Physikalische Chemie: Für die Bachelorprüfung 9783110348781, 9783110348774

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German Pages 371 [372] Year 2014

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Table of contents :
Vorwort
Hinweise zur Benutzung
Über die Autoren
Inhalt
1 Phänomenologische Thermodynamik
1.1 Die grundlegenden Größen und Konzepte
1.1.1 Reduktion des Systems auf wenige ausgewählte Zustandsgrößen
1.1.2 Wärme und Temperatur
1.1.2.1 Verständnisfragen
1.1.3 Transportgleichungen
1.1.3.1 Verständnisfragen Wärmeleitfähigkeit
1.1.4 Die experimentellen Schlüsselgrößen der Thermodynamik
1.1.4.1 Die Wärmekapazität
1.1.4.2 Die thermische Zustandsgleichung
1.1.4.3 Wo findet man zuverlässige thermodynamische Daten?
1.1.4.4 Übungsaufgaben
1.1.5 Zustandsgrößen: Der mathematische Formalismus
1.1.5.1 Verständnisfragen
1.2 Der erste Hauptsatz der Thermodynamik
1.2.1 Verständnisfragen
1.3 Die Entropie
1.3.1 Wärme ist keine Zustandsgröße
1.3.2 Die vom System abgegebene Wärme entspricht der Änderung der Zustandsgröße Enthalpie
1.3.3 Temperatur als integrierender Faktor
1.4 Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik
1.4.1 Expansion eines idealen Gases ins Vakuum
1.4.2 Entropiezunahme bei Temperaturausgleich
1.4.2.1 Verständnisfragen
1.4.3 Freie Energie und Gibbs-Energie
1.5 Die fundamentalen Beziehungen
1.5.1 Die Gibbs-Hauptgleichung
1.5.2 Homogenitätsrelation
1.5.3 Die Gibbs-Duhem-Beziehung
1.5.4 Thermodynamische Potentiale
1.5.5 Eine Zusammenfassung ohne Formeln
1.5.6 Maxwell-Relationen
1.5.7 Das Guggenheim-Quadrat
1.6 Die Gibbs-Energie G
1.6.1 Phasengleichgewichte in Einkomponenten-Systemen
1.6.2 Die Clausius–Clapeyron-Gleichung
1.6.2.1 Aufgaben und Verständnisfragen
1.6.3 Thermodynamik von Mischphasen
1.6.4 Das chemische Potential in einer Mischphase
1.6.5 Die qualitativen Trends
1.6.6 Osmose
1.7 Chemisches Gleichgewicht
1.7.1 Die Reaktionslaufzahl
1.7.2 Die Gleichgewichtsbedingung: Minimum der Gibbs-Energie G
1.7.3 Das Massenwirkungsgesetz
1.7.3.1 Homogene Gasgleichgewichte
1.7.3.2 Homogene Lösungsgleichgewichte
1.7.4 Beeinflussung des Gleichgewichts
1.7.4.1 Die Temperaturabhängigkeit der Planckschen Funktion G/T
1.7.5 Optimierung der Reaktionsausbeute
1.7.5.1 Temperaturabhängigkeit der Gleichgewichtskonstanten
1.7.5.2 Druckabhängigkeit der Gleichgewichtskonstanten
1.7.5.3 Prinzip vom kleinsten Zwang
1.8 Grenzflächen
1.8.1 Grenzflächenspannung
1.8.2 Keimbildung undWachstum
1.8.3 Grenzflächenspannung und das Spreiten einer Flüssigkeit
1.8.4 Einfluss der Grenzfläche auf das Phasengleichgewicht
1.9 Fiktive Prüfungsgespräche
1.9.1 Henry-Gesetz, Boltzmann, chemische Potentiale, Osmose
1.9.2 Dampfdruck, Raoultsches Gesetz, Aktivitätskoeffizient, statistische Thermodynamik
1.9.3 Aggregatszustände, Phasendiagramme, chemisches Potential, superkritische Fluide
1.9.4 Phasendiagramm, Keimbildung undWachstum
1.9.5 Hauptsatz, Gibbs-Energie, ideale und reale Lösung
1.9.6 Gas, Temperatur, Gasverflüssigung, Joule–Thomson-Effekt, zwischenmolekulare Kräfte, Jonglieren mit thermodynamischen Beziehungen
1.9.7 Gibbs-Energie angewandt auf Phasengleichgewichte und chemische Reaktionen
1.9.8 Chemisches Gleichgewicht, Prinzip des kleinsten Zwanges
Zusammenfassung
2 Aufbau der Materie
2.1 Klassische Mechanik
2.2 Wellen
2.2.1 Polarisation und Intensität
2.2.2 Interferenz
2.2.3 Die evaneszente Welle
2.2.4 Optische Lichtleiter
2.2.5 Beugung
2.2.5.1 Mathematische Behandlung einfacher Beugungsprobleme
2.3 Röntgenstrukturanalyse
2.3.1 Streuverfahren
2.3.2 Kristalle
2.3.3 Netzebene und Millersche Indizes
2.3.4 Reziprokes Gitter
2.3.5 Beugungsmethoden zur Kristallstrukturbestimmung
2.3.6 Verständnisfragen
2.4 Die Doppelnatur Welle–Teilchen
2.5 Schlüsselexperimente der Quantenmechanik
2.6 Unschärferelation
2.6.1 Verständnisfragen
2.7 Der Formalismus der Quantenmechanik
2.7.1 Axiomatische Formulierung der Quantenmechanik
2.7.2 Die zeitunabhängige Schrödinger-Gleichung
2.7.2.1 Verständnisfragen und prüfungsrelevante Übungsaufgaben
2.7.3 Ortsdarstellung - Impulsdarstellung
2.7.3.1 Aufgabe
2.7.4 Der Kommutator bestimmt die Erhaltungsgrößen des Systems
2.7.5 Das Theorem von Ehrenfest
2.7.6 Eine wichtige Lösungsstrategie: die Variationsrechnung
2.8 Der Elektronenspin
2.8.1 Der Stern-Gerlach-Versuch
2.8.2 Spinorbitale und Raumorbitale
2.8.3 Pauli-Prinzip
2.9 Behandlung vonMolekülen
2.9.1 Auswahlregeln in der optischen Spektroskopie
2.9.1.1 Verständnisfragen
2.10 Fiktive Prüfungsgespräche
2.10.1 Das Teilchen im Kasten
2.10.2 Der quantenmechanische Oszillator
2.10.3 Atombau und Orbitale
2.10.4 Molekülorbitale, Polarisationszustände, Übergangsdipolmoment
3 Statistische Thermodynamik
3.1 Makrozustand, Mikrozustand und Verteilungsfunktion
3.1.1 Spiel mit Würfeln
3.1.2 Verteilung von Teilchen auf Energieniveaus
3.1.3 Verteilungsfunktion für ein großes Ensemble
3.1.4 Fiktive Prüfungsgespräche
3.2 Statistische Deutung der Entropie
3.3 Herleitung der Boltzmann-Verteilung
3.4 Übungsaufgaben und Verständnisfragen
3.4.1 Informationsfluss in chemischen Systemen
3.4.2 Teilchen im Gravitationsfeld
3.4.3 Zentrifuge Urananreicherung
3.4.4 Konformation von Molekülen
3.4.5 Gepolte Polymere
3.4.6 Spektroskopie: Besetzung von Energieniveaus
3.4.7 Diffusion und Zufallsbewegung
3.4.8 Aufgabe: Ermittlung der Bedeutung des Lagrange-Multiplikators β
3.5 Die Zustandssumme
3.5.1 Der Formalismus
3.5.2 Das ideale Gas
3.5.3 Die Wärmekapazität
3.5.3.1 Die Wärmekapazität eines 2-Niveau-Systems
3.5.4 Der Gleichverteilungssatz der Energie
3.6 Die inneren Freiheitsgrade
3.6.1 Beitrag der Rotation zur molarenWärmekapazität
3.6.2 Fiktives Prüfungsgespräch: Das Rotationsspektrum
3.6.3 Beitrag der Schwingung zurmolarenWärmekapazität
3.6.4 Diskussion der Wärmekapazität eines zweiatomigen Gases
3.6.5 Verständnisfragen zur Zustandssumme
4 Kinetik und Elektrochemie
4.1 Ebenen des Verständnisses einer chemischen Reaktion
4.2 Formalkinetik
4.2.1 Die Reaktionsgeschwindigkeit
4.2.2 Reaktionen nullterOrdnung
4.2.3 Reaktionen erster Ordnung
4.2.4 Reaktionen zweiter Ordnung
4.2.5 Reaktionen dritter Ordnung
4.3 Untersuchungsmethoden
4.3.1 Bestimmung der Reaktionsordnung
4.4 Kinetische Ableitung des Massenwirkungsgesetzes
4.5 Reaktionskoordinate
4.6 Temperaturabhängigkeit der Geschwindigkeitskonstanten
4.7 Mikroreversibilität
4.8 Komplexere Reaktionen
4.8.1 Parallelreaktionen
4.8.2 Folgereaktionen
4.9 Fiktive Prüfungsgespräche
4.9.1 Formalkinetik
4.9.2 Enzymkinetik
4.10 Elektrochemie
4.11 Fiktive Prüfungsgespräche
4.11.1 Leitfähigkeit, Batterie, Stockholmer Konvention
4.11.2 Der Bleiakkumulator
4.11.3 Selbstorganisation, Ionen an Grenzflächen
4.11.4 Standardbildungsenthalpien, Lösungswärme
Anhang Mathematischer Leitfaden
A.1 Funktionen mit mehreren Veränderlichen
A.1.1 Zeichnerische Darstellungen
A.1.2 Partielle Ableitung
A.1.3 Satz von Schwarz
A.1.4 Gradient
A.1.5 Anwendungen des Gradienten
A.1.5.1 Minimierung einer Potentialfläche
A.1.5.2 Elektrisches Feld
A.1.5.3 Kräfte als Gradient eines skalaren Potentials
A.1.5.4 Transportphänomene: Diffusion, Wärmeleitung
A.1.6 Richtungsableitung
A.1.7 Differenzierbarkeit
A.1.8 Totales Differential
A.1.9 Extremwerte
A.1.10 Extremwerte mit Nebenbedingungen
A.1.10.1 Graphische Veranschaulichung
A.1.10.2 Lagrange-Verfahren
A.1.10.3 Physikalische Interpretation der Lagrange-Multiplikatoren
A.2 Komplexe Zahlen
A.3 Fourier-Transformation
Danksagung
Sachwortregister
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Physikalische Chemie: Für die Bachelorprüfung
 9783110348781, 9783110348774

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De Gruyter Studium Motschmann, Hofmann ∙ Physikalische Chemie

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Zeitschrift für Physikalische Chemie Karl-Michael Weitzel (Editor-in-Chief) ISSN 2196-7156

Hubert Motschmann, Matthias Hofmann

Physikalische Chemie | Für die Bachelorprüfung

Autoren

Prof. Dr. Hubert Motschmann Universität Regensburg Institut für physikalische und theoretische Chemie Universitätsstr. 31 93053 Regensburg E-Mail: [email protected] Matthias Hofmann Universität Regensburg Institut für physikalische und theoretische Chemie Universitätsstr. 31 93053 Regensburg E-Mail: [email protected]

ISBN 978-3-11-034877-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-034878-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038403-1 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: www.miraniaphotography.com Das Foto zeigt eine bei tiefen Temperaturen gefrorene Seifenblase. Satz: PTP-Berlin, Protago TEX-Produktion GmbH, www.ptp-berlin.de Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort Die Notwendigkeit eines anderen Lehrformats sowie einer differenzierteren Prüfungsvorbereitung zeigt sich schon seit vielen Studienjahrgängen. In den meisten von mir abgenommenen mündlichen Abschlussprüfungen ist guter Wille und extensives Auswendiglernen zu erkennen. Leider genügt dieses aber nicht dem Anspruch auf gut ausgebildeten wissenschaftlichen Nachwuchs. Selbständiges Einordnen neu gewonnener Informationen und kreatives eigenständiges Denken sind gefordert, um eine solide Basis für eine naturwissenschaftliche Karriere zu bilden. Mit diesem Aufarbeitungs- und Vorbereitungsbuch möchte ich den Studenten die Möglichkeit geben, einen neuen Denkprozess zu entwickeln. Mit etwas Übung lassen sich dann auch knifflige und nicht vorhergesehene Prüfungssituationen gut bewältigen. So eigen und verschiedenartig die einzelnen Prüfer und Prüfungssituationen auch sein mögen, im Grunde zielt jede mündliche Prüfung darauf ab, das Verständnis des Prüflings für den erlernten Stoff und nicht eine Sammlung von vereinzelten, angelernten Fakten abzuprüfen. Deshalb sind die einzelnen Kapitel so erarbeitet, dass zunächst einmal, neben der Intention Interesse für die Materie zu wecken, auch Eigenarten oder „Unverbundenes“ dargestellt werden, so dass zum kritischen Nachdenken angeregt wird. Es ist oft nützlich, Querverbindungen und Analogien zu bereits Bekanntem zu ziehen. Das Frage-Antwort-Spiel soll Ihnen zeigen, wie man sich selbst Fragen stellen und beantworten kann. Wer in der Lage ist nachzufragen, der hat sich schon intensiv mit dem Stoff auseinander gesetzt. Die Antwort ist dann bereits in Reichweite. Am Ende eines jeden Kapitels finden Sie ein „fiktives Prüfungsgespräch“, welches authentisch mit einem Studenten, meinem Co-Autor Matthias Hofmann, auf der Grundlage der vorangehenden Erläuterungen erarbeitet wurde. Denken Sie daran, dass es nicht darauf ankommt, die vielen Details im Einzelnen wiederzugeben, sondern vielmehr darum, dass Sie ein Verständnis für den Gesamtzusammenhang zeigen. Das vorliegende Buch soll Ihnen als eine Art roter Faden dienen, anhand dessen Sie sich durch den Stoff der physikalischen Chemie hangeln können. Es deckt die typischen Lehrinhalte im Grundstudium ab, ist aber keinesfalls als ein Ersatz für ein Standardlehrbuch der physikalischen Chemie, den Besuch der Vorlesung oder eigene Aufzeichnungen angedacht! Ganz im Gegenteil sollen manche, vielleicht offen gebliebene Fragen zum Konsultieren eines etablierten Lehrbuches anregen. Sie werden erstaunt sein, wie facettenreich der Stoff ist, wenn man ihn aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet! Regensburg, September 2014

Matthias Hofmann und Hubert Motschmann

Hinweise zur Benutzung Um Sie schnell und sicher zu Ihrem Ziel zu bringen, wurde das Buch auf zwei Ebenen aufgebaut. In den einzelnen Hauptkapiteln finden Sie detaillierte und Ihnen vielleicht bisher noch unbekannte Erläuterungen zur jeweiligen Thematik, die in den gängigen Lehrbüchern so nicht auffindbar sind, jedoch aufgrund ihrer Anschaulichkeit potentiell den Durchbruch zum tieferen Verständnis der Problematik bergen. So wurde die Quantenmechanik über die Optik eingeführt. Dies weicht von der konventionellen Vorgehensweise ab, schafft aber nützliche, neue Blickwinkel. Der quantenmechanische Tunneleffekt ist entmystifiziert, wenn man den optischen Tunneleffekt verstanden hat. Ebenso besitzt das beliebte Problem „Teilchen im Kasten“ ein optisches Analogon, den Wellenleiter, dessen optische Moden man direkt visualisieren kann. Diese veränderten Blickpunkte helfen, den Stoff nochmal anders zu betrachten und besser zu verstehen. Einige Kapitel gehen auch über das hinaus, was man in den gängigen PC-Kursen und -Lehrbüchern findet. Dazu gehört ein Kapitel über Ortsdarstellung und Impulsdarstellung oder die Ehrenfestschen Theoreme. Sie helfen die Quantenmechanik verständlicher zu machen. Daher finde ich diese Ausführungen im Rahmen einer abschließenden Prüfungsvorbereitung, bei der neue Querverbindungen und Blickwinkel geschaffen werden sollen, sehr nützlich. Gleiches gilt für die Ausführungen zur Röntgenstrukturanalyse. Jedes der Hauptkapitel schließt mit Verständnisfragen zum erläuterten Stoff ab. So können Sie prüfen, ob die wesentlichen Fakten angekommen und hängen geblieben sind. Diese erste Ebene ist dafür gedacht, ein tieferes Verständnis in den einzelnen Gebieten zu erwerben. Denn wenn die Eingliederung des Erlernten in ein umfassendes, großes Ganzes gelungen ist, können auch die gefürchteten Übertragungs- und Denkfragen in den Prüfungen mühelos gemeistert werden. Nahezu unabhängig davon kann die zweite Ebene des Buches zum Selbsttest und zur Vorbereitung herangezogen werden. Am Ende jeden Hauptkapitels finden Sie die sogenannten „Fiktiven Prüfungsgespräche“. Sie stellen in sich geschlossen einen möglichen Prüfungsdialog vor. So können Sie abschätzen, was in etwa von Ihnen erwartet wird. Am besten versuchen Sie zunächst einmal, die gestellte Frage für sich selbst zu beantworten. Seien Sie nicht verunsichert, wenn Sie einen anders gearteten Ansatz gewählt hätten. Eine mündliche Prüfung ist eine dynamische Situation. Der Prüfer wird Sie sicher lotsen, wenn Sie eine ungünstige Richtung eingeschlagen haben. Es wird aber ein Verständnis für den Gesamtzusammenhang erwartet. Daher kann es auch eine gute Vorbereitung sein, zu versuchen, die hier abgedruckten Antworten zu widerlegen oder in alternativer Form auszudrücken. Am besten „spielen“ Sie zusammen

Hinweise zur Benutzung

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mit anderen Kommilitonen damit. Das kann Spaß machen und hilft die Sachverhalte besser zu durchdringen. Zudem enthält dieses Buch am Ende einen kurzen mathematischen Anhang, der anschaulich ausgewählte Elemente der benötigten Verfahren prägnant wiederholt. Grundlegende Techniken, wie beispielweise die Bildung von partiellen Ableitungen und Gradienten, das wichtige Hilfsmittel der Fourier-Transformation oder die Technik der Lagrange-Multiplikatoren werden aufgearbeitet und finden eine eingängige physikalische Interpretation.

Über die Autoren Prof. Dr. Hubert Motschmann studierte Chemie an der Universität Erlangen und promovierte in der Polymerphysik an der Universität Mainz. Nach einem zweijährigen Postdoc Aufenthalt bei Eastman Kodak in den USA, baute er eine Arbeitsgruppe am neu gegründeten Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung in Golm auf. Seit 2009 ist er Professor in Physikalischer Chemie an der Universität Regensburg. Sein Engagement für die Lehre wurde 2013 mit dem Preis für gute Lehre an Bayerns Universitäten ausgezeichnet.

Matthias Hofmann hat kürzlich mit Auszeichnung seinen Bachelor-Abschluss in Chemie an der Universität Regensburg abgelegt. Er ist Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes. Gemeinsam mit ihm wurden die beispielhaften Prüfungsdialoge erarbeitet.

Inhalt Vorwort | v Hinweise zur Benutzung | vi Über die Autoren | vii 1 1.1 1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.1.4 1.1.5 1.2 1.2.1 1.3 1.3.1 1.3.2 1.3.3 1.4 1.4.1 1.4.2 1.4.3 1.5 1.5.1 1.5.2 1.5.3 1.5.4 1.5.5 1.5.6 1.5.7 1.6 1.6.1 1.6.2 1.6.3 1.6.4 1.6.5 1.6.6

Phänomenologische Thermodynamik | 1 Die grundlegenden Größen und Konzepte | 1 Reduktion des Systems auf wenige ausgewählte Zustandsgrößen | 1 Wärme und Temperatur | 2 Transportgleichungen | 6 Die experimentellen Schlüsselgrößen der Thermodynamik | 12 Zustandsgrößen: Der mathematische Formalismus | 14 Der erste Hauptsatz der Thermodynamik | 17 Verständnisfragen | 19 Die Entropie | 21 Wärme ist keine Zustandsgröße | 21 Die vom System abgegebene Wärme entspricht der Änderung der Zustandsgröße Enthalpie | 22 Temperatur als integrierender Faktor | 23 Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik | 24 Expansion eines idealen Gases ins Vakuum | 26 Entropiezunahme bei Temperaturausgleich | 27 Freie Energie und Gibbs-Energie | 29 Die fundamentalen Beziehungen | 31 Die Gibbs-Hauptgleichung | 31 Homogenitätsrelation | 33 Die Gibbs-Duhem-Beziehung | 34 Thermodynamische Potentiale | 35 Eine Zusammenfassung ohne Formeln | 37 Maxwell-Relationen | 39 Das Guggenheim-Quadrat | 40 Die Gibbs-Energie G | 42 Phasengleichgewichte in Einkomponenten-Systemen | 42 Die Clausius–Clapeyron-Gleichung | 44 Thermodynamik von Mischphasen | 48 Das chemische Potential in einer Mischphase | 48 Die qualitativen Trends | 52 Osmose | 55

x | Inhalt 1.7 1.7.1 1.7.2 1.7.3 1.7.4 1.7.5 1.8 1.8.1 1.8.2 1.8.3 1.8.4 1.9 1.9.1 1.9.2 1.9.3 1.9.4 1.9.5 1.9.6

1.9.7 1.9.8 2 2.1 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.2.5 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4 2.3.5 2.3.6 2.4

Chemisches Gleichgewicht | 58 Die Reaktionslaufzahl | 58 Die Gleichgewichtsbedingung: Minimum der Gibbs-Energie G | 59 Das Massenwirkungsgesetz | 62 Beeinflussung des Gleichgewichts | 64 Optimierung der Reaktionsausbeute | 65 Grenzflächen | 68 Grenzflächenspannung | 68 Keimbildung und Wachstum | 70 Grenzflächenspannung und das Spreiten einer Flüssigkeit | 72 Einfluss der Grenzfläche auf das Phasengleichgewicht | 73 Fiktive Prüfungsgespräche | 75 Henry-Gesetz, Boltzmann, chemische Potentiale, Osmose | 75 Dampfdruck, Raoultsches Gesetz, Aktivitätskoeffizient, statistische Thermodynamik | 80 Aggregatszustände, Phasendiagramme, chemisches Potential, superkritische Fluide | 87 Phasendiagramm, Keimbildung und Wachstum | 94 Hauptsatz, Gibbs-Energie, ideale und reale Lösung | 96 Gas, Temperatur, Gasverflüssigung, Joule–Thomson-Effekt, zwischenmolekulare Kräfte, Jonglieren mit thermodynamischen Beziehungen | 98 Gibbs-Energie angewandt auf Phasengleichgewichte und chemische Reaktionen | 108 Chemisches Gleichgewicht, Prinzip des kleinsten Zwanges | 115 Aufbau der Materie | 119 Klassische Mechanik | 119 Wellen | 124 Polarisation und Intensität | 125 Interferenz | 129 Die evaneszente Welle | 133 Optische Lichtleiter | 136 Beugung | 138 Röntgenstrukturanalyse | 143 Streuverfahren | 143 Kristalle | 144 Netzebene und Millersche Indizes | 145 Reziprokes Gitter | 147 Beugungsmethoden zur Kristallstrukturbestimmung | 149 Verständnisfragen | 153 Die Doppelnatur Welle–Teilchen | 154

Inhalt

2.5 2.6 2.6.1 2.7 2.7.1 2.7.2 2.7.3 2.7.4 2.7.5 2.7.6 2.8 2.8.1 2.8.2 2.8.3 2.9 2.9.1 2.10 2.10.1 2.10.2 2.10.3 2.10.4

3 3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4 3.2 3.3 3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.4.4 3.4.5 3.4.6 3.4.7 3.4.8

