Vierzeiler: jeder der geraden Vierzeiler enthält ein Paar aus zwei than-Konstruktionen, in dem die zweite der ersten untergeordnet ist. Im Gegensatz zu denen in den unge10 Sowohl in seiner Du Bellay-Analyse (Jakobson, »›Si Nostre Vie‹: Observations sur la composition & structure de motz dans un sonnet de Joachim du Bellay«, S. 266; dt. Übs. in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 593) wie in seiner Untersuchung zu den Dichter-Malern (Jakobson, »On the Verbal Art of William Blake and Other Poet-Painters«, S. 331; dt. Übs. in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 17 f.) verwendet Jakobson diesen Begriff mit ausdrücklichem Verweis auf die entsprechende Filmtechnik. [Anm. d. Übs./Komm.] 11 Siehe SW VIII, S. 221. [Anm. v. R.J. / L.W.] – Der dortige Abschnitt IX des Kapitels 4 von The Sound Shape of Language widmet sich dem Thema »Children’s Verbal Art« (›Wortkunst der Kinder‹). [Anm. d. Übs./Komm.]
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raden Vierzeilern beinhalten diese unterordnenden Konstruktionen weder ein Adjektiv noch ein Adverb, das dem less des zweiten Vierzeilers oder dem more des vierten zugeordnet ist: II2 and less it shall unbe 3 than all the sea bzw. IV2 and more it cannot die 3 than all the sky. Im Gegensatz dazu benutzt die letzte untergeordnete than-Konstruktion jedes der geraden Vierzeiler flektierte Komparative und stützt sich im Gegensatz zu denjenigen der ungeraden Vierzeiler nicht auf ein less oder more: II4 is deeper than the sea und IV4 is higher than the sky. Jeder der geraden Vierzeiler verfügt über eine Abfolge einer zeitlichen und einer räumlichen than-Konstruktion. Die drei letzten Zeilen des zweiten Vierzeilers (II2–4) suggerieren, daß das Verschwinden der Liebe ein weniger vorstellbares Ereignis darstellt als das Verschwinden des ganzen Meeres (all the sea), das jedes Meer an Tiefe übertrifft, wobei vier Wörter mit identischen Vokalen das Bild unterstreichen: II2 unbe – 3 sea – 4 deeper – 4 sea. Der dreizeilige Schluß des Gedichts variiert und bestärkt das gleiche Motiv: der Tod der Liebe ist unvorstellbarer als der des Firmaments, das die Höhe aller Himmel übersteigt; hier unterstreichen vier identische Diphthonge das Bild: IV2 die – 3 sky – 4 higher – 4 sky. In der Strukturierung des Gedichts erfüllen durchgängig gesetzte Lautfiguren die Funktion einer Drehung. Unter den Konsonanten am Wortanfang spielen zwei *Sonoranten – /m/ und /l/ jeweils neunmal – die im Gedicht führende *alliterative Rolle. Der *Nasal /m/ ist um die nach oben gerichteten Begriffe more und most zentriert. Die *Liquida /l/ umschließt die nach unten gerichteten less und least und führt darüber hinaus das Hauptsubstantiv des gesamten Textes, love, an, das unter allen Substantiven des Gedichts das einzige ist, welches in der ersten Silbe von Verszeilen erscheint. Außer in der ersten Zeile des Gedichts (love is more thicker) gehören anlautendes /m/ und /l/ nie derselben Zeile an, und das alliterative /l/ beschränkt sich auf die Spanne zwischen den beiden einzigen Orten, wo der Superlativ most vorkommt (II1 und IV1 it is most): II2 less, III1 love – less, 2 less, 3 less – least, 4 less littler. Was die /m/-Alliterationen des Gedichts betrifft, so wird das vierfache more des gesamten ersten Vierzeilers in der fünften Zeile durch den Superlativ most mad and moonly gekrönt und von einem weiteren *labialen Tripel I1 forget – 4 frequent – 4 fail gestützt. Auf der Schwelle zum letzten Vierzeiler wird die Kette alliterativer Liquide durch das Paar IV1 most – 2 more, das in umgekehrter Reihenfolge die Sequenzen I4 more – II1 most wiederholt, gestoppt. Das Tripel aufeinanderfolgender alliterativer /m/-Laute scheint von Cummings besonders bevorzugt; ein elfsilbiger Satz, der ein anderes seiner
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Gedichte eröffnet – i met a man under the moon on Sunday 12 – weist drei anlautende /m/- und fünf /n/-Laute an anderen Stellen, zweimal in der auffälligen glossolalischen 13 Verbindung /nd/ (under, Sunday), auf. Im Gedicht »love is more thicker« liegt die Auftaktliquida aus less der neunfachen /l/-Alliteration zugrunde. Analog verweist der Schlußsibilant dieses Worts auf die sechsfache /s/-Alliteration in den geraden Vierzeilern: II3,4 sea – IV1 sane – 1 sunly, 3,4 sky. Das einzige andere Vorkommen des gleichen Anfangssibilanten – I3 seldom – birgt in seiner ersten Silbe eine womöglich anspielungsreiche *Metathese von less, noch vor dessen Erscheinen in II2 und seiner vielfachen Wiederholung in III1–4. Zusammen mit less hat auch love an der Alliteration der Liquide teil; zudem wiederholen die zwei ungeraden Vierzeiler, die durch dieses Substantiv eingeleitet werden, offensichtlich dessen Schlußkonsonanten, während kein anderes Wort im Gedicht auf /v/ endet: I1 love – 3 wave; III1 love – 2 alive – 4 forgive. Die Halbreime des Gedichts wie III2 alive – 4 forgive erhöhen die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Gleichheit der Schlußkonsonanten; III1 love – 2 alive, zwei Elemente eines Zweizeilers, die sich zueinander in Extremposition befinden, bilden eine Paronomasie, die sich sowohl lautlich als auch hinsichtlich der Bedeutungskomponente greifen läßt. Die Übereinstimmung zwischen I1 love und 3 wave fällt besonders auf mit Blick auf ihre ähnliche syntaktische Position, die nicht von den anderen Substantiven des Gedichts geteilt wird, wie auch im Hinblick auf Cummings’ überraschende Wahl des konstanten Merkmals Feuchtigkeit als tertium comparationis zwischen Welle und Liebe und nicht von Veränderlichkeit, Wankelmütigkeit, Beweglichkeit und ähnlichen Eigenschaften, die aus der poetischen Tradition bekannt sind. Das Gedicht beginnt mit der Alliteration von dunklen Nasalen /m/ und endet mit einer Alliteration heller Dauerlaute /s/. Die Wahrnehmungsassoziation mit Dunkelheit bzw. Licht 14 wird semantisch gestützt durch die paronomastische Entgegensetzung der Zeilen II1 it is most mad and moonly als Abschluß des einführenden alliterativen Motivs und IV1 it is most sane and sunly als Beginn des Epilogs; über einen parallelen Lautwechsel schreitet die Erzählung von einem geistigen wie physischen Schatten ins Helle, begleitet von einem semantischen Übergang von II4 deeper zu IV4 higher. 12 Cummings, Complete Poems, S. 355. 13 Vgl. Abschnitt VII »Glossolalia« des 4. Kapitels von The Sound Shape of Language (S. 214–218; dt. Übs. S. 232–237). [Anm. d. Übs./Komm.] 14 Siehe SW VIII, S. 198. [Anm. v. R.J. / L.W.] – Der dortige Abschnitt III von Kap. 4 untersucht »Word Affinities« [›Wortaffinitäten‹]. [Anm. d. Übs./Komm.]
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Außer den drei bereits angeführten alliterativen Konsonanten gibt es sehr wenige Auftaktkonsonanten in den *›lexikalischen‹ Wörtern 15 des Gedichts. Unter ihnen erscheinen nur zwei Sonoranten – /r/ und /n/ –, jeder einmal im Gedicht in der zweiten Zeile der beiden ungeraden Vierzeiler: I2 recall, III2 never. Die wenigen verbleibenden Auftaktkonsonanten werden jeweils durch ein Paar semantisch untereinander verbundener Wörter oder Phrasen wiedergegeben: I1 thicker – 2 thinner, III3 bigger – least begin, II4 deeper – IV2 die. Berücksichtigt man zudem die Auftaktkonsonanten der zwei Modalverben, so erhöht II2 shall die Anzahl alliterativer *Sibilanten im zweiten Vierzeiler (II3, 4 sea) auf drei, und IV2 cannot steht dem zweiten Konsonanten in der anlautenden Konsonantenverbindung des zweimal vorkommenden IV3, 4 sky gegenüber. Nebeneinanderstehende Wörter mit anlautenden Vokalen werden über die Gleichheit benachbarter Sonoranten in Verbindung gebracht: /n/ und /l/ in II2 shall unbe – II3 und IV3 than all – only; /l/ in III1 always – 2 alive. Wie wir bereits en passant erwähnt haben, fungiert die Identität zweier oder mehrerer miteinander verbundener betonter Vokale als ein wirksames verbindendes Element in einer verbalen und metrischen Folge (man erinnere sich, wie im dritten Vierzeiler die Spezifik und Einheit des abschließenden Zweizeilers durch die Kette von vier ungespannten /i/Lauten unter der letzten Betonung jedes Halbverses bewerkstelligt wird: III3 bigger – begin – 4 littler – forgive). Die Opposition ungespannt ∼ gespannt dient der Schärfung des *Kontrasts zwischen den ungeraden und geraden Vierzeilern: Fast alle (über 84%) der betonten Silben am Ende der Halbverse werden in den ungeraden Vierzeilern durch ungespannte Vokale wiedergegeben und in den geraden Vierzeilern durch gespannte (bzw. auch durch Diphthonge im vierten Vierzeiler). Der erste Vierzeiler folgt dieser Ordnung in den ersten drei Zeilen, wechselt aber dann zu gespannten Vokalen in der vierten (frequent, fail). In nur einer von acht Silben verzichtet der zweite Vierzeiler auf einen gespannten Vokal (II2 less). Eine genaue Betrachtung von »love is more thicker« zeigt, wie Lautübereinstimmungen eine gewisse semantische Nähe suggerieren bzw. verstärken und wie sie dementsprechend als verwandte Submorpheme agieren, die aus einem geheimnisvoll komplexen und zusammenhängenden Netz metrischer, strophischer und kompositorischer Mittel gebildet werden.16 15 Vgl. Jakobson: »Der grammatische Bau des Gedichts von B. Brecht ›Wir sind sie‹«, S. 665; dt. Übs. in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 699. [Anm. d. Übs./ Komm.] 16 Siehe Reinhart, »Patterns« sowie Tamir-Ghez, »Binary Oppositions«.
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Der Nicht-Dozent Cummings bekundete seiner Zuhörerschaft in Harvard, daß Kunst geheimnisvoll sei (»art is mystery« 17 ). Die relative Verdichtung, Ausstellung und Selbstgenügsamkeit der verschiedensten parallelistischen Verfahren setzen Lyrik von Alltagssprache ab; gleichwohl erlaubt uns die Bedeutung solcher relativer Unterschiede nicht eine Verabsolutierung der Kluft zwischen den beiden Sphären, und zwar vor allem deshalb nicht, weil, wie das Motto dieses Buchs bereits sagt, die »verbohrte Akzeptanz von Absoluta« den Verstand fesselt und den Geist umnachtet.18 Wir haben effektvolle und bedeutungsreiche Paare reimender bzw. alliterierender Wörter herausgestellt, oder, besser gesagt, der Dichter hat sie ausgestellt in seinen Vierzeilern; aber die gleichen Konsonanzen gibt es auch, ein wenig abgetötet und verborgen, in unserer Alltagssprache: z. B. through thick and thin, forgive and forget, deep-sea, sky-high etc. Unsere *Wortspiele, ob bewußt oder unbewußt, stehen den Paronomasien, die eine unterschwellige motivierende Kraft in der Wortkunst darstellen, näher, als man vermuten würde. Das paronomastische Paar Caroline – Scarlett, das wir aus einem Hüpfseilreim zitiert haben, wie auch die alten *Anagramme, die Saussure entdeckt hat, wie z. B. der Name Scı¯pio, der in dem Saturnier 19 Taurasia Cı¯sauna Samnio ce¯pit verborgen ist,20 gehören zu den zahlreichen Beispielen für Spiele mit Eigennamen (die sich der ganz eigenen Stellung der Namen in unserem Wortschatz verdanken), Spiele, die die individuelle Erfindungsgabe von Kindern und Erwachsenen mit der Folklore teilt. So stellt letztere beispielsweise durchaus gern eine paronomastische und mythopoetische Verbindung zwischen dem Namen eines Heiligen und den jahreszeitlichen landwirtschaftlichen Arbeiten und Vorhersagen her, die im Kalender um den Tag des Heiligen angeordnet sind, wie etwa in der russischen Bauernweisheit: »V den’ Mo´kija mo´kro i vse¨ le´to mo´kroe« – »Ist es an St. Mokios (11. Mai) nass, ist der ganze Sommer nass«.21 17 Cummings, Six Nonlectures, S. 82. 18 Das Motto zu The Sound Shape of Language lautet im Ganzen: »What fetters the mind and benumbs the spirit is ever the dogged acceptance of absolutes« (S. XXI, »Was den Verstand fesselt und den Geist umnachtet, ist durchweg die verbohrte Akzeptanz von Absoluta«) und ist dem aus dem Jahr 1924 stammenden Aufsatz von Edward Sapir, »The Grammarian and His Language« entnommen. [Anm. d. Übs./ Komm.] 19 Altes lateinisches *Versmaß, das schon bei Ennius durch den griechischen Hexameter abgelöst wurde. [Anm. d. Übs./Komm.] 20 Siehe Starobinski (Hg.), Les mots sous les mots, S. 29; dt. Übs.: Wörter unter Wörtern, S. 22. 21 Dal’, Tolkovyj slovar’ zˇivogo veliko-russkogo jazyka, Bd. 2, S. 339.
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Reime und andere Übereinstimmungen in der Lautformation von Wörtern spielen eine wichtige und bedeutsame Rolle in der Wortkunst; gleichwohl darf ihre unterschwellige Teilhabe an der sprachlichen Alltagserfahrung nicht unterschätzt werden.22 Submorphemische Etymologie 23 ist ein wesentlicher Aspekt von Sprache. Interessanterweise hat der Autor des Buches How to Do Things with Words, John L. Austin (1911–1960), ein Sprachwissenschaftler wie nicht minder ein Logiker, am Ende seines Lebens genau über das Thema synchroner submorphemischer Verarbeitung von lexikalischem Material im Englischen gearbeitet und in einem Gespräch mit Noam Chomsky die Wichtigkeit dieser Verwandtschaften in der Sprache wie auch in ihrer Untersuchung betont. Wertvolle Informationen über submorphemische Operationen von Sprechern lassen sich aus dem Phänomen ziehen, das immer dann auftritt, wenn jemand sagt: ›Es liegt mir auf der Zunge‹. Roger Brown und David McNeil haben diesem »Zustand, in dem man sich an ein vertrautes Wort nicht ganz erinnern kann«, insbesondere an einen Eigennamen, ihm aber nahekommt, indem man Wörter einer ähnlichen Lautgestalt aktiviert oder ad hoc erfundene Wörter durchprobiert, weil man einzelne Elemente des gewünschten Namens behalten hat, eine eigene Studie gewidmet: »Diese leichter aktivierbaren Merkmale seltenerer Wörter sind womöglich genau die Merkmale, auf die wir bei der Wahrnehmung von Wörtern unser Hauptaugenmerk richten«.24 Die Anzahl der Silben, Akzentsitz, Wortbeginn und Wortende sind anscheinend Merkmale, die »bevorzugt wahrgenommen« werden. Es ließe sich hinzufügen, daß Sonoranten auch eher im Gedächtnis behalten werden. So dachte einer der Autoren beispielsweise, als er sich nicht an den Namen einer Straße, die Cornish hieß, erinnern konnte, statt dessen an Congress und Corinth und Concord, wodurch sich zeigen läßt, daß die dem Zielwort und den drei Ersatzwörtern angehörenden internen Sonoranten r und n in seinem Gedächtnis offensichtlich zusammen mit dem anlautenden Konsonanten und dem Silben- und Betonungsmodell des gesuchten Namens gespeichert waren. Die Zusammengehörigkeit von Sprach- und Lautassoziationen zeigt sich auch darin, daß in Moralpredigten Wörter, die selbst nur eine gewisse lautliche Ähnlichkeit mit vermeintlich obszönen Wörtern haben, sorgsam vermieden werden. 22 Siehe Bolingers anregende Studie von 1950, »Rime, Assonance, and Morpheme Analysis«, wiederabgedruckt in Forms of English, S. 203 ff.; Bloomfield, »Final RootForming Morphemes«; u. Marchand, »Motivation by Linguistic Form«. 23 Siehe SW VIII, S. 201 f. [Anm. v. R.J. / L.W.] – Dies ist nochmals der Abschnitt III »Word Affinities«. [Anm. d. Übs./Komm.] 24 Brown /McNeil, »The ›Tip of the Tongue‹ Phenomenon«, S. 325.
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Trotz der vielfältigen Hinweise dafür, daß Sprecher und Hörer den Lauten ihrer Sprache gezielte Aufmerksamkeit widmen, ist die Struktur der Alltagssprache weit entfernt von der selbständigen, ja führenden Rolle der Laute und ihrer *distinktiven Merkmale in der Dichtung, die die absichtliche Häufung bestimmter Einzellaute und Lautgruppen zum konstitutiven Verfahren der Sequenzbildung erhebt.25 Robert Godel 26 hat ein sehr erhellendes Beispiel für zwei entgegengesetzte Bewertungen einer unmittelbaren Wiederholung ein und derselben Lautgruppe, z. B. einer Silbe, in einer syntaktischen Folge angeführt: nämlich die Vermeidung einer solchen Wiederholung in alter lateinischer Prosa und ihren Gebrauch als willkommene Lautfigur im Vers, der reich an Verdoppelungen ist wie Dorica castra (Vergil, Properz, Ovid) oder hasta Tago (Vergil), hasta Tagen (Statius), ista Tages (Lukan). Einmal mehr zeigt sich als Geist der Dichtung: numero deus pari gaudet [›Gott freut sich an der geraden Zahl‹].27
Sprache und Dichtung Eine solche dynamische Spannung zwischen signans und signatum – und insbesondere ein solch unmittelbares Zusammenspiel von Sprachklang und Bedeutung – erlegt Cummings seinem Gedicht, wie überhaupt jeder Dichter seinen Sprachschöpfungen, auf, wenn es darum geht, – die öde Banalität und Einsinnigkeit sprachlicher Mitteilungen hinter sich zu lassen, – allen vergeblichen, sprachverarmenden Versuchen der ›Vereindeutigung‹ Einhalt zu gebieten – und die schöpferische Kraft einer von allen Einflüssen des Banalen befreiten Sprache zu betonen. Die Liebe des Sprachwissenschaftlers und Dichters Edward Sapir zum Werk des Dichters und Sprachwissenschaftlers Gerard Manley Hopkins, und vor allem zu dessen »fast erschreckender Unmittelbarkeit der Äußerung«, zu ihrer aus »ungezügelter Lust am reinen Klang der Wörter« 28 bestehenden Kraft, bezeugt sowohl Hopkins’ als auch Sapirs magische 25 Siehe SW VIII, S. 219. [Anm. v. R.J. / L.W.] – Dies ist ein Verweis auf den Abschnitt VIII »Sound as the Basis of Verse« im Kap. 4 von The Sound Shape of Language. [Anm. d. Übs./Komm.] 26 Godel, »Dorica castra«. 27 In Saussures Anagramm-Studien mit Majuskeln notiert. Vgl. Starobinski, Les mots sous les mots, S. 23; dt. Übs.: Wörter unter Wörtern, S. 16. [Anm. d. Übs./Komm.] 28 Sapir, »Review of Poems of Gerard Manley Hopkins«, S. 500.
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Einsicht in die Inwendigkeit [inscape 29 ] dichterischer Schöpfung. Nicht umsonst gab Leonard Bloomfield bekanntlich Sapir den Spitznamen »Medizinmann«.30 Dieser Zauber des »reinen Klangs der Wörter«, der in expressivem, magischem, mythopoetischem Sprachgebrauch und in höchstem Maß in der Lyrik hervorbricht, stellt ein Supplement und Gegengewicht dar zum sprachspezifischen Grundprinzip ›doppelter Artikulation‹ 31 und überwindet deren Gegenwendigkeit, indem er die distinktiven Merkmale selbst mit der Kraft unmittelbarer Bedeutung ausstattet. Die Mittelbarkeit von Bedeutung schwindet völlig in der experimentellen Lyrik des frühen 20. Jahrhunderts, die parallel zur Entstehung der abstrakten Malerei verläuft und der magischen Komponente in der mündlichen Dichtungstradition entspricht.32 Aus diesem Grund fallen einem bei der Relektüre des Gedichts »Das große Lalula¯« 33 von Christian Morgenstern (1871–1914) aus seinen Galgenliedern, eingeleitet durch Zarathustras Wort: »Im ächten Manne ist ein Kind versteckt: das will spielen«,34 sofort Zeilen ins Auge wie Seiokronto – prafriplo und Hontraruru – miromente mit ihrem glossolalischen ntr wie auch die spätere Zeile Entepente leiolente, die dem Typus der Abzählverse, dem ente pente der Abzählreime, ziemlich nahe kommt. Und in der Tat waren es gerade Abzählreime aus Kinderspielen (wie ´eni be´ni, a´ni ba´ni), die das Gedicht »Va´nja-ba´nja« aus der berühmten Sammlung Nebesnye verbljuzˇata (›Himmlische Kameljunge‹) der russischen Avantgarde-Dichterin Elena Guro (1877–1913) inspiriert haben. Diese Allgegenwart und die Wechselbedingtheit von Wort und Wortkunst verleihen der aufkommenden Wissenschaft von den zwei untrennbaren Universalien Sprache und Dichtung ihre tiefe Einheit. 29 In der Poetik Gerard Manley Hopkins’ meint der Begriff des inscape die Geschlossenheit und Einheit des Gedichts. [Anm. d. Übs./Komm.] 30 Vgl. Hockett, A Leonard Bloomfield Anthology, S. 540. 31 Mit dem Prinzip der ›doppelten Artikulation‹ meint Jakobson die doppelte Gegliedertheit von Sprache auf der Ausdrucks- wie auf der Inhaltsseite, die beide arbiträr verbunden, aber logisch voneinander getrennt sind. [Anm. d. Übs./Komm.] 32 Vgl. Jakobson, »Novejsˇaja russkaja poe˙zija. Nabrosok pervyj: Podstupy k Chlebnikovu«, S. 353 f., und Liede, Dichtung als Spiel, Bd. 2, S. 221–255. [Anm. v. R.J. / L.W.] – Vgl. die deutsche Übersetzung von Jakobsons früher Studie in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 109–112. [Anm. d. Übs./Komm.] 33 Morgenstern, Humoristische Lyrik, S. 61. [Anm. d. Übs./Komm.] 34 A. a. O., S. 56. Im Literaturverzeichnis von Jakobson, The Sound Shape of Language, S. 281, wird auf die Erstausgabe der Galgenlieder von 1905 verwiesen. Das Motto findet sich in der oben angeführten Form erst ab der 3. Ausgabe (1908). Vgl. den Kommentar in Morgenstern, Humoristische Lyrik, S. 622 f. Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 85 (»Von alten und jungen Weiblein«). [Anm. d. Übs./Komm.]
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Roman Jakobson und Linda R. Waugh
Literatur Jakobsons und Waughs eigene Literaturangaben sind mit ° gekennzeichnet. ° Austin, John Langshaw: How to Do Things with Words. The William James
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Einige Schlußfolgerungen aus einem Gedicht von Cummings
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ben‹. Betrachtungen zur Komposition und Struktur der Wörter in einem Sonett von Joachim Du Bellay«, übs. v. Christoph Schamm u. Evi Zemanek, komm. v. Hannes Schneider, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 553–606. Jakobson, Roman Osipovicˇ u. Linda R. Waugh: »Inferences from a Cummings Poem« u. »Language and Poetry«, in: SW VIII, S. 225–233 u. S. 233 f. ° Jakobson, Roman Osipovicˇ u. Linda R. Waugh: The Sound Shape of Language, in: SW VIII, S. 1–315. – Die Lautgestalt der Sprache, übs. v. Christine Shannon u. Thomas F. Shannon, Berlin u. New York: Walter de Gruyter 1986 (= Janua Linguarum. Series Maior, Bd. 75). ° Liede, Alfred: Dichtung als Spiel. Studien zur Unsinnspoesie an den Grenzen der Sprache, 2 Bde., Berlin: de Gruyter 1962 u. 1966. ° Marchand, Hans: »Motivation by Linguistic Form: English ablaut and rimecombinations and their relevancy to word-formation«, in: Studia Neophilologica 29 (1957), S. 54–66. Morgenstern, Christian: Humoristische Lyrik, hg. v. Maurice Cureau, Stuttgart: Urachhaus 1990 (= Werke und Briefe. Stuttgarter Ausgabe, Bd. 3). Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Bd. 4: Also sprach Zarathustra, München: Deutscher Taschenbuch Verlag / Berlin u. New York: de Gruyter 1980. ° Reinhart, Tanya: »Patterns, Intuitions, and the Sense of Nonsense«, in: PTL – Journal of Descriptive Poetics and Theory of Literature 1 (1976), S. 85–103. ° Sapir, Edward: »Grading: A Study in Semantics« (1924), in: ders.: Selected Writings, hg. v. David G. Mandelbaum, Berkeley, CA: University of California Press 1949, S. 122–149. ° — »The Grammarian and His Language« (1924), in: ders.: Selected Writings, hg. v. David G. Mandelbaum, Berkeley, CA: University of California Press 1949, S. 150–159. ° Starobinski, Jean: Les mots sous les mots: Les anagrammes de Ferdinand de Saussure, Paris: Gallimard 1971. – Wörter unter Wörtern. Die Anagramme von Ferdinand de Saussure, übs. v. Henriette Beese, Frankfurt /Main, Berlin u. Wien: Ullstein 1980. ° Strang, Barbara M. H.: Modern English Structure, 2. Aufl. New York: Arnold 1968. ° Tamir-Ghez, Nomi: »Binary Oppositions and Thematic Decoding in E. E. Cummings and Eudora Welty«, in: PTL – Journal of Descriptive Poetics and Theory of Literature 3 (1978), S. 235–248.
Roman Jakobson
Nachtrag zur Diskussion um die Grammatik der Poesie 1 Übersetzung aus dem Französischen Elvira Glaser und Hugo Stopp
Übersetzung aus dem Englischen Bernhard Teuber und Britta Brandt
Kommentar Hendrik Birus, Britta Brandt und Bernhard Teuber 1973 veröffentlichte der aus Bulgarien stammende Sprach- und Literaturforscher Tzvetan Todorov in den E´ditions du Seuil einen »Questions de poe´tique« überschriebenen Sammelband, der auf Französisch Roman Jakobsons in unterschiedlichen Sprachen verfaßte und verstreut erschienene Aufsätze zu Themen des Verhältnisses von Linguistik und Poetik sowie konkrete Analysen zu Gedichten aus mehreren Sprachen und Literaturen versammelte. Inhaltlicher Fokus war die programmatische Verschränkung einer ›Poesie der Grammatik‹ mit einer ›Grammatik der Poesie‹, die schon Gegenstand des entsprechend betitelten Vortrags »Poe˙zija grammatiki i grammatika poe˙zii« (1960) war und 1981 dem dritten Band der »Selected Writings« als Obertitel diente. Jakobson hatte im Jahre 1972 eine Professur am Colle`ge de France in Paris inne und nützte die Gelegenheit der Buchpublikation durch Todorov, die dort gehaltenen Vorlesungen in die gebündelte Form eines Originalartikels zu gießen, der sich unter dem Titel »Postscriptum« 2 nach Art einer Retractatio mit 1
2
Vorlage: Jakobson, Roman Osipovicˇ: »Zur Diskussion um die Grammatik der Poesie«, übs. v. Elvira Glaser u. Hugo Stopp, in: Sprachwissenschaft 6 (1981), S. 245– 274; ergänzt um die Schlußpassage aus Jakobson, Roman Osipovicˇ: »Retrospect«, in: SW III, S. 765–789, hier: S. 785–788. [Anm. d. Komm.] Vgl. Jakobson, »Postscriptum«, in: ders., Questions de poe´tique, S. 485–504. [Anm. d. Komm.]
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Roman Jakobson
systematischen Grundfragen seines Ansatzes, vor allem aber mit der Debatte um die eigene interpretatorische Praxis auseinandersetzte, die sich an den Analysen zu Baudelaires Sonett »Les chats« (zusammen mit dem Ethnologen Claude Le´vi-Strauss) sowie zum vierten »Spleen«-Gedicht »Quand le ciel bas et lourd…« entzündet hatte. Beide Artikel waren in Frankreich an höchst prominenten Orten erschienen (die »Les chats«-Studie 1962 in der anthropologischen Fachzeitschrift »L’Homme«, die »Spleen«-Untersuchung 1967 in einer Nummer der zunächst strukturalistischen, alsbald aber poststrukturalistischen Hauszeitschrift »Tel Quel«) 3 und hatten auf internationaler Ebene eine ebenso überwältigende wie kontroverse Resonanz ausgelöst, die in der Geschichte der Literaturkritik des 20. Jahrhunderts ihresgleichen suchen dürfte. Jakobson beabsichtigt mit seinem »Postscriptum«, die eigene Methode nochmals zu verdeutlichen und gegen die zwischenzeitlich erhobenen Angriffe zu verteidigen. 4 Forschungsgeschichtlich siedelt sich die Debatte an einer zweifachen Grenze an: Einerseits mußte die strukturalistische Analyse auch in den frühen 1970er Jahren immer noch vor einer stärker traditionellen Literaturbetrachtung in Schutz genommen werden, welche die strukturalistische Wende nicht wirklich mitvollzogen hatte oder mit großer Skepsis beurteilte; andererseits waren zwischenzeitlich Stimmen laut geworden, die sich im Grunde genommen bereits jenseits des Strukturalismus anzusiedeln suchten und die, wie die Zukunft zeigen sollte, eher der Dekonstruktion oder dem sogenannten Poststrukturalismus verpflichtet waren, ihnen zumindest den Weg bereiteten. Kann für die erstgenannte Gruppe der französische Sprachund Literaturforscher Georges Mounin stehen, mit dessen Kritik sich Jakobson auseinandersetzt, so stehen für die zweitgenannte Gruppe die Namen von Michael Riffaterre, dessen Einwände Jakobson ebenfalls ausführlich zu widerlegen sucht, und Jonathan Culler, auf den er in einer polemischen Coda eingeht, die den Abschluß der englischsprachigen Fassung des Artikels bildet, der 1981 unter dem Titel »Retrospect« [›Rückblick‹] den dritten Band der »Selected Writings« beschloß. Die Teilnahme an der Auseinandersetzung um die strukturalistische Methode der Gedichtinterpretation, als deren rechtmäßiger Gründungsvater und 3
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Vgl. Jakobson /Le´vi-Strauss, »›Les Chats‹ de Charles Baudelaire«, und Jakobson, »Une Microscopie du dernier ›Spleen‹ dans Les Fleurs du Mal«, sowie die Übersetzungen beider Aufsätze in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 250–287 u. 288– 318. [Anm. d. Komm.] Eine Sammlung einschlägiger Stellungnahmen und Kritiken ist herausgegeben worden von Maurice Delcroix und Walter Geerts: »Les Chats« de Baudelaire. Une confrontation des me´thodes. Zum Konzept einer Grammatik der Poesie vgl. weiterhin Werth, »Roman Jakobson’s Verbal Analysis of Poetry«. [Anm. d. Komm.]
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autorisierter Garant sich Jakobson im vorliegenden Aufsatz präsentiert, gestattete es Forschern einer jüngeren Generation, sich innerhalb der ›res publica litterarum‹ höchst effektvoll zu positionieren. Daß Jakobson gerade Fachgelehrte wie Mounin, Riffaterre und Culler eines regelrechten Schlagabtausches für würdig erachtet, beweist, mit welch sicherem Gespür er den Rang und die Einflussmöglichkeiten seiner Gegner einzuschätzen vermochte. Auch ist zweifelsohne der Nachdruck berechtigt, mit dem er auf der Notwendigkeit beharrt, daß eine jede Gedichtinterpretation die grammatische Faktur des zugrunde liegenden Textes in all ihren Dimensionen zu erfassen habe, daß man also nicht an den grammatischen, will sagen: sprachlichen Grundlagen vorbeilesen dürfe; denn all dies ist mit der Devise einer ›Grammatik der Poesie‹ offenkundig gemeint. In seinem weiteren Verlauf gibt der Artikel zu erkennen, daß Jakobsons Gegenspieler mit einer gewissen Unerbittlichkeit auf eben jene blinden Flekken hinzudeuten scheinen, die seine vorausgegangenen Analysen auf Grund ihres methodologischen Rigorismus notgedrungen haben. Eingeklagt wird von der anderen Partei eine noch sehr viel weiter gehende Berücksichtigung der semantischen Komponente und ihrer Verästelungen, die Einbeziehung der möglichen Konnotationen, die erotische Lesbarkeit der evozierten Bilder und die Kontextualisierung der Bedeutung in der Lebenswelt sowie im kulturellen Wissen des Publikums. Wenn Jakobson demgegenüber auf dem Primat der phonologischen und der syntaktischen Ebene besteht, wirkt die Kontroverse auf den heutigen Betrachter manchmal wie der berühmte ›dialogue des sourds‹, wo beide Gesprächspartner einander nicht verstehen können (und wohl auch nicht verstehen wollen). Hierbei entbehrt es nicht der Ironie, daß Jakobson dank seinem Status als arrivierter und international reputierter ›elder scholar‹ mit aller Verve Figuren wie Mounin, der in Frankreich seinen Weg als Linguist gemacht hatte, oder Riffaterre und Culler, die bald schon zur ersten Garde der nordamerikanischen Literaturkritik aufrücken und internationale Wirkung erzielen sollten, regelrecht abkanzelt. Aus einer zugegebenermaßen ›moderneren‹ Sicht könnte man daran erinnern, daß der poetische Text selbst auf Grund der ›double articulation du langage‹, die Andre´ Martinet in seinen Arbeiten hervorgehoben hat, zugleich eine phonologisch-syntaktische und eine semantische (wohl auch pragmatische) Dimension enthalten muß, die nebeneinander herlaufen und von Natur aus nie zur Deckung gelangen können. Jakobsons ebenso eindrucksvolle wie suggestive These aus seinem Aufsatz »Linguistics and Poetics«, die auch der Argumentation in seinem »Postscriptum« unausgesprochen zugrunde liegt, daß nämlich die ›poetische Funktion‹ der Sprache unbestreitbare Äquivalenzen zwischen von Haus aus divergenten (weil doppelt artikulierten) Ebenen
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herzustellen imstande sei, die es dem Interpreten gestatteten, mit eindeutiger Folgerichtigkeit vom einen auf das andere zu schließen, etwa von der Phonologie und Syntaktik auf die Semantik, gewinnt so den Charakter und den nostalgischen Charme einer ›petitio principii‹, die in den 1960er Jahren die intellektuellen Avantgarden und die strukturalistische Intelligenzija auf ihrer Seite zu haben schien, die aber unter Literaturkritikern stets umstritten geblieben und von vielen nicht assimiliert worden ist. Gott sei Dank, ist man rückblickend versucht zu sagen, kam es zu solch produktivem Widerstreit, dessen Niederschlag nicht zuletzt Jakobsons polemischer Rundumschlag in seinem »Postscriptum« ist. Denn wäre die Methode der strukturalistischen Gedichtanalyse wirklich exhaustiv gewesen und von der wissenschaftlichen Gemeinschaft als alleingültige kanonisiert worden, so wäre es Jakobson gelungen, sowohl die Literaturkritik als auch die Literaturforschung ein für allemal zu Ende (das heißt: zur Strecke) zu bringen, und die poetologische Rede wäre notwendigerweise versiegt. Eine englische Fassung von Jakobsons französischsprachigem »Postscriptum« erschien erst 1980 in der nordamerikanischen Zeitschrift »Diacritics« unter dem Titel »A Postscript to the Discussion on the Grammar of Poetry« – und zwar noch ohne die gegen Culler gerichtete Polemik. Diese Version bildete zusammen mit dem französischen Original die Grundlage der kommentierten Übersetzung ins Deutsche durch Elvira Glaser und Hugo Stopp. Sie wurde 1981 unter dem Titel »Zur Diskussion um die Grammatik der Poesie« von Rudolf Schützeichel in der Zeitschrift »Sprachwissenschaft« herausgegeben und wird im folgenden mit geringfügigen Änderungen übernommen und nach Möglichkeit den Konventionen dieses Sammelbandes angepaßt; sie ist um die Schlußabschnitte aus dem »Retrospect« zu Band III der »Selected Writings« ergänzt. Bernhard Teuber
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Des coups d’e´pe´e, Messieurs, des coups d’e´pe´e! Mais pas de coups d’e´pingle! Streiche mit dem Schwert, meine Herren, Streiche mit dem Schwert! Aber nicht Stiche mit der Nadel! Alphonse Daudet, Tartarin de Tarascon, 1872 (ein *paronomastisches Motto) 5
Die sprachwissenschaftliche Untersuchung der Poesie ist in zweifacher Hinsicht von Bedeutung. Einerseits darf die Wissenschaft von der Sprache, die ja die sprachlichen Zeichen in all ihren Anordnungen und Funktionen untersuchen soll, die poetische Funktion nicht vernachlässigen, welche zusammen mit den anderen sprachlichen Funktionen von frühester Kindheit an im Sprechen jedes menschlichen Wesens vorhanden ist und eine wesentliche Rolle bei der Strukturierung von Texten spielt. Diese Funktion bringt eine selbstbezügliche Haltung gegenüber den sprachlichen Zeichen in ihrer Verbindung von signans und signatum mit sich und erlangt eine dominierende Stellung in der poetischen Sprache. Letztere erfordert die gewissenhafteste Untersuchung durch den Sprachwissenschaftler, zumal der *Vers den universellen Phänomenen der menschlichen Kultur anzugehören scheint. Der Heilige Augustinus befand sogar, daß man ohne Erfahrung in der Poetik kaum fähig sei, die Aufgaben eines guten Grammatikers zu erfüllen.6 Andererseits setzt jede Forschung auf dem Gebiet der 5
6
Das Motto ist gleichlautend zur Überschrift des 11. Kapitels aus der komisch-satirischen Erzählung Les Aventures prodigieuses de Tartarin de Tarascon [›Die wundersamen Abenteuer des Tartarin von Tarascon‹] (1872) des provenc¸alischen Heimatschriftstellers Alphonse Daudet (1840–1897). Als sich Bewohner von Tarascon eines Morgens vor dem Haus des prahlerischen Tartarin versammeln, um ihn mit einem Spottlied zu foppen, ruft dieser ihnen vom Fenster herab die obige Aufforderung zu. Die zweifach wiederholte Wortfolge »des coups d’e´pe´e« [›Hiebe mit dem Schwert‹] und die Reihung »(pas) de coups d’e´pingle« [›(keine) Stiche mit der Stecknadel‹] sowie die Lautfolgen »Messieurs!« und »mais pas« werden von Jakobson auf Grund der Lautähnlichkeit ausdrücklich als Paronomasien gekennzeichnet. Zur Bedeutung der Paronomasie als einer zentralen Figur der rekurrenten Lautstruktur vgl. Jakobson, »Linguistics and Poetics«, S. 43 f., sowie die dt. Übs. in dieser Ausgabe, Bd. 1, S. 193–195. [Anm. d. Komm.] Im ersten Buch seiner Bekenntnisse erinnert Augustinus daran, wie er als heranwachsender Schüler dank dem Grammatikunterricht mit Liebe zur römischen Dichtung erfüllt wurde, insbesondere zur Aeneis des Vergil. Dies veranlaßte ihn wohl auch dazu, die Rednerlaufbahn einzuschlagen (vgl. Confessiones I,13 f.). Nach seiner Be-
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Poetik die Vertrautheit mit der wissenschaftlichen Untersuchung der Sprache voraus, da die Poesie eine Wortkunst 7 ist und folglich in erster Linie einen besonderen Gebrauch der Sprache impliziert. Gegenwärtig setzen sich Sprachwissenschaftler, die es wagen, die poetische Sprache zu untersuchen, einem Hagel von Vorwürfen von seiten der Literaturwissenschaftler aus, von denen einige hartnäckig das Recht der Sprachwissenschaft bestreiten, die Probleme der Poesie zu erforschen. Bestenfalls schlagen sie vor, dieser Wissenschaft in bezug auf die Poetik die Stellung einer Hilfsdisziplin zuzuweisen. All diese Einschränkungen und Verbote gründen sich auf ein veraltetes Vorurteil, das entweder der Sprachwissenschaft ihr wesentliches Ziel nimmt, nämlich die Untersuchung der sprachlichen Form in bezug auf ihre Funktionen,8 oder der Sprachwissenschaft nur eine der verschiedenen Aufgaben der Sprache zuweist, nämlich die referentielle Funktion.9 Andere Vorurteile, die ihrerseits aus einer Fehleinschätzung der heutigen Sprachwissenschaft und ihrer Möglichkeiten resultieren, lassen die Kritiker schwerwiegende Fehler begehen. So ist die Vorstellung, daß die sprachwissenschaftliche Untersuchung sich innerhalb der engen Grenzen des Satzes zu bewegen habe 10 und folglich der Sprachwissenschaftler unfähig sei, den Aufbau von Gedichten zu untersuchen, widerlegt durch die voranschreitende Untersuchung multinuklearer Äußerungen und durch die Diskursanalyse als eine der Aufgaben, die heutzutage in der Sprachwissenschaft an erster Stelle steht. Gegenwärtig beschäftigen den Sprachwissenschaftler in erster Linie semantische Probleme auf allen sprachlichen Ebenen, und wenn er versucht, zu beschreiben, woraus ein Gedicht gemacht ist, so erscheint dessen Bedeutung – kurz, der semantische Aspekt des Gedichts – eben als ein integrierender Bestandteil des Ganzen, und man mag sich fragen, warum es immer noch Kritiker gibt, die in der Vorstellung leben, die semantische Analyse einer poetischen Botschaft bedeute eine Überschreitung der sprachwissenschaftlichen Betrachtungsweise. Wenn das Gedicht Fragen aufwirft, die über seine sprachliche Textur hinausgehen, so betreten wir – und die Wissenschaft von der Sprache gibt uns eine Unmenge von Beikehrung zum christlichen Glauben wandte sich Augustinus allerdings wieder von der Hochschätzung der Dichtkunst ab. [Anm. d. Komm.] 7 Vgl. Jakobson, »Linguistics and Poetics«, S. 18, sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 156. [Anm. d. Komm.] 8 Vgl. a. a. O., S. 21; dt. Übs., S. 162. [Anm. d. Komm.] 9 Vgl. a. a. O., S. 22; dt. Übs., S. 163. [Anm. d. Komm.] 10 Vgl. a. a. O., S. 20 f.; dt. Übs., S. 161. [Anm. d. Komm.]
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spielen dafür – einen umfassenderen konzentrischen Kreis, den der Semiotik, die die Sprachwissenschaft als ihren grundlegenden Bestandteil mit einschließt. Schließlich ist das »universe of discourse« [›Diskursuniversum‹],11 wie Charles Sanders Peirce 12 sagt, das heißt das Verhältnis zwischen dem Text und der Umwelt, auf die er referiert und die Sender und Empfänger gemeinsam ist, ein dringliches Problem, das den poetischen Text ebenso betrifft wie alle anderen Varietäten sprachlicher Äußerungen. Dieses für das Verständnis von Texten unumgängliche Problem kann den Forschern, die der Devise linguistici nihil a me alienum puto treu sind,13 schwerlich fremd und gleichgültig bleiben. Es ist immer gute sprachwissenschaftliche Tradition gewesen, sogar solche Bestandteile des Textes wie die Einzelwörter mit Bezug auf die Dinge zu behandeln (gemäß dem Schlagwort Wörter und Sachen 14 ). 11 Vgl. a. a. O., S. 19; dt. Übs., S. 158. [Anm. d. Komm.] 12 Peirce, Collected Papers II, S. 536. 13 ›Von nichts Linguistischem meine ich, daß es mir fremd ist.‹ Die lateinische Devise ist dem berühmten Spruch nachgebildet, den der alte Kaufmann Chremes in Terenz’ Komödie Heautontimorumenos (›Der Mann, der sich selbst bestraft‹ I i, v. 77) tut: »Homo sum: humani nil a me alienum puto.« (›Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches gilt mir als fremd.‹) Die Formel findet sich schon zitiert bei Cicero (De officiis I,30, De legibus I,33) und bei Seneca (Epistulae morales 95,53), und sie wurde damit zum geflügelten Wort. Auf das Adagium beruft sich noch Baudelaire in seinem Artikel über The´ophile Gautier (Œuvres comple`tes, Bd. 2, S. 127 f.; Sämtliche Werke /Briefe, Bd. 5, S. 111) und in Pauvre Belgique (Œuvres comple`tes, Bd. 2, S. 848; Sämtliche Werke /Briefe, Bd. 7, S. 323). – Bei der Adjektivbildung linguisticus, -a, -um ebenso wie beim zugrunde zu legenden Nomen linguista, -ae, m. handelt es sich um Neologismen (das Wort linguiste wird in Frankreich erst seit 1826 gebräuchlich), die man durchaus als Barbarismen wird bezeichnen dürfen. Klassisches (und damit besseres) Latein wäre es gewesen zu sagen: Grammaticus sum: grammatici nil a me alienum puto; denn für die Antike ist der grammaticus, wörtlich der Sprach- und Literaturlehrer, natürlich immer auch der Fachmann für alle sprachwissenschaftlichen und sprachhistorischen Fragen. Es ist deshalb verwunderlich, daß Jakobson nicht selbst auf diese naheliegende Lösung gekommen ist, geht es ihm doch in seinem Aufsatz gerade um Apologie und Rehabilitierung einer ›Grammatik der Poesie‹. – Was Zitate aus Baudelaires Schriften betrifft, so hat Jakobson nach eigener Auskunft die Ausgabe der Œuvres comple`tes, herausgegeben und kommentiert von Y. G. Le Dantec (1954), in der von C. Pichois durchgesehenen und vervollständigten Auflage, Paris 1961, verwendet (vgl. Jakobson, »Zur Diskussion über die Grammatik der Poesie«, S. 249, Anm. 9). Hier wurde, sofern nichts Gegenteiliges vermerkt ist, auf die neuere, erstmalig 1975/76 erschienene zweibändige Ple´iade-Ausgabe der Œuvres comple`tes umgestellt. [Anm. d. Komm.] 14 Der Ausdruck »Wörter und Sachen« erscheint im Original deutsch. Mithin ist nicht nur eine Anspielung auf die seit der antiken Rhetorik bekannte Fügung res et verba
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Roman Jakobson
Die Poetik kann definiert werden als die genaue sprachwissenschaftliche Untersuchung der poetischen Funktion im Kontext der sprachlichen Botschaften im allgemeinen und in der Poesie im besonderen. Die Tendenz, ›eine poetische Ausdrucksweise als anomal zu charakterisieren‹,15 ist, obwohl sie den Sprachwissenschaftlern von einigen Kritikern unterstellt wird, in Wirklichkeit lediglich ein anomaler Standpunkt, der ja übrigens im Laufe der Jahrtausende, seit die Wissenschaft von der Sprache existiert und sich entwickelt, nur selten und beiläufig vorgekommen ist. Die ›Literaturhaftigkeit‹ (russ. literaturnost’, engl. literariness, frz. litte´rarite´ ),16 mit anderen Worten die Transformation eines sprachlichen Aktes in ein poetisches Werk, und das System von Verfahren, die diese Transformation bewirken, ist das Thema, das der Sprachwissenschaftler bei seiner Analyse von Gedichten entwickelt. Entgegen den Beschuldigungen der Literaturkritik führt uns diese Methode zu einer Spezifizierung der untersuchten ›literarischen Akte‹ und öffnet so den Weg zu Verallgemeinerungen, die sich von selbst anbieten. Obwohl die Poetik, die das Werk eines Dichters durch das Prisma der Sprache interpretiert und die *dominierende Funktion in der Poesie ungegeben, sondern auch auf die »Zeitschrift für indogermanische Sprachwissenschaft, Volksforschung und Kulturgeschichte« aus dem Heidelberger Carl-Winter-Verlag mit dem Obertitel Wörter und Sachen, die von 1909–1937 und dann in einer Neuen Folge von 1938 bis 1943/44 erschienen ist. [Anm. d. Komm.] 15 Eine unfreundliche (hier keinem bestimmten Theoretiker zugeschriebene) Formulierung des von Aristoteles bis in die Gegenwart vertretenen Norm-AbweichungsModells der poetischen Sprache. [Anm. d. Komm.] 16 Nach der Auffassung der Russischen Formalisten ist die Untersuchung der literaturnost’ (›Qualität des Literarischen‹) die wesentliche Aufgabe der Literaturwissenschaft. Dieser Begriff wurde 1919 von Jakobson in seinem Moskauer Vortrag über die neueste russische Poesie eingeführt und später auch von Boris E˙jchenbaum gebraucht. Vgl. Jakobson, Novejsˇaja russkaja poe˙zija, Wiederabdruck, S. 305, u. die deutsche Übersetzung »Die neueste russische Poesie«, in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 16; sowie E˙jchenbaum, »Literaturnyj byt – Das literarische Leben«, S. 474–477. Der Terminus literaturnost’ wird englisch als literariness, französisch als litte´rarite´ und italienisch sowie spanisch als letterarieta` bzw. literariedad wiedergegeben. Die angemessenste deutsche Bildung ist demnach (wie von Helene Imendörfer vorgeschlagen) ›Literaturhaftigkeit‹ in Analogie zur Hybridbildung des russischen Vorbilds, die ein aus dem Lateinischen entlehntes Fremdwort mit einem einheimischen (slavischen) Suffix kombiniert (wie dies ja auch im Englischen nachgeahmt wird). Neben ›Literaturhaftigkeit‹ findet sich im Deutschen oft die etymologisch wie stilistisch problematische Prägung ›Literarität‹, ja sogar ›Literarizität‹, weiterhin dann auch der Terminus ›Poetizität‹, der allerdings eine engere Bedeutungsextension als ›Literaturhaftigkeit‹ zu besitzen scheint, da er lediglich die Qualität poetischer, das heißt lyrischer Rede im engen Sinn meint. [Anm. d. Komm.]
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tersucht, per definitionem den Ausgangspunkt bei der Auslegung von Gedichten darstellt, versteht es sich von selbst, daß deren dokumentarischer Wert, sei er psychologischer, psychoanalytischer oder soziologischer Art, für die Erforschung offen bleibt – natürlich durch wirkliche Spezialisten in den fraglichen Disziplinen. Aber diese Spezialisten sind nichtsdestoweniger verpflichtet, die Tatsache zu berücksichtigen, daß die Dominante 17 die anderen Funktionen des Werkes beeinflußt und daß alle übrigen Prismen demjenigen der poetischen Textur des Poems untergeordnet sind. Diese kursiv gedruckte Tautologie bewahrt ihre ganze Überzeugungskraft. Die Poesie läßt die Strukturelemente aller sprachlichen Ebenen hervortreten, vom Netz der *distinktiven Eigenschaften bis hin zum Aufbau des ganzen Textes. Die Beziehung zwischen signans und signatum (oder in Saussures Übersetzung der traditionellen stoischen Termini, zwischen signifiant und signifie´ ) 18 schließt alle diese Ebenen ein und wird besonders wichtig im Vers, in dem die selbstbezügliche Natur der poetischen Funktion ihren Höhepunkt erreicht. Es handelt sich, wie Baudelaire sagt, um eine komplexe und unteilbare Ganzheit,19 in der alles »significatif, re´ciproque, converse, correspondant« [›bedeutungsvoll, wechselseitig, sich gegenseitig zugewandt, einander entsprechend‹] 20 wird und in der ein andauerndes Zusammenspiel von Laut und Bedeutung 21 eine Analogie zwischen den beiden Seiten herstellt, eine Beziehung, die entweder paronomastisch und *anagrammatisch oder bildhaft [figurative] (zuweilen onomatopoetisch) ist. Niemand, der aufgeschlossen an die Beschäftigung mit der Poesie herangeht, würde die Legitimität und Bedeutung von Monographien leugnen, die Fragen der Metrik, der Strophik, der *Alliterationen, der *Reime oder der Frage nach dem Vokabular des Dichters gewidmet sind, 17 Vgl. Jakobsons Aufsatz »The Dominant«; ferner: Jakobson, »Linguistics and Poetics», S. 18, sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 168. [Anm. d. Komm.] 18 Vgl. Jakobson, »Linguistic Glosses to Goldstein’s ›Wortbegriff‹«, S. 267 f.; ferner ders., »Quest for the Essence of Language«, S. 345. [Anm. d. Komm.] 19 »[…] une complexe et indivisible totalite´« (Baudelaire, »Richard Wagner et Tannhäuser a` Paris«, in: ders., Œuvres comple`tes, Bd. 2, S. 784; Sämtliche Werke /Briefe, Bd. 7, S. 97). [Anm. d. Komm.] 20 Baudelaire, »Re´flexions sur quelques-uns de mes contemporains: I. Victor Hugo«, in: ders., Œuvres comple`tes, Bd. 2, S. 133; Sämtliche Werke /Briefe, Bd. 7, S. 141. [Anm. d. Komm.] 21 Vgl. Jakobson, »Linguistics and Poetics«, S. 38 u. 44, sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 186 f. u. 195); ferner Jakobsons inzwischen publizierte »Six lec¸ons sur le son et le sens«. [Anm. d. Komm.]
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wohingegen die verschiedenen Probleme der grammatischen Mittel des Dichters zum größten Teil nahezu unbeachtet geblieben sind. Wenn schließlich Versuche aufkamen, diesem eingewurzelten Desinteresse entgegenzutreten, so trafen derartige Bemühungen auf ermutigendes Verständnis von seiten der Wissenschaftler mit einem wirklichen Sinn für Poesie und ihre Erforschung. Unter jenen Wissenschaftlern mag es Differenzen bezüglich der literarischen Standpunkte gegeben haben, aber eine echte Einsicht in die eigentlichen Probleme der Wortkunst und ihrer sprachlichen Grundlagen hat sie dazu veranlaßt, unsere Bemühungen zu begrüßen, die wesentlichen Verbindungen zwischen den Strukturproblemen der Sprache und des literarischen Schaffens aufzudecken. Die allgemeine Sachlage wurde von dem Phänomenologen Maurice MerleauPonty treffend formuliert, der, wie ich mich lebhaft erinnere, gegen Mitte unseres Jahrhunderts großes Interesse an den neuesten Errungenschaften und Perspektiven sprachwissenschaftlicher Forschung zeigte: Chez l’e´crivain la pense´e ne dirige pas le langage du dehors: l’e´crivain est lui-meˆme comme un nouvel idiome qui se construit, s’invente des moyens d’expression et se diversifie selon son propre sens. Ce qu’on appelle poe´sie n’est peut-eˆtre que la partie de la litte´rature ou` cette autonomie s’affirme avec ostentation. ›Beim Schriftsteller wird die Sprache nicht von außen her durch das Denken angeleitet: der Dichter ist wie ein neues sich selbst konstituierendes Idiom, das sich neue Ausdrucksmittel erfindet und je nach Sinn abwandelt. Was man Poesie nennt, ist vielleicht der einzige Bezirk der Literatur, in dem sich die sprachliche Autonomie ostentativ behauptet.‹ 22
Es seien einige inspirierende Ermutigungen angeführt, die wir als Antwort auf unsere Versuche, Sprachwissenschaft und Poetik immer enger zu verknüpfen, erhielten. Roland Barthes begrüßt, daß es uns gelungen sei, »eine der anspruchvollsten Wissenschaften mit der kreativen Welt zu verbinden«.23 David Lodge,24 selbst Romancier und Literaturtheoretiker, zeigt einen weitreichenden und vielversprechenden Weg, unsere an der 22 Merleau-Ponty, La Prose du Monde, S. IV. [Anm. v. R.J.] – Dt. Übs.: MerleauPonty, Die Prosa der Welt, S. 17. [Anm. d. Komm.] 23 Barthes, »Avant-propos«, S. 9. [Anm. v. R.J.] – Jetzt in: Barthes, Œuvres comple`tes, Bd. 5, S. 491. [Anm. d. Komm.] 24 Lodge, The Modes of Modern Writing: Metaphor, Metonymy, and the Typology of Modern Literature. [Anm. v. R.J.] – David John Lodge (geb. 1935) ist hervorgetreten als Literaturwissenschaftler und als Autor von ironisch-satirischen college novels (›Universitätsromanen‹) wie Changing Places (1975) oder Small World (1984). [Anm. d. Komm.]
