Platon Werke: Übersetzung und Kommentar, Band 9, Teil 3, (Gesetze) Buch VIII XII [9.3] 9783525304358

Neue Übersetzung, Einführungen, ausführliche Erklärung und Einordnung in den Kontext der antiken politischen Theorie und

136 42 56MB

German Pages 659 [667] Year 2011

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
ÜBERSETZUNG
Kommentar
Elftes Buch
Zehntes Buch
Neuntes Buch
Achtes Buch
Zwölftes Buch
Literatur- und Abkürzungsverzeichnis zum vorliegenden Band
Corrigenda zu den ersten beiden Bänden des Kommentars (I/II)
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Platon Werke: Übersetzung und Kommentar, Band 9, Teil 3, (Gesetze) Buch VIII XII [9.3]
 9783525304358

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PLATON Werke Übersetzung und Kommentar

Im Auftrag der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz herausgegeben von Ernst Heitsch, Carl Werner Müller und Kurt Sier

IX 2 Nomoi (Gesetze)

Vandenhoeck & Ruprecht

PLATON Nomoi (Gesetze) Buch VIII – XII

Ûbersetzung und Kommentar von Klaus Schöpsdau

Vandenhoeck & Ruprecht

Gedruckt mit Unterstützung der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-30435-8 ISBN 978-3-647-30435-9 (E-Book)

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Oakville, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Gesamtherstellung: h Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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8. Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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9. Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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10. Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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11. Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 12. Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Inhalt und Gliederung der Bücher VIII – XII und des Kommentars . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Kommentar zum 8. Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Kommentar zum 9. Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Kommentar zum 10. Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 Kommentar zum 11. Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 Kommentar zum 12. Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 524 Literaturverzeichnis zum vorliegenden Band . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 607 Register zum gesamten Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 637 1. Abweichungen von Burnets Textgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . 637 2. Namen und Sachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 646 3. Griechische Wörter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 655 4. Sprachlich-Stilistisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 657 Corrigenda zu Band I und II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 659

Vorwort

Dieser abschließende Band der kommentierten Übersetzung von Platons Nomoi, der die Bücher VIII–XII umfaßt, enthält mit den Vorschriften für das sexuelle Verhalten, mit dem Strafrecht (Buch IX) und mit der im Asebie-Strafgesetz entwickelten Gotteslehre (Buch X) sowie mit der Einsetzung der Nächtlichen Versammlung (Buch XII Ende) Texte, die für die politische Philosophie und die Theologie des späten Platon von grundlegender Bedeutung sind und daher eine ausführliche Kommentierung mit Berücksichtigung und Darlegung des jeweiligen Forschungsstandes erforderten. Zwischen diesen Texten stehen spröde Gesetzestexte, die mit detaillierten Vorschriften alle Bereiche des privaten und öffentlichen Lebens in der geplanten Stadt reglementieren (vgl. die Übersicht S. 163 ff.). In diesen Fällen war es wie in den vorausgehenden Bänden Ziel des Kommentars, nicht nur den Wortlaut der platonischen Gesetze zu deuten und zu erklären, sondern auch nach Möglichkeit durch Heranziehen zeitgenössischer Rechtsquellen die Eigenart der platonischen Rechtsetzung sichtbar zu machen. Ich hoffe, daß mir dies mit Hilfe der umfangreichen rechtshistorischen Literatur zum griechischen Recht und zu Platon so weit gelungen ist, wie dies von einem rechtswissenschaftlichen Laien billigerweise erwartet werden darf. Meine Beschäftigung mit Platons Nomoi begann vor über drei Jahrzehnten mit einer durchgreifenden Bearbeitung der Übersetzung von Hieronymus Müller (1859), die 1977 bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft in Darmstadt erschien; ihr lag der griechische Text von Des Places und Diès zugrunde. Daß ich seither im Zuge eines vertieften Eindringens in den Text manche früher vertretene Auffassung modifizieren mußte, sollte angesichts der zahlreichen nicht definitiv lösbaren Textprobleme niemanden überraschen. So nähert sich die der vorliegenden Übersetzung zugrunde gelegte Textfassung wieder stärker dem Text der Ausgabe von Burnet an. Gegenüber der im zweiten Band dieses Kommentars vertretenen Auffassung (vgl. Bd. II S. 435) ist mir die Existenz eines Volksgerichtes in Magnesia inzwischen zweifelhaft geworden (vgl. S. 566 f.). Ferner läßt sich im Hinblick auf die Tätigkeit der Nächtlichen Versammlung die in Bd. II S. 440 angenommene grundsätzliche Unver-

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Vorwort

änderbarkeit der einmal fixierten Gesetze m. E. so nicht mehr aufrechterhalten. – Keine Meinungsänderung, sondern ein ärgerliches Versehen ist allerdings das Fehlen der Euthynen unter den Mitgliedern der Nächtlichen Versammlung in dem Verfassungsschema in Bd. II S. 353 (ein berichtigtes Schema findet sich am Ende des vorliegenden Bandes). Beim Korrekturlesen für diesen Band haben mich Herr cand. phil. Christian Helfenstein und Frau cand. phil. Hannah Noll unterstützt, wofür ich Ihnen zu großem Dank verpflichtet bin. Meine Frau hat die mit der Arbeit an den Nomoi verbundene jahrelange Einschränkung der für die Familie verbleibenden Zeit mit großem Verständnis hingenommen und mir in selbstloser Weise den zum Arbeiten erforderlichen Freiraum ermöglicht. Hierfür sage ich ihr auch an dieser Stelle herzlichen Dank. Saarbrücken, im Juli 2011

Klaus Schöpsdau

ÜBERSETZUNG

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ATH. Daran anschließend müssen wir Feste anordnen und sie gesetzlich regeln, und zwar mit Hilfe der Orakelsprüche aus Delphi, die uns angeben, welche Opfer und welchen Göttern zu opfern für die Stadt besser und vorteilhafter ist. Wann diese aber darzubringen sind und wie groß deren Anzahl sein soll, dies gesetzlich zu regeln wird vielleicht unsere Aufgabe sein, wenigstens für einige von ihnen. KL. Wahrscheinlich müssen wir ihre Anzahl regeln. ATH. So wollen wir denn zuerst ihre Anzahl angeben. Es soll nämlich nicht weniger als dreihundertfünfundsechzig Feste geben, damit ständig wenigstens eine Behörde einem der Götter oder Dämonen für die Stadt und die Bürger und deren Besitz opfert. Zu diesem Zweck sollen die Ausleger, die Priester und Priesterinnen und die Seher mit den Gesetzeswächtern zusammenkommen und das regeln, was der Gesetzgeber zwangsläufig beiseite lassen muß. Und eben das zu erkennen, was beiseite geblieben ist, ist denn auch Aufgabe dieser selben Leute. Das Gesetz wird nämlich verkünden, daß es zwölf Feste für die zwölf Götter geben soll, nach denen jede Phyle jeweils benannt ist; einem jedem von diesen soll man monatliche Opfer darbringen mit Chören und musischen Wettbewerben, teils auch mit gymnischen, die man den Göttern selbst und der jeweiligen Jahreszeit so zuweist, wie es ihnen angemessen ist; ebenso soll man Feste für Frauen anordnen und angeben, welche unter Ausschluß der Männer zu begehen sind und welche nicht. Auch darf man den Kult der Unterirdischen nicht mit dem der Götter, die als himmlische zu bezeichnen sind, und der diesen folgenden Wesen vermischen, sondern muß ihn davon trennen, indem man ihn in den Monat Plutons, also den zwölften, gemäß dem Gesetz verweist; und kriegerische Menschen dürfen keine Abneigung gegen einen solchen Gott haben, sondern müssen ihn ehren in der Überzeugung, daß er für das Menschengeschlecht die beste Gottheit ist. Denn die Verbindung von Seele und Leib ist in keiner Weise besser als ihre Trennung, wie ich im Ernst behaupten möchte. Außerdem müssen diejenigen, die auf diesem Gebiet eine befriedigende Einteilung vornehmen wollen, noch folgende Überlegung anstellen: Unsere Stadt ist hinsichtlich der freien Zeit und der Ausstattung mit allem Notwendigen so beschaffen, wie man unter den heutigen keine zweite finden kann; sie muß aber auch, wie ein einzelner Mensch, gut leben.

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Für die, die glücklich leben, ist aber die erste notwendige Voraussetzung die, daß sie weder einander Unrecht zufügen noch von anderen Unrecht erleiden. Hiervon ist das eine nicht besonders schwer; aber die Fähigkeit, kein Unrecht zu erleiden, ist sehr schwer zu erwerben, und sie vollkommen zu erwerben, ist nicht anders möglich, als indem man vollkommen gut wird. Dieselbe Voraussetzung gilt nun auch für eine Stadt: wenn sie sich als gut erweist, so wird ihr ein friedliches Leben zuteil; ein kriegerisches aber nach außen und innen, wenn sie sich als schlecht erweist. Da sich dies etwa so verhält, muß sich jeder nicht erst im Krieg auf den Krieg vorbereiten, sondern während des Lebens im Frieden. Daher muß eine Stadt, die Vernunft besitzt, in jedem Monat mindestens an einem Tag ins Feld ziehen, ja sogar mehrere Tage, je nachdem, wie es den Beamten gut scheint, ohne Frost oder Hitze zu scheuen, und die Männer zusammen mit den Frauen und Kindern, falls die Beamten beschließen, die ganze Bevölkerung ausrücken zu lassen, manchmal aber auch in einzelnen Abteilungen. Auch muß man jeweils bestimmte schöne Spiele in Verbindung mit den Opferfeiern erfinden, damit sozusagen ‚festliche‘ Kämpfe stattfinden, die die kriegerischen Kämpfe möglichst getreu nachahmen. Und Siegespreise und Auszeichnungen soll man jeweils an die Sieger verteilen und Loblieder und Rügelieder aufeinander dichten, je nachdem, wie sich einer jeweils in den Wettkämpfen und im gesamten Leben bewährt hat, indem man den, der sich als der Beste erweist, auszeichnet und den andern tadelt. Dichter solcher Lieder soll aber nicht jeder sein, sondern nur wer erstens nicht jünger als 50 Jahre ist und sodann nicht zu denen gehört, die zwar genügend dichterisches und musisches Talent in sich tragen, aber noch niemals eine schöne und glänzende Tat vollbracht haben. Wer aber selber gut und geehrt in der Stadt ist, weil er schöne Taten hervorgebracht hat, dessen Dichtungen soll man singen, auch wenn sie keine musikalischen Qualitäten aufweisen. Die Entscheidung hierüber soll bei dem Erzieher und den anderen Gesetzeswächtern liegen, die ihnen dies als Vorrecht zugestehen, daß sie allein auf dem Gebiet der Musenkunst völlige Freiheit haben, während die anderen keinerlei Erlaubnis dazu erhalten und es niemand wagen darf, ein nicht genehmigtes Lied ohne Prüfung durch die Gesetzeswächter vorzutragen, selbst wenn es lieblicher klänge als die Hymnen des Thamyras und des Orpheus, sondern nur solche Gedichte, die für heilig erklärt und den Göttern geweiht worden sind, und solche Rüge- und Loblieder, die von guten Männern gedichtet und deren Rüge und Lob für angemessen befunden worden ist. Dieselben Bestimmungen aber, behaupte ich, müssen bezüglich des Militärdienstes und der dichterischen Freiheit für die Frauen und die Männer gleichermaßen gelten.

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Der Gesetzgeber muß aber folgendes bedenken und sich durch vernünftige Überlegung klarmachen: Nun, was für Leute will ich eigentlich heranbilden, sobald ich meine Stadt ganz eingerichtet habe? Nicht etwa Athleten für die bedeutendsten Kämpfe, denen Tausende von Kämpfern gegenüberstehen? – Gewiß, müßte man richtigerweise antworten. – Und weiter: Wenn wir Faustkämpfer oder Pankratiasten heranbildeten oder Athleten für sonst einen Wettkampf dieser Art, würden wir uns da wohl in den eigentlichen Kampf begeben, ohne in der Zeit davor täglich mit jemandem zu kämpfen? Oder wenn wir Faustkämpfer wären, würden wir da nicht sehr viele Tage vor dem Wettkampf die Kampftechnik erlernen und uns darin abmühen, indem wir all das nachahmen, was wir später anwenden müssen, wenn wir um den Sieg kämpfen, und würden wir uns nicht, um die Ähnlichkeit möglichst weit zu treiben, statt der Boxriemen Bälle um die Hände binden, um die Schläge und das Ausweichen vor Schlägen möglichst angemessen einzuüben? Und wenn es uns einmal an Übungspartnern zu sehr fehlen sollte, würden wir da etwa aus Furcht vor dem Gelächter der unverständigen Leute nicht den Mut haben, eine leblose Puppe aufzuhängen und an ihr zu trainieren? Ja, wenn wir einmal völlig ohne jeden lebenden oder leblosen Gegner wären, würden wir da bei dem Mangel an Übungspartnern nicht den Mut haben, gegen uns selbst im wahrsten Sinne des Wortes einen Schattenboxkampf zu kämpfen? Oder als was sonst könnte man die Übung im Schwingen der Fäuste bezeichnen? KL. Kaum für etwas anderes, Fremder, als für eben das, was du gerade gesagt hast. ATH. Und weiter: Soll die Streitmacht unserer Stadt wirklich schlechter vorbereitet als solche Kämpfer sich jeweils in den größten aller Kämpfe wagen, um für das Leben und die Kinder, für Hab und Gut und die ganze Stadt zu kämpfen? Und wird also ihr Gesetzgeber aus Furcht, diese gegenseitigen Übungen könnten jemandem lächerlich erscheinen, sie etwa nicht gesetzlich anordnen und nicht befehlen, daß möglichst jeden Tag die kleineren Feldübungen ohne Waffen stattfinden, und wird auch die Chöre und die gesamte Gymnastik auf dieses Ziel hin ausrichten? Was aber gleichsam die größeren Formen der „Gymnastik“ betrifft, so wird er doch anordnen, daß sie mindestens in jedem Monat durchgeführt werden, wobei die Bürger untereinander Wettkämpfe im ganzen Land veranstalten sollen und in der Einnahme von festen Plätzen und im Legen von Hinterhalten miteinander wetteifern und überhaupt das ganze Kriegshandwerk nachahmen und sich einen wirklichen Kampf mit abgestumpften Speeren liefern sollen und mit Würfen, die den wirklichen möglichst nahe kommen, indem sie nicht ganz ungefährliche Geschosse verwenden, damit das gemeinsame Spiel nicht völlig harmlos ist, sondern Ängste einflößt und bis zu einem gewissen Grade erkennen läßt,

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wer ein tapferes Herz hat und wer nicht, und damit der Gesetzgeber den einen Ehren, den anderen aber Entehrungen in der rechten Weise zuerkennt und dadurch die ganze Stadt für den wahren lebenslangen Kampf tüchtig macht? Und selbst wenn einer auf diese Weise ums Leben kommt, wird er da nicht in der Annahme, daß die Tötung unfreiwillig erfolgte, festsetzen, daß der Täter, sobald er sich nach dem Gesetz gereinigt hat, rein an seinen Händen ist, weil er davon überzeugt ist, sofern nicht allzu viele Menschen dabei sterben, würden wieder andere und keine schlechteren Menschen dafür nachwachsen; wenn aber in allen derartigen Übungen die Furcht gleichsam gestorben wäre, so werde er keinen Prüfstein mehr finden können, um die Besseren und die Schlechteren zu ermitteln, was für eine Stadt ein viel schlimmeres Übel als jenes wäre? KL. Wir jedenfalls würden zugeben, Fremder, daß eine jede Stadt solche Übungen anordnen und durchführen muß. ATH. Kennen wir nun auch alle die Ursache, weshalb es heute in den Städten einen derartigen Chortanz und Wettkampf fast überhaupt nicht gibt, außer in ganz bescheidenem Maße? Oder sollen wir sagen, dies sei so wegen der Unwissenheit der großen Menge und derer, die ihnen ihre Gesetze geben? KL. Vielleicht. ATH. Keineswegs, mein beneidenswerter Kleinias; wir müssen vielmehr hierfür zwei andere und zwar sehr triftige Ursachen verantwortlich machen. KL. Welche denn? ATH. Die eine rührt von der Liebe zum Reichtum her, welche die ganze Zeit so ausfüllt, daß sie keine Muße mehr läßt, sich um etwas anderes zu kümmern als um den eigenen Besitz; wenn aber an diesem die ganze Seele eines jeden Bürgers hängt, dann kann sie sich wohl nie um etwas anderes kümmern als um den täglichen Profit; und eine Kenntnis oder auch eine Tätigkeit, die dahin führt, ist jeder aus eigenem Interesse sofort bereit sich anzueignen bzw. sie auszuüben; die anderen dagegen verlacht er. Dies wäre also das eine und dies muß man als eine Ursache davon ansehen, daß eine Stadt weder diese noch sonst eine gute und schöne Tätigkeit ernsthaft betreibt, sondern daß jedermann wegen seiner unersättlichen Gier nach Gold und Silber sich jedes Gewerbe und jedes Mittel, mag es noch so schön oder unanständig sein, gerne gefallen läßt, wenn er dadurch reich werden kann, und daß er jede Handlung ausführt, mag sie fromm oder unfromm oder ganz schändlich sein, ohne dabei die geringsten Skrupel zu empfinden, wenn er nur die Möglichkeit erhält, wie ein Tier alles mögliche zu essen und ebenso zu trinken und sich jede erdenkliche Befriedigung seiner sexuellen Gelüste zu verschaffen.

Achtes Buch KL.

Richtig. Dies also, was ich hier sage, soll als die eine Ursache gelten, die es verhindert, daß die Städte überhaupt irgend etwas Schönes und so auch die kriegerischen Übungen in ausreichendem Maß betreiben, sondern die vielmehr Kaufleute, Schiffsreeder und überhaupt Leute mit dienender Funktion aus den bedächtigeren Naturen unter den Menschen macht, während sie die tapferen zu Seeräubern, Einbrechern,Tempelräubern, zu kriegslüsternen und tyrannischen Menschen macht, zu Leuten also, die manchmal durchaus nicht schlecht veranlagt, aber unglücklich sind. KL. Wie meinst du das? ATH. Wie sollte ich sie denn nicht als ganz unglücklich bezeichnen, da sie gezwungen sind, ihr Leben lang in ihrer Seele ständig Hunger zu leiden? KL. Das wäre also die eine Ursache; worin siehst du aber die zweite Ursache, Fremder? ATH. Gut, daß du mich daran erinnerst. KL. Dies also ist die eine, sagst du, die lebenslange unstillbare Begierde, die jeden völlig in Beschlag nimmt und so verhindert, daß alle die mit dem Krieg zusammenhängenden Übungen in der rechten Weise durchführen. Mag es denn so sein! Aber gib nun auch die zweite Ursache an. ATH. Meinst du, ich würde sie aus Verlegenheit nicht nennen, sondern damit zögern? KL. Nein; sondern uns scheint, daß du aus einer Art Haß heraus eine solche Gesinnung schärfer geißelst, als es unser jetziges Thema erfordert. ATH. Ihr habt sehr recht mit eurem Vorwurf, Freunde. Und so hört denn das Weitere, wie es sich gebührt. KL. Sprich nur. ATH. Ich behaupte, daß die Pseudo-Verfassungen daran schuld sind, die ich in unserem früheren Gespräch mehrmals erwähnt habe, nämlich die Demokratie, die Oligarchie und die Tyrannis. Von diesen ist nämlich keine einzige eine Verfassung, sondern am richtigsten würde man sie alle als Parteiherrschaften bezeichnen; denn keine herrscht freiwillig über freiwillige Bürger, sondern jede herrscht nach ihrem eigenen Willen über Bürger gegen deren Willen mit steter Anwendung einer Art von Zwang; da aber der Herrschende sich vor dem Beherrschten fürchtet, wird er es wohl nie freiwillig zulassen, daß dieser schön oder reich oder stark oder tapfer oder überhaupt ein kriegerischer Mann wird. Dies also sind die beiden entscheidenden Ursachen fast aller Übel, besonders aber derer, um die es hier geht. Unsere gegenwärtige Verfassung aber, die wir durch unsere Gesetzgebung entwerfen, hat beides vermieden; denn einerseits ATH.

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wird die Bürgerschaft ein Höchstmaß an freier Zeit haben, andererseits sind die Bürger von einander unabhängig; geldgierig aber werden sie, glaube ich, infolge dieser Gesetze wohl am wenigsten werden; daher dürfte nach aller vernünftigen Wahrscheinlichkeit eine derartige Verfassungsform als einzige unter den heutigen Verfassungen Raum bieten für die dargelegte Einheit von kriegerischer Erziehung und kriegerischem Spiel, wie wir sie in unserem Gespräch richtig durchgesprochen haben. KL. Schön. ATH. Sollten wir nun nicht als nächstes für alle gymnischen Wettkämpfe daran erinnern, daß man von diesen alle diejenigen, die eine Vorübung für den Krieg darstellen, eifrig betreiben und Siegespreise für sie aussetzen soll, die aber, bei denen dies nicht der Fall ist, beiseite lassen soll? Welche das aber sind, das wird besser gleich zu Beginn gesagt und gesetzlich festgelegt. Und als erstes sind doch die Wettkämpfe im Laufen und überhaupt in der Schnelligkeit zu regeln? KL. Ja. ATH. Jedenfalls ist das Wichtigste im Krieg die allseitige Behendigkeit des Körpers, einmal die der Füße, sodann auch die der Hände: zum Fliehen und Einholen die der Füße; während das Handgemenge und der Nahkampf Kraft und Stärke erfordert. KL. Gewiß. ATH. Aber ohne Waffen bringt keine der beiden den höchsten Nutzen. KL. Wie sollten sie auch! ATH. Den Stadionläufer soll also unser Herold, wie heutzutage üblich, als ersten bei den Wettkämpfen aufrufen. Er soll in Waffen antreten; für einen unbewaffneten Wettkämpfer werden wir keine Preise aussetzen. Als erster wird also der antreten, der das Stadion einmal in Waffen durchlaufen soll, als zweiter, wer den Doppellauf, als dritter, wer die Pferdestrecke, und als vierter endlich, wer die lange Strecke zurücklegen soll; aber auch noch ein fünfter, den wir als ersten in Waffen hinausschicken werden auf eine Strecke von 60 Stadien zu einem Heiligtum des Ares und wieder zurück, der in schwererer Rüstung (weshalb wir ihn als Hopliten bezeichnen) auf ebenerem Weg läuft, während der zweite (den wir als Schützen bezeichnen) in voller Schützenrüstung, dafür aber eine Strecke von hundert Stadien zu einem Heiligtum des Apollon und der Artemis durch Berge und Gelände aller Art laufen soll. Und während wir den übrigen Wettkampf ausrichten, werden wir auf diese warten, bis sie zurückkommen, und dann dem Sieger in jedem Lauf den Siegespreis überreichen. KL. Richtig. ATH. Wir wollen uns nun diese Wettkämpfe in drei Arten eingeteilt denken, eine für die Knaben, eine für die noch bartlosen Jünglinge und eine

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für die Männer. Und für die Läufe der Jünglinge wollen wir zwei Drittel der Laufstrecke festsetzen, für die Knaben die Hälfte davon, einerlei, ob sie als Bogenschützen oder als Hopliten um die Wette laufen. Was ferner die Frauen betrifft, so wollen wir für die noch nicht heiratsfähigen Mädchen, die nackt antreten sollen, die einfache und die doppelte Stadionlänge, die Pferdestrecke und die lange Strecke vorschreiben, wobei sie nur im bloßen Laufen miteinander wetteifern sollen; den Mädchen von dreizehn Jahren aber bis zur Heirat soll die Teilnahme höchstens bis zum zwanzigsten und mindestens bis zum achtzehnten Lebensjahr zur Pflicht gemacht sein; diese sollen in passender Kleidung zum Wettkampf in diesen Läufen antreten. Für die Laufwettbewerbe der Männer und Frauen sei dies also festgesetzt. Was aber die Wettbewerbe in der Körperkraft betrifft, so wollen wir anstatt des Ringens und ähnlicher Sportarten, die heute zu den schweren Disziplinen zählen, den Kampf in Waffen einführen, wobei einer gegen einen kämpft und zwei gegen zwei und so weiter bis zu zehn gegen zehn miteinander kämpfen. In der Frage aber, welche Hiebe einer nicht empfangen darf und welche er austeilen muß, um Sieger zu werden, und bis zu welcher Zahl, wollen wir verfahren wie heutzutage beim Ringkampf: wie dort die Fachleute in eben dem Ringen festgesetzt haben, worin die Leistung eines guten oder eines schlechten Ringers besteht, in derselben Weise müssen wir auch die Fachleute im Waffenkampf herbeirufen und sie auffordern, zusammen mit uns gesetzlich festzulegen, wer mit Recht als Sieger in diesen Kämpfen gelten darf, welche Hiebe er hierzu nicht empfangen haben darf und welche er ausgeteilt haben muß, und ebenso, welche Regel über die Niederlage entscheidet. Dieselben Bestimmungen sollen auch für die weiblichen Teilnehmerinnen gelten, die noch unverheiratet sind. Den Kampf in leichten Waffen wollen wir in seinem gesamten Umfang an die Stelle des Pankrations setzen, so daß die Teilnehmer mit Bogen und Schilden, mit Speeren und Steinwürfen aus der Hand und mit der Schleuder kämpfen, und müssen auch hierfür Gesetze aufstellen und dem, der diesen Bestimmungen am besten genügt, den Preis und den Sieg zuerkennen. Als nächstes kämen nun die Gesetzesbestimmungen für die Wettkämpfe zu Pferd an die Reihe. An Pferden haben wir allerdings weder in großer Zahl noch in großem Maße Bedarf, jedenfalls hier in Kreta, so daß zwangsläufig auch das Interesse an Pferdezucht und an Pferdewettkämpfen geringer ist. Ein Wagengespann gar unterhält überhaupt niemand bei uns, und so wird sich auch bei niemandem ein Ehrgeiz in dieser Richtung entwickeln, der der Rede wert wäre; wenn wir daher für etwas, das nicht landesüblich ist, Wettbewerbe einrichten wollten, hätten wir keinen Ver-

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stand und würden auch nicht den Eindruck machen, als besäßen wir solchen. Wenn wir aber für einzelne Pferde Preise aussetzen würden, und zwar sowohl für Fohlen, die noch nicht ihre ersten Zähne verloren haben, als auch für Pferde von mittlerem Alter zwischen ausgewachsenen Pferden und jenen Fohlen und schließlich für eben die ausgewachsenen Tiere, so würden wir damit wohl das Reiterspiel gemäß der Natur des Landes gestalten. So soll es denn hierein für sie von Gesetzes wegen einen Wettkampf und Wettstreit geben, und den Phylarchen und den Hipparchen soll gemeinsam die Entscheidung über all diese Laufwettbewerbe anvertraut sein und über die, die in Waffen daran teilnehmen; wollten wir aber für Unbewaffnete Wettkämpfe ansetzen, so wäre das weder bei den gymnischen Übungen noch hier eine richtige gesetzliche Bestimmung. Als Bogenschütze zu Pferd allerdings ist der Kreter nicht ohne Nutzen und auch nicht als Speerwerfer; darum soll es auch darin um des sportlichen Vergnügens willen einen Wettstreit und Wettkampf geben. Die Frauen aber hierbei durch Gesetze und Befehle zur Teilnahme zu zwingen, wäre nicht angemessen; wenn aber infolge des vorangehenden und ihnen zur Gewohnheit gewordenen Trainings ihre Natur es zuläßt und sich nicht dagegen sträubt, daß sie als Mädchen oder Jungfrauen daran teilnehmen, so soll man sie lassen und sie nicht tadeln. Die Wettkämpfe also und die Unterweisung in der Gymnastik sowie alle die Anstrengungen, denen wir uns in den Wettkämpfen und denen wir uns täglich in den Schulen zu unterziehen haben, haben damit bereits ihren Abschluß erhalten. Und ebenso ist auch von der Musik das meiste bereits zu Ende gebracht worden; was aber die Rhapsoden und ihnen verwandte Künstler betrifft und all die Wettbewerbe von Chören, die bei den Festen stattfinden müssen, so sollen sie erst dann, wenn für die Götter und die Wesen in ihrem Gefolge die Monate, Tage und Jahre festgelegt sind, eingerichtet und entschieden werden, ob die Feste in zweijährigem Abstand oder alle vier Jahre stattfinden sollen oder welche Art der Anordnung auch immer die Götter in den Sinn geben mögen. Dann darf man erwarten, daß auch die musischen Wettbewerbe in der richtigen Reihenfolge stattfinden, sobald sie von den Kampfrichtern, dem Erzieher der Jugend und den Gesetzeswächtern angeordnet sind, die zu eben diesem Zweck gemeinsam zusammenkommen und selber zu Gesetzgebern bezüglich der Frage werden sollen, wann und welche Leute und mit wem zusammen diese die Wettbewerbe in allen Chören und Reigentänzen durchführen sollen. Wie es aber dabei jeweils mit dem Text und den Liedern und den Harmonien zu halten ist, die sich mit den Rhythmen und den Tanzbewegungen verbinden, das ist bereits mehrmals von dem ersten Gesetzgeber gesagt worden, und danach müssen sich die zweiten Gesetzgeber bei ihren Anord-

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nungen richten und die Wettbewerbe jeweils den einzelnen Opferfesten zur angemessenen Zeit zuweisen und so der Stadt Feste zum Feiern verschaffen. Bei diesen und sonstigen Gegenständen dieser Art ist es also nicht schwer zu erkennen, in welcher Weise sie eine gesetzliche Regelung erhalten sollen; und wenn daran hier und da etwas geändert wird, dürfte dies der Stadt weder großen Vorteil noch großen Schaden bringen. Was jedoch von nicht geringer Bedeutung ist, wozu aber die Leute nur schwer zu überreden sind, das wäre am ehesten eine Aufgabe für einen Gott, sofern es nur möglich wäre, daß von ihm unmittelbare Befehle ausgingen; so aber scheint es dazu eines unerschrockenen Mannes zu bedürfen, der ein offenes Wort besonders hochschätzt und deshalb ausspricht, was ihm als das Beste für eine Stadt und ihre Bürger erscheint, der mitten unter verdorbenen Seelen anordnet, was sich schickt und mit der gesamten Verfassung im Einklang steht, der mit seinen Worten den größten Begierden entgegentritt und da er in keinem Menschen einen Helfer hat, als einziger einzig der Vernunft folgt. KL. Welches Thema, Fremder, haben wir denn nun wieder zu besprechen? Denn wir verstehen das noch nicht. ATH. Das ist nur natürlich. Aber ich will versuchen, es euch noch deutlicher zu sagen. Als ich nämlich in meiner Rede auf die Erziehung zu sprechen kam, da sah ich vor mir junge Männer und junge Mädchen freundschaftlich miteinander verkehren. Da überkam mich, wie natürlich, Furcht, indem ich bedachte, wie man es mit einer solchen Stadt halten soll, in der die jungen Männer und jungen Mädchen gut genährt sind, aber von harten und unedlen Anstrengungen, die ja den Übermut am besten ersticken, frei sind, dafür aber Opfer und Feste und Reigentänze allen das ganze Leben hindurch am Herzen liegen. Auf welche Weise werden sie sich denn in dieser Stadt jemals von denjenigen Begierden fernhalten können, die viele Menschen vielfach ins äußerste Verderben stürzen und von denen sich fernzuhalten die Vernunft gebietet, die zum Gesetz werden will? Und bei den meisten Begierden wäre es kein Wunder, wenn die bisher erlassenen Gesetzesbestimmungen ihrer Herr würden. Denn daß es nicht möglich ist, übermäßig reich zu sein, ist kein geringer Gewinn für das Besonnensein, und auch die ganze Erziehung ist mit Gesetzen bedacht worden, die einem solchen Ziel angemessen sind, und außerdem hält das Auge der Beamten, da es genötigt ist, nach nichts anderem zu schauen, sondern stets hierauf zu sehen und auf eben die jungen Leute, die andern Begierden, soweit es menschenmöglich ist, unter Kontrolle. Was nun aber die Leidenschaften der Liebe zu Jugendlichen männlichen oder weiblichen Geschlechts betrifft und von Männern zu Frauen und von Frauen zu Männern, woraus ja schon tausendfaches Unglück für

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die Menschen persönlich und für ganze Städte entstanden ist: wie könnte man dies verhüten und welches Heilkraut müßte man pflücken, um für diese alle einen Fluchtweg aus einer solchen Gefahr zu finden? Das ist keineswegs leicht, Kleinias. Denn während uns sonst in nicht wenigen Fällen Kreta und Lakedaimon freundlicherweise eine nicht geringe Hilfe leisten, wenn wir Gesetze geben, die von den meisten Gewohnheiten abweichen, so befinden sie sich doch in Fragen der Liebe – wir sind ja unter uns – in völligem Gegensatz zu uns. Denn wenn einer sich an die Natur halten und das vor Laios gültige Gesetz wieder aufstellen wollte und behaupten würde, es sei richtig gewesen, sich mit Männern und Jugendlichen nicht wie mit Frauen zum Geschlechtsverkehr zu vereinigen, und wenn er als Zeugnis hierfür die Natur der Tiere anführen und darauf hinweisen würde, daß zu einem solchen Zweck kein Männchen ein Männchen berührt, weil das nicht der Natur gemäß wäre, so brächte er damit vermutlich ein überzeugendes Argument vor und würde sich dennoch keineswegs mit euren Städten im Einklang befinden. Außerdem ist das, worauf der Gesetzgeber unserer Meinung nach bei allem zu achten hat, hiermit nicht vereinbar. Denn wir untersuchen doch immer, welche unserer Bestimmungen zur Tugend führt und welche nicht. Nun also: wenn wir erlauben würden, dieses Verhalten als etwas Schönes oder keineswegs Schändliches jetzt gesetzlich anzuordnen, welchen Beitrag zur Tugend würde dies dann leisten? Wird es in der Seele dessen, der sich verführen läßt, eine Haltung der Tapferkeit oder in der des Verführers eine besonnene Wesensart erzeugen? Oder wird sich niemand je zu dieser Meinung verführen lassen, sondern ganz im Gegenteil: dem, der der Lust nachgibt und nicht standhalten kann, wird jedermann Schlaffheit vorwerfen und an dem, der sich zur Nachahmung des weiblichen Geschlechts hergibt, die Ähnlichkeit des Abbilds tadeln? Welcher Mensch wird nun dies, wenn es damit so steht, gesetzlich anordnen? Wohl keiner, jedenfalls wenn er in seinem Geist das wahre Gesetz trägt. Wie können wir nun dies als wahr erweisen? Das Wesen der Freundschaft sowie des Begehrens und der sogenannten Liebesleidenschaften muß man betrachten, wenn man hier zu einer richtigen Auffassung gelangen will. Denn es gibt davon zwei Arten und aus beiden gemischt noch eine dritte; der Umstand aber, daß sie alle eine einzige Bezeichnung umfaßt, verursacht die ganze Verwirrung und Dunkelheit. KL. Wieso? ATH. Befreundet nennen wir doch das Ähnliche mit dem an Tugend Ähnlichen und das Gleiche mit dem Gleichen; befreundet anderseits aber auch das Bedürftige mit dem Reichen, obwohl es diesem gattungsmäßig entgegengesetzt ist. Wenn aber beide Gefühle stark werden, nennen wir das Liebe.

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Richtig. Nun ist die aus Gegensätzen entspringende Freundschaft gefährlich und wild und bewirkt nicht oft Gegenseitigkeit zwischen uns; die aus der Ähnlichkeit hervorgehende Freundschaft ist dagegen sanft und gegenseitig das ganze Leben lang. Was aber die aus diesen durch Mischung entstandene Art betrifft, so ist erstens nicht leicht zu erkennen, was überhaupt jemand erlangen will, der diese dritte Art von Liebe empfindet; sodann ist er, weil er von beiden Neigungen in entgegengesetzte Richtungen gezerrt wird, in einer schwierigen Lage, da die eine ihn auffordert, sich an der Blüte der Jugend zu vergreifen, die andere es ihm verbietet. Denn wer den Körper begehrt und nach dessen Blüte wie nach einer reifen Frucht hungert, der fordert sich selbst auf, sich daran zu sättigen, ohne der Seelenverfassung des Geliebten irgendeinen Wert beizumessen. Wer jedoch das Verlangen nach dem Körper nur für etwas Nebensächliches hält und ihn mehr betrachtet als begehrt, aber mit der Seele wahrhaft die Seele zu begehren gelernt hat, der sieht in der körperlichen Befriedigung des Körpers einen frevelhaften Übergriff, und weil er das Besonnene und Tapfere und Großgesinnte und das Vernünftige achtet und verehrt, wird er wohl mit dem enthaltsamen Geliebten ein enthaltsames Leben führen wollen. Die aus den beiden gemischte Liebe ist nun die, die wir soeben als die dritte durchgegangen sind. Wenn es nun so viele Arten gibt, soll das Gesetz sie alle unterbinden und ihre Entstehung in uns verhindern, oder ist es klar, daß wir die Art, die sich auf die Tugend richtet und danach trachtet, daß der junge Mann möglichst gut wird, in unserer Stadt haben wollen, die andern beiden Arten aber, wenn es möglich wäre, verhindern würden? Oder was meinen wir, mein lieber Freund Megillos? MEG. In jeder Hinsicht schön hast du, Fremder, gerade über diese Dinge soeben gesprochen. ATH. So scheine ich, wie ich auch vermutete, deine Zustimmung, mein lieber Freund, erhalten zu haben. Was aber euer Gesetz über derartige Fragen denkt, brauche ich nicht zu untersuchen, sondern kann mich mit deiner Zustimmung zu meinen Darlegungen begnügen. Den Kleinias aber werde ich in eben dieser Frage später noch einmal mit dem Mittel der Bezauberung zu überzeugen suchen. Auf die gemeinsame Zustimmung von euch beiden will ich verzichten, und so wollen wir die Gesetze ganz bis zum Ende durchgehen. MEG. Du hast völlig recht. ATH. Nun habe ich eine Art Kunstgriff zur Einführung dieses Gesetzes bei der Hand, der unter den jetzigen Umständen einerseits leicht, andererseits aber in gewisser Hinsicht denkbar schwierig ist. MEG. Wie meinst du das? ATH.

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ATH. Wir wissen doch, daß auch heutzutage die meisten Menschen, auch wenn sie zur Übertretung der Gesetze neigen, sich leicht und vollständig vom Geschlechtsverkehr mit den Schönen abhalten lassen, und zwar nicht gegen ihren Willen, sondern so freiwillig wie nur möglich. MEG. Von welchem Fall sprichst du? ATH. Wenn jemand einen schönen Bruder oder eine schöne Schwester hat. Auch bei einem Sohn oder einer Tochter bietet dasselbe Gesetz, obwohl es nicht schriftlich aufgezeichnet ist, den denkbar wirksamsten Schutz, daß man weder offen noch heimlich mit diesen schläft oder sie sonst irgendwie zärtlich berührt. Ja, die meisten befällt überhaupt nicht einmal das Verlangen nach einem solchen Umgang. MEG. Da hast du recht. ATH. Also vermag ein kleines Wort alle diese Gelüste auszulöschen? MEG. Welches Wort meinst du denn? ATH. Die Behauptung, daß dieses Verhalten keineswegs fromm, sondern den Göttern ein Greuel und von allem Schändlichen das Schändlichste ist. Ist der Grund für diese Wirkung nicht darin zu sehen, daß niemand anders hierüber spricht, sondern jeder von uns gleich von seiner Geburt an immer und überall diese Ansicht hört, die sowohl im Lustspiel wie im tiefen Ernst der Tragödie oftmals ausgesprochen wird, wenn die Dichter einen Thyestes oder einen Oidipus auftreten lassen oder Personen wie Makareus, die mit ihrer Schwester heimlichen Verkehr hatten, die man aber bereitwillig sich selbst den Tod geben sieht als Strafe für ihr Vergehen? MEG. Du hast zumindest darin völlig recht, daß die öffentliche Meinung eine geradezu wunderbare Macht erlangt hat, wenn niemand jemals auch nur einen Atemzug entgegen dem Gesetz zu tun wagt. ATH. Also ist das eben Gesagte richtig, daß es für einen Gesetzgeber, wenn er eine jener Begierden knechten will, die die Menschen besonders knechten, leicht zu erkennen ist, auf welche Weise er über sie die Oberhand gewinnen könnte: daß er nämlich nur dieser Meinung bei allen, bei Sklaven und Freien, bei Kindern und Frauen und der ganzen Stadt gleichermaßen zu heiligem Ansehen verhelfen muß und damit schon die sicherste Grundlage für dieses Gesetz geschaffen hat. MEG. Gewiß. Wenn es nur möglich ist, alle dahin zu bringen, daß sie aus freien Stücken so etwas sagen! ATH. Du hast mich gut verstanden. Denn eben dies war der Sinn meiner Behauptung, daß ich einen Kunstgriff wüßte zur Einführung dieses Gesetzes, wonach man die Vereinigung zur Erzeugung von Kindern nur gemäß ihrem natürlichen Zweck vollziehen soll, indem man sich einerseits von Männern fernhält, so daß man nicht vorsätzlich das Menschengeschlecht abtötet und nicht auf Felsen und Steine sät, wo der Same nie-

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mals Wurzeln fassen und seine Kraft entfalten kann, andererseits aber sich von jedem weiblichen Ackerfeld fernhält, auf welchem man ein Aufgehen der Saat nicht will. Wenn nun dieses Gesetz einmal Bestand erlangt und sich durchgesetzt hat, wenn es so, wie es schon heute für den Geschlechtsverkehr zwischen Eltern und Kindern in Kraft ist, auch in den andern Fällen sich mit Recht durchsetzt, dann bringt es tausendfältige Güter mit sich. Denn erstens ist es im Einklang mit der Natur aufgestellt, sodann bewirkt es, daß man sich verliebter Tollheit und Raserei und aller Arten des Ehebruchs und jeder Maßlosigkeit im Trinken und Essen enthält und daß man der eigenen Frau als der ihr wesensgemäße Freund zugetan ist. Und noch sonst sehr viel Gutes würde sich daraus ergeben, wenn jemand dieses Gesetz durchsetzen könnte. Aber vielleicht wird ein leidenschaftlicher und junger Mann, der von Samen strotzend voll ist, vor uns hintreten, wenn er von der Aufstellung dieses Gesetzes hört, und uns Vorwürfe machen, daß wir unvernünftige und unerfüllbare Gesetze gäben, und wird alles mit Geschrei erfüllen. Eben dies nun hatte ich auch vor Augen bei der Behauptung, ich besäße einen Kunstgriff, der einerseits der allerleichteste, andererseits höchst schwierig sei, um zu erreichen, daß dieses Gesetz, wenn es einmal aufgestellt ist, dauernd in Geltung bleibt. Es ist nämlich ganz leicht einzusehen, daß und wie es möglich ist – wir sagen ja, daß diese Gesetzesvorschrift, sobald sie genügend heiliges Ansehen besitzt, jede Seele knechten und mit Hilfe der Furcht dazu bringen werde, daß sie den gegebenen Gesetzen gänzlich gehorcht –; aber heutzutage ist es soweit gekommen, daß es scheint, als werde sich dies selbst dann nicht verwirklichen lassen, wie ja auch die Einrichtung von Speisegemeinschaften auf den Unglauben stößt, daß es nicht möglich sei, daß eine ganze Stadt ihr Leben lang diesen Brauch durchzuhalten vermag; und obwohl dies durch Tatsachen erwiesen und bei euch verwirklicht ist, gilt trotzdem ihre Einrichtung für Frauen nicht einmal in euren Städten als naturgemäß. In dieser Hinsicht also, wegen der Stärke des Unglaubens, habe ich behauptet, sei es anderseits ganz schwierig, diese beiden Vorschläge durch ein Gesetz dauerhaft zu verwirklichen. MEG. Womit du allerdings recht hattest. ATH. Daß dies jedenfalls nicht über die Kräfte des Menschen geht, sondern realisierbar ist: soll ich versuchen, euch hierfür eine Art Beweis vorzutragen, der eine gewisse Überzeugungskraft besitzt? KL. Warum nicht! ATH. Nun, wer wird sich leichter des Geschlechtsverkehrs enthalten und bereit sein, die diesbezüglichen Bestimmungen angemessen zu befolgen:

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einer, der körperlich in guter Verfassung ist und nicht untrainiert ist, oder einer, der in schlechter Verfassung ist? KL. Weit eher doch der, der nicht untrainiert ist. ATH. Wissen wir nun aber nicht durch Hörensagen, daß dies bei Ikkos von Tarent der Fall war wegen des Wettkampfs in Olympia und der andern Wettkämpfe? Weil er in diesen siegen wollte und da er die entsprechende Technik und die mit Besonnenheit verbundene Tapferkeit in der Seele besaß, soll er, wie erzählt wird, niemals eine Frau oder gar einen Knaben in der ganzen harten Zeit seines Trainings angerührt haben. Und auch von Krison, Astylos und Diopompos und vielen andern wird dasselbe erzählt. Und dabei waren sie im Vergleich zu meinen und deinen Bürgern, Kleinias, seelisch viel schlechter erzogen, während sie körperlich weit mehr vor Kraft strotzten. KL. Du hast recht: dies wird von den Alten ausdrücklich über diese Athleten erzählt, daß es wirklich einmal so geschehen sei. ATH. Wie nun? Diese haben es also wegen des Sieges im Ringen, Laufen und dergleichen Disziplinen über sich gebracht, sich von etwas fernzuhalten, das von den meisten als Glück gepriesen wird; unsere Kinder dagegen sollten nicht imstande sein sich zu beherrschen wegen eines viel schöneren Sieges, den wir ihnen von Kind an als den schönsten Sieg in unseren Erzählungen und in Sprichwörtern darstellen und in Liedern besingen, wie es sich gehört, um sie so zu bezaubern? KL. Was für einen Sieg meinst du? ATH. Den Sieg über die Lust, durch dessen Erringung sie glücklich leben werden, bei einer Niederlage dagegen ganz entgegengesetzt. Und wird nicht außerdem auch die Furcht, daß dies in keiner Weise und auf keinen Fall fromm ist, für uns so viel Macht haben, daß sie das besiegen, was andere besiegt haben, die schlechter als sie waren? KL. Das ist jedenfalls wahrscheinlich. ATH. Da wir nun mit dieser Gesetzesbestimmung hier angelangt sind, aber nur durch die Schlechtigkeit der Vielen in Verlegenheit geraten sind, so behaupte ich, daß unser Gesetz eben hierüber ganz einfach seinen Weg gehen soll, indem es erklärt, daß unsere Bürger nicht schlechter sein dürfen als Vögel und viele andere Tiere, welche, obwohl sie in großen Scharen geboren werden, bis zur Kinderzeugung ledig und ohne Geschlechtsverkehr enthaltsam leben, dann aber, wenn sie in dieses Alter kommen, sich Männchen mit Weibchen und Weibchen mit Männchen ganz nach Neigung paaren und die restliche Zeit fromm und gerecht leben, indem sie standhaft der ersten Liebesverbindung treu bleiben; besser also als Tiere sollten unsere Bürger schon sein. Wenn sie sich nun aber von den andern Griechen und den meisten Barbarenvölkern verderben lassen, weil sie sehen und hören, daß die sogenannte regellose Aphrodite

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bei ihnen die meiste Macht besitzt, und dadurch unfähig werden, den Sieg zu erringen, dann müssen die Gesetzeswächter zu Gesetzgebern werden und für sie ein zweites Gesetz ausdenken. KL. Welches Gesetz rätst du ihnen denn aufzustellen, wenn das eben aufgestellte ihnen entgleitet? ATH. Natürlich das, das sich hieran als zweitbestes anschließt, Kleinias. KL. Welches meinst du? ATH. Die Kraft der Lust weitgehend außer Übung zu setzen, erwies sich als möglich, wenn man ihren Zufluß und ihre Nahrung mittels harter Anstrengungen in einen andern Teil des Körpers lenkt. Dies wäre auch möglich, wenn keine Schamlosigkeit beim Geschlechtsverkehr herrscht. Denn wenn sie aus Scham so etwas nur gelegentlich vollziehen, werden sie wohl an ihm einen schwächeren Zwingherrn haben, weil sie ihn nur selten vollziehen. So etwas also nur heimlich zu tun, soll bei ihnen als schön gelten, als ein Brauch, der durch Gewohnheit und die ungeschriebene Satzung zum Gesetz geworden ist, es aber nicht heimlich zu tun als schändlich – nicht jedoch, es überhaupt zu tun. So wäre dieses Verhalten als schändlich und schön auf eine zweitbeste Weise in unserem Gesetz festgelegt, weil es eine Richtigkeit zweiten Grades besitzt, und die in ihrem Wesen verdorbenen Menschen, die wir sich selbst unterlegen nennen, würden als eine Gattung von drei Gattungen umschlossen und gezwungen, nicht gegen das Gesetz zu verstoßen. KL. Welche Gattungen denn? ATH. Die gottesfürchtige und ehrliebende und die, die gelernt hat, ihr Begehren nicht auf die Körper, sondern auf die schönen Wesenszüge der Seele zu richten. Dies sind vielleicht wie im Märchen bloße Wünsche, was wir da vortragen; doch wenn es verwirklicht würde, könnte es sich als der größte Gewinn in allen Städten erweisen. Aber vielleicht könnten wir, so Gott will, eines von zweien bezüglich der Liebe erzwingen: entweder daß es niemand wagt, eine edle und freie Person außer der eigenen Ehefrau zu berühren und mit Konkubinen eine ungeweihte und uneheliche Saat zu säen oder mit Männern eine unfruchtbare Saat wider die Natur, oder daß wir den Verkehr mit Männern ganz beseitigen, bezüglich der Frauen aber, wenn jemand mit einer anderen Verkehr hat als mit denen, die mit dem Willen der Götter und unter heiligen Hochzeitszeremonien in sein Haus eingezogen sind – mögen jene andern gekauft oder auf sonst irgend eine Weise erworben sein – und sich dabei nicht vor allen Männern und Frauen verborgen hält, den Betreffenden durch ein Gesetz von der Ehre der in der Stadt üblichen Belobigungen ausschließen und damit offensichtlich ein richtiges Gesetz erlassen, da er sich ja wirklich wie ein Fremder verhält. Dieses Gesetz, mag es nun als eines oder als zwei zu bezeichnen sein,

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soll also für den Geschlechtsverkehr und überhaupt alle Liebesbeziehungen gelten, die wir infolge solcher Begierden auf richtige oder unrichtige Weise miteinander eingehen. MEG. Nun, Fremder, ich würde mir dieses Gesetz schon sehr gerne gefallen lassen; Kleinias aber soll selber sagen, was er darüber denkt. KL. Das soll geschehen, Megillos, sobald mir der passende Zeitpunkt hierfür gekommen scheint. Jetzt jedoch wollen wir unseren Gastfreund noch weiter in der Gesetzgebung fortfahren lassen. MEG. Richtig. ATH. Wird sind nunmehr im Fortgang unseres Gesprächs bereits soweit vorangekommen, daß bereits gemeinsame Mahlzeiten eingerichtet sind – was wie gesagt anderswo schwierig sein dürfte, während hier in Kreta niemand sich vorstellen kann, daß man darin anders verfahren müßte –; aber auf welche Weise sie einzurichten sind, ob so wie hier oder in Lakedaimon oder ob es neben diesen noch eine dritte Form gemeinsamer Mahlzeiten gibt, die besser als diese beiden ist, das scheint mir zwar nicht schwer herauszufinden, aber auch keinen großen Nutzen hervorzubringen, wenn man es herausgefunden hat. Denn deren heutige Einrichtung scheint ganz zweckmäßig zu sein. Daran schließt sich die Beschaffung des Lebensunterhalts und die Frage, in welcher Form sie den gemeinsamen Mahlzeiten angemessen wäre. Anderen Städten wird nun das Lebensnotwendige auf vielfältige Weise und aus vielerlei Quellen zuteil, zumindest aus doppelt so vielen wie für unsere Bürger. Denn aus der Erde und aus dem Meer beziehen die meisten Hellenen ihre Nahrung, unsere Bürger aber nur aus der Erde. Für den Gesetzgeber ist letzteres allerdings bequemer; denn nicht nur die Hälfe der Gesetze reicht hierfür aus, sondern noch viel weniger, und dazu noch solche, die freien Männer eher angemessen sind. Denn mit dem Reedereiwesen, mit Groß- und Kleinhandel, mit Herbergen und mit Zöllen und Bergwerken, mit Darlehen und Zinsen auf Zinsen und tausenderlei anderen Dingen dieser Art hat der Gesetzgeber unserer Stadt großenteils nichts zu schaffen und kann ihnen Lebewohl sagen. Aber für Ackerbauern, Hirten und Bienenzüchter und für die, denen die Aufbewahrung derartiger Erzeugnisse obliegt und die für die Werkzeuge zuständig sind, wird er Gesetze geben, nachdem er bereits die wichtigsten Gesetze erlassen hat, nämlich über das Heiraten und die Zeugung und Aufzucht der Kinder, ferner über die Erziehung und die Einsetzung von Beamten in der Stadt. Nun muß er sich mit seiner Gesetzgebung denen zuwenden, die die Nahrung erzeugen, und allen, die eben daran durch ihre Anstrengungen mitarbeiten. Als erstes sollen also Gesetze aufgestellt sein, die Landwirtschaftsgesetze heißen mögen.

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Von Zeus, dem Hüter der Grenze, stammt das erste Gesetz, das folgendermaßen lauten soll: Niemand soll die Grenzen des Nachbarn verrücken, sei dies nun ein befreundeter Mitbürger oder ein Grenzanwohner (falls jemand an der äußersten Landesgrenze Boden besitzt und daher einen Fremden zum Nachbarn hat), weil er überzeugt sein soll, daß dies wahrhaftig ein Verrücken des Unverrückbaren wäre. Vielmehr soll jedermann lieber den größten Felsbrocken, sofern er keine Grenze markiert, wegzurücken gewillt sein als einen kleinen Stein, der die Grenze zwischen Freundschaft und Feindschaft bildet und durch einen Schwur bei den Göttern geheiligt ist. Denn Zeuge für den einen ist Zeus, der Schützer des Phylengenossen, für den anderen Zeus, der Schützer des Fremden, die zu reizen die feindseligsten Kriege zur Folge hat. Wer also dem Gesetz gehorcht, der wird das Übel, das daraus entstehen könnte, nicht zu spüren bekommen; wer es aber mißachtet, der soll einer doppelten Strafe verfallen, einmal und als erstes seitens der Götter und zweitens durch das Gesetz. Niemand soll nämlich willentlich die Grenzen des Nachbarn verrücken; wer sie aber verrückt, den soll jeder, der will, bei den Grundbesitzern anzeigen, diese sollen ihn vor das Gericht führen; wenn aber einer in einem derartigen Prozeß schuldig gesprochen wird, soll in der Annahme, daß der Schuldige heimlich und mit Gewalt das Land neu aufteilen wollte, das Gericht abschätzen, was der Überführte erleiden oder bezahlen soll. Sodann gibt es viele kleine Schädigungen der Nachbarn, die durch ihre Häufigkeit eine gewaltigen Berg von Feindschaft erzeugen und so die Nachbarschaft zu einer schwierigen und sehr bitteren Sache machen. Deshalb muß man sich unbedingt in acht nehmen, daß man als Nachbar nichts tut, das zu einem Streit mit dem Nachbarn führt, indem man sich unter anderem besonders vor jedem Übergreifen auf fremden Boden hütet. Denn Schaden anzurichten ist nicht schwer, sondern das kann jeder; aber etwas Nützliches zu tun ist keineswegs jedermanns Sache. Wer also den Boden des Nachbarn bearbeitet, indem er seine Grenzen überschreitet, der soll den Schaden ersetzen; und um von seiner Unverschämtheit und Niederträchtigkeit geheilt zu werden, soll er daneben noch den doppelten Betrag des Schadens an den Geschädigten zahlen. Sachverständige, Richter und Abschätzer in diesen und allen derartigen Fällen sollen die Landaufseher sein, und zwar bei schwereren Vergehen, wie bereits früher gesagt worden ist, die ganze Abteilung des betreffenden Landeszwölftels, bei geringfügigeren ihre Wachkommandanten. Und wenn jemand sein Vieh auf fremdem Land weidet, sollen diese die Schäden in Augenschein nehmen, das Urteil fällen und die Strafe abschätzen. Und wenn jemand fremde Bienenschwärme in seinen Besitz bringt,

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weil er seinem Vergnügen an Bienen nachgibt, und sie sich durch Herunterschütteln aneignet, soll er den Schaden wiedergutmachen. Und wenn jemand beim Feuermachen nicht auf den Wald achtgibt, der zum Besitz des Nachbarn gehört, soll er mit der den Beamten angemessen scheinenden Geldbuße gestraft werden. Ebenso wenn jemand beim Anpflanzen nicht den angemessenen Abstand vom Land des Nachbarn einhält – wie dies auch schon von vielen Gesetzgebern klar genug festgestellt worden ist, deren Gesetze man benutzen soll, anstatt zu verlangen, daß für all die vielen Kleinigkeiten, zu deren Regelung der erste beste Gesetzgeber imstande ist, der größere Ordner der Stadt Gesetze geben soll. So gibt es auch bezüglich des Wassers für die Landwirte alte und schöne Gesetze, die es nicht verdienen, durch Worte aus ihrer Richtung abgeleitet zu werden. Sondern wer auf sein Gelände Wasser leiten will, der soll es tun, indem er von den gemeinsamen Wasserläufen ausgeht, sofern er damit nicht die oberirdischen Quellen eines Privatmanns abschneidet; und wo er es durchleiten will, da soll er es durchleiten, außer durch ein Haus oder gewisse Heiligtümer oder gar durch Grabstätten, wobei er keinen über das bloße Grabenziehen hinausgehenden Schaden verursachen darf. Wenn aber an manchen Stellen eine durch die Bodenbeschaffenheit bedingte Trockenheit das von Zeus kommende Wasser versickern läßt und es am notwendigen Trinkwasser fehlt, so soll er auf seinem eigenen Gebiet bis hinunter auf die Tonschicht graben; trifft er aber in dieser Tiefe auf keinerlei Wasser, so soll er sich bei den Nachbarn Wasser holen bis zu der für jeden seiner Hausbewohner erforderlichen Trinkwassermenge; wenn aber auch bei den Nachbarn das Wasser knapp ist, so soll er sich bei den Landaufsehern ein Maß für das Wasserholen festsetzen lassen und dieses sich täglich holen und so das Wasser mit seinen Nachbarn teilen. Wenn aber von Zeus Wasser gesandt wird und einer von den tiefer Gelegenen einen, der oberhalb sein Feld bestellt oder auch mit ihm Mauer an Mauer wohnt, dadurch schädigt, daß er ihm keinen Abfluß ermöglicht, oder wenn umgekehrt der höher Gelegene die Wassermassen unbekümmert ablaufen läßt und dadurch den tiefer Gelegenen schädigt, und wenn sie deshalb nicht miteinander zusammenarbeiten wollen, so soll jeder, der will, in der Stadt einen Stadtaufseher und auf dem Land einen Landaufseher hinzuziehen und diesen bestimmen lassen, was jeder der beiden tun soll. Wer sich aber nicht an diese Bestimmung hält, der soll wegen Mißgunst und unverträglichen Wesens angeklagt werden, und wenn er für schuldig befunden wird, soll er das Doppelte des Schadens dem Geschädigten als Buße zahlen, weil er den Beamten nicht gehorchen wollte.

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An den Früchten des Herbstes sollen alle in etwa folgender Weise gemeinsam teilhaben. Zweifache Gaben ihrer Huld hält diese Göttin für uns bereit: die eine, eine edle Züchtung des Dionysos, läßt sich nicht aufbewahren; die andere ist ihrer Natur nach zur Aufbewahrung geschaffen. Also soll für die Herbstfrucht folgendes Gesetz aufgestellt werden: Wer von dem gewöhnlichen Obst kostet, es seien Trauben oder Feigen, bevor die Erntezeit gekommen ist, die mit dem Aufgang des Arktur zusammenfällt, entweder auf dem eigenen oder auf fremdem Grundstück, der soll dem Dionysos fünfzig ihm zu weihende Drachmen schulden, wenn er sie vom eigenen Besitz gepflückt hat, falls aber von dem seiner Nachbarn, eine Mine, und falls von anderen, zwei Drittel einer Mine. Wer aber die edle Traube, wie sie heutzutage heißt, oder die sogenannte edle Feige ernten will, der soll diese, falls er sie von seinem eigenen Grundstück einholt, ernten, wie er will und wann er Lust hat; wenn er sie aber von fremdem Besitz holt, ohne vom Besitzer die Einwilligung erhalten zu haben, soll er entsprechend dem Gesetz, daß man nicht wegnehmen darf, was man nicht hingelegt hat, jeweils in jener Weise gestraft werden. Wenn aber ein Sklave, ohne vom Herrn des Grundstücks die Erlaubnis erhalten zu haben, sich an einer solchen Frucht vergreift, so soll er gemäß der Zahl der Beeren an den Weintrauben oder der Feigen des Feigenbaums die gleiche Anzahl von Peitschenhieben erhalten. Ein Metöke aber kann edles Obst kaufen und dann ernten, wenn er will. Wenn aber ein Fremder, der sich im Lande aufhält, Lust bekommt, Obst zu essen, während er über unsere Straßen zieht, so mag er, wenn er will, zusammen mit nur einem Begleiter nach dem edlen Obst greifen, ohne einen Preis dafür zu zahlen, indem er es als Gastgeschenk entgegennimmt. Das sogenannte gewöhnliche Obst aber und ähnliche Früchte mit uns zu teilen, davon soll ein Gesetz die Fremden abhalten; wenn aber aus Unkenntnis er selbst oder sein Sklave sich daran vergreift, so soll man den Sklaven mit Schlägen bestrafen, den Freien dagegen mit der Zurechtweisung und Belehrung fortschicken, daß er sich an das andere Obst halten soll, das zur Aufbewahrung in Form von Rosinen, Wein oder gedörrten Feigen nicht geeignet ist. Was aber Birnen, Äpfel, Granatfrüchte und alle Früchte dieser Art betrifft, so soll es zwar keine Schande sein, heimlich davon zu nehmen; wer aber dabei ertappt wird und noch keine dreißig Jahre alt ist, den soll man prügeln und es ihm verwehren, aber ohne ihn zu verletzen, und obwohl ein freier Mann, soll er wegen solcher Schläge keinerlei gerichtliches Klagerecht haben. Einem Fremden aber soll wie bei dem vorhergenannten Obst gestattet sein, auch von solchem Obst seinen Teil zu neh-

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men. Wenn aber ein älterer Bürger danach greift und an Ort und Stelle davon ißt, ohne etwas davon mitzunehmen, soll auch er wie der Fremde in dieser Weise an allen derartigen Früchten teilhaben; wenn er aber dem d Gesetz nicht gehorcht, soll er Gefahr laufen, nicht am Wettstreit in der Tugend teilnehmen zu dürfen, falls alsdann jemand so etwas über ihn den jeweiligen Preisrichtern in Erinnerung bringt. Das Wasser ist für den Gartenbau der allerwichtigste Nährstoff, aber es ist leicht zu verderben. Denn weder die Erde noch die Sonne noch die Winde, die zusammen mit dem Wasser alles nähren, was aus der Erde aufsprießt, kann man leicht verderben durch Vergiftung, Ableitung oder auch durch Diebstahl; beim Wasser dagegen kann naturgemäß all dies e vorkommen. Deshalb benötigt es den Beistand des Gesetzes. Es soll also hierüber folgendes Gesetz gelten: Wenn jemand willentlich fremdes Wasser, gleichgültig ob Quellwasser oder in einer Zisterne gesammeltes Wasser, verdirbt durch Vergiftung oder Abgraben oder Diebstahl, so soll der Geschädigte bei den Stadtaufsehem klagen und dabei die Höhe des Schadens schriftlich angeben. Wird aber einer der Schädigung durch Gif­ te schuldig gesprochen, so soll er zusätzlich zur Geldbuße die Quellen beziehungsweise den Wasserbehälter in der Weise reinigen, welche die Gesetze der Ausleger für die Reinigung im jeweiligen Fall und für die je­ weiligen Täter vorschreiben. Was das Einbringen der gesamten Früchte des Herbstes betrifft, so soll 846a es jedem, der will, erlaubt sein, seine Ernte über jedes Gelände einzubrin­ gen, wo er entweder niemanden schädigt oder wo er selbst einen Vorteil davon hat, der dreimal so hoch ist wie der Schaden des Nachbarn. Gutachter hierfür sollen die Beamten sein und ebenso für alle andern Schäden, die jemand willentlich einem anderen gegen dessen Willen mit Gewalt oder heimlich, entweder ihm persönlich oder einem Teil von des­ sen Besitz, durch den eigenen Besitz zufiügt. Alle Schädigungen dieser Art soll der Betroffene den Beamten anzeigen und Wiedergutmachung verlangen, sofern der Schaden bis zu drei Minen beträgt; wenn aber je­ mand auf eine höhere Summe gegen einen anderen klagen will, soll er b seine Rechtssache vor die allgemeinen Gerichte bringen und dort Wie­ dergutmachung von dem Täter verlangen. Wenn aber einer der Beamten den Eindruck erweckt, daß er die Strafen mittels eines ungerechten Spruches festsetzt, so soll er auf die doppelte Summe von dem Geschädigten verklagt werden können. Was andererseits die Ungerechtigkeiten der Beamten betrifft, so darf jeder, der das will, jeden Klagepunkt vor die allgemeinen Gerichte brin­ gen. Da es auf diesem Gebiet tausenderlei belanglose Bestimmungen gibt, gemäß denen die Strafverfahren durchzuführen sind, so über die Einrei-

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c chung der Klagen, die Vorladung und die Ladungszeugen und ob die La­ dung vor zwei Zeugen oder vor wie vielen sie stattzufinden hat, und al­ les, was es noch sonst in dieser Art gibt, so kann dies einerseits nicht oh­ ne gesetzliche Regelung bleiben, andererseits ist es unter der Würde ei­ nes bejahrten Gesetzgebers. Dies sollen die Jungen gesetzlich regeln, in­ dem sie sich die Gesetze der früheren Gesetzgeber zum Muster nehmen, also Kleines nach dem Muster von Großem regeln, und sollen bei der er­ forderlichen Anwendung ihre Erfahrungen sammeln, bis sie den Ein­ druck haben, das alles befriedigend geregelt ist; dann sollen sie diese Re­ gelungen für unveränderlich erklären und ihr Leben lang anwenden, da sie nunmehr die angemessene Form haben. d Was auf der anderen Seite die Handwerker betrifft, so soll man hier fol­ gendermaßen verfahren. Erstens darf kein Einheimischer zu denen gehö­ ren, die sich in handwerklichen Berufen abmühen, und auch kein Sklave eines Einheimischen. Denn ein Bürger besitzt bereits einen ausreichen­ den Beruf, der viel Übung und viele Kenntnisse erfordert: er muß die ge­ meinsame Ordnung der Stadt bewahren und erhalten, was nicht als Ne­ bensache betrieben werden darf. Zwei Berufe aber oder zwei Künste gründlich zu betreiben, dazu ist fast keines Menschen Natur imstande, ja e nicht einmal dazu, die eine selber auszuüben und in der anderen jeman­ den zu beaufsichtigen, der sie ausübt. Folgender Zustand muß also als erstes in einer Stadt verwirklicht sein: Kein Erzarbeiter soll zugleich Zimmermann sein, und umgekehrt soll sich kein Zimmermann um ande­ re, die Erz bearbeiten, mehr kümmern als um seine eigene Kunst, etwa mit dem Vorwand, daß er, da er viele für ihn arbeitende Sklaven zu be­ aufsichtigen habe, sich natürlich mehr um jene kümmere, weil das ihm 847a daraus zufließende Einkommen höher sei als das aus seiner eigenen Kunst. Vielmehr soll ein jeder nur einen Beruf in der Stadt ausüben und durch ihn auch seinen Lebensunterhalt erwerben. Dieses Gesetz sollen die Stadtaufseher mit aller Kraft aufrechterhalten, und wenn ein Einheimischer sich zu irgendeinem Beruf stärker hingezo­ gen fühlt als zur Sorge um die Tugend, so sollen sie ihn so lange durch Tadel und Ehrenentzug bestrafen, bis sie ihn wieder auf die ihm gezie­ mende Bahn gebracht haben; wenn aber einer der Fremden zwei Berufe b ausübt, so sollen sie ihn mit Gefängnis, Geldbußen und Ausweisung aus der Stadt bestrafen und dadurch zwingen, nur eine und nicht viele Perso­ nen zu sein. Was aber den Lohn für die Handwerker betrifft und die Übernahme von Arbeiten und das Unrecht, das ihnen etwa ein anderer oder das sie ei­ nem anderen zufügen, so sollen darüber bis zu einer Höhe von fünfzig Drachmen die Stadtaufseher entscheiden; was darüber hinausgeht, sollen die allgemeinen Gerichte kraft Gesetzes entscheiden.

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Einen Zoll soll in unserer Stadt niemand entrichten, weder für die Aus­ fuhr noch für die Einfuhr von Waren. Weihrauch aber und alles, was es c an derartigem fremdländischen Räucherwerk für die Götter gibt, sowie Purpur und alle sonstigen Färbstoffe, die unser Land nicht hervorbringt, oder Material für irgendeine andere Technik, die auf Einfuhr fremder Gü­ ter angewiesen ist zur Herstellung eines keineswegs notwendigen Pro­ dukts, all dies soll niemand einführen noch umgekehrt etwas von dem ausführen, was als unentbehrlich im Lande bleiben muß. Sachverständi­ ge für dies alles und Aufseher hierüber sollen die Gesetzeswächter sein, und zwar, da die fünf ältesten davon freigestellt sind, die zwölf nächst­ ältesten. d Wenn es ferner für die schweren Waffen und alles sonstige Kriegsgerät der Einführung einer Technik oder eines Gewächses oder eines Metalls oder von Bindematerial oder von Tieren zu einem solchen Zweck bedarf, so sollen die Hipparchen und die Strategen für deren Einfuhr und Ausfuhr zuständig sein, da die Stadt hier sowohl als Lieferant wie als Empfänger auftritt. Gesetze hierüber aber sollen die Gesetzeswächter in angemesse­ ner Form und ausreichender Zahl erlassen. Ein auf Gewinn zielender Ein­ zelhandel darf aber weder mit diesem noch mit sonstigem Kriegsmaterial e in unserem ganzen Land und unserer Stadt getrieben werden. Für die Ernährung und die Verteilung der Landesprodukte scheint eine Regelung, die sich eng an das kretische Gesetz hält, richtig und zweck­ mäßig zu sein. In zwölf Teile sollen also alle Bürger die gesamten Lan­ desprodukte einteilen, so wie sie auch aufzubrauchen sind. Und jedes Zwölftel - wie zum Beispiel von Weizen und Gerste, nach deren Muster natürlich auch alle andern Früchte einzuteilen sind sowie alles, was es an 848a verkäuflichem Vieh in den jeweiligen Bezirken gibt — soll proportional in drei Teile geteilt werden, von denen ein Teil für die Freien, ein Teil für deren Sklaven bestimmt ist; der dritte Teil aber ist für die Handwerker und überhaupt die Fremden, und zwar sowohl diejenigen, die als Metöken mit uns zusammenwohnen und auf den notwendigen Lebensunter­ halt angewiesen sind, als auch für diejenigen, die wegen irgendeines An­ liegens der Stadt oder eines Privatmannes jeweils zu uns kommen. Von allen lebensnotwendigen Erzeugnissen soll dieser dritte Teil abgesondert werden und nur er soll notwendigerweise verkäuflich sein; bei den an­ dern darf überhaupt keine Notwendigkeit zum Verkaufen bestehen. b Wie wäre nun diese Verteilung am richtigsten durchzuführen? Zu­ nächst ist es klar, daß wir in einer Hinsicht gleiche, in anderer Hinsicht ungleiche Teile bilden werden. kl. Wie meinst du das? ATH. Es ist doch unvermeidlich, daß der Boden im einzelnen sowohl schlechtere wie auch bessere Produkte hervorbringt und wachsen läßt.

Achtes Buch kl. Ohne Zweifel. ath. In dieser Hinsicht also

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soll keiner dieser drei Teile etwas vorausha­ ben, weder der für die Herren oder der für die Sklaven bestimmte noch der für die Fremden, sondern die Verteilung soll allen dieselbe auf ähnlic eher Qualität beruhende Gleichheit zukommen lassen. Hat er seine zwei Teile erhalten, soll jeder Bürger befugt sein zu ihrer Verteilung an Skla­ ven und Freie, und zwar in der Menge und in der Qualität, in der er sie verteilen will. Was aber davon übrig bleibt, soll nach Maß und Zahl fol­ gendermaßen verteilt werden: man nehme die Zahl aller Tiere, die aus dem Boden ihre Nahrung erhalten müssen, und führe dementsprechend die Verteilung durch. Als nächstes müssen ihnen getrennt angeordnete Wohnungen zuge­ wiesen werden. Hierzu ist folgende Anordnung angemessen. Es soll zwölf Dörfer geben, in der Mitte jedes Landeszwölftels jeweils eines. In d jedem Dorf sollen als erstes Heiligtümer und ein Marktplatz ausgeson­ dert sein für die Götter und die Dämonen in ihrem Gefolge, mag es sich nun hierbei um lokale Gottheiten der Magneten handeln oder um Hei­ ligtümer anderer alter Gottheiten, die sich in der Erinnerung erhalten ha­ ben; diesen sollen sie die gleichen Ehren erweisen wie die Menschen der alten Zeit. Für Hestia aber und Zeus und Athene und denjenigen der andern Götter, der jeweils der Schutzgott des betreffenden Landeszwölf­ tels ist, sollen sie überall Heiligtümer errichten. Als erstes muß es nun e Wohngebäude um diese Heiligtümer herum geben, wo das Gelände am höchsten ist, als eine möglichst gut gesicherte Unterkunft für die Wäch­ ter. Das gesamte übrige Land sollen sie so einrichten, daß sie die Hand­ werker in dreizehn Gruppen gliedern und eine in der Stadt ansiedeln, wobei sie auch diese Gruppe auf die zwölf Teile der ganzen Stadt so verteilen, daß sie in den Außenviertel ringsherum wohnen; in jedem Dorf dagegen sollen sie die Handwerkszweige ansiedeln, die für die Landwirte von Nutzen sind. Verantwortlich für dies alles sollen die Be­ fehlshaber der Landaufseher sein, die entscheiden, wie viele und was für Handwerker jeder Bezirk benötigt und wo diese wohnen müssen, um den Landwirten am wenigsten lästig und am meisten nützlich zu 849a sein. Über die Handwerker in der Stadt soll in der selben Weise die Be­ hörde der Stadtaufseher die Aufsicht übernehmen und verantwortlich ausüben. Die Marktaufseher aber sollen für alles verantwortlich sein, was den Markt betrifft. Nach der Aufsicht über die Heiligtümer am Markt, daß niemand gegen sie frevelt, wird ihre Sorge an zweiter Stelle dem Um­ gang der Menschen gelten, indem sie als Aufseher über besonnenes und rücksichtloses Verhalten denjenigen bestrafen, der Strafe verdient. Was die Verkaufsware betrifft, so sollen sie erstens darauf sehen, ob der den

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Bürgern aufgetragene Verkauf an die Fremden jeweils dem Gesetz ge­ mäß erfolgt. b Das Gesetz aber fordert für jede Warenart, daß am ersten Tag des Mo­ nats die Bevollmächtigten, die als Fremde oder auch Sklaven diese Funk­ tion für die Stadtbewohner ausüben, den an die Fremden zu verkaufen­ den Teil der Erzeugnisse auf den Markt bringen sollen, und zwar zu­ nächst ein Zwölftel des Getreides; und der Fremde soll für den ganzen Monat Getreide und alles, was dazu gehört, am ersten Markttag kaufen. Am zehnten Tag des Monats aber sollen die einen den Verkauf, die ande­ ren den Einkauf von flüssigen Gütern in einer für den ganzen Monat ausc reichenden Menge tätigen. An einem dritten Markttag, am zwanzigsten Tag des Monats, soll der Verkauf des Viehs stattfinden, das einer jeweils verkaufen oder für die eigenen Bedürfnisse kaufen muß, sowie von allen Geräten und Erzeugnissen, die die Landwirte verkaufen, wie zum Bei­ spiel Häute oder auch Kleidung aller Art oder Geflechte oder Filzwaren oder sonst etwas Derartiges, während die Fremden dies notgedrungen von anderen käuflich erwerben müssen. Was den Kleinhandel mit diesen Waren betrifft oder mit Gerste oder Weizen, die zu Mehl zerrieben sind, oder auch alle sonstigen Nahrungs­ mittel, so darf an die Stadtbewohner und an deren Sklaven niemand diese Waren verkaufen oder von solchen Leuten kaufen; sondern auf den d Fremdenmärkten soll ein Fremder sie an die Handwerker und deren Skla­ ven verkaufen, indem er Wein und Getreide an sie weiter verkauft, was ja die meisten als Kleinhandel bezeichnen. Ebenso sollen Fleischer vom geschlachteten und zerlegten Vieh an Fremde und an Handwerker sowie deren Sklaven verkaufen. Das gesamte Brennholz ferner soll täglich ein Fremder, der das will, von den in den einzelnen Bezirken Zuständigen im Ganzen aufkaufen und es dann selber an Fremde verkaufen, soviel und wann immer er will. e Alle übrigen Waren und Geräte, die man jeweils benötigt, sollen sie verkaufen, indem sie sie auf den allgemeinen Markt an den jeweiligen Platz bringen, wo die Gesetzeswächter und Marktaufseher zusammen mit den Stadtaufsehem geeignete Standflächen markiert und die Felder für die einzelnen Waren abgegrenzt haben; hier also soll man Geld gegen Waren und Waren gegen Geld tauschen, wobei niemand einem anderen etwas im Voraus ohne Gegenleistung überlassen soll. Wer aber etwas auf Treu und Glauben hergibt, der muß sich auch, mag er das Seine bekom­ men oder nicht, damit zufrieden geben, da es bei solchen Tauschgeschäf­ ten keine Klagemöglichkeit gibt. 850a Wenn aber etwas in größerer Menge oder zu einem höheren Preis ge­ kauft oder verkauft worden ist, als das Gesetz erlaubt, welches festgelegt hat, bei welcher Zunahme oder Abnahme des Vermögens keine weitere

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Zunahme oder Abnahme mehr erlaubt ist, so soll bei den Gesetzeswächtem sogleich der Mehrbetrag registriert und der Minderbetrag getilgt werden. Dasselbe soll auch für die Metöken und die Registrierung ihres Vermögens gelten. Jeder, der das will, kann in den Metökenstand unter festgesetzten Be­ dingungen eintreten, da ein Wohnquartier für jeden Fremden vorhanden b ist, der willens und fähig ist, sich hier anzusiedeln, vorausgesetzt, daß er einen Beruf besitzt und sich nicht länger als zwanzig Jahre vom Zeit­ punkt seiner Eintragung an im Lande aufhält, wobei er nicht einmal eine kleine Metökensteuer außer einem zurückhaltenden Betragen und auch sonst keine Gebühr für Kauf oder Verkauf entrichten muß. Ist die Zeit ab­ gelaufen, soll er seine Habe nehmen und fortziehen. Wenn es ihm aber in diesen Jahren gelungen ist, durch irgendeine der Stadt erwiesene beträchtliche Wohltat auf sich aufmerksam zu machen, und glaubt er, den Rat und die Volksversammlung mit seinem Antrag überreden zu können, ihm entweder einen Aufschub des Wegzugs durch c rechtsgültigen Beschluß zu gewähren, oder gar ein lebenslängliches Auf­ enthaltsrecht, so soll er damit hervortreten, und wenn er die Stadt überre­ den kann, soll ihm das, wozu er die Stadt überredet hat, in vollem Um­ fang gewährt werden. Für die Kinder von Metöken, sofern sie Handwerker und fünfzehn Jah­ re alt sind, soll die Zeit des Metökenstatus nach dem fünfzehnten Le­ bensjahr beginnen. Und wenn einer unter diesen Bedingungen zwanzig Jahre hier ansässig gewesen ist, soll er hinziehen, wohin es ihm gefallt; will er jedoch bleiben, so kann er bleiben, wenn er auf dieselbe Weise die Erlaubnis hierzu erwirkt hat. Wer aber fortziehen will, darf erst fortzied hen, nachdem er die Eintragungen hat löschen lassen, die von ihm früher bei den Behörden vorgenommen worden sind.

Neuntes Buch ath. Als nächstes wären die Rechtsfolgen, die alle früher erwähnten Handlungen nach sich ziehen, gemäß der natürlichen Anordnung der Ge­ setze zu behandeln. In welchen Fällen nun ein Gerichtsverfahren stattfin­ den soll, das ist zum Teil bereits gesagt, soweit es die Landwirtschaft be­ traf und alles, was damit zusammenhing; die schwersten Vergehen aber sind noch nicht behandelt worden; indem wir nun jedes einzelne bespre­ chen und dabei angeben, welche Strafe es erhalten und vor welche Richb ter es gelangen soll, müssen wir als nächstes eben diese Vergehen an­ schließend besprechen. kl. Richtig. ath. Freilich ist es irgendwie beschämend, auch nur Gesetze für all das zu erlassen, wie wir dies jetzt vorhaben, in einer solchen Stadt, von der wir meinen, daß sie eine gute Einrichtung erhalten und in jeder Hinsicht über die richtigen Voraussetzungen zur Ausübung der Tugend verfügen wird. Ja schon die Annahme, daß in einer solchen Stadt jemand auf­ wächst, der sich an den schlimmsten Formen der in andern Städten übli­ chen Schlechtigkeit beteiligen werde, so daß man dem als Gesetzgeber zuvorkommen und Drohungen aussprechen muß für den Fall, daß jec mand so werden sollte, und daß man zu ihrer Abschreckung und - wenn sie doch so geworden sind — zu ihrer Bestrafung Gesetze gegen sie erlas­ sen muß, als werde es wirklich solche Menschen geben: dies ist, wie ge­ sagt, irgendwie beschämend. Da wir aber nicht in der gleichen Lage sind wie die alten Gesetzgeber, die für Göttersöhne, nämlich für die Heroen, wie die Sage heute erzählt, Gesetze gaben und so als Abkömmlinge von Göttern anderen, die von Wesen derselben Art abstammten, Gesetze ga­ ben, sondern da wir jetzt als Menschen und für eine Menschensaat Gesetd ze geben, so möge man es uns nicht verargen, wenn wir befürchten, es könnte unter unseren Bürgern jemand gleichsam „mit einer harten Scha­ le“ geboren werden, der so unnachgiebig in seinem Wesen ist, daß er sich nicht erweichen läßt: ebenso wenig wie jene Saatkörner auf dem Feuer, so könnten auch solche Menschen durch Gesetze, mögen diese auch noch so kräftig sein, nicht weich gekocht werden. Diesen Menschen zuliebe möchte ich als erstes ein durchaus unliebsa­ mes Gesetz über Tempelraub vortragen für den Fall, daß jemand eine sol­ che Tat zu begehen wagt. Daß auch ein Bürger, also einer von denen, die

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richtig erzogen worden sind, jemals an dieser Krankheit erkrankt, das wollen wir weder noch ist es überhaupt zu erwarten; aber deren Sklaven und die Fremden und die Sklaven der Fremden werden wohl vielfach solche Taten unternehmen. Ihretwegen vor allem, aber auch aus Vorsicht 854a gegenüber der allgemeinen Schwäche der menschlichen Natur, werde ich das Gesetz über Tempelräuber vortragen und über alle derartigen Ver­ gehen, soweit sie schwer heilbar oder unheilbar sind. Allen diesen Geset­ zen müssen wir aber gemäß unserer früher getroffenen Übereinkunft Vor­ reden vorausschicken, die so kurz wie möglich sind. So könnte man sich mit demjenigen unterhalten, den eine schlimme Begierde bei Tage lockt und des Nachts aufweckt und ihn zu einem Heiligtum treibt, um es zu be­ rauben, und könnte ihm mit folgenden Worten zureden: b „Du wunderlicher Mensch, es ist weder ein menschliches noch ein gottgesandtes Übel, das dich jetzt antreibt, auf Tempelraub auszugehen, sondern ein Wahnsinnsstachel, der infolge alter und ungesühnter Un­ rechtstaten in den Menschen heranwächst und nach Art eines Rachegei­ stes umherschweift und vor dem man sich mit aller Kraft zu hüten hat. Wie man sich hütet, erfahre jetzt. Wenn dich irgendeine Überzeugung dieser Art befällt, so gehe hin, um die reinigenden Riten zu vollziehen, gehe hin zu den Heiligtümern der Götter, die das Unglück abwehren, um ihren Schutz zu erflehen, gehe hin und suche den Umgang mit Männern, c die bei euch als gut bezeichnet werden, und teils höre es von ihnen, teils versuche es selbst auszusprechen, daß das Schöne und das Gerechte jeder Mann in Ehren halten soll. Die Gesellschaft schlechter Menschen aber fliehe, ohne dich umzuwenden! Und vielleicht wird, wenn du das tust, deine Krankheit abklingen; wenn aber nicht, so betrachte den Tod als schöner und scheide aus dem Leben!“ Dies stimmen wir als Präludium an für diejenigen, die auf alle diese frevelhaften und für die Bürger verderblichen Taten sinnen. Wer sich von ihm überreden läßt, für den müssen wir das Gesetz schweigen lassen; wer aber nicht gehorcht, für den müssen wir nach dem Vorspruch ein Lied in lautem Ton anstimmen: d Wer beim Tempelraub ertappt wird und ein Sklave oder ein Fremder ist, dem soll sein Unglück auf das Gesicht und die Hände geschrieben werden und er soll so viele Peitschenhiebe erhalten, wie den Richtern gut dünkt; dann soll er nackt über die Grenzen des Landes hinausgestoßen werden; denn wenn er diese Strafe erleidet, wird er vielleicht gebessert werden, indem er wieder zur Vernunft gebracht wird. Denn keine Strafe, die nach dem Gesetz verhängt wird, zielt auf etwas Schlechtes, sondern sie bewirkt in der Regel eines von beiden: entweder macht sie den, der e sie erleidet, besser oder weniger schlecht. Wenn aber ein Bürger jemals dabei entdeckt wird, daß er so etwas tut,

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indem er gegen die Götter oder die Eltern oder die Stadt eine der großen und unaussprechlichen Ungerechtigkeiten begeht, so soll ihn der Richter als bereits unheilbar ansehen, indem er bedenkt, welche Erziehung und Pflege er von Kind an bekommen und sich dennoch nicht von den größ­ ten Übeltaten femgehalten hat. Die Strafe für ihn sei daher der Tod, das kleinste der Übel; den andern aber wird er ein Beispiel sein und ihnen 855a nützen, wenn er ohne Namen bleibt und über die Landesgrenzen fortge­ schafft wird. Seinen Kindern aber und seiner Familie soll, wenn sie die Art des Vaters meiden, dies zum Ruhm gereichen und zu ihrer Ehre soll gesagt werden, daß sie sich so gut und mannhaft vom Bösen zum Guten hingeflüchtet haben. Daß aber der Besitz eines solchen Menschen an die Stadt fallt, würde kaum zu einer Verfassung passen, in der die Landlose immer dieselben und gleich groß bleiben müssen. Was aber die Geldbußen betrifft, so soll jemand, der ein mit Geld zu ahndendes Unrecht begangen hat, die Buße entrichten, sofern ihm nach der Ausstattung des Landloses noch etwas übriggeblieben ist; bis zu dieb sem Betrag soll er bestraft werden, darüber hinaus aber nicht. Die ge­ nauen Angaben hierzu sollen die Gesetzeswächter den schriftlichen Ver­ zeichnissen entnehmen und den jeweiligen Richtern mitteilen, damit kein einziges Landlos jemals aus Mangel an Geld unbebaut bleibt. Wenn aber jemand eine höhere Geldbuße zu verdienen scheint, so soll er, sofern nicht einige seiner Freunde sich für ihn verbürgen und durch Mitbezah­ lung seine Freilassung erwirken, durch längere und öffentlich sichtbare Haft und durch bestimmte Erniedrigungen bestraft werden. Die bürgerlic chen Rechte aber soll niemand völlig verlieren, bei keinem einzigen Ver­ gehen und auch nicht, wenn er über die Landesgrenzen verbannt ist; son­ dern Tod oder Haft oder Schläge oder ein bestimmtes entehrendes Sitzen oder Stehen oder Versetzung zu den Heiligtümern an die äußersten Lan­ desgrenzen oder Geldbußen sollen nach dem vorhin für diese Strafe ge­ forderten Verfahren verhängt werden. Richter aber sollen, wenn es um die Todesstrafe geht, die Gesetzes­ wächter und das aus den vorjährigen Beamten durch Auswahl der Besten d gebildete Gericht sein. Was aber die Einleitungen dieser Prozesse und die Vorladungen und alles Derartige betrifft und die Frage, wie hierbei zu verfahren ist, so sollen sich hierum die jüngeren Gesetzgeber kümmern; aber die Abstimmung gesetzlich zu regeln ist unsere Aufgabe. Also: Die Stimme soll offen abgegeben werden; zuvor aber sollen die Richter ge­ genüber dem Kläger und dem Beklagten dicht nebeneinander in der Rei­ henfolge ihres Alters Platz nehmen; alle Bürger aber, die Zeit hierfür ha­ ben, sollen mit Aufmerksamkeit bei solchen Gerichtsverhandlungen zu­ hören. Nur eine Rede soll gehalten werden, zuerst vom Kläger, dann e vom Beklagten. Nach diesen Reden soll der Älteste mit der Befragung

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beginnen, indem er in eine genaue Prüfung des Gesagten eintritt. Nach dem Ältesten sollen alle andern der Reihe nach alles durchgehen, was ei­ ner an dem, was von den beiden Parteien gesagt oder nicht gesagt wor­ den ist, irgendwie vermißt; wer nichts vermißt, soll die Befragung einem andern überlassen. Was von den Aussagen von entscheidender Bedeu­ tung zu sein scheint, das soll versiegelt werden, und wenn man der Nie856a derschrift die Siegel aller Richter aufgedrückt hat, soll man sie auf dem Altar der Hestia niederlegen. Und am Tag danach sollen wieder alle an derselben Stelle zusammenkommen, auf dieselbe Weise die Befragung durchführen und den Fall durchgehen und wiederum Siegel auf die Aus­ sagen drücken. Und wenn sie das dreimal gemacht und genügend Bewei­ se und Zeugen herangezogen haben, soll jeder seinen geheiligten Stimm­ stein abgeben und bei der Hestia versichern, daß er nach besten Kräften ein gerechtes und wahres Urteil falle. Und auf diese Weise soll man solch einen Prozeß beenden. b Nach den Vergehen gegen die Götter kämen nun die auf Umsturz der Verfassung abzielenden Vergehen an die Reihe. Wer einen Menschen an die Macht bringt und dadurch die Gesetze knechtet und die Stadt einer Clique hörig macht und dies alles mit Gewalt durchsetzt und eine Spal­ tung in der Bürgerschaft erregt und sich so gegen die Gesetze vergeht, den muß man als den allerschlimmsten Feind der ganzen Stadt betrach­ ten. Und wer zwar sich an keinen derartigen Unternehmungen beteiligt, aber als Inhaber eines der höchsten Ämter in der Stadt diese Unterneh­ mungen - entweder weil sie ihm verborgen geblieben sind oder, falls sie c ihm nicht verborgen blieben, aus Feigheit — nicht im Interesse seiner Va­ terstadt bestraft, einen solchen Bürger muß man als den zweitschlimm­ sten der Schlechtigkeit nach ansehen. Jeder Mann aber, der auch nur ein bißchen etwas taugt, soll den, der einen solchen Anschlag plant, den Be­ amten anzeigen und ihn vor Gericht bringen wegen gewaltsamen und zu­ gleich gesetzwidrigen Umsturzes der Verfassung. Richter aber sollen für diese Leute dieselben sein wie für die Tempelräuber, und das ganze Ver­ fahren gegen sie soll wie gegen jene durchgeführt werden, und die Mehr­ heit der Stimmen soll den Tod bringen. Aber, um es in einem Satz zu sagen, die Schande des Vaters und seine d Bestrafung soll auf keines der Kinder übergehen, außer wenn jemandes Vater, Großvater und Urgroßvater nacheinander zum Tod verurteilt wor­ den sind. Diese Kinder soll die Stadt mit ihrer Habe unter Ausschluß al­ les dessen, was zur vollständigen Ausstattung des Landloses gehört, in ihre alte Heimat und Vaterstadt zurücksenden. Und aus den Familien der Bürger, die mehr als einen Sohn im Alter von mindestens zehn Jahren ha­ ben, soll man zehn aus den Söhnen, die der Vater oder der Großvater vä­ terlicher- oder mütterlicherseits dafür vorschlägt, herauslosen und die

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e Namen der Ausgelosten nach Delphi senden, und wen der Gott dann be­ stimmt, den soll man als Erben in das Haus der Weggezogenen einsetzen mit besserem Glück. kl. Schön. ATH. Gemeinsam soll noch in einem dritten Fall ein einziges Gesetz gel­ ten für die Richter, die darüber zu richten haben, und ebenso soll das Ge­ richtsverfahren dasselbe sein für die, die jemand unter der Anschuldigung des Verrats vor Gericht bringt. Auch was das Verbleiben der Nachkom­ men bzw. ihre Auswanderung aus der Heimat betrifft, soll es hierfür ein 857a einziges Gesetz geben, das für alle drei gilt: für den Verräter, für den Tem­ pelräuber und den, der die Gesetze der Stadt mit Gewalt beseitigen will. Für einen Dieb, mag er nun etwas Großes oder etwas Kleines stehlen, soll wiederum nur ein Gesetz aufgestellt sein und eine Rechtsstrafe für alle. Denn als erstes muß er das Gestohlene doppelt ersetzen, wenn er in einem solchen Prozeß schuldig gesprochen wird und über sein Landlos hinaus noch genügend Vermögen besitzt, um zu bezahlen; wenn aber nicht, so soll er in Haft gehalten werden, bis er entweder bezahlt oder b den umstimmt, der seine Verurteilung veranlaßt hat. Wenn aber jemand des Diebstahls am Gemeineigentum überführt wird, so soll er erst, wenn er die Stadt überredet oder das Gestohlene doppelt ersetzt hat, aus der Haft entlassen werden. kl. Wieso können wir denn sagen, Fremder, daß es für den Dieb keinen Unterschied machen soll, ob er etwas Großes oder Kleines und ob er es von heiligen oder profanen Stätten gestohlen hat und was es sonst noch bei jedem Diebstahl an Ungleichheiten gibt, die der Gesetzgeber in ihrer Mannigfaltigkeit berücksichtigen müßte, indem er kein Vergehen mit den gleichen Strafen ahndet? άγη. Sehr gut, Kleinias. Gerade als ich mich gleichsam fortreißen ließ, c bist du mit mir zusammengeprallt und hast mich dadurch aufgeweckt und hast mich an das erinnert, was ich auch schon früher bedacht hatte, daß nämlich das Gebiet der Gesetzgebung noch auf keine Weise jemals richtig durchgearbeitet worden ist, wie man bei dem jetzt aufgetauchten Problem feststellen muß. Wie meinen wir das nun wiederum? Wir haben keinen schlechten Vergleich gezogen, als wir alle, denen heute Gesetze gegeben werden, mit Sklaven verglichen, die von Sklaven ärztlich be­ handelt werden. Denn über folgendes muß man sich völlig im klaren sein: wenn einmal einer der Ärzte, die die ärztliche Tätigkeit aufgrund ih­ rer Erfahrungen und ohne vernünftige Grundlegung ausüben, auf einen d freien Arzt träfe, der sich mit einem freien Patienten unterhält und dabei in einer Weise argumentiert, die sich fast dem Philosophieren nähert, und der die Krankheit von ihrem Ursprung her anpackt, indem er auf die all­ gemeine Natur der Körper zurückgeht, so würde jener sogleich in lautes

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Gelächter ausbrechen und keine anderen Sprüche vorbringen als die, die in solchen Fällen die meisten der sogenannten Ärzte rasch bei der Hand haben; er würde nämlich sagen: „Du Dummkopf, du behandelst ja nicht den Kranken, sondern erziehst ihn ja förmlich, als müßte er ein Arzt und e nicht gesund werden ! “ kl. Und hätte er mit einer solchen Behauptung nicht recht? ATH. Vielleicht, wenn er auch noch bedenken würde, daß jemand, der über Gesetze so spricht, wie wir es jetzt tun, die Bürger erzieht, nicht aber Gesetze gibt. Würde er nicht auch mit dieser Behauptung sich offen­ sichtlich angemessen ausdrücken? kl. Vielleicht. ATH. Nun befinden wir uns aber gegenwärtig in einer glücklichen Lage. kl. In welcher denn? ATH. Daß uns keinerlei Notwendigkeit zwingt, Gesetze zu geben, son858a dem wir uns aus eigenem Entschluß in einer Betrachtung über eine Ver­ fassung im allgemeinen befinden und dabei das Beste und das unum­ gänglich Notwendige zu erkennen suchen und auf welche Weise sich beides wohl verwirklichen ließe. Und so steht es uns jetzt offensichtlich frei, wenn wir wollen, das Beste oder auch, wenn wir dies wollen, das Notwendigste auf dem Gebiet der Gesetze zu betrachten. Wählen wir al­ so das, was uns beliebt. kl. Vor eine lächerliche Wahl, Fremder, stellen wir uns da; und wir würden in genau die gleiche Lage geraten wie Gesetzgeber, die von einer b dringenden Notwendigkeit gezwungen werden, schon jetzt Gesetze zu geben, als ob dies morgen nicht mehr möglich wäre. Wir aber haben — mit Gottes Hilfe, muß man sagen - die Freiheit, wie die Maurer oder wie Leute, die sonst ein Bauwerk beginnen, zunächst das Material haufen­ weise zusammenzutragen, aus dem wir das für den künftigen Bau Geeig­ nete auswählen, und so in aller Ruhe unsere Auswahl zu treffen. Nehmen wir also an, wir seien jetzt nicht Leute, die unter Zwang ein Haus bauen, sondern solche, die in aller Ruhe einiges erst noch bereitlegen und ande­ res schon zusammenfügen. Daher kann man mit Recht sagen, daß von c den Gesetzen bereits einige aufgestellt werden, für andere erst das Mate­ rial bereitgestellt wird. ATH. Jedenfalls, Kleinias, dürfte unser Verfahren einer zusammenschau­ enden Betrachtung der Gesetze am ehesten der Natur der Sache gemäß sein. So wollen wir denn, bei den Göttern, folgenden Punkt bezüglich der Gesetzgeber betrachten. kl. Welchen denn? άγη. Schriftwerke und schriftlich aufgezeichnete Reden gibt es doch wohl von vielen andern Leuten in den Städten; Schriften und Reden sind aber auch die Werke der Gesetzgeber.

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wir nun zwar den Schriften der andern, der Dichter und all d derer, die ihre Ratschläge für das Leben ohne Versmaß und in Versmaßen zur Erinnerung schriftlich niedergelegt haben, unsere Aufmerksamkeit zuwenden, den Schriften der Gesetzgeber aber nicht? Oder diesen am meisten von allen? kl. Ja, diesen bei weitem am meisten. ath. Aber soll denn nun der Gesetzgeber als einziger unter den Schrift­ stellern nicht verpflichtet sein, über das Schöne, das Gute und das Ge­ rechte seinen Rat zu erteilen, indem er uns belehrt, wie dies beschaffen ist und wie sich diejenigen darum bemühen müssen, die glücklich sein wollen? kl. Und wieso sollte er nicht verpflichtet sein? e ath. Ist es nun etwa eine größere Schande für Homer und Tyrtaios und die anderen Dichter, wenn sie in ihren Schriftwerken verkehrte Anwei­ sungen für das Leben und seine Bestrebungen geben, dagegen eine ge­ ringere Schande für Lykurg und Solon und alle anderen, die als Gesetz­ geber Schriften verfaßt haben? Oder müssen nicht, wenn es richtig zuge­ hen soll, von allen Schriftwerken in den Städten die Schriften über die Gesetze, wenn man sie aufschlägt, sich als die weitaus schönsten und besten erweisen, während die Schriften der anderen entweder damit über859a einstimmen oder, falls sie davon abweichen, lächerlich erscheinen müs­ sen? Sollen wir uns nun die Art, wie die Abfassung von Gesetzen für die Städte vor sich zu gehen hat, so denken, daß das Geschriebene in der Haltung liebevoller und vernünftiger Väter und Mütter auftritt, oder so, daß man nach Art eines Tyrannen und Herren Befehle und Drohungen ausstößt und wenn man diese auf Wände geschrieben hat, damit fertig ist? Also wollen wir auch im vorliegenden Fall überlegen, ob wir versu­ chen sollten, in jener ersten Denkweise über Gesetze zu sprechen, mögen b wir dazu fähig sein oder nicht, jedenfalls indem wir unseren ganzen Eifer dafür aufbieten. Und wenn wir diesen Weg gehen und dabei manches auf uns zu nehmen haben, so wollen wir es auf uns nehmen. Doch möge es gut gehen! Und wenn Gott will, wird es auch so geschehen. kl. Schön gesprochen. Verfahren wir also, wie du sagst. ath. Zuerst müssen wir also, wie wir bereits begonnen hatten, das Ge­ setz über die Tempelräuber und über Diebstahl im allgemeinen und über­ haupt alle Unrechtstaten genau prüfen und dürfen nicht unzufrieden sein, wenn wir mitten in der Abfassung von Gesetzen einige Bestimmungen c bereits festgesetzt haben, über andere aber noch Untersuchungen anstel­ len. Denn wir werden ja erst Gesetzgeber, sind es aber noch nicht; viel­ leicht werden wir es aber bald. Wenn ihr nun dafür seid, daß wir das, was

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ich erwähnt habe, in der erwähnten Weise untersuchen, so wollen wir dies tun. kl. Ja, unbedingt. ATH. Was nun das Schöne und Gerechte im allgemeinen betrifft, so wol­ len wir folgendes zu erkennen suchen: nämlich, in welcher Hinsicht wir selbst denn jetzt miteinander hierüber einer Meinung sind und in welcher wir mit uns selbst uneins sind (die wir doch, wie wir meinen, zumindest danach streben, uns von den meisten Leuten zu unterscheiden), und anci dererseits, inwiefern die Masse der Menschen untereinander einig oder uneinig ist. kl. An welche Meinungsverschiedenheiten zwischen uns denkst du denn bei diesen deinen Worten? ATH. Ich will es zu erklären versuchen. Über die Gerechtigkeit im allge­ meinen und über die gerechten Menschen und Dinge und Handlungen sind wir uns doch alle einig, daß dies alles schön ist. Daher würde selbst dann, wenn einer behaupten würde, daß die gerechten Menschen, auch wenn sie körperlich häßlich sind, eben wegen ihrer gerechten Gesinnung e vollkommen schön seien, fast niemand, der so etwas sagt, etwas Verkehr­ tes zu sagen scheinen. kl. Und nicht mit Recht? ATH. Vielleicht. Wir wollen aber noch folgendes betrachten: wenn alles schön ist, was mit der Gerechtigkeit zusammenhängt, so gehört doch zu diesem ,allen4 gewiß auch das uns zugefugte Leiden, fast in gleichem Maße wie unsere Taten. kl. Wie das? άγη. Jedes Tun, sofern es gerecht ist, hat doch so ziemlich in demselben Maße, in dem es am Gerechten teilhat, auch am Schönen teil. kl. Gewiß. ATH. Wenn wir uns also darauf einigten, daß auch ein Leiden, sofern es 860a am Gerechten teilhat, in demselben Maße schön wird, so würde dies kei­ nen Widerspruch in unserer Argumentation bedeuten? kl. Richtig. άγη. Wenn wir uns aber darauf einigten, daß ein Leiden zwar gerecht, aber häßlich ist, dann wird das Gerechte und das Schöne miteinander in Widerspruch geraten, weil ja das Gerechte damit für äußerst häßlich er­ klärt wird. kl. Wie hast du das gemeint? άγη. Dies ist nicht schwer zu begreifen. Die kurz zuvor von uns aufge­ stellten Gesetze könnten nämlich den Eindruck erwecken, als gäben sie Anweisungen, die zu den gerade eben gemachten Aussagen in allergröß­ tem Gegensatz stehen. kl. Zu welchen denn?

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ATH. Wir hatten doch festgesetzt, daß der Tempelräuber gerechterweise sterben soll und ebenso der Feind der in der rechten Weise aufgestellten Gesetze. Und als wir uns anschickten, noch viele weitere Gesetzesbe­ stimmungen dieser Art aufzustellen, hielten wir inne, weil wir sahen, daß dies zu Leiden fuhrt, die nach Anzahl und Schwere unbegrenzt sind, die aber die gerechtesten von allen Leiden sind und zugleich von allen die häßlichsten. Wird also nicht auf diese Weise das Gerechte und das Schö­ ne bald als völlig identisch, bald als im höchsten Maße entgegengesetzt erscheinen? kl. Das ist zu befürchten. c ATH. Daher pflegt die große Masse der Menschen über derartige Dinge widersprüchlich zu urteilen und vom Schönen und vom Gerechten als von ganz getrennten Dingen zu sprechen. kl. So scheint es jedenfalls, Fremder. ATH. Was nun aber unseren eigenen Standpunkt betrifft, lieber Kleinias, so wollen wir noch einmal sehen, wie es denn auf der andern Seite mit unserer Übereinstimmung auf eben diesem Gebiet bestellt ist. kl. Welche Äußerung gegenüber welcher meinst du denn? άγη. In unserem vorausgehenden Gespräch habe ich es, glaube ich, deutlich genug gesagt; sollte es aber wirklich noch nicht vorher gesche­ hen sein, so laßt mich jetzt sagen kl. Was denn? d άγη. Daß die Schlechten alle in allen Beziehungen unfreiwillig schlecht sind. Wenn es sich aber so verhält, so muß sich hieran notwendigerweise der nächste Satz anschließen. kl. Welchen meinst du? άγη. Daß der Ungerechte gewiß schlecht, der Schlechte aber unfreiwil­ lig so ist. Daß aber unfreiwillig jemals etwas Freiwilliges getan wird, das ergibt keinen Sinn. Also wird jemand, der Unrecht tut, unfreiwillig Un­ recht tun nach der Ansicht desjenigen, der die Ungerechtigkeit als etwas Unfreiwilliges ansieht, und so muß auch ich das jetzt zugeben. Denn auch ich behaupte, daß alle nur unfreiwillig Unrecht tun; und mag auch jemand aus Rechthaberei und Geltungssucht behaupten, daß die Ungee rechten zwar unfreiwillig so seien, daß aber viele freiwillig ungerecht handelten, so ist doch meine Behauptung jene und nicht diese. Auf wel­ che Weise könnte ich nun mit meinen eigenen Worten im Einklang blei­ ben? Wenn ihr beide, Kleinias und Megillos, mich fragen würdet: „Wenn sich das nun so verhält, Fremder, welchen Rat kannst du uns da bezüg­ lich der Gesetzgebung für die Stadt der Magneten geben? Sollen wir Ge­ setze geben oder nicht?“ — „Warum denn nicht?“ werde ich sagen. „Wirst du also für sie unterscheiden zwischen unfreiwilligen und freiwilligen Unrechtstaten, und sollen wir auf die freiwilligen Vergehen und Un-

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rechtstaten die größeren Strafen setzen, für die andern geringere? Oder für alle in gleicher Höhe, da es ja nach unserer Überzeugung überhaupt keine freiwilligen Unrechtstaten gibt?“ kl. Da hast du allerdings recht, Fremder. Und welche Anwendung sol­ len wir von dem soeben Gesagten machen? ath. Eine gute Frage. Zuerst wollen wir also folgende Anwendung da­ von machen. kl. Welche denn? ath. Wir wollen uns ins Gedächtnis rufen, daß wir gerade soeben tref­ fend gesagt haben, daß über das Gerechte viel Verwirrung und Uneinig­ keit unter uns herrsche. Indem wir das aufgreifen, wollen wir uns wiederum fragen: „Sollen wir also für diese Schwierigkeit keinen Ausweg su­ chen und auch nicht genauer definieren, worin sich dies beides voneinan­ der unterscheidet, was doch in allen Städten von allen Gesetzgebern, die es je gegeben hat, als zwei verschiedene Arten von Unrechtstaten ange­ sehen wird, nämlich als freiwillige und unfreiwillige, und auch demge­ mäß im Gesetz behandelt wird, sondern soll der von uns eben geäußerte Satz, als wäre er von einem Gott gesprochen, mit dieser bloßen Behaup­ tung davonkommen und ohne über seine Richtigkeit Rechenschaft abzulegen, dann trotzdem irgendwie Gesetze geben?“ Dies ist nicht möglich, sondern wir müssen noch vor der Aufstellung von Gesetzen irgendwie deutlich machen, daß dies zwei verschiedene Dinge sind und daß ihr Un­ terschied ein anderer ist, damit nachher, wenn jemand für jede der beiden Arten die Strafen festsetzt, jedermann dem, was gesagt wird, folgen kann und fähig ist, einigermaßen zu beurteilen, welche Anordnung angemes­ sen ist und welche nicht. kl. Es scheint, daß du recht hast, Fremder. Denn eines von beiden müs­ sen wir tun: entweder dürfen wir nicht behaupten, daß alle Unrechtstaten unfreiwillig sind, oder wir müssen zuerst durch eine begriffliche UnterScheidung die Richtigkeit dieser Behauptung aufzeigen. ath. Von diesen beiden scheint mir nun das eine schlechterdings un­ möglich, nämlich die Behauptung aufzugeben, da ich überzeugt bin, daß sie wahr ist - denn das entspräche nicht meiner Art und wäre auch nicht fromm —; inwiefern sie aber zwei verschiedene Dinge sind, wenn sie sich nicht durch das Unfreiwillige und Freiwillige, sondern durch etwas ande­ res unterscheiden, das müssen wir, so gut es geht, zu klären versuchen. kl. Auf jeden Fall, Fremder; denn eine andere Möglichkeit können wir uns nicht vorstellen. ath. So soll es den geschehen. Nun also: gegenseitige Schädigungen, so scheint es, kommen doch im Zusammenleben und im Umgang der Bürger miteinander recht oft vor, und das Freiwillige und Unfreiwillige ist dabei reichlich anzutreffen.

46 kl. Wie sollte es anders sein! ATH. Nun soll aber niemand

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alle Schädigungen als Ungerechtigkeiten einstufen und dann glauben, daß auch das Ungerechte in ihnen auf diese Weise von zweifacher Art sei, nämlich teils freiwillig, teils unfreiwillig (denn innerhalb der Gesamtheit der Schädigungen stehen die unfreiwilli­ gen Schädigungen weder an Zahl noch an Schwere hinter den freiwilli­ gen zurück). Prüft vielmehr, ob ich mit dem, was ich jetzt sagen werde, 862a etwas Wesentliches oder gar überhaupt nichts sage. Ich jedenfalls behaupte nicht, lieber Kleinias und Megillos, wenn je­ mand einen andern schädigt, ohne es zu wollen, sondern unfreiwillig, daß er dann ein Unrecht begehe, allerdings unfreiwillig, und ich werde auch nicht in der Weise Gesetze geben, daß ich dies als unfreiwillige Un­ rechtstat in meinem Gesetz einstufe, sondern ich werde eine derartige Schädigung sogar überhaupt nicht als Ungerechtigkeit ansehen, gleich­ gültig ob sie jemanden schwerer oder leichter trifft. Oft aber werden wir, wenn einem ein nicht rechtmäßiger Nutzen verschafft wird, vom Urheber dieses Nutzens sagen müssen, daß er ein Unrecht begehe - jedenfalls b wenn sich meine Meinung durchsetzen sollte. Denn in der Regel, meine Freunde, darf man doch nicht, wenn jemand einem anderen etwas von seinem Besitz gibt oder wenn er ihm umgekehrt etwas wegnimmt, so et­ was einfach für gerecht oder ungerecht erklären; sondern ob jemand in gerechter Gesinnung und Denkweise einem anderen nützt oder schadet, darauf muß der Gesetzgeber schauen, und auf diese beiden Dinge muß er den Blick richten: auf die Ungerechtigkeit und auf den Schaden, und den angerichteten Schaden muß er durch seine Gesetze möglichst wieder hei­ len, indem er das Zerstörte wiederherstellt, das von jemandem Umgec stürzte wieder aufrichtet und das Getötete oder Verwundete wieder heil macht; wenn aber durch Zahlung einer Buße eine Aussöhnung zwischen Tätern und Opfern der jeweiligen Schädigung zustande gekommen ist, muß er jedesmal versuchen, sie durch seine Gesetze aus der Zwietracht in einen Zustand der Freundschaft zu versetzen. kl. Das ist ein schönes Ziel. άγη. Was nun aber die ungerechten Schädigungen und Bereicherungen betrifft, falls jemand durch eine ungerechte Handlung einen anderen be­ reichert, so soll man hiervon alles, was heilbar ist, da es sich hierbei um Krankheiten in der Seele handelt, heilen; diese Heilung der Ungerechtig­ keit, so müssen wir sagen, zielt in folgende Richtung. kl. In welche? d άγη. Daß das Gesetz, mag nun einer eine große oder eine kleine Unge­ rechtigkeit begangen haben, den Täter belehrt und ihn zwingt, eine derar­ tige Tat künftig entweder überhaupt niemals mehr willentlich zu wagen oder doch beträchtlich weniger oft, und zwar zusätzlich zur Wiedergut­

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machung des Schadens. Ob dies nun jemand durch Taten oder durch Worte oder mit Hilfe von Lust oder Schmerz oder durch Zuerkennung oder Aberkennung von Ehrungen oder durch Geldstrafen oder gar Ge­ schenke oder auf welche Weise auch immer er dies überhaupt erreicht, daß man die Ungerechtigkeit haßt und die wahre Natur des Gerechten liebt oder nicht haßt: genau dies ist die Aufgabe der schönsten Gesetze. e Wenn aber der Gesetzgeber merkt, daß einer in dieser Hinsicht unheil­ bar ist, welche Strafe und welches Gesetz soll er für diese aufstellen? Da er vermutlich einsieht, daß es einerseits für alle Menschen dieser Art sel­ ber nicht besser ist, am Leben zu bleiben, daß sie aber andererseits den übrigen einen doppelten Nutzen erweisen, wenn sie aus dem Leben schei­ den, indem sie erstens den anderen ein warnendes Beispiel geben, kein Unrecht zu begehen, und sodann die Stadt von schlechten Menschen be863a freien, so muß also der Gesetzgeber über solche Menschen als Strafe für ihre Vergehen den Tod verhängen, sonst aber auf gar keinen Fall. kl. Was du da sagst, scheint zwar irgendwie ganz angemessen; aber wir würden gern folgendes noch deutlicher dargelegt hören, nämlich den Unterschied zwischen der Ungerechtigkeit und der Schädigung, und den­ jenigen zwischen freiwillig und unfreiwillig, wie er unter diese gemischt ist. ATH. So muß ich denn versuchen, zu tun, wie ihr verlangt, und zu spreb chen. Denn offenbar pflegt ihr untereinander über die Seele wenigstens so viel zu sagen und zu hören, daß in ihr, sei es als ein Zustand oder ein Teil ihrer Natur, der Zorn wohnt, ein streitsüchtiges und schwer zu be­ kämpfendes Besitzstück, das ihr da eingepflanzt ist, und daß dieser mit unvernünftiger Gewalt viele Zerstörungen anrichtet. kl. Gewiß. ATH. Und als Lust bezeichnen wir etwas, das mit dem Zorn nicht iden­ tisch ist; vielmehr sagen wir, daß sie mittels einer ihm entgegengesetzten Kraft ihre Herrschaft ausübt, indem sie durch Überredung, vereint mit gewalttätiger Täuschung, alles durchsetzt, was ihr Wollen sich wünscht. kl. Und wie! c άγη. Wenn man drittens ferner die Unwissenheit als eine Ursache der Verfehlungen anführen würde, so würde man damit nicht lügen. Noch besser allerdings würde der Gesetzgeber daran tun, wenn er diese in zwei Arten scheiden würde, deren eine, die einfache, er als Ursache der leich­ ten Vergehen betrachtet; was aber die doppelte betrifft, wenn nämlich ei­ ner sich als unbelehrbar erweist, weil er nicht nur in Unwissenheit befan­ gen ist, sondern auch im Dünkel der Weisheit, als wüßte er genau Be­ scheid über das, wovon er gar nichts weiß, so wird der Gesetzgeber, wenn sich mit ihr Macht und Stärke verbindet, eine derartige Haltung als Ursache der großen und unschönen Verfehlungen ansehen; wenn sie aber

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von Schwachheit begleitet ist, so wird er die Verfehlungen von Kindern und Greisen, die daraus entspringen, zwar als Verfehlungen betrachten und gegen diese Leute als Urheber dieser Verfehlungen Gesetze aufstel­ len, jedoch die allermildesten und von größter Nachsicht getragenen. kl. Was du sagst, leuchtet ein. ath. Was nun Lust und Zorn angeht, so sagen wir doch fast alle, daß der eine von uns diesen überlegen, der andere aber ihnen unterlegen ist, und so verhält es sich ja auch. kl. Ganz gewiß. ath. Was aber die Unwissenheit angeht, so haben wir noch nie gehört, daß der eine von uns ihr überlegen und der andere ihr unterlegen sei. e kl. Vollkommen richtig. ath. Von diesen allen behaupten wir aber, daß sie einen jeden, wenn er in die Richtung seines eigenen Wollens gezogen wird, oft zugleich in die entgegengesetzte Richtung drängen. kl. Sehr oft sogar. ath. Nunmehr kann ich dir das Gerechte und das Ungerechte, wie ich es verstehe, voneinander abgrenzen, ohne sie zu vermengen. Die von Zorn und Furcht, von Lust und Schmerz, von Neidgefühlen und Begier­ den in der Seele ausgeübte Tyrannei nenne ich, gleichgültig ob sie einen 864a Schaden anrichtet oder nicht, in jedem Fall Ungerechtigkeit. Wenn dage­ gen die Vorstellung vom Besten, wie auch immer eine Stadt oder einzel­ ne Individuen sich dessen Verwirklichung denken mögen, in den Seelen herrscht und jeden Mann ordnend durchdringt, dann muß man, auch wenn er einmal einen Fehler begeht, dennoch sagen, daß alles gerecht ist, was in dieser Überzeugung getan wird und was sich in jedem einzel­ nen einer solchen Herrschaft unterwirft, und daß es für das ganze Leben der Menschen das Beste ist, während jedoch von den meisten eine so ent­ standene Schädigung für eine unfreiwillige Ungerechtigkeit gehalten wird. Unsere Rede ist jetzt aber nicht auf einen Streit um Worte aus, sonb dem da deutlich geworden ist, daß es drei Arten von Verfehlungen gibt, so wollen wir diese zunächst noch tiefer dem Gedächtnis einprägen. Aus dem Schmerz also, den wir als Zorn und Furcht bezeichnen, geht nach unserer Ansicht die eine Art hervor. kl. Gewiß. ath. Aus der Lust wiederum und den Begierden eine zweite Art; und das Streben der Erwartungen und der wahren Vorstellung, die sich auf das Beste richtet, bildet eine dritte, davon verschiedene Art. Da wir diese Art ihrerseits durch zweimaligen Schnitt in drei Arten zerlegt haben, so haben sich fünf Arten ergeben, wie wir jetzt feststellen; und für diese c fünf Arten sind nun unterschiedliche Gesetze aufzustellen, die in zwei Gattungen zerfallen. d

Neuntes Buch kl. Welches sind diese Gattungen? ATH. Einerseits alles, was durch gewaltsames

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und offenes Vorgehen be­ gangen wird; auf der anderen Seite das, was im Dunkel und mit Täu­ schung heimlich geschieht; manchmal wird auch etwas durch diese bei­ den Mittel zugleich verübt: für diesen Fall werden auch die härtesten Ge­ setze aufgestellt müssen, wenn sie ihre Aufgabe angemessen erfüllen sol­ len. kl. Das leuchtet ein. ATH. Kehren wir also als nächstes dorthin zurück, von wo wir hierher abgeschweift waren, um die Aufstellung der Gesetze zu vollenden. d Es waren von uns bereits Gesetze aufgestellt für die, welche die Götter berauben, glaube ich, und für die Verräter, ferner auch über die, die die Gesetze untergraben mit dem Ziel eines Umsturzes der bestehenden Ver­ fassung. Von diesen Taten könnte nun jemand vielleicht eine im Wahn­ sinn begehen oder weil er von einer Krankheit oder von übermäßigem Alter bedrückt wird oder im kindlichen Alter, in welchem er sich ja nicht sehr von solchen Leuten unterscheidet. Wenn hiervon etwas den Auserle­ senen Richtern bekannt wird, weil der Täter oder der Fürsprecher des Täe ters hierauf die Schuld schiebt, und wenn das Urteil lautet, daß er in solch einem Zustand gegen die Gesetze gehandelt hat, so soll er den Schaden, den er etwa jemandem zugefügt hat, auf jeden Fall in einfacher Höhe er­ setzen, von den anderen Rechtsfolgen soll er aber verschont bleiben, au­ ßer wenn er jemanden getötet hat und seine Hände daher nicht rein von Mord sind. In diesem Fall soll er in ein anderes Land und an einen andern Ort fortziehen und dort ein Jahr außer Landes wohnen; wenn er aber vor der vom Gesetz festgesetzten Zeit zurückkommt oder auch nur den Hei­ matboden betritt, so soll er von den Gesetzeswächtem zwei Jahre in öf­ fentlicher Haft gehalten werden und dann von der Haft befreit werden. 865a Wie wir nun mit der Behandlung der Tötung bereits den Anfang ge­ macht haben, wollen wir nun versuchen, bis zum Ende über jede Art von Tötung die entsprechenden Gesetze aufzustellen; und als erstes wollen wir über die gewaltsamen und ungewollten Tötungen sprechen. Wenn jemand bei einem Wettkampf und öffentlichen Spielen unge­ wollt, sei es sofort oder auch später als Folge der Verletzungen, einen be­ freundeten Menschen tötet oder im Krieg unter denselben Umständen oder bei einer kriegerischen Übung, bei der man sich mit unbewaffnetem Körper im Speerwurf übt oder mit irgendwelchen Waffen die kriegeb rische Tätigkeit nachahmt, so soll er, wenn er nach dem hierüber aus Del­ phi eingeholten Gesetz gereinigt worden ist, rein sein. Was die Ärzte im allgemeinen betrifft, so soll, wenn der Patient gegen ihren Willen unter ihrer Behandlung stirbt, der Arzt nach dem Gesetz rein. Wenn jemand mit eigener Hand, aber ungewollt einen andern tötet, sei

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es mit dem eigenen unbewaffneten Körper oder mit einem Werkzeug oder mit einem Wurfgeschoß oder durch Darreichung eines Tranks oder einer Speise oder durch Anwendung von Feuer oder Kälte oder durch c Entziehung der Luft, entweder er selbst mit dem eigenen Körper oder durch andere Körper, so soll er in jedem Fall wie ein eigenhändiger Täter behandelt werden und folgende Strafen erleiden: Wenn er einen Sklaven tötet, so soll er sich vorstellen, sein eigener Sklave wäre umgekommen, und demgemäß dem Herrn des Getöteten den Schaden und den Verlust ersetzen; andernfalls soll er eine gerichtli­ che Strafe in Höhe des doppelten Wertes des Getöteten leisten; die Ab­ schätzung des Wertes sollen die Richter vornehmen. Ferner soll er sich gründlicheren und zahlreicheren Reinigungen unterziehen als im Falle derer, die bei den Wettkämpfen eine Tötung begangen haben; hierüber d haben die Ausleger zu entscheiden, die der Gott erwählt hat. Wenn er seinen eigenen Sklaven tötet, so soll er sich reinigen und dann vom Mord nach dem Gesetz rein sein. Wenn jemand einen Freien ungewollt tötet, so soll er sich denselben Reinigungen unterziehen wie einer, der einen Sklaven getötet hat. Eine seit alters erzählte Sage der Vorzeit soll er aber nicht geringachten. Man sagt nämlich, daß einer, der gewaltsam getötet worden ist, nachdem er mit der Gesinnung eines freien Mannes gelebt hat, dem Täter zürne, soe lange sein Tod noch frisch sei; und wenn er, selber noch ganz von Schre­ cken und Angst wegen der erlittenen Gewalttat erfüllt, sehe, wie sich sein Mörder an den Orten herumtreibt, die ihm selbst einst vertraut waren, so empfinde er Angst und suche, selber in Verwirrung geraten, auch den Tä­ ter mit aller Macht zu verwirren — wobei er in dessen Gedächtnis einen Verbündeten finde —, und zwar sowohl diesen selbst als auch dessen Un­ ternehmungen. Deshalb muß also der Täter dem Opfer durch sämtliche Zeiten des Jahres hindurch aus dem Wege gehen und alle Orte in der ge­ samten Vaterstadt meiden, die diesem vertraut waren. Ist aber der Getöte­ te ein Fremder, so soll er auch aus dem Land des Fremden für dieselbe 866a Zeit ausgeschlossen sein. Wenn nun jemand diesem Gesetz freiwillig gehorcht, so soll der nächs­ te Verwandte des Toten, der darauf zu sehen hat, daß dies alles geschieht, ihm Verzeihung gewähren, und wenn er dann noch Frieden mit ihm schließt, wird er sich völlig angemessen verhalten. Wenn aber einer nicht gehorcht und erstens ungereinigt in die Heiligtü­ mer zu gehen und zu opfern wagt und darüber hinaus nicht gewillt ist, die angegebene Zeit bis zum Ende in der Fremde zuzubringen, so soll b der nächste Verwandte des Getöteten gegen den Täter wegen Totschlags gerichtlich vorgehen, und wenn er schuldig gesprochen wird, sollen alle Strafen verdoppelt werden.

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Wenn aber der nächste Angehörige die erlittene Gewalttat nicht ver­ folgt, so soll man annehmen, daß die Befleckung auf ihn selbst überge­ gangen sei, indem das Opfer der Gewalt die mit der Gewalttat verbunde­ ne Befleckung auf ihn überträgt, und jeder, der das will, soll gegen ihn gerichtlich vorgehen und ihn zwingen, seiner Vaterstadt fünf Jahre lang femzubleiben. Wenn aber ein Fremder ungewollt einen von den Fremden in der Stadt c tötet, so soll jeder, der das will, aufgrund derselben Gesetze gegen ihn vorgehen. Ist der Täter ein Metöke, soll er für ein Jahr außer Landes ge­ hen. Ist er aber ein völlig Fremder, so soll er neben der Reinigung, gleichgültig ob er einen Fremden oder einen Metöken oder einen Bürger getötet hat, sein ganzes Leben lang aus dem Land verbannt werden, das diese Gesetze gibt. Kehrt er jedoch entgegen dem Gesetz zurück, so sol­ len ihn die Gesetzeswächter mit dem Tod bestrafen und falls er Eigentum besitzt, dieses dem nächsten Verwandten des Getöteten übergeben. Wenn d er aber gegen seinen Willen zurückkommt, so soll er, falls er zur See an unser Land verschlagen wird, dort sein Lager aufschlagen und die Füße im Meer netzend auf eine Gelegenheit zur Weiterfahrt warten; falls er aber auf dem Landweg gewaltsam von irgendwelchen Leuten hereinge­ schleppt wird, so soll ihn der erste Beamte, der auf ihn trifft, befreien und unbehelligt über die Grenze zurückschicken. Wenn jemand mit eigener Hand einen Freien getötet hat, die Tat aber im Zorn geschehen ist, so sind bei einer solchen Tat zunächst zwei Fälle zu unterscheiden. Im Zorn handeln nämlich einmal alle diejenigen, die plötzlich und ohe ne vorausgehenden Tötungsvorsatz jemanden durch Schläge oder sonsti­ ge Mittel umbringen, weil sie in diesem Augenblick der Drang dazu überkommt, und wo sich dann sogleich Reue über die Tat einstellt; im Zorn handeln aber auch alle diejenigen, die wegen einer Kränkung durch Worte oder gar durch entehrende Handlungen auf Rache sinnen und erst später jemanden töten in der festen Absicht, ihn zu töten, und die diese Tat auch nicht bereuen. Wir müssen also, wie es scheint, zwei Arten von Tötung annehmen, 867a die beide mehr oder weniger im Zorn geschehen und die man am richtig­ sten als ein Mittelding zwischen einer freiwilligen und einer unfreiwilli­ gen Tat bezeichnen würde. Jedoch ist jede der beiden Arten nur ein die­ sen ähnliches Abbild: Wer seinen Zorn aufhebt und sich nicht sogleich auf der Stelle, sondern mit Vorbedacht erst zu einem späteren Zeitpunkt rächt, der ähnelt dem freiwilligen Täter. Wer dagegen seine Wut nicht aufspart, sondern sie ohne Vorbedacht sogleich auf der Stelle in die Tat umsetzt, der gleicht dem unfreiwilligen; doch ist er kein ganz unfreiwilli­ ger Täter, sondern nur einem unfreiwilligen ähnlich.

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Darum ist es bei den im Zorn begangenen Tötungen schwer zu bestim­ men, ob man sie bei der Gesetzgebung als freiwillige oder einige wie un­ freiwillige behandeln soll. Am besten und der Wahrheit am ehesten ge­ mäß wird es allerdings sein, beide nach ihrer Ähnlichkeit einzustufen und sie je nach Vorbedacht oder Fehlen eines Vorbedachts voneinander zu scheiden und fur die Täter, die mit Vorbedacht und im Zorn töten, die härteren Strafen, und für die, die es ohne Vorbedacht und auf der Stelle tun, mildere Strafen im Gesetz festzulegen. Denn was einem schwereren Übel ähnlich ist, muß schwerer, was einem leichteren, muß leichter bec straft werden. So müssen denn auch unsere Gesetze verfahren. kl. Auf jeden Fall. ATH. Wir wollen also nochmals zum Ausgangspunkt zurückgehen und festsetzen: Wenn jemand eigenhändig einen Freien getötet hat, die Tat aber ohne Vorbedacht in irgendeiner Zomesaufwallung geschehen ist, so soll er im übrigen das erleiden, was einem zu erleiden zukommt, der ohne Zorn ge­ tötet hat; darüber hinaus aber soll er zwangsweise zwei Jahre in die Ver­ bannung gehen, damit er seinen Zorn zu zügeln lernt. d Wer dagegen zwar im Zorn, aber mit Vorbedacht jemanden tötet, der soll im übrigen dasselbe erleiden wie der vorige, jedoch soll er auf drei Jahre, wie jener auf zwei, verbannt sein, indem er entsprechend der Grö­ ße seines Zorns auch eine längere Zeit bestraft wird. Mit ihrer Rückkehr soll es folgendermaßen gehalten werden. Eine ex­ akte gesetzliche Regelung ist hier zwar schwierig; denn manchmal kann von diesen beiden der vom Gesetz als gefährlicher eingestufte Täter der harmlosere und der harmlosere der gefährlichere sein und bei der Tötung grausamer vorgegangen sein, der andere milder; meistens jedoch pflegt e es damit so zu stehen, wie wir eben gesagt haben. Alle diese Fragen ha­ ben die Gesetzeswächter zu entscheiden. Wenn für beide die Zeit der Verbannung abgelaufen ist, sollen sie zwölf aus ihrer Mitte als Richter an die Landesgrenzen schicken, die während dieser Zeit die Taten der Ver­ bannten noch eingehender geprüft haben, und diese sollen über die Ver­ zeihung und die Wiederaufnahme richterlich entscheiden; die Betroffe868a nen aber müssen es bei dem Spruch solcher Beamten bewenden lassen. Wenn aber der eine oder der andere der beiden nach der Rückkehr sich erneut vom Zorn überwältigen läßt und die gleiche Tat noch einmal be­ geht, so soll er verbannt werden und nie mehr zurückkehren; kehrt er trotzdem zurück, so soll es ihm ebenso ergehen wie bei der Rückkehr des Fremden. Wer seinen eigenen Sklaven getötet hat, soll sich reinigen; wenn er aber einen fremden im Zorn tötet, soll er dem Besitzer den Schaden dop­ pelt ersetzen. b

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Wenn aber einer von all diesen Totschlägern dem Gesetz nicht ge­ horcht, sondern ungereinigt den Markt, die Kampfplätze und die andern b heiligen Stätten befleckt, so soll jeder, der das will, sowohl den Angehö­ rigen des Getöteten, der das geschehen läßt, als auch den Totschläger vor Gericht bringen und ihn zwingen, den doppelten Betrag an Geld zu be­ zahlen und die sonstigen Handlungen doppelt zu vollziehen; die gezahlte Geldsumme aber soll er dem Gesetz gemäß für sich behalten dürfen. Wenn aber ein Sklave im Zorn seinen Herrn getötet hat, dann dürfen die Angehörigen des Getöteten mit dem Totschläger verfahren, wie sie c wollen, außer daß sie ihn auf keinen Fall am Leben lassen dürfen, und sollen damit rein von Schuld sein. Wenn aber ein Sklave einen anderen Freien im Zorn getötet hat, so sol­ len die jeweiligen Herren den Sklaven den Verwandten des Toten ausliefem; diese sind verpflichtet, den Täter zu töten, doch auf die Weise, die ihnen beliebt. Wenn ferner, was zwar vorkommt, aber nur selten, ein Vater oder eine Mutter im Zorn einen Sohn oder eine Tochter durch Schläge oder sonst auf gewaltsame Weise tötet, so sollen sie sich denselben Reinigungen wie die andern unterziehen und drei Jahre außer Landes gehen, nach der Rückd kehr der Totschläger soll sich die Frau von dem Mann und der Mann von der Frau trennen, und sie dürfen nie mehr zusammen Kinder zeugen noch den Herd mit denen teilen, denen sie ein Kind oder einen Bruder geraubt haben, oder mit ihnen zusammen an religiösen Feiern teilnehmen. Wer hiergegen frevelt und nicht gehorcht, der soll von jedem, der das will, we­ gen eines religiösen Vergehens gerichtlich belangt werden. Wenn aber ein Mann seine Ehefrau im Zorn tötet oder eine Frau ihrem e Mann auf dieselbe Weise dasselbe antut, so sollen sie sich denselben Rei­ nigungen unterziehen und volle drei Jahre in der Verbannung bleiben. Nach der Rückkehr aber darf jemand, der eine solche Tat begangen hat, nie mehr zusammen mit seinen Kindern an religiösen Feiern teilnehmen noch mit ihnen am selben Tisch sitzen; wenn aber der Vater oder das Kind dem nicht gehorcht, so sollen sie wegen Religionsfrevels von je­ dem, der das will, gerichtlich belangt werden können. Auch wenn ein Bruder seinen Bruder oder seine Schwester oder eine Schwester ihren Bruder oder ihre Schwester im Zorn tötet, so soll festge­ setzt sein, daß die Reinigungen und die Verbannungen in derselben Wei­ se, wie dies für die Eltern und Kinder festgesetzt worden ist, auch von diesen vollzogen werden müssen: mit den Geschwistern, denen er die Geschwister, und mit den Eltern, denen er die Kinder geraubt hat, darf er niemals mehr den Herd teilen oder an religiösen Feiern teilnehmen; wenn 869a aber jemand dem nicht gehorcht, so wird er wohl dem erwähnten Gesetz gegen solchen Religionsfrevel mit Fug und Recht verfallen.

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Sollte aber jemand seines Zornes gegenüber den Eltern wirklich so we­ nig Herr sein, daß er in der Raserei seiner Erregung einen seiner Erzeuger zu töten wagt, so soll er, falls der Getötete vor seinem Tode aus freien Stücken den Täter von diesem Mord losspricht, sich in der gleichen Wei­ se reinigen wie diejenigen, die eine unfreiwillige Tötung begangen ha­ ben, und soll auch im übrigen genau dasselbe wie jene tun und damit als rein gelten. Hat ihn aber der Tote nicht losgesprochen, so soll ein solcher Täter einer Vielzahl von Gesetzen verfallen sein. Denn er würde die äu­ ßersten Strafen wegen Mißhandlung verdienen und ebenso wegen Reli­ gionsfrevels und wegen Beraubung eines Heiligtums, da er die Seele sei­ nes Erzeugers beraubt hat. Wenn es daher möglich wäre, daß derselbe Mensch mehrmals sterben könnte, so müßte auch der Vater- und Muter­ mörder, der diese Tat im Zorn begangen hat, mit vollstem Recht mehrere Tode erleiden. Denn deijenige, dem als einzigem selbst zur Abwehr des Todes, falls er in Gefahr ist, von der Hand der Eltern zu sterben, kein Ge­ setz jemals gestatten wird, den Vater oder die Mutter zu töten, die sein Wesen ans Licht heraufgeführt haben, sondern ihm vielmehr gebieten wird, lieber alles auf sich zu nehmen und zu erdulden, als eine solche Tat zu begehen: wie könnte ein solcher Mensch je auf andere Weise seine an­ gemessene Strafe im Gesetz finden? So sei denn für den, der im Zorn den Vater oder die Mutter getötet hat, als Strafe der Tod festgesetzt. Tötet aber ein Bruder seinen Bruder, falls es bei Bürgerkriegen zu ei­ nem Kampf kommt oder auf ähnliche Weise, indem er sich gegen den andem wehrt, der als erster mit dem Angriff begonnen hat, so soll er, wie wenn er einen Feind getötet hätte, rein sein, und ebenso, wenn ein Bürger einen Bürger oder ein Fremder einen Fremden tötet. Wenn ein Bürger einen Fremden oder ein Fremder einen Bürger in Notwehr tötet, so sollen für die Reinheit von Schuld dieselben Bestim­ mungen gelten. Und wenn ein Sklave einen Sklaven tötet, ebenso. Wenn aber ein Skla­ ve einen Freien in Notwehr tötet, so soll er denselben Gesetzen verfallen wie einer, der seinen Vater getötet hat. Was aber über die Lossprechung vom Mord seitens des Vaters gesagt worden ist, dasselbe soll ebenso für jede Lossprechung von derartigen Vergehen gelten: wenn jemand, wer er auch sei, irgendjemanden freiwil­ lig davon losspricht, so sollen, wie wenn die Tötung unfreiwillig gesche­ hen wäre, vom Täter die entsprechenden Reinigungen vollzogen werden, und ein Jahr soll die Dauer des Aufenthalts in der Fremde nach dem Ge­ setz betragen. Und damit sollen die gewaltsamen und ungewollten und im Zorn be­ gangenen Fälle von Tötungen zur Genüge besprochen sein. Was aber die vorsätzlichen und in voller Ungerechtigkeit auf diesem

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Gebiet und mit Vorbedacht begangenen Taten betrifft, deren Ursache die Überwältigung durch Lüste und Begierden und Neidgefiihle ist, so müs­ sen wir diese nach jenen besprechen. kl. Da hast du recht. ATH. Wir wollen also wiederum zuerst über derartige Antriebe sprechen und nach Möglichkeit angeben, wie viele es gibt. 870a Der stärkste ist die Begierde, die sich einer Seele bemächtigt, wenn diese infolge unerfüllter Wünsche ganz wild worden ist. Dies geschieht besonders dort, wo das Verlangen bei den meisten Menschen gerade am größten und stärksten ist; ich meine damit die Macht des Geldes, welche zahllose Begierden nach unersättlichem und unbegrenztem Erwerb des­ selben in ihnen erzeugt infolge einer verkehrten Naturanlage und eines schlimmen Mangels an Erziehung. Schuld an diesem Mangel an Erzie­ hung ist das aus dem verkehrtem Rühmen des Reichtums durch Hellenen und Barbaren herrührende hohe Ansehen desselben. Indem sie ihn nämb lieh als das erste der Güter herausstellen, obwohl er doch nur das dritte ist, schädigen sie sowohl ihre Nachkommen als auch sich selbst. Denn wenn in allen Städten die Wahrheit über den Reichtum gesagt würde, so wäre das am allerschönsten und allerbesten: daß er nämlich um des Lei­ bes willen da ist, und der Leib um der Seele willen. Da nun diejenigen Zwecke, um derentwillen der Reichtum seiner Natur nach existiert, ihrer­ seits Güter sind, so ist er nur das dritte Gut nach der Tugend des Leibes und der Seele. Diese Überlegung könnte uns also darüber belehren, daß man nicht danach streben darf, reich zu sein, wenn man glücklich sein c will, sondern danach, auf gerechte und besonnene Weise reich zu sein; und so würden auch in den Städten keine Tötungen begangen, die durch Tötungen gesühnt werden müssen. So aber ist dies, wie wir anfangs sag­ ten, die eine und zwar die größte Ursache, die auch zu den größten Stra­ fen wegen vorsätzlicher Tötung führt. Die zweite ist die Haltung einer ehrgeizigen Seele, welche in ihr Neid­ gefühle erzeugt, gefährliche Hausgenossen vor allem für eben den, der den Neid beherbergt, zweitens aber auch für die Besten unter den Be­ wohnern der Stadt. An dritter Stelle haben die feigen und ungerechten Befürchtungen d schon viele Mordtaten hervorgebracht, wenn nämlich jemand etwas tut oder getan hat, wovon er wünscht, daß niemand darum weiß, daß es ge­ schieht oder geschehen ist; also beseitigen sie diejenigen, die das anzei­ gen könnten, durch den Tod, wenn sie es auf keine andere Weise errei­ chen können. Für all diese Fälle mag dies nun als Vorrede gesagt sein und dazu noch die Lehre, die gar viele aus dem Munde derer, die sich in den Mysterien mit solchen Dingen befaßt haben, zu hören bekommen und von der sie

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fest überzeugt sind: daß nämlich die Vergeltung für derartige Taten im Hades stattfinde und daß sie, wenn sie wieder hierher zurückkehren, zwangläufig die naturgemäße Strafe erleiden müssen, die darin bestehe, daß einer selber erleidet, was er getan hat, und von der Hand eines ande­ ren durch ein ähnliches Schicksal sein neues Leben endet. Wer sich da­ von überzeugen läßt und schon aufgrund der bloßen Vorrede eine solche Strafe von ganzem Herzen fürchtet, für den brauchen wir das darauf fol­ gende Gesetz nicht anzustimmen; für den Ungehorsamen aber sei folgendes Gesetz in schriftlicher Form verkündet. Wer vorsätzlich und ungerechterweise einen seiner Stammesgenossen eigenhändig tötet, der soll sich als erstes von den gewohnten Plätzen femhalten, so daß er weder die Heiligtümer noch den Markt noch die Hä­ fen noch sonst einen allgemeinen Versammlungsort befleckt, gleichgül­ tig, ob irgendein Mensch dies dem Täter untersagt oder nicht; denn das Gesetz untersagt es ihm und untersagt ihm dies jetzt und künftig jeweils ganz offen im Namen der ganzen Stadt. Wer aber den Täter nicht gerichtlich verfolgt, obwohl er dazu ver­ pflichtet ist, oder ihm seine Ausschließung nicht verkündet und dabei zur engeren Verwandtschaft des Getöteten auf männlicher oder weiblicher Seite gehört, der möge erstens die Befleckung und die Feindschaft der Götter auf sich selbst nehmen, da der Fluch des Gesetzes den Götter­ spruch auf ihn lenkt; zweitens soll er von jedem gerichtlich verfolgt wer­ den können, der den Getöteten rächen will. Wer ihn aber rächen will, der soll zunächst alles erfüllen, was die Beobachtung der hierfür vorgesehenen Waschungen und aller sonstigen vom Gott hierfür überlieferten Riten verlangt, und dann die Ausschließung öffentlich verkünden; dann soll er hingehen und den Täter zwingen, sich dem Vollzug der Strafe gemäß dem Gesetz zu stellen. Daß dies aber unter gewissen Gebeten zu geschehen hat und unter Op­ fern für diejenigen Götter, die dafür sorgen, daß keine Morde in den Städten vorkommen, das aufzuzeigen wäre dem Gesetzgeber ein leichtes. Welches aber diese Götter sind und welches das Verfahren ist, das bei der Einleitung derartiger Prozesse am richtigsten im Sinne der Gottheit anzu­ wenden wäre, das sollen die Gesetzeswächter unter Hinzuziehung von Auslegern und Sehern und mit Hilfe des Gottes gesetzlich festlegen und dementsprechend diese Prozesse einleiten. Richter hierüber sollen diesel­ ben sein wie die, denen wir die rechtskräftige Entscheidung über die Tempelräuber zugewiesen haben. Wer aber schuldig gesprochen wird, soll mit dem Tod bestraft werden und nicht im Lande des Opfers begraben werden, um neben der Vermei­ dung eines religiösen Frevels auch die Verweigerung der Verzeihung sichtbar zu machen. Ergreift er aber die Flucht und will sich nicht dem

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Urteil stellen, so soll er für immer verbannt sein. Wenn aber einer von diesen das Land des Ermordeten wieder betritt, so soll der erste von den Angehörigen des Getöteten oder auch von den Bürgern, der ihm begege net, ihn ungestraft töten oder ihn gefesselt den Beamten, die den Fall ab­ geurteilt haben, zur Hinrichtung übergeben. Wer aber die Klage vorbringt, soll gleichzeitig Bürgen von dem verlan­ gen, gegen den er die Klage vorbringt; dieser soll die Bürgen stellen, welche die hierfür zuständige Richterbehörde als zuverlässig erachtet, drei zuverlässige Bürgen also, die sich dafür verbürgen, daß sie ihn vor Gericht Vorführern Wenn er aber keine Bürgen stellen will oder kann, so soll die Behörde ihn festnehmen und in Haft nehmen und zur Entschei­ dung des Falls vorführen. 872a Wenn aber jemand, der zwar nicht eigenhändig getötet, aber den Tod eines anderen geplant hat und durch sein Wollen und sein Anstiften schuld an dessen Tod und in seiner Seele nicht rein von Mord ist, den­ noch in der Stadt wohnen bleibt, so soll auch für ihn das diesbezügliche Gerichtsverfahren in derselben Weise durchgeführt werden mit Ausnah­ me der Stellung von Bürgen; wird er schuldig gesprochen, soll ihm je­ doch gestattet sein, ein Grab in der Heimat zu erhalten; im übrigen soll mit ihm ebenso wie mit dem Vorgenannten verfahren werden. Dieselben Bestimmungen sollen auch gelten für Vergehen von Frem­ den gegen Fremde, von Bürgern und Fremden gegeneinander und auch b von Sklaven gegen Sklaven, und zwar sowohl bei eigenhändiger Tötung als auch bei bloßer Anstiftung, mit Ausnahme der Stellung von Bürgen: diese haben, wie gesagt, sonst nur die eigenhändigen Mörder zu stellen; wer aber die Ausschließung wegen Mordes verkündet, soll Bürgen auch von diesen Tätern verlangen. Wenn aber ein Sklave einen Freien willentlich tötet, sei es mit eigener Hand oder durch Anstiftung, und im Prozeß schuldig gesprochen wird, so soll ihn der amtliche Henker der Stadt zum Grabmal des Getöteten führen, von wo aus er das Grab sehen kann, und ihm so viele Peitschenc hiebe verabreichen, wie der Ankläger befiehlt; und wenn der Mörder die­ se Hiebe überlebt, soll er ihn töten. Wenn aber jemand einen Sklaven tötet, der nichts Unrechtes getan hat, sondern lediglich aus Furcht, dieser könnte schändliche und böse Taten von ihm anzeigen, oder aus sonst einem derartigen Grund, so soll er in derselben Weise, wie er bei der Tötung eines Bürgers einer Klage wegen Mordes verfallen würde, so auch wegen eines solchen Sklaven, der unter denselben Umständen ums Leben kommt, sich verantworten müssen. Wenn nun aber Taten geschehen, für die auch nur Gesetze zu geben schrecklich und keineswegs angenehm ist, keine zu geben jedoch unci möglich ist, nämlich für Tötungen von Verwandten, die mit eigener Hand

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oder durch Anstiftung begangen werden, freiwillige und gänzlich unge­ rechte Taten, die zwar meistens in schlecht verwalteten und erzogenen Städten geschehen, aber doch auch in einem Lande geschehen können, wo es niemand erwarten würde, so müssen wir noch einmal die kurz zu­ vor erwähnte Lehre vortragen; vielleicht daß einer, der uns hört, dank sol­ cher Mahnungen eher fähig wird, sich freiwillig der Tötungen zu enthal­ ten, die in jeder Hinsicht die frevelhaftesten sind. Die Sage oder Lehre e oder wie man sie sonst nennen soll, ist uns nämlich aus dem Mund von Priestern der Vorzeit anschaulich genug erzählt worden: daß die wach­ same Dike als Rächerin des verwandten Blutes nach dem eben erwähnten Gesetz verfährt und demnach angeordnet hat, daß deqenige, der eine sol­ che Tat begangen hat, dasselbe erleiden muß, was er getan hat: wenn je­ mand einst seinen Vater getötet hat, müsse er sich darauf gefaßt machen, daß er dasselbe zu irgendeinem Zeitpunkt gewaltsam von seinen Kindern erleidet, und wenn er die Mutter getötet hat, so müsse er als Angehöriger des weiblichen Geschlechts wiedergeboren werden und dann durch die von ihm Geborenen sein Leben zu einem späteren Zeitpunkt verlieren. Denn für die Befleckung mit gemeinsamem Blut gebe es keine andere Reinigung, und der Fleck lasse sich nicht eher auswaschen, bevor die für 873a die Tat verantwortliche Seele den Mord durch einen gleichen Mord ge­ büßt und den Zorn der gesamten Verwandtschaft dadurch versöhnt und beschwichtigt hat. Daher sollte sich jemand schon durch die Furcht vor derartigen Strafen seitens der Götter davon abschrecken lassen; wenn aber dennoch jemanden ein so jammervolles Unglück ereilen sollte, daß er in bewußter Absicht willentlich die Seele seines Vaters oder seiner Mutter oder seiner Geschwister oder seiner Kinder ihres Leibes zu berau­ ben wagt, so verfügt das vom sterblichen Gesetzgeber stammende Gesetz b folgendes über solche Leute: Die Ankündigungen des Ausschlusses von den öffentlichen Plätzen und die Bürgschaften sollen dieselben sein, wie sie für die vorigen Fälle angegeben wurden; wenn aber jemand einer sol­ chen Tötung schuldig gesprochen wird, weil er jemanden von diesen ge­ tötet hat, so sollen die Gehilfen der Richter und die Beamten ihn töten und ihn nackt auf eine dazu bestimmte Weggabelung außerhalb der Stadt hinwerfen; alle Beamten sollen im Namen der gesamten Stadt jeder einen Stein mitbringen und ihn auf den Kopf des Toten werfen und so die gec samte Stadt entsühnen; danach sollen sie ihn an die Landesgrenze schaf­ fen und ihn nach dem Gesetz unbestattet hinauswerfen. Wer aber den tötet, der ihm von allen am nächsten steht und ihm, wie man sagt, am liebsten ist, was soll der erleiden? Ich meine den, der sich selbst tötet und so das ihm vom Schicksal bestimmte Lebenslos gewalt­ sam verkürzt, ohne daß es die Stadt durch ein Gerichtsurteil angeordnet hat und ohne daß er durch ein überaus qualvolles unentrinnbares Ge­

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schick, das ihm zustieß, dazu gezwungen worden ist und auch ohne daß er sich eine ausweglose und das Leben verleidende Schmach zugezogen hat, sondern der aus Schlaffheit und unmännlicher Feigheit an sich selbst d ein ungerechtes Gericht vollzieht. Was in diesem Fall an sonstigen Bräu­ chen hinsichtlich der Reinigung und Bestattung zu beachten ist, das weiß der Gott, und hierüber sollen die nächsten Verwandten die Ausleger und die diesbezüglichen Gesetze befragen und gemäß den ihnen gegebenen Anweisungen verfahren; was aber die Grabstätten betrifft, so sollen die auf diese Weise Umgekommenen erstens Einzelgräber erhalten und niemand zusammen mit ihnen begraben werden, ferner soll man sie im Grenzge­ biet der zwölf Landesteile, soweit es unbebaut und namenlos ist, rühmlos bestatten, ohne die Gräber durch Stelen oder Namen zu bezeichnen. e Wenn aber ein Zugtier oder sonst ein Tier jemanden tötet — ausgenom­ men die Tiere, die an einem der öffentlich veranstalteten Wettkämpfe teilnehmen und dabei so etwas tun —, so sollen die Verwandten wegen der Tötung gegen das Tier, das getötet hat, vorgehen; darüber entschei­ den sollen diejenigen Landaufseher, welche und so viele von ihnen der Verwandte damit beauftragt; das schuldig gesprochene Tier soll man tö­ ten und über die Landesgrenze schaffen. Wenn aber etwas Unbeseeltes einen Menschen seiner Seele beraubt, sofern es nicht ein Blitz oder ein ähnliches von dem Gott kommendes Geschoß ist, sondern einer von den sonstigen Gegenständen, die jeman­ den töten, indem sich einer daran stößt oder er auf ihn herabfallt, so soll 874a der Verwandte den nächsten Nachbarn hierüber als Richter einsetzen und damit für sich selbst und die ganze Verwandtschaft die Reinigung von der Befleckung vollziehen; den schuldig gesprochenen Gegenstand soll man über die Grenze schaffen, wie dies für die Tiere vorgeschrieben wor­ den ist. Wenn aber jemand tot aufgefunden wird, aber der, der ihn getötet hat, unbekannt ist und trotz sorgfältiger Suche unauffindbar bleibt, so sollen dieselben Ankündigungen erfolgen wie in den anderen Fällen, und zwar soll man dem Täter den Ausschluß wegen Mordes verkünden, und nach b Einreichen der Klage soll man auf dem Markt durch einen Herold ver­ künden, daß derjenige, welcher den und den getötet und sich des Mordes schuldig gemacht hat, die Heiligtümer und überhaupt das Land des Getö­ teten nicht betreten soll, da er, wenn er entdeckt und erkannt werde, ster­ ben müsse und unbestattet aus dem Land des Getöteten hinausgeworfen werde. Dies also soll als ein Gesetz, die Tötung betreffend, rechtskräftig aufgestellt sein. Und so mag denn bei den bis hierher besprochenen Vergehen dieser Art in dieser Weise verfahren werden. Die Tötungen aber und die Bedin­ gungen, unter denen der Tötende mit Recht rein von Schuld ist, sollen

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folgende sein: Wenn jemand einen Dieb, der nachts mit der Absicht zu c stehlen in sein Haus eindringt, ertappt und tötet, soll er rein sein. Und wenn er einen Räuber in Notwehr tötet, soll er rein sein. Und wenn einer eine freie Frau oder einen Knaben aus sexuellem Antrieb vergewaltigt, soll er straflos von der gewaltsam entehrten Person und von ihrem Vater oder ihren Brüdern oder Söhnen getötet werden dürfen. Wenn aber ein Mann darüber hinzukommt, wie seine Ehefrau vergewaltigt wird, und den Vergewaltiger tötet, soll er nach dem Gesetz rein sein. Und wenn je­ mand seinem Vater, sofern dieser nichts Unrechtes tut, gegen den dro­ henden Tod beisteht und dabei jemanden tötet, oder seiner Mutter oder seinen Kindern oder seinen Brüdern oder der Miterzeugerin seiner Kin­ el der, so soll er völlig rein sein. Über die Pflege der lebenden Seele und über die Erziehung, die sie er­ halten muß, damit das Leben für sie lebenswert wird, während bei ihrem Ausbleiben das Gegenteil eintritt, und über die Bestrafungen, die bei ge­ waltsamem Tod zu erfolgen haben, sollen hiermit die Gesetze aufgestellt sein. Über die Pflege des Leibes aber und seine Ausbildung ist zwar schon gesprochen worden. Was aber damit eng zusammenhängt, nämlich die gegeneinander unfreiwillig oder freiwillig begangenen Gewalttätigkei­ ten, so gilt es möglichst genau abzugrenzen, welche Arten und wie viele e es deren gibt und mit welchen Strafen sie jeweils zu belegen sind, damit sie das ihnen Gebührende erhalten; hierfür wären richtigerweise als nächstes, wie es scheint, Gesetze zu geben. Die Körperverletzungen also und die Verstümmelungen infolge von Verletzungen wird wohl selbst der Unfähigste von denen, die sich an die Aufstellung von Gesetzen machen, auf den zweiten Platz nach den Tö­ tungen setzen. Die Verletzungen sind nun ebenso einzuteilen, wie die Tö­ tungen eingeteilt worden sind, nämlich in solche, die ungewollt, solche, die im Zorn, solche, die aus Furcht und solche, die in bewußter Absicht freiwillig begangen werden. Für alle derartigen Fälle ist nun folgendes vorauszuschicken: Gesetze aufzustellen und nach Gesetzen zu leben ist für die Menschen unbedingt 875a notwendig, oder sie werden sich in nichts von den allerwildesten Tieren unterscheiden. Die Ursache hiervon ist folgende: Keines Menschen Na­ tur wird mit einer solchen Fähigkeit geboren, daß er erkennt, was den Menschen für die Verwaltung ihrer Stadt nützt, und dann, wenn er es er­ kannt hat, auch allzeit fähig und willens ist, das Beste zu tun. Denn er­ stens ist es schwierig zu erkennen, daß es der wahren Staatskunst nicht um die eigenen Interessen, sondern um das Gemeinwohl gehen muß — denn das Gemeinsame bindet die Städte zusammen, das Eigene zerreißt sie - und daß es für beide, das Gemeinwohl wie für die eigenen Interes-

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sen, von Nutzen ist, wenn es eher um das Gemeinsame als um das Eigene gut bestellt ist. Das Zweite: selbst wenn sich jemand wirklich die Er­ kenntnis, daß sich dies naturgemäß so verhält, in seiner Kunst gründlich angeeignet hat, er aber hernach frei von jeder Verantwortung und in eige­ ner Machtvollkommenheit über eine Stadt herrscht, so wird er wohl nie die Kraft aufbringen, diesem Grundsatz treu zu bleiben und sein ganzes Leben hindurch vorzugsweise das Gemeinwohl in der Stadt zu fördern und das eigene Interesse erst nach dem Gemeinwohl; sondern seine sterbliche Natur wird ihn stets dazu antreiben, mehr haben zu wollen und die eigenen Interessen zu befriedigen, weil sie unvemünftigerweise vor c dem Schmerz flieht und der Lust nachjagt; dem Gerechteren und Besse­ ren wird sie dies beides vorziehen, und indem sie in sich selbst Finsternis erzeugt, wird sie am Ende sich selbst und die ganze Stadt mit lauter Übeln anfüllen. Wenn allerdings einmal ein Mensch mit einer geeigneten Naturanlage durch göttliche Fügung geboren würde und fähig wäre, sich diese Einsicht anzueignen, so bräuchte er keinerlei Gesetze, die über ihn herrschen müßten; denn dem Wissen ist kein Gesetz und keine Anord­ nung überlegen; und es wäre auch nicht recht, wenn die Vernunft etwas d anderem gehorsam und dessen Sklavin wäre, sondern sie muß über alles Herrscherin sein, wenn anders sie echt und frei in ihrem Wesen ist. Nun aber ist dies ja nirgends und auf keine Weise der Fall, außer in geringem Maße; deshalb muß man das Zweitbeste wählen, die Anordnung und das Gesetz, die zwar die häufigsten Fälle ins Auge fassen und berücksichti­ gen, aber nicht jeden möglichen Fall berücksichtigen können. Dies habe ich aus folgendem Grund gesagt: Wir werden jetzt anord­ nen, was einer, der einen andern verletzt oder ihm sonst einen Schaden zugefügt hat, zu erleiden oder zu zahlen hat. Da liegt es natürlich für je­ den nahe, uns jedesmal mit Recht zu fragen: „Welche Verletzung meinst e du und wem und wie und wann hat er sie zugefügt? Denn es gibt hiervon tausenderlei Arten, die sich zudem noch sehr von einander unterschei­ den.“ Dies nun alles oder gar nichts davon den Gerichten zur Entschei­ dung zu überlassen, ist beides unmöglich. Eines freilich muß man ihnen in allen Fällen zur Entscheidung überlassen, nämlich die Frage, ob je­ weils eine von diesen Taten verübt worden ist oder nicht. Ihnen ferner 876a keine Entscheidung darüber zu überlassen, welche Geldbuße und welche Strafe einer erleiden soll, der eine dieser Unrechtstaten begangen hat, sondern selber für alle Fälle, kleine wie große, Gesetze zu geben, das ist nahezu unmöglich. kl. Welche Regel ergibt sich daraus? ATH. Diese: daß einiges den Gerichten zu überlassen ist, anderes aber ihnen nicht überlassen werden darf, sondern vom Gesetzgeber selbst zu regeln ist. b

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kl. Für welche Fälle sind denn nun Gesetze zu erlassen und welche sind zur Entscheidung den Gerichten anheimzugeben? ATH. Darauf wäre am richtigsten folgendes zu sagen: In einer Stadt, in der die Gerichte unfähig und stumm sind und unter Verbergung ihrer ei­ genen Ansichten in geheimer Abstimmung ihr Urteil fallen oder, was noch schlimmer ist, wenn sie nicht einmal schweigend entscheiden, son­ dern voller Lärm, weil sie wie ein Theaterpublikum mit Geschrei jeden der beiden Redner abwechselnd loben oder tadeln - in diesem Fall pflegt der ganzen Stadt ein schlimmes Leiden zuzustoßen. Für derartige Gerich­ te nun unter dem Zwang irgendeiner Notwendigkeit Gesetze zu geben, ist keine glückliche Sache; ist man dennoch durch eine Notwendigkeit dazu gezwungen, so darf man ihnen nur in den unbedeutendsten Fällen die Festsetzung der Strafen überlassen, die meisten Fälle dagegen muß man selber durch Gesetze ausdrücklich regeln, falls man wirklich einmal für ein solches Staatswesen Gesetze aufstellt. In einer Stadt jedoch, in der die Gerichte so richtig wie möglich einge­ setzt sind, weil die künftigen Richter gut ausgebildet und mit aller Stren­ ge geprüft worden sind, da ist es richtig und gut und schön, in vielen Fäl­ len solchen Richtern das Urteil darüber zu überlassen, was die Täter im Falle eines Schuldspruchs zu erleiden oder zu zahlen haben. Daher ist es uns jetzt nicht zu verargen, wenn wir ihnen keine Gesetze für die wichtigsten und häufigsten Fälle geben, bei denen sogar schlech­ ter ausgebildete Richter imstande wären, sie zu durchschauen und jedem Vergehen das zuzuweisen, was dem erlittenen Schaden und der begange­ nen Tat angemessen ist. Da wir vielmehr glauben, daß diejenigen, für die wir Gesetze aufstellen, nicht die unfähigsten Richter in derartigen Fällen sein werden, so müssen wir ihnen eben auch das meiste zu Entscheidung überlassen. Was wir jedoch schon oft gesagt und auch bei der vorausgehenden Aufstellung von Gesetzen getan haben, nämlich einen Umriß und Modelle für die Strafen vorzutragen und dadurch den Richtern ein Mu­ ster dafür an die Hand zu geben, daß sie nie die Grenzen des Rechts über­ schreiten, das war schon damals richtig und so gilt es dies auch jetzt zu tun, wenn ich nunmehr wieder zu den Gesetzen zurückkehre. Unser schriftliches Gesetz über Körperverletzung soll also folgender­ maßen lauten: Wenn jemand, der willentlich einen befreundeten Men­ schen zu töten beabsichtigt - abgesehen von den Personen, bei denen es das Gesetz erlaubt —, diesen zwar verletzt, aber nicht imstande ist, ihn zu töten, so verdient einer, der dies beabsichtigt und ihn verletzt, kein Mit­ leid, sondern verdient, daß man ihn ohne besondere Rücksicht und nicht anders, als wenn er ihn getötet hätte, die Strafe wegen Mordes zu erlei­ den zwingt. Aber aus Ehrfurcht vor seinem nicht ganz so schlimmen Ge­ schick und vor dem Dämon, der aus Erbarmen mit ihm und dem Verletz-

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ten von diesem eine unheilbare Wunde und von jenem ein fluchwürdiges Geschick und Unglück abgewendet hat — um also diesem Dämon Dank abzustatten und sich ihm nicht entgegenzustellen, soll man dem Urheber der Verletzung den Tod ersparen, doch soll ihn eine lebenslange ÜberSiedlung in irgendeine benachbarte Stadt treffen, wobei er im Genuß sei­ nes gesamten Besitzes bleiben soll. Einen etwaigen Schaden jedoch, den er dem Verletzten zugefiigt hat, muß er dem Geschädigten ersetzen; ab­ schätzen soll ihn das Gericht, das über die Anklage entscheidet; entschei­ den sollen aber dieselben Personen, die über den Mord gerichtet hätten, falls jener an der durch die Verletzung hervorgerufenen Wunde gestorben wäre. Wenn ein Kind seine Eltern oder ein Sklave seinen Herrn in gleicher Weise vorsätzlich verletzt hat, so sei seine Strafe der Tod. Auch wenn ein Bruder seinen Bruder oder seine Schwester oder wenn eine Schwester ih­ ren Bruder oder ihre Schwester auf die gleiche Weise verletzt hat und der vorsätzlichen Verletzung schuldig befunden wird, soll ihre Strafe der Tod sein. Wenn eine Frau ihren Mann in Tötungsabsicht verletzt hat oder ein Mann seine Frau, sollen sie auf immer verbannt werden. Ihren Besitz aber sollen, wenn ihre Söhne und Töchter noch Kinder sind, deren Vor­ münder verwalten und für die Kinder sorgen, wie wenn es Waisen wären; wenn sie aber erwachsen sind, soll keine Verpflichtung bestehen, daß der Verbannte von seinen Nachkommen unterhalten wird, sondern sein Ver­ mögen soll in ihren Besitz übergehen. Wenn aber ein Kinderloser in ein solches Unglück geraten ist, so sollen die beiderseitigen Verwandten des Verbannten zusammenkommen bis hin zu den Kindern der Vettern und Basen väterlicher- und mütterlicher­ seits und einen Erben für dieses funftausendundvierzigste Haus der Stadt einsetzen, und zwar in gemeinsamer Beratung mit den Gesetzeswächtem und Priestern, wobei sie ihre Überlegungen auf folgende Weise und nach folgendem Grundsatz anstellen sollen: Keines der funftausendundvierzig Häuser gehört so sehr seinem Bewohner oder dessen ganzer Familie, wie es der Stadt als öffentliches und privates Eigentum gehört. Nun müssen aber die Häuser, die die Stadt besitzt, in einem möglichst heiligen und glücklichen Zustand sein. Wenn also eines der Häuser zugleich von dem Unglück und von der Freveltat getroffen wird, daß sein Besitzer keine Kinder darin zurückläßt, sondern als Lediger oder auch als Verheirateter kinderlos stirbt, weil er eines vorsätzlichen Mordes schuldig gesprochen wurde oder sonst eines Vergehens gegen die Götter oder die Bürger, für das im Gesetz ausdrücklich der Tod als Strafe festgesetzt ist, oder auch wenn einer für immer verbannt wird, der keine männlichen Nachkom­ men hat, so soll man erstens dieses Haus nach dem Gesetz reinigen und

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entsühnen; sodann sollen, wie wir eben gesagt haben, die Angehörigen mit den Gesetzeswächtem zusammenkommen und prüfen, welche Fami­ lie in der Stadt hinsichtlich der Tugend den besten Ruf besitzt und zu­ gleich vom Glück begünstigt ist und in der es mehrere Kinder gibt; aus dieser Familie sollen sie ein Kind dem Vater des Gestorbenen und dessen Voreltern als deren Sohn einsetzen und ihm um der glücklichen Vorbe­ deutung willen deren Namen geben und darum beten, daß er auf diese Weise mit größerem Glück als der Vater ihnen ein Erzeuger und ein Hü­ ter des Herdes und Wahrer der profanen und sakralen Pflichten werden möge, und sollen ihn zum Erben gemäß dem Gesetz einsetzen; den Mis­ setäter aber sollen sie namenlos und kinderlos und besitzlos liegen las­ sen, wenn ihn solche unglücklichen Ereignisse ereilt haben. Aber nicht bei allen Dingen, scheint es, stößt Grenze an Grenze, son­ dern bei denen, die einen Grenzzwischenraum aufweisen, bildet dieser in der Mitte zwischen den Grenzen, indem er beide berührt, zunächst ein Zwischending zwischen beiden. Und so haben wir auch behauptet, eine im Zorn ausgeführte Tat sei ein derartiges Grenzgebiet zwischen unfrei­ willigen und freiwilligen Taten. Also soll für die im Zorn zugefügten Verletzungen folgendes gelten: Wenn einer schuldig gesprochen wird, soll er erstens das Doppelte des Schadens bezahlen, falls sich die Wunde als heilbar erweist; bei unheilbaren Wunden dagegen das Vierfache; falls sie jedoch zwar heilbar ist, aber eine große und häßliche Entstellung für den Verletzten zur Folge hat, soll er das Dreifache entrichten. In allen Fällen aber, in denen jemand durch Verletzung eines anderen nicht nur den Ver­ letzten schädigt, sondern auch die Stadt, weil er jenen unfähig macht, sei­ ner Vaterstadt gegen Feinde beizustehen, soll er neben den andern Strafen auch der Stadt den Schaden ersetzen: er soll nämlich zusätzlich zu seinem eigenen Militärdienst auch noch für den Invaliden Militärdienst leisten und sich an dessen Stelle in die militärische Einheit einreihen; wenn er dies nicht tut, soll er von jedem, der das will, wegen Kriegsdienstverwei­ gerung nach dem Gesetz belangt werden können. Die Höhe des Schadens aber, ob er doppelt oder dreifach oder gar vierfach zu ersetzen ist, sollen die Richter festlegen, die ihn durch ihre Stimmen verurteilt haben. Wenn aber jemand einen andern, der mit ihm durch gleiche Abstam­ mung verwandt ist, in der genannten Weise verletzt hat, so sollen die Fa­ milienangehörigen und Verwandten, Männer und Frauen, bis hin zu den Kindern der Vettern und Basen von weiblicher und männlicher Seite zusammenkommen, das Urteil fallen und die Abschätzung den natürlichen Eltern überlassen; wenn aber die Abschätzung strittig ist, so soll die Ab­ schätzung durch die Verwandten von männlicher Seite maßgebend sein; sind diese dazu nicht selber imstande, so sollen sie schließlich die Ab­ schätzung den Gesetzeswächtem überlassen.

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Im Falle von Kindern, die sich gegen ihre Eltern vergangen haben, sol­ len über solche Verletzungen zu richten alle diejenigen verpflichtet sein, die über sechzig Jahre alt sind und keine bloß adoptierten, sondern leibli­ che Kinder haben. Wird aber einer für schuldig befunden, so sollen sie abschätzen, ob ein solcher Mensch sterben soll oder eine noch schwerere Strafe erleiden soll oder auch eine, die nicht viel leichter ist. Aber von 879a den Verwandten des Täters darf keiner mitrichten, selbst wenn er das vom Gesetz vorgeschriebene Alter erreicht hat. Wenn ferner ein Sklave einen Freien im Zorn verletzt hat, so soll der Besitzer den Sklaven dem Verletzten ausliefem, um mit ihm zu machen, was er will; liefert er ihn aber nicht aus, soll er selber den Schaden erset­ zen. Wenn aber jemand geltend macht, daß der Vorfall auf eine zwischen dem Sklaven und dem Verletzten vereinbarte List zurückgehe, so soll er einen Prozeß anstrengen; wenn er aber den Prozeß nicht gewinnt, soll er den Schaden dreifach ersetzen; gewinnt er ihn aber, so soll er denjenigen, der zusammen mit dem Sklaven die Sache ausgeheckt hat, wegen Men­ schenraubs belangen können. b Wer ungewollt einen andern verletzt hat, der soll den Schaden bloß in einfacher Höhe ersetzen — denn dem Zufall vermag kein Gesetzgeber zu gebieten -; Richter aber sollen dieselben sein, die für die Kinder be­ stimmt worden sind, die sich gegen ihre Eltern vergehen, und diese sol­ len auch die Höhe des Schadens abschätzen. Alle bisher von uns besprochenen Fälle erlittenen Unrechts bestanden in Gewalttätigkeiten. Ein Gewalttat ist aber auch jede Art von Mißhand­ lung. Folgendes muß nun bei derartigen Vergehen jeder Mann und jedes Kind und jede Frau jeweils bedenken: Das Ältere genießt gegenüber dem Jüngeren einen nicht geringen Vorc rang bei den Göttern und bei den Menschen, die lange leben und glück­ lich sein wollen. Eine Mißhandlung, die an einem Älteren in der Stadt von einem Jüngeren begangen wird, ist daher ein schändlicher und gott­ verhaßter Anblick; es gehört sich sogar für jeden jungen Menschen, der von einem Greis geschlagen wird, daß er dessen Zorn gelassen erträgt, wodurch er sich diese Ehre für sein eigenes Alter ansammelt. Folgendes soll also gelten: Jeder hat bei uns dem, der älter ist als er, in Tat und Wort Respekt zu erweisen. Jemanden, der ihm um zwanzig Jahre voraus ist, Mann oder Frau, soll er wie seinen Vater oder seine Mutter be­ trachten und mit Achtung behandeln; und an der gesamten Altersstufe, d die ihn hätte zeugen oder gebären können, soll er sich um der Geburts­ götter willen niemals vergreifen. Ebenso soll er sich auch gegenüber jedem Fremden zurückhalten, mag dieser nun schon lange hier wohnen oder erst kürzlich angekommen sein. Denn weder als Angreifer noch zu seiner Verteidigung soll er es jemals

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wagen, einen solchen mit Schlägen zurechtzuweisen. Wenn er aber meint, ein Fremder, der ihn aus Übermut und Frechheit schlägt, müsse bestraft werden, soll er ihn ergreifen und ihn vor die Behörde der Stadt­ aufseher führen, aber auf Schläge verzichten, damit jener sich die Freche heit abgewöhnt, jemals einen Einheimischen zu schlagen. Die Stadtauf­ seher aber sollen ihn in Empfang nehmen und verhören, wobei sie sich vor dem Gott, der die Fremden schützt, in acht nehmen müssen; und wenn sie der Ansicht sind, daß der Fremde den Einheimischen ungerech­ terweise geschlagen hat, so sollen sie dem Fremden so viel Schläge mit der Peitsche geben, wie er selber ausgeteilt hat, und ihm so das dreiste Benehmen, das er als Fremder gezeigt hat, abgewöhnen; wenn er aber kein Unrecht begangen hat, sollen sie dem, der ihn vor Gericht gebracht hat, drohen und ihn schelten, und dann beide entlassen. Wenn aber ein Gleichaltriger einen Gleichaltrigen oder auch einen Äl880a teren schlägt, der noch kinderlos ist, gleichgültig ob ein alter Mann einen alten oder ein junger einen jungen Mann schlägt, so soll sich der Ge­ schlagene auf natürliche Weise, ohne Waffen, mit den bloßen Händen verteidigen. Wenn aber einer, der über vierzig Jahre alt ist, sich mit einem zu prügeln wagt, sei es als Angreifer oder zur Verteidigung, so soll er als roh und unedel und als Mensch mit sklavischer Gesinnung bezeichnet werden, und indem er diese entehrende Strafe erhält, bekommt er, was ihm gebührt. Und wenn jemand solchen Ermahnungen gerne gehorcht, so wird er leicht zu lenken sein. Wer aber nur widerstrebend gehorcht und sich um diese Vorrede nicht kümmert, der muß sich willig folgendes Gesetz ge­ fallen lassen: b Wenn jemand einen schlägt, der zwanzig oder mehr Jahre älter ist als er selbst, so soll erstens jeder, der darüber hinzukommt, sofern er weder gleichaltrig noch jünger als die Streitenden ist, diese auseinanderbringen, oder er soll nach dem Gesetz als Feigling gelten; ist er aber im selben Al­ ter wie der Geschlagene oder noch jünger, so soll er dem Opfer des Un­ rechts wie einem Bruder oder Vater oder einem noch höheren Vorfahren beistehen. Außerdem soll derjenige, der einen Älteren unter den genann­ ten Umständen zu schlagen wagt, sich wegen der Mißhandlung gericht­ lich verantworten, und wenn er schuldig gesprochen wird, so soll er nicht c weniger als ein Jahr lang in Haft gehalten werden; wenn die Richter aber eine noch längere Zeit für angemessen halten, so soll die für ihn festge­ setzte Zeit rechtskräftig sein. Wenn aber ein Fremder oder ein Metöke einen schlägt, der zwanzig oder mehr Jahre älter ist als er selbst, soll für den Beistand der darüber Hinzukommenden dasselbe Gesetz dieselbe Kraft haben; wer aber in ei­ nem solchen Prozeß unterliegt, der soll, falls er ein Fremder und nicht im

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Lande ansässig ist, durch eine zweijährige Haft eben diese Strafe abbü­ ßen; falls er aber ein Metöke ist und den Gesetzen nicht gehorcht, soll er drei Jahre in Haft gehalten werden, sofern nicht das Gericht eine noch längere Zeit für ihn als Strafe festsetzt. Bestraft werden soll aber auch deijenige, der in einem solchen Fall darüber hinzukommt und nicht Bei­ stand gemäß dem Gesetz leistet, und zwar, wenn er zur höchsten Vermö­ gensklasse gehört, mit einer Mine, wenn zur zweiten, mit fünfzig Drach­ men; wenn zur dritten, mit dreißig und mit zwanzig Drachmen, wenn er zur vierten Vermögensklasse gehört. Den Gerichtshof für solche Fälle sollen die Strategen, Taxiarchen, Phylarchen und Hipparchen bilden. Gesetze, so scheint es, werden teils um der rechtschaffenen Menschen willen gemacht zu ihrer Belehrung, wie sie miteinander umgehen müssen, wenn sie in Freundschaft beieinander wohnen wollen, teils für dieje­ nigen, die vor der Erziehung davonlaufen, weil sie ein widerspenstiges Naturell besitzen und sich in keiner Weise dazu erweichen lassen, daß sie nicht zu jeder Schlechtigkeit bereit sind. Diese sind es wohl, die die Wor­ te hervorgerufen haben, die wir nun aussprechen werden. Für diese also wird der Gesetzgeber notgedrungen Gesetze aufstellen müssen, wobei er wünscht, daß er sie nie anwenden muß. Wer sich nämlich jemals an Vater oder Mutter oder den weiteren Vor­ fahren zu vergreifen wagt und ihnen mit Gewalt irgendeine Mißhandlung zufügt und dabei weder den Zorn der oberirdischen Götter noch die Strafen unter der Erde fürchtet, von denen man erzählt, sondern vielmehr, als wüßte er, was er keineswegs weiß, die alten Sagen, die von allen erzählt werden, mißachtet und daher gegen die Gesetze verstößt, für diesen be­ darf es eines äußersten Abschreckungsmittels. Der Tod ist nun allerdings nicht das Äußerste, sondern die Qualen, die diese, wie man erzählt, im Hades erwarten, sind noch weit mehr als der Tod das Äußerste, und ob­ wohl sie die lauterste Wahrheit sagen, bringen sie bei derartigen Seelen keinerlei Abschreckung hervor - denn sonst gäbe es niemals Schläge ge­ gen die eigene Mutter und frevelhafte und dreiste Tätlichkeiten gegen die übrigen Erzeuger. Daher dürfen die Strafen hier bei uns, die bei sol­ chen Vergehen diesen im Leben bestimmt sind, in nichts hinter denen im Hades zurückstehen, soweit dies möglich ist. So soll denn hieran anschließend folgendes verkündet werden: Wenn sich jemand erdreistet, seinen Vater oder seine Mutter oder deren Väter und Mütter zu schlagen, ohne vom Wahnsinn befallen zu sein, so soll ers­ tens jeder, der darüber hinzu kommt, wie in den vorhin genannten Fällen Beistand leisten; und der im Land ansässige Fremde soll bei den Wett­ kämpfen auf einen Ehrenplatz eingeladen werden, wenn er Beistand leis­ tet; leistet er aber keinen, soll er für immer aus dem Land verbannt sein, Ein nicht ansässiger Fremder aber, der Beistand leistet, soll eine Belobi­

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gung erhalten; leistet er aber keinen, eine Rüge. Ein Sklave, der Beistand leistet, soll freigelassen werden; leistet er aber keinen, soll er hundert Schläge mit der Peitsche erhalten, und zwar, wenn sich der Vorfall auf dem Markt zugetragen hat, von den Marktaufsehem, wenn aber außerhalb des Marktes in der Stadt, so soll ihn deqenige von den Stadtaufsehem be­ strafen, der gerade anwesend ist; wenn aber irgendwo auf den Feldern des Landes, dann die Kommandeure der Landaufseher. Ist aber der darüber Hinzukommende ein Einheimischer, sei es nun ein Kind, ein Mann oder auch eine Frau, so soll er in jedem Fall den Frevler abwehren, indem er ihn mit diesem Namen anruft; wer ihn aber nicht abwehrt, der soll gemäß dem Gesetz dem Fluch des Zeus verfallen, der die Blutsverwandten und die El­ tern schützt. Wenn aber einer vor Gericht der Mißhandlung seiner Eltern schuldig gesprochen wird, so soll er erstens für immer aus der Stadt in das übrige Land verbannt werden und von allen heiligen Stätten ausgeschlos­ sen sein; will er sich nicht ausschließen lassen, so sollen ihn die Landauf­ seher mit Schlägen bestrafen oder ganz wie es ihnen beliebt; kehrt er aber zurück, soll er mit dem Tod bestraft werden. Wenn aber irgendein freier Bürger mit einem solchen Menschen zusammen ißt oder trinkt oder sich in sonst eine Gemeinschaft mit ihm einläßt oder ihn auch nur wissentlich berührt, falls er ihm irgendwo begegnet, so soll er weder ein Heiligtum be­ treten noch den Markt noch überhaupt die Stadt, ehe er nicht gereinigt ist; denn er muß wissen, daß er an einem fluchbringenden Geschick Anteil be­ kommen hat. Wenn er aber dem Gesetz nicht gehorcht und die Heiligtü­ mer und die Stadt entgegen dem Gesetz befleckt, so soll für jeden Beam­ ten, der das bemerkt und einen solchen Mann nicht vor Gericht bringt, dies bei der Rechenschaftsablegung einer der schwersten Anklagepunkte sein. Wenn ferner ein Sklave einen freien Mann schlägt, sei es nun einen Fremden oder einen Bürger, so soll diesem der Hinzukommende Bei­ stand leisten oder entsprechend seiner Vermögensklasse die genannte Geldstrafe bezahlen; die Hinzukommenden aber sollen zusammen mit dem Geschlagenen den Täter binden und dem Mißhandelten übergeben; dieser soll ihn in Empfang nehmen, in Fußfesseln legen und ihm so viele Peitschenhiebe geben, wie er will, doch ohne seinem Besitzer dadurch ei­ nen Schaden zu verursachen, danach soll er ihn diesem wieder zum rechtmäßigen Besitz zurückgeben. Das Gesetz aber soll lauten: Wer als Sklave einen Freien schlägt, ohne daß es die Beamten befohlen haben, den soll sein Besitzer von dem Geschlagenen gefesselt übernehmen und ihn nicht eher freilassen, bis der Sklave den Geschlagenen überzeugt hat, daß er es verdiene, ohne Fesseln zu leben. Dieselben Bestimmungen sollen auch für Frauen untereinander bei al­ len derartigen Vergehen gelten sowie für Frauen gegenüber Männern und für Männer gegenüber Frauen.

Zehntes Buch ath. Nach den Mißhandlungen soll als eine in allen Fällen gültige Re­ gel folgende Gesetzesvorschrift für Gewalttätigkeiten ausgesprochen sein: „Von dem, was einem andern gehört, soll niemand etwas wegtragen oder wegfuhren und soll auch nichts vom Eigentum seines Nachbarn be­ nutzen, ohne hierzu die Zustimmung des Eigentümers eingeholt zu ha­ ben.“ Denn von einem solchen Verhalten rühren alle die genannten Übel her und sind daraus hervorgegangen und gehen auch noch jetzt und künf­ tig daraus hervor. Die größten unter den übrigen Übeln sind die zügellosen und respekt­ losen Handlungen der jungen Leute; gegen das Größte sind diese gerich­ tet, wenn sie sich gegen Heiliges richten, und dabei sind sie wiederum besonders groß, wenn sie sich gegen Dinge richten, die dem ganzen Volk gehören und religiöse Verehrung genießen oder die gemäß den Untertei­ lungen der Stadt gemeinsamer Besitz der Phylenmitglieder oder anderer solcher Gemeinschaften sind. 885a Die gegen private Heiligtümer und Gräber gerichteten Handlungen nehmen nach der Reihenfolge und der Schwere die zweite Stelle ein, die gegen die Eltern die dritte, wenn sie jemand — abgesehen von den bereits vorhin besprochenen Fällen - respektlos behandelt. Die vierte Art von beleidigendem Verhalten liegt vor, wenn jemand ohne Respekt vor den Beamten etwas forttreibt oder wegträgt oder benutzt, was diesen gehört, ohne hierzu ihre Einwilligung erlangt zu haben; die fünfte ist die mutwil­ lige Verletzung der bürgerlichen Rechte eines jeden Bürgers, die nach ge­ richtlicher Bestrafung ruft. Für jede dieser Verhaltensweisen muß nun in allgemeiner Form ein Gesetz gegeben werden. b Für den Tempelraub, mag er nun mit Gewalt oder heimlich begangen werden, ist ja bereits zusammenfassend gesagt worden, was der Täter zu erleiden hat. Für alle die Fälle aber, in denen jemand durch Wort und durch Tat gegen die Götter in seinem Reden und Tun mutwillig frevelt, ist zunächst die Ermahnung vorauszuschicken und erst dann anzugeben, was er zu erleiden hat. Die Ermahnung laute nun folgendermaßen: Niemand, der gemäß den Gesetzen glaubt, daß es Götter gibt, hat je­ mals willentlich eine unfromme Tat begangen oder ein gesetzloses Wort geäußert, sondern er tut dies nur, wenn er sich in einem dieser drei krank­ haften Zustände befindet: entweder wenn er dies, wie gesagt, nicht glaubt 884a

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oder wenn er zweitens glaubt, daß sie zwar existieren, aber sich nicht um die Menschen kümmern, oder drittens, daß sie leicht zu beschwichtigen seien, weil sie sich durch Opfer und Gebete von ihrer Haltung abbringen lassen. kl. Was könnten wir denn nun gegen diese Leute unternehmen oder auch nur zu ihnen sagen? ATH. Mein Guter, wir wollen zuerst von ihnen hören, was sie, wie ich prophezeie, aus Verachtung für uns spottend sagen würden. kl. Was denn? άγη. Folgendes würden sie wohl spottend sagen: „Ihr Fremden aus Athen, Lakedaimon und Knosos, ihr habt recht. Denn von uns glauben die einen überhaupt nicht an Götter, die andern an solche von der Art, wie ihr sie da schildert. Wir verlangen nun, wie ihr es bei den Gesetzen verlangt habt, daß ihr, bevor ihr uns mit harten Drohungen kommt, uns zunächst davon zu überzeugen und zu belehren versucht, daß es Götter gibt, indem ihr hierfür ausreichende Indizien anführt, und daß sie zu gut sind, um sich, durch irgendwelche Geschenken geködert, vom Gerechten abbringen zu lassen. Denn weil wir heutzutage dieses und anderes dieser Art von denen zu hören bekommen, die als die besten Dichter und Red­ ner und Sehern und Priester gerühmt werden, und von abertausend ande­ ren Leuten, werden die meisten von uns nicht dazu bekehrt, kein Unrecht zu tun, sondern wir versuchen lediglich, wenn wir Unrecht getan haben, dies wiedergutzumachen. Von Gesetzgebern aber, die nicht wild, sondern sanft zu sein beanspruchen, verlangen wir, daß sie es zuerst mit Überre­ dung bei uns versuchen, indem sie über die Existenz der Götter, wenn schon nicht viel Besseres als die andern, so doch wenigstens Besseres ge­ messen an der Wahrheit vorbringen, und vielleicht würden wir uns dann von euch überzeugen lassen. Versucht also, sofern unser Anliegen be­ rechtigt ist, das vorzutragen, wozu wir euch auffordern.“ kl. Nun, Fremder, scheint es dir denn nicht leicht zu sein, der Wahrheit gemäß zu sagen, daß es Götter gibt? ATH. Und wie? kl. Zunächst gibt es ja die Erde und die Sonne, die Sterne und das ge­ samte All und die so schön geordnete Folge der Zeiten, die in Jahre und Monate aufgeteilt sind; und die Tatsache, daß alle Hellenen und Barbaren glauben, daß es Götter gibt. άγη. Ich fürchte freilich, mein Bester, die schlechten Menschen — denn Respekt vor ihnen zu haben, würde ich niemals zugeben -, daß sie ge­ ringschätzig von uns denken. Ihr kennt nämlich nicht die Ursache ihrer abweichenden Überzeugung, sondern glaubt, daß ihre Seelen nur durch ihre Unbeherrschtheit gegenüber Lüsten und Begierden zu einem unfrommen Leben hingetrieben würden.

Zehntes Buch kl. Aber was könnte denn außerdem daran schuld sein, Fremder? ath. Vermutlich etwas, das ihr, die ihr außerhalb lebt, überhaupt



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kennt, sondern das euch wohl verborgen ist. kl. Was meinst du denn damit jetzt? ath. Eine ziemlich schlimme Unwissenheit, die aber als die größte Denkleistung gilt. kl. Wie meinst du das? ath. Es gibt bei uns schriftlich aufgezeichnete Erzählungen, die es bei euch nicht gibt dank der Vorzüglichkeit eurer Verfassung, wie ich merke. Sie erzählen teils in Versen, teils auch ohne Versmaße von den Göttern; die ältesten berichten, wie die erste Entstehung des Himmels und des Übrigen vor sich ging, und im weiteren Fortgang schildern sie nicht lange nach diesem Anfang die Geburt der Götter und wie diese nach ihrer Geburt miteinander umgingen. Ob diese Erzählungen für die Hörer in son­ stiger Hinsicht gut oder nicht gut sind, daraus kann man ihnen nicht leicht einen Vorwurf machen, da sie sehr alt sind; aber im Hinblick auf die Pfle­ ge und Verehrung der Eltern möchte ich sie niemals loben und niemals sagen, daß sie hierfür nützlich oder daß sie überhaupt der Wirklichkeit gemäß erzählt seien. Diese alten Geschichten wollen wir also beiseite lassen und verabschieden, und wie es den Göttern lieb ist, so mögen sie erzählt werden. Aber die Lehren der jüngeren Weisen müssen wir verant­ wortlich machen und zeigen, inwiefern sie Ursache von Übeln sind. Fol­ gendes jedenfalls bewirken die Reden derartiger Leute: Wenn wir beide zwingende Indizien dafür vortragen, daß es Götter gibt, indem wir eben dies vorbringen, daß die Sonne und der Mond und die Sterne und die Er­ de Götter und etwas Göttliches sind, so würden Leute, die sich von die­ sen Weisen umstimmen ließen, behaupten, das seien bloß Erde und Steine und daher keinesfalls imstande, sich um die menschlichen Angelegen­ heiten zu kümmern, sondern sie seien lediglich durch unsere Reden hübsch aufgeputzt worden, um Glauben zu finden. kl. Eine gefährliche Lehre, Fremder, hast du da gerade vorgetragen, selbst wenn es nur eine wäre; da es nun aber deren sehr viele gibt, ist die Sache noch gefährlicher. ath. Was nun also? Was sagen wir? Was müssen wir tun? Sollen wir uns verteidigen, als würde uns jemand vor unfrommen Menschen verkla­ gen, die zu uns, die wir wegen unserer Gesetzgebung unter Anklage stehen, sagen, daß wir etwas Schreckliches täten, wenn wir gesetzlich fest­ legen, daß es Götter gibt? Oder sollen wir ihnen Lebewohl sagen und uns wieder den Gesetzen zuwenden, damit nicht schon unsere Vorrede länger wird als die Gesetze? Denn gar nicht wenig würde sich unsere Re­ de ausdehnen, wenn wir einerseits denen, die danach streben, unfromm zu sein, in angemessener Weise durch Argumente das beweisen wollten,

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worüber wir nach ihrer Meinung sprechen sollen, andererseits unseren Ankläger in Furcht versetzen wollten und erst dann, wenn wir sie mit Wi­ derwillen gegen die Unfrommheit erfüllt hätten, die erforderlichen Geset­ ze formulieren würden. b kl. Aber, Fremder, gerade das haben wir doch in der kurzen Zeit schon verhältnismäßig oft gesagt: daß wir gegenwärtig keineswegs die Kürze einer Rede der Länge vorziehen müssen - denn es ist niemand, wie man so sagt, hinter uns her und treibt uns an -, und so wäre es lächerlich und verkehrt, wenn wir den Eindruck erweckten, als würden wir dem Besten das Kürzere vorziehen. Es kommt aber nicht wenig darauf an, daß unsere Worte möglichst eine gewisse Überzeugungskraft besitzen, wenn sie be­ haupten, daß es Götter gibt und daß sie gut sind, weil sie das Recht mehr ehren, als es die Menschen tun. Denn das wäre zur Verteidigung aller unc serer Gesetze so ziemlich die schönste und beste Vorrede. Wir wollen al­ so ohne Widerwillen und ohne uns drängen zu lassen und ohne von der Überzeugungskraft, die wir je für derartige Reden aufbringen können, et­ was zurückzuhalten, die Sache möglichst befriedigend durchgehen. ATH. Zu einem Gebet scheint das eben von dir Gesagte aufzufordem, nachdem du dich so eifrig ins Zeug legst. Noch weiter mit dem Reden zu zögern, ist nicht mehr möglich. Sag also: Wie sollte jemand nicht voller Zorn darüber sprechen, daß es Götter gibt? Denn man muß sich ja über d diejenigen entrüsten und sie hassen, die uns zu diesen Ausführungen ver­ anlaßt haben und noch veranlassen, weil sie sich nicht durch die Mythen­ erzählungen überzeugen ließen, die sie von frühester Kindheit an, als sie noch mit Milch ernährt wurden, von ihren Ammen und Müttern zu hören bekamen, wenn sie ihnen wie ein beschwörender Zauber im Scherz und im Emst erzählt wurden; und sie hörten sie bei den Opfern unter Gebeten und sahen die ihnen entsprechenden Schauspiele, die ja gerade ein junger Mensch am liebsten aufgeführt sieht und hört, wenn man opfert, und sie sahen, wie ihre Eltern, mit größtem Emst um sich e selbst und um ihre Kinder bemüht, in der Überzeugung, daß die Götter in höchstem Maße wirklich sind, sich mit Gebeten und mit Flehen an diese wandten; sie hörten oder sahen, daß sich beim Aufgang der Sonne und des Mondes und bei ihrem Untergang alle Hellenen und Barbaren vernei­ gen und zu Boden werfen, mögen sie sich in mancherlei Unglück oder auch in glücklicher Lage befinden, nicht als gebe es keine Götter, son­ dern in der Überzeugung, daß sie in höchstem Maße wirklich sind und daß sie auch keinerlei Anlaß zu dem Verdacht geben, daß es keine Götter geben könnte - diejenigen also, die all dies verachten ohne auch nur ein­ ziges triftiges Argument, wie wohl jeder sagen muß, der nur einen Fun­ ken Vernunft besitzt, und die uns dadurch jetzt das vorzutragen zwingen, 888a was wir vortragen: wie sollte jemand imstande sein, diese Leute mit sanf-

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ten Worten zurechtzuweisen und sie über die Götter zunächst zu beleh­ ren, daß diese existieren? Doch gerade das müssen wir über uns bringen. Denn es dürfen nicht beide Seiten in Raserei geraten, die einen von uns aus unersättlicher Gier nach Lust und die andern aus Zorn über derartige Leute. So möge denn folgende Aufforderung ganz ohne Zorn an diejenigen ergehen, die in ihrem Denken derart verdorben sind, und wir wollen ganz ruhig sprechen, indem wir unseren Zorn unterdrücken, wie wenn wir uns mit einem einzelnen dieser Leute unterhielten: „Mein Kind, du bist noch jung; wenn die Zeit aber fortschreitet, wird sie dich dazu bringen, daß du vieles von dem, was du jetzt glaubst, verwirfst und dich für die entgegengesetzte Ansicht entscheidest. Warte also noch so lange damit, dich zum Richter in den wichtigsten Dingen zu machen; das wichtigste aber, was du derzeit freilich für nichts achtest, ist, daß man über die Götter richtig denkt und daher schön lebt oder im an­ dern Fall nicht. Wenn ich dich dabei zunächst auf einen wichtigen Punkt hinweise, werde ich wohl kaum als Lügner erscheinen, nämlich auf fol­ genden: Weder bist du allein noch sind deine Freunde als erste und zum ersten Mal zu dieser Meinung über die Götter gelangt; vielmehr gibt es stets mehr oder weniger Leute, die an dieser Krankheit leiden. Auf fol­ gendes nun möchte ich dich, nachdem ich schon mit vielen von ihnen zusammengetroffen bin, hinweisen: keiner, der sich in seiner Jugend diese Überzeugung über die Götter angeeignet hat, daß sie nicht existieren, ist jemals bis ins Greisenalter bei dieser Denkweise geblieben; die anderen beiden krankhaften Ansichten über die Götter sind freilich geblieben, zwar nicht bei vielen, aber doch bei manchen, nämlich daß die Götter zwar existierten, aber sich nicht um die Menschen kümmerten, und so­ dann, daß sie sich zwar um sie kümmerten, aber durch Opfer und Gebete leicht umzustimmen seien. Warte also, wenn du auf mich hören willst, bis dir hierüber eine möglichst klare Ansicht zuteil wird, und prüfe wäh­ renddessen, ob es sich so oder anders verhält, indem du hierüber bei anderen Leuten und ganz besonders bei dem Gesetzgeber Auskunft ein­ holst; in der Zwischenzeit aber wage es nicht, gegen die Götter zu fre­ veln. Denn wer dir die Gesetze gibt, der muß auch versuchen, dich jetzt und künftig darüber zu belehren, wie es sich mit eben diesen Dingen ver­ hält.“ kl. Sehr schön, Fremder, haben wir bis jetzt jedenfalls gesprochen. ATH. Gewiß, Megillos und Kleinias. Aber ohne es zu merken, sind wir auf eine wunderliche Behauptung gestoßen. kl. Was für eine Behauptung meinst du denn? άγη. Eine, die bei vielen als die weiseste von allen Behauptungen gilt. kl. Erkläre dies noch deutlicher.

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άγη. Es behaupten doch manche Leute, daß alle Dinge, die entstehen i und entstanden sind und entstehen werden, dies teils der Natur, teils der j Kunst und teils dem Zufall verdanken. j kl. Ist das nicht richtig? i ATH. Man sollte jedenfalls erwarten, daß weise Männer richtige Behaupi 889a tungen aufstellen. Doch wir wollen ihnen noch etwas nachgehen und prü$ fen, was die Anhänger jener Ansicht sich dabei wohl denken mögen. kl. Aufjeden Fall. | ATH. Es sei offensichtlich, sagen sie, daß die größten und schönsten von 1 diesen Dingen die Natur und der Zufall hervorbringe, die kleineren aber i die Kunst, die von der Natur die Entstehung der großen und ersten Werke übernehme und dann alle die kleineren bilde und herstelle, die wir alle ja als Kunstprodukte bezeichnen. kl. Wie meinst du das? b άγη. Auf folgende Weise will ich es noch deutlicher sagen. Feuer und Wasser und Erde und Luft verdanken alle ihr Dasein der Natur und dem Zufall, behaupten sie, aber keines davon der Kunst, und die als nächstes ; entstandenen körperlichen Stoffe zur Bildung von Erde und Sonne und i Mond und Sternen seien durch diese entstanden, die gänzlich unbeseelt seien; durch den Zufall der ihnen jeweils eigenen Kraft seien diese Stoffe j umhergetrieben worden, und je nachdem, wie sie irgendwie passend zu­ sammengetroffen seien, Warmes mit Kaltem oder Trockenes mit Feuch­ tem oder Weiches mit Hartem und überhaupt alles, was durch Mischung c der Gegensätze gemäß dem Zufall mit Notwendigkeit zusammengemischt worden sei, so und auf diese Weise hätten sie den ganzen Himmel und alles am Himmel erzeugt und ferner alle Tiere und Pflanzen, sobald alle Jahreszeiten von diesen hervorgebracht worden waren, nicht durch Vernunft, sagen sie, und auch nicht durch irgendeinen Gott oder irgend- 1 eine Kunst, sondern, wie gesagt, durch Natur und Zufall. Die Kunst aber, 1 die erst später aus diesen als spätes Erzeugnis entstanden ist, habe, selber > d sterblich und von Sterblichen stammend, später gewisse Spielereien herj vorgebracht, die an der Wahrheit keinen sonderlichen Anteil hätten, son·] dem bloße Abbilder, die in ihrem Wesen mit den Künsten verwandt seien, wie sie zum Beispiel die Malerei hervorbringe und die Musik und alle Künste, die mit diesen Zusammenarbeiten. Diejenigen unter den * Künsten aber, die wirklich auch etwas Ernstes hervorbrächten, seien die­ jenigen, die ihre Kraft mit der Natur teilen, wie etwa die Heilkunst und der Ackerbau und die Gymnastik. Und so sagen sie auch von der Staats­ kunst, daß nur ein geringer Teil von ihr mit der Natur Zusammenhänge, der größte dagegen mit der Kunst; und so beruhe auch die Gesetzgebung e im ganzen nicht auf der Natur, sondern auf der Kunst, deren Setzungen nicht wahr seien.

Zehntes Buch kl. Wie meinst du das? ath. Die Götter, mein Bester,

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so behaupten diese Leute als erstes, ver­ dankten ihr Dasein der Kunst, nicht der Natur, sondern bestimmten Ge­ setzen, und diese seien jeweils verschieden je nachdem, wie die einzel­ nen Leute bei der Gesetzgebung miteinander übereingekommen seien. Und so sei auch das Schöne von Natur etwas anderes als das Schöne nach dem Gesetz, und das Gerechte gebe es überhaupt nicht von Natur, sondern die Menschen würden fortwährend darum streiten und es immer wieder neu festsetzen; was sie aber festsetzten und sobald sie es festge­ setzt hätten, das sei dann jeweils gültig, obwohl es durch Kunst und Ge­ setze, aber nicht durch die Natur zustande gekommen sei. Dies alles, meine Freunde, sind Äußerungen von Männern, die bei den jungen Menschen als weise gelten, von Prosaikern und von Dichtem, die behaupten, das Gerechteste sei das, was einer mit Gewalt durchsetzt. Da­ her befallen unfromme Überzeugungen die jungen Leute, als gebe es kei­ ne Götter, wie man sie sich nach dem Befehl des Gesetzes zu denken hat, und Spaltungen entstehen dadurch, weil jene die Leute zu dem „naturge­ mäßen richtigen Leben“ hinziehen, das aber in Wahrheit darin besteht, daß man so lebt, daß man die andern beherrscht und nicht gemäß dem Gesetz anderen dient. kl. Was für eine Ansicht, Fremder, hast du hier dargelegt und welch großes Verderben für junge Menschen, sowohl was das öffentliche Leben der Städte als auch was die privaten Häuser betrifft! ath. Da hast du freilich recht, Kleinias. Was soll nun deiner Meinung nach der Gesetzgeber tun, da dieser Zustand schon seit alters besteht? Soll er sich etwa bloß in der Stadt hinstellen und allen Leuten drohen, wenn sie nicht zugeben, daß es Götter gibt, und sich diese nicht so den­ ken und vorstellen, wie sie das Gesetz beschreibt - auch für das Schöne und Gerechte und für die wichtigsten Dinge insgesamt gilt der selbe Grundsatz und für alles, was mit Tugend oder Schlechtigkeit zusammenhängt, daß man nämlich hierin nach der Denkweise zu handeln hat, wie sie der Gesetzgeber jeweils schriftlich vorzeichnet —, wer sich aber nicht dem Gesetz gehorsam zeige, der müsse sterben oder auch mit Schlägen und Gefängnis oder mit Ehrenentzug, andere wieder mit Armut und Ver­ bannung bestraft werden? Überredung aber soll er den Menschen zulie­ be, wenn er ihnen seine Gesetze gibt, seinen Worten überhaupt nicht bei­ gesellen, um sie dadurch möglichst sanft stimmen zu können? kl. Auf keinen Fall, Fremder! Sondern wenn es bei derartigen Dingen auch nur eine winzige Möglichkeit der Überredung geben sollte, so darf ein Gesetzgeber, der auch nur ein bißchen etwas wert sein will, auf kei­ nen Fall müde werden, sondern muß, wie man zu sagen pflegt, seine gan­ ze Stimme aufbieten und der alten Satzung als Helfer beistehen mit dem

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Beweis, daß es Götter gibt und all das, was du eben dargelegt hast, und so muß er auch dem Gesetz als solchem beistehen und der Kunst mit dem Beweis, daß sie beide von der Natur herstammen oder etwas sind, das nicht geringer ist als die Natur, jedenfalls wenn sie Erzeugnisse der Vernunft sind nach der richtigen Ansicht, die du, wie mir scheint, vor­ trägst und der auch ich jetzt Glauben schenke. ATH. Mein übereifriger Kleinias, wie soll das möglich sein? Ist es denn nicht schwierig, den Worten zu folgen, wenn dies nur so in die Menge hinein gesagt wird, und besitzt es andererseits nicht eine ungeheure Län­ ge? kl. Wie, Fremder? Als es um den Rausch und die Musik ging, da haben wir zu so langen Reden die Geduld aufgebracht; wenn es aber um die Götter und derartige Themen geht, da sollten wir sie nicht aufbringen? Und gerade für eine Gesetzgebung, die mit Einsicht zu Werke geht, gibt es eine sehr große Hilfe, weil die mit den Gesetzen zusammenhängenden Anordnungen, sobald sie schriftlich festgelegt sind, um für alle Zeit Rechenschaft zu geben, ganz unverändert stehen bleiben; wenn sie nun an­ fangs schwierig für das Hören sind, so braucht uns das daher nicht zu ängstigen, da ja auch jemand, der nur schwer begreift, sie immer wieder durchgehen und sie prüfen kann; und wenn sie lang, aber nützlich sind, so ist es deshalb doch keineswegs vernünftig und scheint mir auch nicht fromm, daß diesen Sätzen nicht jedermann nach Kräften zu Hilfe eilen soll. meg. Sehr gut, Fremder, scheint mir, was Kleinias da sagt. άγη. Gewiß, Megillos, und wir müssen tun, wie er sagt. Denn wenn der­ artige Reden nicht unter beinahe allen Menschen, wie man sagen muß, verbreitet wären, so bedürfte es zu ihrer Abwehr keinerlei Beweise, daß die Götter existieren; so aber sind sie notwendig. Wenn nun die wichtigten Gesetze von schlechten Menschen untergraben werden, wem kommt es denn da eher zu, ihnen zu Hilfe zu eilen, als einem Gesetzgeber? meg. Keinem sonst. άγη. Doch nun antworte auch du mir wieder, Kleinias, denn du sollst dich ja an unseren Reden beteiligen. Wer nämlich diese Ansichten äußert, der scheint Feuer und Wasser und Erde und Luft für die allerer­ sten Dinge zu halten und eben diese mit dem Wort „Natur“ zu bezeich­ nen, die Seele dagegen für etwas, das erst später aus diesen entstanden ist. Aber vermutlich scheint er dies nicht nur zu meinen, sondern will es uns durch seine Rede wirklich klarmachen. kl. Ganz gewiß. ATH. Haben wir nun damit nicht, bei Zeus, gleichsam eine Quelle der unvernünftigen Meinung all der Menschen entdeckt, die sich jemals mit Untersuchungen über die Natur befaßt haben? Betrachte und prüfe jedes

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d Wort. Denn es wäre kein geringer Gewinn, wenn sich herausstellen sollte, daß diejenigen, die sich mit unfrommen Ansichten befassen und ande­ ren darin vorangehen, die Worte nicht nur nicht richtig, sondern sogar verkehrt gebrauchen. Und dies scheint mir wirklich der Fall zu sein. kl. Gut gesprochen. Aber inwiefern? Das versuche uns zu zeigen. ath. Nun, da müssen wir uns wahrscheinlich mit Gedankengängen be­ fassen, die uns ziemlich ungewohnt sind. kl. Du darfst nicht zögern, Fremder. Denn ich merke, du meinst, wir kämen von der Gesetzgebung ab, wenn wir uns mit derartigen Gedanken e befassen. Wenn es aber auf keinem anderen Weg als auf diesem möglich ist, Einigung darüber zu erzielen, daß die jetzt im Gesetz als Götter be­ zeichneten Wesen damit richtig bezeichnet sind, dann, mein Teuerster, müssen wir unsere Ansicht auch auf diesem Weg vortragen. ath. So werde ich nun wahrscheinlich eine ziemlich ungewöhnliche Behauptung aufstellen, nämlich folgende: Von dem, was die erste Ursa­ che alles Werdens und Vergehens ist, sagen jene Lehren, deren Produkt die Seele der Gottlosen ist, daß es nicht als erstes, sondern später entstan­ den sei; was aber später entstanden ist, das sei früher entstanden. Daher sind sie in einen Irrtum geraten über das wahre Wesen der Götter. 892a kl. Das verstehe ich noch nicht. ath. Die Seele, mein Freund, scheinen fast alle verkannt zu haben, was sie ist und welche Kraft sie besitzt, und zwar unter anderem besonders hinsichtlich ihrer Entstehung, daß sie nämlich zu den ersten Dingen ge­ hört, da sie vor allen Körpern entstanden ist, und daß bei deren Verände­ rung und bei jeder Umgestaltung vor allem sie die Führung übernimmt. Wenn dies aber so ist, müßte dann nicht notwendig auch das, was mit der Seele verwandt ist, früher entstanden sein als das, was zum Körper geb hört, da sie ja älter als der Körper ist? kl. Notwendig. ath. Meinung, Fürsorge, Vernunft, Kunst und Gesetz wären demnach früher als Hartes und Weiches, Schweres und Leichtes; und so würden denn auch die großen und ersten Werke und Handlungen als Werke der Vernunft entstehen, da sie zu den ersten Dingen gehören, während die Werke der Natur und die Natur selbst, die sie nicht richtig mit eben die­ sem Namen bezeichnen, später wären und von der Kunst und der Ver­ nunft abhingen. c kl. Wieso nicht richtig? ath. Mit „Natur“ wollen sie das Entstehen der ersten Dinge bezeich­ nen; wenn sich nun aber zeigen sollte, daß die Seele das Erste ist, nicht aber das Feuer oder die Luft, sondern daß die Seele unter den ersten Din­ gen entstanden ist, dann wird man wohl mit vollem Recht sagen dürfen, daß sie in besonderem Maße von Natur ist. So verhält es sich damit, vor­

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ausgesetzt, daß jemand beweist, daß die Seele älter als der Köper ist, sonst aber auf keinen Fall. kl. Da hast du völlig recht. άγη. Sollen wir uns nun nicht als nächstes genau dazu aufmachen? d kl. Unbedingt. άγη. Wir wollen uns aber in acht nehmen bei einer Rede voller Täu­ schungsmöglichkeiten, damit sie nicht uns alte Männer, weil sie eher ei­ ne Sache für junge Leute ist, irgendwie in die Irre lockt und uns dann ent­ schlüpft und uns lächerlich macht, und wir so den Eindruck erwecken, daß wir nach Großem zielen und dabei sogar das Kleine verfehlen. Überlegt also: Wenn wir drei beispielsweise einen reißenden Fluß zu durchqueren hätten und ich, der ich der Jüngste von uns und bereits mit vielen Strömen vertraut bin, würde sagen, ich müsse es erst für mich ale lein versuchen und euch auf sicherem Boden zurücklassen, um zu prü­ fen, ob er auch für euch Ältere durchquerbar ist oder wie es sonst damit steht, und erst wenn sich das herausgestellt hätte, würde ich euch rufen und euch mit meiner Erfahrung hinüberhelfen; wenn er aber für euch un­ passierbar wäre, dann hätte sich die Gefahr auf mich allein beschränkt: so würde ich damit doch offenbar einen angemessenen Vorschlag ma­ chen. Und so ist nun auch die uns bevorstehende Rede zu gewaltig und vielleicht für eure Kräfte unpassierbar. Damit sie euch nun kein Dunkel 893a vor den Augen oder Schwindel verursacht, wenn sie vorüberbraust und Fragen an euch richtet, die ihr im Antworten ungeübt seid, und euch in eine ungehörige und unziemliche Lage bringt, die nicht angenehm ist, muß ich daher, wie mir scheint, folgendermaßen verfahren: ich richte zuerst die Fragen an mich, während ihr auf sicherem Boden zuhört, und danach antworte ich wiederum, und gehe dann die ganze Rede in dieser Weise durch, bis sie hinsichtlich der Seele vollendet ist und gezeigt hat, daß die Seele früher als der Körper ist. kl. Sehr gut, Fremder, scheint uns, hast du gesprochen; mache es denn so, wie du sagt. b άγη. Wohlan denn! Wenn wir es jemals nötig hatten, einen Gott zu Hil­ fe zu rufen, dann hat dies jetzt zu geschehen - zum Beweise ihres eige­ nen Daseins sollen sie denn mit allem Emst herbeigerufen sein —, und in­ dem wir uns daran wie an einem sicheren Seil festhalten, wollen wir in die gegenwärtige Erörterung hineinsteigen. Und wenn man mich über derartige Gegenstände mit etwa folgenden Fragen prüft, so scheint es mir am sichersten, sie folgendermaßen zu be­ antworten. Wenn einer sagt: „Lieber Fremder, steht alles fest und bewegt sich gar nichts? Oder ist davon ganz das Gegenteil der Fall? Oder bewe­ gen sich manche von den Dingen und andere verharren in Ruhe?“ c Manche bewegen sich wohl, werde ich sagen, andere verharren in Ruhe.

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— „Muß nun nicht in einem bestimmten Raum das Feststehende festste­ hen und das Bewegte sich bewegen?“ — Sicherlich. - „Und manche wer­ den dies wohl an einer einzigen Stelle tun, andere aber an mehreren?“ Du meinst, werden wir sagen, daß diejenigen, die die Fähigkeit besitzen, in ihrem Mittelpunkt festzustehen, sich auf einer einzigen Stelle bewe­ gen, wie sich der Umfang der Kreisscheiben dreht, von denen man sagt, sie stünden fest? - „Ja“. - Wir begreifen jedenfalls, daß bei dieser Um­ drehung eine solche Bewegung, indem sie den größten und den kleinsten Kreis gleichzeitig herumbewegt, sich selbst in einer bestimmtem Propord tion den kleinen und den größeren Kreisen mitteilt und dabei kleiner oder größer im entsprechenden Verhältnis ist. Daher ist sie auch zur Quelle al­ les Wunderbaren geworden, indem sie gleichzeitig großen und kleinen Kreisen Langsamkeit und Schnelligkeit in harmonischem Verhältnis ver­ leiht, ein Vorgang, der, wie man erwarten sollte, eigentlich unmöglich sein sollte. - „Du hast völlig recht.“ - Mit den Dingen aber, die sich an vielen Stellen bewegen, scheinst du alle diejenigen zu meinen, die sich durch Fortrücken bewegen, indem sie immer wieder zu einem andern Ort weitergehen, und die hierbei bald eine durch eine einzige Drehachse e bestimmte Gangart, bald mehrere Achsen besitzen infolge des Umherrollens. Und jedesmal, wenn sie mit anderen Zusammentreffen, werden sie, wenn sie auf feststehende treffen, zerspalten; treffen sie aber auf die an­ deren, die sich aus der Gegenrichtung gegen sie bewegen, so werden sie mit diesen eines und verbinden sich zu einem Mittleren zwischen derarti­ gen Dingen. - „Allerdings meine ich, daß sich das so verhält, wie du sagst.“ - Und indem sie sich verbinden, wachsen sie, und indem sie sich zertrennen, nehmen sie ab, sofern ihre jeweils bestehende Beschaffenheit 894a erhalten bleibt; bleibt sie aber nicht, so gehen sie durch beide Vorgänge zugrunde. Wann geschieht also die Entstehung eines jeden Dinges, wel­ ches Ereignis muß dazu gegeben sein? Offensichtlich dann, wenn ein Anfang ein Anwachsen erfährt und zur zweiten Stufe gelangt und von dort zur nächsten und wenn er bis zur dritten gelangt ist, für diejenigen wahrnehmbar wird, die es wahmehmen können. Durch diese Verände­ rung und Bewegung entsteht jedes Ding; wirklich seiend ist es, solange es bestehen bleibt, wenn es aber in eine andere Beschaffenheit übergeht, ist es damit auch schon völlig zugrunde gegangen. Haben wir nun alle Bewegungen genannt, liebe Freunde, um sie mit b Hilfe der Zahl in Arten zusammenzufassen, außer zweien? kl. Welche zwei denn? ATH. Gerade diejenigen, mein Bester, denen unsere ganze jetzige Unter­ suchung gilt. kl. Sprich deutlicher. άγη. Sie galt doch wohl der Seele?

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denn diejenige Bewegung, die immer nur anderes bewegen kann, sich selber aber nicht bewegen kann, als die eine Art gelten; dieje­ nige aber, die immer sowohl sich selbst als auch anderes bewegen kann mittels Verbindungen und durch Trennungen, durch Wachsen und dessen Gegenteil und durch Entstehen und Vergehen, die sei wieder eine andere c innerhalb der Gesamtheit der Bewegungen. kl. So sei es. ath. Also werden wir die Bewegung, die immer nur etwas anderes be­ wegt und von einem anderen verändert wird, ihrerseits als die neunte an­ setzen; diejenige aber, die sowohl sich selbst als auch etwas anderes be­ wegt und sich allem Tun und allem Erleiden harmonisch einfiigt und wahrhaft als Veränderung und Bewegung alles Seienden bezeichnet wird, die werden wir etwa als die zehnte bezeichnen. kl. Allerdings. ath. Welcher unserer genau zehn Bewegungen werden wir nun am d richtigsten den Vorzug zuerkennen, von allen die kräftigste und beson­ ders wirksam zu sein? kl. Unendlich weit, so müssen wir doch wohl behaupten, ragt die Be­ wegung hervor, die sich selbst bewegen kann, während die anderen alle hinter ihr zurückstehen. ath. Gut gesprochen. Also müssen wir von dem, was wir soeben nicht richtig gesagt haben, eine oder zwei Aussagen abändem? kl. Welche meinst du denn? ath. Die als zehnte bezeichnete Bewegung ist damit nicht ganz richtig bezeichnet worden. kl. Inwiefern? ath. Aufgrund ihrer Entstehung und ihrer Kraft ist sie doch logischere weise die erste. Und in der auf diese folgenden haben wir die zweite nach dieser, obwohl sie eben unpassenderweise als die neunte bezeichnet wor­ den ist. kl. Wie meinst du das? ath. Wenn sie ein anderes Ding in seinem Zustand ändert und dieses immer wieder ein anderes, wird da jemals unter solchen Dingen eines das erste Verändernde sein? Und wie kann das, was von einem anderen in Bewegung gesetzt wird, jemals das erste von den Dingen sein, die eine Veränderung bewirken? Das ist doch unmöglich. Wenn jedoch etwas, das sich selbst in Bewegung gesetzt hat, ein anderes verändert, dieses dann wieder ein anderes und so die bewegten Dinge in die Tausende und 895a Abertausende gehen, wird da der Anfang ihrer gesamten Bewegung et­ was anderes sein als die Veränderung, die von der sich selbst bewegen­ den Bewegung ausgeht?

Zehntes Buch kl. Sehr schön hast du gesprochen, άγη. Wir wollen es aber auch noch

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und dem muß man zustimmen. auf folgende Weise sagen und wie­ der uns selbst antworten. Wenn alle Dinge irgendwie zum Stillstand kä­ men und in eins zusammenfielen, wie die meisten solcher Menschen zu behaupten wagen, welche der genannten Bewegungen müßte dann in ihb nen als erste entstehen? Doch wohl diejenige, die sich selbst bewegt; denn durch etwas anderes kann sie ja niemals zuvor eine Veränderung er­ fahren haben, da es ja vorher keinerlei Veränderung in ihnen gibt. Als Anfang aller Bewegungen also und als diejenige, die als erste in stillste­ henden Dingen entsteht und in bewegten Dingen ist, ist die sich selbst bewegende Bewegung, so werden wir sagen, zwangsläufig die älteste und mächtigste unter allen Veränderungen; die aber, die durch etwas an­ deres verändert wird und anderes bewegt, ist die zweite. kl. Was du sagst, ist völlig wahr. c άγη. Da wir nun an diesem Punkt unserer Erörterung angelangt sind, so wollen wir noch folgendes beantworten. kl. Was denn? άγη. Wenn wir diese Bewegung irgendwo entstanden sehen, in etwas Erdigem oder Wäßrigem oder Feuerartigem, sei dieses getrennt oder auch vermischt, was für einen Zustand sollen wir dann in einem solchen Ding annehmen? kl. Fragst du mich etwa, ob wir sagen sollen, daß es lebt, wenn es sich selbst bewegt? ATH. Ja. kl. Nun, daß es lebt, natürlich. άγη. Und weiter: Wenn wir in irgend etwas eine Seele sehen, ist dies dann anders oder genau dasselbe? Müssen wir zugeben, daß es lebt? kl. Nicht anders. d ATH. Doch halt, bei Zeus. Möchtest du nicht bei jedem Ding dreierlei er­ kennen? kl. Wie meinst du das? ATH. Eines ist das, was das Ding ist, eines ist die Definition dessen, was das Ding ist, und eines ist dessen Name. Und so sind bei allem, was ist, zwei Fragen möglich. kl. Wieso zwei? ATH. Jeder von uns bringt doch manchmal den bloßen Namen vor und bittet um die Definition, manchmal aber bringt er die bloße Definition vor und fragt nach dem Namen. Wollen wir damit nun etwas wie das fol­ gende sagen? kl. Was denn? e άγη. Es gibt doch bei manchen Dingen und so besonders bei der Zahl etwas, das sich in zwei Teile zerlegen läßt. Und für dieses lautet bei der

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Zahl der Name „gerade“, die Definition aber „eine Zahl, die sich in zwei gleiche Teile zerlegen läßt.“ kl. Ja. Das etwa meine ich. ath. Bezeichnen wir also nicht auf beide Weisen dasselbe Ding, sowohl wenn wir auf die Frage nach der Definition den Namen, als auch wenn wir auf die Frage nach dem Namen die Definition angeben, indem wir dasselbe Seiende als „gerade“ mit dem Namen und mit der Definition als „in zwei Teile zerlegbare Zahl“ bezeichnen? kl. Ganz gewiß. ath. Was nun den Namen „Seele“ trägt, wie lautet dessen Definition? 896a Haben wir eine andere als die eben genannte: „die Bewegung, die sich selbst bewegen kann“? kl. „Sich selbst bewegen“, behauptest du, komme als Definition dem­ selben Seienden zu, dem auch der Name zukommt, mit dem wir alle es als „Seele“ bezeichnen? ath. Das behaupte ich. Wenn sich das aber so verhält, vermissen wir da noch etwas zu einem ausreichenden Beweis, daß die Seele dasselbe ist wie die erste Entstehung und Bewegung von allem, was ist und was ge­ wesen ist und was sein wird, und auch von allem, was dem entgegengeb setzt ist, da sie sich ja als die Ursache jeder Veränderung und Bewegung fur alle Dinge erwiesen hat? kl. Nein, sondern es ist völlig ausreichend gezeigt worden, daß die Seele von allem das Älteste ist, da sie sich als Anfang der Bewegung er­ wiesen hat. ath. Ist also nicht diejenige Bewegung, die durch etwas anderes in et­ was anderem entsteht, aber niemals irgend etwas befähigt, sich selbst in sich selbst zu bewegen, die zweite und steht um so viele Stufen zurück, wie sie jemand nur zählen mag, da sie die Veränderung eines wirklich seelenlosen Körpers ist? kl. Richtig. ath. Richtig also und gültig, ganz wahrheitsgemäß und vollständig hätc ten wir somit dargelegt, daß die Seele früher als der Körper entstanden ist, der Köper aber als zweites und später, wobei die Seele herrscht und er naturgemäß beherrscht wird. kl. Ja, ganz wahrheitsgemäß. ath. Wir erinnern uns aber sicherlich noch daran, daß wir uns im vori­ gen darüber geeinigt haben, daß, wenn die Seele sich als älter denn der Körper erweist, dann auch das, was zur Seele gehört, älter sein werde als das, was zum Körper gehört. kl. Auf jeden Fall. ath. Charakterzüge, Gesinnungen, Wollen, Überlegungen, wahre d Meinungen, Fürsorge und Erinnerungen wären demnach früher entstan­

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den als Länge, Breite, Tiefe und Kraft der Körper, sofern auch die Seele älter als der Körper ist. kl. Notwendig. ATH. Also müssen wir doch als nächstes zugeben, daß die Seele die Ur­ sache des Guten und des Schlechten, des Schönen und des Häßlichen, des Gerechten und des Ungerechten und überhaupt aller Gegensätze ist, wenn wir sie als Ursache von allem ansetzen wollen? kl. Unbedingt. ATH. Wenn die Seele nun alles durchwaltet und in allem wohnt, was sich auf irgendeine Weise bewegt, müssen wir da nicht sagen, daß sie auch den Himmel durchwaltet? kl. Natürlich. άγη. Eine oder mehrere? Mehrere, will ich an eurer Stelle antworten. Jedenfalls wollen wir nicht weniger als zwei ansetzen, nämlich eine, die Gutes bewirkt, und eine, die das Gegenteil zu bewirken vermag. kl. Du hast ganz richtig gesprochen. άγη. Gut. Seele lenkt also alles am Himmel und auf der Erde und im Meer durch ihre eigenen Bewegungen, deren Namen lauten: Wollen, Er­ wägen, Fürsorgen, Beraten, richtiges und falsches Meinen, in Freude oder Schmerz, Mut oder Furcht, Haß oder Liebe, sowie durch alle Bewe­ gungen, die mit diesen verwandt oder primäre Bewegungen sind und die dann ihrerseits die sekundären Bewegungen der Körper übernehmen und dadurch alles zum Wachsen und Abnehmen und zur Trennung und Ver­ bindung hinfuhren und zu dem, was diesen folgt, nämlich zu Wärme und Kälte, Schwere und Leichtigkeit, zu Hartem und Weichem, Weißem und Schwarzem, Bitterem und Süßem, und durch all das, mit dessen Hilfe die Seele, wenn sie die Vernunft hinzunimmt, die ein Gott mit Recht für Göt­ ter ist, dann immer alles zum Rechten und zum Glück hinleitet, während sie dann, wenn sie sich mit Unvernunft verbindet, in allem das Gegenteil davon bewirkt. Sollen wir annehmen, daß sich dies so verhält, oder schwanken wir noch, ob es sich nicht irgendwie anders verhält? kl. Auf keinen Fall. άγη. Von welcher der beiden Arten von Seele sollen wir nun sagen, daß sie die Macht über den Himmel und die Erde und den gesamten Umlauf erlangt hat? Ist es diejenige, die vernünftig und voller Tugend ist, oder die, die keine dieser beiden Eigenschaften besitzt? Wollt ihr, daß wir dar­ auf folgendermaßen antworten? kl. Wie denn? άγη. Wenn, mein bewundernswerter Freund, so wollen wir sagen, die gesamte Bahn und der Schwung des Himmels und alles dessen, was in ihm ist, eine der Bewegung und der Umdrehung und den Überlegungen der Vernunft ähnliche Natur besitzt und in verwandter Weise seine Bahn

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zieht, dann müssen wir offensichtlich sagen, daß die beste Seele für den gesamten Kosmos sorgt und daß sie ihn auf einer derartigen Bahn lenkt. kl. Richtig. d ATH. Wenn sich das alles dagegen auf verrückte und ungeordnete Weise fortbewegt, dann die schlechte Seele. kl. Auch das ist richtig. άγη. Welche Natur besitzt nun die Bewegung der Vernunft? Dies, ihr Freunde, ist nun eine Frage, die nur schwer auf verständige Weise zu be­ antworten ist. Daher habt ihr auch das Recht, mich bei ihrer Beantwor­ tung hinzuziehen. kl. Gut gesprochen. ATH. Wir wollen nun nicht so, daß wir gleichsam direkt in die Sonne schauen und so mitten am Tage Nacht für uns heraufführen, unsere Ant­ wort geben, als würden wir die Vernunft mit sterblichen Augen sehen e und ausreichend erkennen können. Wenn wir aber auf ein Bild dessen, wonach wir fragen, hinblicken, so können wir es um so gefahrloser se­ hen. kl. Wie meinst du das? ATH. Diejenige jener zehn Bewegungen, der die Vernunft gleicht, wol­ len wir uns zum Bild wählen; diese Bewegung will ich uns wieder in Er­ innerung rufen und dann gemeinsam mit euch die Antwort geben. kl. Das ist ein sehr schöner Vorschlag. άγη. Nun denn: wir haben doch von dem damals Gesagten doch noch dies im Gedächtnis, daß wir angenommen hatten, daß von allen Dingen manche sich bewegen, andere aber stillstehen. kl. Ja. ATH. Und weiter, daß von denen, die sich bewegen, die einen sich auf 898a einer einzigen Stelle bewegen, die anderen aber auf mehreren, da sie sich fortbewegen? kl. So ist es. ATH. Von diesen beiden Bewegungen muß nun diejenige, die sich auf einer einzigen Stelle bewegt, sich zwangsläufig immer um einen Mittel­ punkt bewegen, so daß sie gewissermaßen ein Abbild der Scheiben auf der Drechselbank ist, und sie muß der Umlaufbahn der Vernunft in allem so verwandt und gleich sein wie nur möglich. kl. Wie meinst du das? ATH. Wenn wir die Behauptung aufstellen, daß die Vernunft und die auf einem Punkt sich bewegende Bewegung sich beide jeweils immer in demselben Maße und auf dieselbe Art und Weise und auf derselben Stelb le und um dasselbe herum und zu demselben hin und gemäß einem einzi­ gen Gesetz und einer einzigen Regel bewegen, so daß beide vergleichbar sind mit den Umdrehungen einer Kugel auf der Drechselbank, so werden

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wir uns wohl nie als schlechte Hersteller schöner Bilder durch Worte er­ weisen. kl. Da hast du völlig recht. ath. Diejenige Bewegung dagegen, die sich niemals auf dieselbe Art und Weise noch mit derselben Geschwindigkeit noch auf demselben Platz noch um dasselbe herum noch auf dasselbe hin noch auf einer ein­ zigen Stelle bewegt noch nach einer Ordnung noch nach einer Regel noch nach irgendeiner Gesetzmäßigkeit, die wäre demnach jeder Art von Unvernunft verwandt? kl. Das dürfte völlig wahr sein. c ath. Nun ist es also überhaupt nicht mehr schwer, ganz ausdrücklich festzustellen: da das, was alles im Kreis herumfuhrt, für uns eine Seele ist, so muß man sagen, daß den Umschwung des Himmels zwangsläufig entweder die beste Seele herumlenkt und für ihn sorgt und ihn ordnet oder die entgegengesetzte. kl. Aber, Fremder, aufgrund des eben Gesagten wäre es auch gar nicht fromm, etwas anderes zu sagen, als daß eine Seele, die jede Tugend be­ sitzt, oder mehrere diesen Umschwung bewirken. ath. Sehr schön, Kleinias, hast du meinen Worten zugehört. Höre aber d auch noch folgendes. kl. Was denn? ath. Wenn die Seele die Sonne, den Mond und die übrigen Gestirne in ihrer Gesamtheit herumbewegt, bewegt sie dann nicht auch jedes einzel­ ne Gestirn? kl. Was sonst? ath. So wollen wir denn über ein Gestirn Überlegungen anstellen, die, wie sich uns zeigen wird, auch auf alle andern Sterne passen. kl. Über welches? ath. Über die Sonne. Deren Körper sieht zwar jedermann, ihre Seele aber niemand; und ebenso auch nicht die Seele sonst eines Körpers von irgendwelchen Lebewesen, weder wenn er lebt, noch wenn er dahin­ stirbt; aber es besteht begründete Hoffnung, daß diese Gattung, die mit e allen Sinnen des Körpers nicht wahrnehmbar ist, uns rings umgibt, daß sie aber mit der Vernunft erfaßbar ist. Also wollen wir mit der Vernunft allein und durch Denken noch folgendes zu erfassen suchen. kl. Was? ath. Wenn die Seele die Sonne im Kreis herumfiihrt, so werden wir wohl kaum mit der Behauptung fehlgehen, daß sie eines von drei Dingen tut. kl. Von welchen drei Dingen? ath. Entweder befindet sie sich im Innern dieses sichtbaren runden Körpers und lenkt dadurch einen solchen Körper überall hin, so wie uns

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unsere Seele überall herumbewegt. Oder sie stößt irgendwoher von außen, nachdem sie sich einen Körper aus Feuer oder aus einer Art Luft verschafft hat, wie die These mancher Leute lautet, den einen Körper ge­ waltsam mit einem andern Körper fort. Oder, drittens, sie ist selbst ohne Körper, hat aber irgendwelche sonstigen über die Maßen wunderbaren Kräfte und lenkt ihn damit. kl. Ja, das ist notwendig, daß die Seele eines von diesen Dingen tut, wenn sie alles lenkt. άγη. Diese Seele nun — mag sie nun die Sonne wie einen Wagen benut­ zen und so das Licht für uns alle heraufführen oder von außen her oder wie auch immer oder in welcher Weise sonst - muß doch jedermann für eine Gottheit halten. Oder wie? b kl. Ja, jedenfalls wenn er nicht auf der äußersten Stufe der Unvernunft angelangt ist. άγη. Was nun die Gesamtheit der Sterne und den Mond, die Jahre und Monate und alle Jahreszeiten angeht: welche andere Aussage können wir über sie machen als eben diese: weil eine Seele oder Seelen sich als Ursa­ che von dem allen erwiesen haben und als gut in jeder Tugend, so wer­ den wir sagen, daß sie Gottheiten sind, gleichgültig, ob sie in den Kör­ pern wohnend, als lebende Wesen den ganzen Himmel ordnen, oder auf welche Weise oder wie auch immer. Gibt es jemanden, der dies zugibt und dennoch dabei bleibt, daß nicht alles voll von Göttern ist? c kl. Es gibt niemanden, Fremder, der so von Sinnen wäre. άγη. So wollen wir denn demjenigen, der bisher nicht an Götter ge­ glaubt hat, lieber Megillos und Kleinias, gewisse Bedingungen diktieren und dann mit der Sache fertig sein. kl. Welche Bedingungen? άγη. Entweder soll er uns belehren, daß wir nicht recht haben, wenn wir die Seele als ersten Ursprung von allem annehmen, und ebenso mit allem andern, was wir als Folgerung daraus vorgetragen haben; oder wenn er nichts Besseres als wir sagen kann, so soll er sich von uns über­ zeugen lassen und im Glauben an Götter sein restliches Leben zubringen, d Sehen wir nun zu, ob wir nunmehr denen, die nicht an Götter glauben, zur Genüge dargelegt haben, daß es Götter gibt, oder ob auf mangelhafte Weise. kl. Nichts weniger als mangelhaft, Fremder. ATH. Für diese Leute also soll unsere Erörterung hiermit ein Ende ha­ ben. - Demjenigen aber, der glaubt, daß es zwar Götter gibt, daß sie sich aber nicht um die menschlichen Angelegenheiten kümmern, müs­ sen wir nun zureden. „Mein Bester“, wollen wir also sagen, „was dei­ nen Glauben an Götter betrifft, so fuhrt dich vielleicht eine Art göttli­ che Verwandtschaft zu dem, was mit dir wesensgleich ist, um es zu eh-

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ren und an seine Existenz zu glauben. Aber die glücklichen Schicksale e schlechter und ungerechter Menschen im privaten und öffentlichen Le­ ben, die in Wahrheit zwar nicht glücklich sind, aber von den Meinun­ gen der Leute für sehr glücklich gepriesen werden (doch zu Unrecht), die verfuhren dich zur Unfrommheit, wenn sie in musischen Gedichten nicht richtig besungen werden und in mancherlei Reden. Oder auch wenn du siehst, daß Menschen hochbetagt an ihr Lebensziel gelangen 900a und Kindeskinder in den höchsten Ehren zurücklassen, so wirst du ver­ wirrt, wenn du jetzt bei all diesen siehst — magst du es durch Hörensa­ gen erfahren oder sogar ganz persönlich mit eigenen Augen gesehen haben, indem du Zeuge bei einigen ihrer zahlreichen und schlimmen Freveltaten wurdest -, daß sie gerade durch diese Taten aus kleinen Verhältnissen zur Tyrannenherrschaft und zu den größten Machtpositio­ nen gelangt sind. Wegen all dieser Dinge die Götter zu tadeln, weil sie für solche Dinge verantwortlich seien, dazu bist du in diesem Fall of­ fenbar infolge deiner Verwandtschaft mit ihnen nicht bereit; sondern getrieben von der Unbegreiflichkeit der Situation und zugleich unfähig, b den Göttern zu zürnen, bist du in diesen jetzigen Zustand geraten, daß du glaubst, daß sie zwar existieren, aber die menschlichen Angelegen­ heiten verachten und sich nicht darum kümmern. Damit nun deine ge­ genwärtige Überzeugung nicht zu einem noch schlimmeren Leiden bis hin zur Unfrommheit weiterschreitet, sondern in der Hoffnung, daß wir irgendwie fähig werden, sie mit Worten gleichsam fortzubannen, wenn sie heranrückt, wollen wir versuchen, die anschließende Beweisführung mit dem Beweis zu verknüpfen, den wir zu Anfang gegenüber dem durchgeführt haben, der überhaupt nicht an Götter glaubte, und wollen c so jenen jetzt mitverwenden.“ Du aber, Kleinias, und Megillos, über­ nehmt ihr es wie vorhin, für den jungen Mann zu antworten; wenn aber irgendeine Schwierigkeit in unserem Gespräch vorkommen sollte, so will ich diese Aufgabe übernehmen und euch so über den Strom set­ zen. kl. Was du sagst, ist richtig. Und so mache es auch, und wir wollen nach bestem Vermögen tun, was du sagst. άγη. Aber vermutlich ist gerade dies gar nicht schwer zu beweisen, daß sich die Götter um das Kleine nicht weniger kümmern, sondern noch d mehr, als um das, was durch seine Größe hervorragt. Denn er hat es ja wohl schon gehört und war dabei, als wir eben sagten, daß sie in jeder Tugend gut sind und deshalb die Fürsorge für alle Dinge als ihre ureigen­ ste Aufgabe übernommen haben. kl. Ganz sicher hat er das gehört. άγη. So sollen sie denn danach gemeinsam mit uns untersuchen, welche Tugend der Götter wir meinen, wenn wir zugeben, daß sie gut sind. Also:

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Besonnensein und den Besitz von Vernunft rechnen wir doch zur Tu­ gend, das Gegenteil aber zur Schlechtigkeit? kl. Ja. e ath. Und weiter: Die Tapferkeit zur Tugend, die Feigheit aber zur Schlechtigkeit? kl. Ganz gewiß. ath. Und werden wir das eine davon als häßlich, das andere als schön bezeichnen? kl. Notwendig. ath. Und daß, wenn überhaupt, dann uns all das zukommt, was minder­ wertig ist, die Götter hingegen an so etwas weder einen großen noch ei­ nen kleinen Anteil haben? Sollen wir das sagen? kl. Auch dies wird wohl jeder zugeben. ath. Und weiter: Werden wir Nachlässigkeit und Faulheit und Bequem­ lichkeit zur Tugend der Seele rechnen, oder wie meinst du? kl. Und wie sollte das möglich sein? ath. Sondern zum Gegenteil? kl. Ja. 901a ath. Und folglich deren Gegenteil zum Gegenteil? kl. Zum Gegenteil. ath. Wie nun weiter? Jeder bequeme, nachlässige und faule Mensch wird doch für uns ein solcher sein, von dem der Dichter sagt, daß er am ehesten den stachellosen Drohnen gleicht? kl. Womit er völlig recht hat. ath. Also dürfen wir von Gott jedenfalls nicht sagen, daß er eine solche Sinnesart besitze, die er doch selber haßt, und einem, der so etwas zu äußem versucht, dürfen wir das nicht gestatten. kl. Gewiß nicht. Wie dürften wir! b ath. Wem es nun in besonderem Maße zukommt, zu handeln und sich um etwas zu kümmern, seine Vernunft aber kümmert sich zwar um das Große, vernachlässigt jedoch das Kleine, mit welcher Berechtigung könnten wir so jemanden loben, ohne damit völlig fehlzugreifen? Be­ trachten wir die Sache einmal so: Handelt nicht jeder, der so handelt, auf zwei mögliche Arten, mag er nun ein Gott oder ein Mensch sein? kl. Welche zwei meinen wir denn? ath. Entweder weil er glaubt, es mache dem Ganzen nichts aus, wenn c das Kleine vernachlässigt wird, oder aber aus Leichtsinn und Bequem­ lichkeit, falls es etwas ausmacht und er es dennoch vernachlässigt. Oder gibt es noch eine auf irgendeine andere Ursache zurückgehende Vernach­ lässigung? Denn falls es unmöglich sein sollte, sich um alles zu küm­ mern, dann wird man keine Vernachlässigung des Kleinen oder Großen einem vorwerfen können, der sich nicht um das kümmert, wozu ihm die

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Kraft fehlt, sei er nun ein Gott oder irgend ein schwacher Mensch, und worum er sich zu kümmern nicht imstande ist. kl. Wie sollte es! ATH. Nun sollen uns dreien die zwei antworten, die zwar beide zugeben, d daß es Götter gibt, deren einer aber sagt, sie ließen sich umstimmen, der andere, sie würden sich nicht um das Kleine kümmern. Zunächst behaup­ tet ihr, daß die Götter alles wissen, sehen und hören und daß ihnen nichts von dem verborgen bleiben kann, wovon es Wahrnehmungen und Wis­ sen gibt. Sagt ihr, daß sich das so verhält, oder wie? kl. Ja, so. ATH. Und weiter: Daß sie zu allem fähig sind, wozu Sterbliche und Un­ sterbliche die Fähigkeit besitzen? kl. Wie sollten sie nicht zugeben, daß auch dies sich so verhält? e ATH. Und daß sie gut und die besten sind, darüber sind wir fünf uns ja schon einig geworden. kl. Gewiß. άγη. Also ist es ganz unmöglich zuzugeben, daß sie auch nur irgend et­ was aus Leichtsinn und Bequemlichkeit tun, wenn sie so beschaffen sind, wie wir übereinstimmend zugeben? Denn aus der Feigheit entsprießt doch bei uns Menschen die Faulheit, der Leichtsinn aber aus der Faulheit und Bequemlichkeit. kl. Du hast völlig recht. ATH. Aus Faulheit also und aus Leichtsinn ist keiner der Götter nachläs­ sig; denn an der Feigheit hat er doch keinen Anteil. kl. Da hast du ganz recht. 902a άγη. Also bleibt nur noch übrig, falls sie wirklich das Kleine und Gerin­ ge innerhalb des Ganzen vernachlässigen, daß sie dies entweder deshalb tun, weil sie erkennen, daß man sich um dergleichen überhaupt nicht zu kümmern braucht, oder was bleibt sonst noch übrig außer dem Gegenteil des Erkennens? kl. Nichts. άγη. Was sollen wir nun, mein Teuerster und Bester, als deine Behaup­ tung annehmen: daß die Götter unwissend sind und aus Unwissenheit das vernachlässigen, um das sie sich kümmern sollten — oder daß sie zwar diese Pflicht erkennen (so wie man sagt, daß die minderwertigsten Menschen handeln, die wohl wissen, daß sie besser etwas anderes täten als das, was sie tatsächlich tun), daß sie es aber infolge einer Art Überb wältigung durch Lust oder Schmerz nicht tun? kl. Wie wäre das möglich! άγη. Haben nun nicht die menschlichen Angelegenheiten an der beseel­ ten Natur teil und ist nicht gleichzeitig der Mensch das gottesfurchtigste von allen Lebewesen?