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xi

Schlüsselexperimente der Quantenmechanik | 159 Unschärferelation | 163 Verständnisfragen | 164 Der Formalismus der Quantenmechanik | 169 Axiomatische Formulierung der Quantenmechanik | 169 Die zeitunabhängige Schrödinger-Gleichung | 171 Ortsdarstellung - Impulsdarstellung | 175 Der Kommutator bestimmt die Erhaltungsgrößen des Systems | 178 Das Theorem von Ehrenfest | 180 Eine wichtige Lösungsstrategie: die Variationsrechnung | 181 Der Elektronenspin | 185 Der Stern-Gerlach-Versuch | 185 Spinorbitale und Raumorbitale | 186 Pauli-Prinzip | 186 Behandlung von Molekülen | 187 Auswahlregeln in der optischen Spektroskopie | 191 Fiktive Prüfungsgespräche | 194 Das Teilchen im Kasten | 194 Der quantenmechanische Oszillator | 203 Atombau und Orbitale | 210 Molekülorbitale, Polarisationszustände, Übergangsdipolmoment | 219 Statistische Thermodynamik | 231 Makrozustand, Mikrozustand und Verteilungsfunktion | 231 Spiel mit Würfeln | 231 Verteilung von Teilchen auf Energieniveaus | 233 Verteilungsfunktion für ein großes Ensemble | 234 Fiktive Prüfungsgespräche | 235 Statistische Deutung der Entropie | 239 Herleitung der Boltzmann-Verteilung | 243 Übungsaufgaben und Verständnisfragen | 247 Informationsfluss in chemischen Systemen | 247 Teilchen im Gravitationsfeld | 248 Zentrifuge Urananreicherung | 250 Konformation von Molekülen | 251 Gepolte Polymere | 252 Spektroskopie: Besetzung von Energieniveaus | 254 Diffusion und Zufallsbewegung | 256 Aufgabe: Ermittlung der Bedeutung des Lagrange-Multiplikators β | 258

xii | Inhalt 3.5 3.5.1 3.5.2 3.5.3 3.5.4 3.6 3.6.1 3.6.2 3.6.3 3.6.4 3.6.5

Die Zustandssumme | 260 Der Formalismus | 261 Das ideale Gas | 262 Die Wärmekapazität | 265 Der Gleichverteilungssatz der Energie | 266 Die inneren Freiheitsgrade | 267 Beitrag der Rotation zur molaren Wärmekapazität | 268 Fiktives Prüfungsgespräch: Das Rotationsspektrum | 270 Beitrag der Schwingung zur molaren Wärmekapazität | 277 Diskussion der Wärmekapazität eines zweiatomigen Gases | 280 Verständnisfragen zur Zustandssumme | 287

4 Kinetik und Elektrochemie | 293 4.1 Ebenen des Verständnisses einer chemischen Reaktion | 293 4.2 Formalkinetik | 294 4.2.1 Die Reaktionsgeschwindigkeit | 294 4.2.2 Reaktionen nullter Ordnung | 295 4.2.3 Reaktionen erster Ordnung | 296 4.2.4 Reaktionen zweiter Ordnung | 297 4.2.5 Reaktionen dritter Ordnung | 298 4.3 Untersuchungsmethoden | 298 4.3.1 Bestimmung der Reaktionsordnung | 299 4.4 Kinetische Ableitung des Massenwirkungsgesetzes | 300 4.5 Reaktionskoordinate | 301 4.6 Temperaturabhängigkeit der Geschwindigkeitskonstanten | 302 4.7 Mikroreversibilität | 303 4.8 Komplexere Reaktionen | 303 4.8.1 Parallelreaktionen | 303 4.8.2 Folgereaktionen | 304 4.9 Fiktive Prüfungsgespräche | 306 4.9.1 Formalkinetik | 306 4.9.2 Enzymkinetik | 313 4.10 Elektrochemie | 318 4.11 Fiktive Prüfungsgespräche | 322 4.11.1 Leitfähigkeit, Batterie, Stockholmer Konvention | 322 4.11.2 Der Bleiakkumulator | 323 4.11.3 Selbstorganisation, Ionen an Grenzflächen | 324 4.11.4 Standardbildungsenthalpien, Lösungswärme | 330

Inhalt

Anhang Mathematischer Leitfaden | 334 A.1 Funktionen mit mehreren Veränderlichen | 334 A.1.1 Zeichnerische Darstellungen | 334 A.1.2 Partielle Ableitung | 335 A.1.3 Satz von Schwarz | 337 A.1.4 Gradient | 338 A.1.5 Anwendungen des Gradienten | 340 A.1.6 Richtungsableitung | 342 A.1.7 Differenzierbarkeit | 342 A.1.8 Totales Differential | 344 A.1.9 Extremwerte | 344 A.1.10 Extremwerte mit Nebenbedingungen | 345 A.2 Komplexe Zahlen | 348 A.3 Fourier-Transformation | 351 Danksagung | 354 Sachwortregister | 355

|

xiii

1 Phänomenologische Thermodynamik 1.1 Die grundlegenden Größen und Konzepte In der phänomenologischen Thermodynamik beschreiben wir große Ensembles durch ausgewählte Zustandsgrößen wie Druck p, Volumen V, Temperatur T, innere Energie U, Entropie S, Enthalpie H, freie Energie F oder die Gibbs-Energie G. Es wird keine Information bezüglich der chemischen Natur der in dem Ensemble befindlichen Teilchen benötigt. Zwischen den Zustandsgrößen besteht ein funktioneller Zusammenhang. Der mathematische Formalismus zur Beschreibung und Handhabung dieser Entitäten wird entwickelt. Die Erfahrung lehrt uns: Ein abgeschlossenes System strebt einen Gleichgewichtszustand an, der sich zeitlich nicht mehr verändert. Falls nicht explizit angegeben, betrachten wir in der Thermodynamik immer Gleichgewichtszustände.

1.1.1 Reduktion des Systems auf wenige ausgewählte Zustandsgrößen Die phänomenologische Thermodynamik beruht auf einer Reduktion. Wenn Sie sich als angehende Chemiker Wasser molekular vorstellen, sehen Sie vor ihrem geistigen Auge ein kompliziertes Netzwerk aus Wasserstoffbrückenbindungen zwischen den einzelnen Wassermolekülen. Die einzelnen Moleküle führen eine diffusive Bewegung aus, Wasserbrückenbindungen werden ständig gelöst und wieder neu gebildet. Sie haben gelernt, aus molekularen Anordnungen makroskopische Eigenschaften abzulesen. Die flüssige Phase ist inkompressibel, da sie molekular dicht gepackt ist. So ein komplexes Ensemble beschreiben wir in der phänomenologischen Thermodynamik durch wenige ausgewählte Zustandsgrößen. Diese Größen erlauben auch eine Vorhersage des Systemverhaltens. Die phänomenologische Thermodynamik beantwortet Fragen wie: Wann treten Phasenübergänge auf? Wie verändern sich der Siedepunkt oder Gefrierpunkt beim Auflösen eines Salzes? Wie findet man die optimalen Reaktionsbedingungen, um die höchste Ausbeute in einer chemischen Reaktion zu erzielen? Die Zustandsgrößen sind dabei nicht völlig unabhängig, sondern es besteht ein funktioneller Zusammenhang zwischen ihnen. Zustandsgrößen, die wir frei wählen können, nennen wir Zustandsvariablen. Wir sprechen von einem vollständigen Satz von Zustandsvariablen, wenn alle weiteren Größen des Systems durch diese Zustandsvariablen eindeutig bestimmt sind. Die abhängigen Zustandsgrößen nennen wir dann Zustandsfunktionen. Dabei können wir willkürlich entscheiden, welche Größen wir als abhängig und welche wir als unabhängig betrachten wollen. Ein einfaches Beispiel macht dies klar.

2 | 1 Phänomenologische Thermodynamik

d+ H

H d+ O H

d–

H

d+

O

d–

d+

Abb. 1.1: MD Simulation von Prof. Netz/Dr. Sedlmeier, FU Berlin mit Genehmigung. Der Schnappschuss aus einer Molekulardynamiksimulation (MD) zeigt, dass flüssiges Wasser sehr dicht gepackt ist. Durch die Wasserstoffbrückenbindungen besteht eine relativ starke, zwischenmolekulare Bindung.

Die thermische Zustandsgleichung eines idealen Gases lautet: pV = nRT

(1.1)

Das heißt, die Zustandsfunktion Druck p kann als eine Funktion der unabhängigen Zustandsvariablen Volumen V und Temperatur T betrachtet werden. Somit gilt für den Druck p = f (n, T, V). Selbstverständlich können wir die Beziehung auch nach V = f (n, T, p) auflösen und V als Zustandsfunktion betrachten. Dabei werden T und p zu Zustandsvariablen. Thermodynamische Beziehungen können immer nach allen Variablen aufgelöst werden. Wir können so abhängige zu unabhängigen Größen machen und umgekehrt. Wir unterscheiden zwischen extensiven und intensiven Zustandsgrößen. Extensive Zustandsgrößen verdoppeln ihren Wert, wenn man zwei identische Systeme zu einem größeren System vereinigt, intensive Größen behalten ihren Wert bei. Vereinigt man zwei identische Behälter, die mit einem Gas gefüllt sind, so verdoppelt sich das Volumen, der Druck und die Temperatur der vereinigten Systeme bleibt jedoch unverändert. In der Thermodynamik hat man es ausschließlich mit extensiven oder intensiven Zustandsgrößen zu tun.

1.1.2 Wärme und Temperatur Die phänomenologische Thermodynamik führt zwei neue Begriffe zur Systembeschreibung ein: – die Temperatur T – die Wärmemenge Q

1.1 Die grundlegenden Größen und Konzepte

| 3

Beide Begriffe müssen sorgsam unterschieden werden, wie das folgende Beispiel klar macht: Zwei Liter kochendes Wasser und vier Liter kochendes Wasser besitzen exakt die gleiche Temperatur, nämlich 100 °C. Mit zwei Litern Wasser können Sie eine Wärmflasche füllen und damit ein paar kalte Füße wärmen, mit vier Litern entsprechend zwei Wärmflaschen und somit zwei Paar kalte Füße wärmen, obwohl beide die gleiche Temperatur haben. Der Temperaturbegriff ist aus dem Empfinden von heiß und kalt hergeleitet. Dieses Empfinden ist subjektiv. Das menschliche Empfinden von warm und kalt hängt mit der Wärmemenge zusammen, die Ihrem Körper pro Zeiteinheit zugeführt oder entzogen wird. Legen Sie ein Stück Holz und ein Stück Metall über Nacht in die Gefriertruhe. Beide Objekte haben dann die gleiche Temperatur, aber Sie empfinden das Metall als viel kälter als das Stück Holz. Wir müssen daher die Temperaturmessung objektivieren und ein Messverfahren entwickeln. Der Begriff der Temperatur wird im 0. Hauptsatz eingeführt: Nullter Hauptsatz der Thermodynamik: Alle Körper, die mit einem gegebenen System im thermischen Gleichgewicht stehen, sind auch untereinander im thermischen Gleichgewicht. Sie besitzen eine gemeinsame Eigenschaft. Sie haben dieselbe Temperatur T .

Eine Temperaturerhöhung bewirkt beispielsweise eine Änderung der elektrischen Leitfähigkeit eines Metalls oder eine Längenausdehnung eines Körpers. Solange der Zusammenhang zwischen physikalischer Größe und der Temperatur monoton und eindeutig ist, kann damit ein Thermometer aufgebaut werden. Ein elegantes Messverfahren ist das sogenannte Gasthermometer. Der Druck eines idealen Gases (He, Ar, Xe erfüllen näherungsweise die Anforderungen an ein ideales Gas), ändert sich linear mit der Temperatur, solange das Volumen konstant gehalten wird. Dieser Ergebnis geht durch Einsetzen in Gleichung (1.1) hervor. Die Fixpunkte der Celsius-Skala sind: 0 °C definiert durch Eiswasser und 100 °C definiert durch kochendes Wasser. Eine direkte Konsequenz dieser Betrachtung ist die Existenz eines absoluten Nullpunktes. Der Druck kann nicht kleiner als Null werden. Extrapoliert man die Temperaturgerade, so findet man den absoluten Nullpunkt bei −273,15 °C. Dieser Punkt definiert den Nullpunkt der Kelvin-Skala, die wir im Folgenden häufig nutzen. Wir haben jetzt eine Vorstellung von der Temperatur, aber wir haben noch nicht diskutiert, was sich hinter dem Begriff der Wärmemenge verbirgt. Zwei Objekte mit unterschiedlicher Temperatur gleichen ihre Temperatur aus. Es fließt eine Wärmemenge vom heißeren zum kälteren Körper. Der Wärmefluss ist proportional zum Temperaturgradienten und der Wärmeleitfähigkeit des Objektes. Was aber fließt da vom einen zum anderen Körper? Die wesentliche Erkenntnis ist: Wärme ist eine Energieform, die in der ungeordneten Bewegung der Moleküle steckt. Betrachten Sie eine Gasmischung aus He und Xe. Die Moleküle schwirren durch den Raum, stoßen aneinander und tauschen dabei Energie aus. Ein Film, aufgenommen in der Welt der Atome, würde folgendes Bild zei-

4 | 1 Phänomenologische Thermodynamik gen: Die leichten He Atome würden im Mittel schneller durch den Raum schwirren, die schweren Xe Atome langsamer. Wenn wir den Mittelwert der kinetischen Energie für jede Atomsorte ausrechnen, so finden wir exakt den gleichen Wert. Zu einem identischen Ergebnis würde man auch kommen, wenn He und Xe in getrennten Kammern wären, die wärmeleitend verbunden sind. Im thermischen Gleichgewicht ist die mittlere kinetische Energie von Xe und He gleich. Der Energieaustausch erfolgt über die Wand. Wenn beide Objekte die gleiche Temperatur haben, so ist die mittlere kinetische Energie der Atome identisch. Der absolute Nullpunkt wäre in diesem Sinne der Punkt, bei dem die kinetische Energie der Atome verschwindet. Wärme ist eine Energieform, die in andere Energieformen umgewandelt werden kann. Klassisch wurde die Wärme in der Einheit Kalorie gemessen. 1 Kalorie ist die Wärmenge, die man benötigt, um 1 Gramm Wasser von 14,5 °C auf 15,5 °C zu erhitzen. 1 Kalorie entspricht 4,18 Nm (Joule).

1.1.2.1 Verständnisfragen Versuchen Sie die Fragen wie in einer realen Prüfungssituation kurz und bündig zu beantworten. Idealerweise sollten Sie zur Prüfungsvorbereitung mögliche Lösungsvorschläge in einem Team besprechen. Einige Aufgaben erfordern eine reine Wissensreproduktion, andere erfordern Transferleistungen. 1. Was besagt der nullte Hauptsatz der Thermodynamik? Der nullte Hauptsatz der Thermodynamik definiert die Temperatur als Zustandsgröße. Eine mögliche Formulierung lautet: Im thermischen Gleichgewicht haben zwei Körper die gleiche Temperatur. 2. Beschreiben Sie die Funktionsweise eines Gasthermometers! Für diese Art des Thermometers wird der lineare Zusammenhang zwischen Druck und Temperatur des Füllgases im Messbereich des Thermometers ausgenutzt. Die Messung erfolgt unter der Annahme, dass das ideale Gasgesetz vom verwendeten Gas erfüllt wird. Zwei Kalibrationspunkte wie beispielsweise der Schmelz- und der Siedepunkt von Wasser in Verbindung mit der linearen Druckabhängigkeit von der Temperatur sind zum Aufbau eines Thermometers ausreichend. 3. Erklären Sie, was man unter der Zustandsgröße T versteht! Die Zustandsgröße T ist die Temperatur des Ensembles. Sie wird mit dem nullten Hauptsatz der Thermodynamik eingeführt. Nach der kinetischen Gastheorie ist die Temperatur mit der mittleren kinetischen Energie der Teilchen verknüpft. Je höher die Temperatur, umso schneller ist die Bewegung der Teilchen. 4. Was fließt vom heißeren zum kälteren Körper? Entwickeln sie ein molekulares Bild! Es fließt eine Wärmemenge, die als δ Q bezeichnet wird, vom heißen zum kalten Körper. Dieses δ Q ist der Energiebeitrag, der in der ungeordneten Bewegung der Teilchen steckt.

1.1 Die grundlegenden Größen und Konzepte

|

5

5.

Warum gibt es einen absoluten Nullpunkt der Temperaturskala? Was bedeutet das auf molekularer Ebene? Entsprechend der Vorstellung, die aus der Verknüpfung mit der kinetischen Gastheorie folgt, sind die Teilchen am absoluten Nullpunkt vollständig zum Stillstand gekommen. Sie bewegen sich nicht mehr und sind vollkommen in Ruhe. Am Nullpunkt gilt: 1 p2 Ethermisch = kB T = mv2 = =0 2 2m 6. Beschreiben Sie die Zustandsgröße Druck! Entwickeln Sie ein molekulares Bild! Der Druck beschreibt den Impulsübertrag von Teilchen auf die Gefäßwand. 7. Das nachfolgende Experiment können Sie gut zu Hause ausführen. Ein Glas wird mit Wasser gefüllt und durch ein Blatt Papier abgedeckt. Anschließend wird das Glas vorsichtig umgedreht. Überraschenderweise läuft es nicht aus! Interpretieren Sie dieses Experiment. Beachten Sie, dass das Glas auch nach dem Umstülpen eine Gasphase (Luft) enthält. Wie unterscheidet sich dieser Luftraum von der Luft außerhalb des Glases? Wie ist die Kräftebilanz?

Abb. 1.2: Ein Wasserglas wird mit einem Stück Papier abgedeckt und umgestülpt. Das Wasser läuft nicht aus.

Durch das Aufweichen des Papiers vergrößert sich das Volumen der Gasphase im Glas. Als Konsequenz sinkt der Druck im Luftraum des Glases. Der Luftdruck außerhalb des Glases ist größer als der Druck der Gasphase im Glas. Es resultiert damit eine Kraft, die das Papierstück festhält und ein Auslaufen der Flüssigkeit verhindert. 8. Neutronenstreuung ist eine mächtige Methode zur Untersuchung kondensierter Materie. Neutronen wechselwirken in spezifischer Weise mit den Atomkernen der Probe. Durch selektives Deuterieren kann man z.B. ein individuelles Polymermolekül in einer Polymerschmelze markieren und dessen Konformation strukturell untersuchen. Die energiereichen Neutronen werden nach der Kernspaltung in einem Moderator – zum Beispiel schweres Wasser – abgebremst. Welche Wellenlänge besitzen thermisch moderierte Neutronen? (Hinweis: Welche Aussage kann man über die mittlere Geschwindigkeit der Neutronen nach dem Durchlaufen des Wasserbades treffen und wie kann man daraus die Wellenlänge berechnen?) Nach dem nullten Hauptsatz gilt im thermischen Gleichgewicht, dass die Neutronen und der Moderator die gleiche Temperatur haben. Anders formuliert, besitzen sie die gleiche mittlere kinetische Energie, die durch die Temperatur des Modera-

6 | 1 Phänomenologische Thermodynamik tors bestimmt ist Ethermisch =

p2 p2Neutron 3 = Moderator = kB T. 2mNeutron 2mModerator 2

Die Verknüpfung zwischen Teilchen- und Wellencharakter, also im speziellen zwischen Impuls und Wellenlänge gelingt durch die Gleichung von de Broglie, wonach gilt: h mit p = √3mkB T p= λ Die Wellenlänge der Neutronen ergibt sich durch Auflösen der Energiegleichung nach dem Impuls und nachfolgendes Einsetzten in die de Broglie-Beziehung zu: λ =

h √3mNeutron kB T

1.1.3 Transportgleichungen Berühren sich zwei Objekte mit unterschiedlicher Temperatur, so liegt ein Nichtgleichgewicht vor. Es fließt eine Wärmemenge vom heißeren Objekt zum kälteren, bis ei⇀ ne gemeinsame Endtemperatur erreicht ist. Die Triebkraft für den Wärmefluss j ist der Temperaturgradient. Die Wärmemenge Q, die pro Zeiteinheit durch eine Fläche A fließt, ist proportional zum Temperaturgradienten. Die Wärmeleitfähigkeit λ ist eine Materialkonstante. Für isotrope Medien ist die Größe ein Skalar, für anisotrope Kristalle ein Tensor, da sie dann zusätzlich richtungsabhängig ist ⇀

j =

Q⇀ e = −λ ⋅ grad T At

mit



⇀ ⇀ ⇀

e = (ex , ey , ez ).

(1.2)

Die gleiche mathematische Struktur findet man auch in anderen Transportgleichungen. Eine vornehme Formulierung des Ohmschen Gesetzes lautet: ⇀

j =

⇀ nq ⇀ e = −σ ⋅ grad Φ = σ ⋅ E At

(1.3)



Ein elektrisches Feld E übt eine Kraft auf die n freien Ladungen q aus. Das elektri⇀

sche Feld E lässt sich auch als Gradient des elektrischen Potentials Φ ausdrücken, es ⇀



gilt also E = −grad⋅Φ. Es resultiert eine Stromdichte j , die die Zahl der Ladungsträger pro Fläche und Zeiteinheit erfasst. Die Materialkonstante ist die elektrische Leitfähigkeit σ . In völliger Analogie kann das Diffusionsgesetz wie folgt geschrieben werden: ⇀

j =

n⇀ e = −D ⋅ grad c At

Man sieht: Ein Konzentrationsgradient bewirkt einen Netto-Materiefluss.

(1.4)

1.1 Die grundlegenden Größen und Konzepte

| 7

1.1.3.1 Verständnisfragen Wärmeleitfähigkeit Die folgenden Aufgaben eignen sich gut, Ihr physikalisches Verständnis in einem Gespräch zu ergründen: Wir betrachten eine einfache Fensterglasscheibe, bestehend aus zwei Glasscheiben die durch einen Gasraum getrennt sind. Die Wärmeleitfähigkeit des Glases ist ca. 40 mal größer als die von Luft. 1. Es ist Winter. Die Außentemperatur beträgt 0 °C, innen herrschen wohnliche 20 °C. Durch das Heizen wird ein stationärer Nichtgleichgewichtszustand aufgebaut. Skizzieren Sie qualitativ das vorliegende Temperaturprofil vom Innen- zum Außenraum. Der Gasraum sei zunächst mit Luft gefüllt! 2. Mit welchem Edelgas (He, Ne, Ar, Kr, Xe) würden Sie den Scheibenzwischenraum füllen, wenn ökonomische Überlegungen keine Rolle spielen? 1.

Festgelegt sind nur die Temperaturen an der Innenseite und der Außenseite der Fensterscheibe. Es liegt ein stationärer Nichtgleichgewichtszustand vor. Die nach außen transportierte Wärmemenge wird durch die Heizung nachgeliefert. Die Wärmeleitfähigkeit beschreibt die Wärmemenge, die in einer Sekunde durch eine 1 m dicke Schicht der Fläche 1 m2 fließt, wenn der Temperaturunterschied 1 K beträgt. Die ungekürzte Einheit ist Joule mal Meter pro Quadratmeter, Kelvin und Sekunde. Die höhere Wärmeleitfähigkeit des Glases im Vergleich zum Gas führt zu einem geringeren Temperaturunterschied auf den beiden Seiten der Glasschichten verglichen mit den beiden Grenzen des Gasraums. Die Steigung in den gut wärmeleitenden Glasbereichen ist 40 mal flacher als in der trennenden Luftschicht. Die Absolutwerte der Steigung der T(x)-Kurve ergeben aus der Randbedingung eines vorgegebenen Gesamt-Temperaturunterschieds und sind in der Abbildung 1.3 skizziert.

Abb. 1.3: Schematischer Aufbau eines einfachen Fensterglases. Die Wärmeleitfähigkeit des Gases ist viel kleiner als die des Glases.

8 | 1 Phänomenologische Thermodynamik 2.