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Poesie entwickelten Verfahrensweisen auf die Prosa anzuwenden. Jurij Lotman 25 verteidigt die neuerliche Erforschung der künstlerischen Funktion grammatischer Kategorien, die bis zu einem gewissen Grad der Wechselwirkung geometrischer *Strukturen in den bildenden Künsten gleichwertig ist. In seiner erhellenden Abhandlung »Linguistics into Poetics« akzeptiert Ivor Armstrong Richards als Meister der Sprache und Poesie die dringende Notwendigkeit, auch jene poetischen Konstituenten aufzudecken, auf die der Leser reagiere, ohne sich ihrer bewußt zu sein, und eine »ability to read better, more discerningly and justly« [›Fähigkeit, genauer, kritischer und richtiger zu lesen‹] zu fördern.26 Trotz theoretischer Differenzen erkennt Benvenuto Terracini,27 der gleichermaßen Sprache und Poesie Gerechtigkeit widerfahren läßt, die grammatische Betrachtungsweise von Baudelaires *Sonett Les Chats [›Die Katzen‹] an, einen der ersten Versuche, die Grammatik der Poesie zu erschließen.28 Während solche Forscher – die eine wirkliche Beherrschung sprachwissenschaftlicher und literarischer Probleme in sich vereinen – den ersten Schritten, die unternommen wurden, um die Brücke zwischen Poesie und Grammatik zu überschreiten, mit klaren Überlegungen begegnet sind, bemühen sich die Kritiker, die nicht mit der strukturalen Analyse der Sprache vertraut sind, uns zu überzeugen, daß die von der Wissenschaft von der Sprache entwickelten »narrow, rigorous methods« [›beschränkten, strikten Methoden‹], die der Sprachwissenschaftler in die Poetik einzuführen versucht, »could never catch the subtle, indefinable je ne sais quoi that poetry is supposed to be made of« [›niemals das subtile, undefinierbare je ne sais quoi werden einfangen können, aus welchem die Dichtung wohl besteht‹].29 Aber dieses je ne sais quoi [›ich weiß nicht was‹] 30 bleibt 25 Lotman, Struktura chudozˇestvennogo teksta, S. 195. [Anm. v. R.J.] – Dt. Übs.: Lotman, Die Struktur des künstlerischen Textes, S. 245 f. [Anm. d. Komm.] 26 Richards, Poetries. Their Media and Ends, S. 39–49, hier S. 49. 27 Terracini, »Stilistica al bivio? Storicismo versus strutturalismo«, bes. S. 24–37. 28 Vgl. Jakobson /Le´vi-Strauss, »›Les Chats‹ de Charles Baudelaire«; dt. Übs. in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 250–287. [Anm. d. Komm.] 29 Riffaterre, »Describing Poetic Structures«, S. 213. [Anm. v. R.J.] – Michael Riffaterre (geb. 1924), aus Frankreich stammender Literaturwissenschaftler und Begründer der ›Strukturalen Stilistik‹, der seit den 1960er Jahren in den Vereinigten Staaten lehrte. [Anm. d. Komm.] 30 Die Fügung je ne sais quoi (›ich weiß nicht was‹) ist dem lateinischen nescio quid nachgebildet, das in den Texten der Antike des öfteren im gemeinsprachlichen Sinn begegnet (deutsche Entsprechung: ›ein gewisses Etwas‹). Schon bei Augustinus, dann auch bei den Mystikern, wird das nescio quid unter dem Einfluß einer negativen Theologie auf die Unbegreiflichkeit des göttlichen Geheimnisses selbst bezogen. In der Volkssprache treten dem Ausdruck später das italienische non so che
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gleicherweise unfaßbar bei der wissenschaftlichen Untersuchung der Sprache, der Gesellschaft, des Lebens und sogar der letzten physikalischen Geheimnisse der Materie. Es ist wirklich nutzlos, das je ne sais quoi den unübersteigbaren Annäherungsprozessen der Wissenschaft anmaßend gegenüberzustellen. Im Laufe der letzten Jahrzehnte haben sich meine Untersuchungen auf dem Gebiet der Poetik vorrangig auf das Studium dessen konzentriert, was der scharfsinnige Entdecker im Bereich der Poesie und Poetik, Gerard Manley Hopkins, als »figures of grammar« [*›Figuren der Grammatik‹] definiert hat,31 einen Bereich innerhalb der Probleme der Sprache und der Wortkunst, der bis vor kurzem praktisch unerforscht war. Es sei wiederholt, daß niemand den Monographien, die nur Probleme des Reims oder des *Metrums untersuchen, die Absicht unterstellen würde, die Poetik auf die Metrik oder auf die Reimkunst zu beschränken. Dennoch haben einige Polemiker die unbegründete These aufgestellt, daß wir in unseren Untersuchungen, die der grammatischen Gestaltung der Gedichte gewidmet sind, erpicht darauf seien, die Struktur eines literarischen Werkes auf eine Überbewertung der grammatischen Kategorien zu reduzieren, und daß wir die ganze suggestive Kraft der Poesie den Korrelationen zwischen den morphologischen Klassen und den syntaktischen *Parallelismen oder *Kontrasten zuschrieben. Die pleonastische Feststellung eines der streitbarsten Diskussionsteilnehmer ist sicherlich der Wahrheit näher: »No grammatical analysis of a poem can give us more than the grammar of the poem.« [›Keine grammatikalische Analyse eines Gedichtes kann uns mehr geben als die Grammatik eines Gedichtes.‹] 32 Indessen ist die angeblich logische Folgerung, die er aus dieser These zieht – die »irrelevance of grammar« (›Irrelevanz der Grammatik‹) 33 für die Poesie –, offensichtlich falsch. Entgegen der Versicherung von Kritikern, (Petrarca) oder das spanische no se´ que´ (San Juan de la Cruz) zur Seite. Als Chiffre für das Unbegreifliche erscheint das je ne sais quoi ab dem 16. Jahrhundert, vor allem aber im 17. Jahrhundert in französischen Texten. Entspricht es im 17. Jahrhundert noch weithin dem, was sich dem rationalen Kalkül des esprit de ge´ome´trie (Pascal) entzieht, und bleibt damit eine theologische Lesbarkeit prinzipiell möglich, so wird das je ne sais quoi im 18. Jahrhundert entschieden anthropologisiert, und es verweist in den Texten der Empfindsamkeit, so etwa bei Marivaux, von nun an auf die Unverfügbarkeit des menschlichen Gefühls und der menschlichen Liebe. Vgl. Köhler: »Je ne sais quoi. Ein Kapitel aus der Begriffsgeschichte des Unbegreiflichen«. [Anm. d. Komm.] 31 Hopkins, The Journals and Papers, S. 267. [Anm. d. Komm.] 32 Riffaterre, »Describing Poetic Structures«, S. 213. 33 A. a. O., S. 206.
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daß Dichter sich nicht um grammatische Kategorien kümmern, hat Baudelaire selbst diese Art der Argumentation im voraus entschieden verurteilt, die, so merkwürdig das auch erscheinen mag, am nachdrücklichsten mit Bezug auf seine Gedichte vorgebracht wurde: »Die Grammatik, die trockene Grammatik selbst, wird so etwas wie eine beschwörende Hexerei.« 34 Eine scharfsinnige Charakterisierung der Wortarten beschließt die profession de foi [›Glaubensbekenntnis‹] 35 des Dichters in seinen Paradis artificiels [›Die künstlichen Paradiese‹]: »[…] die Wörter erstehen wieder auf, in Fleisch und Blut gehüllt, das Substantiv in seiner substantiellen Majestät, das Adjektiv, ein transparentes Kleidungsstück, das es bekleidet und es wie eine Lasur einfärbt, und das Verb, der Engel der Bewegung, der dem Satz den Schwung gibt.« 36 Der Autor der Fleurs du Mal kommt mehrmals auf die Vorstellung von der beschwörenden Hexerei, die von der Sprache im allgemeinen und von der poetischen Sprache im besonderen ausgeübt werde, zurück: »Es gibt im Wort, im Verbum etwas Geheiligtes, das uns daran hindert, daraus ein Glücksspiel zu machen. Mit der Sprache sachkundig umzugehen, heißt, eine Art beschwörende Hexerei zu betreiben.« 37 Das wohlüberlegte Veto des Dichters gegen jedes Glücksspiel setzt den kindischen Mutmaßungen der Kritiker ein Ende, die behaupten, daß »[…] the poem may contain certain structures which play no part in its functions and effect as a literary work of art« [›das Gedicht gewisse Strukturen beinhalten kann, die für seine Funktionen und Wirkung als literarisches Kunstwerk keine Rolle spielen‹].38 Die sprachwissenschaftliche 34 »La grammaire, l’aride grammaire elle-meˆme, devient quelque chose comme une sorcellerie e´vocatoire […]« (Baudelaire, Les Paradis artificiels, in: ders., Œuvres comple`tes, Bd. 1, S. 431; Sämtliche Werke /Briefe, Bd. 6, S. 90); von Jakobson als Motto zu »Une microscopie du dernier ›Spleen‹ dans Les fleurs du mal« verwendet. Vgl. o. S. 292. [Anm. d. Komm.] 35 Rousseau, »Profession de foi du vicaire savoyard«, in: ders., E´mile ou de l’e´ducation, S. 565–635; dt. Übs.: »Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars«, in: Rousseau, Emil oder über die Erziehung, S. 275–335. [Anm. d. Komm.] 36 »Les mots ressuscitent reveˆtus de chair et d’os, le substantif, dans sa majeste´ substantielle, l’adjectif, veˆtement transparent qui l’habille et le colore comme un glacis, et le verbe, ange du mouvement, qui donne le branle a` la phrase.« (Baudelaire, Les Paradis artificiels, in: ders., Œuvres comple`tes, Bd. 1, S. 431; Baudelaire, Sämtliche Werke /Briefe, Bd. 6, S. 90.) [Anm. d. Komm.] 37 »Il y a dans le mot, dans le verbe, quelque chose de sacre´ qui nous de´fend d’en faire un jeu de hasard. Manier savamment une langue, c’est pratiquer une espe`ce de sorcellerie e´vocatoire.« (Baudelaire, »The´ophile Gautier«, 3, in: ders., Œuvres comple`tes, Bd.. 2, S. 117 f.; Sämtliche Werke /Briefe, Bd. 5, S. 100.) [Anm. d. Komm.] 38 Riffaterre, »Describing Poetic Structures«, S. 202.
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Analyse, die notwendigerweise die Verschiedenartigkeit der sprachlichen Funktionen berücksichtigt und folglich ausgerichtet ist auf »the specificity of poetic language« [›den spezifischen Charakter poetischer Sprache‹],39 kann die typischen Strukturen, die diese Sprache charakterisieren, nicht verkennen. Damit steht Baudelaire, für den, wie The´ophile Gautier 40 es einschätzt, »les mots ont, en eux-meˆmes et en dehors du sens qu’ils expriment« [›die Wörter in sich selbst und außerhalb ihrer Bedeutung‹] (das heißt über ihre *lexikalische Bedeutung hinaus) »une beaute´ et une valeur propres« [›eine eigene Schönheit und einen eigenen Wert haben‹],41 dem oben erwähnten jüngeren Dichter und Theoretiker des letzten Jahrhunderts, G. M. Hopkins, sehr nahe, dem es gelungen ist, die besondere poetische Wichtigkeit der »figure of grammar« [›Figur der Grammatik‹] zu erkennen, welche nach Ausweis seiner Vortragsnotizen aus den Jahren 1873 und 1874 über Poesie und Vers »may be framed to be heard for its own sake and interest even over and above its interest of meaning« [›so gestaltet worden sein mag, daß sie um ihrer selbst willen und in ihrem eigenen Interesse zu Gehör gebracht wird und das Interesse an der Bedeutung überschießt‹].42 Die Frage nach der relativen Bedeutsamkeit der Rolle, die die grammatischen *Oppositionen in den analysierten Texten spielen, erhält eine adäquate Antwort durch die systematische Beobachtung der Verteilung der markierten und unmarkierten Oppositionen, ihrer Anhäufung und ihres Fehlens, ihrer Ausdehnung im Text und ihrer relativen Anzahl im Verhältnis zu den verschiedenen metrischen und strophischen Einheiten sowie zu den Reimen in ihrer Eigenart und Verschiedenheit und schließlich im Verhältnis zur ganzen Gestaltung eines gegebenen Gedichts. Im Gegensatz zu dem, was unser Kritiker über die Nutzlosigkeit des Bestrebens auf seiten des Interpreten denkt, die Verteilung der gramma39 Ebd. 40 The´ophile Gautier (1811–1872), Novellist, Romancier, Literaturkritiker und vor allem Lyriker, welcher ursprünglich der sogenannten ersten Generation der französischen Romantiker angehörte und später der Dichterschule der Parnassiens zugerechnet wurde. Baudelaire verehrte Gautier ganz außerordentlich und widmete ihm nicht nur zwei literaturkritische Artikel, die voll des Lobs sind, sondern auch die Fleurs du mal, in deren de´dicace er ihn als »poe`te impeccable« [›unfehlbarer Dichter‹] und »parfait magicien e`s lettres franc¸aises« [›vollendeter Magier der französischen Literatur‹] bezeichnete (Baudelaire, Œuvres comple`tes, Bd. 1, S. 3; Sämtliche Werke /Briefe, Bd. 3, S. 53). [Anm. d. Komm.] 41 Gautier, »Baudelaire«, S. 316. [Anm. d. Komm.] 42 Hopkins, Journals and Papers, S. 289. [Anm. v. R.J.] – Dt. Übs. in: Hopkins, Gedichte – Schriften – Briefe, S. 263. [Anm. d. Komm.]
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tischen Kategorien zu verbinden »to the most extrinsic aspects of the text, particulary to versification« [›mit den am stärksten extrinsischen Aspekten eines Textes, besonders mit der Versifikation‹],43 gelingt es dem Forscher gerade durch eine derartige Gegenüberstellung, der Gefahr des blinden, mechanischen und willkürlichen Registrierens der fraglichen grammatischen Oppositionen zu entgehen und die Hierarchie ihrer Funktionen im poetischen Werk zu erfassen. Einige Kritiker beschuldigen mich, eine vorgefaßte Meinung zu haben, die mich dazu verleite, nur gewissen Typen von Texten Beachtung zu schenken und den Rest zu ignorieren. Indessen unterwerfen meine Darstellungen und Abhandlungen über die Grammatik der Poesie (die publizierten wie die erst im Entwurf vorhandenen) eine Vielzahl von Gedichten einer detaillierten Analyse, Gedichte, die größtenteils zwischen dem achten und zwanzigsten Jahrhundert in nahezu zwanzig Sprachen verfaßt worden sind. Darunter sind Werke unterschiedlicher Schulen und literarischer Traditionen, Werke, die eine große Vielfalt von Stilen und Themen aufweisen, religiöse, philosophische, meditative, kriegerische, revolutionäre und erotische Stücke. In diesem Textrepertoire finden sich Lieder und gesprochene Verse, mündliche und schriftliche Erzeugnisse. Wenn es sich um Gedichte in einer fremden Sprache handelte, bemühte ich mich, sie zusammen mit Spezialisten der fraglichen Sprache und Literatur oder vorzugsweise mit muttersprachlichen Fachleuten zu analysieren. Die einzige Beschränkung, die ich mir bei der Auswahl der Texte erlaubt habe, betrifft ihren Umfang: In seiner Philosophy of Composition weist E. A. Poe,44 was von Baudelaire später unterstützt wurde, deutlich auf die besondere Eigenschaft kurzer Stücke hin, bei denen es möglich ist, bis zum Ende eines Gedichtes noch den lebendigen Eindruck seines Anfangs zu bewahren; 45diese Kürze macht uns folglich besonders sensibel für die Einheit eines Gedichtes und für seine Wirkung als Ganzes. In einem Brief vom 18. Februar 1860 behauptet Charles Baudelaire,46 daß »alles, was die Dauer der Aufmerksamkeit überschreitet, die ein menschliches Wesen der poetischen Form widmen kann, kein Gedicht mehr ist«. Die 43 Zitat nicht ermittelt. [Anm. d. Komm.] 44 Edgar Allan Poe (1809–1849) war ein entscheidendes Vorbild für Baudelaire, der auch eine Anzahl seiner Texte ins Französische übersetzte. [Anm. d. Komm.] 45 Vgl. Poe, »The Philosophy of Composition«, S. 196 f.; dt. Übs.: »Die Methode der Komposition«, S. 534 f. [Anm. d. Komm.] 46 Baudelaire, Correspondance ge´ne´rale III, S. 676. [Anm. v. R.J.] Der Brief ist an Armand Fraisse gerichtet, die zitierte Passage lautet im Original: »Tout ce qui de´passe la longueur de l’attention que l’eˆtre humain peut preˆter a` la forme poe´tique n’est pas un poe`me.« [Anm. d. Komm.]
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gleichzeitige Synthese, die durch die unmittelbare Erinnerung bei einem kurzen Gedicht zustande kommt, bestimmt klar seine Strukturierungsgesetze und unterscheidet diese von denen, die dem Aufbau von langen Gedichten zugrunde liegen. Solche Gedichte, die bezüglich mancher ihrer Aufbauprinzipien den großen musikalischen Kompositionen mit ihren Leitmotiven, die sich durch das Werk ziehen, vergleichbar sind, stellen ein anderes Thema dar, das ich in allgemeinen Umrissen zu entwerfen versuche, indem ich verschiedene Beispiele der epischen Gattung untersuche, z. B. die Langgedichte von Camo˜es, Pope, Pusˇkin und Majakovskij sowie die Bylinen der russischen Volksdichtung.47 Jeder Versuch, Fragmente solcher Werke ohne Rücksicht auf die Gesamtheit des Textes zu analysieren, ist ebenso sinnlos, wie wenn man einzelne Stücke eines großen Freskos so analysierte, als ob es sich um vollständige und unabhängige Gemälde handelte. Franz Boas und Edward Sapir haben aufgezeigt,48 daß die *grammatischen Bedeutungen in einem gegebenen Zustand einer Sprache viel beständiger und verbindlicher sind als die lexikalische Bedeutung der Wörter, die viel unbestimmter und veränderlicher ist. Diese Stabilität findet eine auffallende Bestätigung in der großen Widerstandskraft, die die grammatischen Strukturen gegenüber den Zwängen aufweisen, die die experimentelle Poesie den sprachlichen Mustern auferlegt; Lexikon und *Phraseologie andererseits beugen sich leicht den kühnen Experimenten des Neuerers. 47 Luı´s de Camo˜es (1524–1580), portugiesischer Nationaldichter der Renaissance; Alexander Pope (1688–1744), englischer Dichter des Klassizismus; Aleksander Sergeevicˇ Pusˇkin (1799–1837), bedeutendster Dichter der russischen Romantik; Vladimir Vladimirovicˇ Majakovskij (1893–1930), bedeutendster Verteter des russischen Futurismus, der zuletzt Selbstmord beging; Bylinen (russ. bylina, Plural: byliny ›Ereignisse aus der Vergangenheit‹) sind von Volkssängerinnen und Volkssängern vorgetragene Heldenlieder, die ursprünglich nicht verschriftlicht waren. [Anm. d. Komm.] 48 Vgl. hierzu Jakobson, »Franz Boas’ Approach to Language«, »Boas’ View of Grammatical Meaning« und den »Retrospect« zu SW II, S. 720, sowie »Language and Culture«, bes. S. 110. – Franz Boas (1858–1942), deutschstämmiger Ethnologe, der seit 1899 an der Columbia University in New York lehrte und auch Claude Le´vi-Strauss nachhaltig beeinflußte; er erforschte insbesondere das Potlatsch-Ritual der Kwakiutl-Indianer an der amerikanischen Nordwest-Küste und gilt als Begründer des Kulturrelativismus sowie der Kulturanthropologie. Edward Sapir (1884– 1934), deutschstämmiger Ethnologe und Linguist, Schüler von Boas, hatte bis an sein Lebensende eine Professur an der Yale University inne; zusammen mit seinem Schüler Benjamin Lee Whorf entwickelte er die Sapir-Whorf-Hypothese, der zufolge die grammatischen Strukturen nachhaltig die Kultur und Weltanschauung einer Gemeinschaft determinieren. [Anm. d. Komm.]
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Wie Baudelaire unterstreicht, verleiht l’ordre entre les mots [›die Reihenfolge der Wörter‹] diesen einen unumstößlichen Wert (valeur irre´futable). Die grammatischen Kategorien der Wörter (oder in der klaren Terminologie der mittelalterlichen Gelehrten, die modi significandi essentiales et accidentales) 49 wie die syntaktischen Funktionen dieser Klassen und Unterklassen bilden sozusagen Skelett und Muskulatur der Sprache; folglich stellt die grammatische Textur der poetischen Sprache einen großen Teil ihres eigentlichen Wertes dar. Die Wissenschaft von der Sprache bewegt sich, wie der Mathematiker Rene´ Thom in seinem grundlegenden Buch 50 gezeigt hat, in Richtung einer topologischen Interpretation der grammatischen Kategorien und ihrer Funktionen, welcher es gelingt, die relevanten *Äquivalenzen herauszustellen. Auf die vorschnelle Invektive, der gemäß wir der irrigen Meinung sein sollen, »that any reiteration or contrast of a grammatical concept makes it a poetic device« [›daß jede Wiederholung eines grammatischen Konzepts oder jeder Kontrast dazu dieses zu einem poetischen Verfahren werden läßt‹],51 muß ich erwidern, daß bezüglich der Distribution der grammatischen Klassen und Unterklassen alle Anhäufungen und Oppositionen, die man in einem gegebenen Gedicht erkennen kann – und die sich klar von der Umgangssprache und von journalistischer, juristischer oder wissenschaftlicher Prosa unterscheiden –, offenbar zu den Quellen der poetischen Sprache zählen.52 Sobald man die verschiedenen Phänomene dieses Typs einander gegenüberstellt, muß man ausnahmslos konstatieren, daß sie aufeinander bezogen sind; und der Unterschied zwischen ihnen im Gedicht läßt eine ganze Skala von Werten entstehen. Die Analyse von Gedichten deckt eine überraschende Beziehung zwischen der Verteilung der grammatischen Kategorien und den metrischen und strophischen Korrelationen auf; und der Kritiker, der eine offensichtliche sprachliche Aktualisierung dieser Kategorien anerkennen muß, stößt auf ein Scheindilemma: »Are linguistic and poetic actualizations 49 Vgl. Jakobson, »Glosses on the Medieval Insight into the Science of Language«, bes. S. 187–189. Die Lehre von den modi significandi [›Weisen des Bedeutens‹] war Bestandteil der scholastischen Logik. Man unterschied ›Bedeutungsarten‹, welche die Essenz eines Gegenstands betreffen, von solchen, welche die Akzidentien eines Gegenstands betreffen. [Anm. d. Komm.] 50 Vgl. Thom, Stabilite´ structurelle et morphoge´ne`se, S. 329–348 (»Appendice 2: Une interpre´tation topologique des fonctions grammaticales«). [Anm. d. Komm.] 51 Riffaterre, »Describing Poetic Structures«, S. 213. 52 Vgl. Jakobson, »Linguistics and Poetics«, S. 47, und »Poe˙zija grammatiki i grammatika poe˙zii«, S. 70 f., sowie die deutschen Übersetzungen in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 199 u. 272. [Anm. d. Komm.]
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coextensive?« [›Sind linguistische und dichterische Aktualisierungen koextensiv?‹].53 Wenn aber diese Organisation der grammatischen Parallelismen und Kontraste, die für die Poesie charakteristisch ist, nicht als poetisches Verfahren fungiert, hat der Linguist das Recht, die Frage zu stellen: Zu welchem Zweck wird dieses Gerüst von Dichtern eingeführt, gewissenhaft gepflegt und in bemerkenswerter Weise variiert? Die Bedeutsamkeit der *symmetrischen Anordnung grammatischer Oppositionen im Gedicht ist angezweifelt worden: »mais en quoi cette syme´trie contribue-t-elle a` notre plaisir poe´tique?« [›aber inwiefern trägt diese Symmetrie zu unserem Vergnügen an der Poesie bei?‹] – ruft einer der hartnäckigsten Skeptiker, Georges Mounin, aus.54 Baudelaire hat ihm jedoch schon im voraus geantwortet, indem er, im Einklang mit Poe, einerseits »die Regularität und die Symmetrie, die zu den ursprünglichen Bedürfnissen des menschlichen Geistes gehören«,55 andererseits die »leicht unförmigen Kurven«, die sich vom Hintergrund dieser Regularität abheben, unterstrich: »das heißt das Unerwartete, die Überraschung, das Erstaunen«,56 die ihrerseits »einen wesentlichen Teil« der künstlerischen Wirkung ausmachen, oder, in anderen Worten, die »unentbehrliche Würze jeder Schönheit«.57 Nun, seit etwa siebzig Jahren haben unsere Arbeiten zur Poetik unter der Bezeichnung »enttäuschte Erwartung« oder »täuschende Vorausdeutung« immer viel Gebrauch von dieser Würze gemacht. Desgleichen hat Leo Bersani, ein anderer Kritiker, der dazu geneigt ist, »the principle of equivalence« [›das Äquivalenzprinzip‹] in einem »imaginative work which produces richly asymmetrical structures« [›imaginativen Werk, das reichlich asymmetrische Strukturen hervorbringt‹] 58 zu vernachlässigen, im voraus von Baudelaire die passende Antwort erhalten: »Ihr versteht nichts (Vous n’entendez rien) von der Architektur der 53 Riffaterre, »Describing Poetic Structures«, S. 213. 54 Mounin, »Baudelaire devant une critique structurale«, S. 159. [Anm. v. R.J.] – Georges Mounin (1910–1993) ist ein herausragender französischer Sprach- und Übersetzungswissenschaftler der 1950er bis 1970er Jahre. [Anm. d. Komm.] 55 »[…] la re´gularite´ et la syme´trie qui sont un des besoins primordiaux de l’esprit humain« (Baudelaire, Fuse´es, in: ders., Œuvres comple`tes, Bd. 1, S. 663; Sämtliche Werke /Briefe, Bd. 6, S. 208 f.). [Anm. d. Komm.] 56 »Ce qui n’est pas le´ge`rement difforme a` l’air insensible; – d’ou` il suit que l’irre´gularite´, c’est-a´-dire l’inattendu, la surprise, l’e´tonnement sont une partie essentielle et la caracte´ristique de la beaute´.« (A. a. O., S. 656; dt. Übs.: S. 200.) 57 »[…] cet e´le´ment inattendu, l’e´trangete´, qui est comme le condiment indispensable de toute beaute´.« (Baudelaire, »Notes nouvelles sur Edgar Poe«, in: ders., Œuvres comple`tes, Bd. 2, S. 336; Sämtliche Werke /Briefe, Bd. 2, S. 360.) [Anm. d. Komm.] 58 Bersani, »Is There a Science of Literature?«, S. 541.
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Wörter, von der Plastizität der Sprache.« 59 Beim Versuch, in dem Werk dieses Dichters das aufzuzeigen, was nach The´ophile Gautiers Kommentar »seine besondere Architektonik, seine individuellen Formulierungen, seine unverkennbare Struktur, seine Berufsgeheimnisse, seine Kunstfertigkeit« 60 ausmacht, werden wir von dem Kritiker beschuldigt, heimlich oder sogar offen »den strukturalistischen Traum« zu hegen, das heißt »the perennially appealing fantasy of total control« [›das stets attraktive Hirngespinst totaler Kontrolle‹],61 was, wie er insinuiert, leicht autoritären politischen Ambitionen dienlich sein könnte. Diese antiwissenschaftliche Brandmarkung erinnert uns mutatis mutandis an die eines Prager Denunzianten, der die strukturale Sprachwissenschaft anklagte, nur dazu zu dienen, »to prolong and justify the domination of the bourgeoisie« [›die Herrschaft der Bourgeoisie zu verlängern und zu rechtfertigen‹].62 Das Gefüge der grammatischen Muster, seien sie wiederholt oder kontrastiert, ist ungeachtet all solcher polemischer Vorwürfe weder vorgefaßt noch »apriorisch«.63 Drei Grundprinzipien dienen dazu, die *Strophen kurzer Gedichte zu vereinheitlichen und zu variieren, aber die Hierarchie dieser Prinzipien wechselt je nach Gedicht, Stil, Genre und der Individualität des Dichters oder der poetischen Schule. Diese drei Wechselbeziehungen zwischen den Strophen basieren – ähnlich den drei Verteilungstypen der Reime – auf der Sukzessivität (vgl. *Paarreime aa-bb), der Alternation (vgl. *Kreuzreime ab-ab) und der Umrahmung (vgl. *umarmende Reime ab-ba).64 Obwohl die Kritiker nicht an strukturale Affinitäten zwischen nicht benachbarten Strophen glauben, gehört die Gegenüberstellung auffallender Entsprechungen zwischen den ungeraden Strophen und gegenteiliger 59 »Vous n’entendez rien a` l’architecture des mots, a` la plastique de la langue, a` la peinture, a` la musique, ni a` la poe´sie.« (Baudelaire, »Lettre a` Jules Janin«, in: ders., Œuvres comple`tes, Bd. 2, S. 239.) [Anm. d. Komm.] 60 Im Original: »Le vers de Baudelaire […] a cependant son architectonique particulie`re, ses formulas individuelles, sa structure reconnaissable, ses secrets de me´tier, son tour de main […]« (Gautier, »Baudelaire«, S. 316.) [Anm. d. Komm.] 61 Bersani, »Is There a Science of Literature?«, S. 549. 62 Man vgl. die Zitate in: Jakobson, »An Example of Migratory Terms and Institutional Models«, S. 535. 63 Man vgl. Riffaterre, »Describing Poetic Structures«, S. 213. 64 Eine solche Analogie zwischen den Reimpositionen und den Beziehungen zwischen Gedichtstrophen stellt Jakobson in mehreren Analysen her. Vgl. z. B. Jakobson, »›Si nostre vie‹. Observations sur la Composition & Structure de Motz dans un sonnet de Joachim Du Bellay«, SW III, S. 247–249, sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 568–570. [Anm. d. Komm.]
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Entsprechungen, welche die geraden Strophen miteinander verbinden, zu den offenkundigsten Verfahren. Diese Ähnlichkeiten und Kontraste tendieren dazu, die verschiedenen Ebenen und Aspekte der Sprache einzubeziehen, von der Phonologie bis zur Semantik und von morphologischen und syntaktischen Parallelen bis zu lexikalischen Übereinstimmungen. Was Gautier über Baudelaires Reime gesagt hat, gilt nicht nur für die Reime und nicht nur für Baudelaires Dichtkunst allgemein, sondern für allen Versbau: »Er liebt das harmonische Sich-Überschneiden (entre-croisement) der Reime, das den Widerhall des zunächst angeschlagenen Tons aufschiebt, und bietet dem Gehör einen unvorhergesehenen Klang dar, qui se comple´tera plus tard comme celui du premier vers [›der sich später vervollständigt so wie derjenige des ersten Verses‹]«.65 Wie Hopkins betont, kann die Proportion ihren Ausdruck nicht nur in der Kontinuität, sondern auch im Intervall finden.66 Vergeblich zweifelt man auch an der Bedeutsamkeit der Pronomina für die Grammatik der Poesie. Die geraden und ungeraden Strophen unterscheiden sich häufig durch den Gegensatz ihrer Anwesenheit in der einen dieser beiden Gruppen und ihres Fehlens in der anderen, sei es, daß es sich um die *Pronomina und Possessivadjektive der ersten und zweiten *Person im Singular (wie im Sonett du Bellays, das an anderer Stelle 67 analysiert wurde) oder ohne Rücksicht auf den *Numerus handelt (wie im letzten Spleen der Fleurs du Mal), und dieser Kontrast signalisiert klar einen deutlichen Wechsel zweier Aussageweisen, deren eine auf das Ich bezogen, deren andere ohne einen solchen Bezug ist.68 Der spitzfindigste und, wie man zugeben muß, einer der oberflächlichsten Kritiker zieht die Affinitäten nicht benachbarter Strophen in Zweifel: »Equivalences established on the basis of purely syntactic *similarities would seem particularly dubious« [›Äquivalenzen, die auf der Grundlage rein syntaktischer Ähnlichkeiten erstellt wurden, schienen be65 »Il aime l’harmonieux entre-croisement de rimes qui e´loigne l’e´cho de la note touche´e d’abord, et pre´sente a` l’oreille un son naturellement impre´vu, qui se comple´tera plus tard comme celui du premier vers«.(Gautier, »Baudelaire«, S. 313.) [Anm. d. Komm.] 66 Vgl. Hopkins, Journals and Papers, S. 75 f. – Der folgende Absatz fehlt im »Retrospect« in SW III. [Anm. d. Komm.] 67 Vgl. Jakobson, »›Si nostre vie‹. Observations sur la Composition & Structure de Motz dans un sonnet de Joachim Du Bellay« in: Jakobson, Questions de poe´tique, sowie den Erstdruck in: Atti del convegno internazionale sul tema: Premarinismo e Pregongorismo. [Anm. v. R.J.] – Vgl. den Abdruck in den Selected Writings sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 553–606. [Anm. d. Komm.] 68 Der ganze Absatz findet sich, wie oben vermerkt, nicht in SW III.
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sonders zweifelhaft‹].69 Als Beispiel nennt er die Parallele, die Baudelaire gemäß den beiden Autoren der Abhandlung über Les Chats 70 zwischen den beiden Versen, die die ungeraden Strophen des Sonetts (das erste Quartett und das erste Terzett) beschließen, hergestellt hat. Es handelt sich um die einzigen Relativsätze des ganzen Gedichtes; beide werden durch das Pronomen qui [›wer‹] eingeleitet, in beiden Fällen ist dieses Pronomen mit dem *Objekt des Hauptsatzes verbunden, und es folgt ihm ein Verb im Plural. Erstens scheint dieser Kritiker nicht nur die wesentliche Rolle zu vergessen, die dem grammatischen, vor allem dem syntaktischen Parallelismus in Versen wohl der meisten der Sprachen der Welt 71 beigemessen wird, sondern auch die eindrucksvolle Tatsache, die – im Einklang mit Hopkins’ Vorhersage in seinen glänzenden Abhandlungen On the Origin of Beauty [›Über die Entstehung der Schönheit‹] und Poetic Diction [›Poetische Sprache‹] aus seiner Studentenzeit – »will surprise anyone when first pointed out« [›jeden überraschen wird, wenn er zuerst darauf hingewiesen wird‹]: Es ist »the important part played by parallelism of expression in our poetry« [›der bedeutende Anteil, der durch den Parallelismus des Ausdrucks in unserer Dichtung eingenommen wird‹].72 Der Dichter erkannte klar, daß »the structure of poetry is that of continuous parallelism, ranging from the technical so-called Parallelisms of Hebrew poetry and the antiphons of Church music up to the intricacy of Greek or Italian or English verse« [›die Struktur der Dichtung die eines beständigen Parallelismus ist, der von den fachmännisch so genannten Parallelismen der hebräischen Dichtung und den Antiphonen der Kirchenmusik bis hin zu den Feinheiten der griechischen, italienischen oder englischen Verskunst reicht‹].73 Zweitens wird die Entsprechung zwischen den beiden ungeraden Strophen, wie wir aufgezeigt haben, durch einen ebenfalls syntaktischen Parallelismus, der die beiden geraden Strophen vereint, ausgeglichen. 69 Riffaterre, »Describing Poetic Structures«, S. 207. 70 Jakobson /Le´vi-Strauss, »›Les Chats‹ de Charles Baudelaire«. [Anm. v. R.J.] – Vgl. die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 2, S. 250–287. [Anm. d. Komm.] 71 Siehe Fox, »Semantic Parallelism in Rotinese Ritual Language«; Fox, »Roman Jakobson and the Comparative Study of Parallelism«; Greenstein, »Two Variations of Grammatical Parallelism in Canaanite Poetry and Their Psycholinguistic Background«. 72 Hopkins, Journals and Papers, S. 106. [Anm. d. Komm.] 73 A. a. O., S. 84; dt. Übs.: »Die poetische Diktion«, in: Hopkins, Gedichte – Schriften – Briefe, S. 259–262, hier S. 260. [Anm. d. Komm.]
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Schließlich stützt und verstärkt die Gleichartigkeit der beiden ungeraden Strophen, ohne auch nur im geringsten auf eine »purely syntactic similarity« [›rein syntaktische Ähnlichkeit‹] 74 beschränkt zu sein, einen doppelten semantischen Kontrast. Räumlich gesehen verbindet dieser Kontrast die Enden der vorletzten Verse beider ungeraden Strophen: Das Haus (la maison), das die Katzen umgibt, wird in eine weite Wüste (fond des solitudes) verwandelt; und am Ende der beiden benachbarten Verse dieser ungeraden Strophen stehen sich zwei Gruppen paralleler Wörter gegenüber (dans leur muˆre saison – dans un reˆve sans fin [›in ihrem reifen Lebensalter – in einem endlosen Traum‹]), diesmal auf der zeitlichen Ebene, indem die eine die gezählten Tage evoziert und die andere die Ewigkeit. Die Beschränkung weicht der Weite. Derselbe Kritiker leugnet die gemeinsamen Züge der äußeren Strophen, I und IV, die im Kontrast zu denjenigen stehen, die die beiden inneren Strophen, II und III, verbinden. Indessen beweist die Analyse des Sonetts Les Chats, die durch die vereinten Bemühungen zweier Forscher zustande kam, einen vielfachen Unterschied zwischen den äußeren und inneren Strophen im Repertoire der grammatischen Kategorien, im syntaktischen Bau und in der semantischen Füllung dieser Strophen. Insbesondere haben wir den augenfälligen Unterschied zwischen diesen beiden Arten von Strophen in der Struktur der Teilsätze, die ein *transitives Verb enthalten, erwähnt. In den äußeren Strophen enthalten diese Teilsätze ein doppeltes Subjekt, und direktes Objekt und Subjekt stimmen bezüglich der Zugehörigkeit zur Klasse der Belebten oder Unbelebten überein, während in den inneren Strophen Subjekt und direktes Objekt zwei verschiedenen Klassen angehören. Infinitive erscheinen nur in den inneren Strophen und erfüllen parallele Funktionen. Der Reichtum an Adjektiven (9 + 5 gegenüber 1 + 2), zusammen mit dem Vorhandensein zweier Adjektivadverbien, die die einzigen im Sonett sind und auch parallele syntaktische Funktionen ausüben, unterscheidet die äußeren von den inneren Strophen. Der Kritiker hat sich vor allem über unsere Bemerkung zu dem auffallenden Parallelismus zwischen dem letzten Vers der ersten Strophe und dem ersten Vers der letzten Strophe empört: Das zweite Prädikat des Sonetts und das vorletzte sind die einzigen, die *Kopulas und prädikative Adjektive enthalten, und in beiden Fällen dient ein *Binnenreim zur Hervorhebung des Adjektivs, auf das eine *Zäsur folgt (Qui comme eux sont frileux und Leurs reins fe´conds sont pleins). 74 Riffaterre, »Describing Poetic Structures«, S. 207. [Anm. d. Komm.]
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Die Rüge dieses Kritikers stellt eine der vielen Illustrationen seiner mangelnden Kenntnis der Wissenschaft von der Sprache und Poesie dar: »pleins cannot be severed 〈?〉 from d’e´tincelles (magiques); pleins is enclitic 〈??〉, which practically 〈?〉 cancels out 〈?〉 the rhyme« [›pleins kann nicht getrennt werden 〈?〉 von d’e´tincelles (magiques); pleins ist enklitisch 〈??〉, was praktisch 〈?〉 den Reim aufhebt 〈?〉‹].75 Nun wird als »enklitisch« ein unbetontes Wort bezeichnet, das sich an das vorangehende Wort, das Träger der Betonung ist, anlehnt. Riffaterre verwechselt den Terminus »enklitisch« mit dem Terminus »proklitisch«, mit dem ein unbetontes Wort, das sich an ein folgendes betontes Wort anlehnt, bezeichnet wird. Aber das Wort pleins [›voll‹] ist weder enklitisch noch proklitisch; und obwohl es zum gleichen Sprechtakt gehört wie die beiden folgenden Wörter, von denen das letzte den Satzakzent trägt, bildet der Komplex sont pleins [›sind voll‹] nichtsdestoweniger innerhalb dieses Sprechtakts eine eigene Sprecheinheit mit Betonung des zweiten Worts pleins [›voll‹]. Die Zäsur trennt diese beiden Einheiten, und die Silbe vor der Zäsur trägt ja den metrischen Akzent. Folglich kann der Binnenreim, der auf einem zugleich metrischen und syntagmatischen Akzent beruht, sogar als besonders ins Auge springend qualifiziert werden, zumal er durch den streng jambischen *Rhythmus des ganzen Halbverses gestützt wird (Leurs reins / fe´conds / sont pleins [›Ihre fruchtbaren Lenden sind voll‹], während der *Anapäst den Parallelreim verstärkt (Qui comme eux / sont frileux [›die wie sie sind fröstelnd‹]. Darüber hinaus stellt man fest, daß Baudelaire die beiden Untergruppen eines einzelnen Sprechtaktes nicht nur durch die Zäsur, sondern auch an den Versgrenzen trennt (l’e´treinte // De l’irre´sistible De´gouˆt [›die Umarmung // Des unwiderstehlichen Ekels‹]); 76 (il rompit un morceau // Du rocher [›er brach ein Stück // Vom Fels‹]).77 Was dem Kritiker oder, um seine Terminologie zu benutzen, den »literary scholars of the humanist stripe« [›Literaturwissenschaftlern von humanistischem Schlag‹] 78 vollkommen unverständlich bleibt, wenn sie die Probleme des Parallelismus anschneiden, ist die Tatsache, daß die Invarianzforschung,79 weit entfernt davon, Variationen auszuschließen, 75 Riffaterre, »Describing Poetic Structures«, S. 207. 76 Baudelaire, Madrigal triste (Œuvres comple`tes, Bd. 1, S. 138; dt. Übs.: Trauriges Madrigal, in: Baudelaire, Sämtliche Werke /Briefe, Bd. 4, S. 89 u. 91). [Anm. d. Komm.] 77 Baudelaire, Le calumet de paix (Œuvres comple`tes, Bd. 1, S. 243). [Anm. d. Komm.] 78 Riffaterre, »Describing Poetic Structures«, S. 213. [Anm. d. Komm.] 79 Vgl. Jakobson, »My Favorite Topics«, S. 371. [Anm. d. Komm.]
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deren wirksames Vorhandensein gerade impliziert. Die Intuition des jungen Hopkins erfaßt hier die poetische Essenz jedes Parallelismus: »In art we strive to realize not only unity, permanence of law, likeness, but also, with it, difference, variety, contrast: it is rhyme we like, not echo and not unison but harmony.« [›In der Kunst sind wir bemüht, nicht nur die Einheit, die Beständigkeit des Gesetzes, die Ähnlichkeit zu erkennen, sondern damit einhergehend auch den Unterschied, die Abwechslung, den Kontrast: Es ist der Reim, den wir schätzen, nicht das Echo und nicht die Einstimmigkeit, sondern die Harmonie.‹] 80 ›Parallelismen auf Distanz‹ erregen das Mißtrauen der Polemiker, die zu der Annahme neigen, daß die Entsprechungen zwischen Anfang und Ende eines Gedichtes »cannot possibly be perceived by the reader« [›vielleicht vom Leser nicht erkannt werden können‹]; 81 und doch kennt die Dichtkunst viele Kompositionen vom Typ des Rondeaus,82 die auf eine regelmäßige Verbindung zwischen Ende und Anfang des Stückes gegründet sind. Weit davon entfernt, eine Markov-Kette 83 zu sein, oder anders gesagt, eine Folge von Zufallsgrößen, deren Wahrscheinlichkeit von ihrer unmittelbaren Nachbarschaft abhängt, widersetzt sich der Text eines Gedichtes entschieden den Bemühungen des Kritikers, »to proceed in a single direction« [›in eine einzige Richtung zu gehen‹],84 »following exactly the normal reading process, of perceiving the poem, as its linguistic shape dictates, along the sentence, starting at the beginning« [›exakt dem normalen Leseprozeß folgend, um das Gedicht wahrzunehmen, so wie es seine sprachliche Gestalt vorschreibt, am Satz entlang und beginnend mit dem Anfang‹], ohne das Ende dazu zu benutzen, »to comment on the 80 Hopkins, »The Origin of Our Moral Ideas« [›Die Herkunft unserer geistigen Vorstellungen‹], in: ders., Journals and Papers, S. 80–83, hier: S. 83. 81 Riffaterre, »Describing Poetic Structures«, S. 207. 82 Das Rondeau ist eine volkstümliche Liedform des französischen Mittelalters. [Anm. d. Komm.] 83 Anordnung von Elementen, die nach dem Markov-Modell zustande kommt, ein »nach dem russ. Mathematiker Andrej A. Markov (1856–1922) benanntes, auf Wahrscheinlichkeitsgesetzen basierendes Verfahren, das Voraussagen über künftige Geschehensverläufe auf der Basis des gegenwärtigen Stands des Geschehens trifft« (Bußmann [Hg.], Lexikon der Sprachwissenschaft, S. 420). [Anm. v. I.M.] – Vgl. hierzu Jakobsons Erläuterung in seinem Aufsatz »The Logical Description of Languages«, S. 452, Anm. 9, sowie ders., »Visual and Auditory Signs«, S. 336 (dt. Übs.: »Visuelle und auditive Zeichen«, S. 289): »it is the linearity dogma which prompts its adherents to associate such a sequence with a Markov chain and to overlook the hierarchical arrangement of any syntactic construction.« [Anm. d. Komm.] 84 Zitat nicht ermittelt. [Anm. d. Komm.]
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start« [›um den Anfang zu kommentieren‹].85 Diese Bemühungen widersprechen der spontanen Vorliebe Baudelaires für das retrospektive Prinzip der poetischen Komposition, wie es von Edgar A. Poe gelehrt wurde 86 und das denjenigen Verfahren entspricht, die in der Wissenschaft von der Sprache unter dem Namen regressive Assimilation 87 und regressive Dissimilation 88 bekannt sind. In der Tat erfordert der Sprachbau, daß das Ende des Satzes einbezogen werden muß, um dessen gleichzeitige Synthese zu sichern, die allein die Aufnahme und das Verständnis des Ganzen ermöglicht. Erinnern wir uns an die Notwendigkeit einer entsprechenden Haltung gegenüber einem musikalischen Text. In einem Sonett, zum Beispiel, besteht der stärkste Zusammenhalt oft in der Gegenüberstellung der ungeraden und der geraden Strophen sowie der äußeren und der inneren Strophen. Das kann zum Teil dadurch erklärt werden, daß die Beziehung zwischen dem Paar der ungeraden Strophen und dem der geraden Strophen (oder auch die zwischen dem äußeren und inneren Strophenpaar) symmetrisch ist (sieben zu sieben Verse), während den acht Versen der beiden Quartette die sechs der beiden Terzette gegenüberstehen. Der von unseren Sachverständigen bekundete simplistische Trugschluß war den großen Sonett-Meistern des 19. Jahrhunderts in ihrer Gestaltung und Auffassung dieser zugleich strengen und flexiblen Form selbstverständlich fremd. Ohne sich Gedanken darüber zu machen, ob die konstruktiven Verfahren und Begriffe verfrüht oder ephemer erscheinen könnten, hatte Hopkins mit zwanzig Jahren den Mut, die kompliziertesten Probleme anzugehen, wie etwa die Struktur des Verses und das Prinzip des Parallelismus als Basis aller strukturalen Eigenschaften der Wortkunst. In dem »Platonic Dialogue« dieses außergewöhnlichen Studenten stellt einer der Teilnehmer die Frage »What is structural unity? [›Was ist die strukturelle Einheit?‹], und gemäß der Antwort: »a sonnet is an instance« [›ein Sonett ist ein Beispiel dafür‹] 89 hat Hopkins eine Untersuchung des 85 Riffaterre, »Describing Poetic Structures«, S. 215. 86 Vgl. Jakobson, »Linguistics and Poetics«, S. 43, sowie die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 194. [Anm. d. Komm.] 87 Bei der regressiven Assimilation gleicht sich ein Element bezüglich eines bestimmten Merkmals an ein darauffolgendes Element an. So gleicht sich z. B. im Russischen ein Konsonant hinsichtlich der Stimmhaftigkeit an einen ihm unmittelbar folgenden Konsonanten an. So wird das eigentlich stimmlose Präfix s- in russ. sdelat’ stimmhaft ausgesprochen. [Anm. v. I.M.] 88 Bei der regressiven Dissimilation verändert sich ein Element hinsichtlich eines Merkmals, das es mit einem darauffolgenden Element ursprünglich gemeinsam hat. [Anm. v. I.M.] 89 Hopkins, Journals and Papers, S. 99. [Anm. d. Komm.]
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Systems der Parallelismen, die ein Gedicht ausmachen, und der Abhängigkeit, die sie miteinander verbindet, im Auge.90 Beim Sonett mit seiner ungleichen Anzahl an Versen in den vier Strophen stellt man häufig eine Tendenz fest, mittels eines Systems von Entsprechungen und Kontrasten den siebenten und achten Vers, das heißt das Zentrum des Gedichts, den sechs Anfangsversen und den sechs Schlußversen gegenüberzustellen. Nach Hopkins kann diese symmetrische Dreiteilung, die sich von der Anordnung der Strophen unterscheidet, als ein in der Komposition von Gedichten häufig begegnender »Kontrapunkt« definiert werden. Obwohl uns die Analyse von Les Chats eine genaue Entsprechung zwischen dieser Dreiteilung und dem semantischen Profil des Gedichts erkennen läßt, stellt sich ihr unser Opponent grundlos entgegen. Es genügt jedoch ein einziges Beispiel, um die Existenz eines ›Sextetts‹ am Anfang zu beweisen, das das zweite Quartett zerteilt. Erinnern wir uns daran, daß die *Konjunktion et [›und‹] sechsmal in dem Sonett erscheint: sie steht in mittlerer Position in fünf Versen des ›Eingangssextetts‹, ohne im zweiten Vers vorzukommen; umgekehrt eröffnet dieselbe Konjunktion den zweitletzten Vers im ›Schlußsextett‹, findet sich hier aber nicht in den fünf übrigen Versen. In allen sechs Eingangsversen trennt die Zäsur zwei nebengeordnete syntaktische Größen, während die Zäsur in den folgenden Versen ein subordinierendes Verhältnis signalisiert; und besonders in den beiden Versen des zentralen Verspaars beobachten wir eine Umkehrung der syntaktischen Hierarchie unter den Gliedern der beiden Verse, von denen jeder drei substantivisch gebrauchte Größen enthält, zwei nominale und eine pronominale: 7 E´re`be [›Erebos‹], coursiers [›Paraderoß‹] und les [›sie‹]; 8 servage [›Knechtschaft‹], fierte´ [›Stolz‹] und ils [›sie‹]. Der Unterschied der syntaktischen Konstruktionen zwischen den drei Teilen des Sonetts variiert die prosodischen Modulationen ihrer Verse und skizziert das semantische Triptychon. Die naive Meinung des Kritikers, daß dem Schriftsteller das Spiel mit der Intonation nicht zur Verfügung stehe, widerspricht selbstverständlich einmal mehr der reichen und zuverlässigen sprachwissenschaftlichen Erfahrung.91 Ein Gedicht mit einer ungeraden Anzahl von Strophen wie das letzte Spleen-Gedicht der Fleurs du Mal tendiert dazu, die zentrale Strophe herauszustellen; und in der Tat unterscheidet sich der dritte der fünf Vierzeiler des Spleen durch seinen mode de construction [›Bauweise‹], wie Baudelaire 90 Zu ihrem Wechselspiel vgl. a. a. O., S. 114. [Anm. d. Komm.] 91 Der Inhalt der folgenden drei Absätze findet sich, stark gekürzt und modifiziert, erst an späterer Stelle in SW III (S. 785–788). [Anm. d. Komm.]
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sagt,92 von den zwei anderen ungeraden Vierzeilern, dem ersten und dem letzten. Einer aus einer ganzen Reihe formaler Züge, die eng mit dem semantischen Relief des Gedichts verbunden sind und die seine ungeraden Vierzeiler im Vergleich mit den geraden deutlich spezifizieren, ist die höhere Anzahl von qualifizierenden Beiwörtern, vor allem in den beiden äußeren Strophen I und V. Hier folgt der Dichter seiner eigenen Devise: »la loi grammaticale nous enseigne a` modifier le substantif par l’adjectif« [›Die Grammatik lehrt uns, das Substantiv durch das Adjektiv näher zu bestimmen‹].93 Neben den Adjektiven umfaßt die Klasse der Qualifikatoren die Adjektivadverbien und die Verbaladjektive. Ein Kritiker beschuldigt mich, ich hätte diese Klasse bilden müssen, »um die gewollte Symmetrie zu erhalten«,94 aber beim Aufstellen dieser Klasse, beim genauen Charakterisieren und beim Nennen ihrer Bestandteile haben weder Sapir noch Tesnie`re noch Dubois noch andere Sprachwissenschaftler ihren ganzen Eifer darauf verwendet, um, wie der Kritiker sagt, zu einem »ausgewogenen Ergebnis« hinsichtlich der Strophen des Spleen zu kommen. Was mich betrifft, so habe ich dieser gut begründeten Klassifizierung nichts hinzugefügt. Der Kritiker scheint vor allem an der Einfügung eines Partizips in meine Liste der Verbaladjektive Anstoß zu nehmen – la pluie ´etalant des immenses traıˆne´es [›der Regen, seine unermeßlichen Schlieren ziehend‹] –, aber dieses Äquivalent eines untergeordneten Relativsatzes ist nur, wie Lucien Tesnie`re in seinem schönen Beitrag zur strukturalen Syntax des Französischen bemerkt, ein weniger fortgeschrittenes Stadium der Translation 95 eines Verbs in ein Adjektiv. Auf jeden Fall ist die Versicherung des Kritikers, daß durch den Ausschluß dieses Prinzips die fiktive Symmetrie hinfällig würde, vollkommen falsch, denn jede der beiden geraden Strophen enthält ein Minimum (drei), jede der beiden äußeren Strophen ein Maximum (sechs) und die zentrale Strophe eine mittlere Anzahl an Qualifikatoren (seien es fünf oder vier). Die Entsprechung zwischen den äußeren Strophen wird auch durch den Gebrauch identischer Adjektive betont: I und V – longs, noir [›lang‹, ›schwarz‹]. 92 Baudelaire, »Notes nouvelles sur Edgar Poe«, in: ders., Œuvres comple`tes, Bd. 2, S. 335; Sämtliche Werke /Briefe, Bd. 2, S. 359. [Anm. d. Komm.] 93 Baudelaire, »De l’essence du rire et ge´ne´ralement du comique dans les arts plastiques«, in: ders., Œuvres comple`tes, Bd. 2, S. 537; Sämtliche Werke /Briefe, Bd. 1, S. 297. [Anm. d. Komm.] 94 Vgl. Culler, »Jakobson’s Poetic Analyses«, S. 59 f. [Anm. d. Komm.] 95 Nach Tesnie`re ein Verfahren, mit dem die syntaktischen Möglichkeiten eines Wortes mittels sog. Translative, wie z. B. Präpositionen oder Konjunktionen, verändert werden können. Vgl. auch Anm. 97. [Anm. v. I.M.]