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kl. So scheint es jedenfalls. άγη. Nun sagen wir doch, daß

alle sterblichen Lebewesen Eigentum der Götter sind, denen auch der ganze Himmel gehört. kl. Gewiß. ATH. Nun mag einer ruhig sagen, dies sei etwas Kleines oder etwas Groc ßes für die Götter. Denn in keinem der beiden Fälle würde es sich für un­ sere Eigentümer schicken, uns zu vernachlässigen, da sie doch die für­ sorglichsten und besten sind. Wir wollen nämlich noch folgendes außer­ dem betrachten. kl. Was denn? ATH. Wie es sich mit Wahrnehmung und Kraft verhält. Sind diese nicht einander von Natur entgegengesetzt hinsichtlich der Leichtigkeit und Schwierigkeit? kl. Wie meinst du das? ATH. Das Kleine zu sehen und zu hören ist doch wohl schwieriger als das Große; das Kleine und Wenige zu tragen andererseits und es zu be­ herrschen und sich darum zu kümmern fallt jedem leichter als um das Entgegengesetzte. d kl. Und zwar sehr. άγη. Wenn aber ein Arzt, der den Auftrag hat, irgendein Ganzes zu be­ handeln, zwar willens und fähig ist, sich um das Große zu kümmern, aber die Teile und das Kleine vernachlässigt, wird es bei dem jemals gut um das Ganze stehen? kl. Auf keinen Fall. άγη. Und auch bei Steuermännern oder Heerführern oder Hausverwal­ tern oder auch bei manchen Staatsmännern oder sonst einem Mann die­ ser Art wird es ohne das Wenige und Kleine um das Viele und Große e nicht gut stehen; denn ohne die kleinen sitzen auch die großen Steine nicht gut, sagen die Maurer. kl. Wie könnten sie! άγη. Wir wollen also niemals die Gottheit für unfähiger halten als die sterblichen Handwerker, welche die ihnen obliegenden Arbeiten, je tüch­ tiger sie sind, desto genauer und vollkommener ausführen, und zwar mit einer einzigen Kunst sowohl die kleinen wie die großen; die Gottheit da­ gegen, die doch am weisesten ist und sowohl den Willen wie die Kraft 903a zur Fürsorge besitzt, die sollte sich um das, wofür leicht zu sorgen wäre, da es klein ist, überhaupt nicht kümmern wie ein fauler und feiger Mensch, welcher wegen der Anstrengungen sich lieber der Bequemlichkeit hingibt, sondern nur um das Große? kl. Auf keinen Fall, Fremder, wollen wir eine solche Meinung über die Götter hinnehmen; denn damit würden wir einen Gedanken denken, der weder fromm noch wahr wäre.

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Ich meine, wir haben uns nun wirklich angemessen genug mit dem unterhalten, der es liebt, die Götter der Nachlässigkeit zu beschuldigen. kl. Ja. ath. Wenigstens insofern, als wir ihn durch unsere Argumente gezwungen haben einzugestehen, daß er nicht recht hat. Doch scheint er mir noch einiger bezaubernder Worte zu bedürfen. kl. Was für welcher denn, mein Guter? ath. Wir wollen den jungen Mann durch Argumente davon überzeugen, daß von dem, der für das Ganze sorgt, alle Dinge auf die Erhaltung und Vollkommenheit des Ganzen hin angeordnet worden sind, von denen auch jeder Teil nach Möglichkeit erleidet und tut, was ihm zukommt. All diesen Teilen bis hin zum kleinsten sind jeweils Herrscher über deren Er­ leiden und Tun zugeordnet, welche so bis in die äußerste Unterteilung hinein Vollkommenheit verwirklicht haben. Als eines von diesen Teilchen, du Starrkopf, zielt und blickt auch das deine stets auf das Ganze hin, mag es noch so klein sein; aber dir ist gerade hierbei entgangen, daß alles Wer­ den deswegen geschieht, damit dem Leben des Ganzen ein glückliches Sein beschieden ist, daß es also nicht deinetwegen geschieht, sondern du seinetwegen geworden bist. Denn jeder Arzt und jeder fachkundige Handwerker schafft alles um irgendeines Zweckes willen, ein Teilchen aber, das auf das allgemeine Beste abzielt, das schafft er ganz gewiß um des Ganzen willen und nicht das Ganze um des Teiles willen. Du aber bist unzufrieden, weil du nicht weißt, inwiefern das, was in deinem Fall das Beste für das Ganze ist, es auch für dich ist gemäß der Wirkmacht der ge­ meinsamen Entstehung. Da aber eine Seele, die einem Körper, und zwar bald diesem, bald jenem, zugeordnet ist, immer alle möglichen Verände­ rungen durch sich selbst oder durch eine andere Seele erfährt, so bleibt dem Brettspieler keine andere Aufgabe mehr übrig, als den Charakter, der besser wird, an einen besseren Ort und den, der schlechter wird, an ei­ nen schlechteren Ort zu versetzen, einen jeden von ihnen, wie es ihm gebührt, damit er das ihm zukommende Schicksal zugeteilt bekommt. kl. Wie meinst du das? ath. Ich glaube, ich lege die Sache genau in der Weise dar, durch die die Leichtigkeit der göttlichen Fürsorge für das All verständlich wird. Wenn nämlich jemand mit stetem Blick auf das Ganze alle Dinge durch Umgestaltung bilden würde, wie z.B. aus Feuer beseeltes Wasser, und nicht vieles aus einem oder aus vielem eines, so wären die Dinge, nachdem sie eine erste oder zweite oder gar dritte Entstehung durchgemacht hätten, ihrer Anzahl nach so viele, daß ihre Versetzung und Anordnung an kein Ende käme. So aber ist die Sache erstaunlich leicht für den, der sich um das Ganze kümmert. kl. Wie meinst du das nun wieder? ath.

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άγη. Folgendermaßen. Als unser König sah, daß alle unsere Handlungen beseelt sind und viel Tugend in ihnen wohnt und viel Schlechtigkeit, daß ferner Seele und Körper, sobald sie einmal entstanden sind, etwas Unzer­ störbares, aber nichts Ewiges sind wie die nach dem Gesetz seienden Götter — eine Entstehung von Lebewesen wäre nämlich niemals möglich, wenn eines von jenen beiden zugrunde ginge -, und weil er bedachte, daß seiner Natur nach das immer nützt, was es an Gutem in der Seele gibt, das Schlechte dagegen schadet: weil er dies alles vor Augen hatte, dachte er sich aus, wo ein jeder der Teile hingestellt sein müsse, um im Weltganzen den Sieg der Tugend und die Niederlage der Schlechtigkeit am ehesten und auf die leichteste und beste Weise herbeizuführen. Den Blick einzig hierauf richtend hat er sich also ausgedacht, bei welcher Be­ schaffenheit etwas welche Art von Wohnsitz erhalten und bewohnen sol­ le und welche Orte. Die Ursachen aber für das Entstehen einer bestimmten Beschaffenheit überließ er den Willensentscheidungen eines jeden von uns. Denn wohin einer sein Begehren lenkt und wie einer hierbei in seiner Seele beschaffen ist, dahin und zu einer solchen Beschaffenheit pflegt sich meistens ein jeder von uns zu entwickeln. kl. Das ist jedenfalls wahrscheinlich. άγη. Es verändern sich nun alle Wesen, die einer Seele teilhaftig sind, da sie in sich selbst die Ursache der Veränderung besitzen, und bei dieser Veränderung bewegen sie sich gemäß der Ordnung und dem Gesetz des Schicksals. Wenn sie sich in unwesentlichen Charaktereigenschaften nur wenig verändern, so wechseln sie ihren Platz auf der Oberfläche der Er­ de; wenn sie sich aber häufiger und zu größerer Ungerechtigkeit hin verändern, so wandern sie in die Tiefe und in die sogenannten unteren Orte, die die Menschen als Hades und mit ähnlichen Namen bezeichnen und vor denen sie sich gewaltig fürchten und von denen sie träumen, sowohl im Leben als auch nach der Trennung vom Körper. Wenn aber die Seele in größerem Maße an Schlechtigkeit oder an Tugend zugenommen hat durch ihre eigene Willensentscheidungen und durch den starken Einfluß ihres Umgangs, so wechselt sie, wenn sie durch das Zusammensein mit göttlicher Tugend in hervorragendem Maße ebenso göttlich geworden ist, auch an einen hervorragenden, gänzlich heiligen Ort und wird so an einen anderen, besseren Ort versetzt; im entgegengesetzten Fall verlegt sie ihr Leben an den entgegengesetzten Ort.

„Dies ist der richtende Spruch der Götter im hohen Olympos“, du Kind oder Jüngling, der du meinst, du würdest von den Göttern ver­ nachlässigt: wer schlechter wird, der soll zu den schlechteren Seelen, wer besser, zu den besseren wandern, und im Leben und bei allen Toden soll er erleiden, was Gleichgeartete Gleichgearteten gebührendermaßen zufii-

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gen, und es auch selber tun. Diesem Richterspruch wirst weder du noch wird ihm sonst einer jemals entgehen und sich rühmen können, Göttern überlegen zu sein. Denn ihn haben die, die ihn aufgestellt haben, über al­ le anderen Richtersprüche gestellt, und vor ihm muß man sich unbedingt in acht nehmen. Denn niemals wirst du von ihm übersehen werden: magst du auch noch so klein sein, du wirst nicht in die Tiefen der Erde versinken noch wirst du, dich hoch erhebend, in den Himmel emporflie­ gen können, sondern du wirst von ihnen die gebührende Vergeltung er­ leiden, gleichgültig ob du hier bleibst oder auch in das Reich des Hades b gewandert oder gar an einen noch entfernteren Ort gebracht worden bist. Dieselbe Erklärung dürfte auch für jene gelten, die du sahst, wie sie aus kleinen zu großen Leuten wurden, indem sie Freveltaten verübten oder ähnliches taten, worauf du dann glaubtest, sie seien aus unglücklichen zu glücklichen Menschen geworden, und dann meintest, du habest in ihren Taten wie in einem Spiegel die gänzliche Gleichgültigkeit der Götter ge­ sehen, weil du nichts von ihrem Beitrag wußtest, inwiefern er dem Ganc zen zugute kommt. Wieso meinst du aber, du Tapferster von allen, diesen brauchtest du nicht zu erkennen? Denn wer diesen Beitrag nicht erkennt, der wird wohl niemals auch nur einen Umriß erfassen oder eine Erklä­ rung bezüglich des Lebens beisteuem können, was dessen Glück oder dessen unglückliches Los betrifft. Wenn dich davon nun Kleinias und unser gesamter Ältestenrat hier zu überzeugen sucht, daß du nicht weißt, was du über die Götter sagst, so wird dir dabei die Gottheit selber wohlwollend zu Hilfe kommen. Wenn du aber noch irgend eine Erklärung benötigst, so höre zu, wenn wir zu d dem dritten Gesprächspartner sprechen, sofern du nur irgendwie Ver­ nunft besitzt. Denn daß es Götter gibt und daß sie sich um die Menschen kümmern, das haben wir, so möchte ich meinen, gar nicht übel nachgewiesen. Daß sich Götter aber von denen umstimmen lassen, die Unrecht tun, indem sie von ihnen Geschenke annehmen, das dürfen wir niemandem zugeben und müssen es nach Kräften auf jede Weise widerlegen. kl. Ein sehr schönes Wort. Tun wir also, wie du sagst. ATH. Nun denn, im Namen eben dieser Götter: auf welche Weise könne ten sie sich denn von uns umstimmen lassen, wenn sie sich überhaupt umstimmen ließen? Und welche Götter und von welcher Art müßten sie sein? Herrscher müssen doch diejenigen werden, die fortwährend den ganzen Himmel verwalten sollen? kl. So ist es. ATH. Gut, aber welchen Herrschern sind sie dann ähnlich? Oder viel­ mehr welche ihnen, soweit wir solche Herrscher für unseren Vergleich von kleinen Herrschern mit größeren finden können? Sind etwa Lenker

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von Gespannen im Wettkampf von dieser Art oder Steuermänner von Schiffen? Vielleicht ließen sie sich auch mit Führern von Heeren verglei­ chen. Es könnte aber auch sein, daß sie Ärzten gleichen, die bei den Kör­ pern vor dem Angriff* von Krankheiten auf der Hut sind, oder Acker906a bauern, welche voller Furcht die für das Wachsen der Pflanzen gewöhn­ lich bedrohlichen Jahreszeiten erwarten, oder auch Aufsehern von Her­ den. Denn da wir uns darüber einig geworden sind, daß der Himmel voll von viel Gutem ist, voll aber auch von dem Gegenteil, mehr aber vom nicht Entgegengesetzten, so ist ein solcher Kampf, wie man sagen muß, unsterblich und erfordert eine außerordentliche Wachsamkeit. Mitkämp­ fer auf unserer Seite sind Götter und Dämonen, wir aber sind unsererseits ein Besitzstück der Götter und Dämonen. Verderben bringt uns Unge­ rechtigkeit und Frevelmut verbunden mit Unverstand, Rettung aber Geb rechtigkeit und Besonnenheit im Bunde mit vernünftiger Einsicht, die in den beseelten Kräften der Götter wohnen; ein kleines Stück von derarti­ gen Eigenschaften wohnt aber auch hier unten in uns, wie man deutlich sehen kann. Manche Seelen nun, die auf der Erde wohnen und sich unge­ rechten Gewinn angeeignet haben und offensichtlich von tierischer Art sind, die stürzen zu den Seelen der Wächter, also der Hunde, oder der Hirten oder zu denen der allerhöchsten Herren und suchen sie durch Schmeichelworte und durch eine Art Gebetszauber zu überreden, wie es c die prahlerischen Worte der schlechten Menschen behaupten, daß es ih­ nen erlaubt sein möge, sich unter den Menschen zu bereichern, ohne da­ für etwas Schlimmes zu erleiden. Wir behaupten aber doch wohl, daß der eben erwähnte Fehler, das Mehr-haben-Wollen, das ist, was bei den Kör­ pern aus Fleisch „Krankheit“ und bei den Jahreszeiten und Jahresabläu­ fen „Seuche“ heißt, während bei den Städten und Verfassungen eben der­ selbe Fehler unter abgewandelter Bezeichnung „Ungerechtigkeit “ heißt. kl. Allerdings. ath. Diese Ansicht muß also zwangsläufig der äußern, der sagt, daß die d Götter den Menschen, die ungerecht sind und Unrecht tun, immer verzei­ hen, falls ihnen einer vom ungerechten Gewinn abgebe: das wäre so, wie wenn die Wölfe den Hunden ein wenig von ihrer Beute abgäben und die­ se, durch die Geschenke besänftigt, ihnen erlaubten, die Herden zu zer­ reißen. Ist das nicht die Ansicht derer, die behaupten, daß sich die Götter umstimmen lassen? kl. Ja, das ist sie. ath. Mit welchen der vorhin erwähnten Menschen könnte nun jemand die Götter als Wächter vergleichen und als ihnen ähnlich bezeichnen, ohe ne sich lächerlich zu machen? Etwa mit Steuermännern, welche, „durch die Spende des Weins und den Fettdampf' selber vom Kurs abgebracht, auch Schiffe und Mannschaften kentern lassen?

Zehntes Buch kl. Auf keinen Fall. ATH. Aber doch auch

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nicht mit Wagenlenkem, die in einem Wettkampf aufgestellt sind und sich durch ein Geschenk dazu überreden lassen, an­ deren Gespannen den Sieg zu überlassen? kl. Einen schlimmen Vergleich würdest du mit dieser Behauptung aus­ sprechen! άγη. Aber auch nicht mit Heerführern oder Ärzten oder Ackerbauern und auch nicht mit Hirten oder irgendwelchen Hunden, die sich von Wölfen betören ließen. 907a kl. Hüte deine Zunge! Denn wie wäre das möglich? ATH. Sind aber nicht von allen Wächtern die Götter insgesamt nach un­ serer Überzeugung die größten und Wächter über die größten Dinge? kl. Bei weitem. άγη. Wollen wir nun diejenigen, die über die schönsten Dinge wachen und selber durch die Vorzüglichkeit ihres Wachens hervorragen, für schlechter erklären als Hunde und mittelmäßige Menschen, die das Ge­ rechte wohl niemals um der Geschenke willen verraten würden, die ihnen von ungerechten Männern in unfrommer Absicht angeboten werden? b kl. Auf keinen Fall. Unerträglich ist diese Behauptung, und unter de­ nen, die sich jeder Art von Unfrommheit hingeben, dürfte jeder, der an dieser Ansicht festhält, mit vollem Recht als der schlimmste und unfrommste aller Unfirommen erachtet werden. άγη. Sollen wir nun sagen, daß die von uns aufgestellten drei Sätze daß die Götter existieren, daß sie fürsorglich sind und daß sie sich wider das Gerechte schlechterdings nicht umstimmen lassen — zur Genüge be­ wiesen sind? kl. Warum nicht? Und wir stimmen mit diesen Ausführungen ganz überein. άγη. Sie sind allerdings in ziemlich heftigem Ton vorgetragen worden c aus dem Bestreben heraus, über die schlechten Menschen zu siegen. Aber nur deshalb, lieber Kleinias, waren sie vom Siegeswillen durch­ drungen, damit die Schlechten nicht etwa meinen, wenn sie mit ihren Re­ den die Oberhand behielten, hätten sie die Freiheit, auch noch zu tun, was sie wollen, nachdem sie ja schon diese schwerwiegenden und so ge­ arteten Gedanken über die Götter hegen. Daher überkam uns die Lust, im Ton jüngerer Leute zu sprechen. Wenn wir aber auch nur ein wenig dazu beigetragen haben, um die Männer dazu zu bringen, daß sie sich selbst hassen und die entgegengesetzte Gesinnung liebgewinnen, so wäre d unsere Vorrede zu den Gesetzen über Religionsfrevel mit schönem Er­ folg vorgetragen worden. kl. Hoffen dürfen wir das jedenfalls. Wo nicht, so wird zumindest die Art der Rede dem Gesetzgeber keinen Vorwurf eintragen.

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ATH. Nach dieser Vorrede könnte nun richtigerweise, gleichsam als Ausleger der Gesetze, ein Wort folgen, das alle Unfrommen auffordert, aus ihrer eigenen Denkweise herauszutreten und sich einer frommen Denkweise zuzuwenden. Für diejenigen aber, die nicht gehorchen, soll folgendes Gesetz über Religionsfrevel gelten: e Wenn sich jemand in Worten oder Taten gegen die Götter vergeht, so soll jeder, der dazu kommt, dem wehren, indem er es den Beamten mel­ det; und die ersten Beamten, die davon Kenntnis erhalten, sollen den Tä­ ter den Gesetzen gemäß vor das Gericht bringen, das zur Entscheidung über diese Fälle eingesetzt ist. Wenn aber eine Behörde, die davon hört, dies nicht tut, so soll sie selbst wegen Religionsfrevel von jedem gericht­ lich belangt werden können, der den Gesetzen beistehen will. Wird aber einer für schuldig befunden, so soll das Gericht jedem Frevler für jedes Vergehen eine besondere Strafe zuerkennen. 908a Haft soll nun für alle vorgesehen sein. Gefängnisse aber gibt es drei in der Stadt, ein allgemeines für die Mehrzahl der Häftlinge am Marktplatz, um sie in persönlichem Gewahrsam zu halten, eines beim Versamm­ lungsort der Nächtlichen Versammlung, das „Haus der Besinnung“ heißt, und eines mitten auf dem Land, an einem einsamen und möglichst ver­ wilderten Ort, dessen Name auf Vergeltung hinweist. Da aber die Menschen zur Unfrommheit aus drei Ursachen veranlaßt b werden, die wir schon durchgegangen sind, aus jeder derartigen Ursache aber zwei weitere hervorgehen, so werden sich sechs Arten von Frevlem gegen das Göttliche ergeben, die auch einer Unterscheidung bedürfen und weder eine gleich schwere noch eine gleichartige Strafe erfordern. Bei wem nämlich zu der Überzeugung, daß es überhaupt keine Götter gibt, von Natur aus eine gerechte Charakteranlage hinzukommt, die ent­ wickeln einen Haß auf die Schlechten und aus Abscheu gegen die Unge­ rechtigkeit erlauben sie sich auch nicht derartige Handlungen; sie meiden c die ungerechten Menschen und lieben die gerechten. Wenn sie aber zusätzlich zu der Überzeugung, alles sei leer von Göt­ tern, noch von Unbeherrschtheit gegenüber Lust und Schmerz befallen werden und ein starkes Gedächtnis und rasche Auffassungsgabe dazu kommt, so ist zwar die Leugnung der Götter ein in beiden vorhandenes gemeinsames Leiden; aber hinsichtlich der Schädigung der andern Men­ schen wird wohl die eine Art weniger und die andere mehr Unheil an­ richten. Denn der erstere wird zwar in seinem Reden über die Götter und über Opfer und Schwüre sich jede Freiheit herausnehmen und indem er die übrigen Menschen auslacht, wird er vielleicht auch andere zu seinesd gleichen machen, falls er keine Strafe erhält; der zweite aber, der wie der andere denkt, aber als Mann mit guten Anlagen gerühmt wird, ist jedoch voll von Heimtücke und Verschlagenheit; aus dieser Gruppe gehen viel-

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fach Seher hervor und Leute, die in der gesamten Zauberkunst bewandert sind, manchmal gehen daraus aber auch Tyrannen und Volksredner und Heerführer hervor und Leute, die sich auf private Mysterien verlegt ha­ ben, und ebenso die Tricks der sogenannten Sophisten. Von diesen wird e es also viele Arten geben, aber einen Erlaß von Gesetzen erfordern nur zwei Arten, von denen die heuchlerische Art Verfehlungen begeht, die nicht bloß einfachen oder zweifachen Tod verdienen, während die andere der Zurechtweisung und zugleich der Haft bedarf. Ebenso erzeugt auch der Glaube, daß sich die Götter nicht um uns kümmern, zwei verschiedene Arten von Vergehen und der, daß sie sich umstimmen lassen, zwei weitere. Nachdem sich diese nun in dieser Weise unterscheiden, soll der Richter diejenigen, die durch Unvernunft ohne böse Neigung und Charakteranla909a ge so geworden sind, in das Besinnungshaus schicken und zwar nach dem Gesetz für mindestens fünf Jahre; und in dieser Zeit soll sonst nie­ mand von den Bürgern mit ihnen zusammenkommen als die Mitglieder der Nächtlichen Versammlung, die zu ihrer Zurechtweisung und zur Ret­ tung ihrer Seele mit ihnen verkehren; wenn aber die Zeit ihrer Haft abge­ laufen ist und einer von ihnen erweckt den Eindruck, daß er wieder zur Besinnung gekommen ist, so soll er wieder unter den Besonnenen woh­ nen; wenn dies nicht der Fall ist, sondern er erneut in einem solchen Pro­ zeß schuldig gesprochen wird, so soll er mit dem Tod bestraft werden. b Diejenigen aber, die zusätzlich zu der Überzeugung, daß es keine Göt­ ter gibt oder daß sie sich nicht um uns kümmern oder daß sie sich um­ stimmen lassen, Tieren ähnlich werden und die voller Menschenverach­ tung die Seelen vieler Lebender verführen und behaupten, sie könnten sogar die Seelen Verstorbener heraufführen, und die sich erbieten, die Götter zu überreden, indem sie sie durch Opfer, Gebete und Beschwö­ rungen bezaubern würden, und die dadurch Privatleute und ganze Häuser und Städte um des Geldes willen bis auf den Grund zu verderben versu­ chen: wer von diesen schuldig befunden wird, dem soll das Gericht die gesetzliche Strafe zumessen, daß er im Gefängnis im Landesinnem in c Haft gehalten wird, daß kein Freier ihn jemals besucht und daß er die von den Gesetzeswächtem festgesetzte Nahrung aus der Hand von Skla­ ven bekommt. Nach seinem Tod soll man ihn unbestattet über die Lan­ desgrenze werfen; wenn aber ein Freier ihn bestatten hilft, so soll er we­ gen Religionsfrevels von jedem, der das will, belangt werden können. Wenn er aber der Stadt brauchbare Kinder hinterläßt, so sollen sich die für die Waisenkinder verantwortlichen Beamten auch um diese küm­ mern, als ob es Waisen wären, und für sie nicht schlechter als für die üb­ el rigen sorgen, und zwar von dem Tag an, an dem ihr Vater im Prozeß schuldig gesprochen worden ist.

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Es muß aber für alle diese Leute noch ein gemeinsames Gesetz aufge­ stellt sein, das die meisten von ihnen dazu bringen könnte, sich ihn Tat und Wort weniger gegen die Götter zu vergehen und so auch weniger un­ vernünftig zu werden, weil es ihnen nämlich nicht erlaubt ist, entgegen dem Gesetz Götter zu verehren. Es soll nämlich für alle einfach folgendes Gesetz gelten: Heiligtümer darf niemand in seinen privaten Häusern besitzen. Kommt es jemand in den Sinn zu opfern, so soll er sich zu den öffentlichen Heiligtümern be­ geben, um zu opfern, und soll seine Opferspenden den Priestern und Priesterinnen aushändigen, die für deren Reinheit verantwortlich sind; mit ihnen zusammen soll er beten und jeder andere, den er sich als Teil­ nehmer an diesem Gebet wünscht. Dies soll so geschehen aus folgenden Gründen: Heiligtümer und Göt­ terkulte einzurichten ist keine leichte Sache, sondern es bedarf großer Überlegung, um so etwas richtig durchzuführen; sodann ist es die Ange­ wohnheit vornehmlich aller Frauen und aller Leute, die auf irgend eine Weise krank sind oder sich in einer Gefahr oder in einer Notlage befin­ den, von welcher Art diese auch sei, oder auch wenn ihnen sich umge­ kehrt irgend eine günstige Aussicht bietet, daß sie dann das weihen, was gerade bei der Hand ist, und Opfer geloben und Göttern und Dämonen und den Kindern von Göttern die Errichtung eines Heiligtums verspre­ chen; oder wenn sie bei Erscheinungen im Wachen in Furcht geraten oder durch Träume, und ebenso wenn sie sich an mancherlei frühere Ge­ sichte erinnern, so wollen sie für jedes davon ein Heilmittel schaffen und füllen ganze Häuser und ganze Dörfer mit Altären und Heiligtümern, die sie unter freiem Himmel errichten oder dort, wo einer eine solche Er­ scheinung hatte. Aus all diesen Gründen also muß man nach dem eben vorgetragenen Gesetz verfahren, außerdem aber auch wegen der Frevler gegen die Götter, damit sie nicht dadurch, daß sie auch hier mit ihrem Tun verborgen bleiben, indem sie Heiligtümer und Altäre in ihren Privathäusem errich­ ten, weil sie meinen, sie könnten die Götter heimlich gnädig stimmen durch Opfer und Gebete, ihre Ungerechtigkeit ins Grenzenlose steigern und dadurch sowohl sich selbst einen Anlaß zu einem Vorwurf seitens der Götter schaffen wie auch denen, die es ihnen gestatten, mögen dies auch bessere Menschen als sie selbst sein, und damit nicht auf diese Wei­ se die ganze Stadt für jene Frevler mitbüßt, und dies irgendwie mit Recht. Den Gesetzgeber aber wird die Gottheit nicht tadeln können; denn folgendes sei als Gesetz festgelegt: Niemand darf in seinem Privathaus ein Götterheiligtum besitzen; wenn sich aber herausstellt, daß jemand andere Heiligtümer besitzt als die der Stadt und daran Götter verehrt, der Besitzer aber, ob Mann oder Frau,

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keine Ungerechtigkeit begangen hat, die zu den großen Freveltaten zu rechnen wäre, so soll deqenige, der es bemerkt, ihn auch den Gesetzeswächtem melden; diese sollen ihm dann befehlen, seine privaten Heilig­ tümer an die öffentlichen Heiligtümer abzuliefem; und wenn sie ihn nicht überreden können, sollen sie ihn so lange mit Bußen belegen, bis er sie abliefert. Wenn sich aber herausstellt, daß einer, der eine Freveltat ge­ gen die Götter begangen hat, wie sie nicht Kinder, sondern ruchlose Männer begehen, entweder im eigenen Haus ein Heiligtum errichtet oder in öffentlichen Heiligtümern den Göttern, gleichgültig welchen, ein Opd fer dargebracht hat, so soll er, weil er in unreinem Zustand geopfert hat, mit dem Tod bestraft werden. Ob es sich aber um ein kindliches Verge­ hen handelt oder nicht, das sollen die Gesetzeswächter entscheiden und demgemäß die Sache vor Gericht bringen und an diesen Leuten die Stra­ fe für ihren Religionsfrevel vollstrecken.

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ATH. Danach werden wir für die gegenseitigen rechtlichen Beziehungen eine angemessene Regelung benötigen. Eine einfache Vorschrift ist doch wohl folgende: Niemand soll sich nach Möglichkeit an meinem Eigen­ tum vergreifen und soll auch nicht das Geringste davon wegschaffen, wenn er nicht zuvor irgendwie meine Zustimmung dazu erhalten hat. Nach eben diesem Grundsatz muß auch ich mit dem Eigentum anderer verfahren, wenn ich einen gesunden Verstand besitze. Einen Schatz wollen wir als erstes Objekt dieser Art anfuhren, den je­ mand für sich und für seine Nachkommen als wertvolles Gut verwahrt hat, der nicht zu meinen Vorvätern zählt. Niemals darf ich da zu den Göttem beten, daß ich ihn finde, und wenn ich ihn gefunden habe, darf ich ihn nicht von der Stelle bewegen und mich auch nicht mit den sogenann­ ten Wahrsagern darüber besprechen, die mir auf die eine oder andere Weise den Rat geben werden, das der Erde Anvertraute an mich zu neh­ men. Denn niemals hätte ich für meinen Besitz an Geld einen so großen Zugewinn, wenn ich es an mich nähme, wie ich den Bestand an Tugend der Seele und an Gerechtigkeit vergrößern würde, wenn ich es nicht an mich nähme; denn ich würde mir so statt des einen Besitzstückes ein an­ deres, besseres Besitzstück in einem besseren Teile meiner selbst erwer­ ben, indem ich den Besitz von Gerechtigkeit in der Seele dem Reichtum unter meinen äußeren Gütern vorzog. Denn der in vielen Fällen treffend angeführte Grundsatz, daß man das Unverrückbare nicht verrücken soll, könnte auch hier angeführt werden, da dies einer jener Fälle ist. Auch soll man den Sagen glauben, die hierüber erzählt werden, daß so etwas für die Nachkommenschaft keinen Segen bringt. Wer sich aber um die Nachkommen keine Sorge macht und ohne sich um den Urheber dieses Gesetzes zu kümmern, etwas, das weder er selbst noch einer seiner Vorväter niedergelegt hat, an sich nimmt, ohne die Zu­ stimmung dessen, der es hingelegt hat, womit er das schönste Gesetz un­ tergräbt, die denkbar einfache und von einem keineswegs unedlen Mann stammende Gesetzesvorschrift, der gesagt hat: „Was du nicht hingelegt hast, das nimm auch nicht weg!“ - wer also diese beiden Gesetzgeber mißachtet und etwas wegnimmt, das er nicht selbst hingelegt hat, und zwar nichts Kleines, sondern manchmal einen sehr großen Schatz, was soll der erleiden? Was von Seiten der Götter, weiß der Gott; der erste

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aber, der es sieht, soll es anzeigen, und zwar wenn so etwas in der Stadt geschieht, den Stadtaufsehem; wenn irgendwo auf dem Markt der Stadt, 914a den Marktaufsehem; wenn aber auf dem übrigen Land, soll er es den Landaufsehem und deren Kommandeuren anzeigen. Nach Eingang der Anzeige soll die Stadt nach Delphi schicken; und was immer der Gott bezüglich des Geldes und dessen, der es weggeschafft hat, verkündet, das soll die Stadt im Gehorsam gegen die Orakelsprüche des Gottes tun. Und wenn der Anzeigende ein Freier ist, soll er sich damit den Ruf der Tugend erworben haben; zeigt er es aber nicht an, dann den der Schlechtigkeit. Ist es aber ein Sklave, so wird er, wenn er es anzeigt, mit Recht von der Stadt freigelassen, die seinem Herrn den Kaufpreis zu erstatten hat; zeigt er es aber nicht an, soll er mit dem Tod bestraft werden, b An dieses Gesetz könnte sich nun passend folgende für Kleines und Großes gleichermaßen gültige Gesetzesbestimmung anschließen: Wenn jemand etwas von seinem Eigentum absichtlich oder unabsichtlich ir­ gendwo liegen läßt, so soll der, der darauf stößt, es liegen lassen in der Überzeugung, daß die Göttin der Wege über solche Gegenstände wacht, die vom Gesetz der Göttin geweiht worden sind. Wenn aber jemand ent­ gegen dieser Bestimmung nicht gehorcht und es aufhebt und nach Hause trägt, so soll er, falls die Sache von geringem Wert und er ein Sklave ist, von jedem, der gerade hinzukommt und nicht unter dreißig Jahre alt ist, c viele Hiebe erhalten; ist er aber ein Freier, so soll er als ein unfrei gesinn­ ter und sich der Gemeinschaft der Gesetze verweigernder Mann gelten und außerdem noch den zehnfachen Wert des Weggenommenen an den entrichten, der es liegen gelassen hat. Wenn aber jemand einen andern beschuldigt, ein größeres oder auch kleineres Stück von seinem Eigentum in Besitz zu haben, und der andere zwar den Besitz zugibt, nicht aber, daß es jenem gehöre, so soll er, falls das Besitzstück gemäß dem Gesetz bei den Behörden eingetragen ist, den Inhaber vor die Behörde laden und dieser soll den Gegenstand dort vorlegen. Wenn er vorgezeigt worden ist und aus dem Eintrag in den Ver­ zeichnissen hervorgeht, welchem der beiden Streitenden er gehört, so d soll dieser ihn an sich nehmen und damit abziehen; ergibt sich aber, daß er einem nicht anwesenden Dritten gehört, so soll deijenige der beiden, der einen zuverlässigen Bürgen stellt, den Gegenstand namens des Ab­ wesenden aufgrund von dessen Mitnahmerecht an sich nehmen, um ihn diesem auszuhändigen. Falls aber das strittige Besitzstück nicht bei den Behörden eingetragen ist, so soll es bis zur gerichtlichen Entscheidung bei den drei ältesten Mitgliedern der Behörde hinterlegt werden; ist die in Verwahrung gegebene Sache ein Haustier, so soll der Verlierer im e diesbezüglichen Prozeß den Beamten die Futterkosten erstatten; das Ur­ teil sollen die Beamten binnen drei Tagen fallen.

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Seinen eigenen Sklaven soll jeder, der das will, sofern er bei Verstand ist, abführen dürfen, um mit ihm zu machen, was er will, soweit es das göttliche Recht erlaubt. Er soll auch im Namen eines anderen, eines Ver­ wandten oder Freundes, dessen entwichenen Sklaven abfuhren dürfen, um ihn in Gewahrsam zu halten. Wenn aber jemand einen, der als Sklave abgeführt wird, in Freiheit setzen will, so soll deijenige, der ihn abführt, ihn loslassen; deijenige aber, der ihn freisetzen will, muß drei zuverlässi­ ge Bürgen stellen, und nur dann kann er ihn gemäß diesen Bestimmun­ gen in Freiheit setzen, sonst jedoch nicht. Wenn aber jemand entgegen diesen Bestimmungen einen Sklaven befreit, soll er wegen gewaltsamen Raubes belangt werden können; wird er schuldig gesprochen, muß er das Doppelte des in der Klageschrift angegebenen Schadens an den Beraub­ ten zahlen. Auch einen Freigelassenen soll man abfuhren dürfen, falls sich einer gegen die, die ihn frei gelassen haben, nicht oder nicht genügend dienst­ bar erweist. Diese Dienstbarkeit besteht darin, daß der Freigelassene dreimal im Monat am Herde dessen erscheint, der ihn freigelassen hat, und sich bereit erklärt, alles Erforderliche zu tun, soweit es rechtens und zugleich durchführbar ist, und daß er auch bezüglich des Heiratens tut, was seinem früheren Herrn gut scheint. Reicher zu sein als der, der ihn freigelassen hat, soll ihm nicht erlaubt sein; das Mehr soll seinem Herrn anheimfallen. Nicht länger als zwanzig Jahre soll der Freigelassene im Lande blei­ ben, sondern wie die anderen Fremden soll er mit seiner gesamten Habe fortziehen, falls er die Beamten und den, der ihn freigelassen hat, nicht umstimmen konnte. Falls aber das Vermögen des Freigelassenen oder auch sonst eines Fremden den Satz der dritten Vermögensklasse über­ steigt, so soll er binnen dreißig Tagen von dem Tag an, wo dies eintritt, seine Habe nehmen und wegziehen, und er soll kein Recht mehr haben, von den Behörden ein weiteres Verbleiben zu erbitten. Wenn er sich aber dem nicht fügt und deshalb gerichtlich belangt und schuldig gesprochen wird, so soll er mit dem Tod bestraft und sein Vermögen soll konfisziert werden. Die Gerichtsverhandlungen hierüber sollen vor den Phylengerichten stattfinden, sofern die Parteien nicht schon vorher vor den Nach­ barn oder den selbstgewählten Richtern ihre gegenseitigen Klagen beile­ gen konnten. Wenn jemand ein Tier von welcher Art auch immer als sein Eigentum beansprucht oder sonst irgend etwas von seinen Sachen, so soll der Besitzer dies zum Verkäufer zurückbringen oder zu dem, der es ihm gegeben hat, sofern dieser zahlungsfähig und verklagbar ist, oder der es ihm auf sonst eine Weise rechtsgültig übergeben hat, und zwar wenn dieser ein Bürger oder einer der in der Stadt lebenden Metöken ist, innerhalb von

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30 Tagen; hat es ihm ein Fremder übergeben, dann innerhalb der fünf Monate, deren mittlerer der Monat ist, in dem sich die Sommersonne der Winterseite zuwendet. Alles, was einer durch Kauf oder Verkauf mit einem andern tauscht, soll er so tauschen, daß er an dem jeweils hierfür bestimmten Platz auf dem Markt seine Ware aushändigt und sofort den Preis dafür entgegennimmt, sonst aber nirgends; auch darf kein Verkauf oder Kauf irgendei­ nes Gegenstands unter Aufschub der Zahlung getätigt werden. Wenn aber jemand auf andere Weise und an anderen Plätzen irgend etwas ge­ gen irgend etwas mit einem andern tauscht und dabei demjenigen Ver­ trauen schenkt, mit dem er den Tausch vomimmt, so soll er das tun im Wissen, daß es nach dem Gesetz keinen Rechtsweg gibt bei Verkäufen, die nicht gemäß den eben genannten Bestimmungen getätigt werden. Was die Unterstützungsgelder betrifft, so soll jeder, der das will, als Freund bei Freunden solche Gelder sammeln; wenn aber irgendein Streit wegen dieser Sammlung entsteht, so soll man dabei in dem Bewußtsein verfahren, daß es in diesen Fällen für niemanden einen Rechtsweg geben wird. Wer beim Verkauf irgendeiner Ware für diese einen Preis von mindes­ tens 50 Drachmen erhalten hat, ist verpflichtet, zehn Tage in der Stadt zu bleiben, der Käufer aber soll das Haus des Verkäufers kennen wegen der Beschwerden, die bei solchen Geschäften vorzukommen pflegen, und wegen der gesetzlich zulässigen Rückgabe. Für die gesetzlich zulässige Rückgabe oder deren Unzulässigkeit soll folgendes gelten: Wenn jemand einen Sklaven verkauft, der an Schwindsucht oder an Steinbeschwerden oder Harnzwang oder an der sogenannten heiligen Krankheit leidet oder auch an sonst einer für die meisten nicht erkennba­ ren langwierigen und schwer heilbaren Krankheit des Körpers oder des Geistes, so soll, falls er ihn an einen Arzt oder einen Gymnastiklehrer verkauft, diesem kein Rückgaberecht gegenüber einem solchen Verkäufer zustehen, und auch nicht, wenn jemand vor dem Verkauf einem ande­ ren die Wahrheit gesagt hat. Falls aber ein Fachmann einem Nichtfach­ mann einen solchen Sklaven verkauft, so soll der Käufer ihn innerhalb von sechs Monaten zurückgeben dürfen außer bei der heiligen Krank­ heit; bei dieser Krankheit soll die Rückgabe innerhalb eines Jahres ge­ stattet sein. Entschieden werden soll die Sache vor drei Ärzten, die die Parteien durch gemeinsamen Vorschlag wählen; wer in diesem Verfahren schuldig gesprochen wird, soll das Doppelte des Verkaufspreises bezah­ len. Wenn aber ein Nichtfachmann ihn einem Nichtfachmann verkauft, so soll zwar eine Rückgabe wie in den eben erwähnten Fällen erfolgen und auch eine ärztliche Entscheidung, doch soll der schuldig Gesproche­ ne nur den einfachen Preis zahlen. Wenn aber jemand einem anderen mit

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beiderseitigem Wissen einen Mörder verkauft, so soll bei einem solchen Verkauf keine Rückgabe möglich sein; wenn aber der Käufer davon nichts wußte, so soll ihm eine Rückgabe gestattet sein, sobald er den Sachverhalt bemerkt. Der Fall soll aber vor den fünf jüngsten Gesetzes­ wächtem verhandelt werden und wenn der Urteilsspruch lautet, daß der Verkäufer davon wußte, so soll er die Häuser des Käufers nach der AnOrdnung der Ausleger reinigen und an den Käufer das Dreifache des Prei­ ses bezahlen. Wer gegen Geld entweder Geld oder sonst eine lebende oder auch un­ belebte Ware tauscht, der soll dem Gesetz gehorsam immer nur Unver­ fälschtes geben oder entgegennehmen. Eine Vorrede aber wie bei den an­ deren Gesetzen wollen wir uns auch für das ganze Gebiet dieser Schlech­ tigkeit gefallen lassen. Verfälschung und Lüge und Betrug muß sich jedermann als eine ein­ heitliche Gattung vorstellen, welcher die große Menge Ansehen zu ver­ leihen pflegt durch die falsche Behauptung, daß so etwas, wenn es nur jeweils im richtigen Moment geschehe, oftmals rechtens sei; indem sie aber den Zeitpunkt und das Wo und Wann ungeregelt und unbestimmt lassen, erleiden sie durch dieses Gerede großen Schaden und schädigen auch andere. Ein Gesetzgeber aber darf dies nicht unbestimmt lassen, sondern muß jeweils weitere oder engere Grenzen deutlich angeben, und so soll auch jetzt eine solche Grenze gesetzt werden. Lüge oder Betrug oder eine Verfälschung sollte niemand unter Anru­ fung des Göttergeschlechts in Wort oder Tat begehen, wenn er nicht den Göttern im höchsten Grade verhaßt sein will. Das ist aber derjenige, der falsche Eide schwört und sich dabei überhaupt nicht um die Götter küm­ mert. An zweiter Stelle verhaßt ist der, der vor Menschen lügt, die höher stehen als er. Höher stehen aber die Besseren gegenüber den Schlech­ teren, die Alten im allgemeinen gegenüber den Jungen, daher auch die Eltern gegenüber den Kindern, die Männer gegenüber Frauen und Kin­ dern und die Regierenden gegenüber den Regierten. All diesen gebührt von allen Achtung in jedem Herrscheramt und ganz besonders, wenn sie Herrscherämter in der Stadt bekleiden, wovon ja unser gegenwärtiges Gespräch ausgegangen ist. Denn jeder, der irgendeine Ware auf dem Markt verfälscht, der lügt und betrügt und beschwört dies noch unter An­ rufung der Götter im Angesicht der Gesetze und der Vorsichtsmaßnah­ men der Marktaufseher, ohne Achtung vor den Menschen und Ehrfurcht vor den Göttern zu empfinden. Nun ist es aber auf jeden Fall ein schönes Bestreben, den Namen der Götter nicht leichtfertig zu beflecken, indem man sich so verhält, wie es die meisten von uns gegenüber den Göttern mit der Reinheit und Lauterkeit halten. Wenn jemand dem nicht ge­ horcht, so gilt folgendes als Gesetz:

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Wer irgend etwas auf dem Markt zum Kauf anbietet, darf niemals zwei Preise angeben für das, was er verkaufen will. Wenn er aber nur einen Preis angibt und diesen nicht erhält, so würde er, wenn er die Ware wie­ der mitnimmt, sich richtig verhalten; und an diesem Tag soll er weder ei­ nen höheren noch einen geringeren Preis angeben. Anpreisen und eidli­ che Beteuerung soll bei jedem Verkauf unterbleiben. Wenn einer diesen Bestimmungen nicht gehorcht, so soll jeder Bürger, der darüber hinzu­ kommt und nicht jünger als 30 Jahre ist, den Schwörenden züchtigen und ihn ungestraft verprügeln; kümmert er sich nicht darum und ge­ horcht nicht, soll er einem Tadel wegen Verrats an den Gesetzen verfal­ len. Wer etwas Verfälschtes zum Kauf anbietet und nicht den gegenwärtigen Worten zu gehorchen vermag, dem soll jeder Hinzukommende, der etwas davon versteht und fähig ist, es nachzuweisen, dies vor den Beam­ ten nachweisen; und wenn er ein Sklave oder ein Metöke ist, soll er die verfälschte Ware mitnehmen; ein Bürger aber, der den Nachweis unter­ läßt, der soll, weil er die Götter um etwas betrügt, für einen schlechten Menschen erklärt werden; erbringt er aber den Nachweis, soll er die Wa­ re den über den Markt waltenden Göttern weihen. Wer aber überführt wird, daß er solche Ware zum Kauf anbietet, der soll zusätzlich zur Weg­ nahme der verfälschten Ware noch entsprechend dem Preis, den er für seine Ware verlangt hat, für jede Drachme einen Hieb mit der Peitsche erhalten, wobei zuvor ein Herold auf dem Markt verkünden soll, weshalb er geschlagen wird. Über die Verfälschungen und Unredlichkeiten der Verkäufer sollen sich die Marktaufseher und die Gesetzeswächter bei den jeweiligen Sachverständigen erkundigen und dann aufzeichnen, was ein Verkäufer zu tun hat und was nicht; und dies sollen sie auf eine Säule schreiben und vor dem Amtsgebäude der Marktaufseher als Gesetze aufstellen, die de­ nen, die mit dem Markthandel befaßt sind, klare Anweisungen geben. Die Obliegenheiten der Stadtaufseher sind im vorigen zur Genüge be­ sprochen worden; wenn aber noch weitere Bestimmungen erforderlich erscheinen, so sollen sie sich mit den Gesetzeswächtem in Verbindung setzen und das, was noch zu fehlen scheint, niederschreiben und dann am Amtsgebäude der Stadtaufseher auf einer Säule sowohl die ursprüng­ lichen als auch die nachträglichen Anordnungen aufstellen, die ihnen für ihre Amtsführung gegeben wurden. Den verfälschenden Praktiken folgen auf dem Fuß die Gepflogenhei­ ten des Kleinhandels. Für dieses ganze Gebiet wollen wir zunächst eine Empfehlung samt Begründung vorausschicken und danach ein Gesetz aufstellen. Der Kleinhandel in einer Stadt ist nämlich durchweg nicht entstanden,

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um zu schaden, jedenfalls seiner wahren Natur nach, sondern ganz im Gegenteil. Denn wie sollte nicht jeder ein Wohltäter sein, der den unan­ gemessenen und ungleichen Besitz von irgendwelchen Gütern zu einem gleichen und angemessenen macht? Dies bewirkt für uns, so müssen wir behaupten, auch die Macht des Geldes, und dies ist die Aufgabe des Kaufmanns, wie wir sagen müssen. Auch ein Lohnarbeiter und ein Gastwirt und andere Berufe, die teils mehr, teils weniger ehrbar sind, sind sämtlich dazu fähig, allen eine Hilfe für ihre Bedürfnisse und Gleichheit des Besitzes zu ermöglichen. Weshalb nun aber ein solches Gewerbe nicht als schön und nicht als ehrbar gilt und was es in Verruf gebracht hat, das wollen wir betrachten, damit wir dem, wenn nicht im Ganzen, so doch teilweise durch ein Gesetz abhelfen können. Die Sache ist, wie es scheint, nicht unwichtig und erfordert keine geringe Tugend. kl. Wie meinst du das? άγη. Mein lieber Kleinias, nur eine kleine Sorte von Menschen, die ih­ rer Natur nach selten ist und eine hervorragende Erziehung erhalten hat, ist imstande, wenn sie in die Lage geraten, daß sie etwas brauchen oder sich etwas wünschen, die Kraft zur Mäßigung aufzubringen, und bleibt, wenn sich die Möglichkeit bietet, viel Geld zu gewinnen, nüchtern und zieht dem Vielen lieber das Maßvolle vor. Die große Masse der Men­ schen verhält sich genau umgekehrt wie diese: in ihren Bedürfnissen sind sie maßlos, und wenn ein mäßiger Gewinn möglich wäre, ziehen sie ei­ nen unersättlichen Gewinn vor; und dadurch sind alle mit dem Kleinhan­ del und dem Großhandel und der Bewirtung zusammenhängenden Beru­ fe in Verruf geraten und mit Schimpf und Schande überhäuft. Wenn man allerdings (was niemals geschehen möge noch geschehen wird) durch Zwang es dahin bringen könnte - es klingt zwar lächerlich, soll aber doch gesagt werden —, daß die in jeder Hinsicht besten Männer für eine bestimmte Zeit eine Gastwirtschaft oder Kleinhandel oder sonst etwas dieser Art betreiben oder gar die besten Frauen infolge einer schicksalhaften Notlage eine solche Lebensweise ergreifen, so würden wir erkennen, wie freundlich und liebenswert jeder dieser Berufe ist, und wenn sie nach einem unbestechlichen Grundsatz ausgeübt würden, so würden alle derartigen Berufe wie eine Mutter und Amme geehrt werden. Jetzt aber ist es so: Wenn jemand um des Geschäfts willen an einsa­ men Plätzen, die aus allen Richtungen nur über lange Wegstrecken er­ reichbar sind, Häuser errichtet und Leute, die nicht mehr weiter können, mit einem willkommenen Obdach aufhimmt oder Leute, die von der Ge­ walt wütender Stürme hergetrieben werden, und diesen friedliche Wind­ stille oder bei Hitze Kühlung anbietet, danach aber ihnen nicht, als hätte er Freunde aufgenommen, freundliche Gastgeschenke im Anschluß an die Aufnahme gibt, sondern sie wie Feinde, die als Gefangene in seine

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Hand geraten sind, nur gegen ein gewaltiges, ungerechtes und sündhaftes b Lösegeld freiläßt, so sind es diese und vergleichbare Formen beschämen­ den Fehlverhaltens, wie sie in allen derartigen Berufen begegnen, welche der Hilfe in einer Notlage den üblen Ruf eingetragen haben. Hiergegen muß der Gesetzgeber jeweils ein Heilmittel finden. Nun sagt ein richtiger und alter Spruch, daß gegen zwei und noch dazu gegen­ sätzliche Übel schwer anzukämpfen ist, wie bei Krankheiten und in vie­ len sonstigen Fällen. Und so ist auch jetzt der Kampf gegen diese Miß­ stände und auf diesem Gebiet ein Kampf gegen zwei, gegen die Armut und den Reichtum, von denen dieser die Seele der Menschen durch Schwelgerei verdorben hat und jene sie durch schmerzliche Not zur c Schamlosigkeit getrieben hat. Was für eine Abhilfe gibt es nun gegen diese Krankheit in einer Stadt, die Vernunft besitzt? Erstens muß man die Zunft der Kleinhändler möglichst klein halten; sodann muß man diese Aufgabe solchen Menschen übertragen, bei deren sittlicher Verderbnis dem Staat kein großes Übel entsteht; drittens muß man gerade für die, die diese Berufe ergreifen, ein Mittel finden, damit es nicht so leicht möglich ist, daß ihr Charakter sich ungehindert Schamlosigkeit und eine d unfreie Gesinnung aneignet. Nach diesen Vorbemerkungen soll hierüber — hoffentlich mit gutem Glück! — ein Gesetz folgenden Inhalts von uns aufgestellt werden: Von den Magneten, die der Gott wieder aufleben läßt und erneut hier ansiedelt, soll niemand, der ein Besitzer der fünftausendundvierzig Herdstellen ist, freiwillig oder unfreiwillig ein Kleinhändler oder gar ein Großkaufinann werden noch irgendeine Dienstleistung für Privatleute übernehmen, die nicht auf gleicher Stufe mit ihm stehen, außer für Vater und Mutter und für e die noch höheren Vorfahren und für alle, die älter sind als er, soweit sie freie Bürger sind und der Dienst einem freien Mann angemessen ist. Was aber einem freien Mann angemessen ist und was nicht, das läßt sich nicht leicht durch ein Gesetz genau angeben; doch soll es wenigstens von de­ nen, die die höchsten Auszeichnungen erhalten haben, durch ihre diesbe­ zügliche Mißbilligung oder Billigung entschieden werden. Wer sich aber dennoch mittels eines Kunstgriffs an dem eines Freien unwürdigen Klein­ handel beteiligt, den soll jeder, der will, wegen Beschimpfüng seiner Fa­ milie bei denen verklagen, die aufgrund ihrer Tugend als die Ersten aner­ kannt sind. Und wenn man zu dem Urteil kommt, daß er durch eine un­ würdige Beschäftigung seinen väterlichen Herd befleckt, so soll er für ein Jahr in Haft gehalten werden und sich dann von einer solchen Tätigkeit 920a femhalten; tut er es wieder, dann für zwei Jahre, und bei jeder neuen Ver­ urteilung soll die frühere Haftzeit stetig verdoppelt werden. Ein zweites Gesetz lautet: Wer Kleinhandel betreiben will, muß ein Metöke oder ein Fremder sein.

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An dritter Stelle noch ein drittes Gesetz: Damit ein solcher ein mög­ lichst guter oder auch nur ein möglichst wenig schlechter Mitbewohner unserer Stadt ist, müssen die Gesetzeswächter bedenken, daß sie nicht nur Wächter derer sind, die leicht davor zu bewahren sind, zu Gesetzes­ brechern und zu schlechten Menschen zu werden, d. h. derer, die durch Herkunft und Erziehung gut erzogen sind, sondern daß diejenigen, die nicht über diese Vorzüge verfügen und noch dazu Beschäftigungen aus­ üben, von denen ein starker Antrieb ausgeht, schlecht zu werden, um so mehr zu überwachen sind. Da nun der Kleinhandel sehr vielseitig ist und viele derartige Berufe umfaßt (nämlich alle die, die übrig gelassen wer­ den, weil sie in der Stadt als unbedingt notwendig erscheinen), so sollen zu diesem Zweck die Gesetzeswächter mit den Sachverständigen für jeden Kleinhandelszweig zusammenkommen, wie wir es vorhin anläßlich der Warenverfälschung, einem damit verwandten Gebiet, angeordnet ha­ ben, und bei diesen Zusammenkünften sollen sie darauf sehen, welche Einnahme und welche Ausgabe dem Händler einen maßvollen Gewinn bringt; die sich ergebenden Werte für Ausgaben und Einnahmen sollen sie aufschreiben und aufstellen, und darüber wachen sollen teils die Marktaufseher, teils die Stadtaufseher und teils die Landaufseher. Und in dieser Weise etwa könnte dann der Kleinhandel einerseits jedem nützen, andererseits am wenigsten denen schaden, die ihn in den Städten betrei­ ben. Was die Fälle betrifft, in denen jemand seine Zustimmung zu einer Ver­ einbarung gibt, aber das Vereinbarte nicht gemäß der Zustimmung ausfiührt, ausgenommen solche Vereinbarungen, die die Gesetze verbieten oder ein Volksbeschluß oder denen er nur unter irgendeinem ungerechten Zwang zustimmt, und ausgenommen den Fall, daß einer durch einen un­ erwarteten Zufall gegen seinen Willen an der Erfüllung gehindert wird, so sollen in den übrigen Fällen Klagen wegen nichterfüllter Zusage vor den Phylengerichten verhandelt werden, sofern sich die Parteien nicht schon vorher vor den Schiedsmännem oder den Nachbarn einigen konnten. Dem Hephaistos und der Athene heilig ist die Zunft deijenigen Hand­ werker, die durch ihre Künste unser Leben miteingerichtet haben; dem Ares andererseits und der Athene diejenigen, die die Produkte der Hand­ werker durch andere Künste, nämlich durch ihre Verteidigungskünste, si­ chern; mit Recht ist daher auch diese Zunft diesen Göttern heilig. Diese alle dienen also ununterbrochen ihrem Land und ihrem Volk: die einen, indem sie bei den kriegerischen Kämpfen das Kommando führen; die an­ dern, indem sie gegen Lohn die Entstehung von Werkzeugen und von Arbeiten vollbringen. Bei derartigen Tätigkeiten zu betrügen würde ihnen daher schlecht anstehen, sofern sie die Götter als ihre Ahnherren ach­ ten.

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Wenn also ein Handwerker eine Arbeit aus Nachlässigkeit nicht bis zur vereinbarten Zeit fertigstellt, ohne vor der Gottheit, die ihm seinen Le­ bensunterhalt schenkt, die geringste Achtung zu empfinden, weil er meint, da die Gottheit ihm nahestehe, werde sie ihm verzeihen (womit er sich als blind in seinem Denken erweist), so wird er als erstes der Gott­ heit eine Strafe leisten müssen; als zweites soll ein passendes Gesetz für ihn aufgestellt sein: Den Preis der Arbeiten, um die er den Auftraggeber betrogen hat, soll er diesem schulden und die Arbeit noch einmal von Anfang an in der vereinbarten Zeit unentgeltlich anfertigen. Und wer eine Arbeit übernimmt, dem gibt ein Gesetz denselben Rat, b den es auch dem Verkäufer gegeben hat, nämlich nicht versuchsweise ei­ nen überhöhten Preis, sondern ganz einfach den tatsächlichen Wert zu fordern; dasselbe befiehlt es also auch dem, der eine Arbeit übernimmt; der Handwerker kennt nämlich deren Wert. In einer Stadt freier Bürger soll daher gerade der Handwerker niemals mit seiner Kunst, die doch ih­ rem Wesen nach eine offene und ehrliche Sache ist, die Nichtfachleute kunstvoll zu täuschen suchen; vielmehr soll in diesen Fällen dem Opfer der Ungerechtigkeit eine gerichtliche Klage gegen den Urheber der Un­ gerechtigkeit möglich sein. Wenn aber umgekehrt ein Auftraggeber einem Handwerker seinen c Lohn nicht richtig gemäß der gesetzlich getroffenen Vereinbarung be­ zahlt, sondern unter Mißachtung des Stadtbeschirmers Zeus und der Athene, beide Mitbürger unseres Staates, aus Liebe zu einem kleinen Ge­ winn große Gemeinschaften auflöst, so soll ein Gesetz dem einigenden Band unserer Stadt mit Hilfe der Götter beistehen. Wer nämlich eine Ar­ beit entgegennimmt und den Lohn hierfür nicht innerhalb der vereinbar­ ten Frist zahlt, von dem soll der doppelte Lohn gefordert werden. Ist hier­ über ein Jahr verstrichen, so soll er - obwohl sonst alle Gelder, die einer d als Darlehen gibt, zinslos sind - für jede Drachme monatlich einen Obo­ los als Zins zahlen; die Klagen hierüber sollen vor den Phylengerichten verhandelt werden. Gleichsam nebenbei müssen wir gerechterweise auch über die im Krie­ ge tätigen Handwerker sprechen, die unsere Rettung herstellen, also über Heerführer und alle, die auf diesem Gebiet Fachleute sind; denn wir sind nun einmal ganz allgemein auf die Handwerker zu sprechen gekommen. Wer so, wie bei jenen Handwerkern, auch diesen Leuten, die ja gleich­ sam eine andere Art von Handwerkern sind, wenn einer von ihnen eine öffentliche Arbeit freiwillig oder auf Befehl übernommen und schön ause geführt hat, gerechterweise die Ehren entrichtet, in denen ja der Lohn für kriegerische Männer besteht, den zu loben wird das Gesetz nicht müde werden. Wenn er aber eine Arbeit, die in schönen Kriegstaten besteht, entgegennimmt und dann den Lohn nicht entrichtet, so wird es ihn ta-

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dein. Folgendes Gesetz soll also, verbunden mit Lob, fur dieses Gebiet von uns aufgestellt sein, das der Masse der Bürger rät, sie aber nicht dazu zwingt, daß sie alle tüchtigen Männer ehren sollen, die durch tapfere Ta­ ten oder durch kriegerische Listen zu Rettern der gesamten Stadt gewor­ den sind, und zwar an zweiter Stelle. Denn an erster Stelle soll die größte Ehrenauszeichnung denen zuerkannt werden, die sich besonders fähig er­ wiesen haben, die Schriften der tüchtigen Gesetzgeber in Ehren zu hal­ ten. Die wichtigsten Rechtsgeschäfte, die die Menschen untereinander ab­ schließen, wären nun so ziemlich von uns geregelt mit Ausnahme derer, die die Waisen und die Fürsorge der Vormünder für die Waisen betreffen, Diese müssen wir nach den eben besprochenen notgedrungen so gut es geht regeln. Ausgangspunkt für all diese Regelungen sind sowohl die Wünsche der Sterbenden nach einer letztwilligen Verfügung als auch die Fälle, in denen Leuten etwas zustößt, die überhaupt keine Verfügung ge­ troffen haben. „Notgedrungen“ sagte ich, Kleinias, im Blick auf die da­ mit verbundenen Unannehmlichkeiten und Schwierigkeiten. Denn es ist ja auch nicht möglich, dieses ganze Gebiet ohne Regelung zu lassen. Denn die Leute würden jeweils viele Verfügungen treffen, die nicht nur voneinander abweichen, sondern auch im Widerspruch stünden zu den Gesetzen und zur Denkweise der Lebenden und ihrer eigenen früheren Denkweise vor ihrem Entschluß zu einem Testament, wenn man die Er­ laubnis geben würde, daß jedes Testament so einfach gültig sein solle, das einer verfaßt, ganz gleich, in welchem Zustand er sich an seinem Le­ bensende befindet. Denn größtenteils befinden wir uns doch in einem un­ vernünftigen und irgendwie zerrütteten Zustand, wenn wir uns dem Tod nahe glauben. kl. Wie meinst du das, Fremder? ATH. Ein schwieriges Wesen, lieber Kleinias, ist ein Mensch, der dem Tode nahe ist, und voll von einem Gerede, das für die Gesetzgeber über­ aus beängstigend und unangenehm ist. kl. Wieso? άγη. Weil er über alles selber entscheiden möchte, pflegt er voller Zorn zu reden. kl. Was denn? άγη. „Es ist doch schrecklich, ihr Götter“, sagt er, „wenn es mir nicht erlaubt sein soll, das, was mir gehört, nach meinem Belieben einem zu geben oder nicht und dem einen mehr, dem andern weniger, je nachdem, ob sie sich mir gegenüber als schlecht oder als gut erzeigt haben, wofür sie mir bei Krankheiten eine hinreichende Probe gegeben haben, manche auch in meinem Alter und bei vielfältigen sonstigen Wechselfallen des Geschicks.“

Elftes Buch kl. Meinst du nicht, Fremder, daß sie damit recht haben? ath. Daß die alten Gesetzgeber zu weich gewesen sind,

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Kleinias, das meine ich, und daß sie bei ihrer Gesetzgebung nur in geringem Maße auf die menschlichen Verhältnisse geschaut und darüber nachgedacht haben. kl. Wie meinst du das? ath. Aus Furcht vor diesem Gerede, mein Guter, haben sie das Gesetz erlassen, daß es erlaubt sei, über das eigene Eigentum ganz so zu verfü923a gen, wie es einem beliebt. Ich und du aber wollen denen, die in deiner Stadt dem Tode nahe sind, eine etwas angemessenere Antwort geben. „Liebe Freunde“, werden wir sagen, „die ihr wahrhaft Eintagswesen seid, euch fallt es in eurer jetzigen Lage schwer, euren Besitz und dazu noch euch selbst zu erkennen, wie dies auch die Inschrift der Pythia be­ fiehlt. Ich als Gesetzgeber stelle jedenfalls fest, daß weder ihr euch selbst gehört noch diese eure Habe, sondern eurem ganzen Geschlecht, dem vergangenen sowohl wie dem zukünftigen, und daß in noch höherem b Maße das ganze Geschlecht und seine Habe der Stadt gehört. Und da dies so ist, so werde ich, falls euch jemand mit Schmeicheleien bedrängt, wenn ihr bei Krankheiten oder im Alter hin und her schwankt, und euch dazu überreden will, dem Besten zuwiderlaufende Verfügungen zu tref­ fen, dies niemals aus freien Stücken gestatten; sondern was für die ganze Stadt und eure Familie das Beste ist, das allein werde ich ins Auge fas­ sen, wenn ich Gesetze gebe, die Interessen eines Einzelnen werde ich ge­ rechterweise geringer veranschlagen. Ihr aber mögt heiter und uns wohl­ gesonnen den Weg gehen, den ihr jetzt gemäß der menschlichen Natur gehen müßt. Wir aber werden uns eurer sonstigen Angelegenheiten anc nehmen und uns nach Kräften möglichst gut darum kümmern, und zwar nicht etwa nur um das eine und um das andere nicht.“ Das also, Kleinias, sei unser Zuspruch und unsere Vorrede an die Le­ benden wie an die Sterbenden. Das Gesetz aber laute so: Wer ein Testament verfaßt, um über sein Hab und Gut zu verfügen und Vater von Kindern ist, der soll als erstes hinschreiben, welchen seiner Söhne er für würdig befindet, Erbe des Landloses zu werden; was die üb­ rigen Söhne betrifft, so soll er ebenso niederschreiben, wen von ihnen er einem anderen übergeben will, damit dieser ihn aufhimmt und adoptiert; d wenn aber noch einer von den Söhnen übrig ist, der nicht für irgendein Landlos adoptiert worden ist, bei dem aber zu erwarten ist, daß er kraft Gesetzes in eine Kolonie ausgesandt werden wird, so soll diesem der Va­ ter von dem sonstigen Vermögen soviel geben dürfen, wie er will, mit Ausnahme des väterlichen Landloses und dessen gesamter Ausstattung; und wenn noch mehrere solcher Söhne vorhanden sind, soll der Vater das über das Landlos hinausgehende Vermögen in beliebigem Verhältnis unter sie verteilen. Wer von seinen Söhnen aber bereits ein Haus besitzt, e

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dem soll er nichts von dem Vermögen vermachen, und ebe ner Tochter, die bereits mit einem künftigen Ehemann verl e vermachen, wohl aber, wenn sie nicht verlobt ist. Wenn s Abfassung des Testaments ergibt, daß einem der Söhne oc der Töchter ein einheimisches Landlos zufallt, so sollen di teil dem überlassen, der das Landlos dessen erbt, der das Te faßt hat. Wenn aber der Verfasser des Testaments keine männlic nur weibliche Nachkommen hinterläßt, so soll er einer der eher er will, einen Ehemann und sich selbst damit einen S sen, indem er ihn schriftlich als Erben des Landloses angibt Wenn aber jemandem sein Sohn im Knabenalter stirbt, l die Männer aufgenommen werden konnte, sei dies nun oder ein Adoptivsohn, so soll der Verfasser des Testament 924a nen solchen Schicksalsschlag eine Verfügung treffen, ii schreibt, wer ihm mit der Hoffnung auf ein besseres Geschi Sohn werden soll. Wenn aber jemand, der ganz kinderlos ist, ein Testante soll er den zehnten Teil von dem hinzuerworbenen Verm dem, und wenn er ihn jemandem schenken will, soll er ihn Alles übrige soll er dem Adoptivsohn hinterlassen und so s Tadel bleiben und jenen zu einem dankbaren Sohn mit Zuî Gesetzes machen. Wenn aber jemand, dessen Kinder noch Vormünder brau nem Tod ein Testament gemacht und darin schriftlich Vom Kinder angegeben hat, die aus freien Stücken mit der Voran b verstanden sind - wen und so viele er nur immer will -, ί dieser schriftlichen Verfügung die Wahl der Vormünder erf mit rechtsgültig sein. Falls aber jemand stirbt, der entweder überhaupt kein ' macht oder die Wahl der Vormünder versäumt hat, so sollei Verwandten von väterlicher oder mütterlicher Seite rech münder sein, und zwar zwei von der Vater- und zwei von de dazu noch einer von den Freunden des Verstorbenen; die den Gesetzeswächtem für das Waisenkind bestellt werden, darf. Überhaupt sollen für das ganze Vormundschaftswesen c Waisen die fünfzehn ältesten Gesetzeswächter verantwor dem sie sich jeweils nach dem Alter und in Dreiergruppc zwar drei für das eine Jahr und im nächsten Jahr andere ( fünf Amtszeiten reihum durchlaufen sind; dabei soll nacl nie eine Unterbrechung eintreten.

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d ebenso soll er eii verlobt ist, nichts 3nn sich aber nach ne oder auch einer en diese ihren Anas Testament abge-

innlichen, sondern r der Töchter, wei­ ten Sohn hinterlasngibt. irbt, bevor er unter nun ein leiblicher ments auch für ei­ en, indem er hineschick ein zweiter lament verfaßt, so Vermögen ausson;r ihn verschenken, d so selbst frei von it Zustimmung des

brauchen, vor seiVormünder für die Vormundschaft ein11 -, so soll gemäß er erfolgen und da:ein Testament ge­ sellen die nächsten rechtmäßige Voron der Mutterseite, l; diese sollen von rden, das ihrer be­

lesen und für alle itwortlich sein, inruppen teilen, und lere drei, bis diese nach Möglichkeit

Wenn aber jemand ganz ohne Testament stirbt und Kinder hinte die auf eine Vormundschaft angewiesen sind, so soll die Notlage d Kinder auf dieselben Gesetze Anspruch haben. Wenn aber jemand nur weibliche Kinder hinterläßt, der von eine vermuteten Schicksal dahingerafft wird, so soll er Verständnis fü Gesetzgeber haben, wenn dieser von den drei für den Vater maß chen Gesichtspunkten nur zwei bei der Verheiratung dieser Töcht rücksichtigt, nämlich die enge Verwandtschaft der Familie und die E tung des Landloses, während er den dritten, den ein Vater gewiß be sichtigen würde, indem er aus allen Bürgern einen nach Charakte Lebensführung geeigneten Mann für sich als Sohn und als Bräutiga e seine Tochter ausersehen würde, in diesem Fall beiseite läßt, wei solche Prüfling unmöglich ist. Daher soll mit Blick auf das Möglich gendes Gesetz für diese Fälle aufgestellt sein: Wenn jemand, der kein Testament gemacht hat, nur Töchter hinte so soll nach seinem Tod ein Bruder vom selben Vater oder ein B von derselben Mutter, der ohne Landlos ist, die Tochter und das La des Verstorbenen erhalten; ist kein Bruder vorhanden, wohl abe Sohn eines Bruders, so soll es ebenso gehalten werden, sofern bei tersmäßig zusammenpassen; ist auch von diesen keiner da, wohl ab Sohn einer Schwester, dann ebenso; der vierte sei ein Bruder des V der fünfte dessen Sohn, der sechste der Sohn einer Schwester des V Und in dieser Weise soll die Familie jeweils nach dem Grad de wandtschaft vorrücken, wenn jemand nur weibliche Kinder hinte 925 a indem sie also über die Brüder und die Geschwistersöhne aufsteig zwar zuerst die Verwandten von männlicher Seite, dann die von w eher Seite um einen Verwandtschaftsgrad später. Ob die beiden him lieh des Heiratsalters zusammenpassen oder nicht, soll der Richte gründ einer Inaugenscheinnahme entscheiden, indem er die M nackt und die Mädchen bis zum Nabel entblößt beschaut. Fehlt es aber in der Familie an Verwandten bis zu den Enkeln des ders und ebenso bis zu den Kindern des Großvaters, so soll von den gen deijenige, den sich das Mädchen mit Zustimmung seiner Vorm b aus den Bürgern mit beiderseitigem Einverständnis erwählt, Erb Landloses des Verstorbenen und Bräutigam seiner Tochter werden. Ferner könnte es sein — man muß ja mit vielen Eventualitäten ree -, daß ein noch größerer Mangel an solchen Männern in der Stadt auftritt. Wenn also ein Mädchen, das unter den Einheimischen k finden kann, jemanden im Auge hat, der in eine Kolonie entsandt w ist, und es nach ihrem Sinne wäre, daß dieser Erbe des väterlichen loses wird, so soll dieser, falls er mit ihr verwandt ist, gemäß dem ί des Gesetzes die Erbschaft antreten; falls er aber nicht zur Familie

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und es in der Stadt keine Verwandten von ihr gibt, so soll er kraft der von c den Vormündern und der Tochter des Verstorbenen getroffenen Wahl be­ rechtigt sein, sie zu heiraten und nach seiner Rückkehr in die Heimat das Landlos dessen in Besitz zu nehmen, der kein Testament hinterlassen hat. Wenn aber jemand, der überhaupt keine männlichen oder weiblichen Nachkommen hat, ohne Testament stirbt, so soll im übrigen in einem sol­ chen Fall nach dem vorigen Gesetz verfahren werden; jedoch sollen ein weibliches und ein männliches Mitglied der Familie als Ehepaar in das verwaiste Haus ziehen, denen dann das Landlos rechtskräftig zufallen d soll, und zwar zunächst eine Schwester des Verstorbenen, an zweiter Stelle eine Tochter seines Bruders, an dritter eine Tochter seiner Schwe­ ster, an vierter eine Schwester seines Vaters, an fünfter eine Tochter eines Bruders seines Vaters und an sechster Stelle eine Tochter einer Schwester seines Vaters; diese soll man mit jenen männlichen Verwandten zusam­ menwohnen lassen nach dem Grad der Verwandtschaft und gemäß der Ordnung, wie wir sie früher gesetzlich festgelegt haben. Wir dürfen nun aber nicht das Drückende solcher Gesetze übersehen, wie unangenehm es manchmal ist, wenn ein Gesetz einem Mitglied der Familie des Verstorbenen eine Verwandte zu heiraten befiehlt und dabei keine Rücksicht zu nehmen scheint auf die tausenderlei Hindernisse, die e dazu führen, daß derartigen Anordnungen niemand gehorchen will, son­ dern mancher lieber alles mögliche erleiden will, falls etwa körperliche oder geistige Krankheiten und Verstümmelungen einer der Personen an­ haften, denen als Mann oder als Frau die Heirat befohlen ist. Hierauf, so könnten manche vielleicht meinen, nehme der Gesetzgeber keinerlei Rücksicht; womit sie nicht recht hätten. Daher sei zur Verteidigung des Gesetzgebers wie des Gesetzesempfängers gleichsam eine Art gemeinsa­ me Vorrede vorausgeschickt, die einerseits die vom Gesetzesbefehl Be­ troffenen bittet, Verständnis für den Gesetzgeber zu haben, wenn er bei der Sorge um das Gemeinwohl nicht zugleich auch die sich für den ein­ zelnen daraus ergebenden persönlichen Unannehmlichkeiten berücksich926a tigen kann, und die andererseits um Verständnis auch für die Gesetzes­ empfänger bittet, wenn diese verständlicherweise die Anordnungen des Gesetzgebers bisweilen nicht erfüllen können, die er ohne Kenntnis der Situation erläßt. kl. Was müßte also jemand tun, Fremder, wenn er auf solche Schwie­ rigkeiten angemessen reagieren will? ath. Schiedsrichter, Kleinias, muß man für derartige Gesetze und Ge­ setzesempfänger wählen. kl. Wie meinst du das? ath. Es kann doch sein, daß ein Neffe, dessen Vater reich ist, die Toch-

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b ter seines Oheims nicht freiwillig nehmen will, weil er verwöhnt ist und seinen Sinn auf eine vornehmere Heirat richtet. Es kann sogar sein, wenn der Gesetzgeber einem das größte Unglück auferlegen will, daß der Be­ troffene gezwungen ist, dem Gesetz ungehorsam zu sein, so wenn er ihn zwingen will, eine Eheverbindung mit dem Wahnsinn einzugehen oder mit sonst einem Unheil des Leibes oder der Seele, dessen Besitz das Le­ ben unerträglich macht. So soll denn die soeben hierüber vorgetragene Überlegung folgendermaßen als Gesetz aufgestellt sein: Wenn wirklich Leute gegen die für das Testament erlassenen Gesetze, c sei es wegen sonst einer Bestimmung oder besonders wegen der Heira­ ten, den Vorwurf erheben, daß der Gesetzgeber, wenn er selbst anwesend und noch am Leben wäre, sie gewiß niemals zu einer solchen Handlung zwingen würde, nämlich jemanden zur Frau oder zum Mann zu nehmen, während sie jetzt zu beidem gezwungen würden, und einer der Verwand­ ten oder ein Vormund darauf besteht, so ist darauf zu verweisen, daß der Gesetzgeber die fünfzehn Gesetzeswächter als Schiedsrichter und Väter für die verwaisten Knaben und Mädchen hinterlassen hat. An sie sollen d sich diejenigen wenden, die über irgendeine Bestimmung dieser Art streiten, um den Fall entscheiden zu lassen, und deren Entscheidungen haben sie als rechtskräftig zu erfüllen. Meint aber jemand, daß damit eine zu große Macht den Gesetzeswächtem verliehen werde, so soll er diese vor das Gericht der Auserlesenen Richter bringen und hier über die strit­ tigen Punkte entscheiden lassen. Den Unterlegenen soll von Seiten des Gesetzgebers Tadel und Schande treffen, für einen Mann mit Vernunft ei­ ne viel schwerere Strafe als eine hohe Geldbuße. Jetzt werden also die Waisenkinder sozusagen eine zweite Geburt erlee ben. Die nach der ersten Geburt für jeden vorgesehene Pflege und Erzie­ hung ist bereits besprochen worden. Nach der zweiten Geburt, die ohne Väter erfolgt, gilt es einen Weg zu finden, wie das Schicksal der Verwai­ sung für die Verwaisten möglichst wenig Mitleid mit ihrem Unglück zur Folge haben wird. Als erstes nun, behaupten wir, müssen wir ihnen in unserer Gesetzgebung die Gesetzeswächter anstelle ihrer Erzeuger als nicht schlechtere Väter zuweisen, und so beauftragen wir jährlich drei von ihnen damit, sich um sie wie um eigene Kinder zu kümmern, sobald wir für sie selbst und die Vormünder eine angemessene Vorrede über die Aufzucht der Waisen vorgetragen haben. Da kommt es uns sehr gelegen, scheint mir, daß wir die früheren An927a sichten durchgegangen sind, wonach die Seelen der Verstorbenen auch nach dem Tode noch eine gewisse Kraft besitzen, durch die sie an dem, was unter den Menschen geschieht, Anteil nehmen. Die Erzählungen, die diese Ansicht enthalten, sind zwar wahr, aber zu lang; doch muß man in derartigen Dingen den sonstigen Überlieferungen glauben, die so zahl-

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reich und uralt sind, anderseits aber auch den Gesetzgebern glauben, daß sich dies so verhält, sofern diese nicht völlig ohne Verstand zu sein schei­ nen. Wenn sich dies aber naturgemäß so verhält, so sollen sie an erster Stelle die Götter droben furchten, die ein Wahrnehmungsvermögen für die Verlassenheit der Waisen haben, sodann die Seelen der Dahingegan­ genen, in deren Natur es liegt, daß sie sich besonders um ihre Nachkom­ men sorgen und denen, die diesen mit Achtung begegnen, wohlgesonnen und denen, die diese Achtung vermissen lassen, übel gesonnen sind; fer­ ner aber auch die Seelen derer, die noch leben, aber in hohem Alter und in den größten Ehren stehen; denn wo eine Stadt durch Gesetzestreue gut gedeiht, da lieben die Kindeskinder diese Alten herzlich und führen da­ durch ein Leben voller Freude; und hierfür haben die Alten ein feines Ohr und einen scharfen Blick und denen, die sich in dieser Hinsicht gerecht verhalten, sind sie wohlgesonnen und zürnen andererseits denen in höch­ stem Maße, die gegen Waisen und Verlassene freveln, weil sie dies für das größte und heiligste Gut halten, das einem anvertraut werden kann: auf diese alle muß der Vormund und Beamte seinen Verstand richten, so­ fern er nur ein wenig davon besitzt, und muß sich bei der Aufzucht und Erziehung der Waisenkinder in acht nehmen und muß ihnen daher, als würde er sich selbst und seinen Kindern eine Liebesgabe zukommen las­ sen, nach Kräften aufjede Weise jede erdenkliche Wohltat erweisen. Wer nun dieser dem Gesetz vorausgehenden Mahnung gehorcht und sich keinen Frevel gegen ein Waisenkind erlaubt, der wird den diesbezüglichen Zorn des Gesetzgebers nicht am eigenen Leibe kennenlemen; wer aber ungehorsam ist und einem Kind, das ohne Vater oder Mutter ist, ein Unrecht zufügt, der soll den gesamten Schaden doppelt so hoch erset­ zen, wie wenn er sich gegenüber einem Kind vergangen hätte, dessen beide Eltern noch leben. Was die sonstige Gesetzgebung für die Vormünder bezüglich der Wai­ sen und für die Beamten bezüglich der Beaufsichtigung der Vormünder angeht, so hätte es nur dann, wenn diese nicht schon dadurch ein Muster für die Erziehung freier Kinder hätten, daß sie ihre eigenen Kinder erzie­ hen und sich um das eigene Vermögen kümmern, und wenn sie nicht überdies gerade hierfür schon deutlich genug formulierte Gesetze hätten - nur dann also hätte es einen gewissen Sinn, Vormundschaftsgesetze als eigenständige und davon sehr verschiedene Gesetze aufzustellen, die das Leben der Waisenkinder durch besondere Einrichtungen von dem der nicht verwaisten Kinder abheben. So aber weist in allen diesen Bezie­ hungen der Status der Waisenkinder bei uns keinen großen Unterschied zur Obhut unter väterlicher Gewalt auf; aber hinsichtlich der Ehren oder Geringschätzung und der Fürsorge pflegt er dieser keineswegs gleichge­ stellt zu sein.

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Daher hat das Gesetz gerade auf diesen Punkt bei der Waisengesetzge­ bung durch Ermahnungen und Drohungen großes Gewicht gelegt. Ferner dürfte noch eine Drohung wie die folgende sehr angebracht sein: Wer Vormund eines Mädchens oder eines Knaben ist oder wer unter den Gesetzeswächtem als Aufseher über den Vormund eingesetzt und für ihn verantwortlich ist, der soll das vom Schicksal der Verwaisung getroffene Kind nicht weniger als seine eigenen Kinder lieben und das Vermögen des Mündels nicht schlechter als das eigene verwalten, sondern noch besb ser als das seine, was seinen Eifer angeht. An dieses eine und einzige Ge­ setz über die Waisen soll sich jeder halten, der eine Vormundschaft aus­ übt. Wenn aber jemand in solchen Dingen entgegen dem Gesetz anders handelt, so soll der Beamte den Vormund bestrafen beziehungsweise der Vormund den Beamten vor das Gericht der Auserlesenen Richter bringen und von ihm einen Betrag in doppelter Höhe des vom Gericht abge­ schätzten Schadens als Strafe fordern. Wenn ein Vormund bei den Angehörigen oder sonst einem Bürger den Eindruck erweckt, daß er nachlässig oder betrügerisch handelt, so sollen sie ihn vor dasselbe Gericht bringen; und den Schaden, dessen er schul­ dig gesprochen wird, soll er in vierfacher Höhe bezahlen, und die eine c Hälfte soll dem Kind zufallen, die andere dem, der den Prozeß gewonnen hat. Sobald ein Waisenkind erwachsen ist und von seinem Vormund schlecht behandelt worden zu sein glaubt, soll es innerhalb von fünf Jah­ ren nach Ablauf der Vormundschaft einen Prozeß wegen der Führung der Vormundschaft anstrengen dürfen; wenn einer der Vormünder schuldig gesprochen wird, soll das Gericht abschätzen, was er zu erleiden oder zu bezahlen hat; wird aber einer der Beamten schuldig gesprochen, so soll im Falle, daß er die Waise nur aus Nachlässigkeit geschädigt zu haben d scheint, das Gericht abschätzen, was er dem Kind zahlen soll; falls er es aus Ungerechtigkeit tat, soll er zusätzlich zum Schadensersatz noch aus der Behörde der Gesetzeswächter ausgeschlossen werden, die Stadtge­ meinde aber soll einen anderen Gesetzeswächter an seiner Stelle für das Land und die Stadt einsetzen. Es kommen auch Zerwürfnisse von Vätern mit ihren Kindern und von Kindern mit ihren Erzeugern vor, die heftiger sind, als sich gehört. In die­ sen Fällen könnten die Väter meinen, der Gesetzgeber müsse ein Gesetz erlassen, das es ihnen erlaube, sich, wenn sie wollten, durch den Herold vor allen Leuten von ihrem Sohn loszusagen und zu verkünden, daß diee ser nach dem Gesetz nicht mehr ihr Sohn sei, die Söhne aber möchten ihrerseits die Erlaubnis haben, daß sie ihre Väter, wenn diese infolge von Krankheiten oder ihres Alters in einer beschämenden Verfassung sind,

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wegen Geistesverwirrung verklagen dürfen. So etwas pflegt gewöhnlich nur zwischen wirklich ganz schlechten menschlichen Charakteren aufzu­ treten; denn wenn die Schlechtigkeit nur die eine Hälfte betrifft - wenn beispielsweise der Vater nicht schlecht ist, wohl aber Sohn oder umge­ kehrt —, so ergeben sich keine verhängnisvollen Folgen aus einer solchen Feindschaft. In einer anderen Staatsordnung freilich müßte ein öffentlich verstoßener Sohn nicht zwangsläufig die Stadt verlassen; aus unserer Stadt jedoch, für die diese Gesetze bestimmt sind, muß der Vaterlose not929a wendigerweise in ein anderes Land übersiedeln — denn zu den fünftausendundvierzig Wohnungen darf nicht eine einzige hinzukommen —, weshalb denn auch einer, der dieses Schicksal im Einklang mit dem Recht erleiden soll, nicht nur von dem einen Vater, sondern von der gan­ zen Familie verstoßen werden muß. In derartigen Fällen soll nach etwa folgendem Gesetz verfahren wer­ den: Wen die keinesfalls glückliche Zomesaufwallung überkommt, ob mit Recht oder nicht, daß er den, den er gezeugt und aufgezogen hat, aus seiner Verwandtschaft auszustoßen wünscht, der soll das nicht so b schlechtweg und auf der Stelle tun dürfen, sondern soll zunächst seine ei­ genen Verwandten zusammenrufen bis zu den Geschwisterkindern und ebenso die Verwandten des Sohnes von mütterlicher Seite und soll vor diesen seine Klage vorbringen, indem er darlegt, daß der Sohn von allen aus der Verwandtschaft ausgestoßen zu werden verdiene; er soll aber auch dem Sohn gleiches Recht zu einer Rede gewähren, daß er es nicht verdiene, etwas derartiges zu erleiden. Wenn sie nun der Vater überzeugt und mehr als die Hälfte der Stimmen von allen Verwandten erhält, wobei c nur der Vater, die Mutter und der Beklagte nicht abstimmen, sonst aber alle erwachsenen Frauen und Männer; erst dann und unter diesen Voraus­ setzungen soll dem Vater gestattet sein, den Sohn zu verstoßen, sonst aber auf keinen Fall. Wenn den Verstoßenen einer der Bürger als Sohn adoptieren will, so soll kein Gesetz ihn daran hindern (denn der Charak­ ter der jungen Leute pflegt ja naturgemäß zahlreiche Veränderungen im Leben durchzumachen); wenn jedoch den Verstoßenen innerhalb von d zehn Jahren niemand als Sohn adoptieren will, so sollen die Beamten, die für die zur Aussendung in eine Kolonie vorgesehenen überzähligen Nachkommen zuständig sind, sich auch dieser Söhne annehmen, damit sie an derselben Koloniegründung in angemessener Weise teilnehmen. Wenn aber eine Krankheit oder das Alter oder ein unverträgliches We­ sen oder auch all dies zusammen jemandem mehr als zumeist üblich den Verstand raubt und dies allen andern verborgen bleibt außer denen, die mit ihm Zusammenleben, und wenn dieser als Herr über seinen Besitz sein Haus zugrunde richtet und der Sohn sich keinen Rat mehr weiß und doch zögert, die Klage auf Geistesverwirrung einzureichen, so soll für

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e ihn das Gesetz aufgestellt sein, daß er zuerst zu den ältesten Gesetzeswächtem gehen und ihnen den unglücklichen Zustand seines Vaters schildern soll; diese sollen ihm nach eingehender Prüfung ihren Rat ertei­ len, ob er die Klage einreichen soll oder nicht; raten sie ihm zu einer Kla­ ge, so sollen sie selber für den Kläger als Zeuge und Rechtsbeistand auf­ treten; wird der Vater schuldig gesprochen, so soll er für die Zukunft nicht mehr ermächtigt sein, auch nur über den geringsten Teil seines Be­ sitzes zu verfügen, sondern er soll für sein restliches Leben wie ein Kind behandelt werden. Wenn ferner ein Mann und eine Frau sich überhaupt nicht mehr vertra­ gen, weil sie beide eine unglückliche Charakteranlage besitzen, so sollen 930a sich zehn Männer mittleren Alters aus den Gesetzeswächtem solcher Fäl­ le annehmen und ebenso zehn aus den für die Ehen zuständigen Frauen. Und wenn diese eine Aussöhnung zustande bringen können, so sei diese rechtskräftig; wenn aber die Seelen der beiden sich in allzu heftiger Auf­ wallung befinden, so sollen sie nach bestem Vermögen nach einem Part­ ner suchen, der zu jedem der beiden paßt. Wahrscheinlich werden nun solche Menschen nicht von sanfter Wesensart sein; also muß man bedäch­ tigere und sanftere Charaktere mit ihnen als Gatten zu verbinden suchen. Und alle, die bei ihrer Entzweiung noch keine oder nur wenige Kinder haben, sollen allein schon um der Erzeugung von Kindern willen diese b neue Verbindung eingehen; wer aber schon genug Kinder besitzt, der soll um des gemeinsamen Altwerdens und der gegenseitigen Pflege willen die Scheidung vollziehen und eine neue Verbindung eingehen. Stirbt eine Frau und hinterläßt weibliche und männliche Kinder, so wird das zu erlassende Gesetz dem Mann raten, ihn aber nicht dazu zwin­ gen, die Kinder aufzuziehen, ohne ihnen eine Stiefmutter ins Haus zu ho­ len; sind aber keine Kinder vorhanden, soll er verpflichtet sein, wieder zu heiraten, bis er für sein Haus und den Staat genügend Kinder erzeugt c hat. Stirbt dagegen der Mann und hinterläßt genügend Kinder, so soll die Mutter der Kinder im Hause bleiben und sie aufziehen; scheint sie jedoch jünger zu sein als nötig, um ohne Beeinträchtigung ihrer Gesundheit oh­ ne Mann zu leben, so sollen sich die Verwandten mit den für die Ehe zu­ ständigen Frauen besprechen und das ausfiühren, was ihnen selbst und je­ nen in solchen Fällen richtig scheint; war die Ehe aber kinderlos, so soll es schon um der Kinderzeugung willen so geschehen. Die nach dem Ge­ setz gerade noch ausreichende Kinderzahl sei ein Knaben und ein Mäd­ chen. d Wenn ein Neugeborenes zwar als Sprößling derer, die es gezeugt ha­ ben, anerkannt ist, aber eine Entscheidung darüber nötig ist, wem das Neugeborene gehören soll, so soll, falls eine Sklavin mit einem Sklaven oder mit einem Freien oder mit einem Freigelassenen Geschlechtsver-

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kehr hatte, das dadurch gezeugte Kind in jedem Fall dem Herrn der Skla­ vin gehören; falls aber eine Freie mit einem Sklaven Verkehr hatte, so soll das Kind dem Heim des Sklaven gehören; falls aber das Kind von ei­ nem Mann mit der eigenen Sklavin oder von einer Frau mit dem eigenen Sklaven gezeugt wurde und dies klar erwiesen ist, so sollen die für die Ehe zuständigen Frauen das Kind der Frau zusammen mit dem Vater und die Gesetzeswächter das Kind des Mannes zusammen mit der Mutter in ein anderes Land fortschicken. Die Eltern zu vernachlässigen wird weder ein Gott noch ein Mensch mit Verstand jemals jemandem raten. Vielmehr muß man vernünftiger­ weise einsehen, daß ein Vorspruch wie der folgende über die Götterver­ ehrung sich ganz richtig auf die den Eltern gebührenden oder ihnen ver­ weigerten Ehren beziehen läßt. Bezüglich der Götter bestehen seit alters bei allen Menschen zweierlei Bräuche. Manche Götter verehren wir nämlich, indem wir sie mit eigenen Augen deutlich sehen; von anderen verehren wir Abbilder, indem wir Kultstatuen errichten, und wir glauben, wenn wir diese, obwohl sie unbeseelt sind, verehren, würden uns jene beseelten Götter deshalb reich­ lich Wohlwollen und Huld schenken. Wem nun ein Vater oder eine Mut­ ter oder deren Väter und Mütter wie ein kostbarer, vom Alter angegriffe­ ner Schatz im Hause liegen, der soll nicht glauben, daß jemals eine Kult­ statue für ihn eine mächtigere Wirkung haben wird, solange er ein sol­ ches Heiligtum in seinem Hause am eigenen Herd besitzt, vorausgesetzt natürlich, daß sein Besitzer es in der rechten Weise ehrt. kl. Was verstehst du denn unter der rechten Weise? ATH. Ich werde es sagen. Denn es lohnt sich gewiß, ihr Freunde, so et­ was zu hören. kl. So sprich nur. άγη. Oidipus, behaupten wir, hat nach seiner entehrenden Behandlung Verwünschungen über seine Kinder ausgesprochen, die bekanntlich, wie jedermann erzählt, von den Göttern erfüllt und erhört wurden. Amyntor soll im Zorn gegen seinen Sohn Phoinix und Theseus gegen Hippolytos und Tausende andere Väter sollen über Tausende von Kindern Flüche ausgestoßen haben, die, wie sich klar erwiesen hat, von den Göttern im Namen der Eltern gegen ihre Kinder erhört wurden. Denn der Fluch des Erzeugers trifft die Kinder wie kein Fluch eines anderen einen anderen treffen kann, und dies mit vollem Recht. Nun möge aber niemand glau­ ben, wenn ein Vater von seinen Kindern besonders entehrend behandelt wird oder eine Mutter, erhöre die Gottheit naturgemäß deren Verwün­ schungen; wenn er aber geehrt wird und darüber über die Maßen erfreut ist und deshalb in seinen Gebeten die Götter reichlich um Segen für seine Kinder anruft, da sollen wir etwa nicht annehmen, daß sie derartige Ge­

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d bete ebenso erhören und uns das Erbetene zuteilen? Aber dann wären sie ja niemals gerechte Verteiler des Guten, was sich, wie wir behaupten, für Götter am allerwenigsten ziemen würde. kl. Ganz gewiß. άγη. Wir wollen also bedenken, was wir kurz zuvor gesagt haben, daß wir wohl kein Kultbild besitzen können, das von den Göttern höher ge­ achtet würde, als einen Vater und Großvater, die vom Alter ermattet sind, und Mütter, die über dieselbe Kraft verfügen. Wenn einer diese mit Ehren schmückt, freut sich die Gottheit; sonst würde sie ihnen kein Gehör schenken. Denn etwas Wunderbares ist doch das Eleiligtum, das wir an e den Vorfahren besitzen, weit mehr als die unbeseelten Bilder; wenn näm­ lich diese beseelten Heiligtümer von uns verehrt werden, so vereinen sie jeweils ihre Gebete mit den unseren; und wenn sie entehrend behandelt werden, tun sie das Gegenteil; die andern Götterbilder tun keines von beiden; wer daher den Vater, den Großvater und alle diese Angehörigen in der rechten Weise behandelt, der besitzt damit wohl von allen Kultbildem die wirksamsten, um ihm ein von den Göttern gesegnetes Los zu verschaffen. kl. Sehr schön hast du gesprochen. ATH. Jeder also, der Vernunft besitzt, fürchtet und achtet die Gebete der Eltern, weil er weiß, daß sie schon für viele und viele Male in Erfüllung 932a gegangen sind. Da nun dies die natürliche Ordnung ist, so sind für die guten Menschen hochbetagte Ahnen ein Glücksfall, wenn sie bis ans äußerste Ziel ihres Daseins am Leben bleiben, und wenn sie dahingehen, werden sie von den Jungen schmerzlich vermißt; für die schlechten Men­ schen sind sie Anlaß zu gewaltiger Furcht. Jeder soll also mit allen ge­ setzmäßigen Ehren seine Eltern ehren, wenn er den gegenwärtigen Mah­ nungen gehorchen will. Wenn aber jemandem ,der Ruf anhaftet6, taub gegen solche Vorreden zu sein, so soll für diese Leute folgendes Gesetz mit Fug und Recht aufgestellt sein: Wenn sich jemand in unserer Stadt um die Eltern weniger kümmert, als er sollte, und deren Wünschen nicht in jeder Hinsicht mehr als denen b seiner Söhne und aller Nachkommen und seinen eigenen Wünschen nachgibt und sie erfüllt, so soll deijenige, dem so etwas widerfahrt, dies entweder selbst oder durch einen Boten den drei ältesten Gesetzeswäch­ tem und auch dreien der für die Ehe zuständigen Frauen melden; diese sollen sich der Sache annehmen und die Übeltäter, wenn sie noch jung sind, mit Schlägen und Haft bestrafen, und zwar die Männer bis zum c dreißigsten Lebensjahr, während die Frauen noch zehn Jahre länger mit denselben Strafen gestraft werden sollen. Wenn sie aber über diese Jahre hinaus sind und noch immer nicht von einer solchen Vernachlässigung der Eltern abstehen, sondern sie in manchen Fällen sogar schlecht behan-

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dein, so soll man sie vor ein Gericht fuhren, nämlich vor die hundertund­ einen Bürger, die von allen die ältesten sind. Wird einer für schuldig be­ funden, soll das Gericht abschätzen, was er zu bezahlen oder zu erleiden hat, wobei sie nichts von dem ausschließen sollen, was ein Mensch zu d bezahlen oder zu erleiden vermag. Wenn aber der schlecht Behandelte außerstande ist, es anzuzeigen, so soll jeder Freie, der davon erfährt, es den Beamten anzeigen, widrigenfalls er als ein schlechter Mensch gelten soll und von jedem, der will, wegen Schädigung verklagt werden kann. Wenn es aber ein Sklave anzeigt, soll er frei sein, und wenn er ein Sklave derer ist, die ihre Eltern schlecht behandeln, oder derer, die schlecht be­ handelt werden, soll er von der Behörde freigelassen werden; wenn er aber irgendeinem anderen Bürger gehört, so soll die Staatskasse seinem Besitzer den Kaufpreis erstatten. Die Beamten haben aber dafür zu sor­ gen, daß niemand einem solchen ein Unrecht zufügt, um sich wegen der Anzeige zu rächen. e Von den Schädigungen, die jemand einem anderen durch Gifte zufiigen kann, sind die tödlichen bereits durchgesprochen worden. Was aber die andern Schädigungen betrifft, die jemand durch Getränke oder auch durch Speisen oder Salben willentlich und mit Vorbedacht verübt, so ist davon noch nichts durchgesprochen worden. Denn der Umstand, daß es zweierlei Arten von Vergiftung unter den Menschen gibt, nötigt unsere Besprechung zum Innehalten. Die eine nämlich, die wir soeben ausdrücklich erwähnt haben, fügt 933a Körpern durch körperliche Mittel auf natürliche Weise Übel zu; die ande­ re bringt mit gewissen Zauberkünsten und Besprechungen und dem so­ genannten Bindezauber diejenigen, die damit zu schaden wagen, zu der Überzeugung, daß sie zu so etwas fähig seien, und die anderen zu der Überzeugung, daß ihnen am allerschlimmsten von diesen Leuten gescha­ det werde, die über die Fähigkeit zur Zauberei verfügen. Wie nun diese und alle damit zusammenhängenden Dinge ihrer Natur nach beschaffen sind, das ist nicht leicht zu erkennen; und wenn man es erkennt, ist es nicht einfach, andere davon zu überzeugen; bei Leuten aber, die in ihren Seelen in dieser Hinsicht voller Mißtrauen gegeneinander sind, ist es verb lorene Mühe, sie davon zu überzeugen zu versuchen und, falls sie einmal irgendwo aus Wachs geformte Figuren sehen, sei es an Türen oder an Weggabelungen oder manchmal auf den Grabmälem ihrer Eltern, ihnen einzuschärfen, allen derartigen Dingen wenig Beachtung zu schenken, da sie ja hiervon keine deutliche Vorstellung haben. Wir wollen aber das Gesetz über Vergiftung in zwei Teile gliedern gemäß den beiden Verfah­ ren, deren sich jemand zur Vergiftung bedient, und müssen sie zuerst bitc ten, ermahnen und ihnen raten, sie sollten so etwas nicht versuchen und nicht den meisten Menschen, die wie Kinder voller Furcht sind, Angst

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einjagen und sollten auch nicht den Gesetzgeber und den Richter dazu zwingen, derartige Ängste der Menschen zu heilen; vor allem da ja derje­ nige, der Gifte anzuwenden versucht, nicht weiß, was er tut, weder was die Wirkung auf den Körper betrifft, sofern er nicht gerade ein Sachver­ ständiger in der Heilkunst ist, noch was die magischen Praktiken angeht, sofern er nicht gerade ein Seher oder Zeichendeuter ist. d So soll denn diese Überlegung als Gesetz über Giftmischerei vorgetra­ gen werden: Wer jemanden vergiftet, um ihm einen Schaden zuzufugen, der weder für den Betroffenen selbst noch für einen seiner Leute tödlich ist, oder um dessen Herden und Bienenschwärmen einen anderweitigen oder gar tödlichen Schaden zuzufugen, der soll, falls er ein Arzt ist und der Giftmischerei schuldig befunden wird, mit dem Tod bestraft werden; ist er aber ein Laie, so soll das Gericht in seinem Fall abschätzen, was er zu erleiden oder zu bezahlen hat. Wenn er aber einem zu gleichen scheint, der durch Bindezauber oder Herbeilocken von Unglück oder gee wisse Besprechungen oder sonst irgendwelche Zaubermittel Schaden verursacht, so soll er, falls er ein Seher oder Zeichendeuter ist, sterben; falls aber jemand, der nicht die Seherkunst besitzt, einer solchen Zaube­ rei schuldig befunden wird, so soll dasselbe auch mit ihm geschehen: denn auch bei ihm soll das Gericht abschätzen, was er ihrer Meinung nach zu erleiden oder zu bezahlen hat. Bei allen Schädigungen, die jemand einem andern durch Diebstahl oder gewaltsamen Raub zufügt, soll er bei einem größeren Schaden dem Geschädigten eine größere Entschädigung zahlen, bei einem kleineren Schaden eine kleinere, in jedem Fall aber genau in der Höhe, in der je­ mand jeweils einen andern geschädigt hat, bis er den Schaden wiedergut­ gemacht hat. Darüber hinaus soll jeder zusätzlich für seine jeweilige 934a Übeltat eine entsprechende Strafe zahlen, damit er wieder zur Vernunft kommt, und zwar der, der durch die Unvernunft eines anderen übel ge­ handelt hat, weil er sich infolge seiner Jugend oder wegen sonst etwas dieser Art dazu überreden ließ, eine leichtere; deijenige dagegen, der aus eigener Unvernunft übel gehandelt hat infolge seiner Unbeherrschtheit gegenüber Lust und Schmerz, als er in Ängste der Feigheit oder in man­ cherlei Begierden oder Neidgefiihle oder in schwer heilbare Zomesleidenschaften geriet, eine schwerere, wobei er aber diese Strafe nicht we­ gen seiner Übeltat erleidet — Geschehenes läßt sich ja niemals ungesche­ hen machen —, sondern damit für die Folgezeit er selbst und diejenigen, b die sehen, wie ihm Gerechtigkeit widerfährt, die Ungerechtigkeit gänz­ lich verabscheuen oder doch zu einem großen Teil von einem solchen Mißgeschick loskommen. Aus all diesen Gründen und mit Blick auf dies alles müssen die Geset­ ze nach Art eines nicht ungeschickten Bogenschützen in jedem Einzelfall

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auf die rechte Größe der Strafe und überhaupt ihre Angemessenheit hin­ zielen. Dieselbe Aufgabe muß der Richter übernehmen und dadurch dem Gesetzgeber zu Hilfe kommen, sooft ihm das Gesetz die Abschätzung dessen überläßt, was der Verurteilte zu erleiden oder zu bezahlen hat; der c Gesetzgeber hat dagegen wie ein Maler die Aufgaben zu skizzieren, die sich aus seinem schriftlichen Entwurf ergeben. Dies also, Megillos und Kleinias, müssen wir auch jetzt so schön und so gut wie nur möglich tun: für alle möglichen Fälle von Diebstahl und Raub müssen wir die Strafen benennen, wobei wir angeben, von welcher Art diese sein sollen, soweit uns Götter und Götterkinder die Aufstellung solcher Gesetze erlauben. Wenn jemand rasend ist, soll er sich nicht in der Stadt zeigen, sondern die jeweiligen Angehörigen sollen diese Leute im Haus unter Aufsicht d halten, auf welche Weise auch immer sie dies vermögen, oder sie sollen eine Geldbuße zahlen, und zwar ein Bürger der höchsten Vermögensklas­ se hundert Drachmen gleichgültig, ob er einen Sklaven oder auch einen Freien unbeaufsichtigt läßt, ein Bürger der zweiten Klasse vier Fünftel einer Mine, drei Fünftel der dritte und zwei Fünftel der vierte. Rasend sind nun viele Leute auf vielerlei Weise; die, von denen wir eben gesprochen haben, infolge von Krankheiten, manche dagegen infol­ ge einer schlimmen natürlichen Neigung zum Zorn und einer ihnen zuteil gewordenen schlechten Erziehung, die denn auch beim geringsten Streit e mit lauter Stimme böse Schmähungen gegeneinander ausstoßen, wäh­ rend doch in einer Stadt gesetzestreuer Bürger so etwas auf keine Weise und unter keinen Umständen vorkommen sollte. Ein einziges Gesetz über Beleidigung soll also für alle gelten: Niemand soll einen anderen beleidigen. Wer mit einem anderen bei ir­ gendeiner Unterredung in Streit gerät, der soll den Streitgegner und die Anwesenden belehren und sich von ihnen belehren lassen, wobei er sich unbedingt des Beleidigens zu enthalten hat. Denn daraus, daß man einander verwünscht und verflucht und durch 935a Schimpfwörter Schmähungen nach Weiberart gegeneinander ausstößt, erwachsen zunächst aus Worten, einem leichten Ding, in der Tat die schwersten Haßgefühle und Feindschaften. Wer nämlich einem ungefäl­ ligen Ding wie dem Zorn beim Reden gefällig ist und seine Erbitterung mit schlimmer Nahrung füttert, der läßt alles, was an seiner Seele durch Erziehung einst gezähmt worden war, aus diesem Zustand wieder verwil­ dern und wird durch ein Leben voller Unverträglichkeit zum Tier: ein bit­ terer Dank, den er da von seinem Zorn erntet. Andererseits pflegen alle b in solchen Situationen häufig dazu überzugehen, über ihren Gegner et­ was Lächerliches zu äußern; dies hat sich noch niemand angewöhnt, der nicht dadurch den Emst seines ganzen Wesens verloren und ein gut Teil seiner großen Gesinnung eingebüßt hätte.

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Darum soll sich niemand an einer heiligen Stätte solche Reden erlau­ ben oder bei öffentlichen Opfern und auch nicht bei Wettkämpfen oder auf dem Markt oder vor Gericht oder in irgendeiner allgemeinen Ver­ sammlung; züchtigen soll ihn der jeweils hierbei den Vorsitz innehabenc de Beamte oder er darf sich niemals um die höchste Auszeichnung be­ werben, da er sich nicht um Gesetze kümmert und das vom Gesetzgeber ihm Aufgetragene nicht ausfährt. Wenn aber jemand an anderen Orten mit Schmähungen den Anfang macht oder auch nur sich dagegen wehrt und sich hierbei nicht solcher Reden enthält, so soll jeder Ältere, der dazukommt, dem Gesetz beiste­ hen und mit Schlägen diejenigen auseinandertreiben, die sich mit dem Zorn, einem schlimmen Gesellen, angefreundet haben, oder er soll der festgesetzten Buße verfallen. Wir behaupten also jetzt, daß jemand, der sich in Schmähungen verwid ekelt, nicht fähig ist, sich hierauf zu beschränken, ohne daß er den ande­ ren mit Worten lächerlich zu machen sucht, und dies erklären wir für schmählich, wenn es im Zorn geschieht. Wie steht es dann mit der Nei­ gung der Komödiendichter, Lächerliches über die Menschen zu sagen? Lassen wir sie uns gefallen, wenn sie so etwas ohne Zorn als Komödien­ spott über unsere Bürger zu sagen versuchen? Oder sollen wir eine Zwei­ teilung vornehmen je nachdem, ob es im Scherz geschieht oder nicht, und soll im Scherz jemand über einen andern ohne Zorn Lächerliches sae gen dürfen, mit Heftigkeit dagegen und im Zorn soll es, wie eben gesagt, niemandem gestattet sein? Diese Bedingung dürfen wir auf keinen Fall zurücknehmen; wem es aber erlaubt sein soll und wem nicht, das wollen wir gesetzlich festlegen. Einem Dichter von Komödien oder von lamben oder von lyrischen Musengesängen soll es nicht gestattet sein, weder durch Worte noch durch imitierende Darstellung, weder im Zorn noch ohne Zorn, irgend­ wie einen Bürger zu verspotten; wenn sich aber jemand dem nicht fügt, 936a sollen ihn die Preisrichter noch am selben Tag gänzlich aus dem Land verweisen, widrigenfalls sie mit drei Minen gestraft werden sollen, die dem Gott geweiht sind, zu dessen Ehren der Wettbewerb stattfindet. Denjenigen aber, die gemäß unseren früheren Ausführungen die Er­ laubnis haben, Gedichte aufeinander zu verfassen, sei es gestattet, dies oh­ ne Zorn und im Scherz zu tun; im Emst aber und im Zorn sei es nicht ge­ stattet. Die Entscheidung hierüber soll dem Aufseher über die gesamte Ju­ genderziehung übertragen sein; und was dieser gutheißt, soll der Dichter veröffentlichen dürfen, was er dagegen mißbilligt, das darf er weder selbst irgendjemandem zeigen noch sich dabei entdecken lassen, daß er es eib nem anderen, einem Sklaven oder Freien, beibringt, sonst soll er für einen schlechten und den Gesetzen ungehorsamen Bürger gehalten werden.

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Mitleid verdient nicht, wer Hunger oder sonst etwas dieser Art leidet, sondern wer besonnen ist oder sonst eine Tugend oder einen Teil von ihr besitzt, wenn er neben diesen noch irgendein Unglück sein eigen nennt. Deshalb wäre es ein Wunder, wenn ein Mensch mit solchen Eigenschaf­ ten so gänzlich ohne Fürsorge bleiben sollte, daß er, ob Sklave oder Freier, in die äußerste Armut gerät in einer auch nur mäßig gut eingerich­ teten Staatsordnung und Stadt. Deshalb kann der Gesetzgeber ohne Be­ denken folgendes Gesetz hierfür aufstellen: Bettler darf es in unserer Stadt keine geben. Wenn aber jemand so et­ was zu tun wagt und durch wirkungslose Gebete seinen Lebensunterhalt zusammenzubringen sucht, so sollen ihn vom Markt die Marktaufseher verjagen und aus der Stadt die Behörde der Stadtaufseher; die Landaufse­ her aber sollen ihn aus dem übrigen Land über die Grenze fortschicken, damit das Land von einer solchen Kreatur ganz und gar gesäubert wird. Wenn ein Sklave oder eine Sklavin auch nur irgend etwas von fremdem Eigentum beschädigt, ohne daß der Geschädigte selber daran mit­ schuldig ist durch Unerfahrenheit oder sonst ein unbedachtes Vorgehen, so soll der Herr des Schädigers entweder den Schaden ohne Rest ersetzen oder den Schädiger selbst ausliefem. Wenn aber der Herr eine Gegenbe­ schuldigung vorbringt und behauptet, jene Beschuldigung gehe auf eine gemeinsame List des Schädigers und des Geschädigten zurück, die da­ rauf ziele, ihn seines Sklaven zu berauben, so soll er gegen den, der ge­ schädigt zu sein behauptet, einen Prozeß wegen betrügerischer Machen­ schaften fuhren, und wenn er ihn gewinnt, soll er das Doppelte des vom Gericht abgeschätzten Wertes des Sklaven erhalten; wenn er aber ver­ liert, soll er den Schaden ersetzen und den Sklaven ausliefem. Und wenn ein Zugtier oder ein Pferd oder ein Hund oder sonst ein Haustier etwas vom Besitz des Nachbarn beschädigt, soll der Besitzer in gleicher Weise den Schaden ersetzen. Will jemand nicht freiwillig als Zeuge auftreten, so soll ihn der, der auf ihn angewiesen ist, vorladen; der Vorgeladene soll sich zur Verhandlung einstellen, und wenn er etwas weiß und bereit zur Zeugenaussage ist, soll er aussagen; wenn er aber nichts zu wissen behauptet, so soll er bei den drei Göttern Zeus, Apollon und Themis schwören, daß er wirklich nichts weiß, und dann aus der Gerichtsverhandlung entlassen werden. Wer als Zeuge vorgeladen ist, sich aber dem Vorladenden nicht zur Verfügung stellt, soll wegen des Schadens nach dem Gesetz verklagt werden kön­ nen. Wenn aber jemand einen, der als Richter tätig ist, als Zeugen aufiuft, so soll dieser, sobald er als Zeuge ausgesagt hat, nicht mehr an der Ab­ stimmung über den betreffenden Fall teilnehmen. Eine freie Frau darf als Zeugin und als Fürsprecherin auftreten, sofern

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sie über vierzig Jahre alt ist, und einen Prozeß anstrengen, sofern sie oh­ ne Mann ist; ist ihr Mann aber noch am Leben, soll sie nur als Zeugin auftreten dürfen. Einer Sklavin, einem Sklaven und einem Kind soll es b nur bei Mordsachen gestattet sein, als Zeuge auszusagen und Fürsprache zu leisten, sofern der Betreffende einen zuverlässigen Bürgen dafür stellt, daß er bis zur Entscheidung der Sache am Ort bleibt für den Fall, daß der Einwand erhoben wird, daß seine Zeugenaussage falsch ist. Solche Einwände darfjeder der beiden Prozeßgegner gegen die gesam­ te Zeugenaussage oder einen Teil davon erheben, vorausgesetzt, daß er die Erklärung, jemand habe ein falsches Zeugnis abgelegt, noch vor der Entscheidung des Prozesses abgibt. Diese Einreden sollen die Beamten von beiden Parteien untersiegelt verwahren und bei der gerichtlichen Un­ tersuchung wegen falscher Zeugenaussage vorlegen. Wird jemand zweic mal einer falschen Zeugenaussage überführt, so soll ihn kein Gesetz mehr zu einer Zeugenaussage zwingen; beim dritten Mal soll es ihm nicht mehr erlaubt sein, als Zeuge auszusagen; wagt er es aber nach drei­ maliger Überführung dennoch, als Zeuge aufzutreten, so soll ihn jeder, der will, bei der Behörde anzeigen, die Behörde aber soll ihn einem Ge­ richt übergeben, und wenn er schuldig gesprochen wird, soll er mit dem Tod bestraft werden. Im Falle derer, deren Zeugenaussagen gerichtlich verworfen werden, weil sich herausstellte, daß sie falsch ausgesagt und dadurch dem Prozeßgegner den Sieg verschafft haben, da soll, falls von d solchen Zeugenaussagen über die Hälfte verworfen wird, der aufgrund dieser Aussagen verlorene Prozeß von neuem eingeleitet werden; eine Untersuchung und Entscheidung soll darüber stattfinden, ob der Spruch wirklich aufgrund dieser Aussagen gefällt worden war oder nicht; und je nachdem, wie hierüber entschieden wird, soll das frühere Urteil endgülti­ ge Rechtskraft besitzen oder nicht. Obwohl es viele schöne Dinge im Menschenleben gibt, haftet doch den meisten davon gleichsam eine unheilvolle Macht an, die sie besudelt und beschmutzt. So auch das Recht: wie sollte dies bei den Menschen e nicht etwas Schönes sein, da es doch alle menschlichen Verhältnisse ver­ edelt hat? Und wenn das Recht etwas Schönes ist, wie sollte es da für uns nicht auch etwas Schönes sein, Rechtsbeistand zu leisten? Aber so schön dies beides ist, so wird es doch durch eine Schlechtigkeit in Verruf ge­ bracht, die sich hinter dem schönen Namen einer Kunst verbirgt und als erstes behauptet, es gebe für Prozesse eine gewisse Technik (sie selbst sei diese), um zu prozessieren und einem andern Rechtsbeistand zu lei­ sten, die den Sieg erringen könne, ganz gleich ob die im jeweiligen Pro­ zeß verhandelten Taten gerecht seien oder nicht; die Gabe dieser Kunst 938a als solcher sowie der aus dieser Kunst hervorgehenden Reden erhalte man, wenn man als Gegengabe Geld biete. So etwas darf in unserer

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Stadt, mag das nun eine Kunstfertigkeit oder eine ohne Kunst erworbene Erfahrung und Routine sein, am besten gar nicht entstehen; und wenn der Gesetzgeber darum bittet, zu gehorchen und keine rechtswidrigen Ansichten zu äußern, sondern lieber in ein anderes Land auszuwandem, so soll fur die, die dieser Bitte gehorchen, das Gesetz schweigen; gegen die Ungehorsamen aber erhebt es seine Stimme folgendermaßen: Wenn jemand den Anschein erweckt, als versuche er, die Macht der b Gerechtigkeit in den Seelen der Richter ins Gegenteil zu verkehren und über das rechte Maß hinaus viele Prozesse dieser Art zu führen oder auch bloß anderen Rechtsbeistand zu leisten, so soll ihn jeder, der das will, an­ klagen wegen böswilligen Prozessierens oder unredlichen Rechtsbei­ stands. Darüber soll entschieden werden vor dem Gericht der Auserlese­ nen Richter; wenn er schuldig gesprochen wird, so soll das Gericht ent­ scheiden, ob er aus Geldgier so etwas zu tun scheint oder aus Streitsucht. Und wenn es aus Streitsucht geschieht, soll das Gericht bestimmen, für wie lange Zeit ein solcher Mensch gegen niemanden einen Prozeß an­ strengen und niemandem Rechtsbeistand leisten darf. Geschieht es aber c aus Geldgier, so soll er, falls er ein Fremder ist, das Land verlassen und niemals wieder zurückkommen oder mit dem Tod bestraft werden; falls es aber ein Bürger ist, so soll er sterben wegen der Geldgier, die er so über alles hochgeschätzt hat. Und auch wenn einer zweimal verurteilt wird, weil er so etwas aus Streitsucht tut, soll er sterben.

Zwölftes Buch ath. Wenn sich jemand als Gesandten oder Herold der Stadt ausgibt und eigenmächtig eine Gesandtschaft zu irgendeiner Stadt unternimmt, oder wenn er als Gesandter nicht die wirklichen Botschaften, zu deren Überbringung er ausgesandt wird, übermittelt oder wenn er umgekehrt überfuhrt wird, daß er von den Feinden oder auch von Freunden kom­ mend deren Botschaften als Gesandter oder als Herold nicht richtig über­ bracht hat, so soll gegen diese Leute Klage erhoben werden, weil sie ge­ gen die Botschaften und Befehle des Hermes und des Zeus in gesetzwid­ riger Weise gefrevelt haben, und eine Abschätzung soll festsetzen, was er b zu leiden oder zu bezahlen hat, wenn er schuldig gesprochen wird. Diebstahl von Geld zeugt von unfreier Gesinnung, Raub von Schamlo­ sigkeit. Von den Söhnen des Zeus hat keiner aus Freude an Listen oder Gewalt das eine oder das andere verübt. Daher soll niemand, wenn er in dieser Hinsicht eine Verfehlung begeht, sich von Dichtem oder sonst von irgendwelchen Sagenerzählem täuschen und überreden lassen und sich einbilden, wenn er etwas stehle oder raube, tue er nichts Schändliches, sondern nur etwas, das die Götter selber täten. Denn dies ist weder wahr noch wahrscheinlich, sondern wer so etwas entgegen dem Gesetz tut, der ist nimmermehr ein Gott oder ein Kind von Göttern; dies zu erkennen c kommt eher einem Gesetzgeber zu als allen Dichtem zusammen. Wer sich nun von unserer Rede überzeugen läßt, ist glücklich und möge für alle Zeit glücklich sein; wer ihr aber nicht glaubt, soll es als nächstes mit etwa folgendem Gesetz zu tun bekommen: Wenn jemand etwas stiehlt, das dem Volk gehört, sei es etwas Großes oder auch nur ein Kleines, so erfordert dies dieselbe Strafe. Denn wer et­ was Kleines stiehlt, der hat mit derselben Begehrlichkeit, aber mit gerind gerem Erfolg gestohlen; wer aber das Größere fortschafft, das er nicht vorher hingelegt hat, der begeht das volle Unrecht. Folglich fordert das Gesetz nicht etwa im Hinblick auf die Größe des Diebstahls für den einen eine geringere Strafe als für den andern, wohl aber deshalb, weil der eine vielleicht noch heilbar, der andere dagegen unheilbar ist. Wenn also je­ mand einen Fremden oder einen Sklaven vor Gericht als einen Dieb von Gemeineigentum überführt, so soll in der Annahme, daß er wahrschein­ lich heilbar ist, für ihn eine Entscheidung darüber getroffen werden, was 942a er erleiden oder welche Geldbuße er zahlen soll. Einen Bürger aber, der

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so erzogen worden ist, wie er bei uns erzogen sein wird, den soll man, wenn er überfuhrt wird, daß er seine Vaterstadt bestohlen oder beraubt hat, sei es auf frischer Tat oder nicht, in der Annahme, daß er so gut wie unheilbar ist, mit dem Tod bestrafen. Für das Heerwesen sind mancherlei Rat und mancherlei Gesetze ange­ bracht; das wichtigste aber ist dies: Niemals darf jemand ohne Führung sein, weder ein Mann noch eine Frau, und niemandes Seele darf sich da­ ran gewöhnt haben, im Ernstfall oder bei den Kampfspielen irgend etwas b auf eigene Faust im Alleingang zu tun, sondern in jedem Krieg und in je­ der Friedenszeit soll man fortwährend auf den Befehlshaber blicken und ihm folgend leben und indem man sich selbst im Kleinsten von ihm len­ ken läßt, wie zum Beispiel stehenbleiben, wenn es einer befiehlt, mar­ schieren, exerzieren, sich waschen, essen, nachts aufstehen, um Wache zu halten und Meldungen zu überbringen, und mitten in der Gefahr nie­ mandem nachsetzen und vor niemandem zurückweichen ohne Anweic sung der Befehlshaber; mit einem Wort: man muß seine Seele durch Ge­ wöhnung dazu bringen, daß sie gar nicht auf den Gedanken kommt oder sich darauf versteht, etwas ohne die andern zu tun, sondern daß das Le­ ben aller sich möglichst zusammen und gleichzeitig und gemeinsam mit allen anderen abspielt — denn ein stärkeres und besseres und wirksameres Mittel zur Rettung im Krieg und zum Sieg gibt es nicht und wird es nie­ mals geben als dieses ~; darin muß man sich im Frieden schon gleich von Kind an üben, daß man über andere herrscht und sich von anderen beherrschen läßt. Die Herrschaftslosigkeit aber muß aus dem ganzen Led ben aller Menschen und aller Tiere ausgerottet werden, die den Men­ schen untertan sind. Und so muß man auch die Reigentänze ausnahmslos mit Blick auf kriegerische Heldentaten tanzen und sich eine allumfassende Genügsam­ keit und Unempfindlichkeit zu demselben Zweck aneignen, ferner Ent­ haltsamkeit gegenüber Speisen und Getränken und die Fähigkeit zum Er­ tragen der Winterkälte und ihres Gegenteils sowie eines harten Nachtla­ gers, und was das wichtigste ist: die Kraft des Kopfes und der Füße darf man nicht verderben durch Umhüllen mit fremden Bedeckungen, wo­ durch man das natürliche Wachstum der ihnen eigenen Filzkappe und e Schuhsohlen unterbindet. Denn wenn diese beiden, die die äußersten Körperteile sind, unversehrt erhalten werden, bringen sie die Kraft des ganzen Körpers zu höchster Entfaltung, während im umgekehrten Fall das Gegenteil eintritt, und der eine Teil ist der treueste Diener des ganzen Körpers, der andere ist am ehesten zur Herrschaft über ihn bestimmt, 943a weil er von Natur alle entscheidenden Sinnesorgane des Körpers in sich beherbergt. Dieses Lob des kriegerischen Lebens, so sollte sich der junge Mann

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vorstellen, bekäme er von uns zu hören, ferner aber auch folgende Geset­ ze: Heeresdienst hat zu leisten, wer in die Aushebungsliste eingetragen ist oder für irgendein Teilkontingent aufgestellt ist. Wenn aber jemand aus Feigheit ohne Erlaubnis der Strategen sich dem Dienst entzieht, soll er wegen Verweigerung des Heeresdienstes vor den Militärbeamten an­ geklagt werden, sobald diese aus dem Felde zurückkehren; Richter sollen die Teilnehmer des Feldzuges sein, und zwar jeweils getrennt die Hopliten und die Reiter und die anderen Waffengattungen ebenso; und die Ho­ pliten soll man vor die Hopliten, die Reiter vor die Reiter und die ande­ ren in derselben Weise vor die Angehörigen ihrer Abteilung fuhren; und wenn jemand schuldig gesprochen wird, soll er niemals befugt sein, sich um jegliche Art von Auszeichnung zu bewerben oder einen andern we­ gen Verweigerung des Heeresdienstes zu verklagen oder als Ankläger in solchen Fällen aufzutreten; außerdem soll das Gericht abschätzen, was er zu erleiden oder zu bezahlen hat. Danach, wenn die Prozesse wegen Verweigerung des Heeresdienstes entschieden sind, sollen die Befehlshaber wiederum für jede Waffengattung eine Versammlung einberufen, und jeder, der will, soll sich vor sei­ ner eigenen Abteilung der Entscheidung über die Auszeichnungen stel­ len, wobei er nichts, was einen früheren Krieg betrifft, anfuhren darf, we­ der einen Beweis noch eine Bestätigung durch Zeugenaussagen, sondern nur was sich auf eben den Feldzug bezieht, den sie gerade durchgeführt haben. Siegespreis soll jeweils ein Kranz aus Olivenzweigen sein. Diesen soll der Betreffende im Heiligtum der Kriegsgötter, die er bevorzugt, mit einer Inschrift versehen aufstellen zum lebenslangen Zeugnis für die Zu­ erkennung der höchsten Auszeichnung und ebenso für die des zweiten oder des dritten Preises. Wenn aber jemand zwar ins Feld zieht, aber ohne Rückzugsorder der Befehlshaber vor der Zeit nach Hause geht, soll gegen diese Leute Klage wegen Verlassens des Postens vor denselben Richtern wie bei der Ver­ weigerung des Heeresdienstes erhoben werden; die schuldig Gesproche­ nen sollen dieselben Strafen treffen, wie sie auch vorhin festgesetzt wor­ den sind. Bei jeder Klage, die ein Mann gegen einen andern vorbringt, muß er sich natürlich davor hüten, daß er ihm nicht fälschlich eine Strafe zu­ zieht, weder absichtlich, noch unabsichtlich, soweit dies möglich ist — denn eine jungfräuliche Tochter der Aidos wird die Dike genannt und heißt mit Recht so; Falschheit ist aber der respektvollen Scheu und der Gerechtigkeit ihrer Natur nach verhaßt —, und muß sich überhaupt davor in acht nehmen, daß er sich gegen die Gerechtigkeit vergeht, besonders aber, wenn es um den Verlust der Waffen im Krieg geht, damit man nicht etwa die Fälle erzwungenen Wegwerfens falsch beurteilt und sie, als sei

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dies etwas Schimpfliches, jemandem zum Vorwurf macht und so einem, der es nicht verdient, unverdiente Strafen zuzieht. Allerdings ist es kei­ neswegs leicht, dies beides voneinander zu unterscheiden; trotzdem muß 944a das Gesetz irgendwie sie nach Arten zu scheiden versuchen. Wir wollen also die Sage zu Hilfe nehmen und feststellen: Wenn Patroklos, nachdem er ohne seine Waffen in sein Zelt gebracht worden war, wieder zu sich gekommen wäre, wie es ja schon Tausenden widerfahren ist, während jene ersten Waffen, die nach den Worten des Dichters dem Peleus von den Göttern bei der Hochzeit als Mitgift zur Thetis hinzu gegeben wor­ den waren, während diese Waffen also Hektor in Besitz hatte, so hätten alle Böswilligen damals dem Sohn des Menoitios den Verlust seiner Waf­ fen vorwerfen können. Ebenso ferner allen, die beim Sturz von Felsenhöb hen ihre Waffen verloren haben oder auf dem Meer oder wenn sie im Kampf mit Stürmen plötzlich eine gewaltige Wasserflut überraschte, oder unter tausenderlei Umständen dieser Art, die man zur Beschwichti­ gung anfuhren könnte, um ein Übel, das leicht zu Verleumdungen Anlaß gibt, in ein schöneres Licht zu rücken. Also muß man nach Möglichkeit das größere und unangenehmere Übel von dem entgegengesetzten tren­ nen. Nun führt in der Regel bei solchen Vorwürfen schon der Gebrauch der entsprechenden Wörter zu einer gewissen Scheidung. Denn „Schild­ wegwerfer“ kann man nicht in allen Fällen mit Recht als Bezeichnung c gebrauchen, wohl aber „Verlierer der Waffen“. Denn wem die Waffen mit entsprechender Gewalt entrissen wurden, der erweist sich nicht im selben Sinne als „Schildwegwerfer“ wie einer, der sie freiwillig preisge­ geben hat, sondern er ist von ihm ganz und gar verschieden. Folgender­ maßen soll also die Formulierung im Gesetz lauten: Wenn jemand, der vom Feind eingeholt wird und noch seine Waffen hat, sich nicht umwendet und sich wehrt, sondern diese freiwillig losläßt oder wegwirft, weil er lieber ein schimpfliches Leben in Feigheit wählt als einen schönen und glücklichen Tod in Tapferkeit, so soll bei einer derartigen Verkehrung der Waffen in ihr Gegenteil eine Bestrafung we­ il gen Wegwerfens erfolgen; bei dem vorhin erwähnten Verlust dagegen soll der Richter nicht auf eine genauere Prüfung verzichten. Denn einen schlechten Menschen muß man immer bestrafen, damit er sich bessert, nicht aber einen Unglücklichen; denn dies führt zu nichts. Welche Strafe wäre also für den geeignet, der diese Kraft der zur Verteidigung bestimm­ ten Waffen zum gegenteiligen Zweck preisgibt? Ein Mensch kann ja nicht das Umgekehrte von dem tun, was einst ein Gott getan haben soll, indem er den Thessalier Kaineus aus einer Frau in einen Mann verwan­ delte. Für einen Mann, der seinen Schild wegwirft, wäre es nämlich ire gendwie die allerangemessenste Strafe, wenn die jener Geburt entgegen­ gesetzte Geburt, die ihn aus einem Mann in eine Frau verwandelt, über

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ihn verhängt würde. So aber muß man dem wenigstens möglichst nahe­ kommen und deshalb soll wegen seiner Liebe zum Leben, damit er nicht noch sein restliches Leben in Gefahr bringt, sondern möglichst lange Zeit als ein Feigling mit Schande behaftet am Leben bleibt, folgendes Gesetz für diese Fälle gelten: Einen Mann, der vor Gericht schuldig gesprochen wird, auf schimpfli­ che Weise seine Kriegswaffen verloren zu haben, den darf weder ein 945a Stratege noch sonst einer der militärischen Befehlshaber jemals als Sol­ dat verwenden oder ihn auf irgendeinen Posten, gleich welcher Art, stel­ len; widrigenfalls soll ihn der Euthyne zur Rechenschaft ziehen, und zwar wenn der, der einem Feigling einen Posten angewiesen hat, der höchsten Vermögensklasse angehört, mit tausend Drachmen; wenn zur zweiten, mit fünf Minen; wenn zur dritten, mit drei und wenn er der vier­ ten Klasse angehört, mit einer Mine. Wer aber vor Gericht schuldig ge­ sprochen wird, der soll zusätzlich dazu, daß er von den Gefahren, wie sie Männer auf sich nehmen, gemäß seiner Natur befreit ist, noch eine Geld­ buße zahlen, und zwar tausend Drachmen, wenn er zu höchsten Klasse b gehört; fünf Minen, wenn zur zweiten; drei, wenn zur dritten, und eine ebenso wie die Vorgenannten, wenn er zur vierten Klasse gehört. Was nun die Euthynen betrifft: welche Überlegungen wären hier ange­ bracht, da ja unsere Beamten teils durch den Zufall des Loses und für ein Jahr zu Beamten werden, teils für mehrere Jahre und aus einer Voraus­ wahl? Wer wäre denn für solche Männer ein geeigneter Prüfer, der es wieder gerade richtet, falls einer von ihnen irgendwie etwas Krummes tut, weil er verbogen wird von der Schwere des Amtes einerseits und an­ dererseits von seinem Mangel an Fähigkeiten gegenüber der Würde des c Amtes? Leicht ist es gewiß nicht, zur Kontrolle der Beamten einen Be­ amten zu finden, der sie an Tugend übertrifft; trotzdem müssen wir ver­ suchen, solche Euthynen von geradezu göttlicher Art zu finden. Denn es ist doch so: Es gibt viele Stücke, die über die Auflösung einer Verfassung entscheiden, wie bei einem Schiff oder einem Lebewesen die Taue und Spanngurte bzw. die Sehnenstränge, die wir als eine ihrem Wesen nach einheitliche, aber an viele Orte zerstreute Gattung auch mit vielen Namen bezeichnen. Und hier haben wir nun ein solches und nicht das unbedeu­ tendste Stück, das über die Erhaltung oder über die Auflösung und das d Verschwinden einer Staatsverfassung entscheidet. Wenn nämlich die, die von den Beamten Rechenschaft fordern, besser als diese sind und wenn dies mit untadeliger Gerechtigkeit und auf untadelige Weise geschieht, dann wird das ganze Land und die Stadt blühen und glücklich sein. Wenn es aber bei der Rechenschaftsablegung der Beamten anders zugeht, dann löst sich die Gerechtigkeit auf, welche alle politischen Aktivitäten zu ei­ ner Einheit zusammenfaßt, und auf diese Weise wird jede Behörde von

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der anderen losgerissen, und indem sie nicht mehr auf dasselbe Ziel hine streben, machen sie aus der einen Stadt viele, erfüllen sie mit Parteiungen und richten sie bald zugrunde. Deshalb müssen auf jeden Fall die Euthynen bewundernswert in jeder Tugend sein. Wir wollen also für die Ent­ stehung dieser Männer folgendes Verfahren gewissermaßen zurechtzimmem: Jedes Jahr soll nach der Wende der Sonne vom Sommer zum Winter die gesamte Stadt in einem gemeinsamen heiligen Bezirk des Helios und des Apollon zusammenkommen, um dem Gott drei Männer aus ihrer 946a Mitte zu präsentieren, und zwar jeder jeweils den, den er in jeder Hin­ sicht für den besten hält (sich selbst ausgenommen) und der mindestens fünfzig Jahre alt ist. Von denen, die vorgeschlagen werden, soll man die­ jenigen, für welche die meisten gestimmt haben, auswählen bis zur Hälf­ te, falls die Gesamtzahl gerade ist; ist sie aber ungerade, soll man einen ausscheiden, der die wenigsten Stimmen bekommen hat, dann die Hälfte übrig lassen, indem man die anderen nach der Anzahl der Stimmen aus­ sondert; falls aber einige gleich viele Stimmen erhalten und so die Hälfte überschritten wird, soll man den Überhang beseitigen, indem man jeb weils die Jüngsten ausscheidet; die andern soll man zur Wahl zulassen und über sie erneut abstimmen, bis drei mit ungleicher Stimmenzahl üb­ rig bleiben. Falls aber alle drei oder zwei gleich viele Stimmen erhalten, soll man es der glücklichen Fügung und dem Zufall anheimstellen und durch das Los den Sieger und den Zweiten und den Dritten ermitteln und sie mit einem Olivenzweig bekränzen; und wenn man ihnen die höchsten Auszeichnungen überreicht hat, soll man allen verkünden, daß die Stadt der Magneten, die nach dem Willen der Gottheit erneut der Rettung teil­ haftig wurde, dem Helios ihre drei besten Männer präsentiert und sie gec mäß dem alten Brauch als gemeinsame Erstlingsgabe dem Apollon und dem Helios weiht für so lange Zeit, wie sie der getroffenen Wahl entspre­ chen werden. Solche Euthynen soll man im ersten Jahr zwölf einsetzen, bis jeder das fünfundsiebzigste Lebensjahr erreicht hat; in der Folgezeit sollen jährlich jeweils drei hinzukommen. Diese sollen alle Beamten in zwölf Gruppen teilen und sie unter An­ wendung aller Untersuchungsmethoden, die einem Freien angemessen d sind, überprüfen. Wohnen aber sollen sie, solange sie als Euthynen am­ tieren, in dem heiligen Bezirk des Apollon und Helios, in welchem sie auch gewählt wurden. Und wenn sie teils jeder für sich, teils auch ge­ meinsam miteinander ihr Urteil über die ausscheidenden Beamten gefallt haben, sollen sie der Stadt durch Aufstellung einer Schrifttafel auf dem Marktplatz für jeden einzelnen Beamten bekanntgeben, was er nach dem Spruch der Euthynen zu erleiden oder zu bezahlen hat. Wenn einer der Beamten aber bestreitet, gerecht beurteilt worden zu sein, soll er die Eu-

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thynen vor die Auserlesenen Richter bringen, und wenn er vom Spruch der Euthynen freikommt, soll er die Euthynen selbst verklagen, wenn er e will. Wenn er aber schuldig gesprochen wird und ihm von den Euthynen der Tod als Strafe zuerkannt worden war, so soll er, wie es nicht anders möglich ist, den einfachen Tod sterben; die anderen Strafen, soweit man sie doppelt bezahlen kann, soll er in doppelter Höhe bezahlen. Worin aber die Rechenschaftslegung eben dieser Euthynen besteht und auf welche Weise sie durchgefuhrt werden soll, das sollt ihr nun hören. Bei Lebzeiten soll diesen Männern, die von der ganzen Stadt der höch­ sten Auszeichnung gewürdigt worden sind, ein Platz in der ersten Reihe 947a bei allen Festversammlungen zustehen, ferner sollen bei den gemeinsa­ men Opfern der Hellenen und bei Festspielen und allen sonstigen religiö­ sen Feiern, die sie gemeinsam begehen, aus ihrer Mitte die Anführer der Festgesandtschaft genommen und ausgesandt werden; und sie sollen als einzige unter Bürgern in der Stadt mit einem Lorbeerkranz geschmückt sein; und alle sollen Priester des Apollon und Helios sein; jährlicher Oberpriester aber soll der eine sein, der den ersten Rang unter denen erb hielt, die in jenem Jahr unter die Priester gewählt wurden; und seinen Na­ men soll man jährlich aufschreiben, damit er zum Maß der Zeitrechnung wird, solange die Stadt bewohnt wird. Sind sie gestorben, soll ihre Aufbahrung und der Leichenzug und ihre Gruft sich von der aller andern Bürger unterscheiden: man soll ein ganz weißes Gewand tragen, ohne Trauergesänge und Klagelieder soll alles vor sich gehen; vielmehr soll ein Chor von fünfzehn Mädchen und ein weiterer aus fünfzehn Knaben sich jeweils beiderseits der Bahre aufstel­ len und gleichsam als Hymnus jeweils abwechselnd ein auf diese Priester c gedichtetes Loblied singen, und sie so mit ihrem Gesang den ganzen Tag hindurch glücklich preisen. Bei Tagesanbruch sollen hundert junge Män­ ner, die das Gymnasium besuchen und von den Verwandten des Verstor­ benen dazu ausersehen wurden, die Bahre zur Gruft tragen; an der Spitze sollen die unverheirateten Männer voranschreiten, ein jeder in seiner Kriegsrüstung, die Reiter mit ihren Pferden, die Hopliten mit ihren schweren Waffen und die andern ebenso; unmittelbar um die Bahre sol­ len vor ihr die Knaben das vaterländische Lied singen, hinter ihr schlied ßen sich die Mädchen an und alle Frauen, die über die Zeit des Kindergebärens hinaus sind; danach sollen Priester und Priesterinnen, auch wenn sie sonst von Begräbnissen ausgeschlossen sind, diesem Begräbnis fol­ gen, das als kultisch rein gilt, sofern auch der Spruch der Pythia damit einverstanden ist. Als Gruft aber soll für die Euthynen unter der Erde ein längliches Gewölbe aus kostbaren und möglichst dauerhaften Steinen hergerichtet sein mit nebeneinander angeordneten steinernen Liegebäne ken; darauf soll man den nunmehr glückselig Gewordenen niederlegen,

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dann eine kreisförmige Aufschüttung vornehmen und ringsum einen Hain von Bäumen pflanzen außer an einer Seite, damit das Grab hier für alle Zeit eine Erweiterung zuläßt, die für die zu Bestattenden eine weitere Aufschüttung erfordert. Alljährlich aber soll man einen musischen und einen gymnischen Wettbewerb und einen Reiterwettkampf zu ihren Eh­ ren veranstalten. Dies also sind die Ehrungen für diejenigen, welche die Rechenschaftslegung erfolgreich bestanden haben. Wenn aber einer von ihnen, durch seine Wahl zuversichtlich geworden, seine menschliche Natur hervorkehrt, indem er nach der Wahl schlecht wird, soll das Gesetz anordnen, daß jeder, der will, ihn verklagen kann; 948a die Verhandlung vor einem Gericht soll etwa in folgender Weise durch­ geführt werden. Zunächst sollen die Gesetzeswächter diesem Gericht an­ gehören, dann diejenigen, die von eben diesen Euthynen noch am Leben sind, außerdem das Kollegium der Auserlesenen Richter. Der Kläger aber soll die Klage gegen den, den er verklagt, in der schriftlichen For­ mulierung vorbringen, daß „der und der der höchsten Auszeichnung und des Amtes unwürdig ist“. Und wenn der Angeklagte verurteilt wird, soll er seines Amtes und der Bestattung und der sonstigen ihm zuerkannten Ehren verlustig gehen; erhält aber der Ankläger nicht den fünften Teil b der Stimmen, so soll er als Angehöriger der höchsten Vermögensklasse zwölf Minen als Buße zahlen; wenn er der zweiten angehört, acht; wenn der dritten, sechs und wenn er der vierten Klasse angehört, zwei. Rhadamanthys hat wegen der Art, wie er der Sage nach die Prozesse entschied, Bewunderung verdient. Er sah nämlich, daß die Menschen da­ mals unzweifelhaft an das Dasein von Göttern glaubten, was ganz natür­ lich war, da ja in der damaligen Zeit viele von den Göttern abstammten, darunter er selbst, wie die Sage berichtet. Offenbar dachte er nun, man dürfe keinem menschlichen Richter das Richten überlassen, sondern den Göttern, weshalb die Prozesse von ihm einfach und rasch entschieden wurden. Indem er nämlich bei jedem strittigen Punkt den streitenden Parc teien einen Eid auferlegte, war er mit der Sache rasch und sicher fertig. Heutzutage dagegen, wo ein Teil der Menschen, wie gesagt, überhaupt nicht an Götter glaubt und andere meinen, sie kümmerten sich nicht um uns, die Meinung der meisten und schlechtesten Menschen aber die ist, daß die Götter gegen den Empfang kleiner Opfer und Schmeicheleien beim Raub großer Schätze mithelfen und sie in vielen Fällen von schwe­ ren Strafen befreien, dürfte wohl den heutigen Menschen das Verfahren d des Rhadamanthys bei den Prozessen nicht mehr angemessen sein. Da sich also die Ansichten über die Götter bei den Menschen geändert ha­ ben, müssen sich auch die Gesetze ändern. Beim Einreichen von Klagen müssen nämlich die Gesetze, die mit Vernunft aufgestellt sind, die Eide der beiden Prozeßgegner abschaffen, und wer eine Klage gegen jeman-

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den einreicht, soll seine Anklagepunkte niederschreiben, aber keinen Eid dazu schwören, und der Beklagte soll ebenso seine Gegendarstellung schriftlich bei den Beamten ohne Eid einreichen. Denn es wäre doch schrecklich, wenn man, falls viele Prozesse in einer Stadt stattfinden, sie eher wüßte, daß fast die Hälfte der Bürger einen Meineid geschworen hat und sie dennoch bei den gemeinsamen Mahlzeiten ganz unbeschwert miteinander Zusammenkommen und auch bei den sonstigen Versamm­ lungen und den privaten Zusammenkünften einzelner Bürger. Also soll ein Gesetz aufgestellt sein, daß zwar ein Richter schwören soll, wenn er sich zu richten anschickt, und daß derjenige, der die Beam­ ten für das Gemeinwesen bestellt, dies jedesmal so tun soll, daß er entwe949a der unter Eid seine Stimme abgibt oder mittels Stimmtäfelchen, die aus einem Heiligtum genommen sind; ferner ein Preisrichter bei den Chören und jeder musischen Darbietung und bei gymnischen Wettbewerben und bei Reiterwettkämpfen und überhaupt bei allem, was nach menschlicher Auffassung jemandem keinen Gewinn bringt, wenn er falsch schwört. Diejenigen Streitfälle aber, bei denen einem durch Ableugnen und Ab­ schwören ein großer Gewinn zu winken scheint, die sollen alle, die eine Klage gegeneinander vorbringen, durch Gerichtsverfahren ohne Eid­ schwüre entscheiden lassen. Und überhaupt sollen bei einer Gerichtsverb handlung die Vorsitzenden niemandem gestatten, um der größeren Über­ zeugungskraft willen bei seiner Aussage zu schwören oder sich selbst und seine Familie zu verfluchen oder sich auf unwürdiges Flehen und weibisches Jammern zu verlegen, sondern der Betreffende soll den eige­ nen Rechtsstandpunkt stets in zurückhaltendem Ton bis zu Ende darle­ gen und den der Gegenseite zur Kenntnis nehmen; widrigenfalls sollen ihn die Beamten, wie einen, der nicht zum Thema spricht, wieder zur Er­ örterung des jeweiligen Falles zurücklenken. Einem Fremden jedoch soll gegenüber einem Fremden gestattet sein, wie heute üblich, rechtskräftig c Eide voneinander zu anzunehmen, wenn sie wollen, und einander auf­ zuerlegen - denn solche Leute werden ja meistens in unserer Stadt nicht alt werden oder sich hier einnisten und andere Leute ihres Schlages her­ vorbringen, die dann Wohnrecht im Land haben werden -, und bei der Einreichung von Klagen gegeneinander soll das gerichtliche Verfahren für sie alle in derselben Weise vor sich gehen. In allen Fällen, in denen ein freier Mann der Stadt ungehorsam ist, so­ weit sie nicht Schläge oder Haft oder den Tod verdienen, sondern wenn es um die Teilnahme an Chören oder Prozessionen oder sonstigen ged meinsamen Feiern oder um finanzielle Leistungen für das Gemeinwesen geht, wie etwa für ein Opfer im Frieden oder anläßlich der Erhebung ei­ ner Kriegssteuer, in allen Fällen dieser Art soll die erste Verpflichtung der Ausgleich des Verlustes sein. Gegen diejenigen aber, die nicht gehör-

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chen, soll denen, die die Stadt und das Gesetz mit der Eintreibung beauf­ tragt, das Recht zur Pfändung zustehen; wer trotz der Pfändung nicht ge­ horcht, dessen Pfand soll verkauft werden und das Geld soll der Stadt zu­ fallen. Ist aber eine höhere Strafe erforderlich, so sollen die Beamten je­ weils den Ungehorsamen die angemessenen Geldbußen auferlegen und e sie vor Gericht führen, bis sie bereit sind, das Aufgetragene zu tun. Eine Stadt aber, die keine Erwerbsquelle außer dem Ertrag des Bodens hat und die keinen Handel treibt, muß sich bezüglich der Reisen ihrer Bürger ins Ausland und der Aufnahme von Fremden aus andern Städten überlegt haben, wie sie zu verfahren hat. Hierzu muß der Gesetzgeber seinen Rat beisteuem, indem er es zunächst nach Kräften mit Überzeu­ gung versucht. Es liegt nun in der Natur der Sache, daß der Verkehr von Städten mit Städten die mannigfaltigsten Sitten miteinander vermengt, indem Frem950a de unter Fremden gegenseitig Neuerungen einführen. Gerade dies würde den Städten, die durch richtige Gesetze gut verwaltet werden, den aller­ größten Schaden zufügen; für die meisten Städte aber, die ja keineswegs gute Gesetze haben, macht es keinen Unterschied, wenn sie sich mit Fremden vermischen, sei es, daß sie diese aufhehmen oder daß sie selbst in andere Städte ausschwärmen, sooft einer Lust zu einer Auslandsreise wohin und wann auch immer bekommt, mag er noch jung oder auch schon älter sein. Andererseits aber gar keine Fremden aufzunehmen und nicht selber irgendwohin ins Ausland zu verreisen, ist ganz unmöglich; b überdies würde dies den andern Menschen als grausam und unfreundlich erscheinen, weil wir in deren Augen die sogenannten ,Fremdenvertrei­ bungen ‘ — ein hartes Wort! — praktizieren und einen selbstgefälligen und harten Charakter besitzen würden, wie es ihnen scheinen könnte. Man darf es aber niemals als etwas Geringes ansehen, ob man bei den anderen im Ruf eines guten Menschen steht oder nicht. Denn so sehr auch die große Masse das Wesen der Tugend verfehlt haben mag, so hat sie doch nicht in gleichem Maße die Fähigkeit verloren, die anderen da­ nach zu beurteilen, wer schlecht und wer gut ist, sondern etwas Göttli­ ches und Treffsicheres wohnt auch den Schlechten inne, so daß selbst unc ter den ganz schlechten Menschen sehr viele in ihren Worten und Über­ zeugungen die besseren und die schlechteren Menschen gut voneinander unterscheiden können. Daher ist es für die meisten Städte eine schöne Empfehlung, auf einen guten Ruf bei der Masse Wert zu legen. Die rich­ tigste und wichtigste allerdings ist die, daß man nur dann, wenn man auch wahrhaft gut ist, einem guten Ruf im Leben nachjagen soll, ohne diese Voraussetzung aber auf keinen Fall, wenigstens wer ein vollkom­ mener Mann sein will; und so wird es auch der in Kreta zu gründenden Stadt gut anstehen, sich bei den anderen Menschen den denkbar schön-

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d sten und besten Ruf hinsichtlich der Tugend zu erwerben. Es besteht aber alle Aussicht, daß sie, wenn sie gemäß unserem Plan geschaffen wird, wahrscheinlich zusammen mit nur wenigen die Sonne und die anderen Götter als eine von den Städten und Ländern erblicken wird, die eine gu­ te Gesetzesordnung haben. Folgendermaßen soll also bezüglich der Reisen in andere Länder und Orte und der Aufnahme von Fremden verfahren werden. Zunächst soll es einem, der jünger als vierzig Jahre ist, auf keinen Fall und unter keinen Umständen erlaubt sein, ins Ausland zu reisen, sodann zu privaten Zwecken niemandem; in staatlichem Auftrag aber soll es He­ rolden oder Gesandtschaften oder auch bestimmten Festabgeordneten ere laubt sein. Die durch Kriege und Feldzüge bedingten Auslandsaufenthal­ te brauchen jedoch nicht unter den Reisen im Auftrag der Stadt erwähnt zu werden, als ob sie zu diesen zählten. Aber nach Pytho zu Apollon und nach Olympia zu Zeus und nach Nemea und auf den Isthmos sind Leute zu entsenden, die an den Opfern und den Wettspielen zu Ehren dieser Götter teilnehmen, und zwar möglichst viele und zugleich möglichst schöne und tüchtige Leute, welche die Stadt bei den heiligen und friedli­ chen Zusammenkünften in gutem Ruf erscheinen lassen und ihr so einen 951a den Kriegstaten gleichwertigen Ruhm verschaffen und die nach ihrer Heimkehr die jüngeren Leute darüber belehren sollen, daß die gesetzli­ chen Verfassungseinrichtungen der anderen nur den zweiten Rang ver­ dienen. Aber auch noch andere Beobachter folgender Art müssen ausgesandt werden, sofern sie von den Gesetzeswächtem die Erlaubnis bekommen haben: Wenn einige Bürger Lust haben, die Verhältnisse bei den anderen Menschen in größerer Muße zu beobachten, so soll sie kein Gesetz hinb dem. Denn eine Stadt, die keine Erfahrungen mit schlechten und mit gu­ ten Menschen macht, wird infolge ihres fehlenden Umgangs wohl nie­ mals fähig sein, ausreichend gesittet und vollkommen zu werden; und umgekehrt wird sie ihre Gesetze nicht dauerhaft bewahren können, wenn sie diese nicht aus Einsicht statt bloß aus Gewohnheit annimmt. Es gibt nämlich auch in der großen Masse immer wieder einige göttliche Men­ schen - nicht viele -, mit denen zusammenzutreffen von unschätzbarem Wert ist und die in Städten mit guten Gesetzen nicht häufiger geboren werden als in den andern. Ihrer Spur muß ein Bewohner der gut verwal­ teten Städte immer wieder auf seinen Reisen zu Wasser und zu Lande nachgehen und nach ihnen suchen, sofern er gegen verderbliche Einflüsc se gefeit ist, teils um die gesetzlichen Einrichtungen, die bei ihnen daheim bereits in vortrefflicher Form vorhanden sind, noch fester zu begründen, teils um sie zu verbessern, falls sie Mängel aufweisen. Denn ohne dieses Beobachten und Nachforschen wird niemals eine Stadt in ihrer Vollkom­

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menheit bestehen bleiben und auch nicht, wenn man dieses Beobachten schlecht durchführt. kl. Wie könnte nun beides bewerkstelligt werden? άγη. Folgendermaßen. Erstens muß ein solcher Beobachter über fünf­ zig Jahre alt sein, sodann zu denen gehören, die sich sowohl sonst als auch besonders im Krieg einen guten Ruf erworben haben, wenn das d Kollegium der Gesetzeswächter ihn als Muster in die andern Städte ent­ senden soll. Ist er aber über sechzig Jahre alt, soll er nicht mehr als Be­ obachter tätig sein. Wenn er nun von den zehn Jahren so viele, wie er will, als Beobachter tätig war und nach Hause zurückgekehrt ist, soll er sich in die Versammlung derer begeben, die über die Gesetze die Auf­ sicht führen. Diese soll aus jungen und älteren Leuten zusammengesetzt sein und sich jeden Tag pflichtgemäß vom Morgengrauen bis zum Son­ nenaufgang versammeln; an erster Stelle besteht sie aus den Priestern, die die höchste Auszeichnung erhalten haben, sodann gehören dazu von e den Gesetzeswächtem die jeweils zehn ältesten; ferner der Aufseher über die gesamte Erziehung, und zwar sowohl der neue wie auch die aus die­ sem Amt ausgeschiedenen. Jeder von diesen soll aber nicht allein kom­ men, sondern mit einem jungen Mann zwischen dreißig und vierzig Jah­ ren, wobei er jeweils den, der ihm zusagt, mitbringen soll. 952a Die Zusammenkunft dieser Männer und ihre Gespräche sollen sich stets mit Gesetzen befassen, sowohl mit denen der eigenen Stadt als auch mit dem, was sie etwa andernorts auf diesem Gebiet Besonderes erfah­ ren, und ebenso mit allen Kenntnissen, die bei einer solchen Prüfung da­ zu beizutragen scheinen, daß denen, die über diese Kenntnisse verfügen, die Sache klarer wird, während denen, die die Kenntnisse nicht besitzen, das Gebiet der Gesetzgebung dunkel und undurchschaubar erscheint. Was nun hieraus die Älteren auswählen, das sollen die Jüngeren mit al­ lem Eifer lernen. Wenn aber einer der Hinzuberufenen unwürdig zu sein scheint, so soll dem, der ihn berufen hat, die ganze Versammlung Vorb würfe machen; auf diejenigen von diesen jungen Männern aber, die sich einen guten Ruf erwerben, soll die übrige Stadt achtgeben, indem sie auf sie ihr besonderes Augenmerk richtet und sie beobachtet, und soll sie eh­ ren, wenn sie sich richtig verhalten, und soll sie mehr als die anderen mit Ehrenentzug strafen, wenn sie sich schlechter als die Vielen erweisen. In diese Versammlung also soll deijenige, der die gesetzlichen Einrich­ tungen bei den andern Menschen beobachtet hat, sich sogleich nach sei­ ner Ankunft begeben; und wenn er Leute gefunden hat, die ihm irgendei­ ne Ansicht von irgendwelchen Leuten über die Gesetzgebung oder über die Bildung oder die Erziehung aufzeigen konnten, oder wenn er gar mit eigenen Beobachtungen zurückkommen sollte, so soll er diese der gan­ zen Versammlung mitteilen. Und wenn er den Eindruck macht, daß er

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c um nichts schlechter oder besser zurückgekehrt ist, soll man ihn wenig­ stens seines großen Eifers wegen loben; erweist er sich aber als viel bes­ ser, so soll er, solange er lebt, noch viel mehr gelobt werden, und nach seinem Tod sollen ihn die Versammlungsmitglieder kraft ihrer Vollmacht mit gebührenden Ehren ehren. Wenn man aber den Eindruck hat, daß er verdorben zurückgekehrt ist, so darf er mit niemandem, weder mit einem Jungen noch einem Älteren, verkehren und sich dabei als weise aufspie­ len. Und wenn er den Beamten gehorcht, soll er als Privatmann weiterled ben; wenn nicht, soll er sterben, zumal wenn er vor Gericht überfuhrt wird, sich in Fragen der Erziehung und der Gesetze eingemischt zu ha­ ben. Wenn ihn aber, falls er vor Gericht geladen zu werden verdient, kei­ ner der Beamten vorlädt, soll dies den Beamten bis zur Entscheidung über die höchsten Auszeichnungen als Vorwurf vermerkt werden. Wer also außer Landes geht, soll das in dieser Weise tun und hierfür die erwähnten Eigenschaften mitbringen. Nach ihm gilt es den, der in un­ ser Land einreist, freundlich zu empfangen. Es gibt nun vier Arten von Fremden, die wir berücksichtigen müssen: Der erste und länger anwesende Fremde kommt in der Regel jeweils e im Sommer immer wieder zu Besuch wie die durchziehenden Vögel auch von diesen Fremden kommen ja die meisten geradezu wie auf Flü­ geln während der guten Jahreszeit des Gelderwerbs wegen als Handels­ reisende über das Meer in die anderen Städte geflogen diesen sollen die hierfür eingesetzten Beamten auf Märkten, in Häfen und in öffentli­ chen Gebäuden außerhalb der Stadt in deren Nähe aufhehmen; dabei ha953a ben sie darauf zu achten, daß keiner dieser Fremden irgendeine Neue­ rung einführt, und sollen ihre Rechtsstreitigkeiten richtig entscheiden, wobei sie nur soweit unbedingt nötig, aber möglichst selten mit ihnen verkehren sollen. Der zweite Fremde ist ein wirklicher Beobachter, der mit den Augen die Schauspiele anschaut und alle für die Ohren bestimmten musischen Darbietungen. Für jeden Gast dieser Art müssen Herbergen neben den Heiligtümern zur gastfreundlichen Aufnahme von Menschen eingerichtet sein; auch müssen Priester und Tempeldiener für solche Leute sorgen und sie betreuen, bis sie dann, nachdem sie eine angemessene Zeit hier geweilt und das gesehen und gehört haben, weswegen sie gekommen b waren, wieder abreisen, ohne einen Schaden verursacht oder erlitten zu haben. Richter für sie sollen die Priester sein, falls jemand einem von ih­ nen ein Unrecht zufügt oder einer von ihnen einem andern ein Unrecht zufügt, dessen Streitwert unter fünfzig Drachmen liegt; falls aber eine schwerere Klage gegen sie erhoben wird, soll die richterliche Entschei­ dung für solche Fälle bei den Marktaufsehem liegen. Als dritten Fremden soll man auf Staatskosten den aufhehmen, der in

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staatlichem Auftrag aus einem andern Land kommt. Diesen dürfen nur Strategen und Hipparchen und Taxiarchen aufnehmen; für die Betreuung c solcher Leute hat zusammen mit den Prytanen ausschließlich der zu sor­ gen, bei dem einer dieser Fremden als Gast Wohnung nimmt. Der vierte Fremde, sofern überhaupt einer kommt, ist ein seltener Be­ sucher; sollte aber einmal einer als Gegenstück zu unseren Beobachtern aus einem andern Land zu uns kommen, so darf er erstens nicht jünger als fünfzig Jahre sein; außerdem muß er die Absicht haben, etwas Schö­ nes zu sehen, das die Verhältnisse in den anderen Städten an Schönheit übertrifft, oder auch etwas ebenso Vortreffliches einer anderen Stadt zu d zeigen. Jeder Fremde dieser Art soll sich nun unaufgefordert an die Tü­ ren der Reichen und Weisen begeben, da er selber ein solcher ist. Er soll nämlich im Haus des Aufsehers über die gesamte Erziehung einkehren im Vertrauen darauf, einem solchen Gastgeber ein angemessener Gast zu sein, oder im Haus eines der Bürger, die in der Tugend den Sieg davon getragen haben; und wenn er mit einigen dieser Männer zusammengewe­ sen ist und sie teils belehrt, teils sich von ihnen hat belehren lassen, soll er wieder abreisen, als Freund von Freunden mit Geschenken und ge­ bührenden Ehren ausgezeichnet. Nach diesen Gesetzen also soll man alle fremden Männer und Frauen e aus einem anderen Land aufnehmen und die eigenen Bürger aussenden, um so Zeus, den Gott der Fremden, zu ehren, anstatt durch Essen und Opfer die Vertreibung der Fremden zu bewerkstelligen (wie dies noch heute die Zöglinge des Nils tun) oder durch grausame Erlasse. Eine Bürgschaft, die jemand übernimmt, soll er mit ausdrücklichen Worten übernehmen, indem er seine Zustimmung zu dem ganzen Rechts­ geschäft in schriftlicher Form bekundet, und zwar vor mindestens drei Zeugen bei Beträgen unter tausend Drachmen, bei Beträgen über tausend 954a Drachmen vor mindestens fünfen. Bürge ist auch der Vorverkäufer einer Ware für den Verkäufer, falls dieser nicht verklagbar oder überhaupt nicht zahlungsfähig ist; auch der Vorverkäufer soll gerichtlich belangt werden können wie der Verkäufer. Wenn jemand bei einem anderen eine Haussuchung durchführen will, soll er dies entkleidet bis auf das Untergewand ohne Gürtel tun und zu­ vor bei den vom Gesetz geheiligten Göttern schwören, daß er das Ge­ suchte gewiß zu finden hoffe. Der andere aber soll sein Haus, und zwar sowohl den versiegelten wie den unversiegelten Besitz, zur Durchsu­ chung freigeben. Wenn aber jemand einem, der das Haus durchsuchen b will, dies nicht gestattet, so soll der Abgewiesene einen Prozeß anstren­ gen unter Angabe des Wertes des gesuchten Gegenstandes; und wenn ei­ ner schuldig gesprochen wird, soll er das Doppelte des abgeschätzten Wertes als Schadensersatz zahlen. Wenn jedoch der Hausherr gerade ver-

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reist ist, so sollen die Hausbewohner das Unversiegelte durchsuchen las­ sen; auf das Versiegelte aber soll der Durchsuchende sein eigenes Siegel daneben drücken und wen er will, als Wächter für fünf Tage aufstellen; wenn der Hausherr aber noch länger abwesend ist, so soll er die Stadtauf­ seher hinzuziehen und mit ihnen die Haussuchung vornehmen, wobei er c auch das Versiegelte öffnen darf und es dann in Gegenwart der Hausge­ nossen und der Stadtaufseher in derselben Weise wieder versiegeln soll. Für Gegenstände, deren Besitz strittig ist, soll folgende Frist gelten, die einer im Besitz eines Gegenstands sein muß, damit er ihm nicht mehr streitig gemacht werden kann. Über Grundstücke und Häuser wird es zwar hierzulande keinen Streit geben; für die übrigen Fälle aber gilt: wenn jemand einen Gegenstand, den er erworben hat, in der Stadt und auf dem Markt und an den heiligen Stätten ganz offen benutzt und nie­ mand darauf Anspruch erhebt, wohl aber jemand behauptet, er suche die­ sen schon die ganze Zeit, jener aber ihn offensichtlich nicht versteckt d hielt, wenn also auf diese Weise der eine ein Jahr im Besitz des Gegen­ standes und der andere auf der Suche nach ihm gewesen ist, dann soll es niemandem mehr erlaubt sein, auf ein solches Besitzstück Anspruch zu erheben, sobald das Jahr abgelaufen ist. Wenn aber der Besitzer den Ge­ genstand nicht in der Stadt oder auf dem Markt, wohl aber auf dem Land ganz offen benutzt und ihm innerhalb von fünf Jahren niemand entge­ gentritt, so soll nach Ablauf der fünf Jahre niemand mehr in der Folgezeit einen Anspruch darauf geltend machen dürfen. Wenn ihn aber jemand in den Häusern und in der Stadt benutzt, soll die Verjährungsfrist drei Jahre e betragen, wenn er ihn auf dem Lande im Verborgenen in Besitz hält, zehn Jahre; wenn er ihn aber während eines Aufenthalts in einem andern Land benutzt, so soll während dieser ganzen Zeit, falls ihn jemand ir­ gendwo entdeckt, keine Veijährung für die Geltendmachung des An­ spruchs eintreten. Wenn jemand einen anderen mit Gewalt am Erscheinen vor Gericht hindert, sei es ihn selbst oder dessen Zeugen, so soll, wenn er seinen ei­ genen oder einen fremden Sklaven hindert, das Urteil ungültig und un­ wirksam sein; hat er aber einen Freien gehindert, soll er zusätzlich zur 955a Aufhebung des Urteils ein Jahr in Haft gehalten werden und von jedem, der das will, wegen Menschenraubs belangt werden können. Wenn aber jemand einen Gegner in einem gymnischen oder musischen oder sonst einem Wettkampf mit Gewalt am Erscheinen hindert, so soll jeder, der will, dies den Kampfrichtern anzeigen; diese sollen dann den, der am Kampf teilnehmen will, ungehindert zum Wettkampf zulassen; wenn sie dazu nicht imstande sind, so sollen sie, falls der gewinnt, der b ihn am Wettkampf hindert, den Siegespreis dem Verhinderten geben und ihn als Sieger in den Heiligtümern aufschreiben lassen, in denen er das

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will; dem aber, der ihn gehindert hat, soll es nicht gestattet sein, jemals ein Weihgeschenk oder eine Inschrift zur Erinnerung an diesen Wett­ kampf aufzustellen, sondern er soll wegen des Schadens belangt werden können, gleichgültig ob er im Wettkampf unterlegen blieb oder gesiegt hat. Wenn einer irgendwelches Diebesgut wissentlich bei sich aufhimmt, soll er dieselbe Strafe erleiden wie der Dieb. Auf der Aufnahme eines Verbannten soll der Tod als Strafe stehen. Jeder muß dieselbe Person wie die Stadt als Freund oder Feind be­ trachten. Wenn aber jemand eigenmächtig mit jemandem Frieden c schließt oder Krieg beginnt ohne gemeinsamen Beschluß, soll dieser gleichfalls mit dem Tod bestraft werden. Wenn ein Teil der Stadt zum ei­ genen Vorteil mit jemandem Frieden schließt oder Krieg beginnt, sollen die Strategen die für diese Tat Verantwortlichen vor Gericht bringen; wer schuldig gesprochen wird, soll mit dem Tod bestraft werden. Wer der Vaterstadt irgendeinen einen Dienst leistet, soll diesen Dienst ohne Annahme von Geschenken leisten; keinerlei Vorwand soll hierfür zulässig sein und auch die Behauptung verdient kein Lob, daß man nur zu guten Zwecken Geschenke annehmen soll, zu schlechten aber nicht, d Denn dies zu unterscheiden und nach der Unterscheidung standhaft zu bleiben ist nicht leicht; am sichersten ist es, auf das Gesetz zu hören und seinem Gebot zu gehorchen, daß man keinen Dienst gegen Geschenke leisten soll. Wer aber nicht gehorcht, soll ohne weiteres sterben, wenn er vor Gericht verurteilt wird. Was die Geldabgabe an das Gemeinwesen betrifft, so soll ein jeder sein Vermögen aus mancherlei Gründen abgeschätzt haben, und den jährli­ chen Ertrag sollen die Angehörigen einer Phyle schriftlich den Landaufsehem angeben, damit die Staatskasse von den beiden Arten der Besteue­ rung, die es gibt, diejenige anwenden kann, die sie anwenden will, wobei e man jährlich darüber beraten soll, ob ein Teil des geschätzten Gesamtver­ mögens oder des jeweiligen Jahreseinkommens abzüglich der Beiträge für die gemeinsamen Mahlzeiten als Abgabe erhoben werden soll. Den Göttern hat ein maßvoller Mann auch maßvolle Weihegaben zu schenken. Nun ist ja die Erde und der Herd des Hauses bei allen Men­ schen allen Göttern heilig; niemand soll nun aber zum zweiten Mal Hei­ liges den Göttern weihen. Gold und Silber, das in anderen Städten sich in 956a privaten Häusern und in Heiligtümern befindet, ist ein Neid erregendes Besitzstück; Elfenbein, das von einem Körper stammt, der seine Seele verloren hat, ist kein unbedenkliches Weihgeschenk; Eisen und Bronze sind Werkzeuge für Kriege. Doch ein aus Holz, und zwar aus einem ein­ zigen Stück, bestehendes Weihgeschenk und ebenso eines aus Stein mag jeder nach Belieben bei den allgemeinen Heiligtümern aufstellen; ein

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Gewebe aber nur, wenn es nicht die monatliche Arbeit einer Frau über­ steigt. Als Farbe dürfte Weiß den Göttern sowohl sonst als auch beson­ ders bei einem Gewebe angemessen sein; bunte Farben soll man nur zu kriegerischem Schmuck verwenden. Die den Göttern angemessensten b Gaben aber sind Vögel und Bilder, die ein Maler an einem einzigen Tag vollenden kann. Auch die übrigen Weihgeschenke sollen sich an derarti­ ge Muster halten. Nachdem nun die Gliederungen der gesamten Stadt durchgesprochen sind und gesagt worden ist, wie viele und welche es geben soll, und nachdem Gesetze für die Rechtsgeschäfte auf möglichst allen wichtigen Gebieten formuliert worden sind, müssen jetzt als letztes noch die Ge­ richtsverhandlungen stattfmden. Was die Gerichtshöfe angeht, so wird der erste aus gewählten Richtern c bestehen, die der Beklagte und der Kläger gemeinsam wählen, Schiedsmännem also, für die aber die Bezeichnung ,Richter6 angemessener ist. Die zweite Instanz bilden die Dorfbewohner und Phylenmitglieder, die jeweils in Zwölftel aufgeteilt sind; an diese sollen sich die Parteien, wenn sie nicht vor den ersten Richtern zu einer Entscheidung kommen, mit ih­ rer Streitsache wenden, aber auf die Gefahr einer größeren Geldbuße hin: der Beklagte soll, wenn er das zweite Mal unterliegt, ein Fünftel der in der schriftlichen Klage beantragten Strafsumme zusätzlich bezahlen. Wenn jemand aber mit diesen Richtern unzufrieden ist und ein drittes d Mal prozessieren will, soll er den Rechtsstreit vor die Auserlesenen Rich­ ter bringen, und wenn er wieder unterliegt, soll er das Anderthalbfache der beantragten Strafsumme zahlen. Wenn dagegen der Kläger in der er­ sten Instanz unterliegt und keine Ruhe geben will, sondern sich an die zweite Instanz wendet, so soll er, wenn er gewinnt, den fünften Teil hin­ zuerhalten; wenn er verliert, soll er denselben Teil der Strafe als Buße zahlen. Wenn aber die Parteien vor das dritte Gericht gehen, weil sie sich den früheren Entscheidungen nicht fügen wollen, so soll der Beklagte im Falle der Niederlage, wie gesagt, das Anderthalbfache, der Kläger aber die Hälfte der beantragten Strafsumme zahlen. e Das Auslosen der Gerichtshöfe und ihre vollzählige Besetzung, die Be­ stellung von Amtsgehilfen für die einzelnen Behörden, die Fristen, inner­ halb derer all dies zu geschehen hat, und die Abstimmungen und die Ver­ tagungen und alle Formalien dieser Art, die bei Prozessen unvermeidlich sind, die Auslosung der früheren und späteren Verhandlungstermine, die Erzwingung von Antworten und des Erscheinens vor Gericht und alles, was damit verwandt ist, haben wir zwar auch schon früher besprochen, aber es ist schön, das Richtige auch zwei- und dreimal zu wiederholen. 957a Alle gesetzlichen Regelungen aber, die von geringer Bedeutung und leicht auszudenken sind, die soll, da sie der alte Gesetzgeber beiseite ge­

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lassen hat, der jüngere Gesetzgeber ergänzen. Wenn die privaten Gerichte etwa in dieser Weise eingerichtet würden, hätten sie die angemessene Form. Was jedoch die öffentlichen und allgemeinen Gerichte angeht und alle diejenigen Gerichte, deren sich die Beamten bedienen, um die ihnen je­ weils obliegenden Aufgaben durchzuführen, so gibt es hierfür in vielen Städten eine nicht geringe Anzahl von nicht ungeschickten Gesetzesbe­ stimmungen tüchtiger Männer, aus denen die Gesetzeswächter das Geb eignete entnehmen und der jetzt entstehenden Staatsverfassung anpassen sollen, indem sie es durchdenken und verbessern und es in der Praxis ausprobieren, bis sie den Eindruck haben, daß alles befriedigend geregelt ist; dann erst sollen sie dies zum Abschluß bringen und in dieser Form als unveränderlich besiegeln und es das ganze Leben hindurch anwen­ den. Was ferner das Schweigen der Richter und ihre Zurückhaltung sowie deren Gegenteil betrifft und all das, was von dem vielen abweicht, das in den andern Städten als gerecht und gut und schön gilt, so ist dies teils c schon besprochen worden, teils wird es am Schluß zur Sprache kommen. Auf all dies muß derjenige, der ein unparteiischer Richter gemäß dem Recht werden will, sein Augenmerk richten und muß Schriften hierüber besitzen und aus diesen lernen. Denn von allen Lemgegenständen sind wohl die Schriften über die Gesetze, sofern sie richtig verfaßt sind, die wirksamsten, um den Lernenden zu einem besseren Menschen zu ma­ chen; sonst würde ja unser göttliches und bewundernswürdiges Gesetz vergebens einen Namen tragen, der mit der Vernunft verwandt ist. Und ebenso auch für alle anderen Ansichten, die in Gedichten als Lob oder d Tadel über etwas vorgetragen werden oder in Prosa, sei es daß sie in Schriftwerken oder täglich in allen möglichen sonstigen Unterhaltungen aus Rechthaberei bestritten werden oder manchmal auch unter ganz un­ begründeter Zustimmung vorgetragen werden: für dies alles dürften die Schriften des Gesetzgebers ein untrüglicher Prüfstein sein. Diese muß der gute Richter als Gegengifte gegen die anderen Ansichten in sich tra­ gen und dadurch sich selbst und die Stadt auf rechter Bahn erhalten, ine dem er in den Guten Fortbestand und Zunahme der Gerechtigkeit be­ wirkt, in den Schlechten aber nach Möglichkeit eine Abkehr von Unwis­ senheit, Zügellosigkeit und Feigheit, mit einem Wort: von jeder Unge­ rechtigkeit, soweit diese schlechten Menschen heilbare Ansichten haben; wenn sie aber denjenigen, denen diese Ansichten wahrhaft vom Schicksal zugesponnen worden sind, den Tod als Heilmittel für ihre so beschaffe958a nen Seelen zuteilen, wie mit Recht schon mehrfach gesagt worden ist, so dürften solche Richter von der ganzen Stadt Lob verdienen und auch die wegweisenden Führer der Richter.

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Nachdem nun die jährlich anfallenden Prozesse entschieden und rechtskräftig abgeschlossen sind, sollen für den Vollzug der Urteile fol­ gende Gesetze gelten. Zunächst soll die Behörde, die das Urteil gefallt hat, das ganze Vermögen des Verurteilten dem siegreichen Prozeßgegner zuerkennen mit Ausnahme des unbedingt notwendigen Besitzes, und zwar jeweils sofort nach der Abstimmung durch einen Herold im Beisein der Richter. Wenn aber der auf die Gerichtsmonate folgende Monat ver­ gangen ist und jemand die siegreiche Gegenpartei noch nicht in beider­ seitigem Einvernehmen befriedigt hat, soll die Behörde, die das Urteil gefallt hat, auf Bitten der siegreichen Partei dieser das Vermögen des Verurteilten übergeben. Wenn dieser aber nichts besitzt und der Fehlbe­ trag nicht geringer als eine Drachme ist, soll er nicht eher gegen jeman­ den klagen dürfen, als bis er der siegreichen Partei das Geschuldete ganz abgezahlt hat; andere aber sollen gegen ihn rechtskräftig klagen dürfen. Wenn aber jemand der Behörde, die ihn verurteilt hat, nach der Verurtei­ lung Widerstand leistet, so sollen ihn die widerrechtlich behinderten Be­ amten vor das Gericht der Gesetzeswächter bringen, und wenn einer in einem solchen Prozeß schuldig gesprochen wird, soll er, weil er die gan­ ze Stadt und die Gesetze zugrunde richtet, mit dem Tod bestraft werden. Einem Mann - dies wäre der nächste Punkt -, der hier geboren und aufgewachsen ist und Kinder gezeugt und aufgezogen hat und sich in sei­ nen Beziehungen zu anderen angemessen verhalten hat, indem er rechtliehe Genugtuung leistete, falls er jemandem Unrecht getan hatte, und um­ gekehrt von anderen erhielt, dem wird, wenn er im Einklang mit den Ge­ setzen in der gehörigen Weise alt geworden ist, sein Ende gemäß der Ordnung der Natur zuteil werden. Was nun die Verstorbenen betrifft, gleichgültig ob männlich oder weiblich, so sollen über die das Göttliche betreffenden Bräuche, die für die Götter unter der Erde und die hier oben zu vollziehen sind, die Ausleger rechtsgültig Auskunft geben; Gräber aber sollen nirgendwo inmitten anbaufähiger Gegenden angelegt werden, weder ein kleines noch ein großes Grabmal, sondern nur diejenigen Ge­ genden, wo das Land seiner Natur nach ausschließlich dazu geeignet ist, die Leiber der Toten unter möglichst geringer Beeinträchtigung der Le­ benden aufzunehmen und zu bergen, die soll man mit Gräbern belegen; alle die Gegenden aber, wo die Erde als unsere Mutter von Natur aus da­ zu geschaffen ist, uns Menschen willig Nahrung zu liefern, die darf we­ der ein Lebender noch irgendein Toter einem von uns Lebenden rauben. Einen Grabhügel darf man nicht höher aufschütten als es der Arbeit von fünf Männern entspricht, die sich in fünf Tagen fertigstellen läßt; die steinernen Grabaufsätze soll man nicht größer machen als erforderlich ist, um ein Lobgedicht auf das Leben des Verstorbenen aufzunehmen, das aus höchstens vier heroischen Versen besteht.

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Die Aufbahrung im Haus soll erstens nicht längere Zeit dauern, als er­ forderlich ist, um zu klären, ob der Betreffende nur bewußtlos oder wirklich tot ist; in der Regel dürfte nach menschlichen Maßstäben eine Überführung zur Grabstätte am dritten Tag angemessen sein. Ferner muß man dem Gesetzgeber neben all seinen sonstigen Worten auch glauben, wenn er sagt, daß die Seele vom Leib völlig verschieden sei und daß sogar schon im Leben das, was das Selbst eines jeden von uns b ausmacht, nichts anderes sei als die Seele, während der Leib jeden von uns als bloße äußere Erscheinung begleite, und man sage mit Recht, daß die Leiber der Toten bloße Abbilder der Verstorbenen seien; das wahre Selbst eines jeden von uns, das als unsterbliche Seele bezeichnet werde, gehe fort zu anderen Göttern, um ihnen Rechenschaft abzulegen, wie das von den Vätern überkommene Gesetz sagt — für den Guten eine Er­ mutigung, für den Schlechten Anlaß zu großer Furcht —, und eine große Hilfe gebe es nicht mehr für den Menschen, wenn er gestorben sei. Denn als er noch lebte, hätten ihm alle Angehörigen helfen müssen, dac mit er zeit seines Lebens möglichst gerecht und fromm lebe und nach seinem Tod von der Strafe für schlimme Vergehen verschont bleibe in dem auf dieses Leben folgenden Dasein. Da sich dies so verhält, soll niemals einer sein Haus ruinieren in der Überzeugung, der Fleischklum­ pen, der da begraben wird, sei in irgendeinem besonderen Sinn sein An­ gehöriger, sondern man soll überzeugt sein, daß jener Sohn oder Bruder oder wen immer jemand zu bestatten glaubt und schmerzlich vermißt, dahingegangen ist in Vollendung und Erfüllung seines Geschicks, und man muß aus dem Vorhandenen das Beste machen, indem man nur eid nen maßvollen Betrag aufwendet wie für einen unbeseelten Altar der Unterirdischen. Das richtige Maß aber wird wohl am schicklichsten der Gesetzgeber verkünden. Es gelte also folgendes Gesetz: Für einen Bürger der höchsten Vermö­ gensklasse dürften als Aufwand für die gesamte Bestattung nicht mehr als fünf Minen, für einen aus der zweiten Klasse drei Minen, und zwei für einen aus der dritten und eine Mine für einen aus der vierten Klasse das rechte Maß des Aufwands darstellen. Die Gesetzeswächter müssen schon viele sonstige Tätigkeiten verrich­ ten und sind für viele Dinge verantwortlich, nicht am wenigsten aber da­ für, daß sie ihr ganzes Leben hindurch die Kinder, die Männer und jede e Altersstufe beaufsichtigen, und so soll auch am Lebensende eines jeden Bürgers wenigstens ein Gesetzeswächter die Aufsicht führen, den die Angehörigen des Verstorbenen als Aufseher hinzuziehen; für diesen soll es etwas Schönes sein, wenn die Bestattung des Verstorbenen schön und maßvoll durchgeführt wird, wenn aber nicht schön, eine Schande. Die Aufbahrung und das übrige soll nach dem hierfür üblichen Herkommen

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erfolgen; dem Staatsmann aber, der Gesetze aufstellt, muß man aber auch noch folgende Vorschriften gestatten. 960a Das Beweinen des Verstorbenen zu befehlen oder zu verbieten, wäre gewiß unschicklich. Aber daß man laut klagt und außerhalb des Hauses ein Geschrei erhebt, ist zu verbieten; und daß man die Leiche in aller Öf­ fentlichkeit durch die Straßen trägt und bei dem Gang durch die Straßen laut schreit, muß verhindert werden; und vor Tagesanbruch soll man vor der Stadt sein. Dies seien also die gesetzlichen Vorschriften für dieses Gebiet und wer sie befolgt, soll frei von Strafe bleiben; wer aber dem ei­ nen Gesetzeswächter ungehorsam ist, der soll von allen Gesetzeswächb tem mit einer gemeinsam beschlossenen Strafe belegt werden. Alle ande­ ren Formen der Bestattung von Verstorbenen oder auch die Vergehen, die mit Verweigerung der Bestattung geahndet werden, wie im Falle der Vatermörder und Tempelräuber und aller Verbrecher dieser Art, die sind bereits im vorigen besprochen und durch Gesetze festgelegt worden, so daß unsere Gesetzgebung hiermit so gut wie vollendet wäre. Doch bei allen Dingen besteht die Vollendung jeweils nicht darin, daß man etwas so gut wie getan oder erworben oder eingerichtet hat, sondern wenn man für das Hervorgebrachte die Möglichkeit einer vollständigen und dauernden Erhaltung gefunden hat, dann erst darf man überzeugt sein, daß alles getan ist, was zu tun war, daß aber vorher das Ganze unc vollendet ist. kl. Ein schönes Wort, Fremder. Worauf aber das eben Gesagte wieder­ um hinauswill, das erkläre uns noch deutlicher. ATH. Lieber Kleinias, viele Dinge der früheren Zeit werden mit Recht gepriesen; nicht zuletzt aber die Benennungen der Moiren. kl. Welche Benennungen denn? ATH. Daß Lachesis die erste ist, Klotho die zweite und die dritte Atro­ pos, die Erhalterin des durch Los Zugeteilten, die einer Frau gleicht, die auf der Spindel die unwandelbare Stärke des Gesponnenen hervorbringt, d Ebenso muß man auch einer Stadt und den Bürgern nicht nur Gesundheit und Erhaltung der Leiber verschaffen, sondern auch Gesetzesgehorsam in den Seelen, mehr noch: Erhaltung der Gesetze. In unserem Fall aber, so scheint mir, fehlt dies offenbar noch den Gesetzen: ein Mittel, wie ih­ nen auf natürliche Weise die unwandelbare Stärke eingepflanzt werden kann. kl. Das ist nichts Geringes, wovon du sprichst, vorausgesetzt, daß es auch möglich ist, einen Weg zu finden, wie jedem Besitzstück so etwas zuteil werden könnte. e ATH. Aber es ist ja möglich, wie sich mir jedenfalls jetzt ganz deutlich zeigt. kl. So wollen wir denn auf keinen Fall davon ablassen, ehe wir nicht

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eben dieses Gut den von uns vorgetragenen Gesetzen verschafft haben. Denn es wäre ja lächerlich, wenn man etwas auf eine unsichere Grundla­ ge stellen würde und sich so vergeblich damit abgemüht hätte. ath. Du hast recht mit deiner Aufforderung. Und in mir wirst du einen zweiten Gleichgesinnten finden. kl. Ein schönes Wort. Worin besteht denn nun deiner Meinung nach die Erhaltung für unsere Verfassung und unsere Gesetze, und auf welche Weise könnte sie diesen zuteil werden? 961a ath. Haben wir nicht gesagt, es müsse in unserer Stadt eine Versamm­ lung folgender Art geben? Jeweils die zehn ältesten Gesetzeswächter und alle, die die höchste Auszeichnung erhalten haben, sollten sich zu­ sammen mit diesen an einem Ort versammeln; ferner sollten diejenigen, die außer Landes auf die Suche gegangen waren, ob es dort etwas zu hö­ ren gebe, das zur Bewahrung der Gesetze von entscheidender Bedeutung sei, und die wohlbehalten nach Hause zurückgekehrt sind, nach einer Überprüfung durch eben diese Männer für würdig erachtet werden, an der Versammlung teilzunehmen. Außerdem solle jeder einen jungen b Mann von mindestens dreißig Jahren mitbringen; zunächst solle er ihn nach Naturanlage und Erziehung auf seine Würdigkeit prüfen und dann den jungen Mann den andern vorstellen, und wenn es auch den andern gut scheint, solle er ihn mitbringen; wenn nicht, solle die über ihn abge­ gebene Beurteilung vor allen anderen, besonders aber vor dem Abgewie­ senen selbst geheim gehalten werden; in der Morgendämmerung solle die Versammlung stattfinden, wenn jeder am ehesten von eigenen und von die Allgemeinheit betreffenden Geschäften frei ist. Dies etwa haben c wir doch in unserem früheren Gespräch gesagt? kl. So war es. ath. Auf diese Versammlung komme ich nun wieder zurück und möch­ te folgendes sagen. Ich behaupte, wenn jemand diese gleichsam wie ei­ nen Anker der ganzen Stadt auswerfen würde, so könnte dieser, sofern er über alles für ihn forderliche Zubehör verfügt, alles vor dem Untergang bewahren, was wir nur wollen. kl. Wieso denn? ath. Da ist nun wohl für uns der rechte Augenblick gekommen, wo wir es an Eifer nicht fehlen lassen dürfen, um dies als nächstes richtig zu er­ klären. kl. Sehr schön gesprochen; und verfahre geradeso, wie du dir das denkst. d ath. Wir müssen also, Kleinias, bei jeder Sache den entsprechenden Er­ halter zu erfassen suchen, der sie in jeder ihrer Tätigkeiten erhält, so wie dies bei einem Lebewesen naturgemäß hauptsächlich die Seele und der Kopf ist.

Zwölftes Buch kl. Wie meinst du das nun wieder? ATH. Die Vortrefflichkeit dieser beiden

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sichert doch wohl jedem Lebe­ wesen seine Erhaltung. kl. Inwiefern? ATH. Weil in der Seele unter anderem die Vernunft wohnt, im Kopf aber neben anderem das Gesicht und Gehör; mit einem Wort: die Vernunft, sofern sie mit den edelsten Sinnen verbunden und mit ihnen eins gewor­ den ist, wird wohl mit größtem Recht als die Erhalterin eines jeden Din­ ges bezeichnet werden. kl. Das ist jedenfalls wahrscheinlich. ATH. Wahrscheinlich ist es allerdings. Aber worauf muß sich die Ver­ nunft verstehen, um zusammen mit den Sinneswahmehmungen zur Er­ halterin von Schiffen bei Stürmen und bei heiterem Himmel zu werden? Müssen nicht bei einem Schiff der Steuermann und die Matrosen ihre Sinneswahmehmungen mit derjenigen Vernunft verbinden, die sich auf das Steuern versteht, damit sie sich selbst und alles, was zum Schiff ge­ hört, vor dem Untergang bewahren? kl. Was denn sonst! άγη. Nun bedarf es hierfür nicht zahlreicher Beispiele, sondern wir wol­ len nur etwa bei den Heeren darauf achten, welches Ziel sich die Feldher­ ren setzen müssen und ebenso jede ärztliche Hilfeleistung, um in der rechten Weise nach der Rettung zu trachten? Ist es nicht im ersten Fall der Sieg und die Überwältigung der Feinde, während die Kunst der Ärzte und ihrer Gehilfen sich das Ziel setzt, dem Leib Gesundheit zu verschaf­ fen? kl. Zweifellos. άγη. Wenn nun ein Arzt den Zustand des Leibes nicht kennt, den wir gerade Gesundheit genannt haben, oder ein Feldherr den Sieg und was wir sonst eben noch erwähnt haben, wird er da wohl als einer erscheinen können, der für dieses Gebiet die entsprechende Vernunft besitzt? kl. Wie könnte er! άγη. Wie steht es aber mit einer Stadt? Wenn sich zeigen sollte, daß je­ mand das Ziel, das ein Staatsmann ins Auge fassen muß, nicht kennt, würde er da erstens mit Recht ein Herrscher genannt werden können und ferner imstande sein, das zu erhalten, dessen Ziel er überhaupt nicht kennt? kl. Wie könnte er! ATH. Also muß es offenbar auch jetzt, wenn unsere Besiedlung des Landes ihre Vollendung finden soll, ein Organ geben, das erstens das er­ kennt, wovon wir sprechen, das Ziel nämlich, was auch immer dieses Ziel des Staatsmannes für uns sein mag, und das sodann erkennt, auf welche Weise dieses Ziel zu erreichen ist und wer ihm hierbei einen gu-

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ten Rat geben kann oder nicht, welches Gesetz zunächst und dann welc eher Mensch. Wenn aber eine Stadt ohne ein solches Organ ist, ist es kein Wunder, wenn sie, ohne Vernunft und ohne Sinneswahmehmung, in all ihrem Tun jedesmal dem Zufall folgt. kl. Das ist wahr. άγη. In welcher der Gliederungen der Stadt oder ihrer Einrichtungen ist denn nun unserer Meinung nach ein solches zur Bewahrung geeignetes Organ eingerichtet? Können wir dies angeben? kl. Nein, Fremder, jedenfalls nicht mit Sicherheit. Aber wenn ich eine Vermutung äußern soll, so scheint mir diese deine Äußerung auf die Ver­ sammlung hinzudeuten, von der du eben sagtest, sie solle in der Nacht zusammenkommen. d ATH. Da hast du ganz richtig vermutet, Kleinias, und so muß denn diese Versammlung, wie unsere eben angestellte Überlegung zeigt, jede denk­ bare Vortrefflichkeit besitzen; deren erste ist die, daß man kein Schwan­ ken zeigt, indem man vielerlei Ziele verfolgt, sondern daß man immer nur auf eines blickt und darauf sozusagen alle Geschosse abschießt. kl. Auf jeden Fall. ATH. Nun werden wir auch verstehen, daß es kein Wunder ist, wenn die gesetzlichen Einrichtungen der Städte ein schwankendes Bild zeigen, weil die Gesetzgebungen in jeder Stadt jeweils ein anderes Ziel im Auge haben. So ist es in den meisten Fällen nicht zu verwundern, daß für die einen die Bestimmung des Gerechten dahin zielt, daß bestimmte Leute in der Stadt e herrschen, ganz gleich, ob dies bessere und schlechtere Menschen sind, für andere dagegen, daß sie reich werden, gleichgültig, ob sie hierbei je­ mandes Sklaven sind oder nicht; das Streben anderer ist auf ein , freies6 Le­ ben gerichtet. Manche verfolgen bei ihrer Gesetzgebung sogar zweierlei, indem sie beide Ziele zugleich ins Auge fassen, nämlich daß sie einerseits frei, andererseits über viele Städte Herren sind; die Weisesten, wie sie sich selber dünken, streben alle diese und ähnliche Ziele zusammen an, nicht aber nur eines, weil sie nichts angeben können, das sie besonders hoch­ schätzen, auf das dann alles andere bei ihnen den Blick zu richten hätte. 963a kl. Also wäre unser Grundsatz richtig, Fremder, den wir vor langem aufgestellt haben? Denn auf ein einziges Ziel, hatten wir ja behauptet, müßten alle unsere Gesetze stets den Blick richten, und als dieses werde, so waren wir uns einig, mit vollem Recht die Tugend genannt. ATH. Ja. kl. Die Tugend aber haben wir doch als Vierheit angesetzt? ATH. Allerdings. kl. Und die Vernunft sei die Führerin von diesen allen, auf welche demnach alles andere und so auch die drei übrigen Tugenden den Blick zu richten hätten.

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ath. Sehr schön folgst du mir, Kleinias, und folge mir auch weiter so. Von der Vernunft des Steuermannes und des Arztes und des Feldherm haben wir ja bereits gesagt, daß sie auf jenes eine Ziel den Blick richtet, auf das sie hinzublicken hat; jetzt aber sind wir dabei, die politische Ver­ nunft zu prüfen, und so könnten wir sie wie einen Menschen befragen und sagen: „Du Bewundernswürdige, wohin richtest denn du deinen Blick? Was ist überhaupt jenes Eine, das die ärztliche Vernunft deutlich anzugeben vermag, während du, die du doch, wie du meinst, vor allen klugen Leuten hervorragst, es nicht solltest angeben können?“ Oder seid wenigstens ihr, Megillos und Kleinias, imstande, an ihrer Stelle es genau zu bestimmen und mir anzugeben, was denn ihr für dieses Eine haltet, so wie ich schon oft stellvertretend für viele andere euch genauere Bestimmungen gegeben habe? kl. Keineswegs, Fremder. ath. Was meint ihr aber dazu, daß man sich bemühen muß, zusammen­ schauend sowohl das Eine selbst zu erkennen als auch die Dinge, in de­ nen es sich zeigt? kl. In welchen zum Beispiel meinst du? ath. Zum Beispiel: da wir behauptet haben, es gebe vier Arten von Tu­ gend, so müssen wir doch offenbar jede Art als eine bezeichnen, da es ja vier sind. kl. Was sonst! ath. Und doch geben wird diesen allen ein und denselben Namen. Wir sagen nämlich, Tapferkeit sei eine Tugend, und die Einsicht sei eine Tugend und ebenso die beiden andern, als seien sie in Wahrheit nicht viele, sondern nur dies eine: Tugend. kl. Ja allerdings. ath. Inwiefern sich nun jene beiden voneinander unterscheiden und zwei Namen erhalten haben und ebenso die beiden andern, das ist nicht schwer anzugeben; inwiefern wir aber beiden den einen Namen ,Tugend* gegeben haben, und ebenso den andern, das ist nicht mehr so leicht. kl. Wie meinst du das? ath. Es ist gar nicht schwer zu verdeutlichen, was ich meine. Wir wol­ len nämlich Frage und Antwort unter uns aufteilen. kl. Wie meinst du das nun wieder? ath. Frage du mich, warum wir überhaupt, obwohl wir beiden den ei­ nen Namen Tugend geben, sie dann doch wiederum als zwei bezeichnen, das eine als Tapferkeit, das andere als Einsicht. Ich werde dir nämlich den Grund angeben: weil das eine mit Furcht zu tun hat, an welchem auch die Tiere teilhaben, an der Tapferkeit nämlich, und auch die Gemü­ ter der ganz kleinen Kinder; denn auch ohne Verstand und durch bloße natürliche Veranlagung wird eine Seele tapfer; andererseits hat es ohne

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Verstand noch nie eine einsichtige und mit Vernunft begabte Seele gege­ ben noch gibt es sie noch wird es sie jemals geben, da dies etwas ganz anderes ist. kl. Da hast du recht. 964a ATH. Inwiefern also beide verschieden und zwei sind, hast du von mir durch meine Erklärung vernommen; inwiefern sie aber ein und dasselbe sind, das beantworte du mir wieder. Bedenke aber, daß du auch erklären sollst, inwiefern sie, obwohl sie vier sind, eines sind, und von mir verlan­ ge, daß ich, wenn du sie als eines erwiesen hast, wiederum zeige, inwie­ fern sie vier sind. Danach wollen wir prüfen, ob einer, der ein angemes­ senes Wissen von irgendwelchen Dingen besitzt, für die es einen Namen und außerdem eine Definition gibt, nur den Namen wissen muß, die De­ finition aber nicht zu kennen braucht, oder ob es für einen, der etwas taugt, und bei Dingen, die durch Größe und Schönheit hervorragen, eine b Schande wäre, wenn er dies alles nicht weiß. kl. Das ist jedenfalls wahrscheinlich. άγη. Gibt es denn nun etwas Größeres für einen Gesetzgeber und Ge­ setzeswächter und für einen, der sich durch seine Tugend vor allen aus­ zuzeichnen meint und dafür auch Siegespreise erhalten hat, als eben dies, wovon wir jetzt sprechen: Tapferkeit, Besonnenheit, Gerechtigkeit und Einsicht? kl. Wie wäre das möglich! άγη. Und sollen nun auf diesem Gebiet die Ausleger, die Lehrer, die Gesetzgeber, die Wächter über die andern, sich nicht dadurch vor den an­ dern auszeichnen, daß jeder von ihnen einem, der dies zu erkennen und c zu wissen begehrt oder der wegen eines Vergehens bestraft und zurecht­ gewiesen werden muß, Belehrung und völlige Aufklärung darüber geben kann, welche Wirkung die Schlechtigkeit und die Tugend haben? Oder soll statt dessen irgendein Dichter, der in unsere Stadt kommt, oder einer, der sich als Erzieher der Jugend ausgibt, sich als besser erweisen als ei­ ner, der in jeder Tugend den Sieg davongetragen hat? Und in einer sol­ chen Stadt, wo es keine in Wort und Tat tüchtigen Wächter gäbe, die über die Tugend hinreichend Bescheid wissen, wäre es da ein Wunder, wenn diese Stadt, da sie unbewacht ist, das gleiche erleiden würde wie viele d der heutigen Städte? kl. Gewiß nicht, wie es scheint. άγη. Was nun? Müssen wir das, was wir da sagen, auch in die Tat um­ setzen, oder wie? Müssen wir die Wächter dazu befähigen, daß sie es mit der Tugend in Tat und Wort genauer nehmen als die große Menge? Oder wie sonst soll unsere Stadt dem Kopf und den Sinneswahmehmungen der vernünftigen Menschen gleich werden, indem sie eine solche Wache in sich besitzt?

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kl. Wie und in welchem Sinne, Fremder, meinen wir es, wenn wir sie mit so etwas vergleichen? e ATH. Offensichtlich so, daß die Stadt selbst den Rumpf bildet und daß von den Wächtern die jüngeren, die hierfür als die am besten Veranlagten ausgewählt wurden, weil sie in der ganzen Seele scharfe Sinne haben, gleichsam auf der Höhe des Kopfes ringsum die ganze Stadt überblicken und bei ihrer Wachtätigkeit ihre Wahrnehmungen an das Gedächtnis wei­ tergeben und den Älteren als Boten alle Vorgänge in der Stadt melden, 965a während diejenigen, die sich mit der Vernunft vergleichen lassen, weil sie in vielen und bedenkenswerten Fragen besondere Einsicht besitzen, die Greise nämlich, beratschlagen und als Gehilfen bei ihrer Beratung die Jüngeren hinzuziehen und so beide gemeinsam wahrhaft die gesamte Stadt vor dem Untergang bewahren. Soll diese nun nach unserer Mei­ nung so oder irgendwie anders eingerichtet werden? Etwa so, daß sie lau­ ter Bürger von gleicher Art besitzt und nicht einige, die eine gründlichere Erziehung und Ausbildung erhalten haben? kl. Aber, du bewundernswerter Mann, das ist unmöglich. b ATH. Also müssen wir auf eine gründlichere Bildung als die früher er­ wähnte ausgehen. kl. Vielleicht. άγη. Könnte nun nicht diejenige, die wir eben gestreift haben, gerade die sein, die wir brauchen? kl. Aufjeden Fall. άγη. Haben wir nicht gesagt, der auf einem Gebiet jeweils vollkomme­ ne Handwerker und Bewahrer einer Sache müsse fähig sein, nicht nur auf das Viele seinen Blick zu richten, sondern auch dem Einen nachzu­ streben und es zu erkennen, und wenn er es erkannt hat, alles andere in einem zusammenfassenden Blick aufjenes hin zu ordnen? kl. Richtig. c άγη. Könnte es nun für jemanden eine genauere Art der Beobachtung und Betrachtung von irgend etwas geben, als wenn er fähig ist, von dem Vielen und Ungleichartigen aus auf eine einzige Urgestalt hinzublicken? kl. Vielleicht. άγη. Nicht vielleicht, sondern es gibt wirklich, du Wunderlicher, für keinen Menschen einen zuverlässigeren Weg als diesen. kl. Ich glaube dir, Fremder, und stimme dir zu, und so wollen wir in unserem Gespräch diesen Weg einschlagen. άγη. Wir müssen also, wie es scheint, auch die Wächter unserer göttli­ chen Staatsverfassung dazu zwingen, zuerst genau darauf zu sehen, was d denn durch alle vier hindurch dasselbe ist, was ja nach unserer Behaup­ tung sowohl in der Tapferkeit und der Besonnenheit und der Gerechtig­ keit als auch in der Einsicht als Eines vorhanden ist und mit Recht mit ei-

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nem Namen als Tugend bezeichnet wird. Das, meine Freunde, wollen wir, wenn es uns recht ist, jetzt gleichsam fest umklammern und es nicht loslassen, ehe wir nicht genau gesagt haben, was denn das ist, worauf man seinen Blick zu richten hat, ob es wie Eines oder wie ein Ganzes oder als beides oder wie auch immer es seiner Natur nach beschaffen ist. Oder meinen wir, wenn uns dies entgeht, würde es bei uns mit der Tue gend gut bestellt sein, von der wir dann nicht würden sagen können, ob sie eine Vielheit oder eine Vierheit oder daß sie Eines ist? Also werden wir, sofern wir unserem eigenen Rat folgen wollen, es irgendwie bewerk­ stelligen müssen, daß dieses Wissen in unserer Stadt vorhanden ist. Wenn es uns aber besser scheint, dies ganz beiseite zu lassen, so müssen wir es eben beiseite lassen. kl. Auf keinen Fall, beim Gott der Gastfreundschaft, Fremder, dürfen wir so etwas beiseite lassen; denn uns scheint, daß du völlig recht hast. Aber wie könnte einer dies bewerkstelligen? 966a ath. Wir wollen noch nicht darüber sprechen, wie wir es bewerkstelli­ gen könnten; sondern ob es nötig ist oder nicht, das wollen wir zunächst in gemeinsamer Übereinstimmung feststellen. kl. Aber gewiß ist es nötig, sofern es nur möglich ist. ath. Und weiter: Denken wir über das Schöne und Gute genauso? Brauchen unsere Wächter nur zu erkennen, daß jedes von ihnen eine Vielheit ist, oder auch, wieso und inwiefern es Eines ist? kl. Es scheint fast unerläßlich, daß sie auch bedenken, wieso es Eines ist. b ath. Und weiter: Sollen sie dies zwar denkend erfassen, aber unfähig sein, den Nachweis durch das erklärende Wort zu liefern? kl. Wie könnte das sein! Das wäre ja eine Haltung von Sklaven, die du da beschreibst! ath. Und weiter: Gilt nicht bei allen emstzunehmenden Dingen für uns derselbe Grundsatz, daß diejenigen, die wirkliche Wächter der Gesetze sein sollen, ein wirkliches Wissen von dem wahren Wesen dieser Dinge besitzen und fähig sein müssen, dieses mit dem Wort darzulegen und in ihren Taten zu befolgen, indem sie das, was auf schöne Weise geschieht und was nicht, nach dessen wirklicher Natur beurteilen? kl. Gewiß. c ath. Ist denn nun nicht eines der schönsten Dinge das, was wir über die Götter mit großem Emst dargelegt haben, daß sie nämlich existieren und über welch große Macht sie offenbar verfügen, dies also zu wissen, so weit ein Mensch dies erkennen kann, und für die Mehrheit der Bürger der Stadt zwar Verständnis zu haben, wenn sie hierin nur der Stimme der Gesetze folgen, denen aber, die sich am Wächterdienst beteiligen sollen, dies nicht zu erlauben, sofern einer sich nicht redlich bemüht hat, jede

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Gewißheit zu erlangen, die über die Götter zu erlangen ist? Und soll die Verweigerung der Erlaubnis nicht darin bestehen, daß man niemals einen unter die Gesetzeswächter wählt, der nicht ein göttlicher Mann ist und al­ le Mühe auf diese Dinge verwendet hat, und daß man ihn auch nicht un­ ter die wegen ihrer Tugend auserlesenen Männer aufnimmt? kl. Jedenfalls wäre es nur gerecht, wenn man, wie du sagst, einen, der auf solch einem Gebiet untätig oder unfähig ist, weit von dem Schönen absondert. ATH. Nun wissen wir doch, daß es zwei Dinge sind, die zur Gewißheit über die Götter führen, die wir in unserem früheren Gespräch durchge­ gangen sind. kl. Welche denn? άγη. Das eine ist, was wir über die Seele gesagt haben: daß sie das älteste und göttlichste von allen Dingen ist, deren Bewegung, das Werden hinzunehmend, ein ewig strömendes Sein hervorgebracht hat. Das ande­ re ist die Regelmäßigkeit im Umlauf der Gestirne und alles anderen, wo­ rüber die Vernunft herrscht, die das All geordnet hat. Wer dies nicht ober­ flächlich oder laienhaft betrachtet hat, der ist niemals ein so gottloser Mensch gewesen, daß ihm nicht das Gegenteil von dem widerfahren wäre, was von den vielen erwartet wird. Die denken nämlich, daß diejeni­ gen, die sich mit solchen Dingen befassen, durch die Astronomie und die mit ihr verbundenen unentbehrlichen Fachwissenschaften zu gottlosen Menschen würden, sobald sie entdeckt hätten, daß die Dinge weitestge­ hend durch Notwendigkeit entstünden, nicht aber durch die Überlegun­ gen eines Willens, die auf die Verwirklichung des Guten aus sind. kl. Wie mag es sich denn nun damit verhalten? ATH. Es verhält sich damit, wie gesagt, jetzt genau umgekehrt wie zu der Zeit, als die Leute, die sich darüber Gedanken machten, sich die Ster­ ne unbeseelt dachten. Verwunderung regte sich allerdings auch schon damais über sie, und was heute zur festen Überzeugung geworden ist, wur­ de von denjenigen unter ihnen, die sich um genauere Kenntnis bemüh­ ten, vermutet: daß die Gestirne, wenn sie unbeseelt wären, sich niemals Berechnungen von so wunderbarer Genauigkeit fügen könnten, da sie ja keine Vernunft besäßen. Ja, einige hatten den Mut, eben diese Behaup­ tung schon damals zu wagen, indem sie sagten, daß es die Vernunft sei, die alles am Himmel geordnet habe. Dieselben Leute verkannten ande­ rerseits die Natur der Seele, daß sie nämlich älter ist als die Körper, sondem dachten sie sich als jünger und brachten dadurch fast alles, wie man sagen muß, wieder zu Fall, am meisten aber sich selbst. Denn vor ihren Augen schien alles, was sich am Himmel bewegt, eine Masse von Stei­ nen und Erde und vielen anderen unbeseelten Stoffen zu sein, die die Ur­ sachen für den ganzen Kosmos lieferten. Dies war es, was damals viele

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gottlose Überzeugungen hervorrief und Widerwillen, sich mit solchen Gegenständen zu befassen, und so überkam die Dichter die Lust zu Schmähungen, indem sie diejenigen, die philosophierten, mit Hündinnen d verglichen, die ein nutzloses Gekläff von sich gäben, und noch zu sonsti­ gen unsinnigen Äußerungen. Jetzt aber, wie gesagt, verhält es sich ganz umgekehrt. kl. Wieso? ATH. Es ist nicht möglich, daß jemals einer von uns sterblichen Men­ schen zu einer dauerhaften Verehrung Gottes gelangt, wenn er sich nicht die beiden eben erwähnten Einsichten angeeignet hat, daß nämlich die Seele das älteste von allem ist, was am Werden Anteil bekommen hat, und daß sie unsterblich ist und daß sie über alle Körper herrscht, und wenn er nicht außerdem, was wir nun schon mehrfach erwähnt haben, e die Vernunft alles Seienden erfaßt hat, von der wir sagten, daß sie in den Gestirnen wohnt, und wenn er sich nicht die hierfür zuvor erforderlichen Lemgegenstände angeeignet und sie, wenn er ihre auf der Muse beruhen­ de Gemeinsamkeit zusammenschauend erfaßt hat, in harmonischer Wei­ se für die der Charakterbildung dienenden Einrichtungen und Gesetzes­ bestimmungen nutzbar macht und wenn er nicht von allem, was eine Er968a klärung zuläßt, diese Erklärung geben kann. Wer jedoch nicht fähig ist, diese Einsichten zusätzlich zu den bürgerlichen Tugenden zu erwerben, der wird wohl niemals ein geeigneter Herrscher über eine ganze Stadt werden können, sondern nur ein Gehilfe anderer Herrscher. Wir müssen also jetzt zusehen, lieber Kleinias und Megillos, ob wir nunmehr zu all den vorgetragenen Gesetzen, die wir durchgegangen sind, auch dieses hinzufugen sollen, daß die nächtliche Versammlung der Beamten gemäß dem Gesetz die Wächterin zum Zweck der Erhaltung b sein soll, sobald sie der gesamten Erziehung teilhaftig geworden ist, die wir gerade durchgegangen sind. Oder wie sollen wir verfahren? kl. Aber, mein Bester, warum sollten wir dieses nicht hinzufugen, wenn wir dazu auch nur einigermaßen imstande sind? άγη. So wollen wir denn auf ein derartiges Ziel alle um die Wette hinar­ beiten. Denn als Helfer hierbei würde auch ich euch gerne beistehen — neben mir werde ich vielleicht auch noch andere finden -, weil ich in der­ artigen Dingen eine reiche Erfahrung besitze und häufig Untersuchungen hierüber angestellt habe. kl. Ja, Fremder, wir müssen auf alle Fälle diesen Weg gehen, auf dem uns sogar die Gottheit selber führt. Auf welche Weise wir aber vorgehen c müßten, um richtig vorzugehen, das wollen wir also jetzt besprechen und herauszufinden suchen. άγη. Gesetze, lieber Megillos und Kleinias, über derartige Dinge zu er­ lassen ist nicht mehr möglich, ehe nicht die Versammlung eingerichtet ist

Zwölftes Buch

d

e

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b

159

- dann erst läßt sich gesetzlich festlegen, über welche Kompetenzen sie verfügen müssen —; jetzt dagegen könnte die Vorbereitung derartiger Dinge nur durch Belehrung in langem Beisammensein geschehen, wenn sie richtig geschehen soll. kl. Wieso? Was haben wir uns unter dieser Bemerkung wiederum vor­ zustellen? ath. Zuerst müßte doch eine Liste all derer zusammengestellt werden, die für die Natur des Wächteramts geeignet sind aufgrund ihres Alters, ihrer Befähigung zur Wissenschaft, ihrer charakterlichen Eigenschaften und Gewohnheiten. Danach käme die Frage, was sie zu lernen haben; dies herauszufinden ist nicht leicht, ebensowenig auch, hierin Schüler ei­ nes anderen zu werden, der das herausgefunden hat. Was außerdem die Zeiten betrifft, wie lange und zu welcher Zeit man sich dies jeweils an­ eignen soll, so wäre es vergebliche Mühe, dies durch ein schriftliches Gesetz anzugeben; denn nicht einmal den Lernenden selbst kann es klar werden, daß sie etwas zur rechten Zeit lernen, ehe nicht in der Seele eines jeden irgendwie ein Wissen von dem Lemgegenstand entstanden ist. So wäre es zwar nicht richtig, wenn man alles, was hierher gehört, als ,nicht sagbar6 bezeichnen wollte, wohl aber, wenn man es als ,nicht vorher sag­ bar6 bezeichnet; denn auch wenn es vorher gesagt würde, könnte es nichts von dem klarmachen, was damit gemeint ist. kl. Was sollen wir denn unter diesen Umständen tun, Fremder? ath. Mir scheint, meine Freunde, wie die Redensart sagt, daß für uns noch alles zu gewinnen ist, und wenn wir bereit sind, unsere ganze Staatsverfassung auf Spiel zu setzen und, wie man so sagt, entweder dreimal die Sechs oder drei Einsen zu werfen, so müssen wir es tun; ich aber will es mit euch wagen, indem ich euch meine Ansichten über die Aus­ bildung und Erziehung mitteile und erläutere, die ja jetzt in unserer Un­ terhaltung erneut zur Sprache gekommen ist. Allerdings ist das Wagnis nicht gering und auch mit keinem anderen zu vergleichen. Dir aber, Kleinias, lege ich die Sache ans Herz. Denn wenn du die Stadt der Mag­ neten oder wonach sonst die Gottheit sie benennen mag, richtig einrich­ test, so wirst du den größten Ruhm davontragen oder zumindest nicht dem Ruf entgehen, der tapferste von allen zu sein, die nach dir geboren werden. Wenn aber diese göttliche Versammlung von uns geschaffen ist, meine lieben Freunde, dann müssen wir ihr die Stadt übergeben, und hiergegen wird fast keiner der heutigen Gesetzgeber Einspruch erheben können; vielmehr wird dann das wahrhaft und in Wirklichkeit so gut wie vollendet sein, was wir kurz zuvor wie einen Traum in unserem Gespräch berührt haben, als wir ein Bild vom gemeinsamen Wirken des Kopfes und der Vernunft zusammengesetzt haben - wenn nämlich diese Männer von uns sorgfältig ausgewählt und angemessen erzogen worden sind und

160

Übersetzung

c wenn sie nach Abschluß dieser Erziehung auf der Akropolis ihres Landes ihren Wohnsitz genommen haben und zu solchen Wächtern geworden sind, wie wir in unserem früheren Leben noch keine gesehen haben, was die Vorzüglichkeit ihrer Fähigkeit zur Erhaltung der Stadt betrifft. meg. Lieber Kleinias, nach allem, was wir hier besprochen haben, müs­ sen wir entweder die Gründung der Stadt aufgeben oder wir dürfen die­ sen Fremden hier nicht loslassen, sondern müssen ihn durch Bitten und alle möglichen Mittel zur Beteiligung an dieser Stadtgründung veranlas­ sen. d kl. Da hast du ganz recht, Megillos, und ich werde es so machen, und du hilf mir dabei. meg. Das werde ich tun.

KOMMENTAR

Inhalt und Gliederung der Bücher VIII - XII und des Kommentars 4. VIII 828al-835b7: Götterfeste. Militärische Übungen. Sport­ liche und musische Wettbewerbe ......................................... 169 4.1. 828al-d5: Festlegung der Zahl der Feste und Opfer für die Götter ............................................................................. 169 4.2. 828d5-832d8: Militärische Übungen................................ 172 4.3. 832d9-834d7: Sportwettkämpfe.......................................... 181 4.4. 834d8-835b7: Musische Wettbewerbe................................ 187 5. 835cl-842al0: Vorschriften für das Sexualverhalten der männ­ lichen Bürger .......................................................................... 188 6. 842b 1—850d2: Die wirtschaftliche Organisationdes Staates .... 213 6.1 . 842b 1-8: Die gemeinsamen Mahlzeiten ............................. 213 6.2 . 842cl-846c8: Landwirtschaftsgesetze................................. 214 oc) 842e6-843b6: Grenzverrückung............................................................... 216 ß) 843b7-844al: Kleinere Schädigungen der Nachbarn........................... 218 γ) 844al-844d3: Wasserrecht (I): Nachbarschaftliche Rechte und Pflichten ........................................................................................................222 δ) 844d4—845d3: Emterecht (I): Abpflücken der Herbstfrüchte............ 226 ε) 845d4—845e9: Wasserrecht (II): Vergiftung und Entzug von Wasser . 233 ζ) 845el0-846a3: Emterecht (II): Wegerecht.............................................. 234 η) 846a3—846b2: Grundsätze für die Behandlung dieser und anderer Schädigungen durch den eigenen Besitz ........................................ 235 Θ) 846b2—6: Verantwortlichkeit der Beamten bei ungerechtem Verhal­ ten .......................................................................................................... 237 i) 846b6—c8: Verzicht auf Regelung aller prozessualen Details............238

6.3 6.4 6.5 6.6 6.7 6.8

846dl-847b6: Die Handwerker............................................. 239 847b7-847el: Einfuhr und Ausfuhr..................................... 241 847e2-848c6: Die Verteilung der Bodenprodukte............. 242 848c7-849a2: Die Ansiedlung der Handwerker. ................. 246 849a3-850a6: Der Markthandel ........................................... 247 850a6-850d2: Die Metöken.................................................. 251

7. IX 853al -X 910e4: Strafrecht..................................................... 253 853al—d4: Einleitung: Notwendigkeit von Strafgesetzen ........... 255

164

Kommentar

7.1

IX 853d5—856a8: Tempelraub. Strafen undGerichtsver­ fahren bei Kapitalverbrechen 256 7.2 856bl-856e4: Umsturzversuch...................................273 7.3 856e5-857b3: Hochverrat und Diebstahl ............................ 275 7.4 857b4-864c9: Die theoretischen Grundlagen.. des.. Straf­ rechts (3trafrechtsexkurs ‘) 278 oc) 857b9-859c5: Rechtfertigung des Exkurses mit dem Erziehungsauf­ trag des Gesetzgebers....................................................................... 279 ß) 859c6-860c3: Erste Aporie: Wieso ist das als Strafe zugefugte Lei­ den etwas Schönes? .............................................................................. 280 γ) 860c4-864c9: Zweite Aporie: Wieso ist unfreiwillige Ungerechtig­ keit strafbar? ..........................................................................................282

7.5 864cl0-e9: Schuldunfähigkeit (Nachtrag zu 7.1-7.3.) .... 305 7.6 865al-874d5: Gewalttaten gegen die Seele: Tötungsdelik­ te ................................................................................... 307 a) 865al-866d4: Unbeabsichtigte Tötung............................................... 308 ß) 866d5-869e5: Tötung im Zorn............................................................. 314 869c6—869d7: Ein Sonderfall: Tötung in Notwehr................................ 323 869d7-869e4: Zusatz: Die Rechtsfolgen bei Lossprechung durch das Opfer .................................................................................................. 324 γ) 869e5-873cl: Vorsätzliche Tötung (Mord) ........................................... 325 Ô) 873c2-874dl: Sonderfälle ....................................................................... 336 873c2-873d8: Selbsttötung ................................................................... 336 873el—874a3: Tötung durch Tiere oder Sachen ..................................... 338 874a4-874b5: Tötung durch Unbekannt ................................................. 339 874b6-874dl: Tötung ohne strafrechtliche Folgen................................ 340

7.7 874d2-882c4: Gewalttaten gegen den Leib ...................... 344 oc) 874e3-879b5: Körperverletzungen...................................................... 344 874e7-875d5 Vorrede: Die Notwendigkeit von Gesetzen.................... 344 875d5-876e5 Abgrenzung der Aufgaben der Gerichte und des Ge­ setzgebers .................................................................................................. 349 876e5-878b3: Vorsätzliche Körperverletzung mit Tötungsabsicht . . 351 878b4—879b 1 : Körperverletzung im Zorn ........................................... 355 879bl-8795b5: Ungewollte Körperverletzung....................................... 357 ß) 879b6-882c4: Mißhandlungen (Realinjurien) .................................... 358

7.8 X 884al-885b2: Gewalttaten gegen äußere Güter. Taten der Hybris...................................................................... 364 7.9 885b2-910e4: Vergehen gegen die Götter (Asebie) ............368 oc) 885b2-907d3: Vorrede (Proömium) zum Gesetz ............................... 374 885b4-887c4: Die drei Irrtümer über die Götter und ihre Ursachen. Entschluß zur Widerlegung ................................................................... 374 I. 887c5-899d3: Der Beweis für die Existenz von Göttern....................379 887c5-888a4: Gründe zum Zorn auf die Atheisten............................. 381 888a4-888d6: Appell an den Atheisten................................................... 383 888d7-890a9: Die materialistische Welterklärung und ihre Folgen . 3 84 890b 1 -891 b7 : Notwendigkeit und Schwierigkeit einer Widerlegung 391

Gliederung

165

891b8-892dl: Die Ursache der falschen Lehre der Atheisten: Un­ kenntnis der Priorität der Seele ................................................................. 396 892d2-893b4: Methodische Vorbemerkungen und Götteranruf .... 397 893b4-896d9: Die Seele ist als Prinzip der Bewegung der Ursprung aller Dinge ................................................................................................ 399 893b6—894c9: Die zehn Arten der Bewegung .................................... 399 894cl0-895b8: Die Selbstbewegung ist der Ursprung aller Bewe­ gungen .......................................................................................................... 408 895c 1—896a4: Selbstbewegung ist die Definition der Seele....................410 896a5-896d9: Also ist die Seele die erste Entstehung und Ursache aller Dinge ................................................................................................ 411 896dl0—898c9: Das Universum wird von einer vernünftigen Seele gelenkt .......................................................................................................... 415 898c9-899a6: Wie die Seele die Gestirne lenkt ..................................... 424 899a7-899d3: Die das Universum bewegende Seele ist eine Gott­ heit. Alles ist voll von Göttern..................................................................... 425 II. 899d4-905d3: Widerlegung der Ansicht, daß die Götter sich nicht um uns kümmern.................................................................................... 427 899d4—900c7: Ansprache an einen Anhänger dieser Ansicht. Die Ursachen seiner Überzeugung ................................................................. 427 900c8-903bl: Argumentierender Beweis der göttlichen Fürsorge für das Kleine .............................................................................................. 429 903b 1—905d3: Die Bezauberung: Die Fürsorge und Gerechtigkeit der Götter ..................................................................................................... 432 III. 905d3—907b4: Widerlegung der Ansicht, daß die Götter bestechlich sind................................ 444 907b5—907d6: Abschluß der Vorrede ..................................................... 448 ß) 907d6-910e4: Das Gesetz gegen Asebie.................................................449 907d7-908a7: Anzeigepflicht. Gefängnisse............................................ 449 908a7—9098e5: Die sechs Arten von Frevlem ....................................... 450 908e5—909d2: Die für sie vorgesehenen Strafen.....................................453 909d3-910e4: Verbot von Privatkulten und von Opfern nach began­ genem Unrecht ............................................................................................455

8.-10. XI 913al-932d8: Gesetze für die zivilrechtlichen Beziehun­ gen (συμβόλαια)........................................................................ 459 8.

913al-915e9: Eigentumsrecht....................................................... 459 8.1 913 a6—914b 1 : Aneignung von vergrabenen Schätzen .... 459 8.2 914b 1-914c3: Fundsachen................................................... 461 8.3 914c3-914e2: Strittiger Besitz.............................................. 461 8.4 914e3-915a2 : Eigentumsansprüche auf Sklaven...............462 8.5 915a2-915c7: Festnahme von Freigelassenen bei Pflicht­ verletzung ...................................................................... 464 8.6 915 c7-915 d6 : Ansprüche Dritter auf rechtmäßig erworbe­ ne Sachen ...................................................................... 465

Kommentar

166

9. 915d6-922a5: Handels-und Gewerberecht ................................. 467 9.1 915d6-915e9: Rechtsschutz genießt nur der Barkauf, nicht Kreditkauf und Darlehen...............................................467 9.2 915e9-916dl: Rückgängigmachung des Kaufs wegen Sachmängel ...................................................................469 9.3 916d2-918a5: Warenverfälschung und Betrug..................... 470 9.4 918a6-920c8: Kaufmännische und gewerbliche Berufe sind Bürgern verboten ........................................................... 474 9.5 920dl-920d6: Nichterfüllung von Verträgen ...................... 478 9.6 920d7-921d3: Werkverträge mit Handwerkern................... 479 9.7 92 Id4-922a5: Soldaten als ,Handwerker4............................ 480

10. 922a6-932d8: Familienrecht ....................................................... 481 10.1 922a6-926d7: Testaments-und Erbrecht............................ 481 oc) 922a6-923c4: Vorüberlegungen und Ansprache an die Betroffenen . 482 ß) 923c4—925d5: Das Gesetz ........................................................................ 483 γ) 925d5-926d7: Ergänzungsbestimmungen: Rechtsmittel gegen die Zwangsheirat..........................................................................................487

10.2 10.3 10.4 10.5

926d8-928d4: Waisenfursorge und Vormundschaft ..........492 928d5-929d3: Verstoßung von Söhnen.............................. 497 929d3-929e8: Entmündigung des Vaters .......................... 498 929e9-930dl: Ehescheidung. Tod eines Ehepartners. Wie­ derverheiratung ............................................................. 499 10.6 930dl-930e2: Status der Kinder von Sklaven ................ 501 10.7 930e3-932d8: Vernachlässigung der Eltern und Voreltern . 501

11. 932el-938c5: Gesetze vermischten Inhalts (I): Schädigungen von Privatpersonen u.a............................................................. 505 11.1 932el-933e5: Schädigungen durch Gift und Magie........ 505 11.2 933e6-934c6: Schädigung durch Diebstahl und Raub. Der Zweck der Strafe .................................................................. 509 11.3 934c7—934d5: Raserei ....................................................... 513 11.4 934d5-936b2: Verbalinjurien: Beleidigung und Spott.... 514 11.5 936b3-936c7: Bettelei...................................................... 518 11.6 936c8-936e5: Schädigung durch Sklaven und Haustiere . 519 11.7 936e6-937d5: Zeugenaussagen........................................ 519 11.8 937d6-938c5: Rechtsverdrehung und Prozeßsucht.........522 11. XII. 941al-958c6: Gesetze vermischten Inhalts (II): Vergehen gegen das Gemeinwesen u.a...................................................... 524 11.9 941 a 1 -941 b 1 : Pflichtverletzungen von Gesandten und Herolden ......................................................................... 525 11.10 94Ib2-942a4: Diebstahl von Gemeineigentum .............. 526

Gliederung

167

11.11

942a5-945b2: Militärvergehen: Verweigerung des Heeresdienstes, Verlassen des Postens und Wegwerfen der Waffen....................................................................... 527

11.12

945b3—948b2: Die Euthynen ......................................... 534

11.13

948b3—949c5: Abschaffung des Parteien-Eids im Ge­ richtsprozeß ...................................................... 544

11.14

949c6-949e2: Verweigerung von Abgaben und sonsti­ gen Leistungen .................................................. 548

11.15

949e3-953e4: Auswärtige Beziehungen. Der Beobach­ ter ...................................................................... 550

11.16

953e5-954a4: Bürgschaften .......................................... 557

11.17

954a5-954c2: Haussuchung.......................................... 557

11.18

954c3-954e3: Verjährung von Besitzansprüchen .......... 558

11.19

954e4—955b4: Behinderung von Prozeßgegnem und Wettkämpfern.................................................... 559

11.20

955b5-955b7: Hehlerei. Aufnahme von Verbannten .. 560

11.21

955b8-955c5: Eigenmächtige Friedensschlüsse und Kriegshandlungen.......................................................... 561

11.22

955c6-955d4: Bestechlichkeit ....................................... 561

11.23

955d5-955e4: Steuern und sonstige Geldabgaben........ 562

11.24

955e5-956b3: Weihgeschenke....................................... 563

11.25

956b4-958c6: Nachträge zum Gerichtswesen ................ 564

12. 958c7-960b5: Bestattungsvorschriften ..................................... 571 D) 960b5-969d3 : Die Erhaltung der Gesetze ................................... 575 Die Nächtliche Versammlung als Organ der Erhaltung (960b5961cl0). — Die Voraussetzung der Erhaltung: Kenntnis des Ziels der Gesetzgebung, d.h. der Tugend in ihrer Vielheit und Einheit (961dl-965a8). - Die spezielle Bildung der Mitglieder der Nächtlichen Versammlung: Dialektik und Theologie (965b 1968b4). - Der Weg zur Einsetzung der Nächtlichen Versamm­ lung (968b5—969d3).