Gesucht ist in diesem Fall das Gas mit der niedrigsten Wärmeleitfähigkeit. Es soll schließlich so wenig Energie wie möglich von Innen nach Außen transportiert werden. Da Energie von den Atomen über deren thermische Bewegung vermittelt wird, ist es ratsam, die Art von Atomen zu verwenden, die sich bei gegebener thermischer Energie am langsamsten bewegen 1 2 3 mv = kB T. (1.5) 2 2 Daher wäre es am besten, das schwere aber sehr teure Xe zu verwenden, da diese Atome eine gegebene Energie am langsamsten von der einen Seite zur andern transportieren. Bezüglich des Temperaturprofils gelten die gleichen Überlegungen wie bei Luft. Der Unterschied liegt nur in einem veränderten Verhältnis der Steigungen in Glas und Gas. Die Wärmeleitfähigkeit von Xenon ist rund fünfmal niedriger als die von Luft. Das Verhältnis der Steigungen beträgt damit nicht mehr 1 : 40 sondern 1 : 200. Damit ist der Temperaturabfall in der Gasphase steiler.

Anisotropie der Wärmeleitfähigkeit Die Kristallstruktur von Kupfer ist bekannt. Sie lässt sich als eine kubisch dichteste Kugelpackung der Kupferatome beschreiben. Die nachfolgende Abbildung zeigt die Elementarzelle.

(a)

(b)

Abb. 1.4: Elementarzelle einer kubisch dichtesten Kugelpackung. a) Die dicht gepackten Ebenen liegen senkrecht zur Raumdiagonalen. b) Im Kugelmodell erfasst man die Raumfüllung.

Wir überziehen einen Kupfer-Einkristall mit Paraffin und stechen mit einer heißen Nadel in die (100)-Fläche des Kristalls. Welche Schmelzfigur erwarten Sie? Skizzieren Sie stichpunktartig Ihre Überlegungen! Die Aufgabe ist komplex und kann mit dem gegenwärtigen Wissensstand nicht abschließend beantwortet werden. Die Diskussion der Frage zeigt aber Ihr physikalischchemisches Feingefühl. Auch dies möchte man in einer Prüfung erfassen. Zudem kann man damit auch mal in die Nachbargebiete, wie die anorganische Chemie, reinschnuppern. Wir erarbeiten uns an diesem Beispiel exemplarisch, ausführlich und Schritt für Schritt, alle notwendigen Zusammenhänge. In einem Prüfungsgespräch würden sich diese Zug um Zug entfalten.

1.1 Die grundlegenden Größen und Konzepte

|

9

Sowohl Kupfer als auch Paraffin sind aus dem Alltag bekannt. Der Schmelzpunkt von Kupfer ist recht hoch und liegt bei über tausend Grad Celsius, während Paraffin bei moderaten Temperaturen um die 50 °C schmilzt. Ferner wissen wir aus Erfahrung, dass die Wärmeleitfähigkeit von Metallen sehr hoch ist. Offensichtlich besteht einen Zusammenhang zwischen elektrischer und Wärmeleitfähigkeit, den wir noch nicht näher ergründet haben. Die heiße Nadel überträgt die Wärme auf das Metall und das Paraffin schmilzt. Die Aufgabenstellung fordert uns auf, eine Aussage über die Richtungsabhängigkeit der Wärmeleitfähigkeit im Kristall zu treffen. Ein generelles Merkmal der Kristalle ist die Anisotropie ausgewählter makroskopischer Eigenschaften. Die physikalischen Eigenschaften sind richtungsabhängig. Denken Sie nur mal an die elektrische Leitfähigkeit von Graphit. Das ausgedehnte π-System lässt eine Leitfähigkeit in der Ebene erwarten, während wir senkrecht zu den Ebenen eine verschwindend kleine elektrische Leitfähigkeit vorhersagen. Viele Größen, die in der Physikvorlesung als skalare Größen eingeführt wurden, sind bei Kristallen Tensoren und damit richtungsabhängig. Das Metall besitzt einen kristallinen Aufbau. Man kann eine Elementarzelle identifizieren, die alle wesentlichen Informationen enthält. Der dreidimensionale Festkörper entsteht durch Stapelung der Elementarzelle in alle Raumrichtungen. Aus der allgemeinen Chemie ist das Konzept einer dichtesten Kugelpackung bekannt. Es wurde untersucht, wie man starre Kugeln möglichst dicht im Raum stapeln kann. In einer Ebene ergibt sich folgende, in Abbildung 1.5 gezeigte Anordnung.

A

A B

C A

C A

B

C

B

C

B

C A

B C

A

A B

A

C A

A B

A

C A

A B

A B

C A

C A

A

Abb. 1.5: Die Kugeln sind in der Ebene dicht gepackt. Die Besetzung aller Positionen B bzw. C führt zu einer Ebene mit einem identischen Aufbau, deren Lage aber gegenüber A versetzt ist.

Die nächste Ebene ist im Aufbau identisch zu der vorhergehenden, nur ist ihre Lage versetzt. Die Kugeln müssen ja in den Mulden der ersten Lage landen. Wir nennen die versetzte Ebene B. Die nächste Kugellage kann wiederum versetzt zu den beiden vorhergehenden sein oder identisch zur ersten liegen. Die Abfolge der Ebenen ABABAB

10 | 1 Phänomenologische Thermodynamik nennt man eine hexagonal dichteste Kugelpackung, die Abfolge ABCABCABC eine kubisch dichteste Kugelpackung. Letztere findet man bei den Münzmetallen Kupfer, Silber und Gold. A B A B A B A

A C B A C B A hcp

ccp

Abb. 1.6: Stapelsequenz in einer kubisch dichtesten Kugelpackung (ccp) ABCABC und einer hexagonal dichtesten Kugelpackung (hcp) ABAB. Abbildung aus Hollemann/Wiberg, Anorganische Chemie, de Gruyter Verlag.

Die nachfolgende Klassifizierung des Periodensystems aus dem Buch von Holleman und Wiberg, Anorganische Chemie, zeigt, dass viele Metalle die dichteste Kugelpackung annehmen.

Li

Be

Na

Mg

K

Ca

Sc

Ti

V

Cr

Mn

Fe

Co

Ni

Cu

Zn

Ga

Ge

Rb

Sr

Y

Zr

Nb

Mo

Tc

Ru

Rh

Pd

Ag

Cd

In

Sn

Cs

Ba

La

Hf

Ta

W

Re

Os

Ir

Pt

Au

Hg

Tl

Pb

Al

kubisch-dichteste Packung

hexagonal-dichteste Packung

kubisch-raumzentrierte Packung

Abb. 1.7: Die hexagonal und kubisch dichteste Kugelpackung beschreibt den Aufbau vieler Metalle. Abbildung aus Hollemann/Wiberg, Anorganische Chemie, de Gruyter Verlag.

Die Elementarzelle der kubisch dichtesten Kugelpackung ist das kubisch-flächenzentrierte Gitter. Die dicht gepackten Ebenen liegen senkrecht zur Raumdiagonalen des Würfels. Jeder Eckpunkt des Würfels zählt nur zu einem Achtel zu der skizzierten Elementarzelle, ein Punkt in der Flächenmitte nur zur Hälfte. Die in Abbildung 1.8 auf Seite 11 dargestellte Elementarzelle enthält genau vier Kugeln (8 ⋅ 1/8 + 6 ⋅ 1/2). Betrachten wir die einzelnen Flächen noch mal genauer, so sehen wir, dass die Kugeln in verschiedenen Richtungen unterschiedlich gepackt sind. Längs der Flächendiagonale stoßen sie direkt aneinander, an den Kanten des Würfels dagegen nicht. Wir könnten

1.1 Die grundlegenden Größen und Konzepte

| 11

daher erwarten, dass die Wärmeleitfähigkeit längs der Flächendiagonale größer ist, als entlang der Würfelkante. Der Übertrag der Energie sollte erwartungsgemäß mit der Packung der Atome verknüpft sein. Nehmen wir mal an, die Wärmeleitfähigkeit längs der Flächendiagonale sei größer als senkrecht zu den Kanten. Welche Schmelzfigur ergibt sich dann? Ein weiteres, fundamentales und sehr universelles Konzept ist die Symmetrieanalyse. Der Kristall besitzt offensichtlich eine vierzählige Drehachse, d. h. eine 90-GradDrehung der Elementarzelle ergibt eine völlig identische Anordnung der Kugeln. Alle makroskopischen Eigenschaften des Kristalls müssen daher invariant gegenüber den Symmetrieoperationen des Kristalles sein. Die Schmelzfigur muss mit der Symmetrie des Kristalls verträglich sein und ebenfalls eine vierzählige Symmetrie aufweisen. Damit sind die möglichen Schmelzfiguren des Paraffins stark eingeschränkt. Unsere Vorhersage ergäbe damit das rechte Bild in Abbildung 1.8:

Abb. 1.8: Eine mit der Symmetrie verträgliche Schmelzfigur des Paraffins auf dem Kupfereinkristall.

Leider zeigt sich, dass unsere Überlegungen nicht ausreichend waren. Tatsächlich ergibt das Experiment einen Kreis. Die Wärmeleitfähigkeit kubischer Kristalle ist isotrop. Der Kreis ist natürlich mit der Symmetrie der Elementarzelle verträglich. Diese Aufgabe stammt aus einer Klausur. Die gegebenen Antworten zeigen lehrreiche Fehlvorstellung der Studenten im 2. Semester. Antworten wie „Es kommt darauf an, wo genau die Nadel in die Wachsschicht piekt“ zeigen, dass die Größenordnung der Atome noch nicht verinnerlicht wurde. Eine sehr dünne Nadelspitze besitzt vielleicht einen Durchmesser von 1 μm, der Durchmesser eines Kupfer Atom ist ca. 1,3 Å, d.h. 1,3 ⋅ 10−10 m. Dann findet man auf einer Nadelspitze mit 1 μm2 = 10−12 m2 ungefähr 108 Atome (10−12/10−20). Offensichtlich wechselwirkt ein großes Ensemble von Atomen, die entstehende Schmelzfigur hängt natürlich nicht von der Kontaktstelle der Nadel ab. Ebenso gab es viele Antworten, bei denen das obige Kugelmodell überhaupt nicht in die atomare Ebene übersetzt wurde. „Die Spitze trifft ein Kupfer-Atom, eliminiert es (es platzt wie ein Luftballon), die restlichen Atome sind dann nicht mehr fest verankert, und der Kristall stürzt ein.“

12 | 1 Phänomenologische Thermodynamik 1.1.4 Die experimentellen Schlüsselgrößen der Thermodynamik Die Thermodynamik erlaubt es, die Wärmetönungen oder die Gleichgewichtslage chemischer Reaktionen vorherzusagen. Ersteres gelingt durch eine Analyse der Enthalpie H, letzteres durch die Gibbs-Energie G. Die stoffspezifischen, experimentell fassbaren Größen, die in die Berechnung eingehen, sind die Wärmekapazität und die thermische Zustandsgleichung p(V, T).

1.1.4.1 Die Wärmekapazität Die Zufuhr einer Wärmemenge δ Q erhöht in der Regel die Temperatur des Körpers. Die Wärmekapazität ist eine stoffspezifische Größe, die angibt, mit welcher Temperaturänderung dT der Körper auf die Zufuhr einer Wärmemenge δ Q reagiert Cx = (

δQ ) . dT x

(1.6)

Die Größe x zeigt an, ob die Wärmezufuhr bei konstantem Druck p oder bei konstantem Volumen V erfolgt. Der Wert der Wärmekapazität hängt von der Größe des Systems ab. Chemiker benutzen meist molare Wärmekapazitäten cv , die sich auf ein Mol der zu untersuchenden Substanz beziehen. Die Wärmekapazität ist eine wichtige experimentelle Größe. Wir werden später sehen, dass uns diese Größe Zugang zur Schlüsselgröße der Thermodynamik, der Entropie gibt. Man misst dazu die Temperaturabhängigkeit der Wärmekapazität. In Datenbanken finden Sie die Wärmekapazität häufig in analytischer Form: cv (T) = a + b ⋅ T + b ⋅ T 2 + c ⋅ T 3 + d ⋅ T 4 +

e T2

(1.7)

Hinter diesem Ausdruck steckt keine ausgeklügelte Theorie, sondern lediglich eine Funktion mit den Parametern a, b, c, d und e, die an die experimentellen Daten angepasst wurden. Die Verfügbarkeit eines analytischen Ausdruckes vereinfacht die Rechnung und gestattet die Nutzung einer symbolische Programmiersprachen wie Maple, Mathcad oder Mathematica.

1.1.4.2 Die thermische Zustandsgleichung Unter der thermischen Zustandsgleichung versteht man den funktionalen Zusammenhang zwischen Druck p, Volumen V und Temperatur T. Das ideale Gasgesetz pV = nRT wird nur bei sehr kleinen Drücken und hohen Temperaturen von ausgewählten Gasen befolgt, und bereits bei moderaten Bedingungen treten Abweichungen auf. Wir benutzen aus Gründen der Einfachheit trotzdem häufig die ideale Gasgleichung. Für reale Gase wird meist die van-der-Waals-Gleichung diskutiert. Die dabei eingeführten Parameter haben eine klare physikalische Bedeutung. In der Praxis kommt aber auch die van-der-Waals-Gleichung schnell an ihre Grenzen. Für reale Gase un-

1.1 Die grundlegenden Größen und Konzepte

|

13

ter extremeren Bedingungen wird eine Reihe von Zustandsgleichungen genutzt, die über eine Vielzahl von Anpassungsparametern verfügen. Naturgemäß sind diese Zustandsgleichungen komplex und können durch die vielen Parameter besser an die experimentellen Daten angepasst werden. Die einzelnen Parameter selbst entziehen sich aber einer einfachen physikalischen Interpretation.

1.1.4.3 Wo findet man zuverlässige thermodynamische Daten? Eine wichtige praktische Frage ist: Wo findet man zuverlässige thermodynamische Daten, wie beispielsweise den Verlauf der Wärmekapazität als Funktion der Temperatur, Phasendiagramme, Daten über die Zustandsgleichungen, Standardenthalpien und so weiter? Viele Daten wurden wahrscheinlich schon mal gemessen und zudem vielleicht präziser, als man es selbst könnte. Durch Nutzung der richtigen Datenbank kann man viel Zeit und Energie sparen.

Abb. 1.9: Bildschirmausdrucke bei Benutzung der NIST Datenbank.

14 | 1 Phänomenologische Thermodynamik Eine mögliche zuverlässige Datenquelle stellt das NIST, das National Institute of Standards and Technology, USA zur Verfügung. Ihr Chemistry Webbook bietet eine umfassende Sammlung von Referenzdaten (http://webbook.nist.gov/chemistry/). Die Bildschirmausdrucke in Abbildung 1.9 illustrieren die Suche nach Daten über Ammoniak. Hier können Sie beispielsweise ersehen, wie die Fitparameter für die Wärmekapazität abgelegt werden.

1.1.4.4 Übungsaufgaben 1. Wasser besitzt eine hohe spezifische Wärmekapazität von c = 4,182 J/(g ⋅ K). Es ist daher ein interessantes Material zur Wärmespeicherung. Der Jahresbedarf eines Einfamilienhauses mit aktuellem Dämmstandard und einer Wohnfläche von 150 qm beträgt ca. 10.000 kWh im Jahr. Vergleichen Sie das mit der Wärmemenge, die beim Abkühlen von 20 m3 Wasser von 70 auf 20 °C frei wird! 2. Beim Stoßlüften eines Zimmers im Winter erneuert sich ein großer Teil der Zimmerluft, während sich die Wände kaum abkühlen. Beim langandauernden Öffnen der Fenster werden dagegen auch Decke, Boden und Wände abgekühlt. Vergleichen Sie den Wärmebedarf, um die Luft (Dichte ρ = 1,25 kg/m3 , spezifische Wärmekapazität c = 1,101 J/(g K)) in einem Zimmer (l = 6 m, b = 4 m, h = 2,50 m) um 10 °C zu erwärmen, mit der Wärmemenge, die zur Erwärmung des Mauerwerks der Wände des Bodens und der Decke (Dicke je 0,25 m) um 10 °C erforderlich ist. (Mittlere Dichte des Mauerwerks ρ = 2500 kg/m3, mittlere spezifische Wärmekapazität c = 1,26 J/(g K)!

1.1.5 Zustandsgrößen: Der mathematische Formalismus Wir beschreiben ein thermodynamisches System durch Zustandsgrößen zi . Diese sind unabhängig von seiner Vorgeschichte und nur durch den augenblicklichen Zustand des Systems bestimmt. Ein Beispiel für eine Zustandsgröße ist die Temperatur T. Zwischen den Zustandsgrößen bestehen funktionale Beziehungen. Als Zustandsvariablen zi werden solche Zustandsgrößen bezeichnet, die frei gewählt werden können. Ihre Werte bestimmen die abhängigen Zustandsgrößen, die wir Zustandsfunktionen Z nennen. Ein vollständiger Satz der einstellbaren Zustandsvariablen legt alle weiteren Zustandsfunktionen des Systems eindeutig fest. An Zustandsgrößen sind folgende Bedingungen zu knüpfen: – Die Änderung einer beliebigen Zustandsfunktion Z(z1 , z2 ) längs eines geschlossenen Weges ist Null ∮ dZ = 0.

(1.8)

K

Der Wert der Zustandsfunktion Z wird allein durch seine Zustandsvariablen z1 , z2 bestimmt. Er ist unabhängig von dem Weg, auf dem die Zustandsänderung durchgeführt wird.

1.1 Die grundlegenden Größen und Konzepte



|

15

Gleichbedeutend mit dieser Formulierung ist die Forderung, dass dZ das totale Differential einer Funktion Z(z1, z2 ) sein muss. Dann sind z1 , z2 die entsprechenden Zustandsvariablen dZ = (

𝜕Z 𝜕Z ) dz + ( ) dz . 𝜕z1 z2 1 𝜕z2 z1 2

(1.9)



Wenn dZ das totale Differential einer Funktion Z(z1, z2 ) ist, so müssen die entsprechenden gemischt partiellen Ableitungen gleich sein. Diese Forderung nennen wir die Integrabilitätsbedingung. Mathematisch verbirgt sich dahinter der Satz von Schwarz 𝜕Z 𝜕 𝜕Z 𝜕 [( ) ] = [( ) ] . (1.10) 𝜕z1 𝜕z2 z1 z2 𝜕z2 𝜕z1 z2 z1



Es gibt extensive und intensive Zustandsgrößen. Extensive Zustandsgrößen sind mengenproportional, intensive Zustandsgrößensind mengenunabhängig. Alle extensiven Zustandsfunktionen sind homogene Funktionen ersten Grades in ihren extensiven Zustandsvariablen. Stellt man zum Beispiel eine Mischung aus mehreren Komponenten her und verändert bei festen T, p die Massen aller Komponenten um denselben Faktor λ , so vervielfältigt sich das Volumen V um diesen Faktor λ . Diese Erkenntnis spiegelt eine Erfahrungstatsache wieder V (λ ⋅ n1 , λ ⋅ n2 , . . . , λ ⋅ nk ) = λ V (n1 , n2 , . . . , nk ) .

(1.11)

Eine analoge Beziehung gilt für jede thermodynamische Zustandsgröße Z, die außer von intensiven Variablen auch von gewissen extensiven Variablen zi abhängt Z (λ ⋅ z1 , λ ⋅ z2 , . . . , λ ⋅ zk ) = λ Z (z1 , z2 , . . . , zk ) . –

(1.12)

Satz von Euler – die Homogenitätsrelation: Homogene Funktionen 1. Grades müssen sich nach dem Satz von Euler wie folgt darstellen lassen: Z = ∑( i

𝜕Z ) ⋅z 𝜕zi zk=i̸ i

(1.13)

Die sogenannte Homogenitätsrelation trifft eine wichtige Aussage über den Aufbau thermodynamischer Zustandsfunktionen. Bezeichnet die Variable zi die Stoffmenge, so nennt man die Größe Zi = (

𝜕Z ) 𝜕ni T,p,nk=i̸

die partielle molare Größe Z der Komponente i.

(1.14)

16 | 1 Phänomenologische Thermodynamik

1.1.5.1 Verständnisfragen Versuchen Sie die Fragen wie in einer realen Prüfungssituation kurz und bündig zu beantworten. Der Prüfer wird nachfragen, wenn er mehr wissen möchte. 1. Was versteht man unter einer extensiven, was unter einer intensiven Zustandsgröße? Extensive Zustandsgrößen sind mengenproportional. Sie verdoppeln ihren Wert bei Vereinigung von zwei identischen Systemen. Für intensive Zustandsgrößen gilt diese Aussage nicht. Sie behalten ihren Wert unverändert bei. 2. Welche der folgenden Zustandsgrößen sind extensiv, welche intensiv? Ordnen Sie die Größen Druck p, Volumen V, Temperatur T, innere Energie U, Gibbs-Energie G, molares Volumen vi und chemisches Potential μi der jeweiligen Kategorie zu! Extensive Größen sind Volumen, innere Energie und die Gibbs-Energie. Die intensiven Größen dieser Auflistung sind Druck, Temperatur, molares Volumen und das chemische Potential. 3. Was versteht man unter einer Zustandsfunktion, was unter einer Zustandsvariablen? Zustandsvariablen können vom Experimentator frei gewählt, beziehungsweise auf einen gewünschten Wert eingestellt werden. Die Werte der anderen Zustandsgrößen sind durch die gewählten Zustandsvariablen eindeutig festgelegt und können im Sinne einer mathematischen Definition als Funktion der Zustandsvariablen beschrieben werden. 4. Wann sprechen wir von einem vollständigen Satz von Zustandsvariablen? Ein Satz von Zustandsvariablen ist dann vollständig, wenn die Zustandsfunktionen bei fest vorgegebenen Werten der Zustandsvariablen einen einzigen definierten Wert annehmen. Alle anderen Zustandsgrößen sind durch die Vorgabe der Werte der Zustandsvariablen eindeutig festgelegt. 5. Was verstehen wir unter einer irreversiblen Zustandsänderung? Irreversible Zustandsänderungen können nicht mehr rückgängig gemacht werden. Bringt man das System in den Ausgangszustand, so bleiben in der Umgebung Veränderungen zurück. 6. Was kennzeichnet eine Zustandsfunktion? Die Änderung einer Zustandsfunktion kann für kleine Abweichungen vom jeweiligen Ausgangspunkt durch ein totales Differential beschrieben werden. Das Ringintegral über die Änderung einer Zustandsfunktion verschwindet und der Satz von Schwarz ist erfüllt. 7. Wann ist eine Differentialform ein totales Differential? Eine Differentialform dZ = (

𝜕Z 𝜕Z ) dz + ( ) dz 𝜕z1 z2 1 𝜕z2 z1 2

1.2 Der erste Hauptsatz der Thermodynamik |

17

ist dann ein totales Differential, wenn der Satz von Schwarz erfüllt ist 𝜕 𝜕Z 𝜕 𝜕Z [( ) ] = [( ) ] . 𝜕z2 𝜕z1 z2 z 𝜕z2 𝜕z1 z1 z 1

2

1.2 Der erste Hauptsatz der Thermodynamik Thermodynamische Systeme bestehen aus großen Ensembles. Für Chemiker werden diese meist aus Molekülen gebildet. Wir teilen das uns interessierende Objekt in System und Umgebung auf. Beispiele dafür sind ein Reaktionskolben, ein Liter Luft, ein strahlungserfüllter Hohlraum. Die Grenze zwischen System und Umgebung wird je nach Zweckmäßigkeit festgelegt. Die abgrenzenden Wände zwischen System und Umgebung können dabei folgende Eigenschaften besitzen: – wärmeleitend oder isolierend – deformierbar oder starr – permeabel, impermeabel oder semipermeabel. Die Systemwände legen also fest, ob und wie das System mit der Umgebung kommuniziert, mit anderen Worten, ob es Wärme, Arbeit oder Teilchen mit der Umgebung austauschen kann. Wir teilen Systeme folgendermaßen ein:

Art des Systems

Materieaustausch

Wärmeaustausch

Arbeitsaustausch

abgeschlossen







adiabatisch





+

geschlossen



+

+

offen

+

+

+

Ein abgeschlossenes System kann weder Wärme noch Arbeit mit der Umgebung austauschen, es können auch keine Teilchen zugeführt oder weggenommen werden. Ein offenes System unterliegt dagegen keinerlei Einschränkungen. Der erste Hauptsatz der Thermodynamik beschreibt die Erhaltung der Energie. Er führt eine neue Zustandsgröße, die innere Energie U, ein. Diese beschreibt den Gesamtenergie-Inhalt des Systems, der sich aus der Summe der kinetischen und potentiellen Energien aller Moleküle sowie der in den inneren Freiheitsgraden gespeicherten Energie, ergibt. Die innere Energie ist eine eindeutige Funktion der Zustandsvariablen. Wie für alle Zustandsgrößen gilt auch für die innere Energie, dass ihre Änderung längs eines geschlossenen Weges verschwindet. Wäre dies nicht der Fall, so könnte man ein Perpetuum mobile aufbauen, eine Maschine die aus dem

18 | 1 Phänomenologische Thermodynamik Nichts Energie produziert ∮ dU = 0.