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Eine ebenfalls irrige Behauptung wurde von diesem Kritiker bezüglich meiner Beobachtung über die beiden inneren Verse des zentralen Vierzeilers, die in mehrerer Hinsicht parallel sind, aufgestellt. Diese in der Mitte des Gedichts befindlichen Verse entfalten zwei *Metaphern, deren Träger [vehicle] ihrem Gehalt [*tenor] überlagert ist, wie dies I. A. Richards glücklich formuliert hat.96 Die rhythmische Bewegung dieser beiden Verse ist vollkommen gleichartig: In beiden ist der erste Halbvers anapästisch, der zweite jambisch, und jeder Halbvers enthält zunächst ein *Paroxytonon (vaste [›wüst‹], imite [›bildet nach‹]; peuple [›Volk‹], infaˆmes [›niederträchtig‹]). Jeder der beiden Verse enthält zwei Substantive, deren eines das determinierte, deren anderes das determinierende ist. Die übrigen flektierbaren Wörter setzen sich aus drei Adjektiven und einem Verb zusammen, während die anderen Verse, die zentripetalen ebenso wie die zentrifugalen, voll von Translationen sind, einem grundlegenden Verfahren, das nach Tesnie`re darin besteht, »eine bestimmte Wortart in eine andere Wortart zu transformieren« (Verben in Substantive oder in Adjektive und Adjektive in Adverbien).97 Die Translation schafft Zwischenglieder zwischen den Wortarten. Das Problem der Translation bleibt von unserem Kritiker unverstanden, dessen sprachwissenschaftliche Vorstellungen mehr als nebulös sind. Er greift zu einem sonderbaren Argument, wenn er vorschlägt, in der vierten Strophe das *Adverb tout a` coup [›plötzlich‹] durch das Adjektivadverb subitement [›plötzlich‹] und das Verbaladjektiv in der Konstruktion errants et sans patrie [›umherirrend und heimatlos‹] durch einen höheren Grad von Adjektivierung, nämlich errant sans compagnie [›umherirrend ohne Gesellschaft‹],98 zu ersetzen, was ihm zufolge beim Leser keinerlei Wirkung hervorrufen werde und so die ganze Wertlosigkeit meiner Bemerkung über das Nichtvorhandensein von Translationen im zentralen Verspaar im Gegensatz zu ihrem Vorhandensein und ihrer Häufigkeit in den meisten der Verse, die es umgeben, beweise. 96 Vgl. Richards, The Philosophy of Rhetoric, S. 96 f.; dt. Übs.: Richards, »Die Metapher«, S. 36 f. [Anm. d. Komm.] 97 Tesnie`re, E´le´ments de syntaxe structurale du franc¸ais, S. 364; dt.: Grundzüge der strukturalen Syntax, S. 251. – Lucien Tesnie`re (1893–1954) ist der Begründer der sogenannten Valenzgrammatik (oder Dependenzgrammatik), die vom Prädikat eines Satzes alle anderen Satzglieder abhängig sein läßt, so daß ihm – je nach ›Wertigkeit‹ oder ›Valenz‹ des beteiligten Prädikats – ein, zwei oder mehr *›Aktanten‹ untergeordnet werden können. [Anm. d. Komm.] 98 Culler, »Jakobson’s Poetic Analyses«, S. 61; Jakobson zitiert fälschlich: »errants sans patrie«. [Anm. d. Komm.]
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Aber erstens würde die erste dieser beiden Substitutionen nur den fraglichen Kontrast verstärken, und die zweite würde nichts an der Anzahl der Translationen ändern. Zweitens wird sich jeder Leser, der mit den Gesetzen der französischen Metrik vertraut ist, in beiden Fällen gegen die Hinzufügung einer überflüssigen Silbe, die den Alexandriner verstümmelt, wehren. Der Reim, den Hopkins mit Recht für den Inbegriff des Systems der Parallelismen in der Poesie hält,99 impliziert ein erkennbares Verhältnis entweder der Äquivalenz oder des Kontrasts zwischen Laut und Bedeutung – lexikalischer wie grammatischer Art. Im Reim wird dieses System von Übereinstimmungen (Gleichheit gemischt mit Verschiedenheit) besonders auffällig. Das Problem der verschiedenen Grade grammatischer Äquivalenz zwischen den Reimwörtern wird in der Poesie Baudelaires ganz deutlich. So stehen sich in Les Chats in den Reimen der ersten zehn Verse entweder ein Paar von Substantiven oder Adjektiven des gleichen *Genus und Numerus oder aber ein Substantiv und ein Adjektiv des gleichen Numerus gegenüber, aber die syntaktische Funktion der beiden aufeinander reimenden Wörter bleibt in allen zehn Versen immer unterschiedlich. Andererseits stehen die beiden Kreuzreime am Ende des Sonetts miteinander im Kontrast: der eine ist in jeder Hinsicht ›grammatisch‹ (e´tincelles magiques – prunelles mystiques [›magische Funken – geheimnisvolle Pupillen‹]), während der andere zwei in ihrem morphologischen und syntaktischen Status unterschiedliche *Homonyme verbindet (sans fin – sable fin [›ohne Ende – feiner Sand‹]). Man vergleiche einen analogen Kontrast zwischen den zwei Kreuzreimen in den Terzetten des Sonetts,100 das zu Beginn der Nouvelles Fleurs du Mal [›Die neuen Blumen des Bösen‹] (1866) steht: se laisser charmer – apprendre a` m’aimer [›sich bezaubern lassen‹ – ›mich lieben lernen‹] und les gouffres – Aˆme curieuse qui souffres [›die Abgründe‹ – ›wißbegierige Seele, die du leidest‹]. Alle Reime eines anderen Sonetts des gleichen Zyklus, Le Rebelle [›Der Rebell‹],101 stellen Maskulinum und Femininum und Substantive und Verben einander gegenüber; der grammatische Kontrast kulminiert im Schlußreim, der die Terzette verbindet: aux durables appas – Je ne veux pas [›mit dauerhaften Reizen‹ – ›Ich will nicht‹] (ein Substantiv ist mit einem untergeordneten Wort verbunden). 99 Hopkins, »On the Origin of Beauty«, S. 102. [Anm. d. Komm.] 100 Baudelaire, »E´pigraphe pour un livre condamne´« (in: ders., Œuvres comple`tes, Bd. 1, S. 137; Sämtliche Werke /Briefe, Bd. 4, S. 83). [Anm. d. Komm.] 101 Baudelaire, Œuvres comple`tes, Bd. 1, S. 139 f.; Sämtliche Werke /Briefe, Bd. 4, S. 93. [Anm. d. Komm.]
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Ein Dichter, und Baudelaire im besonderen, strebt danach, grammatische Oppositionen durch Bindung der kategorialen Gegensätze an die beiden konventionellen Reimschemata wirkungsvoller zu machen. Obwohl dieses Verfahren von Kritikern wiederholt in Zweifel gezogen wurde, genügt es, einen Blick auf die Verteilung der Reime in den Sonetten der Fleurs du Mal zu werfen, um die unbestreitbare Realität dieses Prinzips zu erkennen. Gleichermaßen enden in Les Chats die acht Verse mit *weiblichem Reim auf Pluralformen, im Gegensatz zu den sechs Versen mit *männlichem Reim, die alle auf eine Singularform enden. Der Kritiker, der um jeden Preis eine Kampagne gegen die Grammatik der Poesie gestartet hat, glaubt das Geheimnis dieser pluralischen weiblichen Reime entdeckt zu haben: »their s-endings make the rhyme ›richer‹ for the eye by increasing the number of its repeated components« [›ihre Endungen auf s machen den Reim reicher für das Auge, indem sie die Anzahl ihrer wiederholten Elemente steigen lassen‹].102 Der Leser wird genötigt zuzugeben, daß Baudelaire, indem er den Buchstaben s dem stummen e hinzufügt, die von der metrischen Konvention geforderte Eigenart der weiblichen Reime verstärkt. Indessen ist es nicht die Verbindung des Plurals mit den sogenannten weiblichen Reimen, die in den Fleurs du Mal von Bedeutung ist, sondern einfach die Hervorhebung der Opposition von Singular und Plural mittels der obligatorischen Alternation weiblicher und männlicher Reime, ohne Rücksicht darauf, welcher Reimtyp welchen Numerus an sich zieht. So schließen in dem Sonett A une dame cre´ole [›An eine Kreolin‹],103 das nach Champfleurys Zeugnis zeitlich benachbart zu Les Chats ist und von diesen in der ersten Edition der Fleurs du Mal durch ein einziges Gedicht getrennt war, alle männlichen Verse mit Pluralformen und alle weiblichen Verse, bis auf den Reim des letzten Terzetts, mit Singularformen. Überdies sind die Terzette dieses Sonetts, die die semantische *Antithese zu seinen Quartetten bilden (I1 Au pays parfume´ que le soleil caresse – III1 Si vous alliez, Madame, au vrai pays de gloire [›Im Land des Duftes, das die Sonne liebkost‹ – ›Wenn Ihr wandeltet, Madame, im wahren Land des Ruhms‹]), die einzigen, die ein Substantiv auf ein Adjektiv reimen (manoirs – noirs [›Schlösser‹ – ›schwarz‹]) und das Femininum mit dem Maskulinum (retraites – poe`tes [›Verstecke‹ – ›Dichter‹]); letzterer Plural, das einzige Beispiel eines Maskulinums unter den weiblichen Reimen des 102 Riffaterre, »Describing Poetic Structures«, S. 211. 103 Baudelaire, Œuvres comple`tes, Bd. 1, S. 62 f.; Sämtliche Werke /Briefe, Bd. 3, S. 179 f. [Anm. d. Komm.]
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Sonetts, ist das einzige Reimwort in den vierzehn Versen dieses Gedichtes ohne ein dem betonten Reimvokal benachbartes /r/, (caresse – empourpre´s – paresse – ignore´s – enchanteresse – manie´re´s – chasseresse – assure´s – gloire – Loire – manoirs – retraites – poe`tes 〈!〉 – noirs). Die semantische Beziehung zwischen dem vorletzten Vers, der die poe`tes [›Dichter‹] mit ihren mille sonnets [›tausend Sonetten‹] den noirs [›Schwarzen‹] des duftenden Landes im letzten Vers gegenüberstellt, ist der wahre Höhepunkt dieses Sonetts. – Nennen wir auch Le mort joyeux [›Der fröhliche Tote‹],104 wo alle weiblichen Reime an den Singular gebunden sind und die Verse mit männlichem Reim auf Pluralformen enden – mit Ausnahme eines einzigen Verses, der das *Oxymoron in der Überschrift des Sonetts ins Gedächtnis zurückruft und selbst zu Beginn des gleichen Terzetts ein Oxymoron bildet (III1 O vers! 〈…〉 sans yeux, 2 voyez venir a` vous un mort libre et joyeux [›O Würmer! 〈…〉 ohne Augen, seht kommen zu Euch einen freien und frohen Toten‹]). Außerdem kontrastiert dieses letzte Adjektiv mit dem Grabes-Vokabular aller Reimwörter des Gedichts. Unsere Herausforderer beschuldigen uns, wir hätten uns bei unserer Reimanalyse durch vorschnelle Analogien verführen lassen und *pluralia tantum wie te´ne`bres [›Finsternis‹] und »emphatische Pluralia« 105 wie solitudes [›Einsamkeit‹] »under the one label« [›unter die eine Bezeichnung‹] 106 Plural gebracht. Sobald man indessen die mechanistische Blickweise zurückweist, die den Plural auf eine rein numerische Bedeutung beschränkt, bemerkt man sofort den Verstärkungswert dieser Kategorie, die eindeutig gegenüber dem Singular markiert ist, gleichgültig, ob es sich um eine große Anzahl oder um ein beeindruckendes Ausmaß handelt. Diese Art von Emphase fällt einem auf, sobald man solitudes [›Einsamkeit‹] de´sert [›Wüste‹] gegenüberstellt, oder, nach der Anregung des Kritikers selbst, den »top of the ladder of expressivity« [›die höchste Stufe der Ausdrucksfähigkeit‹], te´ne`bres [›Finsternis‹], dem »bottom rung« [›der tiefsten Sprosse‹], obscurite´ [›Dunkelheit‹].107 Der allgemeine Wert, der dem Plural zu eigen ist, ist deutlich in allen Fällen durchgehalten und durch die Reime Baudelaires gestützt. Die Vorstellung einer semantischen Unterscheidung zwischen obligatorischen und fakultativen grammatischen Elementen ist lediglich ein tief eingewurzeltes und weit verbreitetes 104 Baudelaire, Œuvres comple`tes, Bd. 1, S. 70; Sämtliche Werke /Briefe, Bd. 3, S. 195. [Anm. d. Komm.] 105 Verwendung des Plurals, bei der der Plural nicht eine Mehrheit von Objekten oder Handlungen bezeichnet, sondern eben emphatische Funktion hat. [Anm. v. I.M.] 106 Riffaterre, »Describing Poetic Structures«, S. 211. 107 A. a. O., S. 224.
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Vorurteil, das in Frage gestellt werden sollte.108 »Une expression myste´rieuse de la jouissance de la multiplication du nombre« [›ein geheimnisvoller Ausdruck der Freude an der Vervielfältigung der Zahlen‹] 109 fesselt Baudelaire; und sofort antwortet er im voraus unserem Opponenten mit dem folgenden Aphorismus aus seinen Fuse´es: »Alles ist Zahl. Die Zahl ist in allem.« 110 Kritiker zweifeln gern, ob ein normaler Leser, der für sprachliche Unterschiede empfänglich ist, die Wissenschaft von der Sprache erfaßt. Die Sprecher verwenden ein komplexes System grammatischer Beziehungen, das ihrer Sprache inhärent ist, obwohl sie nicht in der Lage sind, sie vollständig zu abstrahieren und zu bestimmen; diese Aufgabe bleibt der sprachwissenschaftlichen Analyse vorbehalten. Wie ein Hörer von Musik erfreut sich der Leser des Sonetts an dessen Strophen; und selbst wenn er die Übereinstimmungen der beiden Quartette oder der beiden Terzette erlebt und fühlt, so wäre keiner von ihnen ohne spezielle Schulung in der Lage, die latenten Faktoren dieser Harmonie zu erraten, zum Beispiel die erstaunliche rhythmische Entsprechung zwischen den Schlußversen (der eine weiblich, der andere männlich) der Quartette oder zwischen den Schlußversen (der eine männlich, der andere weiblich) der Terzette: I4 Qui comme eux / sont frileux // et comme eux / se´dentaires = II4 S’ils pouvaient / au servag(e) / incliner / leur fierte´ = – / – // – / – und außerdem III3 Qui semblent / s’endormir // dans un reˆve / sans fin = IV3 Etoilent / vaguement // leur prunelles / mystiques = – / – // – / –. Der »literary scholar of the humanist stripe« [›Literaturwissenschaftler von humanistischem Schlag‹],111 der den Sprachwissenschaftlern das Recht bestreitet, Les Chats einer strukturalen Analyse zu unterziehen, versucht, diese immanente Methode (für welche, nach Hopkins, »the verses stand or fall by their simple selves« [›die Verse durch ihre einfache Eigengestalt stehen oder fallen‹] 112 ) durch einen Bilanzbogen zu ersetzen, der mit Hilfe der Massenreaktionen auf den Stimulus erstellt wird. Wer sind diese »average readers« [›Durchschnittsleser‹], die versuchsweise als »super108 Vgl. hierzu besonders Jakobson, »Boas’ View of Grammatical Meaning«, S. 489 u. 491 f. [Anm. d. Komm.] 109 Baudelaire, Fuse´es, in: ders., Œuvres comple`tes, Bd. 1, S. 649; Sämtliche Werke /Briefe, Bd. 6, S. 193. [Anm. d. Komm.] 110 »Tout est nombre. Le nombre est dans tout.« (Baudelaire, Fuse´es, in: ders., Œuvres comple`tes, Bd. 1, S. 649; Sämtliche Werke /Briefe, Bd. 6, S. 193.) [Anm. d. Komm.] 111 Vgl. Riffaterre, »Describing Poetic Structures«, S. 207. [Anm. d. Komm.] 112 Zitat nicht ermittelt. [Anm. d. Komm.]
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readers« [›Super-Leser‹] oder »archireaders« [›Archi-Leser‹] (mit einem Neologismus, der nach dem Vorbild unseres »Archiphonems« 113 gebildet ist) verkleidet und vom Enqueˆteur für seine Enqueˆte angeworben wurden? Es sind vorwiegend, antwortet er, Übersetzer des Sonetts und »as many critics as I could find« [›so viele Kritiker, wie ich finden konnte‹], ebenso wie »students of mine and other souls whom fate has thrown my way« [›Studenten von mir und andere, die das Schicksal mir gesandt hat‹].114 Der Zwischenraum von zwölf oder dreizehn Jahrzehnten zwischen der jetzigen Enqueˆte und den ersten Lesern des neuentstandenen Sonetts erschüttert nicht das blinde Vertrauen des Meinungsforschers in die höchste Genauigkeit seines Unterfangens. Indessen behauptet The´ophile Gautier, der sich merkwürdigerweise in der Zahl der Durchschnittsleser eingeschlossen findet, der aber, was festgehalten werden sollte, ganz und gar nicht mit dem Versuch einverstanden ist, das Gedicht als Reaktion des Lesers zu betrachten,115 daß Baudelaire »die Gabe der Entsprechung« besitzt und daß er »durch eine verborgene Intuition für andere unsichtbare Beziehungen entdecken und so durch unerwartete Analogien, die nur ein Seher erfassen kann, die scheinbar am weitesten entfernten und entgegengesetztesten Dinge einander näherbringen kann«.116 Kann man die aufs Geratewohl ausgewählten Teilnehmer an der Umfrage in den Rang von »Sehern« erheben? Oder sollte man die Gabe Baudelaires, seine verborgene Intuition für Beziehungen, die für andere unsichtbar sind, für ein Faktum erklären, das – nach den Worten des Kritikers – »inaccessible to the normal reader« [›unerreichbar für den normalen Leser‹] ist und daher ungeeignet dazu, den »contact between poetry and reader« [›Kontakt zwischen Dichtung und Leser‹] herzustellen? 117 Oder muß man vielleicht Gautier das Recht entziehen, zum »Netz«, wie es in dem angeführten Passus heißt, des Meinungsforschers zugelassen zu werden? Riffaterre versichert, eine Beschreibung der Fleurs du Mal nach seiner Methode »should be an improvement« [›sollte eine Verbesserung sein‹].118 113 Ein Archiphonem ist die Menge aller gemeinsamen Merkmale zweier Phoneme, die sich nur durch ein Merkmal unterscheiden. [Anm. v. I.M.] 114 Riffaterre, »Describing Poetic Structures«, S. 215. 115 A. a. O., S. 213. 116 »Il posse`de aussi le don de correspondance, pour employer le meˆme idiome mystique, c’est-a`-dire qu’il sait de´couvrir par une intuition secre`te des rapports invisibles a` d’autres et rapprocher ainsi, par des analogies inattendues que seul le voyant peut saisir, les objets les plus e´loigne´s et les plus oppose´s en apparence.« (Gautier, »Baudelaire«, S. 316.) [Anm. d. Komm.] 117 Riffaterre, »Describing Poetic Structures«, S. 213. 118 A. a. O., S. 241 f.
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Hier nun einige Proben der »Analyse« unseres Sonetts, basierend auf der Enqueˆte der Informanten. Erinnern wir uns zunächst, mit den Worten des treffenden Resümees, das wir von E´mile Benveniste erhielten und das in unserem Aufsatz angeführt ist, daß zwischen den ›glühenden Verliebten‹ (amoureux fervents) und den ›strengen Gelehrten‹ (savants auste`res) die ›Zeit der Reife‹ (muˆre saison) auch die Rolle eines Verbindungsgliedes spielt: In der Tat treffen sie sich in der Zeit ihrer Reife, um sich ›gleichermaßen‹ (e´galement) in der Katze zu identifizieren. Denn sogar noch zur ›Zeit der Reife‹ ›glühende Verliebte‹ zu sein, bedeutet schon, außerhalb des gewöhnlichen Lebens zu sein, ganz wie es die ›strengen Gelehrten‹ aus Berufung sind: Die Eingangssituation des Sonetts ist die des Lebens außerhalb der Welt (nichtsdestoweniger wird das unterirdische Leben zurückgewiesen), und sie entwickelt sich, auf die Katzen übertragen, von der frostigen Zurückgezogenheit hin zu den großen besternten Einsamkeiten, wo Wissenschaft und Lust ein Traum ohne Ende sind.119
Die kompromißlose Rüge des Meinungsforschers teilt uns mit, daß »the scholar stricken in his scholarness, despoiled of his wisdom, the ruined scholar is the scholar in love« [›der Gelehrte, der in seiner Gelehrsamkeit gefangen, seiner Weisheit beraubt ist der ruinierte Gelehrte ist, der Gelehrte, der verliebt ist‹].120 Wenn wir in diesem Augenblick »the mediocrity of frileux and se´dentaires« [›die Mittelmäßigkeit von frileux und se´dentaires‹] 121 erfassen und der Kritiker »feels disappointed and does not know whether one should laugh or become angry« [›sich enttäuscht fühlt und nicht weiß, ob man lachen oder wütend werden soll‹], wird der Leser belehrt: »frileux is fussy and oldmaidish« [›frileux ist hochnäsig und altjüngferlich‹], und »scholars in the context and on the level of amoureux are in danger of losing their dignity: their austere mine no longer impresses us, now that we see them as chilly homebodies« [›Gelehrte im Umfeld und im Zustand von amoureux laufen Gefahr, ihre Würde zu verlieren. Ihre strenge Miene beeindruckt uns nicht mehr, nun, da wir sie als fröstelnde Stubenhocker sehen‹].122 Der Meinungsforscher geht so weit, in dem Subjekt amoureux [›die Verliebten‹] zu Beginn des Sonetts »depreciatory or condescending connotations« [›abwertende oder herablassende *Konnotationen‹] zu fin119 Persönliche Mitteilung Benvenistes an die Verfasser der Les Chats-Analyse. E´mile Benveniste (1902–1976), bedeutender Sprachforscher, der maßgeblich an der Rezeption und an der Weiterentwicklung von Saussures strukturaler Linguistik in Frankreich beteiligt war. [Anm. d. Komm.] 120 Riffaterre, »Describing Poetic Structures«, S. 217. 121 A. a. O., S. 220. 122 A. a. O., S. 220 f.
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den.123 Er bemüht sich, »a touch of parody« [›einen Hauch von Parodie‹] in l’orgueil de la maison [›Stolz des Hauses‹] ausfindig zu machen; und er neigt dazu, den Dichter mit »La Fontaine’s fox 〈who cuts〉 his blandishments to the measure of the crow« [›La Fontaines Fuchs, der seine Schmeicheleien auf die Auffassungsgabe eines Raben zurechtstutzt‹] zu vergleichen.124 Die Evozierung des Erebos im entscheidenden Moment des Sonetts verleitet erneut den Interviewer oder seine Informanten dazu, Baudelaire gleichzusetzen mit »La Fontaine calling a gardener a priest of Flora and Pomona« [›La Fontaine, der einen Gärtner den Priester der Flora und der Pomona nennt‹].125 Wie Riffaterres Entgegnung auf unsere Untersuchung dieser beiden zentralen Verse des Gedichtes den Leser zu überzeugen sucht, ist alles, was wir wirklich im Text des Dichters haben, die Tatsache, »that cats and darkness are closely associated« [›daß Katzen und Dunkelheit eng miteinander verbunden sind‹]; und der Versuch des Kritikers, den Zweizeiler in »common parlance« [›gewöhnliche Redeweise‹] zu übertragen, liest sich so: »They sure love the dark. Gee! – they could be the black horses of Hell, except that, etc.« [›Natürlich lieben sie die Dunkelheit, Mensch! – sie könnten die dunklen Höllenpferde sein, außer daß etc.‹].126 Bei der Lektüre solcher Brandmarkungen erkennt man, wie recht doch The´ophile Gautier hatte, der zum Team der Informanten (!) kooptiert wurde, wenn er uns in seiner Verteidigung Baudelaires warnte vor der »re´pugnance des esprits diurnes et pratiques, pour qui les myste`res de l’Ere`be n’ont aucun attrait« [›dem Widerwillen der am Tageslicht orientierten und praktisch veranlagten Geister, für die die Geheimnisse des Erebos keinerlei Reiz haben‹].127 Die Geistlosigkeiten von Comics, die die vorliegende Meinungsumfrage dem Sonett entnommen hat, wurden von Gautier im voraus als dessins d’une trivialite´ [›Züge einer bourgeoisen Trivialität‹] verurteilt, die Baudelaire fremd und für ihn unannehmbar sind – für ihn, der selbst n’est jamais commun [›niemals gewöhnlich ist‹].128 123 A. a. O., S. 221. 124 A. a. O., S. 220. [Anm. v. R.J.] – Jakobson bezieht sich hier auf La Fontaines Fabel vom Raben und dem Fuchs (»Le Corbeau et le Renard« [I 2], in: La Fontaine, Œuvres comple`tes, Bd. 1, S. 32; dt. Übs. in: ders., Fabeln, S. 3 f.), die bereits bei Äsop und Phädrus begegnet. [Anm. d. Komm.] 125 A. a. O., S. 224. [Anm. v. R.J.] – Flora ist die Göttin der Pflanzen, Pomona die Göttin des Obstes. [Anm. d. Komm.] 126 A. a. O., S. 225. 127 Gautier, »Baudelaire«, S. 316. [Anm. d. Komm.] 128 A. a. O., S. 310. [Anm. d. Komm.]
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Nach dem Programm der Umfrage des Kritikers wird »each point of the text that holds up the superreader […] tentatively considered a component of the poetic structure« [›jeder Punkt des Textes, an dem der Superleser innehält, vorläufig als eine Komponente der poetischen Struktur angesehen‹].129 Nun muß man zugeben, daß die ›Durchschnittsleser‹, die in die Hände des Meinungsforschers gefallen sind, sich als mediokre Sachverständige erwiesen haben; und man kann nicht umhin, Baudelaires empörter Frage zuzustimmen, die er in seinem Brief an den Kritiker Armand Fraisse vom 18. Februar 1860 formuliert: Wer ist nun der Dummkopf, der das Sonett so leichthin behandelt und seine pythagoreische Schönheit nicht sieht? Da die Form zwingend vorgeschrieben ist, blitzt die Idee stärker hervor. 〈…〉 Es herrscht hier die Schönheit eines gut bearbeiteten Metalls und Minerals. Haben Sie bemerkt, daß ein Stück Himmel, durch eine Kellerluke wahrgenommen 〈…〉, eine tiefere Vorstellung des Unendlichen vermittelt als der weite Ausblick, den man von der Höhe eines Berges aus hat? 130
Nach den Notizen Baudelaires ist das, was ein Sonett benötigt, ein Plan; und es ist die Konstruktion, das Gerüst, was sich als die wichtigste Garantie für das geheimnisvolle Leben erweist, das den Werken des Geistes bestimmt ist.131 In unserer gemeinsamen Untersuchung von Les Chats haben Le´viStrauss und ich darauf hingewiesen, daß das Motiv des Schwankens zwischen männlich und weiblich diesem Sonett zugrunde liegt. Das Epikoinon,132 das in gleicher Weise männliche und weibliche Wesen bezeichnet, schafft ein weiteres Mal eine Meinungsverschiedenheit einerseits zwischen jenen ›Superlesern‹, die sich weigern, die Weiblichkeit der Gestalten des Sonetts zuzugeben, und Theophile Gautier andererseits, dessen Kommentar zu dem Gedicht die »zärtlichen, feinfühligen, verschwiegenen, weiblichen [Kursivierung von Gautier] Liebkosungen« ins Gedächtnis 129 Riffaterre, »Describing Poetic Structures«, S. 215. [Anm. d. Komm.] 130 »Quel est donc l’imbe´cile qui traite si le´ge`rement le Sonnet et n’en voit pas la beaute´ pythagorique? Parce que la forme est contraignante, l’ide´e jaillit plus intense 〈…〉. Il y a la` la beaute´ du me´tal et du mine´ral bien travaille´s. Avez-vous observe´ qu’un morceau de ciel, aperc¸u par un soupirail 〈…〉 donnait une ide´e plus profonde de l’infini qu’un grand panorama vu du haut d’une montagne?« (Baudelaire, Correspondance ge´ne´rale, Bd. III, S. 676). [Anm. d. Komm.] 131 Vgl. ebd. [Anm. d. Komm.] 132 »Epikoinon (griech. epı´-koinos ›gemeinsam‹; engl. epicene). Auf Lebewesen referierendes *Nomen, das ohne Wechsel des grammatischen Genus sowohl weibliche als auch männliche Personen /Tiere bezeichnen kann, vgl. dt. die Person, die Ratte« (Bußmann [Hg.], Lexikon der Sprachwissenschaft, S. 195). [Anm. d. Komm.]
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ruft.133 Sein Hinweis auf die weibliche Natur der Katzen ist eingebettet in beredte Anspielungen auf die Bildlichkeit des Sonetts, wie etwa die bevorzugte attitude [›Haltung‹] dieses genius loci, die von Gautier als la pose allonge´e des sphinx [›die hingestreckte Haltung der Sphinxe‹] beschrieben wird, die Vorliebe für le silence [›die Stille‹] und für les te´ne`bres [›die Finsternis‹], die den katzenhaften prunelles sable´es d’or [›goldbesandeten Pupillen‹] mit ihrer pe´ne´tration magique [›magischen Durchdringung‹] und jenen ´etincelles [›Funken‹], die aus ihrem Rücken aufblitzen, zugänglich sind.134 Die Kritiker, die diese Katzen für Kater halten und denen die Idee der Ambiguität die Vorstellung des Dichters zu überschreiten scheint, stoßen sich an Benvenistes Notiz (s. o. S. 766) mit ihrer scharfsinnigen Bemerkung über das Oxymoron reins fe´conds [›fruchtbare Lenden‹], bei dem das Substantiv auf die Kraft des Männlichen und das Adjektiv auf die Gabe des Weiblichen anspielt; die Verbindung der Wörter puissants et doux [›mächtig und sanft‹] bildet das Pendant zu diesem Schlußoxymoron. Wenn Riffaterre die androgyne Natur der Sphinx als alter ego der Katzen in dem Sonett leugnet und behauptet, die Romantiker hätten »virtually abandoned the Greek female-bosomed monster« [›das griechische Ungeheuer mit den Frauenbrüsten praktisch aufgegeben‹],135 vergißt er, daß das von Baudelaire evozierte Bild d’un Œdipe obsede´ par d’innombrables Sphinx [›eines von unzähligen Sphinxen heimgesuchten Ödipus‹] 136 sie fest an den griechischen Mythos bindet und daß der Dichter, wenn er den grand peintre [›großen Maler‹] 137 Ingres wegen seiner œuvres d’une profonde volupte´ [›zutiefst wollüstigen Werke‹] rühmt,138 insbesondere das berühmte Bild des Künstlers von Ödipus, der das Rätsel auflöst,139 bewundert und sich auf die Darstellung der Sphinx und den 133 Gautier, »Baudelaire«, S. 304. [Anm. v. R.J.] – Im Original: »caresses tendres, de´licates, silencieuses, fe´minines«. [Anm. d. Komm.] 134 Ebd. – Die von Baudelaires Sonett abweichenden Formulierungen gehen auf den Essay von Gautier (»Baudelaire«, S. 303 f.) zurück. [Anm. d. Komm.] 135 Riffaterre, »Describing Poetic Structures«, S. 238. [Anm. d. Komm.] 136 Baudelaire, »Re´flexions sur quelques-uns de mes contemporains: I. Victor Hugo«, in: ders., Œuvres comple`tes, Bd. 2, S. 137; Sämtliche Werke /Briefe, Bd. 7, S. 146. [Anm. d. Komm.] 137 Baudelaire, »Salon de 1845: II. Tableaux d’histoire: 2. Dernie`res paroles de MarcAure`le«, in: ders., Œuvres comple`tes, Bd. 2, S. 356; Sämtliche Werke /Briefe, Bd. 1, S. 133. [Anm. d. Komm.] 138 Baudelaire, »Salon de 1846: VIII: De quelques dessinateurs«, in: ders., Œuvres comple`tes, Bd. 2, S. 460; Sämtliche Werke /Briefe, Bd. 1, S. 243. [Anm. d. Komm.] 139 Gemeint ist Ingres’ Gemälde Œdipe et le sphinx (1808), Paris, Muse´e du Louvre (Inv. RF 218). [Anm. d. Komm.]
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durchdringenden Blick des Königs, der auf die prachtvollen Brüste des Ungeheuers gerichtet ist, konzentriert. Der Tendenz folgend, um jeden Preis die Sphinxe des Sonetts zu vermännlichen, geht ein anderer Kritiker, Le´on Cellier, so weit zu behaupten, daß nicht nur die Katzen des maˆles, des matous [›Männchen, Kater‹] sind, sondern daß ihre 〈der Sphinxe〉 Stellung das Bild »d’un homme faisant l’amour« [›eines sich der körperlichen Liebe hingebenden Mannes‹] evoziere.140 L’Horloge [›Die Uhr‹], Baudelaires Prosagedicht, wird vom Kritiker herangezogen, um die irrigen Analogien zwischen Les Chats und der weiblichen Natur auszurotten. In der ersten, im Jahre 1857 veröffentlichten Version fügte dieses Gedicht zu dem zweifach alliterierenden Anfangssatz Les Chinois voient l’heure dans l’œil des chats [›Die Chinesen sehen die Uhrzeit im Auge der Katzen‹] die Worte hinzu: moi aussi [›ich auch‹], die in der Variante von 1861 weggelassen sind. Der zentrale dritte Abschnitt des Gedichtes kam auf das gleiche Pronomen zurück und begann mit den Worten: Pour moi, quand je prends dans mes bras mon bon chat, mon cher chat, qui est a` la fois l’honneur de sa race, l’orgueil de mon cœur [›Was mich angeht, wenn ich nehme in meine Arme meine gute Katze, meine teure Katze, die ist zugleich die Zierde ihrer Rasse, der Stolz meines Herzens‹] 141 – und erst in der dritten Version des Gedichts aus dem Jahr 1862 wird diese Passage schließlich durch den folgenden, nunmehr ganz deutlichen Text ersetzt: Pour moi, si je me penche vers la belle Fe´line, la si bien nomme´e, qui est a` la fois l’honneur de son sexe, l’orgueil de mon cœur [›Für mich, wenn ich mich beuge zu der schönen Fe´line, der so wohl benannten, die ist zugleich die Zierde ihres Geschlechts, der Stolz meines Herzens‹].142 Es ist leicht, in diesen Zeilen das Echo auf das Sonett zu erkennen, in dem »die glühenden Liebenden 〈…〉 aiment les chats [›lieben die Katzen‹] 〈…〉 den Stolz des Hauses«. Das Substitutionsverhältnis zwischen »meine gute Katze, meine liebe Katze, die Zierde ihrer Rasse« und »die schöne Fe´line, die so passend benannt ist, die Zierde ihres Geschlechts« enthüllt die Affinität der beiden Bilder und konkretisiert gleichzeitig die unvermittelten und aufschlußreichen Betrachtungen des Dichters über die »Freuden der Wollust, die sogar unabhängig vom Geschlecht 〈…〉 und von der Gattung des Lebewesens« sind.143 140 Cellier, »›Les Chats‹ de Charles Baudelaire: Essai d’exe´ge`se«, S. 215. 141 Baudelaire, »L’horloge« [Fassung von 1857], in: ders., Œuvres comple`tes, Bd. 1, S. 299 f. u. 1320; Sämtliche Werke /Briefe, Bd. 8, S. 169). [Anm. d. Komm.] 142 Baudelaire, »L’horloge« [Fassung von 1862 u. 1869], in: ders., Œuvres comple`tes, Bd. 1, S. 299. [Anm. d. Komm.] 143 »Les volupte´s de l’entreteneur tiennent a` la fois de l’ange et du proprie´taire. Charite´
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Der Kritiker unterstellt dem Autor von L’Horloge [›Die Uhr‹] die Absicht, von seinem ehemaligen Sonett abrücken zu wollen, und er will uns davon überzeugen, daß in diesem Prosagedicht »the mystic elan is negated, as it were, by the ›realistic‹, prosaic style« [›der mystische Elan verneint wird durch den sozusagen ›realistischen‹, prosaischen Stil‹].144 Ein phantasievolles Beispiel für diese bloß eingebildete »Negation« bildet den Höhepunkt dieses Werks: Au fond de ses yeux adorables (jenen der bon chat [›guten Katze‹] in der Ausgabe von 1857 und der belle Fe´line [›schönen Fe´line‹] in der Ausgabe von 1862) je vois toujours l’heure distinctement, toujours la meˆme, une heure vaste, solennelle, grande comme l’espace [›Am Grunde ihrer anbetungswürdigen Augen sehe ich immer deutlich die Uhrzeit, immer die gleiche, eine Uhrzeit, die weit ist, feierlich, groß wie der Raum‹]; 145 kurzum: hier erscheinen die gleichen raum-zeitlichen Erweiterungen, wie sie die Terzette des Sonetts zeigen. Der Sprachwissenschaftler versucht, the inscape [›das innere Wesen‹] der Poesie zu erkennen, the underthought [›den zugrundeliegenden Gedanken‹] von Gedichten, in Übereinstimmung mit dem Epilog dieses madrigal emphatique [›emphatischen Madrigals‹],146 wie es Baudelaire nennt: »Und wenn irgendein Störenfried käme und mich aus der Ruhe et fe´rocite´. Elles sont meˆme inde´pendantes du sexe, de la beaute´ et du genre animal.« (Baudelaire, Fuse´es, in: ders., Œuvres comple`tes, Bd. 1, S. 650. Dt. Übs.: »Die Wollust des Zuhälters hat zugleich etwas vom Engel und vom Eigentümer an sich. Erbarmende Liebe und tierische Grausamkeit. Ja, sie ist sogar unabhängig vom Geschlecht, von der Schönheit und der Gattung des betreffenden Wesens.« [Baudelaire, Sämtliche Werke /Briefe, Bd. 6, S. 194.]) [Anm. d. Komm.] 144 Riffaterre, »Describing Poetic Structures«, S. 237. 145 Baudelaire, »L’horloge«, in: ders., Œuvres comple`tes, Bd. 1, S. 299; Sämtliche Werke / Briefe, Bd. 8, S. 169. [Anm. d. Komm.] 146 A. a. O., S. 300. – Unklar bleibt zunächst, warum der fiktive Sprecher von Baudelaires Prosagedicht, der sich im Schlußabschnitt an eine Dame als Adressatin wendet, seinen Text als ›Madrigal‹ bezeichnet. Allerdings gibt es in der Tat ein Madrigal des englischen Renaissance-Komponisten John Dowland (1562/3–1626) mit folgendem Text: »Time stands still with gazing on her face, / Stand still and gaze for minutes, hours, and years to her give place. / All other things shall change, but she remains the same, / Till heavens changed have their course and Time hath lost his name.« [›(Der Gott der) Zeit steht still, sobald er auf ihr Antlitz blickt. / So steh denn still, und blicke Minuten, Stunden und Jahre, um ihr Raum zu geben. / Alle anderen Dinge werden sich wandeln, doch sie bleibt dieselbe, / Bis daß die Himmel ihre Bahn wechseln und (der Gott der) Zeit seinen Namen verloren hat.‹] (In: Dowland, The Third Booke of Songs or Ayres [1603], Nr. II, abgedruckt bei Kelnberger, Text und Musik bei John Dowland. Eine Untersuchung zu den Vokalkompositionen des bedeutendsten Lautenvirtuosen der Englischen Renaissance, S. 302; Übersetzung in Anlehnung an Kelnberger, ebd. 303.) – Bei Dowland blickt auf der
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brächte 〈…〉, wenn irgendein 〈…〉 Dämon der Unzeit käme und mich fragte: ›Was betrachtest Du mit so großer Sorgfalt? Was suchst Du in den Augen dieses Wesens? Kannst du dort die Uhrzeit erkennen, du sterblicher Mensch, der Hab und Gut verschleudert und dem Müßiggang frönt?‹, dann würde ich, ohne zu zögern, antworten: ›Ja, ich erkenne die Uhrzeit; es hat die Ewigkeit geschlagen!‹« 147 Mein kritischer Überblick über die Einwände, die von unseren Opponenten erhoben worden sind, hat sich in erster Linie auf die Diskussion um den Aufsatz von Claude Le´vi-Strauss und mir vom Jahre 1962 »Les Chats de Charles Baudelaire« konzentriert, denn diese Arbeit war der erste meiner Versuche, die Grammatik der Poesie an einem konkreten Beispiel zu untersuchen, der in einer westlichen Sprache gedruckt wurde, und der erste publizierte Versuch, mich dieser Aufgabe im Hinblick auf westliche Poesie zu unterziehen. Darüber hinaus war es der erste Fall einer gemeinsamen und gleichzeitigen Behandlung eines solchen Themas durch zwei Forscher, wobei jeder einen anderen sprachlichen Hintergrund und eine verschiedenartige fachliche Ausbildung hatte. Als Antwort auf unseren Aufsatz bescherte Georges Mounin den Akten des Baudelaire-Kolloquiums, das im Mai des Jahres 1967 in Nizza abgehalten wurde, sechs Seiten voller eklatanter Irrtümer. Ungeachtet der Tatsache, daß Le´vi-Strauss in seinem Vorwort zu unseren gemeinsamen Bemühungen darauf besteht, die wechselseitige Komplementarität der behandelten Probleme aufzudecken, gibt Mounin selbstbewußt vor, »jedes Mal, wenn Jakobson seine Feder Le´vi-Strauss überläßt, une coupure nette [›einen klaren Bruch‹]« 148 entdeckt zu haben. Tatsächlich wurde fast buchstäblichen Ebene des Textes nicht der Sprechende, sondern die männliche (!) Personifikationsallegorie des Zeitgottes (Chronos) in die Augen eines geliebten weiblichen Wesens, und der Zeitgott erstarrt offenbar ob dieses Anblicks und muß innehalten. Im übertragenen Sinne meint dies zugleich, daß der Liebende beim Blick in die Augen seiner Dame den Lauf der Zeit vergißt. Allerdings handelt es sich bei Dowland zweifelsohne um eine menschliche Geliebte, nicht um eine Katze. – Zum Einfluß der Renaissance-Dichtung auf Baudelaire generell vgl. ausführlicher Rainer Warning, »Imitatio und Intertextualität: Zur Geschichte lyrischer Dekonstruktion der Amortheologie (Dante, Petrarca, Baudelaire)«. [Anm. d. Komm.] 147 »Et si quelque importun venait me de´ranger 〈…〉, si quelque 〈…〉 De´mon du contretemps venait me dire: ›Que regardes-tu avec tant de soin? Que cherches-tu dans les yeux de cet eˆtre? Y vois-tu l’heure, mortel prodigue et faine´ant?‹ je re´pondrais sans he´siter: ›Oui, je vois l’heure; il est l’E´ternite´!‹« (Baudelaire, »L’horloge«, in: ders., Œuvres comple`tes, Bd. 1, S. 300; Sämtliche Werke /Briefe, Bd. 8, S. 169.) [Anm. d. Komm.] 148 Mounin, »Baudelaire devant une critique structurale«, S. 159. [Anm. d. Komm.]
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jeder Satz des Aufsatzes buchstäblich gleichzeitig und am selben Tisch in gemeinsamen cogitations [›Überlegungen‹], wie Le´vi-Strauss es nannte, verfaßt; und keiner von uns wäre in der Lage, den eigenen Beitrag von dem des anderen zu trennen. Es war sogar Le´vi-Strauss, der mich zuerst auf einige eindrucksvolle grammatische Korrelationen, die dem Sonett zugrunde liegen, aufmerksam gemacht hat, und ich habe einige seiner Notizen aufbewahrt, die seine treffenden Feststellungen bezüglich der phonetischen und grammatischen Äquivalenzen und Oppositionen des Dichters zur Diskussion stellen. Andererseits wurde meine Aufmerksamkeit in besonderem Maße durch vorher unbeachtete Konstituenten der mythischen Fabel des Gedichts gefesselt. Mit der gleichen Ungezwungenheit widerspricht Georges Mounin 149 den Tatsachen, wenn er erklärt, daß Jakobson mit dem Terminus ›Verfahren‹ [frz. proce´de´, russ. prie¨m, engl. device] operiert, weil le mot structure n’e´tait pas encore apparu dans le ciel des ide´es [›das Wort Struktur noch nicht am Ideenhimmel erschienen war‹],150 wohingegen in Wirklichkeit die beiden Begriffe prie¨my und struktura zum ersten Mal an ein und demselben Ort erscheinen, nämlich im zweiten Abschnitt meiner frühesten Publikation (siehe Novejsˇaja russkaja poe˙zija [›Neueste russische Poesie‹], geschrieben 1919). Georges Mounins Geringschätzung der Fakten zwingt ihn, die Ähnlichkeit von r und l zu leugnen,151 die durch ihren gegenseitigen Ersatz in der Kindersprache und in der Aphasie zur Genüge bewiesen ist,152 ebenso wie durch die interdialektale und interlinguale Identifikation der verschiedenen phonetischen Formen der *Liquide in der Wahrnehmung von Muttersprachlern.153 In gleicher Weise ist der gefühlsmäßige Unterschied zwischen den *Phonemen /r/ und /l/ als abrupten und sanften Gegenstücken 154 genügend etabliert und von den Erforschern der ›Lautsymbolik‹ 155 bestätigt. 149 150 151 152
A. a. O., S. 160. Ebd. Ebd. [Anm. d. Komm.] Vgl. Jakobson, Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze, S. 345, 368 u. 393 f. [Anm. d. Komm.] 153 Vgl. Jakobson, »Observations sur le classement phonologique des consonnes«, S. 278 f., Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze, S. 351 f., 366 u. 393 f., »Six lec¸ons sur le son et le sens«, S. 339, »Notes on the French Phonemic Pattern«, S. 430 f., Jakobson /Waugh, The Sound Shape of Language, S. 91 f.; dt. Übs.: Die Lautgestalt der Sprache, S. 94–96. [Anm. d. Komm.] 154 In Jakobson /Halles Liste der »distinctive features« als Opposition »discontinuous / continuant« aufgeführt (»Phonology and Phonetics«, S. 485). [Anm. d. Komm.]
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Alle acht Substantive am Zeilenende sind Feminina. Der Kritiker verbindet das Erkennen dieser Symmetrie mit einer rhetorischen Frage: Mais pourquoi ne conside´rer qu’eux seuls? [›Aber warum nur jene allein berücksichtigen?‹].156 Indessen gehen symmetrische Kompositionsregeln viel weiter, obwohl der Kritiker darüber schweigt. Die Substantive am Versende sind zwischen den beiden, sieben Zeilen langen Hälften des Sonetts symmetrisch verteilt, vier in jeder Hälfte. Die sechs Adjektive am Versende sind wiederum symmetrisch verteilt: drei in jeder Hälfte des Gedichtes. Nur Substantive und Adjektive werden im Reim verwendet. Der einzige Reim, der die Brücke zwischen den beiden Hälften des Gedichts, der fünften und der achten Zeile, schlägt, verbindet zwei Substantive. Die anderen drei Reime in jeder Hälfte des Gedichts bestehen aus einem substantivischen Reim, einem adjektivischen Reim und einem Reim, der ein Substantiv einem Adjektiv gegenüberstellt. Die hybriden Reime der vorletzten Zeilen jeder Gedichthälfte enden auf ein maskulines Adjektiv, das auf ein feminines Substantiv (6 tene`bres, 7 fune`bres; 11 sans fin, 13 sable fin) reimt. Der rein substantivische Reim jeder Hälfte verbindet deren zweite Zeile mit der dritten Zeile. Die zwei äußersten Reime des Sonetts, der am Anfang und der am Schluß, sind die einzigen Reime mit Adjektivpaaren; diese Reime eröffnen und beschließen das Gedicht (1 austeres, 14 mystiques). Man kann der ironischen Erwiderung nur zustimmen, die Mounins Unverständnis der Bindungen zwischen dem Aufbau des Gedichts, der Klassifikation der Reime und der Auswahl der grammatischen Kategorien in der treffenden Begrüßungsansprache Georges Pompidous 157 auf demselben Baudelaire-Kolloquium erhielt. Ich habe Mounin als das ziemlich erstaunliche Beispiel eines Kritikers angeführt, dem jeglicher Sinn für die Wortkunst und für die poetische Bedeutung ihres sprachlichen Mediums fehlt. Wenn sich unsere Antwort an die Teilnehmer der Diskussion über unsere Chats auf Riffaterres Erwiderung konzentrierte, dann geschah das deshalb, weil sein ausführlicher Versuch, die sprachwissenschaftliche Konzeption der Poetik zu demontieren, manchmal in rührend simplifizierender Weise, die meisten der Ar155 E. g. Maxime Chastaing’s „students felt /r/ to be ›very rough, strong, violent, heavy, pungent, hard, near-by, and bitter‹ in contrast to /l/, which seemed ›light-weighted, debonair, clear, smooth, weak, sweet, and distant‹« (Jakobson /Waugh, The Sound Shape of Language, S. 191; dt. Übs.: Die Lautgestalt der Sprache, S. 206). [Anm. d. Komm.] 156 Mounin, »Baudelaire devant une critique structurale«, S. 158. [Anm. d. Komm.] 157 Pompidou, »Allocution«, S. 215.
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gumente, die von den anderen Sachverständigen zusammengetragen wurden, mitumfaßt. Die charakteristischen Eigenschaften, die der Archisachverständige Riffaterre mit den ›Durchschnittssachverständigen‹ teilt, sind von denjenigen, die auf Riffaterres Argumentation geantwortet haben, aufgezeigt worden. So stellte James A. Boon in seinem Aufsatz über das Katzensonett fest, daß »many of his 〈scil. Riffaterre’s〉 criticisms come from certain mistaken suppositions about the authors’ goals« [›viele von seinen Kritikpunkten von bestimmten unzutreffenden Annahmen über die Ziele der Autoren herrühren‹].158 Christine Brooke-Rose fragt klugerweise, warum man den ›Superleser‹ bevorzugen sollte: The law of perceptibility taken to its logical conclusion would mean that no critic would be allowed to discover hitherto unnoticed features on the grounds that they had hitherto been unnoticed. ›Dächte man das Gesetz der Wahrnehmbarkeit folgerichtig bis zu Ende, so würde dies bedeuten, daß man keinem Kritiker erlauben dürfte, bis dahin unbemerkte Merkmale zu entdecken – und zwar aus dem Grund, daß sie bis dahin unbemerkt geblieben waren.‹ 159
Antoine Fongaro unterstreicht die Willkür von Riffaterres eigenem interpretatorischen Vorgehen gegenüber Baudelaires Text.160 Short stellt die Irrelevanz der Beweisgründe heraus, die Riffaterre mit seiner Haltung gegenüber dem Text des Dichters vorbringt.161 Reinhold Wolff tadelt Riffaterre wegen seines nur scheinbaren Objektivismus: »das ›Analysegerät‹ des fiktiven Archilesers eröffnet kein im strengen Sinn reliables Verfahren«.162 Weit davon entfernt, die Bemühungen unserer Opponenten herabsetzen zu wollen, war es einzig und allein mein Ziel, die systematische Erforschung der poetischen Probleme der Grammatik und der grammatischen Probleme der Poesie weiterzuführen und sie zu verteidigen.163
Dank der weiteren internationalen Entwicklung dieser zwei Themen und dank der Veröffentlichung von immer neuen Beispielen unterschiedlicher 158 Boon, »Structural Analysis. A View from Baudelaire’s Les Chats«, S. 51. 159 Brooke-Rose, A Structural Analysis of Pound’s Usura Canto. Jakobson’s Method Extended and Applied to Free Verse, S. 4 f. 160 Man vergleiche auch Hardy, »The´orie et me´thode stylistique de M. Riffaterre«, S. 93. 161 Short, »Linguistic Criticism and Baudelaire’s ›Les Chats‹«. 162 Wolff, Strukturalismus und Assoziationspsychologie, S. 26 f. 163 Die folgenden Absätze bis zum Ende des Artikels finden sich ausschließlich in SW III, S. 785–788 und wurden für die vorliegende Ausgabe eigens übersetzt. [Anm. d. Komm.]
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Gedichte, die im Lichte dieser Themen analysiert wurden, verlor die Kampagne der Literaturtheoretiker gegen solch eine grammatische Untersuchung der Poesie an Kraft. Gleichwohl sollte man ein paar Bemerkungen über den härtesten Angriff hinzufügen, der gegen mein Eindringen in die poetische Grammatik unternommen wurde; diesmal zielte er auf ein anderes, später entstandenes Stück der Fleurs du mal ab, auf das letzte der Spleen-Gedichte der Sammlung. Das zweite Kapitel von Jonathan Cullers Buch Structuralist Poetics [›Strukturalistische Poetik‹] widmet sich »Jakobsons poetischer Analyse« von Baudelaires Gedicht.164 Der Wechsel zwischen Ungerade und Gerade spielt eine entscheidende Rolle bei der Strukturierung dichterischer Texte. Die Unterscheidung von ungeraden und geraden Reimen innerhalb derselben Strophe ist ein grundlegender Typus des Reims überhaupt, das Gleiche gilt für die unterschiedlichen Typen metrischer Differenzierung zwischen ungeraden und geraden Versen. Die Frage nach den strukturellen Unterschieden zwischen den Strophen eines Gedichts – und insbesondere zwischen seinen ungeraden und geraden Strophen 165 – stellt sich für den Gedichtanalytiker ganz von selbst, erst recht wenn er ganz und gar eindeutigen, höchst auffälligen Merkmalen gegenübersteht, die den gesamten Text durchziehen, wie dies bei den fünf Vierzeilern von Spleen zu beobachten ist. Es gibt dort einen beständigen Unterschied zwischen seinen drei ungeraden und zwei geraden Strophen. Während der gesamte Text des Gedichts in seinen Verbformen keine andere als die dritte Person benutzt – die ›Nicht-Person‹, wie letztere in der linguistischen Tradition genannt wird –, geben die Pronominalformen ein völlig andersgeartetes Ordnungsprinzip zu erkennen. Das Pronomen der ersten Person kommt in allen drei ungeraden Strophen vor, entweder in seiner substantivischen (I4 nous [›wir‹]) oder in seiner adjektivischen Variante (III4 nos [›unsere‹]; V4 mon [›mein‹]). Die Form der ersten Person steht in allen drei ungeraden Strophen zu einem Pronomen der dritten Person in Opposition – substantivisch in I4 il [›er‹], adjektivisch in III1,4 ses [›seine /ihre‹] und V4 son [›sein‹]. Somit bietet das Ende einer jeden ungeraden Strophe die 164 Jonathan Dwight Culler (geb. 1944), nordamerikanischer Literaturwissenschaftler, lehrt an der Cornell University. In der Folge der Auseinandersetzung mit Jakobson ist er weltberühmt geworden, nicht zuletzt da er sich mit den Diskussionen um Strukturalismus, Poststrukturalismus und Dekonstruktion ebenso kenntnisreich wie eigenständig auseinandergesetzt und wichtige Positionen in den Vereinigten Staaten bekannt gemacht hat. [Anm. d. Komm.] 165 Vgl. bes. Jakobson /Jones, »Shakespeare’s Verbal Art in ›Th’Expence of Spirit‹«, bes. S. 291–294; dt. Übs. in der vorliegenden Ausgabe, Bd. 1, S. 635–640. [Anm. d. Komm.]