Achtes Buch

4. VIII 828al-835b7: Götterfeste. Militärische Übungen. Sportliche und musische Wettbewerbe

4.1. 828al—d5 : Festlegung der Zahl der Feste und Opferfür die Götter

Die griechische Polis war nicht nur eine politische Einheit, sondern auch ein Sakralverband, zu dessen Aktivitäten unter anderem die Durch­ führung religiöser Feste und öffentlicher Opfer für die Stadtgottheiten gehörte. Auch die Unterabteilungen der Gesamtgemeinde, also die Phylen und Demen, bildeten in Athen religiöse Gemeinschaften mit eigenen Kulten und Festen (vgl. Yunis 1988, 19 ff.). Die Organisation der Feste in Platons Magnesia unterscheidet sich hiervon nicht grundsätzlich, wohl aber in dem Ausmaß, in welchem der Kult das Leben der Polis durchdringt und die Zeit des Jahres zu einer per­ manenten Festzeit macht: Es soll nämlich täglich ein Opfer stattfinden und in jedem Monat ein Fest für den Gott, dem die jeweilige Phyle ge­ weiht ist, dazu ein Fest in jedem Demos (vgl. 77Id); hinzu kommen Frauenfeste und Feste für die unterirdischen Götter, auf deren nähere Spezifizierung der Athener hier verzichtet. Zuständig für die Regelung der Götterfeste ist — wie für alle kultischen Fragen — das delphische Ora­ kel des Apollon. Da diesem die Nennung der Götter, denen geopfert wer­ den soll, vorbehalten bleibt, kann sich der Athener auf die Angabe der Zahl der Opferfeste beschränken. Neben dem religiösen Zweck, sich der Huld der Götter für die Stadt zu versichern, kommt diesen Festen auch eine soziale und eine pädagogi­ sche Funktion zu: Sie ermöglichen den Bürgern, insbesondere den im Heiratsalter stehenden jungen Leuten, sich auf unverfängliche Weise nä­ her kennenzulemen (vgl. 77 ld—772a). Darüber hinaus wird durch die mit dem Kult verbundene Musik (Gesang und Tanz) die Wirkung der einst genossenen Erziehung wieder aufgefrischt und erneuert (653c-d). Insofern schließt die Organisation der Götterfeste sinnvoll an die Erörte-

170

Kommentar

rung der Erziehung in Buch VII an. Die vom Athener vorgetragenen Vor­ schläge sind in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlich: (1) Der magnesische Festkalender orientiert sich an einem 365tägigen Sonnenjahr, wie es die Ägypter ihrem Kalender zugrunde legten. (2) Wenn in jedem Monat ein Fest für einen der zwölf Phylen-Götter (vgl. 745d-e) stattfinden soll, so ist jedem Monat eine spezielle Gottheit zugeordnet. Eine derartige Verbindung von zwölf Göttern mit den zwölf Monaten ist vor Platon in Griechenland nicht nachweisbar (vgl. Long 1987, 177-179); in Athen z.B. verweisen von den zwölf Monatsnamen fünf auf ein Fest für Apollon, zwei auf Artemis. (3) Im klassischen Griechenland bilden die Olympischen Götter als „die Zwölf4 eine feste Gruppe, deren Zusammensetzung allerdings von Ort zu Ort variieren konnte; die am häufigsten bezeugten Zwölfgötter sind Aphrodite, Apollo, Ares, Artemis, Athena, Demeter, Hephaistos, Hera, Hermes, Hestia, Poseidon und Zeus (der Parthenonfries ersetzt Hestia durch Dionysos). Diese Gottheiten begegnen in unterschiedlichen Funktionen und an verschiedenen Stellen der Nomoi, aber nirgends als geschlossene Zwölfergruppe; daher muß offen bleiben, inwieweit sie mit den magnesischen Monatsgöttem identisch sind. Singulär ist jedenfalls die Zugehörigkeit des Pluton zu den Zwölfgöttem. Denn Pluton, der als Gemahl der Persephone mit dem Unterweltsgott Hades identisch ist, ist in klassischer Zeit nirgends als Mitglied des Zwölfgöttervereins bezeugt; erst das Scholion zu Apollonios Rhodios 2,531—532 nennt unter den Zwölf Göttern, denen die Argonauten geopfert haben sollen, statt des Ares den Unterweltsgott Hades (vgl. Long 1987, 154). Welche Gottheit des traditionellen Zwölfgötterkreises in Magnesia durch Pluton ersetzen werden soll, muß offen bleiben; Weinreich (vgl. unten) vermutet Aphro­ dite oder wahrscheinlicher den Hermes, „da der Handel im Idealstaat schlecht wegkommt“ (825). (4) Der Monat des Pluton ist der letzte Monat im Jahr. Da das Jahr in Magnesia nach der Sommersonnenwende beginnt (767c6—7), fallt der Monat des Pluton etwa in den Juni, entspricht also dem attischen Monat Skirophorion. Mit der Konzentration der chthonischen Kulte auf einen Monat weicht Platon wiederum vom attischen Festkalender ab, in wel­ chem Feste mit chthonischen Elementen in mehreren Monaten begegnen, so z.B. die Chytroi des Anthesterienfestes im Monat Anthesterion, die Eleusinischen Mysterien im Boedromion oder die Thesmophoria im Pyanepsion. Zu 1) und 2): Eine Verbindung der zwölf Monate mit zwölf Göttern be­ zeugt Herodot 2,82,1 für Ägypten, wo jeder Monat und jeder Tag einem Gott geweiht sei (vgl. dazu Long 147 f.), was letztlich auf babylonische Astronomen zurückgehen dürfte. Falls Platon durch das ägyptische Vor­

828al—d5

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bild angeregt wurde, kommt als Vermittler neben Herodot vor allem Eudoxos von Knidos in Betracht, der nicht nur Ägypten aus eigener An­ schauung kannte (vgl. Bd. II zu 799a4—b8), sondern auch mit babyloni­ scher Astronomie vertraut war (vgl. O. Weinreich, Zwölfgötter, in Ro­ schers Ausf. Lexikon der griechischen und römischen Mythologie VI, Leipzig 1924—1937, 823-825; Festugière 1947, 15-29; Merkelbach 1984, 221; Heitsch 1993, 176). Platons Regelung hat ihrerseits mögli­ cherweise als Vorbild gedient beim Synoikismos der thessalischen Mag­ neten und der Erbauung der Stadt Demetrias durch Demetrios Poliorketes, in der als einziger Polis - vielleicht durch Vermittlung des Demetrios von Phaleron — die Monate nach dem Zwölfgötterkreis benannt wurden, wobei der letzte Monat aber wie im eudoxischen System dem Poseidon geweiht war (vgl. IG IX 2 p.320; Weinreich 786; Long 216. 267); auf Platon geht vielleicht auch die Benennung der 12 Phylen nach den Zwölf Göttern im kleinasiatischen Magnesia zurück (vgl. O. Kem, Inschriften von Magnesia, Berlin 1900, 212 s. v. Phylen; Long 221-222 sowie Bd. II 141 f.). Zu 3 und 4): Für die Zuweisung des letzten Monats an Pluton sind ver­ schiedene Erklärungen vorgebracht worden. Nach Merkelbach 1984, 220 f. gehörte im Kalender des Eudoxos von Knidos, dem Platon folgt, Pluton zum Tierkreiszeichen der Zwillinge (Gemini), welches seinerseits dem Monat Juni zugeordnet gewesen sei. Es gibt jedoch kein eindeutiges Zeugnis für eine Zuordnung Plutons zu den Zwillingen durch Eudoxos; in den möglicherweise auf Eudoxos basierenden römischen Bauernka­ lendern (vgl. Weinreich 823—825) ist zu den Gemini jeweils gerade nicht Pluton, sondern Mercurius genannt, (vgl. CIL I2 S.280 = ILS 8745). Morrow (1960a, 453) und Long (1987, 179) sehen in Platons Regelung eine Analogie zu Athen, weil das dort im Monat Skirophorion gefeierte Fest der Skira mit dem Raub der Proserpina durch Pluton Zusammenhän­ ge, an den auch das chthonische Ritual erinnere, in welchem Ferkel in ei­ ne Opfergrube geworfen wurden. Das Scholion zu Lukian, Dial, meretr. 2,2 (275,23-276,28 Rabe), auf das sich diese Auffassung hauptsächlich stützt, wird jedoch von Burkert (1977, 366 Anm. 14) so verstanden, daß der Ferkelritus nicht an den Skira, sondern an den Thesmophoria vollzo­ gen wurde, wodurch ein chthonisches Ritual im Monat Skirophorion und damit eine Anregung für Platon entfällt. So spricht alles dafür, daß die Einreihung Plutons unter die zwölf Götter Platons eigene Erfindung ist. Das Motiv deutet er selber im Text an: Dem Unterweltsgott gebührt die­ selbe Ehre wie den himmlischen Göttern. Denn Pluton, dessen Name Platon richtig von πλούτος = Reichtum ableitet (Krat. 403a), ist der größte Wohltäter, weil er die Seele vom Körper und damit von den Begier­ den und Übeln des Leibes befreit (Krat. 403b-404a von Hades) und ihr

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die Rückkehr zu dem verwandten Göttlichen ermöglicht (vgl. Phaid. 79a ff., 85a-b; Tim. 81d-e; Nom. 727d, 959b). So verliert der Kult der chthonischen Götter seinen düsteren Charakter und wird getragen von der Hoffnung auf ein besseres Dasein für die Seele, wodurch der Tod seine Schrecken verliert, was eine unerläßliche Voraussetzung für die Bewäh­ rung kriegerischer Tapferkeit ist. Die Zuweisung gerade des letzten Mo­ nats des Jahres an Pluton verwirklicht die im Text geforderte strikte Tren­ nung zwischen dem Kult der chthonischen Götter und dem Kult der oberirdischen Götter und der Heroen („der diesen folgenden Wesen“), zwischen denen der Athener schon in 717a—b scharf geschieden hatte. Denn der letzte Monat ist von dem folgenden Monat durch den Neube­ ginn des Jahres getrennt, so daß keine Kontinuität der sakralen Zeit be­ steht. 828a3 besser und vorteilhafter (αμεινον καί λωον): Die Junktur (bei Platon nur noch Phil. Ilb9) gehört dem Orakelstil an (Belege bei C. A. Lobeck, Aglaophamus II, Königsberg 1829, 1093-1094).

828a5 wenigstens für einige von ihnen: Die Einschränkung ενιά γ’ läßt die Möglichkeit zu, daß der Gott durch das Orakel auch den Zeitpunkt festsetzt (so z.B. 804a-b). 828b4 die Ausleger: 7ajl den Auslegern (Exegeten) vgl. Bd. II 396 (zu 759c). 828b5 was der Gesetzgeber zwangsläufig beiseite lassen muß: Vgl. 769d, 770b, 772a-b, 779d, 918a, 957a und Bd. II438. 828c5 unter Ausschluß der Männer: Frauenfeste wie die attischen Thesmophoria oder die Skira gab es besonders im Demeterkult wohl in allen griechischen Städten (vgl. Burkert 1977, 365 ff.). Prozessionen von Frauen wurden bereits 784d5 erwähnt.

4.2. 828d5—832d8: Militärische Übungen

Zajl den Pflichten des Polisbürgers gehörte die Verteidigung der Stadt. Eine wirksame Verteidigung ist aber nicht möglich ohne eine angemesse­ ne militärische Ausbildung und regelmäßige Wehrübungen der Bürger. In Athen allerdings scheint auf ein regelmäßiges militärisches Training der die Infanterie stellenden Bürger wenig Wert gelegt worden zu sein (Morrow 1960a, 334), da die militärische Stärke Athens wesentlich auf der Flotte beruhte. Perikies stellt daher im thukydideischen Epitaphios fest, daß in anderen Städten schon die Kinder sich mit anstrengenden Übungen um die Tapferkeit bemühen, während die Athener eine unge­ zwungene Lebensweise führen und dennoch den Spartanem militärisch

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ebenbürtig seien (Thukydides 2,39,1). Platons Magnesia ist hingegen ei­ ne Stadt ohne Flotte (704b ff.); ihre Verteidigungsfähigkeit beruht aus­ schließlich auf dem Landheer. Während dieses im 4. Jh. allmählich aus Söldnern rekrutiert wurde, hält Platon am Ideal des aus Bürgern gebilde­ ten Hoplitenheeres fest. Um dessen Schlagkraft zu sichern, haben die Bürger militärische und sportliche Übungen zu absolvieren, die gemäß 829a-b und 830d-e in zwei Kategorien zerfallen: (1) „kleine“ Übungen ohne Waffen, die möglichst täglich durchzuführen sind (83Od) und bei denen es sich im wesentlichen um gymnastische Übungen zur Steigerung der physischen Kraft handeln dürfte, und (2) „größere“ Übungen, die mindestens jeden Monat stattfinden (830d) und aus Wettkämpfen in mili­ tärischen Fertigkeiten bestehen sollen; das mit solchen Wettkämpfen ver­ bundene Gefährdungsrisiko soll dem des wirklichen Krieges möglichst nahekommen und sogar tödliche Verletzungen nicht ausschließen (831a). 828d5—829c 1: Die Stadt muß sich schon im Frieden auf den Krieg vor­ bereiten. Um die Notwendigkeit militärischer Übungen zu begründen, hätte die Feststellung genügt, daß die Stadt im Angriffsfall zur Verteidigung fähig sein muß (vgl. 737d, 758a, 806a-b, 814b, 830c-d). Statt dessen leitet der Athener die Notwendigkeit, sich schon im Frieden auf den Krieg vor­ zubereiten, in einer lückenlosen Deduktion aus dem Ziel der Gesetzge­ bung ab: 1) Ziel der Gesetzgebung ist das „gute Leben“ (die Eudämonie) des Einzelnen und der Stadt (631b; 683b; 718b; 742e u. ö.). 2) Das glückliche Leben des Einzelnen (vgl. den Singular αγαθόν 829a6) setzt voraus, daß man weder anderen Unrecht tut noch von ande­ ren Unrecht erleidet (vgl. 663a5-7). 3) Die Fähigkeit, kein Unrecht zu tun, ist nicht besonders schwer zu er­ werben; hingegen ist die Fähigkeit, kein Unrecht zu erleiden, so schwer zu erwerben, daß man, um sie vollkommen zu erwerben, erst „vollkom­ men gut“ sein müsse. 4) Dann gilt auch für die Stadt: Wenn sie „gut“ ist, lebt sie in Frieden, wenn sie „schlecht“ ist, wird ihr Krieg nach außen (d. h. mit den Nach­ barn) und im Innern (d. h. Bürgerzwist, Stasis) zuteil. 5) Deshalb muß man sich bereits im friedlichen Leben auf den Krieg vorbereiten und regelmäßig die von den Behörden festgesetzten kriege­ rischen Übungen durchführen. Der überraschendste Schritt der Argumentation ist der dritte. Da Un­ rechttun nach sokratischer Überzeugung ein größeres Übel als das Erlei­ den von Unrecht ist (vgl. Gorg. 509c), erwartet man, daß zu seiner Ver­

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meidung besonders große Anstrengungen nötig sind. Während Sokrates Gorg. 509d—e daher für das Vermeiden von Unrechttun eine eigens zu er­ lernende Kunst fordert, wird es hier als nicht allzu schwer bezeichnet wohl deshalb, weil das Vermeiden ungerechten Tuns vom eigenen Wil­ len abhängt und weil hierfür in Magnesia die besten Voraussetzungen vorhanden sind. Um kein Unrecht zu tun, bedarf der Einzelne der Mäßi­ gung und der Gerechtigkeit, also der Tugenden, deren Erwerb ihm in Magnesia durch Erziehung und gesetzliche Maßnahmen erleichtert wird. Bei einer Stadt würde das gegenseitige Unrechttun nach Ausweis des Kontextes darin bestehen, andere Städte mit Krieg zu überziehen. Dazu fehlt aber in Magnesia jeder Anreiz, weil durch die besondere Konstruk­ tion der Stadt (Unveränderlichkeit der Größe des Territoriums, Begren­ zung des Besitzes, Fehlen guter Häfen usw.) die Motive für einen Erobe­ rungskrieg weitgehend ausgeschaltet sind (vgl. die Ablehnung imperia­ listischer Expansionspolitik 687a, 962e; 737d, 742d). Das Vermeiden des Unrechtleidens ist nach Meinung des Sokrates un­ ter den bestehenden Verhältnissen nur zu erreichen, indem man entweder selber die Macht erringt oder sich der herrschenden Macht angleicht (Gorg. 510a). Hier dagegen wird die Fähigkeit, kein Unrecht zu erleiden, an die Voraussetzung gebunden, daß man vollkommen „gut“ (τελέως α­ γαθόν 829a5—6 bzw. αγαθή mit Bezug auf die Stadt) ist. αγαθόν wird von G. Müller 1951, 62 und Varvaro 1967, 2002 als „tapfer“ verstanden. Hiergegen spricht aber der Zusatz τελέως („vollkommen“); denn mit „vollkommen gut“ kann nicht die Tapferkeit gemeint sein, die nur den „vierten und kleinsten Teil“ der Tugend darstellt (631a), sondern nur die gesamte Tugend. An der einzigen weiteren Stelle, an der in den Nomoi das Adjektiv αγαθή einer Stadt beigelegt wird, heißt es, daß eine Stadt als „gut“ bezeichnet werden kann, wenn in ihr die Gerechten über die Ungerechten siegen (627b); denn gerade im größten aller Kriege (der Stasis) ist als Tugend die „vollkommene Gerechtigkeit“ (δικαιοσύνη τελέα 630c6) erforderlich. Gerechtigkeit macht nach der Politeia eine Stadt „gut“ (433d2, 434e2, 449al, 472el, 543c9); eine Stadt, die richtig angelegt ist, ist „vollkommen gut“ (τελέως αγαθή) und daher weise, tapfer, besonnen und gerecht (427e7). In der Gesamttugend ist natürlich auch die Tapferkeit ein wichtiges Element, zumal im Hinblick auf den Krieg. Aber so wie die bloße Tap­ ferkeit im Bürgerkrieg nicht ausreicht, um den Frieden herbeizuführen (630a-c), so genügt sie auch nicht im Hinblick auf den äußeren Krieg. Beispielsweise ist für eine wirksame Landesverteidigung einmütige Ge­ schlossenheit oder „Freundschaft“ unter den Bürgern erforderlich (698c, 699c); Freundschaft aber setzt Gerechtigkeit voraus (757a ff.). Dem mili­ tärischen Training abträglich sind Geldgier und eine ungerechte Verfas-

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sung (831b-832c), die die heutigen Städte in Herrscher und Beherrschte spalten. Diesen Städten fehlen die Tugenden der Mäßigung (Sophrosyne) und der Gerechtigkeit; es sind daher keine „guten“ Städte. Solche Tugenden müssen aber bereits im Frieden entwickelt und geübt werden (829a8-b2). Dies hatte der Athener schon in 803d-e gefordert, wo er den Sieg über die Feinde nicht als eine Folge der Tapferkeit, son­ dern der richtigen Gestaltung des Lebens im Frieden hinstellte. Im folgenden handelt der Athener allerdings doch nur von militäri­ schen Übungen, also primär von der Einübung der Tapferkeit (829b2f£). Aber dadurch, daß das Kriterium für die Zuerkennung der „Siegespreise und Auszeichnungen“ nicht nur der Sieg im Wettkampf, sondern die ge­ samte Lebensführung ist (829c4) und daß als Dichter für Preisgesänge auf die Sieger in den Kampfspielen nur „gute“ und geehrte Männer zuge­ lassen werden (829c-d), kommt auch hier wiederum die umfassende Per­ spektive zur Geltung. 828d8 hinsichtlich der freien Zeit: Zur reichlich vorhandenen Muße vgl. 832dl-2, 835d7f£, 846d; zur Ausstattung mit allem Notwendigen vgl. 774c6; 806d7ff.

829a2—3 weder einander Unrecht zufügen noch von anderen Unrecht erleiden: εαυτούς fasse ich wie z.B. 678c5 als funktionsgleich mit ei­ nem reziproken άλλήλους auf (vgl. auch das reziproke σφας αυτούς αδικεΐν Aristoteles Pol. 1280b 19; Kühner - Gerth I 573 £). Gegen Eng­ lands Interpretation als echtes Reflexivum [„sin against ourselves“] spricht die enge Parallele Gorg. 509d sowie Nom. 663a5—6 (μήτε τινά αδικεΐν μήτε υπό τίνος άδικεΐσθαι als Element der Eudämonie). Sprachlich unzulässig ist die Wiedergabe durch „selbst“ (so Apelt und Schöpsdau 1977), die αυτούς erfordern würde. - Priscians Feststellung dicunt εαυτούς άδικούσιpro άλλήλους (Inst. 18,177 GLK III 290,10) kann durchaus auf die vorliegende Stelle zielen, zumal Priscian auch GLK III 291,11. 14 und 313,15 aus den Nomoi zitiert. 829a7-8 nach außen und innen: Zu diesen beiden Arten des Krieges vgl. 628a—d, 629c-630b.

829bl—2 während des Lebens im Frieden: Vgl. Bd. II 550—551.

829b5—6 und die Männer zusammen mit den Frauen und Kindern, falls die Beamten beschließen, die ganze Bevölkerung ausrücken zu las­ sen, usw. Die in der Politeia erhobene Forderung, daß die Wächter ihre Kinder mit in den Krieg nehmen, um sie an ihre spätere Tätigkeit zu ge­ wöhnen (466e ff.), wird hier, allerdings nur für das Manöver, auf die ge­ samte Bürgerschaft ausgedehnt. Bei einem Kriegszug des gesamten Auf­ gebots (πανδημεί) ins Ausland sollen die Kinder jedoch in der Stadt zu­

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rückbleiben (814a). Die beiden Möglichkeiten - Ausrücken der ganzen Bevölkerung oder nur von bestimmten Abteilungen - entsprechen wohl der athenischen Praxis (vgl. zu 943a3-4).

829c2—829e5: Vorschriften für Lob- und Rügelieder. Die auf die Sieger bzw. Verlierer zu singenden Loblieder und Rügelie­ der (εγκώμιά τε και ψόγους) sollen als Leistungsanspom dienen — nicht anders als die Spottgesänge (σκώμματα) und Loblieder (εγκώ­ μια), die nach der Nachricht Plutarchs (Lyk. 14,5-6) die spartanischen Mädchen auf ihre männlichen Altersgenossen singen durften. Die sonst für die Dichter Magnesias geltenden Beschränkungen - Loblieder dürfen nur auf Verstorbene gesungen werden (801c), Spott über andere Bürger ist generell verboten (935d—936a) — werden bei diesen Liedern außer Kraft gesetzt; die Anforderungen an die musikalische Qualität (vgl. 669b-670a, 802b) treten zurück hinter der Forderung nach moralischer Integrität der Dichter. Vor allem genießen die Dichter solcher Lob- und Rügelieder als einzige künstlerische Freiheit (παρρησία 829d6, e5), sind also durch keine Vorgaben des Gesetzgebers (vgl. 656c ff., 799a ff., 802c, 813a) eingeengt, wohl aber müssen sie ihr fertiges Produkt dem „Erzieher“ (= Aufseher über die gesamte Erziehung) und den Gesetzeswächtem vorlegen, die es für geeignet erklären müssen. Da die musikali­ sche Qualität dieser Lieder sekundär ist, sind an ihrer Begutachtung - an­ ders als in den 801a8—d8 genannten Fällen — keine musikalischen Fach­ leute beteiligt. 829c2 Siegespreise und Auszeichnungen (νικητήρια δε και αρι­ στεία): „Siegespreise“ werden in Magnesia gewöhnlich für einen Sieg in einem musischen, sportlichen oder militärischen Wettbewerb oder für Bewährung im Krieg vergeben (vgl. 657e, 658a, 800d, 832e, 833c, 943c 955a); aber auch im ,Wettstreit um die Tugend4 (vgl. 845dl-2) gibt es Siegespreise (964b4; vgl. auch 730d, 953d). „Auszeichnungen“ (die von Platon nicht präzisiert werden) belohnen die in diesen Leistungen sich äußernde innere Haltung, etwa den Einsatz für die Stadt, Gesetzesgehor­ sam oder die Tugend überhaupt; Träger der höchsten Auszeichnungen dieser Art sind vor allem die Euthynen (919e, 946b. e, 948a, 951 d; ferner 935cl und 952d4); als Auszeichnung für militärische Leistungen ge­ braucht Platon das Wort αριστεία außer hier nur noch Nom. 943cl und Menex. 240e6 (dort für die Sieger von Marathon, was gängigem Sprach­ gebrauch entspricht: vgl. z.B. Herodot 8, 123, Isokrates, Or. 9,16). 829d8—el die Hymnen des Thamyras und des Orpheus: Orpheus und Thamyras waren mythische Sänger aus Thrakien. Thamyras forderte die Musen im Gesang heraus, wurde von diesen besiegt und zur Strafe mit

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Blindheit geschlagen und der Sangeskunst beraubt (vgl. Homer, II. 2,594 ff.). - Orpheus soll durch seinen Gesang sogar Tiere, Pflanzen und Bäume bezaubert haben. Zu Platons Orpheus-Bild vgl. Wilke 1997, 8285.

829e4—5 Dieselben Bestimmungen aber usw. : Zur militärischen Dienstpflicht der Frauen vgl. 785b5-9, 804d-e, 805c-d, 806a-c, 813e814b. 829e6—83 lb3 : Notwendigkeit militärischer Übungen. Die Notwendigkeit militärischer Übungen wird durch einen Analogie­ schluß a minore ad maius aufgezeigt: Wenn schon die Pankratiasten und Boxer zur Vorbereitung auf die sportlichen Wettkämpfe täglich trainieren (830a2-c4), so erfordert der größte Kampf gegen Tausende von Gegnern (830al-2), in dem es um die Existenz von Familie und Stadt geht (830c9—dl), um so mehr eine intensive Vorbereitung durch tägliche und monatliche Übungen (830c7-831bl). Der Sport wird von Platon öfters als Vergleichsgröße herangezogen (Belege im Komm, zu 807c4-dl; vgl. auch Sokrates bei Xenophon, Mem. 3,12,1). Das Boxen eignet sich besonders für den Vergleich, da Boxen ein Kampfsport ist, der physische Kraft und Mut erfordert (wes­ halb in Sparta das Boxen als eine Form militärischen Trainings gepflegt wird: Xenophon, Lak. pol. 4,6); außerdem ist beim Boxen eine Abstu­ fung zwischen dem Trainingskampf mit Boxhandschuhen und dem wirk­ lichen Kampf üblich. 829e7—830c4 Der Gesetzgeber muß aber folgendes bedenken: Das Stück beginnt mit einer dialogischen Selbstbefragung des Gesetzgebers, die im Laufe der Argumentation fugenlos in das Gespräch des Atheners mit seinen beiden Partnern übergeht. Diese Selbstbefragung vertritt hier die sonst übliche Befragung des Gesetzgebers durch den Athener in ei­ nem fiktiven „Dialog im Dialog“, z.B. 648a8-649a7, 662c5-663a7, 690dl-e5, 709dl0-710a2, 719a7-e5 (vgl. auch die an andere Adressa­ ten gerichteten fiktiven Dialoge 629b8-e7, 817a4-d8, 893b6-894a8 und 963b3—7).

830al Athleten für die bedeutendsten Kämpfe: Vgl. Resp. 403e8—9 von den Wächtern.

830a6—c4 Oder wenn wir Faustkämpfer wären usw.: Der Abschnitt unterscheidet drei Formen des Boxtrainings: (1) Kampf gegen einen wirklichen Gegner, wobei die Hände mit „Bällen“ umwickelt sind; (2) Kampf gegen eine leblose Puppe, falls ein Gegner fehlt; (3) Schattenbo­

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xen als „Kampf gegen sich selbst“, wenn weder ein Gegner noch eine Puppe zur Verfügung steht. (1) Aussehen und Wirkung der σφαΐραι (b4; wörtlich „Bälle“) werden von den Sporthistorikem unterschiedlich beurteilt (vgl. Doblhofer Mauritsch 1995, 274-275). Ein Teil der Forscher hält die σφαΐραι für gesundheitsgefährdender als die Boxriemen (Ιμάντες) mit der Begrün­ dung, daß es im vorliegenden Fall um möglichst wirklichkeitsnahes Üben der Kriegstechniken gehe. Aber nach Ausweis des Textes soll die Benutzung der σφαΐραι das Training dem wirklichen Boxkampf (und nicht dem kriegerischen Kampf) möglichst ähnlich machen. Daraus folgt, daß die σφαΐραι zwar die Schlagwirkung der bloßen Faust erhö­ hen sollten, aber nicht die brutale Wirkung der Boxriemen erreichten, die „die Wangen der Männer mit Blut besudeln“ (Apollonios Rhodios, Ar­ gon. 2,59). Es dürfte sich also bei den „Bällen“ um gepolsterte Faust­ handschuhe gehandelt haben (so auch Decker 1998). (2) Die „leblose Puppe“ hat die Funktion des κώρυκος, eines mit Feigenkemen, Mehl oder Sand gefüllten Sackes, den man mit Schlägen traktierte (vgl. dazu Jüthner 1921, 1450 und Doblhofer - Mauritsch 279 und 307). (3) Das „Schwingen der Fäuste“ (χειρονομεΐν) dürfte im Ausfall mit der Faust und in verschiedenen Arten der Parade bestehen (Jüthner 1899). Da die Hiebe hier mangels eines Gegners oder einer Puppe gleichsam ge­ gen den eigenen Schatten gehen, liegt ein „Schattenboxkampf‘ (σκιαμαχεΐν) im wirklichen Sinne (όντως) vor und nicht nur im Sinne eines Scheinhiebes zur Täuschung des Gegners oder einer Aufwärmübung vor dem Kampf; vgl. dazu Doblhofer - Mauritsch 300. 301. 307-8. 830d6—7 Was aber gleichsam die größeren Formen der „Gymnastik“ betrifft: Die Worte οίόν τινας (d6) sind nicht zu tilgen, denn sie gehören sinngemäß zu γυμνασίας und kennzeichnen dieses Substantiv, das nach der Erwähnung der Gymnastik in d6 zunächst als gymnastische Übungen zu verstehen ist, als Metapher für militärische Übungen. Die von Ficino nicht übersetzten Worte τε καί έλάττους (d7) werden von Ast und Her­ mann wegen σμικρά (d5) wohl mit Recht getilgt. Die Einfügung von ένοπλίους „in Waffen“ für οίόν τινας (so Stallbaum) oder für έλάττους (so England, Diès) erübrigt sich, da sich der bewaffnete Charakter der Übungen aus dem Gegensatz zu d5 („ohne Waffen“) von selbst ergibt.

830e3—831a3 sich einen wirklichen Kampfmit abgestumpften Speeren liefern sollen und mit Würfen, die den wirklichen möglichst nahe kom­ men: Das von Platon hier angedeutete Kampftraining dürfte mit dem in 834a als πελταστική beschriebenen Kampfspiel identisch sein, bei dem u.a. mit Speeren, Steinen und Schleudern gekämpft werden soll. -

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Schwierigkeiten macht die Wendung όντως σφαιρομαχείν (e3). Saun­ ders 1972, Nr. 69 S. 67—70 nimmt in seinen scharfsinnigen Bemerkungen für σφαιρομαχείν die allgemeine Bedeutung „Kampftraining“ an und deutet όντως als Hinweis darauf, daß es jetzt um ein wirkliches Training für einen wirklichen Kampf (und nicht nur für einen sportlichen Kampf) geht; allerdings hätte dann όντως, was Saunders selber einräumt, einen anderen Sinn als in der vergleichbaren Wendung 830c3 σκιαμαχείν όν­ τως. Ich folge daher der Deutung von Poliakoff 1986, 91 ff, wonach das Verbum hier einen Kampf mit Wurfspeeren bezeichnet, deren Spitze zur Vermeidung von schweren Verletzungen mit einer kugelförmigen Schutzkappe (σφαίρα) überzogen ist, also mit βέλεσι,ν έσφαιρωμένοις. Das Substantiv σφαίρα ist in dieser Bedeutung zwar erst bei Kle­ mens Alex., Strom. 2,60,5 belegt, das Verbum σφαιρόω („mit einer Schutzkappe überziehen“) begegnet aber schon bei Xenophon, Reitkunst 8,10 und Aristoteles, Nik. Eth. 3,2. Illlal2.

831 al den einen Ehren, den anderen aber Entehrungen in der rechten Weise zuerkennt: Zur richtigen Verteilung der Ehren als Voraussetzung einer guten Verfassung vgl.63 le, 632b, 648c, 696c, 738e, 757c u. ö.

831a3—5 Und selbst wenn einer auf diese Weise ums Leben kommt usw. Vgl. das entsprechende Gesetz 865a-b, das für den Verursacher des Todes wie in Athen (vgl. Demosthenes, Or. 23,53) Straffreiheit vorsieht. Solche Kämpfe bieten als Prüfstein (831a8) für die Tapferkeit der Bürger dem Gesetzgeber gleichsam einen Ersatz für den fehlenden Trank zur Er­ regung der Furcht, der eine gefahrlose Prüfung der Tapferkeit ermögli­ chen könnte (vgl. 647e ff). 831b4—832d8: Die beiden Ursachen für das Unterlassen solcher Übun­ gen in den heutigen Staaten. Die erste Ursache sieht der Athener in einer psychischen Disposition (vgl. ήθος 832b6), nämlich der Liebe zum Reichtum, die nicht nur die kriegerischen Übungen (= τούτο 831d2; vgl. auch Resp. 422a-d), son­ dern jede „schöne Beschäftigung“ (831d2-3; e5) verhindert, weil sich die Befriedigung der ,animalischen4 Bedürfnisse des Essens, Trinkens und des Sexualtriebs (831d8) in den Vordergrund schiebt und weil die Geldgier die als Naturanlage vorhandene Tapferkeit und Besonnenheit depraviert, so daß sich die Bürger unedlen Berufen zuwenden (831e6— 832al), durch die sich allerdings der „Hunger“ ihrer Seele nicht stillen läßt (832a 1—6). Als weitere Ursache von Geldgier wird in dem späteren Abschnitt über die Motive von Mordtaten (870a—c) neben der angebore­ nen Neigung noch die Beeinflussung durch die öffentliche Hochschät­ zung des Reichtums genannt (870a5-b6).

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Die zweite Ursache ist politischer Natur. Wenn die Herrschaft der Re­ gierenden nicht auf Konsens, sondern auf Gewalt basiert, müssen die Re­ gierenden zur Sicherung ihrer Macht verhindern, daß die Regierten tap­ fere Krieger werden (832b 10—c9). Im Unterschied zu diesen PseudoVerfassungen (wörtl. ,Nicht-Verfas­ sungen6 ού πολιτείας 832b 10 wie 712el0, 715b3), die einer Partei die Herrschaft sichern, hält die Staatsordnung Magnesias beide Übel fern. Denn sie gewährt den Bürgern die zu den militärischen Übungen erfor­ derliche Muße, weil die Arbeit den Sklaven übertragen ist (806d-e, 828d7, 835d7ff., 846d), sie garantiert ihnen Freiheit, weil sie nicht von anderen Bürgern, sondern vom Gesetz als dem obersten Souverän regiert werden (vgl. 715c-d) und schiebt der Geldgier durch geeignete Gesetze (832d3) einen Riegel vor (vgl. 741e-745a). Es hängt also durchaus auch von den Gesetzgebern ab (vgl. νο­ μοθετούμενοι 832c9), ob ein Staat diese Übungen durchführen kann. Wenn der Athener in 831b7—cl dennoch die Gesetzgeber von einer Schuld am Unterlassen dieser Übungen ffeispricht, dann ist dies so zu verstehen, daß die heutigen Gesetzgeber, selbst wenn sie die Notwendig­ keit solcher Übungen einsehen, sie unter den bestehenden Verhältnissen nicht einfiihren können, wenn nicht zuvor das Streben nach materiellem Besitz beseitigt und eine auf Konsens beruhende Verfassung eingerichtet wird. 831b5 Chortanz und Wettkampf (χορεία και αγωνία): England z. St. bezieht das erste Substantiv auf die kleineren und das zweite auf die grö­ ßeren Übungen, die 830d5-6 unterschieden werden. Besser scheint es, in den beiden Substantiven die zwei Seiten aller militärischen Übungen ausgedrückt zu sehen: die spielerische und die ernste, die in 832d5-6 als παιδιά πολεμική (kriegerisches Spiel) und als παιδεία (Erziehung) bezeichnet werden. Kriegerische Übungen werden 813d—e als eine Form der Gymnastik bezeichnet und lassen sich somit wie die Gymnastik (vgl. 672e) dem Chorreigen subsumieren. 831c6 wenn aber an diesem die ganze Seele ... hängt (κρεμαμένη): Zum Bild vgl. 732e6.

831d8—e2 wie ein Tier alles mögliche zu essen usw. : Essen, Trinken und Sexualität sind die stärksten Triebe: 782e—783a. Der Vergleich mit dem Tier (ähnlich Epist. VII 335b) zielt nicht darauf, daß Tiere in ihrem Triebverhalten maßlos sind, sondern darauf, daß ein Mensch, der sein ganzes Streben auf die Befriedigung dieser Bedürfe beschränkt, damit auf der Ebene eines Tieres verbleibt, welches nur diese Triebe kennt (vgl. z.B. auch Xenophon, Hier. 7,3).

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831e6: Ich übernehme Hermanns Tilgung von έώσα, das nach Post 1939, 98 durch Dittographie von (ίκαν-) ως + à (-σκειν) entstanden ist. Diès ändert es nach Burys Vorschlag in έάσαι. 831e6—832al Kaufleute, Schiffsreeder usw.: Zu Platons negativer Be­ urteilung der Kaufleute und Händler (sowie der Reeder) vgl. 643e, 842d und vor allem 918b—919d. — Hinter der Antithese κόσμιοι und ανδρείοι stehen die Tugenden der Sophrosyne und der Tapferkeit (vgl. 681b3^4·, Phaid. 68d—e, Gorg. 506e-507a, Resp. 399ell, 410d-e, Pol. 309b ff.), die hier als angeborene Anlage gefaßt sind.

832a5 in ihrer Seele ständig Hunger zu leiden: πεινάν bzw. πείνα als Metapher für ein starkes Verlangen steht auch Nom. 837c2 (nach dem Körper eines Geliebten), Phil. 52al—2 (nach Erkenntnis), Epist. VIII 354c4 (nach der Tyrannenherrschaft); ferner z.B. bei Xenophon. Symp. 4,36 und Kyr. 8,3,39 (nach Geld), Oik. 13,9 (nach Anerkennung). Eng­ land z. St. deutet das Hungern der Seele so, daß der Geldgierige mit der Befriedigung der animalischen Bedürfnisse nur dem Körper Befriedi­ gung verschafft, während die Seele hungern muß. Mir scheint die Auf­ fassung plausibler, daß die Seele deswegen ständig hungert, weil das Verlangen nach Reichtum und Befriedigung der animalischen Bedürfnis­ se unersättlich ist (daß das Verlangen nach Reichtum von der Seele aus­ geht, ergibt sich aus 831c6 sowie aus 870al-5). 832al0: Wilamowitz’ Tilgung von διά (1920, II 404) zerstört die Par­ allelität zu διά βίου (a5).

832cl in unserem früheren Gespräch mehrmals erwähnt: z.B. 710d ff., 712c ff., 714a.

832d5—6 Einheit von kriegerischer Erziehung und kriegerischem Spiel: Zum Wortspiel (παιδεία und παιδιά) vgl. 803d5-6 und den Komm, zu 656c2.

4.3. 832d9—834d7: Sportwettkämpfe. Leitender Gesichtspunkt für die Auswahl der sportlichen Übungen ist das physische Training für den Krieg (vgl. auch 796a, 813d—e, 814d u. ö.). Da der Krieg sowohl Schnelligkeit als auch Körperkraft erfordert (833al—2; vgl. Xenophon, Lak. pol. 1,4), soll es zwei Arten von gymnischen Agonen (Wettkämpfen) geben: Laufwettbewerbe (A) und Waffen­ kämpfe (B). Dazu kommt als dritte Sportart der hippische Agon, d.h. der Wettkampf zu Pferd (C). Im einzelnen ergeben sich folgende Disziplinen:

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Kommentar

A) Laufwettbewerbe (δρόμοι 833d6) in Waffen (833a4. 9): 1) Stadionlauf (über die Länge des Stadions); 2) Doppellauf (δίαυλος) über die doppelte Stadionlänge durch Rückkehr zum Ausgangspunkt; 3) Pferdelauf (έφίππιος) = Lauf über die Länge der Pferdestre­ cke; 4) Langlauf (δόλιχος); zur Länge s.u.; 5) Geländelauf in schwerer Rüstung über 120 Stadien durch ebe­ nes Gelände; 6) Geländelauf in leichter Bewaffnung über 200 Stadien durch schwieriges Gelände. B) Wettbewerbe in der Körperkraft (κατ’ ίσχύν 833d7): 1) Kampf in schweren Waffen (Hoplomachie) als Einzel- und Mannschaftswettbewerb ; 2) Kampf in leichten Waffen (Peltastik). C) Wettkämpfe zu Pferd (834b 1): 1) Pferderennen (in drei Kategorien je nach Alter des Pferdes); 2) Kämpfe für berittene Bogenschützen und Speerwerfer. An allen Sportarten sollen sowohl Männer als auch Frauen teilnehmen; doch sieht Platon im einzelnen folgende Differenzierungen vor: Die Laufwettbewerbe (A) der männlichen Teilnehmer werden entspre­ chend den drei Alterstufen (Männer, Jünglinge, Knaben) über unter­ schiedliche Distanzen durchgeführt. Bei den Frauen gibt es zwei Alters­ klassen, eine für die Mädchen bis zur Pubertät (zum 13. Lebensjahr) und eine für die heiratsfähigen Mädchen vom 13. Lebensjahr bis mindestens zum 18. und höchstens zum 20. Lebensjahr (833c—d). Während die jün­ geren Mädchen (wie die männlichen Athleten) nackt antreten sollen, ha­ ben die Mädchen ab 13 Jahren in „schicklicher Kleidung“ anzutreten (833c-d; Näheres unten z. St.). Nach dem strikten Wortlaut von 833dl-2 sollen die Mädchen der jüngeren Altersgruppe nicht am Geländelauf teil­ nehmen; Analoges ist dann auch für die jüngste männliche Altersstufe anzunehmen. Ob auch die heiratsfähigen Mädchen vom Geländelaufbe­ freit sind, geht aus dem Text nicht eindeutig hervor. An den Kampfspielen (B) sollen nur die Mädchen der höheren Alters­ gruppe teilnehmen (834a). Daraus darf geschlossen werden, daß auf Sei­ ten der männlichen Teilnehmer die Knaben von den Kampfspielen be­ freit sind. An den Wettkämpfen zu Pferd (C) dürfen sowohl die jüngeren als auch die älteren Mädchen teilnehmen (834d), sofern sie aufgrund der voraus­ gegangenen Übungen dazu fähig sind. Bedingt durch die militärische Zielsetzung unterscheidet sich das für Magnesia vorgesehene sportliche Wettkampfprogramm wesentlich von

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dem der klassischen griechischen Sportfeste, vor allem der Olympischen Spiele. Die klassischen Laufwettbewerbe ersetzt Platon durch Läufe in Waffen; an die Stelle des Ringens und des Pankrations tritt, wie aus­ drücklich vermerkt wird (833d7, 834a4), der Kampf in schweren bzw. in leichten Waffen. Von den übrigen olympischen Disziplinen fehlen das Wagenrennen sowie die zum Fünfkampf gehörigen Wettbewerbe im Dis­ kuswerfen und im Weitsprung. Das ebenfalls als Teil des Fünfkampfs ausgetragene Speerwerfen ist in Magnesia Teil des Kampfs mit leichten Waffen. Zu Platons Beurteilung des Sports in seinen Dialogen vgl. Dom­ browski 1979.

833a7—d6: Laufivettbewerbe. Für das Laufen schreibt Platon sechs verschiedene Wettbewerbe vor, die - abweichend von der üblichen Praxis - alle in Waffen stattfinden sollen (genauere Angaben über die Bewaffnung macht Platon allerdings nur für die beiden letzten Läufer). Die Streckenlänge für den Stadionlauf betrug in Olympia rund 192 m, in Athen 184 m; der Doppellauf durch das Stadion zum Wendepunkt und zurück zum Ziel hatte die doppelte Länge. - Der sog. Pferdelauf ging laut Pausanias 6,16,4 über eine Di­ stanz von zwei Diauloi, also knapp 770 m. Der Name rührt wohl daher, daß die Strecke einem Umlauf auf der Pferderennbahn entsprach. Die olympischen Spiele kannten diesen Lauf nicht; bei anderen panhellenischen Wettspielen wurde er nur vorübergehend veranstaltet (Weiler 1981, 152). — Für den Langlauf (δόλιχος) geben die antiken Quellen un­ terschiedliche Längen an, die von 7 bis 24 Stadien reichen. Morrow (1960a, 381 Anm. 289) nimmt als Normallänge 12 Stadien, Jüthner (1968, 108f.) 20 Stadien an, doch muß mit lokalen Variationen gerechnet werden (Weiler 152). - Die beiden Geländeläufe des Hopliten über zwei­ mal 60 Stadien (= ca. 23 km) bzw. des Bogenschützen über zweimal 100 Stadien (= ca. 38 km) sind Platons eigene Erfindung. Es gab zwar in Olympia einen „Waffenlauf6 (οπλίτης oder οπλίτης δρόμος, auch το οπλον), aber dieses Rennen ging nur über die Distanz eines Diaulos und fand innerhalb des Stadions statt (dazu Weiler 154); die hierbei ursprüng­ lich getragene Bewaffnung (Helm, Schild, Beinschienen) reduzierte sich im Laufe der Zeit auf den bloßen Schild. Geländeläufe waren in Grie­ chenland keine sportliche Disziplin; sie waren aber erforderlich zur ra­ schen Überbringung militärischer Nachrichten (vgl. Herodot 6,105; 9,12; Platon, Prot. 335e); dies dürfte der Grund sein, weshalb Platon sie in sein Sportprogramm aufnimmt, wobei er die physischen Anforderun­ gen durch das Tragen von Waffen noch erhöht. Dementsprechend über­ trägt er die bisher für einen Lauf im Stadion übliche Bezeichnung „Hoplit“ auf den Geländeläufer in schweren Waffen, auf den sie besser paßte,

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da dieser „schwerer“ (βαρύτερον b4) bewaffnet war als der nur noch mit dem Schild bewaffnete Läufer im Stadion. Der andere Läufer erhält die Bezeichnung „Schütze“ (so Saunders 1972, Nr. 71 S.71ff, der das Komma vor τοξότην b5 hinter τοξότην zu versetzen vorschlägt). Auch den Ablauf der Laufwettbewerbe hat Saunders geklärt. Danach werden zuerst (πρώτον b2) die beiden Geländeläufe gestartet, indem die Teilnehmer (Hopliten bzw. Bogenschützen) aus dem Stadion geschickt werden. Bis zur Rückkehr dieser Läufer werden im Stadion die anderen vier Laufdisziplinen ausgetragen. Wenn die Geländeläufer zurückge­ kommen sind, werden an den siegreichen Hopliten bzw. Bogenschützen und an die Sieger in den andern vier Laufbewerben die Preise verteilt. Was Platons Klassifizierung der Teilnehmer betrifft, so gab es eine Einteilung der männlichen Teilnehmer in Knaben, bartlose Jünglinge und Männer auch an den Isthmischen und Nemeischen Spielen (vgl. Pin­ dar, Ol. 8,54; 9,89; IG II2 965; Pausanias 6,6,3), in Olympia und Delphi dagegen gab es nur die zwei Klassen der Knaben und Männer. Daß die männlichen Athleten nackt kämpften, war zu Platons Zeit die übliche Praxis. Diese Homer noch unbekannte Praxis (vgl. Homer, II. 23,683) kam in der Mitte des 6. Jh. auf (vgl. Arieti 1975, Crowther 1982, McDonnell 1991). Sportliche Wettbewerbe für Mädchen sind in der griechischen Welt nichts Ungewöhnliches (vgl. z.B. Μ. P. J. Dillon 2000, 462ff.). Mäd­ chenwettläufe sind insbesondere bei den Doriern und Aiolem bezeugt (Jüthner 1968, 37). In Olympia gab es an den Heraia für Mädchen (παρθένοι) einen Wettlauf über 5/6 der Männerstrecke, der aber zeitlich getrennt von den (den männlichen Athleten vorbehaltenen) olympischen Spielen stattfand (vgl. Dillon 460 ff.); die Läuferinnen waren in drei Al­ tersklassen eingeteilt (Pausanias 5,16,2). Dabei trugen sie als Kleidung einen kurzen bis über das Knie reichenden Chiton, der die rechte Schul­ ter bis zur Brust freiließ (Pausanias 5,16,3). Namentlich die spartanischen Frauen betrieben Sport (vgl. Cartledge 1981a, 91 ff.; Scanlon 1988); bezeugt werden Wettkämpfe im Laufen und in der Körperkraft, Diskus- und Speerwerfen und Ringen (Xeno­ phon, Lak. pol. 1,4; Euripides, Androm. 599; Plutarch, Lyk. 14,1-15,1); nach Xenophon hatte Lykurg ihnen diese Übungen vorgeschrieben, da­ mit sie kräftigen Nachwuchs hervorbrächten. Platon läßt bei seiner Forderung nach sportlicher Betätigung von Frauen den eugenischen Zweck zurücktreten hinter dem Bestreben, für die Verteidigung der Stadt alle Bewohner einsatzfähig zu machen (vgl. 804e-805b). Seine Vorschriften zur Kleidung der Frauen dürften auf das spartanische Vorbild zurückgehen. Mit der „schicklichen Kleidung“ dürfte er den von Pausanias beschriebenen kurzen Chiton meinen, den

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spartanische Bronzestatuetten von Athletinnen zeigen und der den Spar­ tanerinnen die Bezeichnung φαινομηρίδες („Schenkelzeigerinnen“ bei Ibykos Fr. 58 PMG 339) eintrug (vgl. die Abbildungen bei Olivova 1984, 98—99); sehr unwahrscheinlich ist ein Bezug auf das Diazoma (ei­ ne Art Lendenschurz), welches durch peloponnesische Bronzestatuetten und Vasen ebenfalls fur Athletinnen bezeugt ist (vgl. dazu Scanlon 1988, 191-204 und die dortigen Abb. 12.3-5). Ob auch Platons Forderung, daß die nicht heiratsfähigen Mädchen un­ bekleidet laufen sollen, spartanische Praxis widerspiegelt, ist umstritten, da für Platons Zeit sichere Zeugnisse für die Nacktheit von Frauen bei Sportveranstaltungen fehlen (vgl. die Vorbehalte von Ducat 1998, 388— 391; Thommen 1999, 137 f.). Bezeugt ist Nacktheit von Mädchen bei ri­ tuellen Läufen; so sollen (nach Plutarch, Lyk. 14,2^4; 15,1; Apophth. Lak. [Lykurg 13] 227E) in Sparta die Mädchen bei öffentlichen Prozessi­ on nackt aufgetreten sein (teilweise nackt liefen nach Ausweis von Vasen auch die sog. „Bärinnen“ im Artemiskult im attischen Brauron; vgl. dazu Dillon a.a.O. 465 Anm.28). - Auf jeden Fall bedeutet Platons Forde­ rung, daß nur die Mädchen unter 13 Jahren nackt laufen sollen, eine Ab­ milderung der in der Politeia — freilich nur für die Frauen des Wächter­ standes erhobene - Forderung, daß die Frauen aller Altersstufen zusam­ men mit den Männern nackt Sport treiben sollen (Resp. 452a—b; 458d).

833b3—7 zu einem Heiligtum des Ares (...) des Apollon und der Arte­ mis: Denn Ares ist der Gott des Krieges; Apollon und Artemis sind ge­ schickte Bogenschützen. 833d2-4: Zum Heiratsalter vgl. zu 772d5-e2. Die vorliegende Stelle läßt vermuten, daß die meisten Mädchen zwischen 18 und 20 Jahren hei­ rateten und daß im Falle früherer Heirat (die gemäß 785b2—3 frühestens nach Vollendung des 16. Lebensjahrs möglich war) die Pflicht zur Teil­ nahme an Sportveranstaltungen mit der Eheschließung endete. 833d6—834a7: Wettkämpfe in der Körperkraft. Der Kampf in Waffen, den Platon anstatt des Ringens fordert, ist wohl mit der Hoplomachie identisch, deren erzieherischer Wert im Laches dis­ kutiert wird. Die Hoplomachie war offenbar niemals eine sportliche Wett­ kampfdisziplin; die Kampfregeln müssen daher erst von Fachleuten fest­ gelegt werden. — Das Ringen (πάλη) bildete die letzte und wichtigste Dis­ ziplin des Fünfkampfs (Pentathlon); in Olympia gab es seit 708 v.Chr. auch spezielle Wettkämpfe im Ringen. Während Platon in das Erzie­ hungsprogramm zumindest die für das Ringen im Stand (ορθή πάλη) er­ forderlichen Techniken aufhimmt, weil sie „zu jedem Zweck“ nützlich sind (796a), macht er das Ringen nicht zu einer Wettkampfdisziplin. Nach

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Morrows plausibler Vermutung (1960a, 384) war der Grund der, daß das Ringen sich zu einer Sportart entwickelte, die eine spezielle Diät erforder­ te und den Ringer letztlich fur den Militärdienst untauglich machte; hinzu kam die Tendenz zur Professionalität mit der Versuchung, aus „nutzlosem Ehrgeiz“ (796a2) nur um des persönlichen Ruhmes willen zu kämpfen. Der Kampf in leichten Waffen (Peltastik), der das Pankration ersetzen soll, ist benannt nach dem leichten Lederschild (πέλτη). Auch diese Wett­ kampfdisziplin ist vermutlich eine platonische Neuerung, da es hierfür of­ fensichtlich noch keine Regeln gibt. Das 648 in Olympia eingeführte Pankration (vgl. den Komm, zu 795b5-cl) war die ruhmvollste Sportdis­ ziplin. Platon lehnt diese Kampfart ab, weil sie, da ohne Waffen ausgeübt, für den Krieg nur bedingt nützlich ist. Dasselbe gilt für den Faustkampf (vgl. dazu 830b), der seit 688 olympische Disziplin war und z. B. von der spartanischen Jugend als Kriegsvorbereitung betrieben wurde (vgl. Xeno­ phon, Lak. pol. 4,6). Die bei den Wettkämpfen übliche Form mit Boxrie­ men (vgl. 830a-c), bei der zahlreiche technische Regeln zu beachten sind, wird von Platon abgelehnt, da sie ohne Nutzen im Krieg ist (796a). Auch hier berührt sich Platons Einschätzung offenbar mit der spartanischen; denn für Olympia ist kein spartanischer Sieger im Faustkampfbezeugt.

834a7—834d7: Wettkämpfe zu Pferd Obwohl es in Kreta (infolge der gebirgigen Natur: 625d) kein großes Interesse an Pferden gibt (834b), spielen Pferde im Entwurf für Magnesia eine nicht unwesentliche Rolle - vielleicht infolge einer persönlichen Vorliebe Platons für den aristokratischen Pferdesport. Die Reiterei bildet einen eigenen Armeeteil (755e), Reiten ist für Jugendliche bereits im frü­ hen Alter vorgeschrieben (794c, 813e); es gibt berittene Paraden (796c); die Jagd zu Pferd wird ausdrücklich empfohlen zur Pflege der Tapferkeit (824a). So soll es auch pferdesportliche Wettkämpfe geben. Die üblichen hippischen Wettkampfdisziplinen waren zu Platons Zeit das Wagenrennen mit Viergespannen (seit 680 in Olympia) oder Zweige­ spannen (seit 408) und das Pferderennen, das seit 648 olympische Dis­ ziplin ist (Weiler 1981, 200 ff.). Wagenrennen werden von Platon ver­ worfen, einmal weil in Kreta aufgrund der Natur des Landes niemand ein Gespann unterhält (834b), sodann auch wohl deshalb, weil die Unterhal­ tung eines Gespannes einen gewissen Reichtum voraussetzt, den es in Magnesia nicht geben wird, und weil das Wagenrennen militärisch ohne Bedeutung ist. Hingegen sollen Reitwettbewerbe stattfinden, die nach dem Alter der Pferde eingeteilt sind, was gängige Praxis war: in Olympia unterschied man zwischen ausgewachsenen Pferden (αδηφάγοι oder τέλειοι) und Fohlen (πώλοι) sowie — bei Platon ohne Gegenstück — Maultieren (ήμιόνοι).

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Eine neue Disziplin bilden die Wettkämpfe für berittene Bogenschüt­ zen und für Speerwerfer (834d). Kretische Bogenschützen und Speer­ werfer genossen als Teil der Fußtruppen einen guten Ruf (vgl. zu 625d6). Für die Existenz berittener kretischer Schützen und Speerwerfer in platonischer Zeit gibt es allerdings kein schriftliches Zeugnis; Panagopoulos 1986 verweist jedoch (wie schon 1981, 68) auf den Fries des ar­ chaischen Tempels A von Prinias bei Malevisi hin, der berittene Speer­ werfer zeigt, und nimmt an, daß es auch noch in platonischer Zeit beritte­ ne Speerwerfer (und erst recht berittene Bogenschützen) in Kreta gege­ ben haben muß. Sollte Platon diese kretische Praxis nicht gekannt haben, so kann er von Athen angeregt worden sein, wo die jungen Leute in der Reiterei den Speerwurf vom Pferd aus übten (vgl. Men. 93d, Xenophon, Hipparch. 1,6, Reitkunst 8,10).

834b7—8 für etwas, das nicht landesüblich ist, Wettbewerbe einrichten: Da der von England z. St. mitgeteilte Konstruktionsvorschlag von H. Jackson syntaktisch bedenklich ist, schiebe ich mit Ast ein vor ούκ επιχώριον ein und ändere εσται in έστίν. — αγωνιστάς steht metony­ misch für αγώνα. — τούτου bezieht sich sinngemäß auf αρματος (b5). 834c5 den Phylarchen und den Hipparchen: Zu diesen Beamten vgl. 755e—756b.

834d5 infolge des vorangehenden (...) Trainings (tca Γευμάτων): Gemeint ist die im Erziehungsplan auch für Mädchen vorgesehene Aus­ bildung im Reiten, Speerwerfen und Schleudern, die schon nach dem 6. Lebensjahr beginnt (vgl. 794c—d; 804e).

4.4. 834d8—835b7: Musische Wettbewerbe.

Die musischen Wettbewerbe, die gleichfalls an den Götterfesten statt­ finden sollen (vgl. 77Id—772a), umfassen Einzelvorträge von Rhapsoden und Instrumentalisten wie z.B. Kitharisten oder Flötisten (vgl. dazu 764d-765b) und den Chortanz, in dem sich Tanz und Gesang verbinden. Die kalendarische Festlegung und kultische Organisation dieser Feste für Götter, Dämonen und Heroen („die Wesen in ihrem Gefolge“) erfolgt nach Anweisung der Götter, vor allem wohl des delphischen Orakels (vgl. 828a). Die Regelung der Details obliegt dem ,Erziehungsminister6, den Gesetzeswächtem und den Kampfrichtern, für welche hierbei die Vorgaben des „ersten Gesetzgebers“ (d. h. des Atheners) maßgebend sind (vgl. hierzu 769a-771a). 835a8: Zu Harmonie und Rhythmus vgl. den Kommentar zu 653e5.

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Kommentar

5. 835cl—842al0: Vorschriften für das Sexualverhalten der männlichen Bürger. An die Behandlung der Feste schließt sich ein längerer Abschnitt über das richtige Sexualverhalten an. Den inneren Zusammenhang zwischen den beiden Themenbereichen deutet der Athener selbst in 835d-e an: Die Feste bieten beiden Geschlechtern eine schickliche Gelegenheit zum gegenseitigen Kennenlemen (vgl. 772a). Weil aber die am festlichen Tanz teilnehmenden Jünglinge und Mädchen, „soweit es das Schamge­ fühl erlaubt“, unbekleidet sind (772a; vgl. auch 833c-d), erwacht an die­ sen Festen - „mit erotischer Notwendigkeit“ nach Resp. 458d5 - das se­ xuelle Begehren der jungen Leute, zumal diese über viel Freizeit verfu­ gen und gut genährt sind. Gesetze über Heirat und Kinderzeugung hatte der Athener bereits im 6. Buch formuliert (772d-785b). Das Ziel der dortigen Gesetze war ein eugenisches, nämlich die Erzeugung möglichst gesunden Nachwuchses (783d8-el); diesem Ziel diente auch das Verbot des außerehelichen Ge­ schlechtsverkehrs (vgl. zu 783d4-785a3). Die Zielrichtung des vorlie­ genden Passus ist dagegen primär eine moralische. Es gilt die Menschen durch richtige Steuerung ihrer Triebe zur Tugend zu führen (vgl. 836d und schon 782dl 1 ff.). Denn die Menschen sind in ihren Seelen „verdor­ ben“ (835c5-6; vgl. 839c6f£, 840e3; 841b7); schuld an der „Schlechtig­ keit der Vielen“ (840dl) ist die Knechtung durch die sexuellen Begier­ den; diese ruft nach dem Gesetzgeber, damit er seinerseits diese Begier­ den „knechtet“ (838d4-5). Die vom Gesetzgeber vorgeschriebene Sexualmoral besteht darin, daß der männliche Bürger (nur um diesen geht es!) den Geschlechtsverkehr nur gemäß seinem natürlichen Zweck zur Erzeugung legitimer Kinder vollzieht und auf sexuellen Verkehr mit Knaben und Männern ebenso verzichtet wie auf ehebrecherische Beziehungen zu einer anderen Frau (vgl. 836cl—7; 838e5-839a3; 840d3-el; 841dl-5). Für den Fall, daß die Bürger nicht imstande sind, diese Norm zu erfüllen, formuliert der Athe­ ner ein zweitbestes Gesetz, das den homosexuellen Verkehr wie das erste Gesetz verbietet, aber Beziehungen zu einer Nebenfrau unter der Bedin­ gung zuläßt, daß diese geheim bleiben (841a—b, 841d5—e4). Große Teile des vorliegenden Abschnitts bestehen in einer Methoden­ diskussion über das richtige Vorgehen bei der gesetzlichen Regelung des Sexualverhaltens. Ziel dieser Diskussion ist es, Megillos und Kleinias (und jeden, der einmal in die Lage kommt, Gesetze geben zu müssen) nicht nur von der Notwendigkeit, sondern auch von der Möglichkeit ei­ ner Steuerung des Sexualverhaltens zu überzeugen.

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Daneben enthält die Erörterung Gedanken, deren eigentliche Adressa­ ten die Bürger sind. Formulierungen wie „wenn einer behaupten würde ...“ (836b8ff.), „ein Wort genügt ...“ (838b7ff.), „das Gesetz sagt ...“ (840d3 ff.) leiten Aussagen ein, aus denen sich ohne weiteres ein Proömium verfassen ließe, das die Bürger zu gesetzeskonformem Verhalten ermuntert. Während so das Gespräch der drei Dialogpartner zumindest funktional über weite Strecken einem Gesetzesproömium entspricht, fehlt ein ei­ gentlicher Gesetzesteil in typischem Gesetzesstil. Vielmehr sind die In­ halte des intendierten Gesetzes in die methodologischen Ausführungen und in das Proömium integriert (836b8-c6; 837d2-7; 838e5-839a3; 840d3-e2; 841dl-5). Insofern liegt hier gewissermaßen ein Gegenstück zu dem 721b—d skizzierten „doppelten Gesetz“ vor, bei dem umgekehrt der Proömienteil in das Gesetz integriert war. Zu berücksichtigen ist al­ lerdings, daß ein so privates Verhalten wie das sexuelle ohnehin weniger durch ein strafbewehrtes Gesetz als vielmehr nur durch Belehrung und Ermahnung beeinflußt werden kann (788a-c), deren Ort nicht das Ge­ setz, sondern eben das Gesetzesproömium ist. Eine Behandlung der Sexualität hatte der Athener bereits im sechsten Buch angekündigt (783c). Dort waren auch in 783a5-bl bereits die Mit­ tel genannt worden, die dem Gesetzgeber zur Disziplinierung des Se­ xualtriebs zur Verfügung stehen: Furcht, Gesetz, wahre Einsicht (Logos) in Verbindung mit den Musen und den Göttern des Wettkampfs. Sie kommen hier alle zum Einsatz: Der Furcht (φόβος 839c5, 840c7) bedient sich der Gesetzgeber, indem er analog zum Inzesttabu die Homosexualität als ein den Göttern verhaß­ tes Verhalten tabuisiert (838a4-e3). Da das Inzesttabu auf einem „unge­ schriebenen Gesetz“ (άγραφος νόμος) beruht (838bl), bedeutet dies, daß der Gesetzgeber im Falle der Homosexualität ebenfalls ein „unge­ schriebenes Gesetz“ aufstellen muß (vgl. Bd. II 518). Die wahre Einsicht (λόγος) erkennt das Wesen des Eros und die Be­ deutung seiner Disziplinierung für die Tugend und entwickelt daraus ei­ ne überzeugende Beweisführung (πιθανός λόγος 836c6; λόγον έχόμενον πιθανότητος 839d8—9). Vor allem aber will der Logos zum „Gesetz“ (νόμος) werden (835e4— 5); ein wahrer Logos führt daher auch zum „wahren Gesetz“ (836e4), das als Norm für das Verhalten der Bürger dient. Bei diesem Nomos han­ delt es sich jedoch nicht um ein förmliches Gesetz, sondern um eine un­ geschriebene Satzung, die der Gesetzgeber zur Gewohnheit machen muß (841b). Mit der Muse und den Göttern des Wettkampfs sind ergänzende Maß­ nahmen angedeutet, die „die Kraft der Lust außer Übung setzen“ helfen

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Kommentar

(841a6). Die Musik ist einmal das Medium, um den Bürgern in den Tex­ ten der Chorlieder das rechte Verhalten nahezubringen und durch den Aufbau eines öffentlichen Meinungsklimas (vgl. 838a-d, 840b-c) ihr Verhalten zu beeinflussen; sodann ruft die Musik durch ihre geregelte rhythmische und harmonische Struktur in den Seelen der Bürger, die ak­ tiv am Chortanz teilnehmen, Ordnung und Maß hervor. - Die sportlichen Aktivitäten andererseits haben zur Folge, daß, wie es 841a heißt, der Nährstoff der Begierden durch Anstrengungen in andere Teile des Kör­ pers gelenkt wird (Näheres dazu unten zu 841a6-8). Freilich sind ande­ rerseits gerade die Feste mit ihren Reigentänzen und die Gymnastik Orte erotischer Verlockung (835d; 636b); vielleicht sind deshalb die Götter genannt, die diese negative Wirkung verhindern sollen. Die Sexualität wird in der vorliegenden Partie vor allem unter dem As­ pekt ihrer Gefährlichkeit und Wildheit gesehen. Eine positive Wertung der Erotik, wie sie Sokrates im Symposion vorträgt, erhält im vorliegen­ den Abschnitt lediglich die geistige Homophilie, die nach der Tugend (Arete) des Geliebten strebt (837d). Was den heterosexuellen Eros be­ trifft, so verzichtet der Athener hier darauf, dem Sexualtrieb durch den Gedanken der Unsterblichkeit durch Zeugung (vgl. Symp. 207d-208b) eine tiefere Deutung zu geben, vielleicht weil dieser Gedanke bereits 721b-c zur Begründung der Heiratspflicht zur Sprache gekommen war. Nicht unproblematisch ist ein Vergleich der Vorschriften der Nomoi mit der Regelung der sexuellen Beziehungen in der Politeia. Denn die in der Politeia geforderte ,Frauen- und Kindergemeinschaft6 betrifft nur die Elite des Wächterstandes, während sich die Vorschriften der Nomoi, die die Ehe als einzige Form des Zusammenlebens der Geschlechter gelten lassen, an alle (männlichen) Bürger Magnesias richten. Dabei darf je­ doch nicht übersehen werden, daß die Auflösung der Familie, die in der Politeia mit der Herstellung größtmöglicher Einheit der Polis begründet wird (464c-d), aus demselben Grund auch noch in den Nomoi ausdrück­ lich als Ideal gepriesen wird (739c, 807b). Warum in Magnesia dennoch Ehe und Familie als einzige soziale Lebensform etabliert wird, hat Platon nirgends explizit begründet, so daß die Spannung zwischen dem Ideal der Frauen- und Kindergemeinschaft und der Forderung nach unbeding­ ter und lebenslänglicher ehelicher Treue in den Nomoi letztlich unaufge­ löst bleibt. Zu vermuten ist, daß die Zulassung von Ehe und Familie zusammenhängt mit der Aufteilung des Landes an private Besitzer (vgl. Piérart 1974, 71 ff.). Wenn aber die Frauen- und Kindergemeinschaft, die das stärkste Band fiir die Einheit der Polis darstellt, nicht realisierbar ist, muß diese Einheit auf andere Weise gesichert werden. Dies geschieht in Magnesia vor allem durch die Wahl des richtigen Ehepartners, bei der auf die rechte Mischung der Temperamente und des finanziellen Vermö-

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gens zu achten ist (773a—e), damit die Einheit der Stadt nicht durch die Spaltung in Arme und Reiche gefährdet wird. Vergleicht man trotz dieser Unterschiede das in der Politeia für die Wächter mit dem in den Nomoi für die Bürger Magnesias vorgeschriebe­ ne Sexualverhalten, so ergibt sich etwa folgendes Bild. Homosexueller Geschlechtsverkehr wird in beiden Staatsentwürfen in den Nomoi allerdings wesentlich schärfer — verurteilt; zulässig ist nur eine asexuelle, rein geistige Beziehung „um des Schönen willen“ (Resp. 403b6). Auch die Tabuisierung des homosexuellen Aktes analog zum In­ zest ist schon in der Politeia angelegt, wenn 403b für den Umgang des Liebhabers mit dem Liebling das Verhalten eines Vaters zu seinem Sohn als Maßstab aufgestellt wird (vgl. auch Symp. 219dl-2: Sokrates ver­ hielt sich gegenüber dem Werben des Alkibiades „wie ein Vater oder äl­ terer Bruder“). Bei den heterosexuellen Beziehungen zeigen sich dagegen Unterschie­ de. Im Entwurf der Politeia genießen die Wächter nach dem Ende der freilich reglementierten Zeugungsphase — uneingeschränkte (heterose­ xuelle Freiheit, sofern sie sich nicht mit Partnern verbinden, die altersmä­ ßig ihre Eltern oder ihre Kinder und Enkelkinder sein könnten (Resp. 461b—c). Auch die — letztlich eugenisch motivierte — Bestimmung der Politeia. daß Jünglinge, die sich im Krieg tapfer bewährt haben, als Be­ lohnung von den Beamten häufigere Erlaubnis zum Verkehr mit einer Frau erhalten (460b, 468c), zeigt ebenso wie ihre Belohnung durch einen nicht zu verweigernden Kuß von jedem Knaben oder Jüngling im Felde (468b), wie unbefangen hier dem Individuum sexueller Genuß zugestan­ den wird. Gegenüber der Situation der Wächter in der Politeia bedeutet die For­ derung der Nomoi nach lebenslänglicher ehelicher Treue und sexueller Askese nach der Phase der Kinderzeugung (Nom. 784e—785a) zweifellos eine Restriktion. Die Institution der Ehe erfährt eine tiefere Rechtferti­ gung durch die im Platonischen Œuvre singuläre Feststellung, daß der Mann der wesensgemäße Freund (οικείος φίλος) seiner Frau ist (839bl). Die Bürger Magnesias sind aber - anders als die Wächter der Politeia — in der Wahl ihres Ehepartners frei (κατά νουν 772d6), sofern sie dabei auch das Staatsinteresse berücksichtigen (773b). In der Politeia werden dagegen die Partner einander zugelost, wobei die Beamten das Los so manipulieren, daß jeweils die besten Männer sich mit den besten Frauen und die schlechtesten sich mit den schlechtesten vereinigen; nur Kinder aus den besten Verbindungen werden nach entsprechender Prü­ fung von den Beamten zur Aufzucht freigegeben (459d-460c). Der Zuchtgedanke erscheint in den Nomoi nicht in dieser Brutalität, aber die Erzeugung optimalen Nachwuchses bleibt auch im Spätwerk die

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Pflicht der Eheleute (vgl. 783d-e) und fuhrt zur Überwachung der Kinder­ zeugung. Auch das Verbot außerehelichen Geschlechtsverkehrs läßt sich eugenisch begründen: eine eheliche Verbindung, die in freier Ent­ scheidung, aber gemäß den Empfehlungen des Gesetzgebers unter Be­ achtung des rechten Maßes und der rechten Mischung (773a-d) ge­ schlossen worden ist, bietet nach Platons Auffassung eine größere Ge­ währ für guten Nachwuchs als eine unter dem Einfluß der „regellosen Aphrodite“ aus sexueller Zügellosigkeit vollzogene Vereinigung mit ei­ ner Nebenfrau (vgl. 775d über die , Vererbung4 moralischer Eigenschaf­ ten). Literaturhinweise zu Platon (Auswahl): Kienzl 1941; Vlastos 1981, 342; Halperin 1985; Ferrari 1992; Price 1989; Nicolai 1998 (mit weiterer Literatur); Schöpsdau 2001; Effe 2004; Jouet-Pastré 2005. - Zur griechi­ schen Homosexualität (und ihren rechtlichen Aspekten): Dover 1978; Buffïère 1980; Patzer 1982; Cantarella 1989; Halperin 1990; Cohen 1991a, 171-202; Hoheisel 1994; Detel 1998, 151-206 (in Auseinander­ setzung mit Μ. Foucault); Boni 2002.

A) 835cl—e4: Themenankündigung und Hinweis auf die Schwierigkeit einer gesetzlichen Regelung. Daß die Durchsetzung der platonischen Sexualmoral „am ehesten eine Aufgabe für einen Gott“ wäre (vgl. 641d7; 662b 1), hat zwei Gründe: Einmal sind es die „stärksten Begierden“ (vgl. 782dlOff.), gegen die der Gesetzgeber jetzt anzutreten hat; sodann steht er mit seiner Position an­ gesichts der weithin verbreiteten Homosexualität völlig isoliert da. Gera­ de in den dorischen Staaten Sparta und Kreta waren homosexuelle Bezie­ hungen gang und gäbe (vgl. 636b-c), freilich mit dem Unterschied, daß in Kreta die Päderastie ein festes Element der Erziehung bildete, während in Sparta päderastische Verbindungen ein verbreitetes Mittel innerhalb der politischen Elite waren, um sich eine Hausmacht zu schaffen und zu sichern (so Link 1999, 15 ff., der ebenso wie MacDowell 1986, 64f. die von Cartledge 1981b, 22 aus den einschlägigen Zeugnissen gefolgerte Institutionalisierung der Päderastie in Sparta bezweifelt). Angesichts dieser Zustände wird die biologistische Argumentation mit dem Verhalten der Tiere, denen - nach damaliger Kenntnis - Homose­ xualität fremd ist (836c), in Kreta und Sparta nicht überzeugen, obwohl sie an sich plausibel (πιθανός) ist (836c5-7). Daher hebt der Athener in 835cl-e4 die Argumentation auf die ethisch-politische Ebene, indem er darauf verweist, daß die homosexuelle Praxis mit der Tugend als Ziel der Gesetzgebung unvereinbar ist, so daß ihre Zulassung die „Stimmigkeit44 des Gesetzesentwurfs (vgl. 746c) gefährden würde. Um in Magnesia zu­ gelassen zu werden, müßte nämlich die homosexuelle Praxis in dem

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Liebhaber und dem Geliebten Tugend erzeugen. Daß dies nicht der Fall ist, ,beweist4 der Athener durch Rekurs auf die allgemeine Einschätzung, welche dem aktiven Partner eines gleichgeschlechtlichen Sexualaktes ge­ rade das Gegenteil von Selbstbeherrschung und dem passiven Partner das Gegenteil von Tapferkeit (ανδρεία = wörtl. Mannhaftigkeit) zu­ schreibt (836d5-e4). Der Athener spielt damit im Grunde die athenische Einschätzung der Homosexualität gegen die dorische Bewertung aus (vgl. Cohen 1991a, 186 ff.). Auch in Athen war die Homosexualität ein verbreitetes Phäno­ men (vgl. Symp. 182a ff.); nach einem allgemeinen Ehrenkodex galt je­ doch die Rolle des passiven Partners bei einem Geschlechtsakt zwischen Männern als erniedrigend und eines freien Mannes unwürdig (Belege bei Cohen 183 Anm. 31 und 32; Price 1989, 234 Anm.20; Cantarella 1989, 172—174); bei einem vollzogenen Geschlechtsakt mit einem Knaben konnte die Familie Klage wegen Hybris erheben (Cohen 176 ff.). Ge­ werbsmäßige Prostitution von Knaben und homosexueller Verkehr gegen Entgelt waren gesetzlich verboten (vgl. Lipsius 435-437; Thalheim 1913a). Im übrigen unterliegt in Athen das sexuelle Verhalten wie über­ haupt der private Lebenswandel nur bei solchen Personen einer gesetzli­ chen Kontrolle, die eine politische Funktion übernehmen wollen; vgl. z.B. Aischines, Or. 1,29; Demosthenes, Or. 22,30-32; ferner Detel 1998, 164ff. Wallace 1993, 402-403.

835d7—e2 in der die jungen Männer und jungen Mädchen gut genährt sind, aber von harten und unedlen Anstrengungen, die ja den Übermut am besten ersticken, frei sind usw. : Ein Übermaß an Nahrung ruft Hybris, d.h. ein Gefühl übermäßiger Kraft, hervor (691c3; vgl. auch die außer­ platonischen Belege bei Cairns 1996, 23 Anm. 107 und 108) und steigert das sexuelle Verlangen, das umgekehrt durch Anstrengungen gedämpft wird (vgl. zu 841a7). Zu dem von Anstrengungen befreiten und durch Feste und Feiern bestimmten Leben der Bürger vgl. 806d7ff., 828d7ff., 832dl, 846dl ff.

835e4—5 die Vernunft..., die zum Gesetz werden will: λόγος ist die ver­ nünftige Überlegung, auf die sich der Gesetzgeber beim Kampf gegen die stärksten Begierden stützt (vgl. 835c8) und die in der gegenwärtigen Erörterung entfaltet wird. Zur Beziehung zwischen Gesetz und Vernunft (λόγος, λογισμός, νους) vgl. 644d2-3, 645al-2, 674b7, 713a4, 714al2, 719e5, 836e4, 957c6-7 sowie Band II, 187. 836a6—bl die Leidenschaften der Liebe zu Jugendlichen männlichen oder weiblichen Geschlechts betrifft und von Männern zu Frauen und von Frauen zu Männern: Selbst wenn der erste Teil der Aufzählung auch die (in 636c5 ganz offen erwähnte) weibliche Homosexualität einschlie­

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ßen sollte (so Boehringer 2007, 65—67), spielt diese jedenfalls keine Rol­ le im folgenden Gesetz, dessen Forderungen sich eindeutig an Männer richten (vgl. bes. 838e6-839a3, b4, 841d).

836b 1—2 tausendfaches Unglück ... für ganze Städte: Die Gefährlich­ keit des Geschlechtstriebs besteht in seiner Unvernünftigkeit und Maßlo­ sigkeit: Phil. 65c-d, Tim. 91b. Beispiele für (hetero- und homosexuelle) Liebesaffären mit verhängnisvollen politischen Folgen erwähnt Aristote­ les, Pol. 5,4. 1303b20ff. und 5,10. 1311a33-b23. In Athen war das spektakulärste Beispiel einer solchen ερωτική αιτία (1303b22) die Ver­ schwörung von Harmodios und Aristogeiton gegen die Peisistratiden.

836cl—2 sich an die Natur halten: Die Natur (Physis) wird auch 721b— c (Verlangen nach Unsterblichkeit), 732e (Luststreben) und 794e (Beidhändigkeit) als Gegebenheit und Norm anerkannt. Sie kann und soll aber um eines höheren Zieles willen transzendiert werden. So vermag die Ma­ thematik jemanden auch entgegen seiner Natur aufgeweckter zu machen (747b). Um der Einheit der Polis willen sollen Augen, Ohren und Hände, die jedem „von Natur eigen“ (739c7) sind, und möglichst auch die Frauen und Kinder gemeinsamer Besitz werden (739c4); die naturhaften Formen der Tapferkeit (963e) und Besonnenheit (710a—b) werden durch Hinzutritt der Einsicht in die „göttlichen Güter“ der Polistugenden (vgl. 631c) transformiert. Unter dem höheren Aspekt der Förderung der Tu­ gend wird 837d auch eine (unkörperliche) homoerotische Beziehung zu­ gelassen. — Die Physis kann aber auch negativ „verfälscht“ werden; so hat falscher Gebrauch der Hände die Beidhändigkeit beseitigt (794e); die Syssitienund die Gymnastik haben durch Weckung homosexueller Begier­ den die „naturgemäße“ sexuelle Lust „verdorben“ (636b).

836c2 das vor Laios gültige Gesetz: νόμος, das auch „Sitte, Brauch“ bedeuten kann, wurde mit „Gesetz“ wiedergegeben, da es im Kontext um eine gesetzliche Regelung geht. Laios, König von Theben und Vater des Oidipus, hatte sich während seines Exils auf der Peloponnes in Chrysipp, den Sohn des Pelops, verliebt und ihn nach Theben entführt; er galt daher als „Erfinder“ der Päderastie (vgl. dazu Dover 1978, 200; Buffière 1980, 95 f.). Die Kreter berufen sich auf die Entführung des Ganymed durch Zeus als göttliches Vorbild für die Knabenliebe: 636c-d. 836c3—6 wenn er als Zeugnis hierfür die Natur der Tiere anführen und darauf hinweisen würde, daß zu einem solchen Zweck kein Männchen ein Männchen berührt: Bereits 636b hatte der Athener die Naturwidrig­ keit der Homosexualität mit dem Verhalten der Tiere begründet (die sonst wegen ihrer instinkthaften Triebbefriedigung von Platon eher negativ ge­ sehen werden [807a, 831d-e, 906b, 909a; Phil. 67b]). Vorbild für hetero-

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sexuelle lebenslange Treue (vgl. 840d) ist im pseudoplatonischen Dialog Alkyon (VI 109—112 ed. Hermann) der Eisvogel (dazu C. W. Müller 1975, 310f.); weiteres zur Exemplifizierung naturgemäßen Verhaltens mit tierischem Verhalten im 5. Jh. bei Heinimann 1945, 145 f. (vgl. auch Dierauer 1977, 59 ff. 66 ff.). Auch für Aristoteles ist Heterosexualität bei Mensch und Tier das Naturgemäße (z.B. Nik. Eth. 7,6. 1148b28-29; 8,14. 1162al6—20); als Argument gegen die Päderastie dient das tieri­ sche Sexualverhalten bei Plutarch, Brut. an. rat. ut. 7 990D-E, und Philon Alex., Alexander (De animalibus), ed. A. Terian, Paris 1988, § 49. 836c6 ein überzeugendes Argument (πιθανω λόγω): Badhams Ände­ rung von πιθανω in άπιθάνω erübrigt sich, wenn man das folgende καί adversativ „und doch“ versteht. Englands συμφώνω (c7) ist eben­ falls überflüssig: ταις ύμετέραις πόλεσιν ούδαμως σύμφωνοί besagt dasselbe wie ή Κρήτη τε ήμίν ολη καί ή Λακεδαίμων ... έναντιουται παντάπασιν (836b5—8).

836d2—3 wir untersuchen doch immer, welche unserer Bestimmungen zur Tugendführt: Vgl. 630e, 631b ff., 688a, 705d-e, 770c-d, 836d, 963a u.ö. 836d5—8 der sich verführen läßt ... sich niemandje zu dieser Meinung verführen lassen: Der Athener spielt mit den beiden Bedeutungen von πείθειν, (1) sexuell „verführen“ (d6 und 7, Symp. 182b5, Lysias, Or. l,32f. usw.) und (2) intellektuell „überzeugen“ (d8); vgl. Saunders 1972, Nr. 73 S. 74-75. 836el—2 der sich zur Nachahmung des weiblichen Geschlechts her­ gibt: Vgl. die entsprechenden Vorwürfe bei Xenophon, Mem. 2,1,30; Ai­ schines, Or. 1,111. 185; Hypereides, Fr. 215 (Jensen) usw. Zur Bewer­ tung der passiven Rolle bei homosexuellem Verkehr vgl. Dover 1974, 215£; Cohen 1991a, 187f.

836e4 in seinem Geist (νω) das wahre Gesetz (νόμον): Tw dem un­ übersetzbaren Wortspiel vgl. die Anm. zu 835e4—5.

B) 836e5—837el: Die drei Arten homoerotischer Freundschaft. Zulässig ist nur die aufdie Tugend des Geliebten zielende, asexuelle Liebe. Die allgemein verbreitete negative Bewertung der aktiven und passi­ ven Rolle beim homosexuellen Akt reicht aber als Begründung für eine gesetzgeberische Maßnahme nicht aus, weil sie nur eine von drei Spielar­ ten gleichgeschlechtlicher Liebe betrifft. Die Unterscheidung dieser drei Arten ist Resultat einer sachlichen Analyse der (homoerotischen) Freundschaft. Diese Analyse erfüllt die methodische Forderung nach be­ grifflicher Klärung eines Sachgebiets vor der Aufstellung von Gesetzen

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(vgl. 861b-d, 866d-867b, 918c, 932e, 943e). Der Eros wird dabei eben­ so wie der Tanz (814d ff.), die Jagd (823a-d), die Ursachen ungerechten Verhaltens (863b-d) oder der Verlust der Waffen (943e) in seine ver­ schiedenen Arten zerlegt, um herauszufinden, welche zulässig sind und welche nicht. Hierzu muß der Gesetzgeber deren immanente Zielrich­ tung kennen, also was sie jeweils „wollen“ (837b5, dl). Für den Athener ist der Eros eine besonders intensive Form der Freundschaft (φιλία), der ein Moment des Begehrens inhärent ist (vgl. Phaidr. 255d). Dieses kann sich sowohl auf den Körper wie auch - in sei­ ner höchsten Form — auf die Seele des Geliebten richten. Mit dieser Un­ terscheidung zwischen körperlicher und seelischer Liebe (vgl. auch Symp. 183d-e) kombiniert der Athener die vor allem aus dem Lysis (214a-215e) bekannte Unterscheidung zwischen einer Freundschaft mit dem Gleichen und einer Freundschaft mit dem Entgegengesetzten (wie die des Bedürftigen mit dem Reichen). So ergeben sich zwei Grundfor­ men des Eros: (I) Die Liebe zwischen Gleichen ist die auf die Seele des Geliebten gerichtete geistige Liebe, die den Geliebten möglichst gut zu machen trachtet und mit ihm in asexueller Freundschaft leben möchte; sie entspringt keinem Mangel oder Bedürfnis, sondern der gemeinsamen Liebe zum Guten. (II) Die nach körperlicher Befriedigung strebende Lie­ be wird als Liebe zwischen Gegensätzen verstanden. Sie entspringt ei­ nem physischen Bedürfnis wie der Hunger (c2): der Liebende ist der Be­ dürftige, der Geliebte der Besitzende, der den Hunger des andern befrie­ digen kann; diese Liebe, die egoistisch nur das eigene Verlangen stillt, gilt dem Liebhaber der Seele als „Hybris“ (c5), weil sie die Ehre (τιμή c2) des Geliebten mißachtet. (III) Aus diesen beiden Grundformen ist die dritte Art der Liebe gemischt, bei der der Liebhaber zwischen dem Ver­ langen nach körperlicher Befriedigung und dem Verzicht darauf schwankt. Vom Ziel der Gesetzgebung her kann nur der auf die Seele des Geliebten und ihre Tugend gerichtete Eros in der Stadt geduldet werden. Wie der körperliche Eros ist auch der aus seelischem und körperlichem Begehren gemischte Eros aus der Stadt zu verbannen, da nicht klar ist, was ein Liebender dieser Art „will“ (837b5); der Gesetzgeber folgt damit demselben Prinzip, das auch zur Verwerfung der bakchischen Tänze führte, bei denen ebenfalls nicht klar ist, „was sie wollen“ (815c7). Das Ergebnis dieser Analyse entspricht im wesentlichen der Eroskonzeption des Symposion und des Phaidros. in welcher die asexuelle see­ lisch-geistige Homoerotik den höchsten Rang einnimmt. Besondere Nä­ he zeigt sie zum Phaidros. der folgende Arten des Eros unterscheidet: (I) Solange die „Einweihung“ durch die Schau des Schönen im Liebhaber noch nachwirkt und bei der Annäherung an den gleich einem Gott ver­ ehrten (255al) Geliebten der bessere, zur Philosophie tendierende Teil

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der Seele siegt, fuhren beide ein Leben in glückseliger Eintracht, selbst­ beherrscht und zuchtvoll (εγκρατείς αύτων καί κόσμιοι 256b 1—2), weil sie die Seele zur Tugend befreit haben. - (II) Wenn die Wirkung der „Einweihung“ nachläßt oder „Verderbnis“ eingetreten ist, wenden sich die Betreffenden der Kopulation nach Art vierfüßiger Tiere und dem Ge­ nuß widernatürlicher Lust zu (250el-251al), d.h. homosexuellem Ge­ schlechtsverkehr (so z.B. die Deutung von Vlastos 1981, 25 Anm.76 und Effe 2004, 141; andere wie Dover 1978, 163 Anm. 15 und Price 1989, 228 Anm. 8 beziehen dagegen die tierartige Kopulation auf den he­ terosexuellen und nur die widernatürliche Lust auf den homosexuellen Geschlechtsakt). - (III) Ein „ehrliebendes“ (φιλότιμος) Leben ist die Folge, wenn die Einweihung noch nachwirkt, die Seele aber zu philoso­ phischem Leben unfähig ist; in diesem Fall kommt es selten — z.B. bei Trunkenheit oder sonst einem Anlaß — zu körperlichem Verkehr, der aber auch in der Folge nur selten wiederholt wird, weil nicht das ganze Den­ ken (διάνοια) des Betreffenden zustimmt (258b-d; zu diesem innerhalb der platonischen Konzeption einer entsexualisierten und ethisierten Ho­ moerotik eigentlich „systemwidrigen“ Fall vgl. Effe 137 ff.). - Den er­ sten beiden Arten des Phaidros entsprechen offensichtlich die ersten bei­ den der in den Nomoi unterschiedenen Arten (vgl. bes. Nom. 837c mit Phaidr. 256a-b). Der dritten Art des Phaidros steht die gemischte Art der Nomoi insofern nahe, als beide durch das Schwanken zwischen Verzicht und Genuß gekennzeichnet sind; der entscheidende Unterschied ist aber der, daß der φιλότιμος im Phaidros eindeutig positiv gesehen wird (der Liebende und der Geliebte steigen wieder die himmlische Bahn empor), während in den Nomoi die gemischte Art ebenso eindeutig verworfen wird (vgl. auch unten zu 841b5-842al0). - Unzulässig ist eine Paralleli­ sierung der beiden ersten Eros-Arten der Nomoi mit der Scheidung des Pausanias zwischen den beiden Aphroditen (Symp. 180d-185b), weil die auf die Tugend zielende „himmlische Aphrodite“ Sexualität nicht ausschließt (vgl. 185b). Eine ähnliche Position wie der Athener (= Platon) vertritt der xenophontische Sokrates, der körperlichen Kontakt kritisiert und für asexuelle, auf moralische Vervollkommnung zielende homoerotische Beziehun­ gen plädiert (Symp. 8,23 ff.; Mem. 1,2,29 ff.). Daß aber auch der sparta­ nische Gesetzgeber Lykurg dieser Ansicht gewesen sein soll (Xenophon, Lak. pol. 2,13), ist ein Topos prospartanischer Apologetik, der jeder hi­ storischen Grundlage entbehrt (vgl. Rebenich 1998a, 101).

837a6—8: Die Behauptung, daß (nur) zwischen guten Menschen (wah­ re) Freundschaft möglich ist, gehört zu den festen Topoi der antiken Freundschaftsdiskussion (vgl. die Belege bei Bordt 1998, 73 f.). Für die

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vorliegende Stelle besonders aufschlußreich ist Aristoteles, Nik. Eth. 8,4. 1156b7 ff. (die vollkommene Freundschaft ist die zwischen den Gu­ ten und an Tugend Gleichen, weil man sich hier gegenseitig Gutes wünscht) und 8,10. 1159b 12 (aus Gegensätzen entsteht Freundschaft um des Nutzens willen, zu der auch die Freundschaft zwischen dem Liebha­ ber und dem Geliebten zu rechnen ist).

837cl nach dessen Blüte wie nach einer reifen Frucht hungert'. Bouquiaux-Simon 1961 geht davon aus, daß ώρα und οπώρα fast synonym sind („récolte“), und möchte daher die Worte καθάπερ οπώρας („wie nach einer reifen Frucht“) als eine explikative Glosse zu ώρας tilgen und ώρας als „fruit présent“ übersetzen. Doch abgesehen davon, daß ώρα in erotischen Kontexten zur Bezeichnung körperlicher Jugendschönheit ganz üblich ist (z.B. Xenophon, Lak. pol. 2,12; Symp. 3,1; Mem. 1,6,13; Platon, Phaidr. 234a2, 240d7, Symp. 217a3, 219c4 usw.) und daß eine Wendung mit καθάπερ eher einen Vergleich als eine Erklärung einleitet, spricht für die Echtheit der Worte der hintersinnige Vergleich der Blüte (des jugendlichen Geliebten) mit der reifen Frucht (des Herb­ stes), die es zu „pflücken“ gilt. Zum Pflücken einer Blüte oder Frucht als Metapher für den Sexualakt vgl. z.B. Pindar, Fr. 122,8 Maehler; Platon, Nom. 636d4; Phaidr. 240a8, 252al; Xenophon, Symp. 8,25. 83 7c 7 das Besonnene und Tapfere und Großgesinnte und das Vernünf­ tige: In der Tugendreihe erscheint hier das Großgesinnte (μεγαλοπρε­ πές), das im Symposion erstmals im Zusammenhang mit dem erotischen Begehren erscheint: die große Gesinnung zeigt sich im Aufstieg zum idealen Schönen, während das Verharren bei der an den Leib gebundenen Schönheit als kleinlich (σμικρόν, σμικρολόγος), gemein (φαύλος) und knechtisch gilt (Symp. 210b6, d3. 5). Vgl. hierzu Stein 1965, 104f., Sier 1997, 280.

837c8 ein enthaltsames Leben führen (άγυεύενν): Vgl. αγνοί (von Tieren) 840d6. Zur religiös konnotierten Bedeutung von αγνός (enthalt­ sam, keusch) vgl. Burkert 1977, 133 und 405. 837dl Die aus den beiden gemischte Liebe (εξ άμφοΐν γ ερως): Ich übersetze die von England (und Diès) übernommene Konjektur von H. Jackson (γ’ statt τρίτος). 837e5 Den Kleinias aber werde ich ... später noch einmal ...zu über­ zeugen suchen: Dies geschieht nicht mehr im Dialog, sondern in dem fik­ tiven Beisammensein (vgl. 969c) nach dem Endes des Dialogs.

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C) 837e9—840e2: Der Kunstgriff (Techne) zur Einführung des (besten) Gesetzes. (1) 837e9-838e3: Warum die Einführung des Gesetzes leicht ist. Angesichts dieser Schwierigkeiten erfordert die Einführung der richti­ gen Sexualmoral einen besonderen „Kunstgriff4 (τέχνη), der die Einfüh­ rung auf den ersten Blick leicht macht. Er besteht in der Tabuisierung des homosexuellen Geschlechtsverkehrs. Dies geschieht dadurch, daß der Gesetzgeber das Tabu, das den Inzest mit Erfolg verbietet, auch auf die Homosexualität ausdehnt. Das Inzesttabu ist ein „ungeschriebenes Gesetz“ (νόμος άγραφος 838bl), das auf der Überzeugung beruht, daß Inzest den Göttern ein Greuel ist. Also muß der Gesetzgeber im Falle der Homosexualität ein „ungeschriebenes Gesetz“ aufstellen, das eine dem Inzesttabu analoge Wirkung hat (zum Aufstellen ungeschriebener Geset­ ze durch den Gesetzgeber vgl. Bd. II 518). Der Weg zum ungeschriebenen Gesetz führt wie beim Inzest über die „öffentliche Meinung“ (φήμη). Denn in der öffentlichen Meinung, wel­ cher Megillos eine „erstaunliche Macht“ bescheinigt (838dl; vgl. auch 870a7), machen sich die in einer Gesellschaft geltenden moralischen Normen vernehmlich. Im Falle des Inzests wird sie wesentlich verstärkt durch die Bühnendichter, die den Zuschauern die schlimmen Folgen ei­ nes Inzests vor Augen stellen (838c 1—7). In analoger Weise muß der Gesetzgeber der öffentlichen Meinung über die Verwerflichkeit der Homosexualität bei allen Bewohnern eine religi­ öse Geltung verschaffen (καθιερουν 838d6; 839c3^4). Der Athener überspielt allerdings ein entscheidendes Manko seiner Analogie: Anders als beim Inzest fehlt es gerade in Sparta und Kreta an einer öffentlichen Meinung, die den homosexuellen Akt ebenso einstimmig wie den Inzest mißbilligt. Dem Gesetzgeber, der in dieser Frage völlig allein steht (835c), kommt deshalb die Aufgabe zu, zuerst einmal seine eigene Posi­ tion zur öffentlichen Meinung zu machen, eher er sie dann sakralisieren kann (dazu Bertrand 1999, 331 ff.). In welcher Weise im Falle der Homo­ sexualität ein derartiges öffentliches Meinungsklima hergestellt werden kann, läßt der Athener allerdings offen. Aus 840b—c ist zu folgern, daß zu den Mitteln, die dem Gesetzgeber hierfür zur Verfügung stehen, in erster Linie Musik und Dichtung gehören, die den Sieg über die Lust rüh­ men (vgl. auch 664a). Ziel muß jedenfalls sein, daß alle Bewohner die gleiche Ansicht äußern (838e2-3), so daß dann nur noch ein „kleines Wort44 (838b7) genügt, um abweichendes Verhalten zu verhindern, näm­ lich seine Brandmarkung als unfromm (zu folgern aus μηδαμώς όσια 83 8b 10). Als Glied eines Argumentationszusammenhangs erscheint das Inzest­

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tabu auch in Xenophons Kyrupädie\ Zum Beweis dafür, daß der Eros ei­ ne Sache des Willens (εθελούσιον) ist, verweist Kyros darauf, daß bei der inzestuösen Liebe Furcht und Gesetz ausreichen, um sie zu verhin­ dern (Kyr. 5,1,10). Eine Analogie zwischen Inzest und Homosexualität stellt Xenophon Lak. pol. 2,13 her: Lykurg habe den Geschlechtsverkehr mit einem Knaben für äußerst schändlich erklärt „und so bewirkt, daß sich die Liebhaber von dem geliebten Knaben ebenso femhielten wie sich Eltern von ihren Kindern oder Geschwister von einander“ (was al­ lerdings bezüglich der Tabuisierung der Päderastie eine idealisierende Darstellung sein dürfte: MacDowell 1986, 62). Geschlechtsverkehr zwischen Eltern und Kindern oder Geschwistern betrachteten die Griechen als barbarisch (Euripides, Androm. 173). Das Inzesttabu galt als ungeschriebenes Gesetz, dessen Übertretung von den Göttern gestraft wurde (vgl. Bd. II 516 ff.); diese nach Xenophon, Mem. 4,4,20 ff. auch vom Sokrates vertretene Meinung dürfte weit verbreitet gewesen sein (vgl. Parker 1983, 100). Ein gesetzliches Verbot, wie es So­ lon gegen die Ehe unter Vollgeschwistem erließ (F 47 Ruschenbusch = T 443 Martina) läßt sich aber für Eltern und Kinder im klassischen Athen nicht belegen, sondern nur indirekt aus Platon Resp. 461b-c, Nom. 838 und Xenophon, Mem. 4,4,20 ff. erschließen (vgl. Karabélias 1989b, 236f.; Cohen 1991a, 225f.; Thraede 2002, 53 f.). 838cl—7 Ist der Grund für diese Wirkung usw.: Zu dem anakoluthischen Satzgebilde vgl. Stallbaum und England z. St. Für das in A und O überlieferte λεγομένη (c4) übernehme ich das von Orelli konjizierte λε­ γάμενα. Stallbaum verteidigt das in A2 hergestellte λεγομένη als „(in severitate et gravitate tragica) quae vulgo dicitur“; eine solche Abwer­ tung der Tragödie (die sich durch 817a stützen ließe) scheint aber hier unangebracht. - In der Wiedergabe von οφθέντας folge ich der Deutung von England. Andere Übersetzer ordnen umgekehrt οφθέντας dem έπιτιθέντας unter, so daß zu übersetzen wäre: „die sich aber, nachdem sie entdeckt worden sind, den Tod als Strafe für ihre Vergehen geben“. Eng­ lands Deutung wird jedoch dem Kontext besser gerecht, in dem es um die moralisierende Wirkung des Bühnenselbstmords auf den Zuschauer geht; vgl. auch 887d—e für die Wirkung optischer Eindrücke (όψεις 887d6), die noch durch den Emst des Gesehenen verstärkt wird. - Thyes­ tes soll mit seiner Tochter Pelopia den Aigisthos gezeugt haben; Pelopia stürzte sich nach der Entdeckung des Inzests ins Schwert, während Thyestes nach wechselvollen Schicksalen eines natürlichen Todes starb. — Oidipus heiratete unwissend seine Mutter lokaste und zeugte mit ihr Eteokles, Polyneikes, Antigone und Ismene. lokaste tötete sich, als sich die Identität von Oidipus herausstellte; Oidipus blendete sich. - Maka-

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reus, der Sohn des Aiolos, liebte seine Schwester Kanake; er tötete sich, als nach der Entdeckung des Inzests Kanake von ihrem Vater in den Selbstmord getrieben oder getötet worden war. Tragische Gestaltungen dieser Stoffe boten die Thyestestragödien von Sophokles und Euripides, der Oidipus Tyrannos des Sophokles oder der Aiolos des Euripides. In der Alten Komödie wird der Oidipusmythos von Aristophanes, Frösche 1182 ff. (mit Bezug auf die Antigone des Euripides) referiert; Anspielun­ gen auf den Inzest der Aioloskinder (mit kritischen Seitenhieben auf den euripideischen Aiolos) finden sich in den Wolken 1371 ff., Frösche 850. 1081. 1475 sowie Frieden 114. 119, Thesm. 177f. Für Antiphanes ist ei­ ne tragödienparodische Komödie Aiolos bezeugt.

838d5 knechten (δουλουμενων): Zur Vorstellung, daß die Begierden den Menschen (d. h. dessen vernünftige Überlegung) „versklaven“, vgl. Nom. 863e8; Phaidr. 238e3; Resp. 329c, 577d2, 589d3; Xenophon, Oikon. 1,22; Aischines, Or. 1,42 u. a.; Dover 1974, 125f.

838e2—3 Wenn es nur möglich ist, alle dahin zu bringen, daß sie aus freien Stücken so etwas sagen: Ich fasse diese Worte mit Ast als einen vollständigen Satz (zu όπως + Fut. vgl. Ion 530b, Kühner - Gerth II 376 Anm. 6). Dann wird ύπέλαβες (e4) am besten als „verstehen, auffassen“ (wie Nom. 672a9) verstanden (vgl. καλώς υπολαμβάνεις Gorg. 450d3, Hipp. mai. 291d4, Erast. 136a5). (2) 838e4-839a3: Das Gesetz. In 838e6-839a3 formuliert der Athener die restriktivste Version des „Gesetzes“ für den Geschlechtsverkehr. Dieser soll als eine „Vereinigung zur Erzeugung von Kindern“ (e6) nur zu diesem Zweck vollzogen wer­ den. Daraus ergeben sich zwei Verbote: jeder Verkehr ist zu unterlassen, bei dem eine Zeugung unmöglich ist (also homosexueller Verkehr), und ebenso jeder Verkehr, bei dem eine Zeugung unerwünscht ist (was auf vorehelichen oder ehebrecherischen heterosexuellen Verkehr zielt [vgl. 840d5ff.]). Diese beiden Verbote werden in allgemeinster Form durch die beiden partizipialen Glieder του μεν άρρενος άπεχομένους und άπεχομένους δε άρουρας θηλείας, ου κ. τ. λ. ausgedrückt, die durch μεν und δε und durch chiastische Stellung aufeinander bezogen sind. Zwischen diesen beiden Gliedern stehen zwei negierte und durch μή ... τε und μηδέ verbundene Partizipialkonstruktionen, deren bildliche Ausdrucksweise (,das Menschengeschlecht abtöten ‘ bzw. ,auf Steine und Felsen säen‘) in Verbindung mit einer losen Syntax das Verständnis erschwert. Am nächsten liegt es, die beiden Partizipien als Erläuterungen zu dem vorausgehenden Partizip τού μεν άρρενος άπεχομένους auf­ zufassen, die zwei verschiedene Aspekte hervorheben: das erste Partizip

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betont die negativen Folgen homosexueller Praxis für die Weiterexistenz der Menschheit (zu ανθρώπων γένος vgl. ανθρώπινον γένος 721b7), während das zweite den homosexuellen Akt als einen gegen die Zeu­ gungsfinalität der Sexualität gerichteten Akt charakterisiert. Panagopoulos (1981, 99 Anm.3) und Föllinger (1996a, 109 Anm.269) sehen dage­ gen in dem Verbot, auf Steine und Felsen zu säen, ein Verbot der Onanie. Eine solche bei isolierter Betrachtung mögliche Deutung (vgl. Genesis 38,9) ist aber im vorliegenden Kontext wenig wahrscheinlich. Denn da­ mit träte zwischen die beiden durch μεν und δέ ausgedrückten Verbote des Verkehrs mit bestimmten Sexualpartnem eine dritte, ganz andersarti­ ge Möglichkeit der Verweigerung der Fortpflanzung. Sodann legt die Metapher vom weiblichen „Ackerfeld“ (839a2) den Schluß nahe, daß auch die Steine und Felsen Metaphern für einen Sexualpartner sind; die­ ser Schluß wird bestätigt durch die Formulierung in 841d4-5 σπειρειν μηδέ άγονα αρρένων παρά φύσιν, die deutlich auf das fragliche partizipiale Kolon μηδέ ... σπείροντας ...ου μήποτε φύσιν ... λήψεται γόνιμον zurückweist. — Der inhaltliche Rigorismus und der bilderreiche Stil sicherten der vorliegenden Partie ein Nachleben als Zitat bzw. Remi­ niszenz bei Klemens Alex., Paidagog. II 10, 90,4—91,2 sowie bei Philon Alex., De spec. leg. 3,39 (V 161,8 ff. Cohn-Wendland) und De vita contempi. 62 (VI 62,14 ff. C.-W.). 839a2 von jedem weiblichen Ackerfeldfernhält: αροορα ist eine nicht seltene Metapher für den weiblichen Schoß (z.B. Tim. 91d2, Theognis 582, Sophokles, Oid. T. 1257, Aischylos, Sieben 754 u.ö.), analog das „Pflügen“ (άροτος) für das Zeugen von Kindern (Sophokles, Ant. 569, Platon, Krat. 406b4; vgl. die Formel παίδων επ’ αροτω γνησίων im Ehevertrag Menander, Dysk. 842, Perik. 436 u.ö.).

(3) 839a3-839b3: Die positiven Auswirkungen dieses Gesetzes. Dem „tausendfachen Unglück“ (836bl) der jetzigen Praxis entspre­ chen die „tausendfältigen Güter“ (zum Ausdruck vgl. 71 ld3 und die An­ merkung zu 757cl), die das geplante Gesetz hervorbringt. Der Athener hebt drei ,Güter4 heraus: (a) Das Gesetz ist der Natur gemäß (da es Ge­ schlechtsverkehr nur zuläßt, wenn eine Zeugung möglich oder gewollt ist), (b) Das Gesetz bewirkt Mäßigung auch in anderen Bereichen; insbe­ sondere ist aufgrund der gemeinsamen Trieb-Struktur (vgl. Bd. II 487 zu 782dl0-783bl) von der Dämpfung des sexuellen Begehrens auch eine mäßigende Wirkung auf das Verlangen nach Speise und Trank zu erwar­ ten. (c) Indem es praktisch den außerehelichen Geschlechtsverkehr ver­ bietet, stabilisiert es die eheliche Gemeinschaft und stiftet Freundschaft zwischen den Ehepartnern.

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839a7 sich verliebter Tollheit und Raserei ... enthält: Vgl. Resp. 403a: der richtige Eros ist frei von Raserei (μάνικάν). In der Perspektive des Phaidros wird dagegen der vergeistigte (homosexuelle) Eros, der den Weg zur Ideenwelt bahnt, positiv als eine Form von heilsamer Raserei (μανία) charakterisiert (244a), womit die negative Charakterisierung der Verliebtheit als Raserei (241a) widerrufen wird. 839b 1 als der ihr wesensgemäße Freund zugetan ist: Die Bezeichnung der Männer als οικείοι („wesensmäßig zugehörige“) Freunde ihrer Frauen verweist auf die Freundschaftsdiskussion im Lysis. Das Zugehö­ rige ist dasjenige, das einem fehlt, dessen man aber zur Erfüllung der na­ turgemäßen Aufgaben bedarf (Lys. 22le). Als diese Mann und Frau ver­ bindende Aufgabe darf hier die Kinderzeugung angesehen werden (zum Unterschied zwischen Platon und Aristoteles vgl. Föllinger 1996a, 110). - Während dieser Hinweis auf die naturgemäße Freundschaft von Ehe­ mann und Ehefrau bei Platon singulär ist, findet bei anderen Autoren sei­ ner Zeit die Freundschaft (φιλία) und Liebe (ερως) zwischen Ehegatten eine ausführlichere Würdigung, so z.B. bei Xenophon, Hier. 3,4; Symp. 8,3; 9,7; Oikon. 10,4; Aristoteles, Nik. Eth. 8,13. 1161a22-25; 8,14. 1162a 15 ff.; weitere Zeugnisse für das Vorhandensein tieferer emotiona­ ler und erotischer Bindung zwischen Ehegatten bieten Cohen 1991a, 167, Hartmann 2002, 125 ff. und Zoepfel 2006, 340.

(4) 839b3—d6: Warum die Einführung des Gesetzes schwer ist. Mit der Hervorhebung der Gattenliebe als einer positiven Folge des Gesetzes könnte die dem Sexualverhalten gewidmete Erörterung enden. Denn der Athener hat nunmehr das Ziel seines Gesetzes und dessen Vor­ teile umrissen und auch einen Weg zur leichten Einführung des Gesetzes aufgezeigt. Doch nun läßt Platon einen jungen, ungestümen Mann auftre­ ten, der dem Gesetzgeber vorwirft, seine Forderungen seien unvernünftig und unerfüllbar (ανόητα και αδύνατα 839b5). Mit diesem Vorwurf wird nicht nur die Schwierigkeit der Einführung deutlich, sondern es wird auch der nomothetische Sachverstand des Gesetzgebers in Frage ge­ stellt. Denn ein vernünftiger Gesetzgeber zielt nur auf das Mögliche; das Unmögliche (τα μή δυνατά 742e3) wird er „weder in vergeblichen Wünschen wollen noch an seine Verwirklichung gehen“ (742d—e). Das Unmögliche kann nun von zweierlei Art sein: Die Unmöglichkeit kann eine innere Unmöglichkeit sein, die auf einem logischen Widerspruch oder auf einer sachlichen Unvereinbarkeit basiert. In diesem Sinne ist es „unmöglich“ (αδύνατον 742e7), daß ein Bürger sehr reich und zugleich sittlich gut ist; deshalb wird ein vernünftiger Gesetzgeber den Reichtum nicht zum Ziel der Gesetzgebung machen (742e-744a). Die Unmöglich­

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keit kann aber auch eine äußere sein, wenn nämlich etwas an sich Mögli­ ches nur deswegen nicht verwirklicht werden kann, weil hierzu gewisse äußere Bedingungen fehlen oder äußere Hindernisse der Verwirklichung im Wege stehen. In diesem Sinne ist für Platon beispielsweise die Ab­ schaffung des Privateigentums durchaus denkbar und sogar als Ideal er­ strebenswert, aber unter den jetzt herrschenden Umständen nicht reali­ sierbar (740a). Im vorliegenden Zusammenhang treten beide Arten der Unmöglichkeit auf. So ist es fur den Athener sachlich nicht miteinander vereinbar, die Tugend als Ziel der Gesetzgebung anzustreben und zu­ gleich die Homosexualität gesetzlich zuzulassen (836d). Der Protest des jungen Mannes zielt dagegen lediglich auf die durch seinen starken Se­ xualtrieb bedingte äußerliche Schwierigkeit, die vom Gesetz verlangte sexuelle Enthaltsamkeit zu praktizieren. Der Gesetzgeber wird damit zu einem neuen Beweisgang genötigt. Er muß zeigen, daß sein Gesetz den Menschen nicht überfordert (839d7) und damit dem allgemeinen juristi­ schen Grundsatz genügt, dem Gesetzesadressaten keine Vorschriften auf­ zubürden, deren Befolgung ihm unmöglich ist. Vor dem eigentlichen Beweis macht der Athener die Verderbtheit der Masse dafür verantwortlich, daß man nicht an die Möglichkeit der Geset­ zeserfüllung glaubt (απιστεΐται 839c8). Dieser Vorwurf der απιστία richtet sich freilich weniger an die Gesetzesempfanger als an die kleinmü­ tigen Gesetzgeber. Dies zeigt der Hinweis des Atheners auf das Problem der Einrichtung von gemeinsamen Mahlzeiten auch für Frauen (780e2 ff.). Denn auch hier glaubt man nicht an die Möglichkeit einer sol­ chen Einrichtung, weil, wie es 781b heißt, die Menschheit in ihrer Ver­ derbtheit zu weit vorangeschritten ist; äußerer Ausdruck dieser Verderbt­ heit ist in beiden Fällen das Geschrei (βοή 78 ld2, 839b6), mit dem sowohl der junge Mann wie die Frauen auf den Vorschlag des Atheners reagieren werden. Das Gegenstück zur απιστία ist die im ersten Buch geforderte „Zuversicht“ (θαρρεΐν 657a-b), mit der ein Gesetzgeber ans Werk gehen muß, sobald er die Realisierbarkeit seiner Vorstellungen erkannt hat.

(5) 839d7-840cl0: Die Enthaltsamkeit der Athleten beweist die Erfüll­ barkeit der Forderungen. Daß die vorgeschriebene Sexualmoral den Menschen nicht überfor­ dert, beweist für den Athener die historisch bezeugte sexuelle Abstinenz erfolgreicher Athleten. Insofern gilt auch in diesem Fall die Bemerkung in 805c3-4: „wenn es nicht durch Fakten genügend erwiesen wäre, daß sich die Sache verwirklichen läßt, so könnte man vielleicht unserem Vor­ schlag widersprechen“ (ähnliche Verweise auf historische Gegebenheiten oder Sitten als Argument für die Praktikabilität platonischer Vorschläge begegnen auch in 656d-e, 780b, 795a, 799a-b, 804e-805a, 806b-c).

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Das Athletenbeispiel hat eine doppelte Funktion in der Argumentation des Atheners (was die von Ritter II 258 monierte Unklarheit zur Folge hat): Einmal zeigt es, daß (körperlich) gut trainierte Athleten leichter zur sexuellen Abstinenz fähig und willens sind als untrainierte (839el-4), und macht so deutlich, daß auch die Bürger Magnesias ein seelisches „Training“ erhalten müssen, um das Gesetz erfüllen zu können. Sodann zeigt es durch eine Art Schluß a minore ad maius, daß den Bürgern die Erfüllung des Gesetzes sogar noch leichter fallt als den Athleten. Denn das den Bürgern Magnesias vor Augen stehende Ziel ist ein noch schö­ neres Ziel als der von den Athleten erstrebte sportliche Sieg. Ferner wer­ den die Bürger über bessere Voraussetzungen zur Erreichung dieses Ziels verfugen als die Athleten, weil ihre Seelen in Magnesia eine entsprechen­ de Erziehung („Training“) erhalten haben werden, während die vor Kraft strotzenden Körper der Athleten um so eher zur Ausschweifung neigen (840a6-bl). Außerdem werden die Bürger im Kampf gegen die Lust noch „von außen“ unterstützt durch den in Musik und Dichtung aufge­ bauten Normendruck und durch die religiöse Tabuisierung normwidrigen Verhaltens (840b5-cl0). 839el—840bl: Die sexuelle Abstinenz der Athleten dürfte ursprüng­ lich kultische Gründe gehabt haben (zusammen mit vegetarischer Kost wurde sie den olympischen Athleten während einer 30tägigen Vorberei­ tungszeit zur Pflicht gemacht; vgl. Burkert 1977, 174); als profaneres Motiv für die Enthaltsamkeit kam die medizinische Ansicht hinzu, daß der Organismus durch den Sexualakt geschwächt werde und daher nicht mehr zu sportlichen Höchstleistungen fähig sei (vgl. Hopfner 1940, 62 f. und 1950, 42). - Vergleiche mit der Athletik (vgl. auch 807c4-dl) wer­ den zu einem Topos popularphilosophischer Protreptik und Paränese. Ei­ ne (bei Dion v. Prusa, Or. 8 überlieferte) Diatribe des Antisthenes vermu­ tet H. Funke (Antisthenes bei Paulus, Hermes 98, 1970, 459-471) als Quelle für den paulinischen Vergleich 1. Kor. 9,24-27. Belege kynischstoischer Provenienz bietet Norden 1892, vgl. auch die Stichworte αθλητής, αγών, ’Ολύμπια, Όλυμπιονίκης, ’Ίσθμια usw. in Schenkls Index zu Epicteti dissertationes.

839e5—840a6: Ikkos aus Tarent war Olympiasieger im Fünfkampf (476 v.Chr.?) und galt als der beste Trainer seiner Zeit (Prot. 316d); die von ihm verfaßten Schriften, in denen er für Sportler eine angemessene Lebensweise propagierte, sind verloren. Vgl. Weiler 1981, 93 f.; Wöhrle 1990, 57f; B. Centrone, Iccos de Tarente, in: R. Goulet (Hrsg.): Dic­ tionnaire des philosophes antiques III, Paris 2000, 859. - Die übrigen von Platon erwähnten Athleten waren alle mehrmals Olympiasieger in Laufwettbewerben; vgl. L. Moretti, Olympionikai. I vincitori negli anti­

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chi agoni olimpici (Atti dell’ Accademia nazionale dei Lincei, ser. 8, vol. 8, fase. 2), Roma 1957, Nr.307 (Ikkos); 294, 306, 312 (Krison von Hi­ mera); 178-179, 186-187, 196-198 (Astylos von Kroton); 316 (Theopomp).

840a2 die mit Besonnenheit verbundene Tapferkeit: Beides hier als naturhafte „vernunftfreie“ Anlagen zu verstehen (vgl. 696b6ff.; 710a-b bzw. 963e).

840c 1—3 in unseren Erzählungen und in Sprichwörtern darstellen und in Liedern besingen usw.: Dies ist eine Form der in 783a empfohlenen Zuhilfenahme der Musen, κηλεΐν („bezaubern, verlocken“) bezeichnet speziell die emotionale Wirkung von Musik und Dichtung auf die Seele (z.B. Resp. 411b2, 601bl, 607c7); vgl. zur vorliegenden Stelle Brisson 1994, 102. 840c5 Den Sieg über die Lust: Ich übernehme (wie Diès) die von Eng­ land vorgeschlagene Einfügung eines ής hinter νίκης. Zur Kampfmeta­ phorik vgl. z.B. 634b4—5, 645a7, 647c9, 791cl, Prot. 356al, Phaidr. 256a8.

840c7 die Furcht, daß dies in keiner Weise und auf keinen Fall fromm ist: Vgl. 838b 10ff.; zur Furcht als Mittel zur Dämpfung der Begierden vgl. 783a6, 839c5. (6) 840cll-e2: Abschließender Appell. Besser als Tiere sollten die Bür­ ger schon sein. Nach dem Aufweis der Erfüllbarkeit des Gesetzes faßt der Athener noch einmal das von den Bürgern Magnesias geforderte richtige Sexual­ verhalten zusammen, indem er — wiederum in einem Schluß a minore ad maius — das Paarungsverhalten der Tiere zum Maßstab nimmt. Demnach sollen die Bürger vor der Ehe auf jeden hetero- oder homosexuellen Ge­ schlechtsverkehr verzichten, dann eine heterosexuelle Bindung durch die Eheschließung eingehen und in dieser lebenslang monogam leben. Mit diesem Verweis auf das bereits 836c erwähnte Verhalten der Tiere kehrt der Gang der Argumentation zu seinem Ausgangspunkt zurück und fin­ det damit einen gewissen Abschluß. D) 840e2—841b5: Die zweitbeste Regelung Überraschenderweise rechnet der Athener jedoch mit der Möglichkeit, daß die Bürger Magnesias trotz ihrer Erziehung auf das Niveau der übri­ gen Griechen und der meisten Barbaren herabsinken, indem sie sich durch die „regellose Aphrodite“ verderben lassen und unfähig werden, der Lust zu widerstehen und das Gesetz zu befolgen.

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Damit würden die Voraussetzungen entfallen, die der Athener seinem Gesetz zugrunde gelegt hatte; die Folge wäre, daß dieses Gesetz, dessen Erfüllbarkeit eben noch bewiesen wurde, sich jetzt tatsächlich als uner­ füllbar erweist, weil es zu Schwieriges fordert. Gemäß den methodischen Ausführungen von 746b-d muß man in diesem Fall auf die Realisierung des Unmöglichen (αδύνατον) verzichten und das unrealisierbare Ele­ ment der Gesetzgebung durch eines ersetzen, das diesem am nächsten kommt, aber realisierbar ist (746b-c). Diesem Grundsatz folgt der Athener auch hier, indem er ein zweites Gesetz vorschlägt, das sich an das erste anschließt und eine „Richtigkeit zweiten Grades“ (841b6) besitzt. Der genaue Inhalt dieses zweitbesten Gesetzes wird erst in 841d5—e4 deutlich. Demnach hält die zweitbeste Regelung wie die beste Regelung am Verbot gleichgeschlechtlicher Lie­ be fest, sofern sie sich nicht auf die Seele des Partners richtet. Sie weicht lediglich darin von der ersten Regelung ab, daß sie offenbar den hetero­ sexuellen Geschlechtsverkehr nicht mehr an den Zeugungszweck bindet und sogar - als Konzession an die „regellose Aphrodite“ - außereheliche Beziehungen zu einer Nichtbürgerin duldet, sofern diese geheimgehalten werden; bei fehlender Geheimhaltung verfällt der Betreffende der Atimie, d. h. dem Verlust gewisser (nicht näher angegebenen) Ehren. Die zweitbeste Regelung entspringt einer Änderung der Strategie des Gesetzgebers (vgl. 841a6—b5). Während nämlich die erste Regelung mit der Möglichkeit eines Sieges über die Lust rechnet und deshalb die Wi­ derstandskraft des Individuums gegenüber der Lust durch Paränese und mit Hilfe der Erziehung zu stärken sucht, geht die zweitbeste Regelung von der pessimistischeren Annahme aus, daß die Menschen nicht mehr fähig sind, der Lust zu widerstehen, weil sie „in ihrem innersten Wesen verdorben“ (841b7) und der „regellosen Aphrodite“ verfallen sind. Da somit eine Stärkung der Widerstandskraft gegenüber der Lust aussichts­ los ist, bleibt dem Gesetzgeber nur der umgekehrte Weg, nämlich die Macht der Lust über die Menschen abzuschwächen. Eine Möglichkeit, dies zu erreichen, besteht darin, den Zufluß und die Nahrung der Lust durch körperliche Anstrengungen in andere Teile des Körpers zu lenken (841a6—8; Näheres hierzu unten). Die Macht des Sexualtriebs wird aber auch geschwächt, wenn der Geschlechtsakt mit Schamgefühl verbunden ist, weil er dann aus Scham nur selten vollzogen wird (841a8—b2). Dies gibt der Athener ausdrücklich als Grund dafür an, daß er - möglicherwei­ se nach dem Vorbild Lykurgs (vgl. zu 841b2) — die Geheimhaltung des außerehelichen Geschlechtsverkehrs mit einer Nichtbürgerin fordert. Die Straflosigkeit einer (geheimgehaltenen) außerehelichen Beziehung läßt sich mit Knoch 1960, 62 damit erklären, daß durch Ehebruch mit ei­ ner Nichtbürgerin die Religion weniger verletzt wird als durch Ehebruch

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mit einer Bürgerin, weil nur die Ehe mit einer Bürgerin „unter heiligen Hochzeitszeremonien“ (841d7) geschlossen wird, und daß die staatliche Ordnung nicht beeinträchtigt wird, weil die Frucht einer solchen Verbin­ dung niemals in den Bürgerstand aufgenommen wird (930d-e); zu den Sanktionen für Ehebruch eines Bürgers mit einer Bürgerin vgl. 784e785a. Im Blick auf heterosexuelle Beziehungen kann man allerdings fragen, inwiefern die Vorschriften des zweiten Gesetzes überhaupt eine Verhal­ tensänderung der Bürger bewirken können, wenn sie sogar außereheliche Beziehungen mit „gekauften oder sonstwie erworbenen“ Frauen (841d7f.) gestatten, sofern diese geheim gehalten werden. Die Antwort liegt offenbar in der Bestimmung, daß solche Beziehungen vor allen Frauen und Männern verborgen bleiben müssen; denn damit wird zumin­ dest ein dauerndes Zusammenleben mit einer Konkubine, wie es z.B. in Athen möglich war (vgl. Harrison 1968, 13-15; s. unten zu 841d3), prak­ tisch unmöglich gemacht. Die den Gesetzeswächtem aufgetragene Einführung des zweitbesten Gesetzes soll erfolgen, wenn sich das erste Gesetz als undurchführbar er­ weist. Das erste Gesetz wird also in einer Erprobungsphase auf seine Praktikabilität hin geprüft. Dies entspricht dem auch sonst in den Nomoi vorgeschlagenen Verfahren, daß bestimmte Gesetze vor der endgültigen Fixierung zunächst eine Zeit lang erprobt, dann aufgrund der dabei ge­ machten Erfahrungen notfalls verbessert oder ergänzt werden sollen (vgl. 769c-d); für die Regelung des Kults wird z.B. eine 10jährige ,Test­ phase6 als angemessen bezeichnet (772b). Eine Besonderheit zeigt der vorliegende Fall darin, daß der Athener die Formulierung einer zweitbes­ ten Regelung nicht den Gesetzeswächtem überläßt, sondern sie ihnen fertig an die Hand gibt. Die zweitbeste Regelung besitzt nach den Worten des Atheners eine „Richtigkeit zweiten Grades“ (841b6). Ordnet man sie in das in 739ale7 entwickelte Stufenschema der drei πολί,τεϊαι ein, so bewegt sie sich auf dem Niveau der — vom Ideal der Politeia aus gerechnet — dritten Ver­ fassung, welche stärker die realen Gegebenheiten berücksichtigt, zu de­ nen nun einmal auch außereheliche Beziehungen gehören. Ähnliche Be­ stimmungen, die sich auf dem Niveau der „dritten Verfassung“ bewegen, begegnen in 674a (gegenüber 666a), 737a, 744b, 779a—b; vgl. dazu Schöpsdau, 1991, 146 ff.

840e4 die sogenannte regellose (άτακτος) Aphrodite: Damit muß ei­ ne den gesetzlichen Rahmen der Ehe mißachtende exzessive und viel­ leicht auch widernatürliche Sexualität gemeint sein (vgl. Triantaphyllopoulos 1985, 89 f., der ähnliche Wendungen aus späterer Zeit anführt). -

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Monogamie galt als griechische Sitte (Herodot 2,92,1) und als naturge­ mäß (z.B. Aristoteles, Nik. Eth. 8,14. 1162al6); Polygamie, Promiskui­ tät und inzestuöse Liebesverhältnisse galten als barbarische Sitte (vgl. Herodot 1,216,1; 4,104; 4,172,2; 4,180,5; Euripides, Andr. 173ff. 215 ff. 465); der Athener sieht sie allerdings auch bei den übrigen Grie­ chen im Schwange. — Die Annahme zweier Aphroditen zur Charakteri­ sierung zweier Formen der Liebe ist formal vergleichbar mit der (inhalt­ lich allerdings anders motivierten) Unterscheidung zwischen der „himm­ lischen“ (primär auf die Seele gerichteten homoerotischen) und der „ge­ meinen“ (auf die Körper gerichteten heterosexuellen) Aphrodite im Symposion 180d (vgl. auch Xenophon, Symp. 8,9).

841a6—8 Die Kraft der Lust ... in einen andern Teil des Körpers lenkt: Dahinter steht keine Sublimationstheorie Freudscher Prägung (so aber Ludwig 2002, 223 Anm. 4), sondern eine physiologische Theorie von der Entstehung des Samens. Da dessen reichliche Produktion als Ursache starken sexuellen Verlangens gilt (vgl. 839b4; Tim. 86c), müssen zur Dämpfung des Verlangens die zur Bildung des Samens dienenden Stoffe in andere Körperteile abgeleitet werden. Nicht sicher zu entscheiden ist, ob es sich um die wohl auch Tim. 91a—b vertretene Theorie handelt, wo­ nach der Samen aus allen Körpersäften entsteht, die in das Gehirn empor­ steigen und durch das Rückenmark in konzentrierter Gestalt als Sperma zu den Zeugungsorganen herabströmen (zu έπίχυσις 841a7 vgl. Tim. 77d6), oder um die jüngere von Aristoteles (z.B. De gen. an. 1,19. 726b9-ll) vertretene sog. hämatogene Theorie, wonach der Samen ein Überrest (περίττωμα) der Nahrung ist, die in einem blutartigen Endzu­ stand an die einzelnen Körperteile verteilt wird (zu beiden Theorien vgl. Thivel 1996, 3-13). In einem vielleicht aus den echten Problemata des Aristoteles stammenden Problem erklärt Plutarch die Tatsache, daß das zahme Hausschwein öfter als das Wildschwein wirft, damit, daß dem Hausschwein eine größere Menge an Nahrung zur Verfügung stehe, die einen Überschuß (περίττωμα) an Zeugungsstoff produziere, während durch die anstrengendere Nahrungssuche des Wildschweins dessen ge­ samte Nahrung aufgebraucht werde, so daß kein Überschuß bleibt (Quaest. nat. 21 917B-D; vgl. dazu auch Aristoteles, De gen. an. 1,18. 725b29ff.). 841a7: Ich folge dem Text von Burnet und der Deutung von England. Das Imperfekt ήν verweist auf frühere Stellen, an denen diese Einsicht gewonnen wurde; in Frage kommen 783b 1 (Erstickung des Zuflusses), 835d8 (Dämpfung durch Anstrengungen), aber auch 839elff. (Askese der Athleten).

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841bl einen schwächeren Zwingherrn (δέσποιναν): Zur Metapher vgl. die Worte des Sophokles Resp. 329c-d (der Geschlechtstrieb als wil­ der und rasender δεσπότης). 841b2—4 So etwas also nur heimlich zu tun, soll bei ihnen als schön gelten, ...es aber nicht heimlich zu tun als schändlich: Zur Bindung der Werturteile ,schön6 und ,häßlich6 an die Verborgenheit des Geschlechts­ aktes vgl. Dissoi Logoi (Vors. 90) 2,4 (vom Verhalten der Frau): και συνίμεν τωι ανδρι έν άσυχίαι μεν καλόν, όπου τοίχοις κρυφθήσεται* έξω δε αισχρόν, όπου τις οψεται. Nach Xenophon, Lak. pol. 1,5 ord­ nete Lykurg an, daß der frisch verheiratete Ehemann sich schämen solle, wenn er beim Betreten oder Verlassen des Gemaches seiner Frau gesehen werde; nach Plutarch, Lyk. 15,8 besuchte der junge Spartaner (der noch kaserniert in seiner Altersgruppe lebte) seine Braut nur „heimlich und mit großer Vorsicht66 (κρύφα και μετ’ εύλαβείας) aus „Scham66 (αίσχυνόμενος) und Furcht, daß es die Hausbewohner bemerken könn­ ten (Dover 1978, 193 Anm. 18 sieht in dieser spartanischen Sitte eine mögliche Anregung für Platons Vorschrift). Xenophon unterstellt Lykurg freilich eugenische Motive: maßvoller Geschlechtsverkehr stärke die ge­ genseitige Anziehungskraft der Eheleute und führe zu kräftigerem Nach­ wuchs als unmäßiger (αμέτρως) Verkehr. Für Platon dürften noch andere Erwägungen hinzukommen: nach Hipp. mai. 299a und Phil. 65e—66a ist der Geschlechtsakt der häßlichste Anblick und eine große Schamlosig­ keit, die wir aus Scham möglichst verbergen und daher der Nacht überlas­ sen; dies fordert auch die ungeschriebene Satzung (841b3^l); zu dieser vgl. Bd. II516 zu 793a6-d6. E) 841b5—842al0: Die verschiedenen Gattungen von Liebhabern. Die beiden Gesetze. Die Einführung der zweitbesten Regelung hat zur Folge, daß die „in ihrem Wesen verdorbenen66 Menschen, die sich selbst unterlegen sind (841b7), „von drei Gattungen eingeschlossen und so gezwungen werden, nicht gegen das Gesetz zu verstoßen66 (841b—c). Die erste der drei Gat­ tungen ist die „gottesfürchtige66 (θεοσεβές); diese Liebenden lassen sich offenbar (wie in 838b-d dargelegt) durch religiöse Scheu (φόβος) von unerlaubtem (homosexuellem) Geschlechtsverkehr abhalten und zum Sieg über die Lust motivieren (840c); sie gehorchen also dem ersten, restriktiven Gesetz. Zu der „ehrliebenden66 (φιλότιμον) zweiten Gattung gehören Menschen, die aus „Ehrgeiz66 nach dem Sieg über die Lust stre­ ben, und wohl auch die, die ihre außerehelichen sexuellen Beziehungen aus Furcht vor dem ihnen im zweitbesten Gesetz (84le) angedrohten Ehren-Entzug (Atimie) geheimhalten (diese Gattung entspricht in ihrer

835cl—842al0

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Selbstbeherrschung dem - freilich homosexuell orientierten - φιλότιμος des Phaidros-, vgl. oben zu 836e5-837el; femzuhalten ist dagegen die im Symposion 208c3 durch φιλοτιμία gekennzeichnete Art des Eros, deren Streben auf die überindividuelle Unsterblichkeit durch Nachruhm geht). Die dritte Gruppe bilden die geistigen Homoerotiker, die ihr Ver­ langen nicht auf den Körper, sondern auf die seelischen Vorzüge des Partners richten. Deren entsexualisierte Erotik ist die einzige Form homoerotischer Freundschaft, die der Gesetzgeber duldet (837d). Einen Konflikt zwischen ihrer Neigung und der für jeden Bürger Magnesias geltenden Pflicht zur Kinderzeugung sieht der Athener offenbar nicht. Gemäß dem im 6. Buch (774a-b, 784b-d) aufgestellten Gesetz, das jeden Bürger bei Strafe zur Heirat und Kinderzeugung zwingt, müssen sie also - neben ihrer homoerotischen Seelenfreundschaft - eine hetero­ sexuelle Verbindung eingehen, um ihrer Fortpflanzungspflicht zu genü­ gen. Der Athener beendet seine Vorschläge mit einer skeptischen Einschät­ zung der Chancen ihrer Verwirklichung. Obwohl diese der Stadt „tau­ sendfältige Güter“, d.h. die Eudämonie gewähren würde (839a6) und für alle Städte der größte Gewinn wäre (841c7), rechnet er damit, daß seine Vorschläge einschließlich der zweitbesten Regelung (= ταυτα ... τα νυν λεγάμενα; anders England) vielleicht bloße Wünsche bleiben müs­ sen (841c6—8). Anders wäre es, wenn die Gottheit mithilft; dann könnte „eines von zweien“ durch ein Gesetz erreicht werden. Die Beschreibung dieser zwei alternativen Gesetzesziele ist - nach 836cl-7 (dem „vor Laios gültigen Gesetz“), nach 838e5—839a3 (der restriktivsten Fassung, die den Geschlechtsverkehr nur zur Fortpflanzung gestattet) und nach 841a8-b5 (dem „zweitbesten Gesetz“, das Geheimhaltung außereheli­ cher Beziehungen fordert) - die vierte und letzte Formulierung des Ge­ setzes über das Sexualverhalten und zugleich die einzige, die auch ge­ setzliche Sanktionen für Zuwiderhandlungen angibt. Von den beiden vom Gesetz zu erzwingenden Formen der Sexualität deckt sich die erste (841dl—5), die sich auf den Verkehr mit der eigenen Ehefrau beschränkt, offensichtlich mit dem vom restriktivsten Gesetz geforderten Verhalten (was durch die an 838e-839a anknüpfende Metaphorik unterstrichen wird); die zweite, die auch heimliche außereheliche Beziehungen zu an­ deren Frauen einschließt (841d5-e4), entspricht offenbar dem zweitbe­ sten Gesetz, das für den außerehelichen Geschlechtsverkehr (die „regel­ lose Aphrodite“) Geheimhaltung fordert. Die Formulierungen in 841 di­ el bringen also gegenüber den früheren Fassungen keine neuen Aspekte, sondern fassen die beiden Gesetzesvorschläge zu einer Alternative zu­ sammen. Die Skepsis des Atheners hinsichtlich der Realisierbarkeit kommt auch

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in der Verwendung des Wortes απιστία („Unwahrscheinlichkeit, Un­ glaube“) zum Ausdruck. Das Substantiv begegnet in der Politeia und in den Nomoi insgesamt nur dreimal: in der Politeia bezeichnet es zweimal (450c7, 457d4) den Zweifel daran, ob die Frauen- und Kindergemein­ schaft möglich ist und ob sie das Beste ist (450c-d); an der einzigen Stel­ le der Nomoi (839d4) steht das Wort mit Bezug auf die restriktive Se­ xualmoral und die Einrichtung von Syssitien für Frauen (mit Bezug auf letztere steht außerdem das Verbum απιστεΐται 839c8). Platon beurteilt also die Durchsetzung seiner sexualethischen Forderungen ähnlich skep­ tisch wie die Frauen- und Kindergemeinschaft der Politeia. Dialogtech­ nisch kommt diese Skepsis dadurch zum Ausdruck, daß nur Megillos der vom Athener vorgetragenen Analyse des Eros und dem daraus abgeleite­ ten Gesetzesentwurf vorbehaltlos zustimmt (837d9-el bzw. 842a4-5), während Kleinias, der eigentliche Adressat dieser Ausführungen, sein Urteil zurückhält und sich erst später äußern möchte (842a7-9; vgl. 837e und den ähnlichen Fall 805b). Da Kleinias aber als Mitglied der Gesetz­ gebungskommission die Freiheit hat, nur diejenigen Gesetze zu überneh­ men, die ihm zusagen (vgl. 702c-d, 739b, 820d-e), könnte es am Ende sogar sein, daß der in Kreta zu gründende Staat auf die platonischen Vor­ schriften für das Sexualverhalten gänzlich verzichtet — es sei denn, daß es dem Athener doch noch gelingt, wie 837e5-6 angekündigt, den Klein­ ias durch den Zauber seiner Worte zu überreden. 841b6 eine Richtigkeit zweiten Grades (ορθότητα δευτέραν): Vgl. Krat. 400el δεύτερος ... τρόπος όρθότητος.

841b7 sich selbst unterlegen: Infolge der Überwältigung durch die Lust: 633e. 841c7 wenn es verwirklicht würde (εΐττερ γένοιτο): Zu dieser Bedin­ gung vgl. Bd. II 311.

841d2 eine edle und freie Person: D. h. wohl: eine Bürgerin (vgl. Saunders 1972 Nr. 75 S. 76).

841d3 mit Konkubinen (παλλακων): Eine παλλακή war zu Platons Zeit eine Frau (meist eine Sklavin), mit der ein Bürger - oft im Anschluß an eine Ehe mit einer Bürgerin — dauerhaft zusammenlebte; die von ihr geborenen Kinder galten als unehelich (νόθοι); vgl. Hartmann 2002, 212ff. 218ff.; Mossé 1991 und Patterson 1991. Die monogame Ehe war jedoch seit dem 5. Jh. die Norm. Daß ein Mann neben seiner Ehefrau auch eine Sklavin als Konkubine unter demselben Dach hält, wie es im homerischen Epos und in der die Heroenzeit widerspiegelnden attischen Tragödie vorkommt (z.B. Aischylos, Agamemnon, Euripides, Androma­ che, Sophokles, Trachinierinneri), scheint im klassischen Athen verpönt

842b 1-850d2

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gewesen zu sein (vgl. Andokides, Or. 4,14; dazu Patterson 284; Hart­ mann 215); ganz ausgeschlossen war ein gemeinsamer Hausstand (συνοικεΐν) mit einer Pallake, da ein solcher nur durch die Eheschließung ge­ stiftet werden konnte (Patterson 286 f.).

841d6—7 mit dem Willen der Götter und unter heiligen Hochzeitszere­ monien: Die Zeremonien (dazu 774e9—775a3) sichern die Legitimität der Ehe und unterscheiden die Ehefrau von einer Pallake. Sie verpflich­ ten die Eheleute zur Erzeugung legitimer Kinder (vgl. 784a7f.), damit die Zahl der Landlose gleichbleibt und der Kult der Familiengötter nicht abbricht (740b8f., 773e7f., 776b4, 878a7); wie die Eheschließung steht auch die Empfängnis unter göttlichem Schutz (vgl. 729c, 775c4). 841d7 gekauft (ώυηταΐς): Der Kauf einer Frau galt als eine bei den Barbaren oder in der als „barbarisch“ empfundenen griechischen Vergan­ genheit übliche Sitte; vgl. Herodot 5,6,1; Aristoteles, Pol. 2,8. 1268b41; dazu Modrzejewski 1983, 45. 84le2 von der Ehre der in der Stadt üblichen Belobigungen ausschließen (άτιμου ...υομοθετοουτες): Platon läßt offen, worin genau der Eh­ renentzug bestehen soll. Da das Adjektiv άτιμου durch den Genitiv των επαίνων determiniert wird, ist es wenig wahrscheinlich, daß es sich bei dieser Atimie um den Entzug bürgerlicher Rechte handelt (wie Bertrand 1999, 383 ff. aus der Begründung folgert, daß der Betreffende sich wirk­ lich wie ein Fremder verhalte). Der Text läßt nur die Deutung zu, daß der Betreffende ungeachtet irgendwelcher sonstigen Verdienste keine Belo­ bigung mehr beanspruchen kann, wie sie sonst Bürger erhalten (so auch Knoch 1960, 62; zur Unschärfe des platonischen Atimiebegriffs vgl. Be­ cker 1932, 93 Anm. 5). Ein Verzicht auf strafrechtliche Folgen entspricht auch der Tendenz Platons, sexuelles Fehlverhalten nur mit moralischen, sozialen und religiösen Sanktionen zu bestrafen (vgl. 783e—785a).

6. 842bl—850d2: Die wirtschaftliche Organisation des Staates 6.1. 842b 1—8: Die gemeinsamen Mahlzeiten

Nachdem der Athener in Buch VII den großen Nutzen von gemeinsa­ men Mahlzeiten (Syssitien) aufgezeigt und zugleich die Durchführung in der von ihm gewünschten Form von einer genaueren Kenntnis der Be­ wohner und ihrer moralischen Verfassung abhängig gemacht hat (783b; vgl. dazu Bd. II 474 ff.), verzichtet er hier auf eine Besprechung der De-

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tails der praktischen Durchführung, zumal in Sparta und Kreta schon zwei unterschiedliche Realisierungen vorliegen. Der Unterschied zwischen den spartanischen und kretischen Syssitien bestand nach Aristoteles, Pol. 2,9. 1271a28ff., 2,10. 1272al2ff. darin, daß in Sparta jeder Bürger einen festen Beitrag zu den Syssitien aus sei­ nem privaten Vermögen entrichten mußte und bei Zahlungsunfähigkeit sein Bürgerrecht verlor, während in Kreta die Kosten der Syssitien „eher von der Gemeinde“ (κοινοτέρως 1272al6), d.h. den öffentlichen Erträ­ gen und Einkünften, bestritten wurden. Der Komparativ κοινοτέρως läßt aber noch Raum für einen privaten Beitrag des kretischen Bürgers, wie ihn Dosiadas FGrHist 458 F 2 für die kretische Stadt Lyttos bezeugt: danach mußte jeder Bürger (neben den ihm vom Vorsteher der Stadt zu­ geteilten Einkünften der Stadt) den Zehnten seiner Erträge für die ge­ meinsamen Mahlzeiten abliefem. Da der vom Kreter zu leistende Mit­ gliedsbeitrag proportional zu seinem Einkommen war, war die Gefahr, den Bürgerstatus zu verlieren, geringer als in Sparta (vgl. hierzu Link 1994, lOff. und 2003, 9f., Schütrumpf 1991, 337f.). Da sich die spartanischen und die kretischen Syssitien hauptsächlich in der Art ihrer Finanzierung unterschieden, dürfte auch die vom Athener nur hypothetisch erwogene dritte Möglichkeit vor allem in der Regelung der Finanzierung von den beiden dorischen Formen abweichen. Worin diese Abweichung genauer besteht, läßt sich nicht sagen. Aus 955e er­ gibt sich zumindest, daß in Magnesia jeder Bürger einen individuellen fi­ nanziellen Beitrag zu den Syssitien leisten sollte. 842b6—8 scheint mir zwar nicht schwer herauszufinden, aber auch kei­ nen großen Nutzen hervorzubringen, wenn man es herausgefunden hat: Za\ dieser ,Abbruchformel‘ vgl. 835b5—7.

6.2. 842c 1—846c8: Landwirtschaftsgesetze Der Geltungsbereich der folgenden Landwirtschaftsgesetze beschränkt sich — mit Ausnahme von 844c 1—dl — auf das um die Stadt liegende Land. Ziel dieses „petit code rural“ (Gemet 1951, p. CLXXIV) ist eine Normierung des bäuerlichen Nachbarrechts und eine Teilregelung der landwirtschaftlichen Produktion (Klingenberg 1976, 4). Bei der Erfas­ sung typischer Sachverhalte und ihre Umsetzung in juristische Tatbestän­ de stützt sich Platon, soweit die erhaltenen Rechtsquellen ein Urteil ge­ statten, auf positives griechisches Recht, das er aber seinen eigenen Ab­ sichten und Ansichten gemäß ergänzt oder modifiziert. So greift er, um den Schutz der Grundstücksgrenzen zu verstärken, auf älteres, noch stär­ ker sakral geprägtes Recht zurück (vgl. Klingenberg 15-20); im Gesetz

842cl—846c8

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über die Ernte der Herbstfrüchte fügt er sakrale Sanktionen hinzu, wenn das Delikt die ökonomische Basis der gesamten Gesellschaft angreift (Klingenberg 146); bei der Abwägung widerstreitender Interessen und in der Abschätzung des Schadens, des Schadensersatzes und der Strafe dif­ ferenziert er stärker als in der historischer Praxis üblich (vgl. Klingenberg 20; 33—35; 104ff.); singulär, aber aus platonischer Sicht erklärbar, sind die Differenzierungen der Strafen gemäß dem sozialen Status des Täters im Abschnitt über die Obsternte (Klingenberg 128). Die folgende Kommentierung fußt, auch wo dies nicht immer aus­ drücklich vermerkt ist, weitgehend auf Klingenbergs Arbeit über Platons νόμοι γεωργικοί und das positive griechische Recht (1976). Für alle hier aus Platzgründen nicht erörterten juristischen Detailaspekte sei auf diese Arbeit hingewiesen, die praktisch einen fortlaufenden rechtshistori­ schen Kommentar darstellt.

842c 1—e5: Einleitung. Die Herkunft des Lebensunterhalts. Magnesia ist ein sich selbst versorgender Agrarstaat ohne Seehandel (vgl. 704c—d), was dem Gesetzgeber seine Aufgabe wesentlich erleich­ tert. In moralischer Hinsicht entfallen durch die Beschränkung auf den Ackerbau alle Berufszweige, die mit dem Seehandel und der Geldwirt­ schaft zu tun haben und wegen ihres sittlichen Gefahrenpotentials (vgl. 918c ff., 919c—d) Bürgern als „freien Menschen“ (d2) nicht angemessen sind. Die angekündigte Gesetzgebung umfaßt im weitesten Sinn alle, die zur Nahrungsversorgung beitragen (e4—5). Deshalb folgen auf die eigentli­ chen Landwirtschaftsgesetze Gesetze über die Handwerker (846dl847b, 848c—849a), die die für den Bauern notwendigen Werkzeuge her­ stellen, über die Einfuhr der für das Handwerk erforderlichen Rohstoffe (847b-e), über die Verteilung der Bodenfrüchte (847e—848c) und ihren Verkauf auf dem Markt (849a—850a) und über die Metöken, welche die den Bürgern verwehrten handwerklichen und kaufmännischen Berufe ausüben (850a—c).

842d4—5 Darlehen und Zinsen auf Zinsen (επιτόκων τόκων): Da in Magnesia (zinslose) Darlehen erlaubt sind (vgl. 742c4-6), könnte es sich bei den hier genannten Darlehen um sog. Seedarlehen handeln, die ge­ wöhnlich mit einem hohen Zinssatz verbunden waren (vgl. Andreau 2001). Platon mißbilligt den Zins (Resp. 555e, Nom. 742c) ebenso wie Aristoteles, der den Verleih von Geld gegen Zins zu den naturwidrigen und daher verwerflichen Erwerbsarten zählt (Pol. 1,10. 1258bl ff). 842d7 für Ackerbauern, Hirten und Bienenzüchter: Die Formulierung zwingt nicht zur Annahme, daß alle Bürger diese Tätigkeiten persönlich

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ausfuhren, sondern läßt die Möglichkeit zu, daß sie Sklaven übertragen werden, was in den oberen Vermögensklassen die Regel sein dürfte (vgl. zu 806d7—807a3).

842d8 die für die Werkzeuge zuständig sind (επιστάταις οργάνων): Gemeint sind die Handwerker, επιστάτης + Gen. einer Sache bezeich­ net deren Hersteller wie Resp. 597b 13 (έπιστάται κλινών). α) 842e6—843b6: Grenzverrückung Der Unveränderlichkeit der Größe der Landlose diente bereits das Ver­ bot einer Erbteilung (740b—d) oder des Verkaufs und Zukaufs (741b). Die Größe eines Landloses kann aber auch durch willkürliche Grenzver­ rückung geändert werden. Hiergegen richtet sich das erste Gesetz. Die formale Struktur des Gesetzes entspricht dem in 721b-d vorgestell­ ten „doppelten Gesetz“. Zunächst (842e6—9) wird das gesetzliche Verbot der Grenzverrückung ausgesprochen. Dann beginnt mit νομίσας („weil er überzeugt sein soll“ usw.) ein proömienartiger Teil, in dem die Bürger durch den warnenden Hinweis auf die göttlichen Grenzhüter zur Respek­ tierung der Grenze aufgefordert werden (842b9—843a5). Den Schluß (843a6-b6) bildet die gesetzliche Androhung einer nicht näher spezifi­ zierten Sakralstrafe und einer vom Gericht abzuschätzenden Profanstrafe; in diesem dritten Teil wird bei der Wiederholung des Verbots der Tatbe­ stand um das Merkmal der Freiwilligkeit (έκών 843b 1) erweitert. Das Gesetz verbietet jedes Verrücken von Grenzzeichen, auch solcher, die öffentliche Wege, Plätze und öffentliche Grundstücke abgrenzen. Da unter den Tatbestandsmerkmalen keine Schädigung genannt ist, ist für die Strafbarkeit nicht erforderlich, daß durch die Grenzverrückung das Grundstück eines inländischen Nachbarn oder eines im Ausland an­ grenzenden Privatmannes beeinträchtigt würde (so Klingenberg 1976, 7). Ferner kommen als Täter nicht nur die Bürger Magnesias, sondern auch Metöken, Sklaven und Fremde in Betracht. Denn Grenzverrückung ist ein Delikt gegen die staatliche Bodenordnung und keine Schädigung eines Privatmanns. Aus diesem Grund hat Platon bei Grenzverletzungen die Möglichkeit einer privaten Schadensklage (δίκη βλάβης) nicht vor­ gesehen (erst die ab 843b7 behandelten Tatbestände bestehen in einer Schädigung, die eine entsprechende Klage erlaubt). Der Täter verfallt an erster Stelle einer Strafe seitens der Götter, dann der des Gesetzes (vergleichbare Doppelungen von sakraler und profaner Strafe begegnen auch 870d-871a, 873a-b, 880e-881b). Der Vollzug der Sakralstrafe wird den Göttern überlassen. Da es sich bei der Grenzverrü­ ckung zugleich um den Bruch eines Eides handelt (843a4), nennt der Text als Götter, die gegen den Grenzverrücker aktiv werden, neben Zeus

842e6—843b6

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Horios (Schützer der Grenze), der im allgemeinsten Sinne die Grenze ga­ rantiert, auch die „Götter“ (843a4 und a8), bei denen die Grenze eidlich beschworen wurde. Namentlich werden genannt Zeus Homophylos (Schützer des Phylengenossen), der bei der Verrückung der Grenze eines „befreundeten Mitbürgers“ (842e8) aktiv wird, und Zeus Xenios (Schüt­ zer des Fremden), der den Besitz des „Grenzanwohners“ (842e8), d.h. des jenseits der Landesgrenze wohnenden Fremden schützt (zu den Epi­ klesen Homophylos, die nur hier begegnet, und Xenios vgl. Arnar 1972, 83 ff.; Schwabl 1972, 341 und 345). Die Strafe seitens der Schwurgötter kann nach gemeingriechischer Vorstellung entweder — gemäß der Selbst­ verfluchung des Schwörenden für den Fall des Meineids - im irdischen Leben oder nach dem Tode im Jenseits oder in einem künftigen zweiten Leben vollzogen werden (für letztere Anschauung vgl. z.B. 870d, 872e, 880e, 904c—e). Mit der Aufnahme eines sakralen Grenzschutzes in sein Gesetz greift Platon auf ältere Vorstellungen zurück, da in seiner Zeit eine sakrale Sanktion kaum noch üblich war (vgl. Haliste 1950a, 100 ff. und Klingen­ berg 1976, 13-19). In älterer Zeit scheint es dagegen Brauch gewesen zu sein, die Grundstücksgrenzen durch einen Fluch zu sichern (Latte 1920, 72). Im 4. Jh. schwindet dagegen der Fluch als sakrale Strafe immer mehr (Latte 76.). Die Androhung einer Strafe seitens der Götter in Pla­ tons Gesetz (843a8) ist funktional dem Fluch gleichwertig, der auf den Täter die Strafe der Götter herabwünscht. Als Profanstrafe sieht Platon eine vom Gericht zu verhängende Strafe vor (843b5-6). Eine chiische Inschrift des 5. Jh. (DGE 688) nennt als staatliche Strafe für Grenzverrückung die Zahlung von 100 Stateren und Atimie (Ehrenentzug); dieser Doppelung entspricht die platonische Dis­ junktion von πάσχειν ή άποτίνειν („erleiden oder bezahlen“) 843b5; vgl. dazu unten S.263 zu 855a7—c6. Ferner ist anzunehmen, daß die Agronomen als zuständige Behörde den alten Grenzverlauf wieder her­ stellen müssen. 843al ein Verrücken des Unverrückbaren (τό τάκίνητα κινεΐν): Zu dem hier in seinem wörtlichen Sinne gebrauchten Sprichwort vgl. 684el (und die dortige Anmerkung), 736dl, 913b9.

843b2 den soll jeder, der will, bei den Grundbesitzern anzeigen: Also (wie in Athen) auch der Sklave (wie 914a, 932d); zur Anzeige (μήνυσις) vgl. Piérart 1974, 453 f. - Dem in AO überlieferten γεωργοις ziehe ich mit Stallbaum und Wilamowitz (1920, II 332 Anm. 3) das von O2 gebote­ ne γεωμόροις vor, da es hier auf den Besitzer, nicht auf den Bebauer des Landes ankommt (daher steht γεωμόροι auch 737e2 und 919d4). Bei beiden Varianten bleibt es befremdlich, daß die Anzeige (μηνυέτω),

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die eigentlich an die Beamten (in diesem Fall die Agronomen) erfolgen sollte (vgl. 730d5), an die Grundbesitzer (also an Privatpersonen) erfol­ gen soll. Auch ist unklar, ob die Anzeige an den betroffenen Grundbesit­ zer gehen soll, der dann eine Privatklage (wegen Schädigung?) anzu­ strengen hätte, oder an einen beliebigen Grundbesitzer, der dann eine Po­ pularklage vor einem der allgemeinen Gerichte anstrengen müßte. Für die zweite Möglichkeit, die auch Piérart 1974, 410 Anm. 94 bevorzugt, spricht der Plural γεωμόροις. Daß dann die Grenzverrückung das einzi­ ge Delikt ist, für welches die Landwirtschaftsgesetze eine öffentliche Klage zulassen, erklärt sich aus der Schwere des Vergehens, die auch da­ rin zum Ausdruck kommt, daß die Gerichte in diesem Fall eine Leibes­ strafe verhängen können (πάσχειν b5; vgl. zu 855a7—c6 S. 263). 843b4 heimlich und mit Gewalt (λάθρα καί βία): Heimlichkeit und Gewalt werden in 864c4-6 als zwei Tatbestandsmerkmale voneinander geschieden, die aber strafverschärfend auch zusammen auftreten können (864c6-8). England versteht hier καί als „or“ (zustimmend Klingenberg 1976, 13 Anm. 70: „da sich beide Modalitäten ausschließen“). Versteht man aber βία im Sinne von „ohne Zustimmung/gegen den Willen des Nachbarn“ (vgl. Ast 1835/38 s. v. βία; eine Bedeutung, die auch Klingen­ berg 1989,213 bei Platon anerkennt), so schließen sich beide Möglichkei­ ten nicht aus, da man einen Grenzstein in der Regel immer nur heimlich und gegen den Willen des Betroffenen versetzen wird (auch Lisi übersetzt καί hier kopulativ mit ,y‘). Eine eindeutige, durch ή markierte Disjunk­ tion von Gewalt und Heimlichkeit begegnet nur 846a5 (βία ή λάθρα).

ß) 843b7-844al: Kleinere Schädigungen der Nachbarn: Nach der im 9. Buch entwickelten Straftheorie ist bei unbeabsichtigten Schäden die einzige Rechtsfolge der Schadensersatz. Wenn aber ein sub­ jektives Schuldmoment hinzukommt (z.B. Vorsatz oder Habgier), wird aus der Schädigung eine Unrechtstat (αδικία); in diesem Fall muß der Täter neben dem Schadensersatz noch eine Strafe erleiden; in den Land­ wirtschaftsgesetzen ist dies meist eine zusätzliche Geldsumme, die an den Geschädigten zu zahlen ist (vgl. Klingenberg 1976, 21-24). Da für Schäden bis zu der beträchtlichen Höhe von 3 Minen = 300 Drachmen die Agronomen zuständig sind (846a), werden in Magnesia die weitaus meisten Landwirtschaftssachen von den Agronomen entschieden (843d). Höhere Schäden werden vor den „allgemeinen Gerichten“ verhandelt, worunter in erster Linie die jeweiligen Phylengerichte zu verstehen sind (vgl. dazuBd. II427 ff.).

843b7—844al

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843b7—d6: Übergreifen auffremdes Land bei der Feldbestellung Das Übergreifen (έπεργάζεσθαι c6, έπεργασία c3) kann in der Wei­ se geschehen, daß man über die Grenze hinaus auf dem Nachbargrund­ stück sät oder erntet, aber auch schon dadurch, daß man beim Pflügen den Pflug erst auf dem Nachbargrundstück wendet. Platon setzt hier den Fall des absichtlichen Übergreifens voraus, wie die zweifache Rechtsfolge zeigt: Wiedergutmachung durch Ersatz des angerichteten Schadens und Zahlung einer Strafe in doppelter Höhe des Schadens. Die Strafzahlung dient der „Heilung“ (dl) des Täters von sei­ ner ungerechten Gesinnung (vgl. 862c8), die hier in mangelndem Re­ spekt vor der Heiligkeit der Grenze (αναίδεια) und niedriger Gewinn­ sucht (ανελευθερία) besteht. Sowohl den Schadensersatz wie die Strafsumme erhält der Geschädigte, der damit insgesamt einen Betrag in dreifacher Höhe des abgeschätzten Schadens erhält (so Knoch 1960, 65, Klingenberg 1976, 30f.). Thür 1983, 366 nimmt an, daß der Schadensersatz wegen Gemeinschädigung an die Polis zu entrichten sei. Der Text bietet aber hierzu keinen Anhaltspunkt, sondern spricht nur von Schädigung des Nachbarn} Thürs Verweis auf 843b5 άποτίνειν ist nicht beweiskräftig, da das dortige pronominale Ob­ jekt οτι sicher nicht für βλάβος, sondern etwa für ζημίαν steht; aber auch das Verb άποτίνειν als solches bezeichnet nicht notwendig eine Zahlung an die Stadt, wie 844d2 αποτινέτω τώ βλαφθέντι beweist). Im Falle des Besäens des Nachbargrundes entsteht dem Nachbar ein Schaden erst mit dem Ernten der aufgegangenen Saat durch den Über­ greifenden. Daher spricht einiges für die Ansicht von Haliste (1949, 27), daß der Übergreifende trotz der Rechtswidrigkeit seines Handelns be­ rechtigt ist, die Früchte seiner Arbeit zu ernten (denn wenn sie dem Ge­ schädigten zufielen, könnte von Schaden kaum noch die Rede sein); auch Klingenberg 1976, 32 f. nimmt für den Übergreifenden ein Emte­ recht iure seminis an. Der Täter hat also an den Geschädigten den dreifa­ chen Wert der geernteten oder noch zu erntenden Früchte zu zahlen, darf diese aber dafür behalten bzw. noch abemten. Um Platons Regelung angemessen beurteilen zu können, fehlt es an ausdrücklichen Zeugnissen für das attische Recht zur Epergasie. Daß die Zahlung der Strafe an den Geschädigten und nicht an die Staatskasse er­ folgen soll, entspricht jedenfalls der attischen Rechtsfolge bei Privatkla­ gen (Haliste 1949, 29). Klingenberg 1976, 34 vermutet, daß im attischen Recht der Vorwurf der αναίδεια mangels sakralen Schutzes der Grund­ stücksgrenzen entfallt, so daß nach dem bei Demosthenes, Or. 21,43 be­ zeugten Prinzip für vorsätzliche Epergasie doppelter Schadensersatz, für fahrlässige einfacher Schadensersatz anzunehmen ist; Platon hätte also die Strafe für Epergasie gegenüber dem attischen Recht verschärft.

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843b8 erzeugen (εντίκτουσοα): Zur Zeugungsmetapher vgl. 691c4 und 701a8. 843d4—5 wie bereits früher gesagt worden ist: In 76 le. 843d6—7: Abweiden Das Abweiden fremden Landes behandelt Platon als eigenes Delikt und nicht im Rahmen des allgemeinen Gesetzes über Vermögensschädi­ gung durch Haustiere (936e3-5). Die Rechtsfolge besteht (wie aus 843el zu schließen ist) in einfacher Ersetzung des durch die Agronomen abgeschätzten Schadens. Die δίκη βλάβης richtet sich gegen den Tier­ halter, der das Tier juristisch gesehen nur als Werkzeug benutzte. In 936e ist dagegen das Tier handelndes (und grammatisches) Subjekt und daher dem Zugriff des Geschädigten ausgesetzt (vgl. Klingenberg 1976, 3637). Explizite Zeugnisse für das Verbot des Weidens auf fremdem Boden sind nur für das griechische Tempelrecht des 4. Jh. belegt. Aus Xeno­ phon, Kyr. 3,2,23 und Demosthenes, Or. 55,11 ist aber zu schließen, daß es in Griechenland Bestimmungen über Weideschäden gegeben hat, die der platonischen Norm tatbestandsmäßig ähnlich waren (Klingenberg 1976, 39). In Attika dürfte die Normverletzung einfachen Schadensersatz nach sich gezogen haben.

843d7-el : Aneignungfremder Bienenschwärme Die Bedeutung der Bienenzucht in der griechischen Wirtschaft und auch in Magnesia erhellt schon daraus, daß Platon in 842d7 neben Bauern und Hirten die Bienenzüchter (μελιττουργοί) nennt. Das Gesetz verbietet die Aneignung des einem andern Imker gehörenden (άλλοτρίους) und aus dessen Stock ausgeflogenen Bienenschwarms, sei es in freier Natur oder auf dem Grundstück des Täters. Das Verbum κατακρούων (el) verstehe ich gemäß der Bedeutung des Präverbs als das Herunterschlagen der Bienen von einem Baumast (so auch Ritter II 259, die Übersetzer Apelt und Taylor sowie Klingenberg 1976, 41), um sie sich anzueignen (οίκειώται el). Unsicher ist die Be­ deutung von τη των μελιττων ήδονη συνεπόμενος (d8—el); denn der Genitiv των μελιττων läßt sich verstehen als Genitivus obiectivus („sei­ nem Vergnügen an Bienen nachgebend“ Susemihl; ähnlich auch Wagner, Apelt, Bury, Rufener, Cassarà sowie Pabôn - Femândez-Galiano, De Vries 1959, 213 f.) oder als Genitivus subiectivus („der Neigung der Bie­ nen entgegenkommend“, z.B. Saunders, Lisi, Pangle, Pegone, Brisson Pradeau, Ferrari - Poli und ich selbst 1977). Im zweiten Fall wird meist aus Plinius, Nat. 11,68 (gaudentplausu atque tinnitu aeris eoque convo-

843b7—844al

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cantur) gefolgert, daß der Täter die Bienen durch Schläge auf Metall an­ lockt, und demgemäß κατακρούων als Schlagen auf Metallbecken o. ä. verstanden. Gegen die Deutung als Gen. subiectivus spricht aber die Überlegung, daß das vorsätzliche Anlocken fremder Bienen durch akus­ tische oder sonstige Mittel ein schwereres Delikt darstellt als das Herun­ terschlagen eines von selbst eingeflogenen Bienenschwarms, so daß nach den strafrechtlichen Prinzipien Platons neben dem Schadensersatz noch eine Strafe für die im Vorsatz liegende „Ungerechtigkeit“ zu erwar­ ten wäre. Statt dessen hat jedoch nach Platons Bestimmung der Aneigner nur den Schaden zu ersetzen. Da Platons Gesetz keine Rückgabe des Bienenschwarms durch den Schadensersatzpflichtigen vorschreibt, vermutet Kränzlein (1963, 103) wie schon Dareste (1893, 72), daß Platon den Schwarm als in das Eigen­ tum des Täters gefallen ansieht. Klingenberg (1976, 45) wendet hierge­ gen ein, daß dann, wenn dem Bieneneinfänger schlimmstenfalls nur ein­ facher Schadensersatz, also bloßer Vorteilsentzug, drohe, der prohibitive Charakter des Gesetzes von vornherein in Frage gestellt sei, und nimmt daher an, daß der geschädigte Imker das Recht hat, sich im Wege der Selbsthilfe, notfalls auch über eine δίκη έξούλης seinen Schwarm zu­ rückzuholen. In diesem Fall käme der monetären Schadensersatzleistung die Funktion einer poenalen Sanktion zu. Eine entsprechende Bestimmung des positiven Rechts ist nicht überlie­ fert. Das vielfach herangezogene solonische Gesetz (Plutarch, Sol. 23,7 = Solon F 62 Ruschenbusch = T 498a Martina) betrifft nur die beim Auf­ stellen von Bienenstöcken einzuhaltenden Abstände. Dennoch darf mit Klingenberg 49 angenommen werden, daß Platons Bestimmung griechi­ sches Recht widerspiegelt. 843e2—3: Brandschäden Das Gesetz betrifft Brandschäden, die durch Unachtsamkeit entstehen können, wenn Strauchwerk, abgehauene Äste, verdorrte Rebstöcke und sonstige Abfälle verbrannt werden, um die Asche als Dünger auf die Fel­ der zu streuen (vgl. Aristoteles, Meteor. 1,4. 341b26-27); eine Rodung durch Niederbrennen des Waldes ist angesichts des spärlichen Waldbe­ standes in Magnesia (vgl. 705c) im 4. Jh. wenig wahrscheinlich. Die Rechtsfolge besteht in einfachem Schadensersatz in der von den Behör­ den festgesetzten Höhe. Eine Übereinstimmung mit dem attischen Recht ist wahrscheinlich, aber nicht nach nachweisbar (Klingenberg 1976, 53).

843e2 nicht auf den Wald achtgibt: Ich verbinde την ύλην als Objekt mit διευλαβηθη und halte mit Stallbaum und Burnet das überlieferte των als einen partitiven Genitiv (und als lectio difficilior) bei: der Wald

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bildet einen Teil des Besitzes des Nachbarn (Diès übernimmt das von Stephanus konjizierte την). 843e3: Die Formel ζημίαν ζημιούσθω (e3), statt deren man βλάβην oder βλάβος τινέτω (wie el oder c7) erwartet, deutet der Scholiast z. St. (Greene 337) als δίκην ύπεχέτω, also als Bestrafung. Viele Ausleger (auch Klingenberg 51—52) nehmen wohl richtiger an, daß Platon dem Geschädigten eine Klage auf Ersatz des vom Gericht geschätzten Scha­ dens zugesteht (zu ζημία ,Schaden* vgl. zu 949d3).

843e3—844al: Pflanzabstände Die Rechtsfolge für die Verletzung des Abstandsgebots ist die gleiche wie bei fahrlässiger Verursachung eines Brandes (aus dem vorhergehen­ den Gesetz ist την δόξασαν ζημίαν τοΐς άρχουσι ζημιούσθω zu er­ gänzen; vgl. Klingenberg 1976, 54-55). Der anschließende Hinweis auf die bereits vorliegenden Gesetze, die dem „größeren Ordner der Stadt“ (= dem Athener) die Arbeit abnehmen, bezieht sich einerseits auf gelten­ des Abstandsrecht, fungiert aber zugleich als Abbruchformel, um nicht noch weitere „kleine Schädigungen** (843b7) behandeln zu müssen, und als Überleitung zum Wasserrecht, für das sich der Athener explizit auf bereits vorliegende Gesetze beruft (zum Verzicht auf eine vollständige gesetzliche Regelung vgl. 769al-771a4 und Bd. II438 ff.). Als Vergleichsmaterial für Platon ist nur das von Plutarch, Sol. 23,7—8 als solonisch deklarierte attische Abstandsgesetz überliefert (= Solon F 60b Ruschenbusch = T 498a Martina). Danach mußte bei Oliven- und Feigenbäumen ein Abstand von 9 Fuß und bei allen anderen Bäumen von 5 Fuß eingehalten werden (zu Einzelheiten vgl. Paoli 1976, 571584; Adam 2003, 382). Über die Rechtsfolge einer Verletzung der Ab­ stände ist aber keine sichere Angabe möglich. Wahrscheinlich war eine δίκη βλάβης auf einfachen Schadensersatz möglich (Klingenberg 1976, 59). γ) 844al-844d3: Wasserrecht (I): Wasserversorgung Wasserarmut auf der einen Seite und heftige, den Mutterboden fort­ schwemmende Niederschläge auf der anderen Seite haben schon die vor­ platonischen Gesetzgeber zu einem Reglement der Wassemutzung ver­ anlaßt. Die in eine gerade dem Wasserrecht angemessene Metaphorik ge­ kleidete Forderung des Atheners, diese „alten und schönen Gesetze** nicht durch Worte aus ihrer Richtung „abzuleiten“, besagt, daß sie in ih­ rer Grundtendenz unverändert übernommen werden können (vgl. Stall­ baum z. St.; Klingenberg 1976, 63; anders England z. St.). Platon greift aber nur einige Bestimmungen aus den vorliegenden Gesetzen heraus,

844al—844d3

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um an ihnen exemplarisch die Grundprinzipien des Wasserrechts aufzu­ zeigen (Details s. im folgenden). Nach Klingenberg 1976, 64 ff. sieht Pla­ ton in Übereinstimmung mit der antiken Wasserwirtschaft zwei getrennte Versorgungssysteme vor: Zur FelderBewässerung werden von der Stadt natürliche Wasserläufe in einem offenen Bewässerungssystem zur Verfügung gestellt. In wasser­ armen Gegenden wird die Bewässerung durch Talsperren und unterirdi­ sche Kanäle gesichert, die von den Agronomen erbaut werden (761a—c). Daneben kann jeder Landwirt aber auch die Quellen benutzen, die auf seinem Grundstück entspringen. Die Trinkwasserversorgung der Stadt erfolgt in unterirdischen ge­ schlossenen Röhren. Die Trinkwasserleitungen münden in der Stadt in die städtischen Brunnen. Die Wasserleitungen und Brunnen unterstehen der Aufsicht der Astynomen (763d) und der Agoranomen (764b). Auf dem Land wird das Trinkwasser außerdem aus Schöpfbrunnen gewon­ nen, die entweder durch Grundwasser oder eine unterirdische Quelle ge­ speist werden (vgl. 844b3 4). Der Erbauer ist jeweils Eigentümer der von ihm errichteten Kunstbau­ ten. Demnach gehören der Stadt die Talsperren, die öffentlichen Zister­ nen und Wasserreservoirs, die unterirdischen Trinkwasserleitungen und die Brunnen in der Stadt. Ein Privatmann ist Eigentümer der von ihm selbst auf seinem Grundstück angelegten Quelleinfassung (vgl. Klingen­ berg 65 Anm. 32) und des Ziehbrunnens (dessen Anlage in 844b3^4 be­ schrieben wird). Problematisch sind Fälle, in denen ein Privatmann Kunstbauten zur eigenen Brauchwasserversorgung auf fremdem Grund und Boden anlegt (vgl. dazu 844a3—7). Das Wasser der natürlichen Wasserläufe ist Gemeineigentum, ebenso der Inhalt der Talsperren und der von den Agronomen angelegten Kanäle (761a-c). Das Wasser der Brunnen und Quellen steht grundsätzlich dem Grundstückseigentümer (also entweder der Stadt oder einem Privat­ mann) zu. Das in Röhren gefaßte Trinkwasser gehört der Stadt, bis es die öffentlichen Brunnen erreicht, dann wird es gemeinfrei. Literatur zum Wasserrecht: Haliste 1950b; Koerner 1974; Klingenberg 1976, 62-132; Wörrle 1981; Louis 1982; Koerner 1982; Bruun 2000; Adam-Magnisali 2003. 844a3—7 : Bewässerungsgräben Das Gesetz befugt jeden Bürger, unter den im Text genannten Bedin­ gungen durch einen von ihm errichteten Bewässerungsgraben Wasser aus dem öffentlichen Brauchwassersystem sowie aus den Talsperren und Kanälen auf sein Grundstück zu leiten, wobei der Bürger vermutlich Ei­ gentümer des Grabens und des darin enthaltenen Wassers ist (Klingen­

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berg 1976, 67 f.). Klingenberg weist auf die erstaunliche Tatsache hin, daß der sonst so kollektivistisch eingestellte Platon das Bewässerungs ­ problem individualistisch und nicht etwa durch ein genossenschaftliches Feldbewässerungssystem löst. Epigraphische Zeugnisse zeigen, daß Platon in der Befugnis zur freien Nutzung öffentlicher Wasserläufe mit dem geltenden Recht überein­ stimmt; überraschenderweise fehlt aber in seinem Gesetz im Unterschied zum geltenden Recht eine Gemeinwohlklausel oder ein Verteilungs­ schlüssel für das Brauchwasser (Klingenberg 69-71). Für über das Nach­ bargrundstück führende Bewässerungsgräben, wie sie Platon gestattet, gibt es zwar Belege, die aber nicht erkennen lassen, ob das Recht zu einer solchen das Nachbargrundstück durchquerenden Bewässerung jedem Privatmann zustand (Klingenberg 71 ff., Bruun 2000, 559-561). Platons Verbot, die Quellen eines Privatmannes anzuschneiden, folgt dem ge­ meingriechischen Grundsatz, daß sich niemand das Wasser eines anderen aneignen darf. 844b 1 —c 1 : Trinkwasserversorgung Ein Bürger, der auf seinem Grundstück erfolglos nach Trinkwasser ge­ graben hat, ist berechtigt, sich von seinem Nachbarn so viel Wasser zu holen, wie für seinen Hausstand erforderlich ist. Ist das Wasser auch beim Nachbarn knapp, setzen die Landaufseher (Agronomen) auf Antrag einer Partei fest, bis zu welchem Maß er am Trinkwasser seiner Nachbarn partizipieren darf. Daß der Berechtigte für das entnommene Trinkwasser nichts zu zahlen braucht, folgert Klingenberg 79-80 (gegen Haliste 1950b, 146) per ana­ logiam aus dem Recht, ohne Entschädigungspflicht einen Bewässerungs ­ graben über das Nachbargrundstück zu ziehen, und aus der Überlegung, daß durch laufende Zahlungen an einen Nachbarn die qualitative Gleich­ heit der Landlose verletzt würde, auf der die Bodenordnung Magnesias basiert. Auch spricht das Verbum κοινωνείτω (b8) in Verbindung mit der von Platon öfters (z.B. Nom. 739c2-3) zitierten Maxime κοινά τά των φίλων („Freunden ist alles gemeinsam“) für eine Berechtigung zur vollen Mitbenutzung (der nur für Attika belegte Verkauf von Grund­ oder Quellwasser entspricht nicht gemeingriechischem Wasserrecht, son­ dern ist wohl eine auf Attika beschränkte Regelung: Koerner 1974, 174; Klingenberg 80). Wer mehr Wasser als die von den Agronomen festge­ setzte Menge entnimmt oder als Quelleigentümer dem anderen diese festgesetzte Trinkwassermenge verweigert, ist zum doppelten Ersatz des Schadens verpflichtet ist (so Klingenberg unter Verweis auf 844c7-d3). Von dem solonischen Gesetz (Plutarch, Sol. 23,6 = Solon F 63 Ru­ schenbusch = T 497 Martina; dazu vgl. Adam 2003, 377) weicht Platon

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in mehreren Punkten ab. Solon verweist den wasserlosen Landwirt zu­ nächst an öffentliche Ziehbrunnen; nur wenn sich im Umkreis von 4 Sta­ dien kein Ziehbrunnen findet, soll der Betreffende auf seinem Grund­ stück nach Wasser graben. Findet er bis zu einer Tiefe von 10 Klaftern kein Wasser, darf er es beim Nachbarn holen, und zwar zweimal täglich eine 6 Choes (ca. 20 Liter) umfassende Kanne. Die 844al-3 angedeutete Orientierung an den „alten und schönen Gesetzen“ darf also nur als Übernahme alter Rechtsprinzipien, nicht von alten Gesetzen verstanden werden (so Klingenberg 1976, 83; vgl. Bruun 2000, 563). - Das gortynische Gesetz Inscr. Cret. IV 73 A = Koerner 1993, Nr. 145 ist zu bruch­ stückhaft überliefert, um sein Verhältnis zu Platons Gesetz eindeutig be­ stimmen zu können (vgl. Klingenberg 83 f.; Koerner 418-421; Effenterre 2003,29-31). 844c 1—7: Regenwasserschäden Da Regenwasserschäden kein spezifisch ländliches Problem darstel­ len, umfaßt der Geltungsbereich des Gesetzes neben dem Land auch die Stadt (c5). Platon unterscheidet zwei mögliche Fälle: 1) Ein Grundstücksbesitzer schädigt einen Nachbarn, dessen Acker­ grundstück höher liegt (= τον επάνω γεωργουντα cl—2), oder einen Anwohner, der mit ihm eine Mauer gemeinsam hat (= όμότοιχον οίκουντα c2), indem er — etwa durch den Bau einer Grenzmauer oder Grenzanpflanzungen oder mangelhafte Pflege der Abflußgräben - den Abfluß des Regenwassers auf sein Grundstück verhindert (cl—3). Der Fall des Anwohners mit gemeinsamer Mauer ist wohl nur in der Stadt mit ihrer besonderen Bauweise (vgl. 779d) denkbar. 2) Der Eigentümer des höher gelegenen Grundstücks beschädigt den tiefer gelegenen Acker oder das angrenzende Wohnhaus, indem er das Regenwasser rücksichtslos abfließen läßt (c3-4). Können die Betroffenen den Fall nicht gütlich regeln, kann jeder, der das will, einen zuständigen Beamten hinzuziehen, um eine Regelung für die beiden Parteien festsetzen zu lassen. Wird die Anordnung der Behör­ de aus Egoismus und Streitsucht nicht befolgt, kann der Geschädigte mit­ tels einer δίκη βλάβης den Schädiger auf doppelten Schadensersatz (zur Wiedergutmachung und zur Bestrafung) verklagen. Einen Beleg für das positive attische Recht liefert die Rede des De­ mosthenes gegen Kallikles (Or. 55). Nach einer eingehenden Diskussion dieser Rede kommt Klingenberg (1976, 95—104) zu dem Ergebnis, daß Platon zwar den Tatbestand des attischen Gesetzes übernimmt, aber als Rechtsfolge eine flexiblere und zeitgemäßere Regelung vorsieht. Statt der attischen nicht schätzbaren (ατίμητος) Schadensklage schreibt er ei­ ne schätzbare (τίμητος) vor, die den Schaden im Einzelfall beiücksich-

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tigt (Klingenberg 104—105). Zu zwei Inschriften aus Gortyn aus dem 5. (Inscr. Cret. IV 52 B, 1-4 und 73 A, 1-6 = Koerner 1993, Nr. 140 bzw. 145) vgl. Klingenberg 106-108, Koerner 415 f. bzw. 418 ^421, Effenterre - Ruzé 1995, 324-326, Bruun 2000, 569. 844c6 jeder, der will (ό βουλόμενος): Morrow (1960a, 245) und Klingenberg (1976, 91 Anm. 207) verstehen darunter einen der beiden involvierten Grundbesitzer. Aber in diesem Fall hätte Platon statt der Formel ό βουλόμενος, die gewöhnlich einen unbestimmten Personen­ kreis bezeichnet, wohl όπότερος αν βούληται geschrieben. Sachlich ist einzuwenden, daß die Partei, die die Erlaubnis erhält, sich an die Behör­ de zu wenden, dies ja nicht nach Belieben tut, sondern weil sie sich ge­ schädigt glaubt, also eher aus einer Notlage als aus freiem Willen heraus. Hält man dagegen an der üblichen Bedeutung von ό βουλόμενος fest, so fordert Platon, daß zur Herstellung des nachbarlichen Friedens jeder Bewohner Magnesias aufgerufen ist, die Behörden einzuschalten. Erst wenn die eine Seite dem Spruch der Behörden nicht gehorcht, steht der anderen Seite eine Klage wegen Schädigung zu.

δ) 844d4—845d3: Ernterecht (I): Abpflücken der sog. Herbstfrüchte Platon beschränkt sich in seinem Gesetz auf die sog. οπώρα. Das Wort bezeichnet zunächst die Jahreszeit zwischen dem Frühaufgang des Sirius (um den 20. Juli) und dem Frühaufgang des Arktur (um den 20. Sept.), dann auch die Früchte, die in dieser Zeit reifen. In diesem Sinne umfaßt das Wort nach den antiken Zeugnissen alle Arten von Baumfiüchten und die Weintrauben (vgl. die Belege bei Klingenberg 1976, 133 f.). Die wichtigsten Früchte dieser Art sind Weintrauben, Feigen und Oli­ ven. Nur die ersten beiden werden von Platon ausdrücklich genannt (844d8-el) und bilden den Gegenstand des ersten Gesetzesabschnitts (844d7—845b7). Die Oliven, an deren Existenz in Magnesia kaum zu zweifeln ist (vgl. 946b6), dürften nach Klingenbergs Vermutung in πάντων των τοιούτων (845b7—cl) mitgemeint sein und werden zusammen mit Birnen, Äpfel, Granatfrüchten im zweiten Abschnitt (845b7-d3) be­ handelt. 844d7-845b7: Weintrauben und Feigen Die Scheidung zwischen Obst, das nicht lagerbar ist (αθησαυριστον), und solchem, das sich zur Aufbewahrung eignet (844d6—7), gilt wohl nur für diesen ersten Teil des Gesetzes (vgl. Klingenberg 1976, 138 ff. gegen Stallbaum). Nicht lagerbar sind gerade die „edlen“ (γενναία e5) Sorten, die als „Tafelobst“ zum sofortigen Verzehr bestimmt sind (vgl.

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auch Campbell 1931, 90-91). Die zur Weinverarbeitung bzw. zur Lage­ rung geeignete Sorte wird als αγροίκος bezeichnet (eig. „bäurisch, länd­ lich“; von mir mit „gewöhnlich“ übersetzt). Bei der „gewöhnlichen“ Traube handelt es sich um eine Sorte der vitis vinifera, subsp. sativa, die kleinere Beeren als die edle Sorte aufweist (Klingenberg 140 mit Verweis auf Bekker, Anecdota Gr. I, 340, 8-10 und Dion v. Prusa Or. 7,46); die „edlen“ Sorten von Trauben und Feigen besitzen entweder von Natur aus oder durch Pfropfen eine bessere Qualität (vgl. Athenaios 14,653D; Eu­ stathios zu Homer, II. 5,253 [II 69,1—5 van der Valk]). Das Gesetz be­ handelt zunächst in 844d8-e5 die gewöhnlichen Sorten, dann in 844e5845b7die edlen Obstsorten. 844d4 gemeinsam teilhaben: Zwischen κοινωνείτω (b8, c5) und κοινωνειν (845b2) kann κοινωνίαν nur ,Teilhabe, gemeinsame Nutzung4 bedeuten. Die von Klingenberg 1976, 136 Anm. 64 verteidigte Deutung als „einverständliche Regelung aller Magneten“ ist abzulehnen, weil da­ mit der platonische Gesetzgeber in ganz singulärer Weise eine Regelung der Gesamtheit der Bewohner Magnesias anheimstellen würde statt etwa einer Behörde oder den „jüngeren Gesetzgebern“ (vgl. 846c; 855d). 844d5 diese Göttin: Wegen des anaphorischen αυτή muß Opora, die Göttin des Herbstes und des Emtesegens, gemeint sein (anders Morrow 1960a, 438). Die zweifachen Gaben Oporas sind einerseits die „edlen“, andererseits die „gewöhnlichen“ Sorten von Trauben und Feigen. 844d6 eine edle Züchtung des Dionysos: Ich halte mit Klingenberg 1976, 137 Anm. 69 und Lisi an dem überlieferten παιδείαν fest, das England durch Verweis auf Euripides, Tro. 128 f. πλεκτάν Αίγυπτου παιδείαν (von Schiffstauen) verteidigt (zur Metapher vgl. auch Theo­ phrast, De caus. plant. 3,7,4, wo die Baumzucht als των φυτών παι­ δεία bezeichnet wird); die meisten Herausgeber und Übersetzer über­ nehmen das von Grou konjizierte παιδιάν „Vergnügen“). Der Ausdruck „Züchtung des Dionysos“ kann neben dem Wein auch die Feige bezeich­ nen, die in der Antike gleichfalls dem Dionysos zugeordnet wird (vgl. Olck 1909, 2145-2146 und 2148 mit Belegen).

(1) 844d8—e5: Bestimmungen über die gewöhnlichen, zur Aufbewah­ rung bestimmten Sorten: Zweck dieser Bestimmungen ist es, eine Schmälerung der Ernte durch frühzeitiges Pflücken (auch durch den Eigentümer) zu verhindern und so die Versorgung mit Wein, Rosinen und getrockneten Feigen bis zur nächsten Ernte sicherzustellen (Kränzlein 1963, 58). Platon denkt wohl primär an die Traubenemte, für deren Beginn schon Hesiod (Erga 609611) den Frühaufgang des Arktur empfiehlt. Wegen des Hinweises auf

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das eigene Grundstück betrifft dieses Gesetz den Bürger als Grundbesit­ zer. Die Strafe ist nicht nach der Vermögenszugehörigkeit gestaffelt, son­ dern nach dem jeweiligen Tatort. Daß die Strafe an das Heiligtum des Dionysos zu zahlen ist, zeigt, daß der Genuß der Herbstfrucht vor dem Aufgang des Arktur ein Sakraldelikt ist. Dieser besondere Rechtsschutz erklärt sich daraus, daß die gemeinen Trauben- und Feigensorten der Versorgung für den Winter dienen, so daß das hier geregelte Delikt einen unmittelbaren Angriff auf die ökonomi­ sche Basis der Gesellschaft darstellt (Klingenberg 1976, 146); für solche Handlungen sehen Platons Landwirtschaftsgesetze eine sakralrechtliche Rechtsfolge vor (z.B. 843a8). Für eine Beeinflussung Platons durch ein solonisches Gesetz (so Hermann 1836a, 63-64, England zu 844el) gibt es nach Klingenberg 146 keine Anhaltspunkte. Den Fall der vorzeitigen Wegnahme des gewöhnlichen Obstes durch Metöken oder Sklaven berücksichtigt Platon ebensowenig wie die Weg­ nahme nach Emtebeginn durch Bürger, Metöken oder einheimische Sklaven (vgl. hierzu die Erwägungen bei Klingenberg 172f.). (2) 844e5—845b7: Bestimmungen für das edle Obst: (2.1) 844e5-845al Bestimmungen für Bürger: Art und Zeitpunkt der Ernte des eigenen Obstes sind dem Bürger freigestellt (844e5-8). Auf unerlaubtem Abpflücken fremden Obstes steht eine Strafe. Zur Begrün­ dung verweist der Athener auf einen νόμος, den er in 913c7—dl im Zu­ sammenhang mit der Fundunterschlagung in der Fassung ά μή κατέθου, μή άνέλη zitiert und auf den er im Gesetz gegen Diebstahl von Gemeineigentum mit κινων ού καταθέμενος (941dl) anspielt. Wäh­ rend Platon hierbei nur eine Verhaltensmaxime zitiert („nimmt nicht weg, was du nicht hingelegt hast“), überliefert Diogenes Laert. 1,57 eine vollständige Gesetzesformulierung (α μή εθου, μή άνέλη· εί δε μή, θάνατος ή ζημία = „was du nicht hingelegt hast, nimm nicht weg; wenn nicht, so ist Tod die Strafe“) und schreibt diese Solon zu. Ruschenbusch 44 (dem Klingenberg 1976, 149 folgt) weist jedoch dieses Gesetz (das wohl auch Platon für solonisch hielt) mit guten Gründen dem Charondas zu und identifiziert das solonische Fundunterschlagungsgesetz mit dem bei Demosthenes, Or. 24,105 zitierten Gesetz (F 23d Ruschenbusch = T 377 Martina). Nicht sicher zu entscheiden ist, welche Strafe in Platons Gesetz mit έκείνως („auf jene Weise“ 845al) gemeint ist. Saunders (1991a, 337) vermutet darin einen Verweis auf die Strafregelung bei Grenzverrückung (843b); aber ein so weit reichender Verweis ist wenig wahrscheinlich. Näher liegt als Bezugspunkt die für das Abpflücken von gewöhnlichem Obst vorgesehene Strafe (844e3—5). Zu diesem Ergebnis kommt auch Klingenberg 150£, der für das vorliegende Delikt eine sa-

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kralrechtliche Sanktion in Form einer als Sakralbuße gedachten Geldstra­ fe vermutet. Eine andere Lösung ergibt sich, wenn man έκείνως auf die ,solonischec Maxime bezieht (im Sinne des vorausgehenden επομένως τω νόμω); dann fordert der Athener, daß der Täter entsprechend dieser Maxime, d. h. wie ein Dieb von Privateigentum nach den Bestimmungen von 933e ff. zu bestrafen sei (so Knoch 1960, 68). Falls das ,solonische‘ Gesetz, wie es Diogenes Laert. überliefert, wirklich die Todesstrafe for­ dert und Platon diesen Wortlaut vor Augen hatte, müßte er die geforderte Todesstrafe (ebenso wie bei der Fundunterschlagung) beseitigt haben (vgl. die Überlegungen von Klingenberg 149). Dies läge auch auf der Li­ nie des historischen Solon, der die drakontische Todesstrafe für Dieb­ stahl durch eine Geldstrafe in Höhe des doppelten Wertes ersetzte (vgl. Solon F la. b Ruschenbusch = T 381a. b Martina). (2.2) 845a 1—4 Bestimmungen für Sklaven’. Thema dieses Passus ist nur der Diebstahl von edlem Obst (anders Knoch 1960, 69), das der Sklave auf fremdem Grundstück abpflückt (δεσπότην των χωρίων a2 bezeich­ net einen fremden Herrn, da der Herr des Sklaven, der die Züchtigungs­ gewalt über den Sklaven besitzt, nicht durch ein Gesetz gegen seinen ei­ genen Sklaven geschützt werden muß). Der griechische Text läßt nicht klar erkennen, ob sich die Zahl der Geißelhiebe nach der Zahl der Beeren an den abgepflückten Trauben bzw. der abgepflückten Feigen richten soll oder nach der Zahl der Beeren, die eine Weintraube aufweist, bzw. der Feigen, die der Feigenbaum trägt (die Übersetzung läßt die Sache daher unentschieden). Die erste Auffassung (die z.B. Susemihl, Ritter I 79, Apelt, Taylor, Pegone oder Lisi vertreten), entspräche der griechischen Praxis, Eigentumsdelikte nach Verschulden und Schadensmaß zu diffe­ renzieren. Die zweite Auffassung, die Klingenberg 1976, 152-155 ent­ wickelt und ausführlich begründet (und auch Pangle und Ferrari — Poli vertreten), paßt besser zum griechischen Text (vor allem in der die Feige betreffenden Formulierung), würde aber zu der Konsequenz führen, daß ein Sklave in Jahren mit gutem Ertrag höher bestraft wird, obwohl gerade dann der Schaden für den Eigentümer verhältnismäßig geringer ist (zu weiteren Detailfragen vgl. Klingenberg a. a. O.). Eine entsprechende Be­ stimmung des positiven Rechts, die die Entscheidung zwischen beiden Alternativen erleichtern würde, ist nicht überliefert. Gesetze, die eine fe­ ste Zahl von Geißelhieben vorschreiben, schreiben bei vergleichbaren Delikten meist 50 oder 100 Hiebe vor (Klingenberg 1976, 153 Anm. 210 und 211). (2.3) 845a4—5 Bestimmungen für Metöken’. Ein Metöke darf beim Pro­ duzenten edles Obst auf dem Weinstock oder am Stamm kaufen und abemten, um es dann auf dem Markt zu verkaufen. Nach Klingenberg 1976, 156 widerspricht diese Bestimmung nicht dem Verteilungsgesetz

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847e2-848c6 und der Marktordnung 849a7-c5, da diese beiden Gesetze zunächst nur das lagerfähige „gewöhnliche“ Obst betreffen. Das „edle Obst“ fällt unter die Marktordnung für den Kleinhandel (849c5—d5); da aber den Bürgern Kauf und Verkauf untersagt ist, bleibt dem Bauern, der sein edles Obst auf dem Markt verkaufen willen, nur die Möglichkeit, es auf dem Stock bzw. Stamm an einen Metöken zu verkaufen, der es dann auf den Fremdenmärkten (849dl) verkaufen darf. Eine vergleichbare ge­ setzliche Bestimmung aus dem positiven griechischen Recht ist nicht be­ kannt. Die Vermutung, daß Platons Vorlage ein solonisches Gesetz war (England zu 844e9), ist nach Klingenberg 157 unbegründet. Zu den kaufrechtlichen Aspekten des platonischen Gesetzes vgl. Pringsheim 1950, 296f., Klingenberg 157 ff. (2.4) 845a5—b7 Bestimmungen für Fremde’. Der durchreisende Bürger einer fremden Stadt darf mit höchstens einem Begleiter kostenlos vom Edelobst pflücken, um es zu essen. Ein ausdrückliches Verbot der Mit­ nahme dieses Obstes wie in 845c6 ist nicht ausgesprochen und ist auch überflüssig, da der Fremde sich ja an der nächsten Wein- oder Feigen­ pflanzung wieder satt essen kann. Griechische Parallelen aus dem positi­ ven Recht sind nicht erhalten, aber bei dem hohen Wert der Gastfreund­ schaft zu vermuten (vgl. Klingenberg 1976, 160-164, der auf die ver­ gleichbare Bestimmung Deuteronomium 23,25 verweist und ihre Unter­ schiede zu Platons Gesetz aufzeigt). Nicht gestattet ist dem Fremden, das gewöhnliche Obst und „ähnliche Früchte“ mit den Bewohnern Magnesias „zu teilen“ (μή κοινωνεΐν b2). Im Kontext besagt das Verbot bloß, daß Fremde das gewöhnliche Obst nicht ebenso kostenlos wie das edle verzehren dürfen; ein Kauf dieses Obstes auf dem Fremdenmarkt wird dadurch ebensowenig verboten wie sein Verzehr bei privater (953b7—c2. dl—5) oder staatlicher (953a4—7) Beherbergung (vgl. Klingenberg 1976, 165). Unklar ist, was mit „ähnli­ che Früchte“ (των τοιούτων bl) gemeint ist. Die Olive kann nach Klin­ genbergs Analyse (der ich folge) nicht gemeint sein, da sie erst in 845b7-d3 mitbehandelt wird (der Abschnitt 844d7-845b7 betrifft expli­ zit nur Weintrauben und Feigen [e6, b6]). Klingenberg 164 bezieht daher των τοιούτων auf die aus dem gewöhnlichen Obst gewonnenen Produk­ te, nämlich Rosinen, Wein und getrocknete Feigen (vgl. 845b6). Die Rechtsfolge einer Normverletzung aus Unwissenheit („Verbotsirr­ tum“) besteht bei dem Fremden in einer Verwarnung und einer Platzver­ weisung (wohl keiner Ausweisung). Der Sklave, der aus eigener Initiati­ ve gehandelt hat, wird mit Geißelhieben bestraft; für die Verwarnung bzw. Geißelung sind wohl die Behörden, nicht der geschädigte Grundbe­ sitzer, zuständig; vermutlich kann der Herr die Züchtigung des Sklaven durch Schadensersatz oder Zahlung einer Buße verhindern (vgl. 936c8-

844d4—845d3

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d4 und 879a2-5 und die Diskussion bei Klingenberg 1976, 168-172). Nicht berücksichtigt ist im Gesetz der Fall vorsätzlichen Abpflückens durch einen Fremden oder dessen Sklaven.

845b7—d3: Äpfel, Birnen, Granatäpfel und andere Früchte dieser Art Unter diese Rubrik fallen alle auf Bäumen wachsenden Früchte (mit Ausnahme der im vorigen Abschnitt behandelten Weintrauben und Fei­ gen) sowie die Oliven (s. oben zu 844d4—845d3). Die Bestimmungen be­ treffen nacheinander Bürger unter 30 Jahren (845c 1-4), Fremde (c4—5) und Bürger über 30 Jahre (c5-d3; daß es sich bei den beiden altersmäßig unterschiedenen Gruppen um Bürger handelt, ist zu schließen aus dem Hinweis auf den Wettstreit in der Tugend 845dl—2). Die Formulierungen des Textes sind nicht ganz eindeutig. Am wahr­ scheinlichsten ist folgende Deutung (vgl. hierzu Klingenberg 1976, 176— 183 und Saunders 1972, Nr. 76 S. 76-77). Einem Bürger unter 30 Jahren ist heimliches Nehmen vom Obst erlaubt; wird er aber ertappt, soll er mit Prügeln fortgetrieben werden; eine δίκη βιαίων wegen dieser Schläge steht dem Geprügelten nicht zu (zur Deutung von c3 ^4- vgl. unten). Ei­ nem Fremden (gleich welchen Alters) stehen hingegen die gleichen Rechte zu wie bei der schon in 845a5—b7 besprochenen Herbstfrucht. Ein Bürger über 30 Jahre hat dieselben Rechte wie der Fremde, jedoch mit der Einschränkung, daß er nur so viel nehmen darf, wie er an Ort und Stelle verzehrt. Bei Nichtgehorsam (d. h. Wegtragen) droht ihm später — falls sein Vergehen dann bekannt wird - der Ausschluß von den Tugend­ preisen (s. dazu unten zu 845dl—2). Die Differenzierung der Rechtsfolgen je nach heimlichem und ertapp­ tem Nehmen gilt wohl nur für die Bürger unter 30 Jahren. Für einen Fremden wäre die Angabe, daß er heimlich davon nehmen darf, überflüs­ sig, da er aufgrund des Verweises auf 845a5-b7 sogar berechtigt ist, die­ se Früchte zu pflücken und zu verzehren; dasselbe gilt für den Bürger über 30 (vgl. Klingenberg 1976, 181). Daß dem Bürger über 30 anders als dem nur durchreisenden Fremden die Mitnahme der Früchte verboten wird, zielt darauf ab, es dem Bürger unmöglich zu machen, sich einen größeren Vorrat zusammenzutragen oder gar einem Mitbürger das ge­ samte Obst abzuemten. Daß den Bürgern unter 30 Jahren nicht wie den übrigen Bürgern die offene Aneignung und der sofortige Verzehr des Obstes gestattet wird, erklären Knoch 1960, 70 und ihm folgend Klingenberg 1976, 178 mit der Mentalität von Jugendlichen, von denen ein stärkerer Mißbrauch der Erlaubnis zum offenen Genuß fremder Früchte zu befürchten wäre. Die von Plutarch, Lyk. 17,2-6 und Xenophon, Lak. pol. 2,6 für Sparta be­ zeugte Sitte, daß Jugendliche mit Erlaubnis Lykurgs Nahrungsmittel und

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Brennholz stehlen durften und im Falle des Ertapptwerdens mit Geißel­ hieben bestraft wurden, weist zu viele Unterschiede zu Platons Regelung auf, um als Anregung für Platon in Betracht zu kommen, der 857a und 941b das Stehlen grundsätzlich verurteilt (vgl. England zu 845c 1; Klin­ genberg 1976, 177). Eine Sonderstellung nehmen die jüngeren Bürger auch darin ein, daß sie mit unblutigen Schlägen veijagt werden sollen. Diese Schläge dienen dem Eigentumsschutz und sind keine Strafmaßnahme, da ja das heimli­ che Abpflücken straflos bleibt. Knoch 1960, 70 sieht in den Schlägen ei­ ne Selbsthilfe des Eigentümers. Die passive Formulierung τυπτέσθω και αμυνέσθω (c2—3), die den Urheber der Schläge unbestimmt läßt, spricht aber eher für die Vermutung von Klingenberg 1976, 176, daß es sich bei dieser Bestimmung um das einem Dritten zustehende Recht der bloßen Nothilfe gegenüber einer jugendlichen Unsitte handelt; zu dieser Nothilfe sind allerdings, ohne daß dies ausdrücklich gesagt wird, nur Bürger, keine Sklaven befugt (Sklaven dürfen gegen einen Freien nur tät­ lich einschreiten, wenn dieser seine Eltern oder Großeltern mißhandelt: 882b und 881c). Körperliche Züchtigung durch Schläge oder Geißelhie­ be wird in Magnesia wie in Athen (vgl. Demosthenes, Or. 22,55; 24,167) gewöhnlich nur gegen Sklaven angewandt (vgl. 764b, 845a, 914b-c); doch können auch Bürger unter bestimmten Bedingungen Schläge erhalten (vgl. unten zu 855a7—c6). 845c3—4 obwohl ein freier Mann, soll er wegen solcher Schläge kei­ nerlei gerichtliches Klagerecht haben (δίκην δ9 είνοα έλευθέρω ... μηδεμίαν): δίκην δ’ είναι fasse ich wie in 915e4—5. 8—9, 958b6—7, cl—2 als „Recht zur Klage haben“ (so u.a. auch Diès, Merker 2004, 38 Anm. 43). Dann kann mit έλευθέρω nur der geprügelte Bürger gemeint sein (vgl. Saunders 1972, Nr. 76 S. 76-77). Das Wort ελεύθερος, das in den Nomoi öfters den Bürger bezeichnen kann, steht hier statt πολίτης, um zu unterstreichen, daß Schläge, die nach griechischer Vorstellung die Ehre eine freien Mannes verletzen, in diesem Falle dem Freien mit Recht gebühren. Susemihl übersetzt dagegen die Wendung mit „gegen keinen Freien soll wegen solcher Schläge Klage erhoben werden dürfen“ (in die­ sem Sinne auch Apelt, Klingenberg 1976, 176).

845dl—2 am Wettstreit in der Tugend teilnehmen: Ausschluß vom Wettstreit in der Tugend, in dem die höchsten Auszeichnungen vergeben werden (vgl. 922a, 952d4 und 953d5), wird auch 935cl angedroht. Wie der Wettstreit in der Tugend (vgl. zu 731b 1) durchzuführen ist, wird al­ lerdings nirgends klar gesagt. Es braucht sich nicht um einen förmlichen Wettbewerb handeln, in dem besondere Preisrichter die Rangfolge ent­ scheiden (so Klingenberg 1976, 182). Möglich ist nämlich auch, daß der

845d4-e9

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„Wettstreit in der Tugend“ eine Metapher ist für die Bewerbung um ein hohes politisches Amt; so soll z.B. zum Aufseher über das gesamte Er­ ziehungswesen der gewählt werden, der unter den Bürgern in jeder Hin­ sicht der beste ist (766a); die höchste Auszeichnung stellt wohl das Amt der Euthynen dar, von denen es heißt, daß sie „in jeder Tugend bewun­ dernswert“ sein müssen (945c. e); die drei, die bei der Wahl die meisten Stimmen erhalten, werden mit dem „Siegespreis“ ausgezeichnet (946b5, e6, 948a5, 951d8, 961a3). Die „Preisrichter“ wären in diesem Fall die Wähler, die den Kandidaten zu wählen haben (in diesem Sinne steht κριταί auch 765cl).

ε) 845d4—e9: Wasserrecht (II): Vergiftung, Abgraben und Diebstahl von Wasser Das vorliegende Gesetz betrifft nur das Wasser von Privatleuten, und zwar sowohl Quellwasser als auch in Zisternen angesammeltes oder in Kanälen herbeigeleitetes Brauchwasser (so die Deutung von συναγυρτον e3 durch K. Gaiser bei Klingenberg 1976, 109 Anm. 323). Das städtische Trinkwasser wird durch eine besondere Vorschrift geschützt (764bl-c4), das Wasser des öffentlichen Bewässerungssystems ist Ge­ meineigentum (vgl. oben zu 844al—844d3). Das Gesetz nennt drei Arten absichtlicher Schädigung: Vergiftung (φαρμακεία), Abgraben (σκάμμα) und Diebstahl (κλοπή) von Wasser. Wie das allgemeine Gesetz über Vergiftung (932e4-933a5) zeigt, kann die Vergiftung von Wasser sowohl durch toxische Substanzen als auch durch Zauberei erfolgen, die als Ursache einer Schädigung in der Antike immer angenommen wurde, wenn eine toxische Substanz nicht nach­ weisbar war und andere Ursachen fehlten (Klingenberg 1976, 110 mit Verweis auf Latte 1920, 68 Anm. 18). Hier kommen als Schäden wohl nur Vermögensschäden in Betracht, da bei Gesundheitsschäden von Mensch oder Tier das allgemeine Gesetz über φαρμακεία (932e—933e) oder bei Tötung die Gesetze über φόνος anzuwenden sind (z.B. für un­ beabsichtigte Vergiftung 865b6; zur Konkurrenz der einschlägigen Ge­ setze vgl. Klingenberg 110 ff.). Der wichtigste Anwendungsfall dürfte die Schädigung landwirtschaftlicher Kulturen durch vergiftetes oder ver­ zaubertes Wasser sein. Die Rechtsfolgen hat Platon nur unvollständig angegeben. Abgraben und Diebstahl ziehen als Profandelikte vermutlich mehrfachen Schadens­ ersatz nach sich; dabei kann der Geschädigte nicht nur wie bei der δίκη κλοπής den unmittelbar, sondern auch den mittelbar verursachten Scha­ den (z. B. Verlust der Ernte oder des Viehs) geltend machen (Klingenberg 1976, 114). Wasservergiftungen erfordern zusätzlich zur abgeschätzten Geldbuße (τίμημα e6) als sakralrechtliche Konsequenz eine nach An­

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Weisungen der Ausleger (vgl. 759c6ff.) durchzufuhrende Reinigung der Quelle und des Wasserbehälters, weil bei der φαρμακεία immer auch Zauberei im Spiel sein kann (so Klingenberg 115) oder weil durch die Vergiftung die als heilig geltenden Quellen und Wasserläufe (vgl. He­ siod, Erga 740) befleckt werden (so Parker 1983, 293 Anm. 59). - Wa­ rum der Geschädigte die Klage bei den Stadtaufsehem (Astynomen) und nicht bei den Landaufsehem (Agronomen) vorbringen muß, ist nicht recht einsichtig, da dieses Wasserschutzgesetz Delikte betrifft, die nur auf dem Land vorkommen können (Klingenberg 1976, 114f. erwägt des­ halb einen Überlieferungsfehler). Das positive griechische Recht bietet nichts Vergleichbares, doch dürf­ te es ähnliche Regelungen gegeben haben. Die inschriftlichen Verwün­ schungen aus Teos (Dirae Teiae [DGE 710 A, 1-6 = GDI 5632a = Syll. 37.38]) bieten eine Parallele lediglich zu Platons Gesetz über die Vergif­ tung (φαρμακεία) und zum vorsätzlichen Mord, nicht speziell zur Was­ servergiftung (vgl. Klingenberg 1976, 116). Manche Ausleger (z. B. Ritter I 79 Anm. und II260, England zu 844d4 und Klingenberg 1976, 63 Anm. 16) vermuten eine Störung des Textzu­ sammenhangs, weil das vorliegende Gesetz sachlich noch zum Abschnitt über die Wasserversorgung (844al—d3) gehöre und die Emtegesetzgebung unterbreche. Diese Argumentation ist aber nicht zwingend, da in den angeblich auseinandergerissenen Teilen jeweils unterschiedliche Themen abgehandelt werden. Im ersten Abschnitt über die Wasserversor­ gung (844al—d3) wurden die Rechte und Pflichten eines Nachbarn be­ züglich der Wasserversorgung und Entsorgung des Regenwassers festge­ legt; hier geht es um vorsätzliche Gefährdung der bereits funktionieren­ den Bewässerung. Im ersten Teil des Emterechts (844d4—845d3) ging es um die Sicherung der Herbstfrucht gegen vorzeitiges Abpflücken und um eine Regelung des Abpflückens; im folgenden zweiten Teil (845el0ff.) geht es um Schädigungen des Nachbarn durch Einbringen der Ernte und das Wegerecht. Auch spricht die proömienartige Einlei­ tung des Wasservergiftungsgesetzes (845d4-el) und der Umstand, daß nur hier in den Nomoi der Gartenbau (κηπεία) erwähnt wird, eher für ei­ nen Neueinsatz als für einen (durch 844d4-845d3 gestörten) Anschluß dieses Gesetzes an die anderen Wassergesetze.

ζ) 845el0-846a3: Ernterecht (II): Wegerecht Das Gesetz regelt das Einbringen der gesamten Ernte einschließlich des Getreides und des Heus (συγκομιδή gebraucht Plutarch, Quaest. nat. 14 915C von der Heuernte). Es erlaubt jedem Landwirt, zu diesem Zweck ein fremdes Grundstück zu überqueren, sofern er dabei keinen Schaden anrichtet, also etwa auf einem fremden Privatweg (Klingenberg

846a3-b2

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1976, 184). Wenn ein Schaden unvermeidbar ist (etwa beim Überqueren eines Ackers), muß der dadurch erzielte Vorteil dreimal so groß sein wie der dem Nachbar entstehende Schaden. Kränzlein 1963, 64 sieht darin eine sorgfältige Abwägung der Interessen der Beteiligten: Niemand braucht seine Anpflanzungen um des kleinen Vorteils eines anderen wil­ len schädigen zu lassen, wohl aber, wenn die Überquerung des Grund­ stücks seinem Nachbarn Einsparungen in dreifacher Höhe des zu erwar­ tenden Schadens bringt. Schwierig ist die vom Gesetz offen gelassene Frage zu beantworten, ob der duldungspflichtige Nachbar Anspruch auf finanzielle Entschädi­ gung hat, da eine Schädigung vom Gesetz ausdrücklich zugelassen wird. Klingenberg 1976, 189 nimmt eine Schadensersatzpflicht an, weil nur so der die Ernte einbringende Landwirt zur Rücksichtnahme auf die Interes­ sen seines Nachbarn (z.B. durch Benutzung eines Privatwegs) angehal­ ten werden kann. Geht man von einfachem Schadensersatz aus, hat der Landwirt bei der Durchquerung des Nachbarackers ein Drittel seines Profits als Schadensersatz dem Nachbarn auszuliefem. Ist sein Profit ge­ ringer als das Dreifache des Schadens, so ist mit Klingenberg 190 anzu­ nehmen, daß der Landwirt, weil er um eines geringen Vorteils willen dem Nachbarn einen unverhältnismäßig hohen Schaden zugefügt hat, diesen Schaden mehrfach zu ersetzen hat. Zeugnisse aus dem positiven Recht für gesetzliche Wegerechte zu ei­ ner Grabstätte und zu religiösen und profanen Zwecken behandelt Klin­ genberg 1976, 190-194; er kommt zu dem Schluß, daß Platon seine Be­ stimmung in Anlehnung an geltendes Recht konzipiert, dabei aber das äl­ tere Recht zu größerer Flexibilität umgestaltet hat.

η) 846a3—b2: Grundsätze für die Behandlung dieser und anderer Schädi­ gungen durch den eigenen Besitz. An den Abschnitt über das Wegerecht fügt sich ein Passus, der die zu­ ständigen Gerichtsorgane bei diesen und anderen Schädigungen nennt. Der Rechtsweg für eine Privatklage in diesen Fällen ist mit Piérart 1974, 398 f. etwa folgendermaßen zu rekonstruieren. Der Kläger reicht seine Klage unter Angabe einer Schadenssumme bei den zuständigen Beamten ein, die den Schaden abschätzen. Übersteigt er nicht den gesetzlich fest­ gelegten Höchstwert, so entscheiden die Beamten den Rechtsstreit selbst; im andern Fall sind dagegen die allgemeinen Gerichte zuständig (Nähe­ res hierzu unten zu 846b 1); ob die Beamten in diesem Fall den Kläger an die Gerichte verweisen oder die Klage selber an die Gerichte weiterlei­ ten, geht aus dem Text nicht hervor (in Athen gaben die Vierzig beim Überschreiten des Höchstwertes den Fall selber an die Diaiteten weiter: Aristoteles, Ath. pol. 53,2). Die hier angegebene Höchstgrenze von 3

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Minen zeigt, daß Platon bei den Beamten primär an die Agronomen denkt (vgl. 76le), doch müssen wegen 845e4 auch die Stadtaufseher mit­ einbegriffen sein, obwohl diese - jedenfalls in der Stadt - nur bis zu 100 Drachmen (= 1 Mine) selbständig richten dürfen (764c). Das Objekt der Schädigung bezeichnet Platon mit αύτον ή των αύτου τι („ihm persönlich oder einem Teil von dessen Besitz“). Mit Klin­ genberg 1976, 196f. beziehe ich αυτόν auf einen unmittelbaren Schaden am toten Mobiliarvermögen und darüber hinaus vielleicht (nach Gaisers Vermutung bei Klingenberg 197 Anm. 24) auf gewisse Beeinträchtigun­ gen der persönlichen Freiheit (Angriffe auf Leben, Körper, Gesundheit scheiden aus, da diese unter andere Gesetze und in die Zuständigkeit be­ stimmter Gerichte fallen und z. T. ein festes Strafmaß nach sich ziehen); mit των αυτού τι dürften dann z. B. durch Verletzung von Sklaven, Vieh oder Bienen verursachte Vermögensschäden gemeint sein. Als κτήματα, mittels deren die Schädigung zugefügt wird, kommen Sklaven, Tiere und Sachen in Betracht. Der Unterschied zu den scheinbar konkurrierenden Bestimmungen 879a2-5 und 936c8—e5 ist darin zu se­ hen, daß es dort um selbständige Delikte eines Sklaven bzw. Schäden durch Haustiere geht (in beiden Bestimmungen ist der Sklave bzw. das Tier grammatisches Subjekt), hier dagegen um den Fall, daß der Sklave als bloßes Werkzeug auf Befehl seines Herrn handelt (etwa beim Abwei­ den, Abackem usw.) oder daß der Bauer das Tier lenkt, etwa indem er ei­ ne Viehherde über fremdes Feld oder an eine fremde Wasserstelle führt. Dementsprechend ist der Besitzer hier unmittelbar für die Schäden haft­ bar, während er dort einer Noxalhaftung unterliegt, bei der er zwischen Schadensersatz oder noxae deditio (Auslieferung des Sklaven 879a3, 936d3-^·) wählen kann. Schädigungen durch Sachen sind nach Klingen­ berg 1976, 199 etwa Schäden bei der Emteeinbringung durch den Ernte­ wagen, Ausräuchem von Bienen durch Rauch, Schädigungen durch ei­ genes Wasser (nicht nur Regenwasser), das man auf das Nachbargrund­ stück leitet, Grabungen und Bauten auf dem eigenen Grundstück, die das Nachbargrundstück beeinträchtigen (Piérart 1974, 409 f. subsumiert da­ gegen unterschiedslos alle Schäden durch Sklaven oder Tiere unter den in 879a2-5 bzw. 936c8-e5 formulierten Tatbestand und deutet daher die κτήματα generell als Sachen). Eine bestimmte Rechtsfolge ist nicht angegeben, weil die Rechtsfolge je nach Delikt variiert; z.B. zieht Beackern fremden Bodens dreifachen Schadensersatz (843c—d), Schädigung durch Regenwasser doppelten Schadensersatz (844d) nach sich.

846a6 durch den eigenen Besitz (διά των αυτού κτημάτων): Gegen die von Ast aufgrund von Ficinos Übersetzung vorgeschlagene Einfii-

846b2-6

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gung von αυτός ή („er selbst oder“), die auch Morrow 1960a, 264 Anm. 44 stillschweigend übernimmt, vgl. Stallbaum z. St.

846bl die allgemeinen Gerichte (τά κοινά δικαστήρια): Da die Schadenssumme von 3 Minen sehr hoch ist, werden auf dem Lande die meisten Klagen wohl von den Agronomen entschieden. Unter den allge­ meinen Gerichten (die 762b von dem aus Dorfbewohnern und Nachbarn bestehenden Schiedsgericht unterschieden werden) verstehe ich die Phylengerichte (vgl. Bd. II429-431 und die Anm. zu 762a6-b4) und das ge­ gebenenfalls als oberste Instanz fungierende Gericht der Auserlesenen Richter. Anders Piérart 1974, 397 f., der hier auch das nachbarliche Schiedsgericht unter die allgemeinen Gerichte subsumiert.

0) 846b2—6: Verantwortlichkeit der Beamten bei ungerechtem Verhalten Der Passus enthält (ähnlich wie 76le—762b) zwei unterschiedliche Be­ stimmungen. Die erste, die sachlich noch zum vorigen Abschnitt gehört, betrifft die Rechtsfolge eines ungerechten Urteilsspruchs eines Beamten (hier eines Agronomen) bei Schadensklagen (vgl. 762a3). Danach ist der betreffende Beamte von dem Geschädigten auf die doppelte Summe ver­ klagbar. Daß der Geschädigte selber zu einer Privatklage berechtigt ist (anders Klingenberg 1976, 27), ergibt sich aus der Formel υπόδικον είναι, bei der der Dativ τφ βλαφθέντι den Klageberechtigten angibt (entsprechend steht bei Popularklagen der Dativ τφ έθέλοντι 868d5—6, 868e6, 871b5-6, 878d3, 907e5-6, 932d3); auf eine Privatklage bezieht sich auch Demosthenes, Or. 21,10 υπόδικος έστω τφ παθόντι (vgl. Piérart 1974, 445). Die zweite Bestimmung betrifft Ungerechtigkeiten (αδικήματα) der Beamten, womit wohl Delikte wie die in 76le—762a (neben ungerechtem Urteil) aufgezählten Vergehen der Agronomen gemeint sind; in diesen Fällen ist Popularklage durch ό βουλόμενος (b5) zulässig. Sowohl die Privatklage des Geschädigten wie die Popularklage sind vor den „allgemeinen Gerichten“ (846b5) vorzubringen. Versteht man unter diesen Gerichten wie in 762b3 ^ die Phylengerichte, dann fehlt hier ein Hinweis auf das gemäß 762a6—b4 bei einer Klagesumme bis zu einer Mine zuständige Schiedsgericht aus Dorfgenossen und Nachbarn; Morrow 1960a, 259 Anm. 33 nimmt in diesem Fall ein Versehen Platons an. Rechnet man — als Alternative - mit Piérart 1974, 397 unter die „all­ gemeinen Gerichte“ (846b5) auch die Schiedsgerichte, muß ein Wider­ spruch zu 762a6—b4 in Kauf genommen werden. Möglichkeiten, einen Beamten während seiner Amtszeit zu belangen (etwa durch Eisangelia an das Volksgericht oder an den Rat), gab es auch in Athen; zu den Einzelheiten vgl. Hansen 1995, 229 und 200.

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846b4 die Ungerechtigkeiten (αδικήματα) der Beamten: Morrow 1960a, 247 und 278 versteht unter den αδικήματα die bereits vorher ge­ nannten ungerechten Urteilssprüche, so daß in diesem Fall der Beamte nicht nur von dem Geschädigten, sondern darüber hinaus von jedem, der will, wegen desselben Urteils verklagt werden könne. Hiergegen spricht aber - abgesehen von dem Problem, auf welche Weise der βουλόμενος Kenntnis von dem nicht ihn selbst betreffenden Urteil des Beamten er­ halten kann (etwa indem der Geschädigte ihn darüber informiert?) - die Partikel αδ (b4), die einen neuen Punkt einleitet („andererseits“, „ihrer­ seits“), indem sie dem ungerecht handelnden Nachbarn (= άδικουντα b2) jetzt die ungerecht handelnden Beamten gegenüberstellt.

846b5 jeden Klagepunkt vor die allgemeinen Gerichte bringen: Ich übernehme das von Ast für έκαστων konjizierte έκαστον (auch die ar­ menische Version setzt einen Akkusativ voraus: vgl. Conybeare 1924, 132) und betrachte mit Ast und Stallbaum τα αδικήματα als einen ab­ soluten Akkusativ. i) 846b6—c8: Verzicht aufeine Regelung aller prozessualen Details Nachdem der Athener in 842e—846b materiellrechtlich festgelegt hat, in welchen Fällen Klageansprüche entstehen, überläßt er die prozeß­ rechtliche Ausgestaltung des Klageverfahrens hier wie in 855d den „jün­ geren Gesetzgebern“, womit die Gesetzeswächter gemeint sind (zu den legislativen Aufgaben der Gesetzeswächter vgl. 772a, 816c, 828b, 835a, 840e, 855d, 957a-b). Grund für den Verzicht des „bejahrten Gesetzge­ bers“ auf Vollständigkeit der Gesetzgebung ist einmal die Belanglosig­ keit des Gegenstands und sodann das Vertrauen in die Kompetenz der jüngeren Gesetzgeber, deren Aufgabe durch die Orientierung an vorhan­ denen Gesetzen und die praktische Erprobung der vorgesehenen Rege­ lungen erleichtert wird (zur Lückenhaftigkeit des Gesetzeskodex vgl. 769al-771a4, 828b und dazu Bd. II 438^-41; zur Erprobungszeit vgl. 772b—c, 957a—b). Die von Platon nur angedeuteten Einzelheiten lassen das athenische Prozeßrecht als Vorbild erkennen (weitere Details werden 855d und 956e—957b erwähnt). In Athen forderte der Kläger den Beklagten in Gegenwart von einem oder — so der Normalfall — zwei Ladungszeugen (κλητήρες) auf, sich an einem bestimmten Termin bei dem zuständigen Beamten einzufinden (diese Vorladung hieß πρόσκλησις oder καλεΐσθαι). Beide Parteien trafen sich dann vor dem Beamten, um diesem die schriftliche Klage (γραφή) bzw. die Erwiderung (αντιγραφή) zu übergeben; dieser Akt hieß λήξις, weil der Beamte, falls er die Klage annahm, den Termin der Verhandlung durch Los festlegte. Die entspre­

846dl—847b6

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chende verbale Wendung λαγχάνειν δίκην bezeichnet daher die Bean­ tragung eines Verhandlungstermins oder noch allgemeiner „einen Pro­ zeß anstrengen“ (vgl. Lipsius 804-824, Gemet 1951, p. CXXXVII, Harrison 1971, 85 ff., Piérart 1974, 399 f.); die substantivische Wendung λήξεων δικών wurde in der Übersetzung mit „Einreichung der Klagen“ wiedergegeben. 6.3. 846dl—847b6: Die Handwerker

Der vorliegende Passus betrifft nicht nur die in dl genannten Hand­ werker, sondern zu einem guten Teil auch die Bürger. Er enthält zwei ge­ setzliche Regelungen von unterschiedlicher Länge. 1) Der Hauptteil (846d2-847b2) leitet aus der proömienartigen Überle­ gung, daß niemand zwei Künste perfekt ausüben kann, das Gesetz ab, daß ein Bürger (bzw. sein Sklave) kein Handwerk ausüben darf, da er als Bürger schon einen „Beruf4 besitzt, und daß der als Handwerker tätige Fremde (bzw. seine Sklaven) nur ein einziges Handwerk ausüben darf. Die Einhaltung dieses Verbots wird durch die Stadtaufseher (Astynomen) überwacht, die den zuwider handelnden Bürger mit Tadel und Atimie (Entzug bürgerlicher Rechte) und den Fremden mit Gefängnis, Geld­ bußen und Ausweisung bestrafen sollen (wobei mit Saunders 1991a, 339—341 anzunehmen ist, daß die Strafe für den Bürger nach Platons Maßstab härter ist als die für den Fremden). 2) Der kurze Schlußteil (847b2-6) benennt lediglich die Justizorgane für Streitigkeiten um die Entlohnung und andere Probleme im Umgang mit Handwerkern. Für Platon steht wie schon für Homer die Kunst der Handwerker unter dem göttlichen Schutz des Hephaistos und der Athene (920d). Für den Aristokraten Platon ist jedoch die um des Gelderwerbs betriebene Hand­ arbeit eines Freien unwürdig (643e-644a; 74le, 743d; vgl. dazu Bd. I 227). Der vorliegende Passus begründet das Verbot handwerklicher Ar­ beit für die Bürger (bzw. von zwei Handwerksberufen für die Fremden) zunächst mit der pragmatischen Begründung, daß niemand zwei Berufe bis zur Perfektion ausüben kann (846d7—e2), dann mit der ontologi­ schen4 Begründung, daß jeder nur eine und nicht viele Personen sein soll (847b2). Beides schließt handwerkliche Arbeit für den Bürger aus. Denn dieser besitzt bereits einen ihn voll ausfüllenden Beruf, nämlich die Er­ haltung der „Ordnung des Staates“ (846d5-6), die vor allem durch die Übernahme von Regierungsämtem geschieht; hinzu kommt, wie in 847a5-6 abschließend festgestellt wird, die „Sorge um die (eigene) Tu­ gend44, welche nicht nur erfordert, daß sich der Bürger von den hand­ werklichen (und kaufmännischen: 919d ff.) Berufen femhält, sondern

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auch, daß er sich regelmäßig in der Tugend trainiert (vgl. dazu Bd. II 557-559 zu 805c2-808dl; ferner Sauvé Meyer 2003, bes. 213 z. St.). Daß niemand gleichzeitig mehrere Berufe gut ausüben kann, dient schon in der Politeia zur pragmatischen Begründung der arbeitsteiligen Produktion (Resp. 369e-370b) und der Befreiung der Wächter von je­ der anderen Tätigkeit (374a-d); für die Bürger gilt die Forderung, daß jeder nur einer statt viele sein darf (Resp. 423d5) und daher nur die ihm eigentümliche Tätigkeit verrichten darf; als Tun des Seinen wird dieses Prinzip der inneren Einheit Wesensmerkmal der Gerechtigkeit (433a-b, 443d—e). Ein gravierender Unterschied zwischen Nomoi und Politeia besteht da­ rin, daß die Sicherung der materiellen Basis der Stadt, die in der Politeia Aufgabe des dritten Bürgerstandes ist, in den Nomoi, soweit sie über die Landwirtschaft hinausgeht, Nichtbürgem (Fremden, Metöken, Sklaven) vorbehalten wird. Der Schmied oder Zimmermann, der im Staat der Poli­ teia Teil der Bürgerschaft ist und durch seinen Beruf seine politische Aufgabe erfüllt, steht in Magnesia außerhalb der Bürgerschaft, deren Pri­ vileg und Daseinsinhalt die Sorge um die Tugend ist (vgl. auch Aristote­ les, Pol. 3,5. 1277b33ff.). Verbote einer ,banausischen6 (vgl. 644a4, 741e4) Tätigkeit für Bürger sind für mehrere griechische Staaten bezeugt. In Sparta soll Lykurg den Spartiaten die Ausübung eines Handwerks oder eines niederen Gewerbes untersagt haben (Xenophon, Lak. pol. 7,1-2 [dazu Rebenich 1998a, 113L], Oikon. 4,3; Isokrates, Or. 11,17f.; 12,46; Plutarch, Lyk. 24,2, Inst. Lac. 41 239D). In Theben war zur Übernahme eines Regierungsam­ tes nur berechtigt, wer sich zehn Jahre von Marktgeschäften freigehalten hatte (Aristoteles, Pol. 3,5. 1278a25-26; vgl. 6,7. 1321a28-29). In Thespiai galt es als anstößig, einen Beruf zu erlernen und sich mit Ackerbau abzugeben (Aristoteles Fr. 611,76 Rose = Titel 143,1 Nr.44 Gigon). In Athen dagegen war zwar das Recht auf Grundbesitz auf die Bürger be­ schränkt, aber sie wurden nicht gehindert, handwerkliche oder gewerbli­ che Berufe auszuüben, die freilich stets weniger Ansehen als die Land­ wirtschaft genossen (Hansen 1995, 122). 846e6-a2: Ich übernehme (wie Diès und Lisi) das von England für δι’ εκείνων konjizierte δή εκείνων und tilge mit Lisi das Komma hinter δημιουργούντων (Stallbaum und Bury streichen das δι’ aufgrund der Randbemerkung in O). Englands Konstruktion von τής αύτου τέχνης hat dagegen, soweit ich sehe, mit Recht keine Nachfolger gefunden. — Die Vorschrift fordert, daß z.B. die Sklaven eines Zimmermanns gleich­ falls im Zimmereigewerbe tätig sind. Wer als Zimmermann zugleich Sklaven beschäftigt, die Erz bearbeiten, um sein Einkommen aufzubes-

847b7—el

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sem, verrät damit nicht nur Geldgier, sondern ist auch als gelernter Zim­ mermann unfähig, die Erzarbeiter fachmännisch zu beaufsichtigen.

847a6 Tadel und Ehrentzug (όνείδεσι κοά άτίμίοας): Zum Ehrentzug (Atimie) vgl. zu 784e5-7. Da ein Bürger, der ein Handwerk betreibt, die Sorge um die Tugend vernachlässigt, dürfte die Atimie darin bestehen, daß er vom Wettbewerb um die Tugend ausgeschlossen wird (vgl. dazu 845dl—2). 847a7 die ihm geziemende Bahn: Zur Vorstellung des Leben als eines Laufes in einer Bahn vgl. die Anm. zu 802a2—3.

847a7 einer der Fremden: Da Handwerker eine feste Produktionsstätte benötigen, müssen mit den Fremden die ortsansässigen freien Fremden, also die Metöken, gemeint sein. Gefängnis und Geldbußen sind wohl als abgestufte Beugemittel zu verstehen (vgl. bl άναγκαζόντων), die den Metöken von seiner , Doppelexistenz ‘ abbringen sollen; wenn diese Zwangsmittel erfolglos bleiben, erfolgt die Ausweisung. 847b3 die Übernahme von Arbeiten (των άνοαρέσεων των έργων): Die von England diskutierte Bedeutung von αναιρέσεων ergibt sich klar aus der ausführlichen Fassung des Gesetzes 920e-921d, in welcher das Verbum άναιρουμένω 921a8 den Handwerker bezeichnet, der einen Auftrag übernimmt.