(1.15)

K

Die exakte Formulierung des ersten Hauptsatzes richtet sich nach der Art des vorliegenden thermodynamischen Systems. Der erste Hauptsatz der Thermodynamik ist je nach Art des System anders zu formulieren. Erster Hauptsatz der Thermodynamik: Für ein abgeschlossenes System gilt: Die innere Energie eines abgeschlossenen Systems ist konstant U = konstant dU = 0. (1.16) Für ein geschlossenes System gilt: Die Änderung der inneren Energie entspricht der Summe der mit der Umgebung ausgetauschten Wärme und Arbeit dU = δ Q + δ W.

(1.17)

Dem System entzogene Energiebeiträge werden negativ gezählt, dem System zugeführte positiv. Für ein offenes System gilt entsprechend: Die Änderung der inneren Energie entspricht der Summe der mit der Umgebung ausgetauschten Wärme und Arbeit und den Energieänderungen, die sich aus der Zufuhr oder Entnahme von Materie ergeben dU = δ Q + δ W + δ Ec .

(1.18)

Die Aufteilung der Energie in die am oder vom System verrichteten Arbeit und Wärme erweist sich in den nachfolgenden Betrachtungen als zweckmäßig. Der erste Hauptsatz übernimmt die Rolle eines Buchhalters der Energie. Energie kann nicht erzeugt oder vernichtet werden, es werden nur Energieformen ineinander

Abb. 1.10: Ähnlich wie ein Kontoauszug die Veränderungen des Kontostandes bilanziert, so erfasst der erste Hauptsatz die Veränderungen in der inneren Energie des Systems. Die Vorzeichenkonvention ist in beiden Fällen identisch: Gutschriften werden positiv gezählt.

1.2 Der erste Hauptsatz der Thermodynamik |

19

umgewandelt. Die Veränderungen der inneren Energie des Systems werden bilanziert. Das hat Ähnlichkeiten mit Ihrem Kontoauszug. Sie erhalten Bafög, Sie zahlen Miete, Sie kaufen sich ein paar Bücher. Der Geldfluss wird im Kontoauszug aufgerechnet.

1.2.1 Verständnisfragen 1.

Wann nennt man ein thermodynamisches System offen, geschlossenen, adiabatisch beziehungsweise abgeschlossenen? Diese Unterscheidung von thermodynamischen Systemen bezieht sich auf die unterschiedlichen Möglichkeiten des Energieaustauschs des Systems mit seiner Umgebung. Ein System heißt abgeschlossen, wenn keine Wärme, Arbeit und Teilchen mit seiner Umgebung ausgetauscht werden, also dU = 0 gilt. In einem adiabatischen System kommt es lediglich zum Austausch von Arbeit, also dU = δ W, während in einem geschlossenen System Austausch von Wärme und Arbeit erlaubt ist. Dann gilt dU = δ W + δ Q. In einem offenen System ist darüber hinaus eine Veränderung der Teilchenzahl möglich. Die Bilanzgleichung ergibt sich zu dU = δ W + δ Q + δ Ec . 2. Was verstehen wir unter einer reversiblen Zustandsänderung? Bei reversiblen Zustandsänderungen kann das System wieder in seinen Anfangszustand zurück geführt werden, ohne dass es zu Veränderungen in der Umgebung kommt. Man kann also nicht feststellen, ob das System diesen Ausgangszustand bereits einmal verlassen hat oder nicht. Bei reversiblen Zustandsänderungen bleibt die Entropie konstant. 3. Die innere Energie U erfasst die gesamte, in dem System gespeicherte Energie. In der phänomenologischen Thermodynamik ist die innere Energie eine Funktion von Volumen und Temperatur. Interpretieren Sie diese Abhängigkeit! Anschaulich beschreibt die innere Energie U die Summe der potentiellen und kinetischen Energie der Teilchen des Ensembles. Die Temperatur T steht dabei direkt im Zusammenhang mit der kinetischen Energie. Diese Vorstellung geht konform mit der Definition der kinematischen Definition der Temperatur, wonach die Teilchen am absoluten Nullpunkt in Ruhe sind. Das Volumen V legt den mittleren Teilchenabstand fest. Unter Annahme von attraktiven Dispersionswechselwirkungen ist die potentielle Energie dann umso höher, je weiter die Teilchen voneinander entfernt sind, also je größer das Volumen ist. 4. Stellen wir uns für einen Moment vor, die innere Energie wäre keine Zustandsgröße. Wie kann man dann ein Perpetuum mobile erster Art bauen? Wäre die innere Energie keine Zustandsgröße, wäre auch die Forderung, wonach das Ringintegral immer den Wert Null annimmt, nicht erfüllt. Man könnte deshalb ausgehend von einem Anfangszustand Energie gewinnen, indem man einen energetisch wenig aufwändigen Weg wählt, um in einen Zwischenzustand zu kommen, jedoch für die Rückkehr in den Ausgangszustand einen Reaktions-

20 | 1 Phänomenologische Thermodynamik pfad sucht, bei dem viel Energie freigesetzt wird. Somit wäre ein Energiegewinn zu verzeichnen, obwohl das System vor und nach der Reaktion durch die selben Zustandsvariablen beschrieben wird. Aufgrund des ersten Hauptsatzes muss gelten: ΔU1 = ΔU2 Ein Perpetuum mobile 1. Art ist unmöglich. Weg I ΔU I

U(V , T )

U(V , T )

Weg II ΔU

5.

Abb. 1.11: Die innere Energie ist eine Zustandsgröße, ihre Änderung ist nur durch den Anfangs- und Endzustand bestimmt und unabhängig vom Weg. Ein Perpetuum mobile erster Art ist unmöglich.

Innere Energie U, Enthalpie H sind Zustandsgrößen. Wie kann man die Sublimationsenthalpie Δsub H aus der Verdampfungsenthalpie Δv H und Schmelzenthalpie Δmelt H bestimmen? H Dampf Verdampfung x kJ mol−1 Sublimation (x + y) kJ mol−1

Wasser Schmelzen y kJ mol−1 Eis

6.

Abb. 1.12: Die Änderung einer Zustandsfunktion ist unabhängig vom Weg und nur durch den Anfangs- und Endzustand bestimmt. Die Sublimationsenthalpie ergibt sich direkt aus der Summe von Verdampfungsenthalpie und Schmelzenthalpie.

Wie kann man die Reaktionsenthalpie Δr H der Reaktion Propen zu Propan aus Verbrennungsenthalpien bestimmen? Auch hier wird die Eigenschaft genutzt, dass die Änderung einer Zustandsfunktion wegunabhängig ist. Die Reaktionsenthalpie beim Hydrieren ergibt sich daher durch folgende Überlegung:

1.3 Die Entropie

| 21

H Propene Propane

+ H2 124 kJ mol −1 + 4 21 O2 2058 kJ mol −1

+ 5 O2 2220 kJ mol −1 3 CO2 + 3 H2 O 3 CO2 + 4 H2 O

H2 O

1 O + H2 2 2 286 kJ mol –1

Abb. 1.13: Reaktionsenthalpie aus Verbrennungsenthalpien.

1.3 Die Entropie 1.3.1 Wärme ist keine Zustandsgröße Vor rund 200 Jahren stellte man sich Wärme als ein stoffliches Fluidum vor, das man einem Körper bei Erwärmung zuführt und bei Abkühlung entzieht. Diese Vorstellung wurde durch die Analogie der Transportprozesse begründet. Heute wissen wir: Wärme ist eine Energieform, die in der ungeordneten Bewegung der atomaren Bausteine steckt. Diese Energieform kann in andere Energieformen umgewandelt werden. Ein Stoff ist nicht durch seinen Wärme- oder Arbeitsgehalt gekennzeichnet, sondern durch seine innere Energie. Wärme und Arbeit sind Übertragungsformen von Energie von einem Körper auf einen anderen Körper. Diese Übertragung führt zu einer Erhöhung oder Erniedrigung der inneren Energie des Systems. Die wesentliche Erkenntnis dieses Abschnittes ist: Es gibt keine Zustandsfunktion Wärme oder Arbeit. Die Überlegung beginnt, wie so häufig, durch das Hinschreiben des ersten Hauptsatzes und des totalen Differentials der inneren Energie. Die Änderung dU der Zustandsgröße innere Energie U ist die Summe der mit der Umgebung ausgetauschten Wärme und Arbeit: dU = δ W + δ Q = (

𝜕U 𝜕U ) dT + ( ) dV 𝜕T V 𝜕V T

(1.19)

Wir betrachten im Folgenden ein ideales Gas in einem geschlossenen System und lassen nur Volumenarbeit δ W = −pdV zu: dU = −pdV + δ Q = (

𝜕U 𝜕U ) dT + ( ) dV 𝜕T V 𝜕V T

(1.20)

22 | 1 Phänomenologische Thermodynamik Die in dem Prozess ausgetauschte Wärme ergibt sich zu: δ Q = [(

𝜕U 𝜕U ) ] dT + [( ) + p] dV 𝜕T V 𝜕V T

(1.21)

Stellt die Grösse δ Q ein totales Differential dar? Falls ja, so müsste der Satz von Schwarz erfüllt sein und gelten: 𝜕U 𝜕U 𝜕 𝜕 [( ) ] = [( ) + p] 𝜕V 𝜕T V T 𝜕T 𝜕V T V

(1.22)

Offensichtlich ist dies nicht erfüllt: 𝜕U 𝜕U 𝜕 𝜕p 𝜕 [( ) ] = [( ) ] + ( ) 𝜕V 𝜕T V T 𝜕T 𝜕V T V 𝜕T V

(1.23)

Die gemischt partiellen Ableitungen von U sind identisch, aber die folgende Größe ist ungleich Null: 𝜕p ( ) ≠ 0 𝜕T V Jede partielle Ableitung definiert ein Experiment. Hier soll ein Gas bei konstantem Volumen erhitzt werden und die Abhängigkeit des Druckes von der Temperatur ausgewertet werden. Erfahrungsgemäß steigt der Druck mit der Temperatur. Aus diesem Grund ist die in einem Prozess ausgetauschte Wärme keine Zustandsgröße. Ihre Änderung hängt vom gewählten Weg ab. Genau dieser wird durch das Symbol δ beziehungsweise das von manchen Autoren verwendete Symbol D gekennzeichnet. Eine analoge Aussage gilt für die Arbeit. Auch hier ist der Satz von Schwarz nicht erfüllt. Die Differentialform der Arbeit kann demnach kein totales Differential sein. Folglich ist auch die Arbeit keine Zustandsgröße.

1.3.2 Die vom System abgegebene Wärme entspricht der Änderung der Zustandsgröße Enthalpie Wärme ist keine Zustandsfunktion. Die vom System aufgenommene oder abgegebene Wärme entspricht aber unter bestimmten Bedingungen der Änderung einer Zustandsgröße des Systems: bei konstantem Volumen der inneren Energie U und bei konstantem Druck der Enthalpie H. Wir betrachten ein geschlossenes System, das Wärme und Volumenarbeit mit der Umgebung austauschen kann. Die Verknüpfung des ersten Hauptsatzes der Thermodynamik mit dem totalen Differential der inneren Energie U liefert: 𝜕U 𝜕U dU = −pdV + δ Q = ( ) dT + ( ) dV (1.24) 𝜕T V 𝜕V T Lassen wir nur isochore Zustandsänderungen zu, bei denen das Volumen V unverändert bleibt, also dV = 0 gilt, so ergibt sich: dU = (δ Q)V = (

𝜕U ) dT 𝜕T V

(1.25)

1.3 Die Entropie |

23

Die bei konstantem Volumen übertragene Wärmemenge entspricht der Änderung der inneren Energie U. Die Wärmekapazität cv kann daher auch als die partielle Ableitung der inneren Energie U nach der Temperatur T bei konstantem Volumen V geschrieben werden δQ 𝜕U ) =( ) . cV = ( (1.26) dT V 𝜕T V Nun betrachten wir isobare Zustandsänderungen (dp = 0). Die bei konstantem Druck übertragene Wärme ergibt sich durch folgendes Integral: II

II

II

II

∫(δ Q)p = ∫ (dU + pdV) = ∫ dU + p ∫ dV, I

I

I

(1.27)

I

Qp = UII − UI + p (VII − VI ) = [UII + pVII ] − [UI + pVI ]

(1.28)

Wir führen daher eine neue Zustandsgröße ein, die Enthalpie H. Die Kombination von Zustandsgrößen des Systems liefert wieder eine Zustandsgröße des Systems H = U + pV.

(1.29)

Die bei konstantem Druck übertragene Wärme Qp entspricht der Änderung der neu eingeführten Zustandsgröße Enthalpie Qp = HII − HI .

(1.30)

Ferner kann die Wärmekapazität cp bei konstantem Druck als die partielle Ableitung der Enthalpie nach der Temperatur beschrieben werden: cp = (

δQ 𝜕H ) =( ) dT p 𝜕T p

(1.31)

1.3.3 Temperatur als integrierender Faktor Wir haben im Kapitel 1.3.1 gesehen, dass es keine Zustandsfunktion Wärme Q(V, T) gibt. Die Differentialform für die Wärme stellt kein totales Differential dar. Die gemischt partiellen Ableitungen sind nicht gleich, und die aus dem Satz von Schwarz resultierende Integrabilitätsbedingung ist nicht erfüllt. Es gibt aber einen integrierenden Faktor, der die Größe δ Q in ein totales Differential überführt. Zur Vereinfachung betrachten wir ein ideales Gas, das durch die folgenden Beziehungen gekennzeichnet ist: 𝜕U ( ) = 0, (1.32) 𝜕V T 𝜕U (1.33) ( ) = cV , 𝜕T V cp − cV = R, pV = RT

(1.34) (1.35)

24 | 1 Phänomenologische Thermodynamik Somit reduziert sich die Gleichung (1.21) wie folgt: δ Q = cV dT + pdV

(1.36)

Wir suchen den integrierenden Faktor 𝛾(T), der δ Q in ein totales Differential überführt. Dazu müssen wir folgende Gleichung auswerten: [

𝜕 (𝛾p) 𝜕 (𝛾cV ) ] =[ ] 𝜕V 𝜕T V T

(1.37)

Die Wärmekapazität eines idealen Gases hängt nicht vom Volumen ab. Des weiteren soll der integrierende Faktor nur eine Funktion der Temperatur sein. Die linke Seite der Gleichung verschwindet daher: 0=[

𝜕 (𝛾p) ] 𝜕T V

(1.38)

Wir ersetzen den Druck durch das idealen Gasgesetz p = RT/V und erhalten: 0=[

R 𝜕 (𝛾T) ] V 𝜕T V

(1.39)

Ein totales Differential liegt vor wenn: 𝛾(T) ⋅ T = konstant

(1.40)

Wir können die Konstante willkürlich zu 1 setzten, damit ergibt sich der integrierende Faktor 𝛾 zu: 1 (1.41) 𝛾(T) = T Wir haben eine neue Zustandsgröße, die Entropie mit dS = δ Qrev /T identifiziert. Die Entropie spielt eine Schlüsselrolle in der Thermodynamik.

1.4 Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik Der erste Hauptsatz führt die Wärme als eine Energieform ein und fordert die Erhaltung der Energie. Wir können uns aber leicht Prozesse überlegen, die den Energieerhaltungssatz nicht verletzen und trotzdem nie beobachtet werden. Warum springt ein Kugelschreiber nicht unter Abkühlung der Umgebung auf den Tisch? Warum kann man den riesigen Wärmeinhalt der Ozeane nicht direkt zum alleinigen Antrieb eines Schiffes nutzen? Warum expandiert ein ideales Gas in das Vakuum und schränkt sich nicht auf einen Teilbereich des verfügbaren Volumens ein? Keiner dieser Vorgänge würde dem Energieerhaltungssatz widersprechen. Wir brauchen daher noch eine weitere grundlegende Größe, die Entropie, die etwas über die Richtung spontaner Prozesse aussagt. Der Energieerhaltungssatz spielt die Rolle

1.4 Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik

| 25

eines Buchhalters, der aufpasst, dass Soll und Haben im Einklang sind. Es ist jedoch die neue Zustandsgröße Entropie S, die eine Vorhersage über die tatsächlich ablaufende Prozesse ermöglicht. Zweiter Hauptsatz der Thermodynamik: Jedes thermodynamische System besitzt eine Zustandsgröße Entropie S. Man berechnet Entropieänderungen, indem man das System aus einem willkürlich gewählten Anfangszustand in den jeweiligen Zustand des Systems durch eine Folge von Gleichgewichtszuständen überführt, die hierbei schrittweise zugeführte Wärmemenge δ Qrev bestimmt und durch die entsprechende Temperatur des Wärmeübertrages dividiert. Sämtliche Quotienten werden summiert. Die Entropie eines abgeschlossenen Systems bleibt bei reversiblen Zustandsänderungen unverändert, bei irreversiblen Prozessen nimmt die Entropie des abgeschlossenen Systems zu.

Der zweite Hauptsatz besteht aus zwei Teilen. Der Erste erklärt die Existenz der Zustandsgröße Entropie S und definiert eine Messvorschrift dS =

δ Qrev . T

(1.42)

Alle bisher für Zustandsgrößen geltenden Feststellungen können selbstverständlich auch auf die Entropie S übertragen und gewinnbringend genutzt werden. Nutzt man Volumen V und Temperatur T als die unabhängigen Zustandsvariablen des Systems, so kann die Änderung der Entropie S(V, T) durch ein totales Differential in diesen Variablen dargestellt und über den ersten Hauptsatz mit Messgrößen des Systems verknüpft werden. Dies ist eine wichtige Technik zur Problemlösung. Die Rechenvorschrift präzisiert auch, wie Änderungen der Entropie zu berechnen sind. Wir brauchen einen reversiblen, das heißt vollständig umkehrbaren Ersatzprozess, der den Anfangs- in den Endzustand überführt. Reversibel bedeutet, dass System und Umgebung wieder in den Ausgangszustand zurückgeführt werden können. Da die Änderung einer Zustandsgröße nur vom Anfangs- und Endzustand abhängt, eröffnet der reversible Ersatzprozess die Möglichkeit, Entropieänderungen irreversibler Ausgleichsvorgänge über das Gedankenexperiment zu berechnen. Der zweite Teil des Hauptsatzes enthält eine Extremalaussage für die Größe Entropie. Bitte beachten Sie, diese Aussage bezieht sich auf ein abgeschlossenes System, ein System aus starren, nicht permeablen und nicht wärmeleitenden Wänden. In einem abgeschlossenen System (Beispiel: Dewar-Gefäß) sind die innere Energie, die Teilchenzahl und das Volumen unveränderlich. Die wesentliche Erkenntnis ist, Entropie kann zwar erzeugt, aber nicht vernichtet werden. Jeder irreversible Teilschritt führt zu einer Zunahme der Entropie, die nicht rückgängig gemacht werden kann dS ≥ 0

⇒ (Smax )U,V,n .

(1.43)

Im Gleichgewicht strebt die Entropie des abgeschlossenen Systems einen Maximalwert an.

26 | 1 Phänomenologische Thermodynamik 1.4.1 Expansion eines idealen Gases ins Vakuum Wir wollen den zweiten Hauptsatz auf einen einfachen spontanen Prozess anwenden: die Expansion eines idealen Gases ins Vakuum.

Abb. 1.14: Ein Gas expandiert ins Vakuum. Der Vorgang ist irreversibel und geht mit einem Zuwachs an Entropie einher.

Ein Gas sei in einem Behälter mit dem Volumen V0 eingesperrt. Eine Klappe trennt ihn von einem gleich großen, evakuierten Behälter. Öffnet man die Klappe, so nimmt das Gas spontan den gesamten Raum ein. Zustandsgröße Druck Volumen Temperatur

vor der Expansion

nach der Expansion

p0 V0 T0

p0 /2 2V0 T0

Die Änderung der Zustandsgröße Entropie errechnet man durch einen reversiblen Ersatzprozess, der das System von dem vorgegebenen Ausgangszustand in den Endzustand überführt. Der gesuchte Ersatzprozess ist die reversible, isotherme (dT = 0) Expansion des idealen Gases mit 𝜕U/𝜕V = 0 dU = −pdV + δ Qrev = (

𝜕U 𝜕U ) dT + ( ) dV, 𝜕T V 𝜕V T

dU = −pdV + δ Qrev = 0.

(1.44)

Die innere Energie des Systems bleibt bei dem isothermen Prozess unverändert. Das System nimmt die Wärmemenge δ Q von der Umgebung bei der Temperatur T1 auf und verrichtet damit Arbeit gegen den äußeren Druck p. Wir beziehen unsere Überlegungen auf 1 Mol eines Gases V2

V2

ΔQrev = ∫ pdV = ∫ V1

V1

RT V dV = RT1 ln V|V2 , 1 V

= RT1(ln V2 − ln V1 ) = RT1 ln

V2 . V1

(1.45) (1.46)

1.4 Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik |

27

Die Entropieänderung des Systems errechnet sich daher zu S2 − S1 =

V ΔQrev = R ln 2 . T V1

(1.47)

Die irreversible Expansion des Gases in das Vakuum vergrößert die Entropie des Systems. Dies ist ein Wesensmerkmal aller irreversiblen Prozesse.

1.4.2 Entropiezunahme bei Temperaturausgleich Die wesentliche Aussage des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik ist die Feststellung, dass die Entropie eines abgeschlossenen Systems nicht abnehmen kann. Sie wächst bei allen Ausgleichsvorgängen. Nur bei reversiblen Zustandsänderungen bleibt die Entropie des abgeschlossenen Systems unverändert. Betrachten wir einen weiteren, irreversiblen Ausgleichsprozess: den Temperaturausgleich zweier Metallblöcke unterschiedlicher Temperatur. T ϑ Te ϑ

T

T

δQ

T

Beide Metallblöcke sind gleich groß und aus dem gleichen Material. Das betrachtete abgeschlossenen System besteht aus den beiden Metallblöcken, die völlig isoliert von der Umgebung sind. Block 1 besitzt die Temperatur T1 , Block 2 die Temperatur T2. Es gelte T1 > T2. Im thermischen Kontakt gleicht sich die Temperatur aus, beide Blöcke nehmen dann die Temperatur Te = (T1 + T2 )/2 an. Volumenänderungen können bei diesem Prozess vernachlässigt werden, wir setzen dV = 0. Die Entropie ist dann durch das Integral der Wärmekapazität CV dividiert durch die Temperatur gegeben dS =

δ Qrev dU Cv dT = = . T T T

(1.48)

Um die Abschätzungen zu vereinfachen, nehmen wir die Wärmekapazität im betrachteten Temperaturintervall als konstant an. Die Entropie ist dann durch S = Cv ln T

(1.49)

gegeben. Vor dem thermischen Kontakt ist die Entropie Sa des Gesamtsystems: Sa = Cv (ln T1 + ln T2)

(1.50)

28 | 1 Phänomenologische Thermodynamik Nach dem Temperaturausgleich beträgt die Entropie Se des abgeschlossenen Systems aus den beiden Metallblöcken: Se = 2 ⋅ Cv ln

T1 + T2 2

(1.51)

Die Entropie verändert sich um die Differenz Se −Sa . Die nachfolgende Überlegung wird zeigen, dass die Entropie des abgeschlossenen Systems beim Temperaturausgleich zunimmt. Wir bezeichnen die anfängliche Temperaturdifferenz mit T2 −T1 = 2𝜗 und drücken die Ausgangstemperaturen T1 , T2 durch die gemeinsame Endtemperatur Te der Blöcke und 𝜗 aus. Dieses Vorgehen ist als mathematischer Kniff zu sehen, mit dem die folgenden Ausdrücke vereinfacht werden können T1 = Te + 𝜗,

T2 = Te − 𝜗,

Te =

T1 + T2 , 2

T1 − T2 = 2𝜗,

(1.52)

T1 + T2 − Cv ln T1 − Cv ln T2 2 = 2 ⋅ Cv ln Te − Cv ln(Te + 𝜗) − Cv ln(Te − 𝜗)

Se − Sa = 2 ⋅ Cv ln

= −Cv [− ln Te + ln(Te + 𝜗) − ln Te + ln(Te − 𝜗)] Te + 𝜗 T −𝜗 ) + ln ( e )] Te Te 𝜗 𝜗 = −Cv [ln (1 + ) + ln (1 − )] , Te Te

= −Cv [ln (

Se − Sa = −Cv [ln [(1 + = −Cv [ln (1 −

(1.53)

𝜗 𝜗 ) ⋅ (1 − )]] Te Te

𝜗2 )] . Te2

(1.54)

Der Ausdruck für die Entropieänderung ist immer positiv, da das Argument des Logarithmus immer kleiner als Eins ist. Für 𝜗 < Te ist der Entropiezuwachs näherungsweise gegeben durch: 𝜗2 Se − Sa = C v 2 (1.55) Te Quintessenz: Die Entropie ist die zentrale Größe in der Thermodynamik. Die Entropie eines abgeschlossenen Systems nimmt im Gleichgewicht einen Maximalwert an. Alle spontanen Ausgleichsprozesse vermehren die Entropie des abgeschlossenen Systems. Die Entropie beschreibt daher die Richtung von spontanen Vorgängen. Der Energieerhaltungssatz nimmt die Rolle eines Buchhalters ein. Keine Zustandsänderung darf die Energieerhaltung verletzen. Die Entropie schlüpft in die Rolle des Chefs, der aus den denkbaren Zustandsänderungen, den tatsächlich beobachteten auswählt.