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gleiche Sequenz von dritter und erster Person und eine symmetrische Entsprechung zwischen der erst- und der letztgenannten: Dem *substantivischen Pronomen il [›er‹] folgt das substantivische Pronomen nous [›wir‹], auf den Plural des Possessivums ses [›seine /ihre‹] folgt das Pluralpossessivum nos [›unsere‹] und auf das Singularpossessivum son [›sein / ihr‹] der possessive Singular mon [›mein‹]. Im Unterschied zu den ungeraden Strophen kommt in den geraden Strophen die Kategorie der Personalpronomina nur in der Reflexivform vor: II3 s[e] und IV4 se [›sich‹]. Die interne oder externe *Kontiguität dieser Formen mit untergeordneten Phrasen ist für beide geraden Strophen charakteristisch: II3 S’en va battant les murs [›Auffliegt, prallend gegen die Mauern‹]; II4 Et se cognant la teˆte [›Und sich anstoßend den Kopf‹]; IV4 Qui se mettent a` geindre [›die sich daran machen zu winseln‹]. Das zitierte Material beweist die Anwesenheit pronominaler Formen in allen fünf Strophen; und all diese Formen gehören zum vierten, das heißt letzten Vers jeder einzelnen Strophe, wobei sie auch noch ein weiteres Mal in einem früheren Vers der Strophe auftreten können. Die zwingend notwendige Anwesenheit von Formen, die sich am Ende einer jeden ungeraden Strophe auf die erste Person beziehen, wird noch unterstrichen durch die Oppositionsbeziehung, in der sie zu den Markierungen der dritten Person innerhalb desselben Verses steht, sowie durch die Reduktion der Personalformen zu reinen Reflexivpronomina in den Schlußversen der geraden Strophen; somit weist dies auf deren hauptsächlich pragmatische Bedeutung innerhalb der Äußerungssituation hin. Die Einzigartigkeit der Rolle, welche die Person des Sprechers in der Rede spielt, wird im Gedicht besonders durch die Abwesenheit einer angesprochenen Instanz in zweiter Person und durch den Übergang von der Mehrzahl I4 nous [›wir‹] und III4 nos [›unsere‹] zur Einzahl von V4 mon [›mein‹] unterstrichen; es handelt sich hierbei um ein grundlegendes Verfahren der Sprache, wie es bei Philosophen und Sprachwissenschaftlern seit Jahrhunderten bekannt ist und wie es auch durch E´mile Benveniste, einen der hellsichtigsten Linguisten unseres Zeitalters, dargelegt wurde.166 Der Bezug auf den Sprecher und auf die Personen seines Umfelds verleiht den ungeraden Strophen eine stärker subjektiv gefärbte Stimmung. Und schließlich werden wir mit der Antithese einer absteigenden Bewegung in der Bildlichkeit (imagery) der ungeraden Strophen und einer aufsteigenden Bewegung in den geraden Strophen konfrontiert (I le ciel 166 Vgl. Benveniste, »De la subjectivite´ dans le langage« [dt. Übs.: »Über die Subjektivität in der Sprache«]. [Anm. d. Komm.]
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〈…〉 pe`se 〈…〉 sur l’esprit [›der Himmel lastet auf dem Geist‹]; III la pluie ´etalant ses immenses traıˆne´es [›der Regen, ziehend seine unermeßlichen Schlieren‹]; V L’Angoisse atroce, despotique, / Sur mon craˆne incline´ plante 〈…〉 [›Die Angst als grauenerregende Gewaltherrscherin / Auf meinem gebeugten Schädel hißt‹]; im Kontrast zu: II L’Espe´rance 〈…〉 battant 〈…〉 les ailes 〈…〉 et se cognant la teˆte a` des plafonds pourris [›Wenn die Hoffnung mit den Flügeln schlägt und gegen die modrige Decke stößt‹] und IV Des cloches 〈…〉 lancent vers le ciel 〈…〉 [›Glocken schleudern himmelwärts‹]). Keiner dieser offenkundigen Unterschiede in der Strukturierung der ungeraden und geraden Strophen des Spleen-Gedichts wird von Culler überhaupt wahrgenommen. Er verwirft mit beißender Ironie das Interesse an »the symmetrie of odd versus even« [›der Symmetrie zwischen ungeraden und geraden Strophen‹] 167 und am »looking forth at the distinction of grammatical forms« [›Achten auf die Unterscheidung grammatischer Formen‹].168 Er versteht nicht die Bedeutung von Oppositionen, die sowohl für die Sprache als auch für den Geist entscheidend sind, so etwa die Unterscheidung von erster Person und ›Nicht-Person‹. Und auf frivole oder vielleicht auch etwas naive Art behauptet er, »one can produce distributional categories almost ad libitum« [›man könne Distributionskategorien beinahe nach Belieben produzieren‹].169 Weder die offensichtlich strenge Regelmäßigkeit in der strophischen Distribution grammatischer Gegensätze noch die Objektivität einer hierarchischen Ordnung, die den grammatischen Oppositionen zu Grunde liegt und die man schon allein aus internen linguistischen Gründen akzeptieren müßte, scheinen für den Kritiker zu existieren. Ein Kritiker, der sogar für die grundlegende Zweiteilung blind ist, nach der die Quartette des Spleen-Gedichts gebaut sind, bleibt auch für die Tatsachen unempfänglich oder flüchtet in kindische Haarspaltereien, wenn es um die zentrale Unterteilung der ungeraden Quartette in die Mittelstrophe einerseits und die beiden Randstrophen andererseits, das heißt die Anfangs- und die Schlußstrophe, geht. Obwohl jede dieser Unterteilungen (um mit Baudelaire zu sprechen) ihren eigenen mode de construction [›Konstruktionsweise‹] enthält, stellt das Gedicht deutlich unterschiedliche Grade der Zugehörigkeit zu dem Baudelaireschen loi grammaticale qui nous enseigne de modifier le substantif par l’adjectif [›grammatischen Gesetz, das uns lehrt, das Substantiv durch das Adjektiv zu beeinflussen‹]. Die beiden geraden Quartette enthalten die geringste An167 Culler, »Jakobson’s Poetic Analyses«, S. 59. 168 Zitat nicht ermittelt. [Anm. d. Komm.] 169 A. a. O., S. 57. [Anm. d. Komm.]
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zahl von qualifizierenden Beiwörtern, während zwei der drei ungeraden Quartette, nämlich die Anfangs- und Endstrophe, die höchste Anzahl erkennen lassen. Die Affinität zwischen diesen zwei Quartetten wird dadurch verstärkt, daß in jedem von den beiden das gleiche Paar von Epitheta vorkommt: I1 longs ennuis [›lange Ekelgefühle‹] (Maskulinum Plural), I4 jour noir [›schwarzer Tag‹] (Maskulinum Singular) und ähnlich V1 longs corbillards [›lange Leichenzüge‹] (Maskulinum Plural), V4 drapeau noir [›schwarze Flagge‹] (Maskulinum Singular). (Was die Merkmale des Mittelquartetts und die Kategorie der qualifizierenden Beiwörter betrifft, die der Kritiker mißverstanden hat, vgl. meine Bemerkungen in den Questions de poe´tique, Seite 496–497, und den Hinweis auf Tesnie`res erhellenden Beitrag zu dieser Frage.170 ) Gutgläubig übernimmt Culler veraltete Vorurteile gegen die Wissenschaft von der Sprache und behauptet, »linguistic categories are so numerous and flexible« [›linguistische Kategorien seien so zahlreich und dehnbar‹],171 daß jedwede Suche nach ihrer regelhaften Anordnung nutzlos bleibe, und »even where linguistics provides definite and well-established procedures for classing and describing elements of a text, it does not solve the problem of what constitues a pattern« [›selbst wenn die Linguistik eindeutig bestimmte und allgemein eingeführte Verfahrensweisen zur Verfügung stellt, um die Bestandteile eines Textes zu klassifizieren und zu beschreiben, beantwortet sie damit noch nicht die Frage, was denn eine regelhafte Anordnung sei‹].172 Die gleiche Art von fruchtloser Skepsis führt den Kritiker dazu, an der poetischen Bedeutung von auffällig wiederholten Phonemsequenzen zu zweifeln, wie sie sich insbesondere an den fünf Paaren von Nasalvokalen mit vorausgehenden oder nachfolgenden *Sibilanten zeigen, nämlich in den drei letzten Versen der vierten Strophe,173 wozu sich ein Echo im Anfangs- und Schlußvers der fünften Strophe findet (V1 sans, V4 son). Der Kritiker geht sogar so weit, das Leitmotiv des Gedichts zu mißachten, das aus einer dichten und phantasievollen Kombination symmetrischer Klangbilder, suffigierter sowie flektierter Figuren und Paronomasien besteht: I2 l’esprit 〈…〉 en proie, II2 l’espe´rance 〈…〉 –souris, IV3 esprits, V2 l’espoir. Seine Studie ist ebenso anmaßend wie amateurhaft und belegt eine Unfähigkeit, das Wesen der französischen Verskunst und der Verskunst generell, ja die Struk170 171 172 173
S. o. S. 759 u. 760. [Anm. d. Komm.] Culler, »Jakobson’s Poetic Analyses«, S. 62. [Anm. d. Komm.] A. a. O., S. 65. [Anm. d. Komm.] Gemeint sind wohl: IV2 lancent, IV3 Ainsi, errants und sans sowie IV4 geindre. [Anm. d. Komm.]
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turiertheit eines Gedichts überhaupt, zu erfassen. Kritiker vom Schlag eines Culler meinen, daß ihre Aufgabe lediglich darin bestehe, zu kritisieren und jeglichen Anflug einer analytischen Untersuchung dichterischer Werke abzutun, ohne dabei selbst irgendwelche positiven Schritte zu unternehmen. Wenn ich meinen Rückblick damit beende, daß ich mich mit dem Inhalt des vielleicht schwächlichsten und zugleich hochfahrendsten Angriffs auf die linguistische Analyse eines literarischen Textes einlasse – auf einen Angriff übrigens, der nicht einmal in Umrissen eine Analyse der Komposition von Baudelaires packendem Spleen-Gedicht oder von Gedichten allgemein erkennen ließ –, dann möchte ich damit der Hoffnung Ausdruck geben, daß die machtvoll voranschreitenden Bemühungen um eine tiefgehende wechselseitige Durchdringung der Wissenschaft von der Sprache und der Wissenschaft von der Wortkunst all die Anmaßungen beiseite fegen möge, welche diesen Trend zur Zusammenarbeit schwächen oder gar zerstören.174
174 In einer Anmerkung am Ende des »Postscriptum« der Questions de poe´tique (S. 504) sind die Namen folgender Autoren und Kritiker aufgeführt, die sich zu Roman Jakobsons Auffassung über die Grammatik der Poesie oder über die sprachwissenschaftliche Poetik geäußert haben: K. Baumgärtner, L. Bersani, L. Cellier, M. Chrapcˇenko, J. Culler, P. Delbouille, W. Delsipech, G. Durand, A. Fongaro, I.-M. Frandon, L. Goldmann u. N. Peters, J. Gue´ron, W. Hendricks, J. Ihwe, R. Luperini, H. Markiewicz, G. Mounin, Anne Nicolas, J. Pellegrin, B. Porcelli, R. Posner, M. Riffaterre, V. Sˇklovskij, Benvenuto Terracini, W. Weidle, R. Wellek, G. Wienold und S. Z˙o´łkiewski. [Anm. d. Komm.]
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Anhang Die beiden folgenden Texte Baudelaires sind wiedergegeben nach der oben, Anm. 13, genannten Gesamtausgabe. Die Bezifferungen der Strophen und die Verse sind hinzugefügt. les chats I1 2 3 4
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II 1 2 3 4
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Les amoureux fervents et les savants auste`res, Aiment e´galement, dans leur muˆre saison, Les chats puissants et doux, orgueil de la maison, Qui comme eux sont frileux et comme eux se´dentaires. Amis de la science et de la volupte´, Ils cherchent le silence et l’horreur des te´ne`bres; L’E´re`be les euˆt pris pour ses coursiers fune`bres, S’ils pouvaient au servage incliner leur fierte´.
III 1 9 Ils prennent en songeant les nobles attitudes 2 10 Des grands sphinx allonge´s au fond des solitudes, 3 11 Qui semblent s’endormir dans un reˆve sans fin; IV 1 12 Leurs reins fe´conds sont pleins d’e´tincelles magiques, 2 13 Et des parcelles d’or, ainsi qu’un sable fin, 3 14 E´toilent vaguement leurs prunelles mystiques. die katzen I1 2 3 4
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Die glühend Verliebten und die gestrengen Gelehrten Lieben gleichermaßen in ihrem reifen Lebensalter Die kraftvollen und sanften Katzen, den Stolz des Hauses, Die wie sie fröstelnde Naturen sind und wie sie sich nicht von der Stelle rühren. Freunde der Wissenschaft und der Wollust, Suchen sie die Stille und die grauenvolle Finsternis; Der Erebos hätte sie als Paraderosse seines Leichenzuges gewählt, Wenn sie ihren Stolz der Knechtschaft beugen könnten.
III 1 9 Sie nehmen nachsinnend die edle Haltung 2 10 Der großen Sphinxwesen ein, die tief in der Einsamkeit der Wüste hingestreckt 3 11 In einen endlosen Traum zu fallen scheinen. IV 1 12 Ihre fruchtbaren Lenden sind voller Zauberfunken, 2 13 Und Goldpartikelchen wie von feinem Sand 3 14 Bestirnen mit einem Sternenschimmer ihre geheimnisvollen Pupillen.
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spleen I1 2 3 4
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II 1 2 3 4
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Quand le ciel bas et lourd pe`se comme un couvercle Sur l’esprit ge´missant en proie aux longs ennuis, Et que de l’horizon embrassant tout le cercle Il nous verse un jour noir plus triste que les nuits; Quand la terre est change´e en un cachot humide, Ou` l’Espe´rance, comme une chauve-souris S’en va battant les murs de son aile timide Et se cognant la teˆte a` des plafonds pourris;
III 1 9 2 10 3 11 4 12
Quand la pluie e´talant ses immenses traıˆne´es D’une vaste prison imite les barreaux, Et qu’un peuple muet d’infaˆmes araigne´es Vient tendre ses filets au fond de nos cerveaux,
IV 1 13 2 14 3 15 4 16
Des cloches tout a` coup sautent avec furie Et lancent vers le ciel un affreux hurlement, Ainsi qu’un des esprits errants et sans patrie Qui se mettent a` geindre opiniaˆtrement.
V 1 17 2 18 3 19 4 20
Et de longs corbillards, sans tambours ni musique, De´filent lentement dans mon aˆme; l’Espoir, Vaincu, pleure, et l’Angoisse atroce, despotique, Sur mon craˆne incline´ plante son drapeau noir. spleen
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III 1 9 2 10 3 11 4 12
Wenn der tiefe und schwere Himmel wie ein Pfropfen lastet Auf dem Geist, der unter einer Last nicht enden wollender Ekelgefühle stöhnt, Und wenn er, das ganze Rund des Horizonts umfassend, Uns einen schwarzen Tag beschert, der trauriger ist als alle Nächte; Wenn die Erde sich zu einem feuchten Verlies verwandelt hat, Wo die Hoffnung wie eine Fledermaus Auffliegt und gegen die Mauern prallt mit ihrem ängstlichen Flügelschlag Und mit dem Kopf an die modrige Decke stößt; Wenn der Regen, seine unermeßlichen Schlieren ziehend, Die Gitter eines wüsten Kerkers nachbildet Und ein lautloses Volk niederträchtiger Spinnen Herannaht, um tief in unseren Hirnen seine Netze zu spannen,
IV 1 13 Brausen plötzlich Glocken wie rasend auf 2 14 Und schleudern himmelwärts ein gräßliches Kreischen,
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3 15 So wie einer von den umherirrenden und heimatlosen Geistern, 4 16 Die zu winseln anheben in ihrem Starrsinn. V 1 17 Und lange Leichenzüge ohne Trommelschlag noch Musik 2 18 Ziehen langsam durch meine Seele; besiegt liegt die Hoffnung 3 19 Weinend danieder, und die Angst als grauenerregende Gewaltherrscherin 4 20 Hißt auf meinem gebeugten Schädel ihre schwarze Flagge.
Literatur Jakobsons eigene Angaben sind mit ° gekennzeichnet. Augustinus von Hippo, Aurelius: S. Aureli Augustini Confessionum libri XIII, hg. v. Martinus Skutella (1934), korr. v. H. Jürgens u. W. Schaub, Stuttgart: Teubner 1981. Augustinus: Die Bekenntnisse, übs. v. Hans Urs von Balthasar, Einsiedeln: Johannes 1985. ° Barthes, Roland: »Avant-propos«, in: Jakobson. Avant-propos de Roland Barthes, hg. v. Robert u. Rosine Georgin, Lausanne: L’Age d’Homme 1978 (= Cahiers Cistre, Bd. 5). — Œuvres comple`tes, Bd. 5: 1977–1980, hg. v. E´ric Marty, Paris: E´ditions du Seuil 2002. ° Baudelaire, Charles: Correspondance ge´ne´rale III, hg. v. Jacques Cre´pet, Paris: Conard 1948. — Correspondance, 2 Bde., hg. v. Claude Pichois, in Zusammenarbeit m. Jean Ziegler, Paris: Gallimard 1973 (= Bibliothe`que de la Ple´iade, Bde. 247 u. 248). ° — Œuvres comple`tes, hg. u. komment. v. Y. G. Le Dantec, durchges. u. vervollst. v. Claude Pichois, Paris: Gallimard 1961. (= Bibliothe`que de la Ple´iade, Bd. 7). — Œuvres comple`tes, 2 Bde., hg. v. Claude Pichois, Paris: Gallimard 1975 f. (= Bibliothe`que de la Ple´iade, Bde. 1 u. 7). — Sämtliche Werke /Briefe, 8 Bde., hg. v. Friedhelm Kemp u. Claude Pichois, in Zusammenarbeit m. Wolfgang Drost, München: Hanser (Bde. 3 u. 4: Heimeran) 1975–1992. Benveniste, E´mile: »De la subjectivite´ dans le langage«, in: ders.: Proble`mes de linguistique ge´ne´rale, Paris: Gallimard 1966, S. 258–266. – »Über die Subjektivität in der Sprache«, in: Benveniste, E´mile, Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, übs. v. Wilhelm Bolle, München: List 1974, S. 287–297. ° — »La nature des pronoms« (1956), in: For Roman Jakobson: Essays on the Occasion of his 60th Birthday, 11 oct. 1956, hg. v. Morris Halle u. Horace G. Lunt,
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Roman Jakobson
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Roman Jakobson
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Hendrik Birus, Sebastian Donat und Imke Mendoza
Rhetorisches, metrisches und linguistisches Glossar ablativische Funktion (von Nominalgruppen) Funktion einer Nominalgruppe, die auf die Trennung oder Ablösung eines Objekts von einem anderen hinweist. abstraktes Substantiv, Abstraktum → Nomen adjektivisches Pronomen → Pronomen Adressant Element im Modell der sprachlichen Funktionen von Jakobson: Sender der Botschaft. Adverbialpartizip (Meistens) unveränderliche Form des Verbes in den slavischen Sprachen, drückt eine Handlung aus, die in zeitlicher oder kausaler Relation zu der durch das finite Verb ausgedrückten Handlung steht. adversativ ›gegensätzlich‹; bezeichnet ein entsprechendes semantisches Verhältnis zwischen den Teilsätzen eines komplexen Satzes. Adversative Konjunktionen (z. B. aber) machen dieses Verhältnis explizit. Affix Zusammenfassender Begriff für alle Wortbildungsmorpheme (Präfix, Suffix, Interfix, Infix, Postfix, Zirkumfix). Affrikate Verschlußlaut, bei dem der Verschluß nicht ganz gelöst wird, sondern in einen → Frikativ übergeht ([c] u. a.). akatalektisch (Griech. ›nicht [vorher] aufhörend‹.) Bezeichnung für metrisch reguläre Verse mit unverkürztem letzten Versfuß. (→ katalektisch)
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Hendrik Birus, Sebastian Donat und Imke Mendoza
Akrostichon (Griech. ›Versspitze‹.) Gedicht, bei dem die Anfangsbuchstaben, -silben oder -wörter, hintereinander gelesen, ein Wort (häufig: einen Namen) oder einen Satz ergeben. Akrostichon dient auch als Bezeichnung für dieses Wort oder diesen Satz. (→ Kryptogramm) Aktant ›Mitspieler‹, die an einem durch ein Verb (oder auch eine andere Wortart) ausgedrückten Prozeß beteiligt sind. (Bsp.: Aktanten von lesen in Peter liest ein Buch sind Peter und ein Buch.) Aktionsart Bedeutungskomponente des Verbs, die durch bestimmte Prä- oder Suffixe ausgedrückt wird. V. a. in den Verbalsystemen der slavischen Sprachen spielen die Aktionsarten eine große Rolle, oft im Zusammenhang mit dem → Aspekt. (Bsp.: russ. pet’ ›singen‹ > zapet’ ›anfangen zu singen‹. Durch die Hinzufügung des Präfixes za-, das den Beginn einer Handlung kennzeichnet, wird das → imperfektive Ausgangsverb pet’ gleichzeitig perfektiviert.) akzentuierender Vers → Vers Akzidens (Mlat. accidens ›Zufall, unwesentlicher Umstand‹.) Das Nicht-Wesentliche, Wechselnde, Zufällige (vs. das ›Essentielle‹). Alliteration Übereinstimmung der Anlaute zweier oder mehrerer Wörter (Anfangsreim, verskonstituierendes Prinzip in der germanischen Versdichtung: Stabreim). Amphibrachys (Griech. ›auf beiden Seiten kurz‹.) Dreisilbiger Versfuß der Form – . Anacrusis /Auftakt (Griech. ›Auftrieb‹.) Versteil vor der ersten Hebung, bedingt durch Metrum (so haben jambische Verse immer einen einsilbigen Auftakt) oder Rhythmus. Anadiplose (Griech. ›Verdoppelung‹.) Wiederholung des letzten Glieds einer Wortgruppe zu Beginn der nächsten Wortgruppe. Anagramm (Griech. ›Umschreibung‹.) Durch Versetzung der Buchstaben entstandener neuer Ausdruck. Im Anschluß an Saussure: Textkonstitution durch ein anagrammatisch in den Vers verwobenes Themawort;
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bei Jakobson und den Poststrukturalisten – anders als bei Saussure – als Ergebnis eines möglicherweise unbewußten Kalküls. Anapäst (Griech. ›Zurückprallender‹.) Dreisilbiger Versfuß der Form –. Anapher, anaphorisch (Griech. anapherein ›hinauftragen‹.) Wiederholung eines Satzteils zu Beginn aufeinanderfolgender Wortgruppen. In der Linguistik allgemeiner: Bezeichnung einer sprachlichen Einheit, die mit einer sprachlichen Einheit im vorangehenden Kontext koreferent ist. Anfangsreim → Reimpositionen Annominatio → Paronomasie Antispast (Griech. ›widerstrebend‹.) Viersilbiger Versfuß der Form – – . Antisymmetrie → Symmetrie Antithese /antithetisch (Griech. ›Gegensatz‹.) Kontrastierende Gegenüberstellung gegensätzlicher Inhalte. Antonym /antonymisch Begriff, der das Gegenteil eines gegebenen Begriffes bedeutet. (Bsp.: Antonym zu heiß ist kalt.) Aorist Synthetisches Vergangenheitstempus des Kirchenslavischen (und anderer slavischer und nicht-slavischer Sprachen). Der Aorist steht in einer aspektuellen → Opposition zum Imperfekt und bezeichnet eine einmalige, abgeschlossene Handlung, während das Imperfekt zur Darstellung von Prozessen, Hintergrundshandlungen oder wiederholten Handlungen verwendet wird. Apodosis (Griech. ›Rückgabe, Nachsatz‹.) Zweiter, spannungslösender Teil einer Satzperiode (vs. → Protasis). Apostrophe (Griech. ›Abwendung‹.) Scheinbare Abwendung vom Zuhörer oder Leser und Anrede eines Zweitpublikums. Appellativum Auch: Gattungsname. Wichtigste Gruppe der Substantive. Appellativa werden zur Bezeichnung von Objekten und Sachverhalten bzw. ihrer einzelnen Vertreter verwendet.
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Äquivalenz (Lat. ›Gleichwertigkeit‹.) Austauschbarkeit sprachlicher Einheiten; auf sie bezieht sich das für Jakobsons Poetik grundlegende ›Äquivalenzprinzip‹. äquivok (Lat. aequivocatio ›gleiche Benennung [für Ungleiches]‹.) Mehrdeutig. Asianismus In der Klassischen Rhetorik Bezeichnung einer (mit der römischen Provinz Asia verbundenen) ›schwülstigen‹ Schreibart (vs. Attizismus). Aspekt Grammatische Kategorie des Verbs, die sich auf bestimmte inhaltliche Merkmale des Verbs bezieht. In den slavischen Sprachen unterscheidet man den perfektiven und den imperfektiven Aspekt. – perfektiver Aspekt: stellt eine Handlung in ihrer Gesamtheit dar. – imperfektiver Aspekt: in bezug auf das Merkmal der Gesamtheit → merkmallos, kann aber andere Merkmale einer Handlung modellieren, wie z. B. Iterativität. Assonanz (auch: Halbreim) Gleichklang nur der Vokale zweier oder mehrerer Wörter (meist von der letzten betonten Silbe an). Asyndeton /asyndetisch Verknüpfung von Sätzen, Teilsätzen oder Satzgliedern ohne explizit verknüpfendes Element. Auftakt → Anacrusis Bedeutung – grammatische Bedeutung: Bedeutung bzw. ›Funktion‹ von → Affixen und Endungen. – lexikalische Bedeutung: Konkrete, ›faßbare‹ Bedeutung. Bezugskasus Gruppe von Kasus in Jakobsons Kasustheorie, die dadurch charakterisiert sind, daß sie die Unselbständigkeit des Gegenstandes anzeigen. Im Russischen sind das der Dativ und der Akkusativ. Binarismus (auch: Binarität) / binär Klassifikationsprinzip von Elementen, das auf der Annahme genau zweier Werte (z. B. → merkmalhaft und → merkmallos) beruht. Binnenreim → Reimpositionen Blockreim → Reimanordnungen
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Calembour (Frz.) Witziges Wortspiel (eingedeutscht als Kalauer). Cento (Griech. kentron ›Flickwerk‹.) Schreibweise, bei der aus FremdtextZitaten ein neuer Text kombiniert wird. Chiasmus (Nach dem griech. Buchstaben x ›chi‹.) Überkreuzstellung entsprechender Bestandteile in ähnlich konstruierten Sätzen oder Phrasen, häufig als Ausdrucksmittel von Antithesen. Choriambus Viersilbiger Versfuß der Form – –, deutbar als Zusammensetzung eines → Trochäus (Choreus) und eines → Jambus. chronemischer Vers → Vers Code (auch: Kode) Element im Modell der sprachlichen Funktionen von Jakobson: äußere Seite, ›Verpackung‹ der Botschaft. Daktylus (Griech. ›Finger‹, wohl mit Bezug auf die Dreigliedrigkeit.) Dreisilbiger Versfuß der Form – . Dativ, ethischer (Dativus ethicus) Verwendung des Dativs, bei der die ›innere Teilnahme‹ des Referenten am dargestellten Geschehen ausgedrückt wird. (Bsp.: Sei mir bloß vorsichtig! ) Dativ, freier Dativ, der kein → Aktant des Verbs ist. (Bsp.: Er machte ihr einen Kaffee.) Deixis /deiktische Ausdrücke Sprachliche Ausdrücke, deren Referent nur in bezug auf die aktuelle Sprechsituation zu ermitteln ist. (Bsp.: ich, du, hier.) Dental Konsonant, der mit der Zungenspitze ([t], [s] u. a.) oder der Unterlippe ([f], [v] u. a.) an den oberen Schneidezähnen gebildet wird. Derivation → Paregmenon Determinante (auch: Determinans, Determinator) / determinierend Element, das ein Nomen näher bestimmt. Als Determinanten im engeren Sinne gelten Artikel und Pronomina, die die Definitheit bzw. Indefinitheit der Nominalgruppe anzeigen. Determinanten im weiteren Sinne sind Elemente, die das Nomen semantisch näher bestimmen und
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dadurch zur Eingrenzung der möglichen Referenten der Nominalgruppe beitragen. Das kann durch Adjektive, aber auch durch andere Wortarten geschehen. Jakobson verwendet Determinante meistens im weiteren Sinne. deverbatives Nomen → Nomen Diärese (Griech. ›Trennung‹.) Verseinschnitt zwischen zwei Versfüßen, d. h. Zusammenfallen von Versfuß- und → Wortgrenze, z. T. im metrischen Schema für bestimmte Positionen vorgesehen. (→ Zäsur) Diathese (auch: Genus verbi) Grammatische Kategorie des Verbes, präsentiert die Handlung unter einem bestimmten Gesichtspunkt. Die häufigsten Diathesen sind Aktiv und Passiv. diffus (vs. → kompakt) Eines der → distinktiven Merkmale. Diffuse Laute sind akustisch charakterisiert durch die Dominanz nicht-zentraler Formanten (d. h. für einen Laut typische Frequenzbänder erhöhter Energie, die in der graphischen Darstellung der Schallanalyse als Schwärzung auftreten) bzw. Formantenregionen, artikulatorisch durch geschlossene Artikulation bei den Vokalen und vordere Artikulation bei den Konsonanten. direktes Objekt → Objekt Distichon (Griech. ›Zweizeiler‹.) In allgemeiner Wortverwendung jedes zweizeilige Gedichtsegment bzw. jede zweizeilige Strophe. In der deutschsprachigen Metrik zumeist reserviert für das sogenannte elegische Distichon, das aus einem Hexameter und einem Pentameter besteht. distinktives Merkmal Jakobson definiert das → Phonem als ein Bündel distinktiver, d. h. (bedeutungs-)unterscheidender Merkmale. Ihm zufolge ist es möglich, mit einer relativ geringen Anzahl → binärer Merkmale den Phonembestand einer Sprache vollständig und redundanzfrei zu erfassen. Die Definition der distinktiven Merkmale erfolgt bei Jakobson hinsichtlich ihrer akustischen Eigenschaften. dunkel (grave) (vs. → hell bzw. acute) Eines der → distinktiven Merkmale. Bei dunklen Lauten dominiert die untere Seite des akustischen Spektrums, in artikulatorischer Hinsicht ist der Resonanzraum weiter und weniger stark gegliedert.
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Einstellung Bei Jakobson zunächst im ganz materiellen Sinne von russ. ustanovka ›Aufstellen, Einstellen, Justieren‹; dann aber auch im Sinne der Apperzeptionspsychologie und der Husserlschen Phänomenologie zur Bezeichnung des Blickpunkts oder der Auffassungsweise. Elision (Lat. ›Ausstoßung‹.) Auslassung eines Vokals im Wortinneren (zwischen zwei Konsonanten) oder am Wortende (zumeist zur Vermeidung des → Hiatus). emotiv Eine der sprachlichen Funktionen Jakobsons, bezieht sich auf die (vorgebliche) Einstellung des → Adressanten zum dargestellten Sachverhalt. Endreim → Reimpositionen Enjambement (auch: Zeilensprung) (Frz. ›Hinüberschreiten‹.) Fortführung der syntaktischen Einheit über die Versgrenze hinweg, d. h. im Versinneren befindet sich eine stärkere syntaktische Pause als am Versende. Der in die nächste Zeile verwiesene kürzere Satzteil wird (wie diese Spielart des E.) als rejet (frz. ›Übertrag‹) bezeichnet, der Satzbeginn kurz vor Versende (wie auch diese andere Spielart des E.) als contre-rejet. Enklitikon (Zu griech. enklisis ›Anlehnung‹.) Ein Wort, das über keine eigene Betonung verfügt, sondern zusammen mit dem vorausgehenden, eine reguläre Betonung tragenden Wort eine intonatorische Einheit und somit eine → Worteinheit bildet. (→ Proklitikon) Epipher (Griech. epipherein ›dazutragen, hinzufügen‹.) Wiederholung eines Satzteils am Schluß aufeinanderfolgender Wortgruppen. Epistel (Griech. epi-stellein ›zuschicken‹.) Briefgedicht, häufig mit moralischphilosophischem und didaktischem Inhalt. Pragmatisches Kennzeichen: konkreter Adressatenbezug durch Anrede und Sprechakte, wie Bitte, Wunsch, Aufforderung usw. Beliebte Gattung der russischen Lyrik im Klassizismus und in der Romantik (poslanie). Epitaph (Griech. epita´phios ›auf dem Grab‹.) Grabinschrift in dichterischer Form; poetischer Nachruf auf einen Verstorbenen.
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Epitheton Auch Beiname. Attributiv gebrauchtes Adjektiv oder attributiv gebrauchte Apposition. (Bsp.: Ivan der Schreckliche.) erhöht (vs. nicht-erhöht) Eines der → distinktiven Merkmale. Erhöhte Laute sind durch eine Erhöhung einiger der oberen Frequenzen charakterisiert. Auf der artikulatorischen Ebene entspricht das einer Palatalisierung des Lautes. erniedrigt (vs. nicht-erniedrigt) Eines der → distinktiven Merkmale. Erniedrigte Laute sind durch eine Schwächung oder Erniedrigung einiger ihrer oberen Frequenzen charakterisiert. Bei den Vokalen entspricht dies auf der artikulatorischen Ebene einer Lippenrundung. Exordium (Lat.) Anfangsteil einer Rede. Explosiv (auch: Okklusiv oder Plosiv) → Verschlußlaut, bei dem der Verschluß wieder vollständig gelöst wird ([p], [d] u. a.). Figur (Lat. ›Form, Gebilde‹.) Redeschmuck (auch ›rhetorische Figur‹ genannt), der durch die abweichende Gruppierung von Wortverbindungen (vs. → Tropus als Gebrauch eines uneigentlichen Ausdrucks) entsteht; weiter differenziert in ›Wortfiguren‹ und ›Gedankenfiguren‹. Figura etymologica Rhetorische Figur der Koppelung etymologisch verwandter Wörter. formales /grammatisches Wort → Wort Frikativ Konsonant, bei dem der Luftstrom im Artikulationskanal eine Enge überwinden muß, was eine charakteristische Reibung erzeugt ([f], [s] u. a.). Gattungsname → Appellativum Gemeinname → Appellativum Genitivus subiectivus Semantische Funktion eines attributiven Genitivs, in der dieser das Subjekt (genauer: den ersten → Aktanten) des dargestellen Ereignisses bezeichnet. (Bsp.: Die Leiden des jungen Werthers.) Genus Grammatisches Geschlecht. Grammatische Kategorie des Nomens. In den slavischen Sprachen werden auch die Präteritalfomen des Verbes
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nach Genera unterschieden. (Bsp.: Prt. Sg. von byt’ ›sein‹: byl m., byla f., bylo n.) Genus verbi → Diathese gerundet vs. nicht-gerundet Artikulatorisches Merkmal von Sprachlauten. Gerundete Laute weisen eine Lippenrundung auf. In Jakobsons Theorie der → distinktiven Merkmale korrespondiert das Merkmal ›gerundet vs. nicht-gerundet‹ mit dem Merkmal ›→ erniedrigt vs. nicht erniedrigt‹. grammatische Bedeutung → Bedeutung grammatischer (und antigrammatischer) Reim → Reim Halbreim → Assonanz hart → palatalisiert vs. nicht-palatalisiert Hauptbetonung → Wortakzent Hebung Durch das Versmaß nach Anzahl und /oder Position festgelegte metrisch prominente Silbe im Vers. hell (acute) (vs. → dunkel bzw. grave) Eines der → distinktiven Merkmale. Bei dunklen Lauten dominiert die obere Seite des akustischen Spektrums, in artikulatorischer Hinsicht ist der Resonanzraum enger und ist stärker gegliedert. Hiatus (Lat. ›Gähnen‹, übertr. ›Kluft‹.) Zusammentreffen zweier Vokale an der Silben- oder Wortfuge; letzteres galt in der normativen Metrik vieler Sprachen als schwerer Verstoß. Homoioteleuton (Griech. ›gleich endend‹.) Rhetorische Klangfigur, die den gleichklingenden Ausgang aufeinanderfolgender Wörter oder Wortgruppen (→ Isokolon) bezeichnet. Homonym(ie) Zwei Wörter sind homonym, wenn sie bei gleicher Ausdrucksform eine unterschiedliche Bedeutung haben. (Bsp.: Bank.) Hypallage (Griech. ›Vertauschung‹.) Semantisch abweichender Bezug eines Adjektivattributs auf ein anderes Kontext-Substantiv.
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Hyperbel (Griech. hyperbole¯ ›Übertreibung‹.) Übertreibende Bezeichnung. hyperkatalektisch (Griech. ›über die Grenze hinausgehend‹.) Bezeichnung für Verse mit Verlängerung des Verses durch zusätzliche unbetonte Silben über den letzten regulären Versfuß hinaus. Hypokoristikum (Griech. ›schmeichelnder Name‹.) Ausdruck mit verkleinernder oder zärtlicher Bedeutungskomponente (dt. Koseform). Hypotaxe Syntaktische Unterordnung eines Teilsatzes unter einen anderen. (→ Parataxe) Iktus (Lat. ›Schlag‹.) Versakzent, Auszeichnung der → Hebung in fußmetrischen Versen (z. B. durch Akzentstrich) für den Vortrag als prominente (im akzentuierenden Verssystem: betonte) Silbe. Ikon In der Zeichentheorie von Peirce ein Zeichen, bei dem die Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem auf Ähnlichkeit beruht. (→ Index, → Symbol) imperfektiv → Aspekt inchoativ → Aktionsart, die den Beginn eines Zustandes oder Vorgangs bezeichnet. Incipit (Lat. ›[Hier] beginnt…‹.) Ursprüngl. Bezeichnung für den Beginn von Handschriften; inzwischen v. a. für den zitierbaren Anfang titelloser Gedichte. Index In der Zeichentheorie von Peirce ein Zeichen, bei dem die Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem auf einem Kausalverhältnis beruht. (→ Ikon, → Symbol) indexikalisch → deiktisch indirektes Objekt → Objekt Instrumental Morphologischer Kasus, der u. a. zur Bezeichnung des Instrumentes zur Durchführung der durch das Verb ausgedrückten Handlung verwendet wird.
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Interrogativ(Lat. interrogare ›fragen‹.) Frage-. intransitiv Eigenschaft eines Verbs, nur einen → Aktanten zu haben (intransitiv ist z. B. schlafen). Inversion Umstellung von Elementen im Satz. Isokolon (Griech. isoko¯lon ›gleichgliedrig‹.) Koordinierte Nebeneinanderstellung mehrerer entsprechender Satzteile (→ Kolon); in der Neuzeit zumeist → Parallelismus genannt. Jambus (Griech. ›Sprung‹.) Zweisilbiger Versfuß der Form –. Kadenz (Lat. cadere ›fallen‹.) Metrisch-rhythmische Gestalt des Versendes, beginnend mit der letzten Hebung. Dabei wird unterschieden zwischen einsilbigen ›männlichen‹ (–) und zweisilbigen ›weiblichen‹ Kadenzen (– ); seltener sind drei- oder mehrsilbige Kadenzen. Häufig werden auch die Verse nach ihrer Kadenz benannt: ›weiblicher Vers‹ bzw. ›männlicher Vers‹. (→ männlicher Reim, → weiblicher Reim) katalektisch (Griech. ›[vorher] aufhörend‹.) Bezeichnung für Verse mit Verkürzung des letzten Versfußes der Zeile um eine oder zwei unbetonte Silben. Kode → Code Kolon (Griech. ›Glied‹.) Durch Sinneinschnitte und entsprechende Pausen (häufig mittels Satzzeichen graphisch realisiert) begrenzte Sprecheinheit mittlerer Größe zwischen → Worteinheit und Satz. kompakt (vs. → diffus) Eines der → distinktiven Merkmale. Kompakte Laute sind akustisch charakterisiert durch die Dominanz eines mittleren Formanten (d. h. für einen Laut typische Frequenzbänder erhöhter Energie, die in der graphischen Darstellung der Schallanalyse als Schwärzung auftreten) bzw. einer Formantenregion, artikulatorisch durch offene Artikulation bei den Vokalen, durch hintere Artikulation bei den Konsonanten. konativ Eine der sprachlichen Funktionen Jakobsons, bezieht sich auf den Adressaten.
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konkretes Substantiv /Konkretum → Nomen Konnektiv Verknüpfende Elemente, wie Konjunktionen, Satzadverbien, Partikeln u. a. m. Konnotation Bedeutungskomponente eines Ausdrucks, die nicht zur Bedeutung im strengen Sinne gehört. Kontiguität (Lat. contiguus ›benachbart‹.) Aus der Assoziationspsychologie stammende Bezeichnung zeitlicher und räumlicher Nachbarschaft von Vorstellungsinhalten; von Jakobson zur Grundlage des → ›metonymischen Verfahrens‹ generalisiert. Kontrast Relation zwischen zwei nebeneinander stehenden Elementen, die hinsichtlich eines Merkmals zueinander in → Opposition stehen. Kopula Element, allermeistens ein Verb, das das Subjekt mit dem prädikativen Element der Äußerung verbindet. (Bsp.: Ferien sind schön.) kopulative Konjunktion Koordinierende Konjunktion, die zwei Sätze, Teilsätze oder Satzglieder miteinander verbindet und die Gleichartigkeit der verbundenen Elemente hinsichtlich einer bestimmten Dimension ausdrückt (z. B. und ). Kreuzreim → Reimanordnungen Kryptogramm (Griech. ›verborgene Schrift‹.) In einem Text verstecktes Wort oder versteckter Satz, der sich aus einem bestimmten System der Buchstabenverteilung ergibt, z. B. → Akrostichon. Labial Konsonant, der mit den Lippen gebildet wird ([m], [b] u. a.). Lateral Laut, bei dem die Luft seitlich an der Zunge vorbeiströmt ([l] u. a.). Lexem Menge aller Wortformen eines Wortes. lexikalische Bedeutung → Bedeutung lexikalisches Wort → Wort
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Liquida l-Laut oder r-Laut. Lizenz In der Metrik: Konventionalisierte Abweichung von einer metrischen Regel; z. B. im Blankvers die Ersetzung des ersten → Jambus durch einen → Trochäus (›umgekehrter Versfuß‹). Lokativ Morphologischer Kasus, der u. a. den Ort bzw. die Lage eines Objekts bezeichnet. männlicher Reim → Reim männlicher Vers → Kadenz merkmalhaft Eigenschaft eines Elementes einer → binären Opposition, das Träger des fraglichen Merkmals ist. merkmallos Eigenschaft eines Elementes einer → binären Opposition, das nicht über das fragliche Merkmal verfügt. Metapher (Griech. metaphora ›Umzug, Übertragung‹.) Im übertragenen Sinne gebrauchter sprachlicher Ausdruck (→ Tropus), der mit dem Gemeinten durch eine Ähnlichkeitsbezeichnung (→ Similarität) zu verbinden ist; von Jakobson – und nach ihm Le´vi-Strauss und Lacan – im Sinne der sprachlichen Grundoperation der Substitution zum ›metaphorischen Verfahren‹ generalisiert. metasprachlich Eine der sprachlichen Funktionen Jakobsons, bezieht sich auf den → Code. Metathese Umstellung, meistens von Lauten. Metonymie (Griech. meto¯nymia ›Umbenennung‹.) Im übertragenen Sinne gebrauchter sprachlicher Ausdruck (→ Tropus), der mit dem Gemeinten durch eine Beziehung der faktischen Verbindung (→ Kontiguität) zu verbinden ist; von Jakobson und seinen Nachfolgern im Sinne der sprachlichen Grundoperation der Konnexion zum ›metonymischen Verfahren‹ generalisiert. (→ Synekdoche) Metrum (Lat. ›Maß‹.) Versmaß bzw. in Jakobsons Terminologie verse design als
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abstraktes Schema, das die Regeln für die Quantität, Qualität und Position der Silben im Vers sowie ggf. für → Zäsuren, → Diäresen und Reimbindung vorgibt. Im engeren Sinn auch Bezeichnung für die kleinste metrische Einheit (Metron). Modalverb Verb, das eine Einstellung des Sprechers oder des Subjekts zu einem in der selben Äußerung geschilderten Sachverhalt ausdrückt (z. B. dürfen, sollen, müssen). Modalverben weisen häufig Besonderheiten in ihrem Formenbestand auf. Modifikator Element, das ein anderes Element in semantischer Hinsicht näher bestimmt und gleichzeitig syntaktisch von ihm abhängt. Morphem Kleinste bedeutungstragende Einheit. – Wurzelmorphem: Morphem eines Wortes, das die → lexikalische Bedeutung trägt. – sonstiges Morphem: → Affix Muta → Explosiv Nasal Laut, bei dem die Luft durch die Nase entweicht. Es gibt Nasalvokale und Nasalkonsonanten. Nebenbetonung → Wortakzent Nomen – abstraktes Nomen (auch: Abstraktum): Substantiv, das einen abstrakten Begriff (Eigenschaft, Beziehungen etc.) bezeichnet. Abstrakta sind meistens von einem Verb oder Adjektiv abgeleitet. – deverbatives Nomen: von einem Verb abgeleitetes Nomen. – konkretes Nomen (auch: Konkretum): ein Substantiv, das konkrete Objekte (Personen, Gegenstände, Substanzen etc.) bezeichnet. – Nomen actionis: Substantiv, das eine Handlung bezeichnet. Nomina actionis sind meistens von einem Verb abgeleitet. Nullform Eine im gegebenen Paradigma explizit nicht ausdrückbare Form, die aber dennoch über eine (grammatische) Bedeutung verfügt. Ihre Bedeutung gewinnt die Nullform dadurch, daß sie im Paradigma in Opposition zu anderen, explizit ausgedrückten Elementen steht. (Bsp.: das Präsens des russ. Verbes byt’ ›sein‹ wird durch eine Nullform ausgedrückt. Die Bedeutung ›Präsens‹ gewinnt diese Nullform
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dadurch, daß sie in Opposition zu den Futur- und den Präteritalformen steht.) Numerus Grammatische Kategorie des Nomens und des Verbs, die die Anzahl der Objekte bezeichnet. Die häufigsten Numeri sind Singular und Plural. Objekt – direktes Objekt: → Aktant eines Verbs mit mindestens zwei Aktanten, das sich durch einige besondere Merkmale auszeichnet. So steht es in Sprachen, die über ein Kasussystem verfügen, häufig im Akkusativ, bei der Passivierung ist es meistens das direkte Objekt, das zum Subjekt wird. – indirektes Objekt: ein Objekt, das kein → direktes Objekt ist. – präpositionales Objekt: Objekt, das mit einer Präposition steht. obliquer Kasus Jakobson schließt sich einer Terminologie an, derzufolge alle Kasus außer dem Nominativ und dem Akkusativ als oblique Kasus bezeichnet werden. In einer anderen Terminologie gehören zu den obliquen Kasus alle Kasus außer dem Nominativ. Obstruent → Plosiv, → Affrikate oder → Frikativ. Okklusiv → Explosiv Opposition Relation zwischen zwei Elementen, die sich in einem oder mehreren Merkmalen unterscheiden. (→ Kontrast) Oxymoron (Griech. ›scharf[sinnig]-dumm‹.) Paradoxe Verknüpfung gegensätzlicher Begriffe in einem Wort oder in einer Phrase. Oxytonon (Griech. ›scharftonig‹.) Bezeichnung für Wörter mit Akzent auf der letzten Silbe. Paarreim → Reimanordnungen Palatal Laut, der im Bereich des harten Gaumens (Palatum) gebildet wird. palatalisiert vs. nicht-palatalisiert (auch: weich vs. hart) Phonologische → Opposition der Konsonanten, die in vielen slavischen Sprachen eine wichtige Rolle spielt. Das palatalisierte Glied erfährt dabei im Vergleich zum nicht-palatalisierten Glied eine spezifische
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Veränderung der Artikulation, meistens in Form einer Verschiebung des Artikulationsortes in Richtung Palatum. Palindrom (Griech. palindromos ›zurücklaufend‹.) Vor- und rückwärts lesbarer Ausdruck. Paradigma 1) Deklinations- oder Konjugationsmuster eines Wortes. 2) → paradigmatische Beziehung. paradigmatische Beziehung Relation zwischen Elementen, die an der gleichen Stelle im → Syntagma auftreten können. (→ syntagmatische Beziehung) Parallelismus (Griech. ›Nebeneinanderstellen‹.) Koordination von syntaktisch gleichartigen Sätzen oder Phrasen, der semantisch eine Wiederholung, Antithese oder Klimax entsprechen kann. Typisches Stilmittel der hebräischen, chinesischen und anderer Dichtungstraditionen, v. a. der oral poetry. (→ Isokolon) Parataxe Syntaktische Verknüpfung von zwei oder mehreren Teilsätzen, bei denen alle Teilsätze auf der gleichen Ebene der syntaktischen Hierarchie stehen. (→ Hypotaxe) Paregmenon (auch: Derivation) (Von griech. par agein ›zur Seite wegführen‹; lat. derivare ›ableiten‹.) Flexionsändernde Wortwiederholung und etymologisierende Stammwiederholung. Paronomasie (auch: Wortspiel) (Griech. para ›daneben‹, onomasia ›Benennung‹; lat. Übs.: annominatio.) Verbindung klangähnlicher oder gleichlautender Wortformen, die (anders als → figura etymologica und → Polyptoton) keine etymologische Verbindung zu haben brauchen. Paronymie (Lat. par ›gleich, entsprechend‹; griech. onoma ›Name‹.) Lautliche Ähnlichkeit zwischen Ausdrücken verschiedener Sprachen, z. B. dt. Gras u. engl. grass. Paroxytonon (Griech. ›neben dem → Oxytonon‹.) Bezeichnung für Wörter mit Akzent auf der vorletzten Silbe. Pars pro toto → Synekdoche
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perfektiv → Aspekt periphere Kasus → Randkasus Person Grammatische Kategorie des Verbs, die angibt, ob die Verbalhandlung auf den Sprecher (erste Person), den Hörer (zweite Person) oder eine andere Person (dritte Person) bezogen wird. Personifizierung Darstellung nicht-menschlicher Wesen, Sachverhalte oder Begriffe als menschliche Gestalten. Phonem Kleinste bedeutungsunterscheidende Einheit. Seit Jakobsons Theorie der → distinktiven Merkmale wird das Phonem auch als Bündel distinktiver Merkmale definiert. Phraseologie /phraseologisch Eigenschaft von Kombinationen von sprachlichen Zeichen. Von einer phraseologischen Verbindung spricht man, wenn die Summe der Bedeutungen der einzelnen Zeichen nicht der Gesamtbedeutung des Ausdrucks entspricht. Pleonasmus (Griech. ›Überfluß‹.) Hinzufügung eines gedanklich überflüssigen Ausdrucks. Plosiv → Explosiv Plurale tantum Substantiv, das keinen Singular bilden kann. (Bsp.: Ferien.) Polyptoton Zumeist → anaphorische Wortwiederholung mit Lockerung der Flexionsform von Nomina und Pronomina sowie Adverbialbildung von Adjektiven und Pronominalstämmen; von Jakobson zumeist auch auf verbale Veränderungen angewandt. präpositionales Objekt → Objekt Präpositiv Kasus des Russischen, der nicht ohne Präposition stehen kann. In den meisten anderen slavischen Sprachen heißt der entsprechende Kasus → Lokativ. Proklitikon (Zu griech. proklinein ›nach vorn biegen‹.) Ein Wort, das über keine
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eigene Betonung verfügt, sondern zusammen mit dem nachfolgenden, eine reguläre Betonung tragenden Wort eine intonatorische Einheit und somit eine → Worteinheit bildet. (→ Enklitikon) Pronomen – adjektivisches Pronomen: ein Pronomen, das mit einem Substantiv stehen muß. (Bsp.: irgendein X.) – substantivisches Pronomen: ein Pronomen, das alleine stehen kann und kein Substantiv als ›Begleiter‹ braucht. (Bsp.: irgendjemand.) pronominales Adverb Pro-form, also ›Stellvertreterform‹ für Präpositionalausdrücke oder adverbiale Bestimmungen. Proparoxytonon (Griech. ›zwei Positionen vor dem → Oxytonon‹.) Bezeichnung für Wörter mit Akzent auf der drittletzten Silbe. Prosodie (Griech. ›Dazugesungenes‹.) Lautübergreifende bzw. suprasegmentale sprachliche Eigenschaften, wie Akzent, Intonation, Pause. Unter metriktheoretischer Perspektive enthält die Prosodie die Regeln für das Material des Versbaus. Protasis (Griech. ›Vorsatz‹.) Erster, spannungsschaffender Teil einer Satzperiode (vs. → Apodosis). Qualitätsadjektiv Adjektiv, das eine Eigenschaft bezeichnet. (Bsp.: schön.) quantitierender Vers → Vers Randkasus (auch: periphere Kasus) Gruppe von Kasus innerhalb Jakobsons Kasustheorie. Die Randkasus zeigen die periphere Stellung des Gegenstandes in der Aussage an. Im Russischen sind das der Dativ, der → Instrumental und beide Untergruppen des → Präpositivs (Lokativs). Reim – erweiterter Reim: Sammelbezeichnung für alle Formen der lautlichen Übereinstimmung von zwei oder mehr Wörtern, die über die Minimalforderung für den Endreim hinausgehen (Wagenknecht: »vollständige Übereinstimmung des phonetischen Materials vom Wortende zurück bis und nur bis zum nächsten betonten Vokal«). – grammatischer Reim: Reim, bei dem zwischen den Reimwörtern eine harmonische, ähnliche oder identische morphologische Verbindung besteht. (Gegenteil: antigrammatischer Reim) Z. B. Gleich-
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klang von Flexionsendungen bei Reimwörtern derselben Wortart oder (speziell im Deutschen) Reim, bei dem die Reimwörter zum selben Wortstamm gehören. – männlicher Reim: auch ›einsilbiger Reim‹. Zumeist klangliche (Ausnahme: graphemische im englischen ›eye-rhyme‹) Übereinstimmung → oxytoner bzw. einsilbiger Wörter vom betonten Vokal bis zum Wortende. (→ Kadenz) – rührender Reim: Form des → erweiterten Reims, bei der die lautliche Übereinstimmung auch die Konsonanten vor dem letzten betonten Vokal umfaßt. – weiblicher Reim: auch ›zweisilbiger Reim‹. Zumeist klangliche (Ausnahme: graphemische im englischen ›eye-rhyme‹) Übereinstimmung → paroxytoner Wörter bzw. Wortgruppen vom betonten Vokal bis zum Wort- bzw. Wortguppenende. (→ Kadenz) Reimanordnungen – Blockreim: auch ›umarmender Reim‹. Reimanordnung der Form abba. – Kreuzreim: Reimanordnung der Form abab. – Paarreim: Reimanordnung der Form aabb. Reimpositionen – Anfangsreim: Anordnung des Reims, bei der die Reimglieder am Anfang zweier oder mehrerer Verse stehen. – Binnenreim: Anordnung des Reims, bei der die Reimglieder im Inneren zweier oder mehrerer Verse stehen. – Endreim: Anordnung des Reims, bei der die Reimglieder am Ende zweier oder mehrerer Verse stehen. restriktiver Relativsatz Relativsatz, der den Geltungsbereich der übergeordneten Nominalgruppe einschränkt. Rhythmus (Griech. ›Gleichmaß‹.) Innerhalb der Metrik zentraler, aber sehr uneinheitlich gebrauchter Begriff. Häufig (auch von Jakobson) verwendet zur Bezeichnung der konkreten, aus dem Wechselverhältnis von → Versakzent einerseits und → Wort- und Satzakzent andererseits resultierenden Strukturierung des Gedichtablaufs in der Zeit (verse instance) im Unterschied zum abstrakten metrischen Schema (verse design). Dabei sind deskriptiv-historisch unterschiedliche Konkretisierungsgrade zu unterscheiden, die versstatistisch erfaßt werden können: von der bevorzugten Realisationsform eines Metrums in einer Nationalliteratur innerhalb einer bestimmten Epoche (epochenspezifischer
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Rhythmustyp) über deren Umsetzung durch einen bestimmten Autor (autorenspezifischer Rhythmustyp) bis hin zum (noch immer statistisch beschreibbaren) Rhythmus eines (umfangreichen) Werks und schließlich dem individuellen Rhythmus eines Einzelverses. Senkung Durch das Versmaß nach Anzahl und /oder Position festgelegte metrisch nicht-prominente Silbe im Vers. Shifter Ursprünglich von Jespersen stammende und von Jakobson übernommene Bezeichnung für → deiktische Ausdrücke. Sibilant (auch: Zischlaut) → Frikativ oder → Affrikate, bei dem bzw. der die Enge durch die Zunge gebildet wird. Similarität (Lat. similis ›ähnlich‹.) Aus der Assoziationspsychologie stammende Bezeichnung der Ähnlichkeit von Vorstellungsinhalten; von Jakobson zur Grundlage des → ›metaphorischen Verfahrens‹ generalisiert. Singulare tantum Substantiv, das keinen Plural bilden kann. (Bsp.: Honig.) Sonett (Von lat. sonus ›Klang‹.) Aus dem Italienischen stammende Gedichtform, bestehend aus 14 isometrischen Zeilen, durch Reimbindung und häufig auch durch graphische Anordnung zumeist unterteilt in zwei Vierzeiler (›Quartette‹, bilden gemeinsam eine ›Oktave‹) und zwei Dreizeiler (›Terzette‹, bilden gemeinsam ein ›Sextett‹). Wichtige Sonderform: englisches bzw. Shakespeare-Sonett, bestehend aus drei kreuzgereimten Quartetten und einem abschließenden Paarreim (›couplet‹). Sonor (auch: Sonorant) Laut, der nicht zu den → Obstruenten gehört. Sonorität Eigenschaft einer Gruppe von → distinktiven Merkmalen, die sich auf die Schallfülle bzw. Stärke bezieht. Zu den Sonoritätsmerkmalen gehören u. a. die Paare → kompakt vs. → diffus und stimmhaft vs. stimmlos. Spiegelsymmetrie → Symmetrie Strophe (Griech. ›Wendung‹.) Metrische Teileinheit von Verstexten, bestehend aus mehreren Zeilen in festgelegtem (identischem oder unterschied-
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lichem) → Versmaß. Zumeist durch graphische Absetzung (Freizeile, Einrückung) unterteilt, wird eine bestimmte Strophe (oder werden verschiedene Strophen) formal identisch im Gedicht wiederholt. – Zu unterscheiden von der Versgruppe, bei der ebenfalls eine graphische Gliederung des Textes, jedoch keine formale Identität bzw. Regelmäßigkeit der Segmente vorliegt. Struktur (Lat. ›Gefüge, Bau, Zusammenhang‹.) Systematisch rekonstruierbare Ordnung der Bestandteile eines komplexen Sachverhalts (z. B. eines Satzes); in der Klassischen Rhetorik auch compositio genannt. substantivisches Pronomen → Pronomen syllabischer Vers → Vers syllabotonischer Vers → Vers Symbol In der Zeichentheorie von Peirce ein Zeichen, bei dem die Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem auf Übereinkunft beruht. (→ Ikon, → Index) Symmetrie Auf der Basis zweier dichotomischer Prinzipien der Wiederaufnahme (Reihenfolge der Elemente: identisch vs. gespiegelt; und ›Vorzeichen‹ der Elemente: identisch vs. umgekehrt) unterscheidet Jakobson insgesamt vier Symmetrieformen. Dabei können die Variablen A und B für die unterschiedlichsten sprachlichen Elemente oder Merkmale stehen (z. B. zwei konkrete wiederholte Wörter oder betonte und unbetonte Silben) – direkte Symmetrie: A A B → A A B – Spiegelsymmetrie: A A B → B A A – Antisymmetrie: A A B → B B A – gespiegelte Antisymmetrie: A A B → A B B Synalöphe (Griech. ›Verschmelzung‹.) Zusammenziehung benachbarter Vokale an der Wortgrenze zur Vermeidung des → Hiatus. Synärese (Griech. ›Zusammenziehung‹.) 1) Verschmelzung zweier Wörter zu einem neuen phonologischen Wort, z. B. engl. do not → don’t. 2) In der Gräzistik Bezeichnung für das Ergebnis der Assimilation
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zweier Vokale im Wortinneren zu einem (langen) Vokal oder einem Diphthong. Synekdoche (Griech. ›Mitverstehen‹.) Im übertragenen Sinne gebrauchter sprachlicher Ausdruck (→ Tropus), der mit dem Gemeinten durch eine Teil-Ganzes-Beziehung – pars pro toto (lat. ›Teil fürs Ganze‹) bei der ›partikularisierenden Synekdoche‹ oder totum pro parte (›Ganzes für den Teil‹) bei der ›totalisierenden Synekdoche‹ – verbunden ist. Von Jakobson als Sonderfall der → Metonymie gefaßt. Syntagma Gruppe von Wortformen, die zueinander in einer syntaktischen Beziehung stehen. syntagmatische Beziehung Relation zwischen einem Element und den Elementen in seiner Umgebung. (→ paradigmatische Beziehung) Tätigkeitsverb Verb, das eine Tätigkeit oder eine Handlung bezeichnet. (Bsp.: schreiben.) Tempus Grammatische Kategorie des Verbs, die zur zeitlichen Lokalisierung des durch das Verb beschriebenen Ereignisses dient. Tenor (Mlat. ›Inhalt, Wortlaut‹.) In der modernen angelsächsischen Metapherntheorie (seit I. A. Richards) das ›Gemeinte‹ (vs. vehicle ›wörtliche Bedeutung‹) eines → Tropus. Tonalität Eigenschaft einer Gruppe von → distinktiven Merkmalen, die sich auf die Tonqualität bezieht. Zu den Tonalitätsmerkmalen gehören die Paare → dunkel vs. → hell, → erniedrigt vs. nicht-erniedrigt und → erhöht vs. nicht-erhöht. Topos (Griech. ›Ort‹.) In der Klassischen Rhetorik: plausibles Argumentationsmuster; ›Gemeinplatz‹ (lat. locus communis) bzw. sprachlichpoetisches Klischee. In neuerer Zeit auch: stehendes Motiv der antiken und nach-antiken Literatur. Totalisierer (totalizer) Bezeichnung von Sapir für einen Quantorenausdruck, dessen Funktion es ist, zu signalisieren, daß die zu quantifizierende Menge im gegebenen Kontext nicht vergrößert werden kann.