847b5—6 die allgemeinen Gerichte: Zu diesen vgl. die Anm. zu 846b 1. 6.4. 847b7—el : Einfuhr und Ausfuhr

Aufgrund der geographischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten (vgl. 704c-705b, 842c-d) wird sich die geplante Kolonie kaum in nen­ nenswertem Maße als Importeur und Exporteur betätigen. Daher kann der zwischenstaatliche Warenverkehr ohne Vor- oder Nachteil zollfrei abgewickelt werden. Von dieser Handelsfreiheit ausgenommen sind Waren, die nicht impor­ tiert oder exportiert werden dürfen. Das Importverbot betrifft Räucher­ werk, Farbstoffe (vor allem Purpur) und Rohstoffe, die nur zur Herstel­ lung überflüssiger Produkte benötigt werden; sein Zweck ist also das Femhalten exotischer Waren, die dem Luxus dienen und vielleicht auch fremde Sitten mit sich bringen. Das Exportverbot gilt ohne nähere Spezi­ fizierung für alle Waren, die zum eigenen Gebrauch im Land bleiben müssen. Beide Handelsverbote werden von einem zwölfköpfigen Kolle­ gium von Gesetzeswächtem überwacht. Einer besonderen Kontrolle unterliegt die Einfuhr oder Ausfuhr von Rüstungsgütem, mit denen auch kein gewinnorientierter Handel getrie­ ben werden darf; diese Kontrolle wird von Militärbeamten ausgeübt. Die

242

Kommentar

Formulierung der entsprechenden Gesetze wird wie schon in anderen Fällen den Gesetzeswächtem überlassen (vgl. dazu die Anmerkung zu 846b6—c8). Eine gesetzliche Regelung der Ausfuhr ist fur Solon überliefert, der nach Plutarch, Sol. 24,1 den Export von Nahrungsmittel gesetzlich ver­ boten und nur den Verkauf von Öl an Fremde freigegeben haben soll (F 65 Ruschenbusch = T 487 Martina). Die Ausrüstung des Heeres oblag auch in Athen den Militärbeamten; für die Einfuhr von Getreide war dagegen die Volksversammlung zustän­ dig (Aristoteles, Ath. pol. 43,4). In Magnesia sind dagegen die Gesetzes­ wächter für die Kontrolle von Ausfuhr und Einfuhr nichtmilitärischer Güter zuständig. Chase (1933, 156f.) sieht ein Vorbild für das Kollegium der 12 Gesetzeswächter in den 10 Aufsehern über den Handelshafen (εμ­ πορίου έπιμεληταί) in Athen (Aristoteles, Ath. pol. 51, 4) und folgert daraus, daß diese athenische Behörde noch vor Platons Tod 347 v. Chr. eingesetzt worden sein muß. Da Platon freilich alle wichtigen Funktio­ nen grundsätzlich den Gesetzeswächtem anvertraut, ist es fraglich, ob er für die vorliegende Funktion einer Anregung aus Athen bedurfte. 847c4 soll niemand einführen: Ich lese mit Renehan 1976, 137f. είσαγέτω statt άγέτω, da als Gegensatz zu εξάγω nur εισάγω üblich ist (vgl. 847b7-8, d5 und die übrigen Stellen bei Renehan).

847d8 weder mit diesem noch mit sonstigem Kriegsmaterial (τούτου μήτε άλλου μηδενός): Mit Saunders 1972, Nr. 77 S. 77 verstehe ich un­ ter άλλου ebenfalls Kriegsmaterial und habe entsprechend übersetzt; da­ mit schwindet der von Morrow 1960a, 138 Anm. 127 und Danzig Schaps 2001, 146 Anm. 9 monierte Widerspruch zu 849d und 919c, wo gewinnorientierter Einzelhandel zugelassen wird. 6.5. 847e2—848c6: Die Verteilung der Bodenprodukte

Dieses Gesetz bildet zusammen mit der Markordnung (849a3-850a6), von der es durch einen Paragraphen über die Wohnung der Handwerker getrennt ist, eine sachliche Einheit, in welcher die Versorgung der Bevöl­ kerung mit Nahrungs- und Wirtschaftsgütem geregelt wird (vgl. dazu Bi­ singer 1925, 71 ff., Lauffer 1936, 251 ff., Rameil 1973, 28 ff., Klingen­ berg 1976, 155f., Polacek 1976, 116ff., Brunt 1993, 279f£). Die Hauptzüge des Gesetzes lassen sich kurz zusammenfassen: Alle landwirtschaftlichen Produkte werden in 12 Monatsrationen aufgeteilt; jede Monatsration wird proportional auf die Bürger, auf deren Sklaven und auf die in Magnesia dauernd oder vorübergehend lebenden Fremden aufgeteilt. Nur der auf die Fremden entfallende Anteil gelangt auf den Markt (wo er von Beauftragten der Bürger an die Fremden verkauft wird:

847e2—848c6

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849a-c); die auf Bürger und Sklaven entfallenden Anteile bleiben auf dem Grundstück, und können vom Bürger nach Belieben unter seine Fa­ milienangehörigen und die Sklaven verteilt werden. Das Verteilungsgesetz regelt naturgemäß nur die Verteilung der lager­ fähigen Produkte. Die nicht haltbaren Produkte wie z.B. das „edle Obst“ (844d-845c) muß der Grundbesitzer über einen Mittelsmann auf dem Markt an die Fremden verkaufen (vgl. oben zu 845a4-5). Der ökonomische Zweck des Verteilungsgesetzes ist die Sicherung der Versorgung der Bevölkerung für das ganze Jahr; dem dient die Auftei­ lung des jeweiligen Ernteertrags einer Fruchtart in 12 Monatsrationen (vgl. 849b). Daneben hat das Gesetz den moralischen Zweck einer Redu­ zierung der unumgänglichen kommerziellen Aktivitäten des Bürgers. Dies geschieht dadurch, daß die für die Bürger und ihre Familien samt Sklaven benötigten Lebensmittel auf dem Grundstück verbleiben; ledig­ lich Waren, die er nicht selbst produziert, muß der Bürger auf dem Markt erwerben (vgl. 849e). Im einzelnen weist der Text dieses ökonomisch grundlegenden Geset­ zes manche Unklarheiten auf, die zu unterschiedlichen Interpretationen geführt haben. Uneinigkeit herrscht vor allem darüber, wer die Teilung vorzunehmen hat. Der Subjektsakkusativ πάντας (847e5) läßt sich so deuten, daß je­ der Losinhaber seine Ernte in 12 Teile zu teilen hat (so Lauffer 1936, 252 und die Übersetzung von Diès), aber auch so, daß die Gesamtheit der Bürger die Teilung vomimmt (so z.B. Apelt: „die Gemeinde im Gan­ zen“). Die Vertreter der ersten Interpretation nehmen zugleich an, daß die drei Teile, in die der Bürger seine Monatsration zu teilen hat, gleich groß sind, und bezeichnen sie als „Drittel“ (Bisinger 1925, 72, Lauffer 1936, 252, Diès [„tiers“], Bertrand 1999, 142 Anm. 257 und ich selbst 1977). Dies läßt sich aber vom Text her nicht halten. Denn die einzige Gleich­ heit, die für die drei Teile ausdrücklich gefordert wird, ist die der Qualität (848b9): jede Bevölkerungsgruppe (also auch die Sklaven und Fremden) soll z.B. Getreide oder Gerste von gleicher Güte erhalten. In quantitati­ ver Hinsicht dagegen sollen die Teile proportional (κατά λόγον 848a2) zur Anzahl der davon jeweils zu ernährenden Bürger, Sklaven und Frem­ den gebildet werden; da aber die Kopfzahl dieser drei Bevölkerungs­ gruppen vermutlich ungleich ist, werden die Teile demnach quantitativ verschieden groß ausfallen (vgl. England zu 848a2 und b9, Apelt 531 Anm.53, Brunt 1993, 279f.). Eine solche proportionale Teilung setzt voraus, daß dem Bürger die Anzahl der Sklaven und der Fremden in der Stadt bekannt ist. Die Schaf­ fung dieser Voraussetzung erfordert eine Behörde, die jährlich die Ern­ teerträge registriert, die zahlenmäßige Zusammensetzung der Bevölke-

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Kommentar

rung ermittelt und daraus die Quoten für die Dreiteilung errechnet, die der Bürger danach vorzunehmen hat; von einer solchen Behörde ist aber im Gesetz nirgends die Rede (eine Registrierung der Ernteerträge wird erst 955e zur Festsetzung der abzuführenden Steuer gefordert). Ein Indiz für eine staatliche Regelung kann man aber in dem Wort κύριος (c2) fin­ den: Wenn nämlich der Bürger ausdrücklich ermächtigt wird, die ihm zu­ gewiesenen zwei Teile unter seinen Familienangehörigen und seinen Sklaven nach Belieben aufzuteilen, impliziert dies, daß er zu der voraus­ gehenden Dreiteilung nicht in gleicher Weise befugt ist, sondern viel­ mehr an die staatliche Vorgabe gebunden ist. Im übrigen ist für eine be­ hördliche Regelung der Verteilung nicht erforderlich, daß alle Produkte in einem zentralen Lagerraum zusammengetragen werden, sondern es genügt eine Erfassung in Listen. Daß die Produkte auf dem Grundstück des Produzenten verbleiben, darf vielleicht aus dem Verbum έξ-άγειν 849b2 gefolgert werden: die Beauftragten der einzelnen Bürger bringen den für die Fremden bestimmten Anteil „aus dem Bauernhof heraus“ auf den Markt. Nimmt man dagegen als Subjekt der Verteilung eine Behörde an (so z.B. Brunt 1993, 280), so könnte das Partizip λαβών (cl) so verstanden werden, daß der Bürger seine zwei Teile von der Behörde zugewiesen „erhält“; möglich ist auch die Deutung von Lauffer 1936, 253, daß er sei­ ne Teile von den auf dem Feld arbeitenden Sklaven „empfangt“ (vgl. 806e), oder daß der Bürger die ihm zugewiesenen Teile für sich „behält“, während er den für die Fremden bestimmten für den Marktverkauf ablie­ fert. Für die unklare Wendung το δέ πλέον τούτων (848c3) legt der Kon­ text folgende Deutung nahe: Da der Bürger den seiner Familie und den seinen Sklaven zukommenden Teil an seine Familienmitglieder (= Freie) und seine Sklaven nach Belieben verteilen darf, kann sich, wenn er spar­ sam verteilt, ein Überschuß ergeben. Dieser Überschuß (πλέον τούτων = was aber davon übrig bleibt) wird offenbar als Tierfutter verwendet, wobei er ohne Rücksicht auf die Qualität in rein arithmetischer Propor­ tion „nach Maß und Zahl“ (vgl. dazu 757b) gemäß der Anzahl der zu er­ nährenden Tiere verteilt wird. Diese Verteilung setzt wiederum eine Be­ hörde voraus, die den Überschuß registriert und auf der Basis des gesam­ ten Viehbestandes (πάντων των ζώων c5) die Quote festsetzt, die dem Grundbesitzer für jedes Tier zusteht. Es liegt auf der Hand, daß die Durchführung dieser Verteilungen einen immensen Verwaltungsaufwand erfordert. Vielleicht ist dies der Grund, weshalb Platon die komplizierten Details der praktischen Durchführung übergangen (und sie damit den „jüngeren Gesetzgebern“ überlassen) hat. Nicht berücksichtigt in diesem Gesetz sind die nach 955e für die ge-

847e2—848c6

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meinsamen Mahlzeiten (Syssitien) abzuführenden Naturalbeiträge, wo­ raus aber nicht mit Ritter II 260 f. und Gemet 1951, p. XCIX gefolgert werden darf, daß Platon die gemeinsamen Mahlzeiten aufgegeben habe. Richtiger ist die Vermutung von Lauffer 1936, 255, der aufgrund eines Gesetzes aus Gortyn (GDI 4993 = Kohler — Ziebarth 1912, 39 Nr. 9 = Inscr. Cret. IV 77 B = Koerner 1993 Nr. 152), das einen ziemlich gering­ fügigen Beitrag zu den Syssitien vorschreibt, und einer Nachricht des Dosiadas über die kretische Stadt Lyttos (vgl. zu 842b 1-8) annimmt, daß auch in Magnesia die Beiträge für die Syssitien höchstens ein Zehntel des Ertrags ausmachen und daher von Platon als bloße Steuer (εισφορά 955d) aufgefaßt werden konnten, für deren Entrichtung keine besondere Bestimmung erforderlich ist (vgl. auch oben zu 842b 1—8). Das kretische Gesetz, auf das sich der Athener für sein Verteilungsge­ setz beruft (847e3), ist nicht erhalten. Immerhin erwähnt das genannte Ge­ setz aus Gortyn (Inscr. Cret. IV 77 B) eine Behörde der καρποδαισταί („Früchteteiler“), die im Zusammenhang mit den Beiträgen zu den Syssi­ tien als Kontrollbehörde tätig wurden. Obwohl deren genaue Funktion sich nicht zweifelsfrei klären läßt (vgl. die Diskussion bei Koerner 1993, 431 ff., Effenterre — Ruzé 1995, 13-14, Link 1994, 13 Anm.23 und 2003, 15), zeigt ihre Bezeichnung zumindest, daß die Aufteilung und Aufbe­ wahrung der Früchte nicht im freien Belieben des Produzenten stand. Lauffer 1936, 258 verweist darauf, daß nach Aristoteles, Ath. pol. 51,4 die athenischen Aufseher des Handelshafens (εμπορίου έπιμελη­ ταί) die Importeure dazu zwangen, zwei Drittel des in den Hafen einge­ führten Getreides in die Stadt zu bringen, und übernimmt die Vermutung von Andreades 1931, 259, daß das restliche Drittel für die Fremden vor­ gesehen war, was wie bei Platon eine Dreiteilung ergäbe.

848a4: Abweichend von Burnet übernehme ich wie England und Diès die Lesart von Ο4 αν των.

848a8—bl bei den andern darf überhaupt keine Notwendigkeit zum Verkaufen bestehen: Die Übersetzung des Satzes folgt der Deutung von Saunders 1972, Nr. 78 S. 78. 848b2 in einer Hinsicht gleiche, in anderer Hinsicht ungleiche Teile: gleich hinsichtlich der Qualität (= τω τοιούτω b7), ungleich hinsichtlich der Quantität. 848c 1—6: Die Ähnlichkeit der sprachlichen Form der beiden Vorschrif­ ten cl—3 und c4—6 möchte man kaum für zufällig halten: jede beginnt mit einem (unterschiedliche Objekte regierenden) Partizip von λαμβάνειν (λαβών bzw. λαβόντα) und endet mit dem Infinitiv διανέμειν. Vielleicht soll dadurch die jeweils durchzuführende mathematische Ope-

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ration verdeutlicht werden: im ersten Fall wird eine „gegebene“ (= λα­ βών) Menge von Nahrungsmittel auf eine bestimmte Anzahl von Perso­ nen aufgeteilt, im zweiten Fall aus einer gegebenen (= λαβόντα) Anzahl (von Tieren) die erforderliche Menge berechnet (vgl. Bd. II 607 f. zu sol­ chen komplementären Aufgaben).

848c5 die Zahl aller Tiere: Der Gebrauch des Substantivs in 848a 1 und 849c 1 spricht dafür, daß mit ζώων hier nur die Tiere und nicht alle lebenden Wesen (so Brisson - Pradeau) gemeint sind.

6.6. 848c7—849a2: Die Ansiedlung der Handwerker

Der Abschnitt bildet eine Ergänzung zu 745b—e und 778b-779d. Nach den Bürgern (vgl. 745e) werden jetzt den Handwerkern ihre Wohnorte angewiesen. Der Dativ αύτοΐς 848c7 bezeichnet also entweder die Ge­ samtheit der Bevölkerung einschließlich der Handwerker (so z.B. Saun­ ders 1982, 48 Anm. 14) oder sogar nur die Handwerker, indem der Ge­ danke über das Gesetz zur Verteilung der Bodenprodukte (848bl-c7) hinweg auf die in 848a3—6 erwähnten Handwerker zurückgreift. Die Handwerker werden in 13 Abteilungen gegliedert, von denen eine in den Außenvierteln der Stadt und die übrigen 12 auf dem Land jeweils dort angesiedelt werden, wo ihre Produkte benötigt werden; dies bedeu­ tet, daß ein Teil der Handwerker in einem der 12 Dörfer (Komen) wohnt, wo auch diejenigen Bürger wohnen, deren Land jeweils unmittelbar an das Dorf angrenzt, während ein anderer Teil der Handwerker ebenso wie ein Teil der Bürger zerstreut auf dem das Dorf umgebenden Land lebt; so richtig Saunders 1982, 43-^16 (zur Lage der Dörfer vgl. die Graphik in Bd. II 338). Bisinger 1925, 88, Effenterre 1948, 57, Willetts 1955, 40^44 und 1965, 105-108 u.a. vermuten, daß Platon hier von den Verhältnissen in Gortyn beeinflußt ist, wo ein Gesetz (Inscr. Cret. IV 78,1-4 = Koerner 1993, Nr. 153) offenbar den Metöken (= freigelassenen Fremden nach dem Wortlaut des Gesetzes) ein besonderes Quartier zuwies. Da aber Pla­ ton hier nicht von Metöken, sondern von Handwerkern spricht, kann er auch einfach der in griechischen Städten zu beobachtenden Praxis ge­ folgt sein, nach der sich Handel und Industrie in Zonen ansiedelten, die von den Verwaltungszentren getrennt waren, so daß es nach Funktionen geschiedene Handwerkerviertel gab; vgl. Martin 1974, 46 (daß auch in Gortyn die Handwerker nicht in der Stadt wohnten, zeigt Inscr. Cret. IV 79 = Koerner 1993, Nr. 154).

848c9—d4 In jedem Dorf sollen als erstes Heiligtümer und ein Markt­ platz ausgesondert sein (έξγιρησθοα) für die Götter und die Dämonen in ihrem Gefolge usw.: Bei der Abgrenzung besonderer heiliger Bezirke

849a3—850a6

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werden nach griechischer Sitte auch die von den Kolonisten vorgefunde­ nen Heiligtümer berücksichtigt (vgl. auch 738bff. und Malkin 1987, 148 ff.), έξαιρέω begegnet als Terminus für diese Abgrenzung auch bei Herodot 4,161,3; Thukydides 3,50,2; Xenophon, Kyr. 4,5,51; 7,3,1; 7,5,35.

848d2 die Dämonen in ihrem Gefolge: Zu den Dämonen, die mit den Göttern eine feste Verbindung bilden (z.B. 738d, 799a, 906a), vgl. die Anm. zu 713dl-2 und 717b3-4. 848d3 der Magneten: Erste Erwähnung des Namens der Bewohner der früheren (vgl. 704c) und der an gleicher Stelle neu zu gründenden Sied­ lung, die im folgenden „Stadt der Magneten“ genannt wird (vgl. 860e6, 919d3, 946b6, 969a6).

848el Unterkunft für die Wächter (φρουροίς): Mit den Wächtern sind wohl nicht die Agronomen (so Piérart 1974, 19, Vidal-Naquet 1981, 301—302) gemeint, sondern eher die regulären Soldaten (vgl. Saunders 1982, 46), die die Stadt zu bewachen haben; ein Indiz hierfür liefert das Verbum φρουρείv 779a 1 in einem identischen Kontext. 6.7. 849a3—850a6: Die Marktordnung

Der Passus über die Handwerker schloß mit der Erwähnung der Stadt­ aufseher. Von ihnen gleitet der Gedanke jetzt weiter zu den Marktaufsehem (Agoranomen). Ihre Verantwortlichkeit gilt zuerst den Heiligtümern der Götter, dann dem moralischen Verhalten der Menschen und erst an dritter Stelle den Warenverkauf. Die Regelung dieses Verkaufs bildet den Hauptinhalt des Abschnitts, der in sachlichem Anschluß an die Ausfüh­ rungen 847e2—848c6 nun festlegt, wie der für die Fremden zu reservie­ rende Anteil an der Jahresproduktion zu verkaufen ist; Thema ist also im­ mer noch die Nahrungsversorgung der Bevölkerung. Dabei werden aber auch weitere Aspekte des Marktgeschäfts behandelt, die z. T. später im Rahmen der ausführlichen Darstellung des Handels- und Gewerberechts noch einmal aufgegriffen werden, wie der Verkauf auf Kredit (vgl. 915d—e). Im einzelnen regelt die Marktordnung drei Bereiche: 1) 849a3—e6. Die äußeren Umstände des Verkaufs (Zeit, Ort, Ware, Verkäufer und Käufer): Dieser Teil der Verkaufsordnung ist durch drei explizite Dichotomien bestimmt. (I) Es gibt zwei Arten von Marktplät­ zen: die in den Außenbezirken gelegenen (952e4) Fremdenmärkte (849dl) und den „allgemeinen“ (oder „gemeinsamen“) Markt (849e3). (II) Sodann wird unterschieden zwischen dem Großeinkauf zur Deckung des Monatsbedarfs und dem Kleinhandel (καπηλεία 849c5, d3). (III) Ei­ ne weitere Unterscheidung betrifft den Zeitpunkt: der Großeinkauf ist

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Kommentar

nur an drei festen Terminen im Monat möglich, während andere Kaufge­ schäfte täglich möglich sind (so der Verkauf von Brennholz 849d6). Wel­ che Kombinationen diese Dichotomien miteinander eingehen, bleibt aber weitgehend unklar. Die folgende tabellarische Übersicht beruht daher zu einem großen Teil auf Vermutungen und Extrapolationen (die nicht ex­ plizit im Text erwähnten Angaben sind eingeklammert). Zeit

Ort

Ware

Produzent

Verkäufer

Käufer

1)

1. Tag des Monats

(Fremden­ markt)

Getreide (Monatsbe­ darf)

Bürger (= Grund­ besitzer)

Beauftragte der Bürger (Fremde oder Skla­ ven)

Fremde

2)

10. Tag

(Fremden­ markt)

flüssige Pro­ dukte (Öl, Wein) (Monatsbe­ darf)

Bürger

Beauftragte

Fremde

3)

20. Tag

(Fremden­ markt)

Vieh, Gerä­ te, Häute, Kleidung, Filzwaren u. ä.

Landwirte (= Bürger)

Beauftragte

Fremde

4)

(taglieh)

Fremden­ markt

Gersten-, Weizen­ mehl, Wein und sonstige Nahrungs­ mittel (Kleinhan­ del)

(Bürger)

Fremde (z.B. der 845a er­ wähnte Metöke)

Handwerker und deren Sklaven (Ver­ kauf an Bür­ ger verboten)

5)

(taglieh)

(Fremden­ markt)

Fleisch

(Bürger)

Fleischer (= Fremde)

Fremde, Handwerker u. deren Skla­ ven

6)

täglich

(Fremden­ markt)

Brennholz

(Bürger)

Fremde (die es bei den Beauftragten einkaufen)

Fremde

7)

(taglieh)

allgemeiner Markt

übrige Wa­ ren und Ge­ räte

(Bürger und Handwer­ ker)

Beauftragte der Bürger; Handwerker

(Bürger und Fremde)

849a3—850a6

249

Aus 849dl ist zu folgern, daß Verkäufe, die ausschließlich an Fremde erfolgen, in der Regel auf einem Fremdenmarkt stattfinden (Zweifel sind allerdings möglich beim Brennholz [Nr. 6], das etwa auch im Forst auf ei­ nem Holzschlagplatz verkauft werden könnte). Von diesen Verkäufen werden die Großverkäufe unter Nr. 1-3 durch Beauftragte der Bürger ge­ tätigt (zu folgern aus 849b2—3). Der allgemeine Markt (Nr. 7) hingegen muß, wie sein Name besagt, sowohl für Fremde wie für Bürger bestimmt sein; auf ihm werden alle Waren und Geräte verkauft, die nicht vorher ausdrücklich genannt worden sind. Die beim Brennholz (Nr. 6) angege­ bene Zeitangabe („täglich“) habe ich auf den ganzen Kleinhandel (Nr. 46) ausgedehnt. Dies läßt sich sachlich mit der Notwendigkeit begründen, daß es einen täglichen Markt für schnell verderbliche Ware (so z.B. für das Edle Obst: 844e) oder für plötzlich notwendig werdende Einkäufe geben muß. Als Produzenten der zum Verkauf gelangenden Waren müs­ sen im Fall Nr. 7 neben den Bürgern auch Handwerker angenommen werden, die z.B. die Werkzeuge für den Ackerbau herstellen; entspre­ chend sind für diese Geräte als Käufer auch die Bürger anzusetzen, wo­ bei denkbar ist, daß die Bürger diese Waren wiederum nicht selbst, son­ dern durch die Beauftragten kaufen (Bertrand 1999, 143 Anm. 266 be­ zieht έκάστοισι 849e2 nur auf die Fremden, weil in dem ganzen Ab­ schnitt nur von den Fremden die Rede sei; dieser Argumentation widerspricht jedoch die Erwähnung der Bürger in 849c7; auch deutet die Bezeichnung „allgemeiner“ Markt auf eine über den Kreis der Fremden hinausgehende Käuferschaft). Strittig ist, wer die unter Nr. 3 aufgeführten Waren herstellt (vgl. England z. St.); den Dativ γεωργοΐς vor πράσις (849c3) verstehe ich wegen des Kontrasts zu dem Dativ ξένοις ώνεΐσθαι (c4—5) als Dat. auctoris. Dann muß es sich um Produkte han­ deln, die jedenfalls auf dem Gutshof des Bürgers hergestellt wurden, et­ wa durch Sklaven oder Familienangehörige. Auch in Athen war der Verkauf auf dem Markt durch ein Gesetz (νό­ μος άγορανομικός) geregelt, das u. a. die Preise und Qualitätsstandards für bestimmte Güter festlegte und Verhaltensnormen für die Händler auf­ stellte (vgl. Aristoteles, Ath. pol. 51,1; Theophrast Fr. 651 Fortenbaugh). Die Durchsetzung dieses Gesetzes oblag den Agoranomen (vgl. Harrison 1971, 25-27; Klingenberg 1983, 222 f.). Auch zu Platons Festsetzung bestimmter Markttage für einzelne Waren mag es trotz Fehlen eindeuti­ ger Belege Analogien im positiven Recht gegeben haben; in Athen war z.B. am Monatsersten Sklavenmarkt (Schol. zu Aristophanes, Ritter 43). In manchen Orten bestimmten die Agoranomen die Markttermine und legten bestimmte Stunden oder Tage für den Verkauf fest (vgl. DGE 74, Z.99f. = IG V 1,1390 = GDI 4689 = Syll. 736, Z.99ff.). Zum Ganzen vgl. Stanley 1974, 33-57; Jakab 1997, 59ff.

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2) 849e6—850al. Die rechtliche Seite des Verkaufsaktes: Der Verkaufs­ akt besteht im Tausch einer Ware gegen Geld bzw. von Geld gegen Ware, wobei die Leistungen Zug um Zug auszutauschen sind. Bei einer Stun­ dung des Kaufpreises trägt der Verkäufer das volle Risiko, da es keinen Rechtsweg geben soll, um die Rückgabe der Ware oder die Zahlung des Preises zu erzwingen. Kreditgeschäfte, die Platon ebenso ablehnt wie verzinsliche Darlehen (742c), werden von ihm also nicht direkt durch Gesetz verboten, sondern dadurch zurückgedrängt, daß eine Klagemöglichkeit (δίκη) gegen den säumigen Zahler ausgeschlossen wird (ebenso 915d-e). Wer also einem anderen die Ware „auf Treu und Glauben“ überläßt (πιστεύων 849e8), der handelt „auf eigenes Risiko“ (έπι τω αύτου κινδύνου Resp. 556al0). Wie in der Politeia von diesem Risiko ein Rückgang des „schamlosen Gelderwerbs“ erwartet wird, so soll dadurch beim Markt­ verkauf die Möglichkeit des Betrugs reduziert werden. Zur eigentums­ rechtlichen Problematik des Textes vgl. Gemet 1951, p. CLXXV; Klin­ genberg 1982, 102f.; Millett 1990, 186 (gegen Pringsheim 1950, 129131); Bertrand 1999, 379 Anm. 255. Nach Theophrast Fr. 650,57-59 Fortenbaugh hat auch der Gesetzgeber Charondas beim Kauf den sofortigen Austausch der Leistungen verlangt und den Rechtsweg beim Kreditverkauf ausgeschlossen; ähnliche Rege­ lungen soll es nach Aristoteles, Nik. Eth. 9,1. 1164b 13-14 in manchen griechischen Stadtstaaten gegeben haben. 3) 850a 1—6. Die Registrierung von Verkaufsgewinnen oder -Verlusten: Das in diesem Abschnitt zitierte Gesetz ist das in 744d-745a aufgestellte Gesetz, das für die einzelnen Vermögensklassen Höchst- und Mindest­ grenzen festlegt; die Registrierung betrifft also in erster Linie die Bürger, nicht die von ihnen in 850a5-6 deutlich unterschiedenen Metöken. Wenn ein Bürger einen Verkaufsgewinn erzielt, durch den sein Vermögen die für seine Vermögensklasse festgesetzte Höchstgrenze übersteigt, so wird der übersteigende Betrag registriert. Wenn umgekehrt das Vermögen ei­ nes Käufers durch den Kauf zu vieler oder zu teurer Waren die Unter­ grenze seiner Vermögensklasse unterschreitet, wird der Minusbetrag vom Vermögen abgezogen (der Text sagt: wörtlich: „ausgelöscht“). Über die weiteren Konsequenzen macht der Text keine Angaben (vgl. Bert­ rand 1999, 149 Anm. 297). Nach dem zitierten Gesetz 744d-745a (vgl. 754e) müßte im ersten Fall der Betreffende in eine höhere Klasse aufstei­ gen; gehört er bereits der höchsten Klasse an, muß der Überschuß konfis­ ziert werden; im zweiten Fall müßte der Betreffende in eine niedrigere Vermögensklasse versetzt werden; gehört er bereits der untersten Klasse an, müßte er einen Ausgleich des Verlustes erhalten (vgl. dazu Bd. II 331). Susemihl versteht den Text so, daß nicht die Obergrenze der ober-

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sten und die Untergrenze der untersten Vermögensklasse gemeint sind, sondern jeweils die Ober- und Untergrenze der Klasse, welcher der Ver­ käufer bzw. Käufer angehört: „bei welchem Grade der Vermehrung des Vermögens kein weiteres Wachsthum und bei welchem der Verminde­ rung keine Abnahme desselben (ohne Änderung der Vermögensklasse) verstattet ist“. Die Vorschrift hätte dann den Sinn, den Klassenwechsel eines Bürgers zu verhindern. Dies widerspricht jedoch dem Gesetz, das 744e jedem Bürger ausdrücklich gestattet, daß er das Vierfache des Wer­ tes des Landloses erwerben darf und nur den darüber hinausgehenden Überschuß, den er z.B. „durch Geschäfte“ (χρηματισάμενος 744e6) er­ zielt hat, abliefem muß. — Für die Metöken bildet gemäß 915b—c der Zensus der dritten Vermögensklasse die Obergrenze, bei deren Über­ schreiten er das Land zu verlassen hat.

849cl An einem dritten Markttag, am zwanzigsten Tag des Monats: Ich halte am überlieferten Text (τρίτη) fest und ergänze zu τρίτη das Substantiv αγορά (vgl. αγορά τη πρώτη 849b6); der Deutlichkeit hal­ ber interpungiere ich: τρίτη δε, εικάδι, των κ.τ.λ. Dadurch erübrigt sich die von Paton 1909, 112 vorgeschlagene Änderung in τρίτη (zu be­ ziehen auf πράσις). Ganz unwahrscheinlich und ohne jede Parallele ist die von LSJ und den meisten Übersetzern für τρίτη εικάδι angenomme­ ne Bedeutung „am Dreiundzwanzigsten “ (das Supplement zu LSJ s. v. είκάς führt sie nicht mehr auf). 849d3 als Kleinhandel bezeichnen: Zur καπηλεία vgl. die Anm. zu 705a4—5.

849e7 im Voraus ohne Gegenleistung überlassen soll (μή προιέμενον ... τήν αλλαγήν): Der Wortlaut verbietet sowohl die Aushändigung der Ware ohne sofortigen Erhalt des Kaufpreises als auch die Zahlung des Kaufpreises ohne sofortigen Erhalt der Ware (vgl. Stallbaum, England z. St.); wie die Formulierung in 915d-e zeigt, zielt das Verbot aber vor al­ lem auf den ersten Fall. 849e8 auf Treu und Glauben (πιστεύων): Zum Terminus πιστεύειν vgl. Pringsheim 1950, 247 und auch Gemet 1951, p. CLXXVI f.). Zur Sache vgl. Jakab 1994. 850a3 keine weitere Zunahme oder Abnahme: So übersetze ich (wie schon Susemihl) verdeutlichend μηδέτερα τούτων; vgl. auch Saunders 1972, Nr. 80 S. 79.

6.8. 850a6—d2: Die Metöken Ein Metöke ist eine frei geborene Person, die in einer fremden Stadt lebt, ohne deren Bürgerrecht zu besitzen (wie in Athen z.B. der Redner

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Lysias oder der Philosoph Aristoteles). In Magnesia kann jeder Fremde in den Metökenstand eintreten, sofern er einen Beruf ausübt; seine Auf­ enthaltsdauer beträgt maximal 20 Jahre. Die Eigenart des magnesischen Metökenstatus tritt am deutlichsten im Vergleich zu Athen hervor (zum folgenden vgl. Gauthier 1972; Mossé 1975; Hansen 1995, 119-122). In Athen mußte jeder Ausländer, der sich in Athen aufhielt, nach einer bestimmten Zeit (vermutlich einem Monat) sich als Metöke registrieren lassen, auch wenn er sich nur für Wochen in Athen aufhielt; eine zeitliche Begrenzung des Aufenthalts gab es nicht. Neben freigeborenen Ausländem, die als Handwerker oder Händler oder Flüchtlinge nach Athen kamen, erhielten auch freigelassene Sklaven den Metökenstatus. Um bei den Behörden registriert zu werden, mußte der Metöke sich einen Fürsprecher (προστάτης) wählen, der seine Regi­ strierung als Metöke zu befürworten hatte. Der registrierte Metöke war zum Militärdienst und zur Zahlung ver­ schiedener Steuern verpflichtet. Jährlich war die Metökensteuer (μετοίκιον) von 12 Drachmen für einen Mann und 6 für eine Frau zu entrich­ ten; reiche Metöken unterlagen darüber hinaus wie die Bürger der Ver­ mögenssteuer (εισφορά) und wurden zu Liturgien herangezogen. Wer als Händler tätig war, mußte eine Gebühr für die Errichtung eines Markt­ standes zahlen. Durch Volksbeschluß konnte einem Metöken das Privi­ leg der έγκτησις γης καί οικίας, d. h. das Recht auf Grundbesitz, zuer­ kannt werden; ein weiteres Privileg war die ισοτέλεια („Abgabengleich­ heit“ mit den Bürgern), durch die er von der Metökensteuer befreit wer­ den konnte. In Platons Magnesia ist die Ausübung eines Berufs Voraussetzung für den Eintritt in den Metökenstand. Anders als der athenische Metöke be­ nötigt der magnesische zur Registrierung keinen Fürsprecher, zahlt keine Steuern und Gebühren und wird nicht zum Militär eingezogen. Die einzi­ ge „Leistung“, zu der er verpflichtet ist, ist „ein anständiges Betragen“ (σωφρονεΐν 850b3). Diesen Freiheiten stehen aber Beschränkungen gegenüber, denen der athenische Metöke nicht unterworfen war. Die gravierendste ist die Be­ schränkung der Aufenthaltsdauer im Normalfall auf 20 Jahre (für Kinder von Metöken auf 35 Lebensjahre), mit der verhindert werden soll, daß sich der Fremde in der Stadt „einnistet“ (vgl. 949c2). Eine weitere Be­ schränkung betrifft das Vermögen des magnesischen Metöken (850a56). Nach 915b-c darf er nicht mehr besitzen als ein Bürger der dritten Vermögensklasse und muß bei Überschreiten dieses Satzes binnen 30 Ta­ gen die Stadt verlassen. Hinter diesen Beschränkungen steht Platons Überzeugung, daß zu gro­ ßer Reichtum die sittliche Entwicklung einer Person gefährdet (743d,

Kommentar zum 9. Buch

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vgl. 83Id, 870a—b); diese Gefahr ist um so größer, wenn man wie der Metöke einen Beruf ausübt, von dem ein starker Anreiz zur Schlechtig­ keit ausgeht (920a—b). Tritt der Fall tatsächlich ein, daß ein Metöke unter das sittlich gebotene Niveau absinkt, so wird durch die Begrenzung der Aufenthaltsdauer der moralische Schaden für die Stadt in Grenzen gehal­ ten. Umgekehrt kann einem Metöken bei besonderen Verdiensten um die Stadt eine Aufenthaltsverlängerung oder sogar ein lebenslänglicher Auf­ enthalt in Magnesia bewilligt werden (850b-c).

850a7 da ein Wohnquartier für jeden Fremden vorhanden ist: Saun­ ders 1972, Nr. 81 S. 80 vermutet ansprechend, daß mit οικήσεως eines der Quartiere gemeint ist, die in 848d—e den Handwerkern zugewiesen wurden; nicht zwingend ist jedoch sein Vorschlag, den Genitiv των ξέ­ νων von οικήσεως (statt von τω βουλομένω.,.κατοικεΐν) abhängen zu lassen. 85Ob3 außer einem zurückhaltenden Betragen (ττλην του σωφρονεΐν): Das Verbum bezeichnet hier wohl im unphilosophischen Sinn ein vom Nichtbürger erwartetes unauffälliges Verhalten, das den Gegensatz zu der „Dreistigkeit der Fremden“ (θρασυξενία 879e4) bildet.

Neuntes Buch 7. IX 853al -X 910e4: Strafrecht

Strafrechtliche Bestimmungen finden sich auch außerhalb der Bücher IX und X, z.B. in IV-VIII 742b-c, 774a-b, 784c ff., 808e, 843a-b. d, 846b und in XI-XII 914b-c, 919e f., 927d, 932a ff., 941c ff., 943a-b, 944e ff., 952c-d, 955c. In den Büchern IX und X, die sich explizit mit den Strafen (δίκαι 853al) befassen, werden einerseits grundsätzliche rechtsphilosophische und kriminologische Fragen erörtert wie die Not­ wendigkeit von Strafgesetzen (853b4ff, 874e ff.), die anzuwendenden Strafen (855a-c), der Zweck der Bestrafung (854d-e, 862d-863a) und die psychischen Ursachen von Straftaten (863a-864e; 869e—870d) und andererseits Strafen für die „größten“ Vergehen (vgl. 853a5) festgelegt. Dies sind solche, die sich gegen die Götter, gegen die Gemeinschaft der Polis und gegen Leib und Leben ihrer Bewohner richten. Da für Platon Mord die Seele betrifft (874d), die durch den Mord ihres Körpers beraubt wird (vgl. 869b3^l, 873a6—7), und eine Verletzung nur den Körper, er­ gibt sich im Aufbau des Buches eine Anordnung der Straftaten nach ab­ nehmender Schwere: An der Spitze stehen die Vergehen gegen die Göt­ ter, die Verfassung und die Polis; sie werden in 854c7 als unfromm und

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(mit einem nur hier von Platon verwendeten Wort) als „für die Bürger verderblich“ (πολιτοφθόρα) bezeichnet (das Gesetz gegen Diebstahl 857a2—b3 gehört allerdings nicht in diese Reihe; vgl. unten z. St.). Nach dem Strafrechtsexkurs werden die Delikte gegen die Seele (Tötungen), behandelt, danach die gegen den Körper (Verletzungen und tätliche Be­ leidigungen) und zuletzt (am Anfang von Buch X) Vergehen gegen den Besitz. Hinter dieser Abfolge erkennt man unschwer die für die Ethik der Nomoi konstitutive Stufung der Güter in seelische, körperliche und ma­ terielle Güter (vgl. 697b, 717c, 724a, 743e, 870b). Die spezielle Behand­ lung der Eigentumsdelikte erfolgt allerdings erst in Buch XI; dazwischen schiebt sich das lange Proömium und das Gesetz gegen Asebie (Buch X). Die Strafgesetze, die mit dem Tempelraub als einem materiellen Fre­ vel gegen die Götter begannen, enden so mit der Asebie als einem intel­ lektuellen Frevel gegen die Götter. Die Frage, wie sich das platonische Strafrecht zum positiven Recht verhält, muß in den nicht wenigen Fällen unbeantwortet bleiben, in de­ nen entsprechende Zeugnisse für letzteres fehlen. Daß Platon in vielen Punkten dem athenischen Recht folgt, ist wahrscheinlich, aber nicht in jedem Fall beweisbar. Die Statistik von Ruschenbusch 2001, 7 f., wonach von 68 platonischen Gesetzen 59 mit Sicherheit und 5 mit Wahrschein­ lichkeit ein Gegenstück im attischen Recht hätten, und der darauf fußen­ de Versuch, aus den platonischen Nomoi ein „altgriechisches Gesetz­ buch“ auszuheben, hält einer Überprüfung jedenfalls nicht immer stand (z.B. betreffen Platons Gesetz über die Rechtsfolgen eines durch Un­ achtsamkeit verursachten Brandschadens [843e2—3] und das attische Ge­ setz über die Zuständigkeit des Rats auf dem Areopag für vorsätzliche Brandstiftung [Demosthenes, Or. 23,22, Aristoteles, Ath. pol. 57,3] ganz unterschiedliche Tatbestände). Aber selbst wenn die Annahme einer durchgehenden Orientierung Platons am attischen Recht berechtigt wäre, so ist im Einzelfall aufgrund der Quellenlage vielfach nicht zu klären, ob und gegebenenfalls worin Platon von der vorauszusetzenden attischen Gesetzgebung abweicht. Generell können aufgrund der ausführlichen Diskussionen, die Platon diesen Themen widmet, vor allem folgende Elemente als genuin platonisch gelten: die Definition der Ungerechtig­ keit und ihre Abgrenzung von der Schädigung, die Einteilung der Delikte nach ihren seelischen Motiven und der Versuch, mit diesen die strafrecht­ lichen Kategorien des Vorsatzes bzw. Nichtvorsatzes zu erfassen, die Schaffung des Tatbestands der Tötung im Zorn und die auf „Besserung“ des Täters zielende Strafabzweckung (vgl. dazu Brisson — Pradeau 118— 19). Allgemeine Literatur zum platonischen Strafrecht Platons (zum Straf­ rechtsexkurs s.u. zu 857b4-864c9): Gemets Kommentar, Guglielmino

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1936, Meremetis 1940, Knoch 1960, Schuchman 1963, Mackenzie 1981, Saunders 1991a, Stalley 1995, Merker 2004, Schöpsdau 2008.

IX 853al—d4: Einleitung: Notwendigkeit von Strafgesetzen Platons pädagogischer Optimismus, welcher der Erziehung die Kraft zutraut, im Zusammenwirken mit einer geeigneten Naturanlage ein zah­ mes oder unbändiges Lebewesen (808d) zum „göttlichsten“ Lebewesen zu formen (766a3) und sogar entgegen der Naturanlage geistigen Fort­ schritt zu bewirken (747b), macht ihn nicht blind für die Möglichkeit, daß diese Kraft bei manchen Menschen an ihre Grenzen stößt, so daß der Gesetzgeber zu härteren Maßnahmen gezwungen ist. Der Erlaß der fol­ genden Strafgesetze dokumentiert damit eine realistischere Einstellung als etwa der Ausspruch Solons, der das Fehlen von Strafgesetzen gegen Vatermord damit begründet haben soll, daß er nicht mit so einem schwe­ ren Verbrechen gerechnet habe (Cicero, Rose. Am. 70, Diogenes Laert. 1,59; vgl. dazu Bertrand 1999, 289-291). Immerhin hat Platon dadurch, daß er das Gericht für Kapitalverbrechen nicht im Rahmen der Einset­ zung der regulären Gerichte in Buch VI, sondern erst jetzt einsetzt, hin­ reichend deutlich gemacht, daß es sich bei diesem Gericht gleichsam um eine außerordentliche Maßnahme handelt, die in einer gut eingerichteten Stadt eigentlich überflüssig sein sollte.

853a5—6 indem wir ... dabei angeben (ρηθέν)..., müssen wir als nächstens ... besprechen (ρητέον): Ich lege den Text von Burnet zu­ grunde; die meisten Herausgeber und Übersetzer übernehmen Asts Strei­ chung von ρηθέν; andere ersetzen es durch eine Konjektur (διαρρήδην Winckelmann, δήθεν Badham, ρεχθέν Bury 1922, 174). Der ,polyptotische‘ Pleonasmus von ρηθέν ... ρητέον läßt sich stützen durch λεγομένας ... λεκτέον (934c4—5); wie dort λεγομένας fasse ich hier ρηθέν nicht als absolutes Partizip, sondern als persönliches Passiv, bezogen auf das aus τά μέγιστα zu entnehmende Neutrum im Singular. — Die Einfü­ gung von vor καθ’ εν (Brisson - Pradeau II 327) zerstört die Kor­ relation von ούτε und τε.

853cl zu ihrer Abschreckung (άποτροπης τε ενεκα): Gemet 64 faßt (wegen 854b7, 877a4, 881a7) αποτροπής als religiösen Begriff in der Bedeutung „Abwehr von Unglück“; doch spricht der Kontext eher für ei­ ne profane Bedeutung, die vor allem durch Prot. 324b6 gestützt wird (vgl. auch Resp. 382c9-10). 853c3— 7 die alten Gesetzgeber, diefür Göttersöhne, nämlich für die He­ roen ... Gesetze gaben: Die Differenz von göttlicher und menschlicher

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Natur steht für die moralische Differenz zwischen ,göttlichen4 Men­ schen, die zu voller philosophischer Einsicht gelangt sind und deren Ver­ halten der Vernunft gehorcht, und den gewöhnlichen4 Menschen, deren Handeln auch von irrationalen Triebkräften bestimmt wird (vgl. 732e, 739d; zu dieser Denkfigur vgl. Lisi 2004, 14). Zugleich wird diese Diffe­ renz in den zeitlichen Abstand von Einst und Jetzt umgesetzt, indem der Vollkommenheitszustand in die Vergangenheit zurückprojiziert wird, als die Menschen nach einer auch Tim. 40d8 verwendeten Vorstellung noch direkte Abkömmlinge der Götter waren. 853d2 mit einer harten Schale: Das Wort κερασβόλος (Akzent!) be­ deutet wörtlich „das Hom treffend44; dahinter steht ein Volksglaube, der die Härte mancher Hülsenfrüchte damit erklärte, daß deren Samenkörner beim Aussäen auf das Hom des Pflugochsen gefallen waren (vgl. Theo­ phrast, De causis plant. 4,12,13). — unnachgiebig (άτεράμων): Das für solche Früchte übliche Adjektiv (z. B. Theophrast 4,12,8) verwendet Pla­ ton im selben metaphorischem Sinn auch 880e2. - In d3 halte ich an dem überlieferten Text (= Burnet) fest; denn die von Reinhard 1920, 38-39 beigebrachten platonischen Belege für eine solche scheinbare Anakoluthie erweisen die Einfügung καί vor καθάπερ als überflüssig.

7.1. 853d5-856a8: Tempelraub. Die Strafen und das Gerichtsverfahren bei Kapitalverbrechen

Wie die Götter bei allen wichtigen gesetzgeberischen Überlegungen und Maßnahmen als erste berücksichtigt werden (vgl. 715e7ff., 738b, 745b, 828a), so wird auch die Reihe der schweren Verbrechen mit einem Vergehen gegen die Götter eröffnet; ihm folgen Umsturzversuch, Hoch­ verrat und Diebstahl (vgl. auch Resp. 443a). Tempelraub, Umsturz und Verrat, die sich gegen die Polisgötter und die Polisordnung richten, gal­ ten auch in Athen als die schwersten Delikte (vgl. ihre Erwähnungen in wechselnder Kombination bei Antiphon, Or. 5,10; Xenophon, Hell. 1,7,22; Demosthenes, Or. 23,26; 24,144. 146; Lykurg, Leokr. 124. 126 u.ö.). Tempelraub (Ιεροσυλία) ist ein materielles Delikt gegen die Götter (περί θεούς 854e2; 856b 1) und unterscheidet sich insofern von der im 10. Buch behandelten Asebie, die einen intellektuellen Frevel gegen die Götter darstellt (vgl. 885b2, 908b3 u.ö.). Ebenso gab es in Athen neben­ einander die γραφή Ιεροσυλίας und die γραφή άσεβείας, von denen erstere vor den Thesmotheten, letztere dagegen vor dem Archon Basileus verhandelt wurde (vgl. Lipsius 358. 362). Der Tatbestand des Tempelraubs wird allerdings von Platon nicht klar definiert, sondern — ähnlich wie bei den attischen Rednern — als bekannt

853d5—856a8

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vorausgesetzt. Der Standardfall ist wie in Athen das Entwenden von hei­ ligem Eigentum aus heiliger Stätte (Lipsius 442 f.); davon scheidet das attische Recht allerdings die κλοπή ιερών χρημάτων (als Diebstahl heiliger Gegenstände außerhalb heiliger Bezirke oder Unterschlagung sakralen Gutes durch Beamte?); vgl. dazu Lipsius 399f.; Cohen 1983 100—102. In der Zusammenstellung des Tempelraubs mit anderen Tatbe­ ständen in Nom. 854el—3 sieht Cohen 1983, 128 jedoch zu Unrecht ei­ nen Beleg für eine Erweiterung des Begriffs des Tempelraubs; denn diese bloß äußerliche Zusammenstellung ist bedingt durch die generalisierende Tendenz des Abschnitts. Der Abschnitt beschränkt sich nämlich nicht auf den Tempelraub, son­ dern behandelt auch strafrechtliche und nomothetische Themen von all­ gemeinerer Bedeutung. So folgt auf die Bemerkungen über die mutmaß­ lichen Tätergruppen, denen „derartige“ (τοιαυτα 853dl0) Vergehen zu­ zutrauen sind (853d6-10), ein Hinweis auf die Notwendigkeit einer Vor­ rede zu den einzelnen Strafgesetzen (854a3—5). Der Text des eigentlichen Gesetzes enthält Bemerkungen über den Zweck der Bestra­ fung, die die Thematik des Strafrechtsexkurses vorwegnehmen (854d5el). Die Rechtfertigung der Todesstrafe (854el-855a7) betrifft auch Fäl­ le, in denen sich Bürger schwerer Vergehen gegen die Eltern oder die Stadt schuldig gemacht haben. Es folgen grundsätzliche Bemerkungen über Geldstrafen (855a7-b8) und Ehrenstrafen (855cl-6), die ja beim Tempelraub überhaupt nicht vorgesehen sind, und die Einsetzung des für Kapitalverbrechen zuständigen Gerichtshofs samt einer Skizze des Ge­ richtsverfahrens (855c6-856a8). 853d5—854c5: Vorüberlegungen und Ansprache an die potentiellen Tem­ pelräuber (Proömium): Ziel dieses Proömiums ist es, den Drang zum Tempelraub zu bekämp­ fen und den möglichen Täter von seiner Tat abzubringen. Bei diesem Drang handelt es sich in medizinischer Begrifflichkeit um eine Erkran­ kung (νόσος) der Seele (vgl. 853d8, 854a3, c4), deren Ursache mit Hilfe religiöser Vorstellungen als Folge ungesühnter Freveltaten interpretiert wird (854b 1-5). Psychologisch betrachtet besteht die Krankheit darin, daß eine schlimme Begierde (επιθυμία) die Seele in ihrer Gewalt hat (854a6); verstärkt wird der Drang zum Tempelraub schließlich durch un­ fromme Überzeugungen (δόγματα 854b6). Wie Phaidr. 244d körperliche Krankheiten durch die aus ferner Ver­ gangenheit in die Gegenwart reichende Wirkung von göttlichem Zorn er­ klärt werden, so deutet hier der Athener den krankhaften Drang zum Tempelraub als Folge ungesühnter Frevel (hauptsächlich wohl Mordta­ ten), die in früherer Zeit begangen wurden. Unklar ist, wie der Zusam­

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menhang zwischen den früheren Freveln und dem Drang zum Tempel­ raub zu denken ist. Viele Interpreten nehmen an, daß der vom Athener Angeredete ein Nachfahre des Urhebers der früheren Freveltaten ist. Da­ mit nähert sich dieser Fall dem Typ des (wohl auch Phaidr. 244d gemein­ ten) Geschlechtsfluchs der Tragödie; vgl. Gemet 68 oder Reverdin 1945, 233, der auf die Alkmaioniden verweist, die wegen des Frevels an Kylon als „Fluchbeladene“ galten (Herodot 5,71; Thukydides 1,126). Der Fluch läßt sich dann etwa so erklären, daß die Seele des Opfers der frühe­ ren Freveltat keine Ruhe findet, da sie nicht gerächt worden ist. Daher richtet sie ihren Rachewunsch gegen einen Nachfahren des damaligen Täters, um diesen ins Unglück zu stürzen, wobei sie sich des anstacheln­ den Drangs zum Tempelraub bedient. Wilamowitz 1920, I 552 f. deutet die Stelle dagegen mit Hilfe der Lehre von der Seelenwanderung so, daß der Drang aus einem früheren Leben stammt, in dem die (jetzt im Tem­ pelräuber inkorporierte) Seele ungestraft ähnlich gesündigt hat. Diese Deutungen werden jedoch dem Partizip περιφερόμενος nicht gerecht, das in der Regel einen wirklichen Ortwechsel bezeichnet. Ange­ messener versteht es Saunders (1991a, 288) so, daß der zum Tempelraub anreizende „Stachel“ (οίστρος) frei umherschweift, bis er auf irgendje­ manden trifft, den er zum Tempelraub anstiften kann. Diese Deutung hät­ te den Vorzug, daß sie näher am Wortlaut des Textes bleibt, in dem von einer verwandtschaftlichen Beziehung zwischen dem Angeredeten und dem Urheber der früheren Freveltat keine Rede ist. Eine ganz andere (schon von W. Rathmann, Quaestiones Pythagoreae Orphicae Empedocleae, Halle 1933, 67 erwogene) Deutung vertritt Dodds 1951, 177 (= 1970, 234) Anm. 133. Er verbindet (wie auch Wila­ mowitz 1920,1 552, Saunders 1991a, 288) τοΐς άνθρώποις als Dativus auctoris mit ακαθάρτων αδικημάτων (854b3-4) zu „Frevel, von de­ nen nicht Menschen (sondern nur Götter) reinigen können“, und versteht unter solchen Freveltaten der Vorzeit die Auflehnung der Titanen gegen die Götter; der von den Titanen ausgehende frevelhafte Impuls verfolgt den unglücklichen Menschen überall hin (περιφερόμενος) und stachelt ihn an, den einst von den Titanen begangenen Frevel nachzuahmen. Die­ se Interpretation (die sich noch durch Nom. 701c stützen ließe) könnte gut erklären, warum der Stachel gerade zum Tempelraub antreibt. Plau­ sibler ist aber m. E. trotz der komplizierteren Wortstellung die Verbin­ dung des Dativs mit έμφυόμενος; denn Platon verwendet dieses Ver­ bum nur selten ohne Dativ. Die dem potentiellen Tempelräuber empfohlenen Abwehrmaßnahmen dienen nicht der Sühnung des früheren Frevels (die der platonischen Theologie widerspräche: vgl. Resp. 364c—365a; Nom. 906b-d), sondern der Unschädlichmachung des Dranges zum Tempelraub. Sie bestehen

853d5—856a8

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zunächst in zwei religiösen Praktiken, nämlich den „exorzistischen“ Ri­ ten der άποδιοπόμπησις (dazu s.u.) und Gebeten an die apotropäischen Götter. Dazu kommt - gemäß dem Gesetz, daß man dem ähnlich wird, womit man umgeht (728b, 854b8ff., Resp. 500c6-7, Theait. 177a) - als pädagogische ‘ Maßnahme der Umgang mit tugendhaften Männern, um von ihnen die Maxime richtigen Verhaltens zu lernen und sie durch Auf­ sagen dem Bewußtsein einzuprägen (zu dieser Empfehlung vgl. Rabbow 1960, 232). Diese Duplizität von rituellen und rationalen Maßnahmen entspricht dem Doppelaspekt der zu bekämpfenden seelischen Disposi­ tion, die in religiöser Hinsicht als Auflehnung gegen die Götter und mo­ ralisch als Gleichgültigkeit gegenüber der Tugend anzusehen ist. Die angeratenen Maßnahmen haben zugleich diagnostischen Wert, in­ dem sie durch ihren Erfolg oder Nichterfolg erkennen lassen, ob die Er­ krankung heilbar ist oder nicht. Im letzten Fall wird als radikalste Maß­ nahme die Selbsttötung empfohlen, die sonst grundsätzlich verboten ist und nur unter besonderen Bedingungen zulässig ist (vgl. 873c2-7). Im Blick auf den Strafrechtsexkurs verdient Beachtung, daß der Athe­ ner hier zwar die Neigung zum Tempelraub als eine dem Wahnsinn ver­ wandte Krankheit deutet, darin aber kein strafrechtliches Entlastungsmo­ ment sieht, sondern den Täter für voll verantwortlich hält. Anders ist es in dem in 864c-e berücksichtigten Fall, in welchem wirklicher Wahnsinn und wirkliche Krankheit eines Tempelräubers Unzurechnungsfähigkeit und damit Strafmilderung zur Folge haben. 853d8 an dieser Krankheit erkrankt: Zur Krankheitsmetapher für see­ lische Störungen vgl. Gorg. 478b ff., Resp. 409a, 444c ff. und die zu 690e7—691a2 aufgeführten Stellen.

854al Schwäche der menschlichen Natur: Vgl. 691c, 713c, 875b. 854a4 gemäß unsererfrüher getroffenen Übereinkunft: Vgl. 722c ff. 854b3 Wahnsinnsstachel (οίστρος): Das Wort bezeichnet eigentlich die Rinderbremse, dann metonymisch deren Stich und die dadurch her­ vorgerufene Wut; metaphorisch gebraucht es Platon für starke, sich dem Wahnsinn nähernde Leidenschaften und Begierden (z.B. Nom. 782e3, Resp. 577e2, Phaidr. 240dl; vgl. auch οίστράν Resp. 573b 1, Phaidr. 251d6, οίστρώδης Nom. 734a4 und Tim. 91b7).

854b4 nach Art eines Rachegeistes: Das Adjektiv άλιτηριώδης ist ab­ geleitet von αλιτήριος, das sowohl den Frevler gegen eine Gottheit be­ zeichnen kann (so z.B. Aristophanes, Ritter 445, Thukydides 1,126,11 usw.) als auch einen Rachegeist, den ein Ermordeter auf der Erde zurück­ läßt (im Plural αλιτήριοι bei Antiphon, Or. 4a,4; 4b,8; dazu Parker 1983, 109). Faßt man diese Geister als Dämonen (wie z.B. Pollux

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5,131), so könnte dies auch die Bewertung des Dranges zum Tempelraub als ein „weder von Menschen noch von einem Gott“ verursachtes Übel erklären. In abgeblaßter Bedeutung kann αλιτηριώδης auch einfach „verderblich, unheilvoll“ (so Resp. 470d6 vom Bürgerkrieg; Epist. VII 351c3) oder „fluchbringend“ (τύχη Nom. 881e4) bedeuten. 854b7 die reinigenden Riten (άποδιοπομπήσεις): Die Reinigung ge­ schieht durch „Fortschicken“ (άποπέμπειν) des Befleckenden (vgl. Parker 1983, 268; zu einem Reinigungsritus dieser Art ders. 28-29. 373). Der Ritus dient hier wie 900b5 dazu, drohendes Unheil vorbeu­ gend „fortzubannen“; dagegen bezeichnet das Verbum 877e8-9 die nachträgliche Entsühnung (wie auch Krat. 396e3). 854b7 Götter, die das Unglück abwehren (θεών άττοτρ οπαίων): Zu diesen Göttern zählten neben Apollon (Aristophanes, Plut. 854) und Zeus (Lukian, Alex. 4) auch namenlose Mächte (die sog. Αποτρόπαιοι, vgl. Xenophon, Hell. 3,3,4; Pausanias 2,11,1); vgl. dazu Parker 1983, 220 Anm. 71. - Nom. 877a4 steht απότροπος von einem Dämon, der Schlimmeres verhütet hat.

854c3—4 Und vielleicht wird, wenn du das tust, deine Krankheit ab­ klingen: Im Griechischen liegt ein Bedingungssatz vor (,wenn deine Krankheit abklingt4), dessen Nachsatz, wie öfters bei der Entgegenset­ zung zweier Bedingungssätze üblich (vgl. Kühner - Gerth II 484 f.), weggelassen ist, weil er einen leicht zu ergänzenden Gedanken enthält (etwa: „ καλώς εξει“ nach Hipp. mai. 295b).

854c6—855a7: Das Gesetz: Die Strafen bei Tempelraub. Ein Sklave oder Fremder soll äußerlich als Tempelräuber gekennzeich­ net und ausgepeitscht werden, dann wird er nackt über die Landesgrenze gestoßen (854dl-el). Ein Bürger wird mit dem Tod bestraft und erhält kein Grab im Land (854el-855a2). Der soziale Status des Täters ist in­ des nur ein Hilfsmittel zur Beurteilung der jeweiligen seelischen Verfas­ sung des Täters: Ein Bürger, der trotz der in Magnesia genossenen Erzie­ hung gegen die Götter seiner eigenen Stadt frevelt, ist unheilbar, weshalb er mit dem Tod bestraft wird (ebenso 942al^l·). Fremde und Sklaven, die nicht die Erziehung eines Bürgers erhalten haben, gelten dagegen als heilbar und können daher durch die Bestrafung noch zur Besinnung kommen und sich bessern (854d). Gemeinsames Element beider Strafen ist die Ausstoßung des lebenden oder hingerichteten Tempelräubers aus dem Stadtgebiet. Dadurch soll ein Übergreifen der religiösen Befleckung, die sich der Tempelräuber zu­ gezogen hat, auf die Gemeinschaft verhindert werden (vgl. 8663b, 874b). Für den Toten ist die damit verbundene Verweigerung der Bestat-

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tung in der Heimat (die sog. Ataphie) ein großes Unglück, da er so der angemessenen Totenehren verlustig gehen wird und daher seine Seele nach griechischer Anschauung nicht in den Hades gelangen kann und ru­ helos umherirrt (Morrow 1960a, 492). Auch die Kennzeichnung des Sklaven oder Fremden als Tempelräuber dürfte dem Zweck dienen, die Bewohner der Nachbarstadt vor der vom Tempelräuber ausgehenden Be­ fleckung zu warnen. Die Bestrafung des magnesischen Bürgers entspricht der Bestrafung in Athen, wo dem wegen Tempelraub oder Hochverrat hingerichteten Bür­ ger gleichfalls ein Grab in der Heimat verwehrt wird (vgl. zu 855al). Au­ ßerdem wird in Athen das Vermögen des Bürgers eingezogen (vgl. Lipsius 443), was in Magnesia - von dem 856d geschilderten Ausnahmefall abgesehen — nicht praktikabel ist, da die Zahl und Größe der Landlose konstant bleiben muß und kein Landlos unbebaut bleiben darf (855a-b). Ferner werden in Athen der Metöke und der Fremde mit derselben Strafe wie der Bürger bestraft (vgl. Lysias, Or. 5); über die Bestrafung eines Sklaven ist dagegen nichts Verläßliches bekannt. 854c6 Präludium (προοίμια): Zum Spiel mit der musikalischen Be­ deutung von νόμος und προοίμιον (so auch 870e) vgl. 722d—e, 734e, 775b2—4, 799el0—12.

854d2 dem soll sein Unglück auf das Gesicht und die Hände geschrie­ ben werden: συμφορά (Unglück, Mißgeschick) bezeichnet nicht direkt das Verbrechen, sondern (wie 873a5, 877a5, c8, 878b3, 934b3) die Si­ tuation dessen, der zum Verbrecher geworden ist (vgl. Zimmermann 1966, 141 Anm. 158). - Viele Ausleger nehmen eine Brandmarkung an; doch enthält der Text keine eindeutigen sprachlichen Signale hierfür; an­ dere rechnen mit einer Art Tätowierung (z. B. Saunders 1991a, 290, Bert­ rand 1997, 47; unentschieden Merker 2004, 32 Anm. 36). Eine Tätowie­ rung als Strafe ist in Athen nicht nachweisbar (Karabélias 1991, 101 f. Anm. 172). 854d3 so viele Peitschenhiebe erhalten, wie den Richtern gut dünkt: Auspeitschung ist — wie in Athen — die Strafe für Sklaven (845a, 872b, 881c, 882b, 914b); in den Nomoi wird sie auch gegen Fremde angewandt (879e,917d).

854d4 nackt: Varvaro (1967, 2005) deutet γυμνός als „privo di ogni suo avere“. Eine solche Bedeutung für γυμνός ohne präzisierenden Ge­ nitiv ist aber bei Platon sonst nicht belegt und taucht erst im 3. Jh. v. Chr. auf (PSI VI Nr. 605,4). Die analoge Wendung 873b5-6 spricht vielmehr für die konkrete Bedeutung „nackt“. Allerdings wird es dem Fremden,

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der nackt über die Grenze gestoßen wird, kaum möglich sein, seinen Be­ sitz mitzunehmen (der dann wohl an den Staat fallt: Knoch 1960, 155). 854d5 indem er wieder zur Vernunft gebracht wird (σωφρουισθείς): σωφρονίζειν bzw. σωφρονίζεσθαι oder σωφρονιστύς als bessernde Wirkung der Strafe auch Nom. 934al, Gorg. 478d, Resp. 471a6, Kriti. 121cl; Xenophon, Kyr. 8,6,16; Thukydides 6,78,2; Lysias, Or. 6,54; Demosthenes, Or. 15,16 u.a.; das Gefängnis für die besserungsfähigen Atheisten heißt σωφρονιστήριον (908a, 909a).

854d7 weniger schlecht (μοχθηρότερου ήττου): Zur Besserung als Strafzweck vgl. Gorg. 478d-e, 525b, Prot. 324b, Resp. 380a-b und vor allem Nom. 862dl—863a2; die dortige Alternative „oder doch beträcht­ lich weniger oft“ (d3) entspricht dem hier vorliegenden Komparativ (wo­ durch Ritters Deutung von μοχθηρότερον ήττον als „weniger unglück­ lich“ [II268] widerlegt wird).

854e7 der Tod, das kleinste der Übel (ελάχιστου κακών): Mit poin­ tiertem Bezug auf e 6 (μεγίστων κακών „den größten Übeltaten“). Während der Tod des Tempelräubers im Sinne der Generalprävention für die Gemeinschaft von Nutzen ist (vgl. Gorg. 525b, Nom. 862e, 934a), ist er für den Bestraften das kleinste Übel im Vergleich zu den Übeln, die er sich zuziehen würde, wenn er - wie aufgrund seiner Unheilbarkeit zu er­ warten ist - im Fall des Weiterlebens weitere Freveltaten begehen würde, für die er im Hades schlimmere Strafen als von der irdischen Gerichts­ barkeit zu gewärtigen hätte (vgl. 880e—881a). Zu dieser Argumentations­ weise vgl. auch Gorg. 512a-b. 855al ohne Namen (άκλεής): Dies bedeutet vermutlich, daß der Name des Verurteilten analog zur Löschung des Namens von Verstorbe­ nen (vgl. 785b 1-2) aus allen Listen und Verzeichnissen getilgt wird. Verweigerung des Grabes in der Heimaterde (Ataphie) ist als Strafe auch vorgesehen fiir die sog. άταφοι πράξεις (960b2), nämlich Landesverrat und Umsturz (856e-857a), vorsätzlichen Mord (87Id; bei Mord an Blutsverwandten treten weitere Maßnahmen hinzu: 873a—b) sowie fiir die heuchlerische Spielart der Asebie (909c). In Attika durften Verräter und Tempelräuber nicht innerhalb der Landesgrenzen bestattet werden (Thukydides 1,138,6; Xenophon, Hell. 1,7,22; einen Fall nachträglicher Ataphie erwähnt Lykurg, Leokr. 113; dazu Karabélias 1991, 114 Anm. 271).

855a5 der Besitz (χρήματα): Damit muß neben dem Geldvermögen auch das Landlos gemeint sein, das an die Kinder des Verurteilten über­ geht; bei Kinderlosigkeit sind die Bestimmungen in 877e-878a anzu­

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wenden. Das Verbot der Konfiskation des Besitzes gilt jedoch nur fin­ den Bürger, nicht für den Fremden (vgl. für diesen z.B. 915c).

855a7—c6: Allgemeines zu den in Magnesia gebräuchlichen Strafen Von der Konfiskation gleitet der Gedanke zu den Geldbußen über (die bei Tempelraub überhaupt nicht in Betracht kommen) und von da zu den Strafen überhaupt, die über einen Bürger verhängt werden dürfen. Sie zerfallen in zwei Kategorien, die Platon des öfteren ebenso wie die atti­ sche Gerichtspraxis durch die Disjunktion „erleiden oder zahlen“ (παθείν / πάσχειν ή τίνειν / άττοτίνειν / άττοτεΐσαι) ausdrückt (Nom. 767e8, 843b5, 875d7, 876c8, 928c6, 932c7, 933d6, 941d6-7, 943b6-7, 946d5; Apol. 36b); die zu zahlende Strafe ist eine Geldbuße; die zu erlei­ dende ist eine Leibesstrafe, die in Hinrichtung, Haft, Exil oder dem Ver­ lust von Bürgerrechten (Atimie) bestehen kann (vgl. Lipsius 252; Harri­ son 1971, 168). Zu den einzelnen hier (855a7 ff.) aufgezählten Strafen ist (in der Reihenfolge des Textes) zu bemerken: (1) Für Geldbußen gilt als Obergrenze der Geldbetrag, den der zu Be­ strafende nach einer angemessenen Ausstattung des Landgutes noch üb­ rig hat (zur Ausstattung des Landloses vgl. Bd. II 329 zu 744a8-745b2). Bei einem Angehörigen der obersten drei Vermögensklassen kann dies dazu führen, daß er in die unterste Klasse versetzt wird. Eine diese Obergrenze übersteigende Geldbuße muß von den Freun­ den des Verurteilten mitbezahlt werden; wenn nicht, wird der Verurteilte in Schuldhaft genommen (weiteres s.u. zu 855b7). Nicht zu klären ist, ob in diesem Fall die gesamte Geldbuße durch eine Haftstrafe ersetzt wird oder nur der die Obergrenze übersteigende Betrag (so daß den Verurteil­ ten sowohl eine Geldzahlung als auch eine Haftstrafe träfe). Vollzugsort der Haftstrafe ist das für die Mehrzahl der Straftäter bestimmte „allge­ meine“ Gefängnis am Markt (908a), wo sich auch die Gerichtsgebäude befinden. Über die Art und Weise des Strafvollzugs entscheidet das Ver­ ständnis des mit δεσμοίς verbundenen Adjektivs έμφανέσι (855b8). Apelt übersetzt es mit „unter öffentlicher Bekanntmachung“ (ihm folgen Knoch 1960, 144 und ich selbst 1977); doch würde man dann eher das Partizip eines Verbums des Anprangems (wie αναγράφω oder άναφαίνω) erwarten (vgl. 755a3, 762c5, 784c7 und 946d4). Semantisch korrek­ ter ist die Bedeutung „öffentlich sichtbar“ (so auch Saunders 1991a, 284; Merker 2004, 22 Anm. 20); sie besagt, daß die Haftstrafe nicht im abge­ schlossenen Innern des Gefängnisses vollzogen werden soll, sondern vielleicht in einem von außen einsehbaren Raum oder gar (nach Merkers Vermutung) durch Anketten an der Außenseite des am belebten Markt liegenden Gefängnisses. Diese Interpretation läßt sich stützen durch eine von Demosthenes zitierte Gesetzesbestimmung, wonach in Athen das

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Gericht zusätzlich zu der gegen einen Dieb verhängten Geldstrafe fur fünf Tage und Nächte „Fesselung“ (δεσμόν) anordnen konnte, „damit alle den Delinquenten gefesselt (δεδεμένον) sähen“ (Or. 24,114). - Un­ deutlich bleiben die von Platon nicht näher präzisierten Erniedrigungen (προπηλακισμοί) des Häftlings; auch sie sind jedenfalls am wirkungs­ vollsten, wenn sie sich vor den Augen der Öffentlichkeit vollziehen. (2) Die Bestimmung, daß niemand die bürgerlichen Rechte völlig ver­ lieren soll (άτιμον παντάττασιν μηδένα είναι 855c 1) betrifft die Strafe der Atimie (wörtl. „Ehrentzug“). Im archaischen Griechenland bedeutete Atimie soviel wie Ächtung (engl. outlawry): der Betroffene verlor alle seine Rechte (einschließlich seines Besitzes) und den Schutz des Gesetzes, war also ,vogelfrei6, so daß er von jedem Bürger straflos getötet werden durfte. Bereits vor der klassischen Zeit wurde die Atimie in Athen auf den Entzug bestimmter aktiver Bürgerrechte beschränkt. In ihrer strengsten Form machte sie dem Bürger durch Ausschluß von bestimmten Plätzen die Teilnahme am öffentlichen Leben unmöglich und entzog ihm das Recht, vor Gericht zu klagen; er wurde aber nicht exiliert und behielt sein Eigentum. Neben dieser totalen Atimie gab es eine partielle Atimie, bei welcher der Betreffende nur einen Teil seiner Bürgerrechte verlor, z.B. das Recht, in der Volksversammlung zu sprechen oder Mitglied des Ra­ tes zu werden (vgl. Harrison 1971, 169-176; Hansen 1976, Kap. III; Hansen 1995, 101. 133; Merker 23 Anm.21). Platon sieht für Magnesia nur partielle Atimie vor; dabei gelten als τιμαί, die der Schuldige verliert, nicht nur die bürgerlichen Rechte (z.B. Führung eines Amtes 762d, Zeugenaussage vor Gericht 937c, Klagerecht bei Militärvergehen 943b ff.), sondern auch soziale Ehren wie der Re­ spekt seitens der Jüngeren (774b) oder die Teilnahme an Hochzeitsfeiem u. ä. (784d) oder einfach der gute Ruf (vgl. die Anm. zu 784e5-7 und die Übersicht über die breite Palette der Ehrenstrafen bei Knoch 1960, 135£). Eine weitere Form der sozialen Ächtung ist das Verbot des Kontakts mit anderen Menschen (881d-e), das der archaischen Atimie nahekommt, aber den Verurteilten im Besitz des Landloses läßt. Auch bei der 877c verhängten Verbannung auf Lebenszeit („sozialer Tod“) ist der Be­ troffene nicht ganz άτιμος, da seine Familie sich weiter vom Landlos des Verbannten ernähren darf und es nach seinem Tod von einem Sohn geerbt wird. Einen Sonderfall bildet die Regelung, daß jeder Bürger den zum Tod verurteilten Landflüchtigen, der trotz lebenslanger Verbannung zurückkehrt, straflos töten darf (87Id); aber auch hier bleibt anders als in Athen, wo die Todesstrafe mit Einziehung des Vermögens verbunden war (Lipsius 603 £), das Vermögen des Getöteten seiner Familie.

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(3) Die Todesstrafe wird in Magnesia erschreckend oft verhängt. Sie ist - teilweise nur fur bestimmte Tätergruppen — bei folgenden Delikten vorgesehen: Tempelraub (854e), Umsturzversuch (856c), Landesverrat (856e), Mord (868b—c, 87Id ff., 872b, 874b), bestimmte Fälle von Kör­ perverletzung (877b-c, 878e-879a), Religionsfrevel (909a, 910c-e), Rückkehr aus lebenslänglicher Verbannung (866c, 868a, 871d-e, 88Id, 938c, Aufnahme eines Verbannten (955b), Nichtanzeige einer wider­ rechtlichen Schatzaneignung (914a; nur für Sklaven), Überschreiten der Aufenthaltsdauer durch Fremde (915c), Giftmischerei und Zauberei (933d), Auftreten vor Gericht trotz Zeugnisunfahigkeit (937c), böswilli­ ges Prozessieren (938c), Diebstahl von öffentlichem Eigentum (942a), Annahme materieller Belohnungen für den Dienst am Staat (955d), Wi­ derstand gegen die Vollstreckung einer Geldstrafe (958c), Abschluß ei­ nes Friedensvertrags oder Aufnahme von Kriegshandlungen ohne staatli­ chen Auftrag (955c), Einmischung eines aus dem Ausland moralisch ver­ dorben zurückgekehrten Beobachters in Fragen der Erziehung und Ge­ setzgebung (952c-d). Die Häufigkeit der Todesstrafe ist dadurch bedingt, daß Platon in den aufgezählten Delikten - neben dem Angriff auf Leib und Leben der Bür­ ger - einen Angriff auf die religiösen und moralischen Grundlagen der Stadt sieht, dem mit allen Mitteln entgegenzutreten ist. Erleichtert wird die Verhängung der Todesstrafe durch die Auffassung, daß das Leben an sich nicht das höchste Gut ist (vgl. 727d, 828d) und daß gerade für den „unheilbaren“ Täter der Tod das kleinere Übel darstellt (854c. e). Über die Art der Vollstreckung der Todesstrafe macht Platon keine ge­ nauen Angaben. Nach 872b—c erhält ein Sklave, der vorsätzlich einen Freien tötet, so viele Peitschenhiebe, wie der Ankläger befiehlt, wobei wohl der Tod des Sklaven beabsichtigt ist; dies ist daraus zu schließen, daß ein Sklave, der einen Freien lediglich im Zorn tötet, von den Ange­ hörigen des Opfers auf jeden Fall getötet werden muß, wobei ihnen die Wahl der Mittel überlassen ist (868b—c); ähnliches ist für den Fall der Körperverletzung im Zorn anzunehmen (879a). Den Bürger, der einen Blutsverwandten tötet, sollen die Gehilfen der Richter hinrichten (873b), wobei die mit der Todesstrafe verbundenen Entehrungen vermuten las­ sen, daß die Hinrichtung nicht durch den Giftbecher erfolgen soll (Knoch 1960, 150). Hinrichtungsarten im Athen des 4. Jh. waren der Apotympanismos und der erzwungene Selbstmord durch das Trinken von Schierlingssaft (un­ klar ist, wann welche Hinrichtungsart angewandt wurde: Todd 1993, 141). Beim Apotympanismos wurde nach der wahrscheinlichsten Erklä­ rung der Verurteilte mit fünf Klammem an einem Brett befestigt und blieb bis zum Eintreten des Todes daran befestigt (so u.a. Cantarella

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1991b, 42; Karabélias 1991, 100; Todd 2000, 34 f.; D. S. Allen 2000, 200 f.); andere führen den Tod auf Enthauptung zurück (z.B. Latte 1940, 1607 ff. = 1968, 401 ff. und Hyldahl 1991, 349) oder auf Tötung mit der Keule (Lipsius 77 Anm. 101). Der archaische Sturz vom Felsen (κατακρημνισμός) in eine Schlucht (βάραθρον oder όρυγμα; dazu Cantarella 103-105) wurde seit dem Ende des 5. Jh. durch den Schierlingsbecher verdrängt (Cantarella 115-116, Todd 31-33). (4) Haft (δεσμοί 855c3) ist in Magnesia nicht nur als Schuldhaft (855a—b und 857a—b) und Untersuchungshaft (87le), sondern auch als ordentliche Strafe vorgesehen (so 764b, 847a, 864e, 880b-c, 909a-c, 919e, 932b, 954e-955a). Mit Ausnahme der wegen Asebie (Religions­ frevels) Verurteilten wird die Haftstrafe in der Regel in dem Gefängnis am Markt vollstreckt (908a3). Für die Religionsfrevler gibt es je nach Schwere des Delikts (vgl. 908a) zwei Gefängnisse: das beim Versamm­ lungslokals der Nächtlichen Versammlung gelegene Sophronisterion („Haus der Besinnung“) und ein im Landesinnem gelegenes Gefängnis. Im zeitgenössischen Athen wird die Gefängnisstrafe zwar in den erhalte­ nen Zeugnissen selten erwähnt, doch ist an ihrer Existenz nicht zu zwei­ feln; sie wird nicht nur als Sicherungshaft bis zum Prozeß angewandt oder als Schuldhaft oder als Zusatzstrafe zur Geldbuße angeordnet, son­ dern auch als reguläre Strafe verhängt (vgl. Gemet 79 und 1951, p. CXC; Knoch 1960, 143 ff.; Harrison 1971, 177. 241-244; Karabélias 1991, 103; Todd 1993, 140; D. S. Allen 1997, 130f.; Triantaphyllopoulos 1985,248. (5) Bei den Schlägen (πληγαί) ist zu unterscheiden zwischen schwe­ ren Züchtigungen, die nach Ausweis des Substantivs μάστιξ oder des Verbs μαστιγουν mit der Peitsche vollzogen werden, und leichteren, die nur allgemein als Schläge bezeichnet werden. Peitschenhiebe sind wie in Athen in der Regel für Sklaven vorgesehen (845a, 854d, 872b-c, 881c, 882b, 914b [zu 845a und 914b s.u.]), können aber auch über Fremde ver­ hängt werden (854d, 879e; 917e). Während ein Bürger in Athen von je­ der körperlichen Züchtigung ausgenommen war, sind in Magnesia für Bürger in sieben Fällen unspezifizierte Schläge vorgesehen (762b-d, 784d-e, 794b-c, 845c, 88Id, 932b-c, 935b—c), und zwar zumeist nur ge­ gen Männer unter 30 und Frauen unter 40 Jahren (vgl. 932b-c). Auch Nichtbürger (Sklaven oder Fremde) erhalten solche Schläge (764b-c, 794b, 808e, 845b, 917c, 935b-c). Nicht in allen Fällen sind diese Schlä­ ge Strafe für ein begangenes Delikt; sie dienen auch als Zwangsmittel, um gesetzwidriges Verhalten auf der Stelle zu unterbinden (z.B. 845c, 917c, 935c). Schläge werden vor allem von den Richtern und Beamten verhängt; zur Abwehr von Unrecht sind aber auch Bürger (sofern sie über 30 Jahre alt sind) berechtigt und unter Umständen sogar dazu ver­

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pflichtet, mit Schlägen einzugreifen (808e, 914b, 917c). Problematisch ist allerdings die Bestimmung in 914b, daß bei Fundunterschlagung ein Sklave von jedem, der gerade darüber hinzu kommt, viele Peitschenhie­ be erhalten soll (πολλάς ττληγάς μαστιγούσθω), denn dies setzt vor­ aus, daß dieser Hinzukommende gerade eine Peitsche zur Hand hat (die­ selbe Schwierigkeit ergibt sich für 845a πληγαις μαστιγούσθω); ein Ausweg wäre, das Verb μαστιγουν hier einfach nur als „züchtigen“ (oh­ ne Peitsche) zu verstehen. Vgl. zum Ganzen Knoch 1960, 140 ff. (6) Nicht näher beschrieben sind die Strafen, die in einer entwürdigen­ den Art des Sitzens oder Stehens oder einer Aufstellung (? s.u. zu 855c3— 4) vor Heiligtümern an den äußersten Landesgrenzen bestehen. Es han­ delt sich wohl um temporäre Ehrenstrafen (Bertrands Deutung [1999, 268], wonach diese Strafarten den Tod des Verurteilten herbeiführen sol­ len, läßt sich am Text nicht verifizieren). Öffentliche Entehrung war in den geschlossenen Gesellschaften des antiken Griechenlands nichts Un­ gewöhnliches (vgl. die Belege bei Latte 1931, 156f. = 1968, 290f.; Gernet 1968, 288ff. = 1981, 240ff; Schmitz 1997, 91-115): In Sparta z.B. war ein Feigling verschiedenen Arten gesellschaftlicher Diskriminierung ausgesetzt (Xenophon, Lak. pol. 9,4-5); in Athen wurden Delinquenten auf der Agora in dem sog. κύφων (einem jochartigem Gerät aus Holz) zur Schau gestellt (Pollux 10,177 mit Zitat von Kratinos, Fr. 123 [PCG IV]; vgl. Suda κ 2800; Aristophanes, Plutos 476); ähnlich in Theben laut Aristoteles, Pol. 5,6. 1306b2). Der unteritalische Gesetzgeber Charondas soll angeordnet haben, daß Sykophanten mit Tamarisken bekränzt um­ hergehen und Deserteure drei Tage in Frauenkleidem auf der Agora sit­ zen müssen (Diodor 12,12,2 bzw. 12,16,1—2; von Latte allerdings als Fälschung angesehen);. Merkwürdigerweise fehlt im platonischen Katalog der Strafen die Exilierung. obwohl sie in den Strafgesetzen für Bürger und Fremde vorgese­ hen ist (als befristetes Exil 864e, 865e f., 866b—c, 867c ff., 868c ff.; als lebenslange Verbannung 854d, 866c, 868a, 877c, 881b, 938c sowie mit Belassung des Besitzes 856c-d und 877a-b). Für diese Lücke lassen sich mehrere Gründe vermuten (vgl. Gemet Komm. 78): Die Verbannung wurde bereits in 855c2, also unmittelbar vor dem Katalog (wenn auch nur als Umstandsangabe) erwähnt. Sodann geht es in dem Katalog, wie die vorausgehende Bemerkung zur Atimie zeigt, um Strafen für Bürger. Bürger werden aber in Magnesia — sicherlich auch mit Rücksicht auf die konstant zu haltende Zahl der Landlose - nur selten mit Verbannung be­ straft (im Vergleich mit Athen fallt besonders ihr Fehlen als Strafe für Asebie auf). Sieht man ab von den Fällen zeitweiliger Verbannung, so bleiben als Fälle lebenslanger Ausweisung eines Bürgers nur die Fälle in 868a, 877a-b und 877c. In 877a-b ist aber nicht von Verbannung

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(φυγή), sondern von „Versetzung“ (μετάστασις) die Rede, die auch Epist. VII 338bl von der Verbannung unterschieden wird; in 868a wird die lebenslange Verbannung nicht als Erststrafe verhängt, sondern als Strafe im Wiederholungsfall; in 877c ist sie für den seltenen Fall vorge­ sehen, daß ein Ehegatte seinen Ehepartner mit Tötungsabsicht verletzt. 855a8 sofern ihm nach der Ausstattung des Landloses: Der Überset­ zung liegt die Konjektur von Paton 1909, 112 (τι τω statt τι των) zu­ grunde, die auch England bevorzugt und Diès übernimmt. 855b2 den schriftlichen Verzeichnissen entnehmen: Vgl. hierzu 745a, 754e und 850a.

855b7 sofern nicht einige seiner Freunde sich für ihn verbürgen: Eine Bürgschaft (έγγύη) im Rahmen eines Gerichtsverfahrens bzw. der Straf­ vollstreckung sieht Platon auch 87le, 914e, 914e, 937b vor, worin er im wesentlichen dem positiven Recht folgt (vgl. Gemet 1951, p. CLXXXIV; Harrison 1971, 243 f.). Für eine Bürgschaft beim Abschluß eines Vertra­ ges gibt Platon detaillierte Bestimmungen in 953e. - Da im vorliegenden Fall die zu verhängende Geldbuße die zulässige Höchstgrenze übersteigt, fragt es sich, wie der Verurteilte diese Summe aufbringen kann. Eine Möglichkeit besteht darin, daß die Freunde die den Höchstbetrag über­ steigende Summe selber zahlen; ein andere könnte darin bestehen, daß der Verurteilte selber die Summe in mehreren Teilbeträgen abzahlt (was voraussetzt, daß er immer wieder einen gewissen Überschuß erwirtschaf­ tet) und die Freunde mit ihrer Person dafür bürgen, daß der Verurteilte die Summe in angemessener Zeit abzahlen wird. 855c3—4 Versetzung (παραστάσεις) zu den Heiligtümern: Zur Be­ deutung von παράστασής vgl. LSJ s. v. I. 1. und Gemet 1968, 288 Anm. 2; die Bedeutung „Danebenstehen“ ist trotz der von Stallbaum zi­ tierten Glosse des Timaios, Lex. Plat. ed. Hermann, Platonis dialogi vol. VI, ρ.4Ο5 = App. Platon, p.261 im vorliegenden Kontext wegen des be­ nachbarten στάσεις fraglich. Bertrand 1999, 166 Anm. 380 sieht in der Ausrichtung zur Landesgrenze eine Art symbolisches Exil. Gegen die von Ast erwogene Umstellung von εις ιερά hinter στάσεις verweist Effenterre 1948, 58 auf die Möglichkeit, daß Platon hier die Verhältnisse in Kreta im Auge habe, wo zahlreiche Heiligtümer in den bergigen Gegen­ den an den Grenzen zur Nachbargemeinde lagen (vgl. auch Effenterre 1942, 46 und Anm. 4).

855c6—856a8: Das Gericht und das Gerichtsverfahren bei Kapitalver­ brechen Für Prozesse, in denen die Todesstrafe verhängt werden kann, ist ein

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aus Gesetzeswächtem und dem Gericht der Auserlesenen Richter (vgl. 767c—d) bestehendes Gremium zuständig. Die exakte Anzahl der Mit­ glieder dieses Gremiums läßt sich nicht mit Sicherheit ermitteln, da nicht nur die Zahl der Auserlesenen Richter (wie schon 767c—d) unbestimmt bleibt, sondern überdies das Fehlen des Artikel vor νομοφύλακες (wie in dem analogen Fall 948a) offen läßt, ob alle 37 oder nur eine bestimmte Anzahl von Gesetzeswächtem dem Gerichtshof angehören sollen (arti­ kelloses νομοφύλακες steht auch 770a, 800a, 847d, 849e, 855b, 87le). Eine Wahrscheinlichkeit für die Zugehörigkeit aller Gesetzeswächter läßt sich aus Epist. VIII 356d—e herleiten, wo fiir Syrakus ein ähnlicher Ge­ richtshof vorgeschlagen wird, dem alle 35 syrakusanischen Gesetzes­ wächter und die Auserlesenen Richter angehören sollen. Beziffert man mit Morrow die Zahl der Auserlesenen Richter auf 15 oder 16, so ergäbe sich für Magnesia eine Gesamtzahl von etwa 50 Richtern in Kapitalpro­ zessen (vgl. Morrow 1960a, 267 Anm. 54). Während das fiir Syrakus vorgeschlagene Gremium zuständig sein soll, wenn es um Tod, Gefängnis oder Ausweisung geht, ist der Kapital­ gerichtshof Magnesias nur fiir Delikte zuständig, auf denen die Todes­ strafe steht. Als solche werden ausdrücklich genannt Tempelraub, Um­ sturzversuch und Verrat (856b-c, e), vorsätzlicher Mord (87Id) und Mordversuch (d.h. Körperverletzung: 877b); vermutlich fallen auch be­ stimmte Fälle von Religionsfirevel (910c—d) in sein Ressort. Aber der Ka­ pitalgerichtshof ist - entgegen der Formulierung in 855c6ff. - nicht das einzige Gremium, das die Todesstrafe verhängen kann: diese Befugnis besitzen auch die Auserlesenen Richter allein (938c, 946e), die Gesetzes­ wächter allein (958c), die Phylengerichte (915c) und in speziellen Fällen sogar die über 60 Jahre alten Bürger (878e) sowie die 101 ältesten Bürger (932c). Als Anregung für Platons Kapitalgericht kommt vor allem der Rat auf dem Areopag in Athen in Betracht. Dieser rekrutierte sich aus ehemali­ gen Archonten, die nach Ende ihrer Amtszeit und erfolgreicher Rechen­ schaftslegung über ihre Amtsführung auf Lebenszeit Mitglied dieses Gremiums wurden. In seine Zuständigkeit fielen im 4. Jh. die vorsätzli­ che Tötung eines Bürgers und Körperverletzung mit Tötungsabsicht so­ wie Brandstiftung und Vergiftung. Als weitere Anregung vermutet Piérart 1974, 438 die Rechtsprechung in oligarchischen Staaten, so vor al­ lem in Sparta, wo die Gerusia über Mord urteilte (Aristoteles, Pol. 3,1. 1275b 10) und die Ephoren gleichfalls bedeutende juridische Kompeten­ zen hatten (Xenophon, Hell. 5,4,24; Pausanias 3,5,2).

855dl—856a8 Was aber die Einleitungen dieser Prozesse usw.: Die hier gegebenen Vorschriften regeln nur das Verfahren zur Ermittlung des

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Kommentar

Tathergangs und die Abstimmung der Richter. Weitere Details des Ge­ richtsverfahrens waren schon 766d ff. und 846b ff. behandelt worden; andere werden noch in 871c—d, 876a—e, 936e—938c, 948b—949c und 956b—958c folgen (einen Vergleich aller Vorschriften Platons zum Ge­ richtsverfahren mit dem attischen Recht fuhrt Gemet 1951, p. CXL-CLI durch; vgl. ferner Morrow 1960a, 274 ff.). Um die platonischen Vorschlä­ ge würdigen zu können, sei hier der Gang des attischen Prozeßverfah­ rens, soweit er für den vorliegenden Abschnitt relevant ist, in aller Kürze skizziert (vgl. Lipsius 804ff.; Hansen 1995, 184ff.; Thür 2003a, 208 ff.). Der Kläger lädt seinen Gegner in Gegenwart von zwei Ladungszeugen vor den zuständigen Beamten; bei Tötungsdelikten ist dies der Basileus; für Familien- und Erbrecht ist der Archon eponymos zuständig, für Pro­ zesse, an denen Nichtbürger beteiligt waren, der Polemarchos; öffentli­ che Klagen gehen meist an die sechs Thesmotheten (private zum größten Teil an „die Vierzig“ bzw. bei einem Streitwert über 10 Drachmen an die Schiedsrichter). Der Beamte bestimmt einen Termin für das Vorverfah­ ren, bei dem die Parteien ihre Klage- bzw. Verteidigungsschrift durch ei­ nen Eid zu beschwören haben. Das Vorverfahren besteht bei Mordpro­ zessen aus drei Voruntersuchungen (προδικασίαι) in drei aufeinander folgenden Monaten, die der Basileus terminiert; außerdem untersagt der Basileus durch eine sog. πρόρρησις dem Beschuldigten, bis zur gericht­ lichen Entscheidung die heiligen Stätten zu betreten. Das Vorverfahren der übrigen Archonten heißt άνάκρισις (Befragung). Dabei befragt nicht der Beamte die Parteien, sondern diese befragen einander über relevante Tatbestände. Falls eine Partei den Spruch der Schiedsrichter ablehnt und Berufung an ein reguläres Gericht einlegt, geben die Schiedsrichter das ganze Beweismaterial der Parteien in schriftlicher Form zusammen mit dem Spruch der Schiedsrichter in getrennten versiegelten Tongefäßen an das Geschworenengericht weiter (Aristoteles, Ath. pol. 53,2 f.). Kommt es im Vorverfahren zu keiner Einigung, hat der Beamte den Prozeß in ein Gericht „einzufuhren“ (είσάγειν). Für die Hauptverhand­ lung wird in einem komplizierten Losverfahrens ein Geschworenenge­ richt zusammengesetzt. Die Hauptverhandlung sieht nach dem Verlesen der Klage und der Antwort durch den vorsitzenden Gerichtsmagistrat je eine Rede für den Kläger und den Beklagten vor, denen hierzu mit der Wasseruhr (Klepshydra) die gleiche Redezeit zugemessen wird. Nach den Plädoyers wird in geheimer Abstimmung mittels Stimmsteinen über Schuld und Unschuld entschieden. Ist nach einem Schuldspruch noch die Schätzung einer Strafe vorgesehen, findet eine zweite Abstimmung statt, in der die Richter zwischen der Schätzung des siegreichen Klägers und der Gegenschätzung des Verurteilten wählen. Die Verhandlung einer öffentlichen Klage durch das Geschworenengericht nimmt gewöhnlich

853d5—856a8

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einen ganzen Tag in Anspruch (mit längerer Dauer bei Prozessen von ho­ her politischer Bedeutung rechnet Worthington 2003). Bei Privatklagen ist die Verhandlungsdauer kürzer; nach Aristoteles Ath. pol. 67,1 konn­ ten an einem Tag etwa vier Prozesse bewältigt werden. In den Nomoi überläßt der Athener die Regelung der Formalitäten, die der Eröffnung der Verhandlung vorausgehen, also der Vorladung und Einleitung, den Jüngeren Gesetzgebern“ (855d2-3; vgl. 957a), worunter primär die Gesetzeswächter zu verstehen sind (vgl. 835b, 846c und 769al-771a4; dazu Bd. II 438 ff.). Diese haben, so ist analog zu Athen zu vermuten, nicht nur die schriftliche Klage und Verteidigung entgegen­ zunehmen (948d) und die Prozesse einzuleiten, sondern werden auch den Vorsitz bei der Verhandlung führen und wohl auch beim Urteils­ spruch mitwirken (vgl. Piérart 1974, 179). Was die mündliche Gerichtsverhandlung betrifft, so weicht Platon in wesentlichen Punkten von der Praxis Athens ab, die von Thür 2000, 49 so zusammenfaßt wird: „Das Beweisverfahren war nur rudimentär entwi­ ckelt, es gab weder Urteilsspruch noch -begründung. Keine Partei wußte, warum sie verurteilt oder freigesprochen worden war, keine Instanz konnte Fehler korrigieren.“ Platon weist den Richtern in Magnesia die Aufgabe zu, durch entsprechende Befragung die Wahrheit über die Tat und ihre Motive ans Licht zu bringen und so ein Urteil zu fallen, das nicht einfach den Rechtsanspruch der einen Partei gegen den der anderen abwägt, sondern dem Tatbestand und dem Täter objektiv gerecht wird. Indem der platonische Richter — anders als die „stummen Richter“ (766d, 876a) in Athen - nicht nur durch Fragen die seelische Verfassung des Täters zu erforschen sucht, sondern sein Urteil vermutlich auch durch eine persönliche Stellungnahme begründet (im Gegensatz zum stummen Richter: vgl. 876b 1-2), wird die Gerichtsverhandlung zu einer Lehrstunde in Fragen der Moral, an der nicht nur die Beamten (767d—e), sondern auch möglichst viele Bürger zuhörend teilnehmen sollen (855d). Da im Band II dieses Kommentars bereits die allgemeinen Grundsätze zum Prozeßverfahren dargelegt worden sind (S. 425-427), brauchen hier nur die Einzelheiten erläutert zu werden.

855d4 Die Stimme soll offen abgegeben werden: Ebenso 767d8. In Athen war dagegen die Stimmabgabe geheim; vgl. Lysias, Or. 12,91, Demosthenes, Or. 19,239; Lipsius 920-23.

855d8—el Nur eine Rede soll gehalten werden, zuerst vom Kläger, dann vom Beklagten: Dies entsprach der überwiegenden Praxis in Athen (wo aber nach dem Schuldspruch noch Reden zur Abschätzung der Stra­ fe folgen konnten); nur bei einem Teil der Prozesse kam jede Partei zwei­ mal zu Wort (so vor allem bei den auf dem Areopag verhandelten Blut­

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klagen, wie Antiphons Tetralogien bezeugen; vgl. Lipsius 910 f.). Platons Betonung der Einzahl spricht gegen die Vermutung von Morrow (1960a, 282), daß in Magnesia jede Partei an jedem Prozeßtag eine Rede halten darf; der Text fordert dreimalige Durchführung nur für die Befragung (856a3 άνακρίνοντας).

855e2 mit der Befragung (άνακρίνουτα) beginnen: άνακρίνειν bzw. άνάκρισις hieß in Athen die Vorprüfung der Klage durch den Beamten, der bei der späteren Verhandlung des Falles den Vorsitz im zuständigen Gericht inne hatte (vgl. Lipsius 829 ff., Harrison 1971, 94ff.). Platon kennt eine Vorprüfung nicht, sondern verlegt die Befragung in die eigent­ liche Verhandlung, wobei er άνακρίνειν bzw. άνάκρισις (e5) wie schon 766e2 in der allgemeinen Bedeutung „prüfen“ oder „befragen“ gebraucht (vgl. Saunders 1972, Nr. 39 S. 43); befragt werden sollen neben den bei­ den Parteien natürlich auch die von diesen aufgebotenen Zeugen, und zwar nicht nur von dem ältesten, sondern (wegen 855e6) von jedem Richter.

856al—2 wenn man der Niederschrift die Siegel aller Richter aufge­ drückt hat, soll man sie auf dem Altar der Hestia niederlegen: Zum Altar der Hestia vgl. die Anm. zu 745b7—8 und 778c6—d3. Die Deponierung auf dem Altar (vgl. auch 753b-c) bringt die Niederschriften gleichsam der Gottheit dar und verpflichtet so die Richter zu äußerster Gewissen­ haftigkeit bei der Beurteilung der fiir den Fall relevanten Aussagen. Aus dem Text geht nicht hervor, ob die in der Niederschrift protokollierten Aussagen von allen Richtern fiir relevant betrachtet werden müssen oder ob jeder einzelne Richter diejenigen Aussagen zu Protokoll gibt, die ihm persönlich wichtig erscheinen (letztere Auffassung vertritt Gagarin 2000, 221). Den Zweck der schriftlichen Aufbewahrung der Niederschriften sieht Piérart 1974, 461 darin, daß man vor der Abstimmung das Dossier einsehen kann. Bertrand 1999, 215 vermutet als Zweck die Sicherung von Beweismitteln fiir den Fall, daß ein Bürger einen Richter wegen ei­ nes nicht dem Inhalt des Dossiers angemessenen Urteils angreift und die Familie eine Neuaufnahme des Prozesses anstrebt (dies entspräche der Aufbewahrung von Beweismaterial fiir die Berufungsverhandlung, von der Aristoteles Ath. pol. 53,2f. im Zusammenhang mit dem Schiedsge­ richtsverfahren berichtet). Aber die Formulierung τέλος έπιθεΐναι (a78) dürfte eine mit richterlichem Versagen begründete Revision eher aus­ schließen (vgl. zu 761e6). Zulässig ist dagegen eine Überprüfung des Ur­ teils, wenn sich Zeugenaussagen nachträglich als falsch herausstellen (937c-d); fiir diesen Fall ist die Aufbewahrung der Niederschriften von Nutzen.

856bl—856e4

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856a4 wenn sie das dreimal gemacht ...haben: Die längere Prozeß­ dauer in Magnesia soll im Hinblick auf die Todesstrafe einem unkorri­ gierbaren Justizirrtum vorbeugen. Nach Apol. 37a-b gab es in Staaten außerhalb Attikas ein Gesetz, das es verbot, über Tod und Leben an ei­ nem Tag zu entscheiden. Falls Platon sich an einem Vorbild orientierte, kommt vor allem Sparta in Betracht, wo die Geronten über Delikte, auf denen die Todesstrafe stand, mehrere Tage verhandelten; Anaxandridas soll dies damit begründet haben, daß bei der Todesstrafe im Falle eines Irrtums keine Revision mehr möglich sei (Plutarch, Apophth. Lak. [Ana­ xandridas 6] 217B); dasselbe Argument verwendet Gorgias im Palame­ des (Vors. 82 B 11a, 34-35). Nicht auszuschließen ist auch eine Anre­ gung durch den Areopag in Athen, wo der eigentlichen Verhandlung, si­ cherlich im Hinblick auf die Schwere des Falles, drei Voruntersuchungen (προδικασίαι) durch den Basileus vorausgingen; vgl. oben zu 855dl— 856a8. 7.2. 856b 1—856e4: Umsturzversuch Umsturz der Verfassung (κατάλυσις τής πολιτείας Aristoteles, Ath. pol. 25,3) bezeichnete in Athen vor allem zwei Tatbestände: die „Errich­ tung einer Tyrannis“ und den versuchten „Sturz der Demokratie“ (κατάλυσις του δήμου). Für das erste Delikt war schon früh der Areopag zu­ ständig (vgl. MacDowell 1978, 28-29). Der Sturz der Demokratie und die gegen die Demokratie gerichtete Bildung einer politischen Vereini­ gung (εταιρικόν) wurde in klassischer Zeit ebenso wie der Tempelraub durch eine Anzeige an die Volksversammlung (Eisangelia) verfolgt. Als Strafe für die Errichtung der Tyrannis verhängte ein bei Aristoteles, Ath. pol. 16,10 referiertes Gesetz die Atimie über den Täter und seine Fami­ lie, was ursprünglich wohl bedeutete, daß er für geächtet und für vogel­ frei erklärt wurde. Nach einem von Demophantos im Jahre 410 initiierten Gesetz durfte derjenige, der die Demokratie zu stürzen oder eine Tyran­ nis zu errichten versuchte, von jedem straflos getötet werden (Andokides, Or. 1,96-97). Platon sieht den Tatbestand des Verfassungsumsturzes dann erfüllt, wenn ein Bürger versucht, statt des ,göttlichen6 Gesetzes einen menschli­ chen Herrscher oder eine Gruppe von Menschen an die Macht zu bringen (zum Text in 856b2 s. unten), was zu einer Spaltung in der Stadt führt (vgl. 715b). Unklar ist, an welche Beamten eine diesbezügliche Anzeige zu richten ist, ob an die Gesetzeswächter oder jeden anderen Beamten. Als Strafe nennt der Text nur den Tod, erwähnt also nicht die den Tem­ pelräuber zusätzlich treffende Verweigerung der Bestattung, die aber aus 856c gefolgert werden kann. Über die Bestrafung des nachlässigen Be-

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amten macht der Text keine Aussage. Die Bestimmungen in 774b, 907e, 928b—d legen den Schluß nahe, daß er wie der Täter bestraft werden soll (vgl. Meremetis 1940, 51); ein bloßer Tadel bei der Rechenschaftsable­ gung bzw. dem Wettbewerb um die höchsten Auszeichnungen, wie er 88le und 952d gefordert wird, ist angesichts der durch seine Nachlässig­ keit heraufbeschworenen Gefährdung der Verfassung unwahrscheinlich. 856b2 Wer einen Menschen an die Macht bringt (ος άν άγων εις άρχήν άνθρωπον): Ich übernehme das in A2 und O4 und im korrigier­ ten Exemplar des Patriarchen überlieferte άνθρωπον, das auch durch die armenische Übersetzung bestätigt wird (vgl. Conybeare 1924, 132). Der in AO überlieferte Text (mit ανθρώπων statt άνθρωπον), den Bur­ net, England und Diès drucken, wird von vielen Auslegern und Überset­ zern gedeutet als: „wer (die Gesetze) unter die Herrschaft von Menschen bringt“. Diese Deutung verwirft Stallbaum mit dem berechtigten Hin­ weis, daß sie dem griechischen Sprachgebrauch widerspricht (man er­ wartet ύπό statt εις). Für den korrigierten Text spricht die analoge Wen­ dung Ion 541d ους ή πόλις (...) εις στρατηγίας καί εις τάς άλλας άρχάς άγει, ebenso Resp. 551a9—10 εις τάς άρχάς άγουσι, sowie der Gebrauch von εις αρχήν bzw. εις τάς άρχάς in Wendungen, die „an die Macht gelangen“ bedeuten (Nom. 695c8, 715bl, Epist. VII 326b2; vgl. auch 755a5 φέρεσθαι εις την αρχήν „vorschlagen fiir ein Amt“). Susemihl versteht άνθρωπον individuell („Jemanden“); pointierter ist es, „Mensch“ hier als ontologischen Gegensatz zu Gott (wie 716c) oder zum Gesetz (wie 714a) zu verstehen; der Singular dürfte speziell auf eine Ty­ rannenherrschaft verweisen. 856b3 Clique (εταιρίας): Hetairien hießen die Vereinigungen („Klubs“) von Genossen (εταίροι), die im 5. Jh. oft politische Interessen verfolgten und zumeist oligarchische Ansichten vertraten; im 4. Jh. traten sie vor allem als Vereine zur Pflege der Geselligkeit und gegenseitigen Unterstützung auf (Hansen 1995, 292—294). Platon beurteilt sie negativ: Resp. 365d, Theait. 173d, Epist. VII 333e. Zur Entstehung von Stasis im Zuge der Hetairienbildung vgl. Gehrke 1985, 335. Decleva Caizzi 1986, 298 vermutet, daß Platon hier den Redner Antiphon vor Augen hat, der nach Thukydides 8,68 der Hauptverantwortliche fiir den Umsturz von 411 war und nach Ps.-Plutarch, Vita decem orat. 833F des Verrats (προ­ δοσία) angeklagt wurde, den Platon als nächstes Delikt in 856e behan­ delt.

856c3 soll... den Beamten anzeigen\ ένδεικνύτω bedeutet hier unspe­ zifisch einfach „anzeigen“ und hat — anders als 937c3 — wohl nichts mit dem speziellen Verfahren der Endeixis zu tun (vgl. Morrow 1960a, 277 Anm. 81 und vor allem Piérart 1974, 448).

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856c8 die Schande des Vaters und seine Bestrafung soll auf keines der Kinder übergehen, außer wenn der Vater ... zum Tod verurteilt worden sind: Der Grundsatz, daß Kinder nicht für die Verbrechen ihrer Eltern be­ straft werden dürfen, wird auch 855a und 909c betont. Die hier für ein Abgehen von diesem Grundsatz genannte Bedingung (dreimalige Verur­ teilung zum Tode in drei aufeinanderfolgenden Generationen) wird so selten eintreten, daß der Ausnahmefall kaum jemals praktisch werden dürfte. Außerdem handelt es sich bei der hier vorgesehenen Ausweisung der Kinder weniger um eine Strafe als vielmehr um eine präventive Maß­ nahme des Staates, die der Befürchtung entspringt, daß die dreimal zuta­ ge getretene kriminelle Neigung der Vorfahren in der vierten Generation erneut zum Ausbruch kommt. Daß dem delphischen Orakel die letzte Entscheidung bei der Neuvergabe des Landloses zukommt, indem der Gott — wie bei der Wahl der Exegeten (759d) — aus den von Menschen (aber nicht von Verwandten des Hingerichteten!) gewählten Kandidaten einen auswählt, entspricht der Heiligkeit der Landverteilung und der Göttlichkeit des Loses (vgl. 741b—c). In der griechischen Welt geht die Ausdehnung einer Bestrafung auf Fa­ milienmitglieder, die noch im 5. Jh. nicht selten war (hierzu Dover 1974, 303 £), im 4. Jh. stark zurück. Die kollektive Todesstrafe (hierzu Glotz 1904, 456 ff.) wird nach 411/410 kaum noch angewandt; so wurden die Kinder Antiphons und Archeptolemos’ nur mit Atimie und indirekt durch Güterkonfiskation bestraft (Ps.-Plutarch, Vita decem orat. 834A). Eine kollektive Verbannung, wie sie laut Idomeneus (FGrHist 338 F 1) die Familie des Themistokles traf, ist für das 4. Jh. in Athen schwer nach­ weisbar (Glotz 473 ff., Becker 1932, 288); dasselbe gilt für erbliche Ati­ mie, die ursprünglich noch Ausstoßung der Familie aus der Gemein­ schaft bedeutete, dann aber den Charakter einer gerichtlich verhängten Strafe annahm (Glotz 494, Becker 286), die im 4. Jh. praktisch nur bei Staatsschuldnem Anwendung fand (Glotz 508; Hansen 1995, 271). Von dieser Entwicklung unberührt blieben die eine göttliche Strafe her­ abwünschenden Selbstverfluchungen und sonstigen Verwünschungen, die immer die Familie des Verfluchten miteinbeziehen (z.B. Demosthe­ nes, Or. 19,71; 24,151; Lysias, Or. 12,10; Andokides, Or. 1,31; vgl. La­ cey 1983, 82 f.).

7.3. 856e5—857b3: Hochverrat (undDiebstahl)

856e5—857a2: Wie in Athen ist auch in Magnesia Hochverrat das drit­ te schwere Verbrechen nach Tempelraub und Verfassungsumsturz (vgl. zu 853d5-856a8). Da der Athener den Hochverrat nicht definiert, setzt

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Kommentar

Platon wohl stillschweigend den im attischen Eisangelie-Gesetz be­ schriebenen Tatbestand voraus, der darin besteht, daß jemand eine Stadt oder Schiffe oder ein Landheer oder eine Seestreitmacht preisgibt (Hy­ pereides, Or. 3,8 [Jensen]) oder zu den Feinden übergeht oder bei ihnen Wohnung nimmt oder mit ihnen zu Felde zieht oder Geschenke von ih­ nen annimmt (Theophrast Fr. 636B Fortenbaugh). Als Strafe konnte in Athen offenbar Tod oder Exil verhängt werden (zu den Einzelheiten Har­ rison 1971, 59; MacDowell 1978, 176-179). Da der Athener keine Strafe für Hochverrat nennt, ist anzunehmen, daß Platon dafür dieselbe Strafe wie für Tempelraub und Umsturzversuch vorsieht, also auf jeden Fall die Todesstrafe; ob mit Ataphie verbunden, ist fraglich (vgl. zu 856b1856e4).

856e5 Gemeinsam soll noch in einem dritten Fall ein einziges Gesetz gelten: Ich folge dem Text von AO (εις έστω), nicht der von Diès u. a. übernommenen Konjektur Burys (κείσθω). Das von England als tauto­ logisch beanstandete Nebeneinander von κοινός und εις läßt sich stützen durch Tim. 76d5, Nom. 687cl-2, 681a2-3, 908a2. Das mehrmalige εις (856e5, 8, 857a3) soll schon auf den folgenden Einwand des Kleinias in 857b vorbereiten. Erwägenswert ist allerdings das von Vermehren für τρίτος konjizierte τρίτοις (erwähnt bei Bury 1934, 181 ), da so das anaphorische αύτοίς (e6) das erforderliche Bezugswort erhält; zu überset­ zen wäre dann: „soll es für eine dritte Gruppe von Tätern ein einziges Gesetz geben“ (vgl. den analogen Dativ τρισί 857al). 857a2-b3 Für einen Dieb usw.: Der vorliegende Passus behandelt so­ wohl den Diebstahl von Eigentum einer Privatperson, die den Dieb mit einer Privatklage verfolgt (= τον καταδικασάμενον 857a7), als auch (in 857a2-bl) den Diebstahl von Staatseigentum (zu folgern aus der Be­ dingung in b2, daß der Zahlungsunfähige die Stadt umstimmen muß); für beide Delikte wird dieselbe Strafe gefordert, nämlich eine Geldbuße in doppelter Höhe des Wertes des Gestohlenen bzw. bei Zahlungsunfä­ higkeit Erzwingungshaft bis zur Bezahlung oder „Umstimmung“ des Be­ stohlenen (zum Verzicht auf die Restzahlung). Daß nach den schweren Verbrechen gegen die Götter und die Stadt, die für den Bürger den Tod zur Folge haben, der mit einer relativ milden Strafe zu ahndende Dieb­ stahl behandelt wird, überrascht (begreiflicher ist dagegen die Zusam­ menstellung von Tempelraub und Diebstahl bei Isokrates, Or. 20,6, wo als Strafe für beide Delikte der Tod genannt ist). Hinzu kommt, daß der vorliegende Passus schwer mit den anderen Passagen der Nomoi zu ver­ einbaren ist, die den Diebstahl betreffen. Sieht man ab von 854d—855a (Tempelraub), 913a—914a (Aneignung von vergrabenen Schätzen) und

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914bc (Aneignung von Fundsachen), so bleiben als einschlägige Geset­ ze nur die — im Vergleich zu den Differenzierungen des attischen Rechts — ziemlich pauschalen Bestimmungen in 933e-934a (Diebstahl von Pri­ vateigentum; die Ankündigung detaillierter Gesetze hierfür wird aber nicht eingelöst) und in 941b-942a (Diebstahl von Gemeineigentum). Während in 941b-942a fiir den Bürger, der Gemeingut stiehlt, die Todes­ strafe festgesetzt wird, sieht Platon im vorliegenden Passus hierfür nur dieselbe Geldbuße wie fiir Diebstahl von Privateigentum vor und bestraft damit entgegen seiner sonstigen Tendenz ein Delikt gegen die Stadt nicht schwerer als ein Delikt gegen einen Privatmann. Außerdem widerspricht die Forderung, daß es fiir Diebstahl ohne Rücksicht auf die Umstände nur ein Gesetz geben soll, dem Grundsatz, daß die seelische Verfassung des Täters maßgebend fiir die Strafe sein soll, der eine Differenzierung auch nach den äußeren Umständen erfordert, z. B. ob der Diebstahl heim­ lich oder mit Gewalt, ob bei Tage oder bei Nacht erfolgte; ob ein Bürger oder ein Fremder oder Sklave Täter ist usw. Während Gemet 88 f. in die­ sen Widersprüchen ein Indiz fiir den unvollendeten Zustand der Nomoi sieht, vertritt Saunders 1991a, 283-285 wie schon Susemihl 1027f. und Knoch 1960, 11 die plausiblere Ansicht, daß die vorliegende Gesetzes­ fassung lediglich ein Kunstgriff Platons ist, um den anschließenden Strafrechtsexkurs in Gang zu bringen, der mit der Verwunderung des Kleinias über das Fehlen einer Differenzierung beginnt. Vor allem der Umstand, daß in 864c—d als bereits gesetzlich geregelte Materie nur Tempelraub, Verrat und Umsturz genannt werden, nicht aber der Dieb­ stahl, zeigt, daß das vorliegende Gesetz über den Diebstahl nur vorläufi­ gen und versuchsweisen Charakter hat (Saunders 283 qualifiziert es als „bogus“) und durch die späteren Gesetze ersetzt werden soll. Cohen 1983, 120 faßt dagegen δημοσία 857bl unter Berufung auf 800c7 und 873e2 als „an öffentlichen Plätzen“ und sieht darin eine Ana­ logie zu dem athenischen Gesetz, das Diebstahl von Przwz/eigentum an öffentlichen Plätzen (Gymnasien, Häfen) mit dem Tode bestrafte (De­ mosthenes, Or. 24,114); zugleich kritisiere Platon dieses Gesetz, indem er für Diebstahl ohne Rücksicht auf die Umstände dieselbe Strafe fordere (worin Saunders gerade ein unplatonisches Prinzip sieht). Gegen diese Interpretation von δημοσία ist aber einzuwenden, daß δημοσία 800c7 und 873e2 lediglich „von Staats wegen“, „als staatliche Veranstaltung“ bedeutet (hier fasse ich es als „das Volk betreffend“ und verbinde es mit κλοπής zu „Diebstahl am Gemeineigentum“). Vor allem stellt sich die Frage, warum in diesem Fall die Stadt (und nicht wie im ersten Teil des Gesetzes der Privatmann) zur Beendigung der Haft umgestimmt werden muß (vgl. auch MacDowell 1984, 231).

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Kommentar

7.4. 857b4—864c9: Die theoretischen Grundlagen des Strafrechts (Exkurs)

Der sog. Strafrechtsexkurs gehört zu den Partien der Nomoi, die beson­ ders intensiv diskutiert worden sind. Die folgende Auslegung verzichtet auf eine erschöpfende Präsentation und Diskussion der zahlreichen Inter­ pretationen und beschränkt sich darauf, in größter Nähe zum Text den Gedankengang zu analysieren und Platons Ansichten im Kontext der No­ moi zu erklären. In einer abschließenden Betrachtung (S. 289 ff.) soll vor der Erklärung einzelner Textstellen dargelegt werden, wie weit die theo­ retischen Aussagen des Exkurses in den anschließenden Strafgesetzen berücksichtigt werden. Literatur zum Strafrechtsexkurs: Adkins 1960, 304-311; Görgemanns 1960, 135-142; Rabbow, 1960, 17. 171-173. 197-199; McGibbon 1964; Gulley 1965; O’Brien 1967, 190-197; Neu­ hausen 1967, 63-67; Saunders 1968; Copi 1976; Guthrie 1978, 376378; Stalley 1983, 151 ff.; Zeitler 1983, 145-161; Schöpsdau 1984; Ro­ berts 1987; Winkel 1989; Saunders 1991a, 139ff.; Rotondaro 2000; B. Lee 2002, 135 ff.; Weiss 2003; Hom 2004; Merker 2006; Lisi 2008. Bei der Frage des Kleinias, warum der Athener die Strafen für Dieb­ stahl nicht nach den unterschiedlichen Tatumständen differenziere, hat Platon wohl das attische Recht vor Augen, das beim Diebstahl verschie­ dene Kategorien unterschied, so neben dem unspezifizierten Diebstahl den Kleiderdiebstahl in Bädern; Diebstahl auf öffentlichen Plätzen, Diebstahl bei Nacht, Diebstahl im Hafen im Wert von über 10 Drachmen und an andern Orten im Wert von über 50 Drachmen, Unterschlagung heiliger oder staatlicher Gelder u.a. (vgl. MacDowell 1978, 147 ff.; Co­ hen 1983; Todd 1993, 283 £). Das Verhältnis des folgenden Exkurses zur Frage des Kleinias ist alles andere als klar. Denn einerseits wird die Frage des Kleinias nirgends ex­ plizit beantwortet und andererseits kommen im Exkurs Probleme zur Sprache, die Kleinias gar nicht thematisiert hatte. Ferner wird in 860b das Abbrechen der bereits begonnenen Gesetzgebung mit dem Umstand begründet, daß die für Tempelraub und Umsturz vorgesehenen Strafen zu äußerst häßlichen Leiden führen; davon ist aber an der Abbruchstelle 857b keine Rede. Diese Diskrepanzen zeigen, daß der Exkurs nur lose im Text verankert ist; Platon benötigte einen Anlaß zur Klärung grund­ sätzlicher Fragen, die das Strafrecht vor allem im Hinblick auf das sog. sokratische Paradox von der Unfreiwilligkeit des Unrechttuns aufwirft. Diesen Anlaß schafft er sich durch den Einwand des Kleinias gegen das pauschale Strafgesetz gegen Diebstahl. Die Frage des Kleinias findet aber im Exkurs eine implizite Antwort in der Konzeption, daß für die Strafe nicht die Höhe des Schadens und die

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äußeren Tatumstände, sondern die seelische Disposition des Täters maß­ gebend ist, so daß die Strafe je nach den seelischen Ursachen eines Ver­ gehens und der Heilbarkeit oder Unheilbarkeit des Täters variiert. Die in 853c-857b erlassenen Gesetze werden aber nach dem Exkurs nicht mehr unter diesem Aspekt korrigiert (da der diese Vergehen verübende Bürger offenbar als unheilbar gilt), es wird nur noch in 864c-e der Fall der Un­ zurechnungsfähigkeit nachgetragen. Die späteren Gesetze über Diebstahl unterscheiden sich nach der Art des Diebesgutes: 933e-934a betrifft den Diebstahl von Privateigentum und 941c4—942a4 den Diebstahl von Ge­ meineigentum. Das erste dieser Gesetze fordert neben dem angemesse­ nen Schadensersatz eine nach der seelischen Verfassung bemessene Stra­ fe; das zweite verzichtet im Falle des offenbar als unheilbar geltenden Bürgers auf jede Differenzierung und verhängt ohne Rücksicht auf die Tatumstände die Todesstrafe.

oc) 857b9—859c5: Rechtfertigung des Exkurses mit dem Erziehungsauf­ trag des Gesetzgebers. Diesen Abschnitt bezeichnet Susemihl (1630 Anm. 548) als eine der „schwächsten Partien des Werkes“, in welchem unter anderem bereits im 4. Buch Gesagtes wiederholt werde und vielfach „jede ordentliche Ge­ dankenverbindung “ fehle (ähnlich G. Müller 1951, 157 ff.). Eine genaue­ re Analyse vermag aber durchaus einen geschlossenen Gedankengang zu erkennen (vgl. auch Görgemanns 1960, 83-85). 857b9—e7: Den Abbruch seiner „überstürzten“ Gesetzgebung rechtfer­ tigt der Athener damit, daß die mit der Gesetzgebung zusammenhängen­ den Probleme noch niemals richtig durchgearbeitet worden sind. Ein Rückgriff auf den Arztvergleich, der im 4. Buch (720a6—e5) die Einfüh­ rung von Proömien gerechtfertigt hatte, macht klar, was den heutigen Gesetzgebungen fehlt: eine „beinahe philosophische“ Argumentation und eine den Gesetzesadressaten belehrende und erzieherische Kompo­ nente. 857e8—858c3: Ein Gesetzgeber, der die Bürger erzieht, ist aber nicht im strengen Sinne gesetzgeberisch tätig (857e5 ού νομοθετεί). Glückli­ cherweise können sich aber die Dialogpartner eine solche Unterbrechung der eigentlichen Gesetzgebung leisten. Denn ohne zu unmittelbarer Pra­ xis genötigt zu sein, können sie in theoretischen Überlegungen die beste gesetzliche Regelung entwickeln, statt unter Zeitdruck einen nur das Nö­ tigste bietenden Kompromiß zustande zu bringen; auch können sie hier­ für in aller Ruhe noch Material sammeln (indem sie z. B. Gesetze des po­ sitiven Rechts prüfen); aus diesem noch haufenweise und ungeordnet (χύδην 858b4) herumliegenden Material kann dann schließlich in einer „Zusammenschau“ (σύνοψις 858c4; dazu unten) ein sachgerechter Ge­

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setzeskodex entwickelt werden, in der jedem Einzelgesetz der rechte Platz im Gesamtsystem zugewiesen wird. 858c3-859al: Der bereits in 857b9—e7 angedeutete erzieherische As­ pekt tritt nun in den Vordergrund. Unter erzieherischem Aspekt steht die Gesetzgebung in Konkurrenz zur sonstigen Literatur: denn beide geben Ratschläge (συμβουλήν, συμβουλεύειν 848d2. 7) und Belehrungen (διδάσκοντα d8) über das Schöne, Gute, Gerechte (858c3-dl0), mit de­ nen sie den Menschen zum Glück verhelfen wollen. Die Ratschläge des Gesetzgebers müssen sich in dieser Konkurrenz als die besten erweisen, so daß seine Schriften den Maßstab für die übrige Literatur abgeben kön­ nen. 859al-c5: Damit jedoch die Ratschläge des Gesetzgebers angenom­ men werden, muß die Abfassung von Gesetzen in der rechten „Denkwei­ se“ (vgl. διανοώμεθα a2, διανοηθέντες a7; vgl. διανοείται 718b6) geschehen. Die rechte Denkweise ist nicht die eines Tyrannen, der sich auf Befehle und Drohungen beschränkt (vgl. 720c6, 722e7 ff.), sondern diejenige liebender Eltern, die bei allen Erziehungsmaßnahmen das Wohl ihres Kindes im Auge haben und dies auch ihrem Kind klarzumachen verstehen. In diesem Sinne will der Athener über Gesetze sprechen und bei den noch folgenden Gesetzen hierauf achten (859b6-c5). Der Überblick zeigt, daß diese ganze Partie präparatorische Funktion hat, indem sie die folgenden prinzipiellen Überlegungen und „philoso­ phischen“ Erörterungen, die die Formulierung der Gesetze unterbrechen, mit der erzieherischen Aufgabe des Gesetzgebers rechtfertigt. Der Ver­ gleich der Haltung der Gesetze mit der von Vater und Mutter hat dabei noch eine besondere Relevanz fiir die folgende Gesetzgebung. Wie näm­ lich „vernünftige“ (859a3^4) Eltern auch bei einer schmerzhaften Züch­ tigung des Kindes dessen Wohl im Auge haben, so zielen auch die vom Gesetzgeber formulierten Strafgesetze auf das Wohl des Täters, indem sie ihn von der Ungerechtigkeit heilen (vgl. 862c—e). Darin ist zugleich die Lösung des in unmittelbarem Anschluß erörterten Dilemmas be­ schlossen.

ß) 859c6—860c3: Erste Aporie: Wieso ist das als Strafe zugefügte Leiden etwas Schönes? Die folgende Darlegung betrifft das „Schöne“ und das „Gerechte“ (859c6) und erfüllt so die Verpflichtung des Gesetzgebers, die Menschen über das Schöne, Gute und Gerechte zu belehren (858d). Diesbezüglich zeigen sich zwei „Aporien“ (861bl), die zu einem Widerspruch in den Aussagen der Masse, aber auch der Dialogpartner zu führen scheinen. Die in 859c7—9 angedeutete Aporie betrifft die Vereinbarkeit der von Sokrates behaupteten Unfreiwilligkeit der Unrechttuns mit der Bestra-

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fung des Täters; sie wird in 860c4—864c9 erörtert. Die andere betrifft die Beziehungen zwischen dem Schönen und dem Gerechten (859c9-dl) und wird zuerst behandelt. Der Athener beweist zunächst in einem Syllogismus, daß das als Strafe verhängte Leiden schön ist: 1) Alles, was an der Gerechtigkeit teilhat, ist schön (859d3-e2). 2) Das uns durch die Strafe zugefugte Leiden hat am Gerechten teil (e3-6). 3) Also ist das gerechte Leiden kraft seiner Teilhabe am Gerechten schön (e7-860a3). Für die Gültigkeit der ersten Prämisse (die gut platonisch ist: vgl. 728c3, 937d8ff., Gorg. 476bl-2) beruft sich der Athener auf die allge­ meine Überzeugung (vgl. z.B. Demosthenes, Or. 23,75 und die häufige Junktur von καλός und δίκαιος z.B. bei Aristophanes, Wolken 1340, Aischines, Or. 1,121, Demosthenes, Or. 20,98; 23,64.169; 24,38; 57,58; weitere Belege bei Triantaphyllopoulos 1985, 91 Anm. 73). Die zweite Prämisse wird durch einen Analogieschluß vom gerechten Tun auf das gerechte Leiden gewonnen (wie Gorg. 476b ^477a). Die sich da­ raus ergebende Schlußfolgerung (3) scheint aber inakzeptabel, weil die gesetzlichen Strafen zwar gerecht sein mögen, aber äußerst häßlich sind (860a4—6). Daher erscheint das Gerechte und Schöne bald identisch, bald verschieden zu sein, weshalb die große Masse — im Widerspruch zu der anfänglichen Überzeugung - das Gerechte vom Schönen trennt (860c 12). Die gegensätzlichen Urteile über das als Strafe zugefügte Leiden sind natürlich durch ihre unterschiedliche Perspektive bedingt: unter dem mo­ ralischen Aspekt der Gerechtigkeit ist Leiden schön, unter dem Aspekt des körperlichen Leidens (z.B. Hinrichtung, Auspeitschung etc.) aber häßlich. Für die Dialogpartner liegt die Überwindung der Aporie darin, daß der moralische Aspekt das übergeordnete Kriterium ist, das die Prädizierung als schön nach sich zieht. Dies kommt schon in dem Beispiel 859d5—el zum Ausdruck: ein Mensch mit einem häßlichen Körper ist schön, wenn seine Gesinnung gerecht ist. Gegenüber der Meinung der Masse genügt aber der Verweis auf die Gerechtigkeit des Leidens nicht, da diese ja auch für die Masse außer Frage steht (859d5). Bewiesen werden muß nicht die Gerechtigkeit, son­ dern die „Schönheit“ der Bestrafung. Diese ist letztlich nur deshalb „schön“, weil das mit der Strafe verbundene Leiden der Befreiung von einem Übel, nämlich der „Heilung“ der Ungerechtigkeit, dient. Dieser Gedanke wird im folgenden Teil vor allem in 862d—e ausgesprochen; er bildet ein Bindeglied zwischen den Erörterungen der beiden Aporien (anders wird der Zusammenhang von Weiss 2003, 44-48 gedeutet, die

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auch die Lösungen von Saunders 1968, Stalley 1983, 152 ff. und Pangle 497-8 diskutiert).

γ) 860c4—864c9: Zweite Aporie: Wieso ist unfreiwillige Ungerechtigkeit strafbar? Die zweite Aporie betrifft wiederum das „Schöne und Gerechte“ (= περί αύτά ταυτα 860c5 mit Bezug auf 860c2 und 859c6), jetzt aber un­ ter dem Aspekt der Strafgesetzgebung. Die umfangreiche Partie soll zuerst im Ganzen interpretiert werden; Erklärungen zu einzelnen Stellen folgen unten S. 292 ff.): 1) Darlegung der Aporie (860c4-861d9): Der Athener bekräftigt zunächst die sokratische These von der Unfrei­ willigkeit des Unrechttuns und schildert in einem fiktiven Dialog das Di­ lemma eines Gesetzgebers, der nicht mit sich selbst in Widerspruch gera­ ten will (vgl. συμφωνοίην 860e3 mit Bezug auf συμφωνία 860c5). Ist angesichts der sokratischen These eine Strafgesetzgebung überhaupt sinnvoll? Die Bejahung (860e7 „warum denn nicht?“) ruft die nächste Frage hervor: Ist die gängige strafrechtliche Unterscheidung zwischen ,unfreiwilligen* und ,freiwilligen* (d.i. juristisch: unbeabsichtigten und absichtlichen) Unrechtstaten (αδικήματα) berechtigt, da es (nach der sokratischen These) überhaupt keine freiwilligen Unrechtstaten gibt? (860e5-861a2). Diese Frage wird vom Athener indirekt als Ausdruck der „Verwirrung und Uneinigkeit** bezüglich des Gerechten (861a9-10) interpretiert, die es zu beseitigen gilt. Da die sokratische These nicht auf­ gegeben werden kann (86Id), ihr aber die Unterscheidung „aller Gesetz­ geber“ (861b3-4) zwischen freiwilligen und unfreiwilligen Ungerechtig­ keiten (αδικήματα) widerspricht, bleibt aus dieser Aporie nur der Aus­ weg, den Unterschied zwischen diesen beiden Arten von Handlungen (den der Athener also durchaus anerkennt) ohne Rekurs auf die Katego­ rie der Freiwilligkeit bzw. Unfreiwilligkeit zu erklären (861d4—7).

2) Der Unterschied zwischen Schädigung und Ungerechtigkeit (861el863a6): Der Weg zur Lösung der Aporie besteht in der Unterscheidung zwi­ schen Schaden (βλάβη) und Ungerechtigkeit (αδικία). Schädigungen können sowohl freiwillig (d. h. vorsätzlich) als auch unfreiwillig (unbe­ absichtigt) verursacht werden (86le). Eine unfreiwillige Schädigung darf aber nicht als unfreiwillige Unrechtstat (ακούσιον αδίκημα), ja nicht einmal als Ungerechtigkeit (αδικία) betrachtet werden (die kategoriale Verschiedenheit von Ungerechtigkeit und Schaden wird besonders daran deutlich, daß die Ungerechtigkeit sogar in einer Wohltat bestehen kann:

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862a7-bl). Denn maßgebend fiir die Beurteilung darf nicht das Geben oder Wegnehmen sein, sondern die gerechte oder ungerechte Gesinnung, in der der Täter handelt (862b3^4). Diese Gesinnung ist das „andere“ (861d6), das als Kriterium an die Stelle der Freiwilligkeit oder Unfreiwil­ ligkeit treten soll. Aus dieser Unterscheidung ergeben sich fiir den Ge­ setzgeber unterschiedliche Aufgaben: Für die Schädigung muß er eine materielle Wiedergutmachung anordnen und im Interesse des sozialen Friedens eine Versöhnung zwischen dem Opfer und dem Verursacher des Schadens herbeifiihren (862b6-c4). Die Ungerechtigkeit dagegen, die die Ursache ungerechter Schädigungen und Bereicherungen ist (862c6), verlangt nach Maßnahmen, die den heilbaren Täter von der Ungerechtig­ keit heilen, bzw. im Falle der Unheilbarkeit die Hinrichtung des Täters (862dl—863a2; vgl. die genauere Analyse unten). Kleinias gibt sich noch nicht zufrieden, sondern möchte wissen, wie sich die Kategorien ,unfreiwillig6 und ,freiwillig6 zu den Kategorien ,Ungerechtigkeit6 und ,Schaden6 verhalten (863a3-6). Seine Frage ist berechtigt. Denn der Athener hat einerseits bei seiner eigenen Unter­ scheidung zwischen Ungerechtigkeit und Schaden das Kriterium der Freiwilligkeit bewußt beiseite gelassen und nur zwischen dem Schaden als dem äußerlichen Resultat einer Handlung und der Ungerechtigkeit bzw. Gerechtigkeit als der seelischen Verfassung unterschieden; anderer­ seits hatte er in 862a3^4 einer unfreiwilligen Schädigung den Unrechts­ charakter abgesprochen und 862d3 das Ziel der Strafe darin gesehen, zu verhindern, daß der Täter noch einmal freiwillig (έκόντα) ein Unrecht begehe — beides scheinbar im Widerspruch zur sokratischen These von der Unfreiwilligkeit des Unrechttuns. Die Antwort gibt der Athener, in­ dem er sein Verständnis von Ungerechtigkeit bzw. Gerechtigkeit entwi­ ckelt, wobei er aber die Frage der Freiwilligkeit nur implizit beantwortet. 3) Definition der Ungerechtigkeit mittels der seelischen Ursachen der Tat (863a7—864b7): Die seelischen Triebkräfte, die zu Ursachen von verkehrten Handlun­ gen (αμαρτήματα 863c 1) werden können, sind der Zorn (θυμός), die Lust (ηδονή) und die Unwissenheit (αγνοια); letztere tritt auf als einfa­ che Unwissenheit und als doppelte (d.h. mit dem Nichtwissen der Un­ wissenheit verbundene) Unwissenheit, die in Verbindung mit Macht oder mit Schwäche die Ursache schwerer bzw. leichter Vergehen ist. Zorn und Lust sind beherrschbar, nicht aber die Unwissenheit. Gemeinsam ist aber allen dreien, daß sie den Menschen oft in eine ungewollte Richtung drän­ gen (863e2^1). Die tyrannische Herrschaft von Zorn, Furcht, Lust, Schmerz (λύπη), Neid und Begierden über die Seele ist immer Ungerechtigkeit (αδικία),

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unabhängig davon, ob der von ihnen Beherrschte einen Schaden anrich­ tet oder nicht (863e6—864al). Gerecht dagegen ist alles, was jemand tut, dessen Seele von der Vorstellung vom Besten beherrscht ist, auch wenn er dabei einen Fehler begeht (864a 1—6); eine solche (durch einen Irrtum verursachte) Schädigung wird von den meisten unzutreffend als unfrei­ willige Ungerechtigkeit (ακούσιος αδικία) bezeichnet. Anschließend werden 864b 1—7 resümierend die Verfehlungen (άμαρτανόμενα) nach den drei Ursachen in Arten (εϊδη) eingeteilt, wobei die irrationalen Antriebskräfte gegenüber 863a7-el und e6-8 wiederum an­ ders gruppiert werden. Es ergeben sich folgende Arten: 1) Durch Schmerz (= Oberbegriff von Zorn, Furcht und Neid) verur­ sachte Verfehlungen. 2) Durch Lust und Begierden verursachte Verfehlungen. 3) Das „Streben der wahren Meinung nach dem Besten“ (zum Text s. zu 864b7). Die interpretatorische Hauptschwierigkeit besteht darin, daß die in 863c 1 als Ursache von Verfehlungen genannte Unwissenheit (άγνοια) weder bei der Definition des Ungerechten und des Gerechten noch bei der Aufzählung der drei Arten von Verfehlungen explizit erwähnt wird und auch in den anschließenden Strafgesetzen in Buch IX nirgends ex­ pressis verbis auftaucht (Lisis Versuch [2008, 97], den 863e7 genannten φθόνος aufgrund von Phil. 49c8-e9 als eine Form der Unwissenheit zu deuten, übersieht, daß der φθόνος dort lediglich die schadenfrohe Reak­ tion auf die Unwissenheit anderer [von Freunden] ist und in Phil. 47e, 48b, 50a eindeutig als Schmerz [λύπη] der Seele bezeichnet wird). Daß die Unwissenheit aber an der dritten Art von Verfehlungen beteiligt ist, ergibt sich aus dem Rückverweis 864b8 auf die dreifache Unterteilung dieser Art in die einfache, die doppelte Unwissenheit eines Mächtigen und die doppelte Unwissenheit eines Schwachen. Um so mehr ist dann zu fragen, warum der Athener in 864b6—7 als dritte Art nicht einfach die Unwissenheit, sondern „das Streben der Erwartungen und der wahren Meinung nach dem Besten“ angibt. Einen Hinweis zur Beantwortung gibt der Kasuswechsel von den Ge­ nitiven λύπης und ήδονής zum Nominativ εφεσις (864b6-7). Während nämlich die irrationalen Regungen Auslöser einer Verfehlung sind und daher im Genitiv des Ursprungs stehen, ist das Streben der Meinung nach dem Besten gerade kein Auslöser einer Verfehlung, sondern beschreibt das Wesen der in 864a 1-8 geschilderten gerechten Handlung, die hierin eben von anderer Art (ετερον 864b7) ist als die ersten beiden Arten. Allerdings muß an dieser gerechten Handlung etwas verfehlt sein, da der Athener von drei Arten von Verfehlungen (άμαρτανόμενα) ausge­ gangen war. Dieses durch Unwissenheit verursachte Element der Verfeh-

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lung, das aber einer gerechten Handlung diese Qualität nicht nimmt, kann nur in dem konzessiven Satz „auch wenn er einmal einen Fehler be­ geht“ (καν σφάλληταί τι 864a4) ausgedrückt sein. Ein solcher Fehler ist aber keine Ungerechtigkeit, sondern nur ein αμάρτημα (vgl. Ritter II 282f.; Grube 1935, 229; Hackforth 1946, 119; Adkins 1960, 304ff.; McGibbon 1964, 19-20; Pangle 1980, 502; Roberts 1987, 26). Über das Objekt der Unwissenheit und ihre Beziehung zur Überzeu­ gung vom Besten äußert sich der Text nicht. Auszuschließen ist dasjeni­ ge Nichtwissen, das bei jeder ungerechten Handlung (auch der durch Zorn und Lust verursachten) in der Weise im Spiel ist, daß der Täter, wenn er gewußt hätte, daß die Ungerechtigkeit seiner Seele schadet, die­ se Handlung nicht gewollt hätte (dies ist der Kem der These von der Un­ freiwilligkeit des Unrechttuns; vgl. Weiss 1985); denn dann dürfte die Unwissenheit nicht wie im Text als eine Ursache von Verfehlungen ne­ ben Zorn und Lust genannt werden. Auszuschließen ist auch die Möglichkeit, daß die Unwissenheit und der durch sie verursachte Irrtum oder Fehlgriff die Vorstellung vom Be­ sten betrifft. Denn ein solcher Zustand oder ein Handeln in diesem Zu­ stand kann unmöglich als „das Beste fiir das ganze Menschenleben“ (864a6) gerühmt werden. Ein Irrtum, der die Richtigkeit der Vorstellung vom Besten nicht tan­ giert, kann aber darin bestehen, daß zur Erreichung des Besten verkehrte Mittel gewählt werden; die Möglichkeit eines solchen Irrens ergibt sich aus dem Nebensatz 864a2—3 („wie auch immer eine Stadt oder einzelne Individuen sich dessen Verwirklichung denken mögen“), der der Stadt und dem Individuum die Entscheidung über den Weg zur Verwirklichung des Besten überläßt und ihnen damit auch ein Irren zugesteht. Eine Un­ wissenheit, die nicht das Ziel einer Handlung, sondern die Mittel zu sei­ ner Erreichung betrifft, kann man mit G. Müller 1951, 58 als eine eher „technische“ denn als moralische Unwissenheit auffassen (so auch Görgemanns 1960, 140.162; McGibbon 1964, 24). Moralisch bedenklich ist allerdings die „doppelte“ Unwissenheit, in der sich — aus übertriebener Selbstliebe (vgl. 732a) — zur „einfachen“ Unwissenheit noch das Nicht­ wissen des Nichtwissens in Gestalt eingebildeten Wissens gesellt und sich die άγνοια zur άμαθία (= „Unbelehrbarkeit“ nach Soph. 227e ff.) potenziert, zumal wenn sie sich noch mit Macht und Stärke verbindet und dann zur Ursache „der großen und unschönen Verfehlungen“ wird (aber auch hier vermeidet der Athener den Terminus αδικήματα und spricht nur von αμαρτήματα wie 732b 1 άμαρτάνειν). Die Unwissenheit kann auch im Verkennen bestimmter Tatumstände im Sinne des sog. ,Tatbestandsirrtums‘ bestehen. Nach dem Gesetz 955b soll jemand, der „wissentlich“ (γιγνώσκων) Diebesgut bei sich auf­

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nimmt, wie der Dieb bestraft werden, was impliziert, daß Unwissenheit bezüglich der Herkunft des Gutes in diesem Fall ein Entschuldigungs­ grund ist. 816e wird gefordert, man müsse das Lächerliche kennen, um nicht aus Unwissenheit (δι’ άγνοιαν = infolge mangelnder Kenntnis des Lächerlichen) etwas Lächerliches zu tun oder zu sagen (vgl. auch άγ­ νοια als Unkenntnis der Lebensformen 733d5 und als Unkenntnis der Herkunft des Ehepartners 771e2). 902a wird die Alternative aufgestellt, daß die Götter, falls sie das Kleine vernachlässigen, dies entweder aus Unwissenheit tun (δι’ άγνοιαν = aus Unkenntnis ihrer Pflicht, auch für das Kleine zu sorgen) oder, falls sie diese Pflicht kennen (γιγνώσκοντες), infolge der Überwältigung durch Lust und Schmerz. Aristoteles nennt als Beispiele für ein Handeln in Unwissenheit den Mordversuch Meropes an ihrem nicht erkannten Sohn oder das Hantieren mit einem Speer in der falschen Annahme, daß dessen Spitze mit einer Schutzkappe gesichert sei (Nik. Eth. 3,2. 111 lall ff.). Im attischen Recht blieb je­ mand, der im Krieg einen andern versehentlich tötet, weil er ihn irrtüm­ lich für einen Feind hält, wegen dieser ,Unwissenheit4 (άγνοήσας) straf­ frei (Aristoteles, Ath. pol. 57,3; Demosthenes Or. 23,53. 55; vgl. auch die Antithese von κακία und άγνοια Or. 18,20). Vergleichbare Fälle nennt Platon 865a—c, allerdings ohne Verwendung der Termini άγνοια oder άγνοεϊν. Eine Trennung der Unwissenheit von der Ungerechtigkeit wird auch gestützt durch die Argumentation Soph. 227e ff. Dort werden zwei For­ men einer üblen Verfassung (κακία) der Seele unterschieden: (1) die Schlechtigkeit (πονηριά), nämlich Feigheit, Zügellosigkeit und Unge­ rechtigkeit, die eine Erkrankung und Spaltung der Seele darstellen, und (2) die Unwissenheit als eine häßliche Entstellung der Seele. Von Unge­ rechtigkeit befreit die Strafe (κολαστική); von der Unwissenheit dage­ gen Belehrung (διδασκαλική), und zwar im Falle der einfachen άγνοια eine „technische“ Belehrung (δημιουργική διδασκαλία), im Falle der doppelten Unwissenheit (άμαθία) die Erziehung (παιδεία). Für die No­ moi darf man daraus soviel folgern, daß die Unwissenheit gewiß ein Übel (κακόν) ist und ihr Besitzer sich nach Nom. 860dl unfreiwillig im Zu­ stand der Unwissenheit befindet, daß sie aber als seelischer Zustand von anderer Art als die Ungerechtigkeit ist. Für Platons Einstufung einer aus Unwissenheit begangenen Handlung als bloßes αμάρτημα spricht auch die Zurechnungslehre des Aristoteles Nik. Eth. 3,3. Illla22ff.; 5,10. 1135bl 1 ff. Nach dieser setzt Ungerech­ tigkeit volles Wissen um die geschädigte Person, um die Mittel und den Zweck voraus (vgl. Magn. Mor. 1,33. 1195al5ff.). Handlungen, die aus diesbezüglicher Unkenntnis begangen werden, sind niemals freiwillig (εκούσιον Nik. Eth. 1110bl3f£, 1135a23; vgl. auch Xenophon, Kyr.

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3,138) und damit kein αδίκημα (1135al6ff.). Schädigungen aus Un­ wissenheit sind αμαρτήματα (1135b 12), außer wenn der Täter (wie der Betrunkene) an seiner Unwissenheit selbst schuld ist. Eine durch Unwis­ senheit verursachte Verfehlung (αμάρτημα) läßt sich in moderner Ter­ minologie teilweise als ,Fahrlässigkeit* qualifizieren; in diesem Sinne wird die Wortgruppe αμαρτία, άμαρτάνειν, αμάρτημα schon in Anti­ phons 2. Tetralogie gebraucht (z.B. Or. 3b,6-8); vgl. dazu Barta 2005, 33 Anm. 58. Die Vereinbarkeit einer Strafgesetzgebung mit der sokratischen These von der Unfreiwilligkeit der Ungerechtigkeit, von der die Argumentation ausging, wird vom Athener nirgends explizit aufgezeigt. Seine Darlegun­ gen gestatten aber folgenden Schluß: Die durch die drei Ursachen verur­ sachten Verfehlungen sind gemäß der sokratischen These alle ungewollt insofern, als sie dem wahren Wollen des Täters zuwiderlaufen (863e2— 3). Denn jedermann will das für ihn Gute (Gorg. 466d ff.) und wird daher niemals das größte Übel, nämlich die Ungerechtigkeit, freiwillig in seine Seele aufnehmen wollen (731b—c). Beurteilt man die Delikte aber nach der Möglichkeit der Beherrschung der Antriebskräfte (dies ist der straf­ rechtlich relevante Gesichtspunkt), dann treten sie auseinander in die durch Zorn und Lust verursachten Verfehlungen, für die wegen der Be­ herrschbarkeit dieser Antriebskräfte der Täter strafrechtlich voll verant­ wortlich ist, und in die aus Unwissenheit resultierenden Verfehlungen, bei denen eine solche Beherrschung nicht möglich ist (863dl0-ll) und die daher als unfreiwillig zu gelten haben. Beschränkt man, wie dies Pla­ ton tut, die Bezeichnung αδικήματα auf die erste Gruppe der Verfehlun­ gen (d. h. auf die im Zustand seelischer Ungerechtigkeit verübten Taten), dann müssen strafrechtlich alle αδικήματα wegen der Beherrschbarkeit der Antriebskräfte als freiwillig gelten; so werden gerade die schlimm­ sten Delikte (nämlich vorsätzliche Tötungen), deren Ursache die Über­ wältigung durch Lüste und Begierden und Neidgefühle ist, trotz dieser Überwältigung als , freiwillige und in voller Ungerechtigkeit begangene Taten** charakterisiert (869e6). Kriterium für die Bestrafung der Täter ist aber letztlich nicht die strafrechtliche Freiwilligkeit ihrer Tat, sondern die in der Freiwilligkeit sich manifestierende seelische Ungerechtigkeit, die ungewollt ist und von der der Täter geheilt werden muß. Im Gegensatz zu der hier vorgetragenen Deutung vertreten andere die Auffassung, daß die άγνοια als ein moralisches Nichtwissen und als ei­ ne Ursache von Ungerechtigkeit (αδικία) zu verstehen sei (z.B. O’Brien 1967, 191-192; Saunders 1968; Weiss 2003, 58; Hom 2004). Dabei wird m. E. zu wenig berücksichtigt, daß der Athener bei der Definition der Ungerechtigkeit in 863e5—864b7 als Ursachen nur die beiden irrationa­ len Regungen, aber gerade nicht die Unwissenheit nennt und daß er an­

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dererseits, wenn er alle drei Ursachen zusammenfaßt (864b 1), fiir die von ihnen verursachten Handlungen die Bezeichnung αδικήματα („Un­ rechtstaten“) vermeidet und nur von αμαρτήματα („Fehlhandlungen“) spricht. Auch kann die scharfe Entgegensetzung dieser beiden Begriffe in der Zurechnungslehre des Aristoteles davor warnen, diesen terminolo­ gischen Unterschied bei Platon zu vernachlässigen, der vom Athener je­ denfalls dort peinlichst eingehalten wird, wo er seine eigene Sehweise und nicht die der Vielen vorträgt. Daß eine solche Unterscheidung auch in der Gerichtspraxis relevant war, zeigen die Belege aus den Rednern (vgl. Gemet 1917, 306-307 und Dover, 1974, 145-146), die je nach Ar­ gumentationsziel αμάρτημα und αδικία als entschuldbaren Irrtum und strafwürdiges Unrecht, einander gegenüberstellen (vgl. Demosthenes, Or. 18,274: αδικεί τις έκών ... έξήμαρτέ τις άκων). Zwar können auch Verbrechen als αμαρτήματα bezeichnet werden, wie die Belege bei Dover 1974, 152-153 zeigen. Da es Platon aber ablehnt, den Termi­ nus αδικία auf Handlungen anzuwenden, die keine Ungerechtigkeit dar­ stellen (862a), ist umgekehrt zu erwarten, daß er Unrecht, wenn er es als solches kennzeichnen will, immer mit dem Terminus αδικία bzw. αδί­ κημα und nicht mit einem anderen Terminus bezeichnet. Als vermittelnde Position sei die Interpretation von Stalley (1983, 159) erwähnt, der praktisch zwei Arten von Unwissenheit annimmt. Nach sei­ ner Auffassung entspringt die Ungerechtigkeit (injustice) entweder aus einer Störung im unteren Teil der Seele durch die irrationalen Regungen oder aus einer falschen Vorstellung vom Guten infolge moralischer Un­ wissenheit. Wenn allerdings jemand Fehler macht aus mangelnder Kenntnis einzelner Details (= so deutet Stalley den Nebensatz καν σφάλληταί τι), dann kann er nicht ungerecht genannt werden. (4) Einteilung der Vergehen nach ihren seelischen Ursachen und der Art ihrer Ausführung (864b8—864c9): Entsprechend ihrer jeweiligen seelischen Ursache ergeben sich fünfAr­ ten (εϊδη) von Verfehlungen, nämlich (1) durch Zorn und Furcht, (2) durch Lust und Begierden, (3) durch einfache Unwissenheit, (4) durch doppelte Unwissenheit in Verbindung mit Stärke und (5) durch doppelte Unwissenheit in Verbindung mit Schwäche verursachte Delikte. Als wei­ teres Einteilungskriterium werden hier „Täuschung“ und „Gewalt“, also die Art und Weise der Begehung der Straftat, als zwei Gattungen (γένη) eingeführt. Da beide Begehungsweisen aber auch kombiniert werden können, ergeben sich insgesamt drei Gattungen: (a) gewaltsame und offen sichtbare Taten; (b) im Dunkeln und mit Täuschung heimlich begangene Taten; (c) Taten, bei denen sich Gewalt und Täuschung miteinander verbinden.

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Darüber, wie sich die fünf Arten von Vergehen auf diese zwei (bzw. drei) Gattungen verteilen, macht der Athener keine Aussage (vgl. dazu die Überlegungen unten S. 290 f.). Zum Abschluß der Betrachtung des Straffechtsexkurses und vor der Erklärung einzelner Stellen bleibt zu fragen, wie konsequent Platon seine Straftheorie in seine Strafpraxis umgesetzt hat. Ein diesbezüglicher Ver­ gleich der Strafgesetze mit dem Strafrechtsexkurs ergibt, daß Platons Strafgesetze den theoretischen Vorgaben nicht immer in dem Maße fol­ gen, wie dies nach dem Exkurs zu erwarten wäre: 1. Die seelischen Ursachen werden zwar bei einzelnen Delikten ge­ nannt, aber sie werden nicht systematisch für die Klassifizierung der Straftaten benutzt. Das einzige nach seiner Ursache rubrizierte Delikt sind die im Zorn begangenen Tötungen und Körperverletzungen, die er als ein Mittelding zwischen freiwilligen und unfreiwilligen Taten ein­ stuft, womit er gegenüber dem attischen Recht eine neue Kategorie ge­ schaffen hat (vgl. zu 866d5—869c6). Ansonsten verwendet er die im atti­ schen Recht üblichen Kategorien der Freiwilligkeit (= Vorsatz) und der Unfreiwilligkeit (Nicht-Vorsatz, Fahrlässigkeit). Der vorsätzlichen Tö­ tung sind alle anderen irrationalen Regungen als Motive zugeordnet, so die Lust, die Begierden und Neidgefühle (869e), Geldgier, Ehrgeiz und Furcht vor Aufdeckung einer Straftat (870a-d); logischerweise müssen diese Motive auch hinter den vorsätzlichen Körperverletzungen stehen, die ja einen versuchten Mord darstellen. Weit weniger eindeutig tritt die Unwissenheit im Strafgesetz zutage. Faßt man sie als einen Defekt des Verstandes, so kann man sie in den in 864c-e berücksichtigten Fällen in­ fantiler oder seniler oder sonstiger Unzurechnungsfähigkeit als Ursache entdecken. Nimmt man die positive Formulierung des Strafrechtsexkur­ ses („Streben der wahren Meinung nach dem Besten“) zum Maßstab, läßt sie sich zumindest einigen Fällen von unvorsätzlicher (oder fahrlässiger) Tötung oder Körperverletzung infolge pflichtgemäßen Verhaltens zuord­ nen, etwa wenn ein Bürger, der getreu dem Gebot des Gesetzes an Manövem teilnimmt, dabei einen andern Bürger tötet oder verletzt (865a) oder wenn ein Patient unter der Behandlung eines Arztes stirbt (865b). Aus­ drücklich als Ursache genannt wird die Unwissenheit aber nur beim Atheismus (886b7), den Platon auf die Unwissenheit (άμαθία) der ma­ terialistischen Naturphilosophen zurückführt, die aber als höchste Weis­ heit gilt; hier liegt also die Form der doppelten, weil sich weise dünkenden Unwissenheit vor. Überhaupt ist einfache Unkenntnis (άγνοια) beim Atheisten auszuschließen. Denn er hat nicht nur als Kind die religiöse Praxis seiner Eltern und der Stadt (887c-888a) miterlebt, sondern ist auch als Bürger Magnesias vom Gesetzgeber ausführlich über die Exi­

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Kommentar

stenz, Fürsorge und Unbestechlichkeit der Götter belehrt worden. Beson­ ders gefährlich ist die Unwissenheit, wenn zur falschen Ansicht über die Götter noch die Überwältigung durch Lust und Begierden hinzu kommt (908c; vgl. 886a9). 2. Der Grundsatz der Strafbemessung nach der jeweiligen seelischen Disposition des Täters erfordert, daß äußerlich gleiche Taten bei unter­ schiedlicher Disposition ungleich bestraft werden. Dies ist der Grund, weshalb Platon bei den Tötungsdelikten über 30 verschiedene Fälle un­ terscheidet, indem er nicht nur die jeweilige psychische Verfassung, son­ dern auch die personale Beziehung zwischen Täter und Opfer und den sozialen Status von Opfer und Täter berücksichtigt, weil auch diese ein Indikator für den Grad der Ungerechtigkeit sein können. So wird die Tö­ tung eines Sklaven milder bestraft als die eines Freien, weil der Sklave ein bloßes ,Besitzstück* ist (776b). Die Tötung eines Verwandten wird schwerer als die eines Bürgers bestraft, und die eines Blutsverwandten schwerer als die eines Ehegatten, weil die Verletzung des Tabus des ge­ meinsamen Blutes die größere seelische Verwilderung voraussetzt. Der Bürger wird z.B. bei Tempelraub oder bei Diebstahl von Gemeineigen­ tum härter als ein Fremder bestraft, weil sein moralisches Versagen ange­ sichts der ihm zuteil gewordenen Erziehung größer ist als das des Frem­ den (854e, 942a). Am härtesten wird ein Sklave für ein Vergehen gegen einen Freien (Fremden oder Bürger) bestraft, weil ihm neben dem jewei­ ligen Delikt strafverschärfend noch die Verletzung der sozialen Hierar­ chie (vgl. 690b, 777b) angelastet wird. Keine Verletzung, sondern eine Anwendung des Grundprinzips bedeu­ tet die Staffelung der Geldbußen nach den vier Vermögensklassen (774a-b, 880d, 882a, 934d, 945a-b, 948b). Denn die Vermögensklassen spiegeln auch Abstufungen der Tugend wider (vgl. Saunders 1972, 31— 32, Schöpsdau Bd. II 330 zu 744a8-745b2). Wenn aber die Tugend, die ihn von einer Straftat abhalten müßte, bei einem Angehörigen der höhe­ ren Klassen größer ist, ist auch seine Ungerechtigkeit größer. Schließlich gibt es noch bei der Körperverletzung im Zorn eine Abstu­ fung der Strafe nach der Schwere der zugefügten Verletzung, also nach dem Erfolg der Handlung (878c). Möglicherweise sieht Platon nach Knochs Vermutung (1960, 86) in der Schwere der Verletzung ein Indiz für die ungerechte Gesinnung des Täters: die schwere Verwundung könnte Resultat einer langfristig geplanten Tat sein. 3. Die Unterscheidung zwischen gewaltsamer und heimlicher Bege­ hungsart einer Straftat schlägt sich entgegen der Ankündigung von 864c 1—8 nicht systematisch in zwei verschiedenen Arten von Gesetzen nieder (sie wurde auch im positiven griechischen Recht nicht so konse­ quent durchgefiihrt; vgl. Pemice 1896, 222 ff). In 879b6—7 werden alle

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im 9. Buch besprochenen Delikte gegen Personen explizit als Gewaltta­ ten (βίαια) bezeichnet; gewaltsam ist auch der Umsturz der Verfassung (856b3, c4, 857a2). Dagegen wird keines der im 9. Buch behandelten Delikte ausdrücklich der Kategorie „heimlich oder mit Täuschung“ zuge­ wiesen. Erst zu Beginn des 10. Buches wird rückblickend festgestellt, daß fiir den Tempelraub bereits ein zusammenfassendes Gesetz aufge­ stellt sei, βίαιος τε και λάθρα εάν γίγνηται (885bl), was nur disjunk­ tiv gemeint sein kann („mag er nun gewaltsam oder heimlich verübt wer­ den“); im Gesetz gegen Tempelraub (853d5—855a2) findet sich aber diese Disjunktion nicht. Ferner begegnet Heimlichkeit als Tatbestands­ merkmal in den Landwirtschaftsgesetzen (843b4, 846a5). Das Tatbe­ standsmerkmal der Täuschung wird explizit erst im 11. Buch im Gesetz über den Markthandel erwähnt (XI 916d7, e6; 917b 1 ); Heimlichkeit oder Täuschung sind aber auch bei Verrat und Diebstahl (IX 856e—857b), bei der Aneignung von vergrabenen Schätzen oder von Fundsachen (XI 913a-c) und bei sonstigen Delikten (z.B. Vergiftung, Zauberei 933d—e) als Tatmerkmal anzunehmen. Der Täuschung nahe kommt schließlich auch der Begriff der Hinterlist und Heimtücke (δόλος καί ένέδρα), der den gefährlichsten Typ des Atheisten kennzeichnet (908d3). Die 864c6 als Tatmerkmal genannte Kombination Gewalt und Heimlichkeit läßt sich (zumindest als Kombination von Gegensätzen) bei keinem Delikt zweifelsfrei nachweisen (vgl. den Komm, zu 843b4). 4. Hinsichtlich des Strafzwecks der Besserung sind folgende Fälle zu unterscheiden: (a) Ausgeschlossen ist eine Besserung in den Fällen, in denen die To­ desstrafe verhängt wird (vgl. die Liste dieser Delikte oben S.265). Wer z.B. infolge der Überwältigung durch Lust und Neid und ähnlichen Mo­ tiven tötet, gilt als unfähig zur Besserung. Seine Bestrafung dient der Ab­ schreckung und der Verhinderung weiterer Straftaten. (b) Nicht notwendig ist eine Besserung, wenn überhaupt keine Unge­ rechtigkeit vorliegt, die geheilt werden müßte, wie bei der unvorsätzli­ chen Tötung oder Körperverletzung; erstere zieht daher neben der Reini­ gung nur das Exil nach sich, das ausdrücklich damit begründet wird, daß der Täter dem zürnenden Opfer aus dem Weg gehen muß (865e); letztere erfordert nur Schadensersatz (879b). (c) Ausdrücklich genannt ist die Besserung als Strafzweck in Buch IXX nur bei drei Delikten: (1) Bei Tempelraub erhalten Sklave und Fremde eine singuläre Strafe, damit sie „vielleicht zur Besinnung kommen“ (σωφρονισθείς 854d5); (2) bei Tötung im Zorn muß der Täter zeitweise ins Exil gehen, „damit er seinen Zorn zügeln lernt“ (867c8); (3) die redli­ chen Atheisten werden fünf Jahre in einem Gefängnis inhaftiert, das durch seinen Namen ,Haus der Besinnung4 (909al) auf den Strafzweck

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der Besserung hindeutet. Es ist kein Zufall, daß es sich im ersten und im dritten Fall um Strafen handelt, die wohl beide von Platon selbst konzi­ piert sind, und bei dem zweiten Fall um eine von Platon neu geschaffene Deliktkategorie. Ferner wird die Besserung in Buch XI als Zweck der ge­ gen den Dieb verhängten Geldstrafe genannt (σωφρονιστύος ενεκα 934al). (d) Analog darf man Besserung als Strafzweck auch in den Fällen er­ schließen. in denen Platon eine Gefängnisstrafe verhängt, die dem Täter Zeit zur Besinnung läßt. Auch den für Bürger vorgesehenen Schlägen (vgl. dazu S. 263 zu 855a7-c6) darf man eine bessernde, weil erziehende Wirkung unterstellen, die besonders daraus zu erschließen ist, daß diese Strafe gerade für jüngere Bürger vorgesehen wird, so für die jüngeren Agronomen (762c), die Obstdiebe unter 30 Jahren (845c), bei Vernach­ lässigung der Eltern für Sohn und Tochter bis zum 30. bzw. 40. Lebens­ jahr (932b-c). Sicheres Indiz für die Besserung als Strafzweck ist die Verschärfung der Strafe bei Rückfall (868a, 909a, 938c), weil dieser do­ kumentiert, daß die für das erstmalige Delikt verhängte Strafe ihren Bes­ serungszweck verfehlt hat. In manchen Fällen erscheinen neben oder statt der Besserung noch andre Zwecke. Wenn der Täter ins Exil gehen muß, damit er dem Zorn des Opfers entgeht (865d—e), oder wenn (wie im attischen Recht) bei be­ stimmten Tötungsdelikten die Strafverfolgung nur dann unterbleiben darf, wenn das Opfer vor seinem Tod im Akt der άφεσις auf die Rache verzichtet hat (869a. e), so zeigt dies, daß die Strafe zumindest auch dar­ auf zielt, dem Opfer Genugtuung zu verschaffen. Einzelerklärungen zu 857b4-864c9:

857b5 ob er es von heiligen oder profanen Stätten gestohlen hat: Kleinias subsumiert unter den Diebstahl also auch den Diebstahl heiliger Gegenstände, der in Athen mittels der γραφή κλοπής Ιερών χρημάτων als besonderes Delikt verfolgt wurde (vgl. Cohen 1983, 100-103). 857c4—el Wir haben keinen schlechten Vergleich gezogen usw.: Der Arztvergleich von 720a6-e5 wird jetzt dahingehend variiert, daß der Sklavenarzt (= der gewöhnliche Gesetzgeber) Zeuge eines therapeuti­ schen Gesprächs des freien Arztes (= des platonischen Gesetzgebers) mit dem Patienten (= dem Gesetzesempfänger) wird; der Sklavenarzt ver­ spottet den freien Arzt wegen dessen erzieherischer Intention (παιδεύ­ εις 857d7). Die bedeutsamste Neuerung gegenüber dem früheren Ver­ gleich ist die, daß der Athener die Methode des freien Arztes und damit auch die des platonischen Gesetzesgebers als „beinahe philosophisch“ bezeichnet (die Philosophie wird in den Nomoi nur noch 967c explizit genannt). Die philosophische* Argumentation fungiert hier nicht als

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bessere Alternative zum Gesetz (so Laks 1996, 53), sondern sie ist erfor­ derlich, um die folgenden Strafgesetze moralphilosophisch zu fundieren und so die „Verwirrung“ und „Uneinigkeit“ über das Gerechte (861a9— 10) zu beseitigen; dies geschieht speziell in dem Abschnitt 861el864a8. Schließlich darf der Vorwurf des Sklavenarztes an den freien Arzt, daß er den Patienten zum Arzt ausbilde, statt ihn zu heilen (857d7— el), auf metaliterarischer Ebene als dezenter Hinweis auf den paradigma­ tischen Charakter der folgenden Ausführungen verstanden werden, mit denen der Gesetzgeber (= der Athener) nicht nur die Bürger Magnesias als Adressaten der Strafgesetze „erzieht“, sondern auch anderen Gesetz­ gebern (z.B. den Koloniegründem) nomothetisches Grundlagenwissen vermitteln will.

857d2 sich fast dem Philosophieren nähert: Platons typisierende Anti­ these zwischen dem empirisch arbeitenden Arzt und dem philosophisch geschulten, auf die menschliche Natur zurückgehenden Arzt hat ein Ge­ genstück in der Kontrastierung einer empirischen Medizin und einer spe­ kulativen Medizin, deren „Denkweise zur Philosophie tendiere“ (τείνει αύτοισι ό λόγος ές φιλοσοφίην) im 20. Kapitel der Schrift Über die al­ te Medizin im hippokratischen Corpus (De vet. med. 20,1. I 620,9 f. Lit­ tré = 51,9 f. Heiberg), nur mit dem Unterschied, daß deren Verfasser die philosophierende4 Medizin ablehnt (zum Verhältnis von De vetere medi­ cina zu Platon vgl. die Übersicht über die verschiedenen Positionen in Jouanna [Hrsg.]: Hippocrate tome II 1, De l’ancienne médicine, Paris 1990, 74-81 und 207 Anm. 2, wo aber die vorliegende Stelle nicht be­ rücksichtigt ist). — Wie Platon wertet auch Aristoteles die philosophische Fundierung der Medizin positiv; nach De sensu 436a20—bl beginnen Ärzte, die ihre Kunst mehr philosophisch (φιλοσοφωτέρως) betreiben, mit dem Studium der Natur.

857d2—3: Obwohl sich die Abfolge μεν - τε mit Belegen stützen läßt (vgl. Kühner - Gerth II 271, Denniston 1954, 374-376), ist der Vor­ schlag von Wilamowitz (1920, II 404) erwägenswert, μεν als Überbleib­ sel der byzantinischen Korrektur χρώμενον zu tilgen; nach dieser Til­ gung wäre das Partizip άπτόμενον explikativ aufzufassen: der Arzt be­ dient sich fast philosophischer Argumente, indem er die Krankheit durch Rückgang auf die allgemeine Natur von ihrem Ursprung her anpackt. 857d4 in lautes Gelächter ausbrechen: Wie der Arzt kann auch der Gesetzgeber durch seine Anordnungen Gelächter hervorrufen, das ihn aber nicht beeindrucken darf: vgl. 789e-790a, 830b. d.

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858a2 das Beste und das unumgänglich Notwendige zu erkennen su­ chen: Zur Unterscheidung zwischen dem Besten und dem Notwendigen vgl. 628dl und Bd. 1167f.

858b2—8 wie die Maurer usw. : Das Wort λιθολόγοις (wörtlich „Steine auslesend“) unterstreicht die Bedeutung geeigneten Baumaterials (zum Vergleich der Gesetzgebung mit einem Bau vgl. 793b—c). Zum Auslesen (έκλέγειν, αίρεΐσθαι) aus bestehenden Regelungen vgl. 681c, 702d, 739b, 802a, 843e, 957a-b.

858c4 unser Verfahren einer zusammenschauenden Betrachtung: Das Substantiv σύνοψις begegnet, ebenfalls in Antithese zu χύδην (858b4), nur noch Resp. 537c2, wo es die „dialektische“ Zusammenschau be­ zeichnet. Hier macht es deutlich, daß das Entscheidende nicht die Auf­ häufung von nomothetischem Material ist, sondern dessen Zusammen­ fassung unter einem obersten Gesichtspunkt, nämlich der Tugend und Eudämonie der Bürger (z. B. 770c-d, 858d u. ö.). 858c7-8 Schriften und Reden: λόγοι ist als Prädikatsnomen mit γράμματα zu verbinden (zur Wortstellung vgl. 716d3 und 772a5). Im Griechischen konnten die Gesetze einfach als γράμματα bezeichnet werden, z.B. Aristophanes, Ekkl. 1050, Demosthenes, Or. 9,41; 24,147, Isokrates, Or. 7,39. 41 (weitere Belege bei Triantaphyllopoulos 1985, 194 Anm. 184); fiir Platon vgl. Nom. 922a4, Pol. 292a8, 293a7, 301e9 u.ö.; ebenso συγγράμματα (vgl. hier 858cl0) Phaidr. 278c4 von So­ lons Gesetzen. 858d8 indem er uns belehrt (διδάσκοντα): Belehrung gehört zu den Aufgaben des Gesetzgebers (632a7—8, 964c2); ihr spezifischer Ort ist das Proömium (720d6, 783d4, 885d2, 888a2, d4); sie kann aber auch durch die Vorschrift des Gesetzes vermittelt werden (862d2, 880d9).

858el—4: Neben Homer und Tyrtaios (vgl. zu 629a4—5) als die heraus­ ragenden Dichter in der athenischen bzw. spartanischen Jugenderziehung treten Solon und Lykurg als die Gesetzgeber Athens und Spartas. Denn Erziehung geschieht in der Schule durch die Lektüre der Dichter und nach der Schulzeit durch die Gesetze (Protagoras bei Platon, Prot. 325e326e; ähnlich Aristophanes, Frösche 1054—55). Symp. 209a—e werden daher Homer, Hesiod, Lykurg und Solon als „Erzeuger der Tugend“ zu­ sammengestellt. Zur Vorstellung vom Dichter als Erzieher und Ratgeber vgl. auch Isokrates, Or. 2,43 (Homer, Theognis und Phokylides sind die besten „Ratgeber fiir das Menschenleben“). Für Platon sind aber die Schriften der Gesetzgeber aufgrund ihres Wissens der übrigen Literatur überlegen (vgl. 811c-e, 941cl, 957c-d) und fungieren fiir diese als Prüf­ stein (βάσανος 957d4) und als Muster (παράδειγμα 81 lc6).

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858e5—6 die Schriften über die Gesetze (τά περί τούς νόμους γεγραμμένα): Der Ausdruck impliziert (wie 957c-d) die Existenz einer juristischen Literatur, die einen Teil des ,Baumaterials4 bildet (vgl. 858b), aus denen Platon das Gebäude seiner Nomoi errichtet (vgl. Ros­ setti 2001, 207 f.; 1999, 670 ff.) In Betracht kommen vor allem deskripti­ ve Verfassungsdarstellungen (wie die Politeiai des Kritias, die Athenaion politeia des Ps.-Xenophon, die Lakedaimonion politeia und die Kyrupädie Xenophons), Staatstheorien wie die von Aristoteles im 2. Buch der Politika referierten Theorien des Phaleas von Chalkedon und des Hippo­ damos von Milet, ethisch-politische Schriften wie der sog. Anonymus Iamblichi, Reflexionen über Prinzipien der Gesetzgebung bei den Red­ nern wie besonders bei Antiphon oder im anonymen Traktat περί νόμων bei Demosthenes, Or. 25. Vgl. dazu auch Barta 2010, I 139ff. und das Kap. VI (Gab es eine griechische Jurisprudenz?) in dem für 2011 ange­ kündigten Band III). 859a3~6 daß das Geschriebene in der Haltung liebevoller und ver­ nünftiger Väter und Mütter auftritt usw. : Ich fasse mit Stallbaum den In­ finitiv φαίνεσθαι als konsekutiv-epexegetisch zu ούτως auf (vgl. die Beispiele bei Kühner — Gerth II 3) und ergänze zu άπηλλάχθαι ein un­ bestimmtes τινα: der tyrannische Gesetzgeber ist mit seiner Arbeit eben­ so schnell fertig wie der tyrannisch befehlende Sklavenarzt, der sogleich zum nächsten Patienten eilt (vgl. 720c); zu άπαλλάττεσθαι „mit einer Arbeit fertig werden“ vgl. 744a7, 800e7, 822d6 (vom Gesetzgeber!).

859a 5 auf Wände (εν τοίχους) geschrieben: In Athen wurde im Zuge der Gesetzesrevision 411—399 zumindest zeitweise eine Wand der Stoa Basileios an der Westseite der Agora fiir die Aufzeichnung von Gesetzen verwendet. Zu den ziemlich unklaren Details des Vorgangs vgl. Robert­ son 1990, Rhodes 1991 und Hansen 1995, 168-171. Auch die große In­ schrift von Gortyn stand wohl ursprünglich auf der Wand einer Portikus (Guarducci, Inscr. Cret IV, S. 123); Gesetzesinschriften befanden sich auch auf den Stufen und an den Wänden des Tempels des pythischen Apollon zu Gortyn (Guarducci a. a. 0.41).

859b2 diesen Weg gehen: Zum Bild des Weges vgl. zu 629a3-4.

859c2 wir werden ja erst Gesetzgeber, sind es aber noch nicht: Dies kann sich innerhalb des Dialogs auf die anschließend zu formulierenden Strafgesetze beziehen, die so lange warten können, bis die rechtsphiloso­ phische Begründung abgeschlossen ist. Die Bemerkung kann sich aber auch nach Apelts Vermutung (532 Anm. 20) auf die gemäß der Fiktion

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Kommentar

des Dialogs erst nach Beendigung des Gesprächs zu verwirklichende Verfassung Magnesias (= die dritte πολιτεία von 739e) beziehen.

859c3—4 das, was ich erwähnt habe, in der erwähnten Weise unter­ suchen: Nämlich in der 859a beschriebenen Haltung liebevoller und ver­ nünftiger Eltern (vgl. die Ankündigungen 859a6-b3, b6-c2). 860b3-5 hielten wir inne (έπέσχομεν): Dies geschah in 857b. Bei den „allerhäßlichsten“ (συμπάντων αϊσχιστα b5) Strafen ist nicht mit England an die in 855b—c genannten entehrenden Strafen zu denken, sondern, wie der Text (860b 1—2) explizit sagt, an die für Tempelräuber und wohl auch für Umsturz vorgesehene Todesstrafe mit Verweigerung der Bestattung (vgl. 854e-855a). 860c6: Zu ποιας ... προς ποιαν ergänze ich mit Post 1939, 99 φωνής ... φωνήν aus συμφωνίας (c5).

860c7 deutlich genug gesagt: Nämlich in 731c, 734b2—6. 860dl—e3 Daß die Schlechten alle in allen Beziehungen unfreiwillig schlecht sind usw.: Das sog. sokratische Paradox von der Unfreiwillig­ keit des Unrechttuns begegnet zumeist in der hier gewählten Fassung, z.B. Apol. 25d ff., Hipp. mai. 296b, Hipp. min. 376b, Prot. 345d-e, 358c-e, Gorg. 468c-e, Men. 77b ff., Tim. 86d-e (andere Fassungen Gorg. 488a, 509e, Resp. 382a, 413a, 589c, Soph. 228c7-8; Nom. 734b). Aus dieser allgemeinsten Form entwickelt der Athener in einer Art von Syllogismus die spezielle Form, daß alle nur unfreiwillig Unrecht tun (ακοντας άδικείν d9), indem er von der Unfreiwilligkeit des SchlechtSeins auf die des Ungerecht-Seins schließt und aus der Unfreiwilligkeit des Ungerecht-Seins folgert, daß das Resultat der Handlung eines Unge­ rechten nichts Freiwilliges (εκούσιον d6) sein kann, weil der Ungerech­ te nur unfreiwillig (άκουσίως d6) handeln kann (zur Übereinstimmung dieser Argumentation mit Ps.-Platon, De iusto 375d5—6, durch welche die Textvorschläge von Görgemanns 1960, 163 widerlegt werden, vgl. C. W. Müller 1975, 189 Anm. 1). - Diese letzte Schlußfolgerung scheint Gegenstand einer innerakademischen Kontroverse gewesen zu sein. Die Identifizierung des ungenannten Jemand (τις d9) mit Aristoteles (so Teichmüller 1881, 165-167 aufgrund von Nik. Eth. 5,10. 1135b23) ist allerdings wenig überzeugend, da zwischen der Auffassung des Jemand und Nik. Eth. 1135b23 kaum Ähnlichkeit besteht (Görgemanns 1960, 162 Anm. 2).

861a8 gerade soeben: In 859c6ff. 861b3 was doch in allen Städten von allen Gesetzgebern usw.: Die von allen Gesetzgebern vorgenommene Unterscheidung zwischen frei­

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williger und unfreiwilliger Tat war vor allem bei Tötungsdelikten üblich, so in Athen im Gesetz Drakons (IG I3 104 = Koerner 1993, Nr. 11); sie geht letztlich auf die sakralrechtliche Scheidung zwischen der sühnbaren (weil unfreiwilligen) Tötung und dem zur Blutrache verpflichtenden (weil vorsätzlichen) Mord zurück (Maschke 1926, 40 f.).

861cl dann trotzdem irgendwie Gesetze geben? Die Übersetzung folgt dem in A überlieferten Text κατα (= κατα) νομοθετήσει τινά τρόπον, den nach Apelt (532 Anm. 24) auch Post (1958, 287 f.) verteidigt (aller­ dings mit fragwürdiger Interpunktion), κατα (= καί + ειτα, „und doch, und dann trotzdem“) steht gern nach einem konzessiven Partizip (hier δούς b7); vgl. Kühner - Gerth II 86. 281. Die Worte markieren den Ge­ gensatz zu ταύτη καί νομοθετείται (b5). Während dort ταύτη („dem­ gemäß“) die Orientierung der Gesetzgebung an einer Scheidung zwi­ schen freiwilligen und unfreiwilligen Unrechtstaten meint, läßt hier der Zusatz τινά τρόπον („irgendwie“) offen, wie eine Gesetzgebung mög­ lich sein kann, die der These des Sokrates Rechnung trägt, daß es nur un­ freiwilliges Unrecht gibt. Die armenische Übersetzung setzt ότι νο­ μοθετήσει (als einen von εϊρηκεν abhängigen Satz?) voraus (Conybeare 1924, 132), scheint also vor νομοθετήσει eine Partikel vorgefunden zu haben, was fiir κατα sprechen könnte — Das von der Handschrift O gebo­ tene κατανομοθετήσει deutet Lindblad 1922, 86 als ,Gesetze gegen et­ was geben6. Schärfer läßt sich der Sinn von κατανομοθετήσει fassen, wenn man wiederum seinen Rückbezug auf ταύτη καί νομοθετείται (b5) berücksichtigt. Das Verb besagt dann: „die auf der Scheidung von freiwilligen und unfreiwilligen Unrechtstaten basierende Gesetzgebung durch eine neue Gesetzgebung überwinden“; ähnlich England z. St.: „le­ gislate (the objection) down“. 861d4 entspräche nicht meiner Art: Ich bleibe bei dem überlieferten έμόν (so auch Ficino, Susemihl und Apelt). Die Variante νόμιμον unter­ liegt dem Verdacht einer Angleichung an die stereotype Antithese von νόμιμον und όσιον (z.B. Aristophanes, Thesm. 675, Ps.-Platon, Min. 315b9—cl u.ö.) oder auch von δίκαιον und όσιον (z.B. Pol. 301d2, An­ tiphon, Or. 1,25, Polybios 22,10,8); sie wäre zu übersetzen mit „dies ent­ spräche nicht menschlichem und auch nicht göttlichem Recht“. 861d6: Ich folge Burnets Text, setze aber mit England Komma hinter έκάτερον und ποτέ in d6.

862a2— 7 Ich jedenfalls behaupte nicht, ... wenn jemand einen andern schädigt, ohne es zu wollen, ... daß er dann ein Unrecht begehe: Im ge­ wöhnlichen Sprachgebrauch konnte άδικεΐν und αδικία auch die bloße

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Schädigung ohne böse Absicht bezeichnen; vgl. die Belege bei Dover 1974, 181 f. 862a7—bl vom Urheber dieses Nutzens sagen müssen, daß er ein Un­ recht begehe: Laut 862c6-7 geht es um die Bereicherung eines anderen mit ungerechten Mitteln oder zu ungerechten Zwecken (z.B. um rechts­ widrig Vorteile zu erlangen). 862b6—c4 den angerichteten Schaden muß er ... heilen, indem er ... heil macht: In der Analyse des nachlässig gebauten Satzes folge ich Eng­ land und Stallbaum, indem ich Burnets Komma hinter τρωθέν tilge und zu τρωθέν υγιές (cl—2) ein ποιητέον aus b7 ergänze . Das Partizip το δέ αποίνοις έξιλασθέν fasse ich mit Stallbaum z. St. als einen absolu­ ten Akkusativ. - Das von Burnet gegenüber αβλαβές bevorzugte ύγιές (b6) wird sowohl durch die armenische Übersetzung (Conybeare 1924, 132) gestützt wie auch durch den Papyrus Oxy. 23 = CPF Nr. 80 F 31 (3. Jh. n.Chr.); dieser läßt zwar infolge einer Lücke nicht erkennen, wel­ ches Wort auf βλαβέν folgte, der Umfang der Lücke spricht aber nach Ansicht der Herausgeber eher für ύγιές als für αβλαβές. Zur Metapher des Heilens für die Wiedergutmachung eines Schadens vgl. 933e9 ιάσηται το βλαβέν. Die Aufzählung der Möglichkeiten einer ,Heilung6 des Schadens bildet das Gegenstück zu der Liste der Mittel zur Heilung der Ungerechtigkeit in 862dl-863a2. Dabei werden hier Wiedergutma­ chungsformen genannt, die im Gesetz der Nomoi sonst gar nicht mehr vorkommen, wie z.B. die άποινα (s. dazu unten zu 862c2) oder die Hei­ lung eines Verletzten; Klingenberg 1976, 23—24 und Barta 2005, 23 Anm. 23 finden an der vorliegenden Stelle sogar den Gedanken einer Na­ turalrestitution angedeutet, die das griechische und römische Recht sonst nicht kennt.

862c2 durch Zahlung einer Buße (άποίνοις): άποινα bezeichnet bei Homer das Lösegeld zur Auslösung eines Gefangenen oder eines Toten (z.B. II. 1,13. 20; 24,137 u.ö.) oder eine Entschädigung an jemanden, der gekränkt oder in seinen Rechten verletzt worden ist (z.B. II. 9,120; 19,138). In der Tragödie kann es die Strafe für Hybris, Befleckung, Ge­ walt bezeichnen (z.B. Aischylos, Pers. 808, Agam. 1420. 1670, Euripi­ des, Bakch. 516). Das Wort kann aber nach Bekkers Anecdota Gr. I 428,9 und Suda α 3716 (ähnlich Etym. Magn. 132,30) auch die für eine Tötung als , Wergeid6 gezahlte Entschädigung bezeichnen (die sonst ποι­ νή oder ύποφοίνια heißt) und ist in diesem Sinn auch für Solons Ge­ setzgebung bezeugt (Solon F 12 Ruschenbusch = T 393 Martina). In Pla­ tons eigenem Wortschatz ist άποινα ein Hapax (Resp. 393e3 ist Homerzitat) wie auch das Verbum έξιλάσκομαι, das wegen der beiden Dative δρωσι und πάσχουσι hier die Versöhnung zwischen Täter und Opfer

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meinen muß (in IG II/ΠΙ2 1365,32 und 1366,16 bezeichnet es die Ent­ schädigung für ein Vergehen (αμαρτίαν).

862c7—8 hiervon alles, was heilbar ist, ... heilen: Zur Metapher des Heilens der als Krankheit gefaßten Ungerechtigkeit vgl. Gorg. 478d479b, 525b—c; Resp. 444b-c; Soph. 227d ff.; Nom. 728c, 735e, 941d942a, 957e; auch Nom. 934a5 δυσιάτοις und Tim. 87b2-3 μαθήματα ίατικά).

862dl—863a2 Daß das Gesetz ... den Täter belehrt und ihn zwingt usw.: Verglichen mit den auf Wiedergutmachung und Versöhnung zielen­ den Gesetzen sind die Gesetze, die von der Ungerechtigkeit heilen, die „schönsten Gesetze“ (862el). Ihr Ziel ist die Herbeiführung einer Ände­ rung sowohl im äußeren Verhalten (Unterlassen weiterer Taten d3) als auch besonders in der inneren Einstellung (Liebe zur Gerechtigkeit d7) — in moderner Terminologie: die negative und die positive Prävention. Zum Erreichen dieses Ziels stehen dem Gesetzgeber hauptsächlich zwei Methoden zur Verfügung: Belehrung des Täters und Zwang (862d2). Die Belehrung zielt primär auf eine Stärkung der rationalen Ge­ genkräfte gegen die irrationalen Antriebe. Im Kontext der Strafgesetze ist ihr spezifischer Ort das Proömium zu den einzelnen Strafgesetzen. Der Zwang besteht in der Strafdrohung des Gesetzes; als strafende Mittel nennt der Text die Zufügung von Schmerz, den Entzug von ,Ehren6 oder bürgerlichen Rechten und die Auferlegung einer Geldstrafe (vgl. dazu 855a—c). Die in 862d4—6 aufgezählten Mittel beschränken sich aber nicht auf diese beiden Verfahren, sondern umfassen auch Maßnahmen, die über die täterbezogene spezielle Prävention hinaus auf eine positive General­ prävention durch Propagierung und Förderung sozialkonformen Verhal­ tens zielen. So dürften mit den Worten nicht nur die Proömien gemeint sein, sondern auch die musischen Gesänge, die die Gerechtigkeit preisen (vgl. 660e—664a). Lust und Schmerz kommen vor allem bei Kindern zur Anwendung, indem Musik und Tanz in ihnen Freude an der Tugend und Abscheu vor der Untugend wecken (vgl. 653a—c, 657c ff. u.ö.). Unter den Ehrungen kann man die mehrfach erwähnten Auszeichnungen für tugendhaftes Verhalten verstehen (vgl. zu 829c2 und 845dl-2). Überra­ schend ist allerdings die Erwähnung von Geschenken (δωςκχ) unter den Mitteln des Gesetzgebers. Denn tugendhaftes Handeln und an materiel­ len Vorteilen orientiertes Handeln schließen sich aus (vgl. Nom. 727a, 728a, 885d, 906e, 907a, 955c-d); gerade die Gerechtigkeit soll man um ihrer selbst lieben und nicht wegen der Geschenke, die sie einem ein­ bringt (Resp. 361c, 366e, 614a). Der Einsatz von Geschenken läßt sich

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darum nur mit Rücksicht auf die „menschliche“ Natur rechtfertigen, so wie auch die Lust 732e in einer „menschlichen“ Argumentation als An­ reiz für ein tugendhaftes Leben genutzt wurde. Die Strafgesetze bieten allerdings kein Beispiel für solche Geschenke, die vielleicht erst als äu­ ßerstes Mittel zum Einsatz kommen sollen. Unwahrscheinlich ist, daß mit den Geschenken die materiellen Anreize für den Anzeiger eines Rechtsbruches gemeint sind, von denen 745a und 868b die Rede ist; denn die hier aufgezählten Maßnahmen richten sich alle direkt an den po­ tentiellen Täter. Ähnliche Ausführungen zum Zweck der Strafe finden sich bei Platon Nom. 728c2—5, 735el-5, 843dl, 854d5-855a2, 933e6-934b3, 941d2942a4, 957e2—958al, Phaid. 113d ff., Gorg. 478d ff., 525a8f£, Resp. 380a—c, 445a. Von besonderer Bedeutung ist der Abschnitt Nom. 933el0—934b3, der klar herausstellt, daß die Bestrafung im Unterschied zum Schadensersatz, der den Rechtszustand vor der Tat herstellen soll, nicht reaktiv als Vergeltung für eine begangene Straftat verhängt werden soll, sondern eine zukunftsorientierte Maßnahme ist, die auf Besserung des Täters zielt (σωφρονιστύος ενεκα 934al) und so künftige Straftaten präventiv verhindern will. Hierin berührt sich die platonische Straftheorie mit der Straftheorie, die Platon Prot. 324a—c den Sophisten Protagoras vortragen läßt (hierzu Saunders 1981 und 1991a, 133-136. 162-164; Co­ hen 2005). Zwar nennt Protagoras in 324a-c als Ziel der Strafe primär die Abschreckung, während Platon vor allem die Seele des Täters bessern will; aber wenn Protagoras die Praxis der Bestrafung als Beleg für die ,Lehrbarkeit4 der Tugend anführt und 325a von der Strafe eine Besserung des Täters erwartet, ist die Nähe zur Straftheorie der Nomoi größer, als Saunders zugeben möchte. Zur Frage, inwieweit der Zweck der Besse­ rung in den folgenden Strafgesetzen eine Rolle spielt, vgl. oben S. 291 f. Das Prinzip der Rache und der Vergeltung (τιμωρία), das die attischen Redner gerne in ihren Plädoyers anführen (z.B. Demosthenes, Or. 18,274; weitere Belege bei Saunders 1991a, 120 ff.), spielt - jedenfalls in dem in 728c2-4 entwickelten speziellen Sinne eines Gegensatzes zur gerechten δίκη — in Platons Straftheorie keine Rolle. Das Prinzip der Vergeltung liegt aber der göttlichen Seinsordnung zugrunde, die jedem menschlichen Verhalten mit schicksalhafter Unausweichlichkeit (904c8— 9) den gebührenden Lohn zuteilt (905a6—7, 959c 1; zu solcher τιμωρία vgl. auch 873a3^1 und 944e2). Von der profanen Strafe zu trennen sind religiöse Reinigungsriten zur Beseitigung einer Befleckung durch den Täter. Sie gehören daher nicht in eine Theorie des Strafens; sie werden aber von Platon im Einklang mit den religiösen Vorstellungen seiner Zeit bei allen schweren Delikten an­ geordnet.

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863b2—4 ein Zustand (πάθος) oder ein Teil usw.: Die Alternative weist auf eine innerakademische Kontroverse hin (vgl. Görgemanns I960, 137; Graeser 1969, 16 und 71; ähnlich 633a, 860d9-e3, 898e8899al0). θυμός wurde im Hinblick auf das spätere Gesetz 878b4ff. mit .Zorn' übersetzt. — ein ... schwer zu bekämpfendes (δυσμάχου) Besitz­ stück: Vgl. Demokrit Vors. 68 B 236: „Mit dem θυμός zu kämpfen ist schwer, aber Sache des wohlüberlegten Mannes ist es, über ihn zu sie­ gen“. - Der vorliegende Passus ist innerhalb der Nomoi der einzige, an dem eine Dreiteilung der Seele erscheint. Andere Stellen der Nomoi las­ sen eine Zweiteilung in irrationale Seelenkräfte und eine rationale Kraft erkennen; so wird gleich in 863e6—8 der θυμός mit den anderen irratio­ nalen Seelenkräften zusammengefaßt (ebenso 645d, 649d). Wenn der θυμός hier eigens genannt wird, dann im Vorausblick auf die von Platon neu geschaffene Kategorie der im Zorn begangenen Tötungen bzw. Kör­ perverletzungen (auch in 717d, 731b-e, 929a, 934d, 935a-e geht es um das Phänomen des Zorns oder Jähzorns als eines speziellen Affektes ne­ ben anderen). Eine durchgehende Dreiteilung im Sinne der Trichotomie der Politeia läßt sich fiir die Nomoi daraus nicht ableiten (vgl. Bd. I 228— 231 zu 644c6-d6; Rees 1957, 112-118; Saunders 1962, 38£; Graeser 1969, 103-105; T. Μ. Robinson 1987b, 64; Sharafat 1998, 46-47; Sassi 2008). Überdies ist der Zorn in den Nomoi ein durchweg negativ bewer­ teter Affekt mit Ausnahme des gegen die Ungerechtigkeit anderer gerich­ teten „edlen Zorns“ (731b7; vgl. auch 888a6); einen θυμός, der im Sinne der Politeia (Resp. 439e ff.) der Vernunft gegen die eigenen Affekte bei­ steht, gibt es in den Nomoi nicht (vgl. Sassi 2008, 133 f.). 863b8 mit gewalttätiger Täuschung (μετά άπατης βίαιου): Wäh­ rend der Zorn mit unvernünftiger Gewalt herrscht, bedient sich die Lust der Überredung, also eines ,vernünftigen6 Mittels; dabei täuscht sie aber, indem sie sich als ein vermeintliches Gut darbietet (Prot. 354cff., Resp. 413c); da dieser Täuschung schwer zu widerstehen ist, übt sie gleichfalls Gewalt aus. Jede Textänderung ist daher überflüssig. 863cl—d4 Wenn man drittens ferner die Unwissenheit usw.: Zur Un­ wissenheit vgl. oben S. 285 ff. Zum Phänomen des eingebildeten Wissens oder Scheinwissens (δόξα σοφίας, δοξοσοφία) vgl. 691a6, 732a4ff., 881al-2, 886b7f., Apol. 21c-d, 23a, 29a, Men. 84a-c, Symp. 204a, Phaidr. 275b 1-2, Theait. 210c3 A, Phil. 48c-49c; die durch Scheinwis­ sen gekennzeichnete doppelte Unwissenheit wird Soph. 229c9 als aμαθία („Unbelehrbarkeit“) bezeichnet (entsprechend hier άμαθαίνη 863c4). Ursache des eingebildeten Wissens und der davon ausgelösten Fehlhandlungen (Alkib. I, 117d) ist die Selbstliebe (732a4ff.). Zur δοξο­ σοφία vgl. G. Hoffmann 1966, 69-75. - Rechtsfolgen fiir durch Unwis­

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senheit verursachte Fehlhandlungen werden hier allerdings explizit nur fur die mit Schwäche verbundenen Fehlhandlungen angegeben. Der Hin­ weis auf größtmögliche Milde und Nachsicht bedeutet wohl, daß in die­ sen Fällen keine Strafe im eigentlichen Sinn anzuwenden ist, sondern nur der Schaden zu beheben ist (und nötigenfalls religiöse Reinigungen zu vollziehen sind); der Verweis auf die Vergehen von Kindern und alten Leuten (863dl-2) zeigt in Verbindung mit 864d4—5, daß Delikte im Zu­ stand infantiler oder seniler Unzurechnungsfähigkeit vorschweben. Für Verfehlungen aufgrund einfacher Unwissenheit ist daraus zu folgern, daß diese erst recht straffrei bleiben sollen, während bei der mit Stärke ver­ bundenen doppelten Unwissenheit Nachsicht und Milde fehl am Platze sind. Denn während das „einfache“ Nichtwissen dem Handelnden unbe­ wußt und die dadurch ausgelöste Fehlhandlung ungewollt ist (so explizit auch Xenophon, Kyr. 3,1,38), kommt bei dem „doppelten“ Nichtwissen zum Nichtwissen die bewußte Einbildung von Wissen hinzu, die eine mögliche Erkenntnis des Nichtwissens verhindert und insofern schuld­ haft ist und der Tat ein Moment der Vermeidbarkeit und Freiwilligkeit verleiht. Unklar bleibt allerdings, welche Fälle Platon hier vor Augen hat. Man könnte an die in 908c-d beschriebenen Atheisten denken; sie sind nicht nur in άμαθία befangen, sondern üben auch Macht über die Seelen ihrer Mitmenschen aus und werden zu Tyrannen, Volksrednem und Heerführern (908c6-dl, d5-6). 863c7 unschönen (άμουσων) Verfehlungen: Platon vermeidet offen­ sichtlich die Kennzeichnung dieser aus doppelter Unwissenheit resultie­ renden Verfehlungen als ungerecht (άδικος). Zu άμουσος „unmusisch, unfein, unkultiviert“ vgl. Resp. 403c 1; verbunden mit άφιλόσοφος Soph. 259e2, Tim. 73a6. Den dorischen Bund hat die als Weisheit gelten­ de Unwissenheit durch die άμουσία der Maßlosigkeit zugrunde gerich­ tet (691a; vgl. Resp. 486d: der Unmusische tendiert zur Maßlosigkeit). 863d6—7 diesen überlegen, der andere aber ihnen unterlegen: Zur Sa­ che vgl. 710a7—8, 633e. Zwischen dem Affekt und dem rationalen See­ lenvermögen besteht ein Antagonismus, in dem sich die eine oder andere Seite durchsetzt. Im Falle der Unwissenheit fehlt dieser eine solche Ge­ geninstanz, so daß kein Konflikt in der Seele entsteht. Die Unwissenheit ist unbewußt (vgl. G. Hoffmann 1966, 69), weshalb man ihrer auch nicht Herr sein kann (vgl. Görgemanns 1960, 138). 863e2—3 Von diesen allen behaupten wir usw: Zorn und Lust (die ei­ nen eigenen Willen besitzt: vgl. αύτης ή βούλησις 863b8-9) und die Unwissenheit treiben den Menschen zu Handlungen, die oft das Gegen­ teil von dem sind, was er mit seinem eigenen auf ein wirkliches oder ver­ meintliches Gut gerichteten Wollen (αύτού βούλησις) erstrebte.

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863e6—864al Die von Zorn und Furcht ... in der Seele ausgeübte Ty­ rannei usw.: Zur Definition der Ungerechtigkeit vgl. Resp. 444a—b (Un­ gerechtigkeit ist eine Spaltung in der Seele, indem ein Seelenteil über die Seele zu herrschen strebt, dem dies nicht zukommt) und Tim. 42b (wenn die irrationalen Emotionen die rationalen Kräfte überwältigen, lebt der Mensch in Ungerechtigkeit). Zur Metapher von der Tyrannenherrschaft vgl. Resp. 573d4 (Eros als Tyrann in der Seele). 863e6-8: Die Liste der irrationalen Handlungsantriebe ist gegenüber 863b—c erweitert und durch Homoioteleuta in drei Paare gegliedert. Ne­ ben den Zorn tritt die Furcht’, beide sind unlust-haltige Affekte, weshalb sie in 864b3 als Unterarten der λύπη erscheinen. Bei der Furcht muß es sich um dieselbe Furcht handeln, die in 874e6 neben dem Zorn als Ursa­ che und Einteilungskriterium von Tötungen und Körperverletzungen ge­ nannt wird, die „wederfreiwillig noch unfreiwillig“ sind. Was Platon un­ ter solchen furchtbedingten Handlungen versteht, wird in den Nomoi nir­ gends klar. Vielleicht schweben ihm Fälle vor wie der von Aristoteles Nik. Eth. 3,1. 1110a4ff. diskutierte Fall, daß jemand, dessen Verwandte als Geiseln in der Hand eines Tyrannen sind, aus Furcht um seine Ver­ wandten eine von dem Tyrannen befohlene Tat ausfiihrt. Für Aristoteles ist es bei solchen Handlungen strittig, ob sie freiwillig oder unfreiwillig sind. Denn die Handlung sei freiwillig, da ihr Ursprung im Handelnden liege, aber an sich unfreiwillig, da sich niemand für solche Handlungen entscheiden würde (vgl. dazu Sorabji 1980, 259 f.). Auf keinen Fall meint Platon die 870c8 genannte „feige und ungerechte Furcht“ vor Ent­ deckung einer begangenen Straftat, die die Ursache vorsätzlicher Tötung des möglichen Entdeckers ist (vgl. 872c3). - Lust und Schmerz sind in stereotyper Junktur (z.B. 902b 1, 934a4) als polare Zustände zusammen­ gestellt, die sachlich nicht zu trennen sind: denn Gewinn bzw. Steigerung von Lust und Vermeiden bzw. Verringerung von Schmerz sind nur zwei Seiten desselben Handlungsmotivs (vgl. 732e ff). - Der Neid erscheint auch 869e8 und 934a5 zusammen mit den Begierden, aber nach diesen. Wie sehr Platon auf dem Gebiet der irrationalen Handlungsmotive eine starre Systematik vermeidet, zeigen die variierenden Aufzählungen seeli­ scher Ursachen von Vergehen 869e4-8, 870c, 886a9 und 934a4-5. 864a 1 die Vorstellung vom Besten (την δε του άρίστου δόξαν): Der Satz läßt analog zum vorausgehenden Satz als Prädikat erwarten: „nenne ich Gerechtigkeit“. Platon biegt aber anakoluthisch ab zu der in dieser Überzeugung ausgeführten Handlung, um den hierbei unterlaufenden Irr­ tum als irrelevant zu bezeichnen. Zur Formulierung vgl. Phaid. 99a2 ύπο δόξης φερόμενα τού βέλτιστου. Gemeint ist „die Überzeugung, daß das, was man tut, das Beste ist“ (vgl. Resp. 412e8). Daß die Vorstei-

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lung vom Besten damit nicht in das subjektive Belieben gestellt ist, wird in b7 klar: es muß sich um eine wahre Vorstellung handeln; nur diese ist auch in der Lage einen Menschen innerlich zu „ordnen“ (διακοσμεΐν a3); eine solche Vorstellung wird den Bürgern Magnesias vor allem durch die Gesetze vermittelt (vgl. Lisi 2008, 99). 864a2 wie auch immer eine Stadt oder einzelne Individuen sich dessen Verwirklichung denken mögen: Ich halte an dem überlieferten εσεσθαι fest, lese aber statt τούτων mit Hermann τούτο γ’. Das von A2 herge­ stellte τούτον beruht auf der irrigen Annahme, daß άρίστου (al) mas­ kulin sei. Bury (1921, 146) konjiziert έφέσθαι τούτου wegen εφεσις (b7), worin ihm Diès folgt. Lisi 2008, lOOf. hält, soweit ich sehe, als ein­ ziger an dem unverständlichen τούτων fest (seine Deutung erfordert je­ doch statt des Genitivs eher einen possessiven Dativ).

864a4 auch wenn er einmal einen Fehler begeht (κάν σφάλληταίτι): Das Verbum σφάλλεσθαι verwendet Platon mit Ausnahme von 769c4 stets mit personalem Subjekt; ein solches ergänze ich hier aus πάντ’ άνδρα (Pangle nimmt die δόξα als Subjekt an); τι ist dann ein innerer Akkusativ wie Resp. 361b2 und vor allem Thukydides 1,140,1 (ήν αρα τι σφαλλώμεθα). Inhaltlich meint καν σφάλληταί τι entweder einen Schaden, den der Handelnde verursacht (so sinngemäß u.a. England, O’Brien 1967, 193, Weiss 2003, 52ff.), oder einen Fehlgriff, der dem Handelnden unterläuft (Stallbaum, Saunders, Pangle u.a.). Die erste Deutung kann sich zwar auf Nom. 769c4 stützen, wo σφάλλειν i. S. von „beschädigen“ gebraucht ist; für die zweite Deutung spricht aber die Mehrzahl der platonischen Belege (z.B. Nom. 648e, 77le, Theait. 166a8, 196b2), besonders Resp. 361a—b, wo postuliert wird, daß der Un­ gerechte, der sich den Anschein der Gerechtigkeit gibt, wie der Arzt oder Steuermann imstande sein muß, einen etwaigen Fehler wieder zu korri­ gieren (bl και εάν αρα σφάλληταί τι, έπανορθούσθαι); ebenso Gorg. 461dl εϊ τι ... εν τοΐς λύγοις σφαλλόμεθα, σύ ... έπανόρθου; vgl. auch Soph. 229c5—6 (σφάλλεσθαι als Folge von Scheinwissen). Sachlich laufen beide Deutungen auf dasselbe hinaus, da ja auch der Fehlgriff einen Schaden verursacht (την τοιαύτην βλάβην 864a7 ist ein durch einen Fehlgriff unfreiwillig zugefiigter Schaden). 864a8—bl: Zur Ablehnung strikter Terminologie vgl. Men. 87b-c, Resp. 533d7f., Pol. 261e5-7, Theait. 184c und die Anmerkung zu 627c9.

864b3: Ich fasse λύπης als Genitiv des Ursprungs. Post 1939, 99f. möchte λύττης schreiben, da er λύπης wie Ritter II 284 als eindeutig falsch ansieht. Doch Zorn und Furcht lassen sich durchaus als Formen

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von Unlust („Schmerz“) verstehen; vgl. Aristoteles, Rhet. 2,2. 1378a30 und 2,5. 1382a21. 864b7 das Streben der Erwartungen und der wahren Vorstellung, die sich auf das Beste richtet: Der überlieferte griechische Text ist völlig in­ takt (so auch G. Müller 58 f., Görgemanns 140, Saunders 1968, 432 f.). Die von εφεσις abhängigen Genitive ελπίδων καί δόξης τής αληθούς fasse ich wegen der analogen verbalen Wendung δόξα έφι,εμένη τού άρίστου Phaidr. 237d8—9 als subjektive Genitive (objektiven Genitiv nehmen Grube, 1935, 229 Anm. 1 und Lisi 2008, 102 an). Die präposi­ tionale Ergänzung περί το άριστον verbindet Görgemanns 140 mit δό­ ξης τής αληθούς („Streben von Hoffnungen und wahrer Meinung über das Beste“); sie kann aber wie an der Phaidros-StcWe mit εφεσις oder aufgrund der Wortstellung από κοινού sowohl mit δόξης wie mit εφεσις verbunden werden; denn das Streben der wahren Vorstellung vom Besten kann ja nur auf eben dieses Beste gehen. Da der Begriff des Strebens nicht notwendigerweise das Erreichen, wohl aber die Möglich­ keit eines Verfehlens einschließt, erübrigen sich die zu εφεσις vorge­ schlagenen Konjekturen άφεσις (Grou), υφεσις (Jackson) oder άφάνισις (Kucharski 1949, 19 Anm. 2) ebenso wie die Änderung von αληθούς in μη αληθούς (Ritter II 284, bevorzugt von Bury 1922, 174) oder in αμαθούς (England). Post konjiziert έφέσεως und verbindet es mit τής αληθούς: “expectations and belief that we are really launched in pursuit of the ideal” in other words: άμαρτάνομεν δοκουντες αληθώς έφίεσθαι του άρίστου (1939, 100); ein Manko dieser Konjektur ist, daß sie die genuin platonische Verbindung von αληθής und δόξα zer­ reißt; dies gilt auch für Saunders’ Konjektur δόξης, του αληθούς περί το αριστον εφεσις, τρίτον (433). — Zur Verbindung von δόξα und ελ­ πίς vgl. neben 644c bes. Phil. 12d3 und 39a ff.; für den vorliegenden Zu­ sammenhang wichtig ist die Feststellung, daß die Vorstellungen gerade des gerechten und frommen Mannes meistens wahr sind (39e-40b). 7.5. 864cl0—e9: Schuldunfähigkeit (Nachtrag zu 7.1 .—7.3)

Der Passus gibt sich als Nachtrag zu den in 853d-857b erlassenen drei Gesetzen (zur Nichterwähnung des Diebstahls vgl. oben S.276L). Zu­ gleich erfahrt der Strafrechtsexkurs damit eine Ergänzung, indem zu den dort genannten drei Ursachen von Vergehen jetzt noch Ursachen hinzu­ gefügt werden, die eine Schuld ausschließen. Es sind dies: 1) geistige Störung; 2) Krankheit, 3) hohes Alter; 4) kindliches Alter. Wahnsinnige sind im Grunde rechtsunfähig (vgl. 881b4); Regeln für den Umgang mit ihnen werden 934c—d gegeben. Krankheiten können die Fähigkeit zu kla­ rem Denken und Handeln beeinträchtigen; hohes Alter kann Unvernunft

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zur Folge haben und ist dann der Unmündigkeit eines Kindes gleichzu­ setzen (929d-e). Eine in diesen Zuständen begangene Tat zieht als Rechtsfolge in jedem Fall Schadensersatz nach sich, da nach dem Prinzip der „Erfolgshaftung“ Schuldunfähigkeit nicht von der Haftung für den Schaden befreit. Bei Tötungen kommt zur Beseitigung der Befleckung noch eine einjährige Verbannung hinzu, deren Bruch mit zwei Jahren Haft bestraft wird. Für die praktische Durchführung des Gerichtsverfahrens ergibt sich, daß der Täter vor Gericht auch durch jemand anderen verteidigt werden kann (d7); dies dürfte bei minderjährigen Kindern der Vater als Vormund sein, was der athenischen Praxis entspricht (vgl. Lipsius 790 und Harri­ son 1971, 84). Die Schuldausschließungsgründe, die der Text nur für Tempelraub, Hochverrat und Umsturz (= τούτων d3) aufzählt, gelten sicher auch für andere Straftaten (so Saunders 1991a, 190 Anm. 178). Es ist schwer vor­ stellbar, daß mit den in e3A erwähnten Tötungsdelikten nur die in Ver­ bindung mit einem der drei genannten Verbrechen verübte Tötung und nicht auch die sonstigen Tötungen gemeint sein sollten. Auch die Erwäh­ nung von Kindern als Tätern (d5) setzt andere Delikte als Hochverrat und Umsturz voraus. Überdies spricht die Stellung des Passus nach dem Strafrechtsexkurs und vor dem Erlaß der übrigen Strafgesetze für eine gewisse grundsätzliche Bedeutung. Ausdrücklich wird „Wahnsinn“ als schuldausschließend bei den Tätlichkeiten (αίκια) gegen die Eltern ge­ nannt (881b); das Kindesalter wird 910c im Falle der Asebie als strafmil­ dernd erwähnt. Obwohl zu Platons Bestimmung keine Parallele im attischen Strafrecht überliefert ist, ist doch mit Gemet 1951, p. CLXXX und Piérart 1974, 184 Anm. 169 zu vermuten, daß auch das positive Recht solche Ent­ schuldigungsgründe anerkannte, sie aber nicht durch Gesetz, sondern von Fall zu Fall empirisch definierte. Statt als strafmildernd konnten Redner aus prozeßtaktischen Motiven eine geistige Störung sogar als ne­ gativen Charakterzug des Gegners anfiihren (vgl. Dover 1974, 148 f.). Ausdrücklich kennt das attische Recht aber im Erbrecht Willensmängel wie Wahnsinn, hohes Alter, Zaubertränke oder Krankheiten, die die Nichtigkeit von Testamenten begründen (Solon F 49a Ruschenbusch bzw. T 427c Martina). 864dl: Erwägenswert ist die Konjektur von Post 1939, 100, der für και τα (vgl. Stallbaum z. St.) κατα = και ειτα („secondly“) vorschlägt und ετι als „thirdly“ interpretiert (zu κατα vgl. 86Ici).

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7.6. 865al—874dl: Gewalttaten gegen die Seele: Tötungsdelikte

Das attische Recht teilte die gesetzwidrigen Tötungen in zwei Haupt­ kategorien ein: die absichtliche Tötung = Mord (φόνος εκούσιος oder έκ πρόνοιας) und die unbeabsichtigte Tötung (φόνος ακούσιος oder μη έκ προνοίας). Ein weiteres Gegensatzpaar ergab sich aus der Unter­ scheidung zwischen Planung oder Anstiftung zu einer Tötung (βούλευσις) und Tötung mit eigener Hand (αύτόχειρ). Schließlich wurde noch unterschieden nach sozialem Status des Opfers, indem die Tötung eines Bürgers schwerer bestraft wurde als die eines Fremden oder Sklaven. Ne­ ben der gesetzwidrigen Tötung gab es die Kategorie der gesetzlich er­ laubten und daher straflosen Tötung, wie z. B. eines Einbrechers oder Tö­ tung in Notwehr, die in der modernen Literatur als φόνος δίκαιος („ge­ rechtfertigte Tötung“) bezeichnet wird (vgl. dazu unten zu 874b6-dl). Während in archaischer Zeit die gesamte Blutgerichtsbarkeit in der Hand der 51 Epheten lag, waren diese in klassischer Zeit nur noch für ei­ nen Teil der Tötungsdelikte zuständig, da die vorsätzliche Tötung vom Rat auf dem Areopag abgeurteilt wurde. Die Epheten rekrutierten sich vermutlich noch in klassischer Zeit aus den Mitgliedern des Areopags (so u.a. Saunders 1991a, 93, Carawan 1991a, 15, Todd 1993, 82); nach anderer Auffassung wurden sie nach 403/02 v. Chr. durch Geschworene der demokratischen Volksgerichte ersetzt (z.B. Hansen 1995, 360 s. v. Ephétai; Thür 1997b und 2000, 35). Im einzelnen waren die Kompeten­ zen für Tötungsdelikte wie folgt verteilt: 1) Der Rat auf dem Areshügel (der ,Areopag4), der sich aus den ehe­ maligen Archonten rekrutierte, war zuständig für die (eigenhändige) vor­ sätzliche Tötung eines Bürgers, ferner die vorsätzliche Körperverletzung (τραύμα έκ πρόνοιας), die als Versuch der vorsätzlichen Tötung be­ handelt wurde, sowie tödliche Vergiftungen und Brandstiftung. 2) Beim Palladion (einem Tempel der Athene außerhalb Athens) ver­ handelten die Epheten die unbeabsichtigte Tötung und die Anstiftung zur Tötung sowie die Tötung von Sklaven, Metöken und Fremden (diese vermutlich ohne Unterscheidung nach Vorsatz und Nichtvorsatz). 3) Beim Delphinion (einem Tempel des Apollon Delphinios und der Artemis Delphinia, nahe beim Olympieion) wurde von den Epheten die gerechtfertigte Tötung4 verhandelt. 4) Wenn ein wegen unbeabsichtigter Tötung ins Exil gegangener Athe­ ner, noch bevor er für diese Tötung Verzeihung erlangt hatte, zusätzlich wegen einer weiteren, absichtlichen Tötung angeklagt wurde, fand die Gerichtsverhandlung vor den Epheten in Phreatto (oder Phreattys) am Meer statt, wobei sich der Angeklagte vom Schiff aus verteidigen mußte. 5) Im Prytaneion auf der Agora wurden vom Archon Basileus und den

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vier Häuptern der alten vier Phylen (den Phylobasileis) die Fälle verhan­ delt, in denen der Täter unbekannt war oder ein Tier oder ein lebloser Ge­ genstand für den Tod eines Menschen verantwortlich war. Platon übernimmt in sein Strafgesetz alle in Athen bekannten Katego­ rien von Tötungsdelikten, fügt jedoch zwischen die beiden Hauptkatego­ rien der gesetzwidrigen Tötung als eigenständige Kategorie die Tötung im Zorn (866d5-869c6) ein. Tötungen sollen wie in Athen von den An­ gehörigen des Getöteten durch eine Privatklage verfolgt werden. Man vermißt allerdings eine Angabe, welche Gerichte für die einzelnen Tö­ tungsdelikte zuständig sind. Da das in 855c eingesetzte Kapitalgericht nur für die Delikte zuständig ist, die die Todesstrafe nach sich ziehen, müssen für die anderen Fälle von Tötung die Phylengerichte und die Auserlesenen Richter zuständig sein (vgl. zu 766e3—768c2).

oc) 865al-866d4: Unbeabsichtigte Tötung

Daß das drakontische Blutgesetz IG I3 104 (= Koerner 1993, Nr. 11) ebenfalls mit der Tötung ohne Vorsatz beginnt, kann überlieferungsbe­ dingter Zufall sein, da der Text unvollständig ist (vgl. Koerner 32). Pla­ tons Eröffnung der Behandlung der Tötungen mit den unbeabsichtigten Tötungen dürfte jedenfalls darin begründet sein, daß die unbeabsichtigte Tötung der Tötung im Zustand der Schuldunfahigkeit (864e) am nächs­ ten kommt. Indem anschließend die Tötung im Zorn und zuletzt die vor­ sätzliche Tötung behandelt werden, ergibt sich eine deutliche Klimax der seelischen Ursachen von der Unzurechnungsfähigkeit zur vollen Unge­ rechtigkeit. Platons Gesetz zerfallt in zwei Teile (zur Problematik dieser Einteilung Maschke 1926, 122 ff.): A) 865a3-b4: Zwei Sonderfalle ungewollter Tötung: 1) 865a3-b2: Jemand tötet ungewollt einen Mitbürger = „einen be­ freundeten Menschen“ (a) beim Sport oder (b) im Krieg und bei kriege­ rischen Manövem. Aus 831a und analogen Bestimmungen des attischen Rechts (vgl. Aristoteles, Ath. pol. 57,3; Demosthenes, Or. 23,53) ergibt sich, daß es im Fall (a) um die Tötung des Wettkampfgegners geht und nicht etwa (wie in Antiphons zweiter Tetralogie) um die Tötung eines un­ beteiligten Dritten durch einen Speerwurf. Beim Fall (b) dürfte es sich um die Tötung eines irrtümlich für einen Feind gehaltenen Mitbürgers handeln („in Unkenntnis“ [άγνοήσας] lautet das Tatmerkmal bei Aristo­ teles und Demosthenes). Beide Fälle erfordern lediglich eine Reinigung. Platons Subsumption dieser beiden Fälle unter die ungewollte Tötung entspricht seiner an der seelischen Verfassung des Täters orientierten Straftheorie; denn im Unterschied zu den in 874b-c aufgelisteten Fällen

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einer straffreien Tötung fehlt in diesen Fällen ein Tötungsvorsatz. Das at­ tische Recht dagegen behandelte diese beiden Fälle nicht als unbeabsich­ tigte (ακούσιος), sondern als straffreie Tötung, die — wie die gesetzlich erlaubte Tötung in bestimmten Situationen — im Delphinion verhandelt wurde (vgl. Demosthenes, Or. 23,53; dazu MacDowell 1963, 73 ff.); fur eine Reinigung als Rechtsfolge gibt es zwar keine Belege; doch ist schwer vorstellbar, daß die Tötung keine religiöse Maßnahme nach sich zog (Barta 2005, 43 Anm. 84 sieht eine Bestätigung hierfür in den Vor­ schriften Platons). 2) 865b2-4: Ein Arzt, dessen Patient infolge seiner Behandlung stirbt (zu ύπ’ αύτών vgl. Antiphon, Or. 4c,5 ύπό του ιατρού απέθανεν), gilt als rein, so daß nicht nur die Strafe, sondern auch eine Reinigung über­ flüssig ist. Ob es im attischen Recht ein Gesetz gab, das den Arzt frei­ sprach, wird von Amundsen 1977, 195 ff. (gegen MacDowell 1963, 74 u.a.) wegen der Fiktivität der Reden Antiphons bezweifelt. Nach Amundsen 198 konnte ein Arzt, der wegen Tötung eines Patienten von dessen Angehörigen angeklagt wurde, lediglich beantragen, daß sein Fall im Delphinion als φόνος δίκαιος verhandelt wurde. Die griechischen Bestimmungen waren immerhin milder als die für Babylon oder Ägypten bezeugten: Nach dem Codex Hammurabi § 218 soll dem Arzt, der durch eine Operation den Tod seines Patienten verursacht, die Hand abgehauen werden; in Ägypten entging nach Diodor 1,82,3 ein Arzt, dessen Patient starb, nur dann der Todesstrafe, wenn er sich bei seiner Behandlung an die schriftlich fixierten medizinischen Regeln gehalten hatte (vgl. auch die Notiz bei Aristoteles Pol. 3,15. 1286al2). B) 865b4-866d4: Die Standardfalle ungewollter Tötung: 1) 865b4—866b7: Das Standardgesetz betrifft Fälle, in denen als Täter primär der Bürger, vielleicht aber auch der Metöke und durchreisende Fremde in Betracht kommt (Saunders 1991a, 220, Anm. 21). Als Opfer werden nacheinander genannt (a) ein fremder Sklave, (b) ein eigener Sklave und (c) ein Freier (d. h. ein Bürger, Metöke oder ein durchreisen­ der Fremder). Die Fälle (a) und (b) erfordern nur eine Reinigung, Fall (a) darüber hinaus Schadensersatz (wohl durch eine Geldsumme). Im Fall (c) muß der Täter neben der Reinigung die Stadt fiir ein Jahr verlassen. Wenn der Täter diese Auflagen erfüllt hat, soll der nächste Verwandte des Opfers ihm Verzeihung gewähren und sich wieder mit ihm vertragen. Damit ist der Täter wieder in die Gemeinschaft eingegliedert. Wenn der Täter diese Auflagen nicht erfüllt, soll ihn der nächste Verwandte wegen Totschlags (φόνου) anklagen, im Verurteilungsfall werden die Straflei­ stungen verdoppelt. Kommt der Verwandte dieser Pflicht nicht nach, soll jeder, der will (ό βουλόμενος), gerichtlich gegen den Verwandten vor­ gehen; vermutlich hat dieser βουλόμενος, wie aus den Bestimmungen

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in 868b und 871b analog zu folgern ist, auch den Totschläger wegen der Tötung anzuklagen. 2) 866b7-d4: Der Fall, daß Täter und Opfer Fremde sind, erfordert ei­ ne zusätzliche Bestimmung. Da ein Fremder keine Verwandten hat, ist je­ der, der will, aufgerufen, gegen den Fremden als Täter „nach denselben Gesetzen“ (wie gegen einen Bürger) gerichtlich vorzugehen (b7-cl). Da­ bei trägt Platon zugleich für den Fall der Täterschaft eines Fremden eine Unterscheidung nach: während ein Metöke fiir ein Jahr in die Verban­ nung gehen muß, muß der „völlig Fremde“, d.h. der durchreisende Fremde, nicht nur bei der Tötung eines Fremden, sondern auch eines Metöken und Bürgers, also generell bei Tötung eines Freien, die Stadt fiir den Rest seines Lebens verlassen (c2^l); fiir den Fall seiner freiwilli­ gen oder erzwungenen Rückkehr trifft ihn die Todesstrafe bzw. Auswei­ sung (866c5-d4; Näheres dazu unten). Verglichen mit den übrigen Tötungsgesetzen der Nomoi vermißt man im vorliegenden Gesetz den Fall, daß ein Sklave unbeabsichtigt jeman­ den tötet. Über die Gründe dieser Auslassung und die Art der Bestrafung des Sklaven in diesem Fall läßt sich nur spekulieren; Ritter II287 vermu­ tet eine mildere Form der Hinrichtung als die fiir Tötung im Zorn 868b-c vorgesehene; Goetz 1920, 87—88 nimmt eine mildere Strafe, aber keine Todesstrafe an; Saunders 1991a, 220 f. vermutet Straffreiheit und eine Reinigung. - Ferner wird die unbeabsichtigte Tötung von Verwandten nicht als eigener Tatbestand behandelt, was impliziert, daß bei Fehlen ei­ nes Vorsatzes die Tötung eines Verwandten nicht schwerer zu bewerten ist als die eines sonstigen Mitbürgers. - Nicht eigens genannt ist auch die Anstiftung eines anderen zu einer Handlung, die ungewollt zum Tod ei­ nes Dritten führt, d.h. die βούλευσις φόνου ακουσίου des attischen Rechts (ein Beispiel bietet Antiphon, Or. 6; dazu MacDowell, 1963, 6364); vgl. dazu unten zu 865b7-cl. Platon folgt bei den Tötungsdelikten dem im attischen Recht veranker­ ten Prinzip, daß die Verfolgung des Täters und die Gewährung der Ver­ zeihung (αΐδεσις) im Normalfall der Familie des Getöteten obliegt. Vom attischen Recht weicht das vorliegende Gesetz in zwei wichtigen Punk­ ten ab (vgl. Heitsch 1984a, 5-8): Das angeblich auf Drakon zurückge­ hende Gesetz (IG I3 104 = Koerner 1993, Nr. 11) sah vor, daß im Falle unbeabsichtigter Tötung der Täter so lange in die Verbannung zu gehen hatte, bis die Verwandten ihm Verzeihung gewährten. Wenn diese jedoch die Verzeihung verweigerten, mußte der unvorsätzliche Täter genau so wie der vorsätzliche lebenslang in der Verbannung bleiben. Platon sorgt für eine klare Scheidung zwischen den Rechtsfolgen der vorsätzlichen und der unbeabsichtigten Tötung, indem er im letzten Fall das Exil fiir Bürger und Metöken auf ein Jahr befristet. Außerdem genügt in Magne-

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sia zur Gewährung der Verzeihung der nächste Verwandte des Getöteten, dem sie Platon zur Pflicht macht (866c2^4·); in Athen dagegen bedurfte die Verzeihung der Zustimmung des Vaters, aller Brüder und aller Söhne des Opfers bzw. (bei deren Fehlen) aller männlichen Verwandten bis zu den Großneffen und Neffen, von denen jeder sie durch sein Veto verhin­ dern konnte (IG I3 104,13-16). - Indem Platon ferner den Verwandten durch Strafdrohung (fünfjähriges Exil) zur Verfolgung des Täters zwingt (ebenso 868b, 871b), beseitigt er eine Lücke im attischen Recht, das zwar die Verwandten zur Verfolgung des Totschlägers verpflichtete, aber keine Zwangsmittel hatte, um sie zu einer Klage zu zwingen. So blieb selbst bei vorsätzlicher Tötung die Möglichkeit einer gütlichen Einigung, bei der die Verwandten gegen Zahlung einer Geldsumme („Wergeid“) seitens des Täters auf die Klage verzichteten (vgl. Ps.-Demosthenes, Or. 58,28-29; Harpokration s. v. ύποφόνια).

865al Wie wir nun mit der Behandlung der Tötung bereits den Anfang gemacht haben: Dies geht auf die erste Erwähnung der Tötung in 864e3-4. Es besteht daher kein Anlaß zu Texteingriffen. 865a 7 bei der man sich mit unbewaffnetem Körper im Speerwurf übt: Ich übernehme wie Diès u.a. Burys Konjektur των ακοντίων für των αρχόντων (Burnet tilgt diese Worte).

865b 1 nach dem hierüber aus Delphi eingeholten Gesetz: Das delphi­ sche Orakel ist in Magnesia zuständig für alle Gesetze, die die Religions­ ausübung betreffen, zu der auch die kultische Reinigung gehört; vgl. 759c—d, 804a, 828a, 835a, 856d-e; dazu Piérart 1974, 344ff. Zur Reini­ gung vgl. Parker 1983, 370ff.; zur Rolle Delphis hierbei vgl. 138-143.

865b7—cl Wenn jemand mit eigener Hand, aber ungewollt einen an­ dern tötet, ... entweder er selbst mit dem eigenen Körper (τω εαυτού σώματι) oder durch andere Körper (δι ετέρων σωμάτων), so soll er in jedem Fall wie ein eigenhändiger Täter behandelt werden: Platon er­ weitert hier den Begriff der eigenhändigen Tötung: αύτόχειρ ist nicht nur, wer mit bewaffneter oder unbewaffneter Hand, sondern auch wer durch ein Getränk oder eine Speise oder durch Feuer, Kälte oder Ersti­ cken tötet. Mehrdeutig ist die die Reihe abschließende Alternative „mit dem eigenen Körper oder durch andere Körper“. Versteht man unter „an­ dere Körper“ menschliche Körper, so wäre die Alternative gleichbedeu­ tend mit der zwischen eigenhändiger Tötung und Anstiftung (βούλευσις) zu einer unbeabsichtigten Tötung (so z.B. Heitsch 1984b, 15 Anm. 25), die beide in ihrer Kausalität für den Tod gleich behandelt wür­ den. Bei dieser Auffassung würde man allerdings als Gegensatz zum ei­ genen Körper eher einen Singular „durch den Körper eines anderen“ er­

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warten. Daher ist es besser, mit Saunders 1991a, 237 Anm. 101 unter dem Plural σωμάτων eine zusammenfassende Bezeichnung für die vor­ her aufgezählten Werkzeuge und Stoffe zu verstehen und dabei zu akzep­ tieren, daß Platon die Anstiftung nicht eigens genannt hat. 865c4—5 andernfalls soll er eine gerichtliche Strafe in Höhe des dop­ pelten Wertes des Getöteten leisten: Die Verdopplung ergibt sich da­ durch, daß zum Schadensersatz noch einmal dieselbe Summe als Strafe für die Weigerung, den Schaden zu ersetzen, hinzukommt; diese Straf­ summe ist wahrscheinlich an die Stadt zu zahlen, der Schadensersatz auf jeden Fall an den Herrn des getöteten Sklaven.

865dl haben die Ausleger zu entscheiden: Zu diesen vgl. Bd. II 396 f. 865d5—e6 Eine seit alters erzählte Sage der Vorzeit soll er aber nicht geringachten: Alte Sagen und Volksglauben macht sich der Gesetzgeber auch 870d, 872d-873a, 913c, 927a-b zunutze. Hier ist es die in 927a fiir wahr erklärte Überzeugung, daß die Toten ein Sensorium für die Vorgän­ ge auf der Erde haben und auf diese mit heftigen Gefühlen reagieren, von denen je nach ihrer Reaktion eine segensreiche oder verderbliche Wirkung ausgeht (vgl. Dover 1974, 244 £). Außerplatonische Belege für diesen Glauben sind z.B. Homer, II. 23,69ff., Aischylos, Cho. 40f. 323 ff., Sophokles, Ant. 897-902, Xenophon, Kyr. 8,7,18, Antiphon, Or. 4a,3. In hypothetischer Form („falls die Toten im Jenseits ein Empfinden für die Vorgänge hier haben“) begegnet die Vorstellung z. B. bei den Red­ nern im Dienste unterschiedlichster Argumentationen wie bei Isokrates, Or. 9,2; 14,61; 19,42; Lykurg, Leokr. 136; Hypereides, Or. 6,43 (Jen­ sen); Demosthenes, Or. 20,87; vgl. auch Platon, Menex. 248b-c, Ps.-Platon, Epist. II 311c7-8 (vergleichbar auch Sophokles, El. 355 f.). Mit Zu­ rückhaltung diskutiert Aristoteles Nik. Eth. 1,11. 1100al8-30 und 1101a21—b9 den populären Glauben an eine Kontinuität zwischen Jen­ seits und Diesseits. — Zwei Details der in gehobener Diktion (vgl. δειμαίνω und νεοθνής) referierten Sage sind strafrechtlich relevant. Indem der Zorn des Getöteten damit begründet wird, daß er „mit der Gesinnung eines freien Mannes“ gelebt hat, wird die Notwendigkeit des Exils auf die Tötung eines Freien beschränkt. Durch die Angabe „solange sein Tod noch frisch ist“ wird die Wirkungsmacht des Zorns des Toten auf eine nicht allzu lange Zeit begrenzt und damit die nur einjährige Dauer der Verbannung gerechtfertigt. 865e8—9 alle Orte in der gesamten Vaterstadt meiden, die diesem ver­ traut waren: Der Wortlaut zwingt zwar nicht zu der Annahme, daß der Täter die Stadt verlassen muß (Gemet 126 vermutet, daß er nur einzelne Stadtteile meiden muß); doch spricht die Analogie zu den übrigen Exil­

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strafen sowie καί (e9) und das Verb άποξενούμενος (866a7) für einen Aufenthalt im Ausland (vgl. Saunders 1972, Nr. 84 S. 81).

866a2—5 so soll der nächste Verwandte des Toten ... ihm Verzeihung gewähren usw.: Die Wiedereingliederung in die Gemeinschaft vollzieht sich in zwei Schritten: Verzeihung (συγγνώμη) und Friedensschluß. Das attische Recht bezeichnete die Gewährung der Verzeihung gewöhnlich mit dem Verbum αίδεΐσθαι (z.B. IG I3 104, 13. 15), seltener mit dem Substantiv αΐδεσις (z.B. Aristoteles, Ath. pol. 57,3). Platon verwendet das Verbum 877al; das Substantiv ersetzt er durch αιδώς (867e6) bzw. hier durch συγγνώμη, das auch Demosthenes, Or. 23,55 verwendet. Umstritten ist, ob das drakontische Gesetz den Verwandten nur bei un­ vorsätzlicher Tötung das Recht zur Verzeihung gewährte (so Lipsius 609f., Stroud 1968, 50f., MacDowell 1978, 120, Heitsch 1984a, 13-15) oder auch bei vorsätzlicher Tötung (so Latte 1933, 284 = 1968, 387, Ru­ schenbusch 1960, 138f., Gagarin 1981, 50); nach Koerner 1993, 37 läßt der Gesetzestext keine Entscheidung in dieser Frage zu. 866b4—5 die mit der Gewalttat verbundene Befleckung auf ihn über­ trägt: Diese Übersetzung von προστρεπομένου την πάθην versucht der Bedeutung des Verbs προστρέπεσθαι gerecht zu werden, welches, ursprünglich die Hinwendung zu einem Altar oder einer Person mit der Bitte um Reinigung von einer Befleckung bezeichnend, auch die Hinlen­ kung der Befleckung auf den Schuldigen oder des Zorns des Opfers auf den Mörder bezeichnen kann; vgl. Gemet 129, Parker 1983, 108 Anm. 14 mit Belegen, Reverdin 1945, 188 Anm. 2. Bei Säumigkeit trifft die Befleckung bzw. der Zorn des Opfers nach traditioneller Vorstellung nicht nur die zur Verfolgung Verpflichteten (wie auch 871b; vgl. Anti­ phon, Or. 2a,3; 3c,11-12), sondern kann auch auf die Stadt übergehen (vgl. 910b, Antiphon, Or. 2a,3. 10-11; 4a,5). 866b5 gegen ihn gerichtlich vorgehen: Wohl durch Schriftklage wegen Asebie (γραφή ασέβειας) wie 868d. Ob sich Platon bei dieser Vor­ schrift von einem attischen Gesetz anregen ließ (Morrow 1960a, 120), ist unsicher. Denn die hierfür angeführte Asebie-Klage gegen einen Onkel wegen Umgangs mit seinem des Vatermords angeklagten Neffen (De­ mosthenes, Or. 22,2) betrifft den Sonderfall, daß der Mörder ein Mitglied der Familie ist; vgl. Piérart 1974, 428.