1.4 Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik |

29

1.4.2.1 Verständnisfragen 1. Wie kann man eine Wärmemenge reversibel auf ein Objekt übertragen? Reversibel bedeutet hier, dass die Veränderung des Systems so erfolgt, dass man das System wieder in seinen Ausgangszustand zurückführen kann, ohne dass es zu Veränderungen in der Umgebung kommt. Bei reversiblen Prozessen bleibt die Entropie unverändert. Eine Wärmemenge kann demnach reversibel übertragen werden, wenn die Umgebung als unendlicher großer Thermostat aufgefasst werden kann, bei dem die Wärmeübertragung nicht zu einer Temperaturänderung führt. 2. Bei welchen Zustandsänderungen bleibt die Entropie des abgeschlossenen Systems unverändert? Die Entropie S des abgeschlossenen Systems bleibt bei reversiblen Zustandsänderungen unverändert. Bei irreversiblen Zustandsänderungen nimmt sie zu. 3. Bei welchen Zustandsänderungen bleibt die Entropie eines geschlossenen Systems unverändert? Die Entropie bleibt bei reversiblen, adiabatischen Zustandsänderungen unverändert. Im geschlossenen System gilt für reversible, adiabatische Zustandsänderungen δ Qreversibel = 0. Ein adiabatisch reversibler Prozess ist immer isentrop, die Umkehrung gilt aber nicht. 4. In der 5. Auflage von Atkins Lehrbuch „Physikalische Chemie“, steht rot umrahmt folgende Formulierung des zweiten Hauptsatzes: Ein Prozess, bei dem lediglich Wärme aus einem Reservoir entnommen wird und vollständig in Arbeit umgewandelt wird, ist unmöglich. Sind Sie mit dieser Formulierung einverstanden? Bei der reversiblen, isothermen Expansion eines Gases (siehe Gleichung (1.45)) wird Wärme aus einem Reservoir genommen und vollständig in Arbeit umgewandelt. Man kann sich daher zumindest ein idealisiertes Gedankenexperiment vorstellen, bei dem Wärme vollständig in Arbeit überführt wird. Es ist aber auch mit idealisierten reversiblen Teilschritten nicht möglich, eine periodisch arbeitende Maschine aufzubauen, die nichts weiter macht, als Wärme aus einem Reservoir zu entnehmen und vollständig in Arbeit umzuwandeln. Die Analyse des CarnotKreisprozesses zeigt, dass bei Wärmekraftmaschinen auch immer eine Wärmemenge an ein kälteres Reservoir abgeführt wird.

1.4.3 Freie Energie und Gibbs-Energie Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik sagt etwas über die Richtung spontaner Prozesse in einem abgeschlossenen System aus. Ein System strebt einen Gleichgewichtszustand an. Alle spontanen Vorgänge verlaufen so, dass die Entropie des abgeschlossenen Systems zunimmt. Bei reversiblen Vorgängen bleibt dagegen die

30 | 1 Phänomenologische Thermodynamik Entropie des abgeschlossenen Systems unverändert. Vorgänge, die zu einer Abnahme der Entropie des abgeschlossenen Systems führen, sind nicht möglich. Die Entropie nimmt damit eine zentrale Stellung ein. Sie wählt aus den, mit dem Energieerhaltungssatz verträglichen Zustandsänderungen aus und bestimmt die Richtung spontaner Prozesse, die zu dem Gleichgewichtszustand führen. Im Gleichgewicht nimmt die Entropie des abgeschlossenen Systems einen maximalen Wert an: S = Smax wenn (U, V) = konstant (1.56) Die Verwendung eines abgeschlossenen Systems ist für den Chemiker nicht praktikabel. Es wäre wünschenswert, über eine Zustandsgröße zu verfügen, die etwas über die Richtung spontaner Prozesse aussagt und nur von Größen abhängt, die sich auf den Reaktionskolben beziehen. Dies ist das Ziel der folgenden Überlegung. Chemische Reaktionen werden meist bei konstantem Druck und Temperatur oder konstantem Volumen und Temperatur durchgeführt. Ziel ist es daher, den zweiten Hauptsatz für ein geschlossenes System umzuformulieren. Wir können unser abgeschlossenes System in ein geschlossenes System und die Umgebung einteilen. Das System ist dann unser Reaktionskolben. Die Änderungen im abgeschlossenen System ergeben sich aus der Entropieänderung der Umgebung und der Entropieänderung im Reaktionskolben dSabgeschlossen = dSSystem + dSUmgebung ≥ 0.

(1.57)

Wir betrachten die Umgebung als einen großen Thermostaten, der die Wärmemenge ohne merkliche Temperaturänderung aufnehmen kann. Der Wärmeübertrag auf die Umgebung ist dann reversibel. Es gilt: δ QUmgebung = −δ QSystem

(1.58)

Die Änderung der Entropie der Umgebung kann nun durch eine Systemgröße ausgedrückt werden: δ QUmgebung −δ QSystem dSUmgebung = = (1.59) T T Diesen Zusammenhang setzen wir in die Ungleichung (1.57) ein. Sie kann jetzt, wie gewünscht, allein durch Größen des Reaktionskolbens ausgedrückt werden dSabgeschlossen = dSSystem −

δ QSystem > 0. T

(1.60)

Im Falle eines isobaren Prozesses (dp = 0), ist die reversibel mit der Umgebung ausgetauschte Wärme δ Qrev gleich der Änderung der Enthalpie dH des Systems; im Falle eines isochoren Vorganges mit dV = 0 gleich der Änderung der inneren Energie: −dHSystem T −dUSystem = T

dSUmgebung =

wenn p = konstant,

(1.61)

dSUmgebung

wenn V = konstant

(1.62)

1.5 Die fundamentalen Beziehungen

|

31

Damit wurde Gleichung (1.57) erfolgreich durch Systemgrößen ausgedrückt. Nach Multiplikation mit −T ergeben sich folgende Ungleichungen. Wir lassen den Index System im Folgenden weg: dH − TdS ≤ 0

wenn p, T = konstant,

(1.63)

dU − TdS ≤ 0

wenn V, T = konstant

(1.64)

Es liegt aufgrund dieser Beziehungen nahe, zwei neue Zustandsfunktionen einzuführen: Die freie Energie F:

F = U − TS,

Die Gibbs-Energie G:

G = H − TS

Diese Funktionen sind für die chemische Thermodynamik sehr wichtig. Alle Vorgänge in einem geschlossenen System verlaufen so, dass die Gibbs-Energie G(p, T) beziehungsweise die freie Energie F(V, T) ein Minimum annehmen (dF)T,V ≤ 0

und (dG)T,p ≤ 0.

(1.65)

Quintessenz: Die neu gewonnenen Zustandsfunktionen G(p, T ) und F (V, T ) ergeben sich durch geschicktes Umformulieren des zweiten Hauptsatzes auf ein geschlossenes System. Sie sind besser auf chemische Systeme adaptiert und stellen die Schlüsselfunktionen der chemischen Thermodynamik dar. Die Gibbs-Energie sagt etwas über die Richtung spontaner Prozesse in geschlossenen Systemen aus, ihre Variablen sind einfache Messgrößen.

1.5 Die fundamentalen Beziehungen In diesem Kapitel soll der formale Aufbau der phänomenologischen Thermodynamik noch einmal beleuchtet werden.

1.5.1 Die Gibbs-Hauptgleichung Der erste Hauptsatz führt die innere Energie U als eine Zustandsgröße ein. Die Änderung der inneren Energie ergibt sich aus der Summe der mit der Umgebung ausgetauschten Wärme, Arbeit und den durch die Materiezufuhr bedingten Energieänderungen. Je nach Beschaffenheit der Abgrenzung, die das System von der Umgebung trennt, unterscheiden wir zwischen abgeschlossenem, adiabatischem, geschlossenem und offenem System. Der erste Hauptsatz muss an das jeweils vorliegende System angepasst werden:

32 | 1 Phänomenologische Thermodynamik

Art des Systems

Materieaustausch

Wärmeaustausch

Arbeitsaustausch

abgeschlossen dU =

− 0

− +0

− +0

adiabatisch dU =

− 0

− +0

+ + δW

geschlossen dU =

− 0

+ + δQ

+ + δW

+ δ Ec

+ + δQ

+ + δW

offen dU =

In dieser Form gilt der erste Hauptsatz sowohl für reversible als auch für irreversible Zustandsänderungen. Betrachten wir ausschließlich reversible Zustandsänderungen, also Vorgänge, die ohne irgendwelche Veränderungen in der Umgebung vollständig rückgängig gemacht werden können, so können die einzelnen Energiebeiträge jeweils als das Produkt einer intensiven mit einer extensiven Zustandsgröße geschrieben werden: Energieänderung durch

intensiv ⋅ extensiv

Wärme δ Q

T



dS

Arbeit δ W

Lk



dlk

Volumenarbeit Grenzflächenarbeit

−p 𝛾

⋅ ⋅

dV dA

Materiezufuhr δ Ec

μi



dni

Der zweite Hauptsatz führt die Entropie S als extensive Zustandsgröße ein. Die reversibel ausgetauschte Wärme ergibt sich als das Produkt der intensiven Zustandsgröße Temperatur mit der extensiven Zustandsgröße Entropie. Ebenso lässt sich die reversibel mit der Umgebung ausgetauschte Arbeit als das Produkt eines intensiven Arbeitskoeffizienten Lk mit einer extensiven Arbeitskoordinate lk schreiben. Die Energieänderungen durch Materiezufuhr ergibt sich aus dem Produkt des chemischen Potentials μi der Komponente i mit der Stoffmenge ni . Der zweite Hauptsatz kann daher in der folgenden Form geschrieben werden: dU = TdS + ∑ Lk dlk + ∑ μi dni k

(1.66)

i

Man nennt diese Gleichung die Gibbs-Hauptgleichung. Sie kombiniert die Aussagen des ersten und zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik für reversible Zustandsänderungen. Sie stellt eine fundamentale Grundgleichung der Thermodynamik dar.

1.5 Die fundamentalen Beziehungen

|

33

Unsere Abhandlungen fokussieren sich auf einfache Systeme wie Gase, bei denen sich der Arbeitsaustausch auf die Volumenarbeit reduziert. Die Gibbs-Hauptgleichung lautet dann: dU = TdS − pdV + ∑ μi dni (1.67) i

Der Ausdruck dU stellt ein totales Differential der Funktion U(S, V, ni ) dar. Die unabhängigen Variablen sind die extensiven Zustandsgrößen Entropie S, das Volumen V und die Stoffmengen ni dU = (

𝜕U 𝜕U 𝜕U ) dS + ( ) dV + ∑ ( ) dn . 𝜕S V,ni 𝜕V S,ni 𝜕ni S,T,nk =i̸ i i

(1.68)

Ein Koeffizientenvergleich des totalen Differentials mit der Gibbs-Hauptgleichung ergibt: 𝜕U 𝜕U 𝜕U T=( ) p = −( ) μi = ( ) (1.69) 𝜕S V,ni 𝜕V S,ni 𝜕ni S,V,ni=i̸ Die partiellen Ableitungen der inneren Energie nach den Systemvariablen S, V und ni ergeben die konjugierten Zustandsgrößen T, p und μi . Wir nennen U(S, V, ni ) ein thermodynamisches Potential. Thermodynamische Potentiale haben eine Reihe von bemerkenswerten Eigenschaften, die wir in den nächsten Kapiteln diskutieren und nutzen werden.

1.5.2 Homogenitätsrelation Wir hatten bereits bei der Besprechung des mathematischen Gerüstes für Zustandsfunktionen den Satz von Euler über homogene Funktionen besprochen. Die Kerngedanken seien an dieser Stelle noch mal wiederholt: Eine Funktion f (x1, x2 , . . . , xn )

(1.70)

heißt homogen vom Grad k bezüglich der Variablen (x1 , x2 , . . . , xn ), wenn gilt: f (λ x1 , λ x2 , . . . , λ xn ) = λ k f (x1 , x2 , . . . , xn )

(1.71)

Für die Thermodynamik gilt: Alle extensiven Zustandsfunktionen sind homogene Funktionen ersten Grades in ihren extensiven Zustandsvariablen. Stellt man zum Beispiel eine Mischung aus mehreren Komponenten her und verändert bei festen T, p die Mengen aller Komponenten um denselben Faktor λ , so vervielfältigen sich auch S und V um diesen Faktor λ V (λ ⋅ n1 , λ ⋅ n2 , . . . , λ ⋅ nk ) = λ V (n1 , n2 , . . . , nk ) .

(1.72)

34 | 1 Phänomenologische Thermodynamik Differenzieren wir diese Gleichung nach λ so ergibt sich nach der Produktregel: ∑( i

𝜕V ) ⋅ n = V (n1 , n2 , . . . , nk ) 𝜕(λ ni ) T,p,nk=i̸ i

(1.73)

Die Beziehung muss für alle λ gelten, daher gilt ∑( i

𝜕V ) ⋅ n = V (n1 , n2 , . . . , nk ) . 𝜕ni T,p,nk=i̸ i

(1.74)

Dieser mathematische Satz ist Eulers Theorem über homogene Funktionen. Eine analoge Beziehung gilt für jede thermodynamische Zustandsgröße Z, die außer von intensiven Variablen auch von gewissen extensiven Variablen yi abhängt Z(yi , yj , yk ) = ∑ ( i

𝜕Z ) ⋅y. 𝜕yi yk=i̸ i

(1.75)

Die sogenannte Homogenitätsrelation trifft eine wichtige Aussage über den Aufbau thermodynamischer Zustandsfunktionen. Bitte beachten Sie, dass Gleichung (1.75) die Funktion Z selbst ist und nicht etwa das totale Differential dZ der Funktion Z beschreibt. Ebenso werden die partiellen Ableitungen mit den Zustandsgrößen yi und nicht etwa mit den Änderungen der Zustandsgrößen dyi multipliziert. Bezeichnet die Variable yi die Stoffmengen, so nennt man die Größe Zi = (

𝜕Z ) 𝜕ni T,p,nk=i̸

(1.76)

partielle molare Größe Z der Komponente i. Dementsprechend heißt die Größe Vi = (

𝜕V ) 𝜕ni T,p,nk=i̸

(1.77)

partielles molares Volumen der Komponente i.

1.5.3 Die Gibbs-Duhem-Beziehung Wir wollen die Homogenitätsrelation auf die innere Energie U anwenden. Die innere Energie ist eine Funktion der extensiven Zustandsvariablen Entropie S, Volumen V und Stoffmengen ni . Da alle unabhängigen Zustandsvariablen extensiv sind, fordert die Homogenitätsrelation, dass sich die innere Energie wie folgt darstellen lassen muss: 𝜕U 𝜕U 𝜕U U=( ) ⋅S + ( ) ⋅V + ∑( ) ⋅ ni (1.78) 𝜕S V,ni 𝜕V S,ni 𝜕n i S,V,nk=i̸ i Nach der Gibbs-Hauptgleichung ergaben die partiellen Ableitungen von U die konjugierten Zustandsgrößen T=(

𝜕U ) 𝜕S V,ni

p = −(

𝜕U ) 𝜕V S,ni

μi = (

𝜕U ) . 𝜕ni S,V,nk=i̸

(1.79)

1.5 Die fundamentalen Beziehungen

| 35

Somit können wir die Homogenitätsrelation wie folgt in den extensiven Zustandsgrößen S, V, ni und den intensiven Zustandsgrößen T, p, μi ausdrücken: U = TS − pV + ∑ μi ni

(1.80)

i

Bildet man das totale Differential dieses Ausdruckes, so erhält man: dU = SdT − Vdp + ∑ ni dμi + TdS − pdV + ∑ μi dni i

(1.81)

i

Die ersten drei Terme beschreiben die Änderung der intensiven Größen T, p und μi , die letzten drei Terme beschreiben die Änderung der extensiven Größen S, V und ni . Vergleichen wir nun diesen Ausdruck mit der Gibbs-Hauptgleichung: dU = TdS − pdV + ∑ μi dni

(1.82)

i

Offensichtlich muss die Summe der ersten drei Terme in Gleichung (1.81) Null ergeben. Diese wichtige Aussage trifft die Gibbs-Duhemsche Beziehung: SdT − Vdp + ∑ ni dμi = 0

(1.83)

i

Sie verknüpft die Änderungen der intensiven Systemzustandsgrößen. Die intensiven Zustandsgrößen können nicht beliebig gewählt werden, sie müssen der Gleichung (1.83) genügen. Diese Beziehung wird insbesondere bei der Diskussion von Phasengleichgewichten eine wichtige Rolle spielen. Sie ist eine direkte Konsequenz der Verknüpfung der Gibbs-Hauptgleichung mit der Homogenitätsrelation. Die GibbsDuhem-Beziehung ermöglicht die Bestimmung schwer messbarer Aktivitätskoeffizienten.

1.5.4 Thermodynamische Potentiale An dieser Stelle ist es angebracht, festzuhalten, dass in Chemie und Physik unterschiedliche Bezeichnungen für die thermodynamischen Potentiale gebräuchlich sind. Es gelten folgende Entsprechungen: Gibbs-Energie G



Gibbs-freie-Enthalpie G,

freie Energie F



Helmholtz-Energie A

Die innere Energie U ist eine fundamentale Zustandsfunktion der Thermodynamik. Ihre natürlichen Variablen sind die Entropie S, das Volumen V und die Stoffmengen ni U = TS − pV + ∑ ni μi . (1.84) i

36 | 1 Phänomenologische Thermodynamik Die Änderung der inneren Energie wird durch die Gibbs-Hauptgleichung beschrieben: dU = TdS − pdV + ∑ μi dni

(1.85)

i

Die natürlichen Variablen der inneren Energie U(S, V, ni ) sind experimentell schwer fassbar und nicht durch eine einfache Messvorschrift gegeben. Wir besitzen kein Messinstrument, das direkt die Entropie eines Systems misst. Wir suchen daher nach anderen Variablen, die den experimentellen Gegebenheiten besser angepasst sind. Die meisten Zustandsänderungen laufen bei konstantem Druck p und konstanter Temperatur T oder bei festem Volumen V und fester Temperatur T ab. Mit Hilfe der Legendre-Transformation können neue, für das Experiment zweckmäßige Variablen eingeführt werden. Als Ergebnis resultieren neue thermodynamische Zustandsfunktionen. Innere Energie U zur Enthalpie H: Die innere Energie hat als natürliche Variablen die Zustandsgrößen S, V und ni . Wir wollen eine Zustandsfunktion konstruieren, die, statt dem Volumen, den Druck als unabhängige Variable enthält. Das gelingt durch die folgende Legendre-Transformation: H= U−V(

𝜕U = U + pV = TS + ∑ ni μi ) 𝜕V S,ni i

(1.86)

Die natürlichen Variablen der Enthalpie H sind die Entropie S, der Druck p und die Stoffmengen ni . Das totale Differential der Enthalpie lautet: dH = dU + d(pV) = TdS − pdV + ∑ μi dni + pdV + Vdp,

(1.87)

i

dH = TdS + Vdp + ∑ μi dni

(1.88)

i

Die konjugierten Variablen der Enthalpie H(S, p, ni ) lauten daher: T =(

𝜕H ) 𝜕S p,ni

V=(

𝜕H ) 𝜕p S,ni

μi = (

𝜕H ) 𝜕ni S,p,ni =i̸

(1.89)

Innere Energie U zur freien Energie F : Zielsetzung ist es, eine Zustandsfunktion F zu konstruieren, die, anstatt der Entropie, die Temperatur als unabhängige thermische Variable nutzt. Dies gelingt durch die folgende Legendre-Transformation der inneren Energie: F = U−S(

𝜕U = U − TS = −pV + ∑ ni μi ) 𝜕S V,ni i

(1.90)

Das totale Differential der freien Energie F lautet: dF = dU − d(TS) = TdS − pdV + ∑ μi dni − TdS − SdT ,

(1.91)

i

dF = −SdT − pdV + ∑ μi dni

(1.92)

i

Die freie Energie F hat folgende Variablen: S = −(

𝜕F ) 𝜕T V,ni

p = −(

𝜕F ) 𝜕V T ,ni

μi = (

𝜕F ) 𝜕ni T ,Vni=i̸

(1.93)

1.5 Die fundamentalen Beziehungen

|

37

Das von der IUPAC empfohlene Symbol für die freie Energie ist A. Hier wird aber das ebenfalls gebräuchliche Symbol F bevorzugt, da A für die Oberfläche beziehungsweise Grenzfläche eines Systems genutzt wird. Enthalpie H zur Gibbs-Energie G: Wir führen eine neue Zustandsfunktion G(p, T ) ein, die Temperatur T und Druck p als unabhängige Variable enthält. Folgende Legendre-Transformation wird mit der Enthalpie durchgeführt: G = H − S(

𝜕H = H − TS = ∑ ni μi ) 𝜕S p,ni i

(1.94)

Das totale Differential der Gibbs-Energie dG lautet: dG = dH − d(TS) = TdS + Vdp + ∑ μi dni − TdS − SdT ,

(1.95)

i

dG = −SdT + Vdp + ∑ μi dni

(1.96)

i

Die Gibbs-Energie G hat die folgenden Variablen: S = −(

𝜕G ) 𝜕T p,ni

V =(

𝜕G ) 𝜕p T ,ni

μi = (

𝜕G ) 𝜕ni p,T ,ni=i̸

(1.97)

Die Enthalpie H ist die zweckmäßige Zustandsfunktion zur Beschreibung thermodynamischer Prozesse bei festem Druck p und fester Entropie S, die freie Energie F zur Beschreibung von Zustandsänderungen bei vorgegebenen Volumen V und vorgegebener Temperatur T. Die Gibbs-Energie G ist die erste Wahl zur Beschreibung von Prozessen bei festem Druck p und fester Temperatur T.