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transitiv Eigenschaft eines Verbs, ein direktes → Objekt regieren zu können. Trochäus (Griech. ›Läufer‹.) Zweisilbiger Versfuß der Form – . Tropus (Griech. ›Wendung‹.) Im übertragenen Sinne gebrauchter Ausdruck (z. B. → Metapher, → Metonymie), auch ›Metapher im weiteren Sinne‹; in der Klassischen Rhetorik Gegensatzbegriff zu → Figur. umarmender Reim → Reimanordnungen Umfangskasus Gruppe von Kasus innerhalb Jakobsons Kasustheorie, die die Einschränkung des Umfangs des Gegenstandes anzeigen. Im Russischen gehören dazu die beiden Untergruppen des Genitivs und die beiden Untergruppen des → Präpositivs (Lokativs). unpersönliche Konstruktion bzw. unpersönlicher Satz Konstruktion bzw. Satz, der kein nominativisches Subjekt aufweist oder nur ein ›Stellvertretersubjekt‹ in Form von dt. es, engl. it etc. und in dem auch kein solches Subjekt ergänzt werden kann. (Bsp.: mir ist heiß, es ist mir heiß.) unpersönliches Verb Verb, das in einer → unpersönlichen Konstruktion verwendet wird. Vehikel → Metapher Velar Konsonant, der im Bereich des Gaumensegels (Velum) gebildet wird. Verbalaspekt → Aspekt Verbum dicendi Verb, das eine Sprechtätigkeit bezeichet. Vers – akzentuierender Vers: Versprinzip, das auf der Unterscheidung zwischen betonten und unbetonten Silben beruht. – quantitierender /chronemischer Vers: Versprinzip, das auf der Unterscheidung zwischen langen und kurzen Silben beruht. – syllabischer Vers: Versprinzip, das auf der Anzahl der Silben beruht. – syllabotonischer Vers: Versprinzip, das auf der Silbenzahl sowie auf der Anzahl und Position prominenter und nicht-prominenter Silben (häufig organisiert in Versfüßen als festgelegten metrischen Bausteinen) beruht.
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Versakzent → Iktus Verschlußlaut Konsonant, bei dem der Artikulationskanal für kurze Zeit vollständig verschlossen wird. Versmaß → Metrum Vibrant Konsonant, bei dem Zungenspitze, Unterlippe oder Zäpfchen gegen Oberzähne, Zahndamm oder Gaumen vibriert. (Bsp.: ›gerolltes r‹.) weiblicher Reim → Reim weiblicher Vers → Kadenz weich → palatalisiert Wort – formales /grammatisches Wort: Wort ohne ausgeprägte → lexikalische Bedeutung, dessen Hauptaufgabe der Ausdruck grammatischer Informationen ist. – lexikalisches Wort: Wort mit → lexikalischer Bedeutung. – Wechselwort: → Shifter. Wortakzent Innerhalb des Wortakzents wird häufig unterschieden zwischen Hauptakzent bzw. -betonung (Hauptton; hier gekennzeichnet als Schweregrad 3), Nebenakzent bzw. -betonung (Nebenton; hier gekennzeichnet als Schweregrad 2) und unbetonten Silben (Schwachton; hier gekennzeichnet als Schweregrad 1). Z. B. Rachegeister: 3 1 2 1. Worteinheit Sprachlich basierte Segmentierungseinheit im Vers. Die Worteinheit (word unit) wird gebildet aus der betonten Silbe, ggf. zusammen mit den untergeordneten unbetonten Silben. Sie umfaßt das betonte Wort und, soweit vorhanden, die vorangehenden → Proklitika und nachfolgenden → Enklitika. In der deutschen Metriktheorie entspricht dem der Begriff des ›Wortfußes‹ bei Fritz Schlawe. Wortgrenze Syntaktischer Einschnitt, der akustisch (durch eine Pause) gekennzeichnet sein kann, aber nicht muß. Die Wortgrenze besitzt in Jakobsons verstheoretischem Ansatz eine wichtige rhythmische Funktion. (→ Diärese, → Zäsur)
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Wortspiel → Paronomasie Zäsur (Lat. ›Schnitt‹.) Syntaktisch bedingter Verseinschnitt, realisiert durch eine Wort- oder Kolongrenze. Im engeren Begriffsgebrauch werden als Zäsuren nur solche Einschnitte bezeichnet, die im metrischen Schema vorgesehen sind und die nicht mit Versfußgrenzen zusammenfallen. (→ Diärese) Zeilensprung → Enjambement Zirkumstante /zirkumstanziell Auch: freie Angaben. Satzglieder, die vom Verb abhängen, aber keine → Aktanten sind. (Bsp.: Peter liest ein Buch im Garten.) Zischlaut → Sibilant Zustandsverb Verb, das einen Zustand ausdrückt. (Bsp.: liegen.)
Abbildungsverzeichnis Band 1 Graphische Darstellung von J. Pauchard zur Veranschaulichung der Komposition von Martin Codax’ Cantiga . . . . . . Diagramme zur Illustration der Komposition in Siluans Lobpreis auf den Hl. Sava . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagramme zur Illustration der grammatischen Struktur des Hussitenchorals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Shakespeares Sonett 129 nach der Quarto-Ausgabe von 1609 . . I. A. Richards’ Schema zur Illustration der Struktur von Shakespeares Sonett 129 . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Band 2 William Blakes Gedicht »Infant Sorrow« aus den Songs of Experience . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Henri Rousseau, Le Reˆve . . . . . . . . . . . . . . . . Paul Klee, Tagebuch III, Dezember 1903, Nr. 539 . . . . . . Jean-Baptiste Greuze, La Cruche casse´e . . . . . . . . . . . Pavel Petrovicˇ Sokolov, Molocˇnica . . . . . . . . . . . . . Autograph von Hölderlins Gedicht »Die Aussicht« . . . . . . Autograph von Cyprian Norwids Gedicht »Przeszłos´c´« . . . . Typoskript von Bertolt Brechts Gedicht »Wir sind sie« aus Die Maßnahme (frühe Variante) . . . . . . . . . . . . . . Typoskript von Bertolt Brechts Gedicht »Wir sind sie« aus Die Maßnahme (spätere Variante) . . . . . . . . . . . . .
6 24 32 95 97 153 364 693 695
Siglenverzeichnis Aufätze zur Linguistik und Poetik Jakobson, Roman: Aufsätze zur Linguistik und Poetik, hg. v. Wolfgang Raible, Frankfurt /Main, Berlin u. Wien: Ullstein 1979 Birus /Donat /Meyer-Sickendiek Roman Jakobsons Gedichtanalysen. Eine Herausforderung an die Philologien, hg. v. Hendrik Birus, Sebastian Donat u. Burkhard MeyerSickendiek, Göttingen: Wallstein 2003 (= Münchener Komparatistische Studien, Bd. 3). Dialoge Jakobson, Roman u. Krystyna Pomorska: Poesie und Grammatik. Dialoge. Mit einem Verzeichnis der Veröffentlichungen Roman Jakobsons in deutscher Sprache 1921–1982, übs. v. Horst Brühmann, Frankfurt / Main: Suhrkamp 1982. Form und Sinn Jakobson, Roman: Form und Sinn. Sprachwissenschaftliche Betrachtungen, München: Wilhelm Fink 1974 (= Internationale Bibliothek für Allgemeine Linguistik, Bd. 13). Hölderlin – Klee – Brecht Jakobson, Roman: Hölderlin – Klee – Brecht. Zur Wortkunst dreier Gedichte, eingel. u. hg. v. Elmar Holenstein, Frankfurt /Main: Suhrkamp 1976. Kindersprache Jakobson, Roman: Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze, 8. Aufl. Frankfurt /Main: Suhrkamp 1992. Poetik Jakobson, Roman: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971, hg. v. Elmar Holenstein u. Tarcisius Schelbert, 2. Aufl. Frankfurt /Main: Suhrkamp 1990. Semiotik Jakobson, Roman: Semiotik. Ausgewählte Texte 1919–1982, hg. v. Elmar Holenstein, Frankfurt /Main: Suhrkamp 1992. SW I–VIII Jakobson, Roman: Selected Writings, (bisher) 8 Bde., ’s-Gravenhage
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Siglenverzeichnis
(ab 1966: The Hague, Paris; ab 1979: The Hague, Paris, New York; ab 1985: Berlin, New York, Amsterdam) 1962 ff. Über den tschechischen Vers Jakobson, Roman: Über den tschechischen Vers. Unter besonderer Berücksichtigung des russischen Verses, übers. v. F. Boldt u. a., Bremen: K-Presse 1974 (= Postilla Bohemica 2–4 [1974]).
Sachregister Abstraktum s. Nomen: abstraktes Nomen Achse Bd. 1: 170, 473 Bd. 2: 161, 208, 256, 584 – horizontale Achse Bd. 2: 261, 457 f. – vertikale Achse Bd. 1: 569 Bd. 2: 189, 262, 457 f. acute s. distinktives Merkmal: dunkel vs. hell Adjektiv Bd. 1: 13, 57, 145, 180, 184, 186, 200 f., 204, 231, 252 f., 280, 286 f., 290, 329–333, 341, 412, 435, 450– 452, 462, 479, 502, 504, 515, 547, 574 f., 579, 581–584, 596, 598, 627, 629 f., 633, 636 f., 640–642, 645, 664, 696, 701 f. Bd. 2: 7, 34, 36 f., 51, 67, 74, 82, 91–94, 104 f., 107 f., 110, 128, 173, 185, 205, 260, 263, 265, 268 f., 283, 296–298, 305–307, 310, 317, 360, 367, 464, 473, 485, 487, 521 f., 535, 585 f., 589–592, 651– 653, 658, 682, 698, 711, 721, 723, 739, 752, 754, 759–763, 769, 774, 776, 778 Adressant Bd. 1: 162 f., 165, 167, 192, 287, 405 f., 412, 611, 617 f. Bd. 2: 112, 485 Adressat Bd. 1: 162 f., 165–167, 192, 227, 238, 287 f., 293, 333, 349, 372,
375, 378, 381, 383, 405 f., 412, 420 f., 430, 444, 465, 480, 495, 547, 549, 566, 578, 596, 600, 611, 617, 620, 639, 681, 683 f. Bd. 2: 112, 145, 342, 347, 485 f., 521, 549, 591 f., 771 Adverb Bd. 1: 61, 251, 262, 479, 483, 502, 562, 573, 581, 586, 594, 640 f., 678 Bd. 2: 27, 69, 72, 82, 91, 93 f., 104, 126, 130, 173, 303, 310, 333, 337 f., 342, 363, 365, 483, 561, 652, 682, 721–723, 760 – pronominales Adverb Bd. 1: 502 Bd. 2: 363, 366, 699 Adverbialbestimmung Bd. 1: 221, 233, 325, 328, 516, 699 f., 702, 706 Bd. 2: 93, 337, 363, 416, 464, 470, 474, 520 f., 523, 564, 613 Adverbialpartizip Bd. 1: 58 f., 290, 502, 543 f., 663 Bd. 2: 66, 69, 82, 86, 92, 103 f., 106, 507 Ähnlichkeit s. Similarität Äquivalenz Bd. 1: 25, 56 f., 127, 138, 140, 142 f., 164, 170 f., 184, 186, 188 f., 192, 219, 223, 257, 265, 271 f., 276, 305 f., 308, 328 f., 331, 338, 346, 352, 354, 369, 374, 382, 391, 473, 475, 500, 510, 546, 614, 674, 703 Bd. 2: 2, 8, 163, 216, 220, 252, 275, 278, 281, 360, 400, 453, 538,
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Sachregister
540, 543, 569, 584–586, 608–610, 613, 643, 658, 720, 735, 743, 749 f., 752, 759, 761, 773 äquivok Bd. 2: 270, 647 Ästhetik Bd. 1: 7, 15, 48, 137, 141, 355 Bd. 2: 169, 200, 254, 279, 291, 361, 493, 573, 576, 682 f. Affix Bd. 1: 67, 642 Bd. 2: 699 Affrikat Bd. 1: 228, 231 f., 504 Bd. 2: 384, 420, 507 f. Agens Bd. 1: 201, 232, 263, 325, 332, 449, 453, 506, 615, 637, 699 Bd. 2: 113, 334 f., 337, 416, 463, 474, 535, 544 f., 547, 656 Agent s. Agens akatalektisch s. katalektisch Akkusativ Bd. 1: 54, 81, 229, 276, 279, 292 f., 332, 337, 339, 353 f., 480–483, 502, 515, 518, 543 f., 549, 698 f., 702 Bd. 2: 34, 37, 48, 51, 59, 66 f., 87, 90, 92, 107 f., 110, 113 f., 130– 132, 170–172, 181 f., 205, 332, 336 f., 340, 344, 366, 370, 388, 464, 473, 507, 530, 542, 548, 557 f., 560, 701, 704 Akrostichon Bd. 1: 374, 547 Bd. 2: 47, 49, 52 f. Aktant Bd. 1: 575, 583, 585 Bd. 2: 760 Aktionsart Bd. 1: 231
Aktualisierung Bd. 1: 259, 509 Bd. 2: 320, 387, 749 f. Akzidens Bd. 1: 640 Alliteration Bd. 1: 80, 88, 139, 169, 181, 186, 188, 193–195, 230, 273, 316 f., 385, 485, 503, 505, 511, 547, 589, 594, 611 f., 633 Bd. 2: 17, 36, 90 f., 149 f., 155, 173, 182, 233 f., 239–242, 267, 276, 296, 298, 303, 309, 383, 400, 419–421, 441, 543, 600, 603, 691, 707 f., 723–726, 741, 770 Alternant Bd. 1: 252 f., 404 Bd. 2: 124 alternierend Bd. 1: 190, 310, 337, 339, 385, 404, 505, 566, 568, 580, 588, 627 Bd. 2: 8, 50 f., 112, 160, 170 f., 259, 612, 657 Ambiguität Bd. 1: 184, 190–192, 274, 571, 650 Bd. 2: 283, 683, 769 Amphibrach Bd. 1: 267 Bd. 2: 33, 85, 122, 165, 497–499, 501 Amphibrachys s. Amphibrach Anacrusis s. Auftakt Anadiplose Bd. 1: 328, 350, 353, 641, 698 Anagramm Bd. 1: 42, 63, 70, 127, 133, 139, 148, 329, 365, 374, 458 f., 474, 484, 501, 511, 540, 609, 647, 706 Bd. 2: 90, 140–142, 148, 224, 234, 315 f., 396, 415, 425 f., 504, 524 f., 649, 726, 741
Sachregister
Anagrammtheorie Bd. 1: 473 Bd. 2: 504 Analogie Bd. 1: 11 f., 43, 65, 90, 92 f., 125 f., 134, 136, 182, 242 f., 258, 281, 440, 594 Bd. 2: 3, 7 f., 13, 26, 135, 278, 284, 311, 314, 336, 340, 460, 561, 566, 614, 710, 740 f., 751, 763, 765, 770 Anapäst Bd. 2: 310, 345, 755, 760 Anapher Bd. 1: 200, 277, 287 f., 291, 293, 332, 337 f., 340, 353, 455, 499, 502, 547, 581, 644 f. Bd. 2: 48, 112, 170, 265, 270, 313, 369, 417, 456 f., 459 f., 474, 560, 645, 652, 657, 698, 702, 704 f. anaphorisch s. Anapher Anfangsreim s. Reim: Anfangsreim Annominatio s. Paronomasie Anrede Bd. 1: 201, 268, 280, 399, 420, 452, 505, 545 f., 548, 570, 576, 580, 584, 596, 600, 612, 618–620 Bd. 2: 99, 127, 212, 226, 233, 344, 407, 443, 483, 486, 521, 533 f., 546, 702 Antinomie Bd. 1: 156, 243, 481, 554, 569, 580, 599, 620 Bd. 2: 35, 260, 270, 450, 656, 708 Antispast Bd. 1: 184 Antithese Bd. 1: 28, 146, 188, 267, 284, 290, 306, 319, 326 f., 329 f., 338, 407, 480–482, 486 f., 504, 560, 562, 565–567, 570, 589, 592, 597, 599, 681, 700, 703
821
Bd. 2: 32, 71, 99, 128, 290, 302, 310, 462, 468, 583, 603, 619, 623, 637, 657, 762, 777 Antonymie Bd. 1: 170, 265, 293, 309, 325 f., 328, 330, 339, 457 f., 461 f., 570, 579, 615–618 Bd. 2: 13, 58, 128, 185, 187, 205, 317, 416, 584, 647, 711, 722 Aorist Bd. 1: 258, 399–401, 406, 479, 487, 502, 544 f. Bd. 2: 417, 536–538, 544, 549 Aphasie Bd. 1: 167, 170 f., 191, 195, 199, 265, 310 Bd. 2: 80, 211, 216, 446, 773 Apodosis Bd. 1: 332, 432, 479 f., 482, 501 Bd. 2: 310, 313 f., 645 Apostrophe Bd. 1: 324, 336, 444, 452, 611, 618 Bd. 2: 3, 282, 338, 342, 406 f., 412 f., 420, 446–449, 539 Appellativum Bd. 1: 190, 435, 484, 515 Bd. 2: 29, 263, 587, 611, 637 Arbitrarität Bd. 1: 81, 195, 475 Bd. 2: 729 Architektonik Bd. 1: 128, 318, 462, 569, 580, 703 Bd. 2: 14, 67, 114, 204, 442, 488, 496, 635, 637, 662 f., 687, 691, 709, 751 Artikel Bd. 1: 273, 278, 454, 463, 583, 594, 612, 642–644 Bd. 2: 10, 28 f., 34, 144, 170, 173, 178, 181, 233 f., 239, 269, 276, 296, 299, 309 f., 400, 407, 412, 443, 530, 533, 548, 571, 592–594, 608–612, 699, 701, 710 f., 720
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Sachregister
Aspekt Bd. 1: 190, 259–261, 273, 277, 517, 613, 680 Bd. 2: 51, 59, 69, 72, 90, 129, 336, 396 f., 400, 469, 486, 536–538, 549 f., 609 – imperfektiver Aspekt Bd. 1: 223, 229, 260, 262 f., 277, 289 f., 399 f., 517 f., 544 Bd. 2: 51, 66, 69, 73, 90, 102, 129, 331, 333, 335 f., 347, 397, 469 f., 486, 537 – perfektiver Aspekt Bd. 1: 145, 223, 229, 231, 260, 262, 277 f., 289 f., 333, 400, 405 f., 487, 501, 517, 522, 545, 680 Bd. 2: 51, 59, 66, 69, 72, 90, 135, 331, 333, 335, 337 f., 347, 397, 418, 469 f., 473, 486, 502, 537 assertiv Bd. 1: 465 Assimilation Bd. 1: 14, 244, 349, 629 Bd. 2: 160, 736, 757 Assonanz Bd. 1: 80, 147, 188, 226, 666, 707 Bd. 2: 103, 155, 309, 334, 417, 649, 706 f., 719 f., 724 Assoziation Bd. 1: 10, 67, 70, 225, 313, 329, 334, 345, 456 f., 466, 594, 666, 668 Bd. 2: 26, 87, 187, 310, 386 f., 500, 566, 571, 600, 617 asyndetisch Bd. 1: 332, 692 f. Bd. 2: 103, 163, 313, 362, 366 Auftakt Bd. 1: 331, 342, 344, 459 Bd. 2: 15, 17, 33, 166, 459 f., 607 Autograph s. Handschrift Autor-Ich Bd. 2: 130, 566
Autorenleser Bd. 1: 148, 185 Avantgarde Bd. 1: 1 f., 6, 8, 10, 14, 78, 82, 108, 110, 112, 126, 133 f., 141 f., 221, 500 Bd. 2: 320, 322 f., 349, 361, 493– 495, 511, 669 f., 729, 736 Bedeutung – formale Bedeutung Bd. 1: 51, 81, 571 Bd. 2: 142, 315, 699 f. – grammatische Bedeutung Bd. 1: 261, 263, 271, 281, 333, 450, 466, 515, 546, 571 Bd. 2: 92, 113, 132, 174, 315, 397 f., 418, 550, 563, 589, 699 f., 748 – lexikalische Bedeutung Bd. 1: 276, 294 f., 338, 442, 454, 466, 515, 571, 583 Bd. 2: 90, 132, 135, 333, 366, 501, 527, 545, 644, 699 f., 746, 748 – morphologische Bedeutung Bd. 1: 571 – phraseologische Bedeutung Bd. 1: 571 – syntaktische Bedeutung Bd. 1: 571 Bd. 2: 113, 382 Benennung s. Namen Beschwörungszauber Bd. 2: 291 f., 316 Betonung Bd. 1: 77, 101 f., 132, 135, 138– 143, 164, 170 f., 174–181, 183 f., 188, 197, 223, 231, 274, 279, 292, 323, 327, 329 f., 336, 340, 342– 345, 352, 381, 420, 430 f., 450, 454 f., 458, 461, 463, 477, 479, 498 f., 517, 538, 542 f., 575, 579, 586 f., 590, 592, 613, 646, 663 f., 666, 693–696, 701, 705
Sachregister
Bd. 2: 15–17, 20, 31 f., 35–38, 46, 49–52, 56 f., 59, 68, 75, 80–85, 91, 93, 103, 123, 126, 129, 131–134, 157 f., 166, 183 f., 189, 267, 284, 298, 304, 307, 310, 329–331, 368– 372, 376, 379–383, 385, 408–412, 421, 439–442, 460 f., 476 f., 479, 487, 498, 506, 524, 546, 588, 600, 605–607, 641 f., 659–662, 707, 709, 719, 725, 727, 755 – grammatische Betonung / grammatischer Akzent Bd. 2: 408, 439, 442 – Phrasenbetonung / Phrasenakzent Bd. 1: 174, 178, 483, 700 Bd. 2: 439 – Satzbetonung / Satzakzent Bd. 2: 408, 439, 755, 807 – schwebende Betonung Bd. 1: 184 – Wortbetonung / Wortakzent Bd. 1: 137, 147, 170, 174, 177– 180, 184, 226, 228, 274, 342–344, 381, 404, 432, 461, 517, 538, 586, 641, 646, 658, 692, 695 f., 701 Bd. 2: 31, 50, 67, 83 f., 123 f., 307, 330, 345, 372, 380, 408 f., 439, 476, 584, 659–662 Bewertung Bd. 1: 158, 205, 310, 661 Bd. 2: 30, 711, 728, 744 bewußt Bd. 1: 2, 12, 49, 68, 74 f., 102, 125 f., 128 f., 132, 134–136, 138, 142, 148 f., 167, 250, 261, 272, 305, 309, 317, 326, 366 f., 377, 393, 472, 587, 589, 592, 660 Bd. 2: 31, 88, 101, 107, 140, 148, 154, 203, 214, 272, 282, 284, 321, 346, 372, 384, 390, 396, 400, 411, 419, 421, 482, 501, 504 f., 511, 562, 574, 584, 607, 623, 638 f., 712, 726–728, 743
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Beziehung – paradigmatische Beziehung Bd. 1: 304 – syntagmatische Beziehung Bd. 1: 304 Bd. 2: 548 Bild Bd. 1: 18, 29, 49, 79, 97, 169, 190 f., 195, 225, 227, 263, 272, 274, 292, 328, 333, 339–341, 352, 355, 377–379, 384 f., 400, 407, 448 f., 455, 481, 506, 516, 546, 563, 580, 593, 595, 600, 610, 612, 617, 649, 666 f., 681, 683, 695, 702 Bd. 2: 1, 3, 12, 15, 17, 48, 51, 68, 87, 90, 110, 128, 130, 181, 205, 208, 214, 273, 278, 282, 295, 299– 302, 305, 312, 324, 335 f., 340 f., 343, 348, 362, 400, 408, 412, 414– 417, 421, 425, 443, 449, 464, 467 f., 474, 504, 506, 564, 567, 613, 618, 622 f., 647, 653, 664, 671, 702, 705, 721, 723, 769 f. Binarität Bd. 1: 173, 176–178, 185, 267, 281, 291, 311, 350, 445 f., 454, 499, 568, 589, 624, 627 f., 632, 696 Bd. 2: 10, 28, 38, 125, 165, 207, 260, 268, 531, 539, 544 f., 549, 572, 579, 604, 659, 678 Binnenreim s. Reim: Binnenreim Biographie Bd. 1: 10, 148, 248, 366, 375, 392, 428, 639, 648, 675 Bd. 2: 19, 78, 100 f., 146 f., 194, 198, 212, 324, 403, 425, 433, 510, 576, 621, 636, 675 f. Blockreim s. Reim: umarmender Reim / umfassender Reim / Blockreim Botschaft Bd. 1: 156, 158, 162–170, 185, 191– 193, 238 f., 241, 372, 376, 378, 383, 407, 601, 685
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Sachregister
Bd. 2: 211, 224, 240, 242, 342, 347, 386, 417, 652, 738, 740 Byline Bd. 1: 30, 70, 264–270, 313, 318 f., 328, 338, 344 f. Bd. 2: 748 byzantinisch Bd. 1: 34, 392, 397 f., 472, 475, 486 f., 495, 569 Bd. 2: 569 Calembour Bd. 1: 35, 75, 631 Cento Bd. 1: 577 Chaos Bd. 1: 281, 624 Bd. 2: 264, 320, 349, 619 Chiasmus Bd. 1: 144, 268, 270, 328 f., 331, 341, 461, 482, 548 Bd. 2: 13, 268, 277, 381, 449, 462, 594, 708 Choˆka s. Langgedicht Choriambus Bd. 1: 461 Bd. 2: 488 Code Bd. 1: 14, 125, 133, 156, 161–164, 167, 192, 195, 197, 305 Bd. 2: 675 Couplet Bd. 1: 611 f., 616–619, 626 f., 642– 647 Daktylus Bd. 1: 343, 663 Bd. 2: 83, 330, 371, 440, 460, 498, 543 Datierung Bd. 1: 372, 397, 477, 496, 577 Bd. 2: 45, 100, 115, 122, 140, 142– 144, 150–152, 160, 174 f., 177,
179 f., 182, 186–188, 206, 217 f., 221, 224–226, 233, 238, 435, 518 f., 524, 663 f. Dativ Bd. 1: 53 f., 81 f., 229, 276 f., 279, 287, 292, 329, 331–333, 352, 385, 420, 480, 482, 502, 545, 547, 698, 702 Bd. 2: 34, 104 f., 107 f., 110, 114, 124, 133, 135, 171 f., 179, 204, 296, 332, 335, 337, 445, 463, 465, 474, 520, 556 f., 563, 702, 704, 710 Dativ, freier Bd. 2: 172 Dativus ethicus Bd. 1: 263, 545 Bd. 2: 445 deiktisch Bd. 1: 162 Bd. 2: 112, 214, 216, 219 f., 365, 372, 542, 626, 652, 700 Deixis s. deiktisch Dekasyllabus Bd. 2: 408, 425 Demonstrativpronomen Bd. 1: 612 Bd. 2: 591, 710 Dental Bd. 1: 90, 92 f., 131, 135, 141, 197, 245, 330, 433, 504 f., 523, 642, 706 Bd. 2: 30, 58, 273, 303, 383 f., 602 Determinans s. Determinante Determinante Bd. 1: 10, 15, 597 Bd. 2: 12, 36, 173, 181 f., 305 f., 445 Determinator s. Determinante determinierend s. Determinante Diachronie Bd. 1: 4, 6, 160, 366
Sachregister
Bd. 2: 544 Diärese Bd. 1: 182, 448, 461, 610 Bd. 2: 84, 641 Diagonale Bd. 1: 284, 523–525, 685 Bd. 2: 16, 262, 472 Dialektik Bd. 1: 427, 486 f., 569 Bd. 2: 38, 176, 207, 209, 291, 379, 631, 634, 656 f., 671–674, 676– 679, 681, 683, 711 f. Dialog Bd. 1: 166 f., 187, 243, 250, 259, 292, 439, 549, 592, 597, 617 f., 623, 665 Bd. 2: 70, 110, 141 f., 192, 197, 214, 216 f., 226, 362, 406, 418, 434 f., 450, 519, 616, 633, 636, 669, 703, 735, 757 Diathese s. Genus verbi Dichotomie Bd. 1: 168, 289, 347, 350, 464, 599 Bd. 2: 211, 216, 260, 264, 307, 314, 388, 457, 461, 530, 608, 709 Dichtersprache Bd. 1: 12 Bd. 2: 494, 688 Dichtungssprache Bd. 1: 196, 441 diffus s. distinktives Merkmal: diffus vs. kompakt Diminutiv Bd. 1: 267, 325, 337, 542, 545, 547– 549 Bd. 2: 339, 341, 437 Ding Bd. 1: 78 f., 193 Bd. 2: 361, 388, 493, 512 Diphtong Bd. 2: 184
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Diskurs Bd. 1: 125, 158, 192, 331, 475, 571, 584 Bd. 2: 148, 361, 385 Diskurs-Universum Bd. 1: 158, 643 Bd. 2: 338, 739 Dissimilation Bd. 1: 92, 244, 499 f., 502, 563 Bd. 2: 27, 81 f., 105, 131, 160, 310, 757 Distichon Bd. 1: 141, 430 Bd. 2: 56, 58 f., 81, 85 f., 90–93, 264, 266, 269, 279, 550 distinktives Merkmal Bd. 1: 53, 61, 140, 175, 197 f., 263, 292, 304, 332, 346, 385, 595, 701, 705 Bd. 2: 52, 77, 80 f., 113, 125, 207, 333, 371, 398, 421 f., 476, 587, 683, 728 f., 741, 765 – diffus vs. kompakt Bd. 1: 131 f., 140, 198, 292 f., 385, 504, 704 f. Bd. 2: 38, 52, 80–83, 371, 421 f., 476 f., 479, 662 – dunkel vs. hell Bd. 1: 195, 197 f., 230, 292, 433 Bd. 2: 80 f., 182, 371, 380, 382, 422, 476 f., 662 – erhöht vs. nicht-erhöht Bd. 1: 139 f., 705 Bd. 2: 422 – erniedrigt vs. nicht-erniedrigt Bd. 1: 132, 434, 590 Bd. 2: 52, 182, 380, 382 f., 422, 662 – farbig vs. farblos Bd. 2: 80, 371 Dol’nik Bd. 2: 459 f., 488 Dominante Bd. 1: 168 f., 198, 379, 428
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Sachregister
Bd. 2: 371, 534, 741 Drama Bd. 1: 7, 165, 199, 259, 267, 277, 638 Bd. 2: 12, 28, 90, 121, 130, 150, 163, 324, 326, 334, 339, 362, 466, 535, 541 f., 583 f., 587, 596, 636 f., 651, 663, 674, 701 dramatisch s. Drama dunkel s. distinktives Merkmal: dunkel vs. hell Dyade Bd. 1: 380 Dynamik Bd. 1: 147, 161, 260, 273, 295, 376, 523, 549 f., 611, 617, 637, 685 Bd. 2: 14, 35, 38, 48, 51, 70, 78, 90, 92, 165, 207, 279, 323, 337, 340, 347, 363, 389, 454, 465, 586, 702, 704, 728 Ebenen Bd. 1: 25, 111, 140, 167, 174, 186, 188 f., 195, 198, 242, 261, 289, 292, 304 f., 328, 331, 346, 349, 352, 354 f., 543, 546, 674 Bd. 2: 3 f., 17 f., 48, 66, 68, 70, 80, 158, 204, 252, 256 f., 273, 276, 289 f., 296, 306, 331, 356, 362, 413 f., 419, 424, 426, 446, 448, 471, 474, 488, 494, 501, 506, 508, 534–537, 541 f., 544 f., 571, 579, 585, 587, 606, 646, 676, 697, 704, 735, 738, 741, 752, 754, 772 – lexikalische Ebene Bd. 1: 164, 261, 305, 615 Bd. 2: 69, 72, 321, 397, 424, 461, 463, 501 – morphologische Ebene Bd. 1: 89, 165, 187, 189 f., 220, 313, 327, 329, 420, 543, 641
Bd. 2: 321, 412, 587, 761 – syntaktische Ebene Bd. 1: 89, 165, 189 f., 227, 313, 327, 329, 416, 420 Bd. 2: 12, 15, 65 f., 252, 256, 290, 321, 356, 397, 412, 584, 587, 650, 658, 692, 717, 735, 752, 754 Eigenart Bd. 1: 18, 144, 205, 237, 285, 342, 344, 571, 577, 632, 664 Bd. 2: 14, 23, 158, 160, 165, 178, 181, 187, 204, 209, 215, 271, 408, 696, 698 f., 746, 762 Eigenname s. Namen Eigentümlichkeit s. Eigenart Einstellung Bd. 1: 14 f., 23, 80, 109, 163, 166, 168, 227, 277, 281, 481, 542 Bd. 2: 18, 370, 463, 495, 548, 613, 688, 699 f., 706 Elegie Bd. 1: 275 Bd. 2: 77, 79 f., 83, 112, 139, 186, 197, 217, 223, 225, 409, 455, 474 Elision Bd. 1: 556 Bd. 2: 642 Ellipse Bd. 1: 145, 147, 165, 239, 267, 294, 351, 354, 516, 633, 648 Bd. 2: 112, 274, 304, 314, 344, 597– 599, 610, 691, 705 emotiv s. Funktionen der Sprache: emotive / expressive Funktion Emphase Bd. 1: 163, 184, 186, 342, 382, 454, 516 f., 566, 596, 613, 617, 619, 640 Bd. 2: 32, 179, 259, 304, 369, 372, 445 f., 463, 546, 763, 771
Sachregister
Enjambement Bd. 1: 183, 185, 218 f., 230, 291, 573, 591, 613, 659 Bd. 2: 33, 155, 312 f., 535, 546, 640, 657, 677 Enklitikon Bd. 1: 259, 344, 477, 483, 498, 695 Bd. 2: 332, 335, 337, 407, 556 f., 660, 755 enklitisch s. Enklitikon Enkomion s. a. Eulogie Bd. 1: 473, 475 f., 495 Entfaltung Bd. 1: 21, 26, 28 f., 34, 71, 126, 143, 509 Bd. 2: 465, 495, 506 f., 549, 701 Entsprechung Bd. 1: 11, 111, 138, 140, 142, 147 f., 159, 197, 261, 273, 284, 304, 306–308, 310 f., 319, 327– 329, 334 f., 338, 348, 351–353, 355, 445 f., 450, 457, 461, 464, 466, 472, 484, 501, 518, 523, 525, 539 f., 546 f., 568 f., 579, 583, 589, 591, 594, 613, 618, 627 f., 635, 639, 642, 706 Bd. 2: 7 f., 34, 37, 57 f., 60, 78, 140, 147, 173, 179, 188, 197, 204– 206, 239, 261 f., 267, 269, 274, 290, 296, 299, 301, 311, 331 f., 339, 341, 361, 397, 400, 411, 441, 449, 459, 486, 528, 534, 545, 548, 571, 601, 614, 619, 623, 625, 632, 643, 648, 658 f., 662, 672, 692, 696 f., 751–753, 756, 758 f., 764 f., 777 – Binnenpaar-Entsprechung Bd. 2: 696 f., 701 – mittlere Entsprechung Bd. 2: 696 – periphere Entsprechung Bd. 2: 307, 696
827
– Zwischenpaar-Entsprechung Bd. 2: 696 f., 701 Epanalepse Bd. 1: 619 Bd. 2: 543 Epigramm Bd. 1: 141, 219, 221, 322 Bd. 2: 83, 94, 116 Epik Bd. 1: 62, 181 f., 315 Epistel Bd. 1: 273, 275, 277–279, 287 f., 290, 295, 477, 566, 593 Epitaph Bd. 2: 50 Epitheton Bd. 1: 61, 63, 96, 194, 204, 230, 252, 292, 324, 337, 355, 421, 683 f. Bd. 2: 89, 93, 106, 110, 265, 298, 300, 304, 317, 383, 385, 420 f., 456, 462, 535, 601, 614, 647 Epitheton ornans Bd. 1: 204, 339 Epizeuxis Bd. 1: 619 erhöht s. distinktives Merkmal: erhöht vs. nicht-erhöht erniedrigt s. distinktives Merkmal: erniedrigt vs. nicht-erniedrigt Erwartung Bd. 1: 146, 179, 184, 681, 684 Bd. 2: 17, 529, 608, 750 ethischer Dativ s. Dativus ethicus Etymologie Bd. 1: 74 f., 77, 82, 85, 105, 134, 221, 232, 234, 268, 305, 376, 398, 435, 441, 516, 546, 594, 635 Bd. 2: 176, 187, 233, 462, 504, 566, 638 f., 644, 653, 679, 698, 711, 727, 740
828
Sachregister
Eulogie s. a. Enkomion Bd. 1: 471 f., 475, 477, 481, 496 exerzitiv Bd. 1: 452, 465 Exordium Bd. 1: 192, 199, 202 Bd. 2: 538, 543, 548, 550 Explosiv Bd. 1: 511 Fabel Bd. 1: 35, 98, 224 Bd. 2: 78 f., 94, 272, 767, 773 Faktoren der Sprache Bd. 1: 162 f., 165–168, 170 f., 173, 206, 237 Bd. 2: 562, 568 Faktur Bd. 1: 36, 79, 275, 283, 292, 474, 500 f., 537, 539, 696, 704 Bd. 2: 48, 55, 60, 325, 343, 361, 367, 385, 425, 493, 735 faktura s. Faktur Farbigkeit von Lauten Bd. 2: 80, 371 Fassungsvergleich Bd. 1: 128 Bd. 2: 395, 571, 584 Figur, grammatische Bd. 1: 199, 202, 257, 264, 270 f., 274 f., 283, 288, 466 f., 484, 486, 571, 641, 649 Bd. 2: 398 f., 457, 527, 547, 744, 746 Figur, rhetorische Bd. 1: 26, 35, 173, 205, 252, 317, 335, 345, 367, 395, 430, 458, 466 f., 484, 503, 548, 619, 625, 633, 641 f. Bd. 2: 86, 163, 378, 391, 398, 414, 461, 478, 546, 593, 631, 643, 646, 648, 737
Figura etymologica Bd. 1: 71, 86, 251 f., 277, 324, 395, 398, 407, 433, 483, 548, 594, 642 Bd. 2: 220, 268, 300, 358, 538, 722 Film Bd. 1: 42, 157, 273, 593, 636 Bd. 2: 17 f., 71, 340, 722 Folge, arithmetische / geometrische Bd. 1: 138, 140, 403, 582 Bd. 2: 260, 441, 756 Folklore Bd. 1: 25, 31, 62, 68 f., 75, 77, 137 f., 141 f., 144, 146, 176, 189, 191, 257, 264–266, 272, 304, 311 f., 314–319, 321–323, 328, 334, 346, 416, 420, 539 Bd. 2: 319, 330, 334, 341, 395, 399 f., 410, 434 f., 439, 446, 504, 576, 687, 690 f., 722, 726, 748 Formalismus Bd. 1: 1 f., 5–7, 9 f., 12 f., 15, 17, 21, 23–26, 28, 36, 45, 48 f., 62, 70, 75, 79 f., 111, 125–127, 132, 137, 139, 141 f., 144, 148, 163, 168, 174, 181, 183, 191, 221, 474, 500, 542, 544, 548, 608 Bd. 2: 252, 275, 361, 385, 419, 572, 592, 600, 740 Fragment Bd. 1: 8, 77, 274, 307, 349, 372, 397, 441, 577 Bd. 2: 45, 53, 63 f., 66–75, 142, 169, 222, 224, 319, 325, 365, 377, 379, 547 f., 635, 664, 748 Frikativ Bd. 1: 224, 504 f., 595, 706 Bd. 2: 273, 284, 300, 303, 383 f. Fünferstruktur Bd. 1: 131, 699 Bd. 2: 501 f. Fünfheber Bd. 1: 185, 446, 628 Bd. 2: 81–86, 90–93, 601, 604, 625
Sachregister
Fürbitte Bd. 2: 461 f. Fundament, semantisches Bd. 2: 278, 290 Funktionen der Sprache – emotive / expressive Funktion Bd. 1: 14, 16 f., 162–165, 169 f., 172, 240 f., 250, 270, 279, 324, 404 Bd. 2: 59, 90, 102, 141, 446, 683, 729, 763 – konative Funktion Bd. 1: 165 f., 169 f., 349, 452, 457 f., 464 Bd. 2: 141 f. – metasprachliche Funktion Bd. 1: 135, 167, 170 f., 237, 246, 261 Bd. 2: 227, 397, 675, 683, 704 – phatische Funktion Bd. 1: 166, 170 – poetische Funktion Bd. 1: 7, 14–16, 138, 162, 168– 173, 192, 198, 206, 237, 253, 473, 658 Bd. 2: 291, 501, 572, 584, 670, 683, 735, 737, 740 f., 743 – referentielle / denotative / kognitive Funktion Bd. 1: 163–165, 169 f., 192, 195, 198, 240 Bd. 2: 11, 398, 718, 738 Futurismus Bd. 1: 9 f., 12, 36, 130 Bd. 2: 385, 493–496, 501, 503, 511 f., 748 Gattungsadjektiv Bd. 1: 98 Bd. 2: 128 Gattungsname s. Appellativum Gedankenlyrik Bd. 1: 274
829
Geflügeltes Wort Bd. 2: 133, 365 Gegensatz s. Kontrast Gelegenheitsgedicht Bd. 1: 373, 689, 707 Gemeinname s. Appellativum Genitiv Bd. 1: 81 f., 229, 331–333, 337– 340, 383–385, 412, 480, 482 f., 502, 515, 542–544, 600, 698 f., 703 Bd. 2: 33, 51, 67, 87, 99, 105, 107 f., 113, 124 f., 127 f., 130 f., 170–172, 204 f., 332, 336 f., 340, 386 f., 464, 474, 502 f., 548, 557, 561, 567 – Genitiv der Negation Bd. 1: 333 Bd. 2: 127 f., 561, 567 – Genitiv des Zieles Bd. 2: 127 f. – Genitivus appetitivus Bd. 1: 549 – Genitivus subiectivus Bd. 2: 113, 128 Genre Bd. 1: 74, 137, 169, 315, 318 f., 346, 373, 496 Bd. 2: 399, 418, 592, 751 Genus Bd. 1: 77, 97 f., 140, 142, 146, 190, 240, 258, 273, 330, 335, 435, 464, 502, 584–586, 590, 637 Bd. 2: 22, 25–27, 37, 56, 58 f., 91, 102, 105, 157, 169–172, 178, 234, 274, 283 f., 297, 299, 306, 309 f., 312, 334, 345 f., 386 f., 400, 441 f., 447 f., 471 f., 531, 542, 587, 592, 612, 654–656, 658, 663, 709, 711, 761, 768 – femininum Bd. 1: 31, 142, 146, 335, 435, 464, 506, 585 f.