866c5—d4: Die Regelungen fiir den Fall gesetzwidriger (d.h. vorsätzli­ cher) bzw. erzwungener Rückkehr des Fremden aus dem Exil haben den Zweck, die mit der Tötung verbundene Befleckung vom Territorium der Stadt femzuhalten. In Athen ist eine Strafe für gesetzwidrige Rückkehr nur bezeugt im Falle eines wegen vorsätzlicher Tötung zu lebenslangem

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Exil Verurteilten: jeder durfte ihn ungestraft töten oder durch Apagoge oder Endeixis seine Hinrichtung veranlassen (MacDowell 1963, 121 f. 140). Die Maßnahme bei unfreiwilliger Rückkehr zur See erinnert an die attische Regelung, wonach ein wegen unfreiwilliger Tötung exilierter Bürger sich gegen eine neue Anklage wegen vorsätzlichen Tötung vom Schiff aus verteidigen mußte. ß) 866d5—869e5: Tötung im Zorn Für den Athener ist der Zorn (θυμός) ebenso beherrschbar wie die Lust (863d6—7), und die vom Zorn überwältigte Seele befindet sich eben­ so im Zustand der Ungerechtigkeit wie die von der Lust überwältigte Seele (863e6-864al). Dennoch schafft Platon mit der Tötung im Zorn (und analog der Körperverletzung im Zorn) einen besonderen strafrecht­ lichen Tatbestand. Der Grund ist der, daß der für die Bestrafung maßgeb­ liche seelische Zustand eines Menschen, der im Zorn tötet, offenbar we­ niger verdorben ist als der eines Menschen, der tötet, um seine Lust oder seine Geldgier zu befriedigen. Dies wird an zwei Tatbestandsmerkmalen deutlich: Der Tötung im Zorn geht ein Angriff auf die Ehre des Totschlä­ gers voraus (vgl. προπηλακισθέντες 866e4) und der Täter bedauert so­ gleich seine Tat (866e2-3). In dieser strafrechtlichen Sonderstellung des Zorns darf man eine Nachwirkung der trichotomischen Seelenlehre der Politeia sehen, in welcher der θυμός als Affektvermögen eine Mittelstel­ lung zwischen der Vernunft und den Begierden einnimmt und die Ehrlie­ be (φιλοτιμία) als sein Charakteristikum gilt (vgl. auch zu 863b2^l·). Die eigentliche Überraschung des Paragraphen (an den sich in 869c6d7 und d7-e4 zwei Zusätze anschließen) ist aber die in einem methodo­ logischen Proömium (866d5-867cl) eigens begründete Unterscheidung zweier Typen von Tötung im Zorn. Denn neben der typischen Affekt­ handlung (Typ A), die auf der Stelle erfolgt, aber gleich nach der Tat be­ reut wird, betrachtet Platon auch eine Tötung, die mit Vorbedacht (μετά επίβουλης 867a4, b5, dl) erst nach längerer Zeit verübt wird, als Tötung im Zorn (Typ B). Ein Täter vom Typ A wird mit zweijährigem, der Täter vom Typ B mit dreijährigem Exil bestraft. Typ A ähnelt lediglich der unbeabsichtigten Tötung (867a). Von der vollen Identität mit dieser trennt ihn offenbar ein Moment der Absicht­ lichkeit oder Freiwilligkeit. Gegen die Absichtlichkeit scheint auf den ersten Blick die Angabe άπροβουλεύτως του άποκτειναι (866e 1) zu sprechen; doch wird durch das Element προ- streng genommen nur eine der Tat vorausgehende überlegte Absicht ausgeschlossen, nicht aber der plötzlich aufwallende Tötungsdrang, der in den Worten παραχρήμα τής ορμής γενομένης (866e2) ausgedrückt ist (so auch Saunders

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1973b, 354ff.; ders. 1991a, 225 ff.). Der plötzlich aufwallende Zorn ist aber, obwohl „schwer zu bekämpfen“ (863b3^l), trotzdem beherrschbar (vgl. 863d6 und 867c8); die vom Zorn ausgelöste Tötung ist daher durchaus vermeidbar und unterscheidet sich insofern von einer durch ei­ nen Irrtum oder einen Zufall verursachten ungewollten Handlung (vgl. 879b2—3, 920d4). Typ B steht hingegen durch die langfristige Tötungsabsicht der vor­ sätzlichen Tötung sehr nahe. Von ihr unterscheidet er sich dadurch, daß der Tötungsabsicht eine schwere Beleidigung vorausgeht; nicht ohne Grund erscheint daher das entlastende Partizip προπηλακισθέντες (866e4; eigentlich: „in den Schmutz getreten“) gerade beim Typ B, ob­ wohl die Entehrung auch beim Typ A Zomesauslöser ist. Offenbar ver­ steht Platon unter Zorn (θυμός) nicht nur eine momentane Aufwallung, sondern auch das nach einer Beleidigung weiter schwelende Gefühl der Kränkung, das gegenüber der vorsätzlichen Tötung ein Moment der Un­ freiwilligkeit im Tatablauf bedeutet. Aristoteles deutet diesen Sachver­ halt so, daß nicht der, der im Zorn tötet, die Handlung beginnt, sondern der, der ihn in Zorn versetzt (Nik. Eth. 5,10. 1135b25-27). Platon geht aber nicht so weit wie Aristoteles, der der affektbedingten Handlung zwar den Vorsatz abspricht (ούκ εκ προνοίας), sie aber dennoch ebenso wie die Handlung mit Vorsatz unter die Kategorie der freiwilligen Hand­ lung (εκούσιον) rechnet (vgl. 1135b8-l 1). Gegenüber der unbeabsichtigten Tötung wirkt sich also der Zorn wegen seiner Beherrschbarkeit strafverschärfend aus (zweijähriges statt einjähriges Exil); gegenüber der vorsätzlichen Tötung wirkt sich der Zorn als eine Reaktion auf eine erlittene Kränkung strafmildernd aus (da­ her dreijähriges Exil gegenüber Todesstrafe oder lebenslangem Exil). Die Unterscheidung zwischen den beiden Typen A und B wird von Platon aber nur angewandt bei der Tötung eines Freien (d.h. eines Bür­ gers oder eines Fremden) durch einen Bürger. Sie wird nicht angewandt auf die Tötung eines eigenen oder fremden Sklaven, auf die von einem Sklaven begangene Tötung und auf die Tötung eines Verwandten durch einen Bürger (wie auch nicht bei der Körperverletzung im Zorn 878b4— 879bl). Der Sklave, der seinen Herrn oder einen Freien tötet, erleidet in jedem Fall die Höchststrafe (Tod) von der Hand der Verwandten des Ge­ töteten (868b5—c5), ebenso wird ein Kind, das seinen Vater oder seine Mutter im Zorn tötet, mit dem Tod bestraft (869c5-6). In beiden Fällen kommt zu der Überwältigung durch den Zorn strafverschärfend hinzu, daß der Sklave bzw. das Kind der Autorität oder dem berechtigten „Herr­ schaftsanspruch“ des Herrn bzw. der Eltern (vgl. 690b 1—2 bzw. 690a3— 4) den gebührenden Respekt versagt haben, der von den Kindern ver­ langt, daß sie sogar den in Schlägen sich äußernden Zorn der Eltern ohne

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Widerstand ertragen (vgl. 717d, 879c). Bei der Tötung sonstiger Ver­ wandten weigert sich Platon offenbar, eine momentane Aufwallung als entlastend anzusehen, und schreibt neben der Reinigung die dreijährige Verbannung vor. Was die zombedingte Tötung eines fremden oder eige­ nen Sklaven betrifft, so war die Unterscheidung zwischen Typ A und B überflüssig, da im ersten Fall außer dem Schadensersatz keine Strafe vor­ gesehen ist und es im zweiten Fall nicht sehr wahrscheinlich ist, daß der Herr, der durch seinen Sklaven beleidigt wird, beschließt, ihn zu einem späteren Zeitpunkt zu töten, da er in der Lage ist, dies auf der Stelle zu tun. Da die Tötung im Zorn eine von Platon gegenüber dem attischen Recht neu entwickelte Kategorie darstellt, treten an diesem Gesetz Pla­ tons Vorstellungen über den Strafzweck und die soziale Reintegration des Täters besonders deutlich hervor. So wird die Strafe des Exils aus­ drücklich verhängt, damit der Täter seinen Zorn zügeln lernt (867c8), und zielt damit auf die Besserung des Täters. Um die seelische Verfas­ sung des Täters richtig zu beurteilen, müssen die Gesetzeswächter die näheren Tatumstände der Tötung genauer untersuchen (867e4-5; s. da­ zu unten). Schließlich sind es nicht die Verwandten des Opfers, sondern die Gesetzeswächter als Repräsentanten der Stadt, die über die Verzei­ hung und die Wiedereingliederung in die Gemeinschaft entscheiden (867e6). Das attische Recht kannte keine Tötung im Zorn als eigenen Tatbe­ stand. Für Mord standen nur die beiden Kategorien der vorsätzlichen Tö­ tung (φόνος έκ πρόνοιας) und der ungewollten Tötung (φόνος ακού­ σιος) zur Verfügung. Wie die Tötung im Affekt strafrechtlich behandelt wurde, ist umstritten. Loomis (1972, 93) nimmt aufgrund von Antiphons 3. Tetralogie, Demosthenes, Or. 21,71—7 und 54,25 an, daß die Athener die affektbedingten und andere plötzliche Tötungen („sudden killings“) als beabsichtigte („intentional“) Tötung behandelten (so auch MacDowell 1963, 59—60), es sei denn, der Täter plädierte wegen irgendwelcher Rechtfertigungsgründe auf straflose Tötung; als solche kam bei der Tö­ tung im Zorn primär eine vorausgehende Ehrverletzung (ατιμία) und Kränkung (προπηλακίζεσθαι) in Betracht (vgl. Demosthenes, Or. 21,72 und die Belege bei Saunders 1991a, 110 fiir Zorn als Entschuldi­ gung). Maschke 1926, 124 und vor allem Cantarella 1975 nehmen dage­ gen an, daß die typische Tötung im Affekt ursprünglich unter die Tötun­ gen ohne Vorsatz (μή έκ πρόνοιας) gerechnet, später aber als freiwillig (εκούσιον) behandelt wurde. Die Position des Aristoteles, auf die sich Cantarella beruft, erlaubt keine sichere Entscheidung zwischen beiden Auffassungen: Während nach Nik. Eth. 3,2. 1110b26ff. der Zornige (opγιζόμενος) nicht mit Bewußtsein, sondern unwissend (ούκ είδώς δε,

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άλλ’ άγνοών) handelt, werden 5,10. 1135bl9ff. Taten im Zorn (θυμός) als Beispiel für eine Unrechtstat (αδίκημα) genannt, die jemand wis­ send, aber ohne Vorsatz (είδώς μεν, μή προβουλεύσας δε) begeht. Der Urheber einer solchen Tat ist aber für Aristoteles nicht ungerecht (άδικος), da er ja nicht mit Vorsatz handle, weshalb Taten im Zorn vor Gericht mit Recht nicht als vorsätzlich beurteilt würden (ούκ εκ πρό­ νοιας κρίνεται (1135b26). Platons Aufspaltung der zombedingten Tötung in die beiden Typen A und B könnte aber auch durch eine unterschiedliche Behandlung im atti­ schen Recht bedingt sein, welches Typ A möglicherweise als unvorsätz­ liche und Typ B als vorsätzliche Tötung einstufte; Platon hätte dann bei­ de Typen aus diesen Rubriken herausgelöst, weil diese der seelischen Verfassung des Täters nicht gerecht werden. Jedenfalls ist klar, daß im at­ tischen Recht nur die Frage „Vorsatz oder Nichtvorsatz?“, nicht aber wie bei Platon die Dauer des Zornes und der Tötungsabsicht bei der Beurtei­ lung eine Rolle gespielt haben kann.

866e2—3 wo sich dann sogleich Reue über die Tat einstellt: Bereits der homerische Phoinix weist den grollenden Achill darauf hin, daß auf den Zorn gewöhnlich die Reue folgt (II. 9,502 4). Lysias, Or. 3,42f. nennt die Reue als Merkmal von Taten im Affekt, die eine mildere Strafe ver­ dienen als ein beabsichtigter Mordversuch (vgl. auch die Unterscheidung im Phaidon 113e—114a). Aristoteles sieht - vielleicht unter dem Einfluß der vorliegenden TVomof-Stelle - in der Reue ein Indiz für die Unfreiwil­ ligkeit einer Tat (Nik. Eth. 3,2. 1110b20 ff.). 867c8 soll er ... in die Verbannung gehen (φευγέτω): Gemet 136 z. St. weist darauf hin, daß hier für das Exil erstmals das Verbum φεύγειν benutzt ist, das den Strafcharakter unterstreicht, während bei der unzurechenbaren und unvorsätzlichen Tötung nur vonfortziehen (άπελθών 864e5), außer Landes wohnen (έκδημεϊν e5), aus dem Weg ge­ hen (ύπεξελθεϊν 865e6), meiden (έρημωσαι 865e8), ausgeschlossen sein (εϊργεσθαι 866a 1) und in der Fremde zubringen (άποξενούμενος a7) die Rede war (zum terminologischen Unterschied vgl. auch Demo­ sthenes, Or. 23,45).

867e4—5 die während dieser Zeit die Taten der Verbannten noch ein­ gehender geprüft haben: Diese Prüfung dient offenbar dazu, ein genaue­ res Bild von der seelischen Verfassung des Täters zu erhalten, um danach über die Gewährung der Verzeihung und Wiederaufnahme in die Ge­ meinschaft zu entscheiden. Wenn das Resultat der Prüfung gegen eine Wiederaufnahme spricht, müßte der Täter weiter in der Verbannung blei­ ben. Der Text geht aber hierauf so wenig ein wie auf den Fall, daß die Prüfung ergibt, daß der Täter nicht mit Vorsatz, sondern im momentanen

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Kommentar

Affekt gehandelt hat. Dies müßte umgekehrt zu einer Verkürzung des Exils von drei auf zwei Jahre führen, was aber nur möglich ist, wenn die Prüfung bis zum Ende des zweiten Verbannungsjahres abgeschlossen ist und die Gesetzeswächter ihre Entscheidung nicht erst, wie der Text nahe­ legt, am Ende der dreijährigen Verbannung bekannt geben (vgl. auch Saunders 1991a, 227). Diès z. St. und Reverdin 1945, 186f. verstehen unter den Taten (πράξεις) das Verhalten des Verbannten im Exil. Diese Deutung scheitert aber an sprachlichen und an sachlichen Gegebenhei­ ten: πράξεις nimmt das Verbum πράξειεν d7 auf, welches in Verbin­ dung mit dem Adverb άγριωτέρως die Art der Durchführung der Tö­ tung bezeichnet (vgl. auch πεπραγμένον und πραχθέν c5 und 6). Überdies setzt die Angabe „noch genauer“ (ετι σαφέστερον e5) eine bereits früher durchgeführte Prüfung voraus, deren Gegenstand nur die Umstände der Tötung sein können. Ferner impliziert das Perfektpartizip έσκεμμένους (e4), daß die Gesetzeswächter die Prüfung bereits vollzo­ gen haben, wenn sie sich an die Grenze begeben. Schließlich war es in der Antike praktisch unmöglich, sich detaillierte Informationen über das Verhalten eines im Ausland lebenden Menschen zu verschaffen, die Aus­ kunft über dessen seelische Verfassung geben konnten (vgl. Saunders 1972, Nr. 86 S. 85 f.). 868a3—4 so soll es ihm ebenso ergehen wie bei der Rückkehr des Fremden: Er wird also mit dem Tode bestraft (vgl. 866c). 868a4—6 wenn er aber einen fremden im Zorn tötet, soll er dem Besit­ zer den Schaden doppelt ersetzen: Und zwar zusätzlich zur Reinigung, die wegen 865c auch für die zombedingte Tötung eines fremden Sklaven anzunehmen ist. 868a6—b5 Wenn aber einer von all diesen Totschlägern dem Gesetz nicht gehorcht usw. : Der Text scheint zwei Deutungen zuzulassen. Nach der einen handelt es sich um eine spezielle Vorschrift, die nur die Tötung eines Sklaven betrifft (so z.B. Gemet 137). Diese Interpretation könnte sich zunächst auf die Stellung des Abschnitts zwischen zwei Vorschriften berufen, die den Sklaven einmal als Opfer (868a4—6) und dann als Urhe­ ber ( 866b5—c5) einer Tötung im Zorn betreffen. Außerdem greifen die Worte έκτίνειν (b4) und εκτεισμα (b5) den Imperativ έκτεισάτω (a5) auf, der den an den Herrn des getöteten Sklaven zu zahlenden Schadens­ ersatz bezeichnet. Gegen diese Interpretation spricht aber zunächst das Partizip προσηκόντων (b2), das normalerweise einen Verwandten be­ zeichnet; da aber ein Sklave in der Regel keine Verwandten besitzt, die sich um die Verfolgung seines Mörders kümmern könnten, ist die Vor­ schrift ziemlich überflüssig. Um dieser Konsequenz zu entgehen, sucht Gemet zu beweisen, daß προσηκόντων auch den Herrn des Sklaven be-

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zeichnen könne, aber die von ihm herangezogene Stelle (Ps.-Demosthenes, Or. 47,69) beweist nichts, da es nicht sicher ist, ob die dort erwähnte Frau überhaupt eine Sklavin ist. Die zweite Schwierigkeit für die Inter­ pretation von Gemet ist der Plural των άποκτεινάντων πάντων („von all diesen Totschlägern“ 868a6), der alle vorausgehenden Fälle zusam­ menfassen muß (und nicht nur den unmittelbar vorausgehenden), in de­ nen ein Bürger einen Freien oder einen eigenen oder fremden Sklaven getötet hat. Ich folge daher der Interpretation von Saunders (1991a, 228), wonach es sich um eine allgemeine Vorschrift handelt, die für jede im Zorn begangene Tötung gilt. Das Partizip προσηκόντων bezeichnet demnach in erster Linie den Verwandten des Opfers, aber in einer allge­ meineren Bedeutung auch den Henn des Sklaven, dem die Verfolgung des Mörders „zukommt“ (προσήκει). 868a7—bl den Markt, die Kampfplätze und die andern heiligen Stätten befleckt: Zur Aufzählung vgl. die Liste 935b.

868b3—5 den doppelten Betrag an Geld zu bezahlen und die sonstigen Handlungen doppelt zu vollziehen: Die Übersetzung stellt im Interesse der Klarheit die im Griechischen nach dem Rapport-Schema (vgl. zu 736c7) chiastisch angeordneten Objekte und Verben entsprechend ihrer semantischen Kontiguität zusammen. Mit Geld ist die an den Herrn des getöteten Sklaven als Entschädigung zu zahlende Geldsumme gemeint. Die Handlungen (πράξεις) sind die Reinigungen, deren es mehrere Gra­ de gibt (vgl. 865c), so daß man sie auch „doppelt“ (= zweimal) vollzie­ hen kann, und wohl auch das Exil, dessen Dauer verdoppelt wird (vgl. 866b). Daß der Angehörige des Opfers bei Unterlassen der Verfolgung des Totschlägers dieselben Tatfolgen wie der Täter tragen muß, hat sei­ nen Grund darin, daß das Opfer die Befleckung und die Schuld des Tot­ schlägers auf ihn überträgt (866b). Eine andere Deutung vertreten Bris­ son - Pradeau, die die Verben auf den Täter und den Verwandten vertei­ len, so daß jener die doppelte Buße und dieser die sonstigen Handlungen zu vollziehen hätte („accomplir le reste des actions“); falls mit diesen Handlungen die Reinigungsriten gemeint sind, wäre es allerdings merk­ würdig, wenn diese nur der Verwandte und nicht auch der Täter zu voll­ ziehen hätte; sind damit die Maßnahmen der gerichtlichen Verfolgung gemeint, so kann man diese nicht „doppelt“ vollziehen. Noch problema­ tischer ist die Deutung von πράττειν als „fordern“ (Rufener: „daß jener [= der Verwandte] das Doppelte der Buße und der übrigen Leistungen verlangen und daß dieser es bezahlen muß“; so sinngemäß auch Jowett, Diès, Saunders), da dann der nachlässige Verwandte gänzlich straflos ausginge. — Daß Platon einen materiellen Anreiz fiir die Anzeige einer Gesetzesverletzung vorsieht, hat ein Gegenstück in 745al—6.

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Kommentar

868b5—c5 Wenn aber ein Sklave im Zorn usw. : Der Sklave, der seinen Herrn (b5—cl) bzw. einen Freien (c2—5) tötet, wird wie das Kind, das sei­ ne Eltern im Zorn tötet (869a), mit der Höchststrafe bestraft, die von den Verwandten des Opfers zu vollziehen ist. Daß Platons Gesetz („one of the nastiest of Plato’s laws“ Saunders 1991a, 228) den Verwandten die Art und Weise der Tötung überläßt, bedeutet kaum, wie Knoch 1960, 79 meint, eine Linderung der Todesstrafe, sondern eher ein Zugeständnis an das Rachebedürfnis der Verwandten, das an Grausamkeit kaum hinter dem 872b beschriebenen Modus der staatlichen4 Hinrichtung Zurück­ bleiben dürfte. Gemet 137 f. schließt offenbar aus 872b per analogiam, daß der Sklave auch im vorliegenden Fall zunächst durch ein Gericht verurteilt und erst dann von seinem Herrn den Verwandten zur Hinrich­ tung ausgeliefert wird, und sieht darin einen Mittelweg zwischen der Blutrache und der Verfolgung durch den Staat. Der Wortlaut von 868c23 spricht aber eher für eine direkte Auslieferung an die Verwandten ohne Beteiligung der Justizorgane (vgl. auch 879a). Dies hätte allerdings zur Folge, daß der im Zorn tötende Sklave der Willkür der Verwandten aus­ geliefert wird, während der vorsätzlich tötende Sklave gemäß 872b einen ordentlichen Prozeß erhält. - Wie in Athen mit einem Sklaven, der sei­ nen Herrn getötet hatte, verfahren wurde, ist nicht klar. Heitsch 1984b, 74 und 72 Anm. 198 bestreitet das Vorhandensein einer gesetzlichen Re­ gelung und nimmt an, daß es der betroffenen Familie überlassen blieb, die Sache durch Selbstjustiz zu regeln oder den Täter an die Elfmänner bzw. den Henker auszuliefem (so auch Grace 1974). Saunders 1991a, 239 vermutet dagegen unter Berufung auf Morrow 1939, 71-72, daß der Sklave den Beamten übergeben werden mußte, damit er einen regulären Prozeß erhielt, der im Falle einer Verurteilung die Hinrichtung durch den staatlichen Henker nach sich zog (vgl. Antiphon, Or. 5,48; Isokrates, Or. 12,181).

868c2 Wenn aber ein Sklave einen anderen Freien im Zorn getötet hat: Ich übernehme das von Fähse konjizierte άλλον, das auch Ficinos Über­ setzung voraussetzt (Sinn: einen anderen Freien als seinen Herrn). Das überlieferte άλλος läßt sich höchstens in der Funktion der Anfügung ei­ nes weiteren Falles halten; zu übersetzen wäre: „Wenn - um einen weite­ ren Fall zu nennen - ein Sklave einen Freien ...“. 868c3 die jeweiligen Herren: Der eigenartige Plural δεσπόται nimmt (ebenso wie die Plurale φυγόντων 867e5, κτεινάντων 868dl) nach dem Singular δούλος die einzelnen Fälle in den Blick (in der Überset­ zung durch die Zufügung von jeweiligen ausgedrückt). 868c5-869c6: Während die unvorsätzliche Tötung von Verwandten für Platon keinen eigenen Tatbestand darstellt, gelten für die zombeding-

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866d5—869e5

te und die vorsätzliche Tötung von Verwandten besondere Regelungen. So erfordert die zombedingte Tötung von Kindern, Geschwistern und Ehepartnern drei Arten von Maßnahmen: 1. Reinigung des Totschlägers, 2. dreijähriges Exil (also die Maximaldauer) und 3. Ausstoßung des Tot­ schlägers aus der häuslichen und kultischen Gemeinschaft der Familie. Die letzte Maßnahme basiert auf der Vorstellung, daß eine Familie, die den Mörder eines ihrer Angehörigen weiterhin in ihrem Schoß duldet, sich mit der vom Mord ausgehenden religiösen Befleckung ansteckt und dadurch auch das Wohl der Stadt gefährdet. Den Verwandten, die den Täter nicht ausstoßen, droht eine Popularklage wegen religiösen Frevels (vermutlich mit den 868b 1—5 angedrohten Rechtsfolgen). Einen Sonder­ fall bildet die Tötung eines Eltemteils im Zorn, bei der sich der Täter we­ gen der besonderen, geradezu religiösen Qualität des Eltemstatus (vgl. 717b4-718a6 sowie 931a. d) mehrerer todeswürdiger Vergehen schuldig macht; fiir diesen Fall von ,Idealkonkurrenz6 wird die Todesstrafe als die schwerste Strafe gefordert (zum Verhältnis der platonischen Bestimmun­ gen zur Vorstellung der familiären Solidarität in Recht und Religion Athens vgl. Cosenza 1987). Die Strafbestimmungen fiir die gegen Bluts­ verwandte und Ehegatten gerichteten Delikte zeigt die folgende Synop­ se. ^>s\Opfer

Ehepartner

Vater/Mutter

Kind

Tötung im Zorn (868c5—869c6)

Tod, außer bei Freisprechung durch das Opfer (869a2-c6)

1. Reinigung. 2. dreijähriges Exil. 3. Ausstoßung aus der Familie (868c5—869a2)

Vorsätzlicher Mord (872c7—873cl)

Tod mit Entehrung des Leichnams: Entblößung, symbolische Steinigung, Ataphie und Hyperhorismos: die Leiche als Träger der Befleckung wird un­ bestattet über die Landesgrenze geworfen (872c7— 873cl)

nicht erwähnt (also wohl Tod ohne Enteh­ rung)

Vorsätzliche Körperverlet­ zung (877b6-878b3)

Tod (877b6—7)

nicht eigens erwähnt

Tod (877b7—cl)

lebenslanges Exil (877c2—878b3)

Körperverlet­ zung im Zorn (878d6-879a2)

Tod (Gericht aus Bürgern über 60 Jahren, die ein Kind haben) (878e5—879a2)

nicht er­ wähnt (vgl. zu 878b4— 879bl)

Familienge­ richt. Eltern setzen die Stra­ fe fest (878d6-e4)

nicht erwähnt (wohl Strafe wie 878cl-d6)

Delikt

Bruder oder Schwester

322

Kommentar

Wenn bei einem Totschlag innerhalb der Familie die Verwandten den Schuldigen nicht an die Justiz auslieferten, bestand die Gefahr, daß der Totschläger weiterhin am Altar der Familie opferte und ihn so befleckte. In Athen war es daher offenbar gestattet, gegen den nächsten Verwandten des Opfers, der diese Befleckung duldete, eine Klage wegen Religions­ frevels einzureichen (Demosthenes, Or. 22,1 ff.). Platon geht noch weiter als das Gesetz in Athen, indem er verfugt, daß nicht nur der Verwandte, sondern auch der Totschläger, der die heiligen Stätten befleckte, von je­ dem wegen Asebie angeklagt werden darf (vgl. 868d und 868e-869a). 868c8: Der Wechsel vom Imperativ (καθαιρέσθω) zum imperativi­ schen Infinitiv (άπενιαυτεϊν) ist nicht so singulär, daß er zur Übernah­ me von Eusebs καθαίρεσθαι (so Diès) nötigt. In den Nomoi begegnet er z.B. 753b, 755e, 760a-b und 873e-874a. Außerplatonische Belege bie­ ten Kühner - Gerth II22-23.

868d2—3 sie dürfen nie mehr zusammen Kinder zeugen: Kinder aus ei­ ner Verbindung mit einem durch Totschlag befleckten Partner können nach verbreiteter Anschauung nur unrein sein; daher wollte z.B. Peisistratos keine Kinder von seiner Frau, die zur Familie der Alkmeoniden gehörte (Herodot 1,61,1). 868e9 in derselben Weise, wie dies für die Eltern und Kinder festge­ setzt worden ist: Hiermit müssen die Vorschriften gemeint sein, die 868c fiir Eltern gegeben wurden, die ihr Kind getötet haben (ein irrtümlicher Vorverweis auf 869a—c kommt nicht in Betracht da Kinder, die einen Eltemteil im Zorn töten, gar nicht in die Verbannung gehen, sondern hinge­ richtet werden: 869c). 869al dem erwähnten Gesetz gegen solchen Religionsfrevel: Vgl. 868a6-b5. 869a4—5 falls der Getötete vor seinem Tode aus freien Stücken den Tä­ ter von diesem Mord losspricht (άφυη): Tajlx Lossprechung (άφεσις) vgl. unten zu 869d7-e4.

869a 7 im übrigen genau dasselbe wie jene tun: Also fiir ein Jahr ins Exil gehen (vgl. 865e). 869b2—4 wegen Mißhandlung ... und ebenso wegen Religionsfrevels und wegen Beraubung eines Heiligtums, da er die Seele seines Erzeugers beraubt hat: Der Mißhandlung macht sich das Kind schuldig, weil es ge­ gen einen Älteren und speziell die Eltern die Hand erhebt, was nach 881d-e mit lebenslanger Verbannung aufs Land bestraft werden müßte. Religionsfrevel liegt vor, weil die Kinder in den Eltern gleichsam ein pri­ vates Heiligtum besitzen, dem sie Verehrung schulden (931a.d-e). Der

869c6-d7

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Totschläger beraubt die Seele, die das wahre Selbst ist (959b), ihres Kör­ pers (873a), und also ein Heiligtum. Die Verhängung der Todesstrafe als der schwersten der konkurrierenden Strafen impliziert, daß ein Eltemmörder nicht mehr heilbar ist (vgl. 862e), und bedeutet insofern eine Ver­ schärfung gegenüber der im Mythos des Phaidon vertretenen Position, nach welcher die, die Vater oder Mutter im Zorn töten und dann Reue empfinden, zwar große, aber heilbare Vergehen verüben (Phaid. 113e).

869b7—cl: Die von England und Diès getilgten Worte μέλλοντι ... τελευτήσεσθαι enthalten gerade den entscheidenden Gedanken, näm­ lich daß der Tod, den das Kind abwehrt, ihm von den Eltern droht. 869c6—d7: Ein Sonderfall: Tötung in Notwehr

Da die Behandlung der Tötungen im Zorn erst in 869e5 für abge­ schlossen erklärt wird, ist die Tötung in Notwehr als eine spezielle Form der Tötung im Zorn zu betrachten, von der sie sich dadurch unterschei­ det, daß der Auslöser der Tat hier keine verbale Beleidigung, sondern ein Angriff auf das Leben ist. Wegen dieser Analogie zur Tötung im Zorn hat Platon die Tötung in Notwehr aus den in 874b-c behandelten Fällen straffreier Tötung herausgelöst und schon hier behandelt. Das Gesetz knüpft an das Vorausgehende (Verwandtenmord im Zorn) an, indem es mit der Tötung eines Bruders beginnt, und läßt erst dann die Standardfälle folgen. Unter diesen nimmt die Tötung eines Freien durch einen Sklaven eine Sonderstellung ein: als Tötung eines sozial Höherste­ henden wird sie wie der Vatermord mit der Todesstrafe geahndet; denn sich gegen Schläge eines Freien zu wehren, ist ein Sklave noch weniger als ein Kind gegenüber seinen Eltern berechtigt (vgl. auch 868b5-c5; 869a—c). Den umgekehrten Fall, daß ein Freier einen Sklaven in Notwehr tötet, hält Platon für keiner Erwähnung wert. Bedingung für die Straffreiheit bei Tötung des Bruders ist, daß sie im Zusammenhang mit einem Bürgerkrieg (Stasis) erfolgt und der Getötete mit der Feindseligkeit begonnen hat. Unter dieser Bedingung zieht die Tötung weder eine Reinigung noch eine Strafe nach sich, weil die Tö­ tung der Tötung eines Feindes im Krieg gleichgestellt wird, die wie in Athen als straflos und vermutlich nicht verunreinigend gilt (Parker 1983, 113 Anm. 37). Nach Bertrand (1999a, 351 und 1999b, 216) gilt diese Bedingung für alle hier aufgezählten Fälle (Tötender und Getöteter sind also jeweils Gegner in einem Bürgerkrieg); als weitere Bedingung fügt Bertrand hin­ zu, daß die Tötung zur Verteidigung der Staatseinrichtungen erfolgen muß und zieht eine Verbindung zu dem angeblich solonischen Gesetz, das bei einer Stasis Neutralität verbot (Aristoteles, Ath. pol. 8,5 = F 38a

324

Kommentar

Ruschenbusch = T 350 Martina; Zweifel an der Echtheit bei Weißenber­ ger 1987, 188 Anm. 465). Die von Bertrand hinzugefugte Bedingung fin­ det sich aber nicht im Text; auch wäre dann schwer zu verstehen, warum ein Sklave, der im Einsatz für die ,gute Sache4 einen fiir die Gegenseite kämpfenden Freien tötet, dafür mit der Höchststrafe büßen muß. Ferner deutet der Zusatz „oder auf sonst eine vergleichbare Weise“ c7 auf eine allgemeinere Fassung des Tatbestands hin. Vielleicht gilt die von Bert­ rand vermutete Bedingung nur für die Straffreiheit bei Tötung des bluts­ verwandten Bruders, während in den anderen Fällen generell Notwehr als Strafbefreiungsgrund ausreicht. In Athen blieb die Tötung in Notwehr ebenfalls straffrei und wurde als φόνος δίκαιος von den Epheten im Delphinion verhandelt. Der Tot­ schläger hatte zu beweisen, daß der Getötete mit dem Angriff begonnen hatte; der hierfür übliche Terminus (den auch Platon 869dl verwendet) lautete αρξαι χειρών oder αρξαι πληγής; dazu Lipsius 615; MacDowell 1963, 75). 869d6—7 denselben Gesetzen verfallen wie einer, der seinen Vater ge­ tötet hat: Das Partizip ό κτείνας πατέρα stellt den seelischen Zustand dieses Sklaven dem eines Vatermörders gleich und behandelt ihn wie den Sohn eines Bürgers. Bertrand 2001b, 197 folgert aus dieser ,Fiktion4, daß gemäß der Vorschrift in 873b die Leiche des getöteten Sklaven außer Landes geschafft werden soll. Es ist aber fraglich, ob der Hinweis auf den Vatermörder auf diese spätere Bestimmung zu beziehen ist. Denn die Ausdrucksweise τοΐς αύτοϊς ένοχος έστω νόμοις (d7) greift deutlich auf πολλοΐς ένοχος έστω νόμοις (869b 1) zurück, so daß ein Rückbe­ zug auf die Bestimmung über die Tötung des Vaters im Zorn (869a-b) wahrscheinlicher ist, aus der für den Sklaven ebenfalls die Todesstrafe folgt. 869d7—e4: Zusatz: Die Rechtsfolgen bei Lossprechung durch das Opfer. Im attischen Recht gab es die Möglichkeit, daß das Opfer vor seinem Tod im Akt der Lossprechung (άφεσις) einen Totschläger oder Mörder von der Schuld freisprach, der daraufhin vor jeder Strafverfolgung sicher war (Demosthenes, Or. 37,59; vgl. auch Resp. 451b). In der Rechtspra­ xis ist allerdings kein Fall einer solchen Lossprechung bezeugt (MacDowell 1963, 8); ein literarisches Beispiel bietet der Schluß des euripideischen Hippolytos (1449 ff.). Nachdem Platon diese Lossprechung in 869a dem Vater zugestanden hat, wird die dortige Bestimmung hier auf „jede Lossprechung von derar­ tigen Vergehen44 (τοιούτων el) durch „wen auch immer44 ausgedehnt. Die Reichweite dieser neuen Bestimmung ist unklar. Nach ihrer Stellung

869e5—873cl

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im Kontext gilt sie auf jeden Fall fur die Tötung im Zorn (aber nicht für die Tötung in Notwehr, bei der der Täter ohnehin als rein gilt); die Los­ sprechung reduziert das zwei- oder dreijährige Exil (vgl. 867c—d) auf ein Jahr und stellt so den Totschläger im Affekt dem unvorsätzlichen Täter gleich. Daß τοιούτων auch die unvorsätzlichen Tötungen einschließt, ist eher unwahrscheinlich, da die bei Lossprechung eintretenden milderen Rechtsfolgen (Reinigung, einjähriges Exil) mit den regulären Rechtsfol­ gen einer unvorsätzlichen Tötung identisch sind; Saunders 1991a, 231 vermutet daher, daß im Falle der Lossprechung der unvorsätzliche Täter - wie in Athen - nicht in die Verbannung gehen mußte; doch wäre dann zu erwarten, daß Platon diese Abweichung von den in 869e genannten Rechtsfolgen ausdrücklich vermerkt hätte. Noch unsicherer ist es, ob die Lossprechung nach Platons Vorstellung auch bei vorsätzlichem Mord möglich sein soll (wie in Athen: vgl. Demosthenes, Or. 37,59), da diese Möglichkeit weder hier noch bei der anschließenden Behandlung der vorsätzlichen Tötung explizit zugelassen wird. Vom attischen Recht unterscheidet sich Platon auch dadurch, daß in Athen die Lossprechung den Täter von allen Rechtsfolgen befreite (vgl. Goetz 1920, 8; Gemet 1951, p. CXCVI), während in Magnesia die Los­ sprechung dem Täter ein befristetes Exil nicht ersparen kann.

869d7—8 Was aber über die Lossprechung vom Mord seitens des Va­ ters gesagt worden ist: Nämlich in 869a4—7. γ) 869e5—873c 1: Vorsätzliche Tötung (Mord)

Vorsätzliche Tötung ist das schwerste Vergehen gegen einen Men­ schen. Der Täter beweist ein Höchstmaß an Ungerechtigkeit (869e6), in­ dem er sich von Lust, Begierden und Neid (869e7-8) zu seiner Tat ver­ leiten läßt. Wegen der Schwere des Vergehens geht dem Gesetz ein län­ geres Proömium voraus. 869el0—871al: Vorrede (Proömium). a) 869el0—870d4: Der erste Abschnitt nennt drei seelische Kräfte, die zum Mord antreiben. Die stärkste ist die Geldgier, die darum am ausführ­ lichsten besprochen wird. Für die Entstehung dieser Gier sind neben der individuellen Anlage (φύσις) des Täters vor allem die in der Gesell­ schaft geltenden falschen Wertmaßstäbe verantwortlich (870al—c5). Neid als Mordursache wird dagegen ausschließlich auf eine individuelle Ei­ genschaft, nämlich den Ehrgeiz zurückgeführt (c5-7). Furcht vor Aufde­ ckung einer Straftat (c8-d4) ist keine Charaktereigenschaft, sondern eine durch diese Straftat ausgelöste Reaktion, in der sich die Ungerechtigkeit dieser Straftat fortsetzt (daher ist es eine „ungerechte“ Furcht 870c8).

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Kommentar

Die Funktion dieses Abschnitts (zumindest der Ausführungen über die Geldgier) ist „Belehrung“ (vgl. διδάσκαλος 870b6), die die Einsicht vermitteln soll, daß man, um glücklich zu sein, Reichtum nur auf gerech­ te Weise erwerben darf (χρή b7 ist die einzige präskriptive Verbform in diesem Abschnitt). b) 870d4-871al: Der zweite Abschnitt bedient sich der Lehren der Mysterien, die auf der Basis der Seelenwanderungslehre dem Täter eine doppelte Bestrafung androhen: (1) Zunächst wird der Mörder nach sei­ nem Tod im Hades für seine Tat bestraft. (2) Kehrt er in ein neues irdi­ sches Leben zurück, erleidet er nach dem Gesetz der Wiedervergeltung (Talion) dasselbe Geschick wie sein Opfer (vgl. die Konkretisierung in 872d—873a). Dies ist die auf der gerechten Ordnung der Natur beruhende Strafe (κατά φύσιν δίκη 870e2), die zur gesetzlichen Strafe hinzutritt. 869e7 mit Vorbedacht: Das Tatmerkmal des Vorbedachts (επιβουλής wie 867a4, b4f. und 877c2), dessen Erwähnung neben εκούσια über­ flüssig erscheinen könnte, ist hinzugefügt als Kontrast zu κατά θυμόν. Syntaktisch muß der Genitiv parallel zu τούτων (= φόνων) mit πέρι verbunden werden; anstelle dieser wenig befriedigenden Konstruktion schlägt Stallbaum, dem Susemihl folgt, die Einfügung von εξ vor επι­ βουλής vor und verbindet dies mit γίγνόμενα (vgl. εξ επιβουλής „mit Absicht“ Hipp. min. 370d, 371a, Antiphon, Or. 1,3; 2a,5). Pangle über­ setzt dagegen επιβουλής hier mit „plotting“ (zu dieser Bedeutung von επιβουλή vgl. LSJ s. v.) und sieht darin offenbar das Tatmerkmal der Anstiftung angedeutet, das 871e8ff. strafrechtlich behandelt wird. Aber für die Anstiftung gebraucht Platon als strafrechtlichen Terminus nicht επιβουλή, sondern έπιβούλευσις (872a2, bl, dl) bzw. das Verbum βουλεύειν (872al, b5), weshalb Apelt hier έπιβουλεύσεως konjiziert. Es fragt sich jedoch, ob ein Hinweis auf diesen Sonderfall der Tatbege­ hung hier angebracht ist, wo nach der Tötung im Zorn lediglich die Kate­ gorie der vorsätzlichen Tötung eingeführt werden mußte.

870a6 infolge einer verkehrten Naturanlage und eines schlimmen Mangels an Erziehung: Zum Nebeneinander von Naturanlage und Erzie­ hung vgl. 766a2, 934d7, 961b2; Resp. 430a, Tim. 20a7. 870a6—7: Ich folge dem Text von A und Ο (ή τού ... φήμη). Zur Geldgier als Kennzeichen der meisten Staaten vgl. 831c—832b.

87Obi schädigen sie sowohl ihre Nachkommen als auch sich selbst: Vgl. 729a—b (den Kindern soll man Ehrfurcht statt Geld hinterlassen) und 728a (der Geldgierige „entehrt“ seine Seele).

869e5—873cl

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87Ob3—6 nur das dritte Gut nach der Tugend des Leibes und der Seele: Zur dreistufigen Güterhierarchie vgl. 697b2-6 mit der Anmerkung (Bd. I 482).

870b7—cl nicht danach streben darf, reich zu sein, wenn man glück­ lich sein will: Den Beweis hierfür hat der Athener bereits in 742e— 743cgefuhrt. 870c5— 7 Die zweite ist die Haltung einer ehrgeizigen Seele, welche in ihr Neidgefühle erzeugt usw.: Die Herleitung des Neides aus dem Ehr­ geiz und der Hinweis auf die Gefährdung der „Besten“ impliziert, daß der hier genannte Neid nicht (wie 679c) durch zu großen Reichtum ande­ rer ausgelöst wird, sondern durch den höheren Rang derer, die aufgrund ihrer Tüchtigkeit diese Stellung erlangt haben und deshalb offenbar in Gefahr sind, von ehrgeizigen Konkurrenten durch Mord beseitigt zu wer­ den (eine harmlosere, aber für den Staat schädliche Folge des Neides ist die Verleumdung: 731a).

870c8 die feigen und ungerechten Befürchtungen: Die Furcht vor der Aufdeckung einer Straftat (ein Beispiel 872c) ist feige, weil der Täter sich nicht der Bestrafung stellen will (zum Ausdruck vgl. 934a4 φόβοις δειλίας). Diese Befürchtungen sind zu trennen von der in 874e6 (und wohl auch in 863e7, 864b3) genannten Furcht, die Ursache unfreiwilli­ ger Vergehen ist (vgl. den Komm, zu 863e6—8).

870d5—e3 und dazu noch die Lehre usw.: Gemeint ist die „heilige Er­ zählung“ (ιερός λόγος), die im Mysterienkult weitergegeben wurde (Burkert 1991, 59-60). Die ihn erzählen, sind die im Mysterienkult täti­ gen Priester (in 872el-2 werden sie als παλαιοί ιερείς bezeichnet). Für die in diesem Logos verkündete Seelenwanderungslehre beruft sich So­ krates Men. 81a auf eine Lehre (λόγος), die er von Männern und Frauen gehört habe, „die in göttlichen Dingen weise sind“, von „Priestern und Priesterinnen, denen daran liegt, über das, was sie praktizieren, Rechen­ schaft geben (λόγον διδόναι) zu können“ (zum orphischen oder pytha­ goreischen Ursprung der Seelenwanderungslehre vgl. Burkert 1991, 74).

870e2—3 einer selber erleidet, was er getan hat (του παθόντος άπερ αύτος εδρασεν): Die Formel umschreibt das Prinzip der Talion (Nähe­ res hierzu zu 872e3-873a3). 870e5—871al das darauf folgende Gesetz nicht anzustimmen (ύμνεΐν): Zum Spiel mit der musikalischen Bedeutung von προοίμιον und νόμος vgl. den Komm, zu 700b5 und 722d3-el. 871a2—873cl: Das Gesetz. Das Gesetz behandelt zunächst die Tötung eines Bürgers durch einen

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Bürger, und zwar sowohl die eigenhändige Tötung (871a2-e8) wie auch die Anstiftung (έπιβούλευσις) zur Tötung (871e8-872a7). Die Tat zieht (wie in Athen) zweierlei Folgen nach sich: Als religiöse Vorsichtsmaß­ nahme wird dem Täter der sofortige Ausschluß von den Stätten des öf­ fentlichen Verkehrs angekündigt, um die Befleckung der Stadt durch den Täter zu verhindern. Als strafrechtliche Maßnahme wird von den Ver­ wandten des Opfers Klage bei den Gesetzeswächtem eingereicht, die den Schuldigen vor Gericht laden, der für sein Erscheinen vor Gericht drei Bürgen zu stellen hat (in 871d6-e2 wird ihm allerdings überraschend die Möglichkeit zugestanden, sich durch freiwilliges lebenslanges Exil dem Prozeß zu entziehen). Die Strafe bei einer Verurteilung besteht in der Hinrichtung und Verweigerung des Grabes innerhalb der Stadt (Ataphie). Bei Anstiftung zur Ermordung eines Bürgers entfallt die Stellung von Bürgen und die Ataphie. Diese Bestimmungen werden dann (mit der Verschärfung, daß Fremde und Sklaven auch bei bloßer Anstiftung Bürgen stellen müssen) auf fol­ gende Fälle übertragen: Tötung eines Fremden durch einen Fremden, Tö­ tung eines Bürgers durch einen Fremden und umgekehrt, Tötung eines Sklaven durch einen Sklaven (872a7-b4). Eine besonders grausame Art der Hinrichtung ist fiir den Sklaven vorgesehen, der einen Freien, also ei­ nen sozial Höherstehenden, eigenhändig oder durch Anstiften getötet hat (872b4-c2; vgl. die entsprechenden Strafverschärfungen in 868b5-c5, 869d5—7). Umgekehrt wird die Tötung eines Sklaven, durch die die Auf­ deckung einer Straftat verhindert werden soll, der Tötung eines Bürgers gleichgestellt, also mit dem Tod bestraft (872c2-6). Wegen seiner Verabscheuungswürdigkeit wird der Mord an Blutsver­ wandten (Eltern, Geschwister, Kindern) gesondert behandelt (872c7873c 1). Ein besonderes Proömium droht dem potentiellen Täter zunächst die Strafe der Götter an (872d4-873a4); das Gesetz des „sterblichen Ge­ setzgebers“ (873a7) sieht als besondere Verschärfung der Todesstrafe die symbolische Steinigung der Leiche und ihre Hinausschaffung über die Grenze (den sog. Hyperhorismos) vor (873a4-cl).

871a2 einen seiner Stammesgenossen (εμφυλίων): Das bei Platon nur noch Resp. 565e4 (gleichfalls mit Beziehung auf Mord) begegnende Wort charakterisiert das Opfer als Mitbürger des Täters.

871a3 sich ... von den gewohnten Plätzen fernhalten: Diese Aufforde­ rung ist sofort zu befolgen, noch ehe ein Verwandter des Getöteten dem Mörder in dem formellen Akt der πρόρρησις (871c2, 873b 1, 874a6) sei­ ne Ausschließung ankündigt (προαγορεύειν 871bl). Platon bedient sich der in Athen üblichen Formel προαγορεύων εϊργεσθαι των νομί­ μων (vgl. Antiphon, Or. 6,35; Aristoteles, Ath. pol. 57,2), in der aller-

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dings die Bedeutung von νομίμων unsicher ist. Rhodes 1981, 641 über­ setzt die Formel mit „to be excluded from the things specified in the laws“ (ähnlich MacDowell 1978, 111 „from the things laid down by law“, ders. 1963, 23 „from the legal things“), Lipsius 810 dagegen mit „sich der Ausübung seiner gesetzlichen Rechte enthalten“ (danach LSJ s. V. νόμιμον: „legal rights“); Gemet 143 hält das Wort für unübersetzbar, weil es „à la fois des choses et des actes traditionnels, des lieux et des moments religieux“ bezeichne. Die von Demosthenes, Or. 20,158 er­ wähnte Liste der Dinge, von denen sich Mörder femhalten mußten, um­ faßt Wasser zur kultischen Reinigung, Trankspenden, Mischkrüge, Hei­ ligtümer und den Marktplatz; durch diesen Ausschluß wurden dem Mör­ der praktisch alle politischen und religiösen Tätigkeiten unmöglich ge­ macht (vgl. Paoli 1976, 243-249). Da Platon im folgenden nur Orte nennt, drückt meine Übersetzung hier primär den räumlichen Aspekt der νόμιμα aus. In Athen gab es nach Gemet 144 und Piérart 1973 zwei Ankündigun­ gen des Ausschlusses: bei der Bestattung des Opfers kündigten (1) die Verwandten feierlich dem Mörder die Ausschließung an (vgl. Ps.-De­ mosthenes, Or. 47,69); sobald die Klage beim Basileus eingegangen war, erfolgte (2) durch einen Herold eine zweite Ankündigung, die den Beschuldigten seiner bürgerlichen Rechte beraubte. Diese zweite Ankün­ digung oblag ursprünglich gleichfalls den Verwandten des Opfers (2a), wurde aber später von dem Basileus (2b) vollzogen (vgl. Aristoteles, Ath. pol. 57,2); MacDowell 1963, 24-25 nimmt dagegen drei Ankündi­ gungen an, indem er 2a und 2b als voneinander unabhängige Akte an­ sieht. Auch Platon scheint in dem Gesetz 874a4-b4 zwei Ankündigungen zu fordern. Im vorliegenden Gesetz verlangt er jedoch nur eine einzige An­ kündigung durch die Verwandten (2a), weil er die Ankündigung am Grab (1) als religiösen Ritus übergeht (so Piérart 1974, 431) und die Ankündi­ gung durch den Basileus (2b) möglicherweise durch die vom Gesetz au­ tomatisch (d. h. unabhängig von einem formellen Ankündigungsakt) aus­ gesprochene Ankündigung ersetzt (so Saunders 1991a, 234 Anm. 79).

871bl—c3 Wer aber den Täter nicht gerichtlich verfolgt usw.: Die Pflicht zur Verfolgung des Mörders und zur Ankündigung (πρόρρησις c2) seiner Ausschließung erstreckt sich wie in Athen auf die ανεψιότης, d. h. die männlichen Verwandten des Opfers bis hin zu den Kindern der Vettern und Basen auf väterlicher und mütterlicher Seite (vgl. zu 924d5); das drakontische Gesetz IG I3 104,20-22 verpflichtet darüber hinaus auch die Schwiegersöhne und Schwiegerväter (in der Praxis wird der engste männliche Verwandte aktiv werden: MacDowell 1978, 111). Ge­

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gen den pflichtvergessenen Verwandten gestattet Platon „jedem, der den Toten rächen will“ Klage (vermutlich wegen Asebie wie 866b). Wenn dieser Rächer darüber hinaus anstelle des Verwandten die gesamte Ver­ folgung des Mörders übernimmt (b6—c2), bedeutet dies praktisch die Zu­ lassung einer Popularklage wegen Mordes; ob diese allerdings auch beim Fehlen männlicher Verwandter subsidiär eintreten soll (so Ruschenbusch 1999, 166), wird im Text nicht explizit gesagt. Inwieweit Platon mit sei­ ner Regelung vom attischen Recht abweicht oder davon angeregt ist, hängt davon ab, ob in Athen das Recht zur Verfolgung auf die Verwand­ ten beschränkt war oder nicht; diese Frage wird von den Rechtshistorikem kontrovers beantwortet (vgl. dazu Saunders 1991a, 234—235). 871b 3—5 die Befleckung und die Feindschaft der Götter aufsich selbst nehmen, da der Fluch (άρά) des Gesetzes den Götterspruch auf ihn lenkt (την φήμην προτρέπετοα): Die Verfluchung des nachlässigen Verwandten steht als eine sakrale Sanktion neben der gesetzlichen Strafe (vgl. zu. 842e6—843b6). Zum Fluch in Gesetzen und Urkunden vgl. Speyer 1969, 1207—1209 mit Verweis auf die Dirae Teiorum Syll. 37.38 Z. 39 f.; Triantaphyllopoulos 1985, 86. - Stallbaum paraphrasiert den Ne­ bensatz mit „legis dira imprecatio famam et opinionem vulgarem incitat atque adiuvat“ (ähnlich Saunders 1991a, 234 „rumor/report“). Aber der Kontext, der von religiösen Vorstellungen bestimmt ist (vgl. μιαίνων 871a5, μίασμα b3, των θεών εχθραν b4), legt für φήμη gleichfalls eine religiöse Konnotation nahe (vgl. auch Bertrand 1999, 254 ff.). Ich ergän­ ze daher των θεών sinngemäß auch zu φήμην (vgl. φήμας ... θεών Phaid. lllb7-8; διά θείας φήμης Nom. 664d4; ferner 738c6, 792d3 und die übrigen Belege bei Des Places [1964] s. v. φήμη Nr. 1 b). 871b7—cl Wer ihn aber rächen will, der soll zunächst alles erfüllen, was usw.: Das Reinigungsritual ist nötig, weil deijenige, der die Stadt von der Befleckung durch einen Mörder befreien („reinigen“) will, selber kultisch rein sein muß (eine andere Erklärung gibt England z. St.).

871c7—d4 welches das Verfahren ist, das usw.: Englands Tilgung des Artikels vor τρόπος (die Diès übernimmt) übersieht, daß dieser Artikel ebenso wie der vor θεοί anaphorische Funktion hat: wie οι θεοί auf θεοις τισιν (c 4-5) zurückweist, so greift ό τρόπος mit variierendem Rückverweis (vgl. dazu Bd. I zu 629d3) auf διά τινων έπευχών και θυσιών zurück (c4). - Der Gott (dl), mit dessen Hilfe die Ausleger die Formalien festlegen sollen, ist der delphische Apollon (vgl. auch 865b 1). - Daß der zuständige Kapitalgerichtshof (der 855cff. eingesetzt wurde) hier gerade als der für Tempelraub zuständige Gerichtshof bezeichnet wird, bringt zum Ausdruck, daß Mord nach 869b eine Art von Tempel­ raub ist.

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871d4—5 Wer aber schuldig gesprochen wird usw.: Mord wird wie in Athen mit dem Tod bestraft (zum Exil s. die folgende Anmerkung); die in Athen (auch bei freiwilligem Exil) übliche Konfiszierung des Vermö­ gens des Mörders lehnt Platon allerdings ab (855a). Dafür fügt er zur To­ desstrafe noch die Strafe der Ataphie hinzu, die das attische Recht nur fiir die wegen Tempelraubs oder Verrats Hingerichteten vorsah (vgl. den Komm, zu 855a2). — um neben der Vermeidung eines religiösen Frevels auch die Verweigerung der Verzeihung (άνοαδείας ενεκα) sichtbar zu machen: Der religiöse Frevel wäre die Bestattung in der Heimaterde. In der Übersetzung von άνοαδείας folge ich der Interpretation von Eng­ land. Die Verzeihung (αϊδεσις) wird dem Mörder also durch die Polis verweigert (ein Recht der Verwandten auf Gewährung bzw. Verweige­ rung von Verzeihung bei vorsätzlicher Tötung erwähnt Platon nicht; zum attischen Recht vgl. die Anm. zu 866a2—5). Bury übersetzt dagegen „be­ cause of the shamelessness as well as impiety of his act“ (so sinngemäß auch Post 1958, 288, Rufener, Gemet 149). 871d6—e2 Ergreift er aber die Flucht: Während in Magnesia der Be­ schuldigte noch vor dem Prozeß das Land verlassen muß, konnte in Athen der Angeklagte noch während des Gerichtsprozesses nach der er­ sten der von ihm zu haltenden zwei Reden die Stadt verlassen (nach Pol­ lux 8,117 war diese Möglichkeit aber Elternmördern verwehrt; Zweifel an der Glaubwürdigkeit dieser Notiz bei MacDowell 1963, 114; fiir Glaubwürdigkeit Garner 1987, 103). Die gesetzlich zulässige Flucht ist eine „Nachwirkung“ des drakontischen Gesetzes, wonach die Flucht ins Ausland den Mörder ursprünglich vor dem Racheanspruch (δίκη) der Verwandten schützen sollte. Erst Solon hat die Todesstrafe als staatlich zu vollziehende Strafe fiir absichtliche Tötung eingeführt und das Recht zur Blutrache sowie das Abpressen von Wergeid beseitigt (Thür 2003a, 223). Die Zulassung der Flucht durch Platon erscheint neben der Todes­ strafe (die auf Unheilbarkeit hindeutet) als inkonsequente Abmilderung; doch ist zu bedenken, daß lebenslanges Exil in der Antike eine äußerst harte Strafe darstellt, da der Exilierte im Ausland ohne politische Rechte und (wegen Trennung von den Göttern der Vaterstadt) ohne die Möglich­ keit zur Religionsausübung dasteht, so daß er praktisch sozial tot ist. Daß er im Falle seiner Rückkehr straflos getötet werden kann (was sich totaler Atimie annähert; vgl. zu 855a7—c6), entspricht dem attischen Recht, in welchem eine solche Tötung als gerechtfertigt galt (vgl. Demosthenes, Or. 23,28). Die als Alternative zur Tötung zulässige Übergabe an die Be­ amten (wohl die Gesetzeswächter) lehnt sich an die im attischen Recht ebenfalls alternativ erlaubte Apagoge an, durch die der zurückgekehrte Mörder vor die Thesmotheten geführt werden konnte, die ihn zum Tod

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verurteilen konnten (Demosthenes, Or. 23,28. 31; dazu MacDowell 1963, 121 f.; 131 f.). 871d7 einer von diesen: Der Übersetzung liegt das von Comarius für που των konjizierte τούτων zugrunde, wodurch die Bedeutung des un­ bestimmten τις auf einen der außer Landes Geflohenen eingeschränkt wird (Wilamowitz 1920, II404 tilgt των). 871e2—e8 Wer aber die Klage vorbringt usw.: Der Passus knüpft an 871d5 an und setzt die generellen Bestimmungen fort. Die zu stellenden Bürgen müssen (wie in Athen) eine vereinbarte Geldsumme zahlen, falls der Beschuldigte nicht vor Gericht erscheint („Gestellungsbürgschaft“ Partsch 1909, 372 f.). Allerdings mußte in Athen ein Bürger (im Unter­ schied zu dem in jedem Fall zur Stellung verpflichteten Fremden) nur im Falle der Epagoge, Ephegesis und Endeixis (sowie ggf. der Eisangelia) zur Abwehr der sofortigen Verhaftung Bürgen stellen (Chase 1933, 175, Lipsius 317. 812). Platon verpflichtet auch die Bürger zur Stellung von Bürgen (außer bei Anklage auf Anstiftung zur Tötung 872a4-5), wo­ durch die Möglichkeit, der Verurteilung durch Flucht zu entgehen (871d6—7), erschwert wird; denn die Stellung von Bürgen ist nur zu um­ gehen, wenn der Betreffende die Stadt noch vor der mit der Klage ver­ bundenen Aufforderung zur Stellung von Bürgen verläßt, so daß ihm nicht viel Zeit bleibt, um seine Flucht vorzubereiten. 871e8—872a7 Wenn aber jemand, der zwar nicht eigenhändig getötet, aber den Tod eines anderen geplant hat (βουλεύσγι) und durch sein Wol­ len (βονλήσει) und sein Anstiften (έπιβουλεύσει) schuld an dessen Tod (...) ist: Obwohl der seelische Zustand des Anstifters zu einem Mord sich hinsichtlich der Ungerechtigkeit nicht von dem des eigenhändigen Täters (αύτόχειρ) unterscheidet, entfallt bei seiner Bestrafung die Stellung der Bürgschaft und die Ataphie, weil die Hände des Anstifters (nicht aber seine Seele: 872a3) nicht mit Mordblut befleckt sind (zum Nebeneinan­ der einer materiell-magischen und einer—jüngeren — geistig-moralischen Konzeption von Befleckung vgl. Reverdin 1945, 186). Anstiftung (βούλευσις) zur Tötung wurde in Athen von den Epheten beim Palladion verhandelt (Aristoteles, Ath. pol. 57,3). Während das Verbum βουλέυειν in dieser Bedeutung schon bei Andokides Or. 1,94 belegt ist, taucht das Substantiv βούλευσις erst bei Aristoteles auf; dies könnte der Grund sein, warum Platon nach dem Verbum βουλεύση (872al) das Substantiv έπιβούλευσις verwendet (so Gagarin 1990, 87). Im attischen Recht kann βούλευσις und βουλέυειν sowohl (1) die wohlüberlegte Planung einer vom Planenden selbst ausgeführten Tötung bezeichnen als auch (2) die Anstiftung eines Dritten zu einer vorsätzli­ chen Tötung oder zu einer den Tod verursachenden Handlung, d.h. zu

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unvorsätzlicher Tötung (Lipsius 612; MacDowell 1963, 60; Karabélias 1991, 92—93 und 93 Anm. 86; Koerner 1993, 35). Wo das Substantiv wie hier als Gegenbegriff zur eigenhändigen Tötung gebraucht ist, muß da­ mit die Anstiftung gemeint sein (hier zu einer vorsätzlichen Tötung); die Anstiftung zu einer unbeabsichtigten Tötung hat Platon möglicherweise in 865b7-cl mit berücksichtigt (s. dort); für die bloße Planung gebraucht er in 869e6—7 das Substantiv επιβουλή. In Athen wurde Anstiftung zur vorsätzlichen Tötung ebenso wie die eigenhändige Tötung mit dem Tod und Anstiftung zur unbeabsichtigten Tötung mit Verbannung bestraft (vgl. dazu MacDowell 1963, 125 f.).

872al jemand ... den Tod eines anderen: Das überlieferte άλλος έτέρω wird durch die in 933e6 von A3O3 überlieferte Lesart δσα τις αν ετερος άλλον gegen Englands Konjektur geschützt, άλλος steht entwe­ der pleonastisch in Korrelation zu έτέρω wie dort ετερος zu άλλον; oder es ist wie 868c2 als Abgrenzung zum Vorausgehenden zu verstehen (τις άλλος = „jemand, um einen andern Fall zu nennen“). 872a7—b4 für Vergehen von Fremden gegen Fremde usw.: Die Dative ξένοισι, άστοΐσι, δούλοις bezeichnen nicht die eine Klage einreichen­ den Personen (so Saunders 1991a, 238), sondern wie 878e5, 879b3 und 882c2 die jeweiligen Täter. Im Falle der Tötung eines Sklaven durch ei­ nen Sklaven dürfte zur Strafverfolgung der Herr des Getöteten verpflich­ tet sein (vgl. 868a6—b5). — In der Interpretation der Angabe „mit Ausnah­ me der Stellung von Bürgen“ (πλήν τής έγγύης a5 und b2) folge ich der Analyse von Saunders 1972, Nr. 89 S. 87-90; „auch diese“ (και τούτους b4) sind Fremde und Sklaven. — In Athen wurde die Tötung von Sklaven, Metöken und Fremden (auch die vorsätzliche) beim Palladion verhandelt (Aristoteles, Ath. pol. 57,3); die Strafe war wahrscheinlich Exil (Lipsius 605). Platon gewährt dagegen dem Leben aller Freien (Bürger, Fremde, Metöken) und sogar der Sklaven den gleichen gesetzlichen Schutz (To­ desstrafe für deren Mörder). 872b4—c2 Wenn aber ein Sklave einen Freien willentlich tötet: Der Sklave, der einen Freien tötet, wird wegen der Mißachtung der sozialen Ordnung härter bestraft als der Sklave, der einen Sklaven tötet. Die For­ mulierung δφλη την δίκην deutet an, daß Platon eine gerichtliche Abur­ teilung des Sklaven vorschwebt. Bei seiner Hinrichtung wirken der staat­ liche Henker und der die Interessen der Familie des Toten vertretende Ankläger zusammen. Die Art der Hinrichtung entspringt der Vorstellung, daß der Tod des Mörders eine Genugtuung für das Opfer ist, welches im Grab anwesend ist und sich an der Exekution freut (vgl. Glotz 1904, 308 f. mit außerplatonischen Belegen für die Anwesenheit von Verwand­ ten des Opfers bei der Hinrichtung). — Auch in Athen büßte ein Sklave

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die Ermordung eines Freien mit dem Tod; von einer besonderen Ausge­ staltung der Hinrichtung ist nichts bekannt (vgl. Saunders 1991a, 239; 1991b, 125); ob er Anspruch auf einen regulären Prozeß hatte, ist jedoch strittig (vgl. oben zu 868b5-c5). 872c2—6 Wenn aber jemand einen Sklaven tötet usw.: In Athen stand auf der Tötung eines Sklaven wahrscheinlich eine Geldstrafe oder auch Atimie oder Exil; vgl. MacDowell 1963, 126-127. Platon behandelt hier nur den speziellen Fall, daß der Täter durch die Tötung verhindern will, daß der Sklave eine Straftat verraten könnte (ein Beispiel fiir die 870c8 als Mordmotiv genannte „feige und ungerechte Furcht“). Entsprechend der moralischen Straftheorie trifft einen solchen Täter wie den Mörder ei­ nes Bürgers die Todesstrafe - in der Antike eine außerordentliche Strafe fiir die Tötung eines Sklaven. Die Verfolgung des Täters obliegt im Prin­ zip dem Herrn des Sklaven. Wie aber, wenn der Herr des Sklaven zu­ gleich dessen Mörder ist? Daß der Herr in diesem Fall ungestraft davon kommt (was nach MacDowell 1963, 21 und Bertrand 1999, 339 Anm. 68 in Athen meistens der Fall war, da der Sklave keine Verwandten hatte), kann nicht nach Platons Sinn sein. Bertrand 342 vermutet, daß in diesem Fall ein Beamter, vielleicht auf die Anzeige eines Mitsklaven hin, initia­ tiv werden soll. Platons Intention dürfte jedenfalls eher die sein, den Bür­ gern das Vertuschen von Straftaten zu erschweren, als die, dem Sklaven besonderen Rechtsschutz zu gewähren. Denn im Normalfall zieht die Tö­ tung eines Sklaven durch einen Freien vermutlich wie in Athen eine Stra­ fe unterhalb der Todesstrafe nach sich (dies ist aus der Nichterwähnung dieses Falles in 872a7-b2 zu folgern). 872c7—873cl Wenn nun aber Taten geschehen, für die auch nur Geset­ ze zu geben schrecklich und keineswegs angenehm ist usw.: Mord an Blutsverwandten gilt nicht nur in Magnesia als das abscheulichste Ver­ brechen (Parker 1983, 123 mit Verweis auf Aischylos, Sieben 681 f.; Eu­ ripides, Medea 1268-70, Herakles 1074—76). Hier gibt es keine Abstu­ fung zwischen eigenhändiger Tötung und Anstiftung. Wie bei der zornbedingten Tötung der Eltern (869a-c) schickt Platon dem vom „sterbli­ chen Gesetzgeber“ erlassenen Gesetz (873a4—cl) ein Proömium voraus (872d4-873a3), das zur Abschreckung die Strafe der Götter fiir Ver­ wandtenmord schildert. Sie besteht nach dem Gesetz der Talion in einer exakten Entsprechung zwischen der Mordtat und dem Geschick des Tä­ ters: der Muttermörder wird als Frau wiedergeboren und vom eigenen Sohn getötet (hinzu kommt, obwohl hier nicht erwähnt, die Bestrafung im Hades, die nach 870d7 alle Mörder erwartet). Die irdische Strafe, die weder durch Lossprechung seitens des Opfers noch durch Verzeihung seitens der Verwandten abgewendet werden kann, besteht in der Todes-

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strafe und symbolischer Ausstoßung der Leiche (873b4—cl). In Athen dagegen ist von einer besonderen Ausgestaltung der Strafe für Verwand­ tenmord nichts bekannt. 872el aus dem Mund von Priestern der Vorzeit: vgl. zu 870d5—e3.

872e2 das Verwandtenblut (των συγγενών αιμάτων): Zum Aus­ druck vgl. Euripides, Hiket. 148 sowie Fr. 558,2 Nauck = TrGF V F 558,2); ähnlich τούμφυλον bzw. εμφύλιον αιμα Sophokles, Oid. Kol. 407; Pindar, Pyth. 2,32. Der Plural steht wegen der unterschiedlichen Grade der Blutsverwandtschaft (Bers 1984, 56). 872e3—873a3 daß die wachsame Dike als Rächerin des verwandten Blutes nach dem eben erwähnten Gesetz verfährt usw. : Das Gesetz, nach dem die Dike (großzuschreiben wie 716a2) verfährt, ist die bereits 870e erwähnte Talion (vgl. dazu Hirzel 1907/10). Aristoteles, der das Prinzip der Wiedervergeltung (άντιπεπονθός) mit dem Hesiodvers Fr. 286,2 Merkelbach-West beschreibt, fuhrt das Prinzip auf die Pythagoreer zu­ rück und identifiziert es mit dem „Recht des Rhadamanthys“ (Nik. Eth. 5,8. 1132b21f£); Triantaphyllopoulos 1985, 107 Anm. 99 sieht seinen Ursprung in der Orphik. Platons Formulierung δράσαντι τι τοιούτον παθεΐν ταύτά... άπερ εδρασεν (ähnlich 870e2—3) expliziert die knap­ pen Formeln bei Aischylos, Agam. 1527 und vor allem Choeph. 313 (δράσαντι πάθειν); zur Formel φόνον φόνω όμοίω δμοιον ... τείση (al-3) vgl. Sophokles, Oid. Tyr. lOOf. φόνω φόνον πάλιν λύοντας. Die „Reinigung“ (κάθαρσιν e 10) meint hier nicht eine kultische Reini­ gung, sondern die Hinrichtung, insofern sie die Gemeinschaft von dem Urheber der Befleckung befreit (ebenso 870c3 καθαίρεσθαι). 872e6 und wenn er die Mutter getötet hat: Ich übernehme wie Diès das von England konjizierte καν κτάνη (auch Denniston 1954, 302 bezwei­ felt das überlieferte καν εί). 872e7 als Angehöriger des weiblichen Geschlechts wiedergeboren: Geschlechtswechsel bei der Reinkarnation kann Folge freier Lebenswähl (Resp. 620b—c) oder eine Strafe sein (Nom. 944e; Tim. 90e). 873bl Die Ankündigungen des Ausschluß von den öffentlichen Plätzen (προρρήσεις ... τάς περί των νομίμων εΐργεσθαι): Statt mit Stall­ baum und England Ausfall bzw. Auslassung eines τού hinter περί anzu­ nehmen, fasse ich εΐργεσθαι als epexegetischen Infinitiv (wörtlich: „die Ankündigung bezüglich der öffentlichen Plätze, nämlich sich von diesen femzuhalten“); vgl. die Beispiele bei Kühner - Gerth II 576 f.

873b4—cl ihn nackt auf eine dazu bestimmte Weggabelung außerhalb der Stadt hinwerfen usw.: Nach Pollux 5,163 und Photios, Lex. ed. Na-

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Kommentar

ber s. V. οξυθύμια wurden an Weggabelungen die Reste der häuslichen Reinigungsopfer und der bei der Reinigung entstandene Kehricht hinge­ worfen (vgl. Hopfner 1939). Die rituelle Steinigung der Leiche durch sämtliche Beamten als Repräsentanten der Stadt symbolisiert die Aussto­ ßung des Täters aus der Gemeinschaft, gleichgültig ob man die reale Steinigung als rituellen Sühneakt (so Hirzel 1909) auffaßt oder als eine auch bei Tieren nachweisbare Form der Affektentladung (so Fehling 1974, 59-82; zur vorliegenden Stelle 64 Anm. 264; 67 Anm. 288). Die Entfernung der Leiche aus dem Land (der sog. Hyperhorismos) beruht auf einem materiellen Verständnis der Befleckung, die als am Objekt haf­ tend gedacht ist, das deshalb entfernt werden muß (Reverdin 1945, 185 vergleicht damit den bei den Buphonia üblichen rituellen Brauch, die Axt ins Meer zu werfen, mit der der Ochse geopfert worden ist). - Das attische Strafgesetz kannte keine Steinigung; sie wurde aber praktiziert, und zwar vor allem bei Delikten gegen die Gemeinschaft und die Reli­ gion; so hätten die Athener beinahe den Abgesandten des Xerxes gestei­ nigt (Lykurg, Leokr. 71); die Argiver wollten den Thrasylos wegen der Verhandlungen mit Sparta steinigen (Thukydides 5,60,6); vgl. Gras 1984, 81 zur vorliegenden Stelle.

8) 873c2—874dl: Sonderfdlle 873c2—d8: Selbsttötung Während Sokrates Phaid. 62b-c die Selbsttötung mit der religiösen Begründung verworfen hatte, daß der Selbstmörder ein Stück aus der von den Göttern gehüteten Menschenherde töte, bedient sich der Athener hier einer „juristischen“ Argumentation: Wie der Mörder die Seele des Opfers ihres Leibes beraubt (869b3-4, 873a6-7), so beraubt der Selbst­ mörder die eigene Seele, die ihm am nächsten steht (οίκειότατον c2 wie 726a3), und begeht damit ein Unrecht gegen sich selbst. Nur in drei Fäl­ len ist der Selbstmörder vom Vorwurf der Unmännlichkeit und Feigheit freizusprechen: (1) wenn die Selbsttötung gerichtlich angeordnet ist, (2) wenn den Betreffenden eine schmerzhafte Krankheit zu seiner Tat zwingt (άναγκασθείς) oder (3) wenn er einer unerträglichen Schande entgehen will (c4-7). Der zweite Fall entspricht offenbar der „von Gott gesandten Zwangslage“ (ανάγκη), in welcher Sokrates Phaid. 62c7 eine Selbsttö­ tung fiir zulässig erachtet. Nicht explizit berücksichtigt hat Platon hier den nach 854c eine Selbsttötung rechtfertigenden unheilbaren Drang zu einem schweren Verbrechen (Tempelraub), es sei denn, man ordnet ihn in die dritte oder (wenn man den Drang als seelische Krankheit faßt) in die zweite Rubrik ein. Thiel (2001) sieht das Kriterium fiir die Zulassung

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der Selbsttötung in den genannten Fällen in der Unmöglichkeit einer an­ gemessenen Betätigung der Seele in ihrem Körper. Als Reaktion auf eine Selbsttötung fordert der Athener eine kultische Reinigung nach Anweisung des (delphischen) Gottes und eine symboli­ sche Ausstoßung aus der Gemeinschaft der übrigen Toten, beides Maß­ nahmen, mit denen der vom Selbstmörder ausgehenden Befleckung be­ gegnet wird. Wenn Sokrates im Phaidon (a. a. O.) andeutet, daß die Gott­ heit selbst den Selbstmörder bestraft, so dürfte diese Bestrafung im Ha­ des stattfinden (vgl. 870d—e) und wird wohl auch hier für den Selbstmörder als zusätzliche Strafe anzunehmen sein. Ein gesetzliches Verbot der Selbsttötung gab es in Athen nicht (zu er­ schließen aus Aristoteles, Nik. Eth. 5,15. 1138a7). Die Bewertung der Selbsttötung im populären Empfinden der klassischen Zeit ist ambiva­ lent; die Selbsttötung von Gestalten des Mythos wird meist positiv be­ wertet als ein heroischer Akt zur Wahrung der persönlichen Würde (vgl. Dover 1974, 168 f.; zum attischen Drama Goetz 1920, 57-61). In jedem Fall zog im altgriechischen Recht eine Selbsttötung im Nor­ malfall religiöse Maßnahmen zur Abwehr des mit der Befleckung ver­ bundenen Übels nach sich. Nach Aischines, Or. 3,244 wurde in Athen Selbstmördern die Hand, die die Tötung vollzogen hatte, abgehauen und gesondert begraben. Beim Suizid durch Erhängen wurden in Kos der Ast und der Strick zerstört oder aus dem Lande geschafft (LSCG 154 B 3336, 3. Jh.), in Athen wurden die Kleider des Toten und die Schlinge in das Barathron geworfen (Plutarch, Them. 22,2). Ob das Grab eines Selbstmörders von anderen Gräbern entfernt angelegt wurde, entzieht sich der genauen Kenntnis. Wenn aber Aristoteles behauptet, daß die Stadt einen Selbstmörder, weil er die Stadt geschädigt hat, mit Atimie be­ straft (Nik. Eth. 5,15. 1138bl2; ein Beleg hierfür in Fr. 502 Rose = 507,1 Gigon), so kann diese Atimie nur in der Verweigerung der übli­ chen Totenehren bestehen; so blieben z.B. in Zypern die Selbstmörder unbestattet (Dion v. Prusa, Or. 64,3). Wie Platon betrachtet auch Aristoteles den Selbstmord als einen Akt der Feigheit (Nik. Eth. 3,11. 1116al2ff.), vertritt aber - vielleicht gegen Platon - die Ansicht, daß der Selbstmörder nicht gegen sich selbst Un­ recht tue (was nicht möglich sei), sondern gegen die Stadt (Nik. Eth. 5,15. 1138a5—14). Zur Haltung der antiken Philosophen gegenüber der Selbsttötung vgl. Laurenti 1986; van Hooff 1990; weitere Literatur bei Thiel 2001 (36 zur vorliegenden Stelle). - Zum Selbstmord in Religion und Recht vgl. Hirzel 1908; Goetz 1920, 55-61; Thalheim 1921; Chadwick 1978, 1051 f.; Schiemann 2001.

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873c2 ihm, wie man sagt, am liebsten ist: Vgl. 73le 1—3.

873c 4—5 ohne daß es die Stadt durch ein Gerichtsurteil angeordnet hat: Diese Formulierung bezieht sich auf das gerichtlich angeordnete Trinken des Schierlingsbechers als Vollstreckung des Todesurteils und nicht auf den Fall, daß der Selbstmörder durch freiwilliges Trinken von Schierling einem rechtmäßigen Todesurteil zuvorkommen will (so aber Dirlmeier 1956, 341). 873c7 aus ... unmännlicher Feigheit: Zu ανανδρίας vgl. den analo­ gen Genitiv δειλίας 934a4; es handelt sich entweder um einen Gen. defi­ nitivus (England) oder um einen Gen. originis (Stallbaum). 873el-874a3: Tötung durch Tiere oder Sachen Das Gesetz behandelt (1) tödliche Unfälle mit Haustieren, bei denen das Verhalten des Tieres und nicht das seines Halters oder Lenkers kausal fur den Tod ist (denn dann wäre der Halter strafrechtlich verantwortlich; vgl. 936e) und (2) Tötung durch einen leblosen Gegenstand. Nicht unter diese Rubriken fallt die Tötung durch Tiere beim Wettkampf (vgl. 865ab) bzw. durch den Blitz „oder ein ähnliches von dem Gott kommendes Geschoß“ (873e7-8), womit wohl der sog. sog. Blitz- oder Donnerstein (λίθος κεραύνιος) gemeint ist, der nach antiker (wohl durch niederge­ hende Meteoriten hervorgerufener) Überzeugung mit dem Blitz vom Himmel fallt (vgl. Speyer 1978, 1131-2). Für diesen Fall gilt, „daß, was als Einwirkung Gottes erscheint, auch jede andere Zurechnung aufhebt“ (Maschke 1926, 64 mit Hinweis auf die spätere Bezeichnung des göttli­ chen Eingreifens als θεού βία bzw. vis maior, ders. 63-69 zur Bedeu­ tung dieser Fälle für die Entwicklung des juristischen Kausalitätsbe­ griffs). In beiden Fällen verpflichtet Platon die Verwandten des Toten zur ge­ richtlichen Verfolgung; denn solange das schuldige Tier oder der schuldi­ ge Gegenstand nicht außer Landes geschafft ist, haftet die Befleckung an der Familie des Getöteten (vgl. 866b) und findet die Seele des Getöteten keine Ruhe. In Athen bilden die Tötung durch ein Tier (873el—6) und die Tötung durch einen leblosen Gegenstand (e6—874a3) zusammen mit der im fol­ genden Abschnitt behandelten Tötung durch Unbekannt (874a4-b5) eine Gruppe von drei Tötungen, die vom Basileus zusammen mit den vier Phylobasileis im Prytaneion verhandelt wurden (Aristoteles, Ath. pol. 57,4, Demosthenes, Or. 23,76; MacDowell 1963, 85—89). Wie bei einem Schuldspruch mit dem schuldigen Tier verfahren wurde, entzieht sich al­ lerdings unserer Kenntnis (Düll 1941, 7-10 überträgt Platons Regelung einfach auf Athen). Im deutschen Recht haftete der Halter des Tieres, der

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sich von dieser Haftung aber befreien konnte, indem er das Tier an die Verwandten des Getöteten auslieferte, die an ihm private Rache nahmen; aus solchen Privatstrafen entwickeln sich gelegentlich öffentliche Strafen gegen Tiere (vgl. Brunner 1928, 729 f.). Bestrafung von Sachen ist in der Antike nichts Ungewöhnliches: In Attika wurde der schuldig befundene Gegenstand über die Grenze ge­ schafft (Scholion zu Demosthenes, Or. 23,76 [Sakkelion 139]; Aischi­ nes, Or. 3,244; Pollux 8,120). Pausanias erwähnt 5,27,10 und 6,11,6 die Bestrafung von Statuen, die den Tod eines Menschen verursacht haben, und führt ein Gesetz Drakons an, wonach leblose Gegenstände, die auf jemanden fallen und ihn töten, verbannt werden sollten. Gemet 164-167 verweist auf das Ritual bei den Buphonia, in welchem in einer Gerichts­ verhandlung im Prytaneion die Schuld an der Tötung des Ochsen auf die Axt oder das Messer geschoben und der Gegenstand ins Meer geworfen wird (vgl. dazu Barta 2010, I 239 f.). - Das Schleswiger Stadtrecht (13. Jh.) befreit den Eigentümer eines Balkens, der jemanden erschlug, von der Haftung, wenn er den Balken den Verwandten des Toten - ur­ sprünglich wohl zur privaten Rache - überläßt (vgl. His 1928, 20). Literatur zum Tierprozeß: Modrzejewski 1993, Kap. I (bes. 90-91 z. St.); E. P. Evans, The criminal prosecution and capital punishment of animals, London 1987 (zuerst 1906); H. A. Berkenhoff, Tierstrafe, Tierbannung und rechtsrituelle Tiertötung im Mittelalter, Diss. Bonn, Bühl 1937; P. Dinzelbacher, Animal trials: a multidisciplinary approach, Jour­ nal of Interdisciplinary History 32, 2002, 205-^4-21; ders., Das fremde Mittelalter. Gottesurteil und Tierprozess, Essen 2006. Zu Prozessen ge­ gen Sachen vgl. Thalheim 1895; Düll 1941; Katz 1993 (176f. zur vorlie­ genden Stelle).

874a4—b5: Tötung durch Unbekannt Die Formalie der Ankündigung der Ausschließung ist auch dann ein­ zuhalten, wenn der Urheber einer Tötung unbekannt ist; in diesem Fall wendet sich die Ankündigung an den „Täter“ (δράσαντι a7) bzw. „den, der den und den getötet hat“ (τω κτείναντι bl). Dies entspricht attischer Praxis und Terminologie (vgl. Aristoteles, Ath. pol. 57,4). Der vorliegende Passus erweckt den Eindruck, daß Platon in diesem Fall zwei Ankündigungen vorschreibt (vgl. zu 871a3): eine sogleich nach der Entdeckung des Mordes, die zweite nach Einreichung der Klage (dies ist m. E. der Sinn von έπιδικασάμενον; vgl. LSJ s. v.). Die zweite erfolgt, wie das Verb κηρυξαι nahelegt, durch einen Herold. Da Platon keine näheren Angaben über die Identität des Ankündigenden macht, muß man mit Piérart 1974, 432 annehmen, daß beide Ankündigungen vom nächsten Verwandten des Toten zu vollziehen sind (in Athen ist es

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dagegen der Basileus, der durch einen Herold die Ausschließung verkün­ det; vgl. das Patmos-Scholion zu Demosthenes, Or. 23,76). 874b5 rechtskräftig: Ich folge dem Text von Diès, der κυρίως (A3 Ο3) druckt.

874b6—dl : Tötung ohne strafrechtliche Folgen Die hier aufgezählten Fälle wurden in Athen von den Epheten beim Delphinion verhandelt; die hierfür von den attischen Rednern gebrauchte Bezeichnung φόνος δίκαιος („gerechtfertigte Tötung“) war allerdings kein juristischer Terminus. Auch Platon vermeidet diese Bezeichnung und spricht statt dessen von „strafloser“ (νηποινί) Tötung (c3) wie auch das Gesetz bei Demosthenes, Or. 23,60 (vgl. dazu Velissaropoulos-Karakostas 1991 und Carawan 1991b). Straffreiheit fordert Platon für die Tö­ tung (1) eines nächtlichen Diebes, (2) eines Räubers, (3) des Vergewalti­ gers einer freien Person (Frau oder Knabe) oder der Ehefrau und (4) für die Tötung eines Angreifers bei einem lebensbedrohenden Angriff auf Eltern, Kinder oder Geschwister (dazu Saunders 1991a, 243-248). Nach Platons Entwurf soll der Täter in diesen Fällen „nach dem Ge­ setz“ (c6) rein (καθαρός) sein, wie dies auch das attische Recht vorsieht (Demosthenes, Or. 20,158; vgl. 9,44). Die Frage, ob er sich daneben noch einer kultischen Reinigung zu unterziehen hat, wird für das attische Recht verschieden beantwortet (bejaht z.B. von Lipsius 618, Goetz 1920, 100f.; verneint z.B. von MacDowell 1963, 129, der es aber für möglich hält, daß aus religiösen Skrupeln gelegentlich doch eine Reini­ gung vorgenommen wurde). Da Platon bei den straflos bleibenden un­ vorsätzlichen Tötungen jeweils explizit eine Reinigung fordert (vgl. 865a-d), ist anzunehmen, daß da, wo er dies nicht tut, keine Reinigung erforderlich ist (zumal er in b7 den Täter ausdrücklich als „rein“ dekla­ riert). Damit läge ein ähnlicher Fall vor wie in dem Gesetz 865a—b, wo­ nach der Arzt, dessen Patient stirbt, nach dem Gesetz als rein gilt, wäh­ rend bei der versehentlichen Tötung im Wettkampf der Täter erst nach ei­ ner Reinigung rein ist. Neben den von Platon hier aufgelisteten Tötungen wurden in Athen im Delphinion noch weitere Fälle straffreier Tötung verhandelt, die Platon an anderer Stelle in seinem Strafgesetz berücksichtigt hat (vgl. die Über­ sicht bei MacDowell 1963, 70-81). Es sind dies die Tötung des Gegners im Wettkampf, die versehentliche Tötung eines Mitbürgers im Krieg, der Tod eines Patienten während der ärztlichen Behandlung (von Platon 865a-b als unbeabsichtigte Tötungen behandelt) und die Tötung eines wegen Totschlags Verbannten, der sich widerrechtlich auf athenischem Gebiet befindet (bereits 866c-d und 868a behandelt), sowie die Tötung

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dessen, der eine Tyrannis errichten oder die Demokratie stürzen will (Aristoteles, Ath. pol. 16,10; Andokides, Or. 1,96).

874b8 einen Dieb, der nachts mit der Absicht zu stehlen in sein Haus eindringt: Das attische Recht erlaubte, einen nächtlichen Dieb zu töten oder ihn zu den Elfinännem zur Hinrichtung abzu führen; ebenso durfte ein Dieb, der mit Gewalt etwas fortschafft, in Notwehr (αμυνόμενος) getötet werden (Demosthenes, Or. 24,113 bzw. 23,60, wonach IG I3 104,37—38 zu ergänzen ist). Platon hat gegenüber dem attischen Gesetz die Angabe „in sein Haus“ hinzugefugt, vielleicht weil er dies als ein Merkmal des typischen Falls ansah oder weil er die Bestimmung des atti­ schen Gesetzes bewußt enger fassen wollte (Saunders 1991a, 245). Wei­ ter geht Demokrit (Vors. 68 B 260), der für die Tötung eines Straßen­ oder Seeräubers ohne Einschränkung Straffreiheit fordert (vgl. Paneris 1983). Auch das römische Zwölftafelgesetz (8,12) gestattet die Tötung des nächtlichen Diebes, ebenso das mosaische Gesetz (Exodus 22,2) und das germanische Recht (Wilda 1842, 890; Brunner 1928, 631; Siems 1980,332). 874cl einen Räuber in Notwehr tötet: Das Substantiv λωποδύτης be­ zeichnet einen „Kleiderdieb“, der jemanden überfallt, um ihm unter An­ wendung von Gewalt sein Gewand (und wohl auch am Körper getragene Wertsachen) zu rauben (vgl. Lysias, Or. 10,10). Wegen der Schwere des Delikts wurde der Kleiderdieb in Athen unter die κακούργοι gerechnet (Aristoteles, Ath. pol. 52,1); zulässig war (neben der Apagoge zu den Elfinännem) Tötung in Notwehr (Cohen 1983, 80 ff.).

874c2—6 Und wenn einer eine freie Frau ... vergewaltigt usw.: Nach dem Status des Opfers der sexuellen Gewalt unterscheidet Platon zwi­ schen der Vergewaltigung einer freien (unverheirateten) Frau oder eines Knaben (c2-5) und der Vergewaltigung einer Ehefrau (c5-6). Im ersten Fall sind neben dem Opfer die nächsten männlichen Blutsverwandten, im zweiten Fall der Ehemann als Kyrios der Frau (vgl. zu 774e4-8) zur Tötung des in flagranti ertappten Täters befugt. Eine angemessene Beurteilung des platonischen Gesetzes erfordert ei­ nen Blick auf das attische Recht. Hierzu vgl. Cohen 1984; Cantarella 1991a; Foxhall 1991; MacDowell 1992, 346; Doblhofer 1994, 52-63; Todd 1993, 276-278; Cohn-Haft 1995, 3 Anm. 11; Schmitz 1997 (mit ausführlicher Diskussion der Forschungslage); Cantarella 2005,240-245. Das Gesetz Drakons über Tötungsdelikte bestimmte, daß jemand, der einen Mann getötet hatte, den er in flagranti beim Geschlechtsverkehr mit seiner Ehefrau oder Mutter oder Schwester oder Tochter oder einer zur Erzeugung legitimer Kinder gehaltenen Pallake (vgl. zu 841d3) er­ tappt hatte, das Land nicht verlassen mußte, also straflos blieb (Demo­

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sthenes, Or. 23,53); Aristoteles (Ath. pol. 57,3) faßt diese Bedingung für Straffreiheit in dem Ausdruck μοιχόν λαβών zusammen: „wenn er einen μοιχός ertappt hatte“. Das entsprechende Delikt der μοιχεία umfaßte nach der traditionellen (und wohl richtigen) Ansicht (z.B. Cantarella 1991a, Schmitz 124 ff.) sowohl außerehelichen Verkehr mit einer verhei­ rateten Frau als auch vorehelichen Verkehr mit einer unverheirateten Tochter und Schwester (Cohen und Todd beschränken dagegen den Ter­ minus μοιχεία auf den Ehebruch). Nach Lysias, Or. 1,27 war für die straflose Tötung des μοιχός erforderlich, daß er in dem Haus ertappt wurde, wo die Frau wohnte. In derselben Rede behauptet Lysias (30 ff.), daß das attische Recht den Ehebruch strenger (nämlich mit dem Tod) be­ strafe als die Vergewaltigung, die nur mit einer Geldbuße geahndet wur­ de (worüber sich auch Plutarch, Sol. 23,1-2 wundert). Eine Gruppe von Auslegern (z.B. Cantarella 2005, ähnlich Harris 2006, 283 ff.) unterstellt Lysias bewußte Irreführung der Richter, weil ei­ nerseits auch der Vergewaltiger mit dem Tod bestraft werden konnte, wenn nämlich statt der δίκη βίαιων (vielleicht auch βλάβης) eine öf­ fentliche Klage wegen Hybris gegen ihn eingereicht wurde, die oft zu ei­ nem Todesurteil führte, und weil andererseits die gegen den Ehebrecher bei den Thesmotheten einzureichende γραφή μοιχείας (vgl. Aristoteles, Ath. pol. 59,3) nicht zwangsläufig mit der Todesstrafe enden mußte. Auch das drakontische Gesetz unterscheide nicht zwischen beiden Delik­ ten, so daß der Kyrios auch den Vergewaltiger straflos töten konnte, so­ fern er den Vergewaltiger im Wohnhaus der Frau und in flagranti ertapp­ te; ein Einverständnis der Frau, durch das sich ein Ehebruch (also μοιχεία) von einer Vergewaltigung unterscheiden ließe, spielte nach Cantarella 2005, 240 hierbei keine Rolle, weil das Gesetz bei einer durch ihren Kyrios „beschützten“ Frau ein solches Einverständnis als erzwun­ gen werte. Andere Ausleger halten die Aussage des Lysias für korrekt. Schmitz kommt zu dem Schluß, daß Drakons Gesetz wegen der angenommenen Tatumstände (der Täter wird vom Kyrios der Frau in flagranti ertappt) primär auf den Tatbestand der μοιχεία (Ehebruch) zielte; die Tötung ei­ nes Vergewaltigers unter diesen Umständen stelle einen seltenen Grenz­ fall dar, den der Wortlaut Drakons allerdings nicht ausschließe (121 f.). Das für Vergewaltigung vom Gesetz vorgesehene Strafmaß sei in der Re­ gel niedriger gewesen als bei μοιχεία, weil eine γραφή ύβρεως bei Ver­ gewaltigung die Ausnahme gewesen sein dürfte und keine derartige An­ klage sicher belegt ist (123 f.). Vor diesem Hintergrund tritt die Problematik von Platons Gesetz her­ vor: Nach der Wortwahl (βιάζεσθαι, ύβρίζειν βία) handelt es von Ver­ gewaltigung und nicht wie das drakontische Gesetz von μοιχεία. Die

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Aufzählung der zur straflosen Tötung berechtigten Verwandten (Vater, Ehemann, Bruder, Söhne) entspricht jedoch den im Gesetz über die Tö­ tung des μοιχός aufgelisteten weiblichen Verwandten (Ehefrau, Mutter, Schwester, Tochter; vgl. Demosthenes, Or. 23,53). Dieser Befund wird von Schmitz (122) so gedeutet, daß Platon die nach attischem Recht bei der μοιχεία zulässige straffreie Tötung des in flagranti ertappten Täters auch bei der Vergewaltigung gestattet, also die möglichen Konsequenzen für den Vergewaltiger verschärft. Mit dieser Gleichbehandlung von Vergewaltigung und μοιχεία (die Cantarella 2005, 240 bereits für das drakontische Gesetz annimmt) folge Platon ei­ ner Tendenz der Zeit, fiir die Schmitz neben bestimmten Mythen das Stadtrecht von Gortyn anfuhrt, das fiir Vergewaltigung und Ehebruch gleich hohe Geldstrafen vorsah (Inscr. Cret. IV 72 col. II2-45). Saunders 1991a, 247 sieht dagegen in Platons Gesetz, dessen Wortlaut explizit nur die Vergewaltigung und nicht die μοιχεία erwähnt, eine doppelte Neue­ rung Platons gegenüber dem attischen Recht: einerseits eine Verschär­ fung der Strafe bei Vergewaltigung und andererseits eine Befreiung der „seduction“ (also der μοιχεία) von einer formalen Bestrafung, was auf eine exakte Umkehrung der nach Lysias im attischen Recht üblichen Be­ wertung von Vergewaltigung und Ehebruch hinausläuft. Eine klare Entscheidung zwischen beiden Interpretationen des platoni­ schen Gesetzes ist kaum möglich. Was die μοιχεία betrifft, so fallt auf, daß Platon diesen strafrechtlichen Begriff in den Nomoi überhaupt nicht kennt (das Wort begegnet nur einmal 839a7 in einem moralisierenden Kontext) und daß in Magnesia die gesetzlichen Sanktionen fiir außerehe­ liche Beziehungen relativ mild sind (vgl. 784e, 841d). Zu beachten ist je­ doch, daß es im vorliegenden Gesetz nicht um die moralische und straf­ rechtliche Bewertung von Vergewaltigung und Ehebruch geht, sondern um die Straffreiheit der Selbstjustiz des betroffenen Ehemanns bzw. des Kyrios. Ob ein Ehemann in der vom Gesetz vorausgesetzten Situation zu der bei Saunders’ Deutung erforderlichen objektiven Unterscheidung zwischen Vergewaltigung und Ehebruch in der Lage war, kann jedenfalls bezweifelt werden. Mir scheint es daher wahrscheinlicher, daß Platon den seltenen Fall einer Vergewaltigung im Wohnhaus der Frau und die μοιχεία (ohne dieses Wort zu benutzen) in einem einzigen Gesetz zu­ sammenfaßte; denn falls die nach Cantarella 2005, 240 dem drakontischen Gesetz zugrunde liegende Annahme, daß das Einverständnis einer „beschützten“ Frau erzwungen war, auch von Platon geteilt wurde, so konnten die Worte βιάζεσθαι und βία auch den Ehebruch mitumfassen, der sich dann von einer Vergewaltigung rechtlich nicht unterschied.

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874c6—dl Und wenn jemand seinem Vater usw.: Zu der Erlaubnis, ei­ nen Angreifer straflos zu töten, um dadurch Eltern, Kinder, Geschwister und die rechtmäßige Ehefrau vor dem Tod zu bewahren, gab es im atti­ schen Recht nach Saunders 1991a, 248 keine Parallele.

7.7. 874d2—882c4: Gewalttaten gegen den Leib

Die Überleitung 874d2-e2 (die Ritter II 290 „ganz sonderbar und un­ geschickt“ findet und England 428 sogar Platon absprechen möchte) un­ terscheidet zwischen den Tötungen als Gewalttaten gegen die Seele (vgl. 869b3-4, 873a6-7) und den Gewalttaten gegen den Körper, worunter Körperverletzungen (874e3-879b5) und tätliche Beleidigungen (879b6882c4) zu verstehen sind. Hinter dem Rückgriff auf die in Buch VII und VIII behandelte Aufzucht und Erziehung steht wohl der Gedanke, daß dem Gesetzgeber nicht nur die Erziehung von Seele und Leib am Herzen liegen muß, sondern auch deren Schutz vor Gewalttaten, wenn die Be­ mühungen um die Erziehung nicht umsonst sein sollen. Wie in vergleich­ baren Fällen (633d-e, 836e-837a, 866d-867b, 869e-870e, 932e-933a, 934d-e, 943e-944c) muß der Formulierung von Strafgesetzen die Klas­ sifizierung und Aufzählung der möglichen Fälle von Körperverletzung und Mißhandlung vorausgehen (d6-e2), die im folgenden gegeben wird (zur klassifikatorischen Methode Platons vgl. Kucharski 1949, 21). oc) 874e3—879b5: Körperverletzungen

Bei den Körperverletzungen ergibt sich (trotz der Vierteilung in 874e5-7) letztlich dieselbe Dreiteilung wie bei den Tötungen, indem die aus Zorn und aus Furcht begangenen Körperverletzungen offenbar zu­ sammen eine eigene Kategorie zwischen den ungewollten und den vor­ sätzlichen Taten bilden (867al, 878b7-8; zur Furcht als Verbrechensmo­ tiv vgl. 863e6-8 und die dortige Anmerkung). In der anschließenden Gesetzgebung wird anders als bei den Tötungen die vorsätzliche Körperverletzung als erste und die ungewollte als letzte Kategorie behandelt. Die schwerste Form der Körperverletzung, die rechtlich als versuchter Mord behandelt wird (s.u.), erhält auf diese Wei­ se ihren Platz im Gesetzeskodex gleich nach dem vollendeten vorsätzli­ chen Mord, von dem sie freilich durch eine Vorrede und methodische Vor­ überlegungen getrennt ist. 874e7-875d5 Vorrede: Die Notwendigkeit von Gesetzen In dem ausdrücklich als Vorrede gekennzeichneten (874e7) Stück preist der Athener zunächst die Gesetze, weil sie verhindern, daß die Menschen auf das Niveau von Tieren herabsinken (874e7-875al). Da

874e7—875d5

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die Vorrede den Körperverletzungen präludiert, vermutet man zunächst, daß der Athener beim Herabsinken auf tierisches Niveau das Zufugen von Körperverletzungen und bei den Gesetzen die entsprechenden Straf­ gesetze im Auge hat. Die folgende Begründung für die Notwendigkeit von Gesetzen (875al ff.) zeigt aber, daß seine Argumentation auf die Ge­ fährdung durch die Macht zielt, die selbst einen mit politischer Einsicht begabten Politiker zum Egoismus verführt, weshalb er der Lenkung durch Gesetze bedarf. Dieser Gedanke wird dann ausdrücklich (875d56) als Begründung dafür verwendet, daß in einem Staat mit einem fähi­ gen Justizapparat die Richter möglichst viele Fälle selbst entscheiden sollen, während bei schlecht ausgebildeten Richtern möglichst viele Fäl­ le gesetzlich geregelt werden müssen. Die Thematik dieses Abschnitts verleiht ihm eine weit über den vorlie­ genden Kontext hinausreichende Bedeutung. Es geht nämlich um nichts Geringeres als um die Einsicht, daß eine unumschränkte Herrschaft von Philosophen oder eines königlichen Staatsmannes, wie sie in der Politeia bzw. im Politikos als das Beste gefordert wird, gegenwärtig nicht reali­ sierbar ist. Denn die Schwäche der „sterblichen“ Natur läßt es nicht zu, daß sich absolute Macht und moralische Integrität in einem Menschen auf Dauer verbinden (vgl. 691c5ff. und 713c6ff.). Der Gefahr der Ver­ derbnis durch die Macht entginge nur, so ist zu folgern, eine ,göttliche6 Natur (vgl. 732e, 739d, 853c), die sich einzig von der Vernunft beherr­ schen ließe und zu erkennen fähig wäre, was für die Menschen wirklich gut ist. Da mit dem Auftreten einer solchen Natur unter den jetzigen Be­ dingungen nicht zu rechnen ist, ist die Herrschaft des Gesetzes als das Zweitbeste zu wählen. Diese Zweitrangigkeit ist bedingt durch das epistemische Manko des Gesetzes, das im Gegensatz zum lebendigen Wis­ sen nur die häufigsten Fälle ins Auge zu fassen, aber nicht für jeden Ein­ zelfall das Richtige zu treffen vermag (vgl. Bd. II 188-189); dies ist der Grund, weshalb im folgenden dem Richter nur „Musterfalle“ an die Hand gegeben werden können. In der Bewertung des Gesetzes als Zweitbestes im Vergleich mit dem Wissen stimmt der Passus mit der Erörterung im Politikos 293e—302b überein, wo die Gesetzesherrschaft als „zweitbeste Fahrt“ bezeichnet wird (δεύτερος πλους 300c2; dazu Ausland 2002). Freilich wird im Politikos die Möglichkeit der Herrschaft eines wahren Staatsmannes we­ niger kategorisch verneint (vgl. 293a, 297b—c) und die beim Fehlen die­ ses Staatsmannes anzustrebende Herrschaft des Gesetzes negativer gese­ hen als in den Nomoi (vgl. Pol. 297e-301a gegenüber Nom. 713e-714a, 957c). Die in den Nomoi nur hier bemängelte prinzipielle Starrheit des Geset­ zes im Kontrast zur Flexibilität der Vernunft (875c6-d2) findet im Staats­

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entwurf der Nomoi allerdings ein gewisses Korrektiv in der Nächtlichen Versammlung, die aufgrund des in ihr versammelten nomothetischen und philosophischen Wissens bei einer notwendig werdenden Anpas­ sung des starren Gesetzes an eine veränderte Situation (vgl. 769bff.) die für die Anpassung verantwortlichen Gesetzeswächter gemäß den Vorga­ ben der Vernunft berät (vgl. S. 579). Insoweit ist dieses Wissen ein funk­ tionales Gegenstück zum Wissen des Philosophenkönigs oder des köni­ glichen Staatsmanns, das diesen befähigt, die von ihm erlassenen Geset­ ze wenn nötig durch bessere Anordnungen zu ersetzen (vgl. Pol. 295b— 296a). 875al oder sie werden sich in nichts von den allerwildesten Tieren un­ terscheiden: Zum Gedanken, daß der Mensch ohne Gesetze auf tieri­ sches Niveau absinkt, vgl. Hesiod, Erga 276-280 (die Menschen besit­ zen Gesetz und Recht, Tiere fressen einander auf), Aristoteles, Pol. 1,2. 1253a31—33, Demosthenes, Or. 25,20. Der anarchische (άτακτος) oder tierische (θηριώδης) Urzustand der Menschheit ist ein fester Topos der Kulturentstehungstheorien, z.B. Aischylos, Prom. 442ff.; Euripides, Hiket. 201 f.; Hippokrates, De vet. med. 3,4; 7,1 (I 576,10; 584,10 Littré = 38,4; 40,15 Heiberg); Kritias Vors. 88 B 25 1-2 = TrGF I 43 F 19, 1-2; Isokrates, Or. 3,6; 4,28; 11,25; 15,254; Diodor 1,8,1; dazu J. DeRomilly 1971, 162ff.

875al—d5 Die Ursache hiervon istfolgende usw.: Der Gedankengang, der die Notwendigkeit von Gesetzen begründet, verläuft in vier Schrit­ ten: 1) Keine menschliche Natur ist imstande, das Beste zu erkennen und es dann auch immer zu tun, sondern sie wird im Besitz der Macht immer zum Egoismus tendieren (875al—c3). 2) Würde aber einmal durch göttliche Fügung (θεία μοίρα) ein Mensch geboren, der dies zu erfassen vermöchte, so bräuchte er keine Gesetze, die über ihn herrschen (875c3-6). Denn das Wissen ist jedem Gesetz überlegen, weshalb die Herrschaft der Vernunft und nicht dem Gesetz gebührt (c6-d2). 3) Nun ist dies aber fast nirgends der Fall (875d2—3). 4) Also müssen wir uns für das Gesetz als Zweitbestes entscheiden, auch wenn es nicht jeden Einzelfall berücksichtigen kann (875d3-d5). Während der Gesamtsinn relativ klar ist, läßt der Wortlaut im einzelnen unterschiedliche Deutungen zu. Dies gilt vor allem für ταυτα ... παραλαβεΐν δυνατός εϊη (c4—5). Eine Gruppe von Interpreten versteht ταυ­ τα ... παραλαβείν als „die Macht erringen“ (z.B. England, Bury, van Camp - Canart 1956, 376, Strauss 1975, 137, Schöpsdau 1977, Saun­ ders, Lisi). Doch dann ist zu fragen, warum Platon mit παραλαβεΐν δυ-

874e7—875d5

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νατος εΐη die Fähigkeit zum Erringen der Macht betont, statt einfach zu sagen: „wenn er an die Macht käme“ (also ε’ί ποτέ ... παραλάβοι). Auch muß auffallen, daß im vorausgehenden Kontext δύνασθαι immer die Kraft bezeichnet, am erkannten Richtigen festzuhalten (vgl. a4, b4). Plausibler sind daher die Interpretationen, die ταΰτα ... παραλαβεϊν auf die moralischen und intellektuellen Qualitäten des Staatslenkers be­ ziehen („die angegebenen Forderungen zu erfüllen“ Apelt, vgl. Barker 1960, 349, Brisson - Pradeau) oder „sich diese Grundsätze zu eigen zu machen“ (Rufener; ebenso Stallbaum, Susemihl, Diès, Pegone, Ferrari). Das anaphorische ταύτα meint dann den Grundsatz (oder die Einsicht), daß Eigensucht dem Herrscher und der Stadt schadet, und implizit ein dieser Einsicht entsprechendes Verhalten. Das „göttlicher Fügung“ (θεία μοίρα c4) verdankte Geschenk Gottes ist dann die ,übermenschliche" Fähigkeit eines Menschen, als Herrscher den Verlockungen der Macht zu widerstehen (im selben Sinne wurde Resp. 493al-2 der Umstand, daß ei­ ne philosophisch veranlagte Natur unter den bestehenden politischen Verhältnissen unverdorben bleibt, der θεού μοίρα zugeschrieben). Der volle Sinn des Abschnitts erschließt sich aber erst bei genauer Er­ fassung der Bedeutung von παραλαβεϊν. Platon verwendet das Verb in drei Bedeutungen: (I) etwas zu einem bestimmten Zweck, z.B. zur Ver­ edelung, zur Erziehung übernehmen, so Gorg. 516b 1-2, Resp. 501a6, Nom. 627e5, 695b2, 735b2; (II) Wissen, Kenntnisse, Tugend, Gesetze u.ä. von jemandem übernehmen, der sie einem übermittelt, so Euthyd. 304c4, Men. 93b5, Theait. 198b4, Nom. 645b7, 796b2, 813a5, 968d5; (III) etwas hinzunehmen (selten), so Nom. 802b6, 897a5. Zu der hier vorgeschlagenen Interpretation paßt am besten die zweite Bedeutung (die dritte nimmt Hentschke 1971, 238 an). Dann drückt παραλαβεϊν aus, daß der Betreffende die Einsicht nicht aus eigener Kraft, sondern durch Vermittlung eines Belehrenden erfaßt oder sich aneignet. Gemet 178 nimmt (wie schon Zeller 1889, II 1, 594 Anm. 4) unter Verweis auf 871c die Gottheit als den Belehrenden an (eine noch engere Parallele hierfür böte 645b7). Die Verwendung des Verbums in 645b7, 796b2 und 813a5 (ταυθ’ ... παραλαβών) legt es aber näher, als Vermittler den im Athener implizierten platonischen Gesetzgeber anzunehmen. Von ihm stammt die Erkenntnis, daß ein Herrscher durch Eigennutz sich selbst und die Stadt zugrunde richtet (vgl. 715d-e, wo ebenfalls dem Athener eine grundlegende Einsicht zugeschrieben wird). Die Feststellung des 3. Schrittes „Nun aber ist dies ja nirgends und auf keine Weise der Fall“ (νυν δε ... ούδαμώς d2—3) beziehe ich nicht auf c6-d2, sondern auf die durch c6-d2 begründete Aussage in c3-6 („Wenn allerdings einmal ein Mensch ... geboren würde und fähig wäre, sich die­ se Einsicht anzueignen“). Die dort hypothetisch angenommene Existenz

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eines wissenden Herrschers wird durch die Feststellung νυν δέ κ. τ. λ. verneint, die zugleich proleptisch die folgende Entscheidung für das Ge­ setz als das Zweitbeste begründet (zu proleptischem γάρ vgl. Kühner Gerth II 333 f.; Denniston 1954, 70-72). νυν δέ hat also nicht lediglich zeitliche Bedeutung („jetzt“), sondern stellt in idiomatischer Weise der durch Optativ oder Irrealis ausgedrückten wünschenswerten Vorstellung die Realität entgegen (Belege bei Kühner - Gerth II117); eine exakte Par­ allele für νυν δέ in Verbindung mit proleptischem γάρ nach vorausge­ hendem Irrealis bietet Prot. 347al. Dieses ,modale6 νυν δέ, das einem gewünschten (seltener einem befürchteten) Zustand die Realität gegen­ überstellt, ist gerade in den Nomoi nicht selten (vgl. 701a5, 704d8, 790dl, 805c4, 835c3, 870c3, 891b4, 904a3, 927e4, 944e2). 875b6—7 mehr haben zu wollen (πλεονεξίαν) und die eigenen Interes­ sen (ίδιοπραγίαν) zu befriedigen: Die Pleonexie (vgl. 691a4) betrachtet Glaukon Resp. 359c als eine angeborene Eigenschaft der menschlichen Natur; ein Beispiel für monetäre Pleonexie liefert Nom. 918c9—d8. Im politischen Bereich wirkt sie sich als Ungerechtigkeit aus (906c), da sie die Gleichheit als Prinzip der Gerechtigkeit (757a-e) verletzt. Vgl. We­ ber 1967, 42 f. 89 f. — Das Wort ίδιοπραγία, das nur hier bei Platon be­ gegnet, dürfte von ihm neu geprägt worden sein. Egoistische Selbstbezo­ genheit macht blind für das Gerechte und Gute (731e5ff.). Den letzten Grund für Pleonexie und Selbstsucht sieht Platon hier in einer verkehrten Einstellung gegenüber Schmerz und Lust, die mit αμφω τούτω (dies beides 875cl) gemeint sind (als die Jagd nach der Lust und das Vermei­ den von Schmerz).

875c6 kein Gesetz und keine Anordnung (τάξις): Das Wesen des Ge­ setzes ist,Anordnung6 (έπίταξις 723a5, τάξις 688a2). Die leicht redun­ dante Hinzufügung der Anordnung zum Gesetz soll hier einen Übergang zum Folgenden zu schaffen, in welchem die Dialogpartner „anordnen66 werden (τάξομεν d6), welche Strafen bei Körperverletzungen zu ver­ hängen sind. 875d3 in geringem Maße (κατά βραχύ): Modal-restriktive Bedeu­ tung hat κατά βραχύ auch 968b4 αν ... κατά βραχύ δυνηθώμεν) oder Tim. 27c2 (κατά βραχύ σωφροσύνης μετέχουσι); vgl. auch Tim. 51e6: am Nus hat neben den Göttern nur eine kleine Gruppe (γένος βραχύ) von Menschen Anteil. Brunschwig 1999, 131 Anm. 24, Sharafat 1998, 122 und offenbar Laks 2005, 109 Anm. 19 verstehen die Angabe temporal: „es sei denn nur für kurze Zeit66.

875d4-5: Die Mängel des Gesetzes infolge seiner Allgemeinheit und Inflexibilität (vgl. Pol. 294d-295b) zeigen sich in Magnesia beispiels­

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weise im Erbrecht (923b, 925d-926c). Vgl. auch Aristoteles, Pol. 3,15.1286a9—11 und 3,16. 1287al8ff.; Cicero, De inv. 2,152; Dig. 1,3,12 (Julian): non possunt omnes articuli singillatim aut legibus aut se­ natus consultis comprehendi. — το δ’ έπι παν drückt gegenüber το μέν ώς έπι το πολύ („was meistens geschieht“) die Totalität aus: „jeder mögliche Fall“.

875d5—876e5 Abgrenzung der Aufgaben der Gerichte und des Gesetzge­ bers Die folgenden Überlegungen ziehen die Konsequenz aus der Vorrede, fiir die sie zugleich der Anlaß waren. Da das Gesetz nicht alle möglichen Fälle berücksichtigen kann (779d, 875d5, 876a2-3), müssen bei der Rechtsprechung die Gerichte auch in selbständiger Entscheidung mitwir­ ken, zumal die Richter mit dem jeweiligen Fall und seinen Tatumständen am besten vertraut sind. Damit stellt sich aber die Frage, wie weit der Gesetzgeber diese (und jede andere) Rechtsmaterie durch Gesetze regeln soll und welcher Er­ messensspielraum den Gerichten zugestanden werden soll. Ihre Beant­ wortung macht der Athener von der fachlichen Qualität der Richter und der prozessualen Gestaltung des Gerichtsverfahrens abhängig. Wo die Richter unfähig und das Prozeßverfahren schlecht eingerichtet ist, da darf man den Richtern nur möglichst wenige und möglichst unbe­ deutende Strafsachen zur Entscheidung überlassen (cl—3; zur Textstruk­ tur s.u. zu 876b7-d6). Gut ausgebildeten Richtern müssen dagegen die meisten Fälle (τά πλεΐστα 876d6) zur selbständigen Entscheidung über­ lassen werden, wodurch sie zu „Gehilfen“ des Gesetzgebers werden (vgl. 934b7). Sie sollen hierfür ein skizzenhaftes Muster an die Hand bekom­ men, an dem sie sich bei der Strafzumessung orientieren können (ebenso 934b—c). Die Formulierung des folgenden Strafgesetzes entspricht jedoch nur bedingt dieser methodischen Maxime. Zwar überträgt das Strafgesetz mehrfach die Abschätzung des verursachten Schadens und der Strafe den jeweiligen Richtern (877b3, 879b4 bzw. 878d4-6, 878e2-9, 880cl-2 und 880dl—2); dazu kommen die Fälle außerhalb des Strafgesetzes (Buch IX-X), in denen die Richter oder Beamten zur Strafabschätzung ermächtigt werden (767e6-9, 843b5-6. d3, 928c5-6, 932c7, 933d5-6. e5, 934b6-c2, 941a7-bl, 946d4-6). Aber auf dem gesamten Gebiet der vorsätzlichen Körperverletzung (= des versuchten Mordes), also gerade bei den „größten“ (μέγιστα) Fällen, räumt das Gesetz (876e—878a) den Richtern keinerlei Spielraum ein; auch ist das Gesetz (wie auch die Vor­ schriften über Mißhandlungen) so detailliert, daß es schwerlich als blo­ ßer Umriß oder Muster angesehen werden kann.

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Für seine theoretischen Erwägungen hatte Platon einen Vorläufer in Hippodamos von Milet, welcher forderte, daß die Richter in ihrem Urteil völlig frei und an keine Vorgabe gebunden sein sollten (Aristoteles, Pol. 2,8. 1268al ff.), was Aristoteles als nicht praktikabel und realitätsfremd kritisiert (1268b5-22). In der Rhetorik (1,1. 1354a31-bl6) fordert Ari­ stoteles, man dürfe möglichst wenig den Richtern überlassen; nur die Frage, ob etwas geschehen sei oder nicht (bzw. eintreten wird oder nicht), sollen sie entscheiden dürfen. - In hellenistischer Zeit setzt sich die völlige Selbständigkeit der Richter in der Abschätzung des Streitwer­ tes und der Strafe zuerst in Ausnahmefällen, dann generell durch (Belege bei Latte 1920, 40 Anm. 4). - Zum Verhältnisses des vorliegenden Passus zur aristotelischen Epieikeia vgl. Saunders 2001, 86 ff. (The discretion of jurymen, IX, 875d3-876e5); Brunschwig 1999, 131-135.

876a4—8 Welche Regel ergibt sich daraus? usw.: Post 1939, 101, der mit dem Korrektor des Patriarchentextes den ganzen Passus dem Athener geben möchte, ersetzt die Personenangabe ΚΛ. (a7) durch καί und macht (καί) ποια δή κ.τ.λ. von νομοθετέον (a6) abhängig; das Ergeb­ nis ist jedoch ein stilistisch wenig befriedigender Text (Lisi übernimmt Posts Vorschlag, übersetzt aber (καί) ποια δή als eine selbständige Fra­ ge des Atheners). Fragen mit ποιος sind aber gerade im Munde des Kleinias sehr häufig, um die Erörterung weiterzuführen (vgl. z.B. 783c8, 859d2, 860c6 von insgesamt etwa 20 Stellen).

876a9—c3 In einer Stadt, in der die Gerichte unfähig und stumm sind usw.: Zur Kritik am Gerichtswesen Athens, das Platon hier zweifellos vor Augen hat, vgl. 766d ff., 948b-949c und die Anmerkung zu 855dl856a8.

876b3 voller Lärm ... wie ein Theaterpublikum: Vgl. dazu 659a und 700e6ff, ferner Apol. 17dl, 20e4, 21a5 u.ö.; Xenophon, Apol. 14-15; Aristoteles, Rhet. 3,18, 1419al6; weitere Belege bei Triantaphyllopoulos 1985, 242-243. 876b7—d6 ist man dennoch durch eine Notwendigkeit dazu gezwungen usw.: Die begriffliche Struktur dieser Partie ist nicht ganz klar. In der Aussage „Schlechten Richtern dürfen nur die unbedeutendsten Fälle (σμικρότατα cl) überlassen werden; das meiste (τα πλεΐστα c2) muß der Gesetzgeber selber regeln“ bilden σμικρότατα und πλεΐστα keinen begrifflichen oder sachlichen Gegensatz (Bagatellfalle können sogar sehr häufig sein). Um einen korrekten Gegensatz herzustellen, übersetzt Susemihl σμικρότατα unkorrekt mit „in möglichst wenigen Fällen“. Umge­ kehrt übersetzt Ficino τα πλεΐστα erweiternd mit plurima vero et maxi­ ma quaeque (ebenso Brisson - Pradeau: „les plus importants et les plus

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nombreux“). Die entsprechende Grundthese des zweiten Teils (c3—d6) lautet: Sind die Richter gut ausgebildet, muß ihnen vieles (πολλά c6), ja das meiste (τά πλεΐστα d6) zur Entscheidung überlassen werden. Daß ihnen auch die bedeutendsten Fälle überlassen werden, zeigt die Bemer­ kung c8—dl: „wir brauchen ihnen also keine Gesetze für die bedeutend­ sten und meisten Fälle (τά μέγιστα και πλεΐστα) zu geben“. Denn, so möchte man ergänzen, aufgrund ihrer guten Ausbildung benötigen sie hierfür keine Gesetze. Um so mehr irritiert der daran anschließende Rela­ tivsatz: „die auch ein schlechter ausgebildeter Richter entscheiden könn­ te“; denn eben noch waren den schlechten Richtern nur die unbedeu­ tendsten (σμικρότατα) und (implizit) die wenigsten Fälle zugewiesen worden. 876d4 dem erlittenen Schaden und der begangenen Tat (πάθους τε καί πράξεως): Während der Schaden eine angemessene Wiedergutma­ chung verlangt (so 877b2—3), ist der Tathergang Indikator der seelischen Verfassung des Täters, nach der sich die Höhe der Strafe richtet (zu πράξις als Ausführung der Straftat vgl. 864c4, 867e5, 874d5). Susemihl über­ setzt die beiden Substantive mit „die zu leidende Strafe oder zu leistende Buße“; dagegen spricht aber, daß die (Geld-)Buße in Antithese zur Strafe (πάσχειν) stets durch das Verbum άπο- bzw. έκτίνειν und nicht mit πράττειν bezeichnet wird (868b4 bezeichnen πράξεις und πράττειν gerade die neben der Geldbuße zu vollziehenden gerichtlichen Aufla­ gen). Kommentatoren der Nikomachischen Ethik ziehen eine Verbindung von der vorliegenden Stelle zu Aristoteles, Nik. Eth. 5.7, 1132a6-14 (vgl. Dirlmeier 1956, 410): der Richter schafft einen Ausgleich zwischen dem πάθος des Opfers und der πραξις des Täters, indem er letzterem vom ,Gewinn6 aus seiner Tat etwas wegnimmt.

876d7 auch bei der vorausgehenden Aufstellung von Gesetzen getan haben: Zur Verdeutlichung mittels Skizzen, Mustern oder Modellen vgl. 718b7, 734e5—6, 737d6-7, 768c5, 770b7-8, 778cl-2 und bes. 800b6ff. (auch 934c 1). 876e5—878b3: Vorsätzliche Körperverletzung mit Tötungsabsicht

Platon sieht (vielleicht im Einklang mit dem attischen Recht) hinter der vorsätzlichen Körperverletzung (τραύμα εκ πρόνοιας 877cl) eine Tötungsabsicht (876e6, 877c2), faßt das Delikt also als einen Mordver­ such (weshalb hierfür der 855c ff. eingesetzte Kapitalgerichtshof zustän­ dig ist: 877b). Seiner seelischen Verfassung nach wäre der Täter also wie ein Mörder mit dem Tod zu bestrafen (877a2). Da aber durch das Ein­ greifen eines Schutzgeistes der Mord und damit eine Befleckung verhin­ dert wurde, erübrigen sich auch die zur Beseitigung der Befleckung er­

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forderlichen Maßnahmen (Todesstrafe bzw. lebenslange Verbannung, Verweigerung des Grabes u. ä.); die Strafe beschränkt sich im Standard­ fall der Verletzung eines Bürgers durch einen Bürger (876e5—877b5) auf lebenslange ,Umsiedlung6 (μετάστασις 877a7) in eine Nachbarstadt, wobei der Ausgewiesene weiterhin von den Einkünften aus seinem Be­ sitz leben darf, und auf die Zahlung einer Entschädigung an den Verletz­ ten, was vielleicht platonische Neuerung ist (Bemeker 1954, 58, Saun­ ders 1991a, 260). Härter werden Körperverletzungen unter Verwandten bestraft: Wer seinen Ehegatten verletzt, erleidet eine wirkliche Verban­ nung auf Lebenszeit (άειφυγία 877c3) ohne das Recht zur Nutzung sei­ nes Besitzes, der auf die Kinder übergeht und bis zu deren Volljährigkeit von Vormündern verwaltet wird (877c3-6). Bürger, die ihre Eltern oder Geschwister verletzen, werden wegen der Blutsverwandtschaft zwischen Täter und Opfer sogar mit dem Tod bestraft, ebenso wie der Sklave, der seinen Herrn verletzt und damit neben der Gewalt gegen die Person zu­ sätzlich die soziale Hierarchie mißachtet (877b6—cl). Wie ein Sklave be­ straft wird, wenn der von ihm verletzte Freie nicht sein Herrn ist, sagt der Text nicht; doch dürfte auch hier die Todesstrafe anzuwenden sein (vgl. 868c und bes. 869d, wo die Tötung eines Freien durch einen Sklaven mit der Tötung eines Vaters gleichgesetzt wird). Nicht berücksichtigt ist auch der Fall, daß ein Fremder oder Sklave verletzt wird, und die Körperver­ letzung, die Eltern an ihren Kindern begehen (zu dieser Lücke vgl. unten S.356). Die lebenslange Verbannung eines Ehegatten ist Auslöser für einen längeren Passus, der das Verfahren regelt, nach welchem im Falle, daß ein wegen irgendeines schweren Vergehens hingerichteter oder lebens­ länglich verbannter Inhaber eines Landloses keine Kinder zurückläßt, ein Erbe für das Landlos einzusetzen ist (877c8—878b3). Die Behandlung der vorsätzlichen Körperverletzung (τραύμα έκ προνοίας) im attischen Recht wird von den Rechtshistorikem unter­ schiedlich interpretiert (vgl. die Übersicht bei Bemeker 1954, 46 Anm.50). Während Phillips 2007 (wie schon Latte 1931, 147 = 1968, 283) nachzuweisen versuchte, daß das attische Recht unter dem τραύμα έκ προνοίας eine Verletzung verstand, die mittels einer Waffe lediglich in Verletzungs-, nicht in Tötungsabsicht beigebracht wurde, wurde nach Auffassung der meisten Interpreten die vorsätzliche Körperverletzung in Athen wie in den Nomoi als versuchter Mord behandelt (z.B. Lipsius 605, Bemeker 1954, 45-58, Hansen 1983, 307; Todd 1993, 269); dazu paßt, daß dieses Delikt auf dem Areopag verhandelt wurde (Lysias, Or. 6,15; Aristoteles, Ath. pol. 57,3), wo auch über vorsätzlichen Mord ge­ richtet wurde. Als Strafe war ohne Rücksicht auf eine Verwandtschafts­ beziehung zwischen Täter und Opfer lebenslanges Exil mit Konfiszie-

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rung des Vermögens vorgesehen (Lysias, Or. 3,38; 4,18; 6,15). Bei vor­ sätzlicher Körperverletzung ohne Tötungsabsicht war eine Klage wegen οικία (tätlicher Beleidigung) oder υβρις (entehrender Mißhandlung) möglich (Lipsius 606 f.; Maschke 1926, 111; Bemeker 54); die Strafe fiel vermutlich geringer aus als beim Nachweis einer Tötungsabsicht. Gänz­ lich unbekannt ist das attische Verfahren bei der (von Platon in 879b 1-5 sehr knapp behandelten) unvorsätzlichen Körperverletzung (Saunders 1991a, 259); nach Phillips 2007, 101 gab es in diesem Fall überhaupt keine Klagemöglichkeit in Athen.

876e6 einen befreundeten Menschen: φίλιον bezeichnet den Mitbür­ ger wie 865a5; ebenso φίλος z.B. 647b7, 761a4, 761d8.

876e7 abgesehen von den Personen, bei denen es das Gesetz erlaubt: Vgl. 874b6ff. 877a7 Übersiedlung: μετάστασής bezeichnet eine Form der Verban­ nung, die den Verbanntem im Genuß seines Vermögens beläßt (vgl. Epist. VII, 338a-b in Verbindung mit 348d). Vermutlich wird sein Land­ los von der Familie weiter bewirtschaftet, die von dessen Erträgen den Verbannten unterstützt (weswegen die Verbannung nur in eine unmittel­ bar benachbarte Stadt erfolgen soll). 877c3—8 Ihren Besitz aber sollen usw.: Diese Vorschriften gelten nur fiir den Fall, daß der Ehemann verbannt wird; bei Verbannung einer Mut­ ter tritt keine Änderung ein, weil das Vermögen ihrem Mann gehört und somit der Familie verbleibt (Knoch 1960, 84 und Saunders 1991a, 260; anders England z. St.). Die Vormünder, die den väterlichen Besitz bis zur Volljährigkeit der Kinder verwalten, sind wohl nicht die Beamten (wie 909c-d, 924c, 926e), sondern Familienangehörige (Becker 1932, 228). Unbeantwortet läßt der Text die Frage, wer das Landlos erbt, wenn meh­ rere Söhne vorhanden sind; Gemet 181 vermutet, daß analog zu der Re­ gelung in 877c8—878b3 ein Familienrat darüber entscheidet. Zur juristi­ schen Regelung der Quasiverwaisung und Quasivormundschaft findet sich nach Becker 229 im griechischen positiven Recht kein Gegenstück; in der Praxis werden sich aber immer Verwandte gefunden haben, die fiir unmündige Kinder eines Verbannten die Vertretung übernahmen. 877c6 wenn sie aber erwachsen sind. soll keine Verpflichtung bestehen (μή έπάναγκες έστω): Ich folge dem Text der Handschriften. Gegen Jemstedts Konjektur ήδη vgl. Saunders 1972, Nr. 90 S. 88-90.

877c8-878b3: Die Neuvergabe des Landloses, dessen Inhaber hinge­ richtet wurde, geschieht hier (anders als 856d—e) in der Form einer postu­ men Adoption (εισποίησις; vgl. ύον είσποιειν 878a5); dazu Lipsius 508 ff., Becker 1932, 297 ff., Harrison 1968, 90ff. Der zu Adoptierende

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soll dem Vater des Hingerichteten oder Verbannten als Sohn zugeführt werden; der zum Rechtsbrecher gewordene bisherige Losinhaber bleibt also ohne Sohn (daher απαιδα 878b2) und schwindet „namenlos“ (bl) aus dem Gedächtnis der Familie. Im Unterschied zu den beiden anderen Fällen postumer Adoption (924e und 925c) braucht hier der zu Adoptie­ rende kein Verwandter zu sein. Von der attischen Praxis (vgl. Harrison 1968, 92) unterscheidet sie sich darüber hinaus durch die Mitwirkung von Beamten (der Gesetzes Wächter). 877dl Kindern der Vettern und Basen (ανεψιών παίδων): Zur Be­ deutung von ανεψιός vgl. zu 871bl—c3 und bes. zu 924d5. 877d4—5 in gemeinsamer Beratung mit den Gesetzeswächtern und Priestern: Die Priester wirken mit, weil das Land den Göttern heilig und das Landlos selbst ein Gott ist (741b-d).

877d8 der Stadt als öffentliches und privates Eigentum gehört (ώς της πόλεως δημόσιός τε και ίδιος): Die Adjektive entsprechen in chiastischer Anordnung den Genitiven του ένοικουντος und σύμπαντος του γένους (d7). Als Privateigentum gehört das Haus nicht dem jeweiligen Bewohner und als gemeinsames Eigentum nicht seiner Familie, sondern unter beiderlei Aspekten der Stadt, die wie ein Privatmann frei darüber verfugen kann; vgl. hierzu Pradeau 2000, 31 Anm. 26. 877e3 von dem Unglück und von der Freveltat: Das Unglück ist die Kinderlosigkeit, die Freveltat besteht in der Begehung des zur Hinrich­ tung bzw. Verbannung führenden Verbrechens.

877e8 entsühnen (άποδιαπομπήσασθαι): Vgl. zu 854b7. 878a5 als deren Sohn einsetzen (είσποιουντας) und ihm ... deren Na­ men geben: Der Adoptierte verliert hierbei seinen bisherigen Namen und erhält einen Namen aus seiner Adoptivfamilie, aber nicht den Namen des hingerichteten oder verbannten Losinhabers. Für Athen ist dagegen eine Namensänderung als Folge der Adoption nicht nachweisbar (Lipsius 516). 878a7 Wahrer der profanen und sakralen Pflichten (θεραπευτήν οσίων τε και Ιερών): Auf den Adoptierten gehen alle weltlichen und re­ ligiösen Pflichten der Familien über, so die Durchführung des familiären Kults (= ιερών) und die Verantwortung für das Familieneigentum (= όσιων; vgl. Wyse zu Isaios, Or. 6,47 und Harrison 1968, 130). Die Teil­ habe am Kult und am Eigentum der Familie (αγχιστεία ιερών και όσιων) ist nur Verwandten möglich: Demosthenes, Or. 43,51; Isaios, Or. 6,47; 9,13u.ö.

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878a7—8 aufdiese Weise mit größerem Glück als der Vater: Ich verbin­ de nach Englands Vorschlag τούτω τω τρόπω mit γίγνεσθαι und tilge das Komma hinter πατρός. Zum Segenswunsch mit größerem Glück (έπ άμείνοσι τόχοας) vgl. 856e3 und 924a2. 878b4—879bl : Körperverletzung im Zorn

Als eigenständiges Delikt ist die Körperverletzung im Zorn wie schon die Tötung im Zorn eine platonische Neuerung (allerdings kannte das at­ tische Recht den Affekt als schuldminderndes Tatmerkmal, wie Lysias, Or. 3,43 und Demosthenes, Or. 54,19 zeigen). Platon nimmt bei diesem Tatbestand offenbar keine Tötungsabsicht an und unterscheidet auch nicht (wie bei den Tötungen 866d—867d) zwi­ schen momentaner Zomesaufwallung und lang anhaltendem Groll. Rechtsfolge im Standardfall (Bürger verletzt Bürger) ist die Zahlung ei­ ner Entschädigung in doppelter bis vierfacher Höhe des Schadens je nach der Schwere der Verletzung (wobei der über den einfachen Schaden hi­ nausgehende Betrag als Strafe zu verstehen ist) ; eine platonische Neue­ rung ist darin zu sehen, daß bei verletzungsbedingter Wehrunfähigkeit des Opfers der Täter auch dem Staat Schadensersatz zu leisten hat, indem er für das Opfer Militärdienst leistet. Während die Höhe der Entschädigung in diesen Fällen von den Rich­ tern festgelegt wird, obliegt bei Vergehen zwischen Blutsverwandten die­ se Aufgabe den Verwandten des Opfers und des Täters (zu folgern aus 879e9£). Sie fallen den Schuldspruch und überlassen den Eltern die Ab­ schätzung des Schadens, die sie aber offenbar anfechten können; bei Nichteinigung obliegt die Abschätzung den Gesetzeswächtem (878d6e4). Kinder, die ihre Eltern im Zorn verletzen, werden (wie aus 878e9— 879al zu folgern ist) ebenfalls von den Verwandten abgeurteilt, nur daß sich der Kreis auf die über 60jährigen Verwandten mit leiblichen Kindern beschränkt und die Verwandten des Täters ausgeschlossen sind. Als Stra­ fe ist normalerweise der Tod vorgesehen; als zulässige Verschärfung kommt wohl nur die Verweigerung der Bestattung in Betracht, als milde­ re Strafe wahrscheinlich lebenslange Verbannung (878e5-879a2). Die ,Bestrafung6 eines Sklaven, der einen Freien verletzt, wird dem Opfer überlassen, sofern der Besitzer ihn diesem ausliefert. Vermutlich schließt die Erlaubnis, mit ihm zu machen, was er will, auch das Recht zur Tötung des Sklaven ein. Dies entspräche der auch sonst zu beobach­ tenden Gleichstellung des Vergehens eines Sklaven gegen einen Freien mit dem eines Kindes gegen seine Eltern (vgl. 877b). Um zu verhindern, daß der Freie sich von dem Sklaven etwa eine scheinbare oder leichte

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Kommentar

Verletzung beibringen läßt, um den Sklaven in seinen Besitz zu bringen, ist bei einem solchen Verdacht Klage wegen „Menschenraubs“ möglich (vgl. zu 879a5-bl); klageberechtigt ist wohl (analog zu dem 936d-e er­ örterten Fall) der Besitzer des Sklaven (der mit τις 879a6 gemeint ist). Im Rückblick auf das Gesetz fallt auf, daß Platon u.a. den Fall über­ geht, daß Eltern ihr Kind im Zorn verletzen. Der Grund dürfte darin zu suchen sein, daß dieser Fall eine Klage der Kinder (sei es vor einem or­ dentlichen Gericht oder einem Familiengericht) gegen ihre Eltern nach sich gezogen hätte, was fiir Platon wohl eine unerträgliche Vorstellung war. Denn er verlangt von den Kindern, daß sie den Zorn ihrer Eltern oh­ ne Widerstand hinnehmen, „mögen sie diesen in Wort oder in Taten (!) äußern“ (717d4—5; vgl. auch 869b7—c3); allgemein gilt fiir Jüngere, daß sie, wenn sie von Greisen im Zorn geschlagen (!) werden, dies mit Gleichmut zu ertragen haben (879c). Singulär ist dieses Gesetz auch darin, daß die Höhe der zu zahlenden Summe sich nicht, wie von Platons Straftheorie gefordert, an der seeli­ schen Verfassung des Täters, sondern an der Schwere der Verletzung, al­ so dem Erfolg der Handlung orientiert (weshalb Platon von Saunders 1991a, 262-3 streng gerügt wird). Knoch (1960, 86) vermutet, daß Pla­ ton in der Schwere der Verletzung ein Indiz fiir die ungerechte Gesin­ nung des Täters sieht, weil die schwere und entstellende Verwundung Resultat einer langfristig geplanten Tat sein könnte (was aber sicher nicht fiir jede schwere Verwundung gilt). Am ehesten mag der moralische Charakter des Täters bei den Strafzumessungen des Familiengerichts ge­ würdigt werden, dessen Mitglieder den Täter und das Opfer persönlich kennen.

878b6 bildet dieser ... zunächst ein Zwischending zwischen beiden: Das schwer verständliche πρότερον (fiir das Bury προτεΐνον „sich er­ streckend“ konjiziert) fasse ich als Hinweis darauf, daß vor der Behand­ lung der Dinge jenseits der Grenze zunächst das Zwischengebiet zu be­ trachten ist. Apelt 535 Anm. 71 erwägt πρόθυρον („als Vorraum“); Lisi liest öpov statt όρων und versteht προσβάλλον transitiv. 878b8 Und so haben wir auch behauptet: In 867a. 878c4—5 das Dreifache (τριπλασίαν nach Orelli). Das überlieferte τετραπλασίαν (das Vierfache) wird von Knoch 1960, 85 mit dem Ar­ gument verteidigt, daß τριπλήν in d5 (das den Anstoß zur Konjektur gab) sich auf den erst in 879a7 vorgeschriebenen dreifachen Schadenser­ satz beziehe. Doch die Staffelung διπλήν — τριπλήν - τετραπλασίαν (d4—5) bezieht sich m. E. eindeutig resümierend auf die hier angegebe­ nen Entschädigungssummen.

879b1-5

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878d3—4 wegen Kriegsdienstverweigerung: Das betreffende Gesetz steht 943a ff. 878d6 der mit ihm durch gleiche Abstammung verwandt ist: Die Ana­ logie zu 877b—c und die Erwähnung der Eltern (e2) legt nahe, daß damit vor allem Geschwister gemeint sind (so explizit Knoch 1960, 86; Becker 1932, 185 Anm. 4 hält diese Deutung für zu eng).

878d6—7 in der genannten Weise: 7λι τον αυτόν τρόπον τούτω er­ gänze ich sinngemäß τρόπω (wörtlich: „auf eine mit dieser [= anaphorisch: der eben genannten] Weise identische Weise“) und beziehe den Verweis auf die in cl—d4 erwähnten drei Arten von Körperverletzung im Zorn. Saunders 1991a, 264 bezieht den Verweis nur auf den letzten Fall, in dem das Opfer durch die Verletzung militäruntauglich wird. Da aber in diesem Fall auch dem Staat eine Entschädigung zusteht (c8), ist es we­ nig wahrscheinlich, daß ausgerechnet in diesem Fall die Abschätzung des Schadens den Eltern und Verwandten obliegen soll. 878d7 Familienangehörigen (γεννήτας): Ein ähnlich zusammenge­ setztes Familiengericht, wozu es in Athen nichts Vergleichbares gab, ent­ scheidet 929a—b über die Verstoßung eines Sohnes.

878d7—8 bis hin zu den Kindern der Vettern und Basen (μέχρι α­ νεψιών παιδων): Vgl. zu 924d5. 878e4 nicht selber imstande: Für αυτοί schlägt Post 1939, 101 αυ ουτοι vor, das Lisi übernimmt. 879a5-bl: Bei Verdacht eines Komplotts zwischen Sklave und Ver­ letztem hat der Besitzer zuerst eine δίκη κακοτεχνιών einzureichen (vgl. 936d); wenn der Klage stattgegeben wird, soll er anschließend Kla­ ge wegen Menschenraubs (ανδραποδισμού) erheben. Das Delikt des ανδραποδισμός besteht als Freiheitsdelikt darin, daß sich der Täter ei­ nes Freien bemächtigt, um ihn in die Sklaverei zu verkaufen (vgl. Lipsius 640-642); als Vermögensdelikt besteht es in der gewaltsamen oder (wie hier) listigen Aneignung eines fremden Sklaven zwecks Verkaufs oder eigenen Gebrauchs (in noch weiterer Bedeutung verwendet Platon das Wort Nom. 955al). 879b 1 —5 : Ungewollte Körperverletzung

Da hier keine böswillige Schädigungsabsicht vorliegt, genügt als Rechtsfolge der einfache Schadensersatz. Während in 877a das Eingrei­ fen eines „Dämons“ zur Strafabmilderung führte, zieht hier der „Zufall“ den gänzlichen Verzicht auf Strafe nach sich (zur Stelle vgl. Barta 2005, 82, der die Herausbildung der juristischen Kategorie des Zufalls dem

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Kommentar

Redner Antiphon zuweist). Kurios ist die Vorschrift, daß fiir die Abschät­ zung des Schadens das Familiengericht zuständig sein soll, das nach 878d-e über Vergehen von Kindern gegen ihre Eltern urteilt; denn dem Wortlaut nach geht es hier überhaupt nicht um die Verletzung von Ver­ wandten. Das attische Recht kannte keine Klage wegen unbeabsichtigter Körperverletzung (Phillips 2007, 101). ß) 879b6—882c4: Mißhandlungen (Realinjurien)

Unter ,Mißhandlung* (αίκία oder αίκεία) verstand das attische Recht das Schlagen eines andern, ohne daß der Schlagende von dem andern vorher geschlagen worden war; insofern enthielt dieses Delikt ein Ele­ ment der Beschimpfung. Nicht schuldig der αίκία machte sich, wer Schläge erwiderte oder nur im Scherz schlug. Für die diesbezügliche Pri­ vatklage (δίκη αίκίας) waren bis um 340 v. Chr. die Vierzigmänner, da­ nach die Eisagogeis zuständig (Lipsius 644 ff.); die Strafe bestand in ei­ ner Geldzahlung an den Kläger (MacDowell 1978, 123). Beeinträchtigte die Mißhandlung die Ehre und den bürgerlichen Status einer Person, ließ das attische Recht auch eine Klage wegen Hybris (γραφή ύβρεως) zu (vgl. MacDowell 129 f.); die vom Gericht festgesetzte Strafsumme ging an den Staat. Schließlich konnte in Athen mit der Klage wegen „schlech­ ter Behandlung der Eltern** (γραφή κακώσεως γονέων) nicht nur die Vernachlässigung (vgl. Nom. 930e-932d), sondern auch die Mißhand­ lung der Eltern verfolgt werden (MacDowell 92); die Strafe hierfür war vollständige Atimie (Verlust der bürgerlichen Rechte). Das vorliegende Gesetz Platons betrifft dem Wortlaut nach nur die αί­ κία, aber die beschriebenen Tatbestände enthalten auch ein Element der Hybris insofern, als die Mißhandlungen Personen betreffen, die An­ spruch auf besondere Achtung haben, nämlich die Eltern und überhaupt Ältere, die Fremden und die Freien im Verhältnis zu den Sklaven (das at­ tische Gesetz gegen Hybris kannte dagegen keine bestimmte Opferkate­ gorien, sondern nur das generelle Tatmerkmal, daß die betroffene Person und ihre Ehre besonders schutzwürdig ist; vgl. Saunders 1991a, 269— 270). Während der Fremde wie im übrigen Griechenland unter dem Schutz des Zeus Xenios steht (879e; vgl. 729e-730a), beruht der An­ spruch der anderen Personengruppen darauf, daß sie von Natur zur „Herrschaft** über die Kinder, die Jüngeren oder über ihre Sklaven be­ rechtigt sind (vgl. 690a-b; ferner 714e, 717b, 917a, 930e). Eine Eigenart des Gesetzes besteht darin, daß es den Begriff „Älterer“ nicht absolut, sondern nur relativ zum Angreifer definiert als einen, der 20 Jahre älter ist als der Angreifer. Bei strenger Auslegung enthält das Gesetz also keine Bestimmung fiir den Fall, daß ein Angreifer jemanden

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schlägt, der z.B. nur 19 Jahre oder nur 10 Jahre älter ist als er. Diese Un­ klarheit entsteht dadurch, daß Platon, um den Anspruch des Älteren auf Respekt zu begründen, den Älteren durch denselben Altersvorsprung de­ finiert, den Eltern gegenüber ihren Kindern haben (so explizit 879c-d; vgl. auch Resp. 46Id, 464e-465b). Gegenüber der Körperverletzung wiegt die αικία deliktisch einerseits weniger schwer, da sie keine Verletzung zur Folge hat; andererseits geht sie durch das in ihr enthaltene Moment der Entehrung über die bloße Körperverletzung hinaus; denn die Entehrung betrifft nicht den Körper, sondern die auf der Seele beruhende (959a) gesamte Persönlichkeit des Menschen und seine τιμή. Dies ist der Grund dafür, daß in Magnesia der Bürger für die Mißhandlung eines Mitbürgers mit Haft (also härter als in Athen) bestraft wird, während er für eine zombedingte Körperverletzung nur eine Geldbuße zahlen muß. Der Gedankengang des platonischen Gesetzes erscheint auf den ersten Blick recht verworren. Eine gewisse Struktur wird jedoch dadurch sicht­ bar, daß drei Abschnitte des Textes als ,Gesetz6 im engeren Sinn gekenn­ zeichnet werden (explizit in 880a6-bl und 882b3, implizit 881b2), wo­ durch die dem ,Gesetz6 jeweils vorausgehenden Abschnitte die Funktion eines Proömiums erhalten (explizit ist dies in 880a6-bl ausgesprochen). So ergeben sich drei nach Proömium und Gesetz gegliederte Gesetzes­ komplexe: 1) 879b6-880d7: Schläge gegen Ältere (und Fremde): a) 879b6-880bl: Vorrede b) 880bl-d7: Gesetz 2) 880d8-882al : Schläge gegen Eltern und Voreltern: a) 880d8—881b2: Vorrede b) 881b2-882al: Gesetz 3) 882al-c2: Schläge von Sklaven gegen Freie: a) 882al-b3: Vorrede (? vgl. dazu unten) b) 882b3-c2: Gesetz Gemeinsam ist den drei Gesetzesteilen, daß sie Schläge gegen rangmä­ ßig höherstehende bzw. unter besonderem Schutz stehende Personen ge­ nerell verbieten und sie auch nicht zur Selbstverteidigung gestatten. Für Schläge gegen Fremde ist dies explizit gesagt (879d4); für die Jüngeren folgt es aus der Forderung, daß sie Schläge von alten Leuten ertragen müssen (879c2-5), für Kinder gegenüber ihren Eltern aus den Bestim­ mungen 717d4—5 sowie 869b7-c3. Sklaven steht, auch ohne daß dies ge­ sagt ist, kein Widerstandsrecht gegen Schläge eines Freien oder ihres Herren zu. Werden die genannten Personen trotzdem geschlagen, zieht dies zwei Arten von Folgen nach sich: (I) Ein hinzukommender Dritter soll die Prügelnden auseinanderbrin­

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gen (88062^4) bzw. dem Geschlagenen beistehen (b4-6; c4-6, 881b4d2; 882a3-5); widrigenfalls wird er bestraft (880d2-7). Beistand fiir die Eltern wird sogar belohnt bzw. seine Unterlassung besonders schwer be­ straft (881b5-d3). (II) Den Schläger trifft als Strafe Haft (880c 1, c7-d2) bzw. bei Schlä­ gen gegen Eltern Verbannung auf das Land, deren Bruch mit dem Tod bestraft wird (881d3-7); wer mit ihm Gemeinschaft pflegt, wird unrein und muß sich reinigen (881d7-882al). Der Sklave, der einen Freien schlägt, erhält Peitschenhiebe durch den Geschlagenen (882a4-b3), an­ schließend wird er von seinem Besitzer in Haft gehalten, deren Beendi­ gung der Geschlagene bestimmt (b3—c2). Eine Entschädigung des Opfers sieht Platon nicht vor. Die auf der Abfolge von Proömium und Gesetz beruhende Struktur er­ scheint jedoch zweimal gestört: Im ersten Komplex enthält der in 880a6-bl ausdrücklich als Vorrede deklarierte Teil (la) einen im Gesetzesstil gehaltenen Passus (879d5— 880a6). Dieser Passus stellt eine Digression dar; ihr Auslöser ist die Be­ merkung, daß man Fremde nicht einmal zur Selbstverteidigung (μήτε αμυνόμενος 879d4) schlagen dürfe. Dies ruft die Frage hervor, wann man sich denn überhaupt durch Schläge verteidigen darf (vgl. άμύνεσθαι 880a2. 4), d.h. in welchen Fällen man sich durch Schläge nicht der αίκία schuldig macht. Sie wird je nach sozialem Status und Alter un­ terschiedlich beantwortet: Ein Bürger, der von einem Fremden geschla­ gen wird, soll nicht zurückschlagen, sondern den Fremden vor die Stadt­ aufseher bringen, die ihn gegebenenfalls bestrafen. Eine Person unter 40 Jahren, die von Gleichaltrigen geschlagen wird oder ein kinderloser Älte­ rer darf sich gegen Schläge eines Angreifers mit Schlägen wehren, ge­ nießt aber sonst keinen rechtlichen Schutz (zum Sinn dieser Bestimmun­ gen s. u. zu 879e6—880a3). Wer über 40 Jahre ist, darf sich auf keinen Fall prügeln. Klammert man den ganzen Passus 879d5—880a6 ein, so schließt das Gesetz 880bl-d7 (= 1b) nahtlos an die Vorrede 879b6-d5 an. Im dritten Komplex wird der Abschnitt 882b3—c2 (= 3b) ausdrücklich als ,Gesetz* deklariert, so daß der Abschnitt 882al—b3 (= 3a) das dazu gehörige Proömium sein müßte. Aber dieser erste Abschnitt ist eigentlich keine Vorrede, sondern enthält mit der Forderung nach Festnahme durch die hinzukommenden Dritten und nach Auspeitschung durch den Ge­ schlagenen eindeutig Gesetzesbestimmungen, die denn auch in den bei­ den anderen Komplexen konstitutive Teile des Gesetzes (1b und 2b) wa­ ren. Offenbar hat Platon diesen Bestimmungen hier dennoch die Funk­ tion eines Proömiums zugewiesen, weil sie den Bürgern ihre Pflichten in diesem Falle aufzeigen und auf den Sklaven (sofern ihm der Inhalt dieses Proöms zur Kenntnis gebracht wird) abschreckend wirken können.

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Platon übergeht Schläge gegen einen Sklaven, deren Urheber in Athen unter gewissen Bedingungen von jedermann mittels einer γραφή ύβρεως und vermutlich von dem Herrn durch eine δίκη αίκίας verfolgt werden konnte (Harrison 1968, 168). Offenbar erfüllen Schläge gegen­ über einem Sklaven, der ein bloßes Besitzstück ist (776b), in Platons Au­ gen nicht den Tatbestand der αίκία. Immerhin fordert er aber 777d, im Verhalten gegenüber Sklaven jede Hybris zu vermeiden. Schließlich geht das Gesetz nicht auf die Frage ein, ob der Hinzukom­ mende etwa auch bei eindeutiger körperlicher Überlegenheit des Schlä­ gers zum Beistand verpflichtet ist (vgl. unten zu 880d2-7); auch wird nicht klar gesagt, wer den, der den Beistand unterläßt, vor Gericht brin­ gen soll; am natürlichsten kommt der Geschlagene selbst in Frage.

879b8—cl: Der Anspruch des Alters auf Respekt seitens der Jugend gehört zu den traditionellen Wertvorstellungen griechischer Ethik (vgl. Richardson 1933; Garland 1990, 263 ff.). Platon ist einer der entschie­ densten Verfechter des Primats des Alters (vgl. Resp. 412c2—3, 425b, 465a—b, 560c9f., 563a, Nom. 659d, 665d, 690a, 701b, 712c8, 714e, 715d8—9, 721d5, 762e6-7, 855e2, 917a4-5, 919el-2, 927b5), dem er nicht nur — wie hier — strafrechtlichen Schutz gewährt, sondern durch die gesamte politische Organisation Magnesias zur Geltung verhilft (vgl. Roussel 1942, 65 ff.).

879c6— 7 in Tat und Wort (εργω τε καί εττει): Der Gebrauch von επει statt λόγω schafft durch Alliteration und Zitat einer epischen Junktur (Homer, II. 15,234; Od. 2,272) einen feierlicheren Ton. 879d2 um der Geburtsgötter willen: Damit sie ihm zur Geburt eigener Kinder verhelfen; vgl. 729c.

879d2—3 auch gegenüber jedem Fremden zurückhalten: Weil er unter dem Schutz des Zeus Xenios steht (729e-730a) und um ihn nicht durch Schläge zum Zurückschlagen zu provozieren. 879e6—880a3 Wenn aber ein Gleichaltriger einen Gleichaltrigen oder auch einen Älteren schlägt, der noch kinderlos ist usw.: Diese Bestim­ mung impliziert in Verbindung mit 880a3-4, daß Gleichaltrige unter 40 Jahren sich straflos prügeln dürfen. Die Straflosigkeit läßt sich mit dem Argument der Politeia (464e-465a) begründen, daß der Angreifer so sei­ nen Zorn auf relativ harmlose Weise abreagieren und die Bürger durch körperliches Training sich gegen solche Angriffe wappnen werden (Knoch 1960, 88). - Straffrei ist auch ein Angriff auf kinderlose Ältere, da diesen als einziges Abwehrmittel Schläge erlaubt sind. Da in Magne­ sia jeder Ältere im Normalfall verheiratet sein und Kinder haben wird, dürfte es sich bei dem kinderlosen Älteren nach Ritters Vermutung (II

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291) um einen Junggesellen handeln, dem 774b alle Ehren seitens der Jüngeren abgesprochen worden waren und daher auch keine Klage we­ gen ehrverletzender alxia zusteht. Die aus 880b gezogene Folgerung von Knoch 1960, 87 f., daß der Angreifer straffrei bleibt, wenn der Kin­ derlose weniger als 20 Jahre älter ist (so auch Saunders 1991a, 273 Anm. 35), ist m. E. nicht plausibel. Da die Frist zum Heiraten mit 35 Jah­ ren endet (772d) und ein Junggeselle natürlich erst nach deren Ablauf seiner Ehren verlustig geht, würde dies bedeuten, daß ein 20jähriger An­ greifer einen Junggesellen nur von dessen 35. bis zum 40. Lebensjahr straffrei schlagen darf und ein Junggeselle über 40 Jahre denselben Schutz wie seine verheirateten Altersgenossen genießt.

880a6 solchen Ermahnungen (παραμυθίοις): Zur παραμυθία („Zu­ reden“) als einer Funktion der Gesetzesproömien vgl. 720al. Die Dro­ hung mit dem Gesetz für den, der der Vorrede nicht gehorcht, findet sich auch 854c6—dl, 870e4-871al, 907d4-7, 917b7, 927c7-dl, 932a5-7, 938a6—7. 880c3—d2 Wenn aber ein Fremder oder ein Metöke einen schlägt usw.: Entgegen der im Falle des Tempelraubs angewandten Maxime (854e) wird hier der Fremde und der Metöke härter als der Bürger bestraft. Mög­ licherweise hat Platon den Fall vor Augen, daß der geschlagene Ältere ein Bürger ist; in diesem Fall würde der Fremde oder der Metöke es nicht nur an Respekt vor dem Alter, sondern auch vor dem Bürgerstatus fehlen lassen (ein anderer Erklärungsversuch bei Saunders 1991a, 274 f.).

880d2~7 Bestraft werden soll aber auch derjenige, der ... nicht Bei­ stand ... leistet usw.: Diese Strafen gelten auch für Unterlassen der Hilfe­ leistung in dem in 880b 1-6 beschriebenen Fall. Richter sind die Militär­ beamten deshalb, weil sie als ,Experten6 für Tapferkeit und Feigheit am besten beurteilen können, ob der die Hilfe Unterlassende „nach dem Ge­ setz als Feigling“ (880b3^l) zu gelten hat; gerechterweise müßten sie da­ bei auch prüfen, ob der zum Beistand Verpflichtete dem Kräfteverhältnis nach überhaupt zum Beistand gegen den Angreifer fähig gewesen wäre — ein Gesichtspunkt, den das Gesetz nicht erwähnt. 880d8—881b2 Gesetze, so scheint es, usw.: Respekt gegenüber den ei­ genen Eltern ist ein moralisches Gebot in allen antiken Kulturen und Re­ ligionen (vgl. die Belege bei De Schütter 1991, 219f.; zu den Griechen 220ff.; fiir Platon vgl. Nom. 690a, 701b, 714e, 717b, 917a, 919e, 930e932a). Das Gesetz gegen tätliche Mißhandlung der Eltern erhält daher wegen der besonderen Verwerflichkeit des Delikts ein eigenes Proömium wie im Falle der vorsätzlichen Tötung der Eltern (872c—873a). Wie dort (und 870d-e) beschwört auch hier der Gesetzgeber darin die Strafen der

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Götter auf Erden und unter der Erde, ohne diese jedoch genauer zu präzi­ sieren (Beispiele bieten z.B. Aischylos, Eum. 269—272; Aristophanes, Frösche 149-150). Nach dem Mythos des Phaidon 114a—b werden die Seelen derer, die im Zorn Gewalt gegen die Eltern gebraucht haben und dies bereuen, in den Tartaros geworfen, aus dem sie aber nach einem Jahr wieder herausgelangen; wenn sie dann am Acherusischen See von ihren Opfern Verzeihung erlangen, sind ihre Leiden zu Ende. Eine weitere Be­ sonderheit des Gesetzes besteht darin, daß nur im Falle der Mißhandlung der Eltern besondere Belohnungen für den Beistand für die Geschlage­ nen vorgesehen sind und Unterlassen der Hilfe besonders hart bestraft wird.

880d9 zu ihrer Belehrung: Zur Belehrung (διδαχή) durch das Gesetz vgl. die Anm. zu 858d8.

880el in Freundschaft beieinander wohnen wollen: Zur Wichtigkeit der Freundschaft vgl. 628c, 693b, 693c, 701d9, 738d7, 743c6, 757a.

880e2 weil sie ein widerspenstiges Naturell besitzen und sich in keiner Weise dazu erweichen lassen: Zum Gedanken und zur Wortwahl vgl. 853d2—3. 881al die Strafen: Für das überlieferte τιμωριών schlug Ritter II 292 wie schon Winckelmann das Maskulinum τιμωρών vor, da von μήνιν besser der Genitiv einer Person („der unterirdischen Rächer“) abhängt. England verweist hiergegen mit Recht auf das λεγομένων, das eher auf einen Vorgang als auf eine Person hindeutet. Die Abhängigkeit von μή­ νιν ist als poetische Extravaganz in Kauf zu nehmen. 881b6 der im Land ansässige Fremde: Ich übernehme Schneiders Til­ gung des ή zwischen μέτοικος und ξένος (ebenso England, Diès, Saun­ ders 1991a, 277 Anm. 53, Lisi, Brisson - Pradeau) 881b6 einen Ehrenplatz (προεδρίαν): Nach dem Vorbild Athens, wo neben Beamten und Priestern auch verdiente Bürger das Privileg eines Ehrenplatzes bei den Agonen und im Theater erhalten konnten. 881c3 hundert Schläge mit der Peitsche: Die ist das Doppelte des ge­ setzlichen Maximums an Schlägen, die ein athenischer Beamter verhän­ gen durfte (Morrow 1939, 69, Gemet 1951, p.CXXVAnm.2). Zur Strafe der Auspeitschung vgl. zu 854d3.

881d2 indem er ihn mit diesem Namen anruft (έπονομάζων): Also mit „du Frevler!“ 881d2 gemäß dem Gesetz dem Fluch des Zeus verfallen: Zum Fluch als einem Element des Gesetzes vgl. zu 871b4-5. Die Formel άρα

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Kommentar

ένεχέσθω ... κατά νόμον ist Gesetzesstil: vgl. Syll. 987,35f.: ταΐς έκ [των] νόμων άραϊς ένοχος έστω.

881d2 Zeus , der die Blutsverwandten und die Eltern schützt (Δίός όμογνίου καί πατρώου): Als όμόγνιος schützt Zeus die eheliche Ver­ bindung, die Geburt von Kindern, den Herd und das Leben der Familie; vgl. Aristophanes, Frösche 750; Euripides, Androm. 921. Als πατρώος schützt er das Recht der Familie und die den Eltern geschuldete Ehre; vgl. Aristophanes, Wolken 1468 f. (vgl. Schwabl 1978, 1051-2; De Schütter 1991, 235-240). 881d4-e4: Da die Verbannung auf das Land lebenslang währen soll, ist ihr Zweck nicht die Besserung des Täters (wie bei befristetem Exil 867c-e), sondern das Femhalten der Befleckung. Diesem Zweck dient auch das Verbot jeden Kontakts mit dem Täter (vgl. hierzu die Beispiele bei Parker 1983, 194). Vergleichbar harte Strafen kennt das attische Recht für Mißhandlung der Eltern nicht, doch trifft den Täter immerhin die Atimie (Aischines, Or. 1,28) als eine Form öffentlicher Ächtung.

881e6 bei der Rechenschaftsablegung (έν εύθύναις): Vgl. hierzu die Bestimmungen 945b ff. 882a3 die genannte Geldstrafe: Vgl. 880d. 882b 1 in Fußfesseln legen: Die Fußfessel wird in den Nomoi nur hier erwähnt und ist dem griechischen Strafrecht unbekannt (Knoch 1960, 90 Anm. 182).

882b4 ohne daß es die Beamten befohlen haben: Bezieht sich auf den Fall des Sklaven, der in staatlichem Auftrag (vgl. 872b) Exekutionen durchführt.

Zehntes Buch

7.8. 884al—885b2: Gewalttaten gegen äußere Güter. Taten der Hybris

Das Textstück bildet das Scharnier zwischen dem Ende von Buch IX und dem Asebie-Gesetz. Der Athener kündigt zunächst eine allgemeine Vorschrift fiir die βίαια an (884al—2). Sie besteht in der Maxime, daß man Achtung vor fremdem Eigentum haben soll, was damit begründet wird, daß das Fehlen dieser Achtung Ursache der „genannten Übel“ (= τα είρημένα κακά a5) ist. Unklar ist, was der Athener hier mit den βίαια meint. Als βίαια („Ge­ walttaten“) galten bisher alle in Buch IX erörterten Straftaten (vgl. oben

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S. 291; ferner 874d6, 879b6). Vor diesem Hintergrund scheint der Athe­ ner hier abschließend eine zusammenfassende Maxime für alle im Buch IX behandelten Gewalttaten zu formulieren, die demnach mit den „ge­ nannten Übeln“ gemeint sein müssen (so z.B. Vanhoutte 1954, 362f.). Die monokausale Erklärung dieser Straftaten mit dem Streben nach fremdem Besitz (= έκ ... του τοιούτου 884a4) widerspricht allerdings der Pluralität der in 870a-d aufgezählten Tatmotive, unter denen das Be­ sitzstreben nur eines (wenn auch das stärkste) ist. Zur Auflösung des Wi­ derspruchs müßte man annehmen, daß der Athener hier entweder nur das stärkste Tatmotiv angibt oder auch die anderen Tatmotive letztlich auf das Besitzstreben zurückführt. Eine andere Deutung ergibt sich, wenn man aufgrund der Wendung μετά τάς αίκίας (884al) im ersten Satz eine Überleitung zu einer neuen Deliktkategorie sieht (vgl. das überleitende μετ’ εκείνα 869e8, 874e2). Als solche käme wegen der den Respekt vor fremdem Eigentum fordern­ den Maxime nur der gewaltsame Raub in Frage, zumal da dieser im atti­ schen Recht einfach βίαια heißen konnte (vgl. Lipsius 637 ff.) und auch vom Athener selbst in 914e9 und 934c4 so bezeichnet wird. Die „ge­ nannten Übel“ wären dann nicht die in Buch IX erwähnten Straftaten, sondern einfach die in 884a2 erwähnten βίαια, also der Raub. Für diese Deutung könnte sprechen, daß damit nach den in Buch IX besprochenen Gewalttaten gegen die Seele (Mord) und den Körper (Verletzungen) jetzt gemäß der dreistufigen Güterordnung Gewalttaten gegen den Besitz ei­ nes anderen an die Reihe kämen. Erklärungsbedürftig bleibt dann, wa­ rum statt des Raubes die Asebie das Hauptthema von Buch X bildet (s. dazu unten). Von den „genannten“ Übeln geht der Athener dann zu den „übrigen“ Übeln über. Bei diesen handelt sich um zügellose und respektlose Taten (ύβρεις; Näheres unten zu 884a7), wie sie vor allem junge Leute bege­ hen. Eine präzise Definition von Hybris fehlt; ,Verletzung des Eigen­ tums4 läßt sich nur in einem sehr weiten Sinne als gemeinsames Merkmal annehmen (Mayhew 46 ff.). Je nach dem Objekt, gegen das sich diese Ta­ ten richten, unterscheidet der Athener fünf Arten von Hybris: 1) gegen heilige Güter der Gesamtgemeinde oder einer ihrer Gruppie­ rungen (884a7-885al); 2) gegen private Heiligtümer und Gräber (885a 1—2); 3) gegen die Eltern (a2-3); 4) gegen das Eigentum der Beamten (a3—5); 5) gegen die politischen Rechte eines Bürgers (a5—6). Die erste Art von Hybris betrifft die Heiligtümer und Kulte der magne­ sischen Gesamtgemeinde und der Phylen und Demen (vgl. 77Id); nur diese Art von Hybris wird im 10. Buch behandelt, wobei aber nicht mehr

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der bereits 853d ff. behandelte Tempelraub, sondern der „intellektuelle“ Frevel gegen die Götter durch Worte und Handlungen (885b2) im Zen­ trum steht. Die anderen Arten von Hybris tauchen in den folgenden Büchern nur unzusammenhängend auf. Bei der zweiten Art von Hybris handelt es sich kaum um Vergehen gegen religiöse Heiligtümer im eigentlichen Sinn (denn private Kulte werden 909d ff. verboten), sondern wohl um die Mißachtung der (lebenden oder toten) Vorfahren (die laut 93Oe einen ge­ radezu göttlichen Kultstatus genießen), z.B. durch Grabschändung. Dazu tritt als dritte Art der Hybris die mangelnde Achtung der Eltern; beide Arten werden in 930e ff. behandelt, wo die Vernachlässigung der Eltern (und der Großeltern: 931a4-5) als Entehrung (άτιμάζειν 931c3, e3) mit schweren Sanktionen belegt wird. Die vierte Art von Hybris läßt sich dem in 941b behandelten Diebstahl von Gemeineigentum subsumieren, da es sich bei dem gestohlenen Gut wohl kaum um das Privateigentum der Beamten handeln dürfte (das ja schon durch die allgemeine Maxime 884a2^· geschützt ist), sondern eher um Dinge, mit denen sie zur Ausübung ihrer Amtstätigkeit ausge­ stattet sind. Schwer zu fassen ist die fünfte Art von Hybris. Saunders 1991a, 271 Anm. 23 vermutet, daß die in 926d-928d behandelte Vernachlässigung der Waisenkinder gemeint ist, die auch „politische“ Aspekte wie die Ver­ erbung des Familienbesitzes betrifft; diese Vermutung könnte sich darauf stützen, daß 927c2 und 8 die einzigen Stellen sind, an denen das Verbum ύβρίζειν in B. XI-XII verwendet wird (vgl. auch άτιμάζουσι 927b4). Da aber als Opfer der υβρις in 885a6 nicht das Waisenkind, sondern der (doch wohl volljährig zu denkende) Bürger genannt ist, läßt sich nur so­ viel sagen, daß ein Verhalten gemeint sein muß, das einen Bürger in der Ausübung seiner Rechte behindert (z.B. durch Verhinderung seines Er­ scheinens vor Gericht 954a) oder ihn nicht seinem Status gemäß, sondern wie einen Sklaven oder Fremden behandelt (beides ist z.B. fiir den bei Isaios, Or. 8,41 erwähnten Fall von Hybris anzunehmen). Kompositorisch fallt auf, daß die 884a2-4 vorgetragene Maxime in ähnlicher Form zu Beginn von Buch XI wiederholt wird und dort die ausführliche Behandlung des Eigentumsrechts einleitet. Diesen Befund haben Wilamowitz 1920, II 315, Diès 1951, p. VI, Knoch 1960, 13 u.a. als Indiz dafür gedeutet, daß nach den Mißhandlungen ursprünglich die (jetzt in Buch XI stehenden) Eigentumsverletzungen behandelt werden sollten, daß aber dieser geplante Zusammenhang durch den Einschub des Asebiegesetzes (Buch X) unterbrochen wurde. Für die Behandlung des Asebiegesetzes an dieser Stelle gibt es aber gute Gründe. Asebie ist für Platon ein schweres Delikt und durfte daher

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im Strafrecht nicht übergangen werden. Wegen der grundlegenden Be­ deutung des rechten Gottesglaubens für die Polis und ihre Gesetze ge­ bührte dem Asebiegesetz ein herausragender Platz. Als solcher bot sich der Anschluß an die im 9. Buch behandelten Strafgesetze an, die auf die­ se Weise mit dem Tempelraub als einem „materiellen“ Vergehen gegen die Götter beginnen und mit der Asebie als einem „intellektuellen“ Fre­ vel gegen die Götter enden. Das Asebiegesetz ist auch insofern ein integraler Teil des Strafgesetz­ buchs, als nun nach den durch Zorn bzw. Lust und Begierden verursach­ ten Vergehen mit der Asebie ein auf άμαθία (886b7 Unbelehrbarkeit; vgl. oben S.285) beruhendes Vergehen behandelt und damit das dritte der im Strafrechtsexkurs entwickelten Motive berücksichtigt wird (und zwar in der gravierendsten Form der sich weise dünkenden Unwissen­ heit). Außerdem verweist das Proömium zum Asebiegesetz in 904a— 905d warnend darauf hin, daß die göttliche Vergeltung für begangenes Unrecht durch keine kultische Bemühung abgewendet werden kann, und verstärkt so das Drohpotential der im 9. Buch neben den irdischen Stra­ fen erwähnten Jenseitsstrafen. Hinsichtlich der zweimaligen Erwähnung der das Eigentum schützen­ den Maxime ist zu bedenken, daß sie zu Beginn des 11. Buches eine Norm fiir alle zivilrechtlichen Rechtsgeschäfte formuliert, während sie hier als Maxime des Strafrechts vorgetragen wird und gegen gewaltsame Eigentumsverletzung gerichtet ist; auch schließt sich das Verbot der ge­ waltsamen Eigentumsverletzung (βίαια) sinnvoll an die Strafgesetze des 9. Buches an, die alle die βίαια betreffen, und komplettiert die der ,ka­ nonischen* Dreiteilung der Güter (vgl. zu 697b2-6) entsprechende Drei­ zahl der Delikte gegen die Seele, den Leib und das Eigentum wenigstens durch eine Erwähnung der letzten Kategorie. Mehrmals wiederholt wird übrigens auch die Maxime, daß man nichts wegnehmen darf, was man nicht hingelegt hat (844e9, 913c7-dl, 941dl), oder die Formel μή κινείν τα ακίνητα (684e 1, 843al, 913b9). 884a2—3 niemand etwas wegtragen oder wegfuhren: In dieser seit Ho­ mer II. 5,484 üblichen Junktur bezeichnet φέρειν das Wegtragen beweg­ licher Güter und αγειν ursprünglich das Wegtreiben von Vieh; im vorlie­ genden Kontext kann αγειν aber auch das Wegfiihren (αγωγή) eines Sklaven meinen (vgl. 914e3 ff).

884a6—7 die zügellosen und respektlosen Handlungen der jungen Leu­ te (od των νέων άκολασίοα τε καί ύβρεις): Zu Zügellosigkeit und ,Hybris* neigen vor allem junge Leute; daher die Junktur υβρει τινι καί ακολασία καί νεότητι (Apol. 26e; vgl. auch Nom. 716a6). Die Hybris bildet den Gegensatz zur maßvollen Zurückhaltung (σωφροσύνη; vgl.

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Phil. 45d3-4, Nom. 849a6, 906a8-bl) und besteht im Mangel an Re­ spekt (αιδώς) gegenüber Personen oder Dingen, denen besondere Ach­ tung gebührt. Für Aristoteles ist υβρις eine Form der Geringschätzung, die andern etwas zufügt, das diesen Schande bringt, und zwar nur um des Vergnügens willen, daß man sich dadurch anderen überlegen fühlt; des­ halb neigen die Jungen und die Reichen zur Hybris (Rhet. 2,2. 1378b 10—35). — Die Nomoi kennen allerdings keine Klage wegen Hybris als Gegenstück zur attischen γραφή ύβρεως. Der dieser attischen Klage zugrundeliegende Begriff der Hybris wird von den Rechtshistorikem un­ terschiedlich gedeutet; die Mehrheitsmeinung faßt ihn wohl richtig als Verletzung der Ehre eines Bürgers; vgl. Lipsius 420ff., MacDowell 1976, Fisher 1976/79, Gagarin 1979, Fisher 1990, Murray 1990, Cohen 1991b, Todd 1993, 270-271.

885a2 abgesehen von den bereits vorhin besprochenen Fällen: Vgl. 869a-c, 873a—c, 877b, 878e-879a, 880d-881e. 885a6— 7 Für jede dieser Verhaltensweisen muß in allgemeiner Form ein Gesetz gegeben werden (δοτέον εις κοινόν νόμον): Dieser von den Handschriften überlieferte Text kann kaum besagen, daß für alle fünf Ar­ ten von Hybris ein gemeinsames Gesetz zu geben ist (Stallbaum stellt diesen Sinn durch Streichung von εις her; England faßt den Ausdruck adverbial auf). Denn erstens erwartet man dann statt έκάστοις den Dativ πασι wie Nom. 909d3 (vgl. auch Phaid. 98bbl-3, Rep. 369e, Menex. 249b4—5, Theait. 185c7, Pol. 275e7, 306e3, Tim. 83b8, Nom. 802c6, 942c4), und zweitens wird ein solches Gesetz in den Nomoi nirgends for­ muliert. Ich möchte daher den überlieferten Text so verstehen: Es soll fiir jede (έκάστοις) der fünf Arten von Hybris ein Gesetz gegeben werden, das allgemein (εις κοινόν), d.h. für alle (gr. πάσι) Unterarten der be­ treffenden Art gilt. Ein Beispiel hierfür bietet das anschließend genannte Gesetz gegen Tempelraub, das zusammenfassend (συλλήβδην 885bl) sowohl für den mit Gewalt als auch für den heimlich begangenen Tem­ pelraub gelten soll. 885a7—bl Für den Tempelraub ... ist ja bereits zusammenfassend ge­ sagtworden: In 854c—856a und 860b. 885bl mit Gewalt oder heimlich (βίαιος τε και λάθρα):. Eine solche Disjunktion (vgl. zu 843b4) findet sich allerdings in dem Gesetz gegen Tempelraub (853d5-855a2) nicht. 7.9. 885b2—910e4: Vergehen gegen die Götter (Asebie)

Das ganze restliche Buch X besteht aus einer langen Vorrede und dem Gesetz gegen ,Asebie6 (άσεβείας πέρι νόμοι 907dl). Das Wort ά-σέ-

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βεια (in der Übersetzung meist mit „Religionsfrevel“ oder „Frevel gegen die Götter“ wiedergegeben) bezeichnet das Gegenteil von εύ-σέβεια, der rechten Verehrung und Achtung (σέβεσθαι) der Götter. In den No­ moi werden außerhalb des 10. Buches folgende Tatbestände als ασέβεια qualifiziert: die Weigerung, sich wegen Verstoßes gegen die religiösen Normen der Musik von kultischen Feiern ausschließen zu lassen (799b); die Rückkehr von jemandem, der einen engen Verwandten im Zorn getö­ tet hat, in die Gemeinschaft der Familie und seine Teilnahme am familiä­ ren Kult (868d-e, 869a); die vorsätzliche Tötung von Vater oder Mutter (869b); die Bestattung eines Mörders im Land des Ermordeten (87Id); die Pflichtverletzung von Gesandten und Herolden (941a). Der Tempel­ raub wird jedoch (wie in Athen) als eigenständiges Delikt behandelt in 853b—855a. Das Asebiegesetz im zehnten Buch zielt dagegen auf die Asebie als ein Delikt, das sich direkt gegen die Götter richtet (vgl. z.B. 908b3) und in der Annahme und Verbreitung falscher Ansichten über die Götter be­ steht. Der Athener nennt drei Ansichten, die schon in der Politeia 365de erwähnt werden: Die Götter existieren nicht. Die Götter kümmern sich nicht um die Menschen. Die Götter lassen sich durch Opfer und Gebete beeinflussen. Diese drei Ansichten, von denen nur die erste Ansicht „atheistisch“ im heutigen Sinne ist (άθεος bzw. άθεότης kommt in den Nomoi nur in XII 966e5, 967a3, c6 vor), werden vor der Strafdrohung des Gesetzes (907d-910d) in einem langen Proömium (885b-907d) jeweils durch den Beweis des Gegenteils widerlegt: Zunächst wird die Existenz von Göt­ tern dadurch bewiesen, daß die Seelen, die die Himmelskörper bewegen, als Götter interpretiert werden (885b—899d). Aus der Güte und Vollkom­ menheit der Götter wird sodann gefolgert, daß sie sich auch um die Men­ schen kümmern (899d-905d). Aus der Vollkommenheit der göttlichen Fürsorge folgt, daß sie niemals das Gerechte für Geschenke ungerechter Menschen verraten würden (905d-907a). Während die einzelnen Be­ weisgänge an ihrem Ort genauer kommentiert werden sollen, sind hier vorab einige grundsätzliche Punkte zu erörtern. 1. Gründefür die Strafbarkeit der Asebie in Magnesia. Die naheliegen­ de Begründung, daß Magnesia wie jede klassische Polis nicht nur eine politische, sondern auch eine kultische Gemeinschaft bildet, die für die Asebievergehen ihrer Mitglieder mitbüßt (910b6), bleibt hinter dem spe­ zifisch platonischen Ansatz zurück, der einen tieferen Zusammenhang zwischen Götterglauben, Moral, Glück und Gesetzgebung, herstellt (vgl. dazu Lenzi 2007). Das Proömium gibt hierzu wichtige Hinweise. Zwischen der religiösen Überzeugung und der Moral der Bürger gibt

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es einen Zusammenhang, der darin besteht, daß die rechte Gottesvorstel­ lung vor gesetzwidrigem Handeln bewahrt (885b). Denn aus jeder der drei häretischen Ansichten läßt sich folgern, daß es möglich ist, Unrecht zu tun, ohne dafür von den Göttern bestraft zu werden. Die Widerlegung dieser Ansichten und der Nachweis, daß es die Götter mit der Gerechtig­ keit genauer nehmen als die Menschen (887b), dient also im strafrechtli­ chen Kontext der Bücher IX-X der negativen Prävention durch Abschre­ ckung. Es gibt aber auch einen positiven Zusammenhang zwischen Götter­ glauben und Moral: Für tugendhafte Menschen ist der Umgang mit dem Göttlichen und die Tugend als Verähnlichung mit Gott das wirksamste Mittel zu einem glücklichen Leben (716a—d). Voraussetzung fiir ein „schönes“ und glückliches Leben ist aber, daß man eine richtige Ansicht über die Götter hegt (888b). Diese besteht in der Erkenntnis, daß das Universum „voll von Göttern ist“ (899b) und daß die in ihm waltende vemunftgesteuerte mathematische Ordnung zugleich eine moralische Ordnung ist, in der jedem Element sein Platz proportional zu seinem Bei­ trag fiir das Ganze zugewiesen ist (903b-905c). Den Göttern ähnlich werden bedeutet daher fiir das Individuum, daß es in seiner Seele eben­ falls eine Ordnung verwirklicht, in der die Vernunft führend ist. Nur ein solches Verhalten ist auch der Würde der Seele gemäß, die, wie vor allem im ersten Beweisgang deutlich wird, einen ontologischen Vorrang vor dem Körper besitzt. Diese ,Astraltheologie6 ist auch von Bedeutung fiir die Gesetzgebung, weshalb ihre wissenschaftliche Aneignung der Nächtlichen Versamm­ lung als der Erhalterin der Gesetze obliegt (vgl. 960b ff.). Die Gesetze sind nämlich „Erzeugnisse der Vernunft“ (890d7) und entspringen so derselben geistigen Kraft, die als göttlicher Nus die Ordnung des Univer­ sums gestiftet hat. Indem die Gesetze — als „Austeilung der Vernunft“ (714a 1-2) - diese Ordnung der politischen Wirklichkeit einprägen, wird die vernünftig geordnete Stadt Magnesia Teil der universellen Ordnung, innerhalb derer sie wie der Kosmos zum „Sieg der Tugend“ beiträgt (904b). Insofern hat Kleinias recht, wenn er im Proömium zum AsebieGesetz die schönste Vorrede zu den gesamten Gesetzen (887b—c) sieht. Denn durch die Widerlegung der häretischen Ansichten kommt der Ge­ setzgeber dem Gesetz zu Hilfe, indem er nachweist, daß die Gesetze „von Natur oder nichts Geringeres als die Natur sind“ (890d). Die Ge­ fährlichkeit der drei häretischen Ansichten ist also nicht so sehr in der atheistischen Überzeugung als solcher als vielmehr darin begründet, daß diese das Fundament und die Autorität der in Magnesia geltenden Geset­ ze untergräbt. 2. Das Verhältnis der Theologie der Nomoi zur Politeia und Timaios.

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Bereits in der Politeia übt der platonische Sokrates Kritik an den Götter­ erzählungen des Mythos und an der Volksreligion und stellt zwei „Grundformen für das Reden von Gott“ (τύποι περί τής θεολογίας 379a) auf: Gott ist gut und daher Ursache nur von Gutem (379b—c). Gott ist einfach und daher unveränderlich und kann nicht täuschen (380d). Über diese beiden Eigenschaften hinaus lassen sich über das Göttliche keine absolut verläßlichen Aussagen machen (Krat. 400d—e), so daß man sich anstelle der Wahrheit mit dem Glauben (πίστις) zufrieden geben muß (Tim. 29c). Diese agnostische Haltung gegenüber den traditionellen Göttern gilt allerdings nicht gegenüber den „Göttern am Himmel“ (Resp. 508a4), d. h. den Himmelskörpern, die als die allzeit sichtbaren Götter von den Göttern des Mythos zu scheiden sind, welche sich nur zeigen, wenn sie wollen (Tim. 41a). Die religiöse Verehrung der Himmelskörper war für Griechen und Barbaren nichts Ungewöhnliches (887e); Platon gibt die­ sem religiösen Glauben in den Nomoi ein wissenschaftliches Fundament durch seine physikalische Astraltheologie, für welche die Erklärung der Planetenbahnen mit Hilfe von Kreisbewegungen durch Eudoxos von Knidos (vgl. zu 820e8-822dl) der entscheidende Auslöser gewesen sein dürfte (vgl. Burkert 1977, 479 ff.). Denn die Theorie des Eudoxos ermög­ lichte eine Mathematisierung der Kosmologie und erlaubte, in der Kreis­ bewegung als einem Sinnbild der göttlichen Vernunft (897c ff.) die Grundbewegung aller Himmelskörper zu erkennen. Die Astraltheologie der Nomoi dient aber nicht nur dem Beweis der Existenz der Götter, sondern vermag auch den in der Politeia 378e—381c aufgestellten beiden Grundformen für das Reden von Gott zu genügen. So impliziert die im zweiten Argumentationsgang (899d4—905d3) be­ wiesene göttliche Fürsorge, daß die Götter gut und Ursache nur von Gu­ tem sind. Die daraus in 905d8-907b9 deduzierte Unbestechlichkeit der Götter entspricht der Feststellung, daß die Götter einfach und in ihrem Wesen unwandelbar sind. Die beiden Eigenschaften der platonischen Gottheit, (1) gut und Ursa­ che nur des Guten sowie (2) unveränderlich zu sein, kommen in der Poli­ teia auch der Idee des Guten zu. Manche Interpreten schlossen daraus auf eine Identität von Gott und der Idee des Guten (z.B. Jaeger 1959, III 1-25, Robin 1968, 182f.); differenzierter argumentiert Bordt 2006, 145 ff. mit der jeweiligen Kontextperspektive: im Kontext der Polis ist von Gott, im Kontext der Metaphysik ist von der Idee des Guten die Re­ de, wenn das oberste Prinzip der Wirklichkeit gemeint ist. In jedem Fall scheint mit der Konzeption Gottes als eines obersten Prinzips die plura­ listische Theologie der Nomoi unvereinbar, welche die Götter als Seelen auffaßt. Dieser scheinbare Widerspruch läßt sich mit Bordt durch die Be-

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obachtung überbrücken, daß in den Nomoi der Nus (Vernunft), den die Seele zu Hilfe nimmt, als „ein Gott fiir Götter“ (897b2) bezeichnet wird. Dies kann so gedeutet werden, daß über den vielen Gestimgöttem ein oberster Gott steht, auf den diese angewiesen sind, um den Kosmos zum Besten zu lenken, so wie umgekehrt die Konzeption der Politeia offen ist fiir die Annahme mehrerer Götter, die ontologisch von dem obersten Gott abhängig sind (Bordt 2006, 214ff.; 2007, 140). 3. Astraltheologie und Polisreligion: Die religiöse Praxis Magnesias ist gekennzeichnet durch ein geradezu ängstliches Festhalten an den überkommenen Formen der Religionsausübung; denn dies ist angesichts des unsicheren Wissens über die traditionellen Götter das „Zweitrichtig­ ste“ (δεύτερος τρόπος ορθότητος Krat. 400e 1). Alle lokalen Kulte sollen unverändert in die neue Gründung übernommen werden (Nom. 738b—d). Als Polisgötter werden die olympischen Götter in den üblichen Formen des Kults (Opfer, Gebet usw.) verehrt (vgl. zu 717a6-b2; 727el, 745d7 ff.); die traditionelle Frömmigkeit wird geradezu als ein Argument für die Existenz von Göttern gewertet (887d). Dieser traditionelle Kult wird durch die Theologie des 10. Buches nicht entwertet, sondern wird in einen größeren Zusammenhang gestellt, der von den traditionellen Göttern über die Gestimgötter bis zur Vernunft (νους) als der obersten Gottheit emporreicht, die die Ursache des Guten und der kosmischen Ordnung ist (vgl. auch Lefka 2003 zur Beziehung zwischen Vernunft und traditioneller Religion). Dem abstrakteren Gottesbegriff entspricht eine sublimere Frömmig­ keit. Die äußeren Formen des Kultes ändern sich nicht, wohl aber ihr geistiger Gehalt. Die Frömmigkeit besteht nicht mehr im formellen Er­ füllen religiöser Riten oder gar in magischen Praktiken, sondern ist eine moralische und intellektuelle Haltung. Wer die Götter in der rechten Wei­ se ehren will, muß ihnen durch ein gerechtes und besonnenes, von der Vernunft gesteuertes Leben ähnlich zu werden trachten. Daher sind alle Bemühungen der schlechten Menschen um die Gunst der Götter vergeb­ lich (Nom. 716e—717a; 910b). Dies bedeutet aber nicht, daß Opfer und Bittgebete an die Götter, wie sie auch der Athener selbst an die Götter richtet (z.B. 712b4-6, 893b) oder anderen empfiehlt (z.B. 687e, 741c, 757e, 931c. e), angesichts der Unwandelbarkeit der Götter generell wirkungslos und sinnlos wären. Wirkungslos sind nur diejenigen Opfer und Bitten, mit denen schlechte Menschen die Götter von ihrem Wesen abzubringen suchen (vgl. zu 885b8—9). Gute Menschen benutzen das Opfer nicht als Mittel der Beste­ chung, sondern des freundlichen Umgangs mit den Göttern. Sie bitten die Götter nur um etwas, durch dessen Gewährung die Götter sich ihrem Wesen gemäß als gut und Geber nur von Gutem erweisen. Die größte

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Gabe, die die Götter schenken können, ist die Vernunft, durch deren Ge­ brauch eine Sache erst zu einem Gut wird; sie ist daher auch die einzige Gabe, um die Stadt und Individuum bitten müssen (687e, 688b, 801a—b). 4. Die Verfolgung von Asebie in Athen: In der strafrechtlichen Verfol­ gung der Asebie unterscheidet sich Magnesia nicht von Athen und ande­ ren griechischen Städten. Die Leugnung der von der Stadt verehrten Göt­ ter wird überall als Angriff auf die Polis verstanden und als ein politi­ sches Delikt verfolgt. Religionsfreiheit und die Trennung von Religion und Staat sind der Antike fremd (Cohen 1989, 104). Das attische Recht, das mehr an Verfahrensfragen als an präzisen Defi­ nitionen der Tatbestände interessiert war (Todd 1993, 61; Rubel 2000, 87), kannte allerdings keinen klaren juristischen Begriff der Asebie, die im allgemeinen mit einer Schriftklage (γραφή) verfolgt wurde; die Red­ ner subsumieren unter Asebie z.B. Verstöße gegen Kultvorschriften, Be­ leidigung, Beschädigung oder sonstiges ungebührliches Verhalten ge­ genüber den Göttern und ihren Heiligtümern, Profanierung von Myste­ rien, Betreten heiliger Plätze im Zustand der Befleckung oder der Atimie, Wegreißen eines Schutzflehenden vom Altar und die Einführung und Verehrung neuer oder fremder Götter (Belege bei Lipsius 359—368; Co­ hen 1989, lOOff., 1991a, 205ff; Parker 2005, 63-68). Aber auch bloße Meinungen über die Götter konnten als ασέβεια verfolgt werden (so die neuere Forschung, vgl. Cohen 1989, 104; Rubel 2000, 89). Dies bestätigt neben Belegen wie Isokrates, Or. 11,40, Aristoteles, Rhet. 2,23. 1399b7, Xenophon, Apol. 24, Mem. 1,1-2, Hypereides, Fr. 55 (Jensen), Platon, Euthyphr. 2b—c, 5a, 6a, 16a auch der Prozeß gegen Sokrates; denn weder in der platonischen noch in der xenophontischen Apologie wird bestrit­ ten, daß die dem Sokrates unterstellten Überzeugungen, wenn sie denn zuträfen, den Tatbestand der Asebie erfüllen. In der Forschung ist allerdings strittig, inwieweit außer dem Prozeß ge­ gen Sokrates überhaupt Asebieprozesse tatsächlich durchgeführt wurden (Sammlung der Belege bei Fischer 1967, 17—73). Am ehesten glaubhaft ist der Prozeß gegen Anaxagoras (vgl. Diogenes Laert. 2,12), auf den vermutlich das von Diopeithes um 430 eingebrachte Dekret zielte, das strafrechtliche Verfolgung fiir Leute forderte, „die die göttlichen Dinge nicht fiir wirklich halten oder Lehren über das, was am Himmel ist, ver­ breiten“ (Vors. 59 A 17); vgl. dazu die ausführliche Diskussion bei Rubel 95-119. Als weitere Opfer von Asebieklagen werden von der Überliefe­ rung u. a. genannt Aischylos, Protagoras, Prodikos, Aristoteles, Stilpon, Theophrast, Demetrios von Phaleron, Theodoros Atheos; doch ist es hier schwieriger, Anekdotisches von Historischem zu scheiden (skeptisch hinsichtlich der Historizität sind z.B. Cohen 1989, Hansen 1995, 78-79; Breitbach 2005, 334; für Historizität tritt ein O’Sullivan 1997; wichtig

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hierzu auch die Überlegungen von Winiarczyk 1990). Bei den meisten dieser Asebie-Anklagen dürften jedenfalls politische Motive eine Rolle gespielt haben (vgl. Lipsius 360, Todd 1993, 308 ff., O’Sullivan a.a.O., Parker 2005, 66) — wie wohl auch im Prozeß gegen Sokrates (vgl. Rubel 359, Breitbach 2005).

oc) 885b2—907d3: Vorrede (Proömium) zum Gesetz

885b4—887c4: Die drei Irrtümer über die Götter und ihre Ursachen. Ent­ schluß zur Widerlegung. Die drei Thesen, welche (1) die Existenz, (2) die Fürsorge und (3) die Gerechtigkeit der Götter leugnen und dadurch die Moral untergraben (885b4—9), sind möglicherweise schon vor Platon formuliert worden (Gigon 1947, 254 denkt an die Schrift des Protagoras über die Götter; Görgemanns 1960, 86 Anm. 3 sieht eine Ähnlichkeit dieser Denkform mit dem Gorgiasfragment Vors. 82 B 3). Logisch betrachtet kann niemand gleichzeitig alle drei Thesen vertreten. Aber als Argumente gegen eine göttliche Bestrafung der Ungerechtigkeit ergeben sie einen folgerichti­ gen Gedankengang (vgl. auch 948c): Der Ungerechte braucht die Strafe der Götter nicht zu fürchten; denn (1) es gibt keine Götter; wenn es sie aber doch gibt, so (2) kümmern sie sich nicht um die Menschen; wenn sie sich aber doch um die Menschen kümmern, so (3) lassen sie sich durch Opfergaben bestechen (vgl. die Argumentation des Adeimantos Resp. 365a-366a). Die dritte Irrlehre, die auf dem bereits Euthyphr. 14b15b verspotteten tto-w^rfes-Prinzip beruht, ist die schlimmste (907b) und besitzt die meisten Anhänger (948c). Vor dem Entschluß zur Widerlegung läßt der Athener die Anhänger der Häresien selber zu Wort kommen. Ihre Rede 885c5—e6 schiebt die Verantwortung fiir die häretischen Ansichten den Dichtem und sonstigen Exponenten des intellektuellen und religiösen Lebens zu; zugleich wird in den Worten der Häretiker die fatale Konsequenz fiir die Moral sicht­ bar, die sich aus der Annahme einer Bestechlichkeit der Götter ergibt. Und schließlich zeichnen die Häretiker in ihrer Rede dem Gesetzgeber (d.h. dem Athener) seine Aufgabe vor, indem sie unter Berufung auf 719e7ff. und 857c4ff. vom Gesetzgeber eine Belehrung fordern, die der Wahrheit näher kommen soll als die Worte der Dichter (el-6). Als Belehrung genügt allerdings nicht, wie Kleinias meint, der simple Hinweis auf die Ordnung der Natur und auf den Consensus omnium (885e7-886a5). Denn der Unglaube der Häretiker beruht nicht nur auf ei­ ner moralischen Schwäche, sondern primär auf einer intellektuellen Fehl­ haltung („Unwissenheit“). Diese ist verursacht durch die ältere theogonisch-kosmogonische Literatur, in der die Götter als unmoralische Wesen

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erscheinen, und durch die naturphilosophischen Schriften von Jüngeren Weisen“, die die Natur entgöttlicht haben (886bl0-e2; zur Scheidung zwischen älteren mythologischen Erzählungen und jüngeren Naturtheo­ rien vgl. Epin. 988b-d). Da die Erzählungen über die Götter bereits in der Politeia (377b— 383c) verworfen worden waren, müssen jetzt nur noch die Lehren der „jüngeren Weisen“ (886d2-3) widerlegt werden. Daß dies nicht leicht sein wird, sieht jetzt auch Kleinias ein (886e3-5). Denn es gilt die Geg­ ner einerseits durch rationalen Beweis (άποδείξαιμεν 887a5), anderer­ seits durch psychagogische Mittel (Weckung von Furcht und Widerwil­ len) von ihrer Haltung abzubringen (887a5—7). Den hierfür erforderli­ chen Zeitaufwand (886e6-887a8) hält Kleinias angesichts der Wichtig­ keit des Themas für gerechtfertigt (887bl-c4).

885b4—5 gemäß den Gesetzen glaubt, daß es Götter gibt: Wie θεός das erste Wort der Nomoi ist, so eröffnet θεούς das Proömium zum Asebie-Gesetz. κατά νόμους kann statt zu ηγούμενος auch zu είναι gezo­ gen werden („daß Götter gemäß den Gesetzen existieren“); in beiden Fäl­ len wird damit der Glaube an die Götter gefordert, die die Stadt aner­ kennt und deren Verehrung sie fordert (vgl. 887al, 890b6-7, 89le 1-2, 909d6); sie heißen 904a9 οί κατά νόμον οντες θεοί und 954a6 τούς νομίμους θεούς. 885b6 in einem dieser drei krankhaften Zustände befindet: Die Über­ setzung drückt die im Partizip πασχών ebenso wie im Substantiv πάθος (888c4, 900b 1, 908c5) enthaltene Konnotation einer Krankheit aus, die in 888b8 durch νόσον explizit gemacht ist (vgl. auch 639b4). 885b8—9 durch Opfer und Gebete (θυσίοας τε και εύχαΐς) von ihrer Haltung abbringen lassen (παραγομένους): Die Worte zitieren in freier Form die (schon Resp. 364d—e kritisierten) Homerverse II. 9,497— 501, in denen Phoinix Achill zur Beendigung seines Grolls auffordert, indem er darauf verweist, daß sogar die Götter sich umstimmen lassen, wenn die Menschen sie nach einer Missetat θυέεσσι και εύχωλής ... παρατρωπώσι. Das Präverb παρα- des homerischen παρατρωπώσι taucht auch in den Nomoi in jeder Beschreibung der dritten Art von Ase­ bie auf (εύπαραμυθήτους 885b8, 888c6—7, παραίτητοι 901dl, 905d4. 8, 908e4, 909b 1, απαραίτητοι 907b6, παρατρέπεσθαι 885d4; ebenso παράγειν Resp. 365e5, Alkib. II 149e, παραγωγή Resp. 364d4); es zeigt an, daß die Götter nicht zu einem Tun veranlaßt, sondern von etwas abgebracht werden sollen. Dies kann, da Platons Gott gut ist (Resp. 379b—c) und die Gerechtigkeit ehrt (Nom. 887b), nur die Gerech­ tigkeit sein: so explizit παρά το δίκαιον (885d3, 907b6). Daraus folgt, daß die Unwandelbarkeit Gottes nur gegenüber den Bestechungsversu­

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Kommentar

chen der Ungerechten gilt, was durch 905d4 τταραιτητούς ... τοίσιν αδικουσιν bestätigt wird (vgl. Amar 1972, 158ff. und oben S. 372f.). 885c2—3: Für das problematische Präsens λέγειν (c3) nach μαντεύο­ μαι schlug Richards (1911, 249) das Futur λέξειν vor; Platon verwendet aber viel häufiger das Futur έρειν. Eleganter ist Posts Konjektur (1939, 101), der für α τφ aufgrund des Überlieferungsbefundes α αν τφ vor­ schlägt, so daß sich wie Resp. 538a9, b8 ein potentialer Infinitiv nach μαντεύομαι ergibt (vgl. auch den Potentialis in 885c5). 885c7 glauben die einen überhaupt nicht an Götter: θεούς νομίζειν bedeutet ursprünglich so viel wie „es mit den Göttern dem Brauch (νό­ μος) entsprechend halten“ (Burkert 1977, 411). Hier (und 899c2, 908c4) ist dagegen eher die jüngere Bedeutung „die Existenz von Göttern fiir wirklich halten“ = „an Götter glauben“ anzunehmen, die auch der Ankla­ ge gegen Sokrates (z.B. Apol. 26b4-5) zugrunde liegt (vgl. Fahr 1969, 156). Hierfür ist sonst νομίζω θεούς είναι (z.B. Apol. 26c2—3, 29a3, Nom. 886a5, 908b4) oder θεούς ήγούμενος είναι (885b4) üblich. Vgl. Täte 1936a, Fahr 158ff., Yunis 1988, 63-66.

885c8 wie ihr sie da schildert: Nämlich als gleichgültig bzw. bestech­ lich (in 885b7—9). Die Einfügung von vor οϊους (Wilamowitz 1920, II404) ist daher unberechtigt. 885c8—dl wie ihres bei den Gesetzen verlangt habt: 719eff., 857c4ff. 885d2—3 ausreichende Indizien anführt: τεκμήρια (auch 886d4—5) sind keine beweisenden Argumentationen, sondern „unwiderlegliche Tatsachen“ (vgl. Aristoteles, Rhet. 1,2. 1357b4. 16).

885d4—5 dieses und anderes dieser Art ...zu hören bekommen: näm­ lich daß die Götter bestechlich sind usw. (anders Hentschke 1971, 309 Anm. 293). — Die Zusammenstellung der Seher und der Priester, also theologischer Fachleute, mit Dichtem und Rednern verweist auf die Resp. 364b-365a beschriebene „Zusammenarbeit“ der Seher, die den Menschen ihre Vermittlung bei Sühneopfem anbieten und sich hierbei auf die Dichter, voran auf Homer, berufen und die mit den Werken des Musaios und Orpheus ganze Städte dazu überreden, sich durch Opfer von Verbrechen zu entsühnen (vgl. Nom. 909a—b). 885e2 sanft zu sein beanspruchen: Vgl. 720a—e, bes. d7 μετά πείθους ήμερούμενον. 885e4—5 wenigstens Besseres gemessen an der Wahrheit: Kriterium fiir den Gesetzgeber ist nicht die poetische Qualität, in der er die Dichter und Redner kaum übertreffen wird, sondern die Wahrheit. Damit erken-

885b4—887c4

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nen die Häretiker die 810e-811e und 858c-e aufgestellte Rangordnung an. 886a2—4 Zunächst gibt es ja die Erde und die Sonne, die Sterne und das gesamte All und die so schön geordnete Folge der Zeiten: Der xenophontische Sokrates trägt Mem. 1,4 und 4,3 eine Art Gottesbeweis bzw. einen Beweis für die göttliche Fürsorge vor, der mit der Zweckmäßigkeit der menschlichen Gestalt und mit der Ordnung des Kosmos und seiner Ausrichtung auf den Menschen operiert. Ansätze zu dieser teleologi­ schen Argumentation finden sich schon bei Anaxagoras und Diogenes von Apollonia, der die regelmäßige Folge der Jahres- und Tageszeiten auf eine geistige Kraft (νόησις) zurückfuhrt (Vors. 64 B 3), die er als ei­ nen Gott bezeichnet (B 5). Einen teleologischen Gottesbeweis des Ari­ stoteles referiert Cicero, De nat. deor. 2,95 (= Aristoteles Fr. 12 Rose = 838 Gigon). Solche Gedankengänge lagen durchaus in Reichweite eines philosophischen Laien wie Kleinias. 886a4—5 daß alle Hellenen und Barbaren glauben, daß es Götter gibt: Kleinias verwendet hier das Argument des sog. Consensus omnium (die­ ser Terminus erstmals bei Cicero, Tusc. 1,35), das auch bei Aristoteles, De caelo 1,3. 270b5ff., Cicero, De nat. deor. 1,43; 2,5, Tusc. 1,30 und Plutarch, Adv. Colot. 31 1125D-E begegnet. Der Athener schiebt das Ar­ gument hier beiseite, um 887e und 888a-d nochmals darauf zurückzu­ kommen (vgl. den Komm, zu 888a4—d6). 886a7 Respekt vor ihnen zu haben, würde ich niemals zugeben: Denn Respekt (αιδώς) ist nur angebracht gegenüber guten, sittlich überlege­ nen Personen (vgl. den Komm, zu 647al0).

886a8—b8 Ihr kennt nämlich nicht die Ursache ihrer abweichenden Überzeugung usw.: Der Mangel an Widerstandskraft gegenüber den Be­ gierden ist nicht die Ursache der atheistischen Ansichten, sondern eher deren Folge (weil der Atheismus die Sittlichkeit untergräbt); Ursache der atheistischen Überzeugungen ist vielmehr die Verführung durch die Leh­ ren der jüngeren Weisen. Diese Lehren sind allerdings Leuten, deren Le­ bensziel die Lust ist (888a3), besonders willkommen, weil sie durch sie in ihrem Verhalten bestätigt werden (vgl. 889e-890a, 907c). Solche Leu­ te werden im Strafgesetz als die gefährlicheren Frevler gegenüber den bloß intellektuell fehlgeleiteten Atheisten eingestuft (908b—e). 886b4 ihr, die ihr außerhalb lebt: Gemeint ist: außerhalb Athens und seiner geistigen Welt. Zur Begrenztheit des Wissenshorizonts der beiden Dialogpartner vgl. 680c, 818e, 819dff., 821c, 892e.

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Kommentar

886b8 als die größte Denkleistung: So übersetze ich φρόνησις (statt mit „Weisheit“), um den Bezug zu καταφρονειν 885c2-3 zu verdeutli­ chen. 886b 10—dl schriftlich aufgezeichnete Erzählungen usw.: Gemeint sind literarische Werke wie die kosmogonisch-theogonische Dichtung der Orphik, die Theogonien von Hesiod und Musaios und die Prosaschriften des Pherekydes von Syros und des Akusilaos von Argos. Der Hinweis auf die negativen Auswirkungen dieser Erzählungen auf die Achtung vor den Eltern (vgl. Resp. 378a-b) zielt vor allem auf die bereits Euthyphr. 5e—6c und Resp. 377b—378d erwähnten Gewalttaten innerhalb der Göt­ terfamilie (vgl. hier c4 „wie sie ... miteinander umgingen“): Kronos ent­ mannt seinen Vater Uranos (Hesiod, Theog. 161 ff.); Kronos verschlingt seine Kinder, wird dafür von seinem Sohn Zeus gefesselt (Theog. 453 ff.); Hera wird von ihrem Sohn Hephaistos gefesselt (Pindar Fr. 283 Maehler); Hephaistos wird von seinem Vater Zeus zur Erde hinabge­ schleudert (Homer, II. 1,586 ff.). 886b 10—11 die es bei euch nicht gibt dank der Vorzüglichkeit eurer Verfassung: Zur Vorzüglichkeit der dorischen Verfassungen vgl. 69Id ff., 712e. Das Fehlen theogonischer und naturphilosophischer Literatur dürfte allerdings eher mit der (666e kritisierten) kriegerischen Ausrich­ tung der dorischen Staaten Zusammenhängen, die der philosophischen Spekulation keinen Nährboden bot.

886dl—2 wie es den Göttern lieb ist, so mögen sie erzählt werden: Vgl. Phaidr. 246d2-3. 886d7—8 das seien bloß Erde und Steine: Dies ist nach Apol. 26d die Lehre des Anaxagoras (vgl. auch Nom. 967c), die ihm die oben erwähnte Anklage wegen Asebie eintrug (Diogenes Laert. 2,12).

886e4 deren sehr viele gibt: Kleinias sagt nicht, daß es sehr viele Atheisten gibt (was fiir diese Zeit wohl nicht zutrifft; vgl. Winiarczyk 1990, 12), sondern daß es sehr viele atheistische naturphilosophische Anschauungen gibt, was zwar ebenfalls eine Übertreibung ist, aber auch ein Hinweis darauf, daß die folgende Beweisführung des Atheners sich gegen eine Pluralität naturphilosophischer Positionen richtet. 886e8 die zu uns, die wir wegen unserer Gesetzgebung unter Anklage stehen, sagen: Da φεύγειν περί τής νομοθεσίας nur bedeuten kann „angeklagt sein wegen der Gesetzgebung“ (vgl. Kühner - Gerth I 382 Anm. 11), muß sich φεύγοοσι auf den Athener und seine Gesprächspart­ ner beziehen. Zu dem Objektsdativ φεύγοοσι ist also aus ημών sinnge­ mäß ein ήμΐν zu ergänzen (ebenso Jones 1926, 275, Hentschke 1971, 309). Andere beziehen das Partizip φεύγοοσι wie λέγοοσιν auf ασεβέ-

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otv άνθρώποις (z.B. Apelt „vor gottlosen Leuten, die sich ihrerseits als Angeklagte fühlen gegenüber unserer Gesetzgebung und behaupten ...“, Lisi und ich selbst 1977); Brisson - Pradeau übernehmen das von Winckelmann konjizierte ψέγουσι (Sinn: „tadeln uns wegen unserer Gesetz­ gebung“).

887a6 unseren Ankläger: τον δέ ist als lectio difficilior gegen Konjek­ turen (τά δέ Stephanus, των δέ Winckelmann) zu halten. Die Überset­ zung expliziert den Bezug auf den 886e7 genannten Ankläger (κατηγορήσαντός τίνος); der vorausgehende Plural τοίσιν έπιθυμουσιν άσεβεΐν (a4—5) entspricht den άσεβέσιν άνθρώποις (886e7—8). Jones 1926, 276 deutet das Einflößen von Furcht als eine Alternative zu dem Beweisen durch Argumente: „if we inspire fear in another [Kursive von mir] offender“. 887a7 mit Widerwillen gegen die Unfrommheit erfüllt hätten: Die Übersetzung verdeutlicht; denn zu δυσχεραίνειν ist άσεβεΐν zu ergän­ zen; es bezeichnet also den Gegensatz zu έπιθυμεΐν άσεβεΐν a4-5 (zu δυσχεραίνειν + Inf. eines verwerflichen Tuns vgl. Resp. 366c7, 388al— 2; + Akk. άδικίαν Nom. 908b6). 887b 1-2 schon verhältnismäßig oft gesagt: 642dl-4, 722a7-bl, 781el, 858a—b.

887b3—4 es ist niemand, wie man so sagt, hinter uns her und treibt uns an: Offenbar sprichwörtlich (vgl. noch 781e2 und Theait. 187dl 1). Mu­ ße ist Merkmal des Freien und des Philosophen (Theait. 172c); die So­ phisten dagegen erbieten sich, jemandem alles in kurzer Zeit beizubrin­ gen (Soph. 234a7-9). 887b8 zur Verteidigung (ύπερ) aller unserer Gesetze: Vgl. 890d.

I. 887c5—899d3: Der Beweis für die Existenz von Göttern Der Atheismus als „Leugnung der Existenz jeglicher Götter und jegli­ cher übernatürlichen Kräfte“ (so die Definition von Winiarczyk 1990, 8) kommt in Griechenland im 5. Jh. auf; er ist jedoch keine Massenbewe­ gung, sondern eine Haltung einzelner Intellektueller (zu den aus der An­ tike überlieferten Atheisten-Katalogen vgl. Winiarczyk 1984). Im einzel­ nen lassen sich folgende Ursachen für das Aufkommen des Atheismus ausmachen (vgl. zum folgenden Winiarczyk 1990, 12 ff.): (a) Die Kritik am Anthropomorphismus und am unmoralischen Ver­ halten der Götter des Epos, wie sie z.B. Xenophanes von Kolophon (Vors. 21 B 11 ff.) äußert, untergräbt die Ehrfurcht vor den Göttern. (b) Durch die - eigentlich zur Rettung des Mythos unternommene - ra­ tionalistische oder allegorische Mythendeutung eines Hekataios von Mi-

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let, Hellanikos von Lesbos und Palaiphatos bzw. Theagenes von Rhegion, Anaxagoras und Metrodor von Lampsakos u. a. wird der Mythos desakralisiert. (c) Die vorsokratische Naturphilosophie entgöttlicht Himmelserschei­ nungen, in denen populärer Glaube göttliche Mächte am Werk sah. Die Überzeugung, daß die Gottheit sich um den einzelnen Menschen küm­ mert, wird erschüttert durch die rationale Erklärung des Universums, die zu einer abstrakten und vergeistigten Gottesvorstellung führt, wenn sie nicht gar - wie in ihrer materialistisch-mechanistischen Variante - ganz ohne Rekurs auf ein göttliches Eingreifen auskommt. (d) Durch die Entgegensetzung von φύσις und νόμος wird die Reli­ gion, die nach griechischer Auffassung auf νόμος im Sinne der Tradition beruhte, von der Sophistik abgewertet zum νόμος im Sinne bloßer Kon­ vention. Während Protagoras ein sicheres Wissen von den Göttern für un­ möglich hielt, erklärte Prodikos die Entstehung der Religion damit, daß die Menschen alles, was ihnen nützte, als Götter verehrten (Vors. 84 B 5); in einem Satyrdrama des Kritias wird sie als Erfindung eines klugen Man­ nes hingestellt, der die Menschen durch Furcht vor den Göttern zu geset­ zestreuem Verhalten veranlassen wollte (Vors. 88 B 25 = TrGF 143 F 19). (e) Zu diesen intellektuellen Strömungen kommt als Ursache des prak­ tischen Atheismus die zu allen Zeiten gemachte Lebenserfahrung, daß es schlechten und gottlosen Menschen gut, den Frommen aber schlecht geht (z.B. Homer, Od. 24,351 f., Euripides, Beller. Fr. 286 N2 = TrGF V F 286); so schwand nach Thukydides 2,52,3 und 53,4 während des Peloponnesischen Krieges die Götterfurcht dahin, weil Fromme wie Unfrom­ me von der Pest dahingerafft wurden (vgl. dazu Mikalson 1984). Platon teilt zwar die Kritik an der Götterdarstellung der Dichter (a), lehnt aber die Entlastung der Dichter durch Allegorese (b) ab, da der jun­ ge Mensch den angeblichen Hintersinn nicht erkenne (Resp. 378d). Die rationalistische Mythendeutung hält Sokrates zwar für nicht unlogisch, aber angesichts der großen Zahl mythischer Fabelwesen für sehr zeitrau­ bend und praktisch unmöglich (Phaidr. 229c—e). Die Konsequenz daraus ist aber für Platon nicht Atheismus, sondern die Forderung nach einer dem wahren Wesen der Götter gemäßen Darstellung (Resp. 379a). Als solche ist die folgende Argumentation zu verstehen, in deren Ver­ lauf auch die oben unter (c) - (e) dargelegten Ursachen des Atheismus er­ örtert werden. Die Gegenthesen Platons lauten in aller Kürze: Eine Ent­ stehung des Kosmos ist ohne eine vernünftige Seele (= Gott) nicht mög­ lich (894b-899d). Der Glaube an Götter entspringt der Wesensverwandt­ schaft des Menschen mit Gott (899d). Der an die Götter gerichtete Vorwurf, es gehe dem Frommen schlecht und dem Gottlosen gut, ent­ springt der beschränkten menschlichen Perspektive (903b—905d).

887c5—888a4

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Der rationalen Argumentation schickt der Athener aber noch einen Ap­ pell an den Atheisten voraus (888a4-d6), dem seinerseits ein erregter Passus vorausgeht, in welchem er zunächst seiner Empörung Luft macht (887c5—888a4), um sich dann ohne Zorn in väterlichem Ton dem Atheis­ ten zuzuwenden.

887c5—888a4: Gründe zum Zorn aufdie Atheisten In einem langen Satz, dessen Syntax infolge seiner Erregung mehrfach aus den Fugen gerät, macht der Athener seinem Zorn über die Atheisten Luft, ohne den Atheisten direkt zu attackieren; denn dieser soll „ohne Widerwillen“ (c2) und „mit sanften Worten“ (888al) zurechtgewiesen werden. Grund für den (im Sinne von 73Id berechtigten) Zorn ist, daß der Atheist sich von der ihn als Kind umgebenden religiösen Praxis nicht nur nicht beeindrucken ließ, sondern als Erwachsener diese Praxis ohne rationale Begründung verachtet. Vier Erfahrungen hätten dem Kind den Götterglauben vermitteln müssen: (1) die Erzählungen von den Göttern, die sie zunächst von den Müttern und Ammen, dann bei den Opfern hö­ ren; (2) die mit den Mythen (oder Opfern? s.u.) verbundenen Schauspie­ le; (3) das Vorbild des elterlichen Gebets zu den Göttern und (4) die Ver­ ehrung von Sonne und Mond durch alle Griechen und Barbaren. 887c5 Zu einem Gebet usw.: Zum Götteranruf vor schwierigen Unter­ nehmungen vgl. 893b sowie Phil. 25b, 61b—c, Tim. 27c. Vgl. Jackson 1971, 31-33 z. St.

887d2 weil sie sich nicht durch die Mythenerzählungen überzeugen ließen: πείθειν bezeichnet die Wirkung des Mythos auf die Seele des Hörers auch 663e6, 804e5, 903b4, 913cl, 927c7; Resp. 415c7, 621cl. Kinder sind für Mythenerzählungen besonders empfänglich: 840c, Soph. 242c8-9, Pol. 268e, Tim. 23b; angesichts der prägenden Kraft des An­ fangs (Resp. 377al2-b3, Nom. 765e-766a, 775e) und der charakterbil­ denden Macht der Gewohnheit (792e) ist es daher um so verwerflicher, ihnen Mythen zu erzählen, die dem wahren Wesen der Götter widerspre­ chen (Resp. 377b—c, 381e). — Die Haltung des Atheners gegenüber den Göttermythen könnte widersprüchlich erscheinen. Hatte er sie zuvor noch wegen ihres unmoralischen Inhalts verurteilt (886c), so werden sie hier anscheinend positiver gewertet, da sie bei aller Problematik des In­ halts wenigstens die Existenz der Götter voraussetzen (vgl. Täte 1936c). Da sich aber das Asebiegesetz — wie alle Strafgesetze - an die Bürger Magnesias richtet, ist es sogar möglich, daß hier mit den Mythen nicht die 886c und in der Politeia getadelten Mythen, sondern die religiös und moralisch unbedenklichen Mythen gemeint sind, die in Magnesia als Er­ ziehungsmittel eingesetzt werden sollen (vgl. 664a. d; 840c 1; ähnlich

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Kommentar

Mayhew 72); der Athener würde damit wie 854e, 935a und 942a einen erst zu schaffenden Zustand als bereits bestehend voraussetzen. Daß (bei dieser Deutung) auch theologisch korrekte Mythen wirkungslos sein können, wäre nur ein weiteres Beispiel für die in 853b ff. beklagte Wir­ kungslosigkeit der gesamten magnesischen Erziehung bei bestimmten Naturen.

887d4 wie ein beschwörender Zauber (έν έπωδαΐς): Zum Zauber vgl. den Komm. zu 659el. 887d6 die ihnen (αύτοΐς) entsprechenden Schauspiele: Bei Annahme strenger Genuskongruenz müssen mit „ihnen“ die Mythen gemeint sein (da die griechischen Substantive für Opfer und Gebete Feminina sind). Die Bedeutung von όψεις ist dabei nicht ganz klar. Brisson versteht da­ runter Darstellungen mythischer Episoden im Zusammenhang mit einem Ritual (2005b, 76 Anm. 4) oder in Tragödien (Brisson - Pradeau II 343 Anm. 26); Stallbaum z. St. bezieht es auf die ein Opfer begleitenden sze­ nischen oder mystischen Handlungen wie z.B. das rituelle Essen von Honig und einer Feige am Hermesfest (vgl. Plutarch, De Is. et Osir. 68 378B) oder das Opfer eines Ferkels (vgl. Resp. 378a). - Post (1939, 101) deutet den Genitiv θυόντων (d7) als einen von ήδιστα abhängigen Ge­ nitivus partitivus („die von allen Opfernden der junge Mensch am lieb­ sten sieht“); dies läuft aber der Tendenz des Kontexts zuwider, in dem der junge Mensch Zuschauer und kein aktiver Kultteilnehmer ist. 887e2—4 sie hörten oder sahen, daß sich beim Aufgang der Sonne ... alle Hellenen und Barbaren verneigen und zu Boden werfen: Die beiden Verben der Wahrnehmung beziehen sich wohl nach dem Rapport-Sche­ ma (vgl. zu 736c7) chiastisch auf die Nationalitäten (das Kind hört von der barbarischen Kultpraxis und sieht die griechische Praxis). Der Satz braucht lediglich zu besagen, daß alle Griechen und Barbaren bei Sonnenauf- und -Untergang zu ihren jeweiligen Göttern beten (vgl. Hesiod, Erga. 338 f.); wahrscheinlicher ist aber, daß die Verehrung der Sonne und dem Mond selbst gilt (was Sokrates Apol. 26d als religiöse Praxis der ge­ samten Menschheit bezeichnet). Zum Sonnenkult der Barbaren vgl. West 1978 zu Hesiod, Erga 339; zum nichtgriechischen Kult des Mondes vgl. Burkert 1977, 273. Die Griechen betrachteten die Sonne (Helios) von je­ her als Gott (vgl. schon Homer, II. 3,277; 19,259); aber einen offiziellen Kult genoß Helios, den auch Sokrates verehrte (Symp. 220d), fast nur auf Rhodos. Die Mondgöttin Selene, die nach Krat. 397d seit alters ne­ ben Sonne, Erde und Sternen als Gottheit angesehen wurde, hatte zwar als Göttin ihren Mythos, besaß aber keinen Kult (Burkert a. a. O.).

888a4-d6

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887e7 die all dies verachten: Zu καταφρονήσαντες vgl. 886a7—8 κατοαρρονήσωσιν.

888al zurechtzuweisen (νουθετών): νουθετεΐν ist nach Soph. 229e— 230d eine Unterart des διδάσκειν (neben dem ελεγχος); es ist die Art, wie Väter mit ihren Söhnen umgehen, wenn diese einen Fehler begangen haben, wobei sie ihnen bald heftig (χαλεπαίνοντες), bald sanfter (μαλθακωτέρως) ins Gewissen reden. Um aber eine Unwissenheit (άμαθία) zu beseitigen, ist das Verfahren des ελεγχος (Prüfung und Auf­ deckung von Widersprüchen in der Meinung des Unwissenden) ange­ messener. Die im Sophistes genannten Merkmale des νουθετεΐν lassen sich auch hier unschwer entdecken. Der Athener redet den Atheisten wie ein Vater sein Kind an (888a7); er möchte ihn heftig anfahren (vgl. χαλεπώς φέρειν 887c8), unterdrückt aber seinen Zorn, um ihn mit sanf­ ten Worten anzureden (888a6 πράως). Das νουθετεΐν ist auch deshalb angebracht, weil der Atheist aufgrund der ihn umgebenden religiösen Kultpraxis nicht völlig ahnungslos bezüglich der Existenz der Götter sein kann; daher erregt sich der Athener in diesem Passus auch nicht über sei­ ne άμαθία, sondern über seine hochmütige Verachtung (887e7). Bobonich 1991, 372 (= 2000, 864) Anm. 28 sieht unter der Prämisse, daß Pla­ ton ausschließlich eine rationale Argumentation geben will, ein Problem in der Anwendung von νουθετεΐν gegenüber dem Atheisten. Dabei wird übersehen, daß das Proömium zum Asebiegesetz auch andere als rationa­ le Mittel einsetzt, z.B. „Bezauberung“ durch Mythen (903b 1-2) oder Er­ regung von Furcht und Widerwillen (887a6-7). 888a4—d6: Appell an den Atheisten Der Athener bezeichnet dieses Stück als πρόρρησις (888a4). England faßt dieses Substantiv als ein Synonym für προοίμιον (Vorspruch) auf. Dies wird der spezifischen Konnotation dieses Wortes nicht gerecht. Ab­ gesehen von 658b4 kommt das Wort bei Platon nur noch in den Strafge­ setzen 871c2, 873b 1, 874a6 vor, wo es die Aufforderung an den Mörder bezeichnet, die öffentlichen Plätze zu meiden, um die Stadt nicht zu be­ flecken. Eine analoge Funktion ist auch hier denkbar: Wie sich der Mör­ der von den heiligen Stätten femhalten soll, so wird der Atheist aufgefor­ dert, sich weiterer intellektueller Vergehen gegen die Götter zu enthalten, indem er sein Urteil zurückhält, bis ihm vom Gesetzgeber endgültige Be­ lehrung über die Götter zuteil wird (vgl. auch die Aufforderung 907d5). Möglich ist auch (so Pfister 1938, 177 Anm. 3) eine Anspielung auf die kultische Prorrhesis, durch die bei den Mysterien die Unreinen hinausge­ wiesen wurden (vgl. Isokrates, Or. 4,157; Burkert 1977, 428). Demgemäß dient das Textstück weniger der Belehrung als der pädago­

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gisch-rhetorischen Vorbereitung auf die folgende rationale Belehrung. Der Hinweis auf die Wichtigkeit des Themas und auf den Zusammen­ hang zwischen richtigem Götterglauben und schönem Leben (888b2 4) sucht die Aufmerksamkeit und Aufhahmebereitschaft des jungen Men­ schen zu wecken. Der Tenor der Anrede, aus dem die Art „liebevoller und vernünftiger Väter und Mütter“ (859a) spricht, wirbt um das Wohl­ wollen des Adressaten. Die Versicherung, daß der Atheismus gerade un­ ter jungen Leuten verbreitet sei, aber noch niemand bis ins Alter an die­ ser Überzeugung festgehalten habe (vgl. Resp. 330d-e), nimmt einerseits dem Vorwurf die persönliche Schärfe, andererseits erschüttert er die ju­ gendliche Selbstsicherheit des Urteilens. Indem ferner der Atheismus als eine Krankheit bezeichnet wird (888b8), deren Ursachen offenbar in der Verführung durch Dichter und Weise (vgl. 885d, 886b-e) zu suchen sind, wird die Verantwortlichkeit des jungen Menschen für seinen geistigen Zustand reduziert — vielleicht auch sein Wunsch nach Heilung geweckt und so sein Widerstand gegen die Belehrung durch den Gesetzgeber ab­ gemildert (vgl. Görgemanns 1960, 90 f.). Offenkundig verwendet hier der Athener seinerseits das von Kleinias erstmals 886a eingeführte Argument des consensus omnium, wobei er diesen allerdings auf die ältere Generation und auf die Überzeugung von der Existenz der Götter beschränkt und das Fortbestehen der beiden an­ deren Häresien bei der älteren Generation zugibt. Als Antwort an die Atheisten ist das Argument des consensus omnium sicherlich nicht aus­ reichend, vermag aber die Selbstsicherheit des Atheisten soweit erschüt­ tern, daß er einer rationalen Beweisführung zugänglich wird (vgl. Schian 1973, 73 ff.). 888d7—890a9: Die materialistische Welterklärung und ihre Folgen Der Athener referiert nun die Lehre der „jüngeren Weisen“ und zeigt dabei zugleich auch deren Auswirkung auf Moral und Politik auf. 1) 888e4-6: Die Gesamtheit alles dessen, was ist, geht auf drei Ursa­ chen zurück: auf Natur (φύσις), Kunst (τέχνη, d. h. zweckhaftes Hervor­ bringen, Erfindungsgabe) und Zufall (τύχη). 2) 889a4-8: Die Natur und der Zufall bringen die größten und schön­ sten Dinge hervor, die Kunst erzeugt die kleineren, indem sie von der Na­ tur die größten Hervorbringungen übernimmt und danach die kleineren bildet. Die Dreiheit der Ursachen reduziert sich damit auf den Gegensatz von (1) Natur und Zufall (vgl. die Junkturen 889a5, b2, c6) und (2) Kunst. 3) 889b 1-el: Durch Natur und Zufall entstehen als erstes die vier Ele­ mente und aus diesen durch Mischung mit Notwendigkeit die Himmels­ körper, die den Himmel, die Jahreszeiten und Lebewesen und Pflanzen hervorbringen (Einzelheiten s.u.). Die Kunst (yéyyr\) entsteht erst später

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als eine Leistung von Menschen; aus eigener Kraft bringt sie nur Spie­ lereien ohne Anteil an der Wahrheit hervor; nur in Verbindung mit der Natur erzeugt sie Ernsthaftes. 4) 889e3—890a5: Für die Anhänger dieser materialistischen Weitsicht sind Gott und die moralischen Normen Produkte menschlicher Setzung, deren Geltung jeweils von Ort und Zeit abhängt. So ist das Gerechte das, was einer mit Gewalt durchsetzt. In diesem Kontext erscheint (vermittelt durch die Erwähnung der Gesetzgebung unter den Formen der τέχνη 889d8) als neue Opposition der Gegensatz von Natur und Gesetz (νόμος ,Konvention6); der Zufall wird nicht mehr erwähnt. 5) 890a5-9: Diese Lehren rufen bei den jungen Leuten atheistische Überzeugungen hervor (die demnach gemäß der Kategorisierung von 933e-934a ein Opfer „fremder Unvernunft“ sind) und spalten die Stadt, indem die Stärkeren nach dem „Recht der Natur“ über die übrigen herr­ schen. Was die Identität der von dem Athener attackierten Philosophen an­ geht, so ist in der einschlägigen Literatur fast jeder der vorsokratischen Naturphilosophen und Sophisten als Quelle für die ganze Lehre oder für einzelne Teile derselben genannt worden (Überblick von Chemiss, Lu­ trum 4, 1959, 112 mit Anm. 3, Mahieu 1964, 16 ff.). Mit Sicherheit läßt sich nur soviel sagen, daß im physikalischen Teil der Lehre empedokleische Gedanken (die vier Elemente als Basis aller Dinge) mit den mecha­ nistischen Prinzipien der Atomistik (Leukipp, Demokrits) verbunden sind, während im ethischen Teil kontraktualistische und relativistische Theorien der Sophistik (vgl. dazu unten S.390) referiert werden. Aus den Annahmen der früheren Philosophen kompiliert Platon eine mate­ rialistische „Koine“ (Muth 1956, 146; vgl. auch Täte 1936b, 52), deren entscheidendes Merkmal es ist, der Seele und der Vernunft jeden Anteil an der Entstehung des Kosmos abzusprechen (Mayhew 79). Da die vom Athener vorgetragene Theorie die Welt ohne das Mitwir­ ken einer auf das Beste gerichteten teleologischen Vernunft oder Gottheit erklärt, ergeben sich von der Sache her zwangsläufig Ähnlichkeiten mit den Aussagen des Timaios über den präkosmischen Zustand der Welt vor dem Eingreifen des Demiurgen (46d-e, 48a ff., 52d ff.; dazu Parry 2003, 274—275). So verknüpft Platon, um die materialistisch-mechanistische Lehre seiner eigenen teleologischen Konzeption entgegenzusetzen, im Referat des Atheners die Natur und die „Notwendigkeit“ der Naturphilo­ sophen mit dem „Zufall“ (889a5, b2, c6). Die ανάγκη erscheint so als ,blinde6 Notwendigkeit und berührt sich als αιτία αύτομάτη (Soph. 265c7) mit der vemunftlosen Kausalität der irrenden Ursache und der nur in der präkosmischen Phase wirkenden Tyche des Timaios (Tim. 46e5, 48a7, 69b6).

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Mit der Verbindung von Notwendigkeit und Zufall verzerrt Platon al­ lerdings die Position der Gegner (vgl. Furley 1987, 173 ff.). Denn diese unterschieden durchaus zwischen einer naturgesetzlichen (wenn auch nicht zielgerichteten) Notwendigkeit und dem Zufall (vgl. Nightingale 1999, 316ff.); der Atomist Leukipp stellt z.B. fest (Vors. 67 B 2), daß nichts aufs Geratewohl (μάτην) entsteht, sondern alles aus einem Grund (έκ λόγου) und durch Notwendigkeit (ύπ ανάγκης); auch Demokrit fuhrt alles Werden auf die durch den kosmischen Wirbel (δίνη) wirkende Notwendigkeit zurück (Vors. 68 A 1 [II 84,18] und A 66); erst Aristote­ les interpretiert den Wirbel als Zufall (αύτόματον Phys. 2,4. 196a24ff. = Vors. 68 A 69). - Weitere platonische „Einfärbungen“ im Referat des Atheners sind der Hinweis auf die Unbeseeltheit der vier Elemente (889b4-5), der das entscheidende Manko dieser Theorie hervorhebt (vgl. 967b2-3), und die Charakterisierung der Techne als sterblich und von Sterblichen stammend (889c7£), womit auf die göttliche Techne als ih­ ren Gegensatz (vgl. 902e, 903c; Soph. 265e, 266d) verwiesen wird; auch das emphatische dreimalige „später“ (889c7—dl; dazu unten) dürfte auf Platons Konto gehen. 888e5 teils der Natur, teils der Kunst und teils dem Zufall: Ich halte mit Burnet am Text von A und O fest, der auch durch die armenische Übersetzung gestützt wird (Conybeare 1924, 134). Mit Natur und Kunst (Techne) nennt der Athener sogleich die beiden von den Materialisten als Gegensätze verstandenen Ursachen, deren Entgegensetzung Platon im folgenden durch seine Konzeption einer rational planenden Natur wider­ legen wird (vgl. Soph. 265e3: was nach üblicher Ausdrucksweise von Natur ist, das ist durch göttliche Techne hervorgebracht; Tim. 33dl: die Welt verdankt ihre Gestalt der Techne des Demiurgen). - Der Zufall gilt Platon als Ursache dessen, was ohne ersichtlichen Grund (= άπό του αύτομάτου Apol. 38c, 41d, Prot. 323c, Resp. 498e2) eintritt. Eine ver­ gleichbare Dreiteilung der Entstehungsursachen in φύσει, τέχνη und άπό τού αύτομάτου vertritt Aristoteles, Met. 7,7. 1032al2—13, der al­ lerdings schärfer zwischen αυτόματον und τύχη unterscheidet (vgl. Met. 11,8. 1065b3; 12,3. 1070a6f£).

889bl-c6: Die materialistische Kosmogonie läßt sich aufgrund der Analyse von Saunders 1972 Nr. 92 S.90—96 folgendermaßen präzisie­ rend zusammenfassen (so auch Mayhew 77 ff.): 1. Die vier Elemente (Feuer, Wasser, Erde, Luft) sind das Ergebnis von Natur und Zufall (bl— 3). — 2. Als nächstes (μετά ταύτα b3) entstehen aus diesen Elementen (διά τούτων 889b4) die körperlichen Stoffe (σώματα), die zur Bildung der Himmelskörper benötigt werden (b3—5). — 3. Diese in spontaner Be­ wegung befindlichen Stoffe mit unterschiedlichen Qualitäten stoßen

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planlos aufeinander, wobei sich entgegengesetzte Qualitäten miteinander vermischen; durch diese Mischung bringen sie die Himmelskörper her­ vor (b5-c3). - 4. Als Folge der Himmelskörper und ihrer jeweiligen Konstellation (έκ τούτων c4) entstehen die Jahreszeiten (c4—5). - 5. Diese sind die Voraussetzung für die Entstehung der gesamten Tier- und Pflanzenwelt (c3-4). Die Lehre, daß alles Werden durch Ortsveränderung (φορά), Bewe­ gung (κίνησις) und gegenseitige Mischung (κράσις) geschieht, schreibt Sokrates Theait. 152d-e allen „Weisen“ außer Parmenides, Epicharm und Homer zu; als philosophische Vertreter nennt er namentlich Protago­ ras, Heraklit und Empedokles. In der Tat ist die Vorstellung, daß alle Din­ ge durch Mischung von elementaren Ursubstanzen bzw. konträren Quali­ täten entstanden sind, eine verbreitete Lehre, vgl. z.B. Empedokles Vors. 31 B 8. 21. 22. 35. 71, A 30. 33; Heraklit Vors. 22 B 8. 10; Archelaos Vors. 60 A 4. Bei Empedokles findet sich darüber hinaus die Vorstellung des Zusammenstoßens (B 104) und der passenden Zusammenfügung (άρμοττειν) zu einem Ganzen (B 107); bei den Atomisten führt das Zu­ sammentreffen und die Verflechtung (συμπλοκή) gleichartiger Atome zur Entstehung von Körpern und ganzer Welten (Demokrit Vors. 68 A 165 und B 164). Während das Streben des Gleichen zum Gleichen das natürliche Ver­ halten der Elemente ist (vgl. C. W. Müller 1965, 183 ff.), bedarf die Mi­ schung heterogener Grundstoffe einer Ursache. Nach dem Referat des Atheners sehen die Materialisten diese in der Notwendigkeit als kausaler Determination und im Zufall des absichtslosen Zusammentreffens der kausal determinierten Ereignisse. Für Platon dagegen ist die Notwendig­ keit nur eine sekundäre Mitursache, deren sich der Nus des Demiurgen (= die primäre Ursache) bedient, um das Bestmögliche herzustellen (Tim. 46c7 ff., 68e4—6; Nom. 897a). Durch dieses Eingreifen des Nus er­ hält die vemunftlose und daher dem Zufall unterliegende Notwendigkeit der Materialisten eine teleologische Ausrichtung (vgl. Carone 2005, 37 ff.).