1.5.5 Eine Zusammenfassung ohne Formeln Alle thermodynamischen Potentiale sind in ihrem Informationsgehalt gleichwertig. Sie gehen durch eineindeutige Legendre-Transformation hervor und unterscheiden sich lediglich in der Wahl der unabhängigen Variablen. Wir wollen im Folgenden nochmals die wesentlichen Merkmale an Hand eines homogenen, nur aus einer Komponente bestehenden Systems herausarbeiten. Zur vollständigen Beschreibung des Systems benötigen wir eine mechanische Zustandsgröße und eine thermische Zustandsgröße. Zusammen stellen sie einen vollständigen Satz der Zustandsvariablen eines homogenen, aus einer Komponente bestehenden Systems dar. Alle weiteren Zustandsgrößen sind durch die Wahl der unabhängigen Zustandsvariablen vorgegeben. Mechanische Zustandsgrößen: Druck p und Volumen V Thermische Zustandsgrößen: Temperatur T und Entropie S

38 | 1 Phänomenologische Thermodynamik Die unabhängigen Zustandsvariablen selbst können wir frei wählen. Es gibt vier Möglichkeiten eine thermische und eine mechanische Zustandsgröße zu einem Satz unabhängiger Zustandsvariable zu kombinieren: (S, V)

(S, p)

(T, V)

(T, p)

Zu jeder Kombination gehört ein thermodynamisches Potential U (S, V)

H (S, p)

F (T, V)

G (T, p) .

Die Überführung der Potentiale gelingt durch geschickte Koordinatentransformation ausgehend vom thermodynamischen Potential der inneren Energie. Thermodynamische Potentiale haben einige interessante Eigenschaften. Im Gleichgewicht nehmen sie einen Extremalwert an. Leitet man ein thermodynamisches Potential partiell nach einer seiner Zustandsvariablen ab, so erhält man die korrespondierende Zustandsgröße. Was ist die Ableitung der Gibbs-Energie G(p, T) nach dem Druck p? Der Druck p ist eine mechanische Größe. Die korrespondierende mechanische Größe ist das Volumen V. Daher folgt: 𝜕G ( ) =V 𝜕p T Was ist die Ableitung des thermodynamischen Potentials innere Energie U(S, T) nach der Entropie S? Die Entropie ist eine thermische Größe. Die korrespondierende thermische Größe ist die Temperatur T: U(S, V) :

(

𝜕U ) =T 𝜕S V

Die zugehörigen abhängigen Zustandsgrößen ergeben sich direkt aus den partiellen Ableitungen des thermodynamischen Potentials nach den unabhängigen Systemvariablen. Aus diesem Grund wurde in Analogie zu mechanischen Potentialen, die die Kraftkomponenten durch die partielle Ableitung nach den Raumrichtungen erzeugen, auch hier der Name Potential gewählt. Erfahrungsgemäß sind Studenten mitunter irritiert, dass für die innere Energie zwei Variablensätze nebeneinander benutzt werden: U (S, V)

und

U (T, V)

Wir sind in der Wahl der Zustandsvariablen frei. Zur vollständigen Beschreibung eines Systems aus einer Komponente benötigen wir eine thermische (entweder S oder T) und eine mechanische Zustandsgröße (entweder p oder V). Die Zustandsfunktion innere Energie U in den natürlichen Variablen (S, V) ist ein thermodynamisches Potential. Die Ableitung des Potentials nach einer Zustandsgröße liefert die korrespondierende Zustandsgröße. Wir können daher sofort das Ergebnis der Ableitung nach einer der beiden Zustandsgrößen ablesen. Die Wahl des Variablensatzes U(T, V) ist ebenfalls zweckmäßig. Es wird wiederum eine mechanische und eine thermische Größe zur Beschreibung unseres Systems

1.5 Die fundamentalen Beziehungen

39

|

gewählt. Die Zustandsfunktion U(T, V) wird häufig genutzt und kalorische Zustandsgleichung genannt. In diesen Variablen ist die innere Energie allerdings kein thermodynamisches Potential, sondern eine andere sinnvolle Funktion des Systems. Die Ableitung der inneren Energie U(T, V) nach der Temperatur ergibt nicht die Entropie, sondern die Wärmekapazität cv (

U(T, V)

𝜕U ) = cv . 𝜕T V

1.5.6 Maxwell-Relationen Der Satz von Schwarz sagt aus, dass das Ergebnis gemischt-partieller Ableitungen einer Funktion unabhängig von der Reihenfolge der Differentiationen ist. Wir können beispielsweise die Gibbs-Energie G(p, T) erst nach T und dann nach p differenzieren oder umgekehrt. Das Ergebnis bleibt davon unberührt. Da die Ableitung eines thermodynamischen Potentials wiederum eine Zustandsgröße liefert, erhält man durch Bildung gemischt-partieller Ableitungen wichtige Beziehungen zwischen den Zustandsgrößen, die in der nachfolgenden Tabelle aufgelistet sind.

Potential

innere Energie U

Enthalpie H

unabhängige Variable

konjugierte Zustandsgröße

V, S dU = TdS − pdV

T = ( 𝜕U ) 𝜕S V

p, S dH = TdS + Vdp

p=

− ( 𝜕U ) 𝜕V S

Gibbs-Energie G

V, T dF = −pdV − SdT

p, T dG = Vdp − SdT

𝜕 𝜕S

T = ( 𝜕H ) 𝜕S p V = ( 𝜕H ) 𝜕p

S

freie Energie F

Maxwell-Relation

S = − ( 𝜕F ) 𝜕T V p=

𝜕F − ( 𝜕V )T

T

𝜕U [( 𝜕V )S ] = V

𝜕 𝜕V

[( 𝜕U ) ] 𝜕S V S

( 𝜕V ) = ( 𝜕T ) 𝜕S p 𝜕p 𝜕 𝜕S

[( 𝜕H ) ] = 𝜕p S p

( 𝜕p ) 𝜕T V 𝜕 𝜕F [( 𝜕V )T ] 𝜕T V

S = − ( 𝜕G ) 𝜕T p V = ( 𝜕G ) 𝜕p

𝜕T − ( 𝜕p ) = ( 𝜕V )S 𝜕S V

𝜕 𝜕p

S

[( 𝜕H ) ] 𝜕S p

S

𝜕S = ( 𝜕V )T

=

𝜕 𝜕V

[( 𝜕F ) ] 𝜕T V

T

− ( 𝜕V ) = ( 𝜕S ) 𝜕T p 𝜕p 𝜕 𝜕T

[( 𝜕G ) ] = 𝜕p T p

𝜕 𝜕p

T

[( 𝜕G ) ] 𝜕T p

T

Wir erfahren so, wie man die Volumenabhängigkeit oder die Druckabhängigkeit der Entropie misst. Diese Beziehungen heißen die Maxwell-Gleichungen oder auch Maxwell-Relationen. Zur Messung der Volumenabhängigkeit der Entropie müssen wir die thermische Zustandsgleichung, das heißt den funktionalen Zusammenhang zwischen den Größen Druck p, Volumen V und Temperatur T des Systems, also f (p, V, T) analysieren. Die Maxwell-Relation schlägt ein einfaches Experiment vor: Die Ände-

40 | 1 Phänomenologische Thermodynamik rungen der Entropie mit dem Volumen bei konstanter Temperatur ist durch die Temperaturabhängigkeit des Druckes bei konstantem Volumen gegeben.

1.5.7 Das Guggenheim-Quadrat Das Guggenheim-Quadrat ist ein einfaches Merkschema für die vier thermodynamischen Potentiale mit ihren zugehörigen unabhängigen Zustandsvariablen. Zudem kann man daraus direkt die für die Thermodynamik sehr wichtigen MaxwellRelationen ablesen. Im Internet findet sich ein bunter Strauß an mehr oder weniger hilfreichen und absurden Merksprüchen für dieses Konstrukt. Einer davon durchläuft dieses Quadrat spaltenweise und lautet: „Sichere Handhabung profunder Unkenntnis Gilt VielFach als Tugend“: −S H −p

U G

V, F, T

Es sollte keine große Hürde darstellen, diesen Merksatz im Quadrat wiederzufinden. Zu beachten ist, dass die Zustandsvariablen auf der linken Seite, also S und p, negatives Vorzeichen haben, während jene auf der rechten Seite, also V und T, positives Vorzeichen aufweisen. Von links nach rechts wechselt das Vorzeichen also von Minus nach Plus. Achtung: Diese Regel gilt nur bezüglich der Zustandsvariablen. Wird jedoch eine Änderung der Zustandsfunktion wie zum Beispiel dS betrachtet, haben diese sowohl rechts als auch links immer positives Vorzeichen. Welche Variablen gehören zu welchem thermodynamischen Potential? Die vier Zustandsfunktionen U, H, F und G stehen an den Kantenmitten und haben genau dann die besondere Eigenschaft ein thermodynamisches Potential zu sein, wenn als unabhängige Zustandsvariablen diejenigen gewählt werden, welche die Zustandsfunktion umgeben. So ist zum Beispiel G(p, T) ein thermodynamisches Potential. Wie erhält man die Änderung eines thermodynamischen Potentials? Betrachten wir die differentielle Änderung der oft verwendeten Gibbs-Energie. Wie im vorangegangenen Abschnitt erläutert, sind die unabhängigen Variablen von G die „anliegenden“ Variablen p und T. Man betrachtet also die Änderung der Funktion G(p, T). Der Definition des totalen Differentials entsprechend müssen in der Änderung der Gibbs-Energie dG die Änderungen der Variablen Druck p und Temperatur T, also dp und dT, als Summanden mit entsprechenden Koeffizienten auftauchen. Der Vorteil der thermodynamischen Potentiale liegt darin, dass man diese Koeffizienten ganz einfach aus dem Guggenheim-Quadrat ablesen kann. Dabei gilt für die Verknüpfungen stets: S ⇐⇒ T p ⇐⇒ V (1.98)

1.5 Die fundamentalen Beziehungen

|

41

Es besteht immer eine Verknüpfung zwischen Druck und Volumen sowie zwischen Entropie und Temperatur. Die Vorzeichen der Zustandsvariablen erhält man aus dem Quadrat. Hier findet man unter Berücksichtigung des Vorzeichens der Koeffizienten für die Änderung von G entsprechend den Ausdruck: dG = −SdT + Vdp

(1.99)

Damit ist der Informationsgewinn aus dem Guggenheim-Quadrat bezüglich der Änderung von thermodynamischen Potentialen erschöpft. Möchte man zusätzlich noch die Möglichkeit eines Stoffaustauschs beziehungsweise einer Phasenumwandlung oder die Energie der Grenzfläche berücksichtigen, muss man den oben gefundenen Ausdruck durch μi dni für die Änderung bezüglich der Stoffmenge der Komponente i oder 𝛾dA für die Änderung der Grenzfläche ergänzen. Letztere Beiträge werden durch das Guggenheim-Quadrat nicht erfasst. Wie findet man die konjugierten Zustandsgrößen? Wichtig ist in diesem Zusammenhang wieder, dass immer die Zustandsvariablen p und V beziehungsweise S und T miteinander in Beziehung stehen. Es gilt allgemein die Regel, dass die Ableitung eines thermodynamischen Potentials, aber nicht die einer anderen beliebigen Zustandsfunktion die konjugierte Größe liefert. Das Guggenheim-Quadrat hilft, das richtige Vorzeichen zu finden. Betrachten wir die Änderung der Gibbs-Energie G(p, T) mit dem Druck also rein mathematisch die partielle Ableitung nach dem Druck bei konstanter Temperatur (

𝜕G ) = 𝜕p T

?

(1.100)

Aus obigen Überlegungen ist bereits bekannt, dass dieser Differentialkoeffizient dem Volumen gleich ist. Doch welches Vorzeichen wird verwendet? Ein Blick auf das Schema genügt. Wir sehen, dass die Zustandsvariable auf der rechten Seite steht, also folglich ein + zugeschrieben bekommt. Entsprechend gilt für eine Änderung der GibbsEnergie G(p, T) mit der Temperatur T: (

𝜕G ) =+ V 𝜕p T

(

𝜕G ) = −S 𝜕T p

(1.101)

Grund: Die konjugierte Zustandsvariable Entropie S steht auf der linken Seite und erhält „deshalb“ ein negatives Vorzeichen. Das Guggenheim-Quadrat ist eine nützliche Merkhilfe aus der eine Vielzahl von Beziehungen abgeleitet werden können. Wie erhält man die Maxwell-Relationen aus dem Guggenheim-Quadrat? Am einfachsten kann man die Maxwell-Relationen erhalten, wenn man die soeben diskutierten Regeln mit dem Satz von Schwarz für ein gegebenes thermodynamisches Potential kombiniert. Betrachten wir erneut die Maxwell-Relation, die sich aus G(p, T) ergibt. Nach dem Satz von Schwarz gilt: 𝜕G 𝜕G 𝜕 𝜕 [( ) ] = [( ) ] 𝜕T 𝜕p T p 𝜕p 𝜕T p T

42 | 1 Phänomenologische Thermodynamik Ersetzt man darin die Änderungen der Gibbs-Energie G mit Druck p und Temperatur T durch die oben gefundenen Ausdrücke, so ergibt sich folgender, als MaxwellRelationen für die Gibbs-Energie bekannter Zusammenhang (

𝜕V 𝜕S ) = −( ) . 𝜕T p 𝜕p T

(1.102)

1.6 Die Gibbs-Energie G Die zentrale Größe der chemischen Thermodynamik ist die Gibbs-Energie. Sie besitzt experimentell gut messbare Zustandsvariablen wie Druck p, Temperatur T, die Zusammensetzung ni der einzelnen Phasen α, β , sowie die Grenzfläche A des Systems. Sie β β ist eine Funktion des Typus G(p, T, nαi , nαj , . . . , ni , nj . . . , A). Alle Veränderungen laufen so ab, dass die Gibbs-Energie bei vorgegebener Temperatur und Druck einen Minimalwert annimmt. Die Gibbs-Energie erlaubt eine Vorhersage über den Gleichgewichtszustand und das Systemverhalten (dG)p,T = 0

definiert das Gleichgewicht im System.

Eine ganze Bandbreite völlig unterschiedlicher Fragen wie – wo liegen die optimalen Reaktionsbedingungen einer chemischen Reaktion? – wie entsalzt man Meerwasser? – wie viel Gas löst sich in Wasser? – wie funktioniert die Destillation? – spreitet ein Tropfen Öl auf Wasser? – wie viele Phasen können koexistieren? – warum muss ein Notfallpatient im Krankenhaus mit einer isotonischen Kochsalzlösung versorgt werden? werden durch eine Analyse der Gibbs-Energie G beantwortet. Im Folgenden erhöhen wir sukzessive die Komplexität der Fragestellungen.

1.6.1 Phasengleichgewichte in Einkomponenten-Systemen Wir betrachten ein System aus einer Komponente, das in einer Phase α und in einer zweiten Phase β vorliegt. Die Gibbs-Energie G(p, T) errechnet sich aus den Mengenverhältnissen und den chemischen Potentialen der Komponente in den jeweiligen Phasen β β G(T, p, n1 , n2 ) = nα1 μ1α + n1 μ1 . (1.103) In analoger Weise würden Sie das Gesamtvolumen des Systems aus den Stoffmengen und den molaren Volumina der einzelnen Phasen berechnen. Zur Bestimmung der

1.6 Die Gibbs-Energie G

|

43

Gibbs-Energie G eines Becherglases mit Wasser und Eis bestimmt man die Molzahlen der beiden Phasen und multipliziert diese mit dem entsprechenden chemischen Potentialen. Alle Prozesse laufen so ab, dass die Gibbs-Energie G einen minimalen Wert annimmt. Ein Gleichgewicht zwischen den Phasen liegt dann vor, wenn β

β

α α (dG)p,T = 0 = μ1 dn1 + μ1 dn1 .

(1.104)

Was die eine Phase aufnimmt, muss die andere abgeben. Die Veränderungen der β Stoffmengen dnα1 und dn1 sind nicht unabhängig voneinander: β

dnα1 = −dn1 ,

(1.105)

damit ergibt sich die Gleichgewichtsbedingung zu: β

α α (dG)p,T = 0 = (μ1 − μ1 ) dn1

(1.106)

Die entscheidende Größe ist das chemische Potential μ . Gleichgewicht liegt dann vor, wenn das chemische Potential der Komponente in der Phase α gleich dem chemischen Potential der Komponente in der Phase β ist. Die Gibbs-Energie G ist damit die Größe, die über die spontan ablaufenden Prozesse in einem geschlossenen System entscheidet: – Phasengleichgewicht liegt vor, wenn: β

μ1α (p, T) = μ1 (p, T) –

(1.107)

Beide Phasen sind im thermodynamischen Gleichgewicht und koexistieren. ein Nichtgleichgewicht herrscht, wenn: β

μ1α (p, T) > μ1 (p, T)

(1.108)

Die α-Phase verschwindet. Das chemische Potential erlaubt daher eine einfache Vorhersage über das Systemverhalten. In der Skizze auf Seite 44 ist das chemische Potential μi eines Stoffes im festen, flüssigen und gasförmigen Zustand als Funktion der Temperatur für einen vorgegebenen Wert des Drucks p graphisch dargestellt. Der Stoff schmilzt bei der Temperatur Tm. Am Schnittpunkt μ (fest, T) = μ (fl, T) ist das chemische Potential des Stoffes in der festen Phase gleich dem chemischen Potential des Stoffes in der flüssigen Phase. Der Stoff siedet bei der Temperatur Ts . Am Schnittpunkt μ (fl, T) = μ (Gas, T) ist das chemische Potential des Stoffes in der flüssigen Phase gleich dem chemischen Potential des Stoffes in der Gasphase.

44 | 1 Phänomenologische Thermodynamik μ

fest

flüssig Tm

gas

T

Ts

Abb. 1.15: Der Verlauf des chemischen Potentials mit der Temperatur. Das System durchläuft den Phasenübergang fest–flüssig–gas. Die Steigung der Geraden liefert die negative molare Entropie der jeweiligen Phase.

spontan für T > 0 °C spontan für T < 0 °C

Abb. 1.16: Phasenübergang fest–flüssig des Systems Eis–Wasser. Der jeweilige Gleichgewichtszustand korrespondiert mit einem Minimum der Gibbs-Energie G(p, T ).

1.6.2 Die Clausius–Clapeyron-Gleichung Das p(T)-Phasendiagramm beschreibt, welche Phasen bei einem vorgegebenen Druck p und einer vorgegebenen Temperatur T vorliegen. Bei bestimmten Temperaturen und Drücken befinden sich zwei Phasen im thermodynamischem Gleichgewicht. Diese Phasenkoexistenz wollen wir jetzt näher diskutieren. Phasengleichgewicht erfordert: β

μ1α (p, T) = μ1 (p, T)

(1.109)

1.6 Die Gibbs-Energie G

| 45

Diese Beziehung gilt auf der gesamten Koexistenzlinie p(T). Für einen benachbarten Punkt (T + dT, p + dp) auf der Koexistenzlinie gilt entsprechend die Gleichheit der chemischen Potentiale: β

μ1α (p + dp, T + dT) = μ1 (p + dp, T + dT)

(1.110)

Die Funktion kann lokal durch eine lineare Funktion approximiert werden: β

β

𝜕μ 𝜕μ 𝜕μ1α 𝜕μ α β ) dT + ( 1 ) dp = μ1 (p, T) + ( 1 ) dT + ( 1 ) dp 𝜕T p 𝜕p T 𝜕T p 𝜕p T (1.111) Da der Ausgangspunkt auf der Koexistenzlinie liegt, gilt die Gleichheit der chemischen Potentiale. Somit reduziert sich die Gleichung auf: μ1α (p, T) + (

β

(

β

𝜕μ1α 𝜕μ α 𝜕μ 𝜕μ ) dT + ( 1 ) dp = ( 1 ) dT + ( 1 ) dp 𝜕T p 𝜕p T 𝜕T 𝜕p p

(1.112)

T

Diese Bedingung nennt man auch das währende Gleichgewicht. Wir betrachten ein System aus einer Komponente. Das chemische Potential μ1α ist dann die molare Gibbs-Energie G der Phase α. Die Gibbs-Energie G ist ein thermodynamisches Potential, die unabhängigen Variablen sind Druck p und Temperatur T. Die Ableitungen eines thermodynamischen Potentials nach den unabhängigen Zustandsvariablen liefern die konjugierten Zustandsgrößen: – V und p sind konjugierte Größen – S und T sind konjugierte Größen. Die partiellen Ableitungen der Gibbs-Energie G(p, T) ergeben daher die folgenden konjugierten Variablen: 𝜕G 𝜕G S = −( ) V =( ) (1.113) 𝜕T p 𝜕p T Entsprechend ergibt die Ableitung der molaren Gibbs Energie μ , die molare Entropie s und das molare Volumen v der entsprechenden Phase sα = − (

𝜕μ α ) 𝜕T p

vα = (

𝜕μ α ) . 𝜕p T

(1.114)

Gleichung (1.112) nimmt daher unter Verwendung der molaren Volumina vi und Entropien si der Phasen α und β folgende Form an: vα dp − sα dT = vβ dp − sβ dT,

(1.115)

(sβ − sα ) dT = (vβ − vα ) dp,

(1.116)

vα ist das Volumen, das ein Mol des Stoffes im Aggregatszustand der Phase α besitzt. Für die Phasenkoexistenzlinie gilt somit: (

𝜕p sβ − sα Δs ) = β = 𝜕T Koexistenz v − vα Δv

(1.117)

46 | 1 Phänomenologische Thermodynamik Δs ist die Differenz der molaren Entropien der beiden koexistierenden Phasen, Δv ist die Differenz der molaren Volumina der beiden koexistierenden Phasen. Dies kann auch durch die Phasenumwandlungswärme ausgedrückt werden. Die molare GibbsEnergie μ ist definiert als: μ = h − Ts (1.118) Die Phasenkoexistenzbedingung lautet daher: β

μ1α (p, T) = μ1 (p, T), α

α

β

(1.119) β

h (T, p) − Ts (T, p) = h (T, p) − Ts (T, p)

(1.120)

Damit kann die Differenz der molaren Entropien der koexistierenden Phasen durch die Enthalpieänderung ausgedrückt werden. Bei isothermen und isobaren Prozessen entspricht die Enthalpieänderung der Wärmetönung der Phasenumwandlung. Wir können so die molare Verdampfungswärme indirekt bestimmen: hβ (T, p) − hα (T, p) , T Δh Δs = T

sβ − sα =

(1.121)

Damit erhält man die Clausius–Clapeyron-Gleichung: (

𝜕p Δh(T, p) Δs(T, p) ) = = 𝜕T Koexistenz Δv(T, p) TΔv(T, p)

(1.122)

Worin liegt die Bedeutung der Clausius–Clapeyron-Gleichung? – Druck p und Temperatur T können genau und bequem gemessen werden, kalorische Messungen fordern dagegen einen erheblichen experimentellen Aufwand. Wir bestimmen daher experimentell ein Phasendiagramm p(T) und berechnen aus der Steigung der Koexistenzlinie (



𝜕p ) 𝜕T Koexistenz

die Phasenumwandlungswärme. In der NIST-Datenbank findet man viele molare Enthalpien tabelliert. Wir können diese Werte nutzen, um den Verlauf Phasenkoexistenzlinie vorherzusagen.

Die nachfolgenden Beispiele illustrieren typische Fragestellungen die mit der Clausius–Clapeyron-Gleichung beantwortet werden können.

1.6 Die Gibbs-Energie G

|

47

1.6.2.1 Aufgaben und Verständnisfragen Reaktionsbedingugen Eine chemische Reaktion wird in Tetrachlorkohlenstoff durchgeführt. Sie verläuft bei Raumtemperatur sehr langsam. Um die Reaktionsgeschwindigkeit zu erhöhen, soll die Reaktion bei 80 °C durchgeführt werden. Da Tetrachlorkohlenstoff bereits bei 77 °C und p = 1, 013 bar siedet, soll der Druck erhöht werden, so dass das Lösungsmittel erst bei 85°C siedet. Die Verdampfungswärme von CCl4 beträgt ΔHvap = 30 kJ/mol. Berechnen Sie den erforderlichen Druck. Nehmen Sie für die Gasphase ideales Verhalten an 𝜕p Δh(T, p) Δs(T, p) ( ) = . = 𝜕T Koexistenz Δv(T, p) TΔv(T, p) Die Gasphase nimmt ein viel größeres molares Volumen als die flüssige Phase ein Δv(T, p) = vGas − vflüssig ≈ vGas = (

𝜕p Δh ⋅ p ) = 𝜕T Koexistenz RT 2

(

RT , p

d ln p Δh(T, p) ) = , dT Koexistenz RT 2

ln

1 p2 Δh(T, p) 1 ( = − ), p1 R T1 T2

ln

1 1 p2 30 ⋅ 103 ( ) = 0,230, − = p1 8,314 350 358 p = 1,013 exp(0,23) = 1,28 bar.