830
Sachregister
Bd. 2: 21, 27, 37, 52, 59, 91, 105, 132, 169–171, 234, 284, 295 f., 338, 471 f., 502, 521, 531, 543, 656, 663, 761 f. – maskulinum Bd. 1: 97 f., 140, 142, 144, 146, 190, 269, 321, 329, 335, 341, 435, 458, 464, 585 Bd. 2: 21 f., 25–27, 37, 52, 57, 59, 82, 91, 105, 128, 169–172, 234, 260 f., 274, 283 f., 295, 309 f., 335, 337 f., 344, 346 f., 383, 386 f., 408, 447 f., 471 f., 502 f., 521 f., 531, 541 f., 548, 550, 587, 591 f., 594, 612, 654–656, 658, 663, 761 f., 774, 779 – neutrum Bd. 1: 142, 230, 263, 287, 330, 335 Bd. 2: 48, 57, 59, 91, 105, 169– 171, 234, 332, 334, 336, 338, 360, 471, 531, 542 f., 663 Genus verbi Bd. 1: 259, 261, 273, 333, 400, 614 f. Bd. 2: 309, 336, 397, 400, 531, 544– 546, 597, 613, 706 Geometrie Bd. 1: 12, 258, 281–284, 436, 440, 466–468, 510, 518 Bd. 2: 3, 13, 38, 220, 386, 528 f., 593, 607, 682, 743 gerade Bd. 1: 145, 224 f., 231, 329, 337– 339, 404, 430–435, 445–447, 449, 454, 457 f., 464, 478–482, 484– 487, 499, 501–503, 505, 517, 542, 567 f., 570, 572–583, 586 f., 590, 614, 616, 627, 632, 634–640, 642 f., 701 f. Bd. 2: 6–12, 14 f., 17, 20–22, 26, 30, 49 f., 52, 56, 58, 60, 82, 85, 103, 123, 134, 155–160, 162, 166, 170, 173, 175, 179, 183 f., 208, 234, 238, 294 f., 297, 299–304,
307 f., 310, 313 f., 328–330, 334, 378 f., 406, 420–422, 457–461, 463–465, 468–471, 473–475, 477, 479, 483, 486, 488, 498, 503 f., 530, 535, 563, 586, 588, 590 f., 595, 601–603, 605 f., 613 f., 640 f., 652, 657 f., 661 f., 696, 708, 710 f., 719–725, 728 f., 751–754, 757– 759, 776–779 gerundet vs. nicht-gerundet Bd. 1: 132, 135, 434, 590 Bd. 2: 30, 38, 52, 57, 182 f., 296, 380, 441 Geschlecht s. Genus Gesetzmäßigkeit Bd. 1: 279 Bd. 2: 213, 395, 417, 422, 473, 542, 688 gestisch Bd. 1: 162 Bd. 2: 688, 700 f. Gleichung Bd. 1: 171, 191 Bd. 2: 8, 21, 207, 541 Gleichwertigkeit s. Äquivalenz Goldener Schnitt Bd. 1: 542 Bd. 2: 206–208 Gotik Bd. 1: 283–285, 464, 518 Gradation Bd. 1: 504 graphisch Bd. 1: 157, 239, 369, 377, 402, 436, 498, 510, 518, 556, 593, 627, 660, 705 Bd. 2: 2–4, 28, 31, 82, 149, 154, 238, 242, 329, 361, 381, 385, 484, 495, 504, 506, 509, 559, 636, 657 grave s. distinktives Merkmal: dunkel vs. hell
Sachregister
Häufung Bd. 1: 232, 330, 524 Bd. 2: 279, 300, 372, 547, 609, 728 Hagiographie s. Vita Halblaut s. Halbvokal Halbreim s. Assonanz Halbvers s. Hemistich Halbvokal Bd. 1: 478 Bd. 2: 296 Handlung, magische Bd. 1: 147, 313, 486, 579 Bd. 2: 315 f., 468, 470, 487, 728 f. Handschrift Bd. 1: 220, 320–322, 344, 372, 393 f., 397, 412, 416, 454, 472, 477, 486 f., 496 f., 510, 538, 541, 547, 620, 628, 660, 682, 691 Bd. 2: 5, 8, 31 f., 143, 145–147, 151, 154, 157, 178, 181, 210, 218, 238, 280, 323–325, 328 f., 346, 357, 363, 370, 376, 378 f., 381, 384, 391, 401, 483, 496, 508, 518 f., 524, 575, 579, 586, 614, 617, 635, 692, 706 Hanka Bd. 1: 372 Hauptakzent Bd. 1: 174, 335 f., 340, 342 Bd. 2: 164 Hebung Bd. 1: 174, 177–181, 183 f., 292, 341–344, 431, 434–436, 447, 450, 454 f., 457 f., 461, 466, 516 f., 538, 587, 613, 618, 628, 634, 640 f., 691–696, 700–706 Bd. 2: 16 f., 31, 33, 36, 49–51, 67 f., 80–85, 103, 123 f., 136, 150, 158 f., 161, 164, 181 f., 330, 345, 439 f., 442, 458 f., 461, 473, 477–
831
479, 498, 601, 604–606, 624 f., 719 f. hell s. distinktives Merkmal: dunkel vs. hell Hemistich Bd. 1: 176, 179, 223, 226, 229, 231, 252 f., 312, 324–329, 331 f., 335, 337–341, 343 f., 347, 403, 477–480, 482, 498–500, 525, 572 f., 586 f., 595, 613, 616–619, 639, 647, 691–695, 697, 701–703, 705 Bd. 2: 7, 31–33, 35–38, 56–60, 81 f., 84–87, 92 f., 103, 154 f., 161, 164 f., 172, 179, 181, 183 f., 204– 208, 238, 300, 304, 307, 310, 330, 382, 403, 408 f., 411, 420, 422, 425, 458 f., 464, 468, 477 f., 483, 485, 498, 558, 568, 596, 599, 601, 603, 722, 725, 755, 760 Heteronymie Bd. 2: 632, 636 f., 650, 673–676 Hexameter Bd. 1: 184, 575, 704 Bd. 2: 81, 83–87, 90, 92 f., 96, 726 Hiat Bd. 1: 111, 173, 450, 483, 501, 575, 633 Bd. 2: 49, 68, 503 f., 548 Hiatus s. Hiat Hierarchie Bd. 1: 3, 163, 197 f., 227, 230, 365, 378, 482, 635 Bd. 2: 27, 56, 70, 306, 413, 458, 475, 496, 580, 613, 646, 654, 697, 710, 747, 751, 756, 758, 778 Homoioteleuton Bd. 1: 186, 219, 319, 327, 542 Bd. 2: 678 Homonym Bd. 1: 94, 187, 221, 370, 374, 377, 481 f., 506
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Sachregister
Bd. 2: 233, 239, 506 f., 644, 677, 761 homonymer Reim s. Homoreim Homoreim Bd. 1: 187, 221, 233 Bd. 2: 274 Hymne Bd. 1: 103, 402, 474 Bd. 2: 139, 149 f., 202 f., 221 Hypallage Bd. 1: 683 Hyperbel Bd. 1: 34, 47 Bd. 2: 219, 512, 646 hyperkatalektisch Bd. 1: 288 Hyperkoristikum Bd. 1: 548 Hypotaxe Bd. 1: 291, 340, 453, 458, 465, 638 Bd. 2: 38, 304, 345, 413 Ikon Bd. 1: 475 Ikone Bd. 1: 409, 472 Bd. 2: 464, 467 ikonisch s. Ikon Ikonostase Bd. 2: 464 Iktus s. Versakzent Imperativ Bd. 1: 165, 194, 278 f., 289 f., 293, 295, 349, 371, 377 f., 407, 410, 435, 452, 458, 464 f., 514, 516, 518, 522, 524, 544–546, 548, 550, 617, 620, 668, 678, 681 Bd. 2: 217, 345, 347, 405, 485, 521, 531–534, 536–538, 541, 545– 547, 549, 664, 705 f., 711
imperfektiv s. Aspekt: imperfektiver Aspekt inchoativ Bd. 1: 517 Bd. 2: 303 f., 650 Incipit Bd. 1: 436 Bd. 2: 704 Indefinitpronomen Bd. 2: 48, 365, 663 Index Bd. 2: 214–216 indexikalisch s. Index Inschrift Bd. 1: 318 Bd. 2: 79, 96 Instrumental Bd. 1: 25, 54, 145–147, 277–279, 332–334, 409, 420, 460, 480, 546, 698 Bd. 2: 47, 67, 93, 99, 105–110, 113 f., 132 f., 475, 510 Interferenz Bd. 2: 390, 688, 709, 712 Intermedialität Bd. 1: 36 Bd. 2: 1, 3, 23, 78 Interpretation Bd. 1: 3, 9, 82, 111, 129, 177, 184, 199, 232, 242 f., 278 f., 283, 294, 321, 327, 338, 365, 378, 382, 385, 392, 395, 410, 412, 439 f., 478, 509, 548 f., 553 f., 558 f., 583, 623 f., 630–632, 638, 644, 650, 697 Bd. 2: 14, 29, 51, 75, 77 f., 127, 142, 188, 252, 254, 277, 292, 321, 325, 349, 356, 358, 370, 375, 377, 390, 396, 411, 434, 439 f., 442, 444–446, 463, 467, 528, 530, 544 f., 548, 572, 607, 634, 655, 676, 679, 703, 712, 740, 749
Sachregister
Interpunktion Bd. 1: 13, 242, 265 f., 393, 429, 452, 662, 690 Bd. 2: 5, 14, 46, 56, 64, 126, 155, 261, 325, 327 f., 357, 370, 376, 378 f., 438, 692 Interrogativpronomen Bd. 1: 697 Bd. 2: 130, 360, 417, 503, 652, 701 f. Intertextualität Bd. 1: 510 Bd. 2: 78, 253, 772 Intonation Bd. 1: 51, 54, 175, 182 f., 241, 452, 479, 692 Bd. 2: 99, 370, 418, 484, 758 intransitiv Bd. 1: 223, 292, 332, 340, 577 f. Bd. 2: 48, 66, 90, 163, 172, 340, 413, 549, 652, 676 Invariante Bd. 1: 161, 164, 177, 181, 195, 304, 346, 348, 352, 431, 598 Bd. 2: 114, 506, 755 Inversion Bd. 1: 2, 144, 228, 381 f., 483, 500, 584, 595, 618, 646, 693, 700 Bd. 2: 86, 93, 163, 305 f., 335, 426, 510, 539, 546, 691 Ironie Bd. 1: 3, 112, 164, 201, 225, 234, 554, 564, 635, 681 Bd. 2: 101, 291, 294, 390, 433, 613, 617, 672, 675, 679, 718, 735, 742, 774, 778 Isokolon Bd. 1: 271, 350, 404 Isometrie Bd. 1: 569 Bd. 2: 264, 808 Jambus Bd. 1: 6, 178–180, 231, 446, 516, 542, 618, 628, 640, 691
833
Bd. 2: 15–17, 33, 36, 49–51, 82, 111, 124, 154, 156, 159, 165 f., 174, 212 f., 238, 329–331, 333, 345, 379, 488, 601, 604, 625, 719, 755, 760 Kadenz Bd. 1: 182, 343, 589 Bd. 2: 16 f., 36, 91, 369, 379, 459, 488 Kanon Bd. 1: 5 f., 8, 58, 159, 189, 258, 270, 285, 305, 310 f., 314, 322 f., 347, 386, 404, 556, 588 f. Bd. 2: 209, 319, 356, 399, 410, 433, 690, 697 Kanzone Bd. 1: 441, 450, 467 Kasus Bd. 1: 53, 81 f., 141, 145, 147, 220, 229, 261, 265, 273, 279, 292, 295, 332 f., 411, 463, 480, 483, 487, 502, 524, 542, 689, 699, 702 Bd. 2: 66, 105, 107 f., 113 f., 121, 125, 127, 130, 132, 157, 170 f., 178, 204, 386–388, 397, 400, 533 f., 548, 558, 701 f., 704–706, 708 f. – Bezugskasus Bd. 1: 276, 702 Bd. 2: 108 – direkter Kasus (casus rectus) Bd. 1: 354, 455, 698, 702 Bd. 2: 172, 557, 561 – indirekter Kasus (casus obliquus) Bd. 1: 698 Bd. 2: 104, 107 f., 332, 557 – peripherer Kasus Bd. 1: 277, 480, 699 Bd. 2: 131 – Randkasus Bd. 1: 145, 277, 698, 701, 703 Bd. 2: 108, 131, 133
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Sachregister
– Umfangskasus Bd. 1: 229, 698, 703 Bd. 2: 105, 131, 557 Kasusbedeutungen Bd. 1: 294 katalektisch Bd. 2: 15, 84 f., 439, 441 f. Kirchengesang Bd. 1: 478, 510 Kirchenslavisch Bd. 1: 391, 393–395, 397, 399, 404, 413, 471 f., 478, 495 Klasse Bd. 1: 128, 187, 196, 304, 346 f., 350, 449, 484, 516, 644, 699 Bd. 2: 8 f., 21, 104, 165, 182, 211, 216 f., 259, 262 f., 274, 296, 344, 400, 417, 560, 594, 604, 650, 653, 744, 749, 754, 759 kleine Formen Bd. 1: 707 Bd. 2: 79, 391, 502 Kode s. Code kognitiv s. Funktionen der Sprache: referentielle / denotative / kognitive Funktion Kolon Bd. 1: 369, 377, 379–381, 384, 430 f., 436 Kolophon Bd. 1: 487 Kombination Bd. 1: 70, 74, 92 f., 155, 170 f., 226, 228, 257, 271, 330, 353, 370, 377, 386, 404, 447, 466, 518, 548, 568, 617, 685 Bd. 2: 12, 136, 178, 290, 300, 333, 340, 380, 404, 419, 476, 486, 505, 508, 510, 564, 584, 598, 644, 649, 652, 779 Kombinatorik Bd. 1: 70, 126, 295, 475, 706
Bd. 2: 52 Kommunikation Bd. 1: 15, 80, 126 f., 155, 159, 162 f., 166, 168, 170, 177, 237, 239– 241, 248 f., 253, 693 Bd. 2: 148, 214 f., 226, 241, 494, 537, 549, 688, 699 kompakt s. distinktives Merkmal: diffus vs. kompakt Komparativ Bd. 1: 583, 707 Bd. 2: 104, 487, 721–723 Kompetenz Bd. 1: 181, 206 Bd. 2: 214, 252, 316 Komposition Bd. 1: 21, 48, 63, 129, 194, 196, 247, 259, 265, 281, 283 f., 306, 313, 322, 324, 331, 342, 345, 347, 367, 379 f., 383, 412, 416, 436, 455, 464, 468, 510, 520, 523 f., 545, 550, 553, 567, 571, 578 f., 589, 627, 668, 679, 700 Bd. 2: 3, 13, 22 f., 28, 111, 128, 220, 235, 261, 271, 279, 290, 298, 314, 322, 324 f., 340–342, 385, 418, 421, 457, 483, 503, 521, 533, 536, 548, 550, 571, 650, 690, 692, 698, 747 f., 756–758, 774, 780 konativ s. Funktionen der Sprache: konative Funktion Konjunktion Bd. 1: 143, 145, 223, 278, 290, 324, 337, 351, 506, 541, 543, 570, 573, 614, 617, 620, 638, 640, 683, 700, 702 f. Bd. 2: 32, 34, 36, 38, 86, 102 f., 129, 215, 261, 268, 308, 313, 317, 366, 456 f., 460, 485, 558, 564, 592, 594 f., 598, 608 f., 611 f., 699, 707, 710 f., 758 f.
Sachregister
– adversativ Bd. 1: 145, 200, 278, 290, 378, 411, 452, 638, 683 Bd. 2: 155, 163, 710 f. – kopulativ Bd. 1: 200, 620, 638 Bd. 2: 103, 594 f., 608, 611 f. Konkretum s. Nomen: konkretes Nomen Konnektiv Bd. 1: 337 Bd. 2: 571, 594 f., 608 Konnotation Bd. 1: 142, 190, 250, 333, 384, 435, 447, 564, 683 Bd. 2: 99, 334, 346, 644 f., 653, 675, 735, 766 Konsonantencluster s. Konsonantengruppe Konsonantenfolge s. Konsonantengruppe Konsonantengruppe Bd. 1: 11, 80, 88–90, 111, 139 f., 706 Bd. 2: 48 f., 72, 136, 168, 179, 259 f., 284, 343, 385, 547, 600, 640, 642, 649, 725 Konsonantismus Bd. 1: 505 Bd. 2: 49, 168, 315 Kontakt Bd. 1: 162 f., 166 Bd. 2: 765 Kontext Bd. 1: 74, 95, 128, 131, 141, 145, 147, 162 f., 166, 192, 237, 249 f., 252, 280, 282, 292 f., 314, 322, 331, 336, 347, 349, 353 f., 397, 409, 413, 440, 454 f., 458–460, 475, 479, 495 f., 539, 547, 550, 554, 570 f., 591, 596, 644 Bd. 2: 59, 71, 92, 113 f., 135, 241, 298, 307 f., 361, 417, 473, 495, 500, 504 f., 536, 541, 583, 621, 632, 652 f., 670, 700, 706, 740
835
Kontiguität Bd. 1: 15, 67, 100, 170, 191, 193– 195, 223–225, 269, 271, 334, 354, 568, 594, 668 f. Bd. 2: 70, 216, 278, 342, 348, 551, 580, 582, 584, 613, 626, 703, 777 kontradiktorisch Bd. 1: 326 f. Bd. 2: 37, 632, 643, 645, 647 konträr Bd. 1: 326 f., 330 Bd. 2: 15, 37, 632, 643, 647 Kontrast Bd. 1: 12, 43, 146 f., 173–175, 186, 188, 196, 231, 233, 251, 259, 271– 273, 275, 278, 284, 291 f., 326 f., 333, 344, 352, 384 f., 435, 450, 462 f., 465, 480, 484, 486, 501, 525, 563, 568, 575, 581, 583, 585, 597, 612, 615, 618, 627, 635, 643, 647, 668, 679, 682, 684, 696 f. Bd. 2: 7, 9, 11, 14 f., 28 f., 49, 57 f., 65, 70, 92, 99, 106–108, 110, 112, 128, 170 f., 217, 256, 279, 294, 302 f., 305, 331, 334 f., 341, 378, 382, 384, 400, 408, 412, 448 f., 457, 465, 473, 488, 503, 546, 551, 571, 582, 586 f., 600, 610, 613, 617, 620, 642, 661–663, 708, 725, 744, 749 f., 752, 754, 756, 758, 761, 778 Kopfkissenwort Bd. 1: 367, 371, 377 f. Kopula Bd. 1: 147, 341, 344, 405, 545, 574 f., 641, 680, 693, 696, 700, 703 Bd. 2: 72, 126, 162, 263, 407, 487, 502, 521, 524, 557, 644 f., 651, 656, 720, 754 Korrespondenz s. Entsprechung Kratylismus Bd. 1: 2
836
Sachregister
Bd. 2: 291 Kryptogramm Bd. 1: 133, 139 Bd. 2: 345 Kunstgriff s. Verfahren Kurzvers Bd. 2: 156 f., 208, 238 Labial Bd. 1: 92 f., 135, 197, 252, 433, 459, 503, 511, 616, 706 Bd. 2: 30, 57, 59, 106, 273, 300, 303, 468, 602, 649, 723 Langgedicht Bd. 1: 372, 377, 379 f., 620 Bd. 2: 748 Lateral Bd. 1: 505, 593, 616 Bd. 2: 59 f., 385, 468, 472 Laut, Lautebene Bd. 1: 14, 80 f., 102 f., 108, 112, 130, 133, 135, 138, 164, 171, 186, 193, 195 f., 219, 224 f., 227 f., 231, 244 f., 250, 253, 292 f., 309, 317, 323, 367, 377, 399 f., 432, 486, 501, 511, 514, 525, 546 f., 576, 589, 592 f., 595, 612, 635, 638, 646, 648, 660, 664–666, 704–706 Bd. 2: 48, 55, 58, 60, 68, 77, 93, 106, 111, 136, 168, 204 f., 267, 271, 276, 290, 296, 310, 356, 361, 365, 367, 370, 380 f., 391, 419 f., 422 f., 426, 468, 493, 501, 503 f., 506, 509, 519, 524, 548, 581, 587, 600, 603, 613, 632, 641, 648 f., 662, 717, 719, 724, 727 f. Laut-Metathesen Bd. 1: 474, 482 Lautbild Bd. 1: 474, 483, 503, 665 Bd. 2: 129, 136, 179 f., 419, 506 Lautfigur Bd. 1: 146, 173, 186, 198, 264, 327, 384, 459, 465
Bd. 2: 18, 343, 398, 547, 623, 723, 728 Lautgestalt Bd. 1: 11, 139, 148, 182, 195, 293, 474, 705 Bd. 2: 52, 80, 422, 476–479, 601, 717, 727, 773 f. Lautsymbolik Bd. 1: 195 f. Bd. 2: 422, 477, 773 Lauttextur Bd. 1: 252, 330, 340 f., 351, 432 f., 593 Bd. 2: 17, 30 Lautthema Bd. 2: 419 f. Lautwahrnehmung Bd. 2: 80 Lautwiederholung Bd. 1: 75, 80, 89, 102, 106 f., 136, 141, 409, 474, 483, 485 f., 501, 503, 542, 546 f. Legende Bd. 1: 157, 224 f. Bd. 2: 632, 645, 653, 656, 678 f., 681 Leitmotiv Bd. 1: 226 f., 463, 509, 634, 684 Bd. 2: 116, 404, 444, 457, 509, 546, 643, 662, 704, 708, 748, 779 Lexem Bd. 1: 25, 70 f., 75, 143, 231, 263, 349, 540 Bd. 2: 60, 78, 335 Lexik s. Wortschatz Lied Bd. 1: 79, 100, 109, 146, 190, 233, 251, 266, 283, 285, 295, 322 f., 338, 348, 409, 427, 479, 509–511, 514, 516, 519 f., 523, 526, 677, 685 Bd. 2: 127, 232 f., 235, 239, 242, 284, 294, 322, 341, 404, 408, 413 f., 416, 423, 444, 575, 579, 618, 704
Sachregister
Linguistik Bd. 1: 1–4, 7 f., 62, 73, 75, 78, 125, 128–130, 134, 137, 148, 155–165, 167–170, 173, 182, 188 f., 192, 195, 198 f., 204–206, 237, 239 f., 244, 250, 257, 261–264, 271, 281 f., 304 f., 307, 309 f., 313, 315, 318, 348, 353, 355, 386, 465, 474, 509, 517, 526, 537, 555, 572, 597, 608, 624, 645, 650, 674, 678, 693 Bd. 2: 14, 121, 141, 169, 181, 211, 213, 216, 252, 255–257, 291 f., 316, 355 f., 397 f., 400 f., 419, 433, 510, 512, 517, 523, 527, 534, 539, 544, 555, 571 f., 574, 582, 585, 604, 635, 673, 676, 683, 688, 713, 718, 727 f., 733, 735, 737–740, 742 f., 745, 748–751, 756, 758– 760, 764, 766, 771, 774, 776–780 linguistische Fiktion Bd. 1: 199, 201, 262 f., 645 Bd. 2: 504 Liquida Bd. 1: 135, 330, 459, 504 f., 618 Bd. 2: 267, 284, 315, 419 f., 602 f., 723 f., 773 Literaturkritik Bd. 1: 2, 49, 159 Bd. 2: 282, 295, 348, 357, 551, 669 f., 734–736, 740, 746 Literatursprache Bd. 1: 539 Bd. 2: 323 Literaturwissenschaft Bd. 1: 2, 16, 48, 125, 128, 138, 148 f., 155 f., 159 f., 206, 217, 271, 275, 285, 427, 439 f., 496, 623, 707 Bd. 2: 1, 45, 130, 140, 158, 202, 251, 253, 323, 399, 401, 494, 497, 518, 632, 687, 738, 740, 742 f., 755, 764, 776 Lizenz Bd. 1: 180
837
Bd. 2: 15, 166, 551 Lösung des dramatischen Knotens Bd. 1: 291 Bd. 2: 60, 226 Logik Bd. 1: 19, 21, 23 f., 26, 43, 63, 71, 76 f., 103, 106, 148, 158, 167, 181, 201, 310, 317, 355, 404, 441, 649, 674 Bd. 2: 163, 290, 370, 388, 557, 582 f., 647, 688, 704, 727, 729, 744, 749 Lokativ Bd. 1: 26, 145, 294, 325, 333, 480, 698, 703 Bd. 2: 51, 72, 105, 108 f., 131– 133, 135, 339 f., 388, 457, 460, 464 f., 475, 502, 557 f. Lokutor Bd. 1: 596 männlicher Reim s. Reim: männlicher Reim Märchen Bd. 1: 41, 68, 192, 198, 348 Bd. 2: 349 magische Funktion Bd. 1: 166 makura-kotoba s. Kopfkissenwort Malerei Bd. 1: 36, 94, 127, 281, 283 f., 440, 466, 500 Bd. 2: 3 f., 30, 94 f., 385, 465, 511, 574, 576, 729 Manierismus Bd. 1: 472, 547, 618 Bd. 2: 112 Manuskript s. Handschrift Marinismus Bd. 2: 112 merkmalhaft Bd. 1: 332, 405, 578
838
Sachregister
Bd. 2: 121, 125, 129 f., 132, 207, 217, 469, 471, 502, 544, 548, 655, 663, 702, 705 f., 708 merkmallos Bd. 1: 574, 578, 637 Bd. 2: 72, 121, 125, 127, 129, 132, 207, 217 f., 386, 469, 471, 544, 548, 656, 702, 705 Message s. Botschaft Metamorphose Bd. 1: 26, 28 f., 80, 134, 462, 549, 636 Bd. 2: 18, 71, 93, 96, 269, 272 f., 281, 304, 314, 347, 581, 702 Metapher Bd. 1: 2, 21, 28 f., 31, 34, 36, 80, 95, 133, 140 f., 146 f., 157, 188– 191, 199, 224, 229, 242, 251, 265, 270, 275, 288 f., 291 f., 310, 317, 330 f., 333, 338, 348, 350, 354 f., 367, 384 f., 401, 433, 445, 457, 484, 515, 546, 548 f., 559, 561, 580, 597, 612, 638 f., 658, 668, 681, 683 Bd. 2: 7, 34, 38, 48, 63, 70, 101, 121, 124, 128, 132, 166, 181, 209, 216, 241, 269, 278–280, 291, 302, 304–307, 309, 311, 314, 335, 341 f., 344, 347, 359–362, 365, 414 f., 551, 582, 585, 602, 608, 611, 617, 625, 760 – etymologische Metapher Bd. 1: 202 – lexikalisierte Metapher Bd. 1: 289 f. Bd. 2: 7, 335, 414, 566 Metaphernkette Bd. 2: 290, 311 metaphysical school Bd. 1: 673 metasprachlich s. Funktionen der Sprache: metasprachliche Funktion
Metathese Bd. 1: 51, 89, 108, 139, 147, 640, 664 Bd. 2: 180, 186, 296, 582, 638, 674, 724 Metonymie Bd. 1: 21, 134, 141, 144, 190 f., 199, 202, 224, 230, 263, 265, 270, 288, 310 f., 334, 354, 377, 433, 455, 548, 638 f., 658, 668 f., 681 f. Bd. 2: 58, 63, 70 f., 125, 128, 132, 216, 266, 271, 278, 280, 389, 414 f., 471, 474, 509, 528, 539, 541, 547 f., 563, 565, 580, 582, 608, 611–614, 623, 703 Metrik Bd. 1: 78, 129, 156, 171, 175, 180– 183, 186, 190, 218, 221, 314, 340, 351, 372, 380, 410, 431, 448, 509 f., 556, 589, 618 Bd. 2: 20, 33, 85, 159, 213, 259, 324, 370, 419, 439, 604, 632, 641, 741, 744, 761 Metrum Bd. 1: 59, 94, 128, 135, 142, 173 f., 177, 180 f., 184 f., 188 f., 252, 305, 308, 318, 341, 343, 404, 440, 447, 450, 453, 498 f., 556, 575, 691 Bd. 2: 15, 17, 50, 75, 77, 92, 156, 174, 213, 238, 345, 409–411, 425, 434, 438 f., 459, 476, 497, 501, 585, 604, 607, 659, 726, 744 Modalverb Bd. 2: 264, 706, 720, 725 Modifikator Bd. 1: 190, 333, 335 f., 351, 353, 435, 462, 633, 637, 642 Bd. 2: 26 f., 37, 337 f. Modus Bd. 1: 273, 279, 315, 422, 544, 574, 579, 613, 620 Bd. 2: 271, 400, 406, 531, 534, 609, 705 f., 749
Sachregister
– Modus obliquus Bd. 1: 201, 276 – Modus operandi Bd. 1: 194 – Modus rectus Bd. 1: 201 Monolog Bd. 1: 227, 238, 243, 248, 277, 419, 422, 559 Bd. 2: 134, 142, 198, 212–215, 218, 226, 346, 445, 447–450 Montage Bd. 1: 36, 58, 431 Bd. 2: 496 Morphem Bd. 1: 70, 72, 231 f., 385, 616, 633 Bd. 2: 275, 396, 416, 508, 658, 699, 727 Morphologie Bd. 1: 3, 75, 103, 126, 128, 142, 159, 161, 187, 198 f., 220, 259, 261, 265, 272, 304, 319, 328–331, 333, 350, 352, 354, 375, 384, 461, 464, 482, 501, 517, 538, 542, 550, 580, 591, 616, 647, 695, 701 Bd. 2: 6, 86, 107, 140, 157 f., 160, 166, 206, 325, 337, 383, 385, 396, 400, 405, 417, 448, 457, 464, 469, 483, 501, 508, 527, 536, 544, 548, 550 f., 585, 609, 619, 639, 650, 658, 663, 744 Motiv Bd. 1: 19, 21, 26, 43, 94, 127, 133, 146, 203, 248 f., 268, 270, 321 f., 328, 341, 370, 409 f., 422, 477, 526, 539, 545 f., 548, 560, 563, 569, 583, 595, 613, 618, 667, 684 Bd. 2: 1, 13 f., 92, 94, 106, 109, 175 f., 228, 275, 281 f., 320, 333, 337, 342 f., 347, 356, 365 f., 412, 415, 420 f., 449, 456, 462, 465– 467, 472, 474, 477, 483, 500, 524, 561, 565 f., 585, 618, 647, 704 f., 723 f., 768
839
Mündlichkeit Bd. 1: 14 Bd. 2: 434, 504 Musik Bd. 1: 16, 48 f., 80, 101 f., 172, 184, 312, 428 Bd. 2: 349, 573, 575, 688, 764, 771, 783 Musikalität s. Musik Muster Bd. 1: 53, 73, 78, 87, 126–128, 136 f., 161, 172, 174–178, 239, 261 f., 274, 281, 286, 291 f., 305, 309, 311 f., 315, 318, 323 f., 337, 342–345, 347, 349, 354, 367, 381, 392, 416, 441, 448, 487, 566, 601, 610 f., 613, 615, 648, 668, 685, 691 Bd. 2: 10, 34 f., 52, 140, 161 f., 273, 316, 329, 333, 396, 398, 410, 501, 528, 532, 546, 550, 574 f., 585 f., 589, 593–595, 603 f., 607, 609 f., 655, 725, 748, 751, 779 Mystik Bd. 1: 19, 94, 472, 475 Bd. 2: 254, 265, 672, 743, 765, 771 Mythos Bd. 1: 36, 347, 559, 624 Bd. 2: 149, 229, 255 f., 264, 270, 276, 280, 357, 371, 444, 506, 620, 624, 632, 636, 638–640, 645, 647, 652 f., 656, 660, 662, 664, 672, 679, 769, 773 Nachahmung Bd. 1: 58, 240, 539 Bd. 2: 115, 410, 556 Namen Bd. 1: 15, 23, 92, 99 f., 168, 190, 202, 224, 228 f., 231, 249–252, 262, 267, 271, 275, 285–290, 292– 295, 305 f., 324, 330, 351, 368, 374 f., 383 f., 394–396, 398 f., 401, 405 f., 408 f., 412, 435, 474 f., 477,
840
Sachregister
480, 483 f., 503, 506, 511, 515 f., 523, 547, 571, 609, 644 f., 648 Bd. 2: 29, 64, 145–150, 163, 196, 211, 216, 222–224, 231–234, 236, 240, 264, 270, 281, 291, 301, 341, 369, 395, 397, 407, 415, 436, 505, 507, 509, 523, 539, 587, 609, 611, 632, 637 f., 645, 652, 675, 726 f., 771 Nasal Bd. 1: 90, 135, 141, 197 f., 245, 252, 351, 409, 433, 459, 461, 505, 523, 642 Bd. 2: 60, 106, 136, 150, 179 f., 188, 205, 267, 273, 276, 296, 420, 507 f., 602, 723 f. Naturlänge Bd. 1: 175 Nebenakzent Bd. 2: 33, 164, 181, 185 Negation s. Verneinung Nennen s. Namen Neorhetorik Bd. 1: 473, 548 New Criticism Bd. 1: 126, 189, 509 nicht-erhöht s. distinktives Merkmal: erhöht vs. nicht-erhöht nicht-erniedrigt s. distinktives Merkmal: erniedrigt vs. nicht-erniedrigt Nomen Bd. 1: 54, 58, 97, 170, 186, 200 f., 261 f., 307, 324 f., 332 f., 337, 339, 341, 349–351, 354, 380, 384 f., 435, 462 f., 466, 480, 484, 511, 515, 524, 564, 582 f., 585, 594, 612, 616, 619, 637 f., 643–646, 664, 681, 697–699, 703 Bd. 2: 7, 26, 35, 57, 67, 87, 91, 100, 102 f., 105, 107–109, 125,
132 f., 165, 169–173, 177 f., 181, 183, 185, 187 f., 204 f., 219, 227, 231 f., 234, 260, 396, 412, 443, 447, 456, 473, 540, 542, 545, 548, 558, 567, 589, 647, 649, 652–656, 658, 698–700, 702, 708–711, 720, 768 – abstraktes Nomen Bd. 1: 201, 231, 276 f., 279 f., 401, 454, 457, 480, 484, 506, 597 f., 612, 617, 619, 636 f., 645, 682 Bd. 2: 35, 125, 132, 219, 232, 256, 274, 309, 312, 359, 361, 363, 377, 387 f., 400, 414, 529, 586, 588, 591, 601, 608, 654, 702, 709 – deverbatives Nomen Bd. 1: 325, 637 f., 645 Bd. 2: 125 f., 132, 387 – konkretes Nomen Bd. 1: 282 f., 401, 612, 637, 645 Bd. 2: 35, 232, 263, 300, 302, 359, 400, 404, 612, 654 – Nomen actionis Bd. 1: 325, 598 Bd. 2: 125, 387 Nominativ Bd. 1: 110, 143, 145 f., 229, 276 f., 293, 324 f., 331–333, 337–339, 354, 411 f., 463, 480–482, 506, 523, 544 f., 617, 698 f. Bd. 2: 37, 59, 66 f., 103, 107, 124– 128, 130–132, 134, 170, 172, 179, 181 f., 205, 207, 332, 337 f., 344, 346, 386 f., 445, 471, 475, 510, 533, 535, 540, 542, 548, 557, 562 f., 566, 701 f., 704 f., 708, 710, 811 Nullform Bd. 1: 696, 702 Bd. 2: 72, 126, 463, 469 f., 699, 710 Nullzeichen s. Nullform
Sachregister
Numerus Bd. 1: 52, 190, 229, 231, 259, 261, 273, 333, 435, 466, 479, 487, 544, 550, 590 Bd. 2: 58, 70 f., 105, 121, 125, 167, 170, 178, 266, 297, 299, 307, 309 f., 312, 386–388, 396, 400, 441 f., 450, 471, 485, 502, 549, 559, 640, 655, 658, 752, 761 f., 803 Objekt Bd. 1: 67, 100, 169, 229, 278 f., 292, 330 f., 340, 451, 460 f., 463 f., 480, 486, 502, 515, 518, 548, 581, 611, 637, 699–701, 703 Bd. 2: 27, 66 f., 87, 108, 110, 114, 168, 172, 262 f., 265 f., 269–271, 274, 276, 283, 290, 308, 336, 343, 345, 347, 362, 365, 388 f., 407, 413 f., 460, 462, 520 f., 523, 530, 535, 547, 568, 652, 655, 704, 753, 763 – direktes Objekt Bd. 1: 227, 229, 277, 292, 340, 353, 410, 420, 435, 451, 454, 461, 481, 545 f., 585, 611, 637, 694 Bd. 2: 36, 58, 66 f., 70 f., 92, 103, 164, 207, 262, 269 f., 274, 312, 336, 345, 360, 413, 473, 483, 520, 561, 568, 587, 652, 655, 754 – indirektes Objekt Bd. 1: 410, 420, 582 Bd. 2: 12, 14, 66 f., 92, 110, 112, 458, 462, 521, 523, 568, 652, 655 – präpositionales Objekt Bd. 1: 292, 611 Bd. 2: 67, 92, 520 Objektsprache Bd. 1: 167 Bd. 2: 704 obligat s. obligatorisch obligatorisch Bd. 1: 180, 258, 275, 279, 281,
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379, 499, 541, 571, 586, 591, 613, 630, 692, 701 Bd. 2: 90, 154, 162, 308, 330, 409, 455, 690, 762 f. oblique Bd. 1: 201, 411, 452, 463 Bd. 2: 332, 417, 701 f., 705, 707 Obstruent Bd. 1: 92, 135, 436, 505, 643, 664 Okklusiv s. Verschlußlaut Onegin-Strophe Bd. 2: 64, 66 Onomastik Bd. 2: 149, 350, 638, 674 Opposition Bd. 1: 160 f., 175 f., 192, 196, 198 f., 223, 229, 259, 308, 325, 330, 377, 399, 430, 435, 445, 465, 567 f., 572, 574, 578, 580, 583, 592, 600, 615, 632, 642, 647, 696 Bd. 2: 1 f., 8, 10, 17, 32, 59, 80 f., 91, 121, 125, 140, 207, 252, 255 f., 266 f., 273, 277, 314, 434, 447, 461, 506, 531, 533, 538 f., 544 f., 548–550, 572, 579, 604, 614, 632, 643 f., 658, 663, 678, 683, 702, 719, 725, 746 f., 749 f., 762, 773, 776–778 Originalität Bd. 1: 496, 539, 545, 549, 577, 669 Bd. 2: 158, 720 Ornamentalismus Bd. 1: 126, 283, 459, 472, 475, 538, 696 Bd. 2: 401 Ornatus – Ornatus difficilis Bd. 1: 198, 472, 504 – Ornatus facilis Bd. 1: 198 Orthoepie Bd. 1: 160
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Sachregister
Orthographie Bd. 1: 320, 429, 537, 556, 629, 648, 661 f. Bd. 2: 5, 32, 325, 376, 603, 639 Oxymoron Bd. 1: 34, 136, 233, 248 f., 251, 325, 427, 563, 580, 616, 618 Bd. 2: 110, 114, 167, 271, 283, 363, 631 f., 643, 645–650, 654, 657 f., 671 f., 674, 676–679, 681, 683, 763, 769 Oxytonon Bd. 1: 132, 144, 646, 697 Bd. 2: 50, 83, 85, 123, 165, 310, 441, 609, 624, 662 Paenultima Bd. 1: 431 Palatal Bd. 1: 101, 139–141, 197, 330, 367, 523, 589 f., 595 Bd. 2: 276, 303, 325, 365, 384 palatalisiert s. Palatal Palindrom Bd. 1: 108, 144, 587, 695 Bd. 2: 510 Palinodie Bd. 1: 565 Panegyrik Bd. 2: 698 Paradigma Bd. 1: 410, 428, 473 Bd. 2: 57, 127, 132, 179, 256, 279, 417, 434, 442, 454, 670, 698 f. Parallelismus Bd. 1: 24 f., 28–31, 75, 80, 96, 141 f., 144, 146 f., 156, 171, 188– 190, 198, 223, 230, 247, 258 f., 264–267, 270–272, 284, 295, 303– 319, 322–331, 334, 337–339, 341 f., 344–349, 351–355, 365, 377, 382 f., 385, 403, 409, 420, 422, 427, 430, 449, 458, 460, 481,
501, 539 f., 567 f., 570, 573 f., 576, 591, 598 f., 632, 638, 647, 667, 674, 697 Bd. 2: 7, 17, 55, 86, 92, 102, 140, 157, 163, 168, 174, 261, 276, 302, 306, 334, 371, 386, 396, 399–401, 418, 441–443, 453, 457–459, 461, 463, 469 f., 472–474, 524, 543, 546 f., 582, 610, 642, 659, 687, 690 f., 697 f., 709, 726, 744, 750, 753–758, 761 Parataxe Bd. 1: 291, 570, 572 Bd. 2: 163, 334, 404, 412 f. Paregmenon s. a. Derivation Bd. 1: 70 f., 142, 324 f., 430, 481– 484, 487 Bd. 2: 698, 709 Parisosis Bd. 1: 271 Paronomasie Bd. 1: 75, 103, 134, 136, 142, 168 f., 175, 193–195, 201 f., 204, 225, 227, 234, 245, 252, 267, 274, 289, 328–330, 337, 340 f., 373, 398 f., 406, 433, 460, 474 f., 483, 486 f., 511, 516, 546–548, 593– 595, 629, 631, 642, 647 f., 650, 665, 667, 682, 705 Bd. 2: 17, 34, 49, 90 f., 93, 166– 168, 187 f., 227, 233, 236, 272 f., 296, 299, 310, 343, 359, 365, 415, 445, 504 f., 510, 523, 546, 566, 589, 600 f., 603 f., 622, 644 f., 678, 709, 722, 724, 726, 737, 741, 779 Paroxytonon Bd. 1: 144, 431, 456 Bd. 2: 35, 83, 85, 123, 126, 165, 170, 307, 310, 439–441, 661 f., 760 Pars pro toto s. Synekdoche
Sachregister
particularity s. Eigenart pattern s. Muster Pause Bd. 1: 137, 148, 170 f., 174, 180– 185, 218, 230, 275, 335, 382, 431, 448, 450, 461, 478, 542, 575, 610, 628, 630, 692, 701 Bd. 2: 14–16, 31, 154, 162, 329, 367, 372, 377 f., 455, 460, 474, 557, 568, 584, 642 peculiarity s. Eigenart Pentameter s. Fünfheber Periode Bd. 1: 4, 13, 102, 283, 312, 366, 399, 510 f. Bd. 2: 147, 163, 202, 206, 209, 226, 313, 438 f., 441, 458 f., 540, 690 Person Bd. 1: 97, 126, 147 f., 165 f., 169, 190, 220, 227, 231, 259, 262, 265, 276 f., 279, 293, 295, 324, 333– 335, 376, 419, 422, 453, 502, 506, 520, 544–546, 548, 550, 578, 580, 590, 617, 634, 637, 645, 683, 696 Bd. 2: 12, 27, 58 f., 102 f., 107 f., 112–114, 121, 127, 129–135, 142, 149, 191, 217, 227, 240 f., 337, 342, 391, 397, 414, 441, 463, 469 f., 485–487, 501 f., 512, 531, 534–538, 540–543, 545, 547–550, 559, 595–597, 616, 625, 637, 656, 663, 674 f., 700, 776–778 Personalpronomen Bd. 1: 145, 243, 276, 287 f., 331, 382, 412, 452, 461, 540, 579, 581, 596, 611, 620, 683 f. Bd. 2: 13, 32, 67, 102, 104, 112, 125, 130 f., 133, 135, 332, 405 f., 417, 533, 548, 556 f., 559, 568,
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588, 591, 652, 699, 701–704, 706, 777 Personifikation Bd. 1: 96 f., 263, 325, 334, 384, 454, 611 f., 683 Bd. 2: 127, 132, 264, 266, 271, 298, 309, 407, 535, 772 Petrarkismus Bd. 1: 539, 547, 549, 556 f., 566, 589, 627 Phonem Bd. 1: 80, 92, 128, 131 f., 138– 140, 142 f., 161, 164 f., 169, 173, 175, 186, 196 f., 219, 223, 227 f., 232, 244, 250, 252, 327, 329, 331, 340, 342, 352, 432, 435, 484 f., 504–506, 591, 595, 613, 704–706 Bd. 2: 6, 30, 48 f., 52, 58, 80 f., 83, 90, 106, 189, 207, 256, 267, 273, 276, 300, 303, 305, 315, 380, 421 f., 446, 468, 472, 476–478, 495, 502, 543, 547, 587, 602, 641, 648 f., 662, 699, 706, 765, 773 Phonetik Bd. 1: 14 f., 71, 74–78, 92, 98, 110, 160, 182, 184, 186, 292, 304 f., 366–368, 371, 374, 433, 538, 548, 658, 689 Bd. 2: 7, 46 f., 141, 256, 290, 315, 380, 419, 446, 574, 773 Phonologie Bd. 1: 127 f., 131 f., 138 f., 148, 189, 191, 195–198, 292, 304 f., 335, 347, 366 f., 382, 433, 554, 658, 689, 705 Bd. 2: 3, 30, 47, 52, 58, 84, 140, 252, 256, 325, 424, 571, 600, 619, 673, 699, 706, 735 f., 752 Phraseologie Bd. 1: 305, 396 Bd. 2: 143, 174, 584, 624 Platonismus Bd. 1: 560 f.
844
Sachregister
Pleonasmus Bd. 1: 266, 268 Bd. 2: 34, 622, 744 Plosiv Bd. 1: 197, 664 Bd. 2: 49 Plot Bd. 1: 157, 198, 634 Plurale tantum Bd. 2: 48, 125, 275, 763 Poem Bd. 1: 13, 19–21, 42, 45, 48, 58, 104, 107, 136, 599, 691 Bd. 2: 122, 140, 322, 336, 399, 505, 508 Poetik Bd. 1: 1 f., 6–13, 15, 25, 36, 45, 48, 75, 79 f., 125, 129 f., 132, 142, 155– 158, 160 f., 173, 185, 188, 198 f., 206, 217 f., 234, 246, 257, 264, 271, 296, 304, 306, 313, 317, 322, 345, 367, 376, 379, 427, 473 f., 499, 501, 509, 520, 526, 544, 554, 561, 620, 631, 649 f. Bd. 2: 47, 52, 110, 124, 140, 202, 209, 211, 252, 276, 319–321, 330, 338, 383, 390, 398, 401, 424, 465, 493, 496, 504, 517, 572 f., 576, 584, 617, 635, 637, 647, 653, 670, 683, 687, 729, 733, 737 f., 740, 742– 744, 746, 749 f., 753, 768, 774, 776, 780 poetische Etymologie Bd. 1: 2, 74–76, 78, 80–82, 101, 134, 193, 221, 234, 377, 594 Bd. 2: 49, 75, 187, 503 poetische Mythologie Bd. 1: 260, 263 Bd. 2: 78, 80, 91, 494 Poetizität Bd. 1: 49, 108, 172, 205, 475, 549 Bd. 2: 446, 740 Pol Bd. 2: 284, 422, 478, 617
Polyptoton Bd. 1: 200, 229, 271, 278, 325, 329, 338, 480 f., 487, 548 Bd. 2: 178, 188, 698 polysyndetisch Bd. 2: 408 Positionslänge Bd. 1: 175 Possessivpronomen Bd. 1: 287 f., 466, 547, 580, 611, 633, 668, 681, 683 f. Bd. 2: 13, 57, 102, 104, 113, 173, 264, 269, 295 f., 311, 406, 412, 562 Präposition Bd. 1: 25 f., 53, 139, 145, 223, 229 f., 287, 294 f., 329, 331–333, 337, 339, 349 f., 352, 458 f., 506, 524, 581, 584, 627, 640, 642, 698 f., 701 f. Bd. 2: 10, 12, 38, 66, 92, 107 f., 114, 130, 171, 187, 273, 299 f., 311, 332, 339 f., 346, 405, 416 f., 456 f., 460, 464, 473–475, 567, 582, 586 f., 594 f., 608, 610–613, 623, 643, 654, 699, 702, 705, 759 Präpositiv Bd. 1: 294, 524 Bd. 2: 132, 332 prie¨m s. Verfahren Proklitikon Bd. 1: 344, 461, 646, 695 Bd. 2: 33, 49, 84, 369, 659 f., 755 Prominenz Bd. 1: 173–175 Bd. 2: 13 Pronomen Bd. 1: 145, 185, 200, 218, 223, 230, 259, 273, 276 f., 279, 283, 287 f., 293, 331, 335, 339, 341, 383, 410 f., 420, 433, 436, 452 f., 455, 457 f., 461–466, 483, 515, 524 f., 547, 575, 579–581, 585, 596 f., 611 f., 616 f., 633, 645, 668,
Sachregister
674, 679, 681–684, 693, 696, 700, 702 Bd. 2: 10, 12, 32, 37 f., 57 f., 67, 74 f., 102, 104 f., 112, 121, 123, 129 f., 132 f., 135, 169 f., 174, 217, 225–227, 233 f., 239, 241, 261 f., 264 f., 270, 273, 295 f., 304, 307, 332, 342, 348, 359, 363, 366, 400, 405 f., 417, 445 f., 454, 460, 463, 465, 469, 485–487, 502 f., 521, 533, 540, 543, 550, 558 f., 561– 563, 571, 591 f., 608–610, 612, 626, 652, 655, 658, 698–702, 705– 708, 752 f., 770, 776 f. – adjektivisches Pronomen Bd. 1: 283, 479, 579–581, 597, 643 Bd. 2: 104, 295, 483, 561, 651, 699 – substantivisches Pronomen Bd. 1: 283, 643 Bd. 2: 104, 107–109, 112, 132, 169, 270, 295, 405, 473, 540, 558, 651, 698, 701 f., 777 pronominale Manier s. Pronominalität Pronominalität Bd. 1: 550, 596 f. Bd. 2: 12, 366, 535, 688, 698, 700, 758 Proparoxytonon Bd. 1: 697 Bd. 2: 83–85, 103, 439–441 Proportion Bd. 1: 272, 284, 288, 505 Bd. 2: 206 f., 280, 400, 752 Proposition Bd. 1: 306, 327, 574, 595 f., 599, 682 Bd. 2: 387 f., 656, 699 Prosa Bd. 1: 7, 16 f., 111, 169, 199, 305, 308, 373, 391, 474, 668, 690, 698 f., 703 Bd. 2: 3, 32, 212 f., 216, 350, 700, 703, 728, 743, 749, 771
845
Prosodie Bd. 1: 80, 111, 137, 139, 141 f., 170, 175, 185, 287, 304, 307, 309, 335, 346, 397, 404, 447, 538, 542 f., 554, 587, 658, 695 Bd. 2: 17, 31, 36, 77, 84 f., 126, 132, 256, 385, 442, 584, 604, 606, 662, 758 – syllabische Prosodie Bd. 1: 447, 556 Bd. 2: 330, 376, 641 – syllabotonische Prosodie Bd. 1: 499 Bd. 2: 330, 376 Protasis Bd. 1: 332, 482, 501 Bd. 2: 305, 310, 312 f., 645, 660 Pseudonym Bd. 1: 14 Bd. 2: 140, 148, 258, 297, 348, 376 Psychoanalyse Bd. 1: 125 f. Bd. 2: 175, 741 Psychose Bd. 2: 190, 197, 209 Qualitätsadjektiv Bd. 2: 128, 472 Quantität Bd. 1: 345, 446 Bd. 2: 346 Quartett Bd. 1: 444, 446, 448–450, 454, 456 f., 462–464, 559, 561–563, 567–570, 572–574, 579–587, 589– 593, 595, 597, 611–620, 626 f., 629, 634, 636 f., 639, 642–647, 649 Bd. 2: 6–13, 15, 17, 28, 48 f., 52, 259–271, 273, 275–278, 404 f., 440–444, 446, 448 f., 571 f., 579 f., 584, 586–614, 618 f., 622–625, 753, 757 f., 762, 764, 778 f.
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Sachregister
Rätsel Bd. 1: 68, 138–141, 176, 650, 704 Bd. 2: 283, 769 Raumsemantik Bd. 2: 321 Realismus Bd. 1: 5, 97, 234 Bd. 2: 258, 281 Rede – fremde Rede Bd. 1: 243, 290, 401, 520, 668 – indirekte / oblique Rede Bd. 1: 201, 243, 521 – innere Rede Bd. 1: 239, 242 f., 292 Bd. 2: 636 – Rede in der Rede Bd. 1: 192, 617 – selbstschöpferische Rede Bd. 1: 132 Bd. 2: 501 Redensart Bd. 1: 48, 334, 519 Bd. 2: 148, 485 referentiell s. Funktionen der Sprache: referentielle / denotative / kognitive Funktion Reflexivpronomen Bd. 1: 233, 483, 545 Bd. 2: 473, 562, 777 Regelmäßigkeit Bd. 1: 13, 131, 137, 143, 145, 171, 186, 198, 264, 291, 337, 385 f., 403, 431, 450, 455, 480, 500, 502, 505, 614, 637 Bd. 2: 81 f., 154, 160, 162, 170, 179, 185, 215, 301, 329 f., 376, 381, 408, 439, 497, 593, 642, 662, 719 f., 756, 778 Regression Bd. 1: 178, 194, 244 f., 342, 381, 499, 702
Bd. 2: 15 f., 82, 331, 337, 406, 599, 605, 757 – geometrische Regression Bd. 1: 380 f., 403, 611 Bd. 2: 406, 475, 592 – regressive Akzentdissimilation Bd. 1: 78, 178, 342, 499 Bd. 2: 82, 124 Reihung Bd. 1: 227, 570 Bd. 2: 234, 410 f., 415, 737 Reim Bd. 1: 71, 80, 101–104, 106, 144, 186–188, 197, 219 f., 222 f., 229 f., 234, 245, 252 f., 313, 318 f., 351, 374, 432, 448–450, 457, 483, 515, 523, 547, 549, 564, 568, 587 f., 590–592, 627, 638 f., 658, 660 f., 663 f., 691, 705 Bd. 2: 6, 8, 67 f., 84, 104, 107, 111, 128 f., 131, 146, 155–157, 168, 187, 202, 208, 260, 267, 274 f., 305, 308, 310, 328 f., 334, 377, 380 f., 417, 419 f., 441, 482, 487, 499, 504, 508, 523, 560, 567, 585, 587, 658, 687, 755 f., 761 f., 774 – Anfangsreim Bd. 1: 642 Bd. 2: 68, 558 – Binnenreim Bd. 1: 237, 430, 459, 465, 481, 592 f. Bd. 2: 263, 267 f., 596, 754 f. – Echoreim Bd. 1: 169, 187, 195, 222 – Endreim Bd. 1: 435, 460, 660, 705 Bd. 2: 68, 185, 268, 306, 381, 707 – erweiterter Reim Bd. 2: 707 – grammatischer / antigrammatischer Reim Bd. 1: 139, 171, 187, 219 f., 294, 432, 450, 542, 547, 627
Sachregister
Bd. 2: 7, 14, 157, 341, 383, 658 – Kreuzreim Bd. 1: 226, 276, 289, 448, 559, 568, 611, 627 Bd. 2: 66, 73, 488, 497, 557, 563, 719, 751, 761 – männlicher Reim Bd. 1: 221, 562, 582, 588–592, 626, 666, 691, 700 Bd. 2: 21, 64, 111, 125, 133 f., 156, 259 f., 267, 274, 282–284, 367, 371, 473, 479, 488, 762 f. – Paarreim Bd. 1: 547, 559, 568, 588, 590, 627 Bd. 2: 8, 66, 71, 125, 157, 174, 210, 259, 438, 751 – rührender Reim Bd. 2: 707 – umarmender Reim / umfassender Reim / Blockreim Bd. 1: 289, 448, 568, 627 Bd. 2: 8, 71, 73, 563, 697, 751 – weiblicher Reim Bd. 1: 588–592, 691 Bd. 2: 21, 26 f., 56, 64, 67, 111, 124–126, 259 f., 266, 281, 283 f., 367, 371, 380, 383, 473, 479, 488, 762 f. Reimgefährten Bd. 1: 186, 448, 563 Relativpronomen Bd. 1: 435, 465, 515, 586, 702 Bd. 2: 34, 269, 359, 591, 651 Renaissance Bd. 1: 537, 539, 547, 557, 572, 608, 611, 619, 632 Bd. 2: 253, 392, 707, 748, 771 f. Rhetorik Bd. 1: 71, 205, 318, 326, 377, 392, 404, 406, 428, 430, 432, 472–475, 486, 511, 525, 539, 548, 565, 591, 618 f., 631 Bd. 2: 18, 142, 163, 254, 266, 310, 336, 361, 370, 420, 424, 474, 548, 632, 649, 653, 660, 706, 739, 774
847
Rhythmus Bd. 1: 7, 16, 51, 70 f., 76, 102, 104, 128, 143, 148, 180, 183, 188, 315 f., 318, 339, 343–345, 347 f., 403 f., 410, 461, 468, 474, 542, 554, 560, 580, 586 f., 591, 601, 630, 640 f., 658, 660, 665, 689, 695, 700 Bd. 2: 3 f., 14 f., 31–33, 36, 50 f., 59, 63, 75, 77, 84 f., 92, 103, 131 f., 134, 329 f., 367–369, 379, 382, 408–410, 434, 439–442, 460, 529, 547, 574, 604, 607, 624, 659 f., 720, 755, 760, 764 Roman Bd. 1: 34, 37, 54, 95, 282, 498, 520, 608 Bd. 2: 64, 68, 88, 107, 194, 211, 222, 224, 228 f., 231 f., 240 f., 253, 258 Romantik Bd. 1: 9, 16 f., 31, 285 Bd. 2: 281, 319 f., 323, 325, 330, 392, 434, 746, 748, 769 samovitaja recˇ’ s. Rede: selbstschöpferische Rede Satztyp Bd. 1: 540, 585 Bd. 2: 344, 562, 696 Schallanalyse Bd. 1: 185, 559 Scheinreim s. Homoreim Schizophrenie Bd. 2: 140, 176, 190, 196 f., 211, 214, 216–218, 220, 228 Schlüssel-Wortfügung Bd. 1: 509, 511 Bd. 2: 625 Schlüsselwort Bd. 1: 135, 197, 245, 253, 386, 430, 457–459, 485, 616, 665 f.
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Sachregister
Bd. 2: 175, 188, 260, 382, 384, 507, 538, 547 Schönheit Bd. 1: 27, 62, 187, 234, 270, 274, 306, 308, 401, 409, 476, 483, 497, 554, 556, 558–562, 565 f., 569– 571, 573, 578 f., 581, 583–586, 599–601, 677, 685, 704 Bd. 2: 27, 88, 116, 399, 572, 581, 615, 617 f., 620, 622–625, 746, 750, 753, 768, 771 Schriftlichkeit Bd. 1: 192, 197, 292, 294, 321 f., 345 f., 374, 376, 416, 658 Bd. 2: 196, 434, 557, 747 Schürzung des dramatischen Knotens Bd. 1: 291 f. Bd. 2: 60 Segmentierung Bd. 1: 287, 365, 369, 380, 403, 475, 616, 630, 695 Bd. 2: 15, 33, 85, 110, 307 Selbstleser Bd. 1: 148, 185 Selektion Bd. 1: 126, 128, 145, 155, 160, 170, 198, 253, 257, 272, 276, 285, 347, 395, 435, 451, 467, 477, 479, 506, 574, 632, 678 Bd. 2: 102, 107, 158, 175, 184, 331, 346, 400, 418, 421, 448, 476, 485, 550 f., 572, 584, 626, 671 f., 774 Semantik Bd. 1: 15, 49, 74, 78, 80 f., 110, 132, 158, 162, 170 f., 225, 230, 232, 250, 303, 309, 314, 328, 351, 366, 373, 449, 472, 545, 549, 564, 571, 578, 582–586, 593, 658 Bd. 2: 51, 63, 75, 89, 91 f., 185, 266, 300, 321, 363, 411, 414, 434, 488, 494, 498, 535, 584, 607, 613, 639, 646, 721, 724 f., 736, 752
semantische Fundierung s. Fundament, semantisches Semiotik Bd. 1: 128, 138, 155, 157, 164, 172, 182 Bd. 2: 2, 141, 208, 216, 251 f., 254, 539, 541, 572, 688, 739 Senkung Bd. 1: 174, 177 f., 180 f., 183, 341 f., 344, 431, 447, 450, 461, 516, 628, 640, 700, 706 Bd. 2: 16 f., 33, 158–162, 330, 383, 439, 459, 498, 588, 606, 720 Sequenz Bd. 1: 128, 168, 170 f., 173 f., 186, 188, 191–193, 244 f., 305, 327, 336, 348, 380, 383, 404, 432 f., 447, 461, 613, 618, 630, 646 f., 674 Bd. 2: 147, 330 f., 336, 341, 419, 446, 543, 546, 584, 646, 649, 721– 723, 756, 777 Serialität Bd. 2: 106 set s. Einstellung sexuelle Vorlieben Bd. 2: 78 Shifter Bd. 1: 260, 294, 379 Bd. 2: 51, 59, 69, 90, 129, 215 f., 469, 655, 688, 703 Sibilant Bd. 1: 90, 131, 135, 140, 226, 504, 589, 595, 706 Bd. 2: 57, 106, 135 f., 179 f., 270, 303, 384, 421, 588, 725, 779 signans s. Signifikant signatum s. Signifikat Signifikant Bd. 1: 14 f., 23, 25, 46, 77–79, 127, 195, 328, 350, 474 f., 506, 657
Sachregister
Bd. 2: 8, 10, 12, 49, 52, 141, 444, 528, 539, 634, 644, 728, 737, 741 Signifikat Bd. 1: 14, 23, 25, 195 Bd. 2: 528, 539, 634, 728, 737, 741 Silbe Bd. 1: 72, 170 f., 173–177, 179– 184, 288, 344, 374, 381, 430 f., 442, 446, 461, 478, 499, 556, 575, 586 f., 591 f., 613, 665, 695–697, 700, 704 Bd. 2: 48–52, 57, 59, 83–85, 103, 259, 284, 329 f., 367, 408 f., 411 f., 421 f., 461, 488, 498, 707, 709, 725, 727 f., 755, 761 Silbengipfel Bd. 1: 173, 175, 178 Bd. 2: 48 f. Silbenkern s. Silbengipfel Similarität Bd. 1: 63, 92, 170 f., 187–191, 193, 195 f., 220, 224 f., 229, 241, 259, 265, 269, 271, 273, 284, 305, 309, 312, 327, 334, 338, 354, 382, 445, 466, 500 f., 562, 570, 576, 595, 612, 615, 643, 647, 668, 674, 703, 705 Bd. 2: 10, 17, 20, 29, 51, 58, 70, 103, 106, 111, 115, 129, 148, 175, 216, 271, 278, 294, 329, 342, 348, 356, 383, 385, 400, 411, 449, 501, 503, 534, 543, 551, 582, 584, 617, 619, 626, 650, 727, 752, 754, 756, 773 Simile s. Vergleich Singulare tantum Bd. 2: 125, 308 Skulptur Bd. 2: 79 f., 92, 96 Sonett Bd. 1: 169, 234, 439–441, 443– 446, 448–451, 453–458, 460–
849
466, 553 f., 556–574, 576–592, 594–601, 607 f., 610–613, 616– 620, 623 f., 626–639, 642, 645– 650 Bd. 2: 111, 115, 251, 254 f., 258– 270, 272–276, 280–283, 563, 681, 734, 743, 752–754, 757 f., 761– 771, 773 f. Sonor Bd. 1: 135, 138, 141, 147, 193, 436, 461, 505 Bd. 2: 49, 90, 421, 723, 725, 727 Sonorant s. Sonor Sonorität Bd. 2: 52 Spätgotik Bd. 1: 510 Spielformen Bd. 1: 547 Sprachebene Bd. 1: 36, 220, 265 Bd. 2: 396 – materiale Sprachebene Bd. 1: 257, 261, 264, 294 – relationale Sprachebene Bd. 1: 257 f., 261, 696 Bd. 2: 135, 396 Spracherwerb Bd. 1: 167 Sprachwissenschaft s. Linguistik Sprachwitz s. Calembour Sprecher Bd. 1: 2, 11, 111, 146, 148, 161– 163, 168, 170, 185, 200 f., 240 f., 243 f., 251, 277, 289, 365, 375 f., 378, 436, 444 f., 545, 555, 571, 578, 584, 596, 600, 617 f., 639, 649, 692 Bd. 2: 57 f., 78, 102, 121, 212, 219, 221, 225, 230, 259, 362, 367, 406, 445, 448, 521, 541 f., 549, 702, 706, 727 f., 737, 764, 771 f., 777 f.