889b3—4 Stoffe zur Bildung von Erde usw. (σώματα γης ... περί,): Gegen Englands Deutung von γης ... περί als bloße Umschreibung ei­ nes possessiven Genitivs vgl. Saunders 1972 S.93.

889b4—5 seien durch diese (διά τούτων) entstanden, die gänzlich un­ beseelt seien'. Mit τούτων können nicht die Natur und der Zufall (so England), sondern nur die vier Elemente gemeint sein. Der Einwand von Vlastos (1975, 24 Anm. 2), daß dann statt διά die Präposition έκ stehen müßte (weshalb er unter τούτων sowohl die Elemente wie auch Natur und Zufall versteht), ist nicht zwingend: die Elemente können als Mittel

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gedacht sein, deren sich die Natur und der Zufall bedienen (deren Kausa­ lität übrigens in dem ganzen Passus nie durch διά + Genitiv ausgedrückt wird, sondern durch den Instrumentalis). 889b5 durch den Zufall der ihnen jeweils eigenen Kraft (τύχη δε φερόμενα της δυνάμεως εκαστα έκάστων): In einem materialisti­ schen Weltbild kann die Ursache der Bewegung unbeseelter Stoffe nicht die Kraft (δύναμις 892a3) einer Seele, sondern nur eine der Materie inhärierende Kraft sein. Dieser Zustand weist Ähnlichkeit mit dem im Ti­ maios geschilderten präkosmischen Zustand auf, in welchem ebenfalls Kräfte (δυνάμεις 52e2) aufeinander einwirken; vgl. Naddaf 1992, 440 Anm. 185; 486.

889c5 nicht durch Vernunft: Ich übernehme wie Diès das von O4 be­ zeugte und von Eusebios gebotene ού διά (Denniston 1954, 190 hält das in A und O überlieferte ούδέ, Burnet schreibt: où δέ διά).

889c6-el: Hinter der Scheidung der Künste in (1) Künste, deren Pro­ dukte nur Spielereien und bloße Abbilder der Wahrheit sind, die also die Natur nur nachahmen wie die Malerei und die Musik (c6-d4), und (2) Künste, die mit der Natur Zusammenwirken und etwas Ernstes hervor­ bringen wie die Heilkunst, der Ackerbau und die Gymnastik (d4—6), hat man wohl mit Recht Einfluß Demokrits vermutet, der nicht nur wie auch Heraklit (Vors. 22 B 10) die Techne durch Nachahmung der Natur entste­ hen ließ (Vors. 68 B 154), sondern wahrscheinlich eine Kulturentwick­ lungstheorie vertrat, in der auf eine Phase der Befriedigung der notwen­ digen Bedürfnisse ein Zustand des Überflusses folgte (περιεόν B 144), in welchem die Musik als eine jüngere Kunst entstand (vgl. Pohlenz 1918, 416 ff. = II 169 ff., Gundert 1977, 73 f.). Demgegenüber ist aller­ dings im Referat des Atheners die Reihenfolge der notwendigen und überflüssigen Erfindungen umgedreht, so daß der Natur mit ihren „gro­ ßen“ Erzeugnissen die Kunst mit ihren Spielereien gegenüber steht. Die Künste, die etwas Ernstes hervorbringen, erscheinen so gleichsam als Sonderfall, weil an ihrem Erfolg neben dem Fachwissen des Arztes, des Landwirts und des Gymnastiklehrers auch die Kraft der Natur beteiligt ist. Diese Zweiteilung der Künste wird anschließend auf die das mensch­ liche Zusammenleben regelnden Künste übertragen: die Staatskunst be­ dient sich (wenn auch in geringem Maße) auch der Natur, die Gesetzge­ bung dagegen hat gar keine natürliche Basis (was dann 889e3 ff. näher ausgeführt wird). Eine solche Übertragung der Physis-Nomos-Antithese auf das politische Leben widerlegt nicht die mutmaßliche demokriteische Provenienz des Abschnitts über die Techne (so aber Aalders 1943, 106 Anm. 1, der sie der jüngeren Sophistik zuschreibt), sondern bestätigt nur

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die oben geäußerte Vermutung, daß der Athener in diesem Referat ein Amalgam aus Gedanken unterschiedlicher Provenienz vorträgt.

889c7—dl Die Kunst aber, die erst später aus diesen (έκ τούτων) als spätes Erzeugnis entstanden ist, habe, selber sterblich und von Sterbli­ chen stammend, später gewisse Spielereien hervorgebracht: Die Charak­ terisierung der Kunst als sterblich und von Sterblichen stammend bedeu­ tet eine Leugnung der Existenz einer göttlichen Techne (Soph. 265b—e). — έκ τούτων (c7) wird von Saunders auf die in c4 erwähnten Lebewesen (ζώα) bezogen und gleichfalls auf die Menschen gedeutet (so auch May­ hew 83). Diese sachlich mögliche Deutung setzt allerdings voraus, daß τούτων über drei Zeilen und über έκ τούτων (c4) hinweg sich nur auf die Lebewesen (ζώα cl) und nicht auch auf die mit diesen verbundenen Pflanzen (φυτά) zurückbezieht und daß dabei aus den Lebewesen alle Tiere ausgesondert werden. Demgegenüber scheint mir eine Beziehung von τούτων auf die vorher genannte Natur und Zufall oder auch pau­ schal auf alle vorher genannten Faktoren vom Textablauf her plausibler. — Die drei Angaben ύστερον, υστέραν und ύστερα versteht Saunders 1972, Nr. 92 so, daß damit verschiedene Zeitpunkte gemeint sind: später (d.h. nach Entstehung der Himmelskörper) entdeckten die Menschen nach einer primitiven Urzeit zu einem späteren Zeitpunkt die Künste, die zunächst notwendige Bedürfnisse befriedigten und erst später gewisse Spielereien (wie Malerei und Musik) hervorbrachten. Gegenüber dieser scharfsinnigen Interpretation, deren Subtilität vom Wortlaut des Textes nicht mehr gedeckt ist (vgl. auch De Ley 1973, 237), scheint mir wahr­ scheinlicher, daß die drei Zeitangaben in polyptotischer Häufung zusam­ men das späte Auftreten der „Spielereien“ unterstreichen (England ver­ weist auf 886b6 πρώτοι και πρώτον). 889d2 die in ihrem Wesen mit den Künsten verwandt seien (συγγενή εαυτών): Der Plural εαυτών (= τεχνών) ist mit Stallbaum und England als Antizipation der im folgenden genannten Mehrzahl von Künsten zu erklären. Indem den Kunstprodukten derselbe Status wie der Kunst zuge­ sprochen wird, macht diese Wendung umgekehrt auch eine Aussage über die Kunst: wie die Produkte der Künste nur bloße Abbilder (είδωλα) der Wahrheit sind, so sind auch die Künste bloße Mimesis der Natur, und ge­ langen nicht über den Rang eines Spieles hinaus (vgl. Resp. 602b8, 608a-b, Phaidr. 276d, Soph. 234b 1, Pol. 288c; dazu Gundert 1977, 87). Ohne Pointe ist die von Varvaro 1967, 2021 vorgeschlagene reziproke Deutung von έαυτών („apparentate tra loro“). 889d7 Und so sagen sie auch von der Staatskunst usw.: Das von Ri­ chards (1911, 250) konjizierte τής πολιτικής ist angesichts des freieren Gebrauchs des griechischen Akkusativs (vgl. Kühner — Gerth I 286-290.

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330) nicht zwingend nötig. Die Scheidung zwischen der ausschließlich auf Konvention beruhenden Gesetzgebung und der teilweise mit der Na­ tur kooperierenden Staatskunst, könnte auf die These des platonischen Protagoras verweisen, daß αιδώς und δίκη als die unabdingbaren Vor­ aussetzungen politischer Organisation allen Menschen von Zeus, d.h. der Natur, verliehen worden sind (Prot. 322c-d).

889e3~890a9 Die Götter, mein Bester, usw. : Zur rationalistischen Er­ klärung des Götterglaubens vgl. oben S.380 zu 887c5—899d3. Daß mo­ ralische Normen auf gemeinsamer Überzeugung beruhen und nur solan­ ge gelten, wie diese Überzeugung besteht, wird Theait. 172b als Konse­ quenz aus dem Homo-mensura-Satz des Protagoras hingestellt (daher wird die vorliegende Stelle auf Protagoras bezogen von Nestle 1932, 1360T; Kerferd 1953, 43 Anm.8; Heinimann 1945, 119 Anm.24; Hentschke 1971, 311 Anm. 302). Kallikles stellt Gorg. 482e ff. das Ge­ rechte von Natur (φύσις) dem Gerechten nach dem Gesetz (νόμος) ent­ gegen und identifiziert es mit dem Anspruch des Stärkeren auf Mehrbe­ sitz (483d ff.) und der Befriedigung der Begierden (49le). Für Thrasymachos (Resp. 338aff.) ist das Gerechte das, was die Herrscher als ihren Vorteil festsetzen. Hippias bestreitet bei Xenophon, Mem. 4,4,14, daß das Gesetz etwas „Ernstes“ sei, weil es oft abgeändert werde. Der Anaxagoras-Schüler Archelaos scheint erstmals die Formulierung gebraucht haben, daß es das Gerechte nicht φύσει, sondern nur νόμω gibt (Vors. 60 A 1). Die Behauptung, daß es das Gerechte überhaupt nicht von Natur gebe (889e7), wird von Decleva Caizzi 1986 auf den Sophisten Antiphon (Vors. 87 B 44) zurückgefährt (zustimmend Bertrand 1999, 297 A. 224; 357 Anm. 160 und Neschke-Hentschke 1995, 140ff.); gegen diese Zu­ schreibung wendet Bignone 1976, 496 Anm. 8 ein, daß Antiphon gerade ein Recht suche, das seine Grundlage in der Natur hat, während die von Platon kritisierten Philosophen behaupten, in der Natur gebe es über­ haupt kein Recht.

889e4 diese seien jeweils verschieden je nachdem usw.: Ich beziehe τούτους auf die Gesetze (so z.B. auch Steiner und Lisi; auf die Götter beziehen es z.B. Susemihl, England, Decleva Caizzi 1986, 303, Ferrari Poli, Brisson - Pradeau, Mayhew 89). - άλλη verstehe ich nicht räum­ lich, sondern modal in Korrelation zu οπη. Räumliche Bedeutung hat άλλη in Verbindung mit άλλος bei Platon nur Phaidr. 263a9 und Resp. 621b, beidemal mit dem Bewegungsverb φέρεσθαι; sonst verwendet Platon in dieser Junktur als Ortsbezeichnung άλλοθι (Phaid. 109b3) bzw. κατ’ άλλους τόπους (Kriti. 109c5). 889e6— 7 so sei auch das Schöne von Natur etwas anderes als das Schöne nach dem Gesetz, und das Gerechte gebe es überhaupt nicht von

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Natur: Die erste Aussage entspricht den Thesen des Kallikles (Gorg. 482e, 484a, 49le und 483a-b), daß es von Natur schön und gerecht (κα­ λόν και δίκαιον) sei, wenn der Stärkere mehr als der Schwächere besitzt und über andere herrscht, und daß gemäß der Natur das Unrechtleiden häßlich sei, gemäß dem Gesetz aber das Unrechttun (anders England, dem Mayhew 89 f. zustimmt). Die zweite Aussage, die dem Gerechten im Unterschied zum Schönen keinerlei Fundament in der Natur zuge­ steht, läßt sich mit der kallikleischen These dann vereinbaren, wenn mit dem Gerechten das gemeint ist, was das Gesetz als gerecht (oder als schön) festlegt (so auch Mahieu 1964, 38 f.).

890a5 das Gerechteste sei das, was einer mit Gewalt durchsetzt: An­ spielung auf die Verse von Pindar, Fr. 169al-4 Maehler, auf die schon 690b4—8 angespielt wurde und die auch Kallikles Gorg. 484a—b als Stüt­ ze für das Naturrecht des Stärkeren zitiert (vgl. dazu Bd. 1421 f.). 890a7 weil jene die Leute ... hinziehen: Jene sind die Prosaiker und Dichter (ιδιωτών τε καί ποιητών a4); der Genitiv έλκόντων setzt den Genitiv φασκόντων (a4) fort (anders England). 890b 1— 891b7: Notwendigkeit und Schwierigkeit einer Widerlegung Wie Kleinias nach der ersten Andeutung der Ursachen des Atheismus (886b-e) sein Erschrecken über die atheistische Lehre bekundete (886e3—5) und sich daran eine Diskussion über die Notwendigkeit und Schwierigkeit einer Widerlegung anschloß (886e6—887c4), so löst auch hier seine Reaktion eine Diskussion über die Notwendigkeit einer Wider­ legung aus. Diese strukturelle Analogie (vgl. Görgemanns 1960, 85 ff.) darf weder durch die Annahme von Parallelfassungen erklärt (so Mahieu 1963, 9) noch als gemeingriechische Stileigenheit abgetan werden (so Naddaf 1992, 482), da inhaltlich klare Unterschiede bestehen: In 886b-e legte der Athener die Ursachen aller drei häretischen Überzeugungen dar, während er in 888d7—890a9 nur die im eigentlichen Sinne a-theistische Kosmologie referierte. In 886e6—887c4 ist der Kernpunkt der Dis­ kussion die Länge einer Widerlegung; hier dagegen geht es darüber hin­ aus um die sachliche Schwierigkeit einer Widerlegung (890e—891a), wo­ mit auf das anspruchsvollere Niveau der folgenden Ausführungen hinge­ wiesen wird. Der Gedankengang verläuft in folgenden Schritten: 1) 890b3—c8: Eine argumentative Widerlegung ist schon deshalb nötig, weil ein Gesetzgeber, der nach eigenem Anspruch „sanft“ sein will (885e2), sich nicht auf die Drohung mit Gewalt beschränken darf (vgl. 719e ff., 722b—c, 859aff.), sondern sich daneben auch der Überredung (πειθώ) bedienen muß, um die Atheisten „sanfter“ zu stimmen (ήμεpoöv 890c8; vgl. dazu 718d4, 720d7).

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2) 890dl-8: Diese Widerlegung deutet Kleinias als Beistand des Ge­ setzgebers, welcher der das Dasein der Götter verbürgenden „alten Sat­ zung“ zu Hilfe kommen muß. In seinem Übereifer (vgl. el) gibt Kleinias auch schon das Beweisziel vor: zu zeigen ist, daß Gesetz und Techne als Erzeugnisse der Vernunft nicht hinter der Natur zurückstehen. 3) 890el-891a8: Den Eifer des Kleinias dämpft der Athener durch Hinweis auf (a) die Schwierigkeit und (b) die Länge einer solchen Be­ weisführung (890el-3). Gegenüber diesen Bedenken bekundet Kleinias zunächst (b) die Bereitschaft auch zu einer langen Beweisführung und verweist dann (a) auf die Schriftlichkeit der Gesetze, die bei Verständnis­ schwierigkeiten ein wiederholtes Nachlesen ermöglicht, und sieht jeden verpflichtet, den Ausführungen zu Hilfe zu kommen (890e4-891a8). 4) 891b 1—6: Der Athener stimmt Kleinias zu und begründet abschlie­ ßend die Notwendigkeit der Hilfe mit der durch Verbreitung der atheisti­ schen Lehren und Unterhöhlung der Gesetze gekennzeichneten geistigen Situation der Zeit (vöv b4); die Pflicht zum Beistand kommt in erster Li­ nie dem Gesetzgeber zu. Der Abschnitt enthält Aussagen, die vor dem Hintergrund der als „Schriftkritik“ bekannten Äußerungen Platons betrachtet werden müs­ sen. Diese Äußerungen (Prot. 329a, Phaidr. 274b—278e, Pol. 294a—301a; Epist. VII 341b-342a, 344c-d) heben die Schwäche des geschriebenen Logos hervor, der unfähig sei, auf Fragen des Lesers zu antworten und sich zu verteidigen, und der sich nicht auf seine Adressaten einstellen könne; daher müsse ihm sein Autor zu Hilfe kommen. Demgegenüber sieht Kleinias in der schriftlichen Aufzeichnung gerade einen Vorteil. Manche Interpreten haben diese positive Bewertung als In­ diz für den beschränkten Horizont des Kleinias gedeutet (so Görgemanns 1960, 105) und in Kleinias’ Verteidigung der Schriftlichkeit sogar „Pla­ tons letzte Schriftkritik“ gesehen, weil Platon in Kleinias jenen Lesertyp kritisiere, der den Text als Traktat oder Gesetzeskodex mißverstehe (so Thanassas 2002, 98). Hiergegen ist darauf zu verweisen, daß im Text von einer Kritik an Kleinias nichts zu spüren ist: der Athener (der am ehesten als Platons Sprachrohr gelten darf) äußert nicht nur keinen Wi­ derspruch gegen das Lob des Megillos für die Ausführungen des Klei­ nias (891a8), sondern will sogar gemäß den Worten des Kleinias verfah­ ren (891bl). Platon sieht nämlich unter speziellen Bedingungen, bei be­ stimmten Texten und zu bestimmten Zwecken in der Schriftlichkeit durchaus einen Vorteil. Ein solcher Zweck ist vor allem der einer Ge­ dächtnisstütze (vgl. Theait. 143al, Phaidr. 278al, Epist. VII 344d9). So vermag ein wissender Politiker durch Aufschreiben von Gesetzen ebenso wie ein Arzt durch schriftliche Verordnungen dafür zu sorgen, daß seine Anordnungen nicht vergessen werden (vgl. Pol. 295c). Besondere Um­

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stände sind gegeben, wenn wie beim Asebie-Gesetz eine Darlegung lang und schwer zu verstehen ist. Dann ist die schriftliche Aufzeichnung der „Hilfe“ für das Gesetz von Vorteil, weil der schriftliche Text dem schwer Begreifenden (δυσμαθεΐ 891a4) ein wiederholtes Lesen und Durchden­ ken ermöglicht (so auch Erler 1987, 92. 283). Gegen eine Abwertung der Schrift spricht auch die Behauptung des Atheners, daß „Schriften über Gesetze“ und „Schriften des Gesetzgebers“ sogar bewirken können, daß der, der sie liest, „besser wird“ (957c-d). Die „Hilfe“ für den geschriebenen Text, die der Phaidros fordert, er­ scheint in der vorliegenen Passage in zweierlei Gestalt: Kleinias möchte, daß „jeder Mann“ Beistand leistet (891a6-7); der Athener sieht vor allem den Gesetzgeber zur Hilfe verpflichtet (891b6; so auch Kleinias 890d3). Die Doppelung ist bedingt durch das unterschiedliche Objekt des Bei­ stands. Der Gesetzgeber soll dem Gesetz und der darin festgeschriebenen alten Satzung beistehen; er ist nämlich als Autor des Gesetzes gemäß Phaidr. 275e, 278b-c verpflichtet, seinem Erzeugnis beizustehen (zum Motiv der Hilfe vgl. Szlezak 1993, 77 ff.). Diesen Beistand leistet er durch die theologisch-kosmologische Beweisführung des Proömiums, die gegenüber dem Asebie-Gesetz „Wertvolleres“ (τιμιώτερα Phaidr. 278d) bietet. Der im Munde des Kleinias von jedermann geforderte Bei­ stand gilt dagegen nicht dem Gesetz, sondern (was der Hinweis auf die Länge des Geschriebenen 891a5 bestätigt) der Beweisführung des Ge­ setzgebers (= „diesen Sätzen“ 891a6—7). Deren schriftliche Fixierung ist für jedermann gerade wegen ihrer Unveränderlichkeit (ήρεμεΐ a2) von Vorteil: Einerseits kann der „schwer Begreifende“ den Text so oft durch­ lesen, bis er ihn verstanden hat (womit das Bedenken des Atheners we­ gen der Schwierigkeit ausgeräumt wird). Andererseits stellt das schrift­ lich fixierte Asebie-Proömium genügend Argumente bereit, mit denen je­ der dem Gesetzestext, der starr ist und keine Antwort geben kann (vgl. Prot. 329a, Phaidr. 275d), zu Hilfe zu kommen kann (vgl. Szlezak 1993, 80). Dazu müssen in erster Linie die Mitglieder der Nächtlichen Ver­ sammlung fähig sein, denen die Sorge für die Seele der Atheisten obliegt (909a; vgl. auch 966c ff.); aber auch der gewöhnliche Bürger ist je nach seinen Fähigkeiten zum Beistand aufgerufen.

890b5—7 allen Leuten drohen, wenn sie nicht zugeben ... wie sie das Gesetz beschreibt: Der Satz bricht infolge der eingeschobenen Parenthe­ se anakoluthisch ab; als Ersatz für den fehlenden Nachsatz (und damit den Inhalt der Drohung) fungiert der Nachsatz c4—5 („der müsse sterben“ usw.) nach der Parenthese, die die Drohung auf jeden Ungehorsam ge­ genüber jedem Gesetz ausweitet.

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890cl: Ich übernehme die Konjektur von Stephanus δσα τε (so auch Stallbaum, England, Diès, Steiner); Apelt 537 Anm. 24 schlägt δσα δή vor, was Sölmsen 1959, 268 = 1968, 62 Anm. 7 billigt. 890d4 der alten Satzung (νόμω) als Helfer beistehen mit dem Beweis (λόγω), daß usw.: Ich folge (mit Burnet, Einarson 1957, 272, Görge­ manns 93, Pangle, Lisi, Steiner u.a.) dem überlieferten Text (Winckelmann streicht νόμω, ebenso Diès, Saunders, Brisson - Pradeau). Bei dem von den Materialisten als Basis des Götterglauben entwerteten Ge­ setz handelt es sich nicht um willkürliche Setzung, sondern um eine „alte Satzung“ (der Nebensatz „daß es Götter gibt“ hängt auch von νόμω ab). Dem dieses Gesetz untergrabenden λόγος der Materialisten muß der Ge­ setzgeber seinen λόγος als Hilfe für das Gesetz entgegensetzen. - Als „Beistand“ wird eine Argumentation auch 671a (für den Dionysoschor) oder Resp. 368b—c (für die Gerechtigkeit) bezeichnet. Der Ausdruck „den Gesetzen / der Gerechtigkeit zu Hilfe kommen“ begegnet in Ge­ richtsreden (z.B. Antiphon, Or. 1,31; 5,80; Lysias, Or. 10,32; 22,3; Isokrates, Or. 19,49; Demosthenes, Or. 56,15; vgl auch Aristophanes, Plu­ tos 914; Anonymus Iamblichi Vors. 89 [II 401,31]). Da der Beistand Au­ die alte Satzung hier letztlich Hilfe für die Götter ist, ist auch an die Wen­ dung „dem Gott zu Hilfe kommen“ zu erinnern (so im Amphiktyoneneid Aischines, Or. 3,109; ferner Platon, Apol. 23b7). Vgl. Heitsch 1997, 195 Anm. 430.

890d7 oder etwas sind, das nicht geringer ist als die Natur: So nach dem überlieferten Text, den auch Görgemanns 1960, 93 verteidigt. Diès und andere übernehmen Hermanns Konjektur ήττονι („von etwas (her­ stammen], das nicht geringer ist als die Natur“). In beiden Textfassungen beruht die Überlegenheit über die Natur darauf, daß die Gesetze „Erzeug­ nisse der Vernunft“ (νου γεννήματα) sind, die ursprünglicher als die Natur und die Naturprodukte ist (892b). - Die Vorstellung einer „Zeu­ gung“ der Gesetze ist traditionell: vgl. Sophokles, Oid. Tyr. 867. 870; Symp. 209d: Solon ist geachtet wegen seiner Erzeugung der Gesetze (την των νόμων γέννησιν); Lykurgs Gesetze sind seine Kinder (παίδες).

890el~2 schwierig, den Worten zu folgen, wenn dies nur so in die Menge hinein (εις πλήθη) gesagt wird: Ich fasse λόγοις als Objektsda­ tiv zu συνακολουθεΐν (so auch Mayhew 96; Görgemanns 1960, 93 zieht es als Instrumentalis zu λέγομενα: wenn es „mit bloßen Worten“ gesagt wird). Zu εις πλήθη λεγόμενα vgl. 672a8—9 λέγειν εις τούς πολλούς, Menex. 239a7 απεφήναντο εις πάντας ανθρώπους, Thukydides 1,90,2 δηλούντες ές τούς Αθηναίους; zum Plural πλήθη vgl. Soph.

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268b λόγοις προς πλήθη ... είρωνευέσθαι; Gorg. 452e8 πείθειν τα πλήθη, Nom. 699e4 προστρέπειν πλήθη. 890e4 Als es um den Rausch und die Musik ging usw.: In 638b—650b und im 2. Buch.

890e6—7 eine Gesetzgebung, die mit Einsicht zu Werke geht (νο­ μοθεσία ... τη μετά φρονήσεως): Die durch μετά als Mittel gekenn­ zeichnete Einsicht ist einerseits die Einsicht des Gesetzgebers, der dem άνδρα τον μετά φρονήσεως βασιλικόν (Pol. 294a8) entspricht (vgl. Schaefer 1981, 178 und 365 Anm. 631); seine Gesetze sind Erzeugnisse der Vernunft (890d7; vgl. 714al-2). Andererseits ist sie die beim Geset­ zesadressaten zu weckende Einsicht, die diesen zu freiwilligem Geset­ zesgehorsam befähigt; geweckt wird diese Einsicht durch die Proömien, hier also durch die folgende Beweisführung. 890e7 gibt es eine sehr große Hilfe, weil usw.: Ich fasse έστιν als Voll­ verb (,existiert6) auf (so auch Görgemanns 1960, 92; Pangle, Steiner). Kleinias will die Bedenken des Atheners wegen der Schwierigkeit der Beweisführung durch Hinweis auf deren schriftliche Fixierung entkräf­ ten. England versteht „Such a philosophical argument... would be of the greatest assistance to the wise lawgiver“ (so offenbar auch Stallbaum, Apelt, Saunders, Lisi, Brisson — Pradeau). In diesem Fall erwartet man aber zumindest ein Demonstrativum (τούτο o. ä.) als Subjekt und wohl auch den Potentialis. 891al die mit den Gesetzen zusammenhängenden Anordnungen (προστάγματα): πρόσταγμα bezeichnet gewöhnlich den Befehl des Gesetzgebers bzw. des Gesetzes (755b3, 926a, προστάττειν 719d6, 738b3, 741b7, 745a8, 747a6, 755b5; ebenso έπίταγμα 722e8); vgl. bes. Pol. 295c: der wissende Staatsmann schreibt Gesetze auf, damit seine Anordnungen (προσταχθέντα c3) nicht vergessen werden. Hier aber muß damit die als Proömium des Asebiegesetzes fungierende Beweis­ führung gemeint sein (vgl. Bobonich 1996, 269 Anm. 37). Möglicher­ weise verwendet Kleinias das Wort πρόσταγμα in erweitertem Sinne für den Inhalt der Beweise (vgl. 693el—2: der λόγος will etwas ,ein­ schärfen6 [προστάττειν]), oder er überträgt den befehlenden Charakter des Gesetzes auch auf das dem Gesetz vorausgehende Proömium; viel­ leicht erwartet er auch von der folgenden Argumentation (nach dem Muster von 888b-d?) Appelle und Mahnungen an den Atheisten. 891a2 ganz unverändert stehen bleiben (ηρεμεί): Das Verbum muß hier positiv gemeint sein. Aischines, Or. 3,75 rühmt als Vorzug der Ar­ chivierung staatlicher Dokumente, daß sie unveränderlich (ακίνητον) bleiben. Möglich ist auch eine metaphorische Deutung von ήρεμει in

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Kommentar

dem Sinne, daß das Geschriebene vor dem, der von ihm Rechenschaft fordert, nicht davonläuft. In einem andern Sinn bezeichnet ήρεμεί Gorg. 527b4 das Gültigbleiben eines Satzes, der unter allen überprüften (έλεγχομένων) Sätzen die Prüfung erfolgreich übersteht (Ast und Stall­ baum verstehen ήρεμεΐ hier negativ als tacent bzw. silent, was die Not­ wendigkeit eines Helfers begründe; hiergegen England z. St.). 891a5—7 scheint mir auch nicht fromm, daß diesen Sätzen nicht jeder­ mann nach Kräften zu Hilfe eilen soll: Zum Gedanken vgl. Resp. 368b7-cl: „Ich fürchte, daß es auch nicht fromm ist (ούδ’ όσιον), wenn man, falls man zugegen ist, wie die Gerechtigkeit geschmäht wird, er­ mattet aufgibt (ατταγορεύειν; vgl. κάμνειν Nom. 890d2) und ihr nicht hilft“ (βοηθειν). 89 lb8—892dl: Die Ursache der falschen Lehre der Atheisten: Unkennt­ nis der Priorität der Seele Wenn die Atheisten unter Natur (φύσις) ganz materiell die vier Ele­ mente verstehen (891c 1-5), weil sie diese fiir die allerersten Dinge hal­ ten, dann betrachten sie, wie der Athener vermutet (cl κινδυνεύει), die Seele als etwas später Entstandenes und schließen den ganzen Bereich des Seelischen aus der Natur aus (wie bereits das privative Adjektiv αψύχων [,unbeseelt4] 889b5 angedeutet hatte). Die Seele ist aber Ursache des Werdens und Vergehens (891e5) und Anfang aller Veränderung (892a6). Daher muß sie mit ihren spezifischen Tätigkeiten zeitlich früher sein und ontologisch höher stehen als die Kör­ per und deren Eigenschaften (892a). Das von den Materialisten ange­ nommene zeitliche und ontologische Verhältnis zwischen Natur und Kunst und ihren Hervorbringungen (889a-d) ist also gerade umgekehrt. Versteht man nämlich unter der Natur, wie es der Athener den Mate­ rialisten unterstellt (892c2), dynamisch die Entstehung der ersten Dinge, dann ist gerade die Seele besonders von Natur (φύσει 892c5), wenn sie als erste entstanden ist. Damit steht das Ziel der folgenden Argumenta­ tion fest: zu beweisen ist die zeitliche und zugleich ontologische Priorität der Seele vor dem Körper (892c5-7). Inwiefern durch die Priorität der Seele die Existenz von Göttern erwiesen wird, sagt der Athener nicht. Immerhin wird durch Erwähnung der Götter in 891b4, e2 und 8 und den Hinweis auf die unfrommen Ansichten in 891d2 und e7 der Gottesbe­ weis als das eigentliche Ziel der folgenden Argumentation im Bewußt­ sein wach gehalten.

891c3 die Seele dagegen usw.: Im folgenden gebraucht Platon regel­ mäßig ψυχή ohne Artikel für die im außermenschlichen Bereich wirken­ de Seele, dagegen mit Artikel für die menschliche Seele wie 904c, 909a

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(vgl. Dome 1983, 86) - eine im Deutschen nicht vorhandene Differen­ zierungsmöglichkeit. 891c7 gleichsam eine Quelle: Zur Quellmetapher vgl. die Anm. zu 690d4. 89le 1—3 Wenn es aber auf keinem anderen Weg als auf diesem mög­ lich ist usw. : Ich folge Englands Erklärung des überlieferten Textes (eine andere Deutung erwägt Saunders 1972, Nr. 94, S.97f.). Kleinias meint: wenn der Existenzbeweis für die im Gesetz als Götter bezeichneten We­ sen erfordert, daß unser Gespräch die Sphäre der Gesetzgebung über­ schreitet (d7-8), dann müssen wir dies tun. Damit wird das lange Proömium gerechtfertigt (die Gesetzgebung beginnt erst in 907d).

891e7 deren Produkt die Seele der Gottlosen ist: Solmsen 1959, 266 = 1968, 60 schlägt vor, ψυχήν als eine in den Text eingedrungene Glosse durch δόξαν zu ersetzen (zustimmend Hentschke 1971, 315 Anm. 311, Bordt 2006, 197 Anm. 117 und Steiner 120, der jedoch Solmsens Kon­ jektur ungenau wiedergibt). Der überlieferte Text ergibt aber einen sehr guten Sinn: die Gottesleugner (d.h. ihre Seelen) sind durch die Worte der Naturphilosophen verfährt und zu dem geworden, was sie sind (vgl. auch 695e2-3: Xerxes ist ein Sprößling derselben Erziehung). Daß die Seelen der Gottlosen gottlos sind, versteht sich von selbst (so daß die Stallbaum und Post 1958, 288 vorgeschlagene Einfügung von ασεβή überflüssig ist).

892a2—bl Die Seele, mein Freund, scheinen fast alle verkannt zu ha­ ben: Die Wirkkraft (δύναμις) der Seele besteht darin, daß sie nicht nur temporale, sondern auch ontologische Priorität vor dem Körper hat, des­ sen Entstehung und Veränderung sie als Führerin steuert (άρχει a6). Bei­ de Aspekte drückt das Adjektiv πρεσβυτέρας (bl) aus, das sowohl ,äl­ ter6 als auch , ehrwürdiger6 bedeuten kann (zum Vorrang des Älteren vor dem Jüngeren vgl. 690a). Zum Ganzen vgl. Tim. 34c: die (Welt-)Seele ist kraft ihrer Entstehung und Vorzüglichkeit früher (προτέρα) und ehr­ würdiger (πρεσβυτέρα) als der Körper und ist zur Gebieterin und Herr­ scherin über den Körper (δεσπότιν καί άρξουσαν άρξομένου) ge­ schaffen. Zum Problem des Geworden-Seins der Seele vgl. unten S. 414 zu 896a5—d9. 892b3 Meinung, Fürsorge, Vernunft usw.: Zu den Tätigkeiten der See­ le vgl. 645el ff. und 896c9ff. e8ff. (wo sie als „Bewegungen66 der Seele gefaßt werden); nach Resp. 353el sind sie die έργα der Seele.

892d2—893b4: Methodische Vorbemerkungen und Götteranruf. Die folgende Beweisführung droht mit ihren abstrakten Gedankengän­

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gen die bejahrten Dialogpartner zu überfordern, deren Stärke eher ihre reiche Erfahrung und praktische Einsicht als die subtile Spekulation ist. Daher erbietet sich der Athener, als der Jüngere die mit einer Flußüber­ querung vergleichbare Beweisführung selber zu übernehmen, da er mit vielen Strömen vertraut ist, d.h. vor den beiden andern die zu solchen Argumentationen erforderliche wissenschaftliche Schulung voraus hat (vgl. auch 968b). Die Bedeutung des folgenden Unternehmens erfordert einen Anruf an die Götter (vgl. zu dieser Sitte zu 712b4), der das ,Leitseil· für die Flußüberquerung bilden soll. 892d2-4: Das vorzeitige Scheiterns der Untersuchung und die damit verbundene Blamage wird wie Phaid. 89c 1, Pol. 284b8 metaphorisch als Entfliehen des λόγος bzw. wie Prot. 361a, Lach. 194a, Charm. 175d (ähnlich Phil. 53e5) als Verlachtwerden durch denselben gedeutet. 892d6—e5 Wenn wir drei beispielsweise einen reißenden Fluß usw.: Die Konstruktion des Satzes hat Apelt 1907, 15 (mit Belegen für καθάπερ im Sinne von „beispielsweise“) geklärt. Zu der unregelmäßigen Ver­ bindung von ότι mit einem Infinitiv (χρήναι) vgl. Stallbaum z. St. und die Beispiele bei Kühner - Gerth II 357 Anm. 3. sowie bei Verdenius Waszink, Aristotle on Coming-to-be and passing-away: some comments, Leiden 1946, 34£; Konjekturen sind daher unnötig. Zum Vergleich der Untersuchung mit dem Gehen auf einem Weg vgl. Bd. I zu 629a3-4. Wie das Weitergehen 799c durch eine Weggabelung gehemmt wird, so hier durch einen reißenden Fluß (ebenso 900c). Ähnliche Bilder finden sich Phaidr. 264a5, Resp. 441c4, 453d, Parm. 137a5 (Hindurchschwim­ men); Resp. 457b—c, 472a, 473c (Brandungswelle, durch die es hin­ durchzukommen gilt); vgl. auch das Sprichwort Theait. 200e.

892e7 Dunkel vor den Augen (σκοτοδινιαν) oder Schwindel (ίλιγ­ γον): σκοτοδινία ist der Schwindel, bei dem es einem schwarz vor den Augen wird; als Bild für intellektuelle Hilflosigkeit steht es auch Soph. 264cll, Theait.l55cl0 (vgl. Nom. 663b6). Als Metapher in gleicher Funktion wird ’ίλιγγος (oder είλιγγ- und Ableitungen) gebraucht Phaid. 79c7, Lys. 216c, Gorg. 486bl, 527a2, Krat. 411b7, Theait. 175d2, Epist. VII 325e3. Zu einer Junktur sind beide Bilder wie hier auch Prot. 339e verbunden.

893a5— 7 gehe dann die ganze Rede in dieser Weise durch, bis sie hin­ sichtlich der Seele vollendet ist: Szlezäk (1985, 76) sieht darin, daß Kleinias ab 894b wieder am Gespräch beteiligt ist, ein Zeichen redak­ tioneller Unfertigkeit der Nomoi, weil das angekündigte Programm nicht bis zu Ende durchgeführt werde. Der Anstoß schwindet, wenn man das Programm aufgrund von 900c4-5 so versteht, daß der Athener nur dort,

893b4—896d9

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wo die Dialogpartner überfordert sind, die Antworten selbst gibt (so aus­ drücklich wieder in 897d5 ff.), und wenn man berücksichtigt, daß Klei­ nias in der Regel nur Verständnisfragen stellt oder seine Zustimmung be­ kundet.

893b4—896d9: Die Seele ist als Prinzip der Bewegung der Ursprung al­ ler Dinge. In 966d-e nennt der Athener rückschauend zwei Gründe fiir den Göt­ terglauben: die Priorität der Seele und die Herrschaft der Vernunft (Nus) über das Weltall. Demgemäß besteht der folgende Gottesbeweis aus zwei Teilen: Zunächst wird aus der autokinetischen Natur der Seele deren zeit­ liche und ontologische Priorität vor dem Körper gefolgert (893b4896d8); danach wird in einer noetisch orientierten Argumentation ge­ zeigt, daß eine vernünftige Seele das Weltall lenkt (896dl0-899d3). Die kinetische Beweisführung verläuft in folgenden Schritten: 1) Unter den zehn Arten der Bewegung im Kosmos sind die wichtig­ sten: die Bewegung, die andere Dinge, aber nicht sich selbst be­ wegt, und die Bewegung, die sowohl sich selbst als auch andere Dinge bewegt (893bl-894c9). 2) Die Selbstbewegung ist der Ursprung aller Bewegungen (894c 10— 895b8). 3) Selbstbewegung ist die Definition der Seele (895cl-896a4). 4) Also ist Seele die Ursache aller Dinge und älter als der Körper (896a5-d8). 893b6—894c9: Die zehn Arten der Bewegung Das Phänomen der Bewegung (κίνησις), worunter die antike Philoso­ phie neben der Ortsveränderung auch jede andere Veränderung verstehen konnte, beschäftigte schon die vorsokratischen Naturphilosophen (vgl. Aristoteles, Phys. 8,9. 265b 17 ff.). Platon greift diese Ansätze auf, um sie zu systematisieren und alle Bewegungsarten auf eine psychische Ur­ sache zurückzuführen. Dementsprechend nennt der Athener als eigentli­ ches Argumentationsziel der Bewegungsabhandlung die Seele (894b6). Insgesamt führt er zehn Bewegungen auf, von denen nur zwei, die Fremdbewegung und die Selbstbewegung, eindeutig als neunte bzw. zehnte Bewegung gezählt werden (894a8 ff.). Eine zweifelsfreie Identifi­ zierung der andern acht Bewegungen, die in dem Bewegungskatalog 893b6-894a8 enthalten sein müssen, ist schwierig. Von den verschiede­ nen Vorschlägen, die hier nicht alle vorgestellt und kommentiert werden können (Übersichten bei Pietsch 2003), sind m. E. diejenigen zu verwer­ fen, die bei der Zählung entweder die Zertrennung und die Verbindung (Nr. 3 und 4 in der folgenden Zählung) oder das Entstehen und das Ver­

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gehen (Nr. 7 und 8) übergehen. Denn diese vier Bewegungen werden so­ wohl in 894b 10-11 als auch in 897a6—7 als eine Gruppe zusammenge­ faßt, zu denen in 894b 10—11 noch das Wachsen und das Abnehmen hin­ zutreten. Neben diesen vom Athener selbst mit unterschiedlichen Termi­ ni benannten sechs Bewegungen bleiben dann nur noch die Rotation auf einer Stelle und die Ortsveränderung übrig, so daß sich für die ersten acht Bewegungen in der Reihenfolge ihrer Erwähnung folgende Zählung er­ gibt (so auch die meisten Ausleger, zuletzt Mayhew 106 ff.): 1) Rotation (893c4-d5); 2) Ortswechsel durch (a) uniaxiale oder (b) multiaxiale Kreisbewe­ gung (893d6-el); 3) Zertrennung (διασχίζεσθαι, διακρίνεσθαι, διάκρισις 893e2. 6, 894b 10, 897a6); 4) Verbindung (συγκρίνεσθαι, σύγκρισις 893e4. 6, 894bl0, 897a6); 5) Wachsen (αύξάνεσθαι, αυξη, αυξησις 893e6, 894b 10, 897a6); 6) Abnehmen (φθίνειν, φθίσις 893e7, 897a6; als Gegensatz zur αυ­ ξη in 894b 11); 7) Entstehen (γίγνεσθαι, γένεσις 894al—2, 894bll); 8) Vergehen (διαφθείρεσθαι, φθορά 894a7, bl 1 ; vgl. άπόλλυσθαι 894al); 9) Die von anderem bewegte und anderes bewegende Bewegung (894c3-4); 10) Die sich selbst und anderes bewegende Bewegung (894c4-8). Eine systematische Einteilung der Bewegungen hatte Platon schon vor den Nomoi unternommen. Im Theaitet (18Id) und Parmenides (138b-c) unterteilt er die im weitesten Sinn als Veränderung (μεταβολή Parm. 162c2) gefaßte Bewegung (κίνησις) in qualitative Umgestaltung (άλλοίωσις) und räumliche Bewegung (φέρεσθαι); letztere wird Parm. 138c noch weiter untergliedert in Rotation auf einer Stelle (περιφερόμενον έπι μέσου βεβηκέναι) und Ortswechsel. Im Timaios wer­ den sieben Bewegungen unterschieden: die Kreisbewegung (34a) als die vernünftige Bewegung des Weltkörpers und sechs lineare Bewegungen der Einzelkörper (43b: vorwärts/rückwärts, rechts/links, abwärts/aufwärts). Die ersten beiden der hier aufgezählten Bewegungen (1 und 2) können mit den im Parmenides unterschiedenen beiden Formen räumlicher Be­ wegung (φορά) identifiziert werden. Sie umfassen auch alle sieben im Timaios genannten Arten, da die sechs linearen Bewegungen unter die Ortsveränderung (2) subsumiert werden können. Die Bewegungen 3—8 bestehen dagegen nicht in einem Ortswechsel, sondern in einer quantita­ tiven und qualitativen Veränderung und können, auch wenn der Termi-

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nus hier nicht verwendet wird, als άλλοίωσις verstanden werden (vgl. Brisson 1995, 122; Macé 2006, 149f.; Μ. Hoffmann 1996, 236; Mayhew 112; anders Crivelli 1982, 291, Pietsch 2003, 305 und 318ff.). Die folgende Interpretation der acht Bewegungen deckt sich weitge­ hend mit der Analyse von Skemp 1967, stützt sich aber in entscheiden­ den Details auch auf die Arbeiten von Μ. Hoffmann (1996) und Pietsch (2003). Die 1. Bewegung ist die Rotation auf einer Stelle (c2. 5) um ein unbe­ wegliches Zentrum, die der Athener mit der Rotation von Kreisscheiben vergleicht (gedacht ist wohl, wie 898a4-5 zeigt, an die Scheiben einer Drechselbank). Das „Wunderbare“ an dieser Bewegung ist hier nicht die in Resp. 436d am Kreisel als scheinbares Paradox hervorgehobene Gleichzeitigkeit von Ruhe (Stehen) und Bewegung (Drehung), sondern der Umstand, daß ein und dieselbe Drehung proportional zum Abstand eines Punktes vom Mittelpunkt unterschiedliche Geschwindigkeiten her­ vorbringt. Eine solche Bewegung ist die Bewegung des Universums, de­ ren Regelmäßigkeit die Vernünftigkeit der Weltseele beweist (897d ff.). Die 2. Bewegung vollzieht sich an mehreren Stellen (c4, d6), besteht also in einem Ortswechsel (μεταβαίνοντα εις ετερον αεί τόπον 893d7—8). Sie wird in zwei Unterarten (2a und 2b) unterteilt. Der Sinn dieser Unterteilung erschließt sich erst nach Klärung der Frage, ob der Athener eine geradlinige (so z.B. Pietsch 305) oder eine kreisförmige Bewegung beschreibt (so z.B. Skemp 1967, 101 f., Brisson 1995, 122, Naddaf 1992, 495 f., Macé 2006, 149). Sie läßt sich aus dem Text nur be­ dingt beantworten. Denn die Wendung μεταβαίνοντα εί,ς ετερον αεί τόπον (d7) bezeichnet wie die ähnlichen Formulierungen Theait. 181c6—d6, Parm. 138c5-6 die Ortsveränderung ohne Rücksicht darauf, ob die Bewegung kreisförmig oder linear ist. Ebenso kann φορά (d7) so­ wohl für die gradlinige wie die kreisförmige Bewegung gebraucht wer­ den (vgl. 747a, Theait. 153e7, 156d2 bzw. 897c5, 898b2, 966e3). Weiter hilft der Ausdruck βάσιν ενός κεκτημένα τίνος κέντρου d8-el. Er spezifiziert die erste Unterart (2a) als Fortbewegung eines (kugelförmi­ gen) Körpers, der sich zugleich um die eigene Achse dreht. Für die Axialrotation spricht die Formulierung Resp. 436d6, wo es von den auf der Stelle rotierenden Kreiseln heißt εν τω αύτω πήξαντες τό κέντρον. Wegen der Rotation ist κέντρον hier nicht einfach der Auflage­ punkt, sondern der Drehpunkt oder noch exakter der Endpunkt der Dreh­ achse oder diese Achse selbst (so schon Ritter II 297); auch die für das Verständnis von βάσιν relevante Formulierung επί μέσου βεβηκέναι Parm. 138c7 beschreibt eine Rotation um eine Achse (diese Auffassung scheint mir wahrscheinlicher als die von den meisten Auslegern [und von mir 1977] vertretene Deutung als „eine Auflagefläche aus nur einem

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Punkt besitzend“, womit das Gleiten eines Körpers auf einer Fläche ge­ meint sei). Eine solche aus Fortbewegung und Axialrotation kombinierte Bewe­ gung wird Tim. 40a—b den Fixsternen zugeschrieben, die neben ihrer Axialrotation noch durch den täglichen Umlauf des Selben eine gleich­ mäßige Vorwärtsbewegung mitgeteilt bekommen. Bezieht man die vor­ liegende Stelle auf die Fixsterne (so schon Skemp 1967, 101, Μ. Hoff­ mann 1996, 247), dann muß es sich bei der zweiten Bewegung des Be­ wegungskatalogs um eine kreisförmige Bewegung handeln. Wenn aber deren erste Unterart (2a) die Bewegung der Fixsterne ist, dann liegt es nahe, auch die zweite Unterart (2b) auf Himmelskörper zu beziehen (so u.a. auch Skemp 1967, 101, Brisson 1995, 122, Macé 2006, 149ff., Hoffmann 238 ff.); als solche kommt dann nur die Bewe­ gung der Planeten in Betracht (so auch Skemp 101, Comford 1939, 197, Crivelli 1982, 268. 274 u.a.), wodurch auch die Annahme von gerade zwei Unterarten plausibel wird. Die Beschreibung der zweiten Unterart als (κεκτημένα) πλείονα (sc. κέντρα) τω περικυλινδεΐσθαι (el) muß dann die scheinbar irreguläre Bahn der Planeten wiedergeben, die im Tim. 36c-d auf eine Kombination der Bewegungen des Kreises des Sel­ ben und des Kreise des Verschiedenen (Ekliptik) zurückgefuhrt wurde. Tannery 1925, 64 und Μ. Guéroult 1924, 33f. beziehen den Plural κέν­ τρα auf Epizykeltheorien (erwogen auch von Saltzer 1976, 87); dies scheitert aber daran, daß es zu Platons Zeit diese Theorien noch nicht gab (Skemp 101 rechnet daher mit verlorenen Planetentheorien). Dem aktuellsten astronomischen Forschungsstand der Zeit entspräche eine Anspielung auf das von Eudoxos entwickelte Modell der homozentri­ schen Sphären (vgl. Bd. II 617 ff.), dessen Prinzip bereits der Erklärung der Planetenbewegung im Timaios zugrunde liegt (der Kreis des Selben und der Kreis des Verschiedenen bilden — als Kugeln gedacht — zwei ho­ mozentrische Sphären mit unterschiedlichen Achsen). In diesem Sinne wird die Stelle, soweit ich sehe, nur von Hoffmann 240 ff. interpretiert, der mit Verweis auf Resp. 436d6 unter κέντρον den Endpunkt der Ach­ se, d. h. den Pol dieser Sphären versteht und βάσιν in der Beschreibung der Fixstembewegung als „Schreiten mit einem κέντρον“ und mit Bezug auf die Planeten als „Schreiten mit mehreren κέντρα“ deutet (247; zu meiner eigenen Übersetzung vgl. die Bemerkungen unten zu 893d8-el). Die 3. — 6. Bewegung bilden eine Sequenz von quantitativen und quali­ tativen Veränderungen, welche die von einer Ortsbewegung erfaßten Körper erleiden. Bei diesen Körpern handelt es sich mit großer Wahr­ scheinlichkeit um die materialen Grundbausteine der Welt. Denn diese vier ,Bewegungen" stehen in engem Zusammenhang mit den Verände­ rungen und Bewegungen der vier Elemente im Timaios (vgl. Skemp 102,

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Naddaf 1992, 496, Macé 2006, 150, Hoffmann 250 f£, Brisson - Pradeau II 346 Anm. 48). So wird Wasser durch ,Auflösung4 (διακρινόμενον) zu Wind oder Luft (Tim. 49c 1); Feuer wird durch ,Verdichtung4 (συγκριθέν) und Erlöschen zu Luft (49c3). Diesen Übergang der vier Ele­ mente ineinander erklärt der Timaios mit deren Zusammentreffen (συντυγχάνουσα 56dl; vgl. προστυχάνοντα Nom. 893el) und ihrer da­ durch hervorgerufenen Auflösung in die sie konstituierenden Elementar­ dreiecke und deren Kombination zu einem anderen Element (53c-57d). Die Elemententheorie des Timaios erlaubt auch eine Verbindung der 3. — 6. Bewegung mit den beiden vorausgehenden Bewegungen. Die Bewe­ gung und die Übergänge der Elemente ineinander sind nämlich nach der Konzeption des Timaios verursacht durch die Kreisbewegung des Alls (58a), welche die kleineren Elementardreiecke zwischen die größeren preßt, wobei die kleineren die größeren trennen (διακρινόντων 58b7) und die größeren die kleineren miteinander verbinden (συγκρινόντων b7). Hinter den knappen Worten des Atheners wird so ein Denkmodell sichtbar, das alle Bewegungsformen aus der letztlich durch die Seele ver­ ursachten Kreisbewegung des Alls deduziert. Diese ist sowohl der Grund für die Ortsbewegung der Himmelskörper (Fixsterne, Planeten) als auch Bedingung fiir das ständige Ineinanderübergehen der materiellen Grund­ bestandteile der Welt durch Trennen und Verbinden der Elemente (vgl. Brisson 1996, 239 f. und Hoffmann 1996, 257, der auf die ähnliche Vor­ stellung des Aristoteles, De gen. et corr. 2,10. 336a31ff. verweist). Mit diesem Modell greift Platon das materialistische Konzept der Naturphilo­ sophen auf, welches alles Werden und Vergehen auf Mischung bzw. Trennung zurückführt (vgl. oben zu 889bl-c6), fügt es aber in einen von einer geistig-seelischen Kraft getragenen Bewegungszusammenhang ein. Die 7. Bewegung ist das Werden oder Entstehen (894al—2, 894b 11) ei­ nes sinnlich wahrnehmbaren Körpers (nach Tim. 28b—c ist Körperlich­ keit und sinnliche Wahrnehmbarkeit Indiz für Gewordensein). Dies ge­ schieht dadurch, daß ein „Anfang44 über drei Stufen (μεταβάσεις, wörtl. Übergänge) das Niveau der Wahrnehmbarkeit erreicht (894al-5). Die In­ terpretationen der schwierigen Stelle lassen sich in folgende Gruppen zu­ sammenfassen: (1) Die Mehrheit der Interpreten versteht unter μετάβασις den mathe­ matisch als Potenzierung beschreibbaren Übergang aus einer geometri­ schen Dimension in die nächsthöhere (z.B. Comford 1939, 198f., Skemp 1967, 105, Μ. Hoffmann 1996, 258 ff., Pietsch 2003, 310). Der erste Übergang führt vom ,Anfang4 durch ,Anwachsen4 (αυξη 894a3) zur Linie, der zweite zur Fläche und der nächste (= dritte) zum Volumen, das offenbar Voraussetzung der Wahrnehmbarkeit ist (zu αυξη ,Dimen­ sion, Potenz4 vgl. Resp. 528b2—3 und 546b5 [αύξήσεις]). Der ,Anfang4

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Kommentar

muß ein ausdehnungsloser Punkt sein, den Platon nach Aristoteles, Met. 1,9. 992a20 als αρχή γραμμής (,Anfang einer Linie4) und ατομος γραμμή (,unteilbare Linie4) bezeichnete. Gaiser (1968, 355 Anm. 64) versteht darunter die „unteilbare lineare Einheit44; Hoffmann 261 nimmt (unter Bezug auf Ps.-Platon, Epin. 990c—d) als Ausgangspunkt das Eine und die Zahlen an. Manche Interpreten setzen am Ende der Dimensio­ nenfolge noch einen weiteren Übergang vom geometrischen (Skemp) oder unteilbaren (Comford) oder festen (Theiler) Körper zum sinnlich wahrnehmbaren Körper an (Skemp 1967, 105, Comford 1939, 15. 198199, Theiler 1964, 101). (2) Die Verfechter einer „esoterischen44 Philosophie Platons sehen in 894al-5 eine „Verschweigungsstelle44 (Krämer 1996, 254 Anm. 30; vgl. Szlezâk 1993, 112), die über den Bezug zum Timaios hinaus auf Platons esoterische Philosophie, speziell auf dessen ,Dimensionalontologie4 ver­ weise, in der die Dimensionen mit den Idealzahlen 1-2-3-4 und mit Seinsstufen parallelisiert werden (so vor allem Gaiser 1968, 174 ff.; skep­ tisch Ilting 1965, 140 f.); als indirekte Testimonien hierfür werten sie ähnliche Vierer-Reihen (Zahl — Linie — Fläche — Körper; νους — επιστή­ μη - δόξα - αϊσθησις; 1 - 2 - 3 - 4), die bei Ps.-Platon, Epin. 990c99le, bei Aristoteles (Met. 992al0ff.) und bei Späteren für Platon, Speusipp und Xenokrates bezeugt sind (vgl. Gaiser 1968, 485 ff. [Testimonia 25A - 32], Isnardi Parente A 22, A 6, C 17 u.a.; dazu Burkert 1962, 2425, Theiler 99 ff.); diese Dimensionenfolge hatte schon Kucharski 1952, 71-74 mit der pythagoreischen Tetraktys in Verbindung gebracht (vgl. auch Gaiser 111). (3) Andere Interpreten identifizieren die αρχή mit der Seele. So wer­ den die drei Stufen von Ritter II297 ff. als drei Phasen eines Bewegungs­ ablaufs (seelische Bewegung - Bewegung des beseelten Körpers - durch beseelten Körper in einem anderen Körper verursachte Bewegung) ge­ deutet, von Apelt 538 Anm. 37 als Vorwegnahme der aristotelischen Stu­ fenfolge leblose Masse — Pflanzenseelen — Tierseelen. Hiergegen ist aber einzuwenden, daß die Seele von Platon erst 895c in die Argumentation eingefuhrt wird. Eine eigenartige Zwischenposition vertritt Crivelli, der in der Bewegungsabhandlung primär eine Analyse des seelischen Er­ kenntnisprozesses und erst sekundär eine kosmogonische Beschreibung der Entstehung der sichtbaren Welt sieht, wobei er die drei Stufen mit den drei Operationen des Demiurgen im Timaios (Formung der Elemen­ tarkörper — Verbindung der Elementarkörper zu größeren Organismen Konstitution der wahrnehmbaren Bewegungen) identifiziert (1982, 284). (4) Eine weitere Interpretation bezieht den angedeuteten Prozeß auf die Konstruktion der Volumina der Elementarkörper von Erde, Luft, Wasser und Feuer aus Dreiecken im Timaios (53c ff.). Brisson 2000a, 61

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sieht in 894al-5 lediglich eine Neuformulierung der geometrischen Er­ klärung des Timaios (ähnlich Brisson - Pradeau II 346 Anm. 49). Faßt man hierbei den „Anfang“ wie bei der ersten Deutung als dimensionslo­ sen Punkt, dann muß, da der „Anfang“ bis zur Fläche zwei ,Übergänge6 zu vollziehen hat, der Entstehungsprozeß noch vor den Elementardrei­ ecken einsetzen und folgende Stufen umfassen: Punkt - Linie - Fläche (= Elementardreieck) - Volumen. Der Passus würde dann einen Hinweis geben auf die im Tim. 53d6-7 ausgesparten „noch höheren (d.h. vor den Elementardreiecken anzunehmenden) άρχαί“ (so Skemp 1967, 105 und Ilting 1965, 141). Im Hinblick auf die oben aufgezeigten Beziehungen zum Timaios scheint mir dies die plausibelste Deutung zu sein. Mayhew 115 ff. nimmt zum Ausgangspunkt die beiden Arten des Ele­ mentardreiecks, das Tim. 53d4 als άρχή bezeichnet wird. Das „Anwach­ sen“ interpretiert er als die Bildung der Elementardreiecke aus drei Li­ nien; die zweite Transformation als die Zusammensetzung solcher Drei­ ecke zu einem Quadrat bzw. einem gleichseitigen Dreieck; die dritte Transformation als die Bildung der regelmäßigen Polyeder aus diesen Flächen; die Wahrnehmbarkeit von Erde, Feuer, Luft und Wasser als letz­ te Stufe wird erreicht durch eine die Wahmehmungsschwelle überstei­ gende Anhäufung der sie jeweils konstituierenden Polyeder. Diese Deu­ tung weckt folgende Bedenken: Wenn die άρχή das Elementardreieck ist und das Anwachsen, das dieser Anfang erfährt, die Bildung des Elemen­ tardreiecks aus drei Linien sein soll, müßte das Anwachsen zeitlich der άρχή vorausgehen, was logisch unmöglich ist. Ferner kann die bloße Anhäufung von Körpern kaum als μετάβασις (Übergang auf eine neue Ebene) bezeichnet werden. Die 8. Bewegung (φθορά ,Vergehen6) ist das Gegenstück zur 7. Bewe­ gung. Das Verhältnis dieser beiden Bewegungen zu den vorausgehenden Bewegungen ist schwer zu bestimmen. Der Annahme eines im Rahmen der bisherigen Ableitungen nicht begründbaren Neueinsatzes (Steiner 132) ist eine Interpretation vorzuziehen, die 894al ff. als Abschluß einer mehrgliedrigen Bewegungskette faßt, indem sie als Voraussetzung des Entstehens und Vergehens den Verlust des ,bestehenden Zustands6 (καθεστηκυΐα έξις 893e7) ansieht (Pietsch 2003, 315 ff, Macé 2006, 150). Für die φθορά ist diese Voraussetzung explizit genannt (894a7; vgl. 893e7); für die γένεσις ist sie per negationem zu erschließen aus der Bemerkung über das „wirkliche Sein66, das durch Fortbestand der έξις gekennzeichnet ist: das Werden ist der dem Sein vorausgehende Über­ gang von einer früheren έξις (die damit zugrunde geht: άπόλλυται 894al) zu der für das betreffende Seiende konstitutiven έξις. Versteht man darunter die Zusammensetzung der Volumina aus Elementardrei­ ecken, dann besteht der Verlust dieses Zustands, der zum Vergehen fährt,

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Kommentar

in der Dekomposition dieser Dreiecke, also der Reduktion einer ur­ sprünglich komplexen in eine elementarere Struktur, und im Falle des Werdens umgekehrt in der ,Höherstrukturierung6 einer elementaren in ei­ ne komplexere Struktur, die zu einer dreidimensionalen Anordnung der Elementardreiecke fuhrt (so Pietsch 315f.; vgl. Brisson - Pradeau II 346 Anm. 50. Anders Mugler 1957, 81: έξις sei das auf der Anordnung der Körper beruhende Gleichgewicht des Universums). Die 9. Bewegung ist die von außen angestoßene Bewegung (894c3-4), die den Bewegungsimpuls an andere Dinge weitergeben kann, aber sich nicht selbst bewegen kann; die 10. Bewegung ist die spontane Bewe­ gung, die sich selbst und anderes bewegen kann — eine begriffliche Scheidung, die in dieser Klarheit erstmals Platon zwischen diesen beiden Bewegungen vorgenommen hat (ebenso schon Phaidr. 245c). Das Scholion zur Stelle (Greene 354) schreibt beide Bewegungen der Seele zu (ebenso Post 1944, 299). Doch wird 894d3 durch μυρίω gerade der kate­ goriale Unterschied zwischen der 10. und allen anderen Bewegungen hervorgehoben; denn was sich nicht selbst bewegen kann, kann nichts Seelisches sein. Am einfachsten ist es, mit Skemp 1967, 160f., Kucharski 1949, 49 u.a. die neunte Bewegung als eine zusammenfassende Be­ zeichnung für die körperlichen Bewegungen 1-8 zu verstehen, die jetzt nach dem neu eingeführten Kriterium der Passivität und Transitivität als eine eigene Art (είδος) gezählt und der Selbstbewegung gegenüberge­ stellt wird (zur Durchzählung heterogener Begriffe bei Platon vgl. Gör­ gemanns 44 Anm. 1); andere beziehen die 9. Bewegung auf die Fixstemspäre (Robin 1018 Anm. 1) oder das Himmelsgewölbe (Brisson Pradeau II 346 Anm. 51 und 2007, 162, Macé 2006, 152). 893b4—6 Und wenn man mich über derartige Gegenstände mit etwa folgenden Fragen prüft usw. : Tajl Darstellungsform des fiktiven Dialogs mit einer anderen Person vgl. Krit. 50a ff. (Sokrates und die Gesetze), Gorg. 506c ff. (Sokrates und Kallikles) und Symp. 20le ff. (Sokrates und Diotima). 893b6—7 steht alles fest und bewegt sich gar nichts? Oder ist davon ganz das Gegenteil der Fall? usw.: Die erste Frage beschreibt die Posi­ tion der Eleaten, die zweite die der Herakliteer (vgl. Soph. 248a ff.; Theait. 179d ff.). In seiner Antwort führt der Athener das physische Ge­ schehen auf das Miteinander von Bewegung und Ruhe zurück (da sich sowohl Bewegung als auch Ruhe im Raum vollziehen [cl-2], können mit den ruhenden Entitäten nicht die Ideen gemeint sein).

893c7—d5 „Ja“. — Wir begreifen jedenfalls usw.: Ich nehme wie Diès zwischen ναι und μανθάνομεν Sprecherwechsel an (ebenso Mayhew). Stallbaums Textaufteilung, der μανθάνομεν an ναι anschließt (ebenso

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Burnet), zerstört die Pointe, die darin liegt, daß das „Verhör“ (b5) des Atheners immer mehr in eine Belehrung des Gegenübers durch den Athener übergeht. - Zur Quellmetapher (d3) vgl. zu 690d4. 893d8: Solmsen 1959, 267 = 1968, 61 möchte οτε tilgen. Skemp 1967, 161 hält wohl mit Recht am Pleonasmus τοτέ ... έστιν δτε fest (den Stallbaum mit ähnlichen Belegen stützt).

893d8—el bald eine durch eine einzige Drehachse bestimmte Gangart, bald mehrere Achsen besitzen infolge des Umherrollens: Die sich an Hoffmann 240 ff. anlehnende Übersetzung basiert auf dem platonischen Gebrauch von βάσις für Gehen (Tim. 33d) sowie auf Sophokles, El. 718 τροχών βάσεις (das Rollen der Räder). Zu κέντρον als Drehachse vgl. Mugler 1958/9, 248. Den Dativ τω περικυλινδεισθαι bezieht Hoff­ mann auf beide Bewegungsarten und übersetzt ihn mit „im Herumkrei­ sen“. Vom Satzrhythmus her scheint es mir natürlicher, περικυλινδεΐσθαι nur auf die letzte Bewegung zu beziehen; dann würde das Ver­ bum nicht ein gleichmäßiges Rollen auf einer einzigen Bahn, sondern ge­ rade die planetare Abweichung von dieser ausdrücken (περί- = „umher“ wie in περι-έρχεσθαι, περι-πατεΐν u. ä.). 893e2-5: Trennung und Verbindung sind ,Grund-Kategorien4 vorsokratischer Naturphilosophie (Steiner 140; Hoffmann 250 ff.). Nach Simplikios (in Arist. Phys. 14, CAGIX, p. 163,9-28) soll das Paar σύγκρισις und διάκρισις von Empedokles und Demokrit eingeführt worden sein (Empedokles Vors. 31 A 28, vgl. B 8 und 17; Demokrit Vors. 68 A 37 und 49); Anaxagoras (dem wohl die Wortbildung συγκρίνειν verdankt wird: C. W. Müller 1965, 172 Anm. 72) spricht von Mischung und Tren­ nen statt von Werden und Vergehen (Vors. 59 B 17); weitere Stellen im Index zu Diels-Kranz unter διακρίνειν, διάκρισις, συγκρίνειν, σύγκρισις und συμμειγνύναι. Vgl. auch oben zu 889b 1—c6. Bei Platon be­ gegnet die Verbindung συγκρίνεσθαι καί διακρίνεσθαι zuerst Phaid. 71b, 72c; Parm. 156b werden συγκρίνεσθαι und διακρίνεσθαι als „zu einem werden“ (vgl. 893e4 εις εν γιγνόμενα) bzw. „vieles werden“ de­ finiert.

894al durch beide Vorgänge: Nämlich Trennung und Verbindung. 894al—2 Wann geschieht also die Entstehung eines jeden Dinges usw. : Μ. V. Perger 1997, 154 Anm. 73 gibt diese Frage dem Interlokutor. Zu πάθος als Zustand vgl. Resp. 514al und besonders Tim. 48b, wo es den einem bestimmten Ereignis vorausgehenden Zustand bezeichnet.

894a5—6 Durch diese Veränderung und Bewegung entsteht jedes Ding usw. : Die Worte μεταβάλλον μεν ουν ... παν fassen die Aussage von 894al-5 zusammen; denn γίγνεται παν greift πάντων γένεσις 894a2

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Kommentar

auf (Skemp 1967, 106 verstellt die Worte μεταβάλλον μεν ούν ... παν­ τελώς dagegen als eine Zusammenfassung aller acht Bewegungsarten).

894a6 wirklich seiend ist es: Diese Wendung muß hier einen andern Sinn haben als Tim. 28a3-4, wo dem sinnlich Wahrnehmbaren das wirk­ liche Sein abgesprochen wird, da dies nur dem Intelligiblen zukommt. De Vogel 1986, 53 möchte daher όντως von öv trennen und zum Prädi­ kat έστιν ziehen: „es ist wirklich ein Seiendes“. Vgl. Parm. 156a4-6: am Sein Anteil bekommen = werden (γίγνεσθαι), sich vom Sein entfernen (απαλλάττεσθαι) = vergehen (άπόλλυσθαι). 894a8—bl um sie mit Hilfe der Zahl in Arten zusammenzufassen: Zur Methode des εν εϊδεσιν λαβεΐν μετ’ αριθμού vgl. Egger 1973, 146ff. (mit eigenwilliger Zählung der acht Bewegungsarten). In der bisherigen Bewegungsanalyse wurde allerdings nicht gezählt; erst 894bl-c8 wird mit der 9. und 10. Bewegung eine Zählung eingeführt und eine eindeuti­ ge Gegenüberstellung zweier Arten vorgenommen.

894c4 diejenige aber, die sowohl sich selbst als auch etwas anderes bewegt: Ich übernehme mit Diès und Denniston 1954, 376 den Text des Riccardianus 67 την δε (statt τήν τε AO) und schreibe mit Solmsen 1959, 268 = 1968, 62 τήν δε έαυτήν (τε) κινούσαν (ebenso Skemp 1967, 162 und Saunders 1972, Nr. 96). 894c5—6 allem Tun und allem Erleiden harmonisch einfügt: Tun und Erleiden sind z.B. das aktive und passive Verhalten der bewegten Körper (Spalten bzw. Gespaltetwerden) und überhaupt die Weitergabe von Be­ wegung und das Bewegtwerden (vgl. κινούσαν και μεταβαλλομένην c3^l·). Bei mehreren miteinander interagierenden Körpern entsteht eine Kette passiver und aktiver Bewegungen; in jeder dieser Bewegungen wirkt der Anfangsimpuls der (seelischen) Selbstbewegung ununterbro­ chen fort. 894cl0—895b8: Die Selbstbewegung ist der Ursprung aller Bewegungen Der eben als 10. Bewegung gezählten Selbstbewegung kommt in einer ontologischen Ordnung der Bewegungen der erste Rang zu, da sie Ur­ sprung oder Anfang aller anderen Bewegungen ist. Dies wird in zwei Be­ weisgängen bewiesen: 1) Daß die 9. Bewegung nicht als erstes Bewegendes in Frage kommt (vgl. 894e5 und 7), ergibt sich aus den 894b8-c4 herausgestellten beiden Charakteristika der 9. Bewegung, nämlich (a) ihrer Transitivität und (b) ihrer Passivität: (a) Wenn die 9. Bewegung etwas anderes bewegt und dieses wieder et­ was anderes usw., so kann innerhalb dieser Kausalkette keines „von die-

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sen (so bewegten) Dingen“ (τοιούτων e5) das erste Bewegende sein, weil dieses nur am Beginn der Kausalkette stehen kann (894e4-6). (b) Das erste Bewegende kann aber nicht die 9. Bewegung sein, weil diese per definitionem (vgl. 894b8—c4) von etwas anderem bewegt wird, ihr also noch eine Bewegung vorausgeht (894e6—7). Anders steht es mit einer Bewegung, die sich selbst in Bewegung set­ zen kann; da sie keines vorausgehenden Anstoßes bedarf, ist sie der „An­ fang der gesamten Bewegungskette“ (αρχή τις τής κινήσεως άπάσης), mag diese auch noch so viele Glieder umfassen (894e7-895a3). 2) Ging die erste Argumentation von der faktisch gegebenen Bewe­ gung aus, so geht die zweite Argumentation gedanklich vom hypotheti­ schen Stillstand aller Dinge aus. In einem solchen Zustand der Ruhe kann als erste Art der Bewegung nur die spontane Selbstbewegung ent­ stehen (895a5-b3).

894el haben wir die zweite nach dieser: Ich folge dem überlieferten Text. Erwägenswert ist allerdings das von Solmsen 1959, 268 f. = 1968, 62 f. fiir έχομεν vorgeschlagene Partizip έχόμενον, das mit τούτου zu verbinden ist: „die auf diese folgende und von ihr abhängende Bewe­ gung ist die zweite“: die passive Bewegung kommt nicht nur zeitlich nach der spontanen Bewegung, sondern ist durch sie initiiert. Die sach­ lich plausible Konjektur läßt sich sprachlich stützen durch Resp. 526c8— 9 und Nom. 841a3, wo έχόμενον τούτου neben δεύτερον steht (vgl. auch 739e2). 894e4: Da έτερον und άλλο in den Junkturen άλλο έτερον e5 und έτερον άλλο e8 referenzidentisch sind, ist dies auch für έτερον άλλο (e4) anzunehmen (ebenso 875d7, Parm. 143bl); Englands Verweis auf 896b4 ist nicht stichhaltig, weil dort die beiden Wörter in verschiedenen Kasus stehen. Subjekt zu μεταβάλη kann dann nicht έτερον (so viele Übersetzer), sondern nur die unmittelbar vorher (dlO—e2) genannte neun­ te Bewegung sein. Bestätigt wird dies durch folgende Entsprechungen zu der Beschreibung der neunten Bewegung in 894c3^4·: έτερον άλλο ... μεταβάλη (e4) ~ έτερον άεί κινούσαν (894c3); ο γ’ άν ύπ’ άλλου κινήται (e6) ~ μεταβαλλομένην ύφ’ ετέρου (894c3-4); auch ist zu be­ achten, daß έτερον bzw. έτερα im unmittelbaren Kontext (894b8. 10, c3, 5, e8) stets als Objekt zu einem Verb der Bewegung fungieren. Zu diesem sprachlichen Argument tritt ein sachliches: faßt man έτερον als Subjekt, ist die Folgerung nicht schlüssig; denn wenn ein Ding x (έτε­ ρον) ein Ding y (άλλο) bewegt und dieses ein weiteres Ding z (άλλο έτερον), so kann x durchaus als das „erste Verändernde“ unter diesen drei Dingen angesehen werden.

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Kommentar

894e6 was von einem anderen in Bewegung gesetzt wird’. Der Überset­ zung liegt statt όταν das von Apelt 1901 konjizierte ö γ’ αν zugrunde, das auch England und Diès übernehmen. 895a6—b8 Wenn alle Dinge irgendwie zum Stillstand kämen und in eins zusammenfielen usw. : Der von manchen Vorsokratikem vertretene Gedanke eines allgemeinen Stillstandes (vgl. Phaid. 72a—c, Theait. 180e, 183e, Soph. 248e—249a) zwingt nach Ansicht des Atheners dazu, einen spontanen Bewegungsimpuls zur Initiierung neuer Bewegung anneh­ men. Die Wendung όμου γενόμενα verweist auf Anaxagoras (so expli­ zit Phaid. 72c4, Gorg. 465d5), für den alle Dinge ursprünglich „beisam­ men waren“ (Vors. 59 B 1), und wohl auch auf seinen Schüler Archelaos (Vors. 60 A 4. 5); in Betracht kommen aber auch sonstige Kosmologien, die einen periodischen Wechsel von Mischung und Trennung lehren (wie z.B. Empedokles), der im Moment des Umschlags einen Zustand erfor­ dert, in dem jede Bewegung und Veränderung zum Stillstand kommt (vgl. Mugler 1960, 51), und schließlich auch Philosophen, die überhaupt jede Bewegung leugnen und nur Unbewegtes annehmen (wie Melissos und die Eleaten, z.B. Parmenides Vors. 28 B 8,26ff.). — Im Phaidros wird 245d—e ein unvergänglicher und ungewordener Anfang der Bewe­ gung postuliert, weil ohne einen solchen das ganze Universum zusam­ menfiele (συμπεσουσαν; vgl. συνερχόμεν’ εις εν άπαντα Empedok­ les Vors. 31 B 17,7) und stehen bliebe (σταίη) und keinen Anlaß mehr hätte, wieder bewegt zu werden. Die im Phaidros gefolgerte Ewigkeit des Anfangs wird vom Athener allerdings nicht thematisiert, da er gegen die Atheisten nur die Priorität der Seele vor dem Körper zu beweisen hat. Worin die Selbstbewegung ihrerseits ihren Ursprung hat, läßt der Athe­ ner offen, weil eine Antwort auf den Demiurgen des Timaios hätte fuhren müssen (so Hentschke 1971, 317 Anm. 323; nach Carone 2005, 169 er­ zeugt sich die Seele selbst). Zum Verhältnis der Bewegungskonzeption der Nomoi zu der des Phaidros und des Timaios vgl. unten zu 896a5—d9.

895cl—896a4: Selbstbewegung ist die Definition der Seele. Die Selbstbewegung wird nun - in einem logisch nicht ganz stringen­ ten Schlußverfahren (vgl. Eckl 2008, 123 f.; Jirsa 2008, 272) - mit der Seele identifiziert: 1) Das, worin sich Selbstbewegung findet, lebt (895c4—10). 2) Das, worin Seele ist, lebt (cll-13; vgl. Phaid. 105c9ff.). 3) Also ist Selbstbewegung die Definition der Seele (895el0-896a4). Vor der Schlußfolgerung schiebt der Athener in einem unvermittelten Neueinsatz (dl ff.) eine Erläuterung des gegenseitigen Verhältnisses der drei Begriffe ούσία, λόγος und όνομα ein. Ziel dieses Abschnitts ist der

895cl—896d9

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Nachweis, daß sich Definition (λόγος) und Name (όνομα) eines Dinges jeweils auf dasselbe Seiende (ούσία) beziehen; im vorliegenden Fall be­ deutet dies, daß mit dem Namen „Seele“ und der Definition „das, was sich selbst bewegen kann“ dasselbe Seiende bezeichnet wird (895el0— 896a4); die beiden Eigenschaften „beseelt“ und „sich selbst bewegen könnend“ sind also nicht lediglich koextensiv, sondern miteinander iden­ tisch. Die ουσία ist gemäß Resp. 534b die Idee eines Dinges, deren λόγος der Dialektiker kennen muß. Hier dürfte ούσία wie 668c6 einfach das bezeichnen, was ein Ding seiner Natur nach ist (ötl ποτ έστίν 668c5), ohne daß ein Bezug auf die Ideen zwingend angenommen werden muß. So ist es die ουσία der Seele, Ursache des Lebens zu sein (Krat. 399d— 400b). Der Name (όνομα) benennt ein Ding gemäß seiner ουσία mit einem einzigen Wort; so drückt das Wort ψυχή nach Krat. 399d—e das Erfri­ schende (άναψύχον) des Atmens (αναπνείν) aus. Der λόγος faßt als τής ούσίας λόγος (895d4) die ούσία eines Dinges in einen Satz (,Definition4): „Seele ist die Bewegung, die sich selbst be­ wegen kann“ (896al); diese Definition greift auf Phaidr. 245e3 zurück, wo die Selbstbewegung als ούσία und λόγος der Seele bezeichnet wird (vgl. auch Soph. 248e ff.). Zur Verschiedenheit von όνομα und λόγος vgl. 964a6—8, Theait. 201e-202c, Soph. 218b-c, 221M-2, Pol. 267a5, 271c 1-2; in Epist. VII 342a ff. bilden sie die beiden untersten Stufen ei­ nes fiünfstufigen Erkenntnisprozesses, der noch (3) das Bild, (4) das Wis­ sen und (5) die Idee umfaßt.

895c4 in etwas Erdigem: Ich übernehme (wie Diès) Englands Konjek­ tur εν τω (statt εν τω).

895dll-e4: Ich folge (wie Pangle und Mayhew) der Personenauftei­ lung von Burnet (anders England, Diès). Gegen Englands sprachliche Bedenken vgl. Des Places 1929, 76 f. 895e2 für dieses lautet bei der Zahl der Namen „gerade“, usw.: Auch der Beweis für die Unsterblichkeit der Seele im Phaidon zieht das Unge­ rade und Gerade als Analogie heran (103e ff.).

896a5—d9: Also ist die Seele die erste Entstehung und Ursache aller Din­ ge. Das Fazit des bisherigen Beweisganges führt einen Schritt über das 892c5 und 893a5 formulierte Beweisziel hinaus: Die Seele ist nicht nur die Ursache der Bewegung, sondern ist die Ursache von allem, was ist, weil der gesamte Entstehungsprozeß nicht möglich ist ohne einen anfang-

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liehen von der Seele ausgehenden Bewegungsimpuls. Daran schließen sich weitere Folgerungen: Aus der zeitlichen Priorität der Seele vor dem Körper ergibt sich (ver­ mittelt durch die semantische Ambivalenz von αρχειν „anfangen, fuh­ ren, herrschen“), daß die Seele über den Körper „herrscht“ (896c3), ein Gedanke, der nicht nur von Platon vertreten wird (vgl. Isokrates, Or. 15,180, Aristoteles, Protr. Fr. 59 Düring = Schneeweiß). Während die Herrschaft der Seele im Phaidon 80a mit deren Göttlichkeit begründet wird, ist der Grund hier darin zu sehen, daß sie als das Ältere gegenüber dem Jüngeren „naturgemäß“ einen Anspruch auf Herrschaft hat (690a, ebenso Tim. 34c 1-2). Wenn die Seele früher als der Körper ist, dann sind, wie bereits 892a-b postuliert, auch ihre spezifischen Funktionen früher als die räumlich­ physikalischen Eigenschaften der Körper (zur Problematik dieser Schlußfolgerung vgl. Mayhew 130f.). Als Ursache von allem muß die Seele Ursache sowohl des Guten wie des Schlechten sein. Daran knüpft sich die Frage, was für eine Seele das Universum lenkt: eine, die Gutes, oder eine, die Schlechtes verursacht? (vgl. dazu unten S. 415 ff. zu 896dl0-898c9). Die These, daß die Seele Ursprung aller Bewegung und älter als die Körperwelt ist, rührt an Grundfragen der platonischen Kosmologie, die in der Forschung kontrovers diskutiert werden. Der Stand der Diskussion soll in zwei Themenkreise gefaßt hier knapp skizziert werden (vgl. Mohr 1967, 116 ff.). (I) Die platonische Theorie der Ursachen: Wie verhält sich die im Buch X der Nomoi und Phaidr. 245c ff. vertretene These, daß die Seele Ursache aller Bewegungen ist, zu der im Timaios (bes. 47e-53a) entwi­ ckelten Annahme einer unregelmäßigen Bewegung der Materie, die dem Eingreifen des Demiurgen, der ja erst die Weltseele schafft, vorausgeht? (A) Eine Gruppe von Auslegern hält beide Positionen fiir unvereinbar und konstatiert eine Inkonsistenz in der platonischen Ursachentheorie, in der es neben seelisch verursachten Bewegungen auch Bewegungen rein mechanischen Ursprungs gebe, z.B. Festugière 1949/53, II 117-131, III p. XII-XIV, Vlastos 1965, 414^19 (zuerst 1964), Mohr 1985, 118, Nightingale 1999, 318 Anm. 31. (B) Andere Interpreten sehen in diesem Dualismus der Ursachen keine Inkonsistenz, indem sie den Dualismus auf zweierlei Weise entschärfen: (1) Die beiden Ursachen gehören zu unterschiedlichen Weltperioden: Ursache aller Bewegungen ist die Seele erst in dem geschaffenen Univer­ sum, nicht aber in der präkosmischen Periode, in der die ungeordneten Bewegungen der Materie durch die irrende Ursache (Tim. 30a, 48a,

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52d-53a) verursacht sind; so z.B. Vlastos 1965, 397 (zuerst 1939, wider­ rufen 1964), Hackforth 1959, 21, Easterling 1967, 31-38, Robinson 1970, 93-97, Vallejo Campos 1996. Nach Vlastos a.a.O. brauchte die präkosmische Periode in den Nomoi und im Phaidros nicht explizit er­ wähnt zu werden; Easterling sieht dagegen in den δευτερουργοί κινή­ σεις 896e-897a einen Hinweis auf nicht psychisch verursachte präkos­ mische Bewegungen. Vertreter dieser Interpretation nehmen den kosmogonischen Bericht des Timaios wörtlich, so daß die Weltentstehung zwei zeitlich aufeinander folgende Phasen (eine präkosmische und die kosmi­ sche Zeit) umfaßt (vgl. auch die zwei Weltperioden Pol. 273a-e). (2) In der Welt herrscht ein immerwährender, aber „latenter“ Dualis­ mus. Die durch die Seele verursachte Bewegung (κίνησις) und die „Er­ schütterung“ (σεισμός Tim. 53a4, 57c5) der Materie sind immer vorhan­ den. In der aktuellen Welt ist die Seele Ursache der Bewegung, aber der Seismos der Materie besteht als Unterströmung weiter; er wird jedoch von der Seele „übernommen“ (παραλαμβάνουσαι 897a5) und als se­ kundäre Bewegung (δευτερουργός 897a4) von ihr in Dienst genom­ men, wodurch sie zur „Mitursache“ (συναίτιον Tim. 46c-d) wird. Inso­ fern ist in der aktuellen Welt die Bewegung der Materie in der intelligen­ ten, psychisch verursachten Bewegung enthalten (Herter 1975, 341-358, Naddaf 1992, 413). Anhänger dieser Deutung fassen den Schöpfungsbe­ richt des Timaios als metaphorische Entfaltung der teleogischen Struktur des eigentlich ungewordenen Kosmos. (C) Für die Vertreter eines Ursachen-Monismus ist die Seele alleinige Ursache aller Bewegung, also auch der ungeordneten Bewegung. Der Dualismus wird dabei in die Seele selbst verlagert, sei es durch die An­ nahme (1) zweier Seelenteile oder (2) zweier eigenständiger Seelen oder (3) einer direkten und einer indirekten Kausalität der Seele. (1) Die Weltseele des Timaios verursacht unmittelbar die ungeordneten Bewegungen, weil sie neben dem rationalen Teil, der die geordneten Be­ wegungen verursacht, einen irrationalen Teil aufweist, der die unregelmä­ ßigen Bewegungen verursacht; so Comford 1937,176 und Morrow 1965. (2) Der rationalen Weltseele steht als selbständiges Prinzip eine irratio­ nale psychische Kraft gegenüber, die die ungeordneten Bewegungen ver­ ursacht. Diese Ansicht vertreten z.B. Skemp 1967, 74-8. 82-4. 112, Dodds 1945, 21 (= 1973, 115-116), Clegg 1976 (vgl. auch zu 896e4 zur ,bösen Weltseele6). (3) Die demiurgische Aktivität der Weltseele ist direkte Ursache der geordneten und indirekt Ursache der ungeordneten Bewegungen, welche unbeabsichtigte, aber unvermeidliche Nebeneffekte von rational verur­ sachten geordneten Bewegungen sind; so Chemiss 1944, 443 ff., ders. 1977, 253-260 = 1954, 23-30; Taran 1971, 386-8.

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(II) Der ontologische Status der Seele: ist sie geworden oder ungewor­ den? In der Definition der Seele als Selbstbewegung stimmt die Seelen­ konzeption der Nomoi mit der des Phaidros (245c—246a) überein; sie un­ terscheidet sich aber von ihr darin, daß sie die Seele, die nach Phaidr. 245dl. 3 und 246al „ungeworden“ (άγένητος) ist, als „geworden“ be­ zeichnet (vgl. Nom. 896cl, 891e6f., 892a5, 967d6f.), worin sie dem Ti­ maios nahesteht, der die Weltseele vom Demiurgen geschaffen sein läßt (Tim. 34c—35a). Vlastos (1965, 415 f.), der den Schöpfungsbericht des Timaios wörtlich versteht (vgl. oben), hält das Geschaffensein der Seele für nicht unver­ einbar mit ihrer Selbstbewegung, die er auch im Timaios angedeutet fin­ det (37b5, 77c4-5, 89al-3, 46d—e): dank seinen exzeptionellen Fähig­ keiten sei es für den Demiurgen kein Problem, Seelen zu erschaffen, die die Fähigkeit zur Selbstbewegung besitzen; auch fur Vallejo Campos 1996, 33-35 ist die Psychogonie mit der Selbstbewegung der Seele ver­ einbar. Für Chemiss (1944, 429^-31) schließt dagegen die Selbstbewegung der Seele deren Geschaffensein aus; der Schöpfüngsbericht des Timaios sei in diesem Punkt nicht wörtlich zu nehmen. Die Ausführungen der Nomoi über eine Entstehung der Seele erklärt Chemiss (430 Anm. 365) damit, daß zur Widerlegung der Atheisten, die die zeitliche Priorität des Körpers verfechten, ein Nachweis der zeitlichen Priorität der Seele ge­ nügte, während das bereits im Phaidros bewiesene Nicht-geworden-Sein der Seele hier nicht mehr ausdrücklich festgestellt werden mußte. Erklärungsbedürftig bleibt aber dennoch der eklatante Widerspruch zwischen den Aussagen der Nomoi (die Seele ist γενομένη 892a5, γε­ γονός 891e7) und des Phaidros (die Seele ist άγένητον 245dl. 3, 246al). Von den verschiedenen Erklärungsversuchen sind folgende er­ wähnenswert: Nach Brisson 1974, 337 impliziert die Selbstbewegung der Seele, daß sie als Ursprung jeglicher Bewegung zeitlich ungeworden ist (diesen As­ pekt hebe Platon im Phaidros hervor); da die Seele aber keine intelligible Idee sei, besitze sie ihren Seinsgrund nicht in sich selbst und sei daher ontologisch geworden (diesen Aspekt drücke Platon in den Nomoi und im Timaios aus). Naddaf 1992, 410 ff. übernimmt diese Erklärung und sieht den Grund dafür, daß der Athener in den Nomoi den Ursprung der Bewegung (αρχή κινήσεως) nicht als άγένητος bezeichnet, darin, daß der Athener in der Auseinandersetzung mit den Atheisten, die den Kör­ per vor der Seele ansetzen, die zeitliche Perspektive der Atheisten über­ nimmt und sich darauf beschränkt, die umgekehrte Reihenfolge zu be­ weisen. Vallejo Campos 1996, 35 setzt unter Berufung auf Robinson 1987a,

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115 zwei Arten von Selbstbewegung an, nämlich (a) eine kontingente, geschaffene und (b) eine nicht-kontingente. Während Phaidr. 245c5ff. von , jeder Seele“ handelt und ihr einen ungeschaffenen, nichtkontingen­ ten Charakter zuschreibe, liege im Timaios Typ (a) vor, ebenso (zumin­ dest implizit) Nom. 967d. Die Nomoi stehen also dem Timaios näher als dem Phaidros, und zwar auch dann, wenn die Erschaffung nicht zeitlich, sondern im Sinne einer abgeleiteten Existenz verstanden wird. Das Merkmal des Nichtgewordenseins schreibe der Timaios nur der Seele des Demiurgen zu. J. Dillon 2003, 307 ff., findet in der ganzen Partie eine fortschreitende Steigerung des Status der Seele: Zunächst wird sie 892a als geschaffen bezeichnet (was eine sie erschaffende Macht voraussetzt); am Ende der Argumentation erweist sich die kosmische Seele dagegen als die erste Entstehung (896a) und Ursache von allem und Lenkerin von allem (897b), womit sie selber (und die Seelen der Himmelskörper) in die Posi­ tion dieser höchsten Macht, d. h. einer Gottheit rückt. 896a8 von allem, was dem entgegengesetzt ist: εναντίων bezeichnet im vorliegenden Kontext das Gegenteil des Seins und Werdens, also den Untergang (φθορά); denn als Ursache aller Bewegungen ist die Seele die erste Ursache des Werdens und des Vergehens (891e5). Noch weiter geht die generelle Behauptung, daß die Seele Ursache aller gegensätzli­ chen Qualitäten und Phänomene ist (d7).

896b6 um so viele Stufen zurück: nämlich hinter der Selbstbewegung (vgl. 894d3).

896c5 im vorigen uns darüber geeinigt haben: Vgl. 892a7—b5. 896dl wahre Meinungen (δόξοα άληθεΐς): Das Attribut αληθείς (das Hentschke 1971, 319 Anm. 327 tilgen wollte), ist vielleicht ein Indiz, daß die hier aufgezählten Seelenaktivitäten positiv gemeint sind. Erst in 896d5—8 wird hervorgehoben, daß die Seele auch Ursache von Negati­ vem ist, so daß erst danach in 897a2 die verkehrten Meinungen neben die wahren treten.

896dl0—898c9: Das Universum wird von einer vernünftigen Seele ge­ lenkt. Wenn alles, was sich bewegt, von der Seele bewegt wird, dann muß sie auch die Himmelskörper und das gesamte All bewegen. Da die Seele aber sowohl Ursache von Gutem wie von Schlechtem ist (896d5—8), stellt sich die Frage, welche Art von Seele das Universum lenkt. Sie wird beantwortet durch eine noetisch orientierte Argumentation (vgl. zu 893b4—896d9), die eine vernünftige Seele als Lenkerin des Universums

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und damit die Vernunft als letzte Ursache der kosmischen Ordnung zu er­ weisen sucht. Nach einer wertungsfreien Aufzählung der durch die Seelenbewegung ausgelösten Prozesse (896e8-bl) unterscheidet der Athener hypothetisch zwischen einer das Gute und einer das Gegenteil bewirkenden Seelenart (ψυχής γένος 897b7), deren Wirken davon abhängt, ob sie die Vernunft (Nus) zu Hilfe nimmt oder sich mit Unvernunft (ocvotoc) verbindet (896e—897b). Entspricht die Bewegung des von der Seele gelenkten Uni­ versums der Bewegung der Vernunft, so ist daraus zu folgern, daß es von der „besten Seele“ (897c7) gelenkt wird, im andern Fall von der schlech­ ten (dl). Da der Bewegung der Vernunft die gleichförmige regelmäßige Kreis­ bewegung um einen Mittelpunkt am nächsten kommt, hält der Athener 898c eine Entscheidung zwischen den beiden Alternativen fiir nicht mehr schwierig. Diese Entscheidung wird von Kleinias in emphatischen Wor­ ten (898c6~7) gefällt: Bewegerin und Lenkerin des Universums kann nur eine mit jeglicher Vollkommenheit ausgestattete Seele - und zwar ei­ ne oder mehrere - sein. Das entscheidende Glied in dieser ,Beweiskette* hat Platon allerdings ausgespart: nämlich den Nachweis, daß sich die Himmelskörper tatsäch­ lich auf einer regelmäßigen, der Vernunft entsprechenden Bahn bewe­ gen. Immerhin übernehmen die Kreisscheiben auf der Drehbank (898a) bis zu einem gewissen Grade die Funktion dieses Zwischenglieds: wäh­ rend ihre Bewegung hier als Sinnbild der Bewegung der Vernunft fun­ giert, diente sie in 893c zur Veranschaulichung der fiir den Fixstemhimmel typischen Rotation um ein Zentrum. Beide Stellen zusammen ge­ nommen ergeben, daß zumindest die Bewegung der Fixsterne der Ver­ nunft gemäß ist. Auch war es gerade Kleinias, der 886a die Himmelskörper und die Ordnung der Jahreszeiten als Argument gegen den Atheismus angeführt hatte; da diese Ordnung fiir jedermann wahr­ nehmbar ist, durfte der Athener sie auch ohne expliziten Nachweis vo­ raussetzen. Hingegen hätte der Nachweis der Regelmäßigkeit fiir die Pla­ netenbahnen komplizierte mathematische Darlegungen (vermutlich auf der Basis der eudoxischen Theorie der homozentrischen Sphären; vgl. S.402) erfordert, die der Athener seinen Gesprächspartnern wohl nicht zumuten wollte.

896e4 Eine oder mehrere? Mehrere, will ich an eurer Stelle antworten. Jedenfalls wollen wir nicht weniger als zwei ansetzen: Die Alternative „eine oder mehrere** ist im Hinblick auf die Pluralität der Himmelskörper berechtigt; in diesem Sinne wird sie von Kleinias 898c7 wieder aufge­ nommen (vgl. auch 899b5 ψυχή ή ψυχαί). Sie wird letztlich, wie die

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Plurale 899b5ff. und das Fazit „alles ist voll von Göttern“ (899b9) zei­ gen, im Sinne der zweiten Möglichkeit entschieden. Hier dagegen dient sie vor allem dazu, die hypothetische Annahme zweier gegensätzlicher Weltseelen zu motivieren. Seit Plutarch (De Is. et Osir. 47-48 370B371A, De an. procr. in Timaeo 6-7 1014D-1015F) wurde diese Aussage vielfach so gedeutet, daß Platon tatsächlich neben der guten Weltseele ei­ ne „böse Weltseele“ oder eine irrationale psychische Kraft innerhalb der Weltseele als Ursache der Übel annehme (z.B. Zeller 1889, II 1, 973, Wilamowitz 1920, II 319ff., Guéroult 1924, 48, Comford 1937, 176, Dodds 1945, 21 [= 1973, 115-116], Jaeger, 1955, 134ff., Clegg 1976, Santa Cruz 2003), wobei z. T. Einfluß iranischer Religion vermutet wurde (Des Places 1936; Jaeger a. a. O.). Diese Auffassung findet jedoch nicht nur im Text keine Stütze, sondern widerspräche auch dem Verbot des Politikos (269e8-270a2), daß man nicht sagen dürfe, daß zwei gegensätzlich ge­ sonnene Götter den Himmel und den Kosmos drehen. Laut 897b ist es ein und dieselbe Seele, die je nach Hinzunahme von Vernunft oder von Unvernunft Gutes bzw. Schlechtes bewirkt und entsprechend als beste bzw. als schlechte Seele (897c7, dl, 898c4-5) bezeichnet werden kann. Da die zweite Alternative angesichts der Regelmäßigkeit der Himmels­ bewegungen auszuschließen ist, scheidet jedenfalls für den Kosmos ein Dualismus zweier entgegengesetzter Seelen aus (gegen einen solchen Dualismus auch Ritter II 307-8, England zu 896e, Vlastos 1965, 392 Anm. 1, Kerschensteiner 1945, 76, Görgemanns 1960, 200 Anm. 1, Dörrie 1983, 87 f., Hager 1987, 32, Taran 1975, 91 Anm. 413, Chemiss 1977, 253-260 = 1954, 23-30, Carone 1994, Steiner 159£, Brisson 1974, 502ff. und 1998, 192ff., Mayhew 134f£, Jirsa 2008, 274 Anm. 29). Im übrigen sind Platons Anschauungen über den Ursprung des „Bösen“ bzw. der „Übel“ nicht völlig konsistent (vgl. Schäfer 2007, Erler 2007, 463, Mayhew 132). Im kosmischen Bereich wird der aus­ schließlich auf das Gute gerichteten Tätigkeit des Demiurgen durch die Notwendigkeit und die Bewegung der Materie eine Schranke gesetzt (Tim. 47e3-4-8b3); die daraus resultierende unvermeidliche Unvollkom­ menheit des Abbilds gegenüber dem Urbild ist ein metaphysisches oder ,negatives6 Übel (Chemiss 1977, 254 = 1954, 24; Brisson 1998, 192 ff.). Der Mythos des Politikos sieht die Ursache für die Verschlechterung des Zustands der Welt im Rückzug der Götter von der Lenkung des Kosmos (272d ff.). Das Schlechte als notwendiger Gegensatz zum Guten findet sich nicht bei den Göttern, sondern in der Menschenwelt (Theait. 176aff.; vgl. Resp. 379c) und ist durch die menschliche Seele verursacht, die zwischen Gut und Böse wählen kann (vgl. hierzu besonders Carone 1994, 290ff; 2005, 171 ff., Nightingale 1996, 71 ff.); insbesondere das Körperliche erscheint gegenüber dem Geistigen und Vernünftigen als

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Hindernis und Beschränkung (Phaid. 67c-d; Pol. 269d, 273b-c). Gemäß der Theodizee von Nom. 903bff. leisten aber auch die von Menschen verursachten Übel einen Beitrag zur Vollkommenheit des Ganzen (905b). Die Nom. 906c und 709a erwähnten ,natürlichen6 Übel (Krank­ heiten, Seuchen, extreme Witterung) führt Chemiss 1944, 444 ff. (gefolgt von Brisson 1974, 503 ^4) im Lichte von Tim. 57d—58c auf die unver­ nünftigen körperlichen Bewegungen im Kosmos zurück, während Carone 1994, 295 f. darin ,ökologische6 Auswirkungen eines Fehlverhaltens der menschlichen Seele (nämlich der πλεονεξία) sehen möchte. 896e8—897b5 Seele lenkt also alles am Himmel usw.: Zur Lenkung des Universums stehen der Seele drei Mittel zu Verfügung: Das erste Mittel sind die der Seele eigentümlichen Bewegungen; sie umfassen (durch Infinitive bezeichnet) Bewegungen in Gestalt geistig­ moralischer Handlungen und (durch Partizipien ausgedrückt) emotionale Regungen und Zustände, in denen diese Handlungen vollzogen werden (e9-a3). Bezogen auf die 10 Bewegungsarten dürften dies Manifestatio­ nen der Selbstbewegung der Seele sein. Das zweite Mittel sind Seelenbewegungen, die mit den genannten ver­ wandt (aber nicht identisch) sind; sie werden als πρωτουργοί („als erste tätig66) bezeichnet (897a3-bl). Ihre Funktion (εργον) besteht darin, die „Bewegungen der Körper66 zu „übernehmen66 und über die physikali­ schen Prozesse des Verbindens und Wachsens bzw. des Trennens und Abnehmens die wahrnehmbaren Sinnesqualitäten der Körper hervorzu­ bringen. Der Unterschied dieser Bewegungen zur vorherigen Art ist da­ rin zu sehen, daß sie sich für ihre Tätigkeit der körperlichen Bewegungen bedienen. Da diese körperlichen Bewegungen dem Wortlaut nach erst durch das Eingreifen der Seele in die genannten physikalischen Prozesse überführt werden, müssen sie diesen vorausgehen. Dies spricht dafür, daß es sich um die Eigenbewegungen der Materie handelt, die mit den im Timaios erwähnten präkosmischen Bewegungen identifiziert werden können (so auch Spoerri 1957, 213, Easterling 1967, Guthrie 1978, 367). Sie sind δευτερουργοί („als zweites tätig66), weil sie nur wirksam wer­ den, nachdem sie von den Seelenbewegungen in Dienst genommen wor­ den sind, um die empfangenen Bewegungsimpulse weiterzugeben. Das dritte Mittel umfaßt all das, womit die Seele nach Hinzunahme der Vernunft den Kosmos zum Glück hinlenkt (897b 1A; zum Text s.u.). Ge­ genüber dem vorausgehenden Mittel, das lediglich zur Entstehung physi­ kalischer Qualitäten führt, kommt nun der teleologische Aspekt ins Spiel, der offenkundig mit der Vernunft (= dem Nus) zusammenhängt. Indem die Seele sich mit dem Nus als dem Prinzip der Ordnung verbindet, er­ halten ihre Bewegungen Ebenmaß, Ordnung und Zielgerichtetheit auf

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das Gute hin. Da es hier also nicht so sehr um die Bewegungen als sol­ che, sondern um deren Vemunftorientierung geht, steht jetzt nicht mehr das Femininum (wie 896e9, 897a3ff.), sondern das Neutrum πάσι (897b 1), das auf die ordnungsstiftenden Kräfte des Nus verweist, mit de­ ren Hilfe die Seele das Ganze zu einem glücklichen Sein (vgl. 903c) fuhrt (im Falle der Unvernunft bezeichnet πάσι analog die destruktiven Potenzen der άνοια); dieses Hinfuhren ist nicht mehr ein bloßes άγειν (896e8, 897a5), sondern ein zielorientiertes παιδαγωγεϊν (b2 = Erzie­ hen4). Als letzte Ursache der kosmischen Ordnung erweist sich somit der Nus (vgl. 966e, 967a, Phil. 28c ff., Phaid. 97c ff., Tim. 30b). Er garantiert die Sinnhaftigkeit der Weltordnung, indem er alles so ordnet, wie es am besten und schönsten ist (Phaid. 98a-b). Den Nachweis dieser auf das Gute gerichteten teleologischen Struktur der Welt, den Sokrates an der Nuskonzeption des Anaxagoras vermißte (vgl. Phaid. 97b ff.), liefert der Timaios, dessen Kosmologie im Hintergrund der vorliegenden Darlegun­ gen steht. Mit dem Timaios stimmt der vorliegende Passus auch darin überein, daß der Nus nur durch Vermittlung der Seele ordnend auf die Körperwelt einwirken kann (Tim. 30b, vgl. auch Phil. 30c, Soph. 249a). So steht hier die Seele in der Mitte zwischen den Bewegungen der Kör­ per, die sie vorfindet und „übernimmt“ (παραλαμβάνουσαι 897a5), und dem Nus, dem sie sich öffnet und den sie „hinzunimmt“ (προσλαβουσα b 1-2). Das Hinzunehmen des Nus (dem hier offenbar eine von der Seele unabhängige Existenz zugeschrieben wird; vgl. dazu Bordt 2006, 220 ff.) besteht darin, daß sich die Seele an der Vernunft orientiert oder, wie es 631d5 heißt, auf den „Führer Nus“ hinblickt (vgl. auch 967d—e). Hierin erweist sich die das Universum lenkende Seele als die „vernünftige Art“ der Seele (897b φρόνιμον γένος ψυχής). Unschwer ist hinter diesen Darlegungen überdies die im Timaios vor­ genommene Scheidung zweier Arten von Kausalität zu erkennen. Die vom Nus ausgehende (finale) Kausalität steht als „Ursache der vernünfti­ gen Natur“ oder „göttliche Ursache“ den notwendigen Ursachen gegen­ über, die nur Mitursachen sind (συναίτια Tim. 46c—e bzw. 68e ff., 76d6; vgl. auch Pol. 281dll, Phaid. 99a-d). Die vernünftigen Ursachen sind Ursachen des Schönen und Guten; die Mitursachen gehören zu denen, die, von anderem bewegt, anderes mit Notwendigkeit in Bewegung set­ zen; wenn sie der Einsicht (φρόνησις) ermangeln, bringen sie nur Zufäl­ liges und Ungeordnetes (το τυχόν άτακτον) hervor (Tim. 46e5). Um zu einem glücklichen Leben zu gelangen, muß man in allen Dingen die göttliche Ursache aufsuchen (Tim. 68e).

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897al—3 Wollen, Erwägen, Fürsorgen, Beraten, richtiges undfalsches Meinen, in Freude oder Schmerz, Mut oder Furcht, Haß oder Liebe: Zu diesen seelischen Aktivitäten vgl. Kauffmann 1993, 185 Anm. 45. Ge­ genüber der Aufzählung in 892b ist hier der Nus (zusammen mit seinen irdischen Repräsentanten Techne und Gesetz) ausgespart, da ihn die kos­ mische Seele erst hinzunehmen muß. Eine analoge Zweiteilung in geisti­ ge Tätigkeiten (Wahrnehmungen, Erinnerungen, Meinungen und Gedan­ ken) und emotionale Zustände (Lust, Schmerz, Zorn, Liebe) begegnet 645d-e. Nach Resp. 353d bilden Fürsorge, Herrschen (άρχειν) und Be­ raten (βουλεύεσθαι) das spezifische εργον der Seele; Tim. 70e6 heißt der oberste Seelenteil το βουλευόμενον. 897a5 Bewegungen der Körper übernehmen (παροελοεμβάνουσοα): Das Verbum (vgl. auch 966e2) kennzeichnet die Bewegungen der Körper als etwas Vorgegebenes, das von der Seele „in Dienst genommen wird“, ganz wie nach Tim. 68e4 die Produkte der Notwendigkeit vom Demiur­ gen als „dienende Ursachen“ (αίτίαις ύπηρετούσαις) fiir seine Zwecke genutzt werden. Vgl. auch Tim. 30a3-5 mit ähnlicher Satzstruktur: o θεός ... παν όσον ήν ορατόν παραλαβών ούχ ήσυχίαν άγον αλλά κινούμενον πλημμελώς καί άτάκτως, εις τάξιν αυτό ήγαγεν.

897b 1—2 und durch all das, mit dessen Hilfe die Seele, wenn sie die Vernunft hinzunimmt, die ein Gott mit Recht für Götter ist, dann immer alles zum Rechten und zum Glück hinleitet: Die (von England und Diès gebilligte) Tilgung des καί vor πάσιν (bl) durch Comarius wird von Stallbaum mit Verweis auf die durch drei instrumentale Dative geglieder­ te Struktur des Satzes (ταΐς αύτής κινήσεσιν [896e9] ... καί πάσαις οσαι [897a3] ... καί πάσιν οίς ...) zu Recht abgelehnt, ebenso auch Asts sprachlich unhaltbare Deutung des Dativs πάσι als Zielangabe (die Lisi und Steiner übernehmen). Praktisch alle Übersetzer (auch ich selbst 1977) ignorieren allerdings das καί und verstehen πάσιν als Zusammen­ fassung der vorigen Dative („durch dies alles“), was aber nach dem be­ reits vorausgehenden πάσαις (a3) ziemlich unwahrscheinlich ist. - In b2 übersetze ich (wie auch Pangle, Lisi, Santa Cruz 2003, 277 Anm. 7, Steiner, Mayhew, Ferrari - Poli) die von Burnet aus A und O übernom­ mene Lesart θεόν όρθώς θεοίς, die von Görgemanns 200 A. 3, Dönt 1968, 370, Bordt 2006, 234 Anm. 243 überzeugend verteidigt wird (Bris­ son — Pradeau übernehmen dagegen den Text von Diès θειον όρθώς θεός ουσα, der auf Eusebios und auf einer Korrektur des Arethas [A3 O3] basiert). Die Götter, für welche die Vernunft (der Nus) ein Gott ist, sind die die einzelnen Himmelskörper bewegenden Seelen, deren göttli­ cher Status im folgenden bewiesen wird. Versteht man den Demiurgen des Timaios als mythologische Chiffre fiir den Nus, der die teleologische

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Ordnung der Welt stiftet, so entspricht das Verhältnis des einen Gottes (Nus) zu den andern Göttern (den Gestimseelen) dem Verhältnis des Demiurgen zu der Weltseele und den vielen Göttern, die von dem einen Gott abhängen (so Bordt 235 f.). — Meine Übersetzung verbindet (wie die mei­ sten Übersetzer) das Adverb ορθώς mit einem hinzuzudenkenden οντα (vgl. Görgemanns 200 Anm. 3); Dont a. a. Ο. 370 übersetzt interpretierend „(ein Gott) mit Recht (auch) fiir Götter“ (da fiir die Menschen die Gött­ lichkeit des Nus selbstverständlich sei). Eine Alternative hierzu wäre die Verbindung des Adverbs ορθώς als Attribut mit θεοΐς: „ein Gott fiir rich­ tige, d.h. wirkliche Götter“, nämlich fiir die Gestimseelen (vgl. Phaid. 67b4 οι ορθώς φιλομαθείς, Resp. 341c9 ό όρθώς κυβερνήτης; ohne stützenden Artikel Nom. 628d6 πολίτικος ... ορθώς; zu attributivem Adverb vgl. auch 639b 11 τινων σφοδρά γυναικών). Dadurch erhielte auch das Wortspiel ορθώς — ορθά eine sachliche Basis: ,richtige4 Götter lenken auch alles zum Richtigen, indem sie dem Nus folgen (Ferrari - Poli verbinden ορθώς und θεοΐς mit προσλαβούσα: „quando ogni volta as­ socia giustamente agli dèi la sua mente ehe è un dio“). 897d8—898a6 Wir wollen nun nicht so, daß wir gleichsam direkt in die Sonne schauen usw.: Während im Timaios die Kreisbewegung des Him­ mels mit der Aktivität der Vernunft direkt gleichgesetzt wird (Tim. 40a— b; vgl. auch 34a, 37a-c, 47b-c, 90c-d), bedient sich der Athener hier zur Veranschaulichung der Bewegung der Vernunft eines „Bildes“, nämlich der Rotation einer Kreisscheibe oder Kugel auf der Drechselbank. Denn als νοητόν (898e2) kann die Bewegung der Vernunft nur mit dem Auge des Denkens (Symp. 219a3) bzw. der Seele (Resp. 533d2) geschaut wer­ den. Für das sterbliche Auge, das der direkte Blick auf die Vemunftbewegung blenden würde (zum Vergleich mit dem Blick in die Sonne vgl. Resp. 515c, 516e, Phaid. 99e), ist sie wie die Idee des Guten in der Poli­ teia (509a9) nur im „Bild“ (897el, e5, 898b3) erfaßbar.

898a8-b2 Wenn wir die Behauptung aufstellen, daß die Vernunft usw. : Die Bewegung der Vernunft und die Rotation um einen Punkt stimmen darin überein, daß sie eine mit denselben Kategorien beschreibbare Struktur besitzen, die in 898a8-b2 analysiert wird. Dabei ist für jede Ka­ tegorie der Bezug auf ein stets Identisches konstitutiv (ausgedrückt durch das Pronomen αύτός bzw. das Adverb ωσαύτως). Soweit sich die vom Athener gebrauchten Formeln auf die Kreisbewegung beziehen, ist ihre Bedeutung einigermaßen klar; kaum eindeutig faßbar ist jedoch ihre Be­ deutung mit Bezug auf die Bewegung der Vernunft. Klar ist jedenfalls, daß die Einfachheit, Geschlossenheit und Vollkommenheit, die der Kreisbewegung eignet, auch fiir die Vernunft gilt, die sich als „pure aboutness“ (E. N. Lee 1976, 82) auf das stets mit sich Identische richtet.

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Kommentar

Die folgenden Erklärungen der sechs bzw. (bei Zerlegung der sechsten) sieben Kategorien sind daher mit derselben Unsicherheit behaftet wie die Deutungen von Lee, Lauermann 1985, Steiner und Mayhew sowie die Spekulationen von Kauffmann 1993, 275 ff., der die präpositionalen Be­ stimmungen in 898a8-b2 zur Konstruktion einer platonischen Hand­ lungstheorie heranzieht. 1) in demselben Maße (κατά ταύτά a8): Geht auf die Gleichförmig­ keit der Bewegung, d. h. die Konstanz der Geschwindigkeit (ebenso Lee 74, Mayhew 141; anders Lauermann 95: „entlang dem Selben“, „entlang derselben Richtung“; Kauffmann 1993, 276 und Steiner 164 „gemäß demselben“). Im noetischen Bereich bezeichnet κατά ταύτά έχειν (oft verbunden mit ώσαύτως) die Unveränderlichkeit des wahren Seienden, d.h. der Ideen (z.B. Phaid. 78c-d, Resp. 500c, Soph. 248al2, 249bl2, Pol. 269d [vom Göttlichen], Phil. 61e2, Tim. 28a2, 35a2, 37b3, 52al). An dieser Invarianz hat auch die auf das wahre Seiende gerichtete Ver­ nunft teil, deren Aktivität sich mit kognitiver oder noetischer Ebenmä­ ßigkeit vollzieht (vgl. Mayhew 144). - Zur Konstruktion: England zieht unter Verweis auf 81 Obi το und κατά ταύτά zusammen. Ich möchte lieber einen substantivierten Acl το ... κινείσθαι annehmen. 2) auf dieselbe Art und Weise (ώσαύτως a8): Schwierig ist die Ab­ grenzung von ώσαύτως gegen κατά ταύτά. Mayhew 141 betrachtet das Adverb („in the same way“) als eine Implikation von κατά ταύτά, indem es hervorhebe, daß „it always moves in circular motion“ (was richtig sein dürfte). Lee 74 faßt es als „in the same way throughout“ in dem Sinne, daß die Bewegung durch die ganze Kugel hindurch geht, Lauermann 96 als eine reine „Drehung ohne eine ihrem Drehsinn entge­ gengesetzte Komponente“. Kaufmann folgert aus Prot. 332cl, daß ώσ­ αύτως eine Art der Bewegung bezeichne, die von einer Instanz abhänge, die durch ύπο + Genitiv umschrieben werden könne, und sieht in dem Adverb einen Hinweis auf die notwendige Identität des immateriellen Handlungsträgers (290), während es Lauermann 97 auf die fortwährend anhaltende Bewegung des Geistes bezieht. 3) auf derselben Stelle (εν τω αύτω a8—9): Wenn εν τω αύτω στρέφεσθαι Theait. 181c7 den Gegensatz zur Translation (χώραν μεταβάλλειν) bildet, scheint εν τω αύτω bei einem Verb der Bewegung austauschbar mit εν ένί (898bl; vgl. auch Tim. 34a3, 36c2, 40a4, Parm. 138c ff., 145c ff., Theait. 156c9, Pol. 269e2). Ein semantischer Unter­ schied könnte darin bestehen, daß gegenüber der zahlenmäßigen Be­ schränkung des Rotationspunkts durch εν ένί mit εν τω αύτω die Iden­ tität dieses Punktes mit sich selbst hervorgehoben wird). Lee 74 und Mayhew 141 verstehen die Angabe so, daß die Kugelscheibe sich inner­ halb der mit ihrem Umfang identischen Grenzen bewegt („within the sa-

896dl0-898c9

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me limits“), wodurch die Rotation eines Quadrates oder eines Würfels ausgeschlossen wäre. Auf die Aktivität der Vernunft bezogen, deutet Lauermann 97 die Wendung so, daß sich der Geist „innerhalb des Ge­ samtbereichs der Ideen“ bewegt; Mayhew sieht darin angedeutet, daß sich die Objekte der Vernunft nicht ändern. 4) um dasselbe herum (περί τά αύτά a9): Aus 898a4 ergibt sich die räumliche Bedeutung „um dasselbe (dieselbe Mitte) herum“. Dem ent­ spricht der Bezug der Vernunft auf denselben, gleichbleibenden Gegen­ stand (Lee 76, Mayhew 142ff.; auf die Einheit der Idee: Lauermann 98 f); Kauffmann 316 sieht in περί das Kreisen um einen sittlichen Stan­ dard angedeutet. 5) zu demselben hin (jzpoq τά αύτά a9): Dieser Ausdruck ist mehr­ deutig. Am natürlichsten scheint die Deutung als „in dieselbe Richtung“ (Susemihl, England, Robin, Lee 73 und 95 A. 12, Lauermann 99, May­ hew 142); Steiner übersetzt „in bezug auf dasselbe“ (ähnlich Kauffmann 276 „in Relation zu“). Dagegen ist die Wiedergabe mit „in gleichbleiben­ den Verhältnissen zu allem andern“ (Apelt, ähnlich sinngemäß Bury, Diès, Saunders) mit dem Wortlaut nicht vereinbar. Friedländer 1928/30, III 514 Anm. 92 erwägt, ob damit die Zielgerichtetheit das ου ένεκα ge­ meint ist (was auch Mayhew für denkbar hält), die als Eigenschaft auch der Vernunft zukommt. Ähnlich sieht Lauermann 99 darin die Bezogenheit der Vernunft auf die Idee ausgedrückt, Mayhew 144 beläßt es bei der Feststellung einer Unklarheit; Kauffmann 321 bezieht es auf Handlun­ gen, die sich „in derselben Differenz“ ereignen. 6) gemäß einem einzigen Gesetz und einer einzigen Regel (καθ’ ένα λόγον καί τάξιν μίαν a9-bl): Lauermann 100f. faßt λόγος unter Beru­ fung auf 893dl als die gleichbleibende Proportion zwischen der Ge­ schwindigkeit jeder Innenbahn und dem jeweils zugehörigen Radius; τάξις („in einer einzigen Anordnung“) drücke aus, daß die Kreisbahnen innerhalb einer einheitlichen Kreisbewegung in derselben Anordnung stehen wie die analogen Bahngeschwindigkeiten; bezogen auf die Ver­ nunft besage die erste Angabe (λόγος), daß der Geist beim Umfassen der Gesamtidee mit derselben Bewegung konzentrisch auch deren Teil­ bestimmungen umfasse; die zweite Angabe (τάξις) bezieht Lauermann auf die radial gegliederte Einteilung der einzelnen Ideensphären. Den extremen Gegensatz zu einer solchen spekulativen Interpretation bildet die Auffassung, daß diese Angaben im Grunde nichts Neues hinzufügen (Lee 76). Ich vermute, daß diese Angaben deshalb eingeführt sind, um nach den Identitätsausdrücken nun über die Begriffe λόγος und τάξις ausdrücklich die Ordnungsfunktion der Vernunft (νους) hervorzuheben, die auch im Rückblick 966e klar ausgesprochen wird; in diese Richtung geht auch die Vermutung von Mayhew 143—145, der an Zielgerichtetheit

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Kommentar

und eine auf das Gute bezogene rationale Bahn denkt (Kauffmann 323 bzw. 276 versteht: die Handlungen haben dieselbe Definition [λόγος] und dieselbe Struktur [τάξις]). — In a9 folge ich dem von Proklos (in Tim. 2,95,24 und 96,3) überlieferten Text καί καθ’ ενα λόγον. Für καί spricht das analoge Polysyndeton in 898b5-7; καθ’ verdient aus paläographischen Überlegungen den Vorzug vor Englands ανά.

898b2: Englands Tilgung von σφαίρας έντόρνου απεικασμένα φοραΐς ist unberechtigt (vgl. Diès im Apparat). Das Partizip άπεικασμένα bezieht sich auf 893c und 898a4-5. 898b7 noch nach einer Ordnung (μη& έν κοσμώ): Vgl. 966e4: der Nus als διακεκοσμηκώς.

898c9—899a6: Wie die Seele die Gestirne lenkt. Wenn die Seele das gesamte Universum lenkt, muß sie auch die einzel­ nen Himmelskörper lenken. Am Beispiel der Sonne zeigt der Athener drei denkbare Möglichkeiten auf. 1) Die Seele befindet sich in dem Körper der Sonne und lenkt ihn von innen. 2) Die Seele bewegt den Körper der Sonne von außen mittels eines Körpers aus Feuer oder Luft, den sie sich verschafft hat. 3) Die Seele hat keinen Körper, verfugt aber über wundersame Kräfte, mit denen sie die Sonne lenkt. Der Athener legt sich nicht auf eine der drei Hypothesen fest, doch di­ stanziert er sich deutlich von der zweiten Erklärung, indem er sie „gewis­ sen Leuten“ zuschreibt (899al) und sie auch in 899b7-8 nicht mehr er­ wähnt. Als Vertreter dieser Ansicht, daß die Seele einen Körper aus Feuer oder Luft besitzt, kommen wahrscheinlich Demokrit (Steiner 167) oder Diogenes von Apollonia (Kerschensteiner 1945, 115) in Betracht. Für ersteren besteht die Seele offenbar aus Feuer (Vors. 67 A 28, 68 A 101); letzterer brachte Gott und den Nus mit der Luft in Verbindung (Vors. 64 B 5). Die Lenkung eines Körpers durch Körper wird Kriti. 109cl wie hier (βία 899a2) als etwas Gewaltsames gewertet (βιαζόμεvot) und ihr die Überredung als Einwirkung auf die Seele vorgezogen. Die erste Möglichkeit ist vermutlich diejenige, die Platons eigener Auffassung am nächsten kommt. Gemäß Tim. 41d-e setzt der Demiurg die Seelen jeweils auf einen Stern wie auf ein Fahrzeug (όχημα; vgl. Nom. 899a7 αρμασι; ebenso Epin. 986b4—5); analog ist der menschli­ che Körper das Fahrzeug für die menschliche Seele (Tim. 69c7). Da es hier um die Lenkung eines einzelnen Gestirns durch die Seele geht, bie­ ten die von Steiner angeführten Darlegungen des Timaios 34a-b über das

899a7-d3

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Verhältnis der Weltseele zum gesamten Weltkörper keine exakte Paralle­ le. Die dritte Möglichkeit wird vom Athener auf geheimnisvolle Kräfte zurückgeführt und mit εϊθ’ δπως εϊθ’ δπη (899a9) und είτε δπη τε καί δπως (899b8) auf eine wirkliche Erklärung verzichtet. Dies macht die Vermutung von Mayhew, daß Platons eigene Theorie unter die dritte Möglichkeit fällt, unwahrscheinlich (Jaeger 1955, 144 und Düring 1966, 187 sehen in ihr einen Hinweis auf den Unbewegten Beweger des Aristo­ teles; bestritten u. a. von Lloyd 1968, 165). 898dll dahinstirbt (άποθνήσκοντος) : zur Rechtfertigung dieser Übersetzung vgl. Saunders 1972, Nr. 97, S. 99.

898el—2: diese Gattung ... uns rings umgibt: περιπεφυκέναι ist mit ήμιν zu verbinden und bereitet so die Feststellung vor, daß „alles voll von Göttern ist“ (899b9); vgl. Einarson 1957, 273 gegen G. Müller 92 Anm. 1 (u. a.), fiir den „die Seele um den Körper herumwächst“ (so schon England z. St., der ήμιν als Dativus ethicus auffaßt).

898e2 mit der Vernunft erfaßbar ist. Also wollen wir mit der Vernunft allein: Ich folge mit Burnet dem Text von AO, der völlig unproblema­ tisch ist. Der von Diès aufgrund von Eusebios hergestellte Text (νοητόν δ’ είναι νφ μόνω· φ δή) ergibt neben einem Pleonasmus (νοητόν ... νω) einen Hiat zwischen μόνω und φ (Einarson a. a. O.). 898e5 im Kreis herumführt: Mit Renehan 1976, 138 ist wohl zu schrei­ ben εϊπερ (περι)άγει (vgl. 893c8, 898c2. 3. 8 undbes. 898d3-4). 898e9 einen solchen Körper (τό τοιουτον): Nämlich den von einer Seele bewohnten Körper, der damit aufhört, ein bloßer lebloser Körper zu sein (vgl. 967c).

899a7—d3: Die das Universum bewegende Seele ist eine Gottheit. Alles ist voll von Göttern. Unabhängig von der Art und Weise, wie die Seele die Sonne lenkt, ist sie in jedem Fall als eine Gottheit anzusehen (a7—9). Die Begründung fiir diese unvermittelt gezogene Schlußfolgerung erfolgt erst b5ff. im Zu­ sammenhang mit der Übertragung der Aussagen über die Sonne auf die Gesamtheit der Himmelskörper (und die von diesen verursachten Jahres­ zeiten): Die Göttlichkeit der Seele resultiert aus ihrer zeitlichen und onto­ logischen Priorität vor dem Körper und aus ihrer Vollkommenheit in je­ der Tugend (896b—d, 899b6), mit der sie das Universum ordnend steuert. Da sich die kosmische Seele in eine Vielzahl von Gestimseelen instantiiert, ist alles voll von Göttern. Die Erwähnung der Monate und Jahreszeiten (b3-A) verweist zurück

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Kommentar

auf das von Kleinias 886a spontan in die Debatte geworfene teleologi­ sche Argument, dessen Beweiskraft erst jetzt wissenschaftlich gesichert ist. Dem Atheisten bleibt daher nur die Alternative, entweder die gesamte platonische Seelenlehre und deren Implikationen zu widerlegen oder sich den Argumenten des Atheners zu fugen (899c6—d2). 899a7 Diese Seele nun: Vor ταύτην την ψυχήν sind die unverständli­ chen Worte αύτού δή άμεινον überliefert. G. Müller 92 Anm. 2 versteht diese so, daß man „als etwas Bedeutungsvolleres als dies“ [sc. als die Art der Lenkung der Sonne] an die Göttlichkeit der Seele glauben soll (so auch Steiner 168, Lisi). Susemihl bezieht wie Stallbaum άμεινον auf die Seele und αύτου auf die Sonne und übersetzt: „ein weit höheres Wesen als die Sonne“ (so auch Pegone und Ferrari - Poli). Beide Deutungen sind problematisch: statt αυτού erwartet man eher τούτου, und die bei­ den Übersetzungen von άμεινον überdehnen dessen Bedeutungsgehalt. Unter den Konjekturen ist die von Wilamowitz 1920, II 318 Anm. 1 (αίρού δήτα άμεινον „entscheide dich besser“) die einzige, die αυτού ganz ersetzt (und wenig kontextgemäß ist). Eine Änderung von αύτού in αύτο schlägt Bury 1922, 174 ohne weitere Erläuterung vor; in 1934, 181 erwägt er αύτού (= ήλίου) δή άμείνονα (zu beziehen auf ψυχήν, was im Prinzip Stallbaums Vorschlag entspricht). Apelt 1907, 16 schlägt vor αύτού δή μεινον „dabei bleibe denn“ oder „dabei soil’s bleiben“. Diès druckt αύτού δήτα μεινον (von mir 1977 mit „an dieser Stelle hal­ te inne“ übersetzt; so sinngemäß auch Saunders, Pangle, Mayhew). Heu­ te neige ich dazu, nach Schneiders Vorschlag αύτού δή άμεινον als eine Glosse (αυ τού δή άμεινον = „die Lesart αυ ist besser als δή“) zu tilgen und zwischen ταύτην und τήν ψυχήν ein δή einzuschieben (so auch England); Post 1939, 101 tilgt die Worte ebenfalls, schiebt aber statt δή ein αυ ein (so auch Bury in seiner Ausgabe).

899a7—8 mag sie nun die Sonne wie einen Wagen benutzen: Ich folge Burnets Text in der Deutung von England (zu εχειν εν „haben als, benut­ zen als“ vgl. Kühner - Gerth I 463), wodurch sich G. Müllers Tadel (1951, 120 Anm. 2) als unberechtigt erweist. Diès übernimmt Burys ένούσα ... ήλίου „sich im Wagen der Sonne befindend“ (so auch Pan­ gle, Steiner, Mayhew). In jedem Falle knüpft Platon an die traditionelle Vorstellung vom Sonnenwagen an, in dem der Gott Helios fahrt. 899b9 alles voll von Göttern ist (θεών είναι πλήρη πάντα): Gemeint ist nicht, daß alles von Göttern ausgefullt ist, sondern daß das All eine große Anzahl von Göttern enthält. Die Worte zitieren ein Diktum, das Aristoteles dem Thales von Milet zuschreibt (De anim. 411a7 = Vors. 11 A 22). Thales meinte damit wohl die Präsenz von belebenden und bewe­ genden Kräften, die auch materiellen Dingen innewohnen, wofür ihm

899d4—905d3

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der Magnetstein und der Bernstein als Beispiel dienten (Vors. 11 A 1 [I 68, lOff.]); vgl. Kirk - Raven - Schofield 1983, 95-97. Göttliche Omni­ präsenz bezeugt auch der für Heraklit überlieferte Ausspruch „Auch hier [d. i. in der Küche] sind Götter“ (Vors. 22 A 9). II. 899d4—905d3: Widerlegung der Ansicht, daß die Götter sich nicht um uns kümmern Der erste Beweisgang hatte sich an Atheisten gerichtet, deren Ansicht auf einem intellektuellen Irrtum beruht und die daher durch rationale Ar­ gumentation zu überzeugen sind. Der nun beginnende Beweisgang ver­ sucht eine Form der Asebie zu widerlegen, deren Basis keine Theorie, sondern eine bestimmte Lebenserfahrung ist, nämlich die Erfahrung des Wohlergehens schlechter Menschen. Da dies mit einer Anteilnahme der Götter am menschlichen Tun und mit einer von den Göttern garantierten sittlichen Weltordnung nicht vereinbar zu sein scheint, stellt sich hier das Theodizee-Problem, das auch schon von Sokrates und in der Sokratik diskutiert wurde (Aischines von Sphettos Fr. 8,53—62 Dittmar; Rahe 1968, 132-134; Lanzi 2000, 97-101). Bevor der Athener seine Lösung vorträgt, diagnostiziert er — analog zu 886a—e — die Ursachen dieser zweiten Form der Asebie im Rahmen einer Ansprache an den Betroffe­ nen, den er dann durch eine rationale Argumentation (900c—903b) und eine „Bezauberung“ (903b—905d) von seiner Ansicht abzubringen sucht. Auf den ersten Blick scheinen die Götter, deren Fürsorge für die Men­ schen hier bewiesen werden soll, den traditionellen Göttern des Kultes näher zu stehen als die Gestimgötter und die Seele als erstes Bewegungs­ prinzip, denen der erste Beweisgang gilt. Aber diese scheinbare Kluft zwischen dem ersten und dem zweiten Beweisgang wird überbrückt durch die Vorstellung, daß die „wohltätige“ (896e6) und „beste Seele“ (897c7), die jede Tugend besitzt (898c7), das Weltall lenkt und daß die „Fürsorge“ (επιμέλεια, έπιμελεΐσθαι) eine herausragende Funktion dieser Seele ist (892b3, 896dl, 897al, 898c3); denn damit verfügt die den Kosmos lenkende Seele über dieselben Eigenschaften, die im zwei­ ten Beweisgang den Göttern zugeschrieben werden (z.B. 900d). Auch unterscheidet sich die im zweiten Beweis den Göttern zugeschriebene „Fürsorge“ wesentlich von der Fürsorge, die die traditionelle Religion von den Göttern erwartet (s. dazu unten zu 903bl-905d3 am Ende).

899d4—900c7: Ansprache an einen Anhänger dieser Ansicht. Die Ursa­ chen seiner Überzeugung. In einem fiktiven Gespräch mit einem jungen Menschen (900c2) dia­ gnostiziert der Athener zwei Ursachen seiner Leugnung der göttlichen Fürsorge:

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Kommentar

(a) Er läßt sich von der herrschenden Meinung verfuhren, welche schlechte Menschen fur glücklich hält. Schuld daran sind (wie bei der ersten Form des Atheismus: 886bff.) die Dichter und Prosaiker, die als „Meinungsführer“ falsche Vorstellungen vom Glück verbreiten (vgl. auch 661a ff.). (b) Er macht die verwirrende Erfahrung, daß Menschen, die mit lan­ gem Leben und Kindeskindem gesegnet worden sind und also mit Recht als glücklich gelten können, mit Hilfe von Verbrechen bis zum Gipfel der Ungerechtigkeit, der Tyrannis, gelangt sind. Diese Erfahrungen können zu drei Ansichten über die Götter führen: 1) Es gibt keine Götter; so z.B. Euripides, Belleroph. TrGF V F 286. 2) Die Götter sind schuld (αίτιοι 900a7) an diesem Zustand und ver­ dienen Tadel; vgl. z.B. Sophokles, Fr. 103 Nauck = TrGF IIF 1b (g). 3) Den Göttern sind die Menschen gleichgültig, vgl. Euripides, Hek. 488 ff. sowie TrGF V F 974 (vorausgesetzt, daß hier mit den μικρά die Angelegenheiten der Menschen gemeint sind). Da für den Angeredeten die ersten beiden Ansichten wegen seiner Ver­ wandtschaft mit den Göttern (899d7, 900a7) ausscheiden, bleibt als Er­ klärung nur die ,deistische6 dritte Auffassung. Sie vermeidet es zwar, die Götter, die Ursache nur von Gutem sind (Resp. 379b—c), zur direkten Ur­ sache eines moralisch anstößigen Zustands zu machen, unterstellt ihnen aber dafür Trägheit und Bequemlichkeit; überdies droht sie sich zu einem schlimmeren „Leiden“ (900b3) zu entwickeln (nämlich zur völligen Leugnung der Götter). Dieser Gefahr will die folgende Argumentation rechtzeitig begegnen.

899d6 müssen wir nun zureden: παραμυθείσθαι als Funktion der Proömien 720a, 773e, 854a, 880a. 899d7 eine Art göttliche Verwandtschaft (συγγένειά τις ... θεία): Die Verwandtschaft mit den Göttern beruht auf der Göttlichkeit der un­ sterblichen Vemunftseele (vgl. 726a; 904d6), die nach dem Timaios aus dem Material der Weltseele geschaffen ist (Tim. 41d-42a), so daß der Mensch seine Wurzeln im Himmel hat (Tim. 90a). Wegen dieser Ver­ wandtschaft ist der Mensch das gottesfürchtigste unter allen Lebewesen (902b5) und glaubt als einziges Wesen an Götter (Prot. 322a; zur Proble­ matik der Protagoras-Stelle vgl. C. W. Müller 1999, 255 f.).

899e5 hochbetagt (γηραιούς): So der Text der Handschriften (Diès übernimmt das von Bury konjizierte unattische γήραος). 900a3—4 indem du Zeuge ... wurdest (πρόστυχης ... τισιν): Solmsens Vorschlag (1959, 271 = 1968, 65), γενομένων vor τισιν in γενόμενος abzuändem und mit πρόστυχης zu verbinden (vgl. Pol. 264c 1,

900c8-903b1

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Nom. 954d4-5), halte ich fur eine evidente Verbesserung des überliefer­ ten Textes. 900a8 der Unbegreiflichkeit (άλογίας) der Situation: Da der Athener hier großes Verständnis für die religiöse Haltung des Angeredeten zeigt, fasse ich αλογία nicht als ,,Unvernunft“ (des Angeredeten), sondern wie Varvaro 1967, 2057 Anm. 1 objektiv als die Unbegreiflichkeit des Wohl­ ergehens der Frevler (ebenso Brisson - Pradeau); zur objektiven Bedeu­ tung von άλογία (Widersinn, Unlogik) vgl. Theait. 207c8, Phil. 55a9, Hipp. mai. 303c, Epist. VII 352a4.

900b4—5 in der Hoffnung, daß wir irgendwie fähig werden: Der έάνSatz drückt einen Versuch oder eine Erwartung aus (vgl. die Beispiele Kühner - Gerth II 534 Anm. 16).

900b5 gleichsam fortzubannen (άποδιαπομπήσασθοα): Zu diesem Verbum, das eine Art Exorzismus oder eine Reinigung bezeichnet, vgl. 854b7, 877e8—9, Krat. 396e3.

900c5 euch so über den Strom setzen: Wiederaufnahme des Bildes von 892d6ff.

900c8—903bl: Argumentierender Beweis der göttlichen Fürsorge für das Kleine. Das Wohlergehen schlechter Menschen könnte die Auffassung nahele­ gen, daß die Götter sich zwar um das Große, aber nicht um das Kleine (= die Menschen) kümmern (antike Belege für eine solche Auffassung bie­ tet Pease zu Cicero, De nat. deor. 2,167 magna di curant, parva negle­ gunt). Die hiergegen gerichtete folgende Beweisführung (ένδείξασθαί 900c8), die in 901c8ff. auch den Anhänger der dritten Häresie einbe­ zieht, stützt sich auf „zwingende Gründe“ (903a 10) und verläuft in drei Schritten: 1) In einer längeren Deduktion (vgl. dazu Lenzi 2007, 130) wird ge­ zeigt, daß eine Vernachlässigung des Kleinen durch die Götter ihre Ursa­ che nur in deren Erkenntnis haben könnte, daß das Kleine vernachlässigt werden kann, da alle anderen Ursachen (Bequemlichkeit, Unfähigkeit, Unwissenheit, Pflichtvergessenheit) ausscheiden (900c8-902b3). 2) Die in dieser Weise deduzierte Hypothese, daß die Götter das Kleine wissentlich vernachlässigen, verliert aber an Wahrscheinlichkeit im Hin­ blick auf die besondere Beziehung zwischen Göttern und Menschen (902b4-c2). Der Mensch ist mit Seele begabt (902b4-5) und ist insofern ein Teil der das All steuernden Seele; er ist ferner das gottesfärchtigste Lebewesen und ist „ein Besitzstück“ (κτήμα, vgl. zu 902b8) der Götter, die ein Interesse am guten Zustand ihres Eigentums haben. Dieses Argu­

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Kommentar

ment gilt unabhängig davon, ob man die Fürsorge fiir die Menschen als etwas Kleines oder Großes ansieht (bl 1). 3) Aber selbst wenn die Götter nur auf das Große schauen wollten, dürfen sie das Kleine im Hinblick auf das Ganze nicht vernachlässigen (902d2-903a6). Denn jeder Fachmann, der ein Werk herstellt, kann dies nur, wenn er neben dem Großen auch das Kleine berücksichtigt. Dies gilt um so mehr fiir Gott, der tüchtiger als die „sterblichen Handwerker“ ist, zumal da die Fürsorge fiir das Kleine leichter als die um das Große ist (902c5-10). 900c9 gerade dies: Für die von England befürwortete Konjektur τούτω (= dem jungen Mann) besteht kein Anlaß, ήκουε (dl) wird man auch ohne vorausgehendes τούτω auf den jungen Mann (του νέου c2) bezie­ hen (der folgende Plural συνεξετάζοντων d5 wird sogar ohne vorausge­ hendes Subjekt eingeführt); überdies würde durch γε der junge Mann un­ motiviert hervorgehoben. 900d2—3 daß sie in jeder Tugend gut sind: Vgl. als außerplatonisches Zeugnis Isokrates, Or. 11,41: die Götter besitzen alle Tugenden und ha­ ben keinen Anteil am Laster.

901a4 von dem der Dichter sagt, daß er am ehesten den stachellosen Drohnen gleicht: Reminiszenz von Hesiod, Erga 303 f., wo die arbeits­ scheuen Menschen, denen die Götter zürnen (vgl. hier 901a8), mit Droh­ nen verglichen werden, κόθουρος wurde mit „stachellos“ übersetzt, weil diese antike Deutung des Adjektivs vermutlich auch von Platon vertreten wurde (vgl. Resp. 552c-e); in Wahrheit bedeutet das Wort aber wohl „mit dickem, feistem Hinterteil“ (G. Rechenauer, Stachellose Drohnen bei Hesiod, Erga 304?, QUCC 44,1993,45). In der Politeia fungieren die Drohnen als Sinnbild für Faulheit und Vergnügungssucht (554d, 556a, 559d, 564b. e, 567d). 901d2—9 Zunächst behauptet ihr, daß die Götter alles wissen usw.: Be­ lege für den populären Glauben an die Allwissenheit und Allmacht der Götter gibt Dover 1974, 257—258.

90 le 1—2 darüber sind wir fünf uns ja schon einig geworden: In 900d (vgl. auch 898c, 899b und Resp. 379af£, Tim. 29e). Zum Inhalt (Gottes Allwissenheit und Allmacht) vgl. Xenophon, Mem. 1,4,18.

901e6 aus der Feigheit entsprießt (εκγονος): Zum Ausdruck der Kau­ salität durch eine Zeugungsmetapher vgl. zu 691c4 und 701a8. 902a3—4 oder was bleibt sonst noch übrig außer dem Gegenteil des Erkennens?: Das Gegenteil ist (wie das folgende klarstellt) die Unwis­ senheit. Wenn diese die Vernachlässigung des Kleinen erklären soll, so

900c8-903b1

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kann ihr Objekt nur die Pflicht zur Fürsorge für das Kleine sein (so expli­ zit 902a7-8). 902a8—b2 so wie man sagt, daß die minderwertigsten Menschen han­ deln, die wohl wissen, daß sie besser etwas anderes täten als das, was sie tatsächlich tun usw.: Der Athener beschreibt den Fall der sog. Akrasie, in welchem das Tun des als richtig Erkannten infolge der Überwältigung (ήττα) durch das Streben nach Lust bzw. nach Unlustvermeidung unter­ bleibt (vgl. auch 734b, 869e, 934a). Statt von einer Niederlage gegenüber der Lust (ήττα oder ήττάσθαι z. B. 869e7, Prot. 353a, 357c u. ö.) spricht Platon auch von ακράτεια („Unfähigkeit zur Beherrschung“) der Lust (636c6, 734b5, 886a9, 908c2, 934a4, Resp. 461b2, Tim. 86d6). In der ,hedonistischen6 Diskussion im Protagoras 351b-358e wird die von den „Vielen“ behauptete Möglichkeit der Akrasie (Prot. 352d) von Sokrates bestritten, der die Überwältigung durch die Lust als ein Nichtwissen deu­ tet (vgl. dazu Manuwald 1999, 393 ff.); in der Politeia 437b-441c fun­ giert das Phänomen der Akrasie als Hinweis auf die Existenz widerstrei­ tender Seelenteile. Zur Akrasie in den Nomoi vgl. Bobonich 1994, 3-36 (der eine Seelenteilung für die Nomoi leugnet) und die Gegenposition von Gerson 2003.

902b5 das gottesfürchtigste von allen Lebewesen: Vgl. Tim. 42a 1 und Xenophon, Mem. 1,4,13.

902b8 Eigentum der Götter: κτήματα kann auch die Tiere einer Her­ de (906a7, Phaid. 62b8, Kriti. 109b7) oder Sklaven bezeichnen (vgl. 776b5, 777cl); dem entspricht die Bezeichnung der Götter als „Herren“ 727al, 906b6, Phaid. 63a6, 69e2, Phaidr. 274al oder der Vergleich mit „Hirten“ 906b—e (vgl. Pol. 275a—c). Vgl. P. Chantraine, L’emploi de „κτήματα“ au sens de bétail, cheptel, RPh 20, 1946, 5-11.

902d2—e2 Wenn aber ein Arzt usw.: Arzt, Steuermann und Stratege sind platonische Standardbeispiele für technischen Sachverstand (vgl. Nom. 709b, 906e, 961e; ferner Gorg. 512b, Phil. 56b). In 902e5 werden sie zusammen mit den Hausverwaltern (d7), Staatsmännern (d7) und Maurern (el) als δημιουργοί zusammengefaßt. Für den therapeutischen Erfolg des Arztes ist die Berücksichtigung des Zusammenhangs zwi­ schen dem Ganzen (d. h. dem ganzen Menschen) und seinen Teilen Vor­ aussetzung (vgl. auch 903c). Daraus kann gefolgert werden, daß ohne Berücksichtigung des „Ganzen“ kein Teil geheilt werden kann (Charm. 156d ff., Phaidr. 270b-c, dazu Heitsch 1997, 168 ff.), oder auch umge­ kehrt, daß bei Vernachlässigung eines Teiles auch das Ganze krank sein wird (so hier).

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Kommentar

902e6 desto genauer (ακριβέστερα): Genauigkeit (ακρίβεια) ist ein Merkmal der Techne: z.B. Hippokrates, De vet. med. 9,3; 12,2 (I 588,13; 596,5. 7. 10 Littré = 41,19; 43,28; 44,2. 4 Heiberg), De morb. 1,1 (VI 140,12-13 L.), Platon, Euthyd. 288a6, Nom. 846d, Phaidr. 270e3, 271a5, Phil. 56b-61d. 903a7 wirklich angemessen genug: Die Übersetzung folgt dem Text von AO (μάλιστα).

903b 1—905d3: Die Bezauberung: Die Fürsorge und Gerechtigkeit der Götter Auf die dialogische Auseinandersetzung (vgl. 903a7) und ihre „zwin­ genden“ Argumente (903al0) folgt die „Bezauberung “ (vgl. zu 659el) des Leugners der göttlichen Fürsorge durch einen längeren, nur von kur­ zen Einwürfen des Kleinias unterbrochenen „Mythos“. Im Vergleich zu den früheren Jenseitsmythen Platons (Phaid. 80d-82b, 113d-114c, Gorg. 523a~527a, Phaidr. 246a-249dundResp. 614b-621b) fehlendiesemMythos viele Elemente eines Jenseitsmythos (Jenseitsgeographie, Seelenge­ leiter, Totengericht, Bestrafung) oder sind nur noch in Spuren vorhanden. Zwei grundlegende Elemente sind aber geblieben: die Vorstellung ei­ nes Zusammenhangs zwischen dem Schicksal der Seele nach dem Tode und ihrem Verhalten im jetzigen Leben und die Vorstellung einer Rein­ karnation der Seele, die aus 903d3-4 (die Seele verbindet sich mit ver­ schiedenen Körpern) und 904e7 (der Mensch erleidet mehrere Tode) zu erschließen ist. Diese beiden Vorstellungen werden aber ohne besondere bildhafte Ausgestaltung in einer eher abstrakten Darstellung entwickelt, die auf dem physikalischen Weltbild des Timaios aufbaut, weshalb Saun­ ders (1973a, 232 ff. und 1991a, 206) von einem wissenschaftlichen (,scientific4) Mythos spricht. Freilich ist der Mythos, dessen erster Ab­ schnitt auf Überredung durch Argumente zielt (πείθωμεν τοΐς λόγοις 903b4), vor allem in seinem Schlußteil als eine beschwörende Mahnund Scheltrede gestaltet (vgl. 905cl, aber auch schon 903cl). Inhaltlich führt der Mythos über die vorausgehende Argumentation hin­ aus (ist also mehr als nur eine Konkretion des vorausgehenden Logos, wie Pietsch 2002 meint). Denn erst der Mythos gibt Antwort auf die zwei Hauptfragen, die der Logos ungeklärt ließ: In welcher Weise sorgt die Gottheit für die Menschen? Wie steht es mit der Gerechtigkeit der Götter angesichts des Wohlergehens schlechter Menschen? Die Antwort wird in folgenden Schritten gegeben: 1) 903b4-el: Dem fiir die Tätigkeit des Handwerkers maßgeblichen Verhältnis zwischen Teil und Ganzem (902d2-5) entspricht auf Gottes Fürsorge übertragen das Verhältnis zwischen Mensch und Universum.

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Der Gott hat alles, also auch das Teilchen (μόριον), das die menschliche Einzelseele darstellt, auf die Erhaltung und Vollkommenheit (σωτηρία και αρετή b5) des Ganzen ausgerichtet (vgl. Tim. 41b—c: der Mensch ist um des Kosmos willen geschaffen). Was für das Ganze gut ist, ist auch für das Teilchen gut (vgl. die analoge Argumentation Resp. 420b ff.); umgekehrt trägt auch das Teilchen (was allerdings erst 904b explizit ge­ sagt wird) durch seine sittliche Qualität zum Wohl des Ganzen bei. Da aber die Einzelseele bei jeder Einkörperung ihre moralische Beschaffen­ heit ändert (903d3ff.), muß das Verhältnis des Teils zum Ganzen von dem göttlichen „Brettspieler“ immer wieder ,nachjustiert4 werden, indem er der Seele einen Platz gemäß ihrer jeweiligen sittlichen Verfassung zu­ weist. 2) 903e2-904a4: Auf Nachfrage des Kleinias erläutert der Athener die Leichtigkeit der göttlichen Fürsorge um das Ganze, indem er negativ zeigt, welches Vorgehen die Fürsorge erschweren würde. Die Partie 903e4-904a4 wird wegen ihres enigmatischen Inhalts unten gesondert betrachtet. 3) 904a5—c4: Auf eine weitere Nachfrage des Kleinias erklärt der Athener die Leichtigkeit nun positiv mit der räumlichen Verschiebung des Aufenthaltsorts der Seele gemäß ihrem Charakter, die damit das ihr Gebührende erhält. Diesen „Mechanismus“ hat sich der Gott („unser Kö­ nig“ 904a6) ausgedacht (έμηχνήσατο 904b4, μεμηχάνηται b6). Für die Entstehung ihres Charakters (und damit die Notwendigkeit der Verschie­ bung) ist aber die Seele selbst verantwortlich. 4) 904c6-e3: Die räumliche Versetzung der Seele erfolgt nach dem vom „König“ selbst ausgedachten (904b6) Gesetz der Heimarmene (c8) ohne ein besonderes Eingreifen der Gottheit. Die sittliche Verfassung der Seele wird jetzt in geographisch-räumliche Koordinaten umgesetzt, wo­ bei die Bewegung auf dem zweidimensionalen Spielbrett jetzt durch Be­ wegungen in einem dreidimensionalen Raum abgelöst wird (Näheres da­ zu unten). 5) 904e4—905c4: Der beschriebene , Automatismus4 der Seelenwande­ rung ist nun nichts anderes als das, was für die traditionelle Religion die Gerechtigkeit der Götter ist, die jeder Seele das Gebührende zuteilt. Die­ ser göttlichen Gerechtigkeit kann am Ende niemand entgehen, auch nicht deijenige, der durch Verbrechen an die Macht gelangt ist und dessen Wohlergehen den Zweifel an der göttlichen Fürsorge ausgelöst hatte (899d ff.). Die Ortsveränderung der Seele zielt nicht auf Besserung des Indivi­ duums, die laut 959b—c nach dem Tod nicht mehr möglich ist. Nach den 728c unterschiedenen Kategorien handelt es sich also bei dem Ortswech­ sel (obwohl er 904e ff. im Homerzitat als δίκη der Götter bezeichnet

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Kommentar

wird) nicht um eine auf Heilung zielende δίκη, sondern um eine Vergel­ tung (τιμωρία, so hier explizit 905a7), die im kosmisch-jenseitigen Raum einen dem Wohl des Ganzen dienenden ,gerechten4 Gleichge­ wichtszustand herstellt. Solche τιμωρία ist die spezifische Form der göttlichen Gerechtigkeit (vgl. 716a3, b4, 872e2, 873a4, 881al, 944e2), die am Ende auch den Frevler ereilt, dem es gegenwärtig noch gut zu ge­ hen scheint. Die „Bezauberung44 hat neben der Beseitigung einer irrigen Ansicht auch eine paränetische Funktion: Sie fordert den Angeredeten auf, sich als Teil des Ganzen zu begreifen und diesem durch sein Streben nach der Tugend zu nützen. Das höchste Ziel und zugleich der größte Lohn ist es, durch die Annäherung an die göttliche Tugend selber göttlich zu werden (904d6—7).

903b7 All diesen Teilen ... sind jeweils Herrscher ... zugeordnet: Als solche Herrscher kommen die Götter (Phaidr. 247a, Pol. 27Id, 272e, Tim. 41a ff.) und die Dämonen als Gehilfen der Götter (713d, 732c, 906a; Pol. 27Id) oder als individuelle Schutzgottheiten (Phaid. 107d5-7, Resp. 620d8) in Betracht; ein solcher Dämon ist auch der vernünftige Seelenteil, der nach Tim. 90a jedem von der Gottheit als Dämon beigege­ ben ist, um ihn zur Verwandtschaft am Himmel emporzuheben.

903c3-4 daß alles Werden deswegen geschieht, damit dem Leben des Ganzen ein glückliches Sein beschieden ist: Vgl. Phil. 54c4 „das Werden geschieht um des Seins willen44. Das Sein ist die finale Ursache (der Zweck) allen Werdens und insofern das einzige Gute (vgl. Chemiss 1977,311 = 1957, 238; Brisson-Pradeau II 350 Anm. 92).

903c5—6 jeder (πας) fachkundige Handwerker schafft alles um ir­ gendeines Zweckes willen (παντός μεν ενεκα πάντα): Ich verstehe die Häufung der Formen von πας analog zu der bekannten Häufung von ούδείς ούδέν etc. (vgl. Kühner - Gerth II 203); ebenso z.B. Nom. 738a4, 783el, 943d4—5. Die Wiedergabe von παντός ενεκα mit „um des Ganzen willen44 würde m. E. den Artikel του erfordern. 903d2 inwiefern das, was in deinem Fall das Beste für das Ganze ist, es auch für dich ist: Die Übersetzung basiert auf der Interpretation von England, die den Vorrang des Ganzen stärker zum Ausdruck bringt als die sprachlich ebenfalls mögliche Deutung „inwiefern das, was dir wi­ derfahrt (το περί σε), das Beste für das Ganze und für dich ist44 (z.B. Diès, Saunders, Mayhew). 903d2—3 gemäß der Wirkmacht der gemeinsamen Entstehung: Weil die individuelle Seele aus dem Stoff der Weltseele geschaffen wurde (Tim. 41d-42a). Μ. Hoffmann übersetzt: „Wirkmacht des gemeinsamen

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Werdens“ (211) und versteht darunter die gemeinsame harmonische und vernünftige Bewegung des Kosmos und des (diese Bewegung nachvoll­ ziehenden) Menschen (1996, 305 f.).

903d5 Veränderungen durch sich selbst oder durch eine andere Seele: D. i. durch eigene Willensentscheidungen (vgl. 904c 1 ff.) oder durch den Einfluß anderer (vgl. die Unterscheidung 934a). 903d5—6 so bleibt dem Brettspieler (ττεττευτγί) keine andere Aufgabe mehr übrig, als den Charakter ...zu versetzen: Der Vergleich mit einem Brettspieler zielt nicht auf die Unberechenbarkeit und den Zufallscharak­ ter göttlichen Handelns (so aber Nightingale 1999, 320), sondern entwe­ der auf dessen , spielerische ‘ Leichtigkeit (so Herter 1975, 594) oder auf seine Bindung an die ,Spielregeln6, die dem Brettspieler gar keine andere Wahl lassen, als die Seelen (die die ,Spielfiguren6 sind) je nach Verdienst an einen entsprechenden Ort zu versetzen. Basis des Vergleichs ist ver­ mutlich das Spiel auf dem funflinigen Spielbrett (vgl. 739al), bei dem vielleicht auch der Würfel zum Einsatz kam (vgl. Kurke 1999, 257; Mar­ covich 1967, 494). In diesem Fall bestand die Aufgabe des Spielers da­ rin, aus dem Zufallsresultat des Würfelns durch Ziehen auf dem Brett je­ weils das Beste zu machen (Skemp 1973, 121). Übertragen auf den gött­ lichen Brettspieler entsprechen dem Zufall die Entscheidungen der menschlichen Seele fiir die Tugend oder die Schlechtigkeit, aus denen er im Blick auf das Ganze das Beste macht (904b). Der Zufall als solcher ist also keine Qualität des göttlichen Handelns, sondern dessen Voraus­ setzung. Viele Ausleger sehen im „Brettspieler66 eine Anspielung auf das Hera­ klitfragment Vors. 22 B 52 (= Fr. 93 Marcovich): αιών παΐς έστι παίζων ττεσσεύων „Die Lebenszeit (Diels-Kranz) ist ein Kind, das spielt, das Steine auf dem Brett rückt66. Ob tatsächlich eine Anspielung vorliegt, läßt sich angesichts der Vieldeutigkeit des Wortes πεσσεύειν und seiner Ableitung πεττευτής kaum sicher sagen (das Wort kann neben dem Brettspiel auch das Würfelspiel bezeichnen; vgl. Marcovich 494, Beikos 1971, 167f.). Falls das spielende Kind Sinnbild einer unvernünftigen Tä­ tigkeit ist, wäre Heraklits Aussage der platonischen jedenfalls diametral entgegengesetzt (vgl. Marcovich 493^4-94; vgl. auch Bd. 1235). Anders wäre es, falls Heraklit bei seinem Vergleich die Rationalität und Regelhaftigkeit des Spiels vor Augen hatte. So faßt Beikos 171 den Aion als einen Kind-Gott, dessen Spiel darin besteht, daß alle Dinge durch permanenten Umschlag in andere Qualitäten immer wieder neue Formen annehmen und verschiedene Rollen spielen, deren Einheit vom Logos gestiftet wird.

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Kommentar

903e3—904a4 Ich glaube, ich lege die Sache genau in der Weise dar usw.: Der Passus hat die unterschiedlichsten Deutungen erfahren (vgl. besonders Kucharski 1954, Saunders 1973a, Gaiser 2004, Brisson - Pra­ deau II 351 Anm. 97, Mayhew), von denen keine restlos befriedigt. Auch die folgende Deutung ist nur ein weiterer Versuch, das Rätsel zu lösen. Thema des Passus ist die Leichtigkeit, mit der die Götter fiir das Ganze sorgen (903e3^4 und 904a3^4·). Umrahmt wird der Passus von zwei Aussagen: 1. Der Brettspieler braucht nur jede Seele an den ihrem sittli­ chen Zustand entsprechenden Ort zu versetzen (μετατιθέναι), damit sie das Gebührende erhält (903d3-el). 2. Unser „König“ hat sich aufgrund bestimmter Erwägungen einen „Mechanismus“ ausgedacht, der jede See­ le an den Ort versetzt, wo sie dem Ganzen am meisten nützt (904a6-c4). Beide Aussagen fungieren als Erklärung für die Leichtigkeit der göttli­ chen Fürsorge, wie die beiden Wortwechsel mit Kleinias (903e2^4 bzw. 904a3-6) klarstellen. Die Mitte bildet der kryptische Satz 903e4-904a3, der in einem hypo­ thetischen Gedankenspiel ein Verfahren nennt, bei dem die Leichtigkeit gerade nicht gegeben wäre: „Wenn nämlich jemand mit stetem Blick auf das Ganze alle Dinge durch Umgestaltung (μετασχηματίζων) bilden würde“. Schlüsselbegriffe zum Verständnis des Textes sind offenbar μετα­ τιθέναι (903d6 und 904a2) und μετασχηματίζειν (903e5; im gesamten platonischen Œuvre nur noch 906c6!), also einerseits Versetzung als Wechsel des Ortes und andererseits Umformung als Wechsel der Gestalt. Durch die räumliche Versetzung wird die Fürsorge fiir das Ganze erleich­ tert, durch Änderung der Gestalt dagegen erschwert. Die räumliche Versetzung ist aber kein bloßer Ortswechsel, sondern ei­ ne Integration in eine moralisch-teleologische Ordnung (daher μετα­ τιθέμενης κοσμήσεως 904a2—3) gemäß dem Beitrag, den das aus Leib und Seele bestehende Teilchen durch seine jeweilige sittliche Verfassung zur Vollkommenheit des Ganzen leisten kann. Die sittliche Verfassung ist ablesbar an den Handlungen, weil sich in diesen die Seele äußert, wes­ halb sie als „beseelt“ (εμψύχους 904a6) bezeichnet werden. Da die See­ le selbst fiir die Entstehung ihres Charakters verantwortlich ist (904b8 ff.), dessen Handlungen für ihren Aufenthaltsort im Jenseits und die Reinkarnation in einem neuen Körper maßgebend sind (903d3 ff.), ist die Verbindung einer Seele und eines Körpers zu einem neuen Lebewe­ sen (vgl. 904b 1) kein Akt des Zufalls, sondern ist eine naturgemäße Kon­ sequenz aus dem Verhalten der Seele im vorausgehenden Leben. Die Umgestaltung betrifft dagegen, wie das Beispiel „Wasser aus Feuer“ nahelegt, bloß die Materie (zu έμψυχον e6 vgl. unten). Ohne die Seele und die von ihr zu Hilfe genommene Vernunft (897b 1-2) ist aber

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keine teleologische Ausrichtung und damit keine Fürsorge für das Ganze möglich. Auch folgt die Umwandlung offenbar keinem besondem Prin­ zip, so daß nach dreimaliger Entstehung ein solches Chaos herrscht, daß eine geregelte Ortszuweisung nicht mehr möglich ist. Das Weltbild der Materialisten vermag daher die Fürsorge der Götter für das Ganze nicht zu erklären. Das im materialistischen Weltbild fehlende Prinzip ist in den rätselhaf­ ten Worten „und nicht vieles aus einem oder aus vielem eines“ enthalten. Damit ist wohl im Blick auf die Bildung der Urstoffe (Feuer, Wasser, Luft, Erde) angedeutet, daß diese nicht direkt ineinander übergehen kön­ nen, sondern nur mittels einer Auflösung in viele Elementardreiecke und einer Zusammensetzung vieler Dreiecke zu einem anderen Urstoff (Tim. 54b—d), also über einen Prozeß, den der Gott durch Formen und Zahlen (Tim. 53b5) rational gestaltet hat (vgl. Mayhew z. St.). Zu verweisen ist auch auf Tim. 68d, wonach allein der Gott fähig ist, das Viele in Eines zu vermengen und wieder aus Einem in Vieles aufzulösen (andere Deutun­ gen unten zu 903e6-904a4).

903e4—5 Wenn nämlich jemand mit stetem Blick auf das Ganze: Eine Reihe von Auslegern und Übersetzern (darunter Solmsen 1942, 160 Anm. 21, Pangle, Steiner, Lisi, Brisson — Pradeau, Mayhew) übernehmen die im Laur. LXXXV, 9 hinter εί μεν γάρ überlieferte und von Diès ge­ druckte Negation μή („wenn jemand, ohne auf das Ganze zu blicken“). Es ist jedoch unwahrscheinlich, daß die bereits 903b-c bewiesene göttli­ che Fürsorge für das Ganze hier nochmals hypothetisch in Frage gestellt wird, wo es nur darum geht, wieso diese Fürsorge den Göttern leicht fallt (vgl. auch Saunders 1972, Nr. 98 S. 100). 903e6 aus Feuer beseeltes (έμψυχον) Wasser: So die einhellige Über­ lieferung, der auch Steiner und Mayhew folgen. Stallbaum konjizierte έμψυχρον („kalt“), das z.B. von Pangle und Brisson — Pradeau über­ nommen wird. Saunders 1973a, 242 verteidigt έμψυχον durch die Ver­ mutung, daß hier eine polemische Anspielung auf Heraklit Vors. 22 B 36 vorliege („Für die Seelen ist es Tod, Wasser zu werden, fiir Wasser aber Tod, Erde zu werden. Aus Erde aber wird Wasser und aus Wasser See­ le“). Solmsen 1959, 272 = 1968, 66 schlägt έμψυχον (τ’ εξ άψυχου) vor, weil die Auffassung, daß aus Unbeseeltem Beseeltes entstehe, zur Lehre der Gottesleugner gehöre (889c).

903e6—904a4 und nicht vieles aus einem oder aus vielem eines usw.: Neben der oben vorgeschlagenen Interpretation verdienen folgende Deu­ tungen eine Erwähnung: Kucharski (1954, 41 ff.) verweist (wie Brisson - Pradeau II 351

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Kommentar

Anm. 97) auf die Ontologie des Philebos, wonach die Dinge aus Einem und Vielen bestehen und die Grenze und das Unbegrenzte in sich enthal­ ten (Phil. 16c-d); die entsprechende dialektische Methode geht von ei­ nem einzigen Begriff aus und ermittelt durch Fortschreiten über die Un­ terarten sämtliche Zwischenglieder zwischen dem Einen und dem Un­ endlichen, deren Anzahl begrenzt ist (Phil. 18a-b). Analoges gilt fiir das Universum, um das sich die Götter kümmern: die Götter haben es auf­ grund der Struktur des Alls nur mit einer begrenzten Anzahl von Arten und Typen zu tun, was ihre Aufgabe erleichtert (Einwände gegen diese Deutung bei Saunders 1973a, 240). γενέσεις deutet Kucharski 43 f. als die Entstehung von allem, was entsteht und vergeht, wovon die Inkarna­ tion der Seelen nur ein Sonderfall sei. Ähnlich ist fiir Bordt 2006, 213 Anm. 187 das Eine und Viele das alles Existierende nach der Ontologie des Philebos verbindende Prinzip. Pla­ ton schwebe eine pyramidenförmige Ordnung mit einem obersten Prin­ zip an der Spitze vor. Der Herrschende brauche sich, wenn die Ordnung der Teile richtig ist, nur um die Pyramidenspitze zu kümmern. Gaiser, der als einziger, soweit ich sehe, das partizipiale Kolon πρώ­ της ... γενέσεως μετειληφότα mit dem vorangehenden καί μή σύμπολλα ... εν verbindet, findet vor dem Hintergrund der ungeschriebenen Lehren Platons in diesen Worten einen Prozeß beschrieben, durch wel­ chen in dem durch die drei γενέσεις konstituierten dimensionalen Zu­ sammenhang Vieles aus Einem und Eines aus Vielem dadurch entstehe, daß „das formgebende Prinzip (die Linie für die Fläche, die Fläche für den Körper) einheitlich, die dimensional entfaltete Ausformung dagegen vielheitlich ist und daß umgekehrt die Vielheit der nach allen Seiten aus­ gedehnten Gestalt durch die formgebende Begrenzung zur Einheit wird“ (2004, 68). Gegen einen Bezug der γενέσεις auf die in 894a angedeutete Dimensionenfolge spricht aber das ή („oder“) zwischen den drei γενέσεις; denn das Entstehen eines Dinges setzt nach 894a alle drei Dimen­ sionen voraus (gegen einen Bezug auf 894a auch England z. St. und Apelt 540 Anm. 71). 904a6 Als unser König sah: Zur Titulatur vgl. Krat. 396a8: wir verdan­ ken unser Leben dem Herrscher und König über alles (= Zeus). Als βα­ σιλεύς wird Zeus auch in den orphischen Hymnen (Kem Fr. 2la,7 und 168, 5) tituliert. Nach Phil. 28c7 ist die Vernunft König des Himmels und der Erde.

904a8—bl daß ferner Seele und Körper, sobald sie einmal entstanden sind, etwas Unzerstörbares (άνώλεθρον), aber nichts Ewiges (ούκ αιώνιον) sind wie die nach dem Gesetz seienden Götter: England ver­

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steht dies so, daß die Seele und der Körper je fur sich unzerstörbar sind (da bei ihrem Untergang kein Lebewesen mehr entstehen könnte: bl—2), daß aber ihre Verbindung nichts Ewiges ist. Aber Seele und Körper sind auch fiir sich allein nicht ewig, da sie geschaffen sind. Ewiges Sein kommt nach Tim. 37c-d nur dem Urbild (der Ideenwelt), nicht aber dem Geschaffenen zu. Wohl aber ist das Geschaffene praktisch unauflösbar (άλυτον), da es nur der Demiurg, der es geschaffen hat, wieder auflösen kann (Tim. 32c3). — Das Verständnis der Seinsweise der „nach dem Ge­ setz seienden“ Götter hängt davon ab, ob der Vergleich sich nur auf „ewig“ oder auf „unzerstörbar, aber nicht ewig“ bezieht. Die erste Mög­ lichkeit vertreten England z. St., Vlastos 1965, 408 Anm. 3 und Solmsen 1969, 241, die zweite z.B. G. Müller 85, Görgemanns 1960, 204 Anm.5 und ich selbst 1977. Die Aussage von Tim. 41b, wonach die sichtbaren (Gestirn-) und die mythischen Götter weder unsterblich (αθάνατοι) noch unauflöslich (άλυτοι) sind, aber durch den Willen des Demiurgen vor der Auflösung geschützt sind, kann jede der beiden Möglichkeiten stützen. Den Ausschlag gibt m. E. die Überlegung von Vlastos, daß in ei­ nem Kontext, der von der Reinkarnation der Seele in immer wieder ande­ re Körpern handelt, eine Kontrastierung der Menschen und Götter hin­ sichtlich der Dauer ihrer Existenz sehr berechtigt sei, während eine Gleichstellung von Menschen und Göttern in dieser Hinsicht ohne Pointe wäre. - Zu den „nach dem Gesetz seienden“ Götter vgl. zu 885b4-5 (an­ ders Dönt 1970, 58: Nomos sei hier ein ewiges Gesetz, „die Struktur des Göttlichen“). 904b4 dachte er sich aus: μηχανάσθαι ist im Timaios das zweckhafte Planen des Demiurgen und der in seinem Auftrag schaffenden Götter (34cl, 37e3, 40c2, 44e4, 45b6, 71b3, 73c2 usw.). 904b6 Den Blick einzig hierauf richtend (προς παν τούτο): Nämlich auf den Sieg der Tugend (so richtig England; die Übersetzung „auf dieses Ganze“ würde den Artikel vor παν erfordern), παν τούτο ist der Singu­ lar zu ταυτα πάντα (b3), wobei παν die Ausschließlichkeit betont (wie 923b5). 904b8—c2 Die Ursachen (αιτίας) aber für das Entstehen einer be­ stimmten Beschaffenheit überließ er den Willens entscheidungen eines je­ den von uns: Vgl. Resp. 617e4—5 (αίτια έλομένου· θεός αναίτιος); Tim. 42d-e (der Demiurg ist αναίτιος, das sterbliche Wesen ist αίτιον für das Schlechte). Zur Häufung von Genitiven in ähnlichem Kontext vgl. Tim. 42c2—3 (κατά την ομοιότητα τής του τρόπου γενέσεως).

904c2—4 Denn wohin einer sein Begehren lenkt und wie einer hierbei in seiner Seele beschaffen ist, dahin und zu einer solchen Beschaffenheit

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Kommentar

pflegt sich meistens ein jeder von uns zu entwickeln: Zu dem Gedanken, daß die durch richtige oder falsche Wertvorstellungen entstandene Rich­ tung des Begehrens die Entwicklung des Charakters bestimmt, vgl. Resp. 485d, 551a4—5, 591c-e, 618b6-619bl. 904c6—e3 Es verändern sich nun alle Wesen, die einer Seele teilhaftig sind usw.: Der Aufenthaltsort der Seele, der teleologisch vom Wohl des Ganzen bestimmt wird (904a), ist zugleich kausal determiniert durch den charakterlichen Zustand der Seele, die damit nach der gesetzmäßigen Ordnung des Schicksals (ειμαρμένη c8) das ihr gebührende Geschick (μοίρα 903el) erhält. Die diesbezüglichen Ausführungen des Atheners sind im Detail aller­ dings ziemlich vage; Solmsen (1959, 273-275 = 1968, 67-69) und Reverdin (1945, 27) vermuten deshalb, daß Platon nicht mehr die letzte Hand anlegen konnte. Eine plausiblere Erklärung liefert die bereits oben S.432 erwähnte Absicht Platons, die Korrelation zwischen diesseitigem Verhalten und jenseitigem Geschick der Seele ohne die für Jenseitsmy­ then typischen Elemente in einer abstrakten, quasi naturwissenschaftli­ chen Sprache darzustellen, die aber durchaus der Phantasie des Hörers Raum läßt. Ein Grundgedanke der früheren Jenseitsmythen (vor allem Phaid. 80d-82b, 113d—114c, Phaidr. 246a-249d und Resp. 614b-621b; dazu auch Tim. 42b-c, 90e) ist auch in den Nomoi präsent: Nach dem Tod wird der Seele je nach ihrem bisherigen Verhalten ein gebührender Auf­ enthaltsort im Jenseits zugewiesen (vgl. τόπον προσήκοντα Phaid. 108c5). Der Phaidon-My\hos unterscheidet drei Hauptgruppen von See­ len: solche, die (1) ein ungerechtes Leben, die (2) ein gerechtes Leben und die (3) ein „mittleres“ (μέσως 113d4) Leben geführt haben (die My­ then der Politeia und des Phaidros kennen nur ungerechte und gerechte Seelen, neben denen allerdings im Phaidros die philosophisch Liebenden eine eigene Gruppe bilden). Die Seelen der ersten Gruppe wandern in die Tiefe, die der zweiten Gruppe nach oben; die mittleren bleiben nach Phaid. 113d—e am Acheronsee, wo sie Strafen bzw. Belohnungen erhal­ ten und nach gewisser Zeit wieder neu geboren werden (113a). Die erste und zweite Hauptgruppe wird im Phaidon und in der Politeia weiter in zwei Untergruppen differenziert, wodurch sich insgesamt fünf (bzw. in der Politeia vier) Kategorien ergeben. Bei den ungerechten See­ len wird nämlich unterschieden zwischen den unheilbaren Seelen, die für immer in den Tartaros geworfen werden (Phaid. 113e; Resp. 616a), und den heilbaren Seelen, die zunächst in den Tartaros gelangen, von dort aber zum Acheronsee gespült werden, wo sie von den Opfern ihrer Fre­ vel Verzeihung erbitten müssen, um wieder in den Kreislauf der Inkama-

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tionen zurückzukehren (Phaid. 114a—b; nach Resp. 615a—b müssen sie zuvor 1000 Jahre lang Strafe unter der Erde leiden). Bei den gerechten Seelen wird unterschieden zwischen denen, die weitgehend „rein“ gelebt haben und nach oben auf die „reine“ bzw. „wahre Erde“ (Phaid. 109b7, HOal) gelangen, und den Philosophenseelen, die zu noch schöneren Wohnsitzen aufsteigen, wo sie ewig wohnen (Phaid. 114b-c, Resp. 615a-c); strittig ist, ob die Seelen im Tartaros bzw. auf der wahren Erde dem Kreislauf der Inkarnationen entzogen sind (Alt 2002, 273 bejaht die Frage für den Phaidon 274 ff.; Vorwerk 2002, 63 neigt zur Verneinung). Der Timaios kennt keine Unterwelt und keine Bestrafung im Jenseits; hier bestehen die Folgen der Lebensführung darin, daß die gerechte Seele wieder zu ihrem Fixstern zurückkehrt, während der, dessen Leben in die­ ser Hinsicht scheitert, bei der folgenden Inkarnation durch Eingehen in die Natur einer Frau oder eines Tieres ,herabgestuft4 wird (Tim. 42c, 90eff.). Diese Form der Vergeltung durch eine andere biologische Le­ bensform begegnet auch in den anderen Jenseitsmythen neben der räum­ lichen Versetzung (so Phaid. 8le—82a, Phaidr. 249b); in den Nomoi wird diese Vorstellung in 944e thematisiert. Vor dem Hintergrund dieser früheren Mythen lassen auch die Nomoi eine Dreigliederung erkennen: 1) 904c9-10: Quantitativ und qualitativ geringfügige Änderungen des Charakters (zum Guten oder Schlechten) führen zu einem Ortswechsel auf der horizontal gedachten Erdoberfläche. Dies hat man sich wohl so zu denken, daß die betreffende Seele bei der Reinkarnation (die aus 904e7 zu folgern ist) in einen anderen Körper eingeht, der sich an einem andern Ort auf der Erde befindet (und vermutlich auch der einer Frau oder eines Tieres sein kann). Kucharski 1954, 47, Anm. 25 hält wegen Phaid. 113d-l 14c auch einen Zwischenort im Jenseits für denkbar. 2) 904cl0-d4: Quantitativ und qualitativ stärkere Veränderungen zum Schlechten hin führen zu einer Versetzung in die Tiefe an die Orte, die die Menschen als Hades und dgl. bezeichnen. 3) 904d4—e3: Größere Zunahme an Tugend führt die Seele an einen ausgezeichneten heiligen Ort. Größere Zunahme an Schlechtigkeit führt sie dagegen an den entgegengesetzten Ort (damit ist vermutlich der be­ reits 904cl0-d4 erwähnte Ortswechsel gemeint). Der ausgezeichnete heilige Ort (so der überlieferte Text; s. unten zu 904el) dürfte die Fixstemsphäre sein; der entgegengesetzte der Tartaros. In der vorliegenden Partie fehlt allerdings zunächst jeder Hinweis auf eine Vergeltung, die erst 904e4 ff. ins Spiel kommt, indem der Ortswech­ sel als göttliches Gericht gedeutet wird (eine zusätzliche Jenseitsstrafe im „traditionellen“ Sinn wird dagegen in 870d-e, 872e, 881a-b und 959b-c erwähnt).

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Kommentar

Zu Platons Jenseitsmythen vgl. Baltes 1988, Alt 2002 und 2007, Vor­ werk 2002. Zu den Beziehungen von 904a-905d zu Resp. 614b-621d vgl. Svitzou 2005. Zum Nachleben der Eschatologie der Nomoi im Plato­ nismus des ersten Jh. v.Chr. bei Cicero (Somnium Scipionis), Vergil (Aen. VI) und Plutarch vgl. Brenk 2003.

904c 10 auf der Oberfläche der Erde: Zu χώρα im Sinne von γη vgl. Epin. 975b5 (beobachtet von G. Müller 1951, 116). 904d2 mit ähnlichen Namen bezeichnen: Solche Namen sind nach Resp. 387b-c ,Kokytos4, ,Styx4, ,die Unteren4 oder ,die Verdorrten4 (= αλίβαντες nach antiker Etymologie). Sie werden dort wegen des Schau­ ders, den sie hervorrufen, für die Erziehung der Wächter verworfen, al­ lerdings mit der Bemerkung, daß sie „vielleicht zu etwas anderem nütz­ lich sind44. 904d3—4 nach der Trennung vom Körper: D. i. nach dem Tod (gegen Englands Deutung „when in sleep or trance44 auch Dodds 1951, 233 [= 1970, 253], Anm. 77).

904d5 durch den starken Einfluß ihres Umgangs: Gemeint ist der Um­ gang mit schlechten oder guten Menschen (vgl. 656b, 728b, 854b-c; Resp. 500c). 904el an einen hervorragenden, gänzlich heiligen (άγιον δλον) Ort: Der Ort, an den die Guten kommen ist „heilig44, weil er von allen Übeln „gereinigt44 ist (so Theait. 177a5). Gegen Badhams Konjektur αγίαν οδόν („auf heiligem Weg44) vgl. Solmsen 1959, 274 (= 1968, 68) Anm. 14.

904e4 „Dies ist der richtende Spruch der Götter im hohen Olympos “: In dem homerischen Vers (Od. 19,43) bedeutet δίκη eindeutig „Brauch, Gewohnheit44 der Götter. Platon gibt aber hier dem Wort, wie das folgen­ de zeigt, die Bedeutung „Recht, Gerechtigkeit, Urteilsspruch, Strafe44 (vgl. 905al und 3). 904e7—905al erleiden, was Gleichgeartete Gleichgearteten gebühren­ dermaßen zufügen: vgl. 728b—c.

905al—2 Diesem Richterspruch wirst weder du noch wird ihm sonst ei­ ner jemals entgehen (άτυχης) und sich rühmen können, Göttern (θεών) überlegen zu sein: „Diesem44 hebt den göttlichen Richterspruch vom Spruch irdischer Richter ab, dem man durchaus entgehen kann. — α­ τυχής kann hier nicht die übliche Bedeutung „unglücklich44 haben, da nicht einzusehen ist, warum ein Unglücklicher sich seiner Überlegenheit über die Götter rühmen sollte. Ich verstehe das Adjektiv daher wie schon Apelt 540 Anm. 77 als „nicht erreichend, verfehlend44 (= ατυχών) und

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verbinde es mit dem Genitiv ταύτης τής δίκης (vgl. μή τυγχάνων 728c4 und 908dl mit dem Genitiv der Strafe); ebenso z.B. Einarson 1957, 273, Saunders 1972, Nr. 99 S. 101 f., Lisi oder Mayhew. Interpre­ ten, die ατυχής als „unglücklich“ verstehen (z.B. Gulley 1975, 18, Wes­ terink 1970, 48-49, Brisson - Pradeau), müssen das überlieferte θεών mit ταύτης τής δίκης verbinden, was sowohl wegen der Wortstellung als auch vor allem wegen der dadurch entstehenden semantischen Über­ determinierung wenig befriedigt. Möglicherweise wollte Platon bei sei­ nem ungewöhnlichen Gebrauch von ατυχής die übliche Bedeutung „un­ glücklich“ wenigstens anklingen lassen; denn gemäß 728c ist der, der seine verdiente Strafe nicht erhält (μή τυγχάνων), unglücklich (άθλιος). 905a5— 7 du wirst nicht in die Tiefen der Erde versinken noch ... in den Himmel emporfliegen können: Ähnliche Formeln zum Ausdruck der Unentrinnbarkeit von Rache oder Unglück vgl. Euripides, Hek. 1099—1106, Herakles 1157-1158, Hippol. 1290-1293, Ion 1238-1243, Med. 12961298; Herodot 4,132,3; Vergil, Aen. 12,892. Als Ausdruck der göttli­ chen Allgegenwart vergleicht Eusebios (Praep. ev. 12,52,32) damit Psalm 139,7-9. Vgl. zu dieser Vorstellung Hommel 1925 und 1944 (der sie auf die Orphik zurückführt) und Geffcken 1929 (der weitere griechi­ sche Testimonia beibringt). - Zum Text: Die Verwendung von πτηνός („geflügelt“) bei Herodot 4,132,3 und Phaid. 109e3 reicht nicht aus, um hier υψηλός mit Lorimer 1932 durch dieses Adjektiv zu ersetzen.

905bl an einen noch entfernteren Ort (εις άπώτερον ετι ... τόπον): Arethas (= A3 O3) bezeugt am Rand von A und O fiir das überlieferte, aber unmögliche άγιώτερον (das wohl unter dem Einfluß von 904el entstand) die beiden Varianten απώτερον und άγριώτερον („wilder, unwirtlicher“). Das Adjektiv άγριώτερον (das Burnet druckt) läßt sich stützen durch Phaid. 113b8 τόπον ... άγριον und Nom. 908a6 άγριώτατος τόπος (vom Gefängnisort fiir die Gottesleugner), ist aber gerade deshalb als Reminiszenz verdächtig gegenüber der (von Diès gedruck­ ten) lectio difficilior απώτερον, die nicht nur von der armenischen Übersetzung vorausgesetzt wird (vgl. Conybeare 1924, 135), sondern auch den besseren Sinn ergibt; denn im Kontext geht es nicht um die ab­ schreckende Wirkung, sondern um die größtmögliche Entfernung des Ortes, die vor der göttlichen Strafe schützen soll (vgl. Des Places 1957, 258—259). Auch Saunders 1972, 103 entscheidet sich fiir απώτερον, das sich gerade wegen seiner Singularität gut in die gehobene Sprache des Abschnitts einfügt.

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Kommentar

905b3—cl Dieselbe Erklärung dürfte auch fürjene gelten, die du sahst, wie sie aus kleinen zu großen Leuten wurden, indem sie Freveltaten ver­ übten usw.: Verweist auf 899d—900b.

905b5 wie in einem Spiegel: Zum Blick in den Spiegel als Vergleich vgl. Alkib. 1133a, Phaidr. 255d6, Theait. 193c7, 206d3, Tim. 71b4.

905cl du Tapferster von allen: Das Adjektiv ανδρείος muß hier iro­ nisch oder spöttisch gemeint sein. Die ,Tapferkeit6 des Angeredeten be­ steht darin, daß er ohne Einsicht in das Verhältnis des Teils zum Ganzen die Götter der mangelnden Fürsorge zu bezichtigen wagt (G. Müller 1968, 193 Anm. 1 nimmt hier und auch für 969a7 die erst später sicher belegte negative Bedeutung „verwegen“ an). III. 905d3—907b4: Widerlegung der Ansicht, daß die Götter bestechlich sind. Daß die Götter durch Geschenke umgestimmt werden können (δώρα θεούς πείθει Resp. 390e2-3 = Hesiod Fr. 361 Merkelbach-West), ist der schlimmste Irrtum (907b), der die meisten Anhänger besitzt (948c); er verleitet zur Ungerechtigkeit (so schon Resp. 365e-366b) und unter­ gräbt damit das Fundament der Gemeinschaft. Die Widerlegung dieses Irrtums ergänzt zugleich die Widerlegung des zweiten Irrtums, indem sie beweist, daß der Kausalnexus zwischen irdischem Verhalten und jenseiti­ ger Vergeltung durch nichts außer Kraft gesetzt werden kann. Keine Kultpraxis (Gebet, Opfer usw.) vermag nach begangenem Unrecht die Gottheit zur Verzeihung zu bewegen (zur generellen Frage nach der Funktion des Gebets in Magnesia vgl. den Komm, zu 885b8 und die Überlegungen S. 372). Die etwas unübersichtliche Argumentation basiert hauptsächlich auf einem Vergleich der Götter mit den Hirten und Wachhunden (vgl. 906a2, b4-6, d2-4, 906ell, 907a5-7; dazu Louis 1945, 172) und einem Schluß a minore ad maius: Als Lenker des Universums sind die Götter Herrscher (905e2) und Wächter über das Größte (907a2-3). Da sie infolge ihrer allseitigen Vollkommenheit (898c) auch vorzügliche Wächter sind (907a6), können sie nicht schlechter sein als Wachhunde, die niemals den Wölfen gegen Beteiligung an der Beute die Herde preisgeben würden (906d3, eil), oder als mittelmäßige menschliche Wächter, die sich niemals durch Geschenke überreden ließen, das Gerechte zu verraten (907a7-9). Der Sinn des Vergleichs mit Wachhunden und Wächtern wird deutlich in dem stark paränetisch gefärbten Passus 906a2—c2: Der nicht enden wollende Kampf zwischen Gut und Böse erfordert besondere Wachsam­ keit. Da die Menschen Besitzstück der Götter und Teil ihrer Herde sind,

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stehen die Götter und Dämonen den Menschen in diesem Kampf als Mit­ kämpfer (σύμμαχοι) und Wächter (φύλακες) bei. Dieser Beistand und die göttliche Fürsorge geschieht nicht durch di­ rekten Eingriff in das irdische Geschehen, sondern primär dadurch, daß die Götter die gerechte Weltordnung, in der jeder das ihm Gebührende erhält, garantieren und daher jedem Bestechungsversuch der ungerechten Seelen widerstehen. Indirekten Beistand leisten die Götter darin, daß von den Tugenden, die in den Göttern in ihrer ganzen Fülle vorhanden sind, ein Stück auch den Menschen innewohnt. Diese göttlichen Tugenden (ausdrücklich ge­ nannt werden Gerechtigkeit und Besonnenheit, die sich mit der vernünf­ tigen Einsicht verbinden 906a8f.), sind die Mittel, die der Mensch im Kampf für das Gute einzusetzen hat und die ihm „Rettung“ (906a8) nicht nur im diesseitigen, sondern auch im jenseitigen Dasein bringen. Außer mit Hunden und Hirten vergleicht der Athener die Götter auch mit menschlichen „Herrschern“, nämlich mit Wagenlenkem (905e7, 906e5), Steuermännern (905e8, 906el), Heerführern (905e9, 906el0), Ärzten (905el0, 906el0) und Ackerbauern (906al, 906el0). Der Vergleich mit Wagenlenkem und Steuermännern wird wie der Ver­ gleich mit den Hirten und Wachhunden ausdrücklich dazu benutzt, die Annahme einer Bestechlichkeit der Götter ad absurdum zu führen: be­ stechliche Götter verhielten sich wie Steuermänner oder Wagenlenker, die gegen Bestechung Schiffe und Passagiere untergehen lassen (906el ff.) oder anderen Gespannen den Sieg überlassen (906e5 ff.), oder wie Heerführer (906el0), die - so die unausgesprochene Voraussetzung - ähnlich handeln (indem sie etwa gegen Bestechung die ihnen anver­ trauten Soldaten im Stich lassen). Positiven Sinn hat dagegen wohl der Vergleich der Götter mit Ärzten oder Ackerbauern, deren Tätigkeit in 905e9-906a2 ausführlicher be­ schrieben wird. Während in sonstigen platonischen Vergleichen mit Landwirten das tertium comparationis gewöhnlich das Aufziehen von Pflanzen und Tieren als Analogie zur Erziehung ist (vgl. Louis 1945, 97. 208 £), ist nach dieser Beschreibung das tertium comparationis dieses Vergleichs die Wachsamkeit, wie sie im Kampf für das Gute erforderlich ist (906a6). Ärzte sind auf der Hut (εύλαβουμένοις 905e 10) vor Krank­ heiten (vgl. Resp. 564c: der gute Arzt hütet sich vor dem Eindringen stö­ render Elemente in den Körper, damit sie am besten gar nicht hineinkom­ men und, wenn sie doch hineinkommen, möglichst rasch ausgeschieden werden). Der Ackerbauer erwartet voll Furcht die für das Wachsen der Pflanzen gefährlichen Jahreszeiten (906al-2). Diese Wachsamkeit ist be­ sonders nötig, weil der Bauer und der Arzt (!) laut Prot. 344d von schlechter Witterung (χαλεπή ώρα wie hier 906al) in Schwierigkeiten

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Kommentar

gebracht werden. Dank ihrer Sachkenntnis wissen sie aber Bescheid über das Gefährliche (δεινά) bei Krankheiten und im Ackerbau (vgl. Lach. 195b, Theait. 167b) und haben vom Zukünftigen ein kompetenteres Wis­ sen als andere (Theait. 178c). Sie sind darum auch die Fachleute, die auf ihrem Gebiet die Gefahr der πλεονεξία (906c2-6; vgl. dazu unten) zu erkennen und ihre schlimmen Folgen abzuwehren vermögen. Hierin dürfte letztlich das tertium comparationis des Vergleichs mit den Göttern bestehen: Wie der Arzt durch seine Therapie das gestörte humorale Gleichgewicht im menschlichen Körper wiederherstellt und wie der Landwirt mit seinen Maßnahmen die Auswirkungen extremer Witterung bekämpft oder wenigstens abmildert, so bekämpfen die Götter die im so­ zialen Raum als Ungerechtigkeit auftretende πλεονεξία (906c6), indem sie sich nicht von den Ungerechten umstimmen lassen, und sorgen auch im Kosmos für Maß und Ausgleich, indem sie jeder Seele den ihren Ta­ ten gemäßen Ort zuweisen. 905e3 fortwährend: Ich übernehme wie Diès und die meisten Überset­ zer das von Stobaios überlieferte ενδελεχώς, das aus philologischen Er­ wägungen den Vorzug vor dem in AO überlieferten έντελεχώς (= „wirk­ sam“) verdient (vgl. Mayhew 2006).

905e7ff. Sind etwa Lenker von Gespannen im Wettkampf von dieser Art oder Steuermänner von Schiffen?: Wagenlenker und Steuermann sind naheliegende Bilder für die göttliche Lenkung der Welt. Der Ver­ gleich mit einem Wagenlenker (vgl. schon Aischylos, Prom. 672) dürfte auf die göttliche Lenkung der Gestirne gehen, die in 899a als Wagen fiir die Gestimseele bezeichnet werden. Als Steuermann am Steuerruder der Welt (so schon Aischylos, Agam. 182 f.) ist der Gott Pol. 272e vorgestellt (Belege fiir beide Bilder aus der späteren Popularphilosophie bei Ben­ kendorff 1966, 173 ff.). — Singulär ist der Vergleich eines bestechlichen Gottes mit einem schlechten Wucherer bei Ps.-Platon, Alkib. II 149c.

906a4—5 mehr aber vom nicht Entgegengesetzten: Zu πλειόνων δε των μή ergänze ich εναντίων und verstehe unter dem „Nicht-Entgegen­ gesetzten“ das Gute (ebenso Stallbaum, Susemihl, Ritter II 326, G. Mül­ ler 21968, 201 Anm. 1, Lisi, Lanzi 2000, 138, Brisson - Pradeau, Santa Cruz 2003, 279 A. 22). Daß mit dem „Nicht-Entgegengesetzten“ das we­ der Gute noch Schlechte gemeint sei, wie Varvaro 1967, 2079 erwägt, ist wenig wahrscheinlich, da Platon hierfür wohl των μηδετέρων geschrie­ ben hätte. Die meisten Interpreten ergänzen zu πλειόνων δε των μή den Genitiv αγαθών (= „mehr von dem Nicht-Guten“), so daß letztlich die Übel überwiegen (so z.B. Zeller 1889, II 1, 973ff. Ast, Apelt, England, Reverdin 1945, 19, Diès, De Vogel 1986, 181 u. 183, Chemiss 1977, 254 = 1954, 24, Sandvoss 1971, 60, Saunders, Rufener, Steiner 179,

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Mayhew). Der hierfür angeführte Beleg Resp. 379c beweist aber nichts, da dort das Überwiegen der Übel nur für den menschlichen Bereich (ήμΐν) konstatiert wird, während es hier um die Verhältnisse im Kosmos (= τον ουρανόν a3) geht; in diesem Sinne heißt es Theait. 176a, daß das Böse nie ausgerottet noch bei den Göttern lokalisiert werden kann, son­ dern nur unter der sterblichen Natur umherzieht (hierauf schränkt auch Carone 1994, 293 die vorliegende Stelle ein). Die meiner Übersetzung zugrunde gelegte Deutung wird bestätigt durch das rückverweisende „da wir ... einig geworden sind“ (συγκεχωρήκαμεν a3); denn bisher wurde mehrfach konstatiert, daß das Universum vollkommen ist (896c ff., 903b ff. und 904b). Allein schon die Behauptung, daß alles voll von Göttern sei (899b9), schließt ein Überwiegen negativer Elemente im Universum aus (vgl. auch oben zu 896e4). Auch beim Überwiegen des Guten im Ganzen der Welt ist der Kampf zwischen Gutem und Schlechtem ein Kampf ohne Ende (906a5). Denn die Gefahr besteht immer, daß die Ordnung durch πλεονεξία (906c) ge­ stört wird, wodurch in der Zukunft eine ähnliche Entwicklung einträte, wie sie der Mythos des Politikos fiir die Vergangenheit schildert: solange Gott das Steuerruder führte, wies der Kosmos viel Gutes auf; nachdem er aber den Kosmos sich selbst überlassen hatte, verschlechterte sich der Zustand wieder, so daß der Kosmos am Ende nur wenig Gutes und eine große „Mischung von Entgegengesetztem “ (πολλήν την των εναντίων κρασιν) aufwies (Pol. 273d2). 906a9—bl Gerechtigkeit und Besonnenheit im Bunde mit vernünftiger Einsicht (μετά φρονήσως): Zur Trias dieser drei Tugenden vgl. Resp. 591b5; nach Theait. 176b2-3 besteht die Angleichung an Gott darin, ge­ recht und fromm zu werden mit Einsicht (δίκαιον και όσιον μετά φρονήσεως). Die Verbindung mit der Einsicht hebt die Besonnenheit über das Niveau einer bloß naturhaften Tugend (vgl. zu 710a5). 906b7—cl durch eine Art Gebetszauber zu überreden, wie es die prah­ lerischen Worte der schlechten Menschen behaupten: Bei den schlechten Menschen schweben dem Athener wohl schon die 908d und 909b atta­ ckierten Scharlatane vor Augen, die sich rühmen, sie könnten durch Op­ fer, Gebete und Zaubersprüche (θυσίαις τε καί ευχαις καί έπωδαΐς 909b4) die Götter überreden.

906c2-6: Als eine durch Übermaß verursachte Störung des Gleichge­ wichts bildet das Mehr-Haben (πλεονεκτεΐν, πλέον έχειν, πλεονεξία) nicht nur den Gegensatz zur gerechten Staatsverfassung (vgl. Gorg. 483d; Nom. 691a, 875b) und zur Gerechtigkeit (Resp. 359c, Kriti. 121b6), sondern auch die Ursache von Krankheiten (Symp. 188a-b, Tim. 82a) und von Störungen der kosmischen Ordnung (Gorg.

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Kommentar

5O7e5ff.). Vgl. hierzu auch Nom. 691c-d und bes. Resp. 563e-564a. Für den medizinischen Bereich hatte Platon einen Vorgänger in dem Arzt Alkmaion von Kroton (ca. 570—500), der die Gesundheit auf die Gleich­ berechtigung (ισονομία) der entgegengesetzten Qualitäten Feucht-Tro­ cken, Warm-Kalt und die Krankheit auf die Alleinherrschaft (μοναρχία) jeweils einer Qualität zurückgefiihrt hatte (Vors. 24 B 4); der Terminus πλεονεξία begegnet allerdings in der zeitgenössischen Medizin nur in der hippokratischen Schrift De victu sp. 29 Littré II452 (die wohl an den Anfang des 4. Jh. gehört: Weber 1967, 83 Anm. 2). - Die Ausgeglichen­ heit des Klimas (ίσομοιρίη) erklären die hippokratische Schrift De aere aquis locis 12, und Herodot 3,106,1 mit der „Mischung der Jahreszeiten“ (κρήσις των ώρέων). — Die politische Pleonexie tadelt der zwischen 420—360 zu datierende Anonymus Iamblichi Vors. 89 Fr. 6,1 (II 402,21). Weitere Belege aus Aristoteles und den Rednern bei Weber 116-161; vgl. auch Vlastos 1947, Müri 1950 und MacKinney 1964. Die Frage nach der Ursache von Krankheiten und Seuchen als den „na­ türlichen Übeln“ wird von Platon hier nicht gestellt (vielleicht um seine Argumentation gegen die Atheisten nicht zu schwächen). Mögliche Ant­ worten sind im Komm, zu 896e4 aufgefiihrt. 906d8—10 Mit welchen der vorhin erwähnten Menschen usw.: Da die Verbindung ανθρώπων όστισουν („wer auch immer unter den Men­ schen“) wenig aussagekräftig ist, verbinde ich των προρρηθέντων mit ανθρώπων. Nachdem unmittelbar vorher die Götter mit Tieren (Wach­ hunden) verglichen wurden, geht es jetzt darum, mit welchen vorher ge­ nannten menschlichen Herrschern die Götter vergleichbar sind (ei ff. werden dieselben wie 905e5 ff. aufgezählt). Vergleichbar ist die Sperrung von ποτέρους ... των άνδρών 629d7—8; vgl. auch 794a8—b2, 916b45, 920e2-3. Zu Kühnheiten der Wortstellung in den Nomoi vgl. G. Mül­ ler 1951, 128 Anm. 2; Berry 1922, 32 ff. 65 ff.

906el—2 „ durch die Spende des Weins und den Fettdampf“ selber vom Kurs abgebracht: Anspielung auf Homer II. 9,500, wo es heißt, daß die Menschen nach einem Fehltritt die Götter durch Trank- und Brandopfer „ablenken“ (παρατρωπώσ). Die Übertragung auf die Steuermänner (wobei das παρατρωπώσ durch das attische παρατρεπομένοις er­ setzt wurde) soll die Absurdität dieser Vorstellung sichtbar machen. Im ursprünglichen Sinn wird die Wendung Resp. 364d6ff. wörtlich und 365e als Anspielung zitiert.

907b5-d6: Abschluß der Vorrede. Der kurze Abschnitt rechtfertigt (ähnlich wie Resp. 536c—d) rückbli­ ckend den leidenschaftlichen Ton der Vorrede mit den Taten (c3), die aus

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der atheistischen Weitsicht folgen würden, falls diese unwiderlegt bliebe. In seiner Reaktion (d2—3) rechnet Kleinias allerdings (ebenso wie der Athener c5-dl) mit einem Scheitern des Überzeugungsversuchs, wofür dann aber nicht der Gesetzgeber, sondern die Adressaten der Vorrede verantwortlich zu machen sind. Diese werden daher in einem ,Vor­ spruch6 (d4—6) zum letzten Mal zur Abkehr von ihrer Denkweise aufge­ fordert.

907d5—6 das alle Unfrommen auffordert, aus ihrer eigenen Denkweise herauszutreten (προαγορεύων έξέστασθοα): Pfister (1938, 177 und 1947, 182—183) vermutet eine Anspielung auf die kultische Prorrhesis der Mysterien, fiir die Isokrates, Or. 4,157 ebenfalls das Verbum ττροαγορεύειν verwendet (vgl. zu 888a4). In der von Pfister angeführten Formel έπαυδώ έξίστασθαι (Aristophanes, Frösche 369 f.) ist έξίσ­ τασθαι allerdings mit einem Dativ μύσταισι χοροΐς verbunden und be­ deutet konkret „aus dem Weg treten, Platz machen“.

ß) 907d6-910d4: Das Gesetz gegen Asebie

907d7—908a7: Anzeigepflicht. Gefängnisse. In Athen war die übliche Klageform bei Asebie die beim Archon Basileus einzureichende γραφή άσεβείας, neben der auch Endeixis oder Eisangelia möglich war (Fischer 7 ff., MacDowell 1978, 199). Die Klage war schätzbar (τίμητος). Als Strafen sind Geldstrafe, Verbannung und die Todesstrafe bezeugt (Fischer 97 ff, Saunders 1991a, 305); letztere konnte durch Verweigerung eines Grabes in der Heimaterde (Ataphie) verschärft werden (Todd 1993, 141). Platon schreibt ohne nähere Spezifizierung vor, daß jeder, der bei ei­ nem Asebievergehen zugegen ist, die Beamten (d.h. die jeweils gerade erreichbaren) darüber informieren soll. Diese Beamten sollen den Fall vor das in 855cff. eingesetzte Gericht bringen; bei Unterlassung sollen sie nach dem schon 866b und 871b angewandten Grundsatz selber we­ gen Asebie von jedem angeklagt werden. Die Strafbemessung („Schät­ zung“) obliegt nicht dem Kläger, sondern dem Gericht (τιμάτω 907e6). Die wegen Asebie Verurteilten verbüßen ihre Strafe in speziellen Ge­ fängnissen. Bei einer Verurteilung zu einer zeitlich begrenzten Freiheits­ strafe werden die Betroffenen im sog. „Haus der Besinnung“ (σωφρονιστήριον 908a4) inhaftiert; eine lebenslange Freiheitsstrafe ist in einem einsam auf dem Land gelegenen Gefängnis abzubüßen (909a— c). Während das gewöhnliche Gefängnis am Markt der Verwahrung der Körper (σωτηρία σωμάτων) dient (a3), ist der Zweck des Aufenthalts

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Kommentar

im „Haus der Besinnung“ die „Rettung“ der Seele (τη τής ψυχής σωτη­ ρία 909a4—5). 907el in Worten oder Taten (λόγοις εΐτ εργοις): Die die Gesamtheit des Verhaltens umfassende Formel „Wort und Tat“ begegnet im Zusam­ menhang mit Asebie auch 885b5-6, 909d4. Will man die beiden Be­ standteile fur sich nehmen, so dürften unter den Worten Äußerungen hä­ retischer Ansichten zu verstehen sein. Mit den Taten sind kaum die au­ ßerhalb von Buch X als Asebie-Delikt gekennzeichneten Taten (vgl. oben S. 369), sondern die in 909b und 910b beschriebenen Verhaltens­ weisen gemeint. 907el soll jeder ... dem wehren (άμουέπω): England ergänzt hierzu den Dativ νόμω („soll dem Gesetz beistehen“), Ficino τοΐς θεοΐς („den Göttern“). Obwohl sich Englands Vorschlag durch 935c5 und 907e6 stüt­ zen läßt, legt der Kontext eine solche Dativergänzung nicht nahe; άμυνέτω ist vielmehr wie 881d2 gebraucht und meint das Verhindern der gottlosen Aktion.

908a4 Haus der Besinnung (σωφρονιστήριο^): Die verbreitete (und auch von mir 1977 gewählte) Übersetzung mit „Besserungsanstalt“ ist nicht ganz exakt, da das zugrundeliegende Verbum σωφρονίζειν an al­ len Stellen, wo Platon damit das Ziel der Bestrafung bezeichnet, als „zur Besinnung, zur Vernunft bringen“ verstanden werden kann (so Gorg. 478d7, Resp. 471a6, Kriti. 121cl); laut 854d5 ist σωφρονίζειν nicht die Besserung selbst, sondern das Mittel zur Besserung (ähnlich bei den atti­ schen Rednern, z.B. Lysias, Or. 14,12; Demosthenes, Or. 21,227). Im Kratylos 411e4—5 wird σωφροσύνη etymologisch als σωτηρία φρονήσεως („Bewahrung der Einsicht“) erklärt. Da die φρόνησις als erkennende Instanz den obersten, zur Herrschaft berufenen Teil der Seele bildet (689b), trägt die Vermittlung der richtigen Einsicht zur „Rettung (σωτηρία) der Seele“ (909a4—5) bei; vgl. auch Wyller 1957, 310 ff.

908a6— 7 dessen Name auf Vergeltung hinweist: Nach dem überliefer­ ten Text (τιμωρίας εχων επωνυμίαν) ist mit τιμωρία der Name des Ortes gemeint. Da aber die Bezeichnung „Haus der Besinnung“ den Zweck des betreffenden Gebäudes angibt, spricht einiges für die von Solmsen (1959, 277 = 1968, 71 A. 20) vorgeschlagene Änderung von εχων in εχον, wodurch die Vergeltung ebenfalls zum Zweck des Gebäu­ des wird (zum irregulären Nominativ vgl. Stallbaum zu έπονομαζόμεvov 908a4—5 und Kühner - Gerth II 105—107).

908a7—e5: Die sechs Arten von Frevlern Die sechs Arten ergeben sich dadurch, daß die Anhänger der drei Häre-

908a7-e5

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sien jeweils nach ihrem Charakter in zwei Kategorien zerfallen. Obwohl diese beiden Kategorien nur für die Vertreter der ersten Häresie (also fiir die Gottesleugner) ausführlicher beschrieben (908b4—cl + c6—dl bzw. 908c 1-4 + dl-d7) und bei der zweiten und dritten Häresie nur pauschal erwähnt werden (908e3-5), gilt diese charakterliche Unterscheidung gleichermaßen für alle drei Gruppen von Häretikern, wie die Beschrei­ bung ihres Verhaltens in 908e5-6 bzw. 909a8—b6 zeigt, in der alle drei Gruppen zusammengefaßt sind (909b 1). Bei der ersten Kategorie handelt es sich um Atheisten mit gerechtem Charakter, die lediglich das Dasein der Götter leugnen (908b4-cl + c6-dl), bei der zweiten um eine „heuch­ lerische“ Art (ειρωνικόν 908e2), bei der zur Leugnung der Götter nicht nur die Unfähigkeit der Beherrschung von Lust und Schmerz, sondern auch intellektuelle Gaben hinzukommen (908cl—4 + dl-d7). Diese Gaben steigern die Fähigkeit der Atheisten zur „Schädigung der anderen Menschen“ (908c5-6). Die davon für die Gesellschaft ausgehen­ de Gefahr und nicht die häretische Überzeugung als solche ist das fiir die Strafzumessung entscheidende Merkmal (in Athen war es nach der Ver­ mutung von Reverdin 1945, 220 f. möglicherweise nicht anders; so ge­ hörte zu den Anklagepunkten gegen Sokrates die Anschuldigung, daß er die jungen Leute verderbe). Worin besteht die von den heuchlerischen Häretikern ausgehende „Schädigung der Menschen“, die ja über die bloße Verbreitung des Athe­ ismus hinausgehen muß, deren sich auch die gerechten Atheisten schul­ dig machen? Der Athener nennt in 908d3-7 zunächst bestimmte Perso­ nengruppen als ,Produkte6 des Atheismus: 1. religiöse „Scharlatane“ (Seher, Zauberkundige), 2. politische Machthaber (Tyrannen, Volksred­ ner, Strategen), 3. Veranstalter privater Mysterien und 4. die Tricks der Sophisten. In 909b2—6 nennt er als Taten aller drei Gruppen von heuch­ lerischen Häretikern die Verführung der Seelen Lebender und die Be­ schwörung toter Seelen und das Anerbieten, gegen Bezahlung durch kul­ tische Handlungen die Götter zu beeinflussen. Sieht man ab von den politischen Machthabern, die vermutlich als überzeugte Gottesleugner ihre Position ohne religiöse Skrupel mit unge­ rechten Mitteln errungen haben (vgl. 899e-900a, 905b), so handelt es sich in der Mehrzahl um Personen, die die (traditionellen) religiösen Vor­ stellungen der Menschen und deren Ängste ausnutzen und die Religion in den Dienst ihrer eigenen Interessen stellen. Dabei ergibt sich ein Wi­ derspruch zwischen ihrem Tun und Reden und ihrem Denken, weshalb der Athener ihnen „Verstellung“ (ειρωνικόν e2) vorwirft, die den Kon­ trast zur παρρησία (c7), d. h. dem unverhohlenen Atheismus der gerech­ ten Atheisten bildet (vgl. auch die Unterscheidung Soph. 268a zwischen απλούς und ειρωνικός). Wenn sie nämlich gar nicht an Götter oder an

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deren Fürsorge glauben, so ist ihr religiös-magisches Getue bloßer Schwindel; wenn sie aber den Menschen suggerieren, daß die Götter be­ einflußbar sind, so tun sie dies aus persönlicher Profitgier (909b6), um das zur Befriedigung ihrer Begierden nötige Geld zu erlangen. Dieselben Personen werden bereits in der Politeia als „Bettelpriester und Seher“ (άγύρται καί μάντεις Resp. 364b) attackiert, weil sie die Gerechtigkeit untergraben, indem sie sich ihrer Fähigkeit rühmen, mittels Opfer und Beschwörungen (vgl. Nom. 909b4) begangenes Unrecht wie­ der gutzumachen und andern durch magische Praktiken zu schaden, und die nicht nur Privatleute, sondern ganze Städte (vgl. Nom. 909b5) zu sol­ chen Praktiken überreden (Resp. 364b—365a). Den realen Hintergrund der platonischen Attacken bilden wohl umher­ ziehende Reinigungspriester (καθαρταί), die Einzelne oder Städte von Schuld entsühnten, wie z.B. Epimenides von Kreta, der Athen vom sog. Kydonischen Frevel reinigte (der respektvolle Ton, mit dem er Nom. 642d—e erwähnt wird, ist dem Patriotismus des Kleinias zuzuschreiben). Daß Platon damit orphische Lehren oder die eleusinischen Mysterien als solche verurteilt (so Boyancé 1937, 9—31), ist jedoch zu bezweifeln (vgl. Dodds 1951, 234 [= 1970, 254], Anm. 81-82, Morrow 1960a, 454 Anm. 183, Burkert 1998, 380); Ziel seiner Polemik sind vielmehr Mysterienpriester wie die sog. Orpheotelestai, die sich auf die orphische Tradi­ tion beriefen und nach Theophrast, Char. 16,11 besonders von Abergläu­ bischen regelmäßig aufgesucht werden (vgl. Nilsson 1935, 208; Burkert 1991, 37f. und 110 Anm.7). 908b4—5 Bei wem ... von Natur aus eine gerechte Charakteranlage hinzukommt: Während eine gesetzwidrige (und damit ungerechte) Tat laut 885b immer eine atheistische Überzeugung zur Ursache hat, führt umgekehrt eine atheistische Überzeugung nicht zwangsläufig zu unge­ rechten Handlungen, wenn ein angeborenes gerechtes Ethos vorhanden ist (zur angeborenen Tugend vgl. 710a, 963e).

908c2 alles sei leer von Göttern: Negiert die Behauptung 899b9. 908c2—3 Unbeherrschtheit gegenüber Lust und Schmerz: Vgl. die Un­ terscheidung zwischen dieser Unbeherrschtheit und der Unwissenheit als Ursache der Asebie 886a8—b8. 908c3—4 ein starkes Gedächtnis und rasche Auffassungsgabe: Vgl. Bd. II 161 ff. zu 709e7—710a4. 908d2 als Mann mit guten Anlagen (ευφυής) gerühmt wird: Nämlich mit starkem Gedächtnis und rascher Auffassungsgabe (908c3-4). Varvaro (1967, 2088) verteidigt, soweit ich sehe, als einziger das in A und O überlieferte εύτυχής („glücklich“) unter Verweis auf 899d—e und 905b.

908e5-909d2

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Dieser Gedanke paßt aber weniger gut in den vorliegenden Kontext (ab­ gesehen davon, daß an den Verweisstellen das Glück mit εύδαίμων aus­ gedrückt wird). 908d3 Seher (μάντεις) ... und Leute, die in der gesamten Zauberkunst (μαγγανείαν) bewandert sind (κεκινημένοι): Seherkunst (μαντική), Opfer (θυσίαι), Weihungen (τελέται), Beschwörungen (έπωδαί), Ma­ gie (μαγγανεία nach der Konjektur von Geel) und Zauberei (γοητεία) faßt Diotima Symp. 202e—203a zusammen als Künste, die mittels des „Dämonischen“ die Kluft zwischen Mensch und dem Göttlichen über­ brücken wollen. Seher sieht Platon auch in Magnesia - vielleicht als Tri­ but an die traditionelle Religion - neben anderen Kultbeamten vor (828b, 871c-d). Sie mißbrauchen ihre Kunst allerdings, wenn sie aus Ge­ winnsucht tätig werden, mit magischen Praktiken ihren Mitbürgern scha­ den (933e) oder ihre Seelen in sonstiger Weise schädigen (wie 913b). Vgl. dazu Morrow 1960a, 429-431; Lloyd 1979, 17 Anm. 41; 28-29. Stallbaum z. St. verteidigt das überlieferte κεκινημένοι mit Hinweis auf das lateinische versatus (übernommen von LSJ s. v. κινειν B. 6); Diès übernimmt Burys Konjektur γεγενημένοι. 908d6 die sich auf private Mysterien (τελέται) verlegt haben: Vgl. die Schilderung der privaten Mysterien der Mutter des Aischines bei De­ mosthenes, Or. 18,259 ff. Nach Resp. 365a2 sind τελέται Reinigungen, die von Übeln (d.h. Strafen) im Jenseits befreien sollen. Burkert 1998, 380 nimmt als Objekt des Verbots Veranstaltungen wie die berüchtigten „Mysterien“ des Alkibiades an.

908d7 die Tricks der sogenannten Sophisten: „Sophisten“ heißen bei Platon Leute, die mit der „Magie“ ihrer Worte die Hörer verführen und willenlos machen (vgl. Resp.492a-b); als bloße Imitatoren der Wirklich­ keit werden sie zu den Zauberern (γοήται Soph. 235al, Pol. 303c4), Ta­ schenspielern (θαυματοποιοί Soph. 235b5) oder Lügnern (ψευδουργοί Soph. 241b6) gerechnet. Im Kontext des Asebiegesetzes müssen damit Leute gemeint sein, die andere mit fragwürdigen Argumenten zu häretischen Ansichten und unter Vorspiegelung nicht vorhandener Zu­ sammenhänge zu bedenklichen religiösen Praktiken verfuhren.

908e5—909d2: Die für sie vorgesehenen Strafen Asebie wird in Magnesia in jedem Fall mit Haft bestraft. Die weitere Differenzierung der Strafe orientiert sich nicht an den drei häretischen Ansichten, sondern berücksichtigt lediglich die beiden konträren Täterty­ pen: den gerechten Atheisten (908e5—909a8) und die ,zu Tieren gewor­ denen6 (a8) Häretiker (909a8-d2). 1) Die gerechten Atheisten werden bestraft, wenn sie ihre Ansichten

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offen verkünden (908c6—dl) und andere zum Atheismus bekehren. Sie werden für mindestens fünf Jahre in das „Haus der Besinnung“ einge­ wiesen. Da ihr Vergehen nach der Unterscheidung von 863c—e lediglich auf einem intellektuellen Fehler beruht (άνοια = Mangel an Vernunft 908e6), erhalten sie von den Mitgliedern der Nächtlichen Versammlung eine belehrende Zurechtweisung (νουθέτησις 908e3, 909a4). Dabei handelt es sich nach den Distinktionen von Soph. 229d ff. um eine Form der Belehrung (διδαχή) in der Art, wie Väter mit ihren Söhnen umge­ hen. Die Angehörigen der Nächtlichen Versammlung sind dazu am be­ sten befähigt, weil sie aufgrund ihrer höheren Bildung über die notwendi­ gen Kenntnisse in Astronomie verfügen (966c ff.). Da sonst kein Bürger diese Häftlinge besuchen darf, ist mit Saunders zu folgern, daß sie wie die andere Gruppe ihr tägliches Essen von Sklaven erhalten (vgl. 909c3). Die Inhaftierung der gerechten Atheisten verfolgt offenbar zwei Straf­ zwecke. Die zeitweise Entfernung aus der Gemeinschaft verhindert, daß sie weiterhin andere Bürger mit ihren Ansichten infizieren und damit Übel (κακά 908c6) anrichten; hier wirkt sich also - im Widerspruch zu dem 862b formulierten Grundsatz - das gerechte Ethos des Atheisten nicht strafbefreiend aus, weil die Auswirkung auf die Gesellschaft zum Kriterium der strafrechtlichen Behandlung wird. Die Unterweisung durch die Mitglieder der Nächtlichen Versammlung dient hingegen der Befreiung von den atheistischen Überzeugungen und somit, da der Athe­ ismus eine Krankheit ist (888b8), gemäß der platonischen Strafkonzep­ tion der „Heilung“ der gerechten Atheisten. Unklar ist, was nach den fünf Jahren mit einem solchen Häftling ge­ schehen soll. Wenn seine Freilassung an die Bedingung geknüpft ist, daß er wieder zur Besinnung gelangt ist, impliziert dies, daß seine Haft bei Nichterfüllung dieser Bedingung verlängert wird. Die bei Rückfall zu verhängende Todesstrafe setzt dagegen offenbar die Situation voraus, daß er nach seiner Haftentlassung erneut andere zum Atheismus zu be­ kehren sucht. Die harte Strafe ist in Platons Augen durch die Unheilbar­ keit gerechtfertigt, die der Rückfall dokumentiert (sonstige Erwägungen bei Mayhew 200 f.). 2) Die heuchlerischen Atheisten werden bis zu ihrem Lebensende im Landesinnem eingekerkert. Ein Versuch der Umerziehung wird nicht un­ ternommen (offenbar gelten sie als unheilbar). Nach ihrem Tod wird ih­ nen ein Grab in der Heimaterde verweigert. Manche Interpreten sehen hierin einen Widerspruch zu 908e, wo es heißt, daß die Taten dieser Hä­ retiker nicht bloß einfachen oder zweifachen Tod verdienen. Doch gilt es zu bedenken, daß die vorgesehene Strafe nicht nur als sozialer Tod der Todesstrafe gleichkommt (weshalb die Kinder des Verurteilten als Wai­ sen gelten), sondern durch die näheren Umstände der Einkerkerung und

909d3—910e4

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die damit verbundenen Entehrungen während der Haft und nach dem Tod durchaus eine abschreckendere Wirkung als die Todesstrafe entfal­ ten kann. 909a8 Tieren ähnlich werden (θηριώδεις γένωνται): Der Mensch ist immer in Gefahr, auf tierisches Niveau zu sinken (vgl. 875al). Hier sind aber speziell die „tierischen“ (θηριώδεις 906b4) Seelen gemeint, die in der Art wilder Tiere die Wachhunde (= Götter) bestürmen und sie zu be­ stechen suchen.

909b2—3 die Seelen vieler Lebender verführen (ψυχαγωγώσι) und behaupten, sie könnten sogar die Seelen Verstorbener heraufführen (ψυχαγωγεΐν): Von den beiden Bedeutungen, in denen Platon hier das Verbum ψυχαγωγεΐν gebraucht, ist das nekromantische Heraufbe­ schwören Verstorbener die ursprünglichere (vgl. Aischylos, Pers. 687; Euripides, Alk. 1128). Als Bezeichnung für die Wirkung auf die Seele des Hörers verwendet es Platon selbst Phaidr. 271cl0 fiir die Wirkung der Rhetorik, Isokrates, Or. 2,49; 9,10 und Aristoteles, Poet. 6, 1450a33 fiir die Wirkung der Dichtung. Mit beiden Bedeutungen spielt auch Ari­ stophanes, Vögel 1555.

909b4—5 durch Opfer, Gebete und Beschwörungen (θυσίαις τε και εύχαϊς και έπωδαις): Vgl. die ähnlichen Zusammenstellungen reli­ giös-magischer Praktiken 908d4—5 und 933d7. 909c7 die für die Waisenkinder verantwortlichen Beamten: Diese wer­ den 926e eingesetzt. Die Fürsorge fiir die Kinder von Verurteilten ist vielleicht eine Neuerung Platons (Gemet 1951, p. CLXIV Anm. 3); vgl. auch das allgemeine Verbot einer Diskriminierung der Kinder von Straf­ tätern 855a, 856c-d. 909d3—910e4: Verbot von Privatkulten und von Opfern nach begange­ nem Unrecht Das ergänzende Gesetz, das Privatkulte verbietet, knüpft an die dritte Art von Häresie an, deren Anhänger die Götter durch Opfer beeinflussen und von ihrem Eintreten fiir das Recht abbringen wollen. Dem Gesetz geht eine Begründung voraus, die die Notwendigkeit die­ ses Gesetzes mit dem von ihm als Wirkung zu erwartenden allgemeinen Rückgang der religiösen Vergehen begründet (909d3-6). Das eigentliche Gesetz ist auf zwei Textabschnitte aufgeteilt. Im ersten (909d6-e2) folgt auf das Verbot privater Kulte das positive Gebot: Wer privat opfern will, soll dies in den öffentlichen Heiligtümern tun. Im zweiten Textblock (910b7—d4), der das Verbot zu Beginn wiederholt, werden Sanktionen für Zuwiderhandlungen aufgeführt, wobei aber das

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Verbot sich jetzt vor allem gegen die Opfer ungerechter Menschen richtet und zugleich auf den Vollzug solcher Opfer an öffentlichen Heiligtümer (910c8) ausgedehnt wird. Hierbei werden zwei Fälle unterschieden: Wer an einem privaten Altar opfert und eine geringfügige Ungerechtigkeit be­ gangen hat, muß seine Heiligtümer abliefem; bei Weigerung wird er in Erzwingungshaft genommen (910b8-c6). Wer aber einen großen Frevel begangen hat und in einem privaten Heiligtum oder in einem öffentlichen Heiligtum opfert, wird mit dem Tod bestraft (910c6—e4 nach Burnets Zählung; in anderen Ausgaben = 910c6-d4). Zwischen den beiden Gesetzesteilen werden zwei konkretere Gründe fiir das Verbot privater Heiligtümer und Kulte genannt. Der eine (909e2— 910a7) ist die Unsitte der sog. Votivreligion, d.h. die Gepflogenheit, bei Krankheiten oder in Notlagen oder auch infolge übernatürlicher Einge­ bungen (Träume, Visionen, göttlicher Auftrag) Heiligtümer oder Kulte zu geloben und damit spontan etwas zu tun, wozu ein Gesetzgeber seine ganze Überlegung (διάνοια 909e4) aufbieten muß. Schlimmer ist die Gefahr, daß Leute, die ein Verbrechen begangen haben, in diesen priva­ ten Heiligtümern die Götter gnädig zu stimmen suchen, weil dann die ganze Stadt fiir ihren Frevel mitbüßen muß (910a7-b7). Der Erlaß dieses Gesetzes ist vor dem Hintergrund zu sehen, daß in Magnesia die Religion nicht der Befriedigung religiöser Bedürfnisse des Individuums, sondern der Fundierung einer auf gleiche religiöse Über­ zeugungen gegründeten Gemeinschaft dient. Deshalb ist die Einrichtung von Kulten Sache des Gesetzgebers, weil nur dieser die hierfür nötige be­ sondere Einsicht besitzt. Durch die massenhafte Errichtung privater Hei­ ligtümer entgleitet das Religionswesen der staatlichen Kontrolle, was be­ sonders im Hinblick auf die Anhänger der dritten Häresie bedenklich ist, da die Stadt fiir deren Verhalten mitbüßt. Vgl. dazu Kötting 1985, 118— 120. Dabei gibt es in Magnesia durchaus Kultgemeinschaften unterhalb der Ebene der Gesamtgemeinde. Sowohl die Phylen als auch die Demen ha­ ben ihre eigenen religiösen Feste (77Id), die freilich in den Gesamtkult der Polis eingebettet sind (vgl. 828b ff.). Erwähnt werden aber auch pri­ vate Heiligtümer (717b, 885al) und ein Familienkult (878a-b). Morrow (1960a, 430 Anm. 114) deutet diesen Befund so, daß Platon in diesem Gesetz nicht jeden Privat- oder Familienkult verbietet, sondern nur den, der nicht dem Gesetz gemäß ist; insbesondere untersage das Gesetz die Umfunktionierung solcher familiären Kulte in eine Einrichtung zum Zwecke der Reinigung und Initiation unter Anleitung religiöser Betrüger. Zu bedenken ist auch, daß Platon mit den Familiengöttem mehrfach die toten Vorfahren bezeichnet, die an den privaten Heiligtümern (ιδρύματα ίδια 717b4-5) verehrt werden. Bezieht man die oben genannten Stellen

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auf den Kult dieser Familiengötter, so ist dieser Kult, sofern er „nach dem Gesetz“ geschieht (κατά νόμον οργιαζόμενα 717b5) als einziger Privatkult von dem vorliegenden Verbot nicht betroffen. Ein ,Monopol· fiir das Religionswesen beanspruchen auch die griechi­ schen Poleis dieser Zeit (vgl. Burkert 1977, 385). In Athen gab es ein ge­ setzliches Verbot der Einführung neuer oder fremder Götter neben den in der Stadt etablierten Gottheiten (die von Lipsius 364 und Anm. 29 bestrit­ tene Existenz eines solchen Gesetzes, auf das sich z.B. die Anklage ge­ gen Sokrates stützte, darf nach den Ausführungen von Derenne 1930, 224 ff. und Fischer 1967, 83-86 als bewiesen gelten). Offen muß aller­ dings bleiben, ob das Gesetz konsequent angewandt wurde, was z.B. von Gemet 1951 p. CXCVAnm. 1 und Barker 1960, 427 Anm. 2 bezwei­ felt wird. Falls Platon sich von diesem Gesetz anregen ließ, so hat er das Verbot in dem Sinne generalisiert, daß es nicht nur den privaten Kult neuer oder fremder, sondern jeglicher Götter betrifft (vgl. 910c8 θεοΐς οιστισινουν).

909d3 für alle diese Leute noch ein gemeinsames Gesetz: Mit „all die­ sen“ (έπι τούτοις d3) sind alle zur dritten Form der Asebie neigenden Bürger gemeint. Der Athener unterscheidet aber offensichtlich zwei Ty­ pen. Die größte Gruppe verhält sich gegenüber den Göttern lediglich „unkorrekt“ (πλημμελεΐν statt des sonst üblichen άσεβεΐν!) und „unver­ nünftig“ (909d5), weil sie einer falsch verstandenen Frömmigkeit („Vo­ tivreligion“) huldigt, ansonsten aber nichts Unrechtes getan hat. Diese Gruppe läßt sich im weitesten Sinne dem Typ des ,harmlosen6, aber un­ vernünftigen Häretikers (vgl. 908b5, e6) zuordnen. Ihr Verhalten, mit dem sie die Götter beeinflussen wollen, ist gewiß nicht von der Art, daß die Stadt dafür mitbüßen müßte, wie dies bei den ab 910a7ff. themati­ sierten Frevlem (άσεβουντων) der Fall ist, die etwas Ungerechtes (910b4) oder Unfrommes (910c7) begangen haben und dann die Götter zu bestechen suchen. 909e5 die Angewohnheit vornehmlich aller Frauen usw.: Frauen gel­ ten als leichtgläubiger und abergläubischer als Männer (Belege bei Do­ ver 1974, 99f.) So opfert z.B. Getas Herrin bei Menander, Dyskol. 410— 418 nach jedem schlimmen Traum dem Pan. Zu spezifischen Frauenkulten vgl. Nilsson 1954, 163 ff.; T. Long 1986, 21 ff. Literatur zur „Votivre­ ligion“ nennt Burkert 1991, 104 Anm. 2; zu Weihungen aufgrund eines Traums vgl. van Strafen 1976. 910b6 mitbüßt (άπολαύγι): Das in der Regel mit dem Genitiv einer Sache verbundene Verbum άπολαύειν „genießen, einen Vorteil (selte­ ner: einen Nachteil) von etwas haben“ bezeichnet Phaidr. 255d5 die phy­ sische Ansteckung durch Krankheiten und Resp. 395dl, 606b6, Isokra-

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tes, Or. 16,37 das Sich-Einhandeln eines Übels (vgl. Tarrant 1958, 97). Saunders 1972, Nr. 100 S. 103f. deutet daher die vorliegende Stelle so, daß die Stadt sich an den Religionsfrevlem ihrerseits mit der als Krank­ heit aufzufassenden Asebie ansteckt (so auch Mayhew 209). Aber der vorausgehende Verweis auf den „Vorwurf seitens der Götter“ (εγκλήμα­ τα προς θεών), den man sich durch Asebie einhandelt, legt es näher, das hier mit dem Genitiv einer Person verbundene άπολαύειν nicht auf die Asebie, sondern auf die göttliche Strafe für Asebie zu beziehen. Auch das Adverb δικαίως stützt die Annahme, daß das Übel, das sich die Stadt von den Frevlem einhandelt, die Strafe für Asebie ist, die durch das Attribut πάσα (b5 „die ganze Stadt“) deutlich als Kollektivstrafe charakterisiert wird. Der Gedanke (und sein sprachlicher Ausdruck), daß die Götter die ganze Stadt wegen des Frevels Einzelner strafen, ist viel­ leicht eine Reminiszenz von Hesiod, Erga 240 £: „Oft hat schon eine ganze Stadt für einen schlechten Mann mitgebüßt, der Unrecht tut und Frevel ins Werk setzt (πολλάκι και ξύμπασα πόλις κακού άνδρός άπηύρα, οστις άλιτραίνει και ατάσθαλα μηχανάαται); denn Zeus schickt ihnen vom Himmel schweres Unglück“ usw. (weitere Belege für diese Vorstellung bei West 1978 z. St.). 910c3—4 soll derjenige, der es bemerkt, ihn auch den Gesetzeswäch­ tern melden (είσαγγελλέτω) : Morrows Identifikation der Anzeige mit dem attischen Verfahren der εισαγγελία (1960a, 488 Anm. 269) wird bezweifelt von Saunders 1991a, 314 Anm. 84. 910c6—dl Wenn sich aber herausstellt, daß einer usw.: Die meisten Ausleger (darunter Saunders 1991a, 314, Mayhew) verstehen den Text so, daß die Partizipien είτε εν ίδίοις ίδρυσάμενος εϊτ εν δημοσίοις θύσας (c8) das vorausgehende άσεβήσας ... άνδρών άσέβημα ανο­ σιών (c7) erläutern. Die Freveltat, „wie sie ruchlose Männer begehen“, bestünde dann darin, daß sie ein privates Heiligtum errichten. Mir scheint es richtiger, γένηται φανερός (c7) wegen der Parallelität zu b8—c3 (vgl. φανέντα cl) mit dem Partizip θύσας (c8) zu verbinden und das von Burnet und Diès hinter φανερός gesetzte Komma zu tilgen. Der Unter­ schied zwischen dem in b8—c3 besprochenen Fall besteht dann nicht im Opfern als solchem, sondern in der kultischen Reinheit des Opfernden, die von der Schwere des vor dem Opfer begangenen Vergehens abhängt (so übersetzen sinngemäß auch Rufener und Lisi); die Schwere dieses Vergehens haben die Gesetzeswächter zu beurteilen (vgl. die analoge Be­ stimmung 867e). Unklar ist allerdings, von welcher Art die vor dem Op­ fer begangenen Vergehen sind, die als άδικον μηδέν των μεγάλων και ανοσιών (c2—3) und άνδρών άσέβημα άνοσίων (c7) bezeichnet wer­ den. Es kann sowohl ein genuin religiöses Vergehen gemeint sein (das

9 Bal-915d6

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z.B. 910b4 und Apol. 19b4, 27a5 als αδικία / άδικεΐν bezeichnet wird) als auch eine schwere Straftat wie Tempelraub, Umsturz und Verrat, Ver­ wandtenmord oder Tätlichkeiten gegen die Eltern (die 854c7, 872d7, 881a8 als ανόσια bezeichnet werden).

Elftes Buch

8.-10. 913al—932d8: Gesetzeför die zivilrechtlichen Beziehungen (συμβόλαια)

Den juristischen Terminus συμβόλαια (913al) beschränkt Platon nicht auf den Darlehensvertrag, sondern subsumiert darunter auch das allgemeine Vertragsrecht und (wie das attische Recht) auch Testaments­ und Vormundschaftssachen (vgl. Lipsius 568 und 683 und Cataldi 1981). Die Gesetze über die συμβόλαια reichen also bis 932d8.

8. 913al—915d6: Eigentumsrecht 8.1. 913al—914b 1: Aneignung von vergrabenen Schätzen

Die schon 884a2^4 (s. dort) im Rahmen des Strafrechts vorgetragene Maxime wird jetzt in 913a3-5 als Norm der zivilrechtlichen Ausgestal­ tung des Eigentumsrechts vorangestellt. Das erste Gesetz betrifft den Fund von kostbaren Wertsachen (913a8, d3), die einer fiir sich oder seine Nachkommen vergraben hat. Die Vorre­ de (913a8—d3) verbietet nicht nur die Aneignung des Fundes, sondern schon den Wunsch nach einem solchen Fund (a8-b3). Dem Verbot folgt eine moralische Begründung, die mit der Zunahme an Tugend und Ge­ rechtigkeit bei Nicht-Aneignung argumentiert (b3-8), und eine religiöse Begründung mit dem sakralen Verbot des Verrückens von Unverrückba­ rem (b8—cl) und mit den negativen Folgen fiir die Nachkommen des Übertreters (cl-3). Zu diesen Folgen, die als Strafe der Götter (913d4) aufzufassen sind, tritt als profane Rechtsfolge die menschliche Strafe, deren inhaltliche Festlegung jedoch (ebenso wie das Schicksal des Schatzes) dem delphi­ schen Orakel überlassen wird. Dem Gesetzgeber verbleibt somit nur die Ausgestaltung der Anzeigepflicht durch die Festlegung von Belohnun­ gen fiir die Anzeige und Strafen fiir das Unterlassen der Anzeige (913d4—914a2. 914a5-bl). Die Einschaltung des Orakels ist Indiz dafür, daß die Aneignung eines Schatzes als sakrales Delikt betrachtet wird.