Rotationsverdampfer Eine Faustregel besagt: Bei einer Temperaturerhöhung um 10 K verdoppelt sich der Dampfdruck einer Substanz. Welchen Wert hat die molare Verdampfungsenthalpie der Substanz, wenn die Regel zwischen 20 °C und 30 °C exakt eingehalten wird? Lösung: (

ΔH(T, p) ΔS(T, p) 𝜕p ) = = 𝜕T Koexistenz ΔV(T, p) TΔV(T, p)

Die Gasphase nimmt ein viel größeres molares Volumen v als die flüssige Phase ein. Wir beziehen im Folgenden alles auf 1 Mol ΔV(T, p) ≈ vGas = (

RT , p

dp Δ H ) = V 2 p. dT Koexistenz RT

48 | 1 Phänomenologische Thermodynamik Trennung der Variablen liefert: (

Δ H dp ) = V 2 dT p Koexistenz RT

Wir integrieren längs der vorgegebenen Grenzen von Temperatur von T1 = 20 °C bis T2 = 30 °C = 303 K und innerhalb der Druck-Grenzen von p1 bis p2 = 2p1 ln

2p1 ΔV H 1 1 Δ H T − T1 ( = − )= V ( 2 ). p1 R T1 T2 R T1 T2

Damit ergibt sich: ΔV H = R ln 2

T2 T1 = 51,2 kJ/mol T2 − T1

Überprüfen Sie nach solchen Umformungen die Einheiten. Verdampfungsenthalpien werden in J/mol gemessen. Dampfautoklav Zum Sterilisieren medizinischer Geräte wird häufig ein Dampfautoklav benutzt. Um die Bakterien sicher abzutöten, sollte der Wasserdampf eine Temperatur von 120 °C besitzen. Bei welchem Druck muss der Autoklav betrieben werden? Die molare Verdampfungsenthalpie des Wasser beträgt ΔV H = 40,7 kJ/mol). Sie sehen wie das Spiel funktioniert. Man hätte auch nach einen Schnellkochtopf fragen können. So unterschiedlich die Fragestellung auch auf den ersten Blick erscheinen mögen, das Lösen erfordert lediglich die Integration der Clausius–ClapeyronGleichung.

1.6.3 Thermodynamik von Mischphasen Bislang haben wir Phasengleichgewichte von Reinstoffen beschrieben. Welche Phasen unter gegebenen Bedingungen vorliegen, wird durch die Gibbs-Energie G beschrieben. Im thermodynamischen Gleichgewicht nimmt die Gibbs-Energie G(p, T, nα , nβ ) ein Minimum an. Diese Betrachtungen wollen wir jetzt auf mehrkomponentige Mischphasen übertragen.

1.6.4 Das chemische Potential in einer Mischphase Das chemische Potential μi (p, T ) eines Stoffes in einer Mischphase ist immer kleiner als das chemische Potential μi∗ (p, T ) des Stoffes in einer reinen Phase, vorausgesetzt Druck p und Temperatur T sind in beiden Phasen gleich. Das chemische Potential eines Stoffes in der Mischphase ist

1.6 Die Gibbs-Energie G

durch

μi (p, T ) = μi∗(p, T ) + RT ln ai

mit

|

ai = fi xi

49

(1.123)

gegeben. Die Aktivität ai ist immer kleiner gleich eins, der Aktivitätskoeffizient fi kann je nach Bezugszustand größer oder kleiner Eins sein. In verdünnten Lösungen kann die Aktivität ai durch den Molenbruch xi ersetzt werden. Es gilt: lim fi = 1

xi →1

(1.124)

Der Ausdruck für das chemische Potential μi reduziert sich unter diesen Bedingungen auf: μi (p, T ) = μi∗ (p, T ) + RT ln xi

(1.125)

Für Probleme mit idealen Gasen (z. B. Henry-Gesetz) ist häufig eine andere Formulierung des chemischen Potentials durch den Partialdruck pi vorteilhaft: μi (p, T ) = μi∗(p0 , T ) + RT ln

pi p = μi0 (T ) + RT ln i p0 p0

(1.126)

Dabei ist p0 ein willkürlich festgelegter Standarddruck, meist p = 1 atm oder p = 1, 013 bar. Thermodynamische Größen in Datenbanken beziehen sich meist auf diesen Standarddruck.

Um das chemische Potential eines Stoffes in einer Mischphase zu bestimmen, betrachten wir den einfachen und transparenten Fall eines Phasengleichgewichtes. Im Folgenden verwenden wir zwei ideale Gase. Ein Behälter sei durch eine semipermeable Wand in zwei Hälften geteilt. Die linke Kammer enthält Komponente 1, die rechte Kammer enthält eine Mischung der beiden idealen Gase 1 und 2.

Abb. 1.17: Ein Behälter wird durch eine semipermiable Wand in zwei Hälften geteilt. Links befindet sich die Komponente 1, rechts eine Mischung aus den Komponenten 1 und 2. Die Wand ist für Komponente 1 durchlässig, dagegen impermeabel für die Komponente 2. Komponente 1 verhält sich so, als ob die Wand gar nicht vorhanden wäre. Im Gleichgewicht entspricht der Partialdruck der Komponente 1 in der Mischphase dem Druck in der linken Kammer.

Die Membran ist nur für die Teilchensorte 1 durchlässig, das Gas verhält sich genau so, als ob die Membran gar nicht da wäre. Die Moleküle schwirren durch den gesamten Raum. In jedem Teilvolumen im Behälter findet man im Mittel die gleiche Teilchenzahl der Sorte 1.

50 | 1 Phänomenologische Thermodynamik Die rechte Kammer enthält eine Gasmischung. Die Membran beschränkt die Molekülsorte 2 auf die rechte Kammer. Da beide Molekülsorten ideale Gase sind, beeinflussen sie sich nicht. In der rechten Kammer herrscht ein Gesamtdruck p, der sich aus den Partialdrücken der beiden Komponenten 1 und 2 ergibt: 2

p = ∑ pi = p1 + p2

(1.127)

i=1

Der Druck in der linken Kammer entspricht dem Partialdruck p1 der Komponente 1 in der Mischphase. Beide Kammern sind im thermodynamischen Gleichgewicht, das Phasengleichgewicht erfordert die Gleichheit der chemischen Potentiale: μ1∗ (p1, T) = μ1 (p, T)

(1.128)

Das chemische Potential μ1(p, T) der Komponente 1 in der Mischphase unter dem Druck p und der Temperatur T ist gleich dem chemischen Potential μ1∗ (p1 , T) derselben Komponente in der reinen Phase unter dem Druck p1 und der Temperatur T. Das Sternchen nutzen wir, um reine Phasen zu kennzeichnen. Gleichung (1.128) setzt das chemische Potential des Stoffes 1 in der Mischphase mit dem chemischen Potential in der reinen Phase in Beziehung. Wir wollen die Beziehung noch etwas umformen. Im Moment stehen auf der linken und rechten Seite unterschiedliche Drücke, der Gesamtdruck p und Partialdruck p1. Wir wollen die chemischen Potentiale μi bei gleichem Druck p betrachten. Die nachfolgende Umformung sollte daher folgenden Ausdruck liefern: μ1(p, T) = μ1∗ (p1, T) = μ1∗ (p, T) + Korrekturterm

(1.129)

Die partielle Ableitung des chemischen Potentials μ ∗ nach dem Druck p ergibt das molare Volumen v∗ des Stoffes, also das Volumen, das ein Mol des Stoffes bei den vorgegebenen Bedingungen p, T einnimmt (

𝜕μ ∗ ) = v∗ 𝜕p T

mit

pv∗ = RT.

(1.130)

Durch die bekannte thermische Zustandsgleichung eines idealen Gases kann das chemische Potential bei beliebigen Drücken berechnet werden p

p ∗

p ∗

∫ dμ = ∫ v dp = ∫ p1

Die Integration ergibt:

p1

p1

p RT dp = RT ln . p p1

μ ∗ (p, T) − μ ∗ (p1, T) = RT ln

p p1

(1.131)

(1.132)

Das chemische Potential der reinen Komponente unter dem Druck p1 kann gemäß Gleichung (1.128) durch das chemische Potential unter dem Druck in der Mischphase

1.6 Die Gibbs-Energie G |

51

ausgedrückt werden. Ein Umformen von Gleichung (1.132) liefert: μ (p, T) = μ1∗ (p1, T) = μ1∗ (p, T) − RT ln

p , p1

μ (p, T) = μ1∗ (p1, T) = μ1∗ (p, T) + RT ln

p1 p

(1.133)

Der gesuchte Korrekturterm wurde ermittelt. Damit haben wir eine wichtige Erkenntnis gewonnen, die direkt auf mehrkomponentige Systeme verallgemeinert werden kann. Das chemische Potential der Komponente i in der Mischphase entspricht dem chemischen Potential in der reinen Phase unter dem gleichen Druck wie in der Mischphase, korrigiert um den Ausdruck RT ln(pi /p). Der Term RT ln(pi /p) ist immer negativ. Daher ist das chemische Potential in einer Mischphase immer kleiner als das chemische Potential der Komponente in einer reinen Phase, vorausgesetzt Druck p und Temperatur T sind in beiden Phasen gleich μi∗ (p, T) > μi (p, T) = μi∗ (p, T) + RT ln

pi . p

(1.134)

Alternativ kann die Gleichung für den Fall eines idealen Gases auch durch den Molenbruch ausgedrückt werden. Es gilt: xi =

pi ∑ pi

(1.135)

In dieser Form verwenden wir das chemische Potential auch für ideale Lösungen: μi (p, T) = μi∗ (p, T) + RT ln xi

(1.136)

Für reale System verwenden wir eine mathematisch analoge Beziehung. Der Molenbruch xi wird in diesem Fall durch die sogenannte Aktivität ai ersetzt: a i = f i ⋅ xi

wobei

fi (p, T, x1, x2 , . . . , xn )

(1.137)

Aktivität ai und Molenbruch xi sind über den Aktivitätskoeffizienten fi verknüpft. Im Aktivitätskoeffizienten fi stecken alle Abweichungen vom idealen Verhalten. Der Aktivitätskoeffizient hängt vom Druck p, der Temperatur T und der Zusammensetzung der Mischphase ni ab μi (p, T) = μi∗ (p, T) + RT ln ai . (1.138) Die Aktivität ai ist immer kleiner oder gleich eins. Der Aktivitätskoeffizient fi kann dagegen größer oder kleiner als eins sein. Sein Wert hängt vom Bezugszustand ab. Die zugrundeliegende Zusammenhänge werden in dem Kapitel fiktive Prüfungsgesprächen ausführlich diskutiert. Für Gase ist häufig eine andere Formulierung des chemischen Potentials μi sinnvoll. Wir führen einen Standarddruck p0 von 1 atm, also 1,013 bar als Bezugszustand ein. Das chemische Potential eines idealen Gases lässt sich dann folgendermaßen

52 | 1 Phänomenologische Thermodynamik schreiben: μ1 (p, T) = μ10 (T) + RT ln

p p0

(1.139)

Die Größe μi0 kennzeichnet das chemische Potential der Komponente i unter dem Standarddruck p0 μi0(T) = μi∗ (p0, T). (1.140) Diese Beziehung werden wir bei der Ableitung des Henry-Gesetzes nutzen.

1.6.5 Die qualitativen Trends Wir fokussieren uns jetzt auf einfache Fälle, bei denen sich eine Mischphase und eine reine Phase im thermodynamischen Gleichgewicht befinden. Wir wollen die auftretenden Veränderungen des Dampfdruckes, des Siedepunktes und des Gefrierpunktes in Abhängigkeit von der Zusammensetzung der Mischphase untersuchen und quantifizieren. Die qualitativen Trends lassen sich sehr einfach durch die Analyse des chemischen Potentials μiα (p, T) als Funktion der Temperatur und des Druckes vorhersagen. Betrachten wir zunächst einen Reinstoff. Das System wird durch die Temperaturerhöhung bei einem vorgegebenen Druck p die Phasenabfolge fest–flüssig–gasförmig durchlaufen. Erhöht man bei einer vorgegebenen Temperatur den Druck, so beobachtet man in der Regel die Sequenz Gas–Flüssigkeit–Festkörper. Die Ableitung des chemischen Potentials μiα (p, T) nach der Temperatur liefert die negative molare Entropie sα des Stoffes in der Phase α, die Ableitung nach dem Druck liefert das Molvolumen vα . Flüssigkeiten und Festkörper sind nahezu inkompressibel. Das Molvolumen µ

µ

fest

gas

flüssig * Tm

T*b

T

gas

flüssig p*

p

Abb. 1.18: Der schematische Verlauf des chemischen Potentials einer Reinphase als Funktion der Temperatur T und des Druckes p. Am Schmelzpunkt Tm∗ ist das chemische Potential der Komponente in der festen und der flüssigen Phase identisch. Analoges gilt für den Siedepunkt Ts∗ .

1.6 Die Gibbs-Energie G

| 53

und damit die Steigung der μ (p)-Kurve ändert sich im Gegensatz zur Gasphase nur geringfügig mit dem Druck p. Die Abhängigkeit des chemischen Potentials μiGas vom Druck ist durch Gleichung (1.130) gegeben: μi (p, T) = μi∗ (p0 , T) + RT ln

pi p0

(1.141) β

Phasengleichgewicht liegt an den Schnittpunkten der Kurven μiα (T) und μi (T). Das chemische Potential des Stoffes in der Gasphase μigas entspricht dann dem chemischen Potential des Stoffes in der flüssigen Phase μifl . Die Überführung des Stoffes von der flüssigen Phase in die Gasphase und umgekehrt verändert die Gibbs-Energie G des Systems nicht. Beide Phasen sind im thermodynamischen Gleichgewicht. Sie können nebeneinander koexistieren. Die Schnittpunkte definieren daher den Siedepunkt (flüssige und Dampfphase sind im Gleichgewicht) und den Gefrierpunkt (flüssige und feste Phase sind im Gleichgewicht). Eine Temperaturerhöhung oder -erniedrigung führt zu dem Verschwinden einer Phase, da so die Gibbs-Energie G des Systems verkleinert wird. Manchmal gibt es Hemmschwellen, welche die sofortige Ausbildung der thermodynamisch stabilen Phase verhindern. Man spricht dann von einer überhitzten bzw. unterkühlten Flüssigkeit. Die Ursachen dieser Hemmschwellen werden im Kapitel 1.8.2 diskutiert. Im Folgenden machen wir aus einer der koexistierenden Phasen eine Mischphase und untersuchen die Auswirkungen auf die thermodynamischen Eigenschaften des Systems. – Fall 1: Die Gasphase ist eine reine Phase, die flüssige Phase ist eine Mischphase: Wir lösen Zucker in Wasser. Die flüssige Phase besteht aus einer wässrigen Lösung. Die Dampfphase ist weiterhin eine reine Phase aus H2O. Das chemische Potential des Wassers in der Zuckerlösung ist kleiner als das chemische Potential des reinen Wassers. Die μHfl2 O (p)- und die μHfl2 O (T)-Kurven sind daher zu kleineren Werten verschoben. Die Konsequenz ist leicht ablesbar: Der Siedepunkt der Mischphase liegt jetzt höher als in der reinen Phase, während sich der Dampfdruck erniedrigt. Ferner sieht man, dass sich der Gefrierpunkt zu kleineren Temperaturen hin verschiebt, vorausgesetzt, es bilden sich keine Mischkristalle aus Zucker und Wasser aus. Besonders deutlich wird dieser Effekt bei der Verwendung von Streusalz während der Wintermonate. Durch den Eintrag von Salz wird das Überfrieren des Straßenbelages verhindert. – Fall 2: Die Gasphase ist eine Mischphase, die flüssige Phase ist eine reine Phase: Wir betrachten einen Behälter, in dem flüssiges Quecksilber im Gleichgewicht mit Quecksilberdampf steht. Wir leiten jetzt Stickstoff in die Gasphase. Der Stickstoff möge sich nicht im flüssigen Quecksilber lösen. Die flüssige Phase ist weiterhin die reine Phase, während die Gasphase zur Mischphase wurde. Die entsprechende μ (p)-Auftragung zeigt, dass der Dampfdruck erhöht wird, während der Siedepunkt des Quecksilbers erniedrigt wird.

54 | 1 Phänomenologische Thermodynamik Gas

Gas

Hg + N 2 Mischphase

H 2O reine Phase

H2 O

Hg flüssig

flüssig H 2O + Zucker Mischphase

Hg

Abb. 1.19: Zucker wird in flüssigem Wasser gelöst. Die flüssige Phase wird zur Mischphase, während die Gasphase weiterhin eine Reinphase bleibt. Das Auflösen verändert Dampfdruck und Siedepunkt.

Abb. 1.20: Quecksilber und Quecksilberdampf stehen im Gleichgewicht. Die Dampfphase wird durch das Einleiten des Inertgases Stickstoff zur Mischphase. Der Stickstoff löst sich nicht im flüssigen Quecksilber.

μ

μ

Mischphase

Mischphase

flüssig

fest ∗ Tm Tm

gas Ts∗ Ts

T

gas

flüssig p p∗

p

Abb. 1.21: Das chemische Potential einer Komponente in einer Mischphase (gestrichelt) ist kleiner als in der reinen Phase (durchgezogen). Durch das Auflösen des Zuckers wird die flüssige Phase zur Mischphase. Der Siedepunkt wird erhöht und der Gefrierpunkt erniedrigt. Der Dampfdruck nimmt ab.

1.6 Die Gibbs-Energie G

μ

|

55

μ

fest

flüssig * Tm

gas Ts

T

T s*

gas

flüssig p*

p

p

Abb. 1.22: Das chemische Potential einer Komponente in einer Mischphase (gestrichelt) ist kleiner als in der reinen Phase (durchgezogen). Hier wird durch das Einleiten des Stickstoffs die Gasphase zur Mischphase, die flüssige Phase bleibt unverändert eine Reinphase. Der Siedepunkt wird erniedrigt und der Dampfdruck des Quecksilbers erhöht.

1.6.6 Osmose Die experimentelle Anordnung der sogenannten Pfefferzelle ist in Abbildung 1.23 skizziert. Lösungsmittel und Mischphase sind durch eine semipermeable Wand getrennt, die für das Lösungsmittel, aber nicht für das Gelöste permeabel ist. Die experimentelle Anordnung ist analog der für Gase diskutierten Situation in Abschnitt 1.6.4. Das chemische Potential des Lösungsmittels in der Mischphase μ (p, T) ist immer kleiner als in der reinen Phase μ ∗ (p, T). Daher kann das Phasengleichgewicht nur er-

hydrostatischer Druck

Lösungsmittel

semipermeable Wand

Lösung

Abb. 1.23: Die Pfefferzelle besteht aus zwei Kammern, die durch eine semipermeable Wand getrennt sind. Das Lösungsmittel kann die Wand passieren, das Gelöste ist dagegen auf die rechte Kammer beschränkt. Da das chemische Potential einer Komponente in einer Mischphase kleiner ist als in der reinen Phase, kann das Gleichgewicht nur durch die Druckerhöhung um den osmotischen Druck Π der Mischphase erreicht werden.

56 | 1 Phänomenologische Thermodynamik π bar

24 20 16 12 8 Abb. 1.24: Der osmotische Druck steigt mit dem Molenbruch der gelösten Komponente. Aus der Abweichung der idealen Kurve (blau) und der tatsächlich gemessenen lässt sich der Aktivitätskoeffizient bestimmen. Zwischen Süß- und Salzwasser baut sich ein osmotischer Druck von 25 bar auf.

4 0

0

0,2

0,4

0,6 m2 mol kg–1

0,8

1,0

reicht werden, wenn die Mischphase unter einem verändertem Druck steht. Die rechte Kammer steht unter einen, um den hydrostatischen Druck der Flüssigkeitssäule erhöhten Druck Π. Die Gleichgewichtsbedingung hierfür lautet: μ1∗ fl (p, T) = μ1fl (p + Π, T)

(1.142)

Das chemische Potential der durchtrittsfähigen Komponente 1 in der reinen Phase unter dem Druck p und bei der Temperatur T entspricht dem chemischen Potential derselben Komponente in der Mischphase unter dem um Π erhöhten Druck μ1∗ fl (p, T) = μ1fl (p + Π, T) + RT ln a1(p + Π, T).

(1.143)

Durch Ausnutzen der Identität x2

f (x2 ) − f (x1 ) = ∫ ( x1

df ) dx dx

(1.144)

kann man Gleichung (1.143) umformen zu: p+Π

μ1∗ fl (p, T) = μ1∗ fl (p, T) + ∫ ( p p+Π

+ RT ∫ ( p

𝜕μ1∗ fl ) dp + RT ln a1 (p), 𝜕p T

𝜕 ln afl1 ) dp 𝜕p T

(1.145)

Subtraktion von μ1∗fl (p, T) auf beiden Seiten liefert: p+Π

p+Π

𝜕μ ∗ fl 𝜕 ln afl1 ) dp + RT ln a1(p) = − ∫ ( 1 ) dp − RT ∫ ( 𝜕p T 𝜕p T p

p

(1.146)

1.6 Die Gibbs-Energie G

|

57

Die Druckabhängigkeit der Aktivität bereitet Schwierigkeiten. Wir suchen daher einen alternativen Zugang zu dieser Größe. Wie im Abschnitt 1.6.4 gezeigt, kann das chemische Potential einer Komponente in einer Mischphase durch die Aktivität ausgedrückt werden: μ1 (p, T) = μ1∗ (p, T) + RT ln a1 ,

(1.147)

μ1∗ (p, T)

(1.148)

+ RT ln a1 = μ1(p, T) −

Wir differenzieren den Ausdruck nach dem Druck p: + RT (

𝜕 ln a1 𝜕μ fl 𝜕μ ∗ fl ) =( 1) −( 1 ) 𝜕p 𝜕p T 𝜕p T T

(1.149)

Damit können wir die Druckabhängigkeit der Aktivität in Gleichung (1.146) ersetzen und folgenden Ausdruck erhalten p+Π

p+Π

p+Π

𝜕μ ∗ fl 𝜕μ fl 𝜕μ ∗ fl + RT ln a1 (p) = − ∫ ( 1 ) dp − ∫ ( 1 ) dp + ∫ ( 1 ) dp, 𝜕p T 𝜕p T 𝜕p T p

p

p+Π

+ RT ln a1 (p) = − ∫ ( p

(1.150)

p

𝜕μ1fl ) dp, 𝜕p T

(1.151)

p+Π

+ RT ln a1 (p) = − ∫ vfl1 dp.

(1.152)

p

Dabei ist vfl1 das partielle molare Volumen des Lösungsmittels. Eine Flüssigkeit ist nahezu inkompressibel. Das partielle molare Volumen vfl1 kann daher als druckunabhängig angesehen werden p+Π

+ RT ln a1 (p) = −vfl1 ∫ dp = vfl1 (p + Π − p) .

(1.153)

p

Damit haben wir eine einfache Beziehung erhalten, die die Aktivität des Lösungsmittels in der Mischphase mit dem osmotischen Druck verknüpft + RT ln a1 = −vfl1 Π.