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Sachregister
Stabreim s. Alliteration Statik Bd. 1: 4, 15, 74, 160 f., 637 Bd. 2: 38, 48, 78, 91 f., 110, 207, 277, 347, 389, 465, 537, 702 Stereotyp Bd. 1: 49, 62, 189, 202, 268, 545, 549, 680 f. Bd. 2: 209, 444, 500 Struktur Bd. 1: 7, 19, 21, 25, 28 f., 42, 47, 70, 78, 80, 82, 87, 102, 125–127, 129, 131 f., 137, 148, 157 f., 161, 163, 187–189, 192, 197–199, 206, 231, 258, 272, 280, 304 f., 307, 310–314, 318, 324, 339, 347 f., 352, 355, 365–367, 380–382, 384– 386, 403, 422, 433, 440, 445 f., 448, 471–473, 486 f., 497, 500, 537, 540, 542, 553, 555, 567, 569, 571, 577, 591, 599, 608, 612 f., 624, 638 f., 643, 646, 649, 657, 660, 679, 689, 694, 705 Bd. 2: 2–4, 8, 13 f., 51, 58 f., 63, 73, 75, 77 f., 90, 114, 124, 129, 140, 165, 178, 204, 217, 222, 240, 255, 259 f., 262, 266, 269, 275 f., 279, 291, 319, 321, 339, 379 f., 385 f., 388, 395, 400, 408, 411– 413, 418, 423, 434, 438 f., 448, 453, 457, 461 f., 528, 530, 535, 539, 548, 550, 556, 571, 579, 591, 593, 611, 631 f., 647, 649 f., 655, 657, 660 f., 683, 717, 728, 743– 746, 748, 750 f., 753 f., 757, 768, 773 Strukturalismus Bd. 1: 1, 3, 7, 15, 79, 125–127, 129, 137, 155 f., 161, 189, 218, 232, 237, 313–315, 349, 365, 367, 369, 392, 440, 472–475, 509 f., 548, 553, 650
Bd. 2: 45, 55, 140, 207, 213, 251, 253 f., 256 f., 266, 279, 289, 291, 321 f., 324, 396, 400, 433, 453, 527, 544, 572, 604, 621, 633, 646, 652, 655 f., 670, 687, 699, 734, 736, 743, 751, 757, 759, 764, 766, 776 Stützkonsonant Bd. 1: 590 f. Bd. 2: 267, 276 Submorphem Bd. 2: 717, 725, 727 Substantiv Bd. 1: 10, 53 f., 62, 81, 138, 140– 146, 148, 201, 220 f., 226, 230 f., 263, 276, 279 f., 283, 287, 290, 292, 324, 331 f., 450–452, 454, 457 f., 462 f., 466, 479 f., 482, 487, 502, 504, 506, 515, 543, 545, 573, 581–585, 590 f., 594, 596–598, 600, 611 f., 616 f., 619, 627, 636– 638, 642 f., 663 f., 679, 682–684, 696–699, 702 f. Bd. 2: 7, 9–13, 21, 26 f., 33, 35, 37 f., 49, 56, 58, 72, 92, 102, 105– 109, 114, 121, 125–129, 132, 168– 170, 173, 178, 181 f., 219, 227, 232, 260–263, 265, 268–270, 274, 283, 292, 332, 334–338, 344–346, 359 f., 362, 365 f., 377, 381 f., 385– 388, 405–408, 412 f., 415, 443, 446 f., 501–503, 521, 533, 535, 538, 548, 557 f., 566 f., 571, 579, 585–592, 594–596, 602, 604, 606, 608, 611 f., 618, 625 f., 645 f., 651– 658, 662, 674, 698, 702, 705, 709 f., 720–724, 745, 758–762, 769, 774, 776, 778 Substanz Bd. 1: 454, 640 Substitution Bd. 1: 91 f., 549 Bd. 2: 300, 539, 761, 770
Sachregister
Superlativ Bd. 1: 624, 649 Bd. 2: 721–723 Surrealismus Bd. 1: 157 Bd. 2: 320 svoeobrazie s. Eigenart syllaba anceps Bd. 1: 180, 287 Symbol Bd. 1: 14, 146, 191, 227, 259, 290, 393, 411, 422, 466, 546 f., 550, 683 Bd. 2: 80, 116, 149, 214 f., 341 f., 347, 359 f., 389, 402, 424, 465, 502, 506, 527 f., 545, 550, 574– 576, 608, 617, 626, 654 f., 657, 674 Symbolik, erotische Bd. 1: 545, 550, 683 Bd. 2: 94, 110 Symbolismus Bd. 1: 7, 19, 28, 31, 36, 49, 78, 80, 94 f., 98, 100, 474 Bd. 2: 18, 294, 306, 334, 507, 517, 519, 573–576, 600, 607 Symmetrie Bd. 1: 63, 103, 135–138, 141, 169, 171, 226, 271 f., 281, 284, 304, 311, 328, 331, 334, 337, 347, 351, 353, 379, 385, 404 f., 419, 423 f., 428, 434–436, 440, 446, 448, 454 f., 466, 475, 479, 487, 501, 504, 519, 539 f., 542, 568, 570, 573 f., 579, 590, 613, 627, 633, 635 f., 639, 647, 674, 693, 698, 703, 705 f. Bd. 2: 7–12, 14, 16, 18, 21, 35, 100, 128–130, 140, 152, 164 f., 170, 183 f., 205, 207, 261, 268, 274, 281, 290, 297, 301, 307, 314, 329, 347, 349, 368, 387, 400, 411, 417 f., 422, 426, 457, 461, 475, 484, 487, 501, 507, 520 f., 538, 550 f., 563, 565, 571, 584, 588 f.,
851
602, 606–609, 611, 642 f., 650, 697, 710 f., 750, 757–759, 774, 777– 779 – Antisymmetrie Bd. 1: 142, 448, 572 Bd. 2: 9, 11, 14, 156, 165, 461, 478 f., 498, 642, 650 – Asymmetrie Bd. 1: 103, 304, 344, 351, 379, 423, 431, 440, 446, 573, 627 Bd. 2: 261, 266, 290, 314, 457, 550, 750 – direkte Symmetrie Bd. 1: 697 Bd. 2: 461, 646, 708 – gespiegelte Antisymmetrie Bd. 1: 419 Bd. 2: 461 – Spiegelsymmetrie Bd. 1: 340, 449, 499, 572, 594, 615, 618, 641, 664, 694, 697, 700 f. Bd. 2: 12 f., 21, 86, 152, 164 f., 172, 184, 204–206, 299, 301, 313, 380, 461 f., 498, 540, 590, 597, 606, 646, 650, 721 f. symmetrischer Schnitt Bd. 2: 85 Synärese Bd. 2: 641 Synästhesie Bd. 1: 197 Bd. 2: 422, 478 Synaloephe Bd. 1: 431 Bd. 2: 641 f., 660 Synchronie Bd. 1: 2, 4, 160 f., 183 Bd. 2: 233, 544, 663, 678, 727 syndetisch Bd. 1: 540 Synekdoche Bd. 1: 21, 76, 140, 190, 229 f., 232, 288, 328 f., 333, 452, 466, 580, 600
852
Sachregister
Bd. 2: 63, 70 f., 216, 266, 273, 276, 278, 312, 335, 342, 389, 407, 456, 471, 474, 528, 535, 541 f., 547 f., 562, 564, 623, 702 f. Synkopierung Bd. 1: 629 Synkretismus Bd. 1: 482 Synonymie Bd. 1: 76, 93–96, 132, 141, 161, 163, 170 f., 190, 266 f., 306, 309, 311, 317, 319, 324 f., 327, 329, 336, 339, 353, 430, 458, 540, 546 f., 597, 632, 683 Bd. 2: 93, 169, 181, 187, 256, 298, 300, 417, 449, 501, 523, 584, 647 f. Syntagma Bd. 1: 144, 309, 369, 431, 473 Bd. 2: 57, 252, 256, 305, 566, 646, 657, 677 Syntax Bd. 1: 10, 13, 25, 49, 51, 54, 56 f., 61, 89, 103, 128, 138, 140, 142, 144, 159, 164, 168, 170, 174, 180– 185, 187, 265, 304, 381, 440, 455, 658 Bd. 2: 28, 99, 234, 296, 313, 367, 396, 416, 457, 550, 604, 645 f., 652, 655 f., 759 Synthese Bd. 1: 125, 321, 543, 569 Bd. 2: 181, 508, 657, 748, 757 System Bd. 1: 4, 70, 79 f., 137, 142, 148, 159–161, 182, 192, 232, 284, 292, 306, 313, 315, 318, 345–347, 355, 376, 385, 410, 441, 542, 571, 574, 598, 705 Bd. 2: 2, 52, 77 f., 80, 109, 132, 140, 188, 204, 256, 278 f., 371, 380, 386, 416, 469, 476, 495, 522, 528, 531, 544, 563, 571 f., 582, 620, 626, 649, 655, 683, 721, 740, 758, 761, 764
Szene Bd. 1: 409 Bd. 2: 71, 93, 110, 200, 324, 326, 334, 625, 703 Tätigkeitsverb Bd. 1: 341, 419, 450, 586 Bd. 2: 14, 72, 596 f., 654 Tanka Bd. 1: 374, 378, 380 Tempus Bd. 1: 190, 229, 259, 261, 273, 540, 550, 574, 590, 613, 680 Bd. 2: 59, 72, 90, 265, 331, 339, 396, 400, 442, 537, 597, 613 Tenor Bd. 1: 190, 336, 432 Bd. 2: 377, 379, 387, 390, 528, 602, 760 Terzett Bd. 1: 446, 448–450, 454, 456 f., 461–464, 559, 562, 564, 567–570, 572–574, 580–584, 586–595 Bd. 2: 259–265, 267, 270, 273– 278, 280, 377–380, 382–385, 387– 389, 391, 519–524, 753, 757, 761– 764, 771 Textur Bd. 1: 128, 137, 231, 268, 271, 319, 323, 367, 442, 451, 464, 466, 468, 472–474, 487, 567, 607, 633, 646, 650 Bd. 2: 13, 37, 267, 271, 717, 738, 741, 749 texture s. Textur Thema Bd. 1: 11, 77, 79, 111, 127, 133, 140, 170, 224, 228, 237, 269, 277 f., 282, 287, 289, 291 f., 316, 319, 321–323, 325 f., 329 f., 333, 336 f., 344, 347, 371, 383 f., 395, 406 f., 409, 421, 432, 439, 443, 456, 459, 473, 482 f., 498, 501,
Sachregister
506, 510 f., 514 f., 526, 538, 547, 555, 558, 561, 564, 567, 571, 595, 611, 615, 624, 632, 636, 639, 643, 645, 647, 650, 660, 666, 669, 693, 696, 700, 703, 706 Bd. 2: 1, 14, 28, 33, 35, 47, 75, 78 f., 89, 93, 99, 110, 115 f., 125, 142, 165, 174, 186, 214, 240, 279, 299, 304, 336, 339, 343 f., 347, 362 f., 378, 389, 401, 405, 415, 419, 434 f., 442, 454, 457, 465, 467 f., 472, 478 f., 501, 505 f., 523, 537, 539, 546, 571, 579, 584, 639, 651, 653, 664, 704 f., 708, 721 f., 727, 740, 748, 772 Tod Bd. 1: 27, 31, 37, 46, 51, 88, 94 f., 98, 247–249, 281, 557, 561, 594 Bd. 2: 19, 46, 50, 143, 145, 147, 152, 223, 229 f., 236 f., 319, 336, 357–359, 368–370, 401, 425, 461, 479, 481, 485, 487, 500, 506, 518, 539 f., 620, 632 f., 637, 646 f., 677 f., 723 Tonalität Bd. 2: 52, 57, 80, 91, 183, 383, 476, 479, 662 Topik, Topos Bd. 1: 473, 503, 539, 548 f., 682 Totalisierer (totalizer) Bd. 1: 453, 466, 581, 644 Bd. 2: 463, 582, 644, 663 Tradition Bd. 1: 4, 110, 128, 137, 160, 172, 179, 189, 191, 197, 284, 307–309, 313–315, 322 f., 331, 345, 395, 413, 416, 421, 430, 510 f., 519, 538 f., 547, 569, 658, 673 Bd. 2: 221, 370, 410, 424, 443 f., 585, 604, 634, 646, 669, 683, 690, 724, 739, 747, 776 transitiv Bd. 1: 223, 292, 332 f., 335, 340, 405, 410, 435, 458, 460, 484, 577 f., 632, 637, 641, 694
853
Bd. 2: 11, 36, 48, 92, 103, 110, 113, 163 f., 172, 207, 263, 265, 274, 336, 340, 345, 347, 388 f., 413, 473, 507, 530, 535, 540, 545, 549, 650–652, 704, 754 Transkription Bd. 1: 349, 366–369, 373 f., 380, 384 Bd. 2: 32, 56 Transposition Bd. 1: 428, 555, 599 Bd. 2: 96, 341 Triade Bd. 1: 380 f., 464 Bd. 2: 126–128, 650 Trichotomie Bd. 2: 266, 314 Triptychon Bd. 1: 380, 383, 409, 681 Bd. 2: 456 f., 758 Trochäus Bd. 1: 132, 180, 245, 313, 341, 640 Bd. 2: 15–17, 56, 82 f., 123 f., 132, 159, 161, 165, 331, 333, 379, 439, 441, 543 Trope s. Tropus Tropus Bd. 1: 21, 36, 46, 189, 199, 202, 271, 274 f., 288, 334, 367, 422, 462, 484, 571, 638, 683 Bd. 2: 63, 269, 298, 305, 309, 361, 413 f., 527, 539, 548, 564, 582, 608, 617, 653 – grammatischer Tropus Bd. 1: 199, 484 Bd. 2: 387 f. Übersetzung Bd. 1: 48, 126, 163, 221, 246, 257 f., 260, 280, 306, 308 f., 312, 316 f., 349, 368–370, 373 f., 381, 386, 436, 439, 441, 451, 475, 539, 575, 601, 637, 698
854
Sachregister
Bd. 2: 101, 116, 181, 323, 327, 334, 339 f., 342, 367, 376, 436, 438, 443 f., 446, 485, 495, 519, 521– 523, 556 f., 576, 633 f., 637, 639 f., 643, 653, 656 f., 663, 676, 679, 682, 741, 750 unbewußt s. bewußt ungerade s. gerade Universum des Diskurses s. Diskurs-Universum unpersönliche Konstruktion Bd. 1: 399, 699 Bd. 2: 124 f., 517, 519–522, 534, 537, 556 f., 559–562, 565, 567 f. unpersönlicher Satz s. unpersönliche Konstruktion unterbewußt s. bewußt Unterdrückung Bd. 1: 354, 584, 591 Bd. 2: 218, 691 unterschwellig s. bewußt Utopie Bd. 1: 2 Bd. 2: 495, 672 Variante Bd. 1: 1, 3, 68, 80, 98, 103, 111, 128, 131, 136 f., 141, 145, 161, 164, 190, 233, 266–270, 274, 304, 315, 322, 324, 336 f., 340, 352, 368, 393, 407, 433 f., 522, 540, 556, 596, 610, 618, 665, 696, 706 Bd. 2: 8, 20, 52, 69, 147, 178, 183, 256, 325, 363, 380, 409, 435, 439, 441, 457, 502, 506, 524, 536, 544, 546, 557, 561, 571, 575 f., 579, 601, 641, 643, 649, 659, 692, 770, 776 Vehikel Bd. 2: 189, 602
Velar Bd. 1: 135, 140 f., 197, 329, 590 Bd. 2: 59, 276, 309, 343, 419, 468, 488, 602 Verb Bd. 1: 54, 58, 140, 145, 170 f., 189, 221, 223, 226, 229, 231, 233, 259– 262, 276 f., 279 f., 283, 287–289, 307, 325, 327, 331 f., 335, 337, 340 f., 344, 348–351, 371, 376 f., 383 f., 395, 401, 404 f., 410, 412, 419 f., 422, 430, 432, 435, 449– 453, 457 f., 460–465, 479 f., 482– 484, 487, 502, 514, 518, 522, 545, 548, 550, 574–579, 581, 583, 590, 594, 597–599, 611 f., 614, 632, 637 f., 643, 666 f., 678–680, 682 f., 686, 694, 696, 699, 701 f. Bd. 2: 7, 11 f., 14, 27, 34–36, 38, 48, 51, 57–60, 66 f., 69, 72, 74, 78, 90, 92, 103, 105, 108, 110, 113 f., 124, 126 f., 129, 131 f., 162–169, 172 f., 179, 181, 186, 188, 204– 207, 216 f., 226 f., 260, 263–265, 274, 298, 303 f., 308, 314, 331– 333, 335 f., 338, 340, 345, 347 f., 359 f., 363, 365 f., 369, 377, 382, 387–389, 396, 405, 407, 413–416, 418, 420, 445, 448 f., 454, 457, 462 f., 469–473, 485–487, 498, 501, 507, 522, 530 f., 533, 535– 540, 543–546, 556–559, 561 f., 565, 567 f., 580, 585, 590, 595 f., 599, 604, 608–612, 625, 640, 643– 645, 649–655, 658, 660, 699, 705, 710, 718, 720, 722, 745, 753 f., 759– 761 – unpersönliches Verb Bd. 2: 58, 133, 400, 471, 532, 535 f. – Verbum dicendi Bd. 2: 51, 72, 217 – Vollverb Bd. 1: 327, 341, 452, 613
Sachregister
Bd. 2: 11, 162 Verbalaspekt s. Aspekt Verfahren Bd. 1: 2, 4, 6 f., 10, 16 f., 19–21, 23, 33–37, 42 f., 45, 51, 68, 74, 77 f., 80, 86, 90, 95, 104, 127, 132, 144, 157, 161, 167 f., 170 f., 198, 201, 265, 271 f., 274, 283, 285, 308, 311, 313 f., 316, 324 f., 329, 345–347, 352 f., 397, 451, 457 f., 468, 472, 475, 486, 503, 518, 521, 542, 547, 572, 575, 589, 593, 608, 623, 631, 660, 668 Bd. 2: 14, 34, 38, 53, 55, 101, 110, 189, 203, 208, 217, 239, 256, 265, 271, 275, 279 f., 303, 309, 321, 326, 340, 355, 361, 385, 400, 420, 458, 504 f., 544, 572, 584, 600, 643, 649 f., 675, 688, 703, 726, 728, 740, 749 f., 752, 756 f., 759 f., 762, 773, 775, 777 Vergleich Bd. 1: 29, 31, 43, 63, 80, 136 f., 146 f., 175, 188, 190 f., 224, 231, 271, 274, 281, 284, 288 f., 292, 330, 346–348, 350, 354, 378, 406, 466, 577, 612 f., 617, 647, 674, 696, 698, 703 Bd. 2: 17, 68, 113, 181, 272, 304, 314, 335 f., 341 f., 359, 377–379, 383, 385–390, 476, 508, 536, 551, 559, 581, 602, 611, 617, 670 f., 705, 720 Verneinung Bd. 1: 190, 251 f., 273, 278 f., 307, 327, 329, 331 f., 337, 458, 524, 618, 638, 674, 682, 684 f., 697, 699 Bd. 2: 37 f., 51, 105, 124, 194, 336, 358, 400, 457, 470, 561, 644 f., 647, 652, 676, 706, 771 Vers Bd. 1: 6 f., 10 f., 102–104, 142, 170, 172–176, 178, 181, 186, 193,
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264, 267, 276–278, 287, 305 f., 315, 342, 344, 379, 444, 447, 456, 460, 475, 477, 479 f., 499, 541 f., 544, 556 f., 564, 572 f., 575, 579, 581, 586–591, 593–595, 600 Bd. 2: 27, 50, 59 f., 75, 82, 132, 134, 324, 330, 345 f., 367, 369, 399, 408–411, 438–440, 442 f., 448 f., 458, 505, 680, 690, 728, 737, 746 – akzentuierender Vers Bd. 1: 174–177 Bd. 2: 640 – freier Vers Bd. 1: 174, 182, 352, 409, 588 Bd. 2: 585 – männlicher Vers, s. a. Kadenz Bd. 1: 178, 289, 343, 587, 589 f., 700 f. Bd. 2: 17, 20, 56, 67, 125 f., 129, 259, 381 f., 458 f., 473, 488, 604, 762, 764 – quantitativer / chronemischer Vers Bd. 1: 175 f., 181 – syllabischer Vers Bd. 1: 104, 137, 173, 176 f., 369, 413, 661 Bd. 2: 408 – tonemischer Vers Bd. 1: 175 f. vers communs Bd. 1: 575, 586 Bd. 2: 573, 585 vers he´roı¨ques Bd. 1: 575, 586 Versakzent Bd. 1: 174, 184 Bd. 2: 464 Verschieber s. Shifter Verschlußlaut Bd. 1: 90, 135, 138, 141, 220, 228, 231, 329, 642
856
Sachregister
Bd. 2: 30, 58 f., 284, 344, 419, 426, 649 Versgrenze Bd. 1: 185 Bd. 2: 31, 162, 172, 178, 343, 459, 755 Versifikation Bd. 1: 127, 172, 174–176, 697 Bd. 2: 75, 690, 747 Versmaß s. Metrum Verspaar Bd. 1: 264, 268, 276 f., 308 f., 313, 323, 327–334, 337, 339–341, 343 f., 347, 349–354, 377, 479– 482, 484, 487, 501–506, 539, 542, 547, 634, 636 f., 640, 646 f., 678 f., 700 Bd. 2: 2, 6–17, 20–23, 26, 30, 35– 38, 48, 50 f., 102, 125, 130, 134, 154–160, 162–164, 166, 169–173, 175, 178 f., 181–185, 189 f., 205, 207, 264, 268, 300 f., 306, 312, 399, 404 f., 418, 421 f., 485, 487, 498, 558–560, 564, 584, 586, 591 f., 594–601, 603, 609–612, 622 f., 625, 646, 697, 758, 760 Verstyp Bd. 1: 181–183, 185 Verteilung Bd. 1: 127 f., 137 f., 177, 196, 231, 272, 311, 340, 342, 346 f., 351 f., 423, 434–436, 478 f., 504, 523, 542, 574, 584, 588, 590, 615, 630, 642, 684, 695, 703, 705 Bd. 2: 2, 9 f., 12, 16 f., 21, 23, 26 f., 49, 65, 68, 78, 80, 83, 86, 91 f., 123, 129, 134, 152, 159, 161, 163 f., 169, 184 f., 204, 206–208, 238, 259, 297, 301, 307 f., 310, 321, 330, 345 f., 371, 382, 400, 406, 417, 422, 442, 448, 454, 460, 473, 475 f., 478 f., 485, 501, 503 f., 550, 557, 567, 571, 588, 590, 592–
595, 607–609, 611 f., 642 f., 648, 650, 655, 660, 696–698, 708, 719, 746, 749, 751, 762 vesˇcˇ’ s. Ding Vibrant Bd. 1: 131, 505, 664 Bd. 2: 100 f., 300, 468 visuell Bd. 1: 195, 377, 475, 629 Bd. 2: 28, 303, 378 f., 383, 388, 504, 581, 613, 618, 677, 756 Vita Bd. 1: 443, 472, 495 f., 500 Vokabular s. Wortschatz Vokaldreieck Bd. 2: 80 Vokalismus Bd. 1: 101, 143, 506 Bd. 2: 276, 380 Vokativ Bd. 1: 165, 227, 349, 383, 405, 407, 423, 452, 480, 502, 505 f., 542 f., 549 f., 581, 617, 667 Bd. 2: 405 f., 418, 445, 449, 533 f., 540–543, 547 f. Volksdichtung s. Folklore Volksepen Bd. 1: 171, 181, 273 Bd. 2: 154, 400 Volkslied Bd. 1: 144–146, 303, 316–319, 323, 349, 352 Bd. 2: 320, 410, 419, 517 Wahnsinn Bd. 1: 3, 631 Bd. 2: 98, 144, 146, 156, 190–192, 194 f., 199 Wahrscheinlichkeit Bd. 1: 128, 177, 179, 343, 476 f.
Sachregister
Bd. 2: 127, 272, 582, 756 Wechselwort s. Shifter Werbung Bd. 1: 2, 75, 172 Widerspruch Bd. 1: 24, 27, 147, 249, 348, 355, 450, 569 Bd. 2: 31, 114, 167, 185, 194, 458 Wiederholung Bd. 1: 11, 24 f., 80, 89, 102, 106, 131, 144, 192, 197, 200, 219, 241, 250, 271, 278, 294, 309, 317 f., 340, 350, 352, 385, 395, 398, 400, 404, 427, 430, 433, 441, 447, 460, 476, 482, 485–487, 501, 503–505, 522, 539, 546 f., 619, 627, 633, 640, 642, 665, 704, 706 Bd. 2: 34, 73, 93, 106, 111, 163, 173, 206, 234, 303, 348, 385, 395 f., 415, 418, 420, 426, 446, 456 f., 476–478, 488, 507, 524, 546 f., 588, 597, 649, 691, 698, 706 f., 724, 728, 749 wit Bd. 1: 673 Wort – formales / grammatisches Wort Bd. 1: 276, 468 Bd. 2: 135, 503, 609, 699 f., 720 – lexikalisches Wort Bd. 1: 276, 283, 405 Bd. 2: 31, 86, 107, 366, 606, 662, 699, 704, 720 f., 725 Wortbetonung s. Betonung: Wortbetonung Worteinheit Bd. 1: 94, 177, 182, 187, 287, 349, 405, 430, 432, 477 f., 484–487, 498–500, 639, 663, 695 Bd. 2: 84 f., 167, 367, 460, 660 Wortflechten Bd. 1: 108, 268, 472–475, 477, 503 f., 506
857
Wortgrenze Bd. 1: 138, 170 f., 174, 177, 181 f., 218, 230 f., 342, 352, 368, 379, 403, 477, 483, 499 f., 541, 575, 591, 613, 628, 630 Bd. 2: 59, 63, 68, 72, 75, 85, 92, 134, 154, 238, 330, 367, 370, 410 f., 584, 604, 624, 641 f. Wortklasse Bd. 1: 262 Bd. 2: 216, 226, 657, 698 Wortkunst Bd. 1: 1, 8, 111, 134, 142, 156– 158, 160, 168, 198, 205, 250, 283, 355, 366 f., 428, 472, 623, 669 Bd. 2: 1, 14, 187, 361, 368, 385, 555, 687, 690, 722, 726 f., 729, 738, 742, 744, 757, 774, 780 Wortschatz Bd. 1: 49, 133, 159, 167, 275, 281, 288 f., 377, 447, 476, 509, 561 f., 565, 580, 582, 616, 631 f., 634, 666 Bd. 2: 80, 84, 87, 114, 116, 177, 185, 187, 202, 298, 304, 359, 445, 457, 472, 579, 626, 651, 679, 726, 741 Wortspiel s. Paronomasie Wurzel Bd. 1: 70, 81 f., 90, 109, 134, 139, 191, 230, 233, 252 f., 289, 336, 395, 411, 449, 472, 481, 487, 504, 544, 592, 594, 616 Bd. 2: 90, 167 f., 187 f., 263, 338, 341, 358, 388, 404, 411, 462, 494, 503, 506, 508, 658, 698 f. Zäsur Bd. 1: 6, 182, 230, 273, 379, 487, 525, 538, 575, 587, 591, 613, 628, 691 f., 703 Bd. 2: 33, 35, 56, 85, 103, 154, 298, 307, 330, 367 f., 400, 403, 408–410, 568, 601, 660 f., 720, 754 f., 758
858 zaum’ Bd. 1: 136 Bd. 2: 494, 511 Zeilensprung s. Enjambement Zentrifugale Bd. 1: 575, 628, 630, 635, 647 Bd. 2: 760 Zentripetale Bd. 1: 575, 628, 630, 647 Bd. 2: 321, 760 Zentrumsprinzip Bd. 2: 710 zielgerichtet Bd. 1: 128, 159, 346, 348 Bd. 2: 366, 454
Sachregister
Zirkumstante Bd. 1: 435, 574 Bd. 2: 268, 614, 660 Zischlaut s. Sibilant Zustandsverb Bd. 1: 586 Bd. 2: 35, 596 f., 610 f., 654 Zyklus Bd. 1: 322, 334, 465, 509, 553 f., 563, 569, 580 Bd. 2: 224, 233, 239, 258, 292, 324–326, 342, 355, 357, 391, 497, 500 f., 561, 563–566, 568, 581, 608, 623–625, 636, 639, 761
Namensregister Abernathy, R. Bd. 2: 476 Adams, S. F. Bd. 1: 180 Adriani, G. Bd. 2: 2, 27 Adrianova-Peretc, V. P. Bd. 1: 415–417, 424, 483 Äsop Bd. 1: 104 Bd. 2: 767 Afanas’ev, A. N. Bd. 1: 68 f. Agosti, S. Bd. 1: 567 Ahlqvist, A. E. Bd. 1: 313, 323 Aichelburg, W. v. Bd. 2: 437 Ajchenval’d, Ju. I. Bd. 1: 103 Aksakov, K. Bd. 2: 534 Albarn, K. Bd. 1: 127 Albright, W. F. Bd. 1: 307, 345, 349 Alecsandri, V. Bd. 2: 437 Alexandre, A. Bd. 1: 237, 254 Bd. 2: 20 Aljanskij, S. M. Bd. 2: 479 Allemann, B. Bd. 2: 189
Altenberg, P. Bd. 1: 14 Amos Bd. 1: 349, 351 Andrades, O. de Bd. 2: 669 Andreevskij, S. A. Bd. 1: 101 Andrejcˇin, L. D. Bd. 2: 401, 406, 410, 413, 419 Andres, Z. Bd. 2: 555 Andretic´, N. R. Bd. 1: 538 Aneau, B. Bd. 1: 564 Anjou, R. v. Bd. 1: 440, 577 Annenskij, I. F. Bd. 1: 76 Apollinaire, G. Bd. 2: 19 f., 27 Arbusow, L. Bd. 1: 198 Aristoteles Bd. 1: 45, 49, 442, 446 Bd. 2: 740 Aristov, N. Bd. 1: 266 Arnim, B. v. Bd. 2: 144 f., 200, 213, 229 Aronoff, M. Bd. 2: 45, 53 Aseev, N. N. Bd. 1: 86 Asparuch Bd. 1: 13, 56
860
Namensregister
Astachova, A. M. Bd. 1: 267 f., 270 Asˇukin, N. S. Bd. 2: 134 Asˇukina, M. G. Bd. 2: 134 Attridge, D. Bd. 2: 572, 604 Auden, W. H. Bd. 2: 551 Auguscik, A. Bd. 1: 217–234 Bd. 2: 355–372, 375–392 Augustinus Bd. 2: 737, 743 Austerlitz, R. Bd. 1: 189, 264, 314, 324, 339 Bd. 2: 399 Austin, J. L. Bd. 1: 465 Bd. 2: 727 Avalle, S. Bd. 1: 567 Babusˇkin, J. Bd. 1: 274 Bach, E. Bd. 2: 201 Bachelard, G. Bd. 2: 644 Bachtin, M. M. Bd. 1: 520 Bd. 2: 116, 253, 527 Bailey, J. Bd. 1: 176 Bd. 2: 604 Bakosˇ, M. Bd. 2: 319, 329, 346 Balbin, B. L. Bd. 1: 510 Bally, C. Bd. 1: 4 Balogh, J. Bd. 1: 441
Balzac, H. de Bd. 2: 254, 311 Barber, C. L. Bd. 1: 645 Barbi, M. Bd. 1: 439, 444, 453, 455 f. Barthes, R. Bd. 2: 291, 670, 679, 742 Basileios II. Bd. 1: 398 Bassermann-Jordan, G. v. Bd. 2: 139–249 Bataille, G. Bd. 2: 254 Batjusˇkov, K. N. Bd. 1: 82 Bd. 2: 116 Baudelaire, C. Bd. 1: 129, 251, 567 Bd. 2: 213, 251–287, 289–318, 355, 576, 649, 671 f., 734, 739, 741, 743, 745–747, 749–753, 755, 757–759, 761–765, 767–772, 774– 776, 778, 780 f. Baudissin, W. Graf v. Bd. 1: 625, 629, 632, 637 Baudouin de Courtenay, J. I. Bd. 1: 282 Baumgärtner, K. Bd. 2: 780 Beardsley, M. C. Bd. 1: 174, 183 Beck, A. Bd. 2: 143 Beethoven, L. van Bd. 1: 48 Behaghel, O. Bd. 1: 168 Beißner, F. Bd. 2: 142–145, 147, 166, 168, 174, 188, 196, 200, 214 f., 220 f., 224 Belinskij, V. G. Bd. 1: 45
Namensregister
Belobrova, O. A. Bd. 1: 415 Beltra´n, V. Bd. 1: 430 Belyj, A. (Bugaev, B. N.) Bd. 1: 7, 28, 34, 42, 78, 80, 95, 128 Bd. 2: 468, 507 Be˙lza, I. Bd. 1: 458 Bem, A. L. Bd. 2: 109 Benjamin, W. Bd. 2: 253 f. Bennholdt-Thomsen, A. Bd. 2: 180, 203 Bentham, J. Bd. 1: 199, 262, 294, 645 Bd. 2: 398 Benveniste, E´. Bd. 1: 355, 421, 465, 578, 586 Bd. 2: 280, 283, 527, 531, 534 f., 537 f., 545 f., 766, 769, 777 Bergson, H. Bd. 1: 36 Bergstraesser, D. Bd. 2: 457, 467 Berkov, P. N. Bd. 1: 689, 707 Berlioz, H. Bd. 2: 349 Berry, F. Bd. 1: 270, 678 Bd. 2: 399 Bersani, L. Bd. 2: 750 f., 780 Bertholet, A. Bd. 1: 349 Besharov, J. Bd. 2: 336 Bessonov, P. A. Bd. 1: 69 Bestuzˇev, A. A. Bd. 1: 42, 707
861
Beyer, B. Bd. 2: 423 Bharata Bd. 1: 350, 354 Biadene, L. Bd. 1: 446, 449, 460 Bigelow, A. C. Bd. 1: 138 Binder, W. Bd. 2: 149, 231 Birus, H. Bd. 1: 155–216, 272, 284, 509– 535, 548 Bd. 2: 213, 251–284, 338, 400, 453, 572, 687–716, 733–788, 789– 813 Bishop, J. L. Bd. 1: 175 Blaga, L. Bd. 2: 434, 439 Blake, W. Bd. 1: 131, 157, 403, 518, 585, 593, 599, 636, 660 Bd. 2: 1–43, 71, 157, 266, 346, 576, 620, 722 Blanchot, M. Bd. 2: 675 Blane, A. Bd. 1: 391, 413 Blin, G. Bd. 2: 282 Blok, A. A. Bd. 1: 75, 94, 136, 272, 376, 380, 448, 518, 599, 615, 659 Bd. 2: 10, 33, 165, 380, 453–491, 498, 500 f., 507, 584, 696 Bloomfield, L. Bd. 2: 727, 729 Blumensath, H. Bd. 1: 155 Boas, F. Bd. 1: 263, 682 Bd. 2: 398, 528, 748, 764
862 Bobrov, S. P. Bd. 1: 74 Bobrov, S. S. Bd. 1: 102 Bobro´wna, L. Bd. 1: 227 f. Bocˇarov, S. G. Bd. 2: 116 Bode, C. Bd. 2: 3, 266 Bodenstedt, F. Bd. 1: 276 Bodman, R. W. Bd. 1: 309 Böhm, W. Bd. 2: 201 Böschenstein, B. Bd. 2: 201 f., 218 f. Bogatyrev, P. G. Bd. 1: 137 Bogdanovic´, D. Bd. 1: 477 Bogisˇic´, R. Bd. 1: 538, 540 Bogorodickij, V. A. Bd. 1: 90, 282 Bohrer, K. Bd. 2: 254 Boileau, N. Bd. 2: 367 Bol’sˇakov, K. A. Bd. 1: 110 Bolinger, D. Bd. 2: 727 Bond, W. H. Bd. 1: 306 Bonnefoy, Y. Bd. 2: 580 Boodberg, P. A. Bd. 1: 309 f. Boon, J. A. Bd. 2: 775 Boronina, I. A. Bd. 1: 367
Namensregister
Borowsky, K. Bd. 1: 290 Bd. 2: 69 Borowy, W. Bd. 1: 220 Bd. 2: 356 f., 376 f., 380, 383, 391 Botev, C. Bd. 1: 86, 272, 280 Bd. 2: 141, 216, 395–431 Botto, J. Bd. 2: 323 Botvinnik, N. M. Bd. 2: 115 Bourciez, E´. Bd. 1: 558 Bouret, J. Bd. 2: 27, 29 Boyde, P. Bd. 1: 439, 444, 456, 462 Bradford, C. Bd. 1: 272 f. Bd. 2: 572, 625 Bräunlin, K. H. F. Bd. 2: 143 Brahmer, M. Bd. 1: 607 Brancaccio, L. Bd. 1: 607–620 Brandt, B. Bd. 2: 733–788 Brandt, T. O. Bd. 2: 691 Braque, G. Bd. 2: 634 Brecht, B. Bd. 1: 276, 312, 696 Bd. 2: 34, 139, 216, 237, 239, 604, 671, 687–716, 720, 725 Brˇecislav Bd. 1: 519 Brentano, F. Bd. 1: 645 Brik, O. M. Bd. 1: 61 f., 80, 102, 139, 181, 542
Namensregister
Bd. 2: 496 Brizeux, J. P. A. Bd. 2: 282 Brjusov, V. Ja. Bd. 1: 48 f., 97, 101, 103 Bd. 2: 100, 468 Brøndal, V. Bd. 2: 544 Bronowski, J. Bd. 2: 13 Bronte¨, E. Bd. 1: 157 Brooke-Rose, C. Bd. 1: 270 Bd. 2: 775 Brower, R. Bd. 1: 371 f., 374 f., 377, 379 Brown, D. Bd. 1: 373 Brown, R. Bd. 1: 378 Bd. 2: 727 Brown, T. Bd. 2: 576 f. Browning, R. Bd. 2: 634, 683 Brta´nˇ, R. Bd. 2: 324, 348 Brunot, F. Bd. 1: 584 Budkowska, J. Bd. 1: 219 Bühler, K. Bd. 1: 7, 14 f., 165, 372 Bd. 2: 170, 211, 216, 533 Bunic´ Vucˇic´, I. Bd. 1: 538 Bun˜uel, L. Bd. 1: 157 Burin, I. Bd. 2: 419 Burljuk, D. D. Bd. 1: 4, 42, 73, 82
863
Burrow, C. Bd. 1: 628 Bush, D. Bd. 1: 635 Bußmann, H. Bd. 1: 160–162, 171, 194, 379, 517, 612 Bd. 2: 169, 600, 602, 699, 710, 756, 768 Butler, J. Bd. 2: 675 Butor, M. Bd. 2: 283 Byron, G. G. Bd. 1: 18 f., 37, 252 Caeiro, A. s. Pessoa, F. A. N. Caesar, Julius Bd. 1: 166, 171, 199–202 Cajanus, E. Bd. 1: 312 Ca˘linescu, G. Bd. 2: 433 f. Caˆmara Jr., J. M. Bd. 2: 655, 663 f. Cambio, A. di Bd. 1: 466 Camo˜es, L. de Bd. 2: 634, 644, 672, 748 Campos, A. de Bd. 2: 673 Campos, A´. de s. Pessoa, F. A. N. Campos, C. A. de Bd. 2: 670 Campos, H. de Bd. 1: 76, 427–438 Bd. 2: 633–635, 644, 653, 657, 663 f., 669–686 Cankar, I. Bd. 2: 517 Capella, M. Bd. 1: 447
864
Namensregister
Carew, T. Bd. 1: 673 Cargo, R. T. Bd. 2: 299 Carriere, M. Bd. 2: 200 f. Carroll, L. (Dodgson, C. L.) Bd. 1: 194 Carvalho, A. de Bd. 2: 641 Cassiodorus, F. M. A. Bd. 1: 447 Castro, G. M. de Bd. 2: 670 Cavalcanti, G. Bd. 1: 468 Cazacu, B. Bd. 2: 433–451 Celan, P. Bd. 1: 130, 136 Bd. 2: 680 Cellier, L. Bd. 2: 770, 780 ˇ epan, O. C Bd. 2: 325 ˇ erepnin, L. V. C Bd. 1: 657 Cereteli, G. V. Bd. 2: 206 Chadzˇov, I. Bd. 2: 401 f., 404, 412, 415–418 Chalupka, S. Bd. 2: 323 Chamard, H. Bd. 1: 557 f., 565 f., 576 Champfleury, J. (J. Husson) Bd. 2: 258, 762 Chao, Y. R. Bd. 1: 303 Chardzˇiev, N. I. Bd. 1: 73, 88 Bd. 2: 497 Charuzin, N. Bd. 1: 265
Chastaing, M. Bd. 2: 774 Chatman, S. Bd. 1: 164, 182 Chebotova, J. Bd. 1: 439 Cherry, C. Bd. 1: 177 Chiapelli, F. Bd. 1: 444 Chihaia, M. Bd. 2: 433–451 Chlebnikov, V. Bd. 1: 1–123, 130–136, 139, 142, 155, 540, 699 f. Bd. 2: 49, 70, 75, 493–515, 634, 670, 672 f., 729 Chmielewski, J. Bd. 1: 310, 325 Chomsky, N. Bd. 1: 181, 386 Bd. 2: 727 Chrapcˇenko, M. Bd. 2: 780 Christiansen, B. Bd. 1: 14 Christophersen, P. Bd. 1: 643 Christov, K. Bd. 2: 401 Churchill, W. Bd. 1: 240 Cicero, M. T. Bd. 1: 559, 575 Bd. 2: 739 Cieszkowski, A. Bd. 2: 389 Cjavlovskaja, T. G. Bd. 1: 275 Claretie, G. Bd. 2: 2 Clemens V. Bd. 1: 440, 443, 445
Namensregister
Clemm, V. Bd. 1: 247 Codax, M. Bd. 1: 427–438 Bd. 2: 631, 670 Coelen, M. Bd. 2: 253, 289–318 Cohen, R. Bd. 1: 429 Colaclides, P. Bd. 2: 527–554 Comte, A. Bd. 1: 86, 94 f. Conrad, R. Bd. 2: 706 Contini, G. Bd. 1: 439, 444, 453, 455, 462 Cooke, P. Bd. 1: 246 ´ orovic´, V. C Bd. 1: 504 Coˆrtes-Rodrigues, A. Bd. 2: 637, 650, 657, 679 Corti, M. Bd. 1: 439 Costa, F. Bd. 2: 634, 681, 683 Courbet, G. Bd. 2: 258 Cowell, R. Bd. 2: 583 Cramer, J. A. Bd. 2: 228 Cranston, E. Bd. 1: 371, 377 Cre´pet, J. Bd. 2: 282 Cromwell, O. Bd. 1: 694 Cronegk, J. F. v. Bd. 2: 228 Cross, F. M. Bd. 1: 303, 307
865
ˇ ukovskaja, E. C. C Bd. 2: 482 ˇ ukovskij, K. I. C Bd. 1: 54 Bd. 2: 476, 482, 485 Culler, J. Bd. 1: 624 f., 638, 648 Bd. 2: 572, 734–736, 759 f., 776, 778–780 Cummings, E. E. Bd. 1: 75, 635, 650 Bd. 2: 18, 717–731 Cunha, C. F. da Bd. 1: 428, 433 Cureton, R. Bd. 2: 572, 607, 609 Czaplejewicz, E. Bd. 2: 358, 362, 366 Czoik, P. Bd. 1: 349 Daiches, D. Bd. 1: 674 Dal’, V. I. Bd. 1: 68, 322, 327 Bd. 2: 726 Dalı´, S. Bd. 1: 157 Dalven, R. Bd. 2: 530, 551 Damourette, J. Bd. 1: 578, 596 Bd. 2: 25 f., 346 Daniello, B. Bd. 1: 557, 563 Danilov, K. Bd. 1: 303, 319 f. D’Annunzio, G. Bd. 1: 439 Dante Alighieri Bd. 1: 305, 439–470, 567 Bd. 2: 461, 582, 634, 671, 683, 772 Daudet, A. Bd. 2: 737
866
Namensregister
Davie, D. Bd. 1: 270 Bd. 2: 399 Davis, J. F. Bd. 1: 308, 326 Debussy, C. Bd. 1: 157 Degas, E. Bd. 2: 573 f. Dehoucke, F. Bd. 1: 429 Delacroix, E. Bd. 2: 316 Delbouille, P. Bd. 2: 780 Delcroix, M. Bd. 2: 252, 734 Deleuze, G. Bd. 2: 632 Delevoy, R. L. Bd. 1: 97, 100 Delsipech, W. Bd. 2: 780 De Morgan, A. Bd. 1: 158 Derrida, J. Bd. 1: 192 Bd. 2: 291, 539 Derzˇavin, G. R. Bd. 1: 47, 74, 179, 691 Bd. 2: 45–54 Derzˇavina, O. A. Bd. 1: 660 f. Dessauer-Reiners, C. Bd. 2: 4 Dickinson, E. Bd. 1: 159 f. Diefenbach, A. Bd. 2: 195, 228 Dinekov, P. Bd. 2: 396, 401, 408–410, 414, 425 f. Djutsˇ, G. O. Bd. 1: 336
Dmitriev, M. A. Bd. 1: 62 Dobrzyn´ska, T. Bd. 1: 218 Dobson, E. J. Bd. 1: 618 Dohm, E. Bd. 2: 94 Dolezˇel, L. Bd. 1: 45 Donat, S. Bd. 1: 142, 179, 257–301, 303– 364, 415–425, 537–550, 615, 657– 671, 689–710 Bd. 2: 1–43, 45–54, 55–62, 63– 76, 77–120, 121–137, 158, 395, 411, 421, 453–491, 498, 555–569, 584, 607, 660, 673, 696, 713, 789– 813 Doncˇev, N. Bd. 2: 403 Donne, J. Bd. 1: 160, 673 Ðordic´, I. Bd. 1: 538 Dornseiff, F. Bd. 1: 441 Dosta´l, A. Bd. 2: 569 Dostoevskij, F. M. Bd. 1: 34 f., 74, 95, 99, 243, 498, 520 Dougherty, A. Bd. 2: 604 Douvaldzi, C. Bd. 2: 527–554 Dowland, J. Bd. 2: 771 Doyle, A. C. Bd. 1: 37, 164 Driver, S. R. Bd. 1: 323, 353 Drubek-Meyerova´, N. Bd. 2: 320
Namensregister
Drzˇic´, D. Bd. 1: 537–552 Bd. 2: 368 Du Bellay, J. Bd. 1: 553–606, 636 Bd. 2: 18, 55, 213, 631, 722, 751 f. Dubois, J. Bd. 2: 759 DuBois, T. Bd. 1: 312 Dünne, J. Bd. 1: 427 Bd. 2: 631–668, 669–686 Dume´zil, G. Bd. 1: 421 Duncan-Jones, K. Bd. 1: 639 Dupont, A. Bd. 2: 18 f. Dupont, P. Bd. 2: 292 Durand, G. Bd. 2: 780 Durand, M. Bd. 2: 268 Durnovo, N. N. Bd. 1: 92 Dvorˇa´k, A. Bd. 1: 509 Eco, U. Bd. 2: 279, 607 Edmondson, P. Bd. 1: 639 Edmunds, L. Bd. 1: 202 Effenberger, V. Bd. 2: 30 Efremov, P. A. Bd. 1: 691 Eifert, M. Bd. 2: 191 Eiichi, C. Bd. 1: 386
867
Eisenhower, D. D. Bd. 1: 169 Eisler, H. Bd. 2: 689 E˙jchenbaum, B. M. Bd. 1: 7, 37, 183, 185 Bd. 2: 740 Eliot, T. S. Bd. 1: 203, 624, 673 f. Ellis, E. Bd. 2: 576 Ellmann, R. Bd. 2: 577 E´luard, P. Bd. 2: 403 Elwert, W. T. Bd. 1: 447, 556, 575, 588 Eminescu, M. Bd. 2: 433–451 Empson, W. Bd. 1: 191 f., 646 Engelhard, M. Bd. 1: 287 Bd. 2: 56, 79, 87–89, 99, 123 Ennius, Q. Bd. 1: 77 Bd. 2: 726 Enzensberger, H. M. Bd. 1: 71 Erb, E. Bd. 2: 500 Erb, R. Bd. 1: 21, 51, 55 Erben, K. J. Bd. 1: 522 Erbslöh, G. Bd. 2: 494 Erlich, V. Bd. 1: 7, 126 f., 174, 191, 260, 624 Bd. 2: 375 Ermolov, A. P. Bd. 1: 7 Ernst, M. Bd. 1: 157
868
Namensregister
Esenin, S. A. Bd. 1: 325 Eshelman, R. Bd. 1: 237–255 Bd. 2: 319–349 Eveleth, G. Bd. 1: 247 Evgen’eva, A. P. Bd. 1: 319 f., 353 Exner, R. Bd. 2: 575, 580 Fabb, N. Bd. 2: 604 Fairley, I. R. Bd. 2: 718 Falisˇevac, D. Bd. 1: 538 Faral, E. Bd. 1: 263 Fe´nelon, F. Bd. 1: 704 Ferreira, M. P. Bd. 1: 428 Ferrell, J. Bd. 2: 517, 525 Fert, J. Bd. 2: 357, 363, 370, 377 f. Fet, A. A. (Sˇensˇin, A. A.) Bd. 1: 58 Feuchtwanger, L. Bd. 2: 688 Fichte, J. G. Bd. 2: 647 Fieguth, R. Bd. 1: 1–112 Bd. 2: 377, 386 Fik, I. Bd. 1: 234 Findeisen, H. Bd. 2: 109 Fischer, J. G. Bd. 2: 143, 147, 152, 154, 196, 198, 229 f.
Fischer, J. L. Bd. 1: 314 Flaubert, G. Bd. 1: 251 Bd. 2: 254, 258, 272 Fongaro, A. Bd. 2: 775, 780 Fortunatov, F. F. Bd. 1: 110 Foster, K. Bd. 1: 439, 444, 456, 462 Foucault, M. Bd. 1: 158 Bd. 2: 675 Fox, J. J. Bd. 1: 303 Bd. 2: 753 Fraisse, A. Bd. 2: 747, 768 Frandon, I.-M. Bd. 2: 780 Franyo´, Z. Bd. 2: 438 Franz, M. Bd. 2: 239–241 Freedman, D. N. Bd. 1: 307 Frege, F. L. G. Bd. 1: 158 Freud, S. Bd. 1: 2 f., 134, 142 Bd. 2: 506, 582, 620 Friedman, D. M. Bd. 1: 674 Friedrich, H. Bd. 1: 557 Bd. 2: 254, 292 Fromm, H. Bd. 1: 312 Fromm, L. Bd. 1: 312 Frost, R. Bd. 1: 180
Namensregister
Bd. 2: 411, 414 f., 584 f. Frye, N. Bd. 2: 18 Fubini, M. Bd. 1: 446 Fujiwara no Umakai (Pudipara Umakapyi) Bd. 1: 371–373, 375 Fulda, L. Bd. 1: 650 Fussell, P. Bd. 2: 604 Gabler, H.-W. Bd. 1: 607–621 Gadamer, H.-G. Bd. 2: 140 Gałczyn´ski, K. I. Bd. 1: 221, 224 Galfridus de Vina Salvo (Geoffroi de Vinsauf) Bd. 1: 263 Gallen-Kallella, A. Bd. 1: 312 Gambier, H. Bd. 1: 557 Gascoigne, G. Bd. 1: 627 Gasparov, B. Bd. 1: 416 Gasparov, M. L. Bd. 1: 137, 178 f., 275, 661, 691 Bd. 2: 50 f., 455, 459 Gautier, T. Bd. 2: 739, 745 f., 751 f., 765, 767– 769 Geerts, W. Bd. 2: 252, 734 Genette, G. Bd. 1: 195 f. Bd. 2: 278, 291 Geninasca, J. Bd. 1: 567
Gente, H. P. Bd. 1: 282 Georg v. Podeˇbrad und Kunsˇta´t Bd. 1: 522 Gerhardt, D. Bd. 2: 453 Gersˇenzon, M. O. Bd. 1: 5 Gevirtz, S. Bd. 1: 307, 346, 353 Ghyka, M. C. Bd. 2: 206 Giedion-Welcker, C. Bd. 2: 30 Giese, W. Bd. 1: 192 Gil, J. Bd. 1: 30 Bd. 2: 632 Gilman, A. Bd. 1: 378 Gindin, S. I. Bd. 1: 691, 697 Ginneken, J. van Bd. 1: 78 Ginsberg, H. L. Bd. 1: 307 Giolito de’ Ferrari, G. G. Bd. 1: 557 Giotto di Bondone Bd. 1: 440, 466, 468 Bd. 2: 1 Glagolevskij, P. P. Bd. 1: 144 Glaser, E. Bd. 2: 733–788 Glazer, A. Bd. 2: 517 f. Gleim, J. W. L. Bd. 2: 228 Glinka, M. I. Bd. 1: 100 Gloger, Z. Bd. 1: 145 f.