460

Kommentar

Denn der vergrabene Schatz steht ebenso wie die anschließend behandel­ te Fundsache (914b4-5) unter göttlichem Schutz. Eine Wegnahme ist da­ her kein einfacher Diebstahl (weshalb in beiden Fällen das Wort κλέπτειν gemieden wird), sondern ein unzulässiges Verrücken des Unver­ rückbaren. Wie die Aneignung von Schätzen in Athen rechtlich behandelt wurde, ist nicht bekannt. Vielleicht fiel sie wie die Aneignung von Fundsachen unter das Diebstahlgesetz (Harrison 1968, 245).

913b3—8 Denn niemals hätte ich für meinen Besitz an Geld einen so großen Zugewinn usw. Die der in Magnesia gültigen Wertehierarchie (vgl. 743d-e) entsprechende Entscheidung fiir das axiologisch Bessere (seelische statt äußere Güter) wird dem geldgierigen Schatzgräber in ei­ nem quantitativen Kalkül schmackhaft gemacht, der ihm bei Verzicht auf den Schatz den größeren ,Profit4 verheißt.

913b9 daß man das Unverrückbare nicht verrücken soll: Zum religiö­ sen Ursprung dieser auch 736dl, 843al, Theait. 181a8 zitierten Verbots­ formel vgl. die Anm. zu 684el (Bd. I 394). 913c2—3 den Sagen glauben, ... daß so etwas für die Nachkommen­ schaft keinen Segen bringt: Zur Berufung auf Volksglauben und Sagen vgl. zu 865d5-e6. Die Auffassung, daß die göttliche Strafe fiir Vergehen der Väter oft erst deren Kinder trifft, bezeugen z.B. Homer, II. 4,160162; Hesiod, Erga 230-235, 282-285, 321-326; Theognis 197-208; So­ lon Fr. 13,25 ff. West; Belege aus den Rednern bietet Dover 1974, 260 ff. 913c7 der gesagt hat: „ Was du nicht hingelegt hast, das nimm auch nicht weg! “: Wegen des Tempus kann sich ος ειπεν nur auf den Gesetz­ geber, nicht auf das Gesetz beziehen. Urheber dieser von Diogenes Laert. 1,57 dem Solon zugeschriebenen Gesetzesvorschrift, die wohl auch Pla­ ton fiir solonisch hält, ist wahrscheinlich nicht Solon, sondern der Ge­ setzgeber Charondas (vgl. S.228 zu 844e5-845al).

913dl diese beiden Gesetzgeber: Nämlich den Urheber der gerade zi­ tierten Gesetzesvorschrift (,Solon4) und den Urheber des 913b9 zitierten Spruches (Brisson - Pradeau II 355 Anm. 5 verstehen darunter Solon und den das Gespräch führenden Athener). 914a7—8 die seinem Herrn den Kaufpreis zu erstatten hat'. Ich folge dem in A und O überlieferten Text (άποδιδούσης), den auch die analo­ ge Regelung 932d bestätigt. Wenn nach dem Text von Diès (άποδιδους) der Sklave den Preis zu erstatten hätte, würde dies einen armen Sklaven von einer Anzeige eher abhalten (vgl. Saunders 1972, 101 S. 104).

914bl—c3

461

8.2. 914bl—c3: Fundsachen

Das Gesetz behandelt nur den Fund von fremdem Eigentum, nicht die Aneignung herrenloser Sachen, die vielleicht in 744e6 mit „durch Fund“ (ευρών) gemeint ist (so Kränzlein 1963, 105; anders Klingenberg 1990, 102f., der den Widerspruch zu 914blff. in Kauf nimmt). Obwohl das vorliegende Gesetz ausdrücklich für Kleines und für Großes gelten soll (b2), wird nur der Fund einer Sache von geringem Wert (b7) behandelt. Der Grund dafür dürfte sein, daß man gewöhnlich nur kleinere Gegen­ stände unabsichtlich verliert und größere Wertsachen nicht ungesichert irgendwo liegen läßt. Die Mitnahme von Fundsachen größeren Wertes fallt vermutlich unter das Gesetz über den Diebstahl (93 3e). Rechtsfolgen, die einen Freien bei Mitnahme des Gefundenen treffen, sind neben einer Ehrenstrafe (schlechter Ruf) die Zahlung des zehnfa­ chen Wertes der Fundsache und - auch wenn hier nicht erwähnt - die Ablieferung der Fundsache an den Verlierer. Durch die ungewöhnliche Höhe der Strafsumme wird die Mitnahme von Fundsachen (die unter göttlichem Schutz stehen) als ein Sakraldelikt vom Diebstahl privater Güter abgehoben, der in Athen bei Rückgabe des Gestohlenen nur mit der doppelten Strafsumme geahndet wurde (vgl. Demosthenes, Or. 24,105. 114); aus demselben Grunde ist hier wie beim vorigen Gesetz je­ de auf Diebstahl verweisende Terminologie gemieden (vgl. Cohen 1983, 124 ff.). Den Fall, daß der Eigentümer nicht zu ermitteln ist, berücksichtigt Pla­ ton nicht, vielleicht weil in Magnesia alle Vermögenstücke registriert werden (745a), so daß der Besitzer zumindest von größeren Stücken in der Regel identifiziert werden kann (vgl. die Bestimmungen 914c—d bei strittigem Besitz). War aber der Eigentümer (namentlich bei kleineren Gegenständen) auf diesem Wege nicht zu ermitteln, durfte der Finder die Sache vermutlich behalten (vgl. Kränzlein 108 und Klingenberg a.a.O. 109). 914b4—5 die Göttin der Wege usw.: Gemeint ist Hekate als Göttin der Dreiwege, für die dort Opfer niedergelegt wurden; unter ihren Schutz stellt das Gesetz Magnesias auch verlorene Gegenstände. 914b7—cl von jedem ... viele Hiebe erhalten: Das Verbum μαστιγούσθω verweist gewöhnlich auf (die nur für Sklaven vorgesehe­ nen) Hiebe mit der Peitsche; vgl. aber die Anm. zu 855a7-c6 (S. 266 f.).

8.3. 914c3—e2: Strittiger Besitz

Wer ein fremdes bewegliches Besitzstück als sein Eigentum bean­ sprucht, soll den Besitzer auffordem, die Sache der Behörde, d. h. wohl

462

Kommentar

den Gesetzeswächtem, die das Vermögensregister verwalten (754a), vor­ zulegen. Die Vokabeln εμφανούς (c8) und καθιστάτω (c7) lassen ver­ muten, daß ihm hierzu ein Zwangsmittel zu Gebote steht, das der in Athen beim eponymen Archonten einzureichenden δίκη εις εμφανών κατάστασιν entspricht (vgl. Aristoteles, Ath. pol. 56,6; dazu Gemet 1951, p. CLXXI ff., Harrison 1968, 207-210, Thür 2003b, 92). Ist die strittige Sache im Register eingetragen, läßt sich ihr Eigentümer problemlos ermitteln. Ist es einer der beiden Streitenden, darf dieser die Sache mit nach Hause nehmen. Ist keiner der beiden, sondern eine dritte Person als Eigentümer eingetragen, soll einer der beiden das Streitobjekt diesem Dritten überbringen. Dafür, daß der Dritte das Objekt auch wirk­ lich erhält, hat er einen zuverlässigen Bürgen zu stellen. Ist die strittige Sache nicht im Register eingetragen, haben die Beam­ ten den Streitfall durch einen Urteilsspruch zu entscheiden; bis dahin bleibt die Sache im Gewahrsam der Beamten. Im Verbum διαδικάζειν (el) sehen die meisten Ausleger einen Hinweis auf ein Verfahren analog zur attischen διαδικασία, bei der die Sache der Partei als Eigentum zu­ gesprochen wird, die hierfür den triftigeren Rechtsgrund vorbrachte (Gemet a.a.O.; Moneti 2001, 108 Anm. 30; Maffi 2005, 265); eine Ge­ genposition vertritt Thür 2007, 78 ff., nach dessen Ansicht in Griechen­ land über das Eigentum nicht in einer διαδικασία, sondern in einem De­ liktsprozeß (z.B. δίκη βίαιων oder βλάβης) gestritten wurde. Die Fri­ sten zur Geltendmachung von Besitzansprüchen werden erst in 954c3—e3 festgelegt. 914d7 die in Verwahrung gegebene Sache (τό μεσεγγοωθεν): Das griechische Verb bezeichnet das Hinterlegen der Sache bei einer Person, die, in der Mitte zwischen den Parteien (μεσ-) stehend, für die Sicherheit und Herausgabe des Hinterlegten eine Garantiererklärung (έγγύη) ab­ gibt (Partsch 1909, 336f.). 8.4. 914e3—915a2: Eigentumsansprüche aufSklaven

Die Termini αγειν (914e3 „abführen, wegführen“) und άφαιρείσθαι εις ελευθερίαν (e6 „wegnehmen in die Freiheit“) begegnen auch im at­ tischen Recht für bestimmte Verfahren zur Sicherung von Eigentumsan­ sprüchen (vgl. Lipsius 639f£, Paoli 1976, 435ff., Kränzlein 1963, 159£, Harrison 1968, 221, Thür 2007, 79£, Maffi 2005, 263£). Das platoni­ sche Gesetz hat aber demgegenüber einen wesentlich begrenzteren An­ wendungsbereich (erkannt von Kränzlein 165). Wie aus τον έαυτου δουλον (914e3) und τον άφεστώτα (e5) zu schließen ist, geht es um das Geltendmachen des Eigentumsrechtes an dem eigenen Sklaven, der sich dem Herrschaftsbereich seines Herren

914e3—915a2

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entzogen hat (dieser ,herrenlose6 Zustand verbindet diesen Fall mit den vorausgehenden Fällen der Aneignung scheinbar herrenloser Sachen). Hat sich der flüchtige Sklave zu einem andern Herrn geflüchtet, der ihn in Besitz genommen hat, ergibt sich der Standardfall des attischen Rechts: dem Inhaber einer Sache wird durch einen anderen das Besitz­ recht streitig gemacht. Die Geltendmachung des Eigentumsrechtes (Vindikation) geschieht durch „Abführen“, wozu sowohl der Herr des Sklaven berechtigt ist als auch ein Verwandter oder Freund des Herrn (die den Sklaven in Gewahr­ sam zu halten haben, bis der Herr ihn übernimmt). Wer als Sklave abge­ führt wird, kann wie im attischen Recht vor der Abführung nur durch ei­ nen Dritten bewahrt werden, der ihn mit der Behauptung, der Sklave sei ein Freier, dem Vindikanten wegnimmt (dies ist die sog. άφαίρεσις εις ελευθερίαν). Der den Sklaven als Eigentum Beanspruchende muß ihn daraufhin loslassen (e7), hat aber Anspruch auf Stellung von drei Bürgen durch den Wegnehmenden (den άφαιρούμενος), der damit dem Vindi­ kanten im Falle eines Sieges vor Gericht die Erfüllung des Urteils (also die Herausgabe des Sklaven) garantierte (hierin weicht Platon nach Partsch 1909, 295 Anm. 5 von Athen ab, wo nicht der Wegnehmende, sondern der Weggenommene [άφαιρεθείς] die Bürgen stellen mußte [Lysias, Or. 23,12]). Nur unter dieser Bedingung (κατά ταυτα e8) ist die άφαίρεσις zulässig; im andern Fall macht sich der Schützende der gewaltsamen Beraubung (βίαιων e9 wie 934c4) schuldig und ist zu einer Buße in doppelter Höhe des Schadens zu verurteilen. In Athen konnte der durch άφαίρεσις seines Sklaven beraubte Besit­ zer gegen den Wegnehmenden mittels einer δίκη άφαιρέσεως (Lipsius 639) oder — bei gewaltsamem Eigentumsentzug — mittels einer δίκη βίαιων vorgehen, die bei Verurteilung zu einem doppelten Schadenser­ satz führte, der jeweils zur Hälfte an den Staat und an den Geschädigten ging (Lipsius 638). Die erste Klagemöglichkeit erwähnt Platon nicht, setzt sie aber offenbar im Fall formal korrekter άφαίρεσις stillschwei­ gend voraus (denn die Stellung von Bürgen geschieht im Hinblick auf ei­ ne gerichtliche Klärung). Auf die zweite Klagemöglichkeit nimmt βίαιων (e9—a2) deutlich Bezug. Nach dem Text ist sie nur anzuwenden bei vorschriftswidriger άφαίρεσις; bei enger Auslegung von παρά ταυτα („entgegen diesen Bestimmungen“ e9) würde schon die Verwei­ gerung der Stellung von Bürgen das Tatbestandsmerkmal der Gewalt er­ füllen. 915al—2 des in der Klageschrift angegebenen (έπιγραφέντος) Scha­ dens: έπιγράφειν bezeichnet im juristischen Sprachgebrauch Athens die „Hinzuschreibung“ des beantragten Strafmaßes in die Klageschrift

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(vgl. Lipsius 252; abwegig daher England z. St.). Nur hier und 954a8—b3 überläßt Platon die Abschätzung des Schadens wie in Athen dem Kläger (vgl. dazu Piérart 1974, 402-404). 8.5. 915a2—c7: Festnahme von Freigelassenen bei Pflichtverletzung

Da das „Abfuhren“ ein Weg zur Eigentumssicherung ist, kommt als Subjekt zu άγέτω (a2) nur der ehemalige Herr (= der Freilasser) des Freigelassenen in Betracht (so auch Brisson — Pradeau), der damit die Freilassung rückgängig macht. Das diese Maßnahme auslösende Fehl­ verhalten des Freigelassenen ist Anlaß für einen längeren Exkurs über die Pflichten und die Stellung der Freigelassenen. Er enthält Vorschriften zu vier Bereichen: 1 ) Dienstbarkeit (915 a4—8) : a) Dreimaliges Erscheinen pro Monat beim Freilasser, um ihm seine Dienste anzubieten; b) Eheschließung nur mit Zustimmung des früheren Herrn. 2) Vermögensbegrenzung (915a8-bl): Der Freigelassene darf nicht reicher werden als der Freilasser. 3 ) Aufenthaltsdauer (915b 1 -c4) : a) Maximal 20 Jahre. Verlängerung nur mit Zustimmung der Beamten und des Freilassers. b) Übersteigt das Vermögen des Freigelassenen den Satz der dritten Vermögensklasse, hat er innerhalb von 30 Tagen die Stadt zu ver­ lassen. Auf Zuwiderhandeln steht die Todesstrafe und die Konfis­ zierung seines Vermögens. 4) Gerichtsinstanzen (915c4-7) sind die Schiedsleute, in höherer In­ stanz die Phylengerichte. Die Bestimmung la) ist nur zu erfüllen, wenn der Freigelassene in der Nähe des Freilassers ansässig bleibt. Seine Situation nähert sich damit der des (halbfreien) Paramonars der hellenistischen Zeit, der nach dem Zeugnis der delphischen Freilassungsinschriften im Hause des Freilas­ sers bleiben und alles ihm Aufgetragene nach besten Kräften erfüllen mußte (GDI 1752; 2065; dazu Rädle 1972, 308). Die Bestimmung 1b) kann vermögensrechtliche Auswirkungen haben. Eine Verweigerung der Zustimmung zur Heirat hat zur Folge, daß der Freigelassene ohne gesetzliche Erben bleibt; in diesem Fall würde nach attischem Recht (vgl. Lipsius 560) der Freilasser Erbe des Freigelassenen (Rädle 308). Die Bestimmung 2) impliziert, daß der Freigelassene gegebenenfalls wirtschaftliche Mißerfolge seines früheren Herrn aus seinem Vermögen ausgleichen muß (Rädle 309).

915c7—d6

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Die Bestimmungen unter 3) stellen die Freigelassenen praktisch den Metöken gleich, deren Aufenthaltsdauer in 850b—c geregelt wird. Um ei­ ne Verlängerung der 20jährigen Aufenthaltsdauer zu erreichen (3 a), muß der Freigelassene frühere Verdienste um die Stadt vorweisen (850b—c) oder darlegen, daß sein Verbleib in der Stadt im allgemeinen Interesse liege; hierbei fungierte wohl der Freilasser als Zeuge. Die Bestimmung 3b) verpflichtet den Freigelassenen, seinen Vermögensstand praktisch täglich zu prüfen und gegebenenfalls unaufgefordert die Stadt zu verlas­ sen (vgl. Rädle 311). Die in 4) angegebenen Gerichte sind wohl nur zuständig fiir die Kla­ gen des Freilassers wegen Vernachlässigung der Dienstbarkeit, die gera­ de die Nachbarn am besten beurteilen konnten. In Athen konnte nach Auskunft der Lexikographen (Pollux 3,83; Harpokration s. v. άποστασίου) der Freilasser den Freigelassenen mit einer δίκη άποστασίου verklagen, falls er sich einen anderen Fürsprecher (προστάτης; vgl. zu 850a6—d2) wählte oder den in den FreigelassenenGesetzen festgelegten Verpflichtungen nicht nachkam (Lipsius 621 f., Harrison 1968, 182). Über die Art dieser Verpflichtungen ist allerdings nichts Näheres bekannt. Schlüsse von Platons Vorschriften auf Athen sind unzulässig, da zumindest in zwei zentralen Punkten Diskrepanzen gegenüber Athen bestehen: in Magnesia braucht der Freigelassene weder seinen ehemaligen Herrn zum Fürsprecher zu wählen noch die 12 Drach­ men Metökensteuer und die (nach Harpokration s. v. μετοίκιον) zusätz­ lich vom Freigelassenen erhobene Abgabe von drei Obolen zu entrich­ ten. Zur Freilassung vgl. Weiler 2003.

8. 6. 915c7—d6: Ansprüche Dritter aufrechtmäßig erworbene Sachen

Dieses Gesetz, das erst vor dem Hintergrund des positiven Rechts der Zeit voll verständlich wird, regelt den Fall der sog. Eviktion, die nament­ lich bei Kaufgeschäften vorkommt: Einem Käufer, der eine Sache von ei­ nem Verkäufer rechtmäßig erworben hat, wird diese Sache durch einen Dritten kraft besseren Rechts streitig gemacht und im Erfolgsfall entzo­ gen („evinziert“). Platon (der neben dem Verkäufer noch zwei weitere Personen nennt, von denen der Besitzer die Sache rechtmäßig erhalten haben kann) schreibt in Übereinstimmung mit dem attischen Recht vor, daß der Besit­ zer die Sache zu dem Verkäufer bzw. den andern Vorbesitzem zurück­ bringen und den Dritten mit seinen Ansprüchen an diese verweisen soll. Da der Dritte seine Ansprüche notfalls gerichtlich durchsetzen wird, muß die vorbesitzende Person zahlungsfähig und gerichtlich von dem Dritten

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zu belangen sein. Außerdem gibt Platon Fristen an, innerhalb deren der Besitzer der Sache diese zum Vorbesitzer zurückbringen soll. Der Käufer hat seinerseits gegenüber dem Verkäufer Anspruch darauf, daß dieser ihm beim Kauf die Gewähr gibt, daß eventuelle Eviktionsan­ sprüche nicht an den Käufer, sondern an den Verkäufer zu richten seien (Eviktionsgarantie). Manche Ausleger und Übersetzer übersetzen daher κρατήρα (915dl) als „Gewährsmann“ („warrantor“ Saunders). Zwar kann κρατήρ in der Tat den Eviktionsgaranten bezeichnen; doch dürfte hier noch gemäß der ursprünglichen Bedeutung tatsächlich der Verkäufer gemeint sein (vgl. Partsch 1909, 349 Anm. 1, Pringsheim 1950, 432 f.), der (gemäß 954a 1^4) faktisch als Eviktionsgarant fungierte (das griechi­ sche Recht kennt auch die Bestellung besonderer Eviktionsgaranten, βεβαιωτήρες, vgl. Lipsius 747). Wie zu verfahren ist, wenn der Vorbesitzer nicht zahlungsfähig und verklagbar ist, hat Platon nicht ausgeführt. Das gemeingriechische Recht kannte auch Regelungen für den Fall, daß der Verkäufer die Eviktionsge­ währ nicht übernehmen konnte oder wollte (vgl. Lipsius 746). Vgl. zum ganzen Komplex Partsch 1909, 342 f. 348-9 Anm. 354 f.; Lipsius 744749; Pringsheim 1950, 431-6. 441. 466; Finley 1952, 228 Anm.33; 232 Anm. 50; 270 Anm. 46; Harrison 1968, 210 f.; Jakab 1997, 94 f. 915c8 beansprucht (έφάπτητοα): Als Subjekt ist τις aus c2 zu ergän­ zen. Das Verbum bezeichnet wörtlich das Anfassen oder Ergreifen der strittigen Sache durch den Dritten, der damit seinen Anspruch geltend machte (vgl. Thür 2003b, 92).

915c8~dl sonst irgend etwas von seinen Sachen (των αύτου χρημάτων): Die Überlieferung läßt sich mit folgender Interpretation verteidigen: ώς αύτου (c7) besagt, daß der Dritte das Tier fiir sein Ei­ gentum hält; των αυτού χρημάτων (ohne ώς!) besagt, daß die Sachen unbestreitbar Eigentum des Dritten sind. Ein ganz analoger Fall liegt in τον εαυτού δούλον (914e3) vor. Saunders 1972, Nr. 102 liest mit Eng­ land u. a. των αύτού χρημάτων (c9 f.) und bezieht das Pronomen αυ­ τού auf den Besitzer der Sache, der auch mit ότουούν gemeint sei. Zu übersetzen wäre dann: „Wenn jemand ein Tier wessen auch immer als ihm gehörend beansprucht oder sonst etwas aus dessen Besitz“. Proble­ matisch ist hierbei aber die Stellung des nichtreflexiven Pronomens zwi­ schen Artikel und Substantiv (vgl. Kühner - Gerth 1619 f.). 915dl dies ... zurückbringen (άναγέτω): Als Objekt kommt nur die strittige Sache in Betracht; άνάγειν bezeichnete ursprünglich wohl das „Hinfuhren“ eines strittigen Tieres, dann auch das „Hinführen“ (oder auch nur Verweisen) des Dritten zum Vorbesitzer (vgl. Harpokration s. v. άνάγειν).

915d6—922a5

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915dl—3 zum Verkäufer (πρατηρα) zurückbringen oder zu dem, der ... gegeben hat (τάν δόντα) ... oder zu dem, der ... übergeben hat (παραδόντα): Pringsheim 1950, 433 versteht unter τον δόντα den Schen­ ker (für den allerdings eine Eviktionshaftung im positiven Recht nicht si­ cher belegt sei) und unter παραδόντα sonstige Formen der Übertra­ gung. Die Bedingung, daß dieser zahlungsfähig und verklagbar (α­ ξιόχρεων τε και ένδικον) ist, gilt nach Pringsheim 435 fiir jede der drei übertragenden Personen. 915d4—6 innerhalb der fünf Monate, deren mittlerer der Monat ist, in dem sich die Sommersonne der Winterseite zuwendet. Etwa von Mai bis September. Dies ist die Zeit, in der Fremde des Handels wegen nach Magnesia kommen (952d-e), so daß Rechtsgeschäfte zwischen Fremden und Einheimischen nur in dieser Zeit entstehen und abgewickelt werden konnten. Diese Zeitspanne entspricht ungefähr der von Demosthenes Or. 33,23 fiir die Handelsklagen angegebenen Frist vom Monat Munichion bis Boedromion (so aufgrund der Konjektur von Paoli 1976, 541-543, der die überlieferte Reihenfolge der Monatsnamen umkehrt; zur Rezep­ tion bzw. Ablehnung der Konjektur vgl. Todd 1993, 335).

9. 915d6—922a5: Handels- und Gewerberecht 9.1. 915d6—e9: Rechtsschutz genießt nur der Barkauf, nicht Kreditkauf und Darlehen.

Der Kauf ist für Platon eine Unterart des Tausches, deren Besonderheit darin besteht, daß eines der Tauschgüter in Geld besteht. Inhaltlich wie­ derholt das Gesetz die Vorschrift von 849d-e: der Kauf soll nur an den dafür vorgesehenen Plätzen und in der Form des Barkaufs stattfinden. Bei Aufschub der Bezahlung oder der Warenlieferung soll es für den Ver­ käufer bzw. den Käufer keine Möglichkeit einer gerichtlichen Klage ge­ ben; in diesem Fall handeln beide Kaufpartner „auf eigenes Risiko“ (επί τω αύτου κινδύνω Rep. 556al0-b4). Dieses Risiko ist beim Markt­ kauf, bei dem die beiden Kaufpartner gewöhnlich nicht miteinander be­ freundet sind, größer als bei den in 915e6-9 behandelten Unterstützungsgeldem (Eranos-Darlehen), zumal wenn einer der Kaufpartner ein Frem­ der ist, der sich nur begrenzte Zeit in Magnesia aufhält. Daher wird als reguläre Kaufform der Barkauf vorgeschrieben. Die Verweigerung des Rechtschutzes bei dem zwischen Freunden übli­ chen (zinslosen) Eranos-Darlehen (s.u.) hat andere Gründe. Platon hält rechtliche Sanktionen bei Darlehen zwischen Freunden fiir unangemes­ sen, weil dadurch der Geschenkcharakter des Darlehens verloren geht

468

Kommentar

(zu sonstigen Darlehen und zum Zinsverbot vgl. 742c4-6, 921c7, dazu S.215). Für seine Vorschriften hatte Platon nach Theophrast Fr. 650, Z. 57—59 Fortenbaugh (= Theophrasts Nomoi Fr. 21.7 Szegedy-Maszak) einen Vorgänger in Charondas von Katane; nach Aristoteles Nik. Eth. 8,15. 1162b29-31 und 9,1.1164b 12-15 gab es ähnliche Gesetze in griechi­ schen Stadtstaaten. Die Frage, wie sich die Vorschriften Platons zum atti­ schen oder gemeingriechischen Recht verhalten, wird in der Forschung unterschiedlich beantwortet. Hingewiesen sei hier nur auf die gegensätz­ lichen Positionen von Pringsheim und Millett. Nach Pringsheim 1950, 130f. vertritt Platon konsequent die alte griechische Konzeption des Bar­ kaufs, wonach das Eigentum erst mit der Bezahlung des Kaufpreises übertragen wird, und wendet sich daher gegen die in seiner Zeit verbrei­ tete griechische Praxis, daß ein den Kaufpreis kreditierender Verkäufer sich durch einen fiktiven Vertrag über ein (verzinsliches) Darlehen in Höhe des Kaufpreises absicherte, dessen Einhaltung einklagbar war. Vgl. auch Klingenberg 1982, 102 ff., Barta 2008, 864 Anm. 14. Für Millett 1990, 186f. vertritt Platon mit der Verweigerung des Rechtsschutzes beim Kreditkauf gerade die Auffassung, daß das Eigen­ tum oder wenigstens der ungestörte Besitz einer Sache auch ohne Bezah­ lung des Kaufpreises übertragen werden kann; diese Deutung bestätige Theophrast Fr. 650 Fortenbaugh. Außerdem habe das attische Recht, freilich selten, auch den Kreditkauf gekannt. Da aber bei Geschäften auf bloßer Vertrauensbasis zwischen Nicht-Freunden Betrug möglich ist, verringere Platon die Gelegenheit dazu, indem er auf sofortigem Tausch von Ware und Geld besteht. Zu weiteren Einwänden gegen Pringsheims Rekonstruktion eines gemeingriechischen Kaufrechts vgl. Todd 1993, 255 ff. Beide Auffassungen gestatten den Schluß, daß sich Platons Vor­ schriften gegen eine Praxis seiner Zeit wenden, sei es gegen den Brauch des fiktiven Darlehensvertrags (so Pringsheim) oder gegen den Kredit­ kauf (so Millett). 915e6 Was die Unterstützungsgelder betrifft (εράνων δε περί.) usw.: έρανος (ursprünglich ein Beitrag zu einer gemeinsamen Mahlzeit) be­ zeichnet hier wie seit dem 5. Jh. in Athen ein von mehreren Personen aufgebrachtes zinsloses Darlehen an einen Freund, der in finanziellen Schwierigkeiten war (z.B. weil er eine Geldstrafe zu zahlen hatte; vgl. 855b6-7). In der Regel hatte der Bedürftige die Gelder selber einzusam­ meln. In Athen konnten die Darlehensgeber die Rückzahlung gerichtlich einklagen.

915e9—916dl

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9.2. 915e9—916dl : Rückgängigmachung des Kaufs wegen Sachmängel

Der Rücktritt von einem Kauf wegen Sachmängel geschieht durch Rückgabe (αναγωγή) des Kaufobjekts an den Verkäufer. Diese im grie­ chischen Recht ursprünglich dem Schutz vor Eviktion dienende Maßnah­ me wird auch bei verdeckten Sachmängeln angewandt (vgl. Harrison 1968, 212 Anm. 2 von S.211). Die Alternative einer Reduzierung des Kaufpreises ist in Athen ebensowenig wie in Magnesia vorgesehen; die Minderungsklage (actio quanti minoris) kennt erst das römische Recht (vgl. Kohler - Ziebarth 1912, 122). Platon regelt aber nur die Rechtsfolgen von Sachmängeln beim Sklavenkauf. Diese waren auch im positiven Recht am ausführlichsten gere­ gelt (Pringsheim 1950, 472 ff.), weil beim Verkauf von Sklaven (der viel­ fach von Fremden betrieben wurde) die Gefahr verborgener, nicht sofort erkennbarer Mängel (Krankheiten) besonders groß war. Platons Bestimmungen sehen folgendes vor: Ein Rückgaberecht be­ steht nicht, wenn der Mangel — Krankheit oder Blutschuld des Sklaven für den Käufer aufgrund besonderer Sachkenntnis (als Arzt oder Gym­ nastiklehrer) erkennbar oder ihm durch entsprechende Information des Verkäufers bekannt gewesen ist. Eine Rückgabe ist innerhalb bestimmter Fristen statthaft, wenn der Käufer den Sklaven in Unkenntnis des Man­ gels gekauft hat. Über die Zulässigkeit der Rückgabe entscheidet bei Krankheiten des Sklaven ein ärztliches Kollegium, bei Blutschuld die fünf jüngsten Gesetzeswächter. Bei Schuldspruch muß der Verkäufer dem Käufer den einfachen Kaufpreis oder, wenn er den Mangel erkennen konnte oder davon wußte, das Doppelte oder Dreifache des Preises erset­ zen. Die zum Kaufpreis hinzukommende Summe hat Strafcharakter, da beim wissenden Verkäufer offenbar betrügerische Absicht (dolus) anzu­ nehmen ist (vgl. Lipsius 745; Jakab 1997, 68); zur dreifachen Kaufsum­ me kommen noch die Kosten für die (wie 845e) nach Weisung der Aus­ leger (759d) zu vollziehende kultische Reinigung des Hauses, in dem der Mörder gewohnt hat. Gesetze über den Rücktritt vom Kauf gab es in Athen und außerhalb Athens. Hypereides, Or. 5,15 (Jensen) zitiert ein Gesetz, wonach der Verkäufer eines Sklaven vorher sagen muß, ob dieser eine Krankheit hat; andernfalls ist Rückgabe zulässig; vgl. ferner Hesych s. v. αναγωγή, Bekker, Anecdota Gr. I 207,23 und 214,9-21. Ein entsprechendes Ge­ setz aus Abdera (Feyel 181 ; um 350 v. Chr.) nennt je nach Art der Krank­ heit verschiedene Klagefristen (für Athen sind solche Regelungen nicht bekannt). Einzelheiten des platonischen Gesetzes (Hervorhebung des Fachwissens, Ärzte als richtendes Kollegium) dürften allerdings Erfin-

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Kommentar

düngen Platons sein. Vgl. Gemet 1951, p. CLXXXII f., Furkiotis 1955, Jakab 1997, 86-93. 916a5—6 an der sogenannten heiligen Krankheit: D. i. an Epilepsie.

916b4—5 bei dieser Krankheit soll die Rückgabe innerhalb eines Jah­ res gestattet sein: Die einjährige Frist im Falle der Epilepsie erklärt sich wohl dadurch, daß zur sicheren Diagnose dieser Krankheit eine längere Beobachtungszeit erforderlich ist (eine einjährige Frist nennt auch das er­ wähnte Gesetz aus Abdera). Für die Rückgabe eines unwissentlich ge­ kauften Mörders gelten gar keine Fristen (c5), weil die Befleckung nicht , verjährt4.

916b5 vor drei Ärzten: Ich übernehme (wie Diès u.a.) statt tlœ das von B. A. van Groningen (Mnemosyne 58, 1930, 370) konjizierte τρισί (analog zur Zahlenangabe έν πέντε c6). 9.3. 916d2—918a5 : Warenverfälschung und Betrug

Das vorliegende Gesetz ergänzt ebenso wie das anschließende Gesetz für den Kleinhandel auf dem Markt (918a6-920c8) die bereits in 849a3850a6 entwickelte Marktordnung. Während beim Gesetz über den Sklavenkauf (915e9-916dl) der Schutz des Käufers im Vordergrund stand, dem der Verkäufer fiir etwaige Sachmängel haften muß, werden beim Verkauf von Tieren und unbeleb­ ten Sachen betrügerische Geschäfte durch die auf das Allgemeinwohl zie­ lenden Bestimmungen der Marktordnung verboten und sanktioniert. Denn jetzt geht es um eine bewußte „Schlechtigkeit“ (κάκη 916d6) des Verkäufers, dem das vorausgehende Gesetz immerhin auch bloße Un­ kenntnis der Sachmängel zubilligte. Das vorliegende Gesetz richtet sich, da der Markthandel nicht von Bürgern betrieben werden darf, strengge­ nommen an Fremde, Metöken und Sklaven (vgl. 849a3—850a6), appel­ liert aber in seinem strafdrohenden Teil auch an die Wachsamkeit der Bürger. 916d2—917b7: Vorrede Der Athener attackiert zunächst die relativistische Auffassung der Vie­ len, die den Betrug unter bestimmten Umständen für zulässig halten (916d6—e4), und stellt hiergegen die klaren Weisungen des Gesetzgebers (916e4-917b7). Diese verbieten jede Art von Betrug auf dem Markt. Hauptverbotsgrund ist die den Verkauf begleitende eidliche Beteuerung (z.B. der Qualität der Ware, des günstigen Angebots usw.), die im Be­ trugsfall ein Meineid ist. Falsches Schwören wird vom Athener nicht als Verstoß gegen das Ge­

916d2—918a5

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bot der Wahrhaftigkeit verworfen, ohne die kein menschliches Zusam­ menleben möglich ist (vgl. 730c, 948d—e), sondern weil der falsch Schwörende es an Ehrfurcht sowohl vor den Göttern des Marktes (d. h. Zeus und Hermes) fehlen läßt wie auch vor den Marktbeamten, die als die „Höherstehenden“ (κρειττόνων 917a3) Anspruch auf seine Achtung haben. Welchen Personen überhaupt als „Höherstehenden“ Ehrerbietung ge­ bührt, ruft der Athener mittels eines auf 690a—b zurückgreifenden Kata­ logs personaler Höher-Tiefer-Relationen wieder in Erinnerung (917a4— 9), der gegenüber 690a—b um die Inhaber eines politischen Amtes erwei­ tert ist. 916d2 gegen Geld entweder Geld ... tauscht: Falls damit der Um­ tausch fremder Währung in einheimische Währung durch Privatleute ge­ meint sein sollte (und nicht das Wechseln großer in kleine Münze), ergibt sich ein Widerspruch zu 742b (vgl. Gemet 1951, p. CII Anm. 1). 916d6—7 Verfälschung (κιβδηλείαν) und Lüge (ψευδός) und Betrug (άπάτην): Die drei Begriffe lassen sich wie folgt unterscheiden: κιβδη­ λεία ist das übliche Wort fiir das Verfälschen von Geldmünzen (νόμισ­ μα); vgl. Aristophanes, Frösche 721, Aristoteles, Nik. Eth. 9,3. 1165bl2. Auch Platon scheint hier (wegen νόμισμα d2) zunächst die Geldfälschung zu meinen; aber im folgenden ist offensichtlich generell die Verfälschung von Waren (z.B. Lieferung einer schlechten Qualität) gemeint (vgl. 917bl, c8, d3. 8, e2). Lüge ist die Täuschung mit Worten durch unberechtigtes Anpreisen (έπαινος 917c3) und vor allem durch eidliche Versicherung (vgl. όρκους ψευδείς 917a2). Die üblichste Form des Betrugs war wohl die Verwendung falscher Maße und Gewichte, die darum in vielen griechischen Städten von den Marktaufsehem kontrol­ liert wurden (vgl. Jakab 1997, 77).

916d8—el wenn es nurjeweils im richtigen Moment (εν κάψω) gesche­ he'. Der Gedanke, daß die Richtigkeit (Gerechtigkeit) einer Handlung von der jeweiligen Situation abhängt, läßt sich aufgrund à&r Dissoi logoi (vgl. Vors. 90, 2,19 und 3,12) fiir die Sophistik sichern und fiir den Sokratiker Antisthenes wahrscheinlich machen (vgl. C. W. Müller 1975, 144f. 170£; ders. 1999, 283-285; vgl. auch Untersteiner, I Sofïsti, II, Mailand 21967, Index s. v. καιρός). Der Vorwurf an die Vielen, sie ver­ säumten es, den Kairos genau zu bestimmen, impliziert, daß es durchaus eine Situation geben kann, in der eine Täuschung berechtigt ist, z.B. um einem zum Selbstmord entschlossenen Freund sein Schwert wegzuneh­ men oder einem Kranken bittere Medizin zu verabreichen (Resp. 331c; vgl. auch die nützliche Lüge Nom. 663d).

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917a4—6 Höher stehen aber ... die Männer gegenüber Frauen und Kindern: Dieser Fall von Superiorität erscheint nicht in dem Katalog 690a-c. Da die Frau 781a-b für schwächer als der Mann erklärt wird, sieht Levin 2000, 85-86 die Relation Mann - Frau in 690b in dem Paar Stärker — Schwächer berücksichtigt. Wahrscheinlich ist hier aber nicht die Frau als biologisches Wesen gemeint, sondern, was durch die Verbin­ dung mit Kindern nahegelegt werden könnte, die dem Mann als ihrem Kyrios unterstehende Ehefrau (so übersetzen z. B. Brisson - Pradeau).

917b5—7 den Namen der Götter nicht leichtfertig zu beflecken, indem man sich so verhält, wie es die meisten von uns gegenüber den Göttern mit der Reinheit und Lauterkeit halten: Die Übersetzung bewahrt die Ambiguität des griechischen Textes, der nicht klar erkennen läßt, ob die Verneinung vor χραίνειν (b5) auch das Partizip εχοντα negiert oder nicht. Im ersten Fall ergibt sich die negative Aussage, daß die meisten von uns die Götter vernachlässigen (entsprechend übersetzen z.B. Jowett, Susemihl, Apelt, Rufener und Saunders, der diese Deutung in 1972, Nr. 103 nochmals begründet). Im zweiten Fall ist der Sinn positiv: „gemeint ist das gewöhnliche Verhalten, das sich im Rahmen der Vor­ schriften der Religion hält“ (Voigtländer 1980, 397; ebenso Stallbaum, England, Diès, Brisson - Pradeau). Für die erste Auffassung läßt sich auf die pessimistische Äußerung über den verbreiteten Atheismus 948c ver­ weisen. Für die zweite Auffassung kann geltend gemacht werden, daß sie die Vorrede mit einem Hinweis auf richtiges Verhalten enden läßt, wodurch das folgende „Wenn jemand dem nicht gehorcht“ als Gegensatz schärfer hervortritt. — Zur dominierenden Rolle des Eides im griechi­ schen Geschäftsleben vgl. Burkert 1977, 380f. Sie wird illustriert durch den Ausspruch des Kyros über die Griechen, daß er noch nie vor Män­ nern Angst gehabt habe, die mitten in ihrer Stadt einen Platz abgegrenzt hätten, auf dem sie sich versammeln und einander unter Eidschwüren be­ trügen (Herodot 1,153,1). 917b7—918a5 : Das Gesetz Das Gesetz zerfallt in zwei Komplexe: Der erste Teil (917b7—c7) be­ trifft das Anbieten der Ware. Verboten sind 1. Änderungen des Verkaufs­ preises während des Verkaufstages, 2. das Anpreisen der Ware und 3. das (damit verbundene) Schwören. Der Zuwiderhandelnde soll von jedem darüber hinzukommenden Bürger über 30 Jahren mit Schlägen gezüch­ tigt werden; ein Unterlassen der Züchtigung gilt als Verrat an den Geset­ zen. Der umfangreichere Teil des Gesetzes (917c8-918a5) handelt von Warenverfalschung, zu deren Nachweis eine gewisse Sachkenntnis (917dl)

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erforderlich ist. Dieses Vergehen soll jeder, der es nachweisen kann, den Beamten anzeigen. Sklaven und Metöken dürfen zur Belohnung die ver­ fälschte Ware als ihr Eigentum (Kränzlein 1963, 45) behalten. Bürger da­ gegen müssen die Ware den Marktgöttem weihen (917dl—6). Der über­ führte Verfälscher verliert die Ware und wird (da er kein Bürger ist) mit Peitschenhieben bestraft (917d6-e2). Die genaueren Regelungen über­ läßt Platon den Marktaufsehem und Gesetzeswächtem, die sich von Fachleuten beraten lassen sollen und die daraus resultierenden Vorschrif­ ten auf einer Säule vor ihrem Amtslokal allen Marktbenutzem zugäng­ lich machen (917e2-918al). Daran schließt sich eine analoge Vorschrift für die Stadtaufseher (918al-5), die damit einen Nachtrag zu den bishe­ rigen Bestimmungen über die Stadtaufseher (759a, 763c-d, 849e, 881c) liefert. Platon schreibt keine staatliche Preisfestsetzung vor (wie sie z.B. Ari­ stoteles, Nik. Eth. 5,8. 1133bl4-15 vorschlägt). Das Verbot, den Preis am selben Tag zu verändern, läßt dem Anbieter durchaus die Freiheit, am anderen Tag einen anderen, an der Nachfrage orientierten Preis zu ver­ langen. Freilich gibt ihm das Gesetz den Rat (921a-b), einfach den tat­ sächlichen Wert der Ware zu fordern. In 920c ist es nicht der Preis, der von den Gesetzeswächtem (in Zusammenarbeit mit Sachverständigen) fixiert wird, sondern die Verdienstspanne fiir die Händler (was sich indi­ rekt natürlich auf die Preise auswirken kann). Platons Markt ist also ein „freiwirtschaftlicher Markt mit eigener Preisbildung“ (Lauffer 1936, 260), der allerdings durch staatliche Beschränkungen der zu verkaufen­ den Warenmengen (vgl. 847e-848c, 849a-850a), der Preiskurve und des Gewinns einer gewissen Reglementierung unterliegt. Das vorliegende Gesetz gegen Betrug beim Warenverkauf hat ein Ge­ genstück in dem attischen Gesetz fiir die Marktaufseher, welches auf dem Markt ohne nähere Spezifizierung „das Unterlassen von Täu­ schung“ (άψευδεΐν) befahl (vgl. Hypereides, Or. 5,14 [Jensen]; Demo­ sthenes, Or. 20,9); Theophrast (Fr. 651 Fortenbaugh) fordert in seinen Nomoi, daß die Marktaufseher nicht nur Betrug seitens der Verkäufer, sondern auch der Käufer verhindern sollten; vgl. dazu Millett 1990, 172. Ähnliche Gesetze gab es auch in anderen Städten (vgl. Jakab 1997, 73 ff.); besonders geregelt war in Athen der Getreidemarkt, für den in klassischer Zeit spezielle Beamte (die Sitophylakes) zuständig waren, die dort die Preise und Gewichte überwachten (Aristoteles, Ath. pol. 51,3). Mit dem Verbot, Waren anzupreisen und dabei zu schwören, steht Pla­ ton sicherlich allein. Zu der Vorschrift, daß der Preis am selben Tag nicht mehr verändert werden darf, gibt es allerdings Vergleichbares. In einer Szene des Komikers Alexis (Fr. 130 [PCGII]) wird ein Gesetz eines ,Ge­

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setzgebers* Aristonikos gepriesen, das die Fischhändler mit Haft bedroht, wenn sie ihre Ware fiir einen niedrigeren als den von ihnen angegebenen Preis verkaufen; dieser Aristonikos ist wahrscheinlich der 322 v.Chr. hingerichtete Politiker Aristonikos von Marathon, der ein entsprechendes Gesetz einbrachte (vgl. Höppener 1981, 137-139 und Amott in seinem Kommentar zu Alexis, Cambridge 1996, 363 f., der die Vermutung, Ari­ stonikos sei ein Spottname fiir Platon, überzeugend zurückweist). - Ein Gesetz aus Delos um 250 v. Chr. (Syll. 975,35 ff.) verbietet dem Händler von Holz und Holzkohle den Verkauf zu einem andern als dem von ihm angegebenen Preis. Für eine generelle, alle Warengruppen betreffende Preisregelung gibt es aber keine Belege aus der Praxis (Jakab 1997, 78; Millett 192 Anm. 53), wohl aber fiir staatliche Interventionen bei be­ stimmten Importgütern (Getreide, Wein, Öl), insbesondere in Krisenzei­ ten (Belege bei Piérart 1974, 309 Anm. 242; Klingenberg 1983, 222; Hopper 1982, 228).

917c3 eidliche Beteuerung soll bei jedem Verkauf unterbleiben: Unge­ achtet des Schwurverbots auf dem Markt werden in 949b Eidesleistun­ gen zwischen Fremden ausdrücklich gestattet, weil diese nicht dauerhaft in der Stadt wohnen bleiben. Falls diese Erlaubnis auch fiir den Handel zwischen Fremden gilt, scheint dies dem vorliegenden Verbot zu wider­ sprechen. Der Widerspruch läßt sich auflösen, wenn man entweder an­ nimmt, daß die Freigabe des Eides unter Fremden nicht fiir den Markt­ handel generell gilt oder daß das Schwören zwar auf den „Fremdenmärk­ ten“ (849dl) erlaubt ist, nicht aber auf dem „allgemeinen Markt“ (849e3), auf dem die Bürger ihre Waren (durch Mittelsmänner) verkau­ fen und selber bei den Fremden Waren kaufen. 918a3—4 was noch zu fehlen scheint, niederschreiben: Zaxt Ergänzung der Gesetze vgl. 769a 1 ff.

9.4. 918a6—920c8: Kaufmännische und gewerbliche Berufe sind Bürgern verboten.

An den Abschnitt über den Marktkauf schließt sich eine längere, grundsätzliche Ausführung zum Kleinhandel (καπηλεία), die auch Lohnarbeiter und Gastwirte (918b7, d7) sowie den Großhandel (εμπο­ ρία 918d7, έμπορος 919d6) berücksichtigt, also fiir das gesamte Gebiet kommerzieller Tätigkeiten gilt. Sie gliedert sich in Vorrede und Gesetz: 918a6-919d2: Vorrede Der Kleinhandel besitzt seiner Natur nach ebenso wie das Geld eine „wohltätige“ (918b2) Funktion, erfordert aber „keine geringe Tugend“ (c7), weil er zu unersättlichem Gewinnstreben verleitet. Da die Masse

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der Händler diesem nicht widerstehen kann, sind der Kleinhandel und al­ le kaufmännischen Tätigkeiten in Verruf geraten (c9-d8). Würden diese Tätigkeiten wie z.B. eine Gastwirtschaft von den „besten Männern und Frauen“ ausgeübt — eine Vorstellung, die dem Athener allerdings spürba­ res Unbehagen verursacht (d8-9) -, so würde die positive Funktion die­ ser Berufe sofort ins Auge fallen (d8-e7), während sie jetzt durch das ausbeuterische Geschäftsgebaren der Ausübenden, das der Athener in ei­ ner sarkastischen Schilderung (918e7-919b3) anprangert, denkbar schlecht angesehen sind. Der Gesetzgeber, der hier Abhilfe schaffen will, sieht sich zwei Übeln gegenüber: dem Reichtum, der zum Luxusleben verleitet, und der Armut, die zu schamlosem Gewinnstreben treibt (b3-cl). Daraus leitet der Athe­ ner drei Forderungen ab, die anschließend in drei Gesetze umgesetzt wer­ den (c2-d2): 1) die Zahl der Kleinhändler ist möglichst klein zu halten; 2) nur Personen, deren moralisches Versagen der Stadt wenig schadet, dürfen Kleinhandel treiben; 3) die Händler müssen vor dem Abgleiten in Schamlosigkeit und un­ freie Gesinnung bewahrt werden.

919d2—920c8: Die entsprechenden Gesetze 1) Um die Zahl der Kleinhändler gering zu halten, sind den Bürgern die Ausübung des Klein- und Großhandels sowie sonstige eines Freien unwürdige Dienstleistungen verboten. Gegen Zuwiderhandelnde ist eine Popularklage möglich, die bei Schuldspruch Haftstrafe nach sich zieht (919d2—920a3). 2) Kleinhandel ist nur Metöken und Fremden erlaubt, weil der Metöke sich maximal 20 Jahre in Magnesia aufhält (850a-b) und der Fremde in der Regel nur im Sommer kommt (949c 1-2; 952d—e). 3) Die Gesetzeswächter sollen in Zusammenarbeit mit Sachverständi­ gen Richtwerte fiir die Einnahmen und Ausgaben der Händler ermitteln und deren Einhaltung durch die Ordnungsbeamten überwachen lassen (919c6—d2). Die vorherrschende Perspektive dieses Abschnitts ist eine moralische (vgl. auch Sauvé Meyer 2003). Kleinhandel, Lohnarbeit u. dgl. sind ein Dienst (διακονία 919d6; vgl. Resp. 371c6), zu dem ein Freier nur ge­ genüber den Eltern und Höherstehenden verpflichtet ist (919d-e), der aber ansonsten seiner unwürdig ist (919dl, e3, e8). In dieser Bewertung verbindet sich die verbreitete aristokratische Ablehnung jeder auf Geld­ erwerb gerichteten Tätigkeit als „banausisch“ (vgl. 643d-644a) mit der platonischen Abwertung materieller Werte gegenüber dem Gutsein der Seele (vgl. z.B. 697b und 743d-e). Daher führt auch der Gedanke, daß

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das schlechte Ansehen dieser Berufe sich ins Gegenteil verkehren würde, wenn die besten Männer und Frauen solche Berufe ausüben würden, nicht zu der Konsequenz, diese Berufe gerade deshalb diesen Besten an­ zuvertrauen; vielmehr weist der Athener eine solche Vorstellung weit von sich (918d8-9); vielleicht auch, weil er nicht jedem Bürger die Kraft zutraut, den unmoralischen Verlockungen dieser Berufe (vgl. 920b 1-3) zu widerstehen. Ein zweiter, praktischer Grund fiir das Verbot kommer­ zieller Tätigkeiten von Bürgern (mit dem 846d-e das Verbot handwerkli­ cher Tätigkeit begründet worden war) kommt hier nicht explizit zur Sprache: der Umstand nämlich, daß der Bürger mit seinen Aufgaben als Bürger und mit der Sorge fiir seine Seele bereits genügend ausgelastet ist und keine Zeit fiir eine sonstige Tätigkeit hat (vgl. auch 807c-d). Das Verbot kommerzieller Tätigkeit fiir Bürger hat ein Pendant in Sparta, wo Lykurg den freien Männern verbot, sich mit irgendeiner Form des Gelderwerbs zu beschäftigen (Xenophon, Lak. pol. 7,2; dazu Rebenich 1998a, 113 f.). In Attika dagegen gab es ein Gesetz, das eine Belei­ digungsklage gegen den vorsah, der einem Bürger wegen Handelns auf dem Markt Vorwürfe machte (Demosthenes, Or. 57,30). 918b3—4 den unangemessenen und ungleichen (άσύμμετρον και ανώμαλον) Besitz von irgendwelchen Gütern zu einem gleichen und an­ gemessenen (ομαλήν τε και σύμμετρον) macht: Die rechte Verteilung und das rechte Maß an Besitz fordern die Einheit der Stadt und die Tu­ gend, vgl. 773a: unter finanziellem Aspekt ist bei der Heirat το ομαλόν και σύμμετρον (Gleichheit und Gleichmaß) fiir die Tugend besonders forderlich. Nicht ganz klar ist allerdings die Bedeutung von άσύμμετρον und ανώμαλον. Nach England betrifft άσύμμετρον das Verhält­ nis zwischen den Bedürfnissen des Individuums und seinem Vermögen, ανώμαλον die Verteilung des Vermögens in der Gemeinschaft; diesen Aspekten entspricht die Doppelung in 918c2: Hilfe für Bedürfnisse und Gleichheit des Besitzes. Diese Gleichheit kann allerdings wegen 744b—d keine absolute, sondern nur die proportionale Gleichheit sein. 918b7Lohnarbeiter: Dies sind Freie ohne Bürgerstatus, die fiir Bürger gegen Geld Arbeiten übernehmen, vor allem Handwerker (74le—742a).

918c6—7 Die Sache ... erfordert keine geringe Tugend: Die „Sache“ ist nicht die folgende Darlegung (die ja keine besondere Tugend erfordert), sondern deren Gegenstand, also der Kleinhandel.

919b2 beschämenden Fehlverhaltens: Da όρθώς, das sich nur auf τάς διαβολάς ... παρεσκεοακότα beziehen könnte („mit Recht ... den üb­ len Ruf eingetragen haben“), aufgrund seiner Stellung sehr anstößig ist und die am Rand von O notierte Lesart αίσχρώς auch im Exemplar des

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Patriarchen stand (vgl. Post 1939, 102), übernehme ich diese (ebenso schon Stallbaum, Lisi). Wagner, England, Diès, Brisson - Pradeau tilgen lediglich ορθως; Susemihl stellt ορθως um hinter άμαρτανόμενα. 919b3—4 Hiergegen muß der Gesetzgeber jeweils ein Heilmittel fin­ den: Zum Gesetzgeber als Arzt, der hier allerdings nicht Personen, son­ dern einen Mißstand „heilt“, vgl. zu 628d2-el.

919b4—5 Nun sagt ein richtiger und alter Spruch usw.: Nach Phaid. 89c („mit zwei, sagt man, kann es auch Herakles nicht aufhehmen“) be­ zieht sich der Spruch auf den Kampf des Herakles gegen die Hydra, der für einen abgeschlagenen Kopf zwei Köpfe nachwuchsen (vgl. auch Euthyd. 297c). Die Worte „und noch dazu gegensätzliche“ hat Platon hier im Blick auf Armut und Reichtum hinzugefügt, die nicht nur je für sich vom Gesetzgeber zu bekämpfen sind, sondern sich auch gegenseitig be­ kämpfen. 919b7—8 ein Kampf gegen zwei, gegen die Armut und den Reichtum: Zur Auswirkung von Armut und Reichtum auf das Individuum und den Staat vgl. 728e—729a, 744d, 774c, 831c. DazuFuks 1984.

919e4—5 soll es wenigstens von denen, die die höchsten Auszeichnun­ gen erhalten haben, durch ihre diesbezügliche Mißbilligung oder Billi­ gung entschieden werden: τω ... άσπασμω (e5) verbinde ich mit κρινέσθω (ebenso Susemihl, Jowett, Post 1939, 102). England, dem die meisten Übersetzer folgen, bezieht es auf είληφότων („die dafür ausge­ zeichnet worden sind, daß sie für das eine Abscheu und für das andere Vorliebe gezeigt haben“); dies würde aber voraussetzen, daß das eines Freien würdige oder unwürdige Verhalten schon feststeht, während es doch erst von den Trägem der höchsten Auszeichnungen bestimmt wer­ den soll. — Die Träger dieser Auszeichnungen (τα αριστεία), die die „Besten“ (αριστοι) erhalten, sind identisch mit den Personen, „die auf­ grund ihrer Tugend als die Ersten anerkannt sind“ (e7--8), also den Sie­ gern im „Wettkampf in der Tugend“ (vgl. 845d). Nach Ausweis der übri­ gen Belege (vgl. zu 845dl—2) dürften damit vor allem die Euthynen und die Mitglieder der Nächtlichen Versammlung gemeint sein (wie 953d), zu denen auch der amtierende und die früheren Aufseher über die Erzie­ hung zählen, denen die hier geforderte Entscheidung am ehesten zukä­ me. 919e5—6 an dem eines Freien unwürdigen Kleinhandel (καπηλείας της άνελευθερου): Saunders 1972, Nr. 104 faßt das Adjektiv ανε­ λεύθερου restriktiv auf; gestattet wären dann der 918e angedeutete Kleinhandel durch tugendhafte Männer oder der in 847e-848c und 849a—e erwähnte Verkauf der Agrarprodukte der Grundbesitzer durch

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Mittelsmänner (Saunders neigt zu der zweiten Alternative). Aber das Ad­ jektiv kann ebensogut explikative Funktion haben. 919e6—8 wegen Beschimpfung seiner Familie bei denen verklagen, die aufgrund ihrer Tugend als die Ersten anerkannt sind: Eine solche Klage (γραφή αισχύνης) kennt das attische Recht nicht.

920cl vorhin anläßlich der Warenverfälschung: Vgl. 917e. 9.5. 920dl 6: Nichterfüllung von Verträgen Dem Gesetz über die Handwerker (920d7-921d3) schickt Platon ein allgemeines Gesetz bezüglich der Nichterfüllung von getroffenen Verein­ barungen voraus, zu denen auch die Arbeitsverträge mit Handwerkern zählen. Dieses Gesetz, das ein hohes Niveau juristischer Reflexion zeigt (vgl. die genauere Analyse von Gemet 1951, p. CLXXVII ff.), sieht bei Nichteinhaltung eingegangener Verpflichtungen eine Klage wegen „nichterfüllter Zusage“ (ατελούς ομολογίας) vor. Bei der Aufzählung der Nichtigkeitsgründe scheint Platon unreflektiert eine zeitgenössische Formel (vgl. Gemet p. CLXXIX Anm. 3) zu übernehmen, wenn er als Nichtigkeitsgrund neben dem Gesetz den Volkbeschluß (ψήφισμα d2) nennt, der in der Verfassung Magnesias nicht vorgesehen ist. Als weitere Gründe für die Nichtigkeit einer Übereinkunft nennt Platon Gewalt (ebenso Symp. 196c, Krit. 52e) und Zufall, nicht jedoch Arglist (vgl. je­ doch Krit. 52e), Irrtum oder Unzurechnungsfähigkeit (letztere erkannte das attische Recht zumindest beim Testament an; vgl. zu 864c 10—e9); Gewalt und arglistige Täuschung führten auch im attischen Recht zur Ungültigkeit von Verträgen (vgl. hierzu ausführlicher Simonetos 1968); den Zufall scheint Platon hinzugefügt zu haben (Thalheim 1913b). Zwischen der Verweigerung des Rechtsschutzes beim Kreditkauf (915d6-e9) und dem vorliegenden Gesetz, demzufolge der Bruch einer ομολογία justitiabel ist, besteht kein Widerspruch, wenn man das Kauf­ preisversprechen gerade zu den όμολογίαι rechnet, die das Gesetz (920d2) verbietet (vgl. Pringsheim 1950, 131 Anm. 4, Herrmann 1990, 90). - Umstritten ist, ob es im attischen Recht ein Pendant zur Klage we­ gen Nichterfüllung eines Vertrags gab. Aus der Erwähnung einer δίκη συνθηκών παραβάσεως durch Pollux 8,31 schloß die ältere Forschung (z.B. Lipsius 663 und 499, Vinogradoff 1922, 256) auf die Existenz ei­ ner derartigen Klage, während Gemet (1951 p. CLXXVIII und 1955, 73 Anm.3), Pringsheim (50ff.), Wolff (1968, 492) und Harrison (1971, 79 Anm. 3) sie bestreiten (so daß dem Geschädigten nur eine deliktische Klage wegen Schädigung blieb). Eine Aufwertung des Zeugnisses des Pollux unternimmt hingegen Katzouros 1983, 199 ff. Zur Problematik der Homologie im attischen Recht vgl. ausführlich Carawan 2006.

920d7—921d3

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920d—5—6 vor den Phylengerichten usw.: Zu den Gerichtsinstanzen vgl. 766e3ff.

9.6. 920d7—921d3: Werkverträge mit Handwerkern Eine Vorrede (920d7—921 al) ermahnt die Handwerker (die zusammen mit den Soldaten als dienende Berufe betrachtet werden), aus Respekt vor ihren göttlichen Schutzpatronen auf Täuschung zu verzichten. Für die Zuwiderhandelnden setzt das Gesetz die irdische Strafe fest, die sie nach der Bestrafung durch die Götter zu leisten haben (zur Scheidung zwischen beiden Arten der Strafe vgl. 873a). Das eigentliche Gesetz (921al-d3) behandelt den Werkvertrag mit Handwerkern als den Fall einer ομολογία. Die ομολογία betrifft seitens des Handwerkers die Fertigstellung der Arbeit in einer bestimmten Frist und seitens des Auftraggebers die Zahlung nach Erhalt der Ware (Teil­ leistungen, wie sie bei den Griechen üblich waren, berücksichtigt Platon nicht); der Vertrag basiert also auf einem Akt des Vertrauens. Während aber beim Kauf Geschäfte auf bloßer Vertrauensbasis (Kreditkäufe) kei­ nen Rechtsschutz genießen (915d6-e6), läßt Platon beim Werkvertrag eine Stundung des Werklohns zu. Gründe hierfür dürften die persönliche­ re Beziehung zwischen dem Besteller und dem Handwerker sein, der im Unterschied zum durchziehenden Händlern ein ortsansässiger Metöke ist (Knoch 1960, 98), sowie der Umstand, daß Gegenstand des Werkver­ trags in der Regel Gebrauchsgüter von einiger Lebensdauer sind, die der Handwerker sich bei Nichtbezahlung notfalls zurückholen kann (Klin­ genberg 1982, 105). Klingenberg vermutet außerdem Einfluß des positi­ ven Rechts: während in manchen Städten nur der Barkauf erlaubt war, werde bei Werkverträgen nirgends eine Zug-um-Zug-Leistung vorge­ schrieben. Der Einfluß des Kaufrechts ist auf die Vorschrift einer an­ gemessenen Preisforderung (921b 1-3) und das Täuschungsverbot (921b4-6) beschränkt (Klingenberg 104f. gegen Gemet 1951, p. CLXXXIII). Die Strafbestimmungen für den säumigen Handwerker (92la 1-8) las­ sen zwei Deutungen zu: (1) Der Handwerker, der seinem Auftraggeber den „Wert“ der Arbeit schuldet, muß die Arbeit kostenlos anfertigen (so England, der τιμήν [a6] als value, nicht money-price deutet und καί [a7] wie schon Ritter II 331 explikativ auffaßt). (2) Der Handwerker muß zu­ sätzlich zur kostenlosen Anfertigung noch einen Betrag in Höhe des ver­ einbarten Werklohns an den Auftraggeber zahlen (so ausdrücklich Apelt, Chase 1933, 186, Vanhoutte 1954, 445 und Knoch 1960, 98 f.; vorsichti­ ger Klingenberg 110: „möglicherweise“). Stallbaums Paraphrase wie

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auch die meisten Übersetzungen (so auch die meine) bewahren die Am­ biguität des griechischen Textes. Der mit der Bezahlung säumige Auftraggeber muß neben dem doppel­ ten Werklohn nach einem Jahr Zahlungsverzug noch Verzugszinsen als Konventionalstrafe zahlen, die sich auf 200 % pro Jahr belaufen (da 12 Obolen = 2 Drachmen). Unklar läßt der Text, welcher Betrag zu verzin­ sen ist. Folgende Lösungen sind denkbar: 1) der doppelte Werklohn (so Ritter I 109); 2) nur der Strafzuschlag (so Ritter I 160 s. v. Zins); 3) nur der Werklohn (so die gängige Auffassung, der sich auch Klingenberg 110 anschließt). Daß Platon Verzugszinsen zuläßt, während er sonst Dar­ lehenszinsen verbietet (921c7; 742c), ist mit Klingenberg 112 damit zu erklären, daß Verzugszinsen in der Funktion einer Strafe Schaden von dem Handwerker abwenden sollen und nicht wie die Darlehenszinsen der Kapitalsteigerung dienen.

920d7 Dem Hephaistos und der Athene heilig ist die Zunft derjenigen Handwerker usw.: Der Schmiedegott Hephaistos und Athene, die Patro­ nin der Arbeit der Frauen sowie der Zimmerleute und Töpfer, werden schon im Epos als ein Paar genannt (Homer, Od. 6,233). Als kriegerische Göttin (vgl. 796b-c) steht Athene zugleich neben dem Kriegsgott Ares als Patronin der Soldaten. 921bl den es auch dem Verkäufer gegeben hat: Vgl. 917b8ff. 920c3ff. 921b3 der Handwerker kennt nämlich deren Wert: Mit Stallbaum interpungiere ich hinter αξίαν.

921c3—4 aus Liebe zu einem kleinen Gewinn große Gemeinschaften auflöst: Zur zerstörenden Wirkung des Egoismus 875a—c; zur Vorstel­ lung des einigenden Bandes vgl. den Komm, zu 945c4—5. 9.7. 921d4—922a5: Soldaten als ,Handwerker‘ Soldaten sind eine „andere Art“ von Handwerkern (921d7). Ihr Werk ist die Rettung der Stadt; Lohn fiir diese Leistung ist die ihnen von den Bürgern als „Empfängern“ dieser Leistung gezollte Ehre. Einschränkend fugt der Athener hinzu, daß die größte Ehre nicht der kriegerischen Tap­ ferkeit, sondern dem Gesetzesgehorsam gebührt. Adressat dieses Appells ist die „Masse der Bürger“ (τω πλήθει των πολιτών (921e6). Damit kann kaum „each citizen in his private capacity“ (England) gemeint sein, denn dann hätte in 921e6 τοΐς πολίταις völlig ausgereicht. Ange­ sprochen sind wahrscheinlicher die Bürger als Gesamtheit, d.h. die in der Volksversammlung (vgl. 764a3-bl) zusammenkommenden Bürger, die über die Ehrung zu entscheiden haben (vgl. τω πλήθει 768al; dazu

922a6—932d8

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Bd. II 433 ff.). Weitere Ehrungen der Soldaten werden von einzelnen Waffengattungen ausgesprochen (943c). 921d4—5 die im Kriege tätigen Handwerker (δημιουργών) ..., die un­ sere Rettung herstellen: Vgl. Resp. 395c 1: die Wächter sind „Hersteller (δημιουργοί) der Freiheit“.

921d7: Burnets Punkt hinter δημιουργοΐς ist ein Druckfehler und durch ein Komma zu ersetzen. 92le5 Folgendes Gesetz soll also verbunden mit Lob, für dieses Gebiet usw. : Wegen ό νόμος αύτόν επαίνων und μέμψεται (e2-4) kann das Lob nicht den Taten der Soldaten gelten (so England), sondern nur dem Verhalten der Bürger. Zu Lob und Tadel als Mittel der Überredung vgl. 823b—c und Bd. II223.

922a4 die Schriften der tüchtigen Gesetzgeber: D. i. die Gesetze (vgl. 823al, 858c7, 957d5; Pol. 292a8), die in frühen Gesetzestexten öfters als „das Geschriebene“ bezeichnet werden (Thomas 2005, 50), so τα γράμ­ ματα (z.B. Inscr. Cret. IV 72, col. XI 20); τα γράφεα (Syll. 9,7), το γράφος (IvO 7,2).

10. 922a6—932d8: Familienrecht 10.1. 922a6-926d7: Testaments- und Erbrecht

Als nächsten zu behandelnden Punkt innerhalb der Kategorie der συμ­ βόλαια (913al) nennt der Athener das Los der Waisenkinder und die Waisenfürsorge (922a6-b2). Es folgt aber zunächst ein langes Kapitel zum Testaments- und Erbrecht. Dies ist sachlich insofern berechtigt, als die Bestellung von Vormündern im Normalfall durch testamentarische Verfügung erfolgt, so daß zuvor die Frage des Testaments und des Erb­ rechts generell zu erörtern ist. Das Erbrecht Magnesias hat vor allem si­ cherzustellen, daß die Zahl und die Größe der Landlose konstant bleibt, und sodann, daß das Landgut im Besitz der Familie verbleibt (dieses Ziel teilt es mit dem Erbrecht in Sparta; zu diesem vgl. MacDowell 1986, 94 ff.). Die Einsetzung eines Erben dient außerdem dem Zweck, die Kon­ tinuität des Familienkults (Ehrung der verstorbenen Familienmitglieder, Kult der Familiengötter; vgl. 717b, 740b) zu sichern. Der Komplex glie­ dert sich in (a) Vorüberlegungen und eine Ansprache an die Betroffenen, (ß) das eigentliche Gesetz und (γ) ergänzende Bestimmungen für Härte­ fälle. Die folgende Kommentierung kann nur die wichtigsten Übereinstim­ mungen und Unterschiede des platonischen Gesetzes gegenüber dem po­ sitiven Recht berücksichtigen. Für die komplizierten und manchmal un-

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klaren Vorschriften des positiven Rechts vgl. Becker 251-331 (Vergleich zwischen Platon und Athen), Gemet 1951, p. CLI—CLXI, Asheri 1963, Harrison 1968, 149-155, MacDowell 1978, 95-108, Karabélias 1983, 1989a, Ruschenbusch 1990, Todd 1993, 216—231, Rubinstein 1993, Thür 1997a, Martini 2003, Foxhall 2003, Thür 2003a, 23lf., Maffi 2005, 256-258.

oc) 922a6—923c4: Vorüberlegungen und Ansprache an die Betroffenen Eine Regelung des Testaments ist etwas „Notgedrungenes“ (922b4), weil hier Mißstände bestehen, die abgestellt werden müssen (922b5-c3; 923b2-4). Sie gehen nach Ansicht des Atheners alle darauf zurück, daß die „alten Gesetzgeber“ den Testierenden völlige Freiheit zugestanden haben (922el-3). Daher ist der Testierende, zumal wenn er am Lebens­ ende geistig nicht mehr ganz klar ist (922c3-5), in der Versuchung, sein Testament an den ihm erwiesenen Wohltaten zu orientieren (d4-8), was wiederum Schmeichler anlockt (923b2^l). Der platonische Gesetzgeber dagegen folgt einem anderen Grundsatz, wie der Athener in einer fikti­ ven Ansprache an die Betroffenen (923a2-c2) klarstellt, die als Pro­ ömium zum Gesetz fungiert (c2—3): Das Individuum und seine Habe ge­ hören der Familie; die Familie wiederum gehört mit der Habe der Stadt (vgl. 740a, 804d, 877d). Daher hat das Wohl der Stadt und der Familie Vorrang vor den Interessen des Individuums, dessen Testierfreiheit da­ rum einzuschränken ist. Um Platons Kritik zu verstehen, ist ein Blick auf die Entwicklung des griechischen Erbrechts erforderlich (vgl. dazu Thalheim 1910, Bruck 1911, Thür 1997a). Der älteste Zustand des griechischen Erbrechts ist die gesetzlich (also nicht testamentarisch) festgelegte Erbfolge („IntestatErbfolge“). Danach sind nur die legitimen Söhne Erben des väterlichen Besitzes, den sie gleichmäßig unter sich teilen. Wohl schon im 6. Jh. (vielleicht schon vor Solon) wurde in Athen das Testat-Erbrecht eingefiihrt, das dem Vater die Verfügung über sein Vermögen überließ. Solon knüpfte die Testamentserrichtung an drei Bedingungen (vgl. Ruschen­ busch 1962): 1) Ein Erbeinsetzungstestament darf nur beim Fehlen leibli­ cher Söhne abgefaßt werden; 2) Adoptivsöhne dürfen nicht testieren; 3). Willensmängel seitens des Testierenden wie körperliche oder geistige Krankheit, Alter, Beeinflussung durch eine Frau, Zwang (vgl. Demosthe­ nes, Or. 46,14) machen das Testament ungültig. Sind diese drei Bedin­ gungen erfüllt, darf der Testierende verfugen, „wie er will“ (όπως αν έθέλη Demosthenes, a. a. O.). Gegen diese Lizenz (die wohl auch außer­ halb Athens bestand) wendet sich der ausdrückliche Vorwurf an die „al­ ten Gesetzgeber“ (922el-3), daß sie den Sterbenden zu viel Freiheit ein­

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geräumt hätten; der in 922c 1-3 und 923b2-3 implizierte Vorwurf, daß nach geltendem Recht jedes Testamen gültig sei ohne Rücksicht auf den körperlichen und geistigen Zustand des Testierenden, könnte darauf zie­ len, daß der Hinderungsgrund des Willensmangels zeitweise (vielleicht unter der Herrschaft der Dreißig 404/3) außer Kraft gesetzt wurde.

ß) 923c4—925d5: Das Gesetz Das eigentliche Gesetz ist dreiteilig. Der erste Teil (923c4—924a6 = A) regelt die testamentarische Erbfolge und der dritte Teil (924c6-925d5 = C) die gesetzliche Erbfolge (Intestat-Erbrecht). Dazwischen wird die Be­ stellung von Vormündern fiir die unmündigen Kinder des Erblassers (924a6—c5 = B) behandelt. Hier werden wie beim Erbrecht zwei Formen von Vormundschaft geregelt: die testamentarische Vormundschaft und die gesetzliche Vormundschaft, die beim Fehlen eines Testaments oder der Unterlassung einer testamentarischen Einsetzung eintritt. A) Testamentarisches Erbrecht (923c4—924a6) Das Testament ist fiir Platon das reguläre Instrument zur Erbregelung; er unterscheidet vier Fälle: 1) Der Erblasser hinterläßt Kinder beiderlei Geschlechts (923c4—e4). Der Erblasser hat zunächst einen Sohn zum Erben des Landloses und seiner Ausstattung zu bestimmen. Weitere Söhne soll er zur Adoption in eine andere Familie geben, deren Landlos diese dann erben. Einem Sohn, der in eine Kolonie ausgesandt wird (vgl. 740e), soll er von dem beweg­ lichen Vermögen soviel vermachen, wie er will, ebenso den dann noch übrigen Söhnen. Ein Sohn, der bereits ein Landlos besitzt, ist von jeder Zuwendung ausgeschlossen, ebenso eine bereits verlobte Tochter. — Nach dem solonischen Gesetz (vgl. F 49-50 Ruschenbusch bzw. T 426435 Martina) war beim Vorhandensein leiblicher Söhne kein Erbeinset­ zungstestament statthaft, sondern die Söhne verteilten das Erbe gleich­ mäßig untereinander. Allerdings konnte der Vater in einem Vermächtnis­ testament jemandem einen größeren Teil des Vermögens vermachen oder Geldbeträge für die Mitgift seiner Witwe oder zu religiösen Zwecken be­ stimmen (Harrison 1968, 151 f.); in diesem Punkt räumt Platon dem Va­ ter weniger Verfiigungsspielraum ein (Gemet 1951, p. CLVII).

2) Der Erblasser hinterläßt nur Töchter (923e4—6). Der Erblasser verheiratet eine Tochter mit einem Mann, den er als Sohn adoptiert, wodurch dieser Erbe des Landloses wird. - Platons Vor­ schrift entspricht (abgesehen von der Zulassung nur einer Adoption) im Prinzip dem attischen Recht, demzufolge der Vater seine Töchter mit Männern verheiraten konnte, die er dann als Söhne adoptierte; diese wur­

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den zu Erben aus eigenem Recht und schieden aus der Erbfolge in ihrer natürlichen Familie aus. Im Athen des 4. Jh. bestand allerdings kein Zwang zur Adoption: wenn der Vater auf die Adoption des Schwieger­ sohnes verzichtete, fiel der Nachlaß zunächst an die Tochter und wurde von deren Kyrios (in der Regel also ihrem Mann) verwaltet, bis die Söh­ ne der Tochter volljährig wurden (Becker 1932, 321; Asheri 1963, 9). 3) Der als Erbe vorgesehene Sohn stirbt noch im Kindesalter (923e7— 924a2). Der Erblasser hat einen Außenstehenden als „zweiten Sohn“ zu adop­ tieren (woraus zu schließen ist, daß der verstorbene der einzige leibliche Sohn ist). Durch die Adoption (εισποίησις) wird dem Außenstehenden der rechtliche Status eines Sohnes verschafft („Adoptionstestament“). Vergleichbar ist das attische Gesetz, das nur im Falle, daß die Söhne vor Erreichen der Volljährigkeit starben, eine Adoption durch Testament zu­ ließ (vgl. Lipsius 511; Harrison 1968, 85 A. 1).

4) Der Erblasser ist kinderlos (924a2—6). Ein Adoptivsohn wird Erbe des Landloses und von 9 Zehnteln des be­ weglichen Vermögens. Das restliche Zehntel kann der Erblasser nach Be­ lieben verteilen. - Das Fehlen leiblicher Söhne ist auch im attischen Recht Voraussetzung fiir die Errichtung eines Adoptionstestaments. Für die vorgeschriebene Aufteilung des beweglichen Vermögens fehlt aber eine genaue Parallele in Athen (Chase 1933, 142). Eine Teiladoption (wie hier) war aber offenbar auch in Athen möglich (vgl. Isaios, Or. 5,6; dazu Becker 315; Gemet 1951, p. CLVIII Anm. 4). B) Die Bestellung von Vormündern (924a6—c5) 1) Die testamentarische Vormundschaft (924a6—b3) Der Erblasser bestimmt für den Fall seines Todes die Vormünder seiner Kinder. Dies entspricht attischem Recht (vgl. Harrison 1968, 99). Die Klausel, daß die designierten Vormünder aus freien Stücken mit der Vor­ mundschaft einverstanden sein müssen, impliziert die Möglichkeit, die Vormundschaft abzulehnen. Nach Becker 1932, 227 f. war dies im atti­ schen Recht nicht gestattet. Harrison 1968, 104 Anm. 1 erwägt dagegen, ob die platonische Klausel athenisches Recht widerspiegelt. Wie bei Ab­ lehnung zu verfahren ist, geht aus dem Text nicht hervor. Für Athen ver­ mutet Harrison, daß der Archon den Ablehnenden zwingen konnte, falls er mit dem Mündel verwandt war, eine gemeinsame Vormundschaft mit andern Verwandten zu übernehmen.

2) Die gesetzliche Vormundschaft (924b3—c5) Je zwei Verwandte von väterlicher und mütterlicher Seite und ein

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Freund der Familie haben die Vormundschaft zu übernehmen (b3-8). Sie werden wohl von den 15 ältesten Gesetzeswächtem eingesetzt, die auch die staatliche Aufsicht über das Vormundschaftswesen innehaben (b8— c5). - In Athen hatte, wenn der Vater die Einsetzung von Vormündern versäumt hatte oder ohne Testament starb, der nächste Verwandte des Va­ ters (oder auch mehrere) die Vormundschaft zu übernehmen. Eingesetzt wurden sie vermutlich durch den Archon eponymos (Harrison 1968, 103 f.); ihre Zahl war nicht festgelegt.

C) Gesetzliches (= Intestat-)Erbrecht (924c6—925d5) Die Intestaterbfolge tritt ein bei Fehlen eines Testaments infolge eines Versäumnisses oder des plötzlichen Todes des Erblassers. Platon unter­ scheidet drei Fälle:

1) Der Erblasser hinterläßt Kinder beiderlei Geschlechts oder nur Söhne (924c6—dl). Für diesen häufigsten Intestat-Fall erläßt Platon keine speziellen Vor­ schriften, sondern will hierauf „dieselben Vorschriften“ (wie im Fall A1) anwenden. Ein Sohn erhält also als Alleinerbe das Landlos. Für die Einsetzung des Erben sind vermutlich die gesetzlichen Vormünder (vgl. 924b3 ff.) zuständig. - Das attische Recht sieht in diesem Fall die gleich­ mäßige Verteilung des Erbes unter die Söhne vor (vgl. Harrison 1968, 130-142).

2) Der Erblasser hinterläßt nur Töchter (924dl—925c3). a) 924dl-925a5: Eine Tochter soll als Erbtochter nach einer innerhalb der Anchistie festgelegten Rangfolge den nächsten Verwandten des Va­ ters heiraten (Details s.u.). b) 925a6-b2: Fehlt es innerhalb der Anchistie an Verwandten, soll sich die Tochter mit Zustimmung der Vormünder einen aus den Bürgern zum Ehemann wählen. c) 925b2-7: Fehlt es in der Stadt an geeigneten Ehemännern, soll sich die Tochter einen in eine Kolonie ausgewanderten Verwandten zum Ehe­ mann und Erben des Landloses wählen. d) 925b7-c3: Findet sich kein Verwandter in der Kolonie, soll die Tochter mit Zustimmung der Vormünder einen nicht zur Familie gehöri­ gen Mann aus der Kolonie zum Ehemann und Erben des Landloses wäh­ len. Die vorstehenden Regelungen Platons orientieren sich an dem gemein­ griechischen Rechtsinstitut der sog. „Erbtochter“ (Platon vermeidet hier jedoch sowohl den im attischen Recht für die Erbtochter gebräuchlichen Terminus επίκληρος [einziger platonischer Beleg: Nom. 630e6] als auch das in dorischen Rechtsordnungen übliche πατροιουχος [Sparta]

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oder πατροιδκος [Gortyn]). Danach war die vater- und bruderlose Tochter nicht selbst erbfähig, wohl aber deren etwaige ehelichen Söhne. Um zu verhindern, daß der Familienbesitz an eine fremde Familie fiel, erlaubte das Gesetz dem nächsten Seitenverwandten des Erblassers (ge­ wöhnlich einem Bruder), in einer sog. έπιδικασία seinen Anspruch auf den Nachlaß (κλήρος) und auf die Hand der Erbtochter bei dem zustän­ digen Beamten durchzusetzen. Die mit diesem Verwandten gezeugten Kinder der Erbtochter galten als Söhne des Erblassers (also ihres Groß­ vaters). Der Kreis der berechtigten Verwandten beschränkte sich auf die Anchistie, in der eine gesetzlich festgelegte Reihenfolge galt (Näheres s.u.). Strittig ist, ob durch den Anspruch des Seitenverwandten eine etwa bestehende Ehe der Erbtochter aufgehoben wurde (so Maffi 2005, 257; nach Ruschenbusch 1990, 17-18 konnte jedoch in Athen wie bei Platon nur die unverheiratete Tochter Erbtochter sein). Lit. zum Epiklerat: Lip­ sius 543 ff., Asheri 1963, 16-20, MacDowell 1978, 95-108, Karabélias 1983, Ruschenbusch 1990, Todd 1993, 228-231. In der zugrunde gelegten Verwandtschaftsstruktur („Anchistie“), in der Reihenfolge der Heiratsberechtigten und in der Bevorzugung der männli­ chen Linie folgt Platon eng der attischen Erbtochterregelung. Die wich­ tigsten Besonderheiten des Platonischen Gesetzes gegenüber dem ge­ meingriechischen, vor allem dem attischen Recht sind folgende: Da das Landlos nicht geteilt werden darf, kann es in Magnesia nur eine Erbtochter geben, während in Athen und Gortyn mehrere Töchter gleich­ berechtigte Erbtöchter sein konnten (vgl. Becker 320; Todd 221). Um den Besitz zweier Landlose in einer Hand zu verhindern, muß der Stief­ bruder mütterlicherseits noch ohne Landlos sein (924e4). Im Regelfall (oben 2a) muß sich die platonische Erbtochter dem Ge­ setz fügen und den berechtigten Verwandten heiraten. Eine kleines Pro­ ömium zum Gesetz (924dl-e2) wirbt eigens um Verständnis für den Ge­ setzgeber, der anders als ein Vater die charakterliche Eignung des Ver­ wandten nicht berücksichtigen kann (zur Beschränkung des Gesetzge­ bers auf das Mögliche vgl. 742e). Anders ist es, wenn kein Verwandter bis zu den Enkeln des Bruders und den Söhnen des Großvaters (925a6) mehr am Leben ist. In diesem Fall kann die Erbtochter (vorbehaltlich der Zustimmung der Vormünder) ihren Gatten selber frei wählen, und zwar zunächst einen Mitbürger (b), dann einen Verwandten aus einer Kolonie (c) und schließlich sogar einen Nichtverwandten (d). Eine solche Wahl­ freiheit ist in Athen nicht vorhanden; im kretischen Gortyn dagegen durf­ te die Erbtochter bei Fehlen bzw. Unmündigkeit der berechtigten Ver­ wandten oder wenn sie den nächstberechtigten Verwandten ablehnte, in­ nerhalb ihrer Phyle (d. h. der weiteren Verwandtschaft) einen Gatten frei wählen, wobei sie aber dem Abgewiesenen die Hälfte ihres Vermögens

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geben mußte (Inscr. Cret. IV 72, col. VII 50ff.-VIII 12). Karabélias 1983, 190 vermutet fur Platon in diesem Punkt Einfluß der gortynischen Regelung; Gemet 1951, p. CLXVII weist aber daraufhin, daß die Plato­ nische Regelung enger als die gortynische ist. Wie die Erbtochter kann sich auch der nächste Verwandte der ihm vom platonischen Gesetz vorgeschriebenen Heirat nicht entziehen (nur in be­ stimmten Fällen konnte er Einspruch einlegen: vgl. unten 925d5— 926d7). Nach gortynischem Recht konnte dagegen jeder Verwandte die Heirat mit der Epikleros ablehnen (col. VII 35-50). In Athen hatte der nächste Verwandte, der eine Erbtochter aus der vierten Vermögensklasse nicht heiraten wollte, die Möglichkeit und die Pflicht, ihr eine Mitgift in festgelegter Höhe zu zahlen, d.h. sie an einen anderen zu verheiraten (Demosthenes, Or. 43,54). Diese Wahlfreiheit zwischen Heiraten oder Verheiraten bestand wohl auch gegenüber einer Erbtochter aus den an­ dern Klassen; sie wurde nur bei einer Erbtochter aus der vierten Klasse zur Vermeidung von Mißbrauch erschwert durch die Pflicht zur Zahlung einer hohen Mitgift (so Ruschenbusch 1990, 16—17). 3) Der Erblasser stirbt kinderlos (925c3—d5). Ein weibliches und ein männliches Familienmitglied sollen in einer ge­ setzlich festgelegten Rangfolge in das verwaiste Haus einziehen und das Landlos bewirtschaften. Platon überläßt die Regelung der Nachfolge also nicht dem Belieben der Verwandten, sondern bindet sie an die Anchistie (anders dagegen 877d ff.). Ebenso geht nach attischem Recht der Fami­ lienbesitz an den nächsten männlichen Verwandten bis an die Grenzen der Anchistie über, und zwar zunächst an die Verwandten von väterlicher Seite, dann von mütterlicher Seite. Der als Erbe eingesetzte Verwandte konnte postum adoptiert werden (vgl. Demosthenes, Or. 44,43).

γ) 925d5—926d7: Ergänzungsbestimmungen: Rechtsmittel gegen die Zwangsheirat.

Die bei der gesetzlichen Regelung des Erbtochterfalles (C-2) vorgese­ hene Zwangsheirat kann von den Betroffenen bei körperlichen oder geis­ tigen Krankheiten des zu heiratenden Partners (925e3-5; 926b2-6) als unbillig empfunden werden. In diesem Fall ist (wie auch für sonstige te­ stamentarische Bestimmungen: 926c 1) das Rechtsmittel des Einspruchs zugelassen. Der Einspruch ist bei den 15 ältesten Gesetzeswächtem ein­ zulegen; Appellationsinstanz sind die Auserlesenen Richter (vgl. unten zu 926d4). Eigenartigerweise zählt Platon unter die der Heirat entgegenstehenden Hindernisse (925el) auch den Fall, daß der Sohn eines reichen Vaters die (offenbar weniger reiche) Tochter seines Onkels nicht heiraten will, weil

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er auf eine bessere Partie aus ist (926a9—b2). Ein solcher Fall sollte in Magnesia eigentlich nicht vorkommen, wo keine Mitgift erlaubt ist und wo fiir die Partnerwahl gerade die umgekehrte Maxime gilt, daß der Sohn reicher Eltern eine ärmere Frau heiraten solle (773a ff.). Hier dürfte Platon von den Verhältnissen in Athen beeinflußt sein, wo die Frage der Mitgift bei der Entscheidung zur Heirat einer Erbtochter eine Rolle spiel­ te (vgl. Ruschenbusch 1990, 16-17). - Vom Einspruch wegen unzumut­ barer Härte der gesetzlichen Erbfolgeregelung ist zu scheiden die An­ fechtung der Gültigkeit eines Testaments wegen Willensmängel des Te­ stators, die in 922c 1-3 angedeutet ist. Eine exakte Parallele zur platonischen Härtefallregelung fehlt. In Athen ist die mangelnde körperliche Eignung des nächsten Verwandten nur insofern relevant, als nach dem solonischen Gesetz (Plut. Sol. 20,4 = Solon F 51a.b Ruschenbusch = T 444a.d Martina) bei Zeugungsunfahigkeit des Verwandten die Ehe der Erbtochter aufgelöst wird. Die Möglich­ keiten, die ein Mann in Athen oder Gortyn zur Ablehnung der Erbtochterheirat hat, sind oben S. 487 genannt. 923a5 die Inschrift der Pythia: Gemeint ist die Inschrift am delphi­ schen Apollontempel, die auch Charm. 164d, Prot. 343b, Phaidr. 229e, Phil. 48c zitiert wird.

923b7 heiter und uns wohlgesonnen (ϊλεώ τε καί ευμενείς): Diese Junktur bezeichnet Resp. 496e2 die Haltung des zufrieden aus dem Le­ ben scheidenden Philosophen.

923d5 und dessen gesamter Ausstattung (κατασκευής): Die Ausstat­ tung bildet vermögensrechtlich eine Einheit mit dem Landlos (vgl. 744e, 855a-b, 856d, Bd. II 329). Eine Anschauung von einer solchen Ausstat­ tung gibt die Liste der unpfändbaren Gegenstände in einem gortynischen Volksbeschluß (Inscr. Cret. IV 75 B 5-7): Webstuhl und Wolle, Werkzeu­ ge zur Wollbearbeitung, eiserne Geräte, Pflug, ein Joch Ochsen, Grab­ scheit, unterer und oberer Mühlstein (dazu Link 1991, 113). 924a3—4 von dem hinzuerworbenen Vermögen (της επίκτητου): Die Unterscheidung zwischen dem von den „Vätern ererbten“ (πατρώα) und dem vom Losinhaber hinzuerworbenen (επίκτητα) Vermögen kennt auch das attische Recht. Höchstwahrscheinlich räumte es einem Testierer größere Freiheit bei der Verfügung über das hinzuerworbene als über das ererbte Vermögen ein (Harrison 1968, 125. 233).

924b8—c2 für das ganze Vormundschaftswesen und für alle Waisen usw.: Ich verbinde wie Ficino πάντων mit των ορφανών (vgl. πάσης επιτροπής).

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924c5 soll nach Möglichkeit nie eine Unterbrechung eintreten: Vgl. die analoge Bestimmung für die Bestellung eines Vormundes 766c-d.

924d4—5 die enge Verwandtschaft der Familie: Der Terminus αγχιστεία (vgl. noch 924el0, 925d4) bezeichnet wie im attischen Recht den engeren Kreis der Verwandten (innerhalb dessen die männlichen Verwandten erbberechtigt waren) im Unterschied zu den Seitenverwand­ ten (συγγένεια). Die Grenze der Anchistie wird durch die Formel μέχρι ανεψιών παίδων bezeichnet (766c7, 877dl, 878d7—8, Demosthenes, Or. 43,51). Nach der herrschenden Meinung, der auch Karabélias 1989a, 59 folgt, bezeichnet ανεψιός den Cousin des Erblassers (vgl. Thompson 1971), so daß die Formel besagt „bis (einschließlich) zu den Kindern (Söhnen) der Cousins“, d. h. bis zu den Enkeln der Onkel und der Tanten des Erblassers; die Mitglieder der Anchistie haben demnach denselben Großvater (väterlicher- oder ersatzweise mütterlicherseits). Die attische Anchistie umfaßte also 1) Brüder des Verstorbenen/Erblassers vom sel­ ben Vater und deren Nachkommen; 2) Schwestern vom selben Vater und ihre Kinder; 3) Brüder des Vaters des Verstorbenen und ihre Kinder und Enkel; 4) Schwestern des Vaters des Verstorbenen und deren Kinder und Enkel; danach folgen in gleicher Reihenfolge die entsprechenden Ver­ wandten mütterlicherseits, beginnend mit dem (Halb-)Bruder von dersel­ ben Mutter (im Stemma bei Karabélias a. a. O. nach S. 56 mit den Ziffern I - III bezeichnet). Andere (z.B. Harrison 1968, 143 Anm. 1 und 146, Thür 1996) verstehen unter ανεψιός den Sohn des Großonkels (= des Bruders des Großvaters) des Erblassers, so daß die Anchistie die Ver­ wandten bis zu den Enkeln des Großonkels = den Urenkeln des Urgroß­ vaters des Erblassers umfaßt (im Stemma von Karabélias mit den Ziffern I - IV bezeichnet). Vgl. auch die Anm. zu 766c2-d2.

924e4~9: Die hier angegebene Reihenfolge der Anwärter auf die Hand der Erbtochter deckt sich im wesentlichen mit der Reihenfolge in Athen. Allerdings endet bei Platon die Reihe der Verwandten mit dem Sohn des Bruders und dem Sohn der Schwester des Vaters (also den Cousins) des Erblassers (zu 925a6 s.u.), während sie in Athen (nach der herrschenden Meinung s. o.) bis zu den Söhnen dieser Cousins reicht. Ein weiterer Un­ terschied besteht darin, daß in Athen die Verwandten mütterlicherseits (die Kognaten) erst an 5. Stelle nach den 4 Klassen der Agnaten zum Zu­ ge kommen, während Platon in 924e4 den Halbbruder von mütterlicher Seite gleichberechtigt neben dem (Voll oder Halb-)Bruder vom selben Vater nennt. Unklar läßt der Text, ob dieser Halbbruder mütterlicherseits sofort zum Zuge kommt, wenn ein Bruder vom selben Vater fehlt, oder erst, wenn alle Verwandten von männlicher Seite ausfallen (was der atti­ schen Praxis entspräche).

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924e9—925a2 Und in dieser Weise soll die Familie jeweils ... vorrü­ cken, indem sie also über die Brüder und die Geschwistersöhne aufsteigt, und zwar zuerst die Verwandten von männlicher Seite, dann die von weiblicher Seite um einen Verwandtschaftsgrad später: Der Passus for­ muliert in allgemeiner Form das der Reihenfolge in 924e4-9 zugrunde liegende Prinzip (vgl. auch das solonische Gesetz bei Demosthenes, Or. 43,51 = F 50b Ruschenbusch = T 427a Martina). Die Verwandtschaft „steigt auf6 oder „geht rückwärts“ (έπανιόν al), indem sie von den Ge­ schwistern des Erblassers und deren Söhnen zu dem Onkel (Vatersbru­ der) des Erblassers und dessen Nachkommen zurückgeht. Den Dativ ένι γένει (a2) verbinde ich wie Susemihl als Dativ des Maßes mit ύστερον: da die weiblichen Verwandten selbst nicht erbfähig sind, kommen die Nachkommen der weiblichen Linie immer erst um einen „Verwandt­ schaftsgrad“ (so K. F. Hermann 1836b, 29 Anm. 98 zu γένει) oder „um eine Generation“ später zum Zug: so sind z.B. bei Fehlen eines Bruders (und seiner Nachkommen) die Söhne der Schwester, also die Neffen, erbberechtigt. Fraglich ist es, ob der bloße Dativ ένι γένει „in einer Ge­ neration“ bedeuten kann (so die meisten Übersetzer und auch ich selbst 1977; Ast wollte daher vor ένι ein εν einschieben). In diesem Fall würde ένι γένει denselben Sachverhalt auf andere Weise ausdrücken: „in der­ selben Generation“ oder auf derselben Verwandtschaftsstufe kommt die weibliche nach der männlichen Linie zum Zug, z.B. beim Fehlen eines Bruders vom selben Vater ein Bruder von derselben Mutter, auf der Stufe der Neffen nach dem Sohn des Bruders der Sohn der Schwester und auf der Stufe der Cousins nach dem Sohn des Onkels der Sohn der Tante. 925a4—5 indem er die Männer nackt und die Mädchen bis zum Nabel entblößt beschaut: Aristophanes, Wespen 578 spielt auf eine Prüfung nackter junger Männer an, die wohl vor deren Aufnahme in das Demenregister stattfand und sicherstellen sollte, daß der junge Mann nach Aus­ weis seiner körperlichen Entwicklung das hierfür vorgeschriebene Alter von 18 Jahren erreicht hatte (Lipsius 284 beschränkt diese Alterskontrol­ le auf die Waisenkinder). Nach Susemihl 1768 Anm. 701 konnte eine sol­ che Prüfung in Athen auch notwendig werden, wenn ein entfernterer Ver­ wandter den Anspruch des näheren Verwandten auf die Erbtochter mit der Behauptung bestritt, daß dieser noch nicht die körperliche Reife für eine Heirat besitze; Platon sei hierin vom attischen Recht beeinflußt (so schon K. F. Hermann, 1836b, 27). Eine ähnliche Prüfung im Zusammen­ hang mit der Erbtochterehe schließt jedoch Becker 327 fiir Athen aus, „weil der Anspruch des nächsten Verwandten ohne Rücksicht auf Eig­ nung und Neigung Platz griff6.

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925a6 bis zu den Enkeln des Bruders (αδελφού ύιδών) und ebenso den Kindern des Großvaters: Gegenüber der Angabe in 924e4—9 geht die absteigende Reihe der Verwandten hier eine Generation weiter: die Enkel des Bruders sind die Söhne der Cousins, die auch im Attischen Recht die Grenze der Anchistie bilden (s. zu 924d5). Diese Erweiterung läßt sich am besten damit erklären, daß in dem seltenen Fall des Ausfalls aller in 924e—9 genannten Verwandten ausnahmsweise eine Generation weitergegangen werden darf. Mit den „Kindern des Großvaters“ = On­ keln des Erblassers (und ihren Nachkommen) ist eine Grenze im Stamm­ baum nach oben markiert. Es soll also nicht noch weiter zurück bis zu den Kindern des Urgroßvaters (und deren Nachkommen) zurückgegan­ gen werden (die nach Ansicht z.B. von Harrison die attische Anchistie nach oben begrenzten; vgl. zu 924d5). Der Text bedarf daher weder einer Konjektur (vgl. England z. St.) noch stellt er gegenüber 924e—9 ein un­ vereinbares System dar (so aber Karabélias 1983, 188—189).

925b2 man muß ja mit vielen Eventualitäten rechnen: Die freie Über­ setzung gibt die sprichwörtliche Wendung πολλά πολλών wieder (die volle Form bei Euripides, Iph. T. 759 πολλά γάρ πολλών κυρεΐ); vgl. England z. St. und Saunders 1972, Nr. 107.

925dl—5 und zwar zunächst eine Schwester (des Verstorbenen) usw.: Die Reihenfolge der weiblichen Verwandten, die in das verwaiste Haus einziehen, entspricht exakt den in 924e4-9 aufgezählten männlichen Ver­ wandten (= έκείνοις d4). Das Verbum συνοικίζειν hat transitive Bedeu­ tung und wurde so übersetzt, obwohl dann nicht klar ist, wer Subjekt ist („man“). Falls damit die weiteren Verwandten gemeint sein sollten, so wird deren Befugnis aber von Platon durch eine gesetzlich vorgeschrie­ bene Reihenfolge eingeschränkt. Ein ähnlicher subjektsloser Infinitiv be­ gegnet 926c5 (φάναι).

925d4—5 gemäß der Ordnung (Θέμιν), wie wir sie früher gesetzlich festgelegt haben: Gemeint ist die Verteilung und Anzahl der Landlose, die nicht verändert werden darf (vgl. 740b, 741b-c). 925d5—926b6 Wir dürfen nun aber nicht das Drückende solcher Geset­ ze übersehen usw.: Das Erbtochtergesetz kann dem Betroffenen Pflichten auferlegen, die dieser nicht auf sich nehmen will (925e2) oder kann (926a2, b4). Dies liegt im Wesen des Gesetzes, das nur das Allgemein­ wohl ins Auge fassen und die Auswirkungen für das Individuum nicht berücksichtigen kann (vgl. auch 875d). Gesetzesadressaten und Gesetz­ geber müssen daher Verständnis für die objektive Zwangslage der Ge­ genseite aufbringen. Ein Weg zur Abmilderung der Auswirkungen des Gesetzes ist die Einsetzung von „Schiedsrichtern“, durch die (in der Ter­

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minologie von 757d—e) der Billigkeit (επιείκεια) zum Sieg zu verholfen wird (vgl. Saunders 2001, 83-86). Die Argumentation des Betroffenen in 926c2^4 läuft auf das von Aristoteles in der Nikomachischen Ethik im Zusammenhang mit der Billigkeit diskutierte Problem hinaus, ein gege­ benes Gesetz durch Rekurs auf die mutmaßliche Intention des Gesetzge­ bers zu berichtigen, und wendet auch schon die methodische Leitfrage an, die Aristoteles so formuliert: Wie hätte wohl der Gesetzgeber, wenn er im Lande gewesen wäre und wenn er die Einzelheiten gewußt hätte, den Fall gesetzlich geregelt? (Nik. Eth. 5, 14. 1137b22—24). Vgl. hierzu Triantaphyllopoulos 1975, 57 und 1985, 19-20. 29.

926c5 so ist darauf zu verweisen (φάναι): Der Infinitiv φάναι resü­ miert gleichsam den in b6 genannten λόγος (so England z. St.). Stall­ baums Deutung, wonach die Betroffenen auf die Gesetzeswächter als Schiedsrichter verweisen sollen, ist zwar syntaktisch befriedigender, fährt aber zu der Schwierigkeit, daß dann die Betroffenen den 924b8 ff. für die Waisenfürsorge eingesetzten Gesetzeswächtem von sich aus eine Funktion zuweisen, von der bisher nicht die Rede gewesen ist. 926d4 so soll er diese vor das Gericht der Auserlesenen Richter brin­ gen (είσάγων αυτούς): Die ähnliche Formulierung in 946d5—7 und der dortige Sachverhalt (Klage wegen eines als ungerecht empfundenen Ur­ teilsspruchs gegen die Urheber des Urteils vor den Auserlesenen Rich­ tern) legt es nahe, mit Knoch 1960, 123, Anm. 230 und Piérart 1974, 169 unter αύτους die Gesetzeswächter (und nicht die beiden klagenden Par­ teien) zu verstehen, gegen deren Urteil der Betroffene Beschwerde vor den Auserlesenen Richtern (vgl. 767c—d) einlegt. 10.2. 926d8—928d4: Waisenfürsorge und Vormundschaft Der Abschnitt beginnt mit Vorüberlegungen (926d8-e9), in denen das Ziel der folgenden Gesetzgebung abgesteckt wird: Das Los der Waisen­ kinder soll möglichst wenig Anlaß zum Mitleid bieten. Institutionelle Voraussetzung hierfür ist die Einsetzung von 15 Gesetzeswächtem (vgl. 924c), die „nicht schlechtere Väter“ als die verstorbenen leiblichen Väter sein sollen, womit schon der Tenor der folgenden Darlegungen anklingt. Es fehlt nur noch die gesetzliche Regelung. Sie beginnt mit einer Vorre­ de, die sich an die Vormünder und die Aufsichtsbeamten (d.h. die 15 Ge­ setzeswächter) wendet.

926e9—927c7: Vorrede Der Athener verzichtet auf jede sozialethische Begründung der Wai­ senfürsorge und weist statt dessen unter Rückgriff auf 865d ff. und 872d ff. warnend darauf hin, daß die Waisenkinder unter dem Schutz dreier

926d8-928d4

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Mächte stehen: der Götter, denen die Verlassenheit der Waisen nicht ent­ geht (927a8-b2), der toten Vorfahren der Waisenkinder, die aus dem Grab heraus für ihre Nachkommen sorgen (b2-4), und der hochbetagten und hochangesehenen Lebenden, die ihre moralische Autorität für die Waisenkinder einsetzen (b5-c3). Durch den Appell an die Verantwortli­ chen, sich vor dem Zorn dieser Mächte zu fürchten, erhält die Vorrede, wie der Athener später zugibt (928a2-3), den Charakter einer „Dro­ hung“.

927c7-928d4: Das Gesetz Das Bestreben, den Waisenkindern allen denkbaren Schutz zukommen zu lassen, ist wohl die Ursache einer gewissen Unübersichtlichkeit des Gesetzes, die mit juristischen Unschärfen einhergeht. So werden die Pflichten der Vormünder und der Gesetzeswächter nirgends präzise be­ schrieben, was in einer nomothetischen Überlegung mit Proömienfunktion (927d4-928a2) damit begründet wird, daß Vormund und Gesetzes­ wächter durch die Erziehung ihrer eigenen Kinder schon ein Muster für die Erziehung der Waisenkinder hätten (das attische Recht kannte dage­ gen recht detaillierte Pflichten der Vormünder; vgl. dazu Becker 1932, 235-239). Der Vormund wird nur allgemein zur liebenden Fürsorge und zur Verwaltung des Vermögens verpflichtet; die entsprechende Pflicht­ verletzung wird als ύβρίζειν (927c2.8), άδικειν (d2), αμελεΐν (928b6), κακουργεΐν (b7) und κακώς έττιτροπεύειν (c3) bezeichnet. Auch der Inhalt des eigentlichen Gesetzes ist nicht eindeutig zu be­ stimmen. Denn der Passus enthält zwei unterschiedliche Abschnitte, die beide als Gesetz aufzufassen sind: Zunächst mündet die warnende Vorrede mit der typischen Überlei­ tungsformel (z.B. 870e4) in eine Vorschrift mit Gesetzescharakter (927c7-d3). Wer gegen ein vater- oder mutterloses Kind frevelt, muß den Schaden doppelt so hoch ersetzen, wie wenn er gegen ein Kind ge­ frevelt hätte, das noch beide Eltern besitzt. Ungewöhnlich an diesem Ge­ setz ist, daß es den Begriff des Waisenkindes (der nach griechischer An­ schauung das vaterlose Kind bezeichnet) auch auf Kinder ohne Mutter ausdehnt (d2) und daß die Strafandrohung so formuliert ist, daß sie dem Wortlaut nach für Jeden gilt, der ein solches Kind schlecht behandelt (al­ so nicht nur für die Vormünder und Gesetzes Wächter). Dieser weite An­ wendungsbereich des Gesetzes findet eine Stütze in dem Gesetz bei De­ mosthenes, Or. 43,75, das offenbar jeden Frevel gegen Waisenkinder, gleichgültig durch wen, unter Strafe stellt. Ausdrücklich für die Vormünder und für die Gesetzeswächter, die die Aufsicht über sie ausüben, wird dann in 928a2ff. — nach den nomotheti­ schen Erwägungen 927d4-928a2 - eine Vorschrift erlassen, die zunächst

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nicht als Gesetz, sondern als „Drohung“ (928a3) bezeichnet wird. Sie fordert lediglich, daß jeder ein Waisenkind wie sein eigenes lieben und sein Vermögen so sorgfältig wie das eigene verwalten soll. Diese Forde­ rung wird ausdrücklich als das „einzige Gesetz“ bezeichnet, das fiir die Waisenfiirsorge gelten soll (bl-2). Die Bezeichnung als „Drohung“ läßt sich nur mit Bezug auf die anschließenden Strafbestimmungen fiir Zuwi­ derhandlungen rechtfertigen. Für diese sind im einzelnen folgende Kla­ gemöglichkeiten vorgesehen: 1) Der Beamte straft den pflichtvergessenen Vormund unmittelbar (928b3-4). 2) Der Vormund bringt den Beamten vor die Auserlesenen Richter; die Strafe besteht in einer Zahlung in doppelter Höhe des vom Gericht abge­ schätzten Schadens (b4-6). 3) Ein Verwandter oder Dritter klagt gegen den Vormund vor den Aus­ erlesenen Richtern (928b6-c2). Der schuldig gesprochene Vormund muß das Vierfache des vom Gericht abgeschätzten Schadens zahlen, wovon eine Hälfte an das Kind, die andere Hälfte an den Kläger geht. 4) Das volljährige Mündel klagt gegen den Vormund oder den Beam­ ten (928c2-d4): Die Klagefrist beträgt 5 Jahre nach Ablauf der Vormund­ schaft. Gerichtsinstanz ist vermutlich das Gericht der Auserlesenen Rich­ ter. Das Gericht verhängt bei Schuldspruch folgende Strafen: a) Der Vormund erhält eine Geld- oder Körperstrafe (vgl. S. 263 zu 855a7—c6). b) Der Beamte hat bei bloßer Nachlässigkeit eine Geldstrafe an das Kind zu zahlen. Bei böser Absicht (αδικία) verliert er zusätzlich zur Strafe sein Amt als Gesetzeswächter. Platons Vorschriften lehnen sich weitgehend an die athenischen Rege­ lungen an, allerdings ohne deren juristische Klarheit zu erreichen (nach Becker 1932, 244 vermengt Platon Privatklage, Straf- und Verwaltungs­ verfahren ohne Zuständigkeitsabgrenzung). Ein durchgehender Unter­ schied besteht darin, daß in Athen die staatliche Aufsicht über die Wai­ senfiirsorge von dem Archon eponymos ausgeübt wurde, während Platon damit jährlich drei Gesetzeswächter beauftragt (vgl. 924c3, 926e5-6), die im eigentlichen Gesetz als Beamte (αρχών oder άρχοντες) bezeich­ net werden. Im einzelnen lassen sich folgende Entsprechungen aufzeigen: Zu 1): Hier handelt es sich um die Strafbefugnis, die alle Beamten in ihrem Amtsbereich und insbesondere die Gesetzeswächter haben (vgl. Nom. 767a und die Stellen in Bd. II428 unter C 5). In Athen sollte (nach Demosthenes, Or. 43,75) der Archon demjenigen, der gegen ein Waisen­ kind frevelt (ύβρίζη) oder etwas Ungesetzliches tut, eine Geldbuße von 50 Drachmen auferlegen; hält er eine höhere Strafe für erforderlich, soll er den Fall vor das Volksgericht (Heliaia) bringen.

926d8—928d4

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Zu 2): Klagen eines Vormundes gegen den Archon sind für Athen nicht belegt (Piérart 1974, 168). Theoretisch möglich war sie jedoch während dessen Amtszeit durch Eisangelie an den Rat (Aristoteles, Ath. pol. 45,2; dazu Hansen 1995, 230) und nach Ende der Amtszeit als An­ klage bei den Euthynen. Zu 3): Da neben dem Verwandten auch jeder Bürger gegen den Vor­ mund klagen darf, handelt es sich um eine Popularklage. Die Vermutung von Knoch (1960, 99 Anm. 200), daß das platonische Gesetz auch die Gesetzeswächter (also die Aufsichtsbeamten) mit Strafe bedroht, findet am Text keine Stütze, der immer die Beamten gesondert neben den Vor­ mündern nennt. Als attisches Pendant kommen die jeweils beim Archon einzureichende γραφή ορφανών κακώσεως oder die γραφή οϊκου ορφανικού κακώσεως (wegen Veruntreuung des Vermögens des Mün­ dels) in Betracht (Aristoteles, Ath. pol. 56,6; bei erster handelt es sich al­ lerdings nach Harrison 1968, 117 um die Klageform der Eisangelia; bei letzterer nach Harpokration s. v. φάσις um eine Phasis, zu dieser vgl. Harrison 1971, 218-221). Daß nach Platons Gesetz die halbe Strafsum­ me an den Kläger gehen soll (so in den Nomoi nur noch 745a), entspricht der attischen Anzeigeform der φάσις. Für die Anzeige einer Verletzung der Vormundschaftspflicht ist allerdings eine solche Belohnung im atti­ schen Recht nicht belegt; Harrison 1968, 116 Anm. 1 folgert ihre Exi­ stenz jedoch aus Platons Gesetz. Sie kann aber auch durch Platons Ten­ denz zur Verschärfung der attischen Regelungen (s.u.) bedingt sein. Zu 4a): Diese Klagemöglichkeit entspricht der in Athen möglichen Pri­ vatklage (δίκη) gegen den früheren Vormund (δίκη επιτροπής), für die ebenfalls eine 5jährige Klagefrist galt (Aristoteles, Ath. pol. 56,6; De­ mosthenes, Or. 38,17; dazu Harrison 1968, 119; belegte Fälle bei Osbor­ ne 1985, 57). Zu 4b): Eine analoge Klage des Mündels gegen den für die Waisenfür­ sorge zuständigen Archon konnte in Athen bei der Rechenschaftsable ­ gung vor den Euthynen vorgebracht werden. Im ganzen hat Platon den Schutz der Waisenkinder gegenüber dem at­ tischen Recht verstärkt. Er sieht ausdrücklich eine Klage des Vormunds (2) und des volljährigen Mündels (4b) gegen den nachlässigen Beamten vor, die in Athen nur im Rahmen der allgemeinen Klagen möglich war. Auch die ungewöhnliche Vervierfachung der Strafsumme und die Beloh­ nung des Anzeigenden mit der Hälfte derselben (3) verrät das Streben nach stärkerem Schutz der Waisenkinder. Überhaupt wird durch die Ver­ doppelung oder Vervierfachung der vom Gericht geschätzten Schadens­ summe und durch die Zulassung nichtpekuniärer Bußen (928c6) ein ein­ deutiges Element der Strafe in das Privatrecht eingefiihrt, das in Athen nur den Schadensersatz kannte (vgl. Gemet 1951, p. CCIII); Analoges ist

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auch im Gesetz gegen die Mißachtung der Eltern (932a ff.) zu beobach­ ten. Lit.: Lipsius 344-349. 520-527, Harrison 1968, 97-121, D. Becker 1968, Weiler 1988, 15 ff., Todd 1993, 103. 107-108. 926el—2 ist bereits besprochen worden: In Buch II und VII.

926e5 Als erstes nun, behaupten wir: Ich folge dem Text von Burnet, der φαμεν in den Text aufnimmt (so auch England, der die Einfügung für eine Verbesserung hält); Diès’ Berufung auf England (im App.) für die Auslassung von φαμεν ist unkorrekt. 926e6 beauftragen wir jährlich drei von ihnen: Ich übernehme wie England und Diès Susemihls Einfügung von τρεις (geschrieben als γ’) vor oder hinter καθ’ έκαστον ενιαυτόν (vgl. 924c3).

927al die früheren Ansichten: Vgl. 865d—866a. 927a4—6 doch muß man in derartigen Dingen den sonstigen Überliefe­ rungen glauben: Zum Glauben an die Tradition, wo kein strikter Beweis möglich ist, vgl. Tim. 40d-41a.

927b 1—2 die Götter droben fürchten, die ein Wahrnehmungsvermögen für die Verlassenheit der Waisen haben: αϊσθησιν εχειν oder αϊσθησις εστιν (+ Dativ der Person) und ähnliche Wendungen werden oft von To­ ten gebraucht, die noch ein Empfinden für die Vorgänge auf der Erde be­ sitzen (z.B. Menex. 248b7; Isokrates, Or. 9,2; 19,42; Lykurg, Leokr. 136; Ps.-Platon, Epist. II 311c7-8; Demosthenes, Or. 20,87). Hier ist der Ausdruck auf die als allwissend geltenden Götter angewandt. Nach tradi­ tioneller Vorstellung ist es vor allem Zeus, der für die Schutzlosen (z.B. für Fremde und Bittflehende 729e) eintritt; daher erregen Vergehen ge­ gen Waisenkinder seinen besonderen Zorn (Hesiod, Erga 330). - Die auf Hérault zurückgehende Umstellung von b7-c3 (καί τα περί ταυτα ... ίερωτάτην) hinter εχουσιν (b2) wird von England mit überzeugender Begründung zurückgewiesen.

927b2—4 sodann die Seelen der Dahingegangenen: Zur Macht der To­ ten, aus dem Grab heraus zu wirken, vgl. 865d sowie Dover 1974, 243 ff, Vrugt-Lentz 1976, 611 f. 927d4 Was die sonstige Gesetzgebung (την άλλην νομοθεσίαν) ... angeht: Saunders 1972, Nr. 109, S. 112 sieht in άλλην den Gegensatz des Gesetzes zur Vorrede bezeichnet. Da aber schon ein allgemeines Gesetz in 927c7—d3 vorausgeht, scheint es besser, unter der άλλη νομοθεσία im Unterschied zu dem allgemeinen Gesetz die spezielle Gesetzgebung für den Vormund und den Gesetzeswächter zu verstehen.

928b 1 besser als das seine'. Ich folge dem Text von Burnet.

928d5—929d3

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928c6 zu erleiden oder zu bezahlen (παθείν ή άποτίνειν): Im vorlie­ genden Fall dürfte mit πάσχειν in Analogie zu 932b7 (Vernachlässigung der Eltern; dazu Knoch 1960, 144) eine Haftstrafe gemeint sein. 928d3—4 die Stadtgemeinde aber (τά δε κοινόν της πόλεως) soll ... einsetzen: Mit το κοινόν τής πόλεως dürfte die Volksversammlung ge­ meint sein (vgl. Morrow 1960a, 206, Piérart 1974, 147). Falls die gene­ relle Vorschrift zur Besetzung (καθιστάναι) vakanter Ämter (766c; vgl. Bd. II 424) auch für den vorliegenden Fall gilt, so müßten vermutlich die Prytanen eine Nachwahl nach dem fiir die Wahl der Gesetzeswächter vorgesehenen Modus (vgl. Bd. II 368) veranlassen. 10.3. 928d5—929d3: Verstoßung von Söhnen Das Rechtsinstitut der Apokeryxis („Verstoßung“), mit dem die väter­ liche Gewalt über den Sohn gelöst wurde, ist auch fiir Athen anzuneh­ men, obwohl dort kein Fall einer Apokeryxis sicher nachweisbar ist. Die Apokeryxis erfolgte öffentlich unter dem Ruf eines Herolds (κήρυξ). Ih­ re gravierendste Folge war der Ausschluß aus dem Familienkult und aus der Erbfolge. Ob der Verstoßene in Athen automatisch das Bürgerrecht verlor, ist nicht sicher. Die Vermutung von Lipsius (504), daß in Athen eine gerichtliche Klage gegen die Apokeryxis möglich war, stützt sich auf sehr späte Texte (Lukian) und wird daher von Wurm 1972, 17 zu­ rückgewiesen. Auch eine Kontrolle der Apokeryxis durch die Mitglieder der Phratrie ist nicht erweisbar (Wurm 18). Eine gewisse Kontrolle stellte aber sicherlich die geforderte Publizität der Apokeryxis dar, die eine leichtfertige Verstoßung verhinderte (vgl. Wurm 17). In Platons Gesetz zieht die Apokeryxis automatisch den Verlust des Bürgerrechts nach sich, dem der Verstoßene nur durch Adoption in eine andere Familie entgehen kann. Wegen dieser weitreichenden Wirkung überläßt Platon die Apokeryxis nicht wie in Athen dem Ermessen des Vaters, sondern überträgt die Entscheidung hierüber einem Familienrat, in dem weder die Eltern noch der Sohn Stimmrecht haben. Die zur Apo­ keryxis berechtigenden Gründe werden von Platon nicht präzisiert; in ei­ nem proömienartigen Abschnitt (928d5-929a4) werden lediglich „Zer­ würfnisse“ (διαφοραί) und charakterliche Mängel auf beiden Seiten und zu Beginn des Gesetzes „Zorn“ (a6) des Vaters genannt. — Lit.: Thal­ heim 1894, Lipsius 502-504, Becker 1932, 217-219, Gemet 1951, p. CLXIII, Harrison 1968, 75 ff., Wurm 1972.

929bl—2 seine eigenen Verwandten zusammenrufen bis zu den Ge­ schwisterkindern (μέχρι άνεψιών): Hermann wollte μέχρι ανεψιών παίδων („bis zu den Kindern der Geschwisterkinder“) schreiben, um Übereinstimmung mit den Formulierungen 766c7, 877dl und 878d7-8

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herzustellen. Da jedoch die Einberufung eines Familienrats eine platoni­ sche Neuerung ist, war Platon nicht an die in Athen übliche Grenze der Anchistie gebunden (vgl. zu 924d5); die Begrenzung der Verwandtschaft sollte vermutlich bewirken, daß die meisten Mitglieder des Familienrats bereits Eltern sind (vgl. die entsprechende Bedingung 878e) und so sich am ehesten in den Vater einfühlen können. Bemerkenswert ist auch, daß diesem Familiengericht (ebenso wie 878d) auch Frauen angehören (929c 1).

929cl~2 sonst aber alle erwachsenen Frauen und Männer: Ich folge Burnets Text und übernehme lediglich die von Ast vorgeschlagene Än­ derung von των τε άλλων in των δέ άλλων. 929c5—6 denn der Charakter der jungen Leute pflegt ja naturgemäß zahlreiche Veränderungen im Leben durchzumachen: Vgl. hierzu die schon von Stobaios 4,11,16-18 (IV 340,13-341,4 Hense) zusammenge­ stellten Aussagen von Platon Symp. 181el-3 und Theophrast (Fr. 539 Fortenbaugh). Nach Ps.-Platon, Epist. XIII 360d2 ist der Mensch gene­ rell ein leicht wandelbares Wesen (ζωον εύμετάβολον).

929dl die ... überzähligen Nachkommen (έπνγόυωυ): Das Wort be­ zeichnet wie 740c7 die Söhne, die über den zum Erben des Landloses be­ stimmten Sohn hinaus geboren wurden (vgl. auch 923d). 10.4. 929d3—e8: Entmündigung des Vaters

Ziel der Entmündigung des Vaters ist es, ihm die Verfügung über sein Vermögen zu entziehen (vgl. e6—8). Die hierzu einzureichende Klage war in Athen eine γραφή παρανοίας (,wegen geistiger Verwirrung6; vgl. Aristoteles, Ath. pol. 56,6), die vor einem ordentlichen Gericht ver­ handelt wurde. Lit.: Lipsius 355f., Becker 1932, 211 f., Harrison 1968, 79-80, Gemet 1951, p. CLXIV. Platon bezeichnet die Klage in el als Privatklage (δίκη) und in e4 nach attischem Vorbild als Schriftklage (γραφή), die aber nur ein Sohn einrei­ chen kann. Eine genauere Bestimmung des Begriffs παράνοια (etwa ,geistige Störung6) fehlt ebenso wie im attischen Gesetz; immerhin nennt Platon mögliche Ursachen der πάρανοια (d3—5) und gibt als konkreten Klagegrund die Ruinierung des Hauses infolge der παράνοια an. Eine Besonderheit seines Gesetzes gegenüber Athen besteht darin, daß der Sohn vor einer Klage die Gesetzeswächter um Rat fragen soll; diese Vor­ schrift gilt wohl generell (und nicht nur für den Sohn, der Bedenken ge­ gen eine Klage hat). Pierart 1974, 172 Anm. 101 folgert aus dem Wort­ laut des Gesetzes, daß der Sohn auch klagen kann, wenn ihm die Geset­ zeswächter von einer Klage abraten; nur verliere er dann die Unterstüt-

929e9—930dl

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zung durch die Beamten; doch scheint mir diese Folgerung nicht zwin­ gend. — Zur strafrechtlichen Bewertung von geistiger Unzurechnungsfä­ higkeit vgl. 864c—e. 929e8 wie ein Kind behandelt werden: Ich folge dem Vorschlag von Saunders 1972, Nr. Ill S. 112, der fur ,passives4 οίκεΐν („verwaltet wer­ den“) auf Symp. 182b7 und Krat. 409e2 verweist.

10.5. 929e9—930dl : Auflösung der Ehe durch Scheidung oder Tod. Wiederverheiratung. Neben der Scheidung wegen Unfruchtbarkeit (784b) läßt Platon hier die Auflösung der Ehe wegen Zerrüttung zu. Vor der Scheidung soll ein aus den Eheaufseherinnen und zehn Gesetzeswächtem mittleren Alters bestehendes Gremium einen Versöhnungsversuch unternehmen; erst nach dessen Scheitern soll die zerrüttete Ehe durch eine Ehe der geschie­ denen Partner mit einem neuen Partner ersetzt werden. Als Gründe für diese zwangsweise Neuverheiratung nennt der Athener (1) die Erzeu­ gung von Kindern und (2) die Versorgung im Alter. An den Formalia der Eheauflösung ist Platon wenig interessiert. Die Besonderheit seines Gesetzes gegenüber der athenischen Scheidungspra­ xis (vgl. hierzu ausführlicher Bd. II494 zu 784b5) besteht neben der Vor­ schaltung eines Versöhnungsversuchs darin, daß die Auflösung der Ehe durch Beamte erfolgen soll und demnach eine einseitige Auflösung durch eine αποπομπή seitens des Mannes bzw. einer απόλειψις seitens der Frau (wie sie in Athen neben einer einvernehmlichen Scheidung möglich war) nicht vorgesehen ist. Damit stellt Platon die Frau besser als in Athen, wo die Frau — anders als ihr Ehemann — eine Scheidung nur un­ ter Mitwirkung der Behörde erreichen konnte. Eine weitere Abweichung von Athen besteht darin, daß die Scheidung im Regelfall eine neue Ehe nach sich zieht, die primär der Erzeugung von Kindern dient. Die Frage des Verbleibs der vorhandenen Kinder wird von Platon nicht erörtert. Nach attischem und gortynischem Recht bleiben die Kinder beim Vater (Becker 1932, 152). Auch beim Tod eines Ehepartners ist für Platon der wichtigste Ge­ sichtspunkt die Sicherung der für die Landverteilung erforderlichen Nachwuchsrate. Wenn noch keine Kinder in der Familie geboren sind, ist daher der verwitwete Partner in jedem Fall verpflichtet, wieder zu heira­ ten. Ist die gesetzlich geforderte Kinderzahl (mindestens ein Knabe und ein Mädchen) vorhanden, rät das Gesetz dem Witwer von einer neuen Ehe ab, während es der Witwe eine Wiederverheiratung verbietet außer in dem Fall, daß ihre Gesundheit durch die sexuelle Abstinenz Schaden nimmt (s. dazu unten).

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In Athen hatte eine Witwe die Option, entweder im Haus ihres Gatten zu bleiben oder in ihr Elternhaus zurückzukehren. Die zweite Alternative ist der magnesischen Witwe verwehrt. Eine Beeinflussung Platons durch den unteritalischen Gesetzgeber Charondas, wie sie Becker 80-81 ver­ mutet, ist angesichts der zweifelhaften Überlieferung unbeweisbar (vgl. Hölkeskamp 1997). Er soll z.B. gesetzlich festgelegt haben, daß ein Mann, der seinen Kindern eine Stiefmutter ins Haus brachte, von öffent­ lichen Beratungen ausgeschlossen wurde (Diodor 12,12,1 bzw. 12,14,1) oder daß eine Frau (bzw. ein Mann) nach einer Scheidung eine neue Ehe nur eingehen durfte, wenn der neue Partner älter als der frühere war (Dio­ dor 12,18,1). Lit.: Becker 1932, 143ff., Gemet 1951, p. CLXVIII f., Piérart 1974, 163 f., zum attischen Recht: Harrison 1968, 38—45, Todd 1993, 214f., Cohn-Haft 1995.

930al mittleren Alters (τους μέσους): Also weder die jüngsten (wie 916c) noch die ältesten (wie 924c); weniger befriedigend ist die Deutung von Ast, Stallbaum oder Jowett als „unparteiisch“ (so Thukydides 4,83,3); vgl. Englands Kommentar z. St. Gegen die Interpretation „als Vermittler“ (ähnlich Susemihl) spricht der Artikel. 930al—2 zehn aus den für die Ehen zuständigen Frauen: Ihr Einset­ zung wird 784al-3 erwähnt (ohne Angabe der Anzahl); zu ihren Funk­ tionen vgl. noch 784a-c, 794b und 932b. 930a4—5 der zu jedem der beiden paßt (συνοίσουσιν): Der Text wird von Renehan 1976, 140 unter Verweis auf Aristophanes, Lys. 165f. ge­ gen jeden Eingriff verteidigt. 930a6— 7 also muß man bedächtigere und sanftere Charaktere mit ih­ nen als Gatten zu verbinden suchen: Dies entspricht den in 773a—e ent­ wickelten Richtlinien fiir die Partnerwahl. In a6 folge ich mit Diès der Variante κεκραμένους (O3 i. m.), die sich durch Phaidr. 279a4 (ήθει γεννικωτέρω κεκρασθαι) stützen läßt.

930c2—4 scheint sie jedoch jünger zu sein als nötig, um ohne Beein­ trächtigung ihrer Gesundheit ohne Mann zu leben: Dahinter steht die Theorie, daß eine gebärfahige Frau ohne sexuellen Verkehr zu ,hysteri­ scher* Erkrankung neigt; vgl. Tim. 90b-c; dazu Föllinger 1996b , 446 Anm. 38 mit Verweis auf Hippokrates, De mul. (VIII Littré) 1,7. 62; 2,127. 128. 131. 135. 137. 169; Zoepfel 2006, 344. 930c7—8: Die Zweikinderfamilie war sicher aus wirtschaftlichen Grün­ den in Griechenland weit verbreitet (schon Hesiod, Erga 376-377 hält die Beschränkung auf einen einzigen Sohn als Erben fiir wünschens­ wert); wohlhabendere Familien hatten aber auch mehr Kinder (Familien

930dl—e2

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mit fünf Kindern werden bei den Rednern öfters bezeugt; vgl. Wilamowitz 1920,1 538 Anm. 1, Lacey 1983, 154-156).

10.6. 930dl—e2: Status der Kinder von Sklaven Um zu verhindern, daß die Kinder von Sklaven in die freie Familie und als Bürger in die Stadt aufgenommen werden, werden folgende Be­ stimmungen aufgestellt: 1) Kinder einer Sklavin, ganz gleich von wem, sind in jedem Fall Skla­ ven und gehören dem Herrn der Sklavin (d3-5). 2) Kinder aus der Verbindung einer Freien und eines Sklaven sind Sklaven und gehören dem Herrn des Sklaven (d5—6). Dazu kommen Sonderfalle: 3) Ist der Vater des Kindes zugleich der Herr der Sklavin, soll das Kind zusammen mit der Sklavin durch die zuständigen Beamten aus der Stadt ausgewiesen werden (d6—el). 4) Ist die Mutter der Kindes zugleich Herrin des Sklaven, wird das Kind mit dem Sklaven ausgewiesen (d6-e2). Platons Regelung ist rigoroser als alle aus der Antike bekannten Rege­ lungen. Das Kind aus einer sozial heterogenen Verbindung erhält bei ihm immer den Status des sozial tiefer stehenden Eltemteils. Im griechischen Recht erhielt dagegen das Kind nach dem Grundsatz partus sequitur matrem den Status der Mutter (vgl. Gemet 1951, p. CXX); ihm folgt Pla­ ton nur im Fall 1 und im Sonderfall 3. Im Falle 2 und 4 verfährt Platon vermutlich strenger als das attische Gesetz, nach welchem das Kind einer freien Bürgerin und eines Sklaven frei (wenn auch kein Bürger) war (so zumindest im 1. Jh. n.Chr. nach Dion v. Prusa, Or. 15,3). In Gortyn war das Kind einer Freien und eines Sklaven frei, wenn der Sklave in das Haus der Freien zog und sie heiratete; zog die Freie zum Sklaven, blieb das Kind Sklave (Inscr. Cret. IV 72 col. VI 55 - VII 4). Möglicherweise war aber das attische Recht auch im Fall 1 und 3 liberaler als Platon; denn neben der Auffassung, daß das Kind eines freien Vaters und einer Sklavin Sklave war, wird in der Literatur auch die Ansicht vertreten, daß das Kind in diesem Fall den Status des sozial höherstehenden Eltemteils erhielt (vgl. die Diskussion bei Harrison 1968, 164; ferner Becker 1932, 70-71).

10.7. 930e3—932d8: Vernachlässigung der Eltern und Voreltern

Die Achtung und die Fürsorge für die Eltern gilt im antiken Griechen­ land nicht nur als eine moralische, sondern auch als eine religiöse Pflicht (vgl. die Belege in Bd. II 215-217 zu 717b4-718a6; ferner Lumpe 1959, 1192-1194, Zoepfel 2006, 358 f.). Die Pflicht verlangt absoluten Gehör-

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sam gegen die Eltern, Verzicht auf Beleidigungen oder Tätlichkeiten ge­ gen sie, Beistand in Gefahr, Gewährung einer Unterkunft und überhaupt die materielle Unterstützung im Alter (γηροβοσκία, γηροτροφία) so­ wie die Bestattung und Pflege ihres Grabes. Auf Vernachlässigung der Eltern standen in allen Rechtsgemeinschaften schwere Sanktionen (vgl. De Schütter 1991, 229 ff.). Wie hoch in Athen das Verhalten gegenüber den Eltern bewertet wurde, geht u. a. daraus hervor, daß in der Dokimasie der designierte Beamte gefragt wurde, ob er seine Eltern gut behandle (Aristoteles, Ath. pol. 55,3). Platon hat die Pflichten der Kinder gegen ihre Eltern und Vorfahren be­ reits in dem allgemeinen Proömium des 4. Buchs (717b) zur Sprache ge­ bracht. Der tätlichen Mißhandlung der Eltern war im Strafgesetzbuch ein eigener Abschnitt des Gesetzes über die Mißhandlungen (αίκίαι) gewid­ met (880dff.). Im vorliegenden Gesetz kann es nur um die darüber hinaus noch verbleibenden Formen der Vernachlässigung von Eltern und Vor­ fahren gehen. Sie werden allerdings im Gesetz nicht näher spezifiziert. Die Frage des Kleinias nach der rechten Weise der Ehrung der Eltern (931bl) beantwortet der Athener erst gegen Ende der Vorrede (932a4ff.) mit dem vagen Hinweis auf die vom Gesetz (oder der Sitte?) geforderten Ehren (έννόμοις τίμαις). Die Wichtigkeit des Gegenstandes erfordert die Vorschaltung einer Vorrede vor das eigentliche Gesetz. Die Vorrede (930e3-932a7) argumentiert (wie 880e) mit der Reaktion der Götter auf gute bzw. schlechte Behandlung der Eltern. Ausgangs­ punkt ist die Gleichsetzung der Sorge für die Eltern mit der Verehrung der Götter (wie schon 717b ff.). Die Gunst der Götter gewinnt man nach allgemeiner Überzeugung sowohl durch Verehrung der sichtbaren Götter (d.h. der Gestirne; vgl. Tim. 41a) als auch durch die Verehrung von Kultbildem als Repräsentanten des Göttlichen. Nun gibt es neben den leblo­ sen (unbeseelten) Kultbildem auch beseelte (93le 1-2) Repräsentanten des Göttlichen in Gestalt der Eltern und Vorfahren. Wenn nun aber schon die Verehrung lebloser Bilder uns die Gunst der Götter erwirbt, dann erst recht die Verehrung der Eltern und Vorfahren. Den „Beweis“ fiir diesen Schluß a minore ad maius liefern die von den Göttern erhörten Flüche bekannter Sagengestalten gegen ihre Kinder, die ihnen Respekt und Ach­ tung verweigerten (Oidipus, Amyntor, Theseus). Das bedeutet umge­ kehrt, daß Eltern und Voreltern, die von den Kindern gut behandelt wer­ den, in ihren Gebeten von den Göttern Gutes für die Kinder erbitten, das dann auch eintrifft. Angesichts dieser Zusammenhänge ist die Vernach­ lässigung der Eltern ein Akt der Unvernunft (930e3; 93 le8). Auf eine terminologische Besonderheit dieser Argumentation hat Saun­ ders 1972, Nr. 112 S. 113f. hingewiesen. Die Eltern werden 931a6 und el nicht als άγαλμα (Kultbild, Kultstatue), sondern als 'ίδρυμα bezeich-

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net. Dieses Wort, das auch ein Götterbild bezeichnen kann, wird von Pla­ ton in den Nomoi sonst in der Bedeutung „Heiligtum, Götterschrein“ ver­ wendet (778dl, 848d3 und wahrscheinlich 717b4). Inwiefern es auch als Bezeichnung für die Eltern angemessen ist, zeigt die Behauptung (869b2-4), daß die Tötung der Eltern ein Akt der Hierosylie (Beraubung eines Heiligtums) ist, weil der Tötende die elterliche Seele ihres Körpers beraubt (ebenso 873a; vgl. auch 740b: die toten Vorfahren sind die Fami­ liengötter). Die semantische Überschneidung der beiden Substantive zeigt sich 93le 1—6, wo einerseits zu άψυχων (el) Ιδρυμάτων zu ergän­ zen ist und damit die materiellen Kultbilder gemeint sind und anderseits die Eltern unter die αγάλματα (e6) subsumiert werden. Eine zusätzliche Pointe des Wortgebrauchs liegt darin, daß die als Heiligtum im Haus leb­ enden Eltern und Voreltern zugleich Ersatz für die Privatheiligtümer sind, deren Besitz im Haus gesetzlich verboten ist (909d, 910c). Das Gesetz (932a7-d8) sieht je nach dem Alter der Delinquenten un­ terschiedliche Strafinstanzen und Strafen vor. Männer bis zum 30. und Frauen bis zum 40. Lebensjahr unterliegen dem Koerzitionsrecht der Be­ amten (nämlich der drei ältesten Gesetzeswächter und wohl ebenso der drei ältesten Eheaufseherinnen), welche Schläge oder Haft verhängen können (dies ist eine Neuerung Platons gegenüber dem attischen Recht, das den Beamten die körperliche Züchtigung von Bürgern verbot; vgl. Demosthenes, Or. 22,55). Die nach dem Geschlecht differierende Alters­ grenze für die Züchtigung durch die Beamten deckt sich mit dem eben­ falls unterschiedlichen Mindestalter für die Übernahme eines Amtes (vgl. 785b); denn bis zu diesem Alter sind die Männer und Frauen noch keine politisch vollberechtigten Bürger, da sie noch kein passives Wahl­ recht haben. Ältere Delinquenten kommen vor ein Sondergericht aus den 101 älteten Bürgern, die eine Geldbuße oder eine Leibesstrafe in beliebiger Höhe verhängen können (zur Formel „leiden oder zahlen“ vgl. S.263 zu 855a7ff); die Leibesstrafe ist wohl eine Haftstrafe (Knoch 1960, 144; Haft für Vernachlässigung der Eltern fordert auch ein delphisches Gesetz des 4./3. Jh. v.Chr. [Inv. 6207], vgl. Lerat 1943). Die Formulierung, daß sie keine Strafe ausschließen sollen, die jemand erleiden kann, wird von Merker (2004, 37 Anm. 41 und 40 Anm. 46) so gedeutet, daß die Bürger auch jenseits der angegebenen Altersgrenzen von diesem Gericht mit Schlägen bestraft werden können; dies wäre allerdings eine im platoni­ schen Strafsystem völlig singuläre Strafe. Kann der schlecht Behandelte weder persönlich noch durch Beauftrag­ te Anzeige erstatten, so ist jeder, der davon erfahrt, zur Anzeige aufgerufen. Ein Freier erhält hierfür keine Belohnung, da er damit nur seine Pflicht erfüllt (wohl aber droht ihm bei Unterlassung eine Rüge und eine

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Schadensklage). Der Sklave wird dagegen mit der Freiheit belohnt (wie 881c fur seinen Beistand für die mißhandelten Eltern). Daß die Stadt den Kaufpreis des von Amts wegen freigelassenen Sklaven seinem Henn nicht erstattet, wenn dieser entweder seine Eltern mißhandelt oder selbst mißhandelt wird, läßt sich damit erklären, daß im ersten Fall der Verlust des Sklaven als Strafe gedacht ist und im zweiten Fall damit, daß der Mißhandelte bereits durch das Gericht finanziell entschädigt wird. In Athen konnte die schlechte Behandlung der Eltern (wozu auch die tätliche Mißhandlung gehörte) durch eine Klage γονέων κακώσεως beim Archon eponymos verfolgt werden (Aristoteles, Ath. pol. 56,6); die Klageform war entweder eine Popularklage (γραφή; so Lipsius 343 £, Harrison 1968, 77 f., Todd 1993, 108) oder eine εισαγγελία, wie sie auch bei Vergehen gegen Waisenkinder üblich war (so MacDowell 1978, 92). Beispiele fiir eine Klage sind allerdings nicht bekannt. Die Strafe bestand in totaler Atimie (Harrison 1968, 78). Das diesbezügliche Gesetz, das Aischines, Or. 1,28, Diogenes Laert. 1,55 u.a. dem Solon zuschreiben (= F 104a—b Ruschenbusch = T 375. 422 Martina; weitere Zeugnisse bei Harrison 1968, 78 Anm. 1), fordert Unterstützung der As­ zendenten bis hin zu den Urgroßeltern, und zwar auch dann, wenn sie nichts zu vererben haben (Isaios, Or. 8,32). Zu Einzelheiten des attischen Rechts vgl. J. Rominkiewicz, Problem opieki nad rodzicami w prawodawstwie Atenskim, Meander 45, 1990, 151-157.

931a6—7 solange er ein solches Heiligtum in seinem Hause am eige­ nen Herd besitzt: Die Tilgung von εν οικία (Cobet, England, Diès) zer­ stört gerade die Pointe: weil es in Magnesia verboten ist, ein privates Heiligtum „in seinem Hause“ zu besitzen (909d, 910c), wird die Vereh­ rung der Vorfahren gleichsam zum Ersatz für den privaten Götterkult (vgl. Saunders 1972, Nr. 112, S. 113 f.). 931b5-8: Oidipus verfluchte seine Söhne Eteokles und Polyneikes, weil sie den blinden Vater eingesperrt (Euripides, Phoin. 63-68. 872— 877) oder weil sie seine Verbannung nicht verhindert hatten (Sophokles, Oid. Kol. 421 ff. 1383 ff.); der Fluch erfüllte sich durch die gegenseitige Tötung beider im Kampf um Theben (eine weitere Begründung bot die Thebais Fr. 2 und 3 Davies = Bemabé). - Amyntor verfluchte seinen Sohn Phoinix, weil dieser mit der Konkubine des Vaters geschlafen hatte, und wünschte ihm Kinderlosigkeit (Homer, II. 9,448 ff). - Theseus wünschte seinem Sohn Hippolytos, der von seiner Stiefmutter Phaidra sexueller Annäherungsversuche beschuldigt wurde, den Tod; Poseidon erfüllte den Wunsch, indem er durch ein Meeresungeheuer die Pferde des Hippolytos erschreckte, so daß Hippolytos aus dem Wagen stürzte und zu Tode geschleift wurde (vgl. Euripides, Hippolytos)} in 687e dien-

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te dieser Fluch des Theseus als Beispiel fiir unvernünftiges Wünschen. — Zur Verfluchung der Söhne oder sonstiger Verwandter vgl. Parker 1983, 196 f.

931d7—8 die über dieselbe Kraft verfügen: Nämlich die (gerade auf ih­ rer Gebrechlichkeit beruhende) Kraft, durch Gebete zu den Göttern fiir die Kindern Gutes zu erwirken. 932a3 werden sie von den Jungen schmerzlich vermißt: Ich übernehme wie England und Saunders (1972, Nr. 113 S. 114) Winckelmanns νέοις (statt des überlieferten νέοι).

932a5—6 Wenn aberjemandem , der Ruf anhaftettaub ...zu sein: Der Übersetzung liegt Englands Konjektur κωφόν (statt κωφή) zugrunde, κατέχοι φήμη ist vielleicht Zitat von Pindar, Ol. 7,11.

11. 932el — 938c5: Gesetze verschiedenen Inhalts (I): Schädigungen von Privatpersonen u. a.

An das Familienrecht schließt sich eine bis ins 12. Buch reichende Rei­ he von Gesetzen, die keine durchgehende Systematik erkennen läßt. Zwei große Gruppen lassen sich jedoch ausmachen: Während die Geset­ ze des 12. Buches Vergehen im Dienste der Stadt und gegen die Stadt be­ handeln, behandeln die Gesetze bis zum Ende des 11. Buches Vergehen gegen Privatpersonen. Die deliktische Hauptkategorie ist die Schädi­ gung, die durch Gift und Magie (932el-933e5), Diebstahl und Raub (933e6-934c6), durch Sklaven oder Haustiere (936c8-e5) und auch durch Zeugnisverweigerung (vgl. 937a3) erfolgen kann. Auch die als Spezialfall von Raserei eingefiihrte Verbalinjurie (934d5-936b2) läßt sich als Schädigung (nämlich des guten Rufes) verstehen. Schwerer in diese Reihe einordnen läßt sich das Gesetz über den Umgang mit Rasen­ den (934c7-d5) und das Gesetz gegen Bettelei (936b3-c7), die sich ge­ gen die Störung der öffentlichen Ordnung richten. Das abschließende Gesetz gegen Rechtsverdrehung und Prozessiersucht (937d6—938c5) bil­ det einen Anhang zum Gesetz über Zeugenaussagen (936e6-937d5). 11.1. 932el—933e5: Schädigungen durch Gift und Magie Vergiftungen mit tödlichem Ausgang fallen unter die bereits im 9. Buch behandelten Tötungsdelikte (explizit genannt wird dort aber nur die unbeabsichtigte Verabreichung eines schädlichen Getränks oder eine Speise 865b6). Das vorliegende Gesetz betrifft die vorsätzliche nichttöd­ liche Schädigung von Personen und die Schädigung oder Tötung von

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Tieren durch giftige Substanzen (φάρμακα). Neben diese toxische Ver­ giftung stellt Platon die Verhexung durch magische Mittel und faßt beide unter dem gemeinsamen Tatbestand der „Vergiftung“ (φαρμακεία) zu­ sammen (zu φαρμακεύειν als Bezeichnung für magische Praktiken vgl. Herodot 7,114). Klingenberg 1976, HO sieht dies darin begründet, daß in einer Zeit, als toxische Substanzen im menschlichen Körper kriminal­ technisch noch nicht exakt nachweisbar waren und andere natürliche Er­ klärungen versagten, unerklärliche Schädigungen auf magische Einwir­ kung zurückgeführt wurden (vgl. auch zu 845d4-e9). Dem Gesetz geht zunächst eine nomothetische Diskussion (932el933b5) voraus. Während nämlich die auf natürlichen Wirkungen beru­ hende Vergiftung mit toxischen Stoffen (933al) keiner langen Erörterung bedarf, stellen die magischen Praktiken den Gesetzgeber vor besondere Probleme. Im Unterschied zur toxischen Vergiftung, die nur den Körpern (σώμασι 933a) der Opfer Übel zufügt, besteht die Gefährlichkeit der magischen Praktiken darin, daß sie sowohl in denen, die sie anwenden, wie in de­ nen, die sich bedroht fühlen, den Glauben an die magische Schadenswir­ kung wecken (πείθει a3) und so deren Seelen negativ beeinflussen (da­ her ψυχαΐς a8 im Kontrast zu σώμασι al). Die Aufgabe des Gesetzge­ bers besteht darin, diesen Leute eine andere Überzeugung zu vermitteln (πείθειν a7). Dies setzt zunächst beim Gesetzgeber eine nicht leicht zu erlangende Einsicht in das Wesen dieser Praktiken voraus; die Vermitt­ lung dieser Einsicht (πείθειν bl) scheitert jedoch bei Leuten, die voller gegenseitigem Mißtrauen sind. Ohne diese klare Einsicht (b4-5) hat es aber keinen Sinn, sie zur Geringschätzung der Magie aufzufordem (διακελεύεσθαι). Das daraus resultierende kurze Proömium (933b5-c7) appelliert an den potentiellen Täter, die ohnehin ängstlichen Menschen (δειμαίοντας c2) nicht noch weiter zu erschrecken, zumal da er, sofern er kein Fach­ mann der Medizin bzw. der Magie ist, gar nicht weiß, was er da tut. Das abschließende Gesetz (933dl—e5) fordert für den schuldig gespro­ chenen Fachmann die Todesstrafe; für den Laien soll das Gericht die Strafe festsetzen. Diese Unterscheidung entspricht der platonischen Straftheorie. Denn im Unterschied zum Laien, der u. U. einen untaugli­ chen Versuch unternimmt, wird der Arzt bei seinem Tatentschluß dank seinem Fachwissen sich des Erfolgs seiner Tat gewiß sein; deshalb be­ sitzt er in seiner Seele die größere Ungerechtigkeit und muß daher härter bestraft werden (Analoges gilt auch für den Magier, der an den Erfolg seiner Praktiken glaubt). Daß der Fachmann allerdings mit dem Tod und nicht etwa wie bei der als Mordversuch gewerteten Körperverletzung (877a) mit lebenslangem Exil bestraft wird, zeigt, daß für Platon der Un-

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2Γde U?1· aß dTir-

I-

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rechtsgehalt der toxischen und vor allem der magischen „Vergiftung“ hö­ her ist als der einer sonstigen Körperverletzung (vgl. Klingenberg 1976, 112—113). Grund hierfür dürfte sein, daß der Fachmann seine Techne zum Schaden der Menschen mißbraucht und durch Erzeugung von Miß­ trauen und Angst in den Seelen der Menschen das soziale Klima inner­ halb der Gemeinschaft „vergiftet“. Ob Platon selbst an die Wirksamkeit der Magie glaubte, läßt das Ge­ setz nicht erkennen. Es fallt auf, daß der Athener zwar der toxischen Ver­ giftung (vgl. κακουργούσα 933al), nicht aber der Magie eine direkte Schadenswirkung zuschreibt. Schädlich ist nicht die Magie als solche, sondern der Glaube an ihre Wirksamkeit. So warnt auch das Proömium nicht davor, den Menschen durch Magie zu schaden, sondern nur davor, sie in Schrecken zu versetzen; demgemäß hat der Richter die Aufgabe, die Ängste (und nicht wie 879a, 936d-e den Schaden!) zu „heilen“ (c3). Im Gesetz wird das Tun des magischen Fachmanns nicht als Schädigung charakterisiert, sondern als ein Verhalten, das einem Schadenden ledig­ lich „zu gleichen scheint“ (933el-2). Andererseits weist der Staatsent­ wurf der Nomoi den Sehern (μάντεις), die hier unter den Fachleuten der Magie genannt werden, eine wenn auch bescheidene Funktion zu, die sie aber nur in Verbindung mit den Auslegern ausüben dürfen (828b, 871dl); vgl. dazu Morrow 1960a, 433 f. Das attische Recht sah bei einer vorsätzlichen tödlichen Vergiftung ei­ ne Mordklage (δίκη φόνου) vor, die auf dem Areopag verhandelt wurde (Aristoteles, Ath. pol. 57,3). Vergiftungen ohne tödliche Folgen konnten vermutlich als Schädigung mit einer δίκη βλάβης verfolgt werden. Daß magische Praktiken als Religionsfrevel verfolgt wurden, läßt sich nicht erweisen. Im Falle der aus Demosthenes Or. 25,79-80 und Philochoros FGrHist 328 F 60 zu erschließenden Verurteilung der Theoris wegen Asebie nach dem Gebrauch von giftigen Substanzen (φάρμακα) und Zaubersprüchen (έπωδαί) ist nicht klar, ob schon die bloße Anwendung dieser Mittel oder nur ihre Anwendung zu unfrommen Zwecken den Asebievorwurf nach sich zog (MacDowell 1978, 197). Die Unterschei­ dung beim Strafmaß zwischen der Täterschaft eines Fachmannes und der eines Laien ist jedenfalls im attischen Recht nicht nachweisbar und ver­ mutlich eine Neuerung Platons (Amundsen 1977, 199-200). 933a2 Zauberkünsten (μαγγανείοας) und Besprechungen (έπωδαΐς) und dem sogenannten Bindezauber (καταδέσεσι) : Zu diesen Praktiken kommt noch in 933d7 das Herbeilocken von Unglück (έπαγωγαί) hin­ zu. μαγγανεία bezeichnet allgemein die Magie mit der Konnotation des Betrugs (vgl. 908d4). - έπωδαί sind bannende Zaubersprüche, die ge­ sprochen oder gesungen wurden. — Der vor allem auf Fluchtäfelchen be-

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gegnende „Bindezauber“ (κατάδεσις, κατάδεσμος Resp. 364c4) be­ steht darin, daß der Zaubernde mit der Formel καταδέω oder καταδεσ­ μεύω „ich binde ihn“ sein Opfer dem angerufenen Unterweltsgott (daher κατα- „hinab“) überantwortet. — έπαγωγαί fahren durch Anrufung un­ terirdischer Gottheiten Unheil gegen jemanden herbei (έπάγειν). — Die έπαγωγαί und κατάδεσμοι sind typische Formen des Schadenszau­ bers, während έπωδαί auch zum eigenen Vorteil eingesetzt werden kön­ nen (vgl. die Unterscheidung Resp. 364c). Lit.: Hopfner 1928, Guthrie 1950, 270—274 („Witchcraft and curses“), Preisendanz 1972, Graf Johnston - Thür 1999, Faraone — Obbink 1991, Eidinow 2007. 933a8—b5 bei Leuten aber, die in ihren Seelen in dieser Hinsicht voller Mißtrauen gegeneinander sind usw. : Ich übernehme als einzigen Text­ eingriff Schramms Änderung von αν (bl) in καν. Der Athener unter­ scheidet zwischen πείθειν als der Aufklärung über das Wesen der Magie und dem διακελεύεσθαι als der Aufforderung zu vernünftigem Verhal­ ten in konkreten Situationen der Angst. Den Genitiv των ανθρώπων (a8), den England und ihm folgend Diès tilgen, fasse ich analog zum Ge­ nitiv των ανθρώπων (c2) partitiv auf: nicht alle, sondern manche Men­ schen sind in ihrer Seele voller Mißtrauen gegeneinander. Saunders er­ wägt zunächst ebenfalls eine partitive Deutung, versteht dann aber ταις ψυχαΐς των ανθρώπων (a7-8) als Grund des Mißtrauens: „by the souls of men“, nämlich wegen der Magie mittels der Seelen von Toten (1991, 320 f.), was sprachlich wenig überzeugt. Stallbaum zieht den Dativ ταις ψυχαις των ανθρώπων zu έπιχειρειν, wovon der Infinitiv πείθειν (mit dem Objekt δυσπροσωπουμένους) abhänge; doch wäre dies der einzige Fall bei Platon, wo bei έπιχειρειν πείθειν das Objekt im Dativ steht. Pabon - Femandez-Galiano schreiben δυσπροσωπουμένων, wo­ durch aber πείθειν sein Objekt verliert.

933b2 aus Wachs geformte Figuren: Eine Form des Schadenszaubers bestand darin, aus Wachs kleine Figuren als Darstellungen des Fluchop­ fers herzustellen, denen durch Durchbohren, Verstümmeln u. ä. symbo­ lisch Schaden zugefügt wurde. Hier soll der Figur offenbar von den an den aufgezählten Plätzen wirksam geglaubten chthonischen Mächten Schaden zugefägt werden (vgl. Fr. Pfister, Analogiezauber, Handwörter­ buch des deutschen Aberglaubens I, 1927, 385-395). 933cl—2 nicht den meisten Menschen, die wie Kinder voller Furcht sind, Angst einjagen: Zur Änderung von δειμαίνοντας (,νοίΐ Furcht sein4) in δειματούντας (,in Furcht versetzen4; so England, gefolgt von Diès) besteht kein Anlaß. Die Furchtsamkeit der meisten Menschen ist gerade die Voraussetzung dafür, daß die Magie ihnen Schrecken einjagen kann (der von England intendierte Sinn ließe sich übrigens durch eine

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proleptische Deutung von δειμαίνοντας herstellen). Zur Furchtsamkeit kleiner Kinder vgl. Krit. 46c, Gorg. 479a9, Phaidon 77e, Resp. 330e, 548b, 577a.

933d7 durch Bindezauber ... oder sonst irgendwelche Zaubermittel: Der Genitiv των τοιούτων φαρμακείων ώντινωνουν kann von einem vorschwebenden τισιν abhängen (vgl. 643e2). Von den in den Text hi­ nein konjizierten Dativen verdient der von Barrett (Euripides Hippolytos, Oxford 1964, 439) vorgeschlagene Plural αίστισινουν (anstelle des durch Assimilation entstandenen Genitivs ώντινωνουν) den Vorzug (so auch Saunders 1972, Nr. 115 S. 115). 933e3 jemand, der nicht die Seherkunst besitzt: Ich folge der Überlie­ ferung (= Burnets Text), die auch von Saunders 1972, Nr. 115, S. 115 ver­ teidigt wird.

11.2. 933e6—934c6: Schädigung durch Diebstahl und Raub. Der Zweck der Strafe Das vorliegende Gesetz betrifft den Diebstahl bzw. Raub von Privatei­ gentum und ersetzt damit das in 857a—b versuchsweise formulierte Ge­ setz. Seine grundsätzliche Bedeutung zeigt sich auch darin, daß der Athener den Diebstahl zum Anlaß einer systematischen Darstellung und Begründung der Rechtsfolgen eines Delikts nimmt. Er scheidet wie schon im Strafrechtsexkurs des 9. Buches zwischen dem Schadensersatz, der den Schaden „heilt“ (ιάσηται 933e9), und der daneben zu zahlenden Strafe, die den Täter zur Vernunft bringen (σωφρονιστύος ενεκα 934al) und sowohl im Täter wie in den Zeugen seiner Bestrafung eine moralische Besserung bewirken soll („Verabscheuung der Ungerechtig­ keit“ 934b 1) und damit statt in die Vergangenheit in die Zukunft zielt (934a-b). Wie in 863b-864b richtet sich die Höhe der Strafe nach der Zurechenbarkeit der Tat, die um so größer ist, wenn der Täter durch eige­ ne Unvernunft gehandelt hat (zu den Einzelheiten s. u.). An das eigentliche Gesetz schließt sich eine nomothetische Reflexion, die, ausgehend vom Ziel einer exakten Strafzumessung, die Aufgaben des Gesetzgebers und des Richters voneinander abgrenzt und zur selben Lösung gelangt wie in 876d: der Gesetzgeber skizziert wie ein Maler die Aufgaben (ύπογράφειν 934cl; vgl. περιγραφήν 876el); der Richter hat diese Skizze auszufullen, indem er im konkreten Fall die angemesse­ ne Strafe findet (zum Malervergleich vgl. 770bff). Der Schluß dieses Abschnitts stellt ein schwieriges Problem dar, das unten gesondert be­ sprochen wird. Ein Vergleich des platonischen Gesetzes mit dem attischen Recht ist schwierig, weil die Rekonstruktion der einschlägigen Gesetze Athens

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mit einigen Unsicherheiten behaftet ist (vgl. die Rekonstruktion von Co­ hen 1983, der Koerner 1985 weitgehend zustimmt, während MacDowell 1984 Einwände vorbringt). Der einfache Diebstahl von Privateigentum wurde nach attischem Recht mit einer δίκη κλοπής verfolgt (so Cohen 44^47, MacDowell 1978, 147ff.; die alternative Möglichkeit einer γραφή verteidigt Moneti 1991); er wurde mit doppeltem Schadensersatz und u. U. mit fünftägiger Haft bestraft. Daneben gab es schwerere For­ men dieses Delikts (die in der Regel mit dem Tod bestraft wurden), wie den Diebstahl von über 50 Drachmen bei Tage, den nächtlichen Dieb­ stahl oder den Diebstahl in Schul- oder Hafengebäuden (vgl. Demosthe­ nes, Or. 24,113-114), die andere Formen der Strafverfolgung erlaubten (vgl. Demosthenes, Or. 22,26f.); eine γραφή κλοπής ist nur für Dieb­ stahl heiliger Gelder sicher belegt (Demosthenes, Or. 19,293). Diese Dif­ ferenzierungen hat Platon radikal vereinfacht (vgl. Saunders 1991a, 293— 294), vielleicht weil er eben nur eine Skizze liefern wollte.

934al soll jeder ... zahlen: Das Verbum προσεκτεισάτω deutet auf eine zum Schadensersatz hinzukommende monetäre Strafe hin (vgl. 843dl-2, 914cl-3). - Rätselhaft bleibt, warum Platon hier die nichtatti­ sche Form σωφρονιστύς verwendet (ein unzureichender Erklärungsver­ such bei England). 934a2—3 infolge seiner Jugend: Jugend wird in den Nomoi oft mit Un­ erfahrenheit und Unvernunft verbunden (635e2—3, 653a7—9, 666a7, 687d9, 691c5-d2, 692b5, 698e7-8, 716a6, 886d2); hier ist es eine frem­ de Unvernunft, von der sich der Täter infolge seiner Unreife überreden läßt. — Andokides (Or. 2,7) entschuldigt seine Beteiligung am Hermen­ frevel (415 v.Chr.) alternativ mit Jugend und Torheit (εϊτε νεότητί τε καί άνοια) oder auch Überredung durch andere (εϊτε καί δυνάμει των πεισάντων με).

934α3—4 aus eigener Unvernunft übel gehandelt hat infolge seiner Un­ beherrschtheit gegenüber Lust und Schmerz: Ist es im vorausgehenden Fall die jugendliche Unreife, die fremder Unvernunft erliegt, so ist es hier die mangelnde Selbstbeherrschung (ακράτεια) gegenüber Lust und Schmerz, die die eigene Vernunft außer Kraft setzen. Da also άνοια und ακράτεια keine Alternativen sind, ist das von A2 O2 vor δι’ ακράτειαν (a4) eingefügte (und von Burnet übernommene) ή („oder“) zu verwerfen (so auch England, Diès, Saunders 1991a, 189); die Disjunktion in 734b4-5 läßt sich nicht als Stütze für ή anfiihren, weil dort nicht von άνοια, sondern von άμαθία die Rede ist. — Das Kolon εν φόβοις ... γενόμενος benennt Situationen, in denen der Straftäter es an der Beherr­ schung von Lust und Schmerz fehlen läßt; zum Ausdruck vgl. 635c7

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γιγνόμενοι εν ταϊς ήδοναΐς, 812c2—3 εν τοΐς παθήμασιν ... γίγνηται). 934α6—7 Geschehenes läßt sich ja niemals ungeschehen machen: Die­ ser Gedanke ist als solcher ein Gemeinplatz: vgl. Agathon TrGF I 39 F 5, Pindar, ΟΙ. 2,15-17, Theognis 583-4, Simonides Fr. 98 PMG 603. Mit ihm läßt Platon auch den Sophisten Protagoras seine Behauptung be­ gründen, daß die Strafe nicht wegen der vergangenen Straftat verhängt wird (Prot. 324b3^4). Eine Bestrafung setzt natürlich als ihren Anlaß ei­ ne begangene Straftat voraus, aber der Zweck der Bestrafung liegt für Platon wie fur Protagoras nicht in der Vergangenheit. Auch die von De­ nyer 2008, 112 (zu Prot. 324b3-4) zur Widerlegung von Protagoras und Platon vorgebrachten Strafzwecke (Verhindern, daß der Täter Nutzen von seiner Tat hat, oder Ausdruck der Mißbilligung seiner Tat), betreffen strenggenommen weniger die Vergangenheit als die Gegenwart und Zu­ kunft.

934b3 von einem solchen Mißgeschick loskommen: Die euphemisti­ sche Bezeichnung der kriminellen Neigung als Mißgeschick (συμφορά) begegnet auch 854d2. Zur Heilung (oder Besserung) als Strafzweck vgl. 728c5, 862c, 957e, Gorg. 525b, Resp. 380a-c. 934b3—6 Aus all diesen Gründen und mit Blick auf dies alles usw.: Die allgemeine Zielsetzung der Strafe (ausgedrückt durch πάντων ένεκα und προς πάντα τά τοιαυτα b3-^l) muß das Gesetz und der das Gesetz anwendende Richter in jedem Einzelfall (έκάστων ένεκα) bei der Fest­ setzung der Strafe im Auge behalten. Kriterium für deren Höhe ist das, was dem zugefügten Leiden des Opfers und der Tat des Täters angemes­ sen ist (so explizit 876d3 ^4: τήν αξίαν του πάθους τε καί πράξεως); vgl. auch Ritter II 338. 934b4—5 nach Art eines nicht ungeschickten Bogenschützen: Zum Ver­ gleich der Gesetzgebung mit der auf ein Ziel gerichteten Tätigkeit des Bogenschützen vgl. 693c, 705e3ff., 717a, 744a, 962dff.

934c2—6 Dies also, Megillos und Kleinias, müssen wir auch jetzt so schön und so gut wie nur möglich tun: für alle möglichen Fälle von Diebstahl und Raub müssen wir die Strafen benennen, wobei wir ange­ ben, von welcher Art diese sein sollen, soweit uns Götter und Götterkin­ der die Aufstellung solcher Gesetze erlauben: Der Passus weist große Übereinstimmungen, aber auch Unterschiede zu 876b-e auf. Dort wird zunächst begründet, warum der Gesetzgeber guten Richtern möglichst viele Entscheidungen überlassen und sich auf einen skizzenhaften Umriß beschränken kann, der den Richtern Muster (παραδείγματα 876e2) an die Hand gibt. Dann folgt die Überleitung zum Gesetz: „so gilt es dies

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auch jetzt (και νυν 876e4 wie 934c2) zu tun, wenn ich nunmehr wieder zu den Gesetzen zurückkehre“. Dieser Ablauf ist in sich folgerichtig; denn das anschließend formulierte Gesetz (ή γραφή 876e5) ist ein sol­ ches für die Richter bestimmtes Muster. Demgegenüber besteht die Besonderheit des vorliegenden Passus da­ rin, daß der aus der nomothetischen Reflexion (934b3—c2) gezogenen Folgerung, daß die Dialogteilnehmer „dies“ (nämlich eine Skizzierung der Aufgaben des Richters) auch jetzt tun müssen, bereits in 933e6934b3 ein Gesetz vorausgegangen ist. Die aus diesem vorausgehenden Gesetz (τή γραφή 934c2 = „Gesetzestext“ wie 876e5) sich ergebenden richterlichen Aufgaben zu skizzieren, ist Aufgabe des Gesetzgebers (cl2) und folglich auch des Atheners und seiner Dialogpartner (c2-3). Kon­ kretisiert wird diese Aufgabe in dem mit einem explikativen Asyndeton angeschlossenen Satz c3—6: die in 933e6—934b3 nur pauschal angedeute­ ten Strafen gilt es nun für alle denkbaren Fälle zu formulieren. Kaum befriedigend erklärbar ist jedoch, warum - anders als in 876e nach dem Hinweis, „jetzt“ seien für alle Fälle von Diebstahl und Raub die Strafen anzugeben, kein entsprechendes Gesetz folgt. Plausibler als die Annahme, daß Platon nicht mehr dazu kam, dieses Gesetz zu formu­ lieren, oder daß das Gesetz durch Textausfall verloren ging (so Susemihl 1772 Anm. 733; zustimmend u. a. Ritter II 340, Vanhoutte 1954, 20, Diès im Apparat), scheint mir die Annahme, daß die Formulierung eines Ge­ setzes an dieser Stelle gar nicht beabsichtigt war und daß der Nebensatz όπως αν ήμΐν παρείκωσιν θεοί καί θεών παιδες νομοθετειν (c5—6) ähnlich wie die Formel εάν θεός θέλη (z.B. 632e7, 688e2, 739e5, 752a8, 778b7) diesen Aufschub begründet. Dabei kann die Konjunktion όπως αν sowohl mit der Mehrheit der Ausleger konditional-beschrän ­ kend („sofern, soweit, wenn“; vgl. 672e2, 760c6, 844e7, 922e6) als auch temporal („sobald“, vgl. 632e3, 755a7) aufgefaßt werden; weniger kon­ textgemäß ist die 922e6 vorliegende modale Bedeutung („so gut, wie es uns die Götter ... gestatten“; Apelt, Rufener, Diès) oder eine finale Deu­ tung („damit“; so z. B. Robin und offenbar Brisson — Pradeau). Unter der hermeneutischen Prämisse, daß der Text der Nomoi keine Lücken aufweist, kommt als Zeitpunkt zur Formulierung dieses Gesetzes nur ein fiktiver Zeitpunkt nach dem Ende des Dialoges in Frage, d.h. der Zeitpunkt der Ausarbeitung der für Magnesia vorgesehenen Verfassung. Der Widerspruch zu νυν (c2 „jetzt“) läßt sich entschärfen, wenn man νυν als „im vorliegenden Fall“ versteht und ihm die Funktion zuweist, von der generellen Thematik (vgl. τις νόμος 934b8) zum „jetzigen“ Thema (Diebstahl) zurückzulenken (vgl. die analoge Spannung zwischen τα νυν 739b2 und der Formel εάν θεός έθέλη 739e5; dazu Schöpsdau 1991, 151 f.). Der Athener würde dann sagen: Wenn wir,

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so Gott will, auf der Basis der zweiten Verfassung eine dritte entwerfen, werden wir alle Arten von Diebstahl und Raub zu berücksichtigen haben (wobei er vielleicht an die Differenzierungen des attischen Rechts denkt). Noch schwerer ist die Frage zu beantworten, warum in dem bedingen­ den Satz neben den Göttern (die in der „so-Gott-will66-Formel sonst nur im Singular erscheinen) noch die Kinder von Göttern genannt werden, mit denen gewöhnlich die Heroen oder die Dämonen gemeint sind. Da Platon in der Formel „so Gott will“ sonst niemals neben der Gottheit die Götterkinder nennt, scheint hier eine besondere Aussageintention vorzu­ liegen. Eine solche erschließt sich am ehesten, wenn man unter den „Götterkindem“ wie in 739d6 und 853c4 eine Bezeichnung für die Bewohner des idealen Staates sieht, der kein Privateigentum kennt (739d) und des­ sen Bewohner sich durch ein ,übermenschlich6 hohes moralisches Ni­ veau auszeichnen (vgl. 853c). Der Sinn des Bedingungssatzes könnte dann sein: „soweit Götter und die ,göttlichen6 Bewohner des Idealstaates uns erlauben, vom Ideal abzugehen und Gesetze gegen Diebstahl zu for­ mulieren (die im Idealstaat überflüssig sind)66. Nach dem Schema der drei Verfassungen von 739b wird mit solchen Gesetzen das Niveau der zwei­ ten bzw. - bezogen auf die kretische Gründung - der ,dritten Verfassung6 erreicht. Gegenüber dieser (ähnlich auch von L. Strauss 1975, 166f. ver­ tretenen) Auffassung versteht Sandvoss 1971, 295 f. die Aussage iro­ nisch: „wenn die Diebe (Götter) uns erlauben, hier Gesetze zu geben66; denn nach Meinung der Dichter seien Götter und Göttersöhne Diebe (941b2ff.). Doch ein ironisch-despektierlicher Gebrauch dieser solennen Junktur scheint mir eher fraglich (Lisi 2004 geht auf die vorliegende Stelle nicht ein). 934c4 wobei wir angeben usw.: Das von vielen Übersetzern ignorierte λεγομένας beziehe ich als modales Partizip auf λεκτέον (vgl. das analo­ ge Syntagma ρηθέν ... ρητέον 853a6-b2) und lasse den Satz οϊας δει γίγνεσθαι von λεγομένας abhängen.

11.3. 934c7—d5 : Raserei

Zweck dieser Bestimmung ist die Aufrechterhaltung der Ordnung in der Stadt. Möglicherweise hat Platon die Bestimmung aus Athen über­ nommen, doch hat sich kein entsprechendes attisches Gesetz erhalten. Die Strafe für Zuwiderhandelnde ist entsprechend den vier Vermögens­ klassen abgestuft, ebenso 774a6-8, 880d3-5, 945a3-5, a7-b2, 948b 1-2 (wobei aber an jeder Stelle eine andere Staffelung der Beträge vorgese­ hen ist). — Als geistige Störung („Wahnsinn66) wird das μαίνεσθαι

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Kommentar

864d—e strafrechtlich als eine Ursache von Unzurechnungsfähigkeit ge­ wertet.

11.4. 934d5—936b2: Verbalinjurien: Beleidigung und Spott Dieses Gesetz behandelt zwei Formen der Verbalinjurie: 1. Beleidi­ gung (κακηγορία) und 2. Lächerlichmachen von Personen (γελοία φθέγγεσθαι bzw. λεγέιν περί τίνος bzw. εις τινά 935bl f., dl, d3. 7; dafür auch κωμωδεΐν 935d5, e6). Beide Formen hängen dadurch mitei­ nander zusammen, daß das Beleidigen erfahrungsgemäß oft ins Verspot­ ten übergeht (935a7ff.; c7-d2). Die Bestimmungen des platonischen Gesetzes sind gegenüber dem at­ tischen Recht sehr einfach: 1) Beleidigung ist generell verboten. Zuwiderhandlungen werden je nach dem Ort der Beleidigung unterschiedlich bestraft: Wer an heiligen Orten und bei öffentlichen Anlässen und im öffentlichen Raum jemanden beleidigt, soll von den zuständigen Beamten bestraft werden. Beleidi­ gungen an sonstigen Orten soll jeder Ältere, der darüber hinzukommt, mit Schlägen verhindern. 2) Verspotten und Lächerlichmachen ist generell verboten. Dies gilt ohne Einschränkung auch für die Dichter von Komödien und anderer Gattungen; Zuwiderhandelnde sollen von den Preisrichtern des Landes verwiesen werden. Eine Ausnahmegenehmigung erhalten diejenigen Personen über 50 Jahre, die gemäß 829c zu erzieherischen Zwecken Spottverse auf Bürger verfassen, sofern sie dies im Scherz und ohne Zorn tun. Die Genehmigung erteilt der Aufseher über die gesamte Erziehung; wer nicht genehmigte Verse verbreitet, gilt als ein schlechter Bürger. Der juristische Terminus für das Beleidigen ist κακηγορεΐν bzw. κα­ κηγορία (934e3, e6), der auch dem Gesetz seinen Namen gibt (vgl. 934e3). Er ist allerdings nicht sehr präzise gefaßt; dies zeigen die sonsti­ gen Verben, die diesen Tatbestand oder einzelne Züge desselben um­ schreiben: βλασφημειν (934el), κατεύχεσθαι (e7), έπιφέρειν γυναι­ κείους φήμας (935al), λοιδορεΐν (935d2, vgl. c3. 7). Das Hauptmerk­ mal ist offenbar die Beschimpfung (vgl. auch 934e7 f. δι’ αισχρών ονο­ μάτων); ob der Tatbestand wie im attischen Recht (s.u.) auch die Verbreitung von Unwahrheiten über jemanden („Verleumdung“) umfaßt, muß offenbleiben. Das eigentliche Gesetz wird ergänzt durch nomothetische und morali­ sierende Überlegungen, die zugleich im Sinn des „doppelten Gesetzes“ (vgl. 72Id—722a) erläuternde und überredende Funktion haben: Eine dem Gesetz vorangehende Überlegung, die das Beleidigen als eine Form der Raserei an den vorausgehenden Passus anknüpft, nennt als Ursache

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des Beleidigens eine natürliche Anlage zum Zorn (θυμός) und eine schlechte Erziehung (934d5-e2). Eine in das Gesetz eingeschobene Überlegung (934e6—935b4) ver­ weist auf die schädlichen Folgen des Zornes fiir den Beleidiger: (1) Aus Schmähungen entstehen Haß und Feindschaft, die das Zusammenleben gefährden; wer seinem Zorn freien Lauf läßt, wird zum Tier und gerät durch seine Unverträglichkeit (δυσκολία) in soziale Isolierung. (2) Wer im Zorn andere lächerlich macht, schädigt dadurch seine eigene Würde und seine edle Gesinnung. Dem Opfer der Beleidigung schenkt das auf den Täter fokussierte Ge­ setz keine Beachtung. Es hebt nur die Verpflichtung von Beamten und Privatleuten zum Einschreiten hervor, erwähnt aber keine dem Opfer ge­ gen den Beleidiger zustehenden Rechtsmittel. In Athen dagegen gab es für das Opfer einer Verbalinjurie die Mög­ lichkeit einer Privatklage (δίκη κακηγορίας). Das einschlägige Gesetz (Solon F 32-33 Ruschenbusch = T 465. 479 Martina) stellte den Ge­ brauch bestimmter Schmähwörter, der sog. άπόρρητα (z.B. άνδροφόνος [Mörder], πατραλοίας [Vatermörder], μητραλοίας [Muttermör­ der]) und den Vorwurf, den Schild weggeworfen zu haben, unter Strafe (vgl. Lysias Or. 10,6—12); wer ein solches Wort gebrauchte, ohne seine Wahrheit beweisen zu können, mußte eine Geldstrafe zahlen, die zu drei Fünfteln an den Beleidigten und zu zwei Fünfteln an den Staat ging (vgl. Lipsius 648); auch gegen die Behauptung, daß ein Bürger oder eine Bür­ gerin ein Gewerbe auf dem Markt ausübe, war, selbst wenn sie zutraf, ei­ ne Beleidigungsklage möglich (Demosthenes, Or. 57,30-31). Bezeugt ist für Solon ferner das Verbot übler Nachrede über Verstorbene und das mit einer Geldbuße bewehrte Verbot, Lebende in Tempeln, Gerichtsge­ bäuden und Amtshäusem oder bei Festspielen zu schmähen (F 32a Ru­ schenbusch = T 465c Martina); beide Verbote waren wohl noch in klassi­ scher Zeit in Kraft (vgl. Demosthenes, Or. 20,104; 40,49). Ein nur bei Hypereides, Or. 4,3 (Jensen) bezeugtes Gesetz verbot, über Harmodios und Aristogeiton schlecht zu reden (λέγειν κακώς). Das genaue Verhält­ nis zwischen dem άπόρρητα-Gesetz und dem solonischen Gesetz ist al­ lerdings strittig; Hillgruber 1988, 4 ff. identifiziert die beiden Gesetze wie Ruschenbusch 1968, 20 miteinander, rechnet aber mit Veränderun­ gen des solonischen Gesetzes (gegen Ruschenbusch Bianchetti 1981, 78 ff.). Ein Nachklang des solonischen Gesetzes wird bei Platon greifbar, wenn er Schmähungen an heiligen und öffentlichen Orten eigens von Schmähungen an sonstigen Orten scheidet. Ein Verbot bestimmter Wör­ ter findet sich allerdings bei ihm nicht (δι’ αισχρών ονομάτων 934e7 meint allgemein Schimpfwörter). Nicht eindeutig zu klären ist das Verhältnis des attischen Gesetzes über

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Kommentar

κακηγορία zur altattischen Komödie (vgl. Wallace 2005, 362 ff.). Denk­ bar ist, daß die von den Komikern Verspotteten auf eine nach dem Gesetz mögliche Klage verzichteten, um nicht als kleinlich (άνελεύθερον Lysias, Or. 10,2) zu erscheinen (so Storey 1989, 259 Anm. 44). Speziell fiir die Komödie wurde nach dem Scholion zu Aristophanes, Ach. 67 im Amtsjahr des Morychides (440/39) ein Dekret erlassen, das den Komi­ kern das Verspotten (κωμωδείν) verbot, aber nach nur drei Jahren wie­ der aufgehoben wurde (dazu Wallace 362 £). Wesentlich schattenhafter bleibt das vom Scholiasten zu Aristophanes, Vögel 1297a erschlossene Dekret des Syrakosios von 415/4, das angeblich die namentliche Ver­ spottung (ονομαστι κωμωδείν) verbot; falls es ein solches gab, scheint es ebenfalls nicht lange in Geltung gewesen zu sein (dazu Sommerstein 2002, 131-136, Wallace 366). Aufs Ganze gesehen genossen also die Komiker in Athen durchweg das Privileg des Verspottens, während Pla­ ton das Verspotten (κωμωδείν 935e6) von Bürgern den berufsmäßigen Dichtem rigoros und ohne Ausnahme verbietet. Lit.: Thalheim 1919, 1524T, MacDowell 1978, 127ff., Koster 1980, 7-12, Bianchetti 1981, Hillgruber 1988, 4ff., Todd 1993, 258ff, Storey 1989, Halliwell 1991, Sommerstein 2002, Loomis 2003, Wallace 2005. 934d6—7 infolge einer schlimmen natürlichen Neigung ... und einer ... schlechten Erziehung: Zum Nebeneinander von Naturanlage und Erzie­ hung vgl. zu 735b7-cl.

935al Schmähungen nach Weiberart: Zorniges Aufbrausen ist typisch fiir Frauen: 731d2. 935a4 seine Erbitterung mit schlimmer Nahrung füttert: Es schwebt das Bild eines zu fütternden wilden Tieres vor, das Tim. 70e explizit vom untersten triebhaften Seelenteil gebraucht ist.

935b 1—2 etwas Lächerliches zu äußern: Wie gemäß 732c 1—2 nur maß­ volles Lachen erlaubt ist, so ist auch nur harmloses und scherzendes Lä­ cherlichmachen zulässig, das zwei Bedingungen erfüllen muß: es darf niemanden kränken (ebenso Xenophon, Kyr. 2,2,12; 5,2,18; Aristoteles, Nik. Eth. 4,14. 1128a7. 26), und der Spott darf nicht die Würde des Spot­ tenden verletzen (vgl. Aristoteles 1128al6ff.: der Scherz muß einem Freien angemessen sein). Vgl. Mader 1977; Stewart 1994. 935b8 züchtigen soll ihn der ... Beamte : England tilgt wohl mit Recht das von späterer Hand in A und O am Rande notierte Adverb άνατί („ungestraft“), weil es im Blick auf die folgende Sanktion des Untätig­ bleibens unlogisch ist. Merker (2004, 38 Anm. 43) verteidigt άνατί mit der Annahme, daß die Züchtigung (κολαζέτω) durch den Beamten in Schlägen besteht, gegen die dem Geschlagenen kein Rechtsmittel zur

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Verfügung stehen soll (vgl. 845c3-4). Die hierfür als Stütze angeführten Strafbefreiungen 784d4 (άθωος ... κολαζέτω) und 917c (κολάζων ... άνατι τυπτέτω) gelten aber nur fiir Schläge durch einen beliebigen Bürger (ebenso 762dl; analog 871el). Ein Beamter darf im Rahmen sei­ nes Amtsbereichs wohl immer ungestraft Schläge verabreichen: vgl. 88Id, 932b. - Post 1939, 102 hält άνατί, beseitigt aber den Beamten, in­ dem er αρχών als Verschreibung von άκούων deutet.

935cl niemals um die höchste Auszeichnung bewerben: D. h. um das Amt eines Euthynen oder die Mitgliedschaft in der Nächtlichen Ver­ sammlung; vgl. 845dl-2, 919e4-5 und 948a5-6.

935c6 einem schlimmen Gesellen: Nach Englands Konjektur έταίρω für έτέρω.

935d3 Wie steht es dann mit der Neigung der Komödiendichter: Ich verbinde τι δε δή mit τήν ... προθυμίαν (vgl. Kühner - Gerth II 518 Anm. 4). Der Akkusativ ist von einem aus dem vorausgehenden λοιδο­ ρούμεv zu entnehmenden λέγομεν oder vom folgenden παραδεχόμεθα abhängig zu denken. 935d6 Oder sollen wir ...: Englands Änderung von ή in ή ist nicht zwingend (nach ή d4 ist ein weiteres ή sogar stilistisch unbefriedigend). Das überlieferte ή führt nach dem Zorn als ein alternatives Kriterium den Scherz (παίζειν) ein, das allerdings dann mit dem Zorn so kombiniert wird, daß sich praktisch keine neue Einteilung ergibt.

935e4 von lamben oder von lyrischen Musengesängen (τίνος ιάμβων η μουσών μελωδίας): Gemeint sind also neben den Komödiendichtem noch weitere Dichter. Bei einem Bezug auf lyrische lamben in der Ko­ mödie (so A. Μ. A. bei England) stört, daß dann neben κωμωδίας noch ein Element der Komödie eigens genannt wäre. England ergänzt (wie schon Stallbaum) ποιήσεως zu τίνος ιάμβων. Am natürlichsten ist es aber, τίνος mit μελωδίας zu verbinden, was möglich ist, weil es offen­ bar auch gesungene lamben gab (vgl. Ps.-Plutarch, De mus. 28 1141 A); zur Frage ihrer Aufführung vgl. Bartol 1992.

935e4—5 weder durch Worte (λόγω) noch durch imitierende Darstel­ lung (είκόνι): Saunders 1972, Nr. 116 S. 117 versteht unter dem ,Wort‘ die Erzählung oder Beschreibung, die Resp. 392c ff. der Darstellung ge­ genübersteht. Doch hindert nichts, das ,Wort‘ so weit zu fassen, daß es nicht nur jedes auf der Bühne gesprochene Wort (also auch z.B. Spott durch Spitznamen etc.), sondern auch den für jambische4 Dichtung ge­ nerell konstitutiven Spott meint.

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Kommentar

936a2—4 die gemäß unseren früheren Ausführungen die Erlaubnis ha­ ben, Gedichte aufeinander zu verfassen: Ich verbinde ποιειν mit εις άλ­ λήλους und versetze das trennende Komma Burnets hinter εις άλλή­ λους. Das überlieferte περί του wird von Stephanus in περί του geän­ dert und von Ast getilgt; die Überlieferung läßt sich aber halten, wenn man περί του ποιειν εις άλλήλους als Angabe des Bereichs zu εξου­ σίαν zieht: „wenn es darum geht, Gedichte auf einander zu verfassen“. Der Verweis geht eindeutig auf 829c (so schon Susemihl 1773 Anm. 737), wie die sprachlichen Anklänge (ποιειν εις άλλήλους - ποιεΐν άλλήλοις 829c3, εξουσίαν είναι — εξουσίαν γίγνεσθαι 829d7) so­ wie die Erwähnung des Aufsehers über die Erziehung zeigen. In 816e da­ gegen (worauf Wagner, Stallbaum, Robin 1081 Anm. 3 und Saunders 1972, Nr. 116 den Verweis beziehen) geht es nicht um das Dichten (ποιεϊν), sondern um die den Sklaven übertragene (nicht: gestattete!) Auffüh­ rung komischer Dichtung: vgl. 816e5—6 δούλοις ... προστάττειν (!) μιμεισθαι.

11.5. 936b3—c7: Bettelei Mitleid ist als „sozialer“ Affekt das Gegenstück zum Zorn (vgl. 731c7ff.). Wer jedoch wirklich Mitleid verdient, wird zunächst in dem proömienartigen Stück 936b3—cl geklärt: es ist der von einem Unglück betroffene tugendhafte Bewohner, der aber in einer guten Stadt wohl nie materielle Not leiden wird. Daraus folgt in einer Art Umkehrschluß, daß ein bettelarm gewordener Mensch kein tugendhafter (und daher auch kein bemitleidenswerter) Mensch sein kann, weshalb er in der Stadt nicht geduldet werden kann (vgl. auch 743b—c: wer Tugend besitzt, wird nie­ mals sehr arm). Wenn der Bettler aber aus dem Land geschickt wird, kann es sich bei ihm nur um einen Sklaven oder Fremden handeln; denn die Zahl der Bürger Magnesias muß konstant bleiben. - Eine andere Art von Mitleid verdient dagegen gemäß 731c7ff. der Ungerechte, der ein Übel in der Seele hat, vorausgesetzt dieses ist noch heilbar. Zur überwiegend negativen Beurteilung der Bettelei in der griechi­ schen Antike vgl. Bolkestein 1939, 202-210. Unklar ist die Beziehung der platonischen Vorschrift zu dem fiir Solon bezeugten νόμος αργίας, der Müßiggang unter Strafe stellte (Diogenes Laert. 1,55 = F 148b Ru­ schenbusch = T 424a Martina). Bolkestein 283 ff. sieht das Ziel dieses solonischen Gesetzes in der Eindämmung der Bettelei, damit verarmte Bürger nicht „der öffentlichen Fürsorge zur Last fielen“ (285); fiir Harri­ son 1968, 79 f. dient das Gesetz dem Schutz der Rechte der Familie ge­ gen die Verschleuderung des Familienvermögens, fiir Todd 1993, 245 gegen landwirtschaftliche Mißwirtschaft.

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936c3 durch wirkungslose Gebete: Praktisch alle Übersetzer verstehen unter εύχαΐς die Bitten des Bettlers (wofür aber αιτήσεις die übliche Bezeichnung ist) und fassen dann άνηνύτοις als „unablässig, hartnä­ ckig“. Eine solche Bedeutung von εύχή läßt sich aber bei Platon und auch sonst nicht belegen. Gemäß den beiden Hauptbedeutungen von εύχή muß die Wendung hier bedeuten: wer seinen Lebensunterhalt durch Gebete an Götter oder durch bloße Wünsche anstatt durch fleißige Arbeit zusammenzubringen sucht (eine alternative Möglichkeit wäre: wer sich dadurch ernährt, daß er gegen Geld Gebete verrichtet [vgl. 909a—b]; so offenbarPost 1939, 102).

11.6. 936c8—e5: Schädigung durch Sklaven und Haustiere

Die den Gesetzen seit 932e zugrunde liegende Kategorie der Schädi­ gung tritt in dem vorliegenden Gesetz wieder deutlicher hervor. Es regelt die Haftung des Herrn für deliktische Handlungen seines Sklaven, die dieser aus eigenem Willen begeht (sind dagegen der Sklave oder das Tier nur Werkzeuge des Herrn, haftet der Herr unmittelbar fiir den Schaden; vgl. 843d6-7, 846a4-6 und den Komm, zu 846a3-b2; Klingenberg 1976, 199). Das Gesetz läßt wie 879a2-5 dem Herrn die Wahl zwischen Schadensersatz oder einer Auslieferung des Sklaven (noxae deditio), die wohl dem Geschädigten die Möglichkeit bieten soll, den Schaden da­ durch wieder auszugleichen, daß er den Sklaven verkauft oder fiir sich arbeiten läßt. Das gleiche gilt fiir Schäden durch Haustiere. Falls der Herr des Sklaven ein Komplott zwischen dem Sklaven und dem Geschädigten vermutet, unterbleibt wie 879a5—bl die Auslieferung des Sklaven und dem Herrn steht eine δίκη κακοτεχνιών offen. — Platon folgt hier ver­ mutlich dem attischen Recht (Modrzejewski 1993, 81-82). Allerdings ist fiir Athen nur die noxae deditio von Tieren (eines Hundes) bezeugt (Plu­ tarch, Sol. 24,3 = Solon F 35 Ruschenbusch = T 488 Martina; dazu Lip­ sius 660). Für die förmliche noxae deditio eines Sklaven ist Platon der einzige Zeuge (Gemet 1951, p. CXXV Anm. 3); doch darf sie aufgrund des platonischen Gesetzes auch fiir Athen angenommen werden (Harri­ son 1968, 174). Die vom Scholiasten z. St. (Greene 369) erwähnte atti­ sche δίκη κακοτεχνιών betraf allerdings vermutlich die Anstiftung zu einem falschen Zeugnis; vgl. auch Todd 1990, 36 Anm. 31. 11.7. 936e6—937d5: Zeugenaussagen

Eine Schädigung kann auch durch einen Zeugen verursacht und durch eine Schadensklage verfolgt werden (vgl. 937a3). Platons diesbezügli­ ches Gesetz lehnt sich an das athenische Prozeßrecht an, dessen Grund­ züge folgendes vorsahen: Die streitenden Parteien selber hatten den Zeu­

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gen vorzuladen, der ihre jeweilige Aussage bestätigen kann. Der Zeuge hatte im gerichtlichen Vorverfahren (άνάκρισις) zu erscheinen (bei Nichterscheinen mußte er eine Geldbuße zahlen). Im Vorverfahren konn­ te er entweder einen Eid leisten, daß die von der ihn vorladenden Partei vorbereitete Aussage falsch sei, oder konnte zusichem, diese Aussage in der Hauptverhandlung zu bestätigen. Hielt er diese Zusage nicht ein, konnte die dadurch geschädigte Partei eine δίκη λιπομαρτυρίου wegen „Unterlassens der (zugesagten) Zeugenaussage“ gegen ihn einreichen (daß auch eine δίκη βλάβης möglich war, folgert Lipsius 659 aus De­ mosthenes, Or. 49,20; andere identifizieren die δίκη βλάβης mit der δί­ κη λιπομαρτυρίου; vgl. Harrison 1971, 143, Saunders 1991a, 329330). Erwies sich die Zeugenaussage als falsch, unterlag der Zeuge einer Klage wegen falschen Zeugnisses (δίκη ψευδομαρτυριών), die zu ei­ ner Geldstrafe führte; bei dreimaliger Verurteilung wegen falschen Zeug­ nisses wurde er mit Atimie bestraft (Andokides, Or. 1,74). Ob und in welcher Weise bei erwiesener Falschaussage der Prozeß neu aufgerollt wurde, ist unklar. Zu den Details der athenischen Praxis vgl. bes. Todd 1990 und Thür 2005. Zur δίκη ψευδομαρτυριών vgl. Leisi 1908, Lip­ sius 778-783, Bemeker 1959, Harrison 1971, 136-147. 192-197, Beh­ rend 1975. Da Platon das Vorverfahren (άνάκρισις) abschafft (vgl. Bd. II 425 f. zu 766d3-e3), vereinfachen sich seine Bestimmungen gegenüber Athen. Zunächst stellt Platon die generelle Norm auf: 1) 936e6—937a3: Wer als Zeuge von einer Partei vorgeladen wird, ist verpflichtet, vor Gericht zu erscheinen und dort entweder seine Aussage zu machen oder eidlich sein Nichtwissen zu bekunden (άπομόσας al); wer trotz Vorladung nicht vor Gericht erscheint, kann vom Vorladenden wegen Schädigung belangt werden. Platon erwähnt hier nicht die im atti­ schen Recht für eine Klage vermutlich erforderliche Zusage des Vorgela­ denen für sein Erscheinen vor Gericht und auch nicht die spezielle δίκη λιπομαρτυρίου, sondern nur allgemein eine Klage wegen Schadens (δίκη βλάβης). 2) 937a3—b3: Zeugnisfahig sind in Magnesia nicht nur alle freien männlichen Erwachsenen, sondern mit Einschränkungen auch Frauen (sofern sie über 40 sind) und in Mordprozessen auch Sklaven und Kin­ der, sofern sie Bürgen für ihre Anwesenheit vor Gericht stellen; eine Sonderregelung gilt für die Richter. In Athen waren nach der gängigen Auffassung vermutlich nur die freien männlichen Erwachsenen (darunter auch Metöken und Fremde) zeugnisfahig (vgl. Todd 1993, 96; nach Har­ ris 2006, 355 ff. läßt sich allerdings kein Gesetz belegen, das eine Zeu­ genaussage von Mindeijährigen verbot). Ob Frauen und Sklaven in Mordprozessen zeugnisfahig waren, läßt sich nicht sicher entscheiden

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(MacDowell 1963, 102—109); zu der theoretisch möglichen, aber prak­ tisch nicht belegten Erzwingung von Zeugenaussagen von Sklaven durch Folterung vgl. Todd, 1990, 33 ff. 3) 937b3-d5: Den Abschluß bilden Vorschriften fiir das Verfahren we­ gen falscher Zeugenaussage (δίκη ψευδομαρτυριών), die vermutlich attisches Recht wiederspiegeln. Eingeleitet wird das Verfahren wie in Athen (Aristoteles, Ath. pol. 68,4) durch einen Einspruch (έπίσκηψις) gegen die Zeugenaussage, der noch vor der Abstimmung erhoben wer­ den mußte. Auch die schriftliche Fixierung des Einspruchs und seine Aufbewahrung ist athenische Praxis. Platons Strafbestimmungen sind teils milder, teils schärfer. In Athen konnte jemand, der zweimal wegen falschen Zeugnisses zu einer Geld­ strafe verurteilt worden war, bei einem weiteren Mal die Zeugenaussage verweigern, weil er bei einer dritten Verurteilung seine Bürgerrechte durch Atimie verlor (Harrison 1971, 138). Platon entzieht bei dreimaliger Verurteilung wegen falscher Aussage dem Betreffenden das Recht zur Zeugenaussage (was lediglich einer Teilatimie gleichkommt), schreibt aber bei einer weiteren Verurteilung die Todesstrafe vor. Ob die Zurückweisung von mehr als der Hälfte der Zeugnisse, mit de­ nen die siegreiche Partei ihre Sache untermauert hatte, auch in Athen zur Neuaufnahme (άναδικία) des Prozesses führte, ist nicht sicher und hängt ab von der Deutung des Scholions zu Nom. 937d (Greene 369) und der darin zitierten Bemerkung Theophrasts (= Fr. 637 Fortenbaugh; vgl. hierzu Behrend 1975, Harrison 1971, 194f., Todd 1990, 37 Anm. 32); nach Thür (2005, 162) führte in Athen die Verurteilung eines Zeugen nicht zur Annullierung des in der Hauptverhandlung gefällten Spruches. 936e9 Themis: Sie gilt als Göttin der Rechtsordnung und der Gerech­ tigkeit. Sie ist die Tochter von Uranos und Gaia und wurde durch Zeus Mutter der Horen und der Moiren.

937al schwören (άπομόσας), daß er wirklich nichts weiß: Im atti­ schen Recht heißt diese Eidesleistung gewöhnlich έξόμνυσθαι oder έξομνύναι (απόμνυσθαι bei Aischines, Or. 1,67); vgl. Lipsius 878, Gemet 1951, p. CXLVII, Harrison 1971, 143 Anm.2, Todd 1990, 24f., 1993,97, Thür 2005, 157. 937a6 als Zeugin und als Fürsprecherin aufzutreten (μαρτορεϊν καί συνηγορεϊν): England z. St. sieht in den beiden Verben ein und dieselbe Handlung bezeichnet. Thür (2005, 152. 155) unterscheidet dagegen für die attische Prozeßpraxis zwischen dem Zeugen, der lediglich eine in ei­ nem festen Formular formulierte und etwa seit 370 v.Chr. in der Ge­ richtsverhandlung verlesene Aussage zu bestätigen hatte (und gegebe­

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nenfalls einer Klage ψευδομαρτυριών unterlag), und dem συνήγορος, d.h. einem Freund, der seine Aussage in freier Form mit eigenen Worten machte; eine solche fur den Fall relevante Aussage kann durchaus auch ein Kind machen. Zur Rolle der Synegoroi in Athen, wo sie von der Phy­ le gestellt wurden, vgl. Lipsius 905 ff., Latte 1932, 1353 f., Todd 1993, 94.

937cl ψευδομαρτυριών ist statt ψευδομαρτυριών (so Diès; Bur­ nets ψευδομαρτυρούν ist Druckfehler) zu schreiben (nach Rhodes 1981, 668 ist ein feminines ψευδομαρτυρία attisch schlecht bezeugt).

11.8. 937d6—938c5: Rechtsverdrehung und Prozeßsucht Das aus einer Vorrede (937d6-938a7) und der Strafdrohung (938a7c5) bestehende Gesetz richtet sich gegen die Rhetorik als die Kunst des Rechtsbeistands. Für die Rhetorik als gerichtliche Verteidigungskunst ist in Platons Staat kein Platz; der einzige Nutzen der Rhetorik kann nur da­ rin bestehen, daß sie, anstatt auf Freispruch des Täters zu plädieren, den Täter vielmehr seiner Strafe zufährt, damit er von seiner Ungerechtigkeit geheilt wird (Gorg. 480a ff.). Zu der ebenfalls im Gorgias attackierten moralischen Indifferenz (456aff.) und dem Fehlen einer wissenschaftli­ chen Grundlage (462c, 463b) der Rhetorik kommt hier die Geldgier (938a2, b6, c3) und die Streitsucht (φιλονικία 938b6. 7) der Redner hin­ zu, die zu häufigem Prozessieren (πολυδικειν 938b2) veranlaßt. Häufiges Prozessieren und Prozeßsucht (φιλοδικία) war ein Kennzei­ chen des demokratischen Athen (vgl. Aristophanes’ Wespen und Thuky­ dides 1,77,1 φιλοδικειν δοκουμεν). Die Redner müssen sich daher ge­ gen den ehrenrührigen Verdacht der φιλοδικία verwahren (vgl. Dover 1974, 187 ff.; Wankel I 131 f. zu Demosthenes, Or. 18,4). Für Platon sind häufige Prozesse schon an sich ein Zeichen einer schlechten Verfassung (Resp. 405a—c) und untergraben die Einheit der Stadt (Nom. 743c6—d2); noch schlimmer ist es, wenn die Redner ihre Macht dazu benutzen, die Gerechtigkeit ins Gegenteil zu verkehren (938b 1—2). Wegen ihrer Schwere werden deshalb Rechtsverdrehung und Prozeßsucht vor den Auserlesenen Richtern (vgl. 767c-d) verhandelt. Die Strafe variiert ent­ sprechend dem Tatmotiv: Streitsucht entspringt dem Zorn (θυμός) und führt zu milderer Bestrafung als Geldgier, die ihre Wurzel in der επι­ θυμία hat (vgl. die Strafdifferenzierung bei Tötung aus Zorn und Tötung aus Geldgier [870a]); geldgierige Bürger gelten als unheilbar und werden wie 854e und 942al-4 härter als Fremde bestraft. Ein exaktes Gegenstück zur Klage gegen einen Kläger oder Rechtsbei­ stand wegen böswilligen Prozessierens (κακοδικίας, συνδικίας κακής 938b4) gab es in Athen nicht. Bedingt vergleichbar ist die Klage wegen

937d6—938c5

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Sykophantie (zu den Details vgl. Chase 1933, 188, Lipsius 448, Todd 1993, 93 f., Hansen 1995, 201 f.). Auch gab es prozedurale Bestimmun­ gen, die leichtfertigem Klagen entgegenwirkten, wie z.B. die Erhebung von Gerichtsgebühren bei Privatklagen (weiteres bei Harris 2006, 405 ff.). Vor allem verfiel ein Kläger, der seine Klage vor dem Prozeß fal­ len läßt oder weniger als ein Fünftel der Richterstimmen erhält, einer Geldstrafe und partieller Atimie, die den Verlust des Rechts auf gerichtli­ che Klage einschloß (nach Harris verlor er das Recht auf jede Klage, nach Hansen 1976, 63-65, Todd 1993, 143 nur das Recht auf eine Klage desselben Typs). 937d7 gleichsam eine unheilvolle Macht: Das Substantiv κήρες, das bei Homer die Todesdämonen bezeichnet, deutet die Entstellung des Schönen als etwas Schicksalhaftes und Unaufhaltsames. 937d8 das Recht: wie sollte dies bei den Menschen nicht etwas Schö­ nes sein'. Vgl. 728c3 und 859d. Zur Veredelung oder Zähmung der Men­ schennatur vgl. 874e8ff.

937e2 Rechtsbeistand zu leisten: Im attischen Recht kann σύνδικος einen Vertreter der staatlichen Interessen oder einen Anwalt der beste­ henden Gesetze bezeichnen (vgl. Kahrstedt 1932). Hier bezeichnet συνδικειν (wie auch e6, 938b3. 4. 8) den Rechtsbeistand für eine Privatper­ son; nach Ausweis des Textes sind jetzt nicht fursprechende Freunde (vgl. zu 937a6), sondern professionelle Redenschreiber gemeint, die ihre potentiellen Mandanten zum Prozessieren auffordem und ihnen dabei ih­ re Hilfe anbieten. 937e5—6 eine gewisse Technik (sie selbst sei diese), um zu prozessie­ ren: Mit Saunders 1972, Nr. 117 S. 117 beschränke ich Burnets Parenthe­ se auf είναι δ’ αυτή. 938a3—4 Kunstfertigkeit (τέχνη) oder eine ohne Kunst erworbene Er­ fahrung (εμπειρία) und Routine (τριβή): Die Kunstfertigkeit ist fähig, Gründe für ihr Tun anzugeben; die Erfahrung beruht auf bloßer wieder­ holter Beobachtung und erstarrt in Routine (vgl. Gorg. 463b4, 501a, Phaidr. 260e4-5, 270b5-6, Phil. 55e6). Der Techne-Status wird daher von Platon der Rhetorik abgesprochen (Gorg. 464b A66a). 938b3: Ich ziehe (wie schon Schneider und Wagner) των τοιούτων unter Ergänzung von δικών als partitiven Genitiv zu πολυδικεΐν (er hängt gleichsam von πολύ- ab). Eine genaue Parallele bietet Gorg. 514a6 πράξοντες των πολιτικών πραγμάτων (weitere Belege bei Kühner — Gerth I 345 Anm. 2). Ähnliche Genitive finden sich auch 643e2 und 933el. Andere beziehen τοιούτων auf δικαίων bl und las-

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sen den Genitiv von καιρόν abhängen (so Ritter II 341, Post 1939, 103 und Lisi).

Zwölftes Buch

11. 941al—958c6: Gesetze vermischten Inhalts (II): Vergehen gegen das Gemeinwesen u. a.

Im zwölften Buch findet die das menschliche Leben von der Geburt bis zum Tod begleitende Gesetzgebung ihren natürlichen Abschluß mit den Bestattungsvorschriften (958c7-960b5). Voraus geht diesen eine Reihe von Gesetzen vermischten Inhalts, deren Anordnung keine durch­ gehende Systematik erkennen läßt. Einen größeren Block bilden zu­ nächst Delikte gegen den Staat (941al-945b2). Die beiden ersten Delikte — Vergehen im Zusammenhang mit Gesandtschaften (11.9) sowie Dieb­ stahl und Raub am Gemeineigentum (11.10) — sind unter der Oberfläche verbunden durch den Bezug auf den Gott Hermes, der nach dem Volks­ glauben Beschützer sowohl der Herolde wie der Diebe ist (vgl. 941a6 bzw. 941b2ff.). Es folgen Militärvergehen (11.11), die u.a. mit Aberken­ nung der Wehrfähigkeit geahndet werden. Ein Beamter, der dem Verur­ teilten trotzdem einen militärischen Posten verschafft, wird von den Eu­ thynen bestraft. Die Einsetzung, Funktionen und Ehrungen eben dieser Euthynen, vor allem ihre Bestattung bildet den Gegenstand des folgen­ den Abschnitts (11.12). Die restlichen Gesetze (948b3—958c6) betreffen überwiegend Bezie­ hungen zwischen den Bürgern und der Stadt, nämlich Verweigerung von Abgaben und sonstigen Leistungen (11.14), Reisen im Dienste der Stadt (11.15), Aufnahme von Verbannten (11.20), eigenmächtige außenpoliti­ sche Aktionen (11.21), Bestechlichkeit im Dienst für die Stadt (11.22), Steuern und sonstige Geldabgaben (11.23). Eingeschoben zwischen die­ se sind einzelne Gesetze, die sich wegen ihrer Thematik als Ergänzungen oder Nachträge zu früheren Gesetzen betrachten lassen. So behandeln die Gesetze über Bürgschaften (11.16), Haussuchungen (11.17), Veijährung von Besitzansprüchen (11.18) Aspekte des am Anfang des 11. Bu­ ches erörterten Eigentumsrechts. Der kurze Passus über Hehlerei (11.20) gehört sachlich zum Strafgesetz gegen den Diebstahl (933d ff). Eine Er­ gänzung zu den bisher formulierten Vorschriften für das Gerichtswesen bilden die längeren Ausführungen 956b4-958c6 (11.25), die in 956b ausdrücklich als Ergänzung gekennzeichnet sind, sowie der Passus über den Eid (11.13), der ein Detail des Prozeßverfahrens behandelt. Das Ge­

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setz über die Behinderung von Prozeßgegnem und Zeugen (11.19) hätte sachlich an das Gesetz 936e6-937d5 angeschlossen werden können. Die Verletzung der agonalen Gleichheit verbindet dieses Delikt mit der Be­ hinderung von Konkurrenten bei Wettkämpfen (11.19), die der Sache nach bei den entsprechenden Ausfährungen des 8. Buches hätte berück­ sichtigt werden können. Das Gesetz über Mäßigung bei Weihgeschenken an die Götter (11.24) folgt auf die Abgaben an die Stadt, entweder weil es auch hier um Abgaben geht oder vielleicht auch, damit nicht durch maßlose Weihgeschenke die der Stadt zugute kommende Finanzkraft der Bürger erschöpft wird; der Sache nach hätte diese Bestimmung in die Kultvorschriften am Ende von Buch X gehört. Dieser Abschnitt 948b3—958c6 ist diejenige Partie der Nomoi, deren Zustand sich am ehesten mit dem Fehlen einer abschließenden Revision durch Platon erklären läßt, von der die antiken Zeugnisse (vgl. dazu Bd. I 138 ff.) wissen wollen (wozu auch paßt, daß das 12. Buch unter allen Bü­ chern die meisten sprachlichen Unregelmäßigkeiten aufweist). Denn es ist schwer vorstellbar, daß die jetzige Anordnung dieser Gesetze von Pla­ ton beabsichtigt war. Möglicherweise wurden hier mehrere als Ergän­ zung und Nachtrag gedachte Entwürfe, die Platon nicht mehr einarbeiten konnte, von Philipp von Opus zusammengestellt und vor den Bestat­ tungsvorschriften eingefägt, die aufjeden Fall den Schluß bilden mußten (vgl. auch Piérart 2005, 151 Anm. 110). Scheidet man diese Partie ver­ suchsweise aus, so folgen auf die Vorschriften für die Bestattung der Eu­ thynen, die als Träger des höchsten Tugendpreises besonders geehrt wer­ den, die Vorschriften für die Bestattung der ,gewöhnlichen* Bürger. 11.9. 941al—bl: Pflichtverletzungen von Gesandten und Herolden

Für die hier behandelten Delikte kannte das attische Recht den Termi­ nus παραπρεσβεία. Die beiden Hauptformen der Pflichtverletzung ei­ nes Gesandten waren (1) die Mißachtung der ihm von seiner Stadt gege­ benen Instruktionen und (2) ein falscher Bericht über den Erfolg der Ge­ sandtschaft bei der Rückkehr; ein Sonderfall war (3) die Anmaßung di­ plomatischer Funktionen ohne staatlichen Auftrag (vgl. Demosthenes, Or. 19). Als Klageweg war neben der regulären γραφή παραπρεσβείας auch εισαγγελία, ένδειξις oder eine Klage vor den Euthynen möglich. Während auf der Amtsanmaßung die Todesstrafe stand, war in den andern Fällen die Klage schätzbar (vgl. Lipsius 405). Platons Gesetz erwähnt diese drei Delikte in der Reihenfolge (3) = 941al-2; (1) = a2-3; (2) = a4-5 und begründet deren Strafbarkeit nicht einfach mit der Schädigung der Interessen der Stadt, sondern sieht in der παραπρεβεία ein religiöses Vergehen gegen die als heilig geltenden

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Aufträge der Polis. Für alle drei Delikte schreibt er die gewöhnliche Schriftklage (γραφή) vor und überläßt die Festsetzung der Strafe dem Gericht, das demnach auch die Todesstrafe verhängen kann.

941a6 weil sie gegen die Botschaften und Befehle des Hermes und des Zeus in gesetzwidriger Weise gefrevelt haben: Bei Homer ist Zeus der Schutzpatron der Herolde, die als „Boten des Zeus“ gelten (II. 1,334; 7,274); erst nachhomerisch erscheint Hermes in dieser Funktion (vgl. Platon, Krat. 408a).

11.10. 941b2—942a4: Diebstahl von Gemeineigentum Das Gesetz behandelt zwei Formen widerrechtlicher Entwendung von Gemeineigentum: (1) Diebstahl (κλοπή) kleinerer Geldbeträge mittels List (δόλοις b3) und (2) Raub (αρπαγή) größerer Güter mittels Gewalt (βία b3, βιαζόμενος b7). Der Tat überführte Fremde und Sklaven wer­ den mit einer Leibes- oder Geldstrafe, Bürger mit dem Tod bestraft. Eine Schadensersatzleistung wird von Platon nicht erwähnt; die Klageform war vermutlich eine γραφή κλοπής gemäß 767b. Ein Gesetz über Diebstahl von Staatseigentum durch einen Privat­ mann ist fiir Athen nicht belegt (Cohen 1983, 49 Anm.46). Falls dies nicht überlieferungsbedingt ist, sondern auf eine Lücke im attischen Recht hinweist, hätte Platon mit seinem Gesetz diese Lücke auszufiillen gesucht (Saunders 1991a, 296). Umgekehrt bildet die Unterschlagung von Geldern durch Beamte, die in Athen durch eine γραφή κλοπής δη­ μοσίων χρημάτων bei der Rechenschaftsablegung der Beamten ver­ folgt werden konnte, bei Platon keine eigene Kategorie. Nach dem vor­ liegenden Gesetz müßte ein Beamter, dem bei der Rechenschaftsable­ gung (946d2—e4) finanzielle Verfehlungen nachgewiesen wurden, mit dem Tod bestraft werden (in Athen wurde als Strafe der zehnfache Be­ trag des Veruntreuten erhoben: Aristoteles, Ath. pol. 54,2; dazu Lipsius 399, Todd 1993, 108). Das dem eigentlichen Gesetz vorausgehende Proömium (941b2-c4) wendet sich gegen den Versuch, das Vergehen durch Berufung auf steh­ lende Götter oder Göttersöhne zu bagatellisieren. Platon denkt in erster Linie an den Gott (und Zeussohn) Hermes, der dem Apollon fünfzig Rin­ der stahl (vgl. den homerischen Hermeshymnos), vielleicht auch an den Zeussohn Herakles, der die Rinder des Geryon wegtrieb. Wenn der Athe­ ner unter Berufung auf das der Dichtung überlegene Wissen des Gesetz­ gebers (vgl. auch 81 Id, 858e) versichert, daß Götter und „Götterkinder“ (b9) so etwas nicht tun, schließt er zugleich ein derartiges Verhalten für Bürger im idealen Staat (= die „Götterkinder“ 739d6) aus. Das eigentliche Gesetz (941c4-942a4) enthält eine nomothetische Be-

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gründung fiir das vorgesehene Strafmaß (dazu Saunders 1991a, 160f. 294-299). Kriterium fiir die Strafe ist gemäß der platonischen Straftheo­ rie (862d—e, 934a—b) nicht der Wert des Gestohlenen, sondern die Heil­ barkeit oder Unheilbarkeit des Täters, die vom sozialen Status abhängt: Bürger, die sich trotz der ihnen zuteil gewordenen Erziehung am Ge­ meineigentum vergreifen, sind unheilbar; bei Sklaven und Fremden, die diese Erziehung nicht erhalten haben, ist dagegen Heilbarkeit anzuneh­ men (ebenso 854d-e, 938c). Mit dem Diebstahl-Gesetz 857a-b stimmt das vorliegende darin über­ ein, daß es unabhängig vom Wert des Gestohlenen fiir alle Fälle dieselbe Strafe fordert. Unvereinbar ist dagegen das hohe Strafmaß mit der 857b 1-3 geforderten milden Strafe des Duplum für Diebstahl von Ge­ meineigentum. Zu den Versuchen, diesen Widerspruch zu erklären oder zu beseitigen vgl. den Komm, zu 857a2—b3.

941b5 wenn er in dieser Hinsicht eine Verfehlung begeht (πλημμελών περί τά τοι,αυτα): Ich fasse πλημμελών mit Stallbaum und England als Partizip (analog zu κλεπτών b6). Apelt, Bury, Pangle, Lisi, Brisson— Pradeau beziehen es als Adjektiv auf μυθολόγων. In diesem Fall wäre aber wohl πλημμελούντων zu erwarten; denn Platon gebraucht das No­ men πλημμελής nie mit Bezug auf Personen. 941b5 sich von Dichtern oder sonst von irgendwelchen Sagenerzäh­ lern täuschen und überreden lassen: Vorgänger in der Kritik am Götter­ bild der Dichter hatte Platon u.a. in Xenophanes Vors. 21 B 11 und 12 (Homer und Hesiod schreiben den Göttern Diebstahl, Ehebruch und ge­ genseitigen Betrug zu); ähnliches beklagt Isokrates, Or. 11,38. Vgl. auch 886bl0-dl. 941b7 tue er nichts Schändliches (αισχρόν), sondern nur etwas, das die Götter selber täten: Zaxx Berufung auf göttliches Vorbild vgl. Nom. 636d, Resp. 378b. Vgl. auch die Maxime bei Sophokles Fr. 226,4 Nauck = TrGF IV F 247,4: αισχρόν ... ούδέν ών ύφηγουνται θεοί „Nichts von dem, worin die Götter vorangehen, ist schändlich“ (Sprecher und Kontext unklar). 11.11. 942a5—945b2: Militärvergehen

Die Stadt der Magneten verfolgt keine imperialen Ziele wie andere Staaten (vgl. 687a, 962e). Das magnesische Landheer — eine Flotte gibt es nicht (705c ff.) — dient nur zur Verteidigung gegen Angriffe von außen (737d, 758a). Waffenfähige Männer, die die Verteidigungskraft der Stadt durch Verweigerung des Heeresdienstes (αστρατεία 943a5), Desertion (λιποτάξιον 943d2) oder feige Preisgabe der Waffen (όπλων αποβολή

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943e4) schwächen, müssen mit empfindlichen Strafen rechnen, die im vorliegenden Gesetz festgesetzt werden. Die Wichtigkeit der Materie wird durch eine dem Gesetz vorausgehende Vorrede unterstrichen. Vorrede (942a5-943a3). Die Vorrede besteht wie das Proömium zur Jagd (vgl. 823c—d) in ei­ nem „Lob“ (έπαινος 943al), das hier dem kriegerischen Leben gilt (zum lobenden Proömientyp vgl. Bd. II 223). Zwei Aspekte des Solda­ tendaseins werden vom Athener hervorgehoben: (1) Jede eigene Initiative muß unterdrückt werden durch absolute Un­ terordnung unter einen Befehlshaber (αρχών) und durch ausschließli­ ches Handeln im Kollektiv (942a6—d2). Daraus zieht der Athener den überraschenden Schluß, daß man sich von Kind an darin üben muß, über andere zu herrschen und sich von andern beherrschen zu lassen (c7-8), und daß die αναρχία (Herrschaftslosigkeit, Unabhängigkeit) aus dem Leben von Menschen und von Haustieren zu beseitigen ist (c8—d2). Die erste Forderung trägt offenbar dem Umstand Rechnung, daß das Kriegs­ handwerk auf dem Zusammenspiel von Gehorchen und Befehlen beruht und die Bürger zu beidem fähig sein müssen. Die Junktur von αρχειν und αρχεσθαι weist aber zurück auf 643e6, wo sie die bereits in der Kindererziehung anzuvisierende Haltung des vollkommenen Staatsbür­ gers kennzeichnet, der sowohl zur Übernahme eines Regierungsamtes (αρχή) fähig ist wie auch dazu, sich als Privatmann der Autorität der je­ weiligen Amtsträger zu unterwerfen und sich als Amtsträger vom Gesetz als Verkörperung der Vernunft beherrschen zu lassen (vgl. 690b—c, 715d); in der entarteten Demokratie, die Resp. 557b ff. geschildert wird, ist der Bürger weder zum Herrschen noch zum Gehorchen verpflichtet (557e). Vor diesem weiten Hintergrund ist auch die Forderung nach Be­ seitigung der αναρχία zu sehen. Der Gedanke des Atheners verläuft also von dem Erfordernis militärischer Disziplin über den Gedanken, daß je­ der lernen muß, zu herrschen und beherrscht zu werden, wenn er ein vollkommener Bürger sein will, zu der generellen Maxime, daß ein herr­ schaftsfreier Zustand der άναρχία, die gemäß Resp. 560e, 575a mit Übermut, Unverschämtheit, Gesetzlosigkeit einhergeht, nicht nur im Mi­ litärdienst, sondern überhaupt im Leben der Gesellschaft ein Übel ist. Popper (1962, 103 f.) leitet aus der Forderung nach Beseitigung der αν­ αρχία eine durchgehende Militarisierung der Gesellschaft nach spartani­ schem Muster ab, die im Dauerzustand der Mobilmachung zu leben ha­ be. Dieser Vorwurf übersieht, daß Sparta gerade wegen seiner kriege­ rischen Ausrichtung des gesamten Lebens kritisiert wird (628c-d, 629e— 630a, 634a, 666e) und daß in Magnesia die höchsten Auszeichnungen nicht den soldatischen Leistungen gebühren, sondern dem Gehorsam ge­

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gen die Vorschriften der guten Gesetzgeber (922a). Vgl. auch Silverthor­ ne 1973, Guthrie 1978, 351 f. (2) Das zweite Erfordernis kriegerischen Lebens ist körperliche Fitness und die Fähigkeit zum Ertragen von Strapazen (942d2-943al). Sie müs­ sen ebenfalls schon in Friedenszeiten erworben werden durch Teilnahme an geeigneten Reigentänzen (vgl. 796a-d, 803e, 815a) und durch eine abhärtende Lebensweise, deren wichtigster Bestandteil der Verzicht auf eine Kopfbedeckung und auf Schuhe ist. Die Schilderung der zu ertragenden Strapazen und insbesondere die Forderung nach Barfußigkeit verbinden diesen Abschnitt mit der Be­ schreibung der spartanischen Krypteia 633b-c (vgl. auch unten zu 942d7—el). Auch die Betonung der Disziplin und des Kollektivs atmet spartanischen Geist. Nach Xenophon, Lak. pol. 2,10—11 traf Lykurg Vor­ kehrungen, damit die Knaben nie ohne einen Aufseher seien. Die Polari­ tät von Herrschen und Gehorchen galt ebenfalls als ein Zug der spartani­ schen Ordnung. Agesilaos rühmte Sparta als den Ort, wo man das Schön­ ste lernen kann, nämlich zu befehlen und zu gehorchen (άρχειν κώ αρχεσθαι); vgl. Plutarch, Apophth. Lak. (Agesil. 50. 51) 212B-C; Xe­ nophon, Agesil. 2,16. Zum spartanischen Einfluß auf Platon vgl. Powell 1994 (274 zur vorliegenden Stelle). Das Gesetz (943a3-945b2) Platons Gesetz gliedert sich wie folgt: 1) 943a3-943b7: Verweigerung des Heeresdienstes (αστρατεία). 943b7—943c8 (Einschub): Die Vergabe militärischer Auszeichnungen. 2) 943c8—943d4: Desertion (λιποτάξιον). 3) 943d4-945b2: Preisgabe der Waffen. Der Einschub ist dadurch motiviert, daß die Zuerkennung militärischer Auszeichnungen das Gegenstück zur Bestrafung der Militärvergehen bil­ det und von derselben Instanz vorgenommen wird, die auch über die Ver­ gehen urteilt. In der Unterscheidung dreier Tatbestände lehnt sich Platon an das atti­ sche Recht an, das dieselben Militärvergehen kannte, aber Verweigerung des Heeresdienstes und Desertion nicht so scharf trennte (vgl. MacDo­ well, Andokides, On the mysteries, Oxford 1962, 111); eine allgemeine Klage wegen Feigheit (δειλίας) bildete wohl keine eigene Kategorie, sondern deckte sich mit der Klage wegen Schildwegwerfens (vgl. Lip­ sius 453, Hillgruber 1988, 32, Todd 1993, 183). Alle drei Vergehen zo­ gen dieselben Rechtsfolgen nach sich: die Klageform war eine γραφή, die Verhandlung fand vor einem speziellen Militärgericht unter Leitung der Militärbeamten statt, wobei die Geschworenen aus den Teilnehmern des betreffenden Feldzugs genommen wurden (aus Lysias, Or. 14,5 ge­

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folgert von Lipsius 143; bezweifelt von Bertrand 2001a, 18); als Strafe wurde lediglich Atimie, aber keine Geldstrafe oder Vermögenskonfiska­ tion verhängt (vgl. Andokides, Or. 1,74). Platon schreibt als Gerichtsinstanz für alle drei Delikte die Angehöri­ gen der Waffengattung vor, der der Delinquent angehört; Klageform ist eine γραφή (vgl. 943a5). Die Verweigerung des Heeresdienstes (αστρατεία) und die Desertion (λιποτάξιον) faßt er dadurch zusammen, daß er fiir beide als Strafe dieselben drei Rechtsfolgen angibt: a) Verlust des Rechts, sich um irgendeine Auszeichnung zu bewerben, b) Verlust des Rechtes, einen andern wegen άστρατεία zu verklagen, und c) eine vom Gericht festgesetzte Körper- oder Geldstrafe. Der Schildverlust dagegen erhält wegen der Besonderheit des Tatbe­ stands eine ausführlichere (mit mythologischen Beispielen operierende) Behandlung. Wie in andern Fällen (vgl. S. 195 zu 836e5-837el) geht dem eigentlichen Gesetz eine dihäretische Analyse des zu regelnden Sachgebiets voraus, die zwischen der freiwilligen Preisgabe (,Wegwer­ fend der Waffen und einer offenbar straffreien erzwungenen Preisgabe (, Verlust6) der Waffen unterscheidet (943d4-944e3). Den unfreiwilligen Verlust - und die Gefahr, diesen zu verkennen und dem Verlierer unberechtigte Vorwürfe zu machen (943e4—7) — illustriert der Athener zuerst durch das Beispiel des homerischen Patroklos, dem Hektor nach seinem Tod die Waffen raubte (944a2-8). Es folgen Beispie­ le für unfreiwilligen Waffenverlust infolge von Unfällen und sonstigen Zufallen (944a8-b4), die ebenfalls zu Verleumdung Anlaß geben könn­ ten (ευδιάβολον b3). Die freiwillige Preisgabe der Waffen wird erst 944c4—7 im eigentlichen Gesetz geschildert, wobei vor allem die Feigheit als Motiv herausgestellt wird. Bei dem beschriebenen Fall (Zurückweichen vor dem Feind, Weg­ werfen der Waffen) ist die Beweislage eindeutig. Im Falle der unfreiwilli­ gen Preisgabe ist dagegen eine Prüfung nötig, ob der Verlierer der Waf­ fen diese wirklich gegen seinen Willen verloren hat (944dl—2) und des­ halb nur als ein ,Pechvogel6 (δυστυχή d3) und nicht als ein schlechter (d. i. feiger) Mensch zu betrachten ist. Die Strafe fiir freiwilligen Schildverlust (944c3-945b2) ist eine „spie­ gelnde Strafe66, die darin besteht, daß der Feigling nie mehr sein Leben durch Militärdienst in Gefahr bringen darf; außerdem muß er eine nach Vermögensklassen gestaffelte Geldstrafe zahlen. 942c8—d2 Die Herrschaftslosigkeit aber muß aus dem ganzen Leben aller Menschen und aller Tiere ausgerottet werden, die den Menschen untertan sind: Die αναρχία ist in der Politeia ein Grundzug des (in dia­ gnostischer Absicht überzeichneten) Modells der Demokratie (Resp.

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560e) und greift im Stadium der Entartung dieser Staatsform sogar auf die Tiere über (Resp. 563c). Der sophokleische König Kreon begründet sein Todesurteil gegen Antigone mit der Maxime: Es gibt kein größeres Übel als die άναρχία, weil sie die Stadt und das Hauswesen zerstört (Ant. 672). 942d4 Genügsamkeit und Unempfindlichkeit (ευκολίαν τε καί ευχέρειαν): England, dem die meisten Übersetzer folgen, übersetzt die beiden Substantive mit „suppleness and dexterity“. Linguistische Überle­ gungen (vgl. Μ. Leumann, ευχερής und δυσχερής, Philologus 96, 1944, 161-169 = Kleine Schriften, Zürich 1959, 207-208) sowie der sonstige platonische und außerplatonische Sprachgebrauch sprechen je­ doch eher für die von Shorey vorgeschlagene Deutung des ganzen Aus­ drucks als „the good-natured and unfastidious acceptance of the hard­ ships described in the following loosely appositional clause introduced by τε“ (1917, 310); ähnlich LSJ s. v. II, Post 1939, 103 und 1958, 287 sowie Schofield 1971, 6 Anm. 19 („a character not at all fussy or squea­ mish“). 942d7—el die Kraft des Kopfes und der Füße darfman nicht verderben durch Umhüllen mit fremden Bedeckungen: Herodot 3,12 berichtet, daß man bei den Ägyptern die wenigsten kahlköpfigen Leute finde, weil sie von Kind an ihre Schädel kahl scheren und in der Sonne hart werden las­ sen, während die Schädel der Perser sehr zerbrechlich seien, weil sie seit ihrer Jugend eine Filzkappe tragen. - Nach Xenophon, Lak. pol. 2,3 ord­ nete der spartanische Gesetzgeber Lykurg an, statt die Füße durch Schu­ he zu verweichlichen, sollten die Jugendlichen barfuß gehen, weil er glaubte, barfuß könne man sich schneller bewegen als mit Schuhen. So­ krates ging nach Symp. 220a—b auch im Winter ohne Schuhe.

942e2 bringen sie die Kraft des ganzen Körpers zu höchster Entfal­ tung: Der Text gewinnt an Verständlichkeit durch Englands Konjektur μεγίστην (την) δύναμιν, die auch Diès übernimmt. 942e4—943al weil er von Natur alle entscheidenden Sinnesorgane des Körpers in sich beherbergt: Nämlich den Gesichts- und den Gehörsinn (vgl. 96Id).

943a2 so sollte sich der junge Mann vorstellen: Ich halte wie England, Pangle und Lisi an dem überlieferten χρήν δοκεΐν fest, das als lectio dif­ ficilior den Vorzug vor der von Diès übernommenen Konjektur Burys (χρήναι δοκεί) verdient. 943a3—4 wer in die Aushebungsliste eingetragen ist oder für irgendein Teilkontingent aufgestellt ist: Offenbar setzt Platon die Aushebungsmo­ dalitäten in Athen voraus. Dort konnten entweder volle Jahrgänge aufge­

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rufen werden oder nur eine bestimmte Anzahl von Dienstpflichtigen ei­ nes Jahrganges; eine Militärexpedition mit einem Teil eines Jahrgangs hieß στρατεία έν τοϊς μέρεσι (vgl. Aischines, Or. 2,168), ähnlich κα­ τά μέρη Nom. 829b7 (zur Sache vgl. Busolt - Swoboda 578 f., Piérart 1974, 249). 943a7 und zwar jeweils getrennt die Hopliten usw.: Das Komma, das Burnet und Diès hinter χωρίς setzten, wird m. E. besser getilgt oder mit Stallbaum vor χωρίς gesetzt.

943cl—2 undjeder, der will, soll sich vor seiner eigenen Abteilung der Entscheidung über die Auszeichnungen stellen: τον βουλόμενον bezie­ he ich auf den Soldaten, der sich um die Auszeichnung bewirbt (vgl. das Verbot, sich um solche Auszeichnungen zu ,bewerben6 943b3-4). An­ ders Bertrand, 2001a, 19 Anm. 56.

943cl Auszeichnungen (άριστείων): Zu den militärischen Auszeich­ nungen in Athen vgl. W. K. Pritchett, The Greek state at war, II, Berkeley 1992, 276-290.

943el eine jungfräuliche Tochter der Aidos wird die Dike genannt: Al­ dos ist hier die Furcht davor, jemandem durch falsche Anschuldigung Unrecht zuzufugen (vgl. auch den Komm, zu 647al0); παρθένος + Gen. bedeutet die unverheiratete Tochter wie 1. Kor. 7,36 (Hinweis von Bury 1922, 174). Dike (Recht, Rechtlichkeit) ist bei Hesiod, Theog. 901 f. als eine der drei Horen eine Tochter von Zeus und Themis. Da Dike bei Hesiod, Erga 257 als αίδοίη θεοις (,von den Göttern geachtet6) be­ zeichnet wird, konjizierte Stephanus unter der Prämisse, daß Platon diese Hesiodstelle vor Augen hatte, für Αίδους hier αίδοίη (was Ast, Stall­ baum u. a. übernahmen). Der Kontext spricht aber eindeutig für Αίδους (vgl. auch England z. St.): die genealogische Relation zwischen Aidos und Dike versinnbildlicht die in 943d4—el entwickelte kausale Relation: die moralische Scheu, jemanden zu Unrecht zu beschuldigen, ist Voraus­ setzung der Gerechtigkeit. Falls Platon die Hesiodstelle vor Augen hatte, hat er eher umgekehrt Hesiods αίδοίη (verstanden als ,schamhaft6) in ei­ ne Abstammung von Aidos umgedeutet. Oder er spielt mit λέγεται auf eine nicht erhaltene Version an, in der Dike Tochter der Aidos (und des Zeus?) war. 943e4—6 wenn es um den Verlust der Waffen im Krieg geht: Die Wort­ wahl οπλών αποβολής lehnt sich an die attische Bezeichnung für das ,Wegwerfen6 des Schildes an (άποβεβληκέναι τήν ασπίδα z.B. Lysias, Or. 10,9.12); in der Übersetzung wurde αποβολή mit ,Verlust6 wiedergegeben, weil das Wort hier auch das erzwungene Wegwerfen um­ faßt. Der Vorwurf, den Schild weggeworfen zu haben, konnte als schwe-

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re Beleidigung in Athen mit einer δίκη κακηγορίας verfolgt werden; vgl. zu 934d5-936b2 und das Material bei Schwertfeger 1982. Hinter­ grund ist die Taktik der Hoplitenphalanx, in die der Verlust eines Schil­ des eine gefährliche Lücke riß; daß Schildverlust schon im 7./6. Jh. als schwerer Vorwurf galt, zeigen die provozierenden Verse des Archilochos Fr. 5 West; vgl. dazu C. W. Müller 1999, 72-74. 944a4 jene ersten Waffen: Nämlich die Waffen, die Achill von seinem Vater Peleus erhalten hatte und die Patroklos, der Sohn des Menoitios, trug, als er von Hektor getötet wurde. Da Hektor Patroklos die Waffen abnahm, mußte sich Achill neue Waffen anfertigen lassen. 944a8 beim Sturz von Felsenhöhen: Grote (1888, IV 413 Anm. 1 = 1875, III 443 Anm. q) vermutete hierin eine Anspielung auf die Schlacht auf dem Krokosfeld (352 v. Chr.), nach welcher Philipp über 3000 phokische Gefangene ins Meer stürzen ließ, weil sie 356 den Apollontempel in Delphi besetzt und mittels des Tempelschatzes ein Heer aufgestellt hatten (vgl. H. Bengtson, Griechische Geschichte, München 51977, 304); zu­ stimmend Dusanic 1991, 27-28, der hierin einen Ausdruck des atheni­ schen und griechischen Patriotismus Platons sieht (vgl. dens. 1997, 82).

944b7—cl ,, Schildwegwerfer“ (ρίψασπις) kann man nicht in allen Fällen mit Recht als Bezeichnung gebrauchen, wohl aber „ Verlierer der Waffen“ (άποβολεύς οπλών): Die beiden Begriffe scheidet auch Lysias, Or. 10,9: ουδέ γάρ το αύτό έστι ρΐψαι καί άποβεβληκέναι (dazu Hillgruber 1988, 54). Die von Platon gebrauchten Substantive be­ gegnen aber nicht in Gesetzestexten; die Komödie verwendet ρίψασπις bzw. άσπιδαποβλής (Aristophanes, Wolken 353, Frieden 1186 bzw. Wespen 592); vgl. dazu Storey 1989. 944c6 ein schimpfliches Leben in Feigheit (μετά χάχης): μετά κα­ κής ist durch Photios, Lex. κ 89 Theodoridis bezeugt und läßt sich durch κακόν und κακός 944d2 und e4 sowie die armenische Übersetzung (Conybeare 1924, 138) stützen. Als lectio difficilior verdient aber das von A und O überlieferte μετά τάχους Beachtung, das Bury 1922, 174 mit Verweis auf 706c verteidigt: der Schildwegwerfer, der vor dem Feind flüchtet, wählt „mit Hilfe seiner Schnelligkeit“ („durch schleunige Flucht“ Susemihl, Apelt) ein schimpfliches Leben.

944c7 bei einer derartigen Verkehrung der Waffen in ihr Gegenteil: Ich übersetze das von A und O gebotene und von der armenischen Über­ setzung (Conybeare 1924, 138) gestützte μεταβολής, welches das Weg­ werfen der Verteidigungswaffe als „Verwandlung“ in die Waffe eines Feiglings interpretiert (vgl. d3-4); dem entspricht als wünschenswerte Strafe die „Verwandlung“ in eine Frau (vgl. μεταβαλόντα d7, μεταβα-

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Kommentar

λουσα e2). Für μεταβολής plädiert auch Einarson 1958, 98 (aber mit anderer Argumentation).