869
870
Namensregister
Głowin´ski, M. Bd. 1: 218 Gmelin Bd. 2: 143 Godel, R. Bd. 2: 648, 728 Godwin, W. Bd. 2: 615 Goeppert, H. Bd. 1: 126 Goethe, J. W. v. Bd. 1: 49, 94, 129, 174, 191 Bd. 2: 506 Gogh, V. van Bd. 2: 211 Gogol’, N. V. Bd. 1: 10, 20, 24, 28, 30, 34, 111 Gok, J. C. Bd. 2: 191 Gok, K. Bd. 2: 198, 223 Golan´ski, F. N. Bd. 2: 360 Goldmann, L. Bd. 2: 780 Goldstein, K. Bd. 2: 741 Gomulicki, J. W. Bd. 2: 358, 363, 365, 370, 377– 379, 390 f. Goncˇarov, I. A. Bd. 1: 37, 100 Goncˇarova, N. N. Bd. 2: 96 Goncˇarova, N. S. Bd. 1: 82 Gonda, J. Bd. 1: 264, 311, 326, 347, 350, 421 Gonne, M. Bd. 2: 620, 624 f. Gontard, S. Bd. 2: 222–225, 232, 235 f., 240– 242
Gor’kij, M. (Pesˇkov, A. M.) Bd. 1: 76 Bd. 2: 712 Gorgias Bd. 1: 475 Gottfried von Straßburg Bd. 2: 646 Gottus Mantuanus Bd. 1: 450 Gougenheim, G. Bd. 1: 583 Gourmont, R. de Bd. 1: 571 Goya y Lucientes, F. J. de Bd. 1: 99 f. Graham, L. Bd. 1: 242 Grammont, M. Bd. 2: 259, 267, 284, 300 Graßhoff, H. Bd. 1: 419 Graves, R. Bd. 1: 629, 635, 650 Gray, C. Bd. 1: 82, 97 Greber, E. Bd. 1: 108, 128, 139, 268, 471– 493, 495–508 Bd. 2: 23, 504 Greenberg, J. Bd. 1: 175 Greenstein, E. L. Bd. 2: 753 Gregor von Nazianz Bd. 1: 475 Gregory, I. A. Bd. 2: 616 Greimas, A. J. Bd. 2: 699 Greuze, J.-B. Bd. 2: 94 f. Griboedov, A. S. Bd. 1: 7
Namensregister
Gric, T. Bd. 2: 497 Grierson, H. J. C. Bd. 1: 673, 675 Grigor’ev, A. D. Bd. 1: 70 Grimm, J. Bd. 1: 35, 516 Grimm, R. Bd. 2: 689 Grimm, W. Bd. 1: 35, 516 Groeger, W. E. Bd. 1: 260 Bd. 2: 89 Grübel, R. G. Bd. 1: 6 Bd. 2: 495 Grze˛dzielska, M. Bd. 2: 368 f. Grzesinska, S. Bd. 1: 217–234 Bd. 2: 355–372, 375–392 Grzybek, P. Bd. 1: 138 Gsell, O. Bd. 2: 316 Gsell, R. Bd. 2: 316 Guchman, M. M. Bd. 2: 544 f. Günther, F. Bd. 1: 625, 632 Günther, G. Bd. 2: 647 Günther, H. Bd. 2: 361 Guenther, J. v. Bd. 2: 114, 456, 466, 481 Gue´ron, J. Bd. 2: 780 Guibert, A. Bd. 2: 633 f., 636 f., 648, 657, 659, 663, 683
871
Guinizelli, G. Bd. 1: 468 Guiraud, P. Bd. 2: 315 f. Gukovskij, G. A. Bd. 1: 695 f. Gumilev, N. S. Bd. 1: 51 Gundert, W. Bd. 1: 371 f. Guro, E. G. Bd. 1: 14, 75, 87, 92 Bd. 2: 507, 729 Haardt, A. Bd. 1: 8, 79 Habakuk Bd. 1: 307, 345, 349 Häussermann, U. Bd. 2: 176, 201 f. Hagenmaier, O. Bd. 2: 206 Hall, J. W. Bd. 1: 375 Halle, M. Bd. 1: 163, 292, 303, 310, 385, 433, 623, 691, 705 Bd. 2: 45–54, 80, 380, 476, 489, 773 Halliday, M. A. K. Bd. 1: 638 Bd. 2: 599 Hallyn, P. G. Bd. 1: 554 Hals, F. Bd. 2: 349 Hamm, J. Bd. 1: 538–540, 547 f. Hansen-Löve, A. A. Bd. 1: 1–123, 125–153, 163, 168 Bd. 2: 49, 75, 361, 385, 493–515 Hanslick, E. Bd. 1: 48 f.
872
Namensregister
Harbage, A. Bd. 1: 635 Hardy, A. Bd. 2: 775 Harkins, W. Bd. 1: 324, 326 Hartner, R. A. Bd. 1: 257, 262, 273, 282 f., 319 Bd. 2: 13 Hatalla, M. Bd. 2: 325 Hattori, S. Bd. 1: 125, 149, 366 f., 369 f., 381, 386 Haußer, J. Bd. 1: 365 Hawkes, T. Bd. 2: 572 Haydn, J. Bd. 1: 48 Hayes, B. Bd. 2: 604 Heffner, R.-M. S. Bd. 1: 335 Hegel, G. W. F. Bd. 1: 191 Bd. 2: 140, 169, 187, 190, 582 Heidegger, M. Bd. 1: 186 Bd. 2: 149, 175 f., 189, 203, 221 Heinrich II. Bd. 1: 571 Heiseler, H. v. Bd. 2: 93 Hendricks, W. Bd. 2: 780 Henry, O. Bd. 1: 37 Herbart, J. F. Bd. 2: 348 Herbert, G. Bd. 1: 673 Herder, J. G. v. Bd. 1: 310, 346
He´roet, A. Bd. 1: 557, 560 Herzog, G. Bd. 1: 197 Hesiod Bd. 2: 149 Hightower, J. R. Bd. 1: 303, 308 f., 323, 328, 345, 353 Hildebrand, A. Bd. 1: 48 Hilferding, A. F. Bd. 1: 338, 345 Hill, A. A. Bd. 1: 184 Hiller von Gaertringen, D. Bd. 2: 111 Hodge, R. I. V. Bd. 1: 674 Höfele, A. Bd. 1: 623–655 Hölderlin, F. Bd. 1: 174, 186, 386, 542, 666 Bd. 2: 139–249, 384, 461, 687 f., 700, 712 Holenstein, E. Bd. 1: 8 f., 15, 79, 142 f., 155, 386 Bd. 2: 221, 254, 687 Hollander, J. Bd. 1: 206 Homer Bd. 1: 62, 127, 259, 704 Bd. 2: 149, 581, 634, 645, 683 Hone, J. Bd. 2: 583 Hopkins, G. M. Bd. 1: 156, 159, 172–174, 184– 188, 198, 204, 264, 270, 284, 304 f., 346, 448, 563, 674 Bd. 2: 18, 398 f., 409, 728 f., 744, 746, 752 f., 756–758, 761, 764 Horaz (Quintus Horatius Flaccus) Bd. 1: 76, 579
Namensregister
Bd. 2: 358 Hrobonˇ, S. B. Bd. 2: 322 f. Hubler, E. Bd. 1: 649 Hugo, V. Bd. 2: 311, 741, 769 Hugo von St. Victor Bd. 1: 447 Humboldt, W. v. Bd. 1: 80, 191 Bd. 2: 687 Huppert, H. Bd. 1: 263 Husserl, E. Bd. 1: 8, 78–80, 163 Bd. 2: 278 Husson, J. Bd. 2: 258 Hviezdoslav, P. O. Bd. 2: 410 Hyde-Lees, G. Bd. 2: 607 Hymes, D. H. Bd. 1: 169, 196, 314 Iatrou, M. Bd. 2: 548 Igor’ Svjatoslavicˇ Bd. 1: 25, 374, 415–417, 419–421 Ihwe, J. Bd. 1: 155 Bd. 2: 780 Ilarion Bd. 1: 391–414 Bd. 2: 31 Imendörfer, H. Bd. 2: 740 Ingarden, R. Bd. 1: 217 Ingold, F. P. Bd. 1: 4, 6, 10 f., 13, 21, 36, 107, 110, 133
Bd. 2: 494, 496, 501, 503, 505 Ingres, J.-A.-D. Bd. 2: 769 Isokrates Bd. 1: 475 Istomin, F. M. Bd. 1: 336 Ivanov, V. I. Bd. 1: 49 Bd. 2: 507 Ivanov, V. V. Bd. 1: 303 f. Bd. 2: 508 Iverson, A. Bd. 1: 303 Jabłon´ski, W. Bd. 1: 310, 346 Jaeschke, W. Bd. 2: 582 Jagic´, V. Bd. 1: 538, 541, 547 Jameson, F. Bd. 1: 126 Jancso´, D. Bd. 1: 673–687 Jangfeldt, B. Bd. 1: 9, 130 Janin, J. Bd. 2: 751 Jarcho, B. I. Bd. 2: 82 f., 124 Jaroslav Bd. 1: 392, 412 Jaskierny, R. Bd. 2: 375 Jaspers, K. Bd. 2: 211 Jastrun, M. Bd. 2: 356, 358 Jauß, H. R. Bd. 2: 254, 265, 355 Jazykov, N. M. Bd. 1: 74
873
874
Namensregister
Jesaja Bd. 1: 264, 306, 308, 310, 396 Bd. 2: 399 Jespersen, O. Bd. 1: 180, 279, 331 f., 525, 612, 614, 640 Bd. 2: 308, 588, 596 Jesus Christus Bd. 1: 394, 397, 400–402, 405 f., 408, 408 f., 514 f., 523 Bd. 2: 281, 462, 464, 467 Jezˇic´, S. Bd. 1: 539 Jez˙owski, M. Bd. 1: 220 f. Johannes (Evangelist) Bd. 1: 521 Bd. 2: 47, 389, 417 Johnson, B. Bd. 2: 254 Johnson, C. W. M. Bd. 1: 649 Jones, B. Bd. 2: 23 Jones, D. Bd. 1: 335 Jones, L. G. Bd. 1: 567, 623–655 Bd. 2: 7, 368, 563, 776 Joos, M. Bd. 1: 162 Joseph, M. Bd. 1: 631, 641 Josua Bd. 1: 166 Jousse, M. Bd. 1: 346 Joyce, J. Bd. 1: 624 Bd. 2: 634 Juan de la Cruz Bd. 2: 681, 744 Jusdanis, G. Bd. 2: 540
Juslenius, D. Bd. 1: 312 Kahane, H. Bd. 2: 549 Kahane, R. Bd. 2: 549 Kalinin Bd. 1: 345 Kamenskij, V. V. Bd. 2: 496, 511 Ka˘ncˇev, V. I. Bd. 2: 402 Kandinskij, W. Bd. 2: 361, 511 Kant, I. Bd. 1: 86, 95 Bd. 2: 169, 644 Karcevskij, S. Bd. 1: 4, 183 Karl von Valois Bd. 1: 440 Karłowicz, J. Bd. 2: 377 Katharina II. Bd. 1: 694 f. Katharina von Medici Bd. 1: 589 Kavafis, K. P. Bd. 2: 527–554 Kawamoto, S. Bd. 1: 125, 386 Kayser, W. Bd. 1: 174 Keats, J. Bd. 1: 160, 169 Kelnberger, C. Bd. 2: 771 Kemmler, G. Bd. 2: 197 Kemp, F. Bd. 2: 257 Kent, R. G. Bd. 1: 86, 244
Namensregister
Keremidcˇiev, G. Bd. 2: 414 Kerenskij, A. F. Bd. 1: 6 Kermode, F. Bd. 1: 677 Kerner, J. Bd. 2: 199 Kilwardby, R. Bd. 1: 466 Kiparsky, D. Bd. 1: 316 Kiparsky, P. Bd. 2: 604 Kirsˇa Danilov Bd. 1: 303, 319–323, 328, 330, 332, 334, 336, 341 f., 344 f., 347 Klee, F. Bd. 2: 32 f. Klee, P. Bd. 1: 403, 518, 660 Bd. 2: 2–4, 30–32, 37–39, 139, 157, 237, 239, 687, 700, 712 Klein, W. Bd. 1: 125–149 Klemensiewicz, Z. Bd. 2: 360, 362 Klodnicki, Z. Bd. 1: 143 Kloepfer, R. Bd. 1: 155 Klopstock, F. G. Bd. 1: 174 Bd. 2: 228 Kluge, F. Bd. 1: 516 Knaupp, M. Bd. 2: 143–147, 166, 190 f., 198 f., 223, 225 Knebel, K. L. Bd. 2: 701 Kochanowski, J. Bd. 1: 219, 221
Bd. 2: 392 Kochol, V. Bd. 2: 339, 341, 348 Kodjak, A. Bd. 2: 77, 116, 121, 136 Köhler, E. Bd. 2: 251–284, 744 Kökeritz, H. Bd. 1: 184, 629, 631, 646, 648 Koenen, F. Bd. 1: 447 Koˆjiroˆ, N. Bd. 1: 373, 375 Kol’cov, M. E. Bd. 1: 100 Bd. 2: 203 Kolarov, R. Bd. 2: 416 Kolmogorov, A. N. Bd. 1: 128 Bd. 2: 688 Kombol, M. Bd. 1: 539 Koˆmyoˆ Bd. 1: 373 Konstantin (Kyrill) Bd. 1: 395 Bd. 2: 402 Kopczyn´ska, Z. Bd. 1: 218 Korsˇ, F. E. Bd. 1: 542 Kostomarov, N. I. Bd. 1: 324 Kotsyuba, O. Bd. 1: 391–413, 537–550 Bd. 2: 517–525 Kovacˇevic´, B. Bd. 1: 496 Kowalski, T. Bd. 1: 314 f. Kowtun, J. F. Bd. 2: 495
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Namensregister
Koyre´, A. Bd. 1: 237, 254 Bd. 2: 187 Kraft, W. Bd. 2: 201 Kra´l, Janko Bd. 2: 25, 217, 319–353, 410 Kra´l, Josef Bd. 2: 324 Krasin´ski, Z. Bd. 2: 389 Kraszewski, J. I. Bd. 2: 391 Kraus, A. Bd. 1: 526 Krawczynski-Mitsoura, S. Bd. 2: 549 Kriaras, E. Bd. 2: 545 Kribben, K.-G. Bd. 2: 143 Kristeva, J. Bd. 2: 253 Krivcov, N. I. Bd. 2: 89 Krongauz, M. A. Bd. 1: 303 Kropa´cˇek, P. Bd. 1: 284 Krsticˇevic´, M. Bd. 1: 538 Krucˇenych, A. E. Bd. 1: 6, 9, 11, 13, 15, 28, 36, 73, 78, 110 Bd. 2: 496, 505, 508 Kruszewski, M. H. Bd. 1: 282 Krylov, I. A. Bd. 1: 98 Krylov, S. A. Bd. 2: 104 Krymskij, A. E. Bd. 1: 92
Kudszus, W. Bd. 2: 203 Kühne, G. Bd. 2: 194 f., 228 Künzel, C. Bd. 2: 147 Kuhn, R. Bd. 2: 289–317 Kuhn, V. Bd. 2: 251–284 Ku¯kai Bd. 1: 309, 325, 337 Kulisˇ, P. O. Bd. 2: 410 Kursell, J. Bd. 1: 111, 128 Kurz, H. Bd. 2: 200 Labe´, L. Bd. 1: 557, 567, 583 Lacan, J. Bd. 1: 125 f. Bd. 2: 582 Lachmann, R. Bd. 1: 80, 473, 537–552 Bd. 2: 504 La Fontaine, J. de Bd. 2: 78 f., 94, 767 Lagache, D. Bd. 1: 242 Lanciani, G. Bd. 1: 428, 430 Landry, H. Bd. 1: 632 Lange, W. Bd. 2: 149, 201 Langer, J. J. Bd. 2: 495 Laplanche, J. Bd. 2: 175, 228 Lapsˇina, N. V. Bd. 2: 82 f., 124
Namensregister
Larionov, M. F. Bd. 1: 82, 133 Bd. 2: 511 Lauer, G. Bd. 1: 349 Lauer, R. Bd. 1: 58 Lausberg, H. Bd. 1: 169, 186, 192, 200, 309, 326, 335, 350, 466, 511, 525, 619 Bd. 2: 336, 474, 698, 703 Lautre´amont, Comte de (Ducasse, I. L.) Bd. 1: 159 Lazarev, V. N. Bd. 1: 468 Le Corbusier (Jeanneret, C. E´.) Bd. 2: 634 Le Dantec, Y. G. Bd. 2: 739 Le Hir, Y. Bd. 2: 316 Lekov, D. Bd. 2: 401 Lencek, R. L. Bd. 1: 495, 507 Leodolter, R. Bd. 2: 214 Leonardo da Vinci Bd. 2: 206, 619–621 Leopardi, G. Bd. 2: 447 Lerner, N. O. Bd. 1: 5 Bd. 2: 100 Leskov, N. S. Bd. 2: 107 Les´mian, B. Bd. 1: 232 f. Lessing, G. E. Bd. 1: 36 Letz, B. Bd. 2: 341
877
Levi, A. Bd. 1: 173 Le´vi-Strauss, C. Bd. 1: 137, 198, 347, 567 Bd. 2: 251–287, 289 f., 313, 649, 672, 734, 743, 748, 753, 768, 772 Levin, D. S. Bd. 1: 659 Levin, R. Bd. 1: 649 Levski, V. Bd. 1: 87 Bd. 2: 395, 401–403, 413, 420, 425 f. Lewandowski, T. Bd. 2: 169 f., 181, 226, 233 Lewin, B. Bd. 1: 367, 374, 376 Ley, J. Bd. 1: 554 Lichacˇev, D. S. Bd. 1: 323 Liddell, R. Bd. 2: 529 Liede, A. Bd. 2: 183, 264, 729 Lind, G. R. Bd. 2: 633, 637–639, 650, 657, 659, 674, 679, 682 Linhartova´, V. Bd. 2: 320 Litzmann, C. Bd. 2: 202 Livsˇic, B. K. Bd. 1: 95 Lodge, D. J. Bd. 2: 742 Lönnrot, E. Bd. 1: 312 f., 316 f. Łokietek, W. Bd. 1: 224 Lomonosov, M. V. Bd. 1: 46 f., 102, 691
878
Namensregister
Longfellow, H. W. Bd. 1: 160, 172, 312 f. Lopes, T. R. Bd. 2: 636 Lotman, Ju. M. Bd. 2: 743 Lotz, J. Bd. 1: 172, 314 Lowth, R. Bd. 1: 306–308, 310, 312, 318, 326, 353 Lübbe-Grothues, G. Bd. 2: 1–39, 139–249, 461 Lüdeke, R. Bd. 2: 1–39 Luhmann, N. Bd. 2: 279 Lukan (Marcus Annaeus Lucanus) Bd. 2: 728 Lukrez (Titus Lucretius Carus) Bd. 2: 701 Luperini, R. Bd. 2: 780 Lurija, A. R. Bd. 2: 28 Luther, M. Bd. 1: 509, 521 Luthy, M. J. Bd. 1: 303 Mac Hammond Bd. 1: 202 Ma´cha, K. H. Bd. 1: 516 Bd. 2: 320 MacNeice, L. Bd. 2: 583 Macrin, J. S. Bd. 1: 557, 593 Mahler, A. Bd. 1: 644, 650 Bd. 2: 717–731 Mahnicˇ, J. Bd. 2: 518
Mahood, M. A. Bd. 1: 631 Maiorescu, T. Bd. 2: 434 f., 438 Majakovskij, V. V. Bd. 1: 4, 17, 23 f., 28, 32–34, 47, 51, 56, 70, 75–77, 82, 86 f., 95, 99– 101, 204 f., 222, 263, 354 Bd. 2: 336, 496, 500, 510, 512, 703, 748 Makarova, S. A. Bd. 2: 460 Makreeva, R. Bd. 2: 423 Malanos, T. Bd. 2: 545 Maleachi Bd. 1: 408, 408 Malevicˇ, K. S. Bd. 1: 10, 78 f., 82 Bd. 2: 495, 497, 508, 511 f. Malinowski, B. Bd. 1: 166 Malkiel, M. R. Lida de Bd. 1: 555 Mallarme´, S. Bd. 1: 46, 78, 157, 196, 555, 567, 599 Bd. 2: 213, 573, 576, 680–683 Man, P. de Bd. 2: 254, 291 Mandel’sˇtam, O. E˙. Bd. 1: 258, 272 Manet, E. Bd. 1: 157 Bd. 2: 349 Mansikka, V. J. Bd. 1: 166 Marchand, H. Bd. 2: 727 Marek, H. Bd. 1: 554 Maretic´, T. Bd. 1: 171
Namensregister
Mariengof, A. B. Bd. 1: 58, 325 Marigo, A. Bd. 1: 446 Marinetti, F. T. Bd. 1: 9–13 Marino, G. Bd. 2: 112 Marion, D. Bd. 1: 247 Marivaux, P. C. de Chamblain de Bd. 2: 744 Markiewicz, H. Bd. 2: 780 Markov, A. A. Bd. 1: 128 Bd. 2: 756 Markov, V. Bd. 1: 14, 82, 110 Bd. 2: 495, 511 Marmier, X. Bd. 1: 316 Marot, C. Bd. 1: 556, 572, 588 Marouzeau, J. Bd. 2: 304 Marr, N. I. Bd. 1: 282 Martinet, A. Bd. 2: 735 Marty, A. Bd. 1: 163 Marvell, A. Bd. 1: 160, 271, 273 f., 462, 673– 687 Bd. 2: 399 Matthäus (Evangelist) Bd. 1: 521 Bd. 2: 281 Matussek, M. Bd. 2: 176 Mavrogordato, J. Bd. 2: 530
879
Mayenowa, M. R. Bd. 1: 218 Mayer, G. L. Bd. 2: 407 McNeil, D. Bd. 2: 727 Medeiros, L. Bd. 2: 639 Meier, G. F. Bd. 1: 163 Meillet, A. Bd. 1: 355, 374, 511 Bd. 2: 140, 315 Mejlach, M. B. Bd. 2: 497 Melchiori, G. Bd. 1: 624 f. Me´nard, L. Bd. 2: 297 Mencˇetic´, S. Bd. 1: 538, 541, 547 Mendoza, I. Bd. 1: 217–236 Bd. 2: 355–374, 375–394, 555– 569, 789–813 Merleau-Ponty, M. Bd. 1: 574 Bd. 2: 742 Merrill, R. V. Bd. 1: 557, 560, 577 Method Bd. 1: 395 Bd. 2: 402 Meyer, H. Bd. 1: 19, 138, 185 Michel, W. Bd. 2: 203, 675 Michelet, V.-E. Bd. 2: 682 Mickiewicz, A. Bd. 1: 199, 219, 221, 228 Bd. 2: 376, 392 Miklosich, F. Bd. 1: 345
880 Miko, F. Bd. 2: 337 Milkin, T. Bd. 2: 348 Miller, G. A. Bd. 1: 486 Miller, R. A. Bd. 1: 367, 371, 382 Milner, J. C. Bd. 2: 316 Milton, J. Bd. 1: 180, 646 Bd. 2: 17, 634, 683 Minaev, D. D. Bd. 1: 103 Miner, E. Bd. 1: 371 Minor, J. Bd. 1: 78 Mirambel, A. Bd. 2: 536, 549 f. Mirza-Dzˇafar Bd. 1: 92 Mitsusada, I. Bd. 1: 373 Mocˇul’skij, K. V. Bd. 1: 258 f. Bd. 2: 468 Mönch, W. Bd. 1: 569 f., 577, 589 Mörike, E. Bd. 2: 200, 210 Moldovan, A. M. Bd. 1: 393 Molie`re (Poquelin, J. B.) Bd. 1: 167 Bd. 2: 148, 150 Mon, F. Bd. 1: 71, 561, 580 Monet, C. Bd. 2: 349 Montale, E. Bd. 1: 567
Namensregister
Montalvor, L. de Bd. 2: 681, 683 Monteiro, A. C. Bd. 2: 637, 676 Monteiro, G. Bd. 2: 577 Montgomery, R. L. Bd. 1: 615 Moore, M. Bd. 2: 590 Morgenstern, C. Bd. 2: 729 Moszyn´ski, K. Bd. 1: 143 Mounin, G. Bd. 2: 734 f., 750, 772–774, 780 Mowrer, O. H. Bd. 1: 241 Mozart, W. A. Bd. 1: 48 Mra´z, A. Bd. 2: 349 Müller, L. Bd. 1: 392–394, 397, 402 f. Bd. 2: 47, 461 Müller-Landau, C. Bd. 1: 496 Müllner, A. Bd. 2: 211 Münch, D. Bd. 2: 1–43 Murasˇov, J. Bd. 1: 49 Musimarö, Takapasi (Takahashi no Muraji Mushimaro) Bd. 1: 149, 365–390 Musin-Pusˇkin, A. I. Bd. 1: 416 Musorgskij, M. P. Bd. 2: 349 Nagy, G. Bd. 2: 548
Namensregister
Napoleon III. Bd. 2: 391 Nathusius, M. Bd. 2: 220 Nebrig, A. Bd. 1: 471–487, 495–507 Bd. 2: 395–431 Nejedly´, Z. Bd. 1: 510, 514, 516, 519, 522, 525 Nekrasov, N. A. Bd. 1: 47 Nerval, G. de (Labrunie, G.) Bd. 1: 567 Neuffer, C. L. Bd. 2: 223 Neustupny´, J. V. Bd. 1: 378 Newman, L. I. Bd. 1: 264, 307, 351 Bd. 2: 399 Nezval, V. Bd. 2: 320, 349 Nicolas, A. Bd. 2: 664, 780 Niederbudde, A. Bd. 1: 1–123, 125–153 Bd. 2: 46, 493–515 Nietzsche, F. Bd. 2: 254, 616, 729 Nijinsky, V. F. Bd. 1: 157 Nikitina, A. B. Bd. 1: 325 Nikol’skij, N. K. Bd. 1: 393 Nitsch, K. Bd. 1: 197 Bd. 2: 383 Norwid, C. Bd. 1: 159, 199, 218–222, 233 f., 272, 275, 386, 484, 666 Bd. 2: 175, 348 f., 355–374, 375– 394
Novak-Popov, I. Bd. 2: 518 f. Novalis (Hardenberg, F. v.) Bd. 2: 213 Novomesky´, L. Bd. 2: 322, 349 Noyes, J. B. Bd. 1: 631 Nunes, J. J. Bd. 1: 433 Bd. 2: 644 Nussbächer, K. Bd. 2: 192 Nyberg, H. S. Bd. 1: 421 O’Neill, E. Bd. 1: 165 Obnorskij, S. P. Bd. 1: 343 Oehrle, R. T. Bd. 2: 53 Oestersandfort, C. Bd. 2: 140 Ogareva, N. P. Bd. 2: 116 Ogden, C. K. Bd. 1: 262, 294 Bd. 2: 398 Okopien´-Sławin´ska, A. Bd. 1: 218 Olenina, A. A. Bd. 1: 275 Olesnickij, A. A. Bd. 1: 318 Oncˇukov, N. E. Bd. 1: 20 Opitz, M. Bd. 1: 610 Oravec, J. Bd. 2: 336 Osipova, P. A. Bd. 2: 96
881
882
Namensregister
Ovid (Publius Ovidius Naso) Bd. 2: 281, 728 Packard, S. Bd. 1: 155–206, 303–364, 607– 620 Bd. 2: 139–249 Paducˇeva, E. V. Bd. 2: 104 Palicyn, A. Bd. 1: 657–671 Bd. 2: 31 Panaitescu, D. Bd. 2: 434 Panofsky, E. Bd. 1: 194, 284 Parker, D. Bd. 1: 166 Parkinson, T. Bd. 2: 589–591, 603 Parodi, E. G. Bd. 1: 459 Parrish, S. M. Bd. 2: 580 Partridge, A. C. Bd. 1: 648 Pasternak, B. L. Bd. 1: 169, 178 f., 199, 668 Bd. 2: 216, 703 Pauchard, J. Bd. 1: 436 Paul II. Bd. 1: 522 Pauliny, E. Bd. 2: 325, 331, 337 Paulmann, I. Bd. 1: 1–112 Paulus (Apostel) Bd. 1: 396 Paulus Silentarius Bd. 2: 116 Peiper, T. Bd. 1: 221
Peirce, C. S. Bd. 1: 158, 198, 475, 484, 631 Bd. 2: 214–216, 218, 387 f., 541, 636, 708, 739 Peletier, J. Bd. 1: 592 Pellegrin, J. Bd. 2: 780 Pellegrini, A. Bd. 2: 168, 187 Pembroke, Countess of Bd. 1: 607 f., 610 Penev, B. Bd. 2: 414 f. Percival, K. W. Bd. 1: 4 Percova, N. Bd. 1: 70 Perloff, M. Bd. 2: 602 Permjakov, G. L. Bd. 1: 138 Pernicone, V. Bd. 1: 439, 444, 453, 455 f. Perpessicius (Panaitescu, D.) Bd. 2: 434 f. Perttunen, A. Bd. 1: 313, 323 Pesˇkovskij, A. M. Bd. 1: 58, 333, 479 Bd. 2: 700 Pessoa, F. A. N. Bd. 1: 326, 427 Bd. 2: 37, 141, 631–668, 669–686 Peter I. Bd. 1: 393 Peters, N. Bd. 2: 780 Petrarca, F. Bd. 1: 554, 556 f., 577, 584, 594, 626 Bd. 2: 744, 772 Petrov, A. N. Bd. 2: 96
Namensregister
Petrus (Apostel) Bd. 1: 396 Peukert, H. Bd. 1: 315 Pe´zard, A. Bd. 1: 451 Phädrus Bd. 2: 767 Philipp der Schöne Bd. 1: 440, 445 Philippaki-Warburton, I. Bd. 2: 527 Picasso, P. Bd. 2: 634 Picchio, R. Bd. 1: 404, 439 Pichois, C. Bd. 2: 292, 739 Pichon, E. Bd. 1: 578, 596 Bd. 2: 25 f., 346 Pierson, J. L. Bd. 1: 367, 371, 379 Pigenot, L. v. Bd. 2: 202 Pignatari, D. Bd. 2: 669, 677 Pike, K. L. Bd. 1: 176 Pindar Bd. 2: 181 Pindemonte, G. Bd. 2: 115 Pir’jan, Z. M. Bd. 2: 172 Pirjevec, D. Bd. 2: 524 Pisano, G. Bd. 1: 466 Pisarev, D. I. Bd. 1: 45 Pistoia, C. da Bd. 1: 468
883
Pisˇu´t, M. Bd. 2: 324, 326 f., 329, 346 Plath, S. Bd. 2: 19 Platon Bd. 1: 270, 554, 559 f. Bd. 2: 222 f., 291, 545, 757 Poe, E. A. Bd. 1: 37, 129, 166, 179 f., 187, 193 f., 196, 237–251, 253 f., 693 Bd. 2: 446, 674 f., 681, 747, 750, 757, 759 Poitier, D. von Bd. 1: 589 Polivanov, E. D. Bd. 1: 175 Poljakov, V. Bd. 1: 10 Polockij, S. Bd. 1: 47, 105 Poltorackij, A. I. Bd. 1: 303 Pommier, J. Bd. 2: 254 Pomorska, K. Bd. 1: 187, 218, 259, 281, 623 Bd. 2: 121, 322, 555 Pompidou, G. Bd. 2: 774 Pope, A. Bd. 1: 183, 195 Bd. 2: 748 Popov, N. P. Bd. 1: 659–661, 665 Poppe, N. N. Bd. 1: 264, 315 Bd. 2: 399 Popper, W. Bd. 1: 264, 307, 351 Bd. 2: 399 Porcelli, B. Bd. 1: 440, 454, 456 Bd. 2: 780
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Namensregister
Porthan, H. G. Bd. 1: 312 Posner, R. Bd. 2: 251–284, 780 Pospelov, N. S. Bd. 1: 270 Bd. 2: 399 Potebnja, A. A. Bd. 1: 7, 80, 191 Bd. 2: 334, 341 Potocki, W. Bd. 1: 222 Poulet, G. Bd. 2: 443 Pound, E. Bd. 2: 607, 775 Privalova, M. I. Bd. 2: 61 Properz (Sextus Propertius) Bd. 2: 728 Propp, V. Ja. Bd. 1: 137, 198, 348 Proust, M. Bd. 2: 254, 282, 291 Przesmycki, Z. Bd. 2: 357, 375 f. Pszczołowska, L. Bd. 1: 218 Pusˇkin, A. S. Bd. 1: 4–9, 18 f., 24, 36 f., 45–49, 51, 59, 61 f., 68, 99–102, 104, 107, 128, 258–260, 270 f., 274–277, 279 f., 285–287, 290, 294 f., 334, 416, 521, 707 Bd. 2: 45, 55–62, 63–76, 77–120, 121–137, 158, 165, 178, 371, 399, 423, 510, 512, 527, 541, 688, 748 Putilov, B. N. Bd. 1: 320 Puttenham, G. Bd. 1: 619, 633, 641, 646, 649 Puzynina, J. Bd. 2: 370, 377
Quine, W. V. O. Bd. 1: 158, 620, 682 Racine, J. Bd. 1: 219 Radev, I. Bd. 2: 417 Radisˇcˇev, A. N. Bd. 1: 10 f., 103, 169, 277, 287, 344, 373, 380, 537, 689–710 Bd. 2: 50, 84 f., 130, 501, 660 Radojicˇic´, Ð. Sp. Bd. 1: 477, 496 f. Raffael (Raffaello Santi) Bd. 2: 281 Raible, W. Bd. 1: 257, 262, 273, 282 f., 319 Bd. 2: 13 Rancour-Laferriere, D. Bd. 1: 126 Ransom, J. C. Bd. 1: 189, 205, 648 f. Rapp, W. Bd. 2: 196 Rath, B. Bd. 1: 149, 365–390 Regis, G. Bd. 1: 650 Rehm, W. Bd. 2: 201 Reichard, G. E. Bd. 1: 195 Reinhart, T. Bd. 2: 725 Reis, R. s. Pessoa, F. A. N. Rembrandt, H. van Rijn Bd. 2: 384 Repin, I. E. Bd. 1: 97 Resˇetar, M. Bd. 1: 538, 541, 545 Reynolds, J. Bd. 2: 8
Namensregister
Richards, I. A. Bd. 1: 432, 568, 623–625, 627, 637, 645, 651 Bd. 2: 584 f., 602, 743, 760 Richet Bd. 1: 103 Richter, V. Bd. 1: 509 Bd. 2: 571–630 Ricœur, P. Bd. 2: 608 Riding, L. Bd. 1: 629, 635, 650 Riffaterre, M. Bd. 2: 734 f., 743–745, 749–751, 753–757, 762–769, 771, 774 f., 780 Rilke, R. M. Bd. 1: 419 Bd. 2: 254 Ringler, W. A. Bd. 1: 608, 620 Risset, J. Bd. 1: 560 f., 583 Robertson, J. M. Bd. 1: 649 Robichez, J. Bd. 2: 294 Rodnjanskaja, I. B. Bd. 2: 130 Rogers, F. Bd. 1: 428 Rokoszowa, J. Bd. 2: 544 Rollins, H. E. Bd. 1: 645 Romanovicˇ, I. K. Bd. 2: 82 f., 124 Roncaglia, A. Bd. 1: 439 Ronsard, P. de Bd. 1: 561 f., 575, 586 Rops, F. Bd. 1: 100
885
Roth, J. Bd. 2: 406 Rousseau, H. Bd. 1: 585 Bd. 2: 1 f., 18–20, 23, 26–30, 346 Rousseau, J.-J. Bd. 2: 254, 745 Rozanova, O. V. Bd. 2: 511 Rozˇdestvenskij, V. A. Bd. 2: 482 Rozov, N. N. Bd. 1: 393 f., 402 Rubel, V. L. Bd. 1: 619 Rudrauf, L. Bd. 2: 283 f. Rudy, S. Bd. 1: 128, 380 Bd. 2: 210, 528, 571–630 Rühm, G. Bd. 1: 71 Ruff, M. Bd. 2: 316 Rusev, R. Bd. 2: 409 Ruwet, N. Bd. 1: 567, 583 Bd. 2: 664 Ruzˇicˇic´, G. Bd. 1: 495, 507 Rybnikov, P. N. Bd. 1: 166 Rzˇiga, V. F. Bd. 1: 321 f., 330, 334 Sˇachmatov, A. A. Bd. 1: 277, 291, 331, 391, 693, 700 Bd. 2: 86, 107, 110, 113, 522 f. Sade, D. A. F. de Bd. 2: 349 Sadovnikov, D. N. Bd. 1: 138
886
Namensregister
Sˇafranov, S. N. Bd. 1: 318, 328 Saint-Denys, H. de Bd. 1: 308 Saint-Marcel, J. de Bd. 1: 589 Sainte-Beuve, C.-A. Bd. 2: 282 Salomo Bd. 1: 326, 349 Sannazaro, J. Bd. 1: 557 Sapir, E. Bd. 1: 162, 249, 261–264, 272, 453, 463, 581, 599, 644 Bd. 2: 11, 297, 331, 396, 398–400, 463, 721, 726, 728, 748, 759 Sˇapir, M. I. Bd. 1: 1 Sˇapiro, A. B. Bd. 1: 337 Saporta, S. Bd. 1: 164 Sappho Bd. 2: 547 Sapunov, B. V. Bd. 1: 421 Sarab’janov, D. V. Bd. 2: 497 Saran, F. Bd. 1: 16 Saul, G. B. Bd. 2: 583 Saulnier, V. L. Bd. 1: 558, 587 Saussure, F. de Bd. 1: 4, 81, 127, 133, 148, 160 f., 195, 329, 355, 365, 374 f., 386, 458 f., 473 f., 485, 511 Bd. 2: 140 f., 256, 299, 315, 531, 726, 728, 741, 766 Sava (Rastko Nemanicˇ) Bd. 1: 268, 471–493, 495–498, 500–504, 506, 548
Bd. 2: 141, 388 Savkovic´, M. Bd. 1: 477 Sce`ve, M. Bd. 1: 557, 560, 564, 576, 583 f., 596 Sˇcˇegolev, P. E. Bd. 1: 5 Sˇcˇepkin, V. Bd. 2: 401 Sˇcˇerba, L. V. Bd. 1: 14, 71 Schamm, C. Bd. 1: 439–470, 553–601 Schapiro, M. Bd. 2: 1 f., 4 Scharschuch, V. H. Bd. 2: 646 Schaup, S. Bd. 2: 573 Schelbert, T. Bd. 1: 155, 273, 303–355 Bd. 2: 400 Schellbach-Kopra, I. Bd. 1: 313 Schelling, F. W. J. Bd. 1: 129 Bd. 2: 190 Schemschurin, A. Bd. 1: 36 Schenker, A. M. Bd. 1: 303 Bd. 2: 386 Scherber, P. Bd. 2: 517–526 Scherr, B. Bd. 1: 137, 691 Bd. 2: 50 Schiefner, A. Bd. 1: 312 f. Schiller, F. Bd. 1: 129 Bd. 2: 176
Namensregister
Schlauch, M. Bd. 1: 607, 613, 616, 620 Schlawe, F. Bd. 1: 287 Bd. 2: 85 Schlegel, A. W. Bd. 1: 183, 569 f., 634 f. Schlegel, G. Bd. 1: 308 Schleiermacher, F. D. E. Bd. 1: 510 Schlesier, G. Bd. 2: 145, 147, 224 Schmarsow, A. Bd. 1: 464, 466 Schmid, H. Bd. 1: 257 Schmidt, J. Bd. 1: 10, 13 Bd. 2: 139, 144, 151, 174, 209, 224 Schmidt-Bergmann, H. Bd. 1: 10, 13 Schmitz, K. H. Bd. 2: 176 Schneider, H. Bd. 1: 553–606 Schneider, R. Bd. 1: 368, 374 Schottmann, H.-H. Bd. 2: 181 Schrenk, J. Bd. 1: 696 Bd. 2: 80 Schützeichel, R. Bd. 2: 736 Schulze, B. Bd. 1: 509 Schwab, C. Th. Bd. 2: 146 f., 177, 193 f., 196, 198 f., 212 f., 220, 227 f. Schwab, G. Bd. 2: 147, 199, 213 Schwab, S. Bd. 2: 199
887
Schwarz, C. Bd. 1: 415–425, 657–669 Schweier, U. Bd. 1: 415–425, 657–669 Scott, D. Bd. 2: 3 Seabra, J. A. Bd. 2: 632 Searle, J. R. Bd. 1: 192 Sebeok, T. A. Bd. 1: 189, 206 Se´billet, T. Bd. 1: 588 f. Sedmidubsky´, M. Bd. 1: 391–414, 509 Bd. 2: 319–353 Segre, C. Bd. 1: 439 Seiler, H. Bd. 2: 549 Sˇejn, P. V. Bd. 1: 69, 77, 92, 96, 98, 350, 352, 354 Selisˇcˇev, A. M. Bd. 1: 343 Sena, J. de Bd. 2: 636, 675, 681 Seneca, L. A. d. J. Bd. 2: 739 Senneville, L. de Bd. 2: 297 Serpieri, A. Bd. 1: 567 Sˇersˇenevic, V. G. Bd. 1: 13 Sˇevcˇenko, T. Bd. 2: 410 Severini, G. Bd. 1: 524 Shakespeare, W. Bd. 1: 45, 160, 166 f., 174, 183 f., 199, 201, 522, 567 f., 607, 611, 623–655
888
Namensregister
Bd. 2: 7, 17, 217, 368, 563, 634 f., 683, 697, 776 Shannon, C. Bd. 2: 717 Shannon, Th. F. Bd. 2: 717 Shelley, P. B. Bd. 1: 178, 193 f. Bd. 2: 615 Shibatani, M. Bd. 1: 367 Shimomiya, T. Bd. 1: 386 Shinoda, M. Bd. 1: 375 Sibelius, J. Bd. 1: 312 Sidney, P. Bd. 1: 271, 567, 607–621 Bd. 2: 631 Sidorov, A. S. Bd. 1: 49 Sievers, E. Bd. 1: 148, 185, 559 Siluan Bd. 1: 268, 471–493, 495–508, 548 Bd. 2: 141, 331, 388, 415 Simeon (Stefan Nemanja) Bd. 1: 268, 471 f., 478, 481, 495– 508 Bd. 2: 141, 331 Simmons, D. C. Bd. 1: 176 Simo˜es, J. G. Bd. 2: 636 Simonelli, M. Bd. 1: 439 Simoni, P. K. Bd. 1: 321 Sinclair, I. v. Bd. 2: 190 f., 213, 229, 236 Sˇisˇkov, V. Bd. 1: 11
Sˇklovskij, V. B. Bd. 1: 6, 8, 14, 17, 36 f., 92, 127, 142, 221 Bd. 2: 109, 361, 780 Skribnik, E. Bd. 1: 303–355 Sla´dkovicˇ, A. Bd. 2: 322, 329 f. Slavejkov, P. Bd. 2: 423 Sławin´ski, J. Bd. 1: 218 Slonimskij, A. Bd. 1: 279 Słowacki, J. Bd. 1: 221, 226–228, 234 Bd. 2: 376 Slucˇevskij, K. K. Bd. 1: 101 Smart, C. Bd. 1: 306 Sˇmatla´k, S. Bd. 2: 319 Smetana, B. Bd. 1: 509 Smith, B. H. Bd. 1: 641 Soban’skaja, K. A. Bd. 1: 275 Sobolevskij, A. I. Bd. 1: 267, 336 Sömmerring, S. T. v. Bd. 2: 224 Sokolov, B. M. Bd. 1: 353 f. Bd. 2: 340 Sokolov, Ju. M. Bd. 1: 353 f. Sokolov, P. P. Bd. 2: 79, 94, 97 Sokrates Bd. 2: 222 Solodkin, J. G. Bd. 1: 657
Namensregister
Sologub, F. K. Bd. 1: 30 Solzˇenicyn, A. I. Bd. 1: 282 Spenser, E. Bd. 1: 619 Bd. 2: 615 Sperber, H. Bd. 1: 16 Sˇpet, G. Bd. 1: 8, 79 Spitzer, L. Bd. 1: 553 f., 557–561, 567, 571– 573, 580, 600 f. Spottiswoode, R. Bd. 1: 273 Sreznevskij. I. I. Bd. 1: 336 Staff, L. Bd. 2: 566 Stalin, I. V. (Dzˇugasˇvili, I. V.) Bd. 1: 282 Bd. 2: 528 Stanisˇeva, D. S. Bd. 2: 113 Stanislav, J. Bd. 2: 349 f. Stanislavskij, K. S. (Alekseev, K. S.) Bd. 1: 165 Starobinski, J. Bd. 1: 127, 133, 141, 329, 374, 458 f., 473, 485, 511 Bd. 2: 140 f., 726, 728 Stedman, E. C. Bd. 1: 238 Stegagno Picchio, L. Bd. 1: 326, 427 f. Bd. 2: 37, 631–668, 670 f., 674, 676–679, 681 Steinhart, W. L. Bd. 1: 311 Steinitz, W. Bd. 1: 189, 264 f., 312–315, 317, 323 f.
Bd. 2: 399, 687, 690 f., 713 Stepanov, N. Bd. 2: 496 Sterne, L. Bd. 1: 694 Bd. 2: 109 Stevens, W. Bd. 1: 204 Stieber, Z. Bd. 2: 380 Stojanov, Z. Bd. 2: 423, 426 Sˇtokmar, M. P. Bd. 1: 318 Stopp, H. Bd. 2: 733–788 Strang, B. Bd. 1: 641, 644 Bd. 2: 585, 721 Stravinsky, I. Bd. 1: 570 Bd. 2: 634 Strelka, J. P. Bd. 2: 489 Strindberg, A. Bd. 2: 211 Ströhlin, F. J. Bd. 2: 190 Sˇtu´r, L. Bd. 2: 323, 325, 346 Sˇubnikov, A. V. Bd. 1: 448 Bd. 2: 165, 461 Sumcov, N. F. Bd. 2: 341 Supprian, U. Bd. 2: 190, 197, 211, 217 Surrey, Henry Howard, Earl of Bd. 1: 627 Susˇil, F. Bd. 1: 146 Svejkovsky´, F. Bd. 1: 520
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Namensregister
Svetozarova, N. D. Bd. 2: 99 Svjatoslav Bd. 1: 398, 418 Swedenborg, E. Bd. 2: 311 Symons, A. Bd. 2: 576 Sytin, I. D. Bd. 1: 100 Szeftel, M. Bd. 1: 421 Tafani, G. Bd. 1: 428, 430 Takahashi, K. Bd. 1: 367 f. Tamir-Ghez, N. Bd. 2: 725 Taranovski, K. F. Bd. 1: 176, 303, 404, 409 f. Bd. 2: 77, 84, 116, 121 Tarski, A. Bd. 1: 167 Taylor, A. Bd. 1: 251 Bd. 2: 717 Tchang Tcheng-Ming, B. (Cheˆngming Chang) Bd. 1: 264, 308, 325 Bd. 2: 399 Te˙ffi, N. A. Bd. 1: 76 Tenji Bd. 1: 375 Teodosije Hilandarac Bd. 1: 496, 500 Terenz (Publius Terentius Afer) Bd. 1: 205 Bd. 2: 739 Terpin, S. Bd. 1: 439–468, 673–686 Tesnie`re, L. Bd. 1: 577 f., 582–586
Bd. 2: 28, 303, 313, 518 f., 522 f., 645, 652, 655 f., 759 f., 779 Teuber, B. Bd. 2: 251–287, 290, 733–788 Thom, R. Bd. 1: 597 f., 600 Bd. 2: 749 Thomas von Aquin Bd. 1: 194 Thompson, J. Bd. 1: 618 Thomson, J. Bd. 1: 160 Thorpe, T. Bd. 1: 628 Thoss, A. E. Bd. 2: 482 Thürmer, W. Bd. 2: 167, 201, 203 f., 219 Tieck, D. Bd. 1: 632 Tiktin, H. Bd. 2: 437 f. Timerding, H. E. Bd. 2: 206 Tjutcˇev, F. I. Bd. 1: 99, 101 Todorov, T. Bd. 2: 733 Tolstoj, A. K. Bd. 1: 42, 101 Tolstoj, L. N. Bd. 1: 35, 37, 45, 76, 91 f. Toman, H. Bd. 1: 510 Toman, J. Bd. 2: 320 Tomasˇevskij, B. V. Bd. 1: 128, 695 Bd. 2: 64, 111 Topalov, K. Bd. 2: 426 Toporov, V. N. Bd. 1: 412, 658, 669
Namensregister
Bd. 2: 508 Tred’jakovskij, V. K. Bd. 1: 103–105, 112, 704 Bd. 2: 46 Treichler, R. Bd. 2: 220 Trifunovic´, Ð. Bd. 1: 472, 474, 500 Triolet, E. Bd. 2: 403 Troyat, H. Bd. 2: 100 Trubetzkoy, N. S. (Trubeckoj, N. S.) Bd. 1: 161 Tschizˇewskij, D. I. Bd. 2: 453, 489 Tufanov, A. V. Bd. 1: 134 Turcˇa´ny, V. Bd. 2: 322 Tutenberg, B. Bd. 1: 691 f. Tuwim, J. Bd. 1: 221, 280 Bd. 2: 423 Twaddell, W. F. Bd. 1: 682 Tyard, P. de Bd. 1: 562, 576, 596 Tynjanov, Ju. N. Bd. 1: 7, 111, 160 Bd. 2: 496, 592 Tzara, T. Bd. 2: 23 Tzartzanos, A. Bd. 2: 549 Ugljesˇa Bd. 1: 477 Uhde, W. Bd. 2: 20 Uhland, L. Bd. 1: 251
Bd. 2: 198 f., 213 Unbegaun, B. O. Bd. 1: 495, 507 Undzˇiev, I. Bd. 2: 426 Undzˇieva, C. Bd. 2: 426 Unterecker, J. Bd. 2: 624 Urban, P. Bd. 1: 71 Urban´czyk, S. Bd. 2: 360 Uspenskij, B. A. Bd. 1: 46 Uspenskij, V. A. Bd. 1: 128 Va´clavı´k, A. Bd. 2: 341 Vajansky´, S. H. Bd. 2: 410 Vale´ry, P. A. Bd. 1: 186, 193 f., 205 Bd. 2: 419, 573 f. Valesio, P. Bd. 1: 305, 439–470, 567 Bd. 2: 461, 671 Vallier, D. Bd. 2: 20, 27 Varencov, V. I. Bd. 1: 336 Varnhagen von Ense, K. A. Bd. 2: 191 f. Vasilev, S. P. Bd. 2: 418 Vasmer, M. Bd. 1: 268, 398 Bd. 2: 124 Vasov, I. Bd. 2: 410, 423 Vavrˇinec von Brˇezova´ Bd. 1: 516
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Namensregister
Velde, L. van de Bd. 2: 140 Veljkovic´, M. Bd. 1: 477 Velycˇkovskyj, I. Bd. 1: 109 Vendler, H. Bd. 1: 624 f., 632 Veresaev, V. V. Bd. 1: 274 Vergerio, A. Bd. 1: 557 Vergil (Publius Vergilius Maro) Bd. 1: 704 Bd. 2: 264, 649, 728, 737 Verlaine, P. Bd. 2: 294, 576 Vertinskij, A. Bd. 1: 251 Veselovskij, A. N. Bd. 1: 25, 142, 144, 347 f., 352, 354 Vetranovic´, M. Bd. 1: 538 Vianey, J. Bd. 1: 557–559, 567, 589 Vianu, T. Bd. 2: 434, 436, 445 f. Vickery, W. N. Bd. 2: 115 Vie¨tor, K. Bd. 2: 202, 225, 229, 236 Vigny, A. de Bd. 2: 447 Villon, F. Bd. 2: 349 Vinken, B. Bd. 1: 554 Bd. 2: 253, 289–318 Vinogradov, V. V. Bd. 1: 34, 283 Bd. 2: 101 f., 126 Vinokur, G. O. Bd. 1: 4, 7, 70
Bd. 2: 510 Vjazemskij, P. A. Bd. 1: 18, 102 Bd. 2: 101, 111 Vladimir Bd. 1: 13, 392, 394, 394, 396–400, 403, 405, 410, 412 Vlahovic´, Sˇ. M. Bd. 1: 541 Vlcˇek, J. Bd. 2: 324, 346, 348 Vodnik, B. Bd. 1: 539 Voegelin, C. F. Bd. 1: 161 Vojvodı´k, J. Bd. 1: 509 Volosˇinov, V. N. Bd. 1: 520 Voltaire (Arouet, F. M.) Bd. 2: 447 Voncˇina, J. Bd. 1: 538, 540 Vongrej, P. Bd. 2: 325, 346 Vordtriede, W. Bd. 1: 677 Bd. 2: 617 Voroncov, A. R. Bd. 1: 690 Voß, J. H. Bd. 2: 581 Vroon, R. Bd. 1: 73 Vygotskij, L. S. Bd. 1: 698 Wagenknecht, C. Bd. 1: 169, 178, 180 f., 184 Bd. 2: 31, 36 f., 164, 166, 689, 707 Wagner, R. Bd. 2: 741 Waiblinger, W. Bd. 2: 144–146, 148, 155 f., 192– 196, 199, 210 f., 225, 227 f.
Namensregister
Wang, Li Bd. 1: 175 Warning, R. Bd. 2: 772 Warren, A. Bd. 1: 509 Waugh, L. R. Bd. 1: 195, 292, 385, 705 Bd. 2: 18, 52, 80, 422, 476–478, 717–731, 773 f. Weich, H. Bd. 1: 427–438 Weidle, W. Bd. 2: 780 Weintraub, W. Bd. 2: 375, 392, 453 Weiss, S. Bd. 1: 673–686 Weisskopf, V. Bd. 1: 136 f. Wellek, R. Bd. 1: 509 f. Bd. 2: 780 Wells, F. L. Bd. 2: 218 Wells, S. Bd. 1: 639 Wenzel II. Bd. 1: 224 Werth, E. Bd. 1: 195 Werth, P. Bd. 1: 272, 625 Bd. 2: 252, 734 Wesley, C. Bd. 1: 192 Westerwelle, K. Bd. 2: 254 Weyl, H. Bd. 1: 137, 329 Whitman, W. Bd. 1: 182 Bd. 2: 585
Whorf, B. L. Bd. 1: 196, 263, 281, 611 Bd. 2: 398, 574, 748 Wieland, C. M. Bd. 2: 145, 199 Wienold, G. Bd. 2: 780 Wiens, P. Bd. 2: 322 Wierzyn´ski, K. Bd. 1: 174, 232 Bd. 2: 7, 555–569 Wigner, E. P. Bd. 1: 449 Wild, T. Bd. 1: 439–468 Wildgruber, G. Bd. 2: 55–61 Wilkins, E. H. Bd. 1: 446 Wilson, E. Bd. 1: 245 Wilson, R. J. Bd. 2: 608 Wimsatt, W. K. Bd. 1: 174, 183, 187–189 Wolff, R. Bd. 2: 775 Woodberry, G. E. Bd. 1: 238 Wroczyn´ski, K. Bd. 1: 221 Wunderlich, D. Bd. 2: 251–284 Wyatt, T. Sir Bd. 1: 626 Wyka, K. Bd. 2: 383 f. Wyndham, G. Bd. 1: 630 ˆ tomo no Yakamochi, O Bd. 1: 373
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Namensregister
Yamaguchi, T. Bd. 1: 386 Yeats, W. B. Bd. 1: 128, 157, 380, 486 Bd. 2: 210, 395, 419, 528, 571– 630 Yngve, V. H. Bd. 1: 638 Bd. 2: 599 Yourcenar, M. Bd. 2: 542 Zachariae, J. F. W. Bd. 2: 228 Zaleski, B. Bd. 2: 376, 379, 391 Zaliznjak, A. A. Bd. 1: 416 Zareckij, A. Bd. 1: 283 Zemanek, E. Bd. 1: 439–470, 553–601, 623– 652 Zemła, M. Bd. 1: 217–236 Bd. 2: 355–374, 375–394, 555– 569
Ziemann, G. Bd. 1: 588 Zimmer, E. F. Bd. 2: 145 f., 191, 194 f., 197, 215, 226 f. Zingarelli, N. Bd. 1: 461 Zˇirmunskij, V. M. Bd. 1: 183, 314 f., 318 f., 345, 661 Bd. 2: 465 Zˇizˇka, J. Bd. 1: 285, 510, 520 Z˙o´łkiewski, S. Bd. 2: 780 Zosˇcˇenko, M. M. Bd. 1: 659 Zubaty´, J. J. Bd. 1: 75 Zˇupancˇicˇ, O. Bd. 2: 101, 517–526 Zvegincev, V. A. Bd. 1: 282 Zweig, A. Bd. 2: 688, 709 Z˙ygulski, Z. Bd. 2: 203 Zymner, R. Bd. 2: 707