944d6 den Thessalier Kaineus: Der Lapithe Kaineus war ursprünglich ein Mädchen namens Kainis; nach ihrer Vergewaltigung durch Poseidon wurde sie von diesem auf eigenen Wunsch in einen Mann verwandelt (vgl. Vergil, Aen. 6,448; Ovid, Met. 8,305f., 12,189ff.). 944d8 Für einen Mann, der seinen Schild wegwirft, wäre es nämlich die allerangemessenste Strafe usw.: Die Verwandlung in eine Frau er­ folgt gemäß Tim. 90e (vgl. auch 42c) bei der nächsten Geburt. Im jetzi­ gen Leben hingegen spiegelt sich die Feigheit darin wider, daß der Be­ treffende lebenslänglich vom Militärdienst ausgeschlossen wird. Drasti­ scher wurde der Deserteur nach einem angeblichen Gesetz des Charon­ das bestraft: er mußte drei Tage in Frauenkleidem auf dem Marktplatz sitzen (Diodor 12,16,1). 944e4 als ein Feigling mit Schande behaftet (ων κακός όνειδει συν­ εχόμενος): So der Text von L und O2 (= Burnet), den auch die armeni­ sche Übersetzung voraussetzt (Conybeare 1924, 138).

945a4 tausend Drachmen = 10 Minen. 945a5 Wer aber vor Gericht schuldig gesprochen wird: Nämlich des Schildwegwerfens. 11.12. 945b3—948b2: Die Euthynen 945b8—e3: Die Funktion und Bedeutung der Euthynen Die beiläufige Erwähnung eines Euthynen in 945a3 veranlaßt einen längeren λόγος (945b3) über diese bisher nicht behandelten Beamten. Die Euthynen haben die Aufgabe, die Amtsführung der Beamten nach Ablauf von deren Amtszeit in einem speziellen Verfahren der Rechen­ schaftsablegung, den sog. ευθυναι (774b3, 881e6), zu überprüfen. Ihre Anzahl ist nicht exakt festgelegt. Wenn zu den im ersten Jahr gewählten 12 Euthynen jährlich 3 weitere hinzukommen sollen (s. zu 946c2) und alle Euthynen volle 25 Jahre im Amt bleiben (vgl. 946a. c), ergibt sich ei­ ne mögliche Höchstzahl von 12 + (25 x 3)- 12 = 75 Euthynen (Morrow 1960a, 223, Piérart 1974, 224). Das Amt der Euthynen, das äußerlich mit dem der athenischen Euthy­ nen vergleichbar ist (vgl. zu 946c5-e4), erfährt bei Platon eine einzigarti­ ge Aufwertung: Durch die Kontrolle der Beamten, die Diener des Geset­ zes sein sollen (715c-d), sichern die Euthynen letztlich die Herrschaft des Gesetzes in der Stadt. Ihre Tätigkeit entscheidet daher über den Fort­ bestand der Stadt (945c6-e2; 946b6). Daher gelten fiir die Inhaber des Euthynenamtes höchste moralische Maßstäbe. Sie müssen im Besitz jeg-

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licher Tugend (945e2-3) und - als einzige Beamten Magnesias! - von ,göttlicher4 Natur sein (945c2). Der Einhaltung dieser Qualitätsmaßstäbe dient ein besonderes Wahlverfahren, das einen Wettbewerb in der Tu­ gend darstellt (945e3-946c5), in dem der Sieger (wie die Sieger in Olympia) einen Kranz aus Ölzweigen erhält. Wenn die Euthynen die Besten in jeder Tugend sind und wenn sie durch den Besitz der Tugenden als göttlicher Güter (63 Ib-c) selber gött­ lich sind und so dem Ziel der Verähnlichung mit Gott (vgl. Bd. II 207) am nächsten kommen, dann verkörpern sie das Ideal des vollkommenen Bürgers, soweit dies unter den Bedingungen irdischer Existenz möglich ist. Da die gesamte politische Organisation Magnesias und die für die Bürger vorgesehene Erziehung auf dieses Ideal hin konzipiert sind, stel­ len die Euthynen die edelste „Frucht“ dieser staatlichen Bemühungen dar. Daher werden die Euthynen „gemäß dem alten Brauch“, der den Göttern das Beste zukommen läßt, von der Stadt dem Apollon und dem Helios als „Erstlingsgabe“ (άκροθίνιον) dargebracht und als „Weihge­ schenk“ aufgestellt (946b6—c2). Damit stattet die Stadt den beiden Göt­ tern Dank ab für die ihr nach göttlichem Willen (946b6) zuteil geworde­ ne Rettung und vergewissert sich des göttlichen Schutzes für das begin­ nende Jahr. Als Träger der höchsten Auszeichnung genießen die Euthynen singu­ läre Privilegien und Ehrungen (946e5—947b3): die Prohedrie; die Lei­ tung der Festgesandtschaften der Stadt; das Tragen eines Kranzes aus Lorbeer (der dem Apollon heilig ist); denn sie sind als einzige unter den politischen Beamten zugleich Priester des Apollon und des Helios (947a) und wohnen in deren gemeinsamem Tempelbezirk (946c—d). Der mit den meisten Stimmen gewählte Euthyne fungiert im Jahr seiner Wahl als Oberpriester (άρχιέρεως 947a6; s. dazu unten) und gibt dem Jahr seinen Namen (947b); außerdem sind sie kraft Amtes Mitglieder der Nächtli­ chen Versammlung (vgl. 95Id; die durch ein Versehen unvollständige Graphik in Bd. II 353 ist entsprechend zu korrigieren). Nach dem Tod wird ihnen ein besonderes Begräbnis zuteil, mit dem die Stadt sie als We­ sen von übermenschlicher Art ehrt (947b3-e6; Detailinterpretation s. u.). Aber auch ein Euthyne kann seine göttliche Natur verraten und die menschliche Natur hervorkehren (947e6), die sich aus egoistischen Moti­ ven über das Recht hinwegsetzt (875b—c). Darum schließt der Abschnitt über die „göttlichen Männer“ mit Bestimmungen über die Bestrafung der Euthynen bei Pflichtverletzung (947e6-948b2). - Literatur zu den plato­ nischen Euthynen: Reverdin 1945, 100-103. 125-167. 251-258, Mor­ row 1960a, 215-229. 248-249. 417-418. 464-465, Piérart 1974, 220226. 319-323. 456-458, ders. 2001, Brisson 2000b, 95-97 und 2005a, 189-196.

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945b4—5 teils durch den Zufall des Loses und für ein Jahr zu Beamten werden, teils für mehrere Jahre und aus einer Vorauswahl: Vgl. Bd. II 354 f. 945b5—8 Wer wäre denn für solche Männer ein geeigneter Prüfer, der es wieder gerade richtet, falls einer von ihnen irgendwie etwas Krummes tut usw. Der Übersetzung des Konditionalsatzes b6—8 liegen folgende Konjekturen zugrunde: πη (Baiter) für εϊπη und τής αρχής (Comarius) fiir την αρχήν (da βάρος eine nähere Bestimmung benötigt). Apelt 1907, 18 schreibt είκή fiir εϊπη; Post 1939, 103 hält εϊπη, fügt vor πρά­ ξη ein ή ein und tilgt την αρχήν. — Unter των τοιούτων (fiir solche Männer) verstehe ich nicht die Euthynen, sondern die vorher erwähnten Beamten, die sich der Kontrolle durch die Euthynen zu unterziehen ha­ ben; denn das im Konditionalsatz beschriebene Versagen dieser Männer paßt nicht zur anschließenden Beschreibung der Euthynen als vollkom­ men in jeder Tugend und als göttlich (daß auch ein Euthyne Fehler bege­ hen kann, ist die seltene Ausnahme, die mit Recht erst am Ende des gan­ zen Abschnittes behandelt wird). Die verdeutlichende Wiedergabe von εύθυντής (b6) mit „Prüfer, der ... gerade richtet“ gibt die (vom Verb εύθύνω abgeleitete) Grundbedeutung „Gerademacher“ wieder, mit der Platon (unter Vermeidung der üblichen Amtsbezeichnung ευθυνος) hier spielt (vgl. auch das Substantiv εύθυντήρα υβριος bei Theognis 40). Die auch Gorg. 525a2—3, Theait. 173a verwendeten Metaphern ,gerade6 (εύθύ) und ,krumm6 (σκόλιον) fiir das Richtige (bes. das Gerechte) bzw. Verkehrte sind konventionell; vgl. z.B. Homer, II. 16,387; 23,580; He­ siod, Erga 219, 221 u. ö.; das Gerademachen des Krummen wird von He­ siod, Erga 7 dem Zeus, von Solon Fr. 4,36 West der Eunomie zuge­ schrieben. Einen Gegensatz zu εύθύ markiert auch καμφθείς 945b7 („sich verbiegen66, vgl. Prot. 325d).

945c3—5 Es gibt viele Stücke, die über die Auflösung einer Verfassung entscheiden, wie bei einem Schiffoder einem Lebewesen (ζώου) die Taue und Spanngurte (ύποζώματα) bzw. die Sehnenstränge: Den Untergang der Verfassung deutet der Athener als die Auflösung eines Gefüges, das von der (durch die Euthynen zu sichernden) Gerechtigkeit zusammenge­ halten wird (945d). Diese ist wie das (geschriebene oder ungeschriebene) Gesetz (793b-d) und der Gemeinsinn (875a) das Band (δεσμός, σύν­ δεσμος), welches das Auseinanderstrebende zusammenhält. Dieses Band vergleicht der Athener mit den Spanngurten eines Schiffes und den Sehnen des Körpers. Die Spanngurte sind Trossen, die zur Stabilisierung der Trireme im Rumpf vom Bug zum Heck gespannt wurden und gleich­ sam deren Rückgrat bildeten (vgl. J. S. Morrison, J. F. Coates, N. B. Rankow, The Athenian trireme: the history and reconstruction of an ancient

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Greek war ship, 2. Aufl. Cambridge 2000, 169-170); der Zusammenhalt erfolgt also nicht von außen, sondern von innen heraus (vgl. Schrecken­ berg 1964, 94 f. zu den Resp. 616c3 als Vergleich genannten ύποζώματα των τριήρων). Beim Gefüge des menschlichen Körpers übernehmen die Sehnen (νεύρα) die Funktion des Zusammenbindens (συνδειν): vgl. Tim. 74b und 84a (dazu Schreckenberg 90). Es ist daher völlig in Ord­ nung, wenn in c4 neben dem Schiff ein lebendes Wesen genannt ist, so daß es nicht der Konjekturen von Stallbaum (πλοίου für ζώου) und Bu­ ry 1922, 174 (πλωίμου „seetüchtig“ für ή ζώου) bedarf. Hinzu kommt, daß als Beleg für die an vielen Objekten zu beobachtende Funktion (c56) des Zusammenbindens besser drei (Schiff, Lebewesen, Verfassung) als nur zwei Beispiele genannt werden.

945c5 eine ihrem Wesen nach einheitliche, aber an viele Orte zerstreu­ te Gattung (μίαν ουσαν φύσιν διεσπαρμένην πολλαχου): Der Wort­ laut von Phaidr. 265d3^4 (εις μίαν ιδέαν ... αγειν τα πολλαχη διε­ σπαρμένα) legt es nahe, πολλαχου mit διεσπαρμένην zu verbinden und das von Burnet und Diès vor πολλαχου gesetzte Komma hinter die­ ses Wort zu versetzen. 945d6—el wird jede Behörde von der anderen losgerissen, und indem sie nicht mehr auf dasselbe Ziel hinstreben, machen sie aus der einen Stadt viele: Zur Formulierung (διασπάν, πολλάς έκ μιας την πόλιν ποιουσαι) vgl. 875a7, Resp. 422e8, 462bl, 464c7, 551d5. 945e3-946c5: Das Wahlverfahren Die Wahl findet wie die der Gesetzeswächter (753b), der Militärbeam­ ten (755e), des Aufsehers über die gesamte Erziehung (766b) und der Auserlesenen Richter (767c) in einem Heiligtum nach der Sommersonn­ wende (also etwa zu Beginn des athenischen Jahres) statt. Wie 767d wird die Wahl als ein Darbringen der Erstlingsfrüchte an die Götter verstanden (946b7). An der Wahl der drei Euthynen beteiligt sich die ganze Bürgerschaft (auf sie bezieht sich der Plural άποφανουμένους 945e6); jeder Wahlbe­ rechtigte schlägt aber nur einen Kandidaten vor (vgl. die Singulare öv ... άριστον und έκαστος 946al—2); aus diesen Wahlvorschlägen gehen am Ende drei Euthynen hervor. Das Wahlverfahren setzt die Abgabe von Stimmtäfelchen voraus, die wie 753c mit den Namen des Vorgeschlage­ nen und des Vorschlagenden beschrieben sind, da nur so die Einhaltung des Verbots, sich selber vorzuschlagen, kontrollierbar ist. Die Wahl erfolgt in einem aufwendigen Verfahren, das sicherstellen soll, daß wirklich die drei besten Männer gewählt werden. Von den im ersten Wahlgang nominierten Kandidaten (προκριθέντων a3) wird die Hälfte mit den wenigsten Stimmen ausgeschieden; über die verbleibende

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Hälfe wird erneut abgestimmt und dann aus den Gewählten wiederum die Hälfte ausgeschieden, bis schließlich drei Namen übrig bleiben. Ist die Gesamtzahl der Nominierten oder die bei den Halbierungen sich er­ gebende Zahl ungerade, wird jeweils der mit den wenigsten Stimmen Vorgeschlagene ausgeschieden, z.B. (99-1) : 2 = 49; (49-1) : 2 = 24 usw. Ist eine exakte Halbierung nicht möglich, weil in der Mitte der Vor­ schlagsliste mehrere Kandidaten (z.B. bei 96 Kandidaten die Kandidaten auf den Rängen 46-50) die gleiche Stimmenzahl bekommen haben, so werden die jüngsten Kandidaten ausgeschieden, bis genau die Hälfte der Namen (also 48) übrig bleibt. Platon hat allerdings nicht bedacht, daß die Halbierungen nicht immer bei exakt 3 Namen enden werden (dies ist nur bei einer Ausgangszahl vom Typ 3 x 2n möglich), sondern z.B. mit 5 oder 4; in diesem Fall sollen wohl nur die drei ersten Kandidaten genom­ men werden (Piérart 1974, 223 Anm. 59). Bei Stimmengleichheit der drei Kandidaten (oder von zweien) entscheidet das Los über die Rangfolge (zum Losverfahren vgl. 690c, 741b, 757e, 759b).

945e4 für die Entstehung dieser Männer: ,Entstehung4 (γένεσιν) greift auf γενομένων b4 zurück, wo zwei Verfahren (Los oder Vorwahl) genannt worden waren. 945e6 in einem gemeinsamen heiligen Bezirk des Helios und des Apol­ lon: Platons Formulierung weist nur auf eine Kultgemeinschaft hin, die keine Identität der beiden Götter impliziert, wie sie Proklos, Theol. Plat. VI 12 p. 376,21 (= Orphicorum Fr. 172 Kem) aus dem Text herausliest (eine Gleichsetzung des Apollon mit dem Sonnengott Helios begegnet im 5. Jh. nur vereinzelt; vgl. Burkert 1977, 233 Anm. 55). Die Zusam­ menstellung beider Gottheiten durch Platon deutet Dodds (1951, 221 = 1970, 119) als eine Verbindung der Gottesvorstellung des gewöhnlichen Mannes (Apollon) und der ,Naturreligion4 der Intellektuellen, die in der Kreisbewegung der Sonne einen Hinweis auf die vernünftige Ordnung des Kosmos sehen (vgl. 898d-899a). Apollon ist für Platon darüber hin­ aus neben dem zur Selbsterkenntnis auffordemden Gott (923a, Prot. 343b) auch ein göttlicher Gesetzgeber (624a, 632d, 662c) und Ratgeber in Fragen des Kultes (759c) und vor allem der Gott der musischen Erzie­ hung (653d, 654a, 672d), in dessen Heiligtum daher auch der Aufseher über die gesamte Erziehung gewählt wird (766b). 946a6 dann die Hälfte übrig lassen (καταλίπεΐν), indem man die an­ deren nach der Anzahl der Stimmen aussondert (άποκρίνοντσ,ς): κα­ ταλείπει kann sowohl ,weglassen, nicht berücksichtigen4 (z.B. 716bl, Pol. 298b3) als auch ,übrig lassen4 (durch Ausscheiden anderer) bedeu­ ten (z.B. Symp. 191a3, Resp. 394b5, 399a5, Phil. 55e3, Soph. 226d6). Im ersten Fall bildet es hier den Gegensatz zu έκλέξαι (946a4), im zwei-

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ten Fall zu άποκρίναντας (a6-7). Für die zweite Bedeutung spricht m. E. das Verbum λειφθώσιν (b2), das eindeutig ,übrig bleiben4 bedeuten muß (anders Saunders 1972, Nr. 118). Das Verb άποκρίνοντας ist hier absolut gebraucht: ,indem man eine Aussonderung nach der Anzahl der Stimmen vornimmt4; um der größeren Klarheit willen habe ich als Ob­ jekt ,die anderen4 ergänzt.

946b7—cl als gemeinsame Erstlingsgabe (άκροθίνιον): άκροθίνιον bringt — anders als απάρξασθαι 767dl — durch den Bestandteil ακροkonnotativ zugleich die hervorragende Qualität und Vollkommenheit der Gabe zum Ausdruck (zu ακρος ,vollkommen4 vgl. Nom. 753e5, 823a5, 965b7). 946c2—5 Solche Euthynen soll man im ersten Jahr zwölf einsetzen usw.: Stallbaum (vol. Ill p.331f.) und Susemihl (1792) betrachten wie auch andere Ausleger das überlieferte τούτους als Subjekt zu άποδείξαι und verstehen darunter die im vorausgehenden Wahlverfahren ge­ wählten drei Euthynen, die demnach als Wahlmänner oder durch Koop­ tation zwölf weitere Euthynen ernennen sollen (ebenso Diès in Wider­ spruch zu seinem Text). Diese Deutung befriedigt aber nicht recht; denn durch das aufwendige Wahlverfahren würden dann nur drei Euthynen durch die Bürgerschaft bestimmt, während 12 Euthynen ohne Kontrolle durch die Bürger in ihr Amt kämen (auch läßt sich einwenden, daß die 12 hinzukommenden Euthynen, wenn die drei gewählten Euthynen die Besten in jeder Tugend sind, in diesem Jahr nur von minderer Qualität als diese drei sein können). Besser ist es daher, die Beschreibung des Wahlverfahrens auf die Wahl von drei Euthynen in den Folgejahren zu beziehen (ebenso wie das 753b—d beschriebene Verfahren zur Wahl der Gesetzeswächter) und anzunehmen, daß die 12 Euthynen des ersten Jah­ res nach demselben Verfahren gewählt werden, nur daß die Teilungen bei 12 statt bei 3 Kandidaten enden (Morrow 1960a, 223 wie schon Rit­ ter II 343 und England z. St.). Dann ist τούτους als Objekt zu αποδεΐξαι aufzufassen und mit δώδεκα ευθύνους in dem in der Übersetzung ausgedrückten Sinn zu verbinden, was freilich grammatisch problema­ tisch ist (man vermißt einen Artikel); ich übernehme daher (wie Diès in seinem Text) das von England für τούτους konjizierte τοιούτους (Piérart 1974, 224 hält τούτους und nimmt ohne nähere Erläuterung ein ,Anakoluth4 an, ebenso Brisson - Pradeau II 365 Anm. 29). 946c5—e4: Die Tätigkeit der Euthynen In Athen wurden aus den Mitgliedern des Rates der Fünfhundert durch Los 10 Euthynen gewählt, die zusammen mit 20 Beisitzern einen Aus­ schuß bildeten; jeder Euthyne saß mit zwei Beisitzern auf der Agora vor dem Denkmal seiner Phyle und nahm im Anschluß an die finanzielle

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Prüfung der Beamten durch die sog. λογισταί drei Tage lang Klagen der Bürger und Metöken gegen die Amtsführung eines Beamten entgegen und überwies je nach dem Inhalt der Klage den Fall zur privaten oder öf­ fentlichen Strafverfolgung an die Vierzigmänner bzw. an die Thesmotheten (Aristoteles, Ath. pol. 48,4-5; weitere Details bei Hansen 1995, 23 lf). Die von Platon vorgesehene Einteilung der Beamten in 12 Gruppen könnte nach dem Vorbild Athens mit der Zahl der Phylen in Magnesia Zusammenhängen, obwohl Platons Text darüber nichts sagt und die Phylen auch bei der Wahl der Euthynen keine Rolle spielen. Die Zahl der im ersten Jahr zu wählenden Euthynen kann fiir die Teilung nicht ausschlag­ gebend sein, da es in den Folgejahren stets mehr als 12 Euthynen geben wird (vgl. die Diskussion bei Morrow 1960a, 224). Aus Platons Text geht nicht hervor, welche Fälle die Euthynen einzeln und welche sie im Kollektiv aburteilen sollen (d2-3). Unklar ist auch, ob die Euthynen wie in Athen nur Klagen der Bürger entgegennehmen oder die Amtsführung aller Beamten auch ohne Klage überprüfen sollen. Da für Magnesia keine Finanzrevisoren (λογισταί in Athen) vorgesehen sind, müssen nach Saunders’ Vermutung (1991a, 295) die Euthynen auch das finanzielle Verhalten der Beamten überprüfen (bei Unterschlagung oder Veruntreuung öffentlicher Gelder müßten sie dann gemäß 941b942a die Todesstrafe verhängen). Während in Athen die Euthynen die Strafverfolgung den Vierzigmännem bzw. den Thesmotheten überlassen, setzen die Euthynen Magnesias selber die erforderlichen Strafen fest und machen sie öffentlich bekannt (d2-6). Gegen das Urteil der Euthynen ist Berufung an das Gericht der Auserlesenen Richter möglich (d6-8). Endet die Berufung mit Frei­ spruch, ist (wohl vor dem 948a eingesetzten Gericht) Klage gegen die Euthynen möglich (d8-el); wird das Urteil der Euthynen bestätigt, wer­ den alle von den Euthynen verhängten Strafen verdoppelt, soweit dies möglich ist (el-4).

946d3—4 der Stadt durch Aufstellung einer Schrifttafel auf dem Markt­ platz ... bekanntgeben: Da άρχω in der Bedeutung ,regieren6 gewöhn­ lich mit dem Genitiv verbunden wird, habe ich den Dativ τη πόλει zu àποφηνάντων gezogen. In Athen wurden Rüge oder Belobigung durch einen Aushang am Monument der Phylenheroen öffentlich gemacht (vgl. Isaios, Or. 5,37f, bzw. Isokrates, Or. 18,61).

946e4—947e6: Die Ehrungen der Euthynen im Leben (946e5—947b3) und im Tod (947b3—e6) Die im folgenden beschriebenen Ehrungen bilden gleichsam die „Re-

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chenschaftslegung 66 (946e4) der Euthynen (so richtig Englands Deutung, gegen die sich Morrow 1960a, 226 Anm. 178 zu Unrecht wendet). Die öffentlichen Ehrungen der Euthynen sind als ein Urteil der Stadt über die Amts- und Lebensführung der Euthynen vergleichbar mit der von den Euthynen selbst vorgenommenen Beurteilung der Beamten. Ein genaues Gegenstück zu dieser Gedankenfigur (wonach der Träger einer Funktion diese Funktion in einem metaphorischen Sinn an sich selbst vollziehen läßt) liegt 765b8—cl vor, wo es heißt, daß die gewählten Kunstrzc/zter sich dem Urteil der Wähler als ihren Richtern unterwerfen.

947a4—5 als einzige ... mit einem Lorbeerkranz geschmückt sein: Die übrigen Beamten sollten vielleicht nach Susemihls Vermutung (1847 Anm. 776) wie die Athener Buleuten und Beamten (Pollux 8,86; 10,69) bei ihrer Amtstätigkeit einen Myrtenkranz tragen. 94 7a6—b3 jährlicher Oberpriester aber soll der eine sein, der den er­ sten Rang unter denen erhielt, die in jenem Jahr unter die Priester ge­ wählt wurden; und seinen Namen soll man jährlich aufschreiben, damit er zum Maß der Zeitrechnung wird, solange die Stadt bewohnt wird: Den von England und Diès getilgten Genitiv των ιερέων (bl) verstehe ich als Ergänzung zu γενομένων (vgl. 754d4). Euthynen haben also schon mit 50 Jahren ein Priesteramt inne, während das Mindestalter für die sonstigen Priesterämter 60 Jahre beträgt (759d). Die Vorschrift, daß das Jahr nach dem Euthynen mit der höchsten Stimmenzahl benannt wer­ den soll, widerspricht der Angabe in 785a, falls mit den dort (nach athe­ nischem Vorbild) fiir die Jahreszählung maßgebenden Archonten die Ge­ setzeswächter gemeint sind (Piérart 1974, 321 Anm. 43 versucht den Wi­ derspruch abzumildem, indem er unter den Archonten ganz allgemein die Beamten versteht). Priester mit jährlicher Amtsdauer sind in griechi­ schen Poleis öfters eponym, indem die lokale Zeitrechnung auf den Na­ menslisten der Priester basiert (Reverdin 1945, 61 Anm. 12, Burkert 1977, 160, Piérart 1974, 322 f.). - Der Titel ,Oberpriester6 (άρχιερεύς) ist fiir Griechenland sonst nicht vor dem Hellenismus bezeugt (Reverdin 1945, 61 f); Herodot 2,37,5 bezeichnet mit dem Wort αρχιέρεως (άρχιερεώς ci. Rosén) den jeweiligen Oberpriester der ägyptischen Göt­ ter. Daß Platon die jonische Form άρχιέρεων verwendet (statt attisch αρχιερέα), wird von Piérart 1974, 322 auf Einfluß des kleinasiatischen Griechenlands zurückgefiihrt, wo es in manchen Städten wohl auch schon vor der hellenistischen Zeit eponyme Priester gab, die den Titel στεφανοφόροι (,Kranzträger6) trugen; dazu würde passen, daß die Eu­ thynen in Magnesia das Privileg eines Lorbeerkranzes besitzen sollen; Platon habe damit eine ursprünglich jonische Sitte übernommen. Dusanic 1983, 31 sieht in der jonischen Form einen Hinweis auf das jonische

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Element in der Konstruktion des fiktiven Magnesia, das die angeblich jo­ nische Herkunft der jonisch sprechenden Magnesier am Mäander (Hero­ dot 1,147) widerspiegle; Apollon, dessen Priester die Euthynen sind, sei zudem der θεός πατρώος der Jonier (Platon, Euthyd. 302c). 947b3—e6 Sind sie gestorben, soll ihre Aufbahrung usw.: Die „göttli­ che“ Natur der Euthynen (945c2) kommt auch darin zum Ausdruck, daß sich ihre Bestattung von der des gewöhnlichen Bürgers (vgl. 958c ff.) unterscheidet. Grundzug ihrer Bestattung ist nicht nur das Fehlen aller Zeichen der Trauer (b5), sondern positiv das Lob und der Makarismos, der die Toten glücklich preist (cl—2; vgl. el); denn als vollkommen in je­ der Tugend dürfen die Euthynen nach dem Tod auf eine angemessene Belohnung durch die Götter hoffen (vgl. 959b, 904d). In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Bestattung der Euthynen nicht von der Bestattung der Philosophenherrscher der Politeia, die nach dem Tod mit Zustim­ mung der Pythia als Dämonen oder wenigstens als glückliche und göttli­ che Wesen verehrt werden sollen (Resp. 540c 1—2); auch die in tapferem Kampf gefallenen Krieger und überhaupt Menschen, die sich in ihrem Leben als besonders gut erwiesen haben, sollen als dämonische und gött­ liche Menschen beigesetzt werden (Resp. 468e-469b; vgl. Krat. 398b-c: der gute Mensch heißt schon im Leben mit Recht ein Dämon). Andere Züge wie die Anlage des Grabes und die Einrichtung von sportlichen Wettspielen (947d5—e6) verweisen auf den Heroenkult; historische Bei­ spiele für solche Heroisierungen bieten die Begräbnisse des Brasidas, des Timoleon von Korinth und des Arat von Sikyon (Thukydides 5, 11, Plutarch, Timol. 39 bzw. Arat 53; dazu Piérart 2001, 162 ff.). Platon ge­ braucht hier zwar weder den Begriff der ,Heroen6 noch den der Dämo­ nen6, die Aussagen der Politeia berechtigen jedoch dazu, die Funktion des Bestattungsrituals der Euthynen mit Reverdin 1945, 127 ff. und Mot­ te 2000, 89 eher als ,Dämonisierung6 denn als ,Heroisierung6 zu verste­ hen. Dodds (1951, 226 [= 1970, 246], Anm. 9) hält Einfluß der Pythago­ reer fiir möglich, die ein besonderes Bestattungsritual hatten, das ihnen ein μακαριστόν και οίκεΐον τέλος sichern sollte (Plutarch, De genio Socr. 16 585E).

947b4—c2 man soll ein ganz weißes Gewand tragen usw. : Weiß ist die den Göttern angemessene Farbe (956a). Da die Bestattung der göttli­ chen6 Euthynen sich von der eines gewöhnlichen Bürgers unterscheiden soll, verstehe ich unter dem Subjekt („man66) vor allem die Teilnehmer an dem Begräbnis; denn nach griechischer Sitte sind die Trauernden ge­ wöhnlich schwarz gekleidet, während die Leiche in weißes Tuch gehüllt wird (vgl. Piérart 2001, 157). Auch bei der Beisetzung des Timoleon und des Arat tragen die Trauernden zu Ehren des Verstorbenen weiße Gewän­

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der (Plutarch, Timol. 39,3 bzw. Arat 53,4). - Die Aufbahrung (πρόθεσις b3) erfolgt wahrscheinlich im Heiligtum des Apollon und Helios und soll wohl aus den in 959a genannten Gründen drei Tage dau­ ern. — Die 15 Knaben und 15 Mädchen gehören vermutlich dem Apol­ lonchor an (vgl. 664c); das Lied, mit dem sie an der Bahre den Verstorbe­ nen glücklich preisen, ist ein Beispiel für die 660e ff. für Magnesia gefor­ derte Dichtung, die den Zusammenhang zwischen Tugend und Glück feiern soll.

947c2—d5 Bei Tagesanbruch sollen hundertjunge Männer usw.: Wäh­ rend der Zug mit der Leiche eines gewöhnlichen Bürgers gemäß 960a bereits vor Tagesanbruch vor der Stadt angelangt sein soll (wie es auch das angeblich solonische Gesetzes bei Demosthenes Or. 43,62 = F 109 Ruschenbusch = T 466 Martina fordert), setzt sich der Leichenzug der Euthynen bei Tagesanbruch erst in Bewegung. Die Teilnahme wird ex­ plizit den Frauen im gebärfähigen Alter verboten (das angeblich soloni­ sche Gesetz schloß Frauen bis zum 60. Lebensjahr, die nicht mit dem To­ ten verwandt waren, von der Teilnahme an Bestattungen aus); implizit werden durch ήιθέους (c5) die verheirateten Männer ausgeschlossen. Dies entspricht der allgemeingriechischen Vorstellung, daß der Kontakt mit dem Tod oder einem Toten eine Befleckung verursacht (vgl. Burkert 1977, 135, Parker 1983, 52), die durch Zeugung weitergegeben werden kann (daher die Vorschrift bei Hesiod, Erga 735 f.). Dieser populären Vorstellung steht die als genuin platonisch anzusehende Bestimmung (d2-5) gegenüber, daß Priester und Priesterinnen (die sonst nach allge­ meinem Brauch einem Leichenbegängnis fembleiben müssen: Burkert 163, Parker 52) an der Bestattung eines Euthynen teilnehmen dürfen, da diese sie nicht verunreinigt. 947d5—e4 Als Gruft aber sollfür die Euthynen unter der Erde ein läng­ liches Gewölbe aus kostbaren und möglichst dauerhaften Steinen herge­ richtet sein: Die Bestimmung in 958d—e spricht für einen Bestattungs­ platz außerhalb der Stadt; Heroengräber werden oft mit Blick auf die Stadt angelegt (Piérart 2001, 158). Die Anlage des Grabes zeigt die Skiz­ ze bei Reverdin 258 (nach Stupperich 1977, 143 Anm. 1 zu S. 255 müß­ ten allerdings die Klinen längs der Wand stehen). Parallelen hierzu lie­ fern die nachplatonischen Königsgräber von Aigai (Vergina) in Mazedo­ nien (vgl. Μ. B. Hatzopoulos, L. D. Loukopoulou, Philippe de Macédoi­ ne, Fribourg 1982, 194—197 Abb. 102). - Statt ποτίμων („saugfähig, absorbierend“) folge ich der Lesart von A3O3 προτίμων „kostbar“ (vgl. Saunders 1972 Nr. 119 S. 119f.). Bei den kostbaren Steinen handelt es sich vermutlich um Marmor.

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947e4—5 einen musischen und einen gymnischen Wettbewerb und ei­ nen Reiterwettkampfzu ihren Ehren: Während die Politeia Opfer an den Gräbern der zu Dämonen gewordenen Philosophen vorsieht (540b—c), werden die Euthynen wie die Gefallenen (Menex. 249b) mit sportlichen und musischen Wettspielen geehrt. Sportwettkämpfe zu Ehren von He­ roen oder als Leichenspiele für große Heerführer gab es vielerorts (vgl. Brisson 2005a, 196). Musische Wettbewerbe sind jedoch im Heroenkult nicht nachweisbar mit Ausnahme des Wettbewerbs zu Ehren Timoleons (Plutarch, Timoleon 39,5).

947e6—948b2: Die Bestrafung der Euthynen bei Pflichtverletzung Eine förmliche Rechenschaftsablegung (Euthyna) der Euthynen am Ende ihrer Amtszeit kennt Platons Entwurf nicht, da die meisten Euthy­ nen wohl noch vor Ablauf ihrer 25jährigen Amtszeit sterben werden; er­ satzweise werden 946e4 die Ehrungen nach dem Tod als ihre „Rechen­ schaftsablegung“ gedeutet. Nach dem vorliegenden Abschnitt kann aber offenbar noch während ihrer Amtszeit, falls sie statt der göttlichen (945c2) die menschliche Natur hervorkehren (947e6—8), jeder Bürger ei­ ne schriftliche Klage vor einem besonders kompetent zusammengesetz­ ten Gerichtshof einreichen. In der Klage hat er kein konkretes Delikt an­ zugeben, sondern dem Euthynen die moralische Eignung für dieses hohe Amt abzusprechen (womit diese Anklage über die nur von dem Betroffe­ nen einzureichende Klage wegen falscher Beurteilung [946d—e] hinaus­ geht). Die Schwere dieser Anschuldigung findet ihren Ausdruck in der für die Nomoi singulären Höhe der Strafe, die Platon zur Verhinderung leichtfertiger Anschuldigungen für den Fall androht, daß der Ankläger weniger als ein Fünftel der Richterstimmen erhält (das attische Recht sah in solchen Fällen für den unterlegenen Kläger neben einer Geldbuße noch partielle Atimie vor: vgl. Lipsius 449).

11.13. 948b3—949c5: Abschaffung des Parteien-Eids im Gerichtsprozeß

Die Praxis des Rhadamanthys, die Gerichtsprozesse durch Auferle­ gung eines Eides zu entscheiden (s.u.), ist nach Auffassung des Atheners in der Gegenwart wegen des verbreiteten Unglaubens der meisten Men­ schen nicht mehr anwendbar. Daher müssen die Parteieneide vor Gericht abgeschafft werden, da die Hälfte dieser Eide Meineide sein würden. Das Gesetz (948e4-949c5), das nicht für Fremde gilt (949b6-c5), for­ dert den Eid nur von dem Richter (vgl. 856a6-7), den Wählern, die die Beamten wählen (vgl. 755d2, 767dl; vgl. auch Bd. II 373 f. zu 753d5), und den Preisrichtern bei Wettkämpfen (vgl. 659a7), die sich alle durch einen promissorischen Eid zu gerechtem Urteil verpflichten müssen. Er-

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laubt ist der Eid sodann überall, wo man sich durch Meineid „nach menschlicher Auffassung“ keinen Vorteil erschwindeln kann. Nicht er­ laubt sind Eide bei der Einreichung von Klagen und zur Bekräftigung von Aussagen in der Gerichtsverhandlung (949a5—b6); letzteres steht in unklarem Verhältnis zu der 936e9 f. vom Zeugen geforderten άπομοσία. - Zu der hier gegebenen Liste ist noch hinzuzufügen der vor der Haussu­ chung geforderte Eid (954a6) und das Verbot des Schwörens auf dem Markt (916e-917a). Zum Eid bei Platon vgl. Tzitzis 1991. Mit seinem Gesetz reagiert Platon auf die zeitgenössische Realität, die durch schwindenden Glauben an die Götter und damit an die Kraft des Eides gekennzeichnet ist (vgl. Thukydides 3,83,2; Aristophanes, Wolken 1241; dazu Hirzel 1902, 81-90, Mikalson 1988, 37f.). Da die einen fe­ sten Gottesglauben voraussetzende Praxis des Rhadamanthys offensicht­ lich das wünschenswertere Verfahren ist, ist das Gesetz in dieser Hinsicht zu den Bestimmungen zu zählen, die statt der besten Regelung eine zweitbeste Regelung vorsehen (vgl. besonders 840e ff. sowie 674a, 737a, 744b, 779a-b, 807b). Diese zweitbeste Regelung ist zugleich eine Kritik an der athenischen Gerichtspraxis, die ohne Eide nicht denkbar ist, obwohl diese weitge­ hend zu einer Formalität herabgesunken waren (vgl. Lipsius 830-833, 895ff., Hirzel a.a.O., Burkert 1977, 377ff., Todd 1990, 35ff., Thür 2003a, 205 ff.). Anders war es in der Praxis des frühgriechischen Rechts, für die der Name des Rhadamanthys steht. Die Besonderheit des ihm zu­ geschriebenen Verfahrens bestand nach Aussage des Textes darin, daß der dem Beklagten oder dem Kläger auferlegte Eid prozeßentscheidend war: wenn entweder der Beklagte in einem Reinigungseid (wie er schon bei Homer, Ilias 23, 585 oder für Gortyn in Inscr. Cret. IV 72, col. Ill 112 belegt ist) seine Unschuld beschworen oder der Kläger die Täterschaft des Angeklagten eidlich bekräftigt hatte, war der Rechtsstreit im Idealfall entschieden. Nachdem in späterer Zeit auch der Gegenseite ein Eid zuge­ standen wurde, oblag es den Richtern zu entscheiden, welcher Eid der wahrere sei (Antiphon, Or. 6,16). Das attische Prozeßverfahren der klas­ sischen Zeit kannte zwei Arten solcher Parteien-Eide: bei Mordprozessen legten die streitenden Parteien und ihre jeweiligen Zeugen vor der Ver­ handlung einen διωμοσία genannten Eid ab; in den anderen Fällen schworen die Streitgegner (nicht die Zeugen) in der Vorverhandlung (άνάκρισις) einen άντωμοσία genannten Eid (Todd 1993, 96 Anm. 21). 948b3 Rhadamanthys: Das Verfahren des wegen seiner Gerechtigkeit berühmten mythischen Gesetzgebers Rhadamanthys (vgl. zu 624b5) wurde als Ταδαμάνθυος κρίσις sprichwörtlich, womit ein besonders

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gerechtes Urteil gemeint ist (vgl. Diogenian [CParGr. II] 3,74: έπι των έπι δικαιοσύνη μαρτυρουμένων; Makarios [CParGr II] 7,50 έπι των δικαιότατων). Platon fuhrt dies auf die Verwendung des Eides als eines Beweismittels zurück. Hirzel a. a. O. 95 f. glaubt, daß Platon hierin kreti­ scher Überlieferung folgt, während Jacoby, FGrHist III b, 205 Komm. (Noten) zu 461 F 3 (Sosikrates) wie schon Stallbaum hierin eine platoni­ sche Erfindung sieht. Rhadamanthys galt außerdem als Urheber des sog. ,Eides des Rhadamanthys4 (Ταδαμάνθοος όρκος), den man nicht bei den Göttern, sondern bei Gans, Hund, Bock und ähnlichem schwor (vgl. Sosikrates FGrHist 461 F 3; Porphyrios, De abstin. 3,16; Makarios 7,49; Zenobios 5,81 [CParGr I]; Suda p 13; dazu Patzer 2003, Geus 2000, 104 ff.) Beide Überlieferungen sind miteinander vereinbar, wenn man an­ nimmt, daß gerade die Heiligkeit des Eides, die Rhadamanthys für die gerichtliche Entscheidung nutzte, ihn dazu veranlaßte, für die Bekräfti­ gung einer Aussage in Alltagssituationen den Eid bei Tieren und dgl. zu empfehlen.

948b6 da ... von den Göttern abstammten: Wie Rhadamanthys, der ein Sohn von Zeus und Europa war. Vgl. auch 853c. 948d3 Gesetze, die mit Vernunft aufgestellt sind: Zu den Beziehungen zwischen Gesetz und Vernunft vgl. Bd. II 187f. und den Komm, zu 714al—2.

948d8—el falls viele Prozesse in einer Stadt stattfinden: Um den An­ stoß zu beseitigen, daß der Athener in seinem Musterstaat mit vielen Prozessen rechnet (vgl. dagegen 679d7, 743c7-d2), habe ich das Partizip γενομένων nicht kausal, sondern konditional aufgefaßt.

948e2 bei den gemeinsamen Mahlzeiten: Zu diesen vgl. 779d8—783d4. 948e4—5 ein Richter schwören soll, wenn er sich zu richten anschickt: Also wie die Schiedsmänner in Athen und die Richter in Gortyn (Inscr. Cret. IV 72, col. I 12-13. 23. 39, III 1. 16 usw.); der athenische Richter leistete dagegen nur zu Beginn des Amtsjahres seinen Amtseid (Gemet 1951, p. CXLIV).

949al oder mittels Stimmtäfelchen, die aus einem Heiligtum genom­ men sind: Solche Täfelchen sollen wie der Eid den Wählenden auf ein gerechtes Urteil verpflichten, ebenso wie die Deponierung der Wahlvor­ schläge auf einem Altar (753c 1—2) oder die Heiligkeit des Wahllokals (z.B. 755e6). 949a5 durch ... Abschwören (έξομοσαμένω): Vgl. zu 937al. Mor­ row 1960a, 283 Anm. 105 konjiziert hierfür έπομοσαμένω (,durch Be­ schwören mit einem Eid4).

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949b2—3 sich selbst und seine Familie zu verfluchen oder sich auf un­ würdiges Flehen und weibisches Jammern zu verlegen: Solche Mittel zur affektiven Beeinflussung der Richter wurden besonders im Schlußteil des Plädoyers angewandt (vgl. Aristophanes, Wespen 568ff 976ff.; Lysias, Or. 20,34; Demosthenes, Or. 21,99. 186; Aristoteles, Rhet. 3,19. 1419b 13); Sokrates verschmäht sie ausdrücklich (Apol. 34c—d; Xeno­ phon, Mem. 4,4,4). Das angeblich in Athen geltende generelle Verbot der Affekterregung (Quintilian, Inst. 2,16,4; 6,1,7 und 10,1,107; Apuleius, Met. 10,7,2; Lukian, Anacharsis 19) dürfte aus der von Aristoteles, Ath. pol. 67,1 bezeugten eidlichen Verpflichtung der Prozeßgegner ent­ wickelt worden sein, daß sie nur zur Sache sprechen würden, was beson­ ders für Verhandlungen in Mordsachen auf dem Areopag galt (vgl. Lysias, Or. 3,46; Antiphon, Or. 6,9; Aristoteles, Rhet. 1,1. 1354a22; Pol­ lux 8,117). In der Praxis entfaltete diese Verpflichtung aber wenig Wir­ kung, wie die erhaltenen Reden und die Bemerkung des Aristoteles Rhet. 1354al5ff. zeigen (vgl. Lipsius 918 f., Harrison 1971, 163).

949b3—4 in zurückhaltendem Ton (ευφημίας): Phaid. 117el bezeich­ net das Wort den Gegensatz zum Weinen der Frauen (vgl. hier b3).Vgl. auch 957b6 (εύφημία im Gericht), 717c7 (gegenüber den Eltern). 949b5 wie einen, der nicht zum Thema spricht: Der Genitiv λέγοντος erklärt sich problemlos, wenn man zu καθάπερ ein Verbum ergänzt: „wie (dies die Beamten tun), wenn einer nicht zur Sache spricht“. Zur Sachbezogenheit der Rede vgl. die Anm. zu 949b2.

949b6—c5 Einem Fremden jedoch usw.: Die Bestimmungen für die Fremden (Metöken oder durchreisende Fremde), die sich an den beste­ henden Verhältnissen orientieren (b7), basieren explizit auf der Prämisse, daß Fremde nur befristet im Lande bleiben (vgl. 850a-c) und keine Nachkommen hier zurücklassen werden; dahinter steht wohl auch der Gedanke, daß ein etwaiger Meineid eines Fremden für die Stadt ein ge­ ringeres Übel ist als der Meineid eines Bürgers (vgl. 919c). Unklar ist al­ lerdings die Schlußbestimmung: und bei der Einreichung von Klagen ge­ geneinander soll das gerichtliche Verfahren für sie alle in derselben Wei­ se vor sich gehen (c4—5). Sie läßt hauptsächlich zwei Deutungen zu (vgl. Saunders 1972, Nr. 120 S. 120): Versteht man unter δικών ... λήξεων die Einreichung von - privaten oder öffentlichen - Klagen, dann fordert der Satz, daß bei dieser Einreichung ebenso wie in der eigentlichen Ver­ handlung den Fremden der Eid (analog zur attischen διωμοσία bzw. άντωμοσία) erlaubt ist. πάσι könnte dann die verschiedenen Kategorien von Fremden (Metöken, durchreisende Fremde, Händler etc.) zusammen­ fassen. Bezeichnet dagegen δικών ... λήξεων im weiteren Sinn die ge­ richtliche Verfolgung (wie Aischines, Or. 1,63), so wird nach der exzep­

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tionellen Erlaubnis des Eides zwischen Fremden (b6—cl) in dem Satz c4-5 gefordert, daß Prozesse zwischen Fremden ansonsten in derselben Weise wie die zwischen Bürgern stattfinden sollen (πάσι wären dann Fremde und Bürger); hierbei stört, wie Saunders selbst zugibt, das anrei­ hende τε c4, an dessen Stelle man eine adversative Partikel erwartet; auch fehlt ein dem „ansonsten“ entsprechendes Element. Ich neige daher zu der ersten Deutung (die auch England zu c4 vertritt) und habe entspre­ chend übersetzt. 949c2 sich hier einnisten (έννεοττεύοντες): Zum Bild vgl. 776al (νεοττών). Das vor allem von Vögeln gebräuchliche Verbum antizipiert den Vergleich der Fremden mit Zugvögeln (952el—2).

11.14. 949c6—e2: Verweigerung von Abgaben und sonstigen Leistungen Der Abschnitt betrifft zweckgebundene finanzielle und sonstige Lei­ stungen für das Gemeinwesen nach dem Vorbild der Liturgien (vgl. hier 949dl), die in Athen vom Staat den wohlhabenden Bürgern auferlegt oder von diesen freiwillig übernommen wurden. Eine große Zahl von Li­ turgien betraf die Finanzierung und Organisation von Festen, wie die Choregie, mit der reiche Bürger die Verantwortung für die Rekrutierung, die Proben und Ausstattung des Chores übernahmen, der die Dramen und die Dithyramben auffuhrte. Eine zweite Art von Liturgie, die Trierarchie bestand in der Übernahme des Kommandos über ein Kriegsschiff und in dessen teilweiser Unterhaltung. Die dritte Art der Liturgie war die Proeisphora, bei der die reichsten Bürger die gesamte von der Bürger­ schaft zu zahlende Steuer im voraus zahlten und dann die Beträge selber von den Bürgern eintreiben mußten (Details bei Hansen 1995, 112—117). Auch die Verpflichtung zur Teilnahme am Chor folgt dem attischem Vor­ bild (nach Antiphon, Or. 6,11 konnte der die Choregie übernehmende Bürger Eltern durch eine Geldstrafe und Pfandnahme dazu zwingen, ih­ ren Sohn als Chorsänger zur Verfügung zu stellen). Gegenstand des Abschnitts ist die Frage, mit welchen Zwangsmitteln (vgl. ανάγκη 949d3) die Übernahme einer solchen Liturgie erreicht wer­ den kann, da Schläge, Haft oder Tod ausscheiden (c6-7). Der Text sieht drei Stufen vor: 1) Erstes Zwangsmittel ist ein Schadensersatz oder eine Geldbuße (ζη­ μία d3; s. dazu unten); falls dieses Mittel unwirksam ist, erfolgt 2) Pfändung durch Beamte und notfalls Verkauf der Pfänder (d3—7) zu­ gunsten der Staatskasse. 3) Ist eine noch höhere Strafe erforderlich, die die Strafkompetenz der Beamten übersteigt, sollen die Beamten den Fall vor Gericht bringen,

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das offenbar eine immer höhere Strafe verhängt, bis der Betreffende sei­ ner Pflicht nachkommt. Platon sieht keine Rechtsmittel gegen die Übernahme einer Liturgie vor, wie sie dem Bürger Athens in der σκήψις (Einrede) und άντίδοσις (Vermögenstausch) zur Verfügung standen. Umgekehrt ist eine Erzwin­ gung der Liturgie durch eine staatliche Pfändung in Athen nicht belegt. Morrow 1960a, 379 f. weist daraufhin, daß die Übernahme einer Choregie Unterschiede in der finanziellen Leistungsfähigkeit der Bürger vo­ raussetzt, wie sie zwar in Athen bestanden, aber in Magnesia kaum zu er­ warten sind, wo das Maximalvermögen nur das Vierfache des Minimal­ vermögens betragen darf. Im Normalfall wird in Magnesia wohl der Fis­ kus die Kosten eines Festspiels übernehmen (was in Athen unter Demetrios von Phaleron eingeführt wurde; vgl. Busolt - Swoboda 930). 949c6 freier Mann: Die Wahl dieses Wortes läßt den Schluß zu, daß in Magnesia wie in Athen auch den Metöken Liturgien auferlegt werden können.

949d3 Ausgleich des Verlustes: Das Verständnis des überlieferten Tex­ tes την πρώτην ανάγκην ίατήν είναι της ζημίας hängt ab von der ak­ tuellen Bedeutung von ζημία, das lexikalisch sowohl ,Strafe6 wie auch ,Schaden6 bedeuten kann. Für die Bedeutung ,(Geld-)Strafe6 sprechen folgende Fakten: (1) Als Sanktion für Ungehorsam (c6) sieht der magnesische Gesetzeskodex keinen Schadensersatz, sondern Züchtigung oder Bestrafung vor (741d3-4, 775b2-3, 880c8, 914b6, 915c3, 917c4), an de­ ren Stelle im vorliegenden Fall die Geldbuße (ζημία) als leichtere Strafe tritt. (2) In 949d7-8 bezeichnet ζημία eindeutig die Geldbuße, wobei der Komparativ πλέονος d7 sogar auf d3 zurückweist. (3) Da im Falle einer abgelehnten Liturgie der dem Staat entstehende Verlust sich strengge­ nommen mit der Höhe der nicht übernommenen Liturgie deckt, müßte ein Schadensersatz praktisch in der Zahlung dieser Liturgie (allerdings unter der Bezeichnung ,Schadensersatz6) bestehen. — Diesen Argumen­ ten lassen sich aber auch Gründe für die Bedeutung , Schaden, Verlust6 gegenüberstellen, die auch 797c7, 819a6, 835b7, 846a3 vorliegt: (1) Das überlieferte ίατήν gehört zum Verbum ίάσθαι (,heilen6); dieses Verb und das Substantiv ϊασις bezeichnen aber in juristischen Kontexten die Wiedergutmachung eines Schadens (so Nom. 933e9; weitere Belege bei LSJ s. V.; die daneben belegte medizinisch-moralische Bedeutung als ,Heilung6 der Ungerechtigkeit oder ,Besserung6 des Täters kommt hier nicht in Betracht). (2) Wegen des Artikels in τής ζημίας (d3) kann der Genitiv anaphorisch als Rückverweis auf das in 949c6—d2 geschilderte Verhalten gehen und den daraus entstandenen Schaden meinen. (3) Die Bezeichnung des Schadens durch ζημία statt βλάβη kann gewählt wor­

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den sein, um dem Schadensersatz eine poenale Funktion zuzuweisen, die dann in 949d67 von einer wirklichen Geldstrafe übernommen wird. (4) Der fiir die Stadt entstandene Schaden kann geringer als die volle Höhe der Liturgie sein, falls nämlich mehrere Bürger gemeinsam eine Leistung übernehmen. Bei beiden Deutungen von ζημίας bleibt das Adjektiv ίατήν („heil­ bar“) problematisch. Ast konjizierte hierfür ϊασιν, das er als Schadenser­ satz versteht, und verbindet τής ζημίας als , Strafe6 mit ανάγκην zu poe­ nae necessitas, der Sinn wäre dann: ,die erste Notwendigkeit einer Strafe ist der Schadensersatz6 (damit würden aber die von Platon gerade ge­ trennten Kategorien der Strafe und der Wiedergutmachung miteinander vermengt). Winckelmann änderte ίατήν in τακτήν: ,die erste Notwen­ digkeit einer Bestrafung soll festgelegt (d.h. obligatorisch) sein6. Bury druckt für ίατήν είναι τής ζημίας unter Verweis auf 876c 1—2 τάττειν τάς ζημίας ,die Strafen festlegen6 (vgl. auch ders. 1922, 173 und 1934, 181), was wohl auch Rufeners Übersetzung zugrunde liegt (Diès über­ nimmt Burys Konjektur, übersetzt aber offenbar Asts Text). Ich habe (wie die meisten Übersetzer) Asts Konjektur übernommen, da sie die Überlieferung am wenigsten antastet, verbinde aber ϊασιν mit τής ζη­ μίας im Sinne von ,Ausgleich (,Heilung6) des Schadens6. Eine Überset­ zung ohne Texteingriff könnte sich nur an Schneiders Deutung {„prima multae necessitas sanabilis sit“) anlehnen: „Die erste Zwangsmaßnahme, nämlich eine Bestrafung (Genitivus epexegeticus), soll ,heilbar6, d.h. durch Übernahme der Liturgie abwendbar sein.66 949d8 auferlegen: Das Verbum έπιβαλλούσας verweist auf die dem einzelnen Beamten in seinem Amtsbereich zustehende Buße, die in Athen επιβολή hieß; die Höchstgrenze hierfür betrug in Athen 50 Drachmen, bei Platon beträgt sie 50 (847b), 100 (764b-c) und 300 (76le). Der Satz 949d7-e2 besagt wohl, daß die Beamten, wenn eine hö­ here Strafe erforderlich scheint, den Fall wie in Athen unter Stellung ei­ nes Strafantrags dem Gericht vorzulegen haben (vgl. Lipsius 53).

11.15. 949e3—953e4: Auswärtige Beziehungen. Der Beobachter.

Die Stadt der Magneten wird zwar wirtschaftlich weitgehend autark (705b, 842c) und politisch selbständig sein. Da aber eine völlige Abkap­ selung von den Nachbarstädten nicht möglich ist, ist eine Regelung der auswärtigen Beziehungen erforderlich. Die hierbei zu befolgenden Grundsätze umreißt der Athener in einer auf Überzeugung (949e7) set­ zenden generellen Vorrede (949e3-950d4) und in einer speziellen Vorre­ de zur Institution des Beobachters (951a7—c4) innerhalb des Gesetzes (950d4—953e4).

949e3—953e4

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Vorrede zu den auswärtigen Beziehungen (949e3—950d4 und 951a7— c4): Der Gesetzgeber muß einen Mittelweg zwischen zwei Übeln finden. Ungehinderter Verkehr mit dem Ausland bringt Neuerungen mit sich, die gerade einer gut verwalteten Stadt größten Schaden zufugen (949e7950a7; vgl. 705a—b, 758c, 797a-c). Andererseits trägt völlige Isolation abgesehen davon, daß sie nicht möglich ist (950a8) — der Stadt den Vor­ wurf fremdenfeindlichen und unzivilisierten Verhaltens ein (950a7—b4). Für eine Stadt aber ist wie für einen Menschen der gute Ruf wichtig; denn zur Vollkommenheit der Tugend gehört auch die Anerkennung der Tugend durch andere (950b4-d4). Den tiefsten Grund für Reisen ins Ausland nennt die Vorrede zur Insti­ tution des Beobachters (951a7-c4): Ohne Erfahrungen mit guten und schlechten Menschen kann niemand vollkommen sein. Für eine Stadt hat dies zwei Vorteile: (1) Die Kenntnis anderer Gesetze und Einrichtungen führt dazu, daß man die eigenen Gesetze nicht aus bloßer Gewohnheit, sondern aus Einsicht innerlich bejaht. (2) Von andern staatlichen Organi­ sationen kann man Anregungen erhalten, um die eigenen Gesetze noch fester zu begründen oder nötigenfalls zu verbessern. So wird das Be­ obachten (θεωρία) und Erforschen (ζήτησις) des Anderen zu einer Vor­ aussetzung für die Bewahrung der Vollkommenheit der Stadt. I) Das Gesetzfür Reisen ins Ausland (950d4—952d5): 1) Leuten unter 40 Jahren ist die Ausreise generell verboten. 2) Private Reisen ins Ausland sind niemandem gestattet. 3) Gestattet sind nur Reisen in staatlichem Auftrag als Herold, Gesand­ ter oder Besucher der panhellenischen Feste; ihr Auftrag ist es, die Stadt gut zu repräsentieren und nach ihrer Rückkehr die jüngeren Mitbürger über die Vorzüglichkeit der magnesischen Verfassung aufzuklären. 4) Ein θεωρός besonderer Art ist der ,Beobachter* (951a4-952d4). Er soll zwischen 40 und 50 Jahre alt sein, einen guten Ruf besitzen (951c7— dl) und daran interessiert sein, die politischen und kulturellen Verhältnis­ se in andern Staaten in größerer Ruhe kennenzulemen (951a5-7); des­ halb darf er bis zu 10 Jahren im Ausland bleiben (951d3). Seine Reise dient also nicht der individuellen Bildung, sondern der Verbesserung der Gesetze Magnesias (95lei—3). Daher muß er die Genehmigung der Ge­ setzeswächter fiir seine Reise einholen (951a5). Nach seiner Rückkehr hat er vor der Nächtlichen Versammlung Bericht über seine Reise zu er­ statten und sich ihrem Urteil über die moralische Auswirkung der Reise auf seine Person zu stellen (951d4-952c4). Fällt das Urteil günstig aus, kann er sogar unter die Mitglieder dieser Versammlung aufgenommen werden (vgl. 961a).

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Während es zu den (bereits 742a—b angedeuteten) Restriktionen (Nr. 1-2) Vergleichbares in Sparta gibt (vgl. zu 950d7) und die unter Nr. 3 gestatteten Reisen gemeingriechische Praxis sind, ist der ,Beobach­ ter* (Nr. 4) eine platonische Schöpfung. Seine Funktion ist nur verständ­ lich im Zusammenhang mit der Nächtlichen Versammlung, deren Aufga­ be hier im Vorgriff auf die ausführliche Erörterung am Ende des Dialogs als ,Aufsicht über die Gesetze* (95 ld4-5) bestimmt wird. II) Bestimmungen für die Aufnahme von Fremden (952d6—953e4): Vier Arten von Fremden gilt es zu Ehren des Zeus Xenios (953e2) gastfreundlich aufzunehmen: 1) Der Handel treibende Fremde weilt nur vorübergehend in der Stadt. Er wohnt außerhalb der Stadt und wird von speziellen Beamten betreut, die auf Neuerungen zu achten haben und für ihre Rechtsstreitigkeiten zu­ ständig sind; dabei sollen sie, offenbar um nicht selbst länger als nötig fremden Einflüssen ausgesetzt zu sein, möglichst selten mit den Fremden zusammenkommen (952d8—953a3). 2) Der Fremde der zweiten Art ist der aus privatem Interesse kommen­ de Besucher der dramatischen und musikalischen Festaufführungen. Er wohnt in speziellen Herbergen bei den Heiligtümern und unterliegt der Gerichtsbarkeit der Priester bzw. der Marktaufseher (953a3-b5). 3) Der Fremde der dritten Art kommt in staatlichem Auftrag. Für seine Aufnahme sind die Militärbeamten zuständig, die von den Prytanen un­ terstützt werden, die gemäß 758a—d für auswärtige Besucher zuständig sind und das Einströmen von Neuerungen verhindern sollen (953b5—c2). 4) Der vierte Fremde (dessen Kommen leisem Zweifel unterliegt 953c3) ist ein Gegenstück zum ,Beobachter*. Er muß wie dieser 50 Jahre alt sein und von der Absicht getrieben sein, nicht nur in Magnesia etwas Vorzügliches zu sehen, das sich so in anderen Städten nicht findet, son­ dern auch anderen Städten (also auch der Stadt der Magneten) etwas Schönes zu zeigen (953c6—dl). An einem solchen Besucher, der nicht nur durch sein Kommen den guten Ruf Magnesias unterstreicht, sondern auch die höchsten Beamten der Stadt belehren kann (953d6), muß die Stadt großes Interesse haben. Er hat daher jederzeit freien Zutritt zu den Häusern der „Reichen und Weisen**, d.h. der geistig-moralischen Elite der Stadt (953d2, dazu unten), weil er selbst dieser Elite angehört, um mit diesen seine Erfahrungen auszutauschen. Es ist nicht abwegig, in die­ sem Fremden die Rolle institutionalisiert sehen, die der Fremde aus Athen selber gegenüber den für die Gründung Magnesias Verantwortli­ chen spielt (vgl. bes. 968bff). Lit.: Vatin 1984, Joly 1990, 347ff. und 1992, Morel 1995, Bomet 2000.

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95Ob2 die sogenannten , Fremdenvertreibungen Die ,Fremdenver­ treibungen4 (ξενηλασίαν.) galten als typisch spartanische Praxis, die laut Xenophon, Lak. pol. 14,4 verhindern sollte, daß die Bürger durch den Kontakt mit Fremden zur Verweichlichung verfährt würden (vgl. auch Thukydides 1,144,2; 2,39,1; Herodot 3,148,2; Aristophanes, Vögel 1012f.; Platon, Prot. 342c). Für Rebenich 1998a, 138 handelte es sich dabei entgegen einer verbreiteten Ansicht nicht um regelmäßig wieder­ kehrende Ausweisungen, sondern um punktuelle Maßnahmen zur Ab­ wehr konkreter Gefahren für den Staat (vgl. auch Rebenich 1998b, Figueira 2003 sowie Weiwei 2005, 448 zur diffamierenden Kritik an der Fremdenvertreibung, wie sie Perikies im Epitaphios bei Thukydides 2,39,1 äußert). -Nach Aristoteles, Pol. 2,10. 1272bl6-18 gab es in Kre­ ta keine Fremdenvertreibungen, da die Insel durch ihre Abgeschiedenheit vor Übervölkerung geschützt war. 950b7—cl etwas Göttliches und Treffsicheres wohnt auch den Schlech­ ten inne usw. : Die Behauptung, daß auch die Schlechten ein instinktives Vermögen zur Unterscheidung des Guten vom Schlechten besitzen, ent­ fernt sich von der Position der Politeia. derzufolge die Fähigkeit des Denkens und Erkennens zwar die Leistung von etwas Göttlichem (= der Seele) ist, aber der Erziehung bedarf, um sich auf das Wahre zu richten (Resp. 518e-519a), weshalb schlechte Menschen außerstande sind, die Tugend zu erkennen (Resp. 409d—e).

950c6 einem guten Ruf im Leben nachjagen (θηρεύεις): Zur Jagdme­ tapher vgl. Louis 1945, 214f.

950d3—4 daß sie ... die Sonne und die anderen Götter ... erblicken wird: Die anderen Götter sind die Sterne (vgl. 822a5 und cl, 886d4-7, 930e7ff.). Die homerische Wendung όραν φάος ήελίοιο (z.B. II. 5,120; 18,61. 442) sowie Resp. 473e2 sprechen dafür, daß αυτήν (,sie‘ = die Stadt) Subjekt (und nicht Objekt) des Infinitivs ist (so auch Eng­ land, Diès, Saunders, Lisi u. a.). 950d6—7 Zunächst soll es einem, der jünger als vierzig Jahre ist, auf keinen Fall und unter keinen Umständen erlaubt sein, ins Ausland zu rei­ sen, sodann zu privaten Zwecken niemandem: Private Reisen sind auch den Wächtern im Staat der Politeia nicht möglich (Resp. 420a). In Sparta soll Lykurg ein generelles Verbot von Reisen ins Ausland verhängt ha­ ben, um Beeinflussung durch fremde Sitten zu verhindern (vgl. Xeno­ phon, Lak. pol. 14,4; Aristoteles Fr. 543 Rose = 549 Gigon; Isokrates, Or. 11,18; Plutarch, Inst. Lac. 19 238D-E u.a.; dazu Busolt - Swoboda 659). Nach Rebenich 1998a, 138 Anm. 177 war das Verbot möglicher­ weise eine innerspartanische Disziplinierungsmaßnahme des 5. Jh.; das

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Verbot sei im Laufe der Zeit allerdings mehr und mehr unterhöhlt wor­ den. 950d8 bestimmten Festabgeordneten: Das Wort θεωρός bezeichnet im gewöhnlichen Sprachgebrauch den Teilnehmer an einer staatlichen Festgesandtschaft zu den panhellenischen Festen (wozu auch die großen Sportwettkämpfe zählten) oder zur Befragung eines Orakels. Platon ver­ wendet das Wort ab 951a4 auch fiir den von ihm eingesetzten Beobach­ ter*, der in staatlichem Auftrag unterwegs ist. Insofern unterscheidet er sich z.B. von Solon, der nach Herodot 1,30,1 zwar ebenfalls θεωρίης ένεκα die Welt bereiste, aber mit dem Ziel des Erwerbs individueller Weisheit (vgl. Joly 1990, 349). 950e4—5 die an den Opfern und den Wettspielen zu Ehren dieser Göt­ ter teilnehmen: Sollten mit den Teilnehmern an den Wettspielen (unter Ausweitung des Begriffs θεωρός) auch die Athleten gemeint sein, so würde eine Altersgrenze von mindestens 40 Jahren deren Siegeschancen entscheidend mindern. 95lb4 aus Einsicht statt bloß aus Gewohnheit: Gewöhnung ist nur die erste Stufe auf dem Weg zur sittlichen Vollkommenheit (653a ff.; 792e), deren Voraussetzung vernünftige Einsicht ist (vgl. Resp. 619c7-dl). Wenn auch letztere vielleicht nicht jedem Individuum zuteil wird (vgl. 653a7-9) und daher nicht jeder die Gesetze aus innerer Überzeugung zu bejahen vermag, so ist doch die Polis im ganzen auf einen Träger von Einsicht angewiesen; dieser ist die Nächtliche Versammlung, die auf der Basis der vom Beobachter vermittelten Informationen in einem Rechts­ und Institutionenvergleich die Richtigkeit der eigenen Gesetze überprüft und nötigenfalls neu und besser begründet.

95lb4—5 Es gibt nämlich auch in der großen Masse immer wieder eini­ ge göttliche Menschen: Göttlich sind sie nicht nur, weil sie durch ihre Einsicht hervorragen, sondern weil die Existenz des Guten und Richtigen in einer schlecht verwalteten Stadt sich nur göttlicher Fügung (θεία μοί­ ρα) verdanken kann (vgl. Nom. 642c6—dl und Resp. 492e-493a).

951b7Ihrer Spur muß ein Bewohner ... nachgehen und nach ihnen su­ chen: Vgl. Phaidon 78a (Hinweis von Ritter II 344): Man muß ganz Griechenland und die Länder der Barbaren, wo es treffliche Männer gibt, nach einem ,Besprecher* gegen die Todesfurcht durchsuchen (διερευνασθαι ζητουντας).

951c2—3 sie verbessern, falls sie Mängel aufweisen: Zu den teils un­ vermeidlichen, teils vom Gesetzgeber zu verantwortenden Mängeln der Gesetze und ihrer Verbesserung vgl. bes. 769a-771a.

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951c4 wird niemals eine Stadt in ihrer Vollkommenheit bestehen blei­ ben: Ich übernehme wie Diès das von Wagner konjizierte Futur μενεί. 951c5 Wie könnte nun beides bewerkstelligt werden? Nämlich (1) das Beobachten und Forschen und (2) deren richtige Durchführung. 951dl—2 wenn das Kollegium der Gesetzeswächter ihn als Muster in die andern Städte entsenden soll: Die Übersetzung folgt der Deutung Ritters (II 344). Gegen Englands Deutung („if he is to represent abroad the stamp of his order“) ist einzuwenden, daß μεθήσειν nicht ,to repre­ sent4 bedeuten kann und daß das Verb im Kontext auf 951a5 παρεμένους zurückweist.

951d4—5 die über die Gesetze die Aufsicht führen (έποπτευόντων): Das Verbum bezeichnet auch den Status des Epoptes, der die höchste Stufe der Einweihungen in die Mysterien erreicht hat (vgl. Epist. VII 333e). Da es Platon Phaidr. 250c4 verwendet, um die Schau der Ideen zu umschreiben, kann das Verb im vorliegenden Fall als Hinweis auf ein die Aufsicht über die Gesetze ermöglichendes besonderes nomothetisches Wissen verstanden werden, das auf der Ideenschau beruht (vgl. dazu S.581T). 95Id5—e3 Diese soll aus jungen und älteren Leuten zusammengesetzt sein usw.: Zu den hier und in 961a—c aufgezählten Mitgliedern der Nächtlichen Versammlung (und den scheinbaren Diskrepanzen zwischen beiden Aufzählungen) vgl. unten S. 577. Der Text weist mehrere schwere Anakoluthe auf, die jeder Erklärung (auch der psychologisierenden von Reinhard 1920, 95) trotzen; sie sind vielleicht ein Indiz für eine flüchtige Arbeitsweise Platons im Schlußteil der Nomoi.

952c3—4 nach seinem Tod sollen ihn die Versammlungsmitglieder kraft ihrer Vollmacht mit gebührenden Ehren ehren: Offenbar erhalten nicht nur die Euthynen, sondern auch die wegen ihrer Tüchtigkeit in die Ver­ sammlung aufgenommenen (961a7) Beobachter (und auch die übrigen Mitglieder der Nächtlichen Versammlung?) ein besonders ehrenvolles Begräbnis, das allerdings nicht wie bei den Euthynen kraft Gesetzes ge­ regelt ist (vgl. 947b3 ff), sondern im Ermessen der Versammlung steht. 952d4 bis zur Entscheidung über die höchsten Auszeichnungen: Vgl. hierzu den Komm, zu 829c2, 845dl-2 und 919e4-5.

952e4 aufMärkten: Nämlich den Fremdenmärkten (vgl. 849d). 953al daß keiner dieser Fremden irgendeine Neuerung einführt: Zur Gefährlichkeit von Neuerungen vgl. 709a, 772c, 797b, 798c, Resp. 424b-c u.ö.

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953a2 Rechtsstreitigkeiten richtig entscheiden (δίκας αύτοϊς ορθως διανέμοντας): Zum Ausdruck vgl. 625a2, 762a3. In Athen war für die Rechtssachen der Metöken und Fremden der Polemarch zuständig (Ari­ stoteles, Ath. pol. 58,2).

953cl zusammen mit den Prytanen: Zu diesen Beamten vgl. 758b—d. 953dl soll sich nun unaufgefordert an die Türen der Reichen und Wei­ sen begeben'. Anspielung auf eine auch Resp. 364b und 489b zitierte sprichwörtliche Wendung, die Aristoteles Rhet. 2,16. 1391a8ff. auf Si­ monides zurückfuhrt (= T 94 in der Ausgabe von O. Poltera, Basel 2008), während sie das Scholion zu Resp. 489b (Greene 238) dem Eubulos zuschreibt. Zugrunde liegt ihr (nach Aristoteles) ein Ausspruch des Simonides, der den Vorrang des Reichtums vor der Weisheit damit be­ gründete, daß die Weisen sich an die Türen der Reichen begäben (d. h. bei ihnen bettelten). Die Pointe der Anspielung liegt darin, daß nur hier die Reichen und Weisen keine Konkurrenten, sondern zu einer Personen­ gruppe zusammengefaßt sind. Das legt es nahe, den Reichtum im Sinne von Resp. 521a zu verstehen: die wahrhaft Reichen sind nicht reich an Gold, sondern, woran der Glückliche reich sein soll, an gutem und ver­ nünftigem Leben; vgl. auch das Gebet des Sokrates Phaidr. 279c 1 „für reich möge ich den Weisen halten“. — Zum Text: Denniston 1954, 365 möchte μέν νυν schreiben: „soll sich also unaufgefordert... begeben“. 953d5 die in der Tugend den Sieg davon getragen haben: Gemeint sind damit etwa die früheren Aufseher über die Erziehung oder die Eu­ thynen. Vgl. auch die Anm. zu 731bl, 829c2 und 845dl-2. 953e2—3 um so Zeus, den Gott der Fremden, zu ehren, anstatt durch Essen und Opfer die Vertreibung der Fremden zu bewerkstelligen (wie dies noch heute die Zöglinge des Nils tun): Zu Zeus Xenios vgl. 730a, 843a. — Gegenüber der traditionellen Deutung, daß die Ägypter die Fremden von ihren Mahlzeiten und Opfern femhielten, vermutet Post 1939, 103f. (dem auch Lisi und Brisson 2000a, 166f. folgen) eine An­ spielung auf die Sitte des Kannibalismus und des Menschenopfers, wie sie Polykrates für Busiris bezeugt, der sein Land vom Nil umfließen ließ und „die ankommenden Fremden opferte und verzehrte“ (Isokrates, Or. 11,31). Diese Sitte steht wohl hinter dem Hinweis auf die heute noch be­ stehende Praxis von Kannibalismus und Menschenopfer (782b—c) und ist zugleich ein Beispiel fiir das Schlechte, das man laut 657a5 neben Vorbildlichem in Ägypten finden kann. 953e3—4 durch grausame Erlasse (κηρύγμασιν άγρίοις): Zu άγρί­ οις vgl. άγριον 950b 1. Bertrand 1999, 101 f. sieht hierin eine Polemik gegen Sparta, wo die Fremdenvertreibungen (vgl. zu 950b 2) wie andere

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staatliche Maßnahmen durch einen Herold (κήρυξ) angekündigt wur­ den. 11.16. 953e5—954a4: Bürgschaften

Eine Bürgschaftserklärung muß schriftlich vor drei bzw. fünf Zeugen erfolgen (Schriftlichkeit und Anwesenheit von Zeugen waren in Athen für die Gültigkeit einer Bürgschaft nicht zwingend erforderlich: Gemet 1951, p. CLXXXV). Die Bestimmung 954al-4 betrifft die sog. Evik­ tionsgarantie und ist insofern eine Ergänzung zu dem Gesetz 915c7—d6 (s. dort). Wenn der Verkäufer nicht juristisch zu belangen und auch nicht zahlungsfähig ist, haftet bei Mängeln der Ware der Vorverkäufer anstelle des Verkäufers (vgl. Lipsius 748; Pringsheim 435 f., der sich 441 gegen die frühere Deutung von προπωλών als ,Makler, Vermittler6 wendet). 953e5—6 seine Zustimmung zu dem ganzen Rechtsgeschäft: Die Über­ setzung von την πράξιν πάσαν όμολογούμενος (e5—6) folgt der Inter­ pretation von Lipsius 711. Partsch 1909, 215 und Gemet 1951, p. CLXXXVI verstehen dagegen unter πρόιξις aufgrund von ptolemäischen Papyri die Vollstreckung, diese Bedeutungsverengung ist aber nicht zwingend notwendig, da unter „dem ganzen Rechtsgeschäft“ auch die Rechtsfolgen der Bürgschaft miteinbegriffen sein können. 954a2 falls dieser nicht verklagbar: Zur Bedeutung von ένδίκως vgl. ένδικος 915d2 und Pringsheim 435. Partsch 1909, 343 und Lipsius 748 verstehen dagegen sinngemäß „wenn der Verkäufer nicht dem Recht ge­ mäß verfahrt“ (z.B. wenn er gar nicht zum Verkauf der Ware berechtigt ist). 11.17. 954a5—c2: Haussuchung Wer vermutet, daß ein anderer widerrechtlich Eigentum von ihm be­ sitzt, ist berechtigt, dessen gesamten Besitz zu durchsuchen. Lehnt der mutmaßliche Besitzer diese Haussuchung ab, wird er gerichtlich belangt und bei Schuldspruch mit dem doppelten Wert des gesuchten Eigentums bestraft. Für den Fall der Abwesenheit des Hausherren gelten besondere Bestimmungen, die bei längerer Abwesenheit auch das Öffnen des ver­ siegelten Besitzes in Gegenwart der Stadtaufseher erlauben. Der Passus liefert eine Ergänzung zu den Gesetzen über Aneignung von fremdem Eigentum (913a-914c), strittigen Besitz (914c-e) und Diebstahl (933e-934c). Die vorgesehene Strafe setzt sich gemäß der in 933e6ff. formulierten Bestimmung — vermutlich je zur Hälfte — zusam­ men aus dem Schadensersatz für den mutmaßlichen Eigentümer und ei­ ner Geldstrafe für den Widerstand gegen die Haussuchung (so Saunders

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1991a, 299 f., dem sich Moneti 2001, 100 Anm. 4 anschließt; Cohen 1983, 129 sieht dagegen in der doppelten Summe ein Beispiel fur die 857a für Diebstahl festgesetzte Strafe). Ein Vergleich mit den entsprechenden athenischen Bestimmungen (da­ zu Harrison 1968, 207 Anm. 2) ist nicht möglich, da zu wenige Details des athenischen Verfahrens bekannt sind (Cohen 129 Anm. 25). Immer­ hin wird die Vorschrift, die Haussuchung im Untergewand (γυμνός s.u.) durchzufuhren, bei Aristophanes, Wolken 498 f. bezeugt. Eine Schwur­ forderung ist zwar fiir Athen nicht bezeugt, wohl aber in einem analogen Fall fiir das griechisch-ägyptische Recht (vgl. Latte 1931, 131 Anm. 1 = 1968, 269 Anm. 31; Gemet 1951, p. CLXXIII).

954a5 entkleidet (γυμνός) bis aufdas Untergewand ohne Gürtel: Die­ se Vorschrift soll es dem Durchsuchenden unmöglich machen, einen Ge­ genstand mitzubringen, um ihn als bei der Durchsuchung gefunden zu deklarieren, oder einen Gegenstand aus der durchsuchten Wohnung mit­ zunehmen (vgl. das Scholion zu Aristophanes, Wolken 498-499). Ich übernehme die Tilgung des ή hinter γυμνός durch Hermann, der Belege dafür bringt, daß γυμνός den Zustand dessen bezeichnet, der nur mit dem kurzen Untergewand (Chiton) bekleidet ist (vgl. England z. St.). Diès hält dagegen an der Überlieferung fest, ebenso Piérart 1974, 302 Anm. 203, Mann 1974, 178 und Brisson - Pradeau). 11.18. 954c3—e3 : Verjährung von Besitzansprüchen

Besitzrechte an beweglichen Gütern, die ein anderer in Besitz hat, müssen innerhalb unterschiedlicher Fristen geltend gemacht werden, je nachdem, ob der nichtberechtigte Besitzer die strittige Sache vor aller Augen oder im Verborgenen, in der Stadt oder auf dem Land benutzt; bei Benutzung im Ausland tritt keine Veijährung (προθεσμία) ein. Wird während dieser Fristen der Besitz nicht angefochten, verfallt der An­ spruch des Eigentümers ohne Prüfung seines Rechts. „Der während des gesetzlich vorgeschriebenen Zeitraumes unangefochten gebliebene Be­ sitz wurde fiir schutzwürdiger angesehen als die - möglicherweise besse­ ren — Rechte deijenigen, die sich verschwiegen hatten“ (Kränzlein 1963, 119). Über eine materiellrechtliche Wirkung des Fristenablaufs, die zu ei­ ner Berichtigung des Eigentumsregisters führen müßte, sagt Platon hier nichts (dazu Kränzlein a. a. O.). Lipsius 676 Anm. 5, Kaser 1944, 176 Anm. 137 und Kränzlein 120f. vertreten die Auffassung, daß Platon die Veijährung bei dinglichen An­ sprüchen nicht erfunden, sondern ein Rechtsinstitut seiner Vaterstadt übernommen hat. Daraus folgert Lipsius 676, daß der Eigentumserwerb durch usucapio dem attischen Recht nicht ganz fremd war; vgl. auch die

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Überlegungen von Kränzlein 121 f. zu den materiellrechtlichen Auswir­ kungen im attischen Recht. Für Harrison 1968, 247 f. hingegen deutet nichts daraufhin, daß Platons Bestimmungen auf Vorschriften des positi­ ven Rechts und speziell des attischen Rechts basieren, das nach Ausweis der wenigen Belege für einen νόμος προθεσμίας einen der römischen usucapio analogen Eigentumserwerb nicht kannte (so auch Gemet 1951, p. CLXXIII). 954c3 folgende Frist: Der Übersetzung liegt die Konjektur von Paton 1909, 113 δε όρος (übernommen von England und Diès) zugrunde.

954d2—3 sobald das Jahr abgelaufen: Ich übernehme das in O3 über­ lieferte μηδένα παρελθόντος. 954d5—6 niemand mehr in der Folgezeit: Daß die in A und O am Rand notierten Worte του λοιπού χρόνου eine entbehrliche Glosse darstellen (so England), ist möglich, aber angesichts des pleonastischen Spätstils Platons kein zwingender Tilgungsgrund. - τούτω (d6) bezieht sich auf den in d5 genannten τις. 11.19. 954e4—955b4: Behinderung von Prozeßgegnern und Wettkämpfern

Bezüglich der Behinderung von Prozeßgegnem (954e4-955a2) ver­ mutet Lipsius 642 für das attische Recht eine ähnliche Bestimmung. Dies bestreitet Klingenberg 1989, 210f. - jedenfalls für die Klage wegen Menschenraubs — mit der Begründung, daß die Behinderung von Prozeß­ gegnem sich nicht unter den im attischen Recht üblichen Tatbestand des Menschenraubs (ανδραποδισμός, vgl. dazu 879a5-bl) subsumieren lasse und daß die dort vorgesehene Rechtsfolge (Todesstrafe nach De­ mosthenes, Or. 4,47 u.a.) hier unangemessen hart wäre. In Platons Be­ wertung des Vergehens als Menschenraub sieht Klingenberg daher eine „schlagwortartige rechtspolitische Etikettierung“. Die gewaltsame Ausschaltung von Wettkampfgegnem durch Verhin­ derung ihrer Teilnahme war wohl in allen griechischen Festordnungen verboten, wenn auch vielleicht nur mit einer Generalklausel (Klingen­ berg 217). Platons diesbezügliches Gesetz (955a2—b4) zeichnet sich durch eine enge Tatbestandsfassung und vor allem durch die Rechtsfol­ gen aus. Diese bestehen (1) in einem ,Rollentausch4 (Klingenberg 221), indem die Kampfrichter dem unredlichen Sieger den Siegestitel und alle damit verbundenen Ehrungen aberkennen und sie dem verhinderten Konkurrenten zuweisen (ohne zu prüfen, ob dieser überhaupt eine Sie­ geschance gehabt hätte), und (2) in einer Klage des verhinderten Konkur­

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renten wegen Schädigung (βλάβης) gegen den, der ihn an der Teilnahme hinderte. Da für einen solchen ,Rollentausch6 Vorschriften im griechischen Wettkampfrecht fehlen, schreibt ihn Klingenberg 239 „der juristischen Phantasie und dem moralischen Rigorismus des Philosophen66 zu. Nach den antiken Zeugnissen führte die Entdeckung des Betrugs zwar zu einer Bestrafung des unredlichen Siegers, aber keineswegs immer zu einer Til­ gung aus den Siegerlisten (Belege bei Klingenberg 218 ff.). Daß im übri­ gen ein durch Rollentausch verliehener Sieg für die Griechen keineswegs weniger wertvoll ist als ein erkämpfter, zeigen die von Klingenberg 223— 227 vorgelegten Belege für kampflos (άκονιτί, άμαχεί) errungene Sie­ ge. Die Klage wegen Schädigung bezieht sich darauf, daß ein Sieg in ei­ nem öffentlichen Agon einen beträchtlichen Vermögenswert hatte, weil dem Sieger über die von den Kampfrichtern ausgesetzten Siegespreise hinaus von seiner Heimatstadt noch weitere materielle Vorteile (Ehrenge­ schenke, Privilegien, Steuerfreiheit usw.) winkten (Klingenberg 228 ff.). Da dem an der Teilnahme Verhinderten diese Vorteile entgehen, entsteht ihm ein finanzieller Schaden, wobei es keine Rolle spielt, ob er im Falle der Teilnahme wirklich den Sieg errungen hätte (ein Beispiel für die Ver­ urteilung eines Siegers zu einer Geldbuße wegen Schädigung des Geg­ ners gibt Klingenberg 23 5£); das Aufkommen von Betrugsversuchen (Bestechung, Gewinnabsprachen u. ä.) im 4. Jh. bezeugen auch die aus den Bußgeldern der überführten Athleten errichteten Zanes (Zeusstatuen) in Olympia.

955a4 am Erscheinen hindert: παραγίγνεσθαι deutet Klingenberg 213 ff. als das rechtzeitige Eintreffen des Wettkampfteilnehmers am Aus­ tragungsort noch vor Ablauf der Meldefrist (die bis zu einem Monat be­ tragen konnte). Das Delikt findet also schon im Vorfeld der Wettkämpfe statt.

11.20. 955b5—7: Hehlerei. Aufnahme von Verbannten

Beide Gesetze lehnen sich an attisches Recht an (zur Strafe fiir Hehle­ rei vgl. Lysias, Or. 29,11; für die Beherbergung eines Verbannten vgl. Demosthenes, Or. 50,49). Die Klageform gegen den Hehler ist ebenso wie gegen den Dieb vermutlich eine Privatklage wegen Diebstahls (δίκη κλοπής), vgl. Lipsius 440, Moneti 2001, 105 und 109. - Wer einen Ver­ bannten aufhimmt, verfällt nach Demosthenes derselben Strafe, die auch über den Verbannten verhängt wurde (vgl. Harrison 1971, 186 und 231). Platon schreibt in diesem Fall die Todesstrafe vor, weil der den Verbann­ ten Aufnehmende das Urteil des Gerichts mißachtet und der Gerechtig-

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keit in den Arm fallt, wodurch er die Gesetze als das Fundament des Staates untergräbt (vgl. 958c5).

11.21. 955b8—c5 : Eigenmächtige Friedensschlüsse und Kriegshandlungen

Das Gesetz betrifft zwei Arten des Landesverrats: nämlich den Fall, daß ein Bürger durch private Verhandlungen mit den Vertretern anderer Städte Frieden schließt oder Krieg gegen seine eigene Stadt erregt, und den Fall, daß eine Partei durch Verhandlungen mit dem Ausland gegen die andere Partei in der Stadt konspiriert (vgl. Susemihl 1852 Anm. 829 und 830, der zum ersten Fall auf die Parodie eines solchen „Privatfrie­ dens44 in den Acharnern des Aristophanes verweist). Beide Aktivitäten verletzen die Einheit der Stadt und mißachten die Befugnisse der Behör­ den, die (wie die Prytanen 758c) für die auswärtigen Beziehungen ver­ antwortlich sind. Zuständig ist das 855c eingesetzte Kapitalgericht. 955b8 Jeder muß dieselbe Person wie die Stadt als Freund oder Feind betrachten: Platon übertragt die in Bündnisverträgen übliche FreundFeindformel (dazu Scheibeireiter 2010, 52) auf das Verhältnis zwischen Bürger und Polis. Der Satz fungiert als Minimalform eines Proömiums zu dem folgenden Gesetz (cl—5); diesen Zusammenhang würde die von England vorgeschlagene Textaufteilung zerstören.

11.22. 955c6—d4: Bestechlichkeit

Das Gesetz umfaßt wie das vorhergehende einen proömienartigen Teil, der zu uneigennützigem Dienst für das Gemeinwesen auffordert (c6—d3), und eine kurze Straffestsetzung, die für den Ungehorsamen den Tod vor­ sieht (d3-4). Das ,Proömium4 wendet sich zugleich gegen eine spitzfin­ dige Unterscheidung, mit der das Verbot der Annahme von Geschenken unterlaufen werden soll (vgl. einen ähnlichen Fall 916d7—e4). Denn die­ se Unterscheidung überfordert die Menschen nicht nur intellektuell, weil sie ein Wissen darum voraussetzt, was ein guter Zweck ist, sondern auch moralisch, weil es schwer ist, sich an diese Unterscheidung zu halten und zu schlechten Zwecken keine Geschenke anzunehmen (zu dieser Doppe­ lung von Erkennen und Handeln gemäß dem Erkannten vgl. 875a—c). Platons Gesetz gilt für jeden, der dem Staat einen Dienst erweist (also nicht nur den Beamten). Es benutzt die Terminologie des attischen Rechts, die keinen Unterschied zwischen ,Geschenken4 (δώρα) und ,Bestechung4 machte (vgl. Demosthenes, Or. 19,7). Das Gesetz Athens richtete sich primär gegen Beamte, denen viele Möglichkeiten legaler und illegaler Bereicherung zur Verfügung standen (vgl. die Übersicht bei Hansen 1995, 284-287), aber auch gegen Nichtbeamte, die sich aktiver

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oder passiver Bestechung schuldig machten. Klageform bei einer Beste­ chung war die γραφή δώρων (Aristoteles, Ath. pol. 54,2; 59,3; Aischi­ nes, Or. 3,232). Das Strafmaß variierte in Athen zwischen der Todesstra­ fe, die meist durch Eisangelie an das Volk herbeigefuhrt wurde, und dem Zehnfachen der Bestechungssumme beim Nachweis von Bestechung bei der Rechenschaftsablegung und (vermutlich) auch bei Verurteilung auf­ grund einer γραφή δώρων (zu weiteren Details Lipsius 401 f., Gemet 1951, p. CCI, Harrison 1971, 29, MacDowell 1978, 172-174, Hansen 220-221, Todd 1993, 306). Platon ist auch hier rigoroser, indem er ohne Berücksichtigung der näheren Umstände (απλώς) die Todesstrafe vor­ sieht.

11.23. 955d5—e4: Steuern und sonstige Geldabgaben Während Metöken gemäß 850b von der Steuer befreit sind, haben die Bürger jedes Jahr eine Steuer (εισφορά) entweder auf das Vermögen oder auf ihr jährliches Einkommen (d. h. den Ertrag der Ernte) zu entrich­ ten, wobei vom Einkommen (oder von der Steuer?) die Beträge für die Syssitien abgesetzt werden. Die jeweilige Art der Besteuerung legt die Staatskasse fest; in einem guten Jahr wird sie vermutlich das Einkom­ men, in einem schlechten das Vermögen besteuern. Grundlage der Be­ steuerung sind die mehrfach erwähnten Register des beweglichen und unbeweglichen Vermögens (741c, 745a, 754d, 850a, 855b); ob auch die jährlichen Ernteerträge in einem Register erfaßt werden sollen (so Mor­ row 1960a, 194), ist nicht zu entscheiden (zweifelnd Russell 1962, 40 f.). Die Einzelheiten des Verfahrens bleiben allerdings undeutlich; so wirft z.B. die Erwähnung der Phylenmitglieder (φυλέτας d7) die Frage auf, ob die Angabe der Erträge (und die Besteuerung?) phylenweise erfolgen soll (analog zu den athenischen Symmorien?). In Athen war die Steuer ursprünglich eine fallweise aufgrund eines De­ krets der Volksversammlung erhobene Kriegssteuer; seit 347 wurde sie zu einer regelmäßigen Jahressteuer, die aber nur von den in Symmorien zusammengefaßten wohlhabenderen Bürgern aufzubringen war und in späterer Zeit auf das Kapital erhoben wurde (Busolt - Swoboda 610612. 1223-1226, Hansen 1995, 114 ff.). Morrow 1960a, 194 vermutet ei­ ne Beeinflussung Platos durch die Ideen seines Schülers Lykurg, der als Finanzfachmann nach 338/7 v.Chr. den athenischen Staatshaushalt sa­ nierte.

955e3—4 abzüglich der Beiträge für die gemeinsamen Mahlzeiten: Vgl. zu 842b 1-8 und zu 847e2-848c6 (S. 213).

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11.24. 955e5—956b3: Weihgeschenke Nach den an das Gemeinwesen zu entrichtenden Abgaben regelt das vorliegende Gesetz die den Göttern darzubringenden Gaben. Der (auch die Bestattungsvorschriften 958c7-960b5 leitende) Gedanke der Mäßi­ gung und der Gesichtspunkt der kultischen Reinheit fuhren zum Aus­ schluß bestimmter Materialien und großen Arbeitsaufwands. Die als be­ sonders angemessen empfohlenen Gaben - Vögel und nicht allzu kunst­ volle Bilder - sind wohl mit England z. St. als Opfertiere und Fresken auf den Tempelwänden zu interpretieren (Stallbaum und Jowett verstehen dagegen unter Annahme eines Hendiadyoin Bilder, auf denen Vögel dar­ gestellt sind). Platons Gesetz fand in der Antike große Beachtung, wie die Überset­ zung durch Cicero (De leg. 2,45) und Zitate bei christlichen Autoren (Klemens Alex. Strom. 5,11,76,3; Theodoret, Cur. aff. gr. 3,75; Euse­ bios, Praep. ev. 3,8,2) belegen. Ein vergleichbares Gesetz läßt sich im positiven griechischen Recht nicht nachweisen und ist angesichts der Fülle von erhaltenen Votivgaben aus den von Platon verworfenen Mate­ rialien unwahrscheinlich (Reverdin 1945, 67). Auch die Farbe war offen­ bar nicht auf Weiß festgelegt: der von den Frauen fiir Athene hergestellte Peplos war gelb (Euripides, Hek. 468).

956a2 kein unbedenkliches Weihgeschenk: Für das von den Platonhandschriften überlieferte ούκ εύχερές erscheint in der sekundären Überlieferung (Klemens, Eusebios) ούκ εύαγές („nicht rein“; Cicero: haud satis castum), das fast alle Herausgeber und Übersetzer überneh­ men. Das von Stallbaum verteidigte εύχερές kann aber im Lichte von 948e2 und 942d4 verstanden werden als etwas, worüber man sich keine Gedanken machen muß; ούκ εύχερές wäre dann etwa „kein unbedenkli­ ches“ Weihgeschenk. — Zur kultischen Unreinheit von Produkten aus dem Material toter Tiere vgl. die Belege bei Parker 52 Anm. 78.

956a3 aus einem einzigen Stück (μονόξυλον): So auch Cicero, De leg. 2,45 (uno e ligno) und die meisten Übersetzer. Gemeint ist ein sog. Xoanon (geschnitztes Götterbild). 956a5 nur, wenn es nicht die monatliche Arbeit einer Frau übersteigt: Burnet hält mit Recht am überlieferten Text (μή πλέον έργον γυναικος μίας έμμηνον) fest. England tilgt μή πλέον. Diès schreibt mit Stall­ baum μή πλέον ή (vgl. Cicero: ne operosius quam); Koraes 243 (=1985, 206) liest έργου ... εμμήνου und stellt auch in der analogen Wendung 958e6 μή ύψηλότερον πέντε ανδρών έργον den Genitiv her (244). Ast verbindet μή πλέον mit der Zahlenangabe γυναικος μίας: ,als Ge­ webe die monatliche Arbeit von nicht mehr als einer Frau‘. Wegen der

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analogen Wendung 958e6 (,die Arbeit von fünf Männern, nicht höher!6) beziehe ich den Komparativ appositiv auf εργον: ,die Arbeit einer einzi­ gen Frau, nicht mehr!6 (weitere Beispiele für diese Konstruktion bietet Kühner - Gerth II 311, 4).

11.25. 956b4—958c6: Nachträge zum Gerichtswesen Der Abschnitt gibt sich durch Verweise auf bereits Behandeltes und noch Ausstehendes (956b4-7, e7, 957a2-3, cl, 958a2) als Nachtrag zu den früheren Erörterungen des Gerichtswesens (bes. 766d ff., 846b-c, 855d-e, 871c-d, 876b ff., 948b ff.) zu erkennen, wie er schon 768c8-dl angekündet wurde. Wie schon die früheren Darlegungen zum Gerichts­ wesen (vgl. bes. Bd. II 427^137) sind auch die vorliegenden alles andere als klar und eindeutig. Sie lassen sich thematisch in vier Komplexe glie­ dern:

956b4—el: Die drei Gerichtsinstanzen. Der Komplex ergänzt die früheren Hinweise auf drei Instanzen in 766e3-767a4, 767c3, 768b4-c2 durch Angabe der Geldbußen, die der Kläger bzw. der Beklagte beim Unterliegen in der 2. und 3. Instanz zu entrichten hat. Verliert der Beklagte in zweiter Instanz vor dem aus Dorf­ bewohnern und Phylenmitgliedem bestehenden Phylengericht (s. dazu Bd. II 429-431), hat er zusätzlich zu der Strafe ein Fünftel der vom Klä­ ger beantragten Strafsumme (τίμημα) zu zahlen (956c5—6), die der Klä­ ger erhält (d4-5); dieser hat beim Verlust des Prozesses ebenfalls ein Fünftel der Strafsumme zu zahlen (d5), die vermutlich an den Beklagten gehen. Unterliegt der Beklagte in dritter Instanz vor den Auserlesenen Richtern, muß er das Anderthalbfache des τίμημα zahlen (dl-2. 7—8), d. h. zusätzlich zum τίμημα noch die Hälfte des τίμημα; analog muß der Kläger beim Unterliegen die Hälfte des τίμημα entrichten (d8—el). Die Vorschriften für die zweite Instanz implizieren für die dritte Instanz den Schluß, daß diese Hälfe ebenfalls an den Prozeßgegner zu zahlen ist. Die Staffelung dieser Geldbußen von Instanz zu Instanz soll das Beschreiten des Instanzenwegs erschweren; der Normalfall soll die Beilegung des Streits vor den Nachbarn als Schiedsgericht sein. Für sein Gesetz kann Platon (nach Morrow 1960a, 293, Piérart 1974, 406) von der im attischen Recht als Sukkumbenzgeld vom Kläger zu zahlenden παρακαταβολή oder έπωβελία angeregt worden sein (vgl. dazu Lipsius 827. 933-939), wobei er eine solche Zahlung aber auch vom Beklagten fordert, der die höhere Instanz anruft, weil er seine Pro­ zeßniederlage nicht akzeptieren will. 956c 1—2 Schiedsmännern also, für die aber die Bezeichnung , Richter ' angemessener ist: Die Übersetzung folgt (ebenso wie die von Saunders

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und Lisi) der Interpretation von Morrow 1960a, 257 Anm.29. Platon wendet sich also gegen die abwertende Bezeichnung dieser Leute, die ei­ nen vollgültigen Gerichtshof bilden (767b), als , Schiedsmänner4. Die umgekehrte Auffassung des Textes („die richtiger die Bezeichnung Schiedsmänner als die Bezeichnung Richter fuhren“) vertreten Stall­ baum, England, Weil 1961, 499, Diès, Brisson — Pradeau, Ferrari — Poli. 956c2—3 die jeweils in Zwölftel aufgeteilt sind: Es handelt sich um die Phylengerichte, die für Prozesse innerhalb der Phylenmitglieder zustän­ dig sind; vgl. dazu Bd. II 429^-31.

956el—957cl : Sonstige Formalitäten Dieser Komplex bezieht sich auf diverse Formalitäten im Zusammen­ hang mit der Durchführung von Prozessen. Der Athener unterscheidet je nach dem Grad der Fertigstellung drei Verfahren zur Vervollständigung der gesetzlichen Regelungen: 956el—957a3: Für eine Reihe von Formalia wie das Auslosen der Ge­ richte usw. (Details s.u.) ist die richtige Regelung (vgl. το ορθόν e7) be­ reits gefunden; hier braucht der jüngere Gesetzgeber nur noch einige un­ bedeutende Punkte ergänzend zu regeln. 957a3—b5: Für die privaten Gerichte reichen diese Regelungen aus. Für die öffentlichen Gerichte und die Gerichte, mittels deren die einzel­ nen Beamten in ihrem Amtsbereich Recht sprechen, sollen die Gesetzes­ wächter aus den bereits vorhandenen Gesetzen des positiven Rechts das Geeignete auswählen und an die neue Verfassung anpassen, es auspro­ bieren und dann für unveränderlich erklären. 956b5—cl : Ein anderer Punkt (das Schweigen der Richter u. ä.) ist zum Teil besprochen, ein anderer Teil soll am Schluß besprochen werden. Abgesehen davon, daß diese letzte Ankündigung im erhaltenen Text nicht eingelöst wird, besteht die interpretatorische Hauptschwierigkeit des Textes in der Unterscheidung zwischen den ,privaten Gerichten4 (ίδια δικαστήρια) und den ,öffentlichen und allgemeinen Gerichten4 (δημόσια καί κοινά). Vor dem Hintergrund von 767b4—cl handelt es sich anscheinend um Gerichte für private Klagen (δίκαι) und Gerichte für diejenigen öffentlichen Klagen (γραφαί), die dem Gemeinwesen zu Hilfe kommen wollen (so z.B. Morrow 1960a, 269f., Diès, Brisson Pradeau). Hiergegen weist Saunders 1972, Nr. 123 daraufhin, daß mit den öffentlichen und allgemeinen Gerichten die Phylengerichte und das Gericht der Auserlesenen Richter gemeint sein müßten, da diese öfters als κοινόν bezeichnet werden. Weil diese sich aber auch mit Privatkla­ gen befassen (z.B. hier 956c), bezieht Saunders die Unterscheidung zwi­ schen diesen und den privaten Gerichten nicht auf die Art der von ihnen zu entscheidenden Klagen, sondern auf die unterschiedliche Einsetzung

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dieser Gerichte: die privaten Gerichte sind die von beiden Parteien ohne staatliche Mitwirkung aus den Nachbarn und Freunden gewählten Schiedsgerichte (also die erste Instanz); die , öffentlichen4 Gerichte sind die durch bestimmte feste Prozeduren bestellten und besetzten Gerichte (Phylengerichte, Gericht der Auserlesenen Richter) und sonstige Gerich­ te im Rahmen der Jurisdiktionsgewalt der Beamten, die sowohl für priva­ te (z.B. 761d-e, 845e) wie öffentliche (764b-c, 779b-c) Klagen zustän­ dig sind. Saunders’ Vorschlag beseitigt aber nicht alle Schwierigkeiten. Denn die rückverweisende Feststellung, daß die privaten Gerichte ihre „ange­ messene Form“ hätten, wenn sie etwa in dieser Weise (ταύτη πη) einge­ richtet würden (957a3^4), kann sich zunächst nur auf die in 956el ff. auf­ gezählten Punkte (sowie deren Ergänzung durch die jüngeren Gesetzge­ ber) beziehen. In 956el ff. ist aber vom Auslosen (κληρώσεις) und nicht (wie 956b6—cl) vom Wählen die Rede, und auch die weiteren aufgeliste­ ten Punkte passen weniger zu einem privaten Schiedsgericht aus Freun­ den und Nachbarn als vielmehr zu einem regulären Gerichtshof, insbe­ sondere zu dem der Auserlesenen Richter. Dies nötigt zur Folgerung, daß Platon hier unter den ϊδια δικαστήρια alle Gerichte versteht, an die sich die Privatleute wenden können, die „Klagen gegeneinander erheben“ (766e4—5), also auch die Gerichte der 2. und 3. Instanz; dies läßt sich stützen durch die Bezeichnung des Ge­ richtes der Auserlesenen Richter als ein allgemeines Gericht „für alle Privatleute^ die zum dritten Mal gegeneinander prozessieren“ (τοΐς το τρίτον αμφισβητουσιν ίδιώταις προς άλλήλους 767c2—4). Dies be­ deutet weiter, daß zu der „angemessenen Form“ (957a4) der Privatge­ richte auch die Einrichtung der zwei Berufungsinstanzen (956b7-el) zu rechnen ist (vgl. hierzu Bd. II 432 f), die insofern nur ein Appendix des erstinstanzlichen Schiedsgerichts sind. Dem muß nicht widersprechen, daß die Phylengerichte und das Ge­ richt der Auserlesenen Richter in 957a4—5 als öffentliche und allgemeine Gerichte bezeichnet werden; denn sie fungieren ja zugleich als erste und zweite Instanz für öffentliche Klagen; dies ist sogar ihr Proprium, wenn man annimmt, daß nach Platons Vorstellung die meisten privaten Strei­ tigkeiten vor dem Schiedsgericht beigelegt werden sollen. Man fragt sich allerdings, warum Platon gerade bei diesen wichtigen Gerichtshöfen die Übernahme von Regelungen des positiven Rechts empfiehlt und welche Punkte außer den in 956el-7 aufgezählten die Gesetzeswächter noch zu regeln haben könnten. Ganz undeutlich ist auch das Verhältnis dieser Ge­ richte zu dem in 767e9ff. angedeuteten ,Volksgericht4, dessen Existenz mir inzwischen fraglicher geworden ist als bei der Interpretation dieser Stelle im 2. Band (wenn ein solches wirklich von Platon einen Moment

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lang ins Auge gefaßt war, dann vielleicht fiir die großen Verbrechen ge­ gen die Stadt und nicht fiir eine Popularklage wegen eines sonstigen De­ likts). Nicht minder erklärungsbedürftig ist die Ankündigung einer „am Schluß“ προς τω τέλει (957c 1) zu führenden Erörterung. Faßt man sie als einen Verweis auf eine Behandlung weiterer konkreter Details der Prozeßführung (was durch die Erwähnung des Schweigens der Richter nahegelegt wird), so wird sie im erhaltenen Text der Nomoi nicht einge­ löst. Die vage, aber emphatische Beschreibung des Gegenstands dieser Erörterung als etwas, das von dem Gerechten, Guten und Schönen in den anderen Städten abweicht (d.h. es übertrifft), verweist jedenfalls auf den vom Gesetzgeber zu verkündenden (858d) höchsten Maßstab, der jeder Rechtsprechung zugrunde liegen muß. Sofern dieser mit der Tugend identisch ist, könnte der Verweis im weitesten Sinne auf die Nächtliche Versammlung gehen, deren Mitglieder es mit der Tugend genauer neh­ men (964c—d) und über das Gute und Schöne sowohl Bescheid wissen als auch anderen Bescheid geben können (966a—b). Auch Susemihl 1853 Anm. 845 und Apelt 549 Anm. 70 vermuten (wie schon Zeller 1889, II 1, 981 Anm. 3 [S. 982]) einen Bezug zur Nächtlichen Versammlung. 956el—7: Die Formalitäten, die angeblich „schon früher besprochen“ worden sind, lassen sich zu einem großen Teil nur im Rückgriff auf athe­ nische Prozeduren näher bestimmen. Hier seien folgende Erläuterungen zu den einzelnen Begriffen gegeben (vgl. Piérart 1974, 401 Anm. 62 und die Anmerkungen bei Brisson — Pradeau z. St.): Das Auslosen der Ge­ richtshöfe'. Es ist wohl an Verfahren wie das von Aristoteles, Ath. pol. 63—65 geschilderte zu denken. Im vorausgehenden Dialogteil ist eine Auslosung der Richter nur bei den Phylengerichten vorgesehen (768b). ihre vollzählige Besetzung (πληρώσεις): Die Wendung πληρούν δικαστήριον bezeichnet eigentlich die Besetzung mit der erforderlichen Anzahl, dann überhaupt die Einsetzung eines Gerichtshofs, vgl. Förster 1875, Lipsius 159, Chase 1933, 165, Piérart 1974, 401 Anm. 62. - die Bestellung von Amtsgehilfen für die einzelnen Behörden: Hiervon war bisher nirgends in den Nomoi die Rede. Piérart 1974, 401 Anm. 62 denkt an Sklaven oder an Gerichtsdiener für die Überwachung der Wasseruhr, der Abstimmungen usw. — die Fristen, innerhalb derer all dies zu ge­ schehen hat: Das einzige Beispiel hierfür findet sich in 767c. — die Ab­ stimmungen (διαψηφίσεων): Die Abstimmung der Richter war Gegen­ stand der Vorschriften in 855d—856a gewesen (fiir Athen vgl. Aristoteles, Ath. pol. 68). - Vertagungen (άναβολών): Das Wort begegnet in diesem Sinne bei Isaios, Or. 6,13; zur Sache vgl. Lipsius 840. In den Nomoi fin­ det sich hierfür kein weiterer Beleg. — die Auslosung der früheren und

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späteren Verhandlungstermine: Das Wort λήξις bezeichnet im attischen Recht ursprünglich die Festlegung der Reihenfolge der Prozesse durch Los, dann die Einreichung der Klage (so auch 846b7, 948d3, 949c4). Vgl. zu 846b6-c8. — Erzwingung von Antworten (αποκρίσεων ... άνάγκας): Auch hier steht im Hintergrund die athenische Praxis (vgl. Harrison 1971, 138); in den Nomoi ist dieses Verfahrensdetail nicht nach­ weisbar. — und des Erscheinens vor Gericht (παρακαταβάσεων): In Athen konnte jemand, der nicht während der Voruntersuchung oder der Verhandlung erschien, in Abwesenheit verurteilt werden (Lipsius 841 f.). Platon denkt vielleicht an die 936e-937a behandelte Pflicht zum Erschei­ nen als Zeuge.

956e7 schon früher besprochen: Vgl. die oben S. 564 angegebenen Stellen.

956e7—957al das Richtige auch zwei und dreimal zu wiederholen: Diese sprichwörtliche Wendung (vgl. zu 754c2—3) ist hier nicht zu genau zu nehmen; denn das Richtige wird inhaltlich gar nicht wiederholt, son­ dern es wurde in 956el—6 nur noch in Stichworten an die einzelnen Punkte erinnert. 957a2—3 die soll, da sie der alte Gesetzgeber beiseite gelassen hat, der jüngere Gesetzgeber ergänzen: Zu den Ergänzungen der jüngeren6 oder ,zweiten Gesetzgeber6 zum Werk des ,älteren6 oder ,ersten6 Gesetzge­ bers vgl. die zentrale Erörterung 769al—771a. — Die endgültige Regelung unbedeutender Formalitäten des Prozeßrechts war auch schon 846c den jüngeren Gesetzgebern überlassen worden. 957a6—b2 so gibt es hierfür ... Gesetzesbestimmungen tüchtiger Män­ ner, aus denen die Gesetzeswächter das Geeignete entnehmen und der jetzt entstehenden Staatsverfassung anpassen sollen: Die adaptierende Integration vorhandener Gesetze in ein zu schaffendes Gesetzbuch war schon 702c-d als grundlegendes nomothetisches Verfahren bei der Grün­ dung Magnesias erwähnt worden (vgl. auch den Hinweis 844a auf solonische Gesetze). Die komparative (und kompilierende) Methode der Er­ stellung eines Gesetzbuches wird von der antiken Überlieferung auch Lykurg (Plutarch, Lyk. 4,1= Aristokrates FGrHist 591 F 2), Charondas (Diodor 12,11,4) und Solon (Diodor 1,98,1) zugeschrieben. Isokrates, Or. 15,83 stellt die Leistung der Gesetzgeber, die aus vorhandenen Ge­ setzen eine Kompilation zusammenstellen, unter die des Redners, von dem Originalität erwartet wird. Zur komparativen Methode vgl. Triantaphyllopoulos 1985, 37 und 239 Anm. 232. 957b4—5 als unveränderlich besiegeln und es das ganze Leben hin­ durch anwenden: Zur Methode des Sammelns von Erfahrung, der Ver­

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Besserung und der endgültigen Fixierung von Gesetzen vgl. bes. 772d, 816c, 846c, 920b—c sowie Bd. II438 ff.

957b5—6 das Schweigen der Richter und ihre Zurückhaltung: Dies kann sich sowohl auf den „stummen Richter“ (άφωνος δικαστής), der nichts sagen darf (vgl. 766d), als auch auf das schweigende Anhören der Plädoyers der Parteien (vgl. 876b) beziehen. 957cl—958a3: Der gute Richter Der ,gute Richter4 war schon in der Politeia Gegenstand einer Betrach­ tung, die sich mit den seelisch-moralischen Voraussetzungen für das Richteramt befaßte. Der gute Richter hat eine gute Seele, darf die Unge­ rechtigkeit nur an Fremden als etwas Fremdes kennengelemt haben und muß durch Einsicht (επιστήμη), nicht durch eigene Erfahrung, erkannt haben, was für ein Übel sie ist (Resp. 408e ff.). Der TVomof-Abschnitt über den ,guten Richter4 gipfelt dagegen in ei­ nem Preis des ,göttlichen4 Gesetzes (vgl. dazu Bd. II 186f.), das mit ei­ nem etymologischen Wortspiel als eine Schöpfung der Vernunft geprie­ sen (vgl. 714a2) und (wie schon 858d und 81 Ic-e) zum Maßstab für alle sonstigen Formen sprachlicher Äußerungen erhoben wird. Die Kenntnis von Gesetzen und Schriften über Gesetze (vgl. zu 858e5—6) ist die ent­ scheidende Qualifikationsanforderung für den ,guten Richter4. Denn richtig (ορθώς) verfaßte Gesetze und Schriften über Gesetze befähigen den Richter, seine Seele in die richtige Verfassung zu bringen (ορθουν d7) und ,gut4 zu werden; richtige Gesetze zielen nämlich auf den Erwerb der Tugend (vgl. z.B. 770c—d) und vermögen daher den Menschen zu bessern (c5). Nur ein solcher Richter vermag auch die Stadt auf rechter Bahn zu erhalten, indem er die Gerechtigkeit in der Bürgerschaft mehrt und die Ungerechtigkeit zurückdrängt. Letzteres geschieht durch die Strafe, die wie im großen Straffechtsexkurs des 9. Buches (vgl. 862c7—8) als Heilung verstanden wird (957e3-958a3).

957e4—958a3 wenn sie aber denjenigen, denen diese Ansichten wahr­ haft vom Schicksal zugesponnen worden sind, den Tod als Heilmittel ... zuteilen: Mit dem Partizip έπικεκλωσμέναι (zu έπικλώθω „zuspin­ nen44) deutet der Athener die Unheilbarkeit des Ungerechten als etwas Schicksalhaftes, wie es die Moire Klotho (die ,Spinnerin4; vgl. 960c7) den Menschen zuteilt (zu der von Natur angeborenen Unverbesserlich­ keit mancher Menschen vgl. auch 853dl-3). - Die Bezeichnung des To­ des als Heilmittel für die Unheilbaren setzt folgenden Gedanken voraus: Wenn die Ungerechtigkeit und der Drang zur ungerechten Taten eine Krankheit ist (vgl. z.B. 853d8, 854c4, 862c8), dann kann der Tod, der diese Krankheit beendet, mit bewußter Paradoxie als ,Heilmittel4 ver­ standen werden. Diese Paradoxie zu verstehen, erfordert vom Richter ein

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gewisses intellektuelles Niveau, worauf das anaphorische „solche“ (τοιουτοι 958a3) hinweist (vgl. Saunders 1972, Nr. 124). 958a2 wie mit Recht schon mehrfach gesagt worden ist: Z.B. 854d5— 855a2, 942a4; vgl. auch Prot. 325a, Resp. 409e-410a.

958a3 wegweisende Führer von Richtern (δικαστών ηγεμόνες): Da­ mit dürften die (949a8 und 949b5 als προέδρους bzw. άρχοντας be­ zeichneten) Vorsteher der Gerichte (vgl. Aischines, Or. 3,14: όσοι λαμβάνουσιν ήγεμονίας δικαστηρίων, Photios, Lex. η 27 Theodoridis) gemeint sein. Bertrand 1999, 237 Anm. 264 denkt an eine Überwachung (surveiller) der Richter. Aber das Wort ηγεμόνες verweist weniger auf eine Kontroll- als auf eine Leitungsfunktion; diese kann z. B. darin beste­ hen, den Richtern gesetzliche Anweisungen fiir ihre Entscheidungen an die Hand zu geben. Eine solche Funktion üben die Gesetzeswächter in ihrer Eigenschaft als Jüngere Gesetzgeber6 aus.

958a4—c6: Die Urteilsvollstreckung Gegenstand dieses Abschnitts ist lediglich die Vollstreckung in das Vermögen des Verurteilten. Platons Regelung verzichtet — vielleicht nach dem Vorbild Solons - auf Zwangsmaßnahmen gegen die Person, weicht aber von der athenischen Regelung vor allem darin ab, daß er ein Verfah­ ren entwirft, in welchem die staatlichen Behörden durch ihre Mitwirkung die Vollstreckung des Urteils sicherstellen, während in Athen der Gläubi­ ger gegen den Schuldner eine Art ,Privatkrieg6 zu führen hatte (vgl. bes. Gemet 1951, p. CXLIX ff.). Im einzelnen sieht Platon folgende Schritte vor: Zuerst wird von den Gerichtsbehörden das Vermögen der unterlege­ nen Seite der siegreichen Prozeßpartei zuerkannt (αποδιδότω a7). Wenn die Strafe nicht binnen eines Monats bezahlt ist, übergibt die Ge­ richtsbehörde dem Sieger das Vermögen des Verurteilten (παραδιδότω b5). Reicht dieses nicht zur Bezahlung aus, wird der Schuldner mit par­ tieller Atimie (Verlust des Rechts zu prozessieren) bestraft, bis er die Restschuld beglichen hat. Gemet p. CL sieht hierin eine der originellsten Bestimmungen der Nomoi und vermutet als Vorbild die partielle Atimie, die in Athen die Staatsschuldner traf. Widerstand gegen die Vollstre­ ckung wird als Akt der Rebellion mit der Todesstrafe geahndet. In Athen hatte in diesem Fall der Gläubiger u. a. die Möglichkeit einer δίκη έξούλης, die zwar eine Buße zugunsten des Staats nach sich zog, aber an sich eine private Klage war (vgl. Lipsius 664. 951, Todd 1993, 144 f.).

958a7 mit Ausnahme des unbedingt notwendigen Besitzes: D. h. des Landloses samt seiner Ausstattung (vgl. zu 923d5) und wohl auch des zu seiner Bewirtschaftung nötigen Kapitals.

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958c2 nach der Verurteilung Widerstand leistet: Tax dieser Bedeutung von άφηρήται vgl. Stallbaum und England z. St. Der Widerstand könnte etwa darin bestehen, daß der Schuldner seinen Besitz durch Verkauf oder eine fiktive Schenkung dem Zugriff entzieht. Eine Todesstrafe fiir Wider­ stand gegen die Vollstreckung ist aus Athen nicht bekannt (Piérart 1974, 186).

12. 958c7—960b5: Bestattungsvorschriften Die den Gang des menschlichen Lebens begleitende Gesetzgebung en­ det naturgemäß mit den Vorschriften über die Bestattung der Toten und die ihnen zu erweisenden Ehren (vgl. 63le—632c). Platons Gesetz, dem schon Vorschriften zu einzelnen Aspekten in 717b-e, 719d-e und 800de vorausgegangen sind, regelt die Bestattung des gewöhnlichen Bürgers (die der Euthynen wurde schon 947b3—e6 besprochen). Diese umfaßt die Aufbahrung (πρόθεσις) des Toten im Sterbehaus, die den Verwandten und Freunden Gelegenheit zur Totenklage gibt, die Prozession (εκφορά) zur Grabstätte und die eigentliche Bestattung; zu den Ehren gehört wei­ terhin auch die Pflege der Grabstätte und des Andenkens (717e). Die Regelung der religiösen Zeremonien überläßt der Athener wie in andern Fällen (vgl. 774e9, 873d) den Auslegern (958d3-6); für die De­ tails der Aufbahrung wird auf die herrschenden Bräuche verwiesen (959e5—6). Die vom Athener formulierten Vorschriften sind getragen von dem Gedanken des rechten Maßes (wie auch das Gesetz über Weihgeschenke 955e5). Dieser fordert vor allem eine Beschränkung der fi­ nanziellen Aufwendungen. Ihr dient die Festlegung von Obergrenzen für die Höhe des Grabhügels und die Größe des Grabsteins (958e6-959al) und überhaupt für die Kosten der gesamten Bestattung (959dl—6). Das rechte Maß gilt es aber auch bei den Äußerungen der Trauer im Haus während der auf drei Tage beschränkten Aufbahrung (959al^l) und au­ ßerhalb des Hauses bei dem Zug zur Grabstätte (960al-a5) einzuhalten, wo lautes Jammern unangebracht ist. Die Überwachung der Befolgung dieser Vorschriften obliegt einem Gesetzeswächter. Der Gedanke des Maßes und der Bescheidung, der fiir die Ethik der Nomoi konstitutiv ist (vgl. 716c), erfahrt im Kontext der Bestattung eine anthropologische Begründung: Der materielle Aufwand, mit dem die Angehörigen den Toten zu ehren vermeinen, kommt nur dessen Körper, nicht aber dessen wirklicher Person, nämlich der Seele, zugute, die schon zu „anderen Göttern“ enteilt ist (959a4—b5). Hilfe hätte der Seele nicht materieller Aufwand nach dem Tod, sondern moralischer Beistand im Leben gebracht, der den Verstorbenen von ungerechtem Lebenswandel

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abgehalten und so seine Seele vor Strafen im Jenseits bewahrt hätte (959b6-c2). Gesetze gegen Grabluxus sind in der griechisch-römischen Antike nicht ungewöhnlich (vgl. die Übersicht über die vorplatonischen Gesetze bei Reverdin 1945, 112-116, Eckstein 1958, Engels 1998, Frisone 2000, Bernhardt 2003). Als inschriftliche Zeugnisse fiir die außerathenische Praxis seien genannt das Gesetz der keischen Polis Iulis aus dem 5. Jh. (IG XII 5, 593 = Syll. 1218 = LSCG 97 = Koerner 1993, Nr. 60) und die Bestattungsordnung der delphischen Phratrie der Labyaden um 400 (GDI 2561 = Syll. [2. Aufl.] 438 = LSCG 77 = Koerner Nr.46 C, 1952). Für Athen sind durch Cicero, De leg. 2,63-66 drei den Bestattungs­ luxus beschränkende Gesetze bezeugt (dazu Engels 77—154; Bernhardt 71-91): 1. das auch durch Plutarch, Sol. 21,5 bezeugte angeblich solonische Gesetz (Solon F 72a bzw. 72c Ruschenbusch = Fr. 469 bzw. T 465c Martina); 2. das sog. .post-aliquanto-GesctzJ (nach Engels 105 zwischen 508 und 480 zu datieren) und 3. das zwischen 317 und 307 erlassene Ge­ setz des Demetrios von Phaleron (Fr. 135 Wehrli = FGrHist 228 F 9). Wie weit Cicero und Plutarch das solonische Gesetz unverfälscht wieder­ geben, ist strittig, da beide auch von Demetrios abhängen können (Wal­ lace 1993, 401 bezweifelt sogar die Existenz eines solonischen Geset­ zes). Dies gilt auch fiir das Gesetz bei Ps.-Demosthenes, Or. 43,62 (= So­ lon F 109 Ruschenbusch = T 466 Martina), das nicht unmittelbar auf So­ lon zurückgeht, sondern dem Gesetzeskodex von 403 v. Chr. entstammt (Ruschenbusch 53). Für Demetrios’ Gesetz wiederum wurde direkter Einfluß von Platons Bestattungsgesetz angenommen (Bayer 1942, 64ff., Wehrli, Kommentar zu Demetrios Fr. 135); Engels 139ff. hält dagegen höchstens indirekte Beeinflussung für möglich; skeptisch ist auch Tram­ pedach 1994, 253 f. Ohne auf die Abhängigkeitsverhältnisse weiter einzugehen, seien hier nur die wichtigsten Parallelen zu Platons Bestimmungen genannt (einen detaillierteren Vergleich bietet Reverdin 116-124). Die Vorschrift, daß die Aufbahrung im Innern des Hauses stattfinden soll, setzt als ursprüngliche Form die Aufbahrung unter freiem Himmel voraus, die sich über mehrere Tage hinzog (im Epos dauerte die Aufbah­ rung und Totenklage um Patroklos 9 Tage, die fiir Achill sogar 17: Ho­ mer, II. 24,785-789; Od. 24,63-65). Das Gesetz bei Ps.-Demosthenes, Or. 43,62 verkürzt die Dauer der Aufbahrung auf zwei Tage. - Daß die Leiche außerhalb der Stadt bestattet werden soll, um die Räume der To­ ten von denen der Lebenden zu trennen, entspricht gemeingriechischer Praxis (Engels 41 f.); die Forderung, mit der Leiche vor Sonnenaufgang vor der Stadt zu sein, findet sich bei Ps.-Demosthenes 43,62 und bei Ci­ cero, De leg. 2,66 (singulär ist die spartanische Praxis, die Toten am hei-

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len Tage und in der Stadt beizusetzen; vgl. Plutarch, Lyk. 27,1; dazu En­ gels 55 ff.). Verbote von Traueräußerungen außerhalb des Hauses vor der Ankunft am Grab oder Beschränkungen exzessiver Trauer (besonders der Frauen) finden sich im Labyadengesetz Z. 17 ff. und im angeblich solonischen Gesetz (Plutarch, Sol. 21,5). - Exakte Kostenobergrenzen fiir bestimmten Aufwand nennt das Gesetz von Iulis (100 Drachmen fiir Textilien) und das Labyadengesetz (35 Drachmen fiir Grabbeigaben); letzteres sieht eine Geldbuße bei Überschreitung vor. — Die Höhe des Grabhügels soll im sog. post-aliquanto-Gesotz auf 30 Tagwerke be­ schränkt worden sein (Cicero, De leg. 2,64); als Grabschmuck ließ De­ metrios nach Cicero, De leg. 2,66 nur drei Arten zu (columella, mensa, labellum', Deutung der Termini strittig). — Die Überwachung seines Ge­ setzes übertrug Demetrios einem bestimmten Beamten (Cicero, De leg. 2,66). Die Intention, die hinter diesen Gesetzen des positiven Rechts zu ver­ muten ist, sieht Engels vorwiegend darin, daß Solon durch Beschrän­ kung des Bestattungsaufwands dem Adel eine Möglichkeit zur „Statusre­ präsentation“ nehmen wollte (78). Gegenüber dieser soziologischen Er­ klärung macht Kierdorf 2000, 346 mit Recht geltend, daß auch „die im religiös-moralischen Denken der Zeit verbreitete Neigung zu Maß und Besonnenheit“ zu berücksichtigen ist, die auch in Solons Gedichten greifbar ist. Diese Gesetze stünden dann in ihrer Intention dem platoni­ schen Gesetz nicht ganz fern, welches eindeutig dem ethischen Maßge­ danken verpflichtet ist. 958d2 in der gehörigen Weise (εν μοίρα): In denjenigen platonischen Belegen, wo μοίρα die von England u. a. hier angenommene Bedeutung ,Ansehen, Achtung, Geltung4 hat, hat es stets ein Quantitätsadjektiv bei sich (z.B. Krit. 51bl, im Plural Nom. 923b6). Ohne Attribut kommt έν μοίρα nur 775c6 vor, wo es auf keinen Fall den Respekt, sondern die Weise bezeichnet, in der die Entstehung des Lebens erfolgen soll; dazu bildet die vorliegende Stelle, die vom Ende des Lebens handelt, gleich­ sam das Gegenstück (außerplatonische Belege für έν μοίρα = ,in order, rightly4 bietet LS J s. v. IV. 1). 958d4 gleichgültig ob männlich oder weiblich (εϊτε τις ... ή): Das überlieferte η, das Ast 1824 in ήν abändem wollte; wird gestützt durch das Zitat bei Bekker Anecdota Gr. I 144,30 und die (wenn auch in der at­ tischen Prosa selteneren) Belege für bloßen Konjunktiv bei el (vgl. Schwyzer II 684 fl).

958el sondern nur diejenigen Gegenden, wo das Land (α δε ή χώρα): Ich folge dem überlieferten Text, indem ich mit Stallbaum den absoluten Akkusativ α als καθ’ α fasse (ähnlich England).

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958e4 ηό die Erde als unsere Mutter von Natur aus dazu (προς ταυ­ τα) geschaffen ist, uns Menschen willig Nahrung zu liefern: Englands Tilgung von προς ταυτα ist nicht zwingend. Zur Vorstellung von der Erde als Mutter vgl. zu 740a5-6. 958e6— 7 als es der Arbeit von fünfMännern entspricht, die sich in fünf Tagen fertigstellen läßt: Die syntaktische Parallelität zu 956a5 spricht ge­ gen Asts Einfügung von ή vor πέντε.

958e9 aus höchstens vier heroischen Versen: Der heroische Vers ist der Hexameter. Die traditionelle Form des Grabepigramms war das ein­ fache Distichon, gelegentlich auch mehrere Distichen. Bayer 1942, 65 sieht in dem Auftreten von vier Hexametern auf den Gräbern attischer Bürger im ausgehenden 4. Jh. eine Nachwirkung der von Demetrios übernommenen platonischen Vorschrift. 959a6—b5 daß sogar schon im Leben das, was das Selbst eines jeden von uns ausmacht, nichts anderes sei als die Seele usw.: Nach den Vor­ stellungen des homerischen Epos geht die , Seele‘ (ψυχή) beim Tod in den Hades, wo sie als schattenhaftes ,Abbild4 (εϊδωλον) der Verstorbe­ nen fortlebt (Od. 11,476. 10,495), während diese ,selbst4 (αύτούς), d.h. ihre Körper, zugrunde gehen (II. 1,3—5). Für Platon ist gerade umgekehrt der Körper nur äußere Erscheinung des Lebenden und Abbild des Ver­ storbenen, dessen wahres Selbst die Seele ist (wie Alkib. I 130cl-3, Phaidon 115c-d, Resp. 469d), die im Tode zu „anderen Göttern44, näm­ lich zu denen der Unterwelt, enteilt (vgl. die Unterscheidung 958d4-5; zum Ausdruck „andere Götter44 vgl. Phaid. 63b7, Aischylos, Hiket. 230f.).

959c 1—2 άτψ,ώρητος αν ... έγίγνετο: Das anstößige αν wird von Ast, Stallbaum, England und Diès wohl zu Unrecht getilgt. Belege für αν bei Präteritum im Finalsatz gibt es, wenn auch selten (vgl. Kühner Gerth II 389 Anm.7, wo noch Ps.-Platon, Sisyph. 390bl hinzuzufügen ist). Möglicherweise wollte Platon hier durch die Zufügung von αν zum zweiten Verbum einen modalen Unterschied zwischen den beiden Prädi­ katen des Finalsatzes zum Ausdruck bringen: ob der Verstorbene gerecht lebte, ist bereits entschieden und nicht mehr korrigierbar; daß er im Jen­ seits keine Strafen erleidet, steht noch aus und ist unsicher (diese Unsi­ cherheit bringt die Partikel zum Ausdruck).

959c7 aus dem Vorhandenen das Beste machen (τό παρόν ...ευ ποιεϊν): Die sprichwörtliche Wendung auch Gorg. 499c5 (vgl. Dodds z. St.); als ihr Urheber gilt Pittakos (Diogenes Laert. 1,77) oder Epicharm (Fr. 201 Kaibel).

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959d3—6 Für einen Bürger der höchsten Vermögensklasse dürften als Aufwand für die gesamte Bestattung nicht mehr als fünf Minen, usw.: Zum Vergleich: bei den Rednern werden z.B. 3 Minen (Lysias, Or. 31,21), 50 Minen (Or. 32,21) oder gar über 2 Talente = 120 Minen (De­ mosthenes, Or. 45,79) als Bestattungsaufwand erwähnt.

959e7 dem Staatsmann aber, der Gesetze aufstellt (τω πολιτικω voμοθετουντι): Das durch O4 vor νομοθετούντο überlieferte νόμω wird von Ritter II 347 verteidigt, der folgende Paraphrase gibt: „doch muß man dem Staatsmann die Freiheit lassen, das Herkommen (= νόμω) selbst durch Bestimmungen folgender Art zu regeln“ (ähnlich England, Taylor, Saunders). Dagegen ist einzuwenden, daß ein Dativ bei νο­ μοθετεί in der Regel nicht das Objekt einer gesetzlichen Regelung, sondern deren Empfänger (= Gesetzesadressaten) bezeichnet. Stallbaum faßt νόμω instrumental (,secundum νόμον* „entsprechend dem Herkom­ men“: Besser ließe sich der Text von O4 rechtfertigen, wenn man τω πο­ λιτικό) νόμω versteht als „dem für eine Polis bestimmten** oder „dem von einem Staatsmann erlassenen Gesetz** (vgl. 722e2, Resp. 424c5) im Gegensatz zum bloßen Herkommen (e6); zu νόμος als Subjekt von voμοθετεϊν vgl. 873a7-bl. 960al oder zu verbieten (ή μή), wäre gewiß unschicklich (άμορφου): Nämlich fiir den Gesetzgeber, unter dessen Würde eine solche Anord­ nung wäre (vgl. 800b, 807e, 846c). Stobaios hat ει fiir ή („wenn es [sc. das Klagen] nicht unschicklich ist**), das Brisson - Pradeau übernehmen. 960a 7 dem einen Gesetzeswächter (ένι των νομοφολάκων): Die von Saunders 1972, Nr. 125 S. 124 vorgeschlagene Einfügung von τω vor ένι wird durch 929a4 (ύπό ενός πατρός „von dem einen Vater**) als unnö­ tig erwiesen.

960b4 bereits im vorigen besprochen: Vgl. 873b. c. d, 909c, 947b3 ff.

D) 960b5-969d3: Die Erhaltung der Gesetze Den Schlußteil des Dialogs und den Schlußstein des Verfassungsent­ wurfes bildet die Einsetzung der Nächtlichen Versammlung. Wegen ihrer Relevanz fiir die politische Philosophie des späten Platon sollen vor der dem Text folgenden Einzelerklärung die wichtigsten Aspekte dieser Par­ tie in Auseinandersetzung mit den teilweise kontroversen Positionen der Forschung erörtert werden (zum folgenden vgl. bes. Morrow 1960a, 500-515 und 1960b, Piérart 1974, 209-234, Taran 1975, 19-36, Klosko 1988, Lewis 1998, Brisson 2001, Sier 2008).

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Die Nächtliche Versammlung als integraler Teil des Staatsentwurfs Die Auffassung, daß die Nächtliche Versammlung eine an den übrigen Dialog unorganisch angefugte Zutat darstellt (z.B. Bruns 1880, 192223, G. Müller 1951, 169, Barker 1960, 402 Anm. 3), hält genauerer Be­ trachtung nicht stand. Denn die Nächtliche Versammlung wird im Dialog nicht nur explizit erwähnt (908a4, 909a3-4; dazu 95Id 4—5 als σύλλο­ γος των περί νόμους έποπτευόντων), sondern bereits in dem Muster­ entwurf in Gestalt der ,Wächter4 (φύλακες 632c4) unmißverständlich angekündigt. Ferner wird in 818a die Notwendigkeit höherer mathemati­ scher Kenntnisse für eine Elite angedeutet, mit der nur die Mitglieder der Nächtlichen Versammlung gemeint sein können. Erwähnt sei auch der Versuch von Larivée (2003), den Dionysoschor, den schon Ritter II 350 als „Vorschule des νυκτερινός ξύλλογος44 bezeichnete, als den Ort zu erweisen, wo die Mitglieder der Nächtlichen Versammlung die musikali­ sche Ausbildung erhalten, die sie zur moralischen Steuerung der Bürger mittels des Chorgesangs benötigen (skeptisch hiergegen Laks 2005, 66 Anm. 13). Zur Rolle der Nächtlichen Versammlung im politischen System Ma­ gnesias hat Klosko (1988) die These vertreten, daß Platon mit der Ein­ führung der Nächtlichen Versammlung die in den ersten elf Büchern der Nomoi vertretene Forderung nach der Herrschaft der Gesetze aufgebe und zur Vorstellung des Philosophenkönigtums der Politeia zurückkehre. Sie läßt sich in dieser Form, wie Lewis 1998 gezeigt hat, nicht halten; vgl. auch die Ausführungen zur Funktion der Nächtlichen Versammlung (unten S. 579 ff).

Die Zusammensetzung der Nächtlichen Versammlung Die ,Nächtliche Versammlung4 (σύλλογος νυκτερινός 909a3-4 und 968a7) versammelt sich täglich zur Nachtzeit (νύκτωρ 908a4, 962c 10) oder in der Morgendämmerung bis zum Sonnenaufgang (951d7, 961b6) an einem Ort in der Nähe des Sophronisterion (908a). Der nächtliche Zeitpunkt wird 961b damit begründet, daß zu dieser Zeit die Mitglieder der Versammlung von persönlichen und öffentlichen Arbeiten frei sind. Vancamp (1993) sieht darin darüber hinaus eine literarische Reminiszenz an Aischylos, Eumen. 704-706, wo der Areopag als Wache bezeichnet wird, die zum Schutz der Schlafenden über das Land wacht (für den his­ torischen Areopag sind freilich keine Nachtsitzungen bezeugt). Die Mitglieder der Nächtlichen Versammlung wurden bereits 951d5e5 in einem Katalog aufgelistet, den der Athener in 961al-b6 rekapitu­ liert. Zwischen der Rekapitulation und dem ersten Katalog bestehen in­ haltliche Diskrepanzen, die zusammen mit den unterschiedlichen Benen­ nungen des Zeitpunktes manche Interpreten veranlaßt haben, zwei ver-

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schiedene Versammlungen anzunehmen; diese Hypothesen können nach den Ausführungen von Ritter II 348 ff., Reverdin 35 Anm. 2 und Morrow 1960a, 503 ff. als erledigt gelten. Die Diskrepanzen betreffen nur kleinere Details und lassen sich zwanglos damit erklären, daß der Athener aus dem Gedächtnis rekapituliert, wobei er selber eine gewisse Ungenauig­ keit der Rekapitulation einräumt (vgl. 961b8). Die beiden Kataloge nen­ nen folgende Personengruppen, die entweder kraft Amtes oder durch Kooptation Mitglieder der Nächtlichen Versammlung werden: A) 951d5-e5: 1) die Priester, die die höchste Auszeichnung (αριστεία) erhalten haben; 2) die jeweils 10 ältesten Gesetzeswächter; 3) der jetzige und die früheren Aufseher über die Erziehung; 4) jüngere Leute zwischen 30 A0 Jahren, die jeweils von den unter 1—3 genannten Personen als Begleiter mitgebracht werden und die sich unter den Augen der Stadt zu bewähren haben. B) 961al-b6: 1) die jeweils 10 ältesten Gesetzeswächter; 2) alle, die die höchste Auszeichnung (αριστεία) erhalten haben; 3) die Beobachter, die nach einer Prüfung als Mitglieder aufge­ nommen werden (vgl. 95 lc6ff.); 4) jüngere Leute über 30 Jahre, die als Begleiter der anderen Mit­ glieder in die Versammlung kommen und nach einer Eignungs­ prüfung zur Teilnahme an den Zusammenkünften zugelassen werden sollen. Der erste Katalog weist als ein scheinbares Plus den Aufseher über die Erziehung auf (A-3). Dieser kann jedoch im zweiten Katalog unter der Kategorie B-2 stillschweigend mitgemeint sein, weil er „unter den Bür­ gern der Stadt in jeder Hinsicht der Beste ist“ (766a7-8); vielleicht ist er — alternativ — auch unter den 10 ältesten Gesetzeswächtem mitzudenken, da er aus den Gesetzeswächtem gewählt wird (766b). Im zweiten Katalog wird der Beobachter, sofern er aufgrund seiner Verdienste in die Versammlung aufgenommen wird, als Mitglied aufge­ zählt (B-3), während er gemäß 951d4 bzw. 952b5ff. sich lediglich zum Rapport in diese Versammlung begeben soll, die ihn bei entsprechenden Verdiensten besonders „ehren“ soll (952c). Diese Diskrepanz erklärt sich ohne weiteres durch die Technik des erweiternden oder explizierenden Rückverweises (vgl. Bd. I zu 629d3), der die zuvor erwähnte Ehrung als Aufnahme unter die Mitglieder präzisiert. Ein Zusammenhang besteht sicherlich auch zwischen den Kategorien A-l und B-2. Da die anderen älteren Mitglieder (GesetzesWächter, Auf­ seher über die Erziehung) in der Regel mehrere Jahre der Versammlung

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angehören und so die für deren Tätigkeit notwendige Kontinuität sichern, kann es sich bei den unter A-l genannten Priestern kaum um die ge­ wöhnlichen* Priester handeln, da deren Amtszeit nur ein Jahr beträgt (759dl) und von einer Mitgliedschaft dieser Priester über ihre Amtszeit hinaus nicht die Rede ist. Vielmehr müssen mit diesen Priestern die Eu­ thynen gemeint sein, die Priester des Apollon und Helios sind (947a) und als die in jeder Hinsicht besten (946a 1-2) ihr Amt als höchste Aus­ zeichnung (αριστεία 946b5) erhalten haben (die Graphik in Bd. II 353 ist entsprechend zu berichtigen; vgl. die Corrigenda am Ende dieses Ban­ des). Der ähnliche Wortlaut von B-2 läßt zwar neben der Deutung auf die Euthynen auch die auf sonstige Träger der höchsten Auszeichnungen zu (vgl. Piérart 1974, 216-227), doch scheint unter der Prämisse, daß der zweite Katalog den ersten rekapitulieren will, die erste Deutung wahr­ scheinlicher; die allgemeinere Formulierung in B-2 gegenüber A-l ist vielleicht dadurch bedingt, daß in B-2 der Aufseher über die Erziehung mitgemeint ist. Die Ausführungen des Atheners zur Funktion der Nächtlichen Ver­ sammlung basieren allerdings nicht auf diesem Katalog, sondern auf der Unterscheidung zwischen älteren und jüngeren Mitgliedern (951d5). Die älteren sind die zehn Gesetzeswächter, die Euthynen, der Erziehungsmi­ nister und der Beobachter, deren Ämter ein Mindestalter von 50 Jahren voraussetzen), so daß sie frühestens mit 50 Jahren Mitglieder der Nächt­ lichen Versammlung werden können (wesentlich höher wird das Ein­ trittsalter der zehn ältesten Gesetzeswächter sein). Die Amtszeit der Ge­ setzeswächter endet mit dem 70. Lebensjahr (755a) und die der Euthynen mit dem 75. Lebensjahr (946c), die Tätigkeit des Beobachters mit dem 60. Lebensjahr (95Id); der Erziehungsminister ist fiir 5 Jahre gewählt (766b7). Da ein Weiterbestehen der Mitgliedschaft nach dem Ausschei­ den aus dem Amt nur für den Erziehungsminister ausdrücklich angege­ ben ist (95 le2), ist anzunehmen, daß die anderen Mitglieder mit dem En­ de ihrer Amtstätigkeit aus der Nächtlichen Versammlung ausscheiden. Die Ausnahmestellung des Erziehungsministers, der praktisch auf Le­ benszeit Mitglied ist, ist sowohl in der Kürze seiner Amtszeit (5 Jahre) als auch vor allem in der Bedeutung der Nächtlichen Versammlung für die Erziehung der Bürger (s.u.) begründet. Die jüngeren Mitglieder zwischen 30 und 40 Jahren werden von den älteren Mitgliedern in die Versammlung mitgebracht und dürfen mit dem Einverständnis der Versammlung an deren Zusammenkünften teilneh­ men (961bl-6). Unklar ist, ob die jüngeren Leute nach bestandener Eig­ nungsprüfung zu vollwertigen Mitgliedern werden und dies auch bleiben oder ob sie nach einer gewissen Zeit wieder ausscheiden (in Frage käme als Zeitpunkt das Ausscheiden oder der Tod ihres jeweiligen Mentors [so

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Morrow 1960a, 504]), so daß sie dann erst über die Wahl zum Gesetzes­ wächter die volle Mitgliedschaft erwerben können. Für die zweite Alter­ native (die auch Sier, 2008, 297 bevorzugt) spricht neben dem Wortlaut von 961b 1-4 (ττροσλαμβάνειν bezeichnet nur das Mitbringen, nicht die reguläre Mitgliedschaft) die Überlegung, daß bei der ersten Alternative die jüngeren Leute niemals ein hohes Regierungsamt bekleidet haben müßten, um Mitglied zu werden, und schließlich die Bestimmung, daß die ganze Bürgerschaft die Tüchtigsten unter ihnen besonders ehren soll (952b3), was auf ihre Wahl zum Gesetzeswächter gedeutet werden kann. Der Scheidung in ältere und jüngere Mitglieder entspricht eine Differen­ zierung ihrer Funktionen (dazu der folgende Abschnitt). Die bereits 632c4-dl vorgenommene Scheidung zwischen ,Wächtern6, die der Ein­ sicht (φρόνησις) folgen, und solchen, die von wahrer Meinung (άληθής δόξα) geleitet werden, wird unten S. 585 diskutiert werden).

Die Funktion der Nächtlichen Versammlung Aufgabe der Nächtlichen Versammlung ist die Erhaltung und Bewah­ rung (σωτηρία) der Gesetze und der Verfassung (vgl. 960e9, 961c6, 962b 1); sie wird daher auch bildlich als Rettungsanker der Stadt (961c5) oder als Wache (φυλακτήριον 962c7, φυλακή 964d7, 966c6, 968a6) bezeichnet; ihre Mitglieder sind ,Wächter6 (φύλακες 964d4, e2, 965c10, 966a7 wie schon 632c4), die in Abgrenzung von den Gesetzes­ wächtem als die „wirklichen Wächter der Gesetze66 bezeichnet werden (966b5). Die Erhaltung der Gesetze erfordert, daß die Nächtliche Versammlung das eine Ziel der Gesetzgebung, nämlich die Tugend, kennt (962a9963a4) und daß ihre Mitglieder „es mit der Tugend in Tat und Wort ge­ nauer nehmen als die große Menge66 (964d4—5), so daß sie nicht nur alle anderen in der Tugend übertreffen (964c5), sondern auch jeden über die Auswirkung der Schlechtigkeit und der Tugend aufklären können (964c2-3). Ebenso obliegt es ihnen, die im Sophronisterion inhaftierten Atheisten „zur Rettung ihrer Seele66 durch entsprechende Unterweisung von ihren Ansichten abzubringen (909a). Während diese Maßnahmen durch Erzeugung von „Gesetzestreue66 (εύνομία 960d3) in den Seelen mittelbar der Erhaltung der Gesetze die­ nen, ist die Erhaltung der Gesetze das unmittelbare Ziel der auf die Ge­ setze als solche gerichteten wissenschaftlichen Tätigkeit der Nächtlichen Versammlung. Gegenstand ihrer Zusammenkünfte sollen nämlich stets die Gesetze der eigenen Stadt und die Gesetze anderer Städte sein, über die sie durch den ,Beobachter6 informiert werden (952a); dieser bringt aus dem Ausland Beobachtungen mit, mit deren Hilfe die einheimischen Gesetze, sofern sie richtig sind, tiefer begründet (βεβαιούμενον) oder,

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wenn sie mangelhaft sind, verbessert (έπανορθούμενον) werden kön­ nen (951cl—2). Eine vergleichbare Arbeitsteilung herrscht zwischen den älteren und den jüngeren Mitgliedern (vgl. 964el-965a4): die Alten, die auf vielen Gebieten besondere Einsicht besitzen (φρονεΐν 965a2), be­ kommen von den Jüngeren Informationen über die Vorgänge in der Stadt, über die sie dann beratschlagen (βουλεύεσθαι 965a2); die Alten sind daher der Vernunft (dem Nus) vergleichbar und die Jüngeren den Sinnesorganen, die ihre Wahrnehmungen an das Denkzentrum weiterge­ ben (964el-965a4). Der Sinn dieses Zusammenspiels zwischen der Nächtlichen Versamm­ lung und den Beobachtern bzw. zwischen den älteren und jüngeren Mit­ gliedern kann nur der sein, daß die Nächtliche Versammlung, auch wenn dies der Text nirgends ausdrücklich sagt, bei der gegebenenfalls erforder­ lich werdenden Verbesserung und Anpassung der Gesetze an eine verän­ derte Situation irgendwie mitwirkt. Ihr kommt die Aufgabe zu, mit Hilfe eines Vergleichs zwischen einheimischen und fremden Rechtssystemen Korrekturvorschläge für den eigenen Gesetzeskodex zu entwickeln. Sol­ che Verbesserungen und Anpassungen der Gesetze werden in den Nomoi mehrfach gefordert, was an der zentralen Stelle 769a—771a in einem län­ geren Gedankengang theoretisch begründet wird (vgl. hierzu Bd. II 438 ff. und die dort angeführten weiteren Beispiele). Zwar besitzt die Nächtliche Versammlung als solche keine legislative Funktion; da ihr aber die 10 ältesten Gesetzeswächter angehören, ist in allen Fällen, in de­ nen die Gesetzeswächter zu „Gesetzgebern“ werden sollen, indirekt auch die Nächtliche Versammlung sowohl personell wie auch sachlich invol­ viert. Denn die 10 ältesten Gesetzeswächter werden bei ihren legislativen Maßnahmen kaum unbeeinflußt sein von den Beratungen in der Nächtli­ chen Versammlung, die ihrerseits bei diesen Beratungen von der Erfah­ rung dieser Beamten profitieren wird. Die Bewahrung der Gesetze impliziert also keineswegs eine starre Un­ veränderlichkeit der Gesetze. Schon 769d ff. wurde die Notwendigkeit von Verbesserungen der Gesetze gerade mit der Notwendigkeit ihrer Be­ wahrung begründet (vgl. 769e7 φυλάττειν καί έττανορθουν νόμους) und die mit den Ergänzungen und Korrekturen beauftragten Gesetzes­ wächter als „Bewahrer der Gesetze“ angeredet (σωτήρες νόμων 770b4). Unveränderlich ist allerdings das Ziel der Gesetzgebung, also die Tugend (770c u.ö.); für die Beibehaltung dieses vom Gesetzgeber vorgegebenen Ziels kommt der Nächtlichen Versammlung wegen ihres besonderen Wissens um die Tugend (962b4ff.) eine besondere Verant­ wortung zu. Sie erfüllt damit die Resp. 497c8—d2 erhobene Forderung, daß es im Staat immer etwas geben muß, das denselben λόγος (Begriff, Grundgedanken) der Verfassung festhält, den der Gesetzgeber bei der

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Aufstellung der Gesetze hatte. Erhaltung der Gesetze bedeutet also pri­ mär Bewahrung des Ziels der Gesetzgebung, während die Mittel zur Er­ reichung dieses Zieles bei Bedarf verändert und optimiert werden müs­ sen (mit dieser Auffassung modifiziere ich meine in Bd. II 440 und 442 vertretene Position einer prinzipiellen Unveränderlichkeit der Gesetze). Auf diese Weise räumt Platon dem Wissen, dem nach 875c kein Gesetz überlegen ist, eine Mitwirkung bei der konkreten Ausgestaltung der Ge­ setzesherrschaft ein. Die Erhaltung der Gesetze erfordert schließlich, daß das hierzu erforder­ liche Wissen jederzeit im Staat vorhanden ist. Die Nächtliche Versamm­ lung hat darum auch für die Ausbildung ihrer nachrückenden Mitglieder zu sorgen. Dies geschieht dadurch, daß die älteren Mitglieder die für das Verständnis der Gesetze erforderlichen Kenntnisse festlegen, die die jün­ geren Mitglieder sich anzueignen haben (952a). In einer Übergangsphase wird hierbei der Athener behilflich sein (968bff.; vgl. dazu unten). Verglichen mit der in der Politeia geforderten Herrschaft der Philoso­ phen bleiben die Funktionen der Nächtlichen Versammlung deutlich hin­ ter dieser zurück. Die Nächtliche Versammlung als solche übt keine Regierungsfimktion aus (es sei denn indirekt über die in ihr vertretenen Be­ amten). Sie ist aber ermächtigt zur verbindlichen Interpretation der Ge­ setze und des in ihnen niedergelegten Willen des Gesetzgebers, an welchem sich jede notwendig werdende Gesetzesänderung orientieren muß. Ihre Einsetzung bedeutet daher keinen Bruch mit dem Prinzip der Gesetzesherrschaft (so Klosko), sondern gerade eine Voraussetzung fiir deren Aufrechterhaltung. Zweck der „Übergabe“ (969b3 παραδοτέον) der Stadt an die Nächtliche Versammlung ist also nicht die Ausübung von Herrschaft, sondern die Aufsicht über die Gesetze und deren Bewah­ rung (vgl. 969c2-3 φύλακες und σωτηρίας).

Die spezielle Bildung der Mitglieder der Nächtlichen Versammlung Über die für alle Bürger Magnesias vorgesehene Schulbildung hinaus bedürfen die Mitglieder der Nächtlichen Versammlung zur Wahrneh­ mung ihrer Aufgaben einer „genaueren“ Ausbildung (965a6, bl). Denn sie müssen fähig sein, die Einheit der vier Haupttugenden in einer ,Zu­ sammenschau4 (συνιδείν 963c3, συνοραν 965bl0) und im Hinblicken auf die eine Ιδέα (965c2) zu erfassen (und anderen zu erklären) und von allem, was eine Definition (λόγον) besitzt, diese anzugeben (964a7—8, 967e4—5). Die vom Athener gebrauchten Begriffe verweisen auf die Dialektik, von der die Lösung der Frage nach der Einheit der vier Tugenden erwar­ tet wird. Dialektik ist die Kunst, das an vielen Orten Zerstreute durch Zu­ sammenschau (συνορώντα) in eine einzige Gestalt (,Idee4) zusammen­

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zufuhren (εις μίαν ιδέαν αγειν Phaidr. 265d3; vgl. Resp. 537c; vgl. Soph. 253d-e; Phil. 16d-17a). Dank der von ihr ermöglichten Wesenser­ kenntnis vermag der Dialektiker von einer Sache Rechenschaft zu geben (Resp. 53le, 534b) und das in vielen Einzelfallen sich manifestierende Wesen in eine Definition zu fassen (Phaidr. 265d). Höchstes Ziel der Dia­ lektik ist die Erkenntnis der Idee des Guten (Resp. 534b—c). Diese darf daher auch hinter der einen ιδέα (965c2), vermutet werden, auf die die Mitglieder der Nächtlichen Versammlung hinschauen sollen (vgl. unten zu 963al-965e2). Sie liefert ihnen die Norm, mittels derer sie die Fülle der ihnen vom Beobachter zugetragenen juristischen Regelungen prüfen und vergleichen können. Ein weiteres Wissensgebiet, das die Mitglieder der Nächtlichen Ver­ sammlung beherrschen müssen, ist die Theologie (966cIff.). Um die Existenz der Götter zu erkennen und sie den Skeptikern zu beweisen, gilt es das Wesen der Seele und die den Kosmos ordnende Kraft des Nus zu erfassen (966d9-e4, 967d4-el). Die hierzu notwendigen Disziplinen (μαθήματα 967e2), die sich die Mitglieder der Nächtlichen Versamm­ lung in einer das übliche Bildungsniveau übersteigenden Gründlichkeit anzueignen haben, sind die Astronomie und die dazugehörigen mathe­ matischen Wissenschaften. Die Rangfolge dieser beiden Disziplinen (Dialektik und Theologie) ist wohl so zu bestimmen, daß die Dialektik das höchste Wissen darstellt (dagegen ist für G. Müller 1951, 29 f. 78 die Theologie bzw. Astronomie die höchste Wissenschaft). Der Vorrang der Dialektik zeigt sich darin, daß die Dialektik als Methode der Wahrheitserkenntnis in 966a5-b8 auf das Schöne und Gute und alle „emstzunehmenden“ (σπουδαίων b4) Gegenstände ausgedehnt wird und daß die Theologie, auch wenn sie „mit allem Emst“ (σπουδή c2) dargelegt wurde, nur als „eines der schönsten Dinge“ eingeführt wird (cl). Einen tieferen Zusammenhang zwischen den beiden Wissensbereichen vermittelt die Idee des Guten. Denn das Gute ist sowohl das Ziel, wel­ ches der die Tugenden anführende (963a8) Nus anstrebt, als auch das Ziel der vom Nus hervorgebrachten kosmischen Ordnung, die auf die Verwirklichung des Guten hin angelegt ist (967a5) und durch welche, wie im 10. Buch ausgeführt, die mit jeder Tugend ausgestatteten und vollkommen guten Götter (900d) den Sieg der Tugend sicherstellen (904b). Beides, das Wissen um die auf das Gute hinzielende Tugend und das Wissen um die wohltätige Lenkung des Universums sind unerläßlich für den, der nicht nur in seiner Seele, sondern auch in der Bürgergemein­ de eine gerechte Ordnung herstellen soll (vgl. 967e). Der für die Mitglieder der Nächtlichen Versammlung anzunehmende Ausbildungsgang dürfte sich also in den ,Fächern4 (μαθήματα) nicht

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wesentlich von dem in der Politeia für die Philosophenherrscher vorge­ sehenen Studiengang unterscheiden. Dort folgt auf das mit dem 20. Le­ bensjahr beginnende Studium der Arithmetik, der Geometrie, der Stereo­ metrie und Astronomie sowie der Harmonie (Resp. 522b-531c) ab dem 30. Lebensjahr eine fünfjährige Ausbildung in Dialektik für die aufgrund einer Prüfung (537d5) als geeignet Ausgewählten (531c—534e). Zwi­ schen dem 35. und 50. Lebensjahr müssen die so Ausgebildeten politi­ sche Ämter übernehmen, um sich darin zu bewähren (539d—e). Mit 50 werden sie zur Schau des Guten selbst hingeführt, das sie sich zum Vor­ bild nehmen sollen, um dann, wenn die Reihe an ihnen ist, den Staat und ihre Mitbürger und ihr eigenes Leben in Ordnung zu bringen (540a—c). Unbestimmt bleiben in den Nomoi allerdings die Zeiten, in denen diese Fächer studiert werden müssen, da deren Festlegung ein jetzt noch nicht vorhandenes Wissen um die Gegenstände der einzelnen Fächer voraus­ setzt (968d4-e2). Ein Unterschied besteht auch darin, daß keine Lebens­ phase ausschließlich der theoretischen Ausbildung gewidmet ist, sondern Theorie und Praxis nebeneinander hergehen, weil die älteren Mitglieder der Nächtlichen Versammlung zugleich hohe Regierungsämter beklei­ den. Die nach einer Eignungsprüfung (961b) hinzuberufenen jüngeren Mitglieder zwischen 30 und 40 Jahren befinden sich zwar in dem Alter, in dem die Wächter der Politeia ausschließlich Dialektik treiben, doch ist es bei der großen Anzahl von Ämtern in Magnesia unwahrscheinlich, daß niemand von ihnen zugleich ein Amt ausübt; dies wäre auch gar nicht wünschenswert, da das magnesische System darauf angelegt ist, daß in die jeweiligen Ämter gerade die Besten gewählt werden. Alle genannten Bestimmungen über die Nächtliche Versammlung wei­ sen diese als eine spezifisch platonische Schöpfung aus. Daher führt auch die Suche nach historischen Vorbildern oder Anknüpfungspunkten zu keinem restlos überzeugenden Ergebnis. Piérart 1974, 234 vermutete (wie schon Zeller 1889, 966) eine pythagoreische Gemeinschaft, und zwar von Kroton. Gemet (1951, p. CV f.) dachte an die alten Adelsräte der griechischen Städte und speziell den Areopag, denen die antike Über­ lieferung eine Wächterfunktion und eine im wesentlichen disziplina­ rische Funktion zuschreibt. Eine nächtliche Versammlung (νυκτερινός σύλλογος) des Rates bezeugt Plutarch Quaest. Gr. 2 291E-292A für das äolische Kyme, in welcher über Verfehlungen der Könige in geheimer Beratung abgestimmt wurde; doch kann, wie Gemet 1951, p. CVI Anm. 1 zugibt, der Terminus auch auf das Konto des platonisierenden Plutarch gehen. Sicherlich ist es aber nicht abwegig, im Bildungsgang der Nächtlichen Versammlung einen Reflex der in der Platonischen Aka­ demie getriebenen Studien zu sehen.

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Der Weg zur Einsetzung der Nächtlichen Versammlung Als Konsequenz aus der vorausgegangenen Erörterung einigen sich die Dialogpartner auf ein Gesetz, demzufolge die Nächtliche Versammlung als Wächterin der Stadt fungieren soll, sobald sie die vorher besprochene Erziehung erhalten hat (968a). Die Einzelheiten dieser Erziehung lassen sich indes nicht im voraus festlegen. Denn zunächst muß eine Liste der nach Alter, wissenschaftlicher Befähigung und Charakter zur Mitglied­ schaft geeigneten Bürger aufgestellt werden, dann sind die zu lernenden Disziplinen (μαθήματα) auszuwählen und die Zeiten festzulegen, wann sie jeweils zu lernen sind, dies ist aber nicht möglich, ehe nicht in den Lernenden schon ein Wissen dieser Dinge entstanden ist (968c9-e5). Die in diesem Katalog vorgesehene Auswahl der Kandidaten scheint unvereinbar mit der in 951d-e und 961a vorgeschriebenen Mitglied­ schaft kraft Amtes. Die Schwierigkeit löst sich, wenn man annimmt, daß nach der Fiktion des Dialogs zunächst der Athener aus den Kolonisten geeignete jüngere Bürger auswählt und diese in einem langen Beisam­ mensein (μετά συνουσίας πολλής 968c6) und mit Unterstützung ande­ rer Helfer (b7) solange in den erforderlichen Wissenschaften schult, bis in ihrer Seele ein Wissen von dem Lemgegenstand entstanden ist (968e2). Diese fungieren dann als Nächtliche Versammlung und erhalten vom Gesetzgeber den Auftrag, ihrerseits die Ausbildung der jüngeren Mitglieder in die Hand zu nehmen, indem sie die Bildung, die sie selbst erhalten haben, an die Jüngeren weitergeben. Diese Jüngeren werden zu Vollmitgliedern der Nächtlichen Versammlung aber erst dadurch, daß sie aufgrund ihres guten Rufes (952b 1) im Alter von 50 oder mehr Jahren zu Gesetzeswächtem gewählt werden und eines Tages in die Gruppe der 10 ältesten Gesetzeswächter vorrücken oder in das Amt eines Aufsehers über die Erziehung oder eines Euthynen gewählt werden (vgl. die For­ mulierung 966dl, die von einer Wahl unter die GesetzesWächter, nicht von Auslesen spricht). Es handelt sich also um eine Übergangsregelung, wie sie auch 752d ff. vor der regulären Wahl der Gesetzeswächter vorge­ sehen ist, nur mit dem bezeichnenden Unterschied, daß dort der Athener eine Beteiligung an der Gründung ablehnt, während er hier, wo es um Fragen der Bildung geht, seine Mitarbeit zusagt. Diese (ähnlich schon von Susemihl 1857f. Anm. 881 vertretene) Lösung unterscheidet sich von anderen Vorschlägen (Taran 1975, 22, Sier 298 f.) darin, daß sie die erstmalige Ausbildung der Kandidaten dem Athener und nicht den Mit­ gliedern der Nächtlichen Versammlung zuweist. Damit vermag sie am besten zu erklären, warum der Athener in 968b8 auf seine Erfahrung und seine Forschungen auf dem Gebiet der μαθήματα hinweist und überdies 969a2 eine Darlegung seiner Ansichten über die Erziehung ankündigt (eine sprachliche Stütze kann man in der Formulierung in 969b8 εάν

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ήμίν ... έκλεχθωσι παιδευθωσί τε sehen, in der ήμΐν am plausibelsten als Dativus auctoris aufgefaßt wird). In dieser Scheidung zwischen den bereits im Besitz des Wissens be­ findlichen älteren Mitgliedern und den noch auszubildenden jüngeren Wächtern dürfte auch die in 632c erwähnte Scheidung zwischen Wäch­ tern, die von Einsicht (φρόνησές), und solchen, die von wahrer Meinung (αληθής δόξα) geleitet werden, ihren Grund haben. Die älteren Wächter sind dem Nus vergleichbar, weil sie besonders zum φρόνειν fähig sind (965a2); ihr Wissensvorsprung gegenüber den jüngeren zeigt sich in der (für den Dialektiker charakteristischen) Fähigkeit, von einer Sache Re­ chenschaft zu geben (λόγον διδόναι 968al); diese Fähigkeit erlernen die jüngeren durch Belehrung (διδαχή) und Lemgegenstände (μαθή­ ματα), die die wahre Meinung schrittweise in Wissen überfuhren. Diese Deutung, die die Grenze innerhalb der Nächtlichen Versammlung zwi­ schen den älteren und jüngeren Mitgliedern verlaufen läßt (so z.B. auch Taran 1975, 21 Anm. 71), scheint mir unproblematischer als die von Saunders (1962, 46 und 49) und Sier (2008, 293) vorgeschlagene, wo­ nach mit den von Einsicht geleiteten Wächtern die der Nächtlichen Ver­ sammlung angehörenden zehn ältesten Gesetzeswächter und mit den von wahrer Meinung geleiteten Wächter die anderen Beamten bzw. die übri­ gen 27 Gesetzeswächtem gemeint sind.

960c5—dl die Benennungen der Moiren usw.: Die Erhaltung der Geset­ ze und deren Sicherung gegen Veränderungen wird mythologisch veran­ schaulicht durch die Tätigkeit der drei Moiren (= Parzen in der römi­ schen Mythologie), die das unabänderliche Schicksal verkörpern. Die Moiren wurden vielfach als Spinnerinnen des Lebensfadens vorgestellt, wobei der Anteil der einzelnen Moiren an dieser Tätigkeit in den mytho­ logischen Darstellungen der Antike ziemlich variiert (vgl. Eitrem 1932, 2479 ff.); die Namen lassen vermuten, daß Klotho das eigentliche Spin­ nen (κλώθειν) ausfuhrt, Lachesis für die Zuteilung des Lebensloses (λαχειν) und Atropos als die ,Unabwendbare4 in irgendeiner Weise für das unabwendbare Ende des Lebensfadens verantwortlich ist. Platon läßt im Schlußmythos der Politeia zur Harmonie der Sirenen Lachesis vom Geschehenen, Klotho vom Gegenwärtigen und Atropos vom Künftigen singen, wobei sie alle von Zeit zu Zeit die Spindel der Notwendigkeit be­ rühren (617c). Nach der Lebenswahl gibt Lachesis jeder Seele den von dieser gewählten Dämon als Vollstrecker des Gewählten mit; der Dämon fuhrt, um das gewählte Schicksal gültig zu machen (κυρουντα ήν λαχών είλετο μοίραν), die Seele zunächst zu der die Spindel drehenden Klotho und dann, um das Zugesponnene unumkehrbar zu machen (αμετάστροφα τα έπικλωσθέντα ποιουντα), zur Spinnerin Atropos (620d—e).

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Im vorliegenden Kontext wird die Unwandelbarkeit der Gesetze veran­ schaulicht durch die Unmöglichkeit, den von den Moiren abgewickelten Schicksalsfaden wieder zurückzuwickeln (άμετάστροφον c9). Atropos ist hier als „dritte RetterinÆrhalterin“ (τρίτην σώτειραν) das Pendant zum „dritten Retter“ Zeus, durch den alles ein gutes Ende findet (vgl. zu 692a3).

960c8-dl: Diese Passage ist textkritisch die problematischste Passage der Nomoi, die zu vielen Konjekturen Anlaß gegeben hat. Meiner Über­ setzung wurde folgender Text zugrunde gelegt: το είναι (...) τήν Άτροπον δή τρίτην σώτειραν των ληχθέντων άπηκασμένην τή των κλωσθέντων τω άτράκτω τήν άμετάστροφον άπεργαζομένγι δύναμιν. Er basiert auf folgenden Überlegungen: 1) Da die Erklärung der Namen der Moiren unabhängig vom vorlie­ genden Kontext gültig sein muß, kann των λεχθέντων (c8) weder die in b5 aufgezählten Tätigkeiten meinen noch die in den Nomoi formulierten Gesetze; denn dann würde die in dl—6 vorgenommene Übertragung der Unwandelbarkeit vom Gesponnenen auf die Gesetze hier in ungeschick­ ter Weise vorweggenommen. De Ley 1973, 238 faßt offenbar unter Beru­ fung auf Hygin, Fab. 171 λεχθέντων als das von Lachesis und Klotho Gesagte, das von Atropos als unabänderlich besiegelt werde; doch gibt dies Hygins Text nicht her. Lisi versteht unter λεχθέντων allgemein den ,Spruch6 des Schicksals (zu den sprechenden Moiren vgl. Eitrem 1932, 2483 f.). Beide Deutungen vertragen sich aber nicht mit dem Bild des Spinnens; vor allem liefern sie kein Etymon für den Namen der Lachesis, wie dies anschließend κλωσθέντων für den Namen Klotho und άμε­ τάστροφον für den Namen Atropos tun. Ich übernehme daher das von Bekker konjizierte ληχθέντων („Erlöstes“), auch wenn dieses Passiv ge­ wöhnlich nur mit dem Subjekt δίκαι vorkommt. 2) Da auf τή kein zugehöriger Dativ folgt, müßte ein solcher, wenn man ohne Textänderung auskommen will, sinngemäß aus dem Kontext ergänzt werden. In Frage käme nur σωτείρα (zu entnehmen aus σώτειραν των ληχθέντων), doch ergäbe sich dann eine unschöne Doppelung einer Erhalterin des durch das Los Bestimmten und einer Erhalterin des Gesponnenen. Da andererseits der Genitiv Plural άπεργαζομένων Schwierigkeiten macht (Apelt 549 Anm. 77 erwägt einen freischweben­ den, auf die Moiren zu beziehenden Genitivus absolutus), übernehme ich Asts Änderung in den Dativ άπεργαζομένη. 3) Am natürlichsten ist es, das Kolon τή ... άπεργαζομένη δύναμιν auf Atropos zu beziehen, da es offensichtlich das Etymon von Atropos liefert (άμετάστροφον άπεργαζομένη δύναμιν). Dann muß der dem Kolon vorausgehende Plural άπηκασμένα mit Diès in den Sing. fern.

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άπηκασμένην geändert werden, was möglicherweise der armenischen Übersetzung zugrunde liegt (Conybeare 1924, 139). Der Plural άπηκασμένα ließe sich nur halten, wenn man ihn auf προσρήματα (c5) und das fragende ποια δή (c6) des Kleinias bezieht (so u. a. Apelt 549 Anm. 76, G. Müller 1951, 128 Anm. 3); das Syntagma άπηκασμένα + Dativ τη κ.τ.λ müßte dann (analog zu Kratyl. 419c6-7 ,,Άχθηδών“ άπγικασμένον το ονομα τω της φοράς βάρει) als das gemeinsame Etymon aller drei Namen das Bild einer Frau angeben, die dem Gespon­ nenen Dauer verleiht (vgl. Resp. 620d—e, wo jede der Moiren an der Fi­ xierung der Schicksalswahl beteiligt ist). 4) Das von fast allen Herausgebern und Interpreten durch Konjektur beseitigte τφ πυρί (,durch Feuer4) verteidigt Hack 1936, 183 f. als einen Hinweis auf die schicksalhafte Macht der Sterne; eine solche Bedeutung liegt aber in diesem Kontext ziemlich fem. - De Ley 1973, 238 verteidigt τφ πυρί mit Bezug auf die Sage von Meleager, dessen Leben an einem Holzscheit hängt, das seine Mutter von der Moira erhalten hat und das sie später aus Zorn über die Tötung ihrer Brüder ins Feuer wirft und so den Tod Meleagers herbeiführt (nach Phrynichos Fr. 6 Nauck = TrGF I 3 F 6). Bei dieser Deutung wäre das Feuer zwar ein Mittel zur Besiegelung des Lebensloses, aber kein Mittel zur Erhaltung, sondern zur Vernich­ tung und Zerstörung. — Dusanic 2002, 343—344 mit Anm. 13 sieht im Feuer eine Metapher fiir eine politische Revolution, zu der die Mitglieder der Nächtlichen Versammlung notfalls bereit sein müssen, um die kor­ rupten Verhältnisse in Athen zu beseitigen. Diese Interpretation basiert auf der problematischen Prämisse, daß Platon mit den Nomoi in die ak­ tuelle zeitgenössische Politik eingreifen wollte. — Ferrari — Poli verbin­ den wie Pegone τφ πυρί als Dativus auctoris mit άμετάστροφον: „una forza immutabile al fiioco“. Zur Stütze dieser Deutung ließe sich Pindar Fr. 232 Maehler anführen: „das vom Schicksal bestimmte wird kein Feuer und keine eherne Mauer aufhalten“. Gegen diese auch von mir zu­ nächst erwogene Deutung spricht entscheidend die Wortstellung. Von den fiir τφ πυρί vorgeschlagenen Konjekturen ergibt zwar Her­ manns σωτηρία in Verbindung mit άπηκασμένα einen guten Sinn („Benennungen, die der Erhaltung des Gesponnenen nachgebildet sind“), doch bleibt dann rätselhaft, wieso σωτηρία durch das unvers­ tändliche τφ πυρί verdrängt werden konnte. Ich habe mich daher mit ei­ nigem Zögern wie Lisi fiir den Vorschlag von Saunders (1972, Nr. 126) entschieden, der τφ άτράκτω konjiziert und in τφ πυρί eine durch den Mythos der Politeia verursachte Glosse sieht, durch welche τφ άτράκ­ τω verdrängt wurde. Eine Alternative hierzu wäre das von Bury (im Hin­ blick auf κυρουντα Resp. 620e3) vorgeschlagene τφ κύρει (das Fer­ nandez — Pabon-Galiano übernehmen); Bury zieht es als Objektsdativ zu

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απεργαζομένη („bestowed on the dooms ratified by Clotho the qualitiy of irreversibility“); da aber ein Dativ bei άπεργάζεσθαι aber in der Re­ gel ein Instrumentalis ist, wäre etwa zu übersetzen: „einer Frau, die durch Gültigmachen des Gesponnenen dessen unwandelbare Stärke hervor­ bringt“ oder „die durch ihre Entscheidung die unwandelbare Stärke des Gesponnenen hervorbringt“. - Diès 1914, 243 konjizierte τω τρί(τω) („au troisième tour“), das er auch in der Budé-Ausgabe (1956) druckt (Brisson - Pradeau übergehen es in ihrer Übersetzung). 960dl—4 Ebenso (& δη) muß man auch einer Stadt usw.: Da σωτη­ ρίαν in 960b7 Objekt zu έξευρεΐν (das zu Suchende) ist, dürfte σωτη­ ρίαν (und die mit ihm verbundenen Akkusative) auch hier Objekt zu παρασκευάζειν sein (α δή fasse ich als Akkusativ der Beziehung; vgl. Kühner - Gerth 1310 Anm. 6).

960d7 vorausgesetzt, daß es auch möglich ist, einen Weg zu finden, wie jedem Besitzstück so etwas zuteil werden könnte: Ich folge wie Hermann, Stallbaum und Post 1939, 105 dem Text von A3O3 (καί statt μή und κτήματι το). Der positive Bedingungssatz läßt sich stützen durch 821d5, 966a4. Gegen Englands Ergänzung von νόμω zu παντί spricht, daß die Gesetze im Kontext durchweg im Plural genannt werden und daß mit dem überlieferten κτήματι ein passender Dativ zur Verfügung steht (vgl. auch κτήσασθαι 960b6). Der von Burnet und Diès gebotene Text wäre zu übersetzen: „da erwähnst du einen großen Mangel, wenn es wirklich nicht möglich wäre, einen Weg zu finden, wie jedem (Ding) ein solches Besitzstück zuteil werden könnte“. 961a6 von entscheidender Bedeutung: Ich übernehme das in A2 und O4 überlieferte έγκαίριον (vgl. Tim. 51d2; Wilamowitz 1920, II 406). Ein Bezug des in AO überlieferten εν auf das metaphysisch-abstrakte Ei­ ne (Dönt 1967, 13 Anm. 9) ist im Zusammenhang mit dem Beobachter wenig wahrscheinlich. 961a6 die wohlbehalten nach Hause zurückgekehrt sind (σωθέντας): Das Verbum drückt aus, daß sie unverdorben zurückkehren (im Gegen­ satz zum διεφθαρμένος 952c5); so auch Einarson 1958, 98.

961b2 nach Naturanlage und Erziehung: Vgl. zu diesen beiden Fakto­ ren 735b7-cl. 961b3 dann den jungen Mann den andern vorstellen: Varvaro 1967, 2098 bemerkt richtig, daß είσφέρειν hier nicht konkret „in die Ver­ sammlung hineinfiihren“ bedeuten kann, da dann die Abweisung vor dem Betroffenen nicht geheim zu halten wäre (fiir είσφέρειν im Sinne von ,vorschlagen, eine Eingabe machen4 vgl. 772c2). Maßgebend fiir die Entscheidung der Versammlung ist die Beurteilung des jungen Mannes

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durch seinen Mentor, der sein Urteil der Versammlung mitteilt, τοις άλλοις (b5 „vor allen anderen“) muß die anderen Bürger und nicht (wie άλλους und άλλοις b3-4) die andern Mitglieder der Nächtlichen Ver­ sammlung meinen. 961c5 wie einen Anker der ganzen Stadt: Die Ankermetapher (vgl. auch Tim. 73d5) setzt den Vergleich des Staates mit einem Schiff voraus, der auch 758a und 945c gezogen wird (weiteres zum Schiff als Bildspen­ der bei Louis 1945, 217 ff.).

961d7—10 Weil in der Seele unter anderem die Vernunft wohnt, im Kopf aber neben anderem das Gesicht und Gehör usw.: In der Seele ,wohnen6 neben der Vernunft auch irrationale Kräfte. Sowohl die Ver­ nunft (bzw. nach Tim. 69c der unsterbliche und vernünftige Seelenteil) als auch Auge und Ohr haben ihren Sitz im Kopf (vgl. 964d—e). Auge und Ohr sind die edelsten Sinnesorgane, weil sie nach Tim. 45a7ff. „Werkzeuge“ für die fürsorgliche Voraussicht (πρόνοια) der Seele sind. 961e8ff welches Ziel sich die Feldherren setzen müssen usw.: Jede Techne erfordert eine spezielle Vernunft (νους), die sich auf diese Techne versteht und deren spezifisches Ziel kennt; so gibt es je nach Fachge­ biet einen κυβερνητικός, ιατρικός, στρατηγικός und einen πολιτικός νους (961el, 962b7, 963a-b). Das Wort σκοπός bezeichnet das Ziel als den Punkt, den man ins Auge fassen (σκοπειν) muß (den Terminus τέ­ λος gebraucht Platon in diesem Sinn nur Prot. 354b7 und Gorg. 499e8). Zu den Techne-Analogien zur Politik vgl. die Anm. zu 709b2-3.

962b5—8 das erstens das erkennt, wovon wir sprechen, das Ziel ..., und das sodann erkennt, auf welche Weise dieses Ziel zu erreichen ist: Zur Unterscheidung zwischen Ziel und Weg bzw. Mittel zum Erreichen des Ziels vgl. z.B. 717a, 743c-744a, 752d, 770c und schon Gorg. 467c468b, 507d—e. 962d4—5 daß man ... darauf sozusagen alle Geschosse abschießt, zur Metapher des Schießens vgl. 705e, 717a, 934b4, Resp. 519c2-3, Phil. 23b8 sowie Louis 1945, 23 und 217. 962d8—9 weil die Gesetzgebungen in jeder Stadt jeweils ein anderes Ziel im Auge haben: Im folgenden werden als Beispiele für wachsende Verkehrtheit zunächst (1) drei Fälle genannt, in denen eine Stadt zwar ein einziges, aber ein verkehrtes Ziel verfolgt, nämlich (a) Herrschaft gewis­ ser Leute ohne Rücksicht auf ihre moralische Qualität, (b) Herrschaft der Reichen auch um den Preis der Sklaverei, (c) ein vermeintlich freies Le­ ben. Dann folgt (2) der Fall, daß eine Stadt gleichzeitig zwei Ziele (Frei­ heit und Herrschaft über andre) verfolgt, und zuletzt (3) der Fall, daß sie alle möglichen Ziele verfolgt, weil sie kein festes Ziel kennt. Zu (la-c) ist

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zu vergleichen 714b ff., 715b7ff. und 701a ff; zu (2) 687a7-8, 694a4-5 und zu (3) Resp. 519b—c: mehr als einen Zweck im Leben und Handeln zu verfolgen, ist die Art von Ungebildeten und der Wahrheit Unkundigen.

962e6— 7 die Weisesten, wie sie sich selber dünken: Weisheit erscheint in den Nomoi öfters als eingebildete Weisheit oder Schläue: vgl. 649b, 679c, 691a, 701a, 732a, 863c, 886d, 888e, 890a, 952c6.

962e8 nicht aber nur eines: Ich schiebe mit Stephanus vor ούδέν ein ού ein (ebenso Diès); Stallbaum ergänzt statt ού ein zweites, durch Haplographie ausgefallenes ούδέν. Die Alternative wäre die Tilgung von εις vor εν (Stephanus, Ast): „weil sie nicht ein besonders geschätztes Ei­ nes angeben können, auf das alles andere bei ihnen hinblicken müßte“ (störend ist dann allerdings δέ beim Partizip).

963al—965e2: Die dialektische Methode des „Zusammenschauens“ (963c3) exemplifiziert der Athener am Problem der Einheit der Tugen­ den. Sie besteht darin, sowohl das Eine zu erkennen als auch die Dinge, in denen das Eine vorhanden ist (963c3), und das Viele auf das Eine hin zusammenzuschauen (965b7—c3). Entsprechend müssen die Mitglieder der Nächtlichen Versammlung erklären können, warum die vier Tugen­ den von einander verschieden sind und daher vier verschiedene Namen erhalten haben und warum andererseits jede von ihnen mit dem einen Wort ,Tugend4 (αρετή) bezeichnet wird (963d4—7); letzteres erfordert das Erkennen dessen, was durch die vier Tugenden hindurch „dasselbe“ bleibt und als Eines mit dem einen Namen Tugend bezeichnet wird (965c9-d3). Erstaunlicherweise führt der Athener dann neben dem Einen noch weitere Möglichkeiten der Einheit der Tugenden ein, indem er Klä­ rung darüber verlangt, ob das anzuvisierende Ziel Eines oder ein Ganzes oder beides oder wie auch immer geartet ist (965d6—7) und ob die Tu­ gend eine Vielheit oder eine Vierheit oder eine Einheit ist (965el-2). Da sich der Athener nicht auf eine Antwort festlegt, endet der Passus letztlich aporetisch. Das seit dem Protagoras diskutierte Problem der Einheit der Tugenden (vgl. Prot. 328d ff. 349e ff., Men. 72a ff., Resp. 427d-434d, Pol. 306a ff.) bleibt also offen. Im Protagoras wurden 329c—e folgende Hypothesen über die Einheit der Tugend vorgetragen (dazu Centrone 2004 und Manuwald 2005): 1) Sind (unter der Prämisse, daß die Tugend Eines ist) Gerechtigkeit, Besonnenheit und Frömmigkeit (a) Teile der einen Tugend oder (b) nur verschiedene Namen für dieselbe Sache? 2) Wenn Gerechtigkeit, Besonnenheit und Frömmigkeit (nach Auffas­ sung des Protagoras) Teile der Tugend sind, sind sie dann in der gleichen Weise Teile (a) wie Mund, Nase usw. Teile des Gesichtes sind, oder (b) wie Stücke Goldes Teile von einem größeren Stück Gold sind?

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3) Ist es möglich, (a) nur einen Teil der Gesamttugend zu besitzen, oder (b) besitzt man, wenn man einen Teil der Tugend besitzt, zwangs­ läufig auch alle anderen Teile? Die Vorstellung la), daß die Einzeltugenden Teile der Tugend als eines Ganzen sind (vgl. auch Lach. 197e ff.), spielt in den Nomoi in der eigent­ lichen Diskussion keinerlei Rolle, sondern wird erst ganz am Ende ganz beiläufig durch die Erwähnung des ολον im Katalog möglicher Lösun­ gen (965d6) eingeführt (nach Centrone 93 ff. geht Platons eigene Auffas­ sung gerade dahin, daß die Tugend ein Ganzes oder besser ein EinesGanzes, d.h. eine organische und einheitliche Totalität sei). Die Diskus­ sion in den Nomoi kreist vielmehr um die Hypothese 1b), die der Athener in 965dl mit φαμεν als seine eigene Auffassung hinstellt. Im Protago­ ras wird diese Hypothese zwar von Sokrates formuliert, darf aber nicht als dessen eigene Überzeugung aufgefaßt werden (vgl. Centrone 96 ff, Manuwald 1999, 71. 245. 429 und 2005, 123); die antike Doxographie (Diogenes Laert. 2,106 bzw. 7,161) schreibt sie vielmehr Eukleides und den Megarikem zu, die lehrten, daß das Gute bzw. die Tugend eines seien, aber mit vielen Namen benannt würden (= Nr. II A 30 und 32 Giannantoni). Beispiel für die Verschiedenheit der Tugenden sind in den Nomoi Tap­ ferkeit und Einsicht (963c9, el—8). Hatte Sokrates im Protagoras gerade deren Identität als Formen des Wissens demonstriert (Prot. 350a-c, 359c-360d), so begründet der Athener jetzt deren Verschiedenheit damit, daß die Tapferkeit eine logos-freie naturhafte Tugend ist, die auch bei Tieren und bei Kindern zu beobachten ist, während Einsicht ohne λόγος nicht denkbar ist (963e). Da Kinder noch keine Einsicht besitzen (vgl. 653a—b), nähert sich der Athener damit der von Protagoras vertretenen und von Sokrates bekämpften Position (329e), daß man eine Tugend auch getrennt von den andern besitzen kann (= 3 a). Diese Sonderstellung als logosfreie Tugend war der Tapferkeit schon im Tugendkatalog 631c zugewiesen worden, wo sie hinter den drei Tu­ genden Einsicht (φρόνησις), Besonnenheit und Gerechtigkeit rangiert, die alle ein Element der Vernunft enthalten. Die Tapferkeit wird aber zu einer „vernunftgemäßen“ Tugend, wenn sie zusammen mit den anderen Tugenden „auf den Nus blickt“ (631d2-6; vgl. Bd. I 185). Diese Formu­ lierung wird hier 963a8-9 von Kleinias wiederholt und zugleich gegen­ über 63Id leicht variiert: Hieß es dort, daß die „göttlichen Güter“ (d.i. die Tugenden einschließlich der φρόνησις) auf den Nus schauen, so hier, daß der Nus Führer von „all diesen“ (πάντων τούτων 963a8) sei und daß von diesen „die drei“ auf den Nus schauen müssen. Der Nus ist also Führer von allen Tugenden und selbst eine der vier Tugenden. Ihm kommt damit eine ähnliche Position zu wie dem ,Denkvermögen" (λο­

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γιστικόν) in der Seelenlehre der Politeia (vgl. Manuwald, 2005, 130). Dieses ist ein Teil der Seele und trägt zugleich Sorge für die ganze Seele (Resp. 44 le), indem es weiß, was für jeden der drei Seelenteile (also auch für die logosfreie Tapferkeit) und für die Seele im ganzen nützlich ist (442c5—8); ähnlich läßt sich auch das Paradox des Protagoras erklären, daß das Wissen einerseits ein Teil der Tugend (330a2 ff., 353b 1-3), ander­ seits die ganze Tugend ist (361b); vgl. Manuwald 129f., Centrone 101 f., der in Anm. 33 ausdrücklich eine Verbindung zu Nom. 963a8 zieht. Die im Hinblicken auf den Nus sich vollziehende Einheit der Tugen­ den hat ihren transzendenten Grund in dem Einen, worauf der Nus sei­ nerseits hinblickt. Dieses seit 963al0 gesuchte Eine wird allerdings in den Nomoi nicht näher bestimmt. Vor dem Hintergrund der Politeia darf es aber mit einiger Wahrscheinlichkeit als das Gute selbst aufgefaßt wer­ den, das hier als das Eine erscheint, das es durch die Dialektik der Einheit und Vielheit zu erfassen gilt. Die ,genaueste6 Methode hierfür ist der Blick vom Vielen auf die eine Ιδέα (965c2, vgl. Resp. 596b7, Phaidr. 265d3) in diesem Fall auf die Idee des Guten (den von fast allen Ausle­ gern angenommenen Bezug auf die Ideenlehre bestreitet G. Müller 1951, 26ff.; nach Stalley 1983, 21 hat die Ideenlehre keine Bedeutung für die Nomoi).

963al—2 unser Grundsatz richtig, Fremder, den wir vor langem aufge­ stellt haben: Zuerst 630e ff., dann 688a ff., 705d, 770b ff. u. ö.

963a8—9 auf welche demnach alles andere und so auch die drei übri­ gen Tugenden den Blick zu richten hätten: Als Rekapitulation des 63Oe ff. Gesagten gefaßt, müßten mit „alles andere“ die vier menschlichen Gü­ ter (Gesundheit, Schönheit, Kraft, Reichtum) gemeint sein; die Worte können aber auch als Hinweis auf die Führerschaft des Nus über die To­ talität des Seienden (967d-e) verstanden werden. 963all—bl Von der Vernunft des Steuermannes und des Arztes und des Feldherrn haben wirja bereits gesagt: In 961 e—962a. 963c3 Was meint ihr aber dazu, daß man sich bemühen muß usw.: Nachdem Kleinias und Megillos das Eine nicht bestimmen konnten, fragt der Athener nicht nochmals nach dem Einen, sondern führt die Überle­ gung weiter, indem er die Notwendigkeit einer dialektischen Zusammen­ schau des Einen und seiner Manifestationen feststellt. Diesen Zusam­ menhang verfehlt Englands Deutung des οτι als ,indirect interrogative6, der auch Ferrari — Poli folgen.

963d4 voneinander unterscheiden: Da es darum geht, inwiefern sich Tapferkeit und Einsicht voneinander (und nicht von den übrigen Tugen­ den) unterscheiden, muß αύτοΐν durch das Reflexivum αύτοίν ersetzt

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werden (Richards 1911, 254; vgl. Kühner - Gerth I 573 f.). Saunders’ Vorschlag (1972, Nr. 128 S. 127), αύτοΐν als einen auf alle vier Tugen­ den bezogenen Genitivus partitivus zu τούτω τα δύο zu ziehen, schei­ tert schon daran, daß dann statt des Dualis der Plural αύτών stehen müß­ te. 963e2—6 das eine als Tapferkeit, das andere als Einsicht usw.: Die Tapferkeit, die als Ankämpfen gegen Furcht zu verstehen ist (vgl. 633cd, 647c, 649c, 791b-c), ist hier (wie die Besonnenheit 710a und 831e7) eine Physistugend im Sinne des Politikos (306a—308b). Zur vemunftlosen Tapferkeit und ihrem Verhältnis zum , intellektualistischen6 Tapfer­ keitsbegriff der früheren Dialoge (bes. Prot. 349d ff., Phaid. 68c ff., Resp. 430b-c, Pol. 306a ff.) vgl. Görgemanns 1960, 114 ff. sowie den Komm, zu 710a5. 963e8 da dies etwas ganz anderes ist: Unter „dies“ ist ,wisdom6(Eng­ land), d. h. φρόνησις und νους zu verstehen, die nicht (wie die Tapfer­ keit) angeboren sind. Ritter II 355 erwägt alternativ eine Beziehung auf λόγος: „als ob dieser etwas von φρόνησις und νους Verschiedenes wä­ re“.

964a5: Zur Unterscheidung von όνομα (Name) und λόγος (Erklä­ rung, Definition) vgl. den Komm, zu 895cl-896a4. Die Forderung, daß die Mitglieder der Nächtlichen Versammlung neben dem Namen die De­ finition eines Dinges kennen müssen, zielt ebenfalls auf die dialektische Methode. Schon eine verständige Namensgebung erfordert den gleich­ zeitigen Blick auf das ungleiche Viele und auf die in allen vorhandene ei­ ne Art (öpöcv έν αύτοΐς εν γένος ένόν ... πασι Tim. 83c vom Arzt, der der Galle ihren Namen gab). Dies gilt auch für die Definition (λόγος), die die ουσία des mit dem Namen benannten Dinges angibt (vgl. 895c 1—896a4); um dieses Ding zu definieren, muß ich sowohl das ihm mit andern Dingen Gemeinsame als auch sein Spezifikum erkennen, was ein dihairetisches Erfassen der Struktur der Wirklichkeit voraussetzt (vgl. Soph. 221a7ff.; dazu Heitsch 1997, 141-151). Dem Dialektiker er­ möglicht die Kenntnis der Definition, selber die Wahrheit einer Sache zu erfassen und anderen davon Rechenschaft zu geben (λόγον διδόναι Resp. 534b, vgl. Nom. 966b 1, 968al). In dieser Fähigkeit des λόγον διδόναι unterscheidet sich die Einsicht (φρόνησις) von der richtigen Mei­ nung (ορθή δόξα); vgl. Men. 98a, Theait. 201c-d.

964b4 Siegespreise: Vgl. zu 731b 1.

964b8—c6 die Ausleger, die Lehrer, die Gesetzgeber, die Wächter über die andern usw. : England sieht in den Auslegern die Funktion der Mit­ glieder der Nächtlichen Versammlung beschrieben. Das Substantiv έξη-

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γηταί bezeichnet jedoch in den Nomoi stets die 759d—e gewählten offi­ ziellen Exegeten. Daß diese als Fachleute für die bei einer Befleckung (z.B. durch Kapitalverbrechen) erforderlichen Reinigungsriten Auskunft über die (befleckende) Wirkung bestimmter Manifestationen der Schlechtigkeit zu geben haben, erscheint durchaus plausibel, nicht zu­ letzt auch im Hinblick auf die Relevanz der Religion für das sittliche Ver­ halten (vgl. 885b). Das Kolon „die Wächter über die anderen“ betrachte ich als explikative Apposition zu den drei vorausgehenden Substantiven. - Burnet und Diès drucken den Text ohne das in c2 von später Hand ein­ gefügte δει; der Infinitiv ist dann als Infinitiv des Ausrufs zu betrachten (vgl. Kühner - Gerth II23).

964c 1—2 der ... bestraft und zurechtgewiesen werden muß: Lisis Auf­ fassung, daß έπιπλήξαι hier aktiv zu verstehen sei (Anm. 116 z. St.), ist nicht zwingend, da es im Griechischen möglich ist, mit einem passiven einen aktiven Infinitiv in passiver Bedeutung zu verbinden (vgl. Kühner -GerthII 15 Anm. 13). 964c4—6 Oder soll statt dessen irgendein Dichter usw. : Zur Rivalität zwischen Dichter und Gesetzgeber auf dem Gebiet der Erziehung vgl. 810b ff., 858c ff.

964el—6 so, daß die Stadt selbst den Rumpf (κύτος) bildet usw. : κύ­ τος ist der Teil des Körpers zwischen Kopf und Nabel. Der Kopf ist Sitz der Vernunft und von Auge und Ohr (vgl. 961d7-10).

965a4—7 Soll diese nun nach unserer Meinung so oder irgendwie an­ ders eingerichtet werden usw. : Da der Passus auf 964d3—7 zurückgreift, ist wegen κεκτημένη (964d7) auch in 965a6 κεκτημένην mit Bezug auf die Stadt zu schreiben (vgl. Wilamowitz 1920, II 406). Diese ist dann auch als grammatisches Subjekt zu dem passiven κατασκευάζεσθαι hinzuzudenken (anders England). — Für διηκριβωμένους (a6) überneh­ me ich das von Stephanus konjizierte διηκριβωμένως. 965b4 die wir eben gestreift haben: D. i. die in 963a—964a angedeutete dialektische Methode.

965b7 Haben wir nicht gesagt, der auf einem Gebiet jeweils vollkom­ mene Handwerker und Bewahrer einer Sache müsse fähig sein, nicht nur aufdas Viele seinen Blick zu richten usw. Vgl. 96 le—962a. Der δημιουρ­ γός, der auf das Eine seinen Blick zu richten hat, darf nicht auf den Ge­ setzgeber eingeengt werden (so England), sondern meint generell den Handwerker (vgl. Resp. 596b7 προς την ιδέαν βλέπων vom Handwer­ ker sowie Nom. 903c).

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965c2 von dem Vielen und Ungleichartigen aus auf eine einzige Urge­ stalt (πράς μ(αν ιδέαν) hinzublicken: Zur paradigmatischen Funktion der Idee (Urgestalt) vgl. Resp. 596b7 προς τήν ιδέαν βλέπων; zur Ter­ minologie vgl. auch Pol. 308c6-7 von der Webkunst des Staatsmannes.

965c9—10 Wächter unserer göttlichen Staatsverfassung: Göttlich ist die Staatsverfassung, weil das Gesetz als Verkörperung des Nus göttlich ist (vgl. 716a, 957c). 965d6 ob es wie Eines oder wie ein Ganzes oder als beides oder wie auch immer es seiner Natur nach beschaffen ist: Ähnliche mehrgliedrige Disjunktionen, die das Wesen der gesuchten Sache umkreisen, ohne sich auf eine Erklärung festzulegen, gebraucht Platon auch 899a, Phaid. 100dl-2 und Resp. 612a3^4. Die hier angedeutete Problematik reflek­ tiert die verschiedenen Möglichkeiten, das Verhältnis der Idee (,Tugend4) zu der Vielheit der Erscheinungen zu bestimmen (zum Unterschied zwi­ schen dem unteilbaren Einen und dem Teile enthaltenden Ganzen vgl. Parm. 137c4f£). 965e3—4 Also werden wir, sofern wir unserem eigenen Rat folgen wol­ len, es irgendwie bewerkstelligen müssen, daß dieses Wissen in unserer Stadt vorhanden ist: Der Übersetzung liegt das überlieferte ούκουν und die Variante άμώς γέ πως (A3, O3) zugrunde (ebenso Susemihl, Rufener und Lisi); τούτο wurde verdeutlichend mit „dieses Wissen44 übersetzt. Der Text von Burnet und Diès wäre zu übersetzen: „Gewiß nicht (ούκουν), jedenfalls wenn wir unserem eigenen Rat folgen wollen, sondern wir werden es dann auf irgendeinem anderen Wege (άλλως δέ πως) be­ werkstelligen müssen, daß dies (nach England und Saunders 1972, Nr. 129 S. 128 = die Tugend) in unserer Stadt entsteht44.

965e5 so müssen wir es eben beiseite lassen: Ich folge dem Text von Diès, der Baiters εάν übernimmt (vgl. Gorg. 458b2—3: ει δέ και δοκεΐ χρήναι εάν, έώμεν ήδη χαίρειν). εάν δή χρεών wird durch Kleinias’ έατέον (e6) aufgenommen. 968a4, worauf Burnet verweist, bietet keine Parallele, da die Wendung όράν δή χρεών dort am Satzanfang steht und δή folgernde Funktion hat. 966b8 das, was auf schöne Weise geschieht und was nicht, nach des­ sen wirklicher Natur beurteilen: Ritter II 356 schlägt alternativ vor, τά μή κατά φύσιν zusammenzunehmen als „nicht naturgemäß44 im Gegen­ satz zu τά καλώς γιγνόμενα. Von den Parallelen, die Ritter hierfür an­ führt, enthält aber nur eine den Gegensatz von μή κατά φύσιν und ορθως.

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966c8—d2 niemals einen unter die Gesetzeswächter wählt: Gemeint sind nicht die Mitglieder der Nächtlichen Versammlung, sondern die re­ gulären Gesetzeswächter; vgl. dazu oben S. 584.

966d2 die wegen ihrer Tugend auserlesenen Männer: Ich übersetze das von Dindorf vorgeschlagene εγκρίτων, das auch Varvaro 1967, 2118 billigt. 966d5 wenn man ... einen, der aufsolch einem Gebiet untätig oder un­ fähig ist, weit von dem Schönen absondert: Sie dürfen sich also nicht mit den schönen Gegenständen befassen, die das Objekt des Wissens der Mitglieder der Nächtlichen Versammlung sind (vgl. 964bl, 966a5, cl). Lisi und Pangle fassen των καλών als ein Maskulinum („von den schö­ nen = guten/edlen Menschen“), das referenzidentisch mit den „wegen ih­ rer Tugend auserlesenen Männer“ (d2) ist. Aber für diese wäre των κα­ λών im Hinblick auf 838a6 eine zumindest mißverständliche Bezeich­ nung. Vgl. auch zu 967c5—7. 966d7 die wir in unserem früheren Gespräch durchgegangen sind: Im 10. Buch.

966d9—e2 daß sie das älteste und göttlichste von allen Dingen (πάν­ των) ist, deren (ων) Bewegung, das Werden hinzunehmend, ein ewig strömendes Sein (άέναον ουσίαν) hervorgebracht hat: Der Genitiv πάντων, den England, G. Müller 1951, 40 Anm. 1, Vallejo Campos 1996, 41 und andere komparativisch auffassen, ist m. E. ein echter Su­ perlativ (so auch Vlastos 1965, 414 Anm. 1, Hackforth 1965, 441, Gu­ thrie 1978, 366f., Lisi, Brisson - Pradeau, Pangle, Ferrari — Poli). Zwei­ fellos superlativisch ist 896b (ψυχή των πάντων πρεσβυτάτη) und wohl auch 967d6; komparative Funktion eines Superlativs liegt nur dann zweifelsfrei vor, wenn der Träger des Superlativs eindeutig kein Teil der mit dem Genitiv bezeichneten Menge sein kann wie 969a7f. (worauf sich England also zu Unrecht beruft; vgl. auch Kühner - Gerth I 23). Der kryptische Relativsatz, der in 967d6 in der einfacheren Formulierung „(von allem,) was des Werdens teilhaftig wurde“ rekapituliert wird, läßt mehrere Deutungen zu: (1) Syntaktisch am natürlichsten ist die Verbin­ dung des Pronomens ών mit κίνησις (ebenso die Übersetzer Susemihl, Pegone, Lisi, Ferrari - Poli), κίνησις müßte dann sowohl die (aktive) Selbstbewegung der Seele (da diese unter πάντων ών mit inbegriffen ist) wie die (passive) Bewegung der Körper umfassen; die von der Seele initiierte Kette dieser Bewegungen bringt eine αέναος ούσία hervor, d.h. das pulsierende* Dasein alles Gewordenen (Gegensatz dazu ist der Stillstand: 895a-b). (2) G. Müller 1951, 40 Anm. 1 faßt ών als ein an πάντων attrahiertes οις, das Dativobjekt zu έπόρισεν ist (an den von

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ihm angeführten Parallelen 717el, 721d5 liegt allerdings die weniger harte Attraktion eines instrumentalen Dativs vor); in diesem Sinn über­ setzt Wilamowitz 1920, I 550 Anm. 1: „das Göttlichste von dem, wel­ chem die Bewegung (Selbstbewegung) unter Heranziehung des Werdens ewiges Sein verliehen hat“; ebenso Diès und Brisson - Pradeau, die aber κίνησις mit „leur mouvement“ wiedergeben. (3) Schließlich läßt sich der Genitiv ών mit άέναον ουσίαν verbinden (so Vallejo Campos 1996, 41), was sich sachlich mit der vorigen Deutung deckt. - Das partizipiale Kolon γένεσιν παραλαβουσα wird vielfach als „nachdem sie entstan­ den war“ verstanden (so z. B Diès, Brisson - Pradeau, Pangle). Die Be­ deutung von παραλαβείν („übernehmen, zu Hilfe nehmen“, vgl. dazu 897a5) spricht aber eher dafür, daß γένεσιν nicht den Prozeß der Entste­ hung, sondern ein universales Prinzip bezeichnet, das Vallejo Campos 41 mit dem präexistenten Werden von Tim. 52d3 identifiziert, das als kausa­ ler Faktor im kosmischen Prozeß wirksam ist (zum Verhältnis zwischen γένεσις und ουσία vgl. auch Chemiss 1977, 309ff. = 1957, 236ff.).

966e2—4 Das andere ist die Regelmäßigkeit im Umlauf der Gestirne und alles anderen, worüber die Vernunft herrscht, die das All geordnet hat: Vgl. 896d-899b. 967a 1—5 Die denken nämlich, daß diejenigen, die sich mit solchen Dingen befassen, durch die Astronomie ...zu gottlosen Menschen wür­ den: Vgl. die 821a erwähnten Vorbehalte der Masse gegen die Astrono­ mie und die Gegenthese des Atheners, daß die Astronomie gerade vor unfrommen Ansichten über die Götter bewahre (822b-c). Bedenken äußert auch der xenophontische Sokrates gegen die Erforschung der Himmelsphänomene, weil sie zu ,Verrücktheiten4 wie denen des Anaxa­ goras fuhren könne (Xenophon, Mem. 4,7,6), der wegen Asebie verklagt wurde (vgl. zu 967b4-c5).

967a2—3 die mit ihr verbundenen unentbehrlichen Fachwissenschaf­ ten: Nämlich Geometrie, Stereometrie und die Harmonik (als Lehre von den der kosmischen Ordnung zugrundeliegenden Zahlenverhältnis­ sen): Resp. 526c—531c; vgl. Bd. II 344ff. 600ff. (zu 746d3-747dl und 817e5—819a7). 967ä3 die Dinge weitestgehend (ώς οίόν τε) durch Notwendigkeit ent­ stünden: Ich folge dem Text von Burnet (so auch England, Pangle, Lisi und Ferrari — Poli); Diès druckt Apelts ώς οίονται (1901, 21); Pabon — Femândez-Galiano tilgen ώς οιόν τε als kritische Glosse eines christli­ chen Lesers.

967a4—5 durch Notwendigkeit ..., nicht aber durch die Überlegungen eines Willens, die auf die Verwirklichung des Guten aus sind: Tajlx ,blin­

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den4 Notwendigkeit vgl. 889a—e; zum Guten als Ziel der Weltordnung 903b-904c; Phaid. 97c ff. Tim. 29d-30c. Für den Gegensatz von ανάγ­ κη und διάνοια erscheinen auch andere Termini, z.B. Soph. 265c7-9 από τίνος αίτιας αύτομάτης και άνευ διάνοιας ή μετά λόγου τε καί επιστήμης θείας από θεού γιγνομένης oder Tim. 48a: ανάγκη — έπι τό βέλτιστον άγειν.

967α 7 Es verhält sich, damit wie gesagt (οπερ ειπον), jetzt genau um­ gekehrt usw.: Lisi bezieht den Verweis auf 821a—822c; näher liegt aber 966e6 (vgl. τουναντίον). 967b2 von denjenigen unter ihnen, die sich um genauere Kenntnis be­ mühten: Statt αύτων mit ακρίβειας zu verbinden („die deren Genauig­ keit zu erfassen vermochten44), fasse ich αυτών als einen von όσοι ab­ hängigen Partitivus, der mit οί διανοούμενοι (a8) referenzidentisch ist. Der um Genauigkeit bemühte Personenkreis dürfte aus Leuten wie dem 966e4—5 erwähnten Fachmann bestehen. 967b3 Berechnungen von so wunderbarer Genauigkeit: Zum Aus­ druck θαυμαστόν εις ακρίβειαν vgl. Euthyd. 288a6. Mit den Berech­ nungen sind wohl die Forschungen des Eudoxos von Knidos gemeint (vgl. 820e-822d und Bd. II 621 ff), der die scheinbar unregelmäßigen Bewegungen der Planeten auf die Kreisbewegung zurückführte, welche für Platons kosmologisches Denken mit der Bewegung und den Berech­ nungen der Vernunft4 (897c5-6) verwandt ist (vgl. 897d-898c).

967b4—c5 Ja, einige hatten den Mut, eben diese Behauptung schon da­ mals zu wagen, indem sie sagten, daß es die Vernunft sei, die alles am Himmel geordnet habe (ώς νους εΐη ό διακεκοσμηκώς πάνθ’ οσα κατ ουρανόν): Dies zielt vor allem auf den Naturphilosophen Anaxa­ goras, der die Ansicht vertrat, daß die Vernunft die Welt aus dem ur­ sprünglichen Chaos gebildet habe; die Formulierung zitiert (wie Phaid. 97c 1-2) fast wörtlich die These des Anaxagoras πάντα διεκόσμησε νους (Vors. 59 B 12 [II 38,11]). In der Einzelerklärung beschränkte sich Anaxagoras allerdings auf mechanische Ursachen (vgl. Phaid. 98b—99a); das Universum betrachtete er als eine Ansammlung von Steinen (vgl. hier c4) und die Sonne als eine glühende Masse, was ihm eine Klage we­ gen Asebie einbrachte (Vors. 59 A 1, 8 und 12; vgl. Apol. 26d) und An­ laß für das Psephisma des Diopeithes (432 v.Chr.) gewesen sein soll (Plutarch, Perikl. 32,2; vgl. auch zu 821a2-5). Zum Bild des Anaxagoras im Phaidon und in den Nomoi vgl. Babut 1978. 967c 1—2: Zu άνατρέπειν εαυτόν „sich selbst widerlegen, sich wider­ sprechen44 vgl. Euthyd. 286c4.

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967c2—dl Denn vor ihren Augen schien alles, was sich am Himmel be­ wegt, eine Masse von Steinen und Erde und vielen anderen unbeseelten Stoffen zu sein usw.: Vgl. 886d—e. Zur Textgestaltung: die Kommata, die Burnet und Diès hinter έφάνη und φερόμενα setzen, sind mit England zu tilgen. 967c5— 7 Dies war es, was damals viele gottlose Überzeugungen her­ vorrief und Widerwillen, sich mit solchen Gegenständen zu befassen: England, Bury, Schofield (1971, 9), Babut (1978, 69 Anm. 86) fassen των τοιούτων als Maskulinum auf: „dies war es, was damals zu vielen gottlosen Überzeugungen führte und dazu, daß sich Unbeliebtheit an sol­ che Leute heftete“. Da jedoch zwingende Indizien für eine Beziehung auf Personen fehlen, ziehe ich die Auffassung als Neutrum vor; Phil. 14d6 und Nom. 891d8 ist των τοιούτων als Ergänzung von απτεσθαι eindeutig Neutrum. 967c7—dl und so überkam die Dichter die Lust zu Schmähungen, in­ dem sie diejenigen, die philosophierten (φιλοσοφουντας), mit Hündin­ nen verglichen, die ein nutzloses Gekläff von sich gäben (ματοα'οας χρωμένοασιν ύλακαΐς), und noch zu sonstigen unsinnigen Äußerun­ gen: Der Athener gibt hier der materialistischen Lehre der früheren Na­ turphilosophen die Schuld an der objektiv unberechtigten Verspottung der Philosophierenden (= sich um Weisheit Bemühenden) durch die Dichter. Sein anschließender Hinweis auf die Umkehrung der Verhältnis­ se (dl—2) nimmt hingegen die jetzigen, zur Frömmigkeit hinführenden Naturforschungen (967b3) gegen die Dichter in Schutz. — Als Zeugnisse für den „alten Streit zwischen Philosophie und Dichtung“ zitiert Sokrates Resp. 607b Worte eines unbekannten Dichters (wahrscheinlich des Mi­ mendichters Sophron), der die Philosophie mit einer gegen ihren Herrn kläffenden Hündin (λακέρυζα χύων) vergleicht. Auf diesen Vergleich dürfte auch der Athener anspielen, was auch dadurch nahe gelegt wird, daß das Substantiv κύων hier wie Resp. 607b als Femininum gebraucht ist, während Platon es gewöhnlich als Maskulinum verwendet (Friedlän­ der 1928/30, III 515 Anm. 101 verweist auf Sophron Frg. 6 Kaibel: κύων προ μεγαρέων μέγα ύλακτέων als Vorbild für die Nomoi-Stelle).— Das Verbum φιλοσοφεΐν kommt in den Nomoi nur hier und 857d2 vor (das Nomen φιλόσοφος überhaupt nicht; 967e2 verbirgt sich die Philo­ sophie vielleicht unter dem Wort μούσα). — In dl verdient die Konjektur αλλα τε αύ ανόητ’ είπειν von R. Stark (1962, 284 f.) Beach­ tung: „und noch zu sonstigen unsinnigen Äußerungen dieser Art“.

967d4—968a4 Es ist nicht möglich, daß jemals einer von uns sterbli­ chen Menschen zu einer dauerhaften Verehrung Gottes gelangt, wenn er usw.: Der Abschnitt zählt als Voraussetzungen auf: (1) Wissen um den

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Vorrang der Seele vor dem Körper; (2) Wissen um die Rolle des Nus im Weltall; (3) Aneignung der hierfür notwendigen Vorkenntnisse; (4) Fä­ higkeit der Zusammenschau dieser Kenntnisse und ihre Nutzbarmachung für Erziehung und Gesetzgebung; (5) Fähigkeit, eine Definition/Erklärung von allem zu geben, was eine Erklärung zuläßt. Die ersten beiden Fähigkeiten werden als Basis für dauerhafte Frömmigkeit eingeführt; die andern werden dagegen in 968al 4 zusammengefaßt als Voraussetzun­ gen für das Amt eines Herrschers (αρχών) über die Stadt, d.h. für die Mitgliedschaft in der Nächtlichen Versammlung (die a7 als Versamm­ lung των αρχόντων bezeichnet wird). Den Übergang von der Theologie zur Politik (und von der Theorie zur Praxis) vollzieht die 4. Forderung; auch die 5. Forderung hat einen praktischen Bezug, denn die Mitglieder der Nächtlichen Versammlung müssen den Bürgern diese Erklärungen vermitteln können (vgl. 964b—d). Vgl. zu dieser Verschiebung Görge­ manns 1960, 221 f. 967d6—7 was am Werden Anteil bekommen hat: Chemiss 1944, 431 Anm. faßt γονής aktiv auf: „all that partake of the power of generation“. Aber γονή ist gleichbedeutend mit γένεσις (vgl. Kriti. 121 c4 πάντα όσα γενέσεως μετείληφεν). Zum Gewordensein der Seele vgl. S.414 zu 896a5—d9. Zu ihrer Unsterblichkeit (αθάνατον) vgl. 904a8 άνώλεθρον.

967el die Vernunft alles Seienden erfaßt hat, von der wir sagten usw. : Ich folge dem Text von Burnet (ebenso Pangle, Lisi, Pegone, Ferrari Poli). Wegen des unschönen zweimaligen είρημένον verdient aber Diès’ Konjektur Beachtung, der fiir τον τε είρημένον (A O) unter Verweis auf Epin. 986e τον τε ηγεμόνα schreibt („die Vernunft in den Sternen als Führerin des Seienden“); zum Nus als Führer vgl. 963a8 und 631d5. Brisson — Pradeau erwägen, τον είρημένον neben ήγεμόνα zu halten: „un intellect appelé le guide des êtres“.

967e 1—2 die hierfür zuvor erforderlichen Lerngegenstände: Tajl den αναγκαία μαθήματα vgl. 967a2—3, Phaidr. 268e6, 269b7ff. 967e2—3 ihre auf der Muse beruhende Gemeinsamkeit zusammen­ schauend erfaßt hat: Unter der Muse versteht Chemiss 1953, 377 Anm. 1 (unter Verweis auf Resp. 499d3-4, 548b8-cl, Krat. 406a3-5, Phaid. 61a3-^l, Phil. 67b6, Pol. 309d2-3) die Philosophie und übersetzt: „ha­ ving got a synoptic view ... of what is common to all the propaedeutic sciences when considered philosophically“ (ebenso Görgemanns 1960, 222, Tarân 1975, 27 Anm. 113, Saunders 1972, Nr. 130, Hentschke 1971, 303 Anm. 272, Lisi II 342 Anm. 139 und 1975, 355). Andere halten an der musikalischen Bedeutung der Muse fest: Stallbaum, England („scien­ ce of harmony“), Taylor („music“), Wilamowitz 1920,1 550 f. („die Har-

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monie der Sphären“), G. Müller 1951 (21968), 205 f. („Koordinierung der staatlichen Chor-Paideia mit den mathematischen Wissenschaften“), Diès („science musicale“), G. Hoffmann 1966, 68 („der Wächter muß den Zu­ sammenhang zwischen Propädeutik und musischer Erziehung kennen“), Pangle 508 (Theologie als eine Art von Musik). Stalley 1983, 134f. favo­ risiert den Bezug auf die Philosophie, hält aber auch die musikalische Deutung für möglich, da auch die Musik die Ordnung des Universums wi­ derspiegeln könne (ähnlich Gaiser 1986, 106 Anm. 23). Brisson - Pradeau II 376 Anm. 181 sehen unter Berufung auf Resp. 499d, Pol. 309d in der Muse eine metonymische Bezeichnung für die Fähigkeit des Politikers zur Überredung durch das Wort. Eine sichere Entscheidung zwischen die­ sen Deutungen ist nicht möglich; immerhin spricht die Formulierung κα­ τά τήν μούσαν (= aufder Muse beruhend) gegen Deutungen, die von ei­ ner Verbindung der Wissenschaften mit der Muse (Musik) ausgehen; auch der Bezug auf die musische Erziehung ist problematisch, da die Muse ge­ mäß dem Wortlaut die Basis der Zusammenschau und nicht das Medium ihrer Vermittlung ist. Von einer Zusammenschau der Wissenschaften ist auch Resp. 53 7c 1 -3 die Rede, wo gefordert wird, daß die zunächst zusammenhanglos (χύδην) dargebotenen Lemgegenstände (μαθήματα) nun für die Zwanzigjährigen zusammengeführt werden müssen zu einer Zu­ sammenschau der gegenseitigen Verwandtschaft dieser Wissenschaften (μαθήματα) und der Natur des Seienden (τά ... μαθήματα συνακτέον εις σύνοψιν οίκειότητος άλλήλων των μαθημάτων και τής τού οντος φύσεως); eine solche Zusammenschau ist der Prüfstein für die Befä­ higung zur Dialektik, die zur Ideenerkenntnis hinführt (537c-d). Vor die­ sem Hintergrund gewinnt die Deutung von Chemiss an Wahrscheinlich­ keit. Die Gemeinsamkeit (τά τής κοινωνίας = τήν κοινωνίαν Stallbaum ζ. St.) der propädeutischen Wissenschaften ist ihr philosophisches Poten­ tial als Hinführung zur Dialektik, zu der neben der Zusammenschau auch die anschließend erwähnte Kenntnis der Definition gehört. 968al—2 zu den bürgerlichen (δημοσίαις) Tugenden: Diese Tugenden gehören einer höheren Stufe an als die 710a5 genannte ,volkstümliche4 (δημώδης) Tugend, die als angeborene naturhafte Tugend gewiß nicht zur Mitgliedschaft in der Nächtlichen Versammlung ausreicht. Die δη­ μοσία άρετή darf wohl mit der δημοτική von Phaid. 82all, Resp. 500d8 gleichgesetzt werden (Görgemanns 1960, 133).

968a4—b4 Wir müssen also jetzt zusehen ..., ob wir nunmehr zu all den vorgetragenen Gesetzen, die wir durchgegangen sind, auch dieses hinzufügen sollen, daß usw.: Die Frage des Atheners und die emphati­ sche Zustimmung des Kleinias (b3) können m. E. nur so verstanden wer­ den, daß das Gesetz über die Einsetzung der Nächtlichen Versammlung

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damit beschlossen ist. Verfehlt scheint mir daher die Annahme von Ta­ ran, daß erst die Mitglieder der Nächtlichen Versammlung dieses Gesetz verabschieden (1975, 22 Anm. 83). Von diesem Gesetz zu trennen ist das in c5 (νομοθετειν) angekündigte Gesetz, das die Erziehung oder die Be­ fugnisse der Nächtlichen Versammlung regelt. 968b5—d7 So wollen wir denn auf ein derartiges Ziel alle um die Wette hinarbeiten usw.: Das Verständnis dieser Partie wird erschwert durch die unklare Referenz des mehrfach verwendeten anaphorischen τοιαύτα. Mir scheint folgende Auffassung am wahrscheinlichsten. Die vom Athe­ ner in b5ff. geforderten Anstrengungen betreffen nicht die Einsetzung der Nächtlichen Versammlung, die in wichtigen Details schon 95 Id ff. und 961a ff. besprochen und gerade eben (968a4—b4) durch ein Gesetz beschlossen worden ist, sondern zielen auf die in bl geforderte Bildung. Nur dann ist die Berufung des Atheners auf seine Erfahrung und For­ schungen sinnvoll (vgl. auch den 886b ff. und 892e herausgestellten Wissens- und Erfahrungsvorsprung des Atheners). Demnach dürften un­ ter περί τα τοιαύτα (b7—8) Fragen der Bildung und Erziehung zu ver­ stehen sein (was durch 969a2—3 gestützt wird). Wenn Kleinias zur Eile drängt und wissen möchte, welches Verfahren das richtige sei (blO—c2), geht es ihm aber vermutlich weniger um die theoretische Ausbildung als um die praktische Durchführung der bereits beschlossenen Einsetzung der Nächtlichen Versammlung und die genauere Bestimmung ihrer Be­ fugnisse (vgl. England zu bl 1 ; G. Müller 1951, 30 bezieht dagegen τρό­ πος auf beides: die Befugnisse und wissenschaftliche Bildung). Die Ant­ wort des Atheners (c3-7) besteht aus drei Aussagen: 1) Über „derartige Dinge“ (περί των τοιούτων c3-4) ist keine Ge­ setzgebung möglich, bevor nicht die Versammlung eingesetzt ist (κοσμηθή c4). 2) Dann erst lassen sich die Kompetenzen gesetzlich festlegen, über die sie verfugen müssen. 3) Jetzt (ήδη) besteht die richtige Vorbereitung „derartiger Dinge“ (τοιαύτα κατασκευάζον) in Belehrung (διδαχή) und langem Zusam­ mensein (c6—7). Wenn Aussage (1) unmittelbar an die Frage des Kleinias anknüpft und diese die Einsetzung der Versammlung und ihre politischen Befugnisse betrifft, müßte περί των τοιούτων die Details dieser Einsetzung betref­ fen; Aussage (2) wird dann am besten auf die ,Kompetenzen6 im Sinne politischer Befugnisse bezogen (so offenbar Lisi II 343 Anm. 141). Dann hätte περί των τοιούτων (c3^4·) allerdings einen andern Sinn als περί τα τοιαύτα (b7-8), das sich dort auf Bildungsfragen bezieht. In Aussa­ ge (3) könnte τοιαύτα κατασκευάζον dann pauschal die Einsetzung der Versammlung meinen.

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Nimmt man dagegen fiir die beiden Pronomina b7—8 und c3-4 Refe­ renzidentität an, dann betrifft Aussage (1) die Ausbildung der Mitglieder der Nächtlichen Versammlung und wird am besten mit Aussage (3) ver­ bunden; τοιαύτα κατασκευάζον (c6) meint dann nicht die Einsetzung der Nächtlichen Versammlung, sondern die Schaffung ihrer bildungsmä­ ßigen Voraussetzungen. Das richtige Verfahren hierzu, meint der Athener in (3), könnte jetzt nur Belehrung in langem Beisammensein sein (vgl. die Übereinstimmungen in der Formulierung des Kleinias τίς ο τρόπος ήμίν γιγνόμενος όρθώς γίγνοιτ αν bl 1—cl und des Atheners διδαχή ... γίγνοιτ’ αν, εί γίγνοιτο όρθώς c7); der Athener korrigiert damit die Intention des Kleinias, der vermutlich nach dem richtigen Verfahren der Einsetzung und nicht nach der Ausbildung gefragt hatte. In jedem Fall stellt sich aber die Frage nach dem Sinn der Aussage (2). Viele Ausleger (z. B. G. Müller und Chemiss) beziehen ών c5 auf die Kenntnisse, die die Mitglieder erwerben müssen (den von Lisi z. St. vermißten Beleg fiir κύ­ ριος + Gen. eines Wissensgegenstands bietet 665d4 κύριοι ωδών; vgl. G. Müller 1951 [21968], 194 Anm. 2). Mir scheint aber auch die Deutung als Befugnisse möglich; denn über die Befugnisse der Nächtlichen Ver­ sammlung wurde bisher nichts Konkretes gesagt (ich habe in der Über­ setzung daher das zweideutige Wort „Kompetenzen“ gewählt).

968b7 neben mir werde ich vielleicht auch noch andere (ετέρους) fin­ den: Dies kann so verstanden werden, daß bei der Koloniegründung Mit­ glieder der platonischen Akademie als Helfer (vgl. συλλήπτωρ b6) das geforderte Wissen mitbringen (Wilamowitz 1920,1 542 Anm. 1, Morrow 1960a, 508, Guthrie 1978, 373). Zu den sicher bezeugten politischen Ak­ tivitäten von Platonschülem vgl. Trampedach 1994, der allerdings zu dem Ergebnis kommt, daß diese Platonschüler weder ein spezifisch „pla­ tonisches Profil“ aufwiesen noch eine einheitliche politische Linie ver­ folgten (144 ff.); danach sind meine vor Erscheinen von Trampedachs Arbeit formulierten Bemerkungen in B. I 132f. mit einem Fragezeichen zu versehen.

968b 10—11 diesen Weg gehen, auf dem uns sogar die Gottheit selber führt: Weil die Götter einer der höchsten Wissensgegenstände für die Nächtliche Versammlung sind (vgl. 966c ff.). 968c4—5 dann erst läßt sich gesetzlich festlegen, über welche Kompe­ tenzen sie verfügen müssen (τότε δε κυρίους ών αύτούς δεϊ γί­ γνεσθαι νομοθετεϊν): Der Infinitiv νομοθετεί ν ist von δυνατόν έστιν (c4) abhängig. Die meisten Übersetzer verstehen den Satz in dem von mir wiedergegebenen Sinn (vgl. die Diskussion bei G. Müller 1951 [21968], 192 ff.). Im Widerspruch gegen Müller hat vor allem Chemiss 1953, 373 f. (wie schon Ritter II 364) κυρίους als Subjekt von νομοθε-

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πεϊν verstanden, sinngemäß also: „wenn sie über die Kompetenzen (Cherniss: das Wissen) verfugen, über die sie (verfügen) müssen, sollen sie sel­ ber Gesetze (über die Bildung) erlassen“; ebenso Morrow 1960a, 513 Anm. 22, Saunders, Pangle, Varvaro 1967,2122, Taran 1975,21 Anm. 78, Lewis 1988, 13, Lenzi 1989, 209 (die allerdings unter dem Genitiv die po­ litischen Befugnisse versteht), Bobonich 2002, 572 Anm. 59, Sier 2008, 298. Mir scheint nach wie vor die von Müller verteidigte Analyse des Sat­ zes die sprachlich natürlichere. Bei der von Chemiss verfochtenen Deu­ tung stört einmal die Stellung von αύτούς, die einen Bezug als Subjekt zum Infinitiv νομοθετειν geradezu ausschließt (weshalb Ritter Platz­ tausch von αύτους und κυρίους vorschlug), sodann das Fehlen eines stützenden Partizips zu κυρίους (etwa γενομένους oder όντας); eine Berufung auf prädikativen Gebrauch ist nicht stichhaltig, denn prädikativ verwendete Adjektive regieren in der Regel keine weiteren Satzglieder und schon gar keinen Nebensatz (vgl. die Beispiele Kühner - Gerth 1275).

968c5—7 könnte die Vorbereitung derartiger Dinge nur durch Beleh­ rung in langem Beisammensein geschehen: Ich fasse mit G. Müller 1951 (21968) 195 διδαχή als Subjekt und το κατασκευάζον als Prädikat (Sinn also: τά τοιαυτα κατασκευάζει διδαχή). Die Übersetzung von Chemiss 1953, 373 („but training of that kind, if done right, would alrea­ dy amount to schooling by long association“) fordert im Griechischen m. E. eher den substantivierten Infinitiv als ein Partizip. 968c9—e5 Zuerst müßte doch eine Liste usw. : Der Abschnitt führt das in 968c3-7 Gesagte näher aus. Erster Schritt ist die Zusammenstellung der intellektuell und charakterlich für die Ausbildung geeigneten Personen. Diese Zusammenstellung obliegt — gemäß der oben vertretenen Deutung (vgl. S. 584) - dem Athener (und seinen Helfern). Der zweite Schritt ist die Festlegung der Lemgegenstände, die offenbar ein besonderes Wissen voraussetzt. Der dritte wäre die Erstellung eines Curriculums mit Angabe der Reihenfolge und der Dauer der Beschäftigung mit einer Wissenschaft. Hier ist aber eine starre Vorgabe durch ein schriftliches Gesetz (d6) nicht möglich. Denn das hier zu vermittelnde Wissen setzt ein persönliches „Zusammensein“ (συνουσία c6) zwischen Lehrer und Schüler voraus und muß in der Seele des Lernenden aufgehen. Dieser Hinweis auf die Vergeblichkeit einer schriftlichen Fixierung im Gesetz hat nichts mit der sog. „Schriftkritik“ Platons zu tun (vgl. Taran 1975, 22 Anm. 80), sondern trägt der Eigenart des Verstehens Rechnung, das aus langem Beisammen­ sein plötzlich in der Seele von besonders begabten Menschen entsteht (vgl. Epist. VII 341c6-dl), weshalb die Angabe genauer Zeiten sinnlos ist.

968d3—4 dies herauszufinden ist nicht leicht, ebensowenig auch, hierin Schüler eines anderen zu werden, der das herausgefunden hat: Zur Al-

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temative zwischen eigenem Wissen und dem von einem anderen vermit­ telten Wissen vgl. 645b; auch Resp. 590d (Gegensatz: in sich selbst von außen). 968d6 durch ein schriftliche Gesetz anzugeben (έν γράμμασω): Zu γράμματα ,Gesetz6 vgl. zu 858c7-8.

968e2~5 So wäre es zwar nicht richtig, wenn man alles, was hierher gehört, als ,nicht sagbar' (άπάρρητα) bezeichnen wollte, wohl aber, wenn man es als ,nicht vorher sagbar' (άπρορρητα) bezeichnet usw.: Vertreter der esoterischen Platondeutung verstehen dies so, daß „Platon die Prinzipienlehre, die am Ende des Bildungsganges steht, den Dialogen vorenthielt66 (Krämer 1959, 467 Anm. 172). Der Satz dürfte aber ledig­ lich besagen, daß das, was über die Ausbildung der Nächtlichen Ver­ sammlung im Detail zu sagen wäre, sinnvollerweise erst gesagt werden kann, wenn die geeigneten Kandidaten ausgewählt und die zu erwerben­ den Kenntnisse festgelegt sind und schon ein erstes Wissen des Lemgegenstands vorhanden ist. Inhaltlich braucht das, was jetzt noch nicht sag­ bar ist, nicht wesentlich über die Ausführungen der Politeia zur Ausbil­ dung zum Philosophenherrscher hinauszugehen (vgl. Brisson — Pradeau II 376 Anm. 182). — Der ausdrückliche Verzicht darauf, diese Dinge hier zur Sprache zu bringen, erweist die Epinomis, die das „nicht vorher Sag­ bare66 dennoch ausspricht, als eine unplatonische Schrift. 968e9: Man spielte mit drei Würfeln; dreimal sechs Augen brachten als höchstmöglicher Wurf den Sieg, dreimal ein Auge bedeutete eine Niederlage (vgl. Zenobios 4,23 [CParGr I] und das Scholion z. St. [Greene 379]; zu κύβος als ,Auge6 auf einer Würfelseite vgl. die Belege bei Ast z. St.). Der Sinn des Vergleichs ist, daß es um alles oder nichts geht. Guthrie 1978, 373 Anm. 1 vermutet hinter dem Risiko die Resp. 497d und 537e ausgesprochenen Bedenken, daß es für einen Staat schwer ist, sich mit der Philosophie einzulassen, ohne sich zugrunde zu richten, und daß dialektisches Können zur Gesetzlosigkeit führen kann. 969a6 die Stadt der Magneten: Vgl. zu 848d3.

969a7—8 der tapferste von allen zu sein, die nach dir geboren werden: G. Müller 1951 (21968), 193 Anm. 1 deutet άνδρειότατος negativ wie 905c 1, aber dagegen spricht m. E. γε „wenigstens66 und das stilistisch gehobene κλέος άρη (dazu Renehan 1972, 38 f.). Zum Superlativ im Sinne eines Komparativs vgl. zu 966d9—e2. 969b5—6 was wir kurz zuvor wie einen Traum in unserem Gespräch berührt haben: Vgl. 961d—e, 964d-965a; zum Traum vgl. zu 746a7.

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969c 1—2 aufder Akropolis ihres Landes ihren Wohnsitz genommen ha­ ben: Resp. 560b8 ist die Akropolis der Seele der Sitz von Kenntnissen, Bestrebungen und wahren Grundsätzen; Tim. 70a6 ist der Kopf die Akropolis, von der die Befehle des vernünftigen Seelenteils an die and­ ren Seelenteile ausgehen.

Literatur- und Abkürzungsverzeichnis zum vorliegenden Band

Um dem Benutzer das Nachschlagen zu erleichtern, umfaßt das folgende Verzeichnis in durchlaufender alphabetischer Folge alle im Kommentar mit dem bloßen Namen des He­ rausgebers oder Übersetzers zitierten Textausgaben und Übersetzungen der Nomoi sowie die herangezogenen Kommentare und sonstige Sekundärliteratur zu den Nomoi und au­ ßerdem die für Nachschlagewerke, Textausgaben und Zeitschriften verwendeten Abkür­ zungen und Siglen. Aalders, G. J. D (1943): Het derde boek van Plato’s Leges. I: Prolegomena, Amsterdam 1943. AC = L’Antiquité Classique, Louvain. Ackeren, Μ. van (2004), Hrsg.: Platon verstehen. Themen und Perspektiven, Darmstadt 2004. Adam, Sophie (2003): Environnement et droit dans l’antiquité grecque, Symposion 1999 (s. unten), Köln 2003, 371-386. Adam-Magnisali, S. (2003): Το υδροδοτικό σύστημα και η προστασία των κρηνών στην Αρχαία Αθήνα και στους Νόμους του Πλάτωνος, in: E. Mikrogiannakis (Hrsg.): Πλάτωνος Νόμοι, Athen — Komotini 2003, 169-180. Adkins, A. W. H. (1960): Merit and responsibility, Oxford 1960. AGPh = Archiv für Geschichte der Philosophie, Berlin. AJPh = American Journal of Philology, Baltimore. Allen, Danielle S. (1997): Imprisonment in classical Athens, CQ 47, 1997, 121-135. — (2000): The world of Prometheus, The politics of punishing in democratic Athens, Prin­ ceton - Oxford 2000. Allen, R. E. (1965), Hrsg.: Studies in Plato’s metaphysics, London 1965 (31968). Alt, K. (2002): Zu einigen Problemen in Platons Jenseitsmythen und deren Konsequenzen bei späteren Platonikem, in: Μ. Janka, C. Schäfer (Hrsg.) 2002, 270-289. - (2007): Jenseits, in: C. Schäfer (Hrsg.), Platon-Lexikon 2007, 175-178. Amar, Μ. A. (1972): Collective religion in Plato’s Laws, Princeton 1972. Amundsen, D. W. (1977): The liability of the physician in classical Greek legal theory and practice, Joum. of the History of Medicine and allied sciences 32, 1977, 172—203. AncPhil = Ancient Philosophy, Pittsburgh. Andreades, A. Μ. (1931): Geschichte der griechischen Staatswirtschaft von der Heroenzeit bis zur Schlacht bei Chaironeia, München 1931 (Nachdruck Hildesheim 1965) Andreau, J. (2001): Seedarlehen, DNP XI, 2001, 320-322. Apelt: Platon Gesetze, übersetzt und erläutert von O. Apelt, I-II, Leipzig 1916 (Nachdruck 1945). Apelt, O. (1901): Kritische Miszellen, Jahresbericht über das Carl-Friedrichs-Gymnasium, Eisenach 1901, 17-28.

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Kommentar

1. Abweichungen von Burnets Textgestaltung Vorbemerkung: Der von mir zugrunde gelegte Text steht der Ausgabe von Burnet näher, als es die folgende Liste erkennen läßt. Denn viele der von mir übersetzten oder im Kom­ mentar erwogenen Varianten und Konjekturen sind bereits von Burnet im Apparat zu sei­ nem Text als bedenkenswerte Verbesserungen der Überlieferung aufgefuhrt worden.

Burnets Text

Übersetzter bzw. erwägenswerter (= ?) Text

625b 1

ποιήσασθαι

ποιήσεσθαι

630b2

αυτής μόνης ανδρείας

αύτης μόνον ανδρείας

631a8

σε έτ’ αν έβουλόμην

σε τ’ αν έβουλόμην

632e6

ά

τα

633d3

κηρίνους. ΜΕ. Οίμαι

κηρίνους.