(1.154)

Für verdünnte Lösungen kann dieser Ausdruck weiter vereinfacht werden. Die Aktivität a1 wird dann durch den Molenbruch x1 ersetzt + RT ln x1 = −vfl1 Π

mit

+ RT ln(1 − x2 ) = −vfl1 Π

mit

−RTx2 =

−vfl1 Π.

x1 + x2 = 1, ln(1 − x) ≈ −x für x ≈ 0,

(1.155) (1.156) (1.157)

58 | 1 Phänomenologische Thermodynamik In der Regel gilt: (

𝜕afl1 ) = 0 und a1 (p + π) = a1 (p) 𝜕p T

(1.158)

Diese Beziehung vereinfacht Gleichung (1.145). Damit haben wir ein einfaches Gesetz für die Osmose abgeleitet: RT Π = fl x2 (1.159) v1 Die Osmose ist eine kolligative Eigenschaft. Sie hängt nur von der Teilchenzahl, nicht aber von der chemischen Natur der Teilchen ab. Technisch bedeutend ist die Umkehrosmose zur Entsalzung von Meerwasser. Die Mischphase (Salzwasser) wird dabei unter einen externen Druck von 60–80 bar gesetzt. Durch diesen äußeren Zwang wird das Wasser aus der Mischphase in die reine Phase überführt, da durch den externen Druck p extern folgende Beziehung gilt: μ1fl (p + pextern , T) > μ1∗ fl (p, T) Die Salzlösung wird dadurch konzentrierter und die reine Phase kann als Trinkwasser verwendet werden.

1.7 Chemisches Gleichgewicht 1.7.1 Die Reaktionslaufzahl Wir betrachten eine chemische Reaktion bei der 𝜈A Mol des Stoffes A mit 𝜈B Mol des Stoffes B zu 𝜈C Mol des Produktes C und 𝜈D Mol des Produktes D reagieren |𝜈A |A + |𝜈B |B 󴀕󴀬 |𝜈C |C + |𝜈D |D.

(1.160)

Zu Beginn der Reaktion sind im Reaktionsbehälter die Stoffmengen n0A , n0B , n0C und n0D vorhanden. Die Zusammensetzung kann, aber muss nicht der Stöchiometrie der Reaktion entsprechen. Die Ausgangsverhältnisse ändern sich durch die chemische Reaktion in definierter Art und Weise. Eine Zu- beziehungsweise Abnahme der Molzahlen (Stoffmengen) der Reaktanten ist durch die Reaktionsgleichung gegeben. Es gilt: dnB dnC dnD dnA = = = = dξ −|𝜈A | −|𝜈B | + |𝜈C | + |𝜈D |

(1.161)

Die Veränderung der ursprünglichen Zusammensetzung lässt sich durch eine einzige Größe, die Reaktionslaufzahl ξ beschreiben. Manchmal wird ξ ebenso treffend Umsatzvariable genannt. Die Kernidee ist: Die Änderung der Molzahlen der Komponenten in einer chemischen Reaktion kann nicht willkürlich erfolgen, sondern wird durch die Reaktionsgleichung bestimmt. Der Fortgang der Reaktion nach Glei-

1.7 Chemisches Gleichgewicht

| 59

chung (1.160) und die Zusammensetzung in der Reaktionskammer ist eindeutig durch die Reaktionslaufzahl ξ beschreibbar: nA + dnA = nA − |𝜈A |dξ ,

(1.162)

nB + dnB = nB − |𝜈B |dξ ,

(1.163)

nC + dnC = nC + |𝜈C |dξ ,

(1.164)

nD + dnD = nD + |𝜈D |dξ

(1.165)

Die stöchiometrischen Faktoren der Produkte werden positiv gezählt, die der Edukte negativ. Die Reaktionslaufzahl ξ erlaubt es, unseren thermodynamischen Formalismus auf chemische Reaktionen zu übertragen.

1.7.2 Die Gleichgewichtsbedingung: Minimum der Gibbs-Energie G In einem geschlossenen System bei konstantem Druck p und konstanter Temperatur T laufen alle Prozessen so ab, dass die Gibbs-Energie G ein Minimum annimmt. Die Analyse von G erlaubt es, die Gleichgewichtslage einer chemischen Reaktion vorherzusagen. Betrachten wir vier Gase A, B, C und D in einer Reaktionskammer. Die Gibbs-Energie G des Systems ist vollständig durch die Aktivitäten der einzelnen Komponenten sowie durch Druck p und Temperatur T gegeben. Hält man Druck und Temperatur fest, so ist die Gibbs-Energie allein durch die Zusammensetzung im Behälter bestimmt. Läuft eine chemische Reaktion zwischen den Komponenten A, B, C und D ab, so verändert sich die Zusammensetzung und damit auch die Gibbs-Energie G. Zur quantitativen Beschreibung genügen die Kenntnis der Ausgangsstoffmenge und der Wert der Reaktionslaufzahl ξ . Der Wert von ξ definiert dann die vorliegende Zusammensetzung in der Reaktionskammer. Wir können die Gibbs-Energie G(T, p, ξ ) als Funktion von ξ auftragen. Die Reaktion wird so lange ablaufen, bis G einen minimalen Wert annimmt. In der Kammer liegt dann eine definierte Gleichgewichtszusammensetzung der Stoffmengen [nA ], [nB ], [nC ] und [nD ] vor, die wir durch die eckigen Klammern kennzeichnen. Dort gilt: (dG)p,T = 0

(1.166)

Die Zusammensetzung in der Kammer ändert sich durch den Ablauf der chemischen Reaktion. Die Veränderungen in einem System aus k Komponenten werden durch eine einzige Variable, die Umsatzvariable ξ , erfasst k

k

(dG)p,T = ∑ μi dni = ∑ μi 𝜈i dξ = ( i=1

i=1

𝜕G ) dξ . 𝜕ξ p,T

(1.167)

Das Minimum ist erreicht, sobald (

𝜕G ) = Δr G = 0. 𝜕ξ p,T

(1.168)

60 | 1 Phänomenologische Thermodynamik G

nA

ξ [nA ]

nB

[nB ]

nC

[nC ]

nD

[nD ]

Abb. 1.25: Die Gibbs-Energie G hängt von der Zusammensetzung in der Kammer ab. Die Veränderung der Zusammensetzung ist durch die Reaktionsgleichung gegeben und kann durch eine einzige Variable, die Reaktionslaufzahl ξ , beschrieben werden. Die Reaktion strebt die Gleichgewichtszusammensetzung an, bei der die Gibbs-Energie G minimal wird.

Normalerweise nutzen wir das Symbol Δ für die Differenz zweier makroskopischer Größen. In der Definition, die gemäß den IUPAC-Richtlinien erfolgt, ist Δr als die Ableitung der Gibbs-Energie G nach der Reaktionslaufzahl definiert. Der Zusammenhang mit der üblichen Definition wird in Gleichung (1.169) deutlich. Wir können die Änderung der Gibbs-Energie G beim Ablauf der Reaktion als Differenz der chemischen Potentiale der Produkte und Edukte bei den jeweiligen Konzentrationen multipliziert mit den stöchiometrischen Faktoren der Reaktion darstellen (

k 𝜕G ) = Δr G = ∑ 𝜈i μi . 𝜕ξ p,T i=1

(1.169)

Die Summe läuft über alle k Komponenten. Hier sieht man, warum es vorteilhaft ist, die stöchiometrischen Faktoren der Edukte negativ zu zählen. Das chemische Potential μi einer Komponente in einer Mischphase lässt sich durch das chemische Potential des reinen Stoffes μi∗ (p, T) und dem Aktivitätskoeffizienten ausdrücken. Im Falle von Lösungen mussten wir mitunter den hypothetischen Standardzustand unendlicher Verdünnung einführen μi = μi∗ (p, T) + RT ln ai

μi = μi∞ (p, T) + RT ln a∞ i .

(1.170)

Die nachfolgenden Ausführungen gelten ganz allgemein und unabhängig von den Details des jeweiligen Standardzustandes. Wir kennzeichnen im Folgenden den Standardzustand durch ein hochgestellten Kreis. Die Gleichungen können später an die konkrete Fragestellung adaptiert werden (

k k 𝜕G ) = Δr G = ∑ 𝜈i μi0 (p, T) + ∑ 𝜈i RT ln ai . 𝜕ξ p,T i=1 i=1

(1.171)

1.7 Chemisches Gleichgewicht

|

61

Den ersten Term nennt man die Gibbs-Standardreaktionsenthalpie Δr G0 . Der zweite Term entspricht der Überführung der Reaktionspartner in den Zustand der Mischphase im Reaktor Δr G = (

k 𝜕G ) = Δr G0 + ∑ 𝜈i RT ln ai . 𝜕ξ p,T i=1

(1.172)

Je nach Steigung der Kurve im G(ξ )-Diagramm sind unterschiedliche Szenarien denkbar: Δr G < 0: Das System ist nicht im Gleichgewicht. Die Reaktion verläuft von Edukten zu Produkten bis das Gleichgewicht erreicht ist. Δr G > 0: Das System ist nicht im Gleichgewicht. Die Reaktion verläuft von den Produkten zu den Edukten bis das Gleichgewicht erreicht ist. Δr G = 0: Es liegt Gleichgewicht vor.

Die Gibbs-Standardreaktionsenthalpie Δr G0 = ∑ki=1 𝜈i μi0 (p, T) hängt vom gewählten Standardzustand ab. Sie bezieht sich auf Reinsubstanzen in Standardzuständen und ist damit unabhängig von der Zusammensetzung der Mischphase und nur eine Funktion vom Druck p und der Temperatur T. Im Gleichgewicht gilt: (dG)T,p = 0



Δr G = (

𝜕G ) =0 𝜕ξ p,T

(1.173)

Umformen von Gleichung (1.172) liefert: k

Δr G0 = − ∑ 𝜈i RT ln[ai ] = f (p, T)

(1.174)

i=1

Wir kennzeichnen die im Gleichgewicht vorliegenden Aktivitäten durch die eckigen Klammern. Umformen von Gleichung (1.174) liefert: −

k k k Δr G0 = ∑ 𝜈i ln[ai] = ∑ ln[ai ]𝜈i = ln ∏[ai ]𝜈i RT i=1 i=1 i=1

(1.175)

Die linke Seite hängt nur vom Druck und der Temperatur, aber nicht von der Zusammensetzung im Behälter ab: −

k Δr G0 = ln ∏[ai ]𝜈i = ln K(p, T) RT i=1

(1.176)

Mit dieser wichtigen Beziehung setzen wir uns im Folgenden intensiv auseinander.

62 | 1 Phänomenologische Thermodynamik 1.7.3 Das Massenwirkungsgesetz Die Gleichgewichtskonstante K ist definiert als: k

K(p, T) = ∏[ai ]𝜈i

(1.177)

i=1

Im Gleichgewicht gilt: Das Produkt der Aktivitäten der Produkte, potenziert mit den stöchiometrischen Faktoren, dividiert durch das Produkt der Aktivitäten der Edukte, potenziert mit den stöchiometrischen Faktoren, ist eine Konstante. Die stöchiometrischen Faktoren der Edukte werden negativ gezählt, die der Produkte positiv, daher entsteht ein Bruch. Die Gleichgewichtskonstante K erfordert die genaue Angabe der Reaktionsgleichung mit den jeweiligen stöchiometrischen Faktoren. Die Gleichgewichtskonstante K und das Reaktionschema gehören untrennbar zusammen |𝜈A |A + |𝜈B |B 󴀕󴀬 |𝜈C |C + |𝜈D |D, k

K(p, T) = ∏[ai ]𝜈i = i=1

Reaktanten

(1.178)

[aC ]𝜈C [aD ]𝜈D . [aA ]𝜈A [aB ]𝜈B

Produkte

Reaktanten

(a) K ≫ 0

(1.179)

Produkte

(b) K ≪ 0

Abb. 1.26: Die Gleichgewichtskonstante K und die Zusammensetzung des Gleichgewichtsgemisches. (a) Wenn K ≫ 1, gibt es mehr Produkte als Reaktanten im Gleichgewicht und man sagt, das Gleichgewicht liegt auf der rechten Seite. (b) Wenn K ≪ 1, gibt es mehr Reaktanten als Produkte im Gleichgewicht und man sagt, das Gleichgewicht liegt auf der linken Seite.

1.7.3.1 Homogene Gasgleichgewichte In diesem Fall ist die Aktivität ai durch ai =

fi p i p0

(1.180)

zu ersetzen. Dabei ist fi der Fugazitätskoeffizient, der vom Druck p, der Temperatur T und der Zusammensetzung der Mischphase aus den k Komponenten mit Stoffmengen ni abhängt. Die Gleichgewichtskonstante K aus dem Massenwirkungsgesetz lautet daher: k

K(p, T) = ∏[ai ]𝜈i = i=1

k

k

i=1

i=1

∏[fi ]𝜈i ∏ [pi ]𝜈i k

∑ 𝜈i (p0 )i=1

(1.181)

1.7 Chemisches Gleichgewicht

|

63

Wir können eine Konstante Kp einführen k

Kp = ∏[pi]𝜈i .

(1.182)

i=1

Der Zusammenhang von K und Kp ist durch die folgende Identität gegeben: k

K = (p0 )

k

− ∑ 𝜈i

⋅ ∏[fi ]𝜈i ⋅ Kp

i=1

(1.183)

i=1

Die Gleichgewichtskonstanten Kp ist dimensionsbehaftet, sofern ∑ki=1 𝜈i ≠ 0 ist. Für das Ammoniakgleichgewicht hat Kp die Dimension [1/Druck]. Bitte beachten Sie, dass nicht jeder Autor diese Definition von Kp nutzt. Manche bevorzugen eine dimensionslose Konstante, in der die Drücke auf einen Druck bei einem Standardzustand p0 normiert werden. Anstelle der Partialdrücke pi kann man auch den Molenbruch xi nutzen: p (1.184) xi = i p Die Grösse p ist dann der Gesamtdruck in der Kammer. Wir definieren eine Konstante Kx : k

Kx = ∏[xi ]𝜈i

(1.185)

i=1

Alternativ können wir auch die Konzentration ci verwenden: Die Größe V ist dann das Gesamtvolumen der Kammer p n ci = i = i . (1.186) V RT Wir definieren eine Konstante Kc k

Kc = ∏[ci ]𝜈i .

(1.187)

i=1

Es gilt folgender Zusammenhang zwischen den Konstanten Kp , Kx und Kc : k

( ∑ 𝜈i )

Kp = p i=1

k

( ∑ 𝜈i )

⋅ Kx = (RT) i=1

⋅ Kc

(1.188)

1.7.3.2 Homogene Lösungsgleichgewichte Bei homogenen Lösungsgleichgewichten formuliert man die Gleichgewichtskonstanten allgemein durch: k

Kx = ∏[xi ]𝜈i

(1.189)

i=1

Die Gleichgewichtskonstante K aus dem Massenwirkungsgesetz lautet dann: k

K = Kx ∏[fi ]𝜈i i=1

(1.190)

64 | 1 Phänomenologische Thermodynamik 1.7.4 Beeinflussung des Gleichgewichts Die Gibbs-Standardreaktionsenthalpie ist definiert als: k

Δr G0 (T, p) = ∑ 𝜈i μi0 (T, p) = −RT ln K(T, p)

(1.191)

i=1

Die Gleichgewichtskonstante hängt nur von Druck p und Temperatur T ab, aber nicht von der Zusammensetzung: ln K(T, p) = −

1 k μ0 1 Δr G0 = − ∑ 𝜈i i R T R i=1 T

(1.192)

Wir wollen die Abhängigkeiten diskutieren.

1.7.4.1 Die Temperaturabhängigkeit der Planckschen Funktion G/T Planck benutzt in seinen lesenswerten Abhandlungen die Funktion G/T. Es ist nützlich, sich kurz mit diesem funktionalen Zusammenhang auseinanderzusetzen. Die Gibbs-Energie G ist ein thermodynamisches Potential. Wir erhielten sie durch eine Legendre-Transformation aus der Enthalpie H G(T, p) = H − TS.

(1.193)

Die Ableitung der Gibbs-Energie G nach der Temperatur T, beziehungsweise dem Druck p, ergibt die konjugierte Zustandsgrößen: S = −(

𝜕G ) 𝜕T p

V =(

G(p, T) = H + T (

𝜕G ) , 𝜕p T

𝜕G ) 𝜕T p

(1.194)

(1.195)

Wir multiplizieren beide Seiten mit −1/T 2 −

G(p, T) H 1 𝜕G =− 2 − ( ) 2 T T T 𝜕T p

(1.196)

und stellen etwas um. Wir werden gleich sehen, dass die linke Seite stark vereinfacht werden kann: G(p, T) 1 𝜕G H − + ( ) =− 2 (1.197) T2 T 𝜕T p T Die Ableitung eines Produktes von Funktionen ergibt nach der Kettenregel: 𝜕f (x) 𝜕g(x) 𝜕 (f (x) ⋅ g(x)) = ⋅ g(x) + f (x) ⋅ 𝜕x 𝜕x 𝜕x

(1.198)

1.7 Chemisches Gleichgewicht

|

65

Weiterhin gilt:

1 𝜕 1 ( )=− 2 𝜕T T T Damit lässt sich Gleichung (1.196) wie folgt darstellen: H 𝜕 G ( ) =− 2 𝜕T T p T

(1.199)

(1.200)

Für das chemische Potential gilt entsprechend: 𝜕 μ h ( ) =− 2 𝜕T T p T

(1.201)

Diese Beziehung ist nützlich bei den nachfolgenden Betrachtungen.

1.7.5 Optimierung der Reaktionsausbeute Ein Synthetiker möchte die Reaktionsausbeute maximieren. Die Edukte sollen möglichst vollständig zu Produkten umgesetzt werden. Statt wochenlang Synthesen bei verschiedenen Drücken und Temperaturen durchzuführen und die Reaktionsausbeuten zu tabellieren, analysiert man stattdessen die Gibbs-Energie G. Man sucht nach den Bedingungen, bei denen das Minimum der Gibbs-Energie gegen die Reaktionslaufzahl zu den Produkten verschoben ist. Sie sehen, die Gibbs-Energie G ist auch für den synthetisch arbeitenden Chemiker wichtig. Die Gleichgewichtsbedingung (dG)p,T = 0 führte zur Gleichgewichtskonstanten K aus dem Massenwirkungsgesetz. Die Gleichgewichtskonstante K ist nur eine Funktion vom Druck p und der Temperatur T. Wir müssen daher die Druck- und Temperaturabhängigkeit von K analysieren.

G

ξ

Abb. 1.27: Zielsetzung der Synthese ist es, eine möglichst große Ausbeute zu erzielen. Wir suchen daher nach Reaktionsbedingungen, welche die Lage des Gleichgewichts auf die Seite der Produkte verschiebt.

66 | 1 Phänomenologische Thermodynamik 1.7.5.1 Temperaturabhängigkeit der Gleichgewichtskonstanten Die Temperaturabhängigkeit der Gleichgewichtskonstanten ergibt sich aus der Ableitung von ln K nach der Temperatur T ln K(T, p) = −

1 Δr G0 1 k μ0 = − ∑ 𝜈i i , R T R i=1 T

k 𝜕 ln K μ0 1 𝜕 Δr G0 1 𝜕 =− ( )=− (∑ 𝜈i i ) . 𝜕T R 𝜕T T R 𝜕T i=1 T

(1.202) (1.203)

Mit der Temperaturabhängigkeit der Planckschen Funktion ergibt sich: 1 k −h0 𝜕 ln K = − [∑ 𝜈i 2i ] 𝜕T R i=1 T

(1.204)

Damit haben wir die gewünschte Beziehung erhalten: k

𝜕 ln K = 𝜕T

∑ 𝜈i h0i

i=1

RT 2

=

Δr H 0 RT 2

(1.205)

Man nennt diesen Ausdruck auch die van’t-Hoffsche Reaktionsisobare. Die Standardreaktionsenthalpie berechnet sich zu: Δr H 0(T, p) = −|𝜈a |h0a − |𝜈b |h0b + |𝜈c |h0c + |𝜈d |h0d

(1.206)

Das Vorzeichen der Standardreaktionsenthalpie Δr H 0 entscheidet, ob die Gleichgewichtskonstante K mit der Temperatur zu- oder abnimmt. Bei exothermen Reaktionen ist die Standardreaktionsenthalpie Δr H 0 negativ. Eine Erhöhung der Temperatur führt damit zu einem kleineren Wert der Gleichgewichtskonstanten K. Das Gleichgewicht wird in Richtung der Edukte verschoben |𝜈a |A + |𝜈b |B 󴀕󴀬 |𝜈c |C + |𝜈d |D.

(1.207)

Im Falle von endothermen Reaktionen liegen die Verhältnisse umgekehrt. Hier ist Δr H 0 positiv. Damit führt eine Temperaturerhöhung zu einer Verbesserung der Ausbeute der Reaktion, da eine Temperaturerhöhung eine Steigerung von K bewirkt.

1.7.5.2 Druckabhängigkeit der Gleichgewichtskonstanten Wir untersuchen jetzt die Druckabhängigkeit der Gleichgewichtskonstanten K: ln K(T, p) = −

1 k Δr G0 =− ∑ 𝜈 μ 0, RT RT i=1 i i

k 1 𝜕 𝜕 ln K =− (∑ 𝜈i μi0 ) 𝜕p RT 𝜕p i=1

T

(1.208) (1.209)

1.7 Chemisches Gleichgewicht

| 67

Die Ableitung des chemischen Potentials μi0 nach dem Druck ergibt das molare Volumen v0i der Reinsubstanz unter den gewählten Standardbedingungen k 1 𝜕 ln K =− (∑ 𝜈i v0i ) . 𝜕p RT i=1

(1.210)

T

Für die Druckabhängigkeit der Gleichgewichtskonstanten ergibt sich so der einfache Ausdruck: 𝜕 ln K Δ V0 =− r (1.211) 𝜕p RT Δr V 0 ist die Differenz der mit den entsprechenden stöchiometrischen Faktoren multiplizierten Molvolumina von Produkten und Edukten. Die stöchiometrischen Faktoren der Ausgangsstoffe werden wieder negativ gezählt, die der Produkte positiv k

Δr V 0 = ∑ 𝜈i v0i (T, p) .

(1.212)

i=1

Gasreaktionen, bei denen die Summe der stöchiometrischen Faktoren nicht verschwindet, lassen sich durch den Druck stark beeinflussen. Dies ist der Grund dafür, dass die Ammoniaksynthese bei so hohen Drücken ausgeführt wird. Die Reaktionsgleichung lautet: 3H2 + N2 󴀕󴀬 2NH3

Δr V = [+ 2 + (−3) + (−1)]V o = −2V o

(1.213)

Da Δr V 0 ≠ 0, unterliegt die Reaktion einer starken Druckabhängigkeit.

1.7.5.3 Prinzip vom kleinsten Zwang Die Gleichgewichtskonstante K ist die zentrale Größe. Sie entscheidet über die zu erzielende, maximale Ausbeute. Da sie nur vom Druck p und der Temperatur T abhängt, können wir die Reaktionsbedingungen optimieren, um so die maximale Ausbeute zu erzielen. Das Systemverhalten kann nach Braun und Le Chatelier wie folgt formuliert werden: Übt man auf ein System, das sich im chemischen Gleichgewicht befindet, einen Zwang durch Änderung der äußeren Bedingungen aus, so stellt sich infolge dieser Störung ein neues Gleichgewicht ein. Das System reagiert so, dass die Wirkung des Zwanges minimal wird. Dem Zwang Temperaturerhöhung wird durch Wärmeverbrauch ausgewichen. Dem Zwang Wärmeentzug wird durch Wärmeproduktion entgegengewirkt: – Erhöht man die Temperatur, wird die wärmeverbrauchende Reaktion gefördert. Umgekehrt wird die wärmeliefernde Reaktion gefördert, wenn die Temperatur gesenkt wird. – Erhöht man den Druck, weicht das System so aus, dass die volumenverkleinernde Reaktion gefördert wird.

68 | 1 Phänomenologische Thermodynamik –

Ändert man die Konzentration, zum Beispiel indem man ein Produkt aus dem Ansatz entfernt, so reagiert das Gleichgewichtssystem, indem dieses Produkt nachproduziert wird.

1.8 Grenzflächen 1.8.1 Grenzflächenspannung Ein Molekül an einer Grenzfläche ist anders als in der Volumenphase gebunden. In der Volumenphase erfährt ein Molekül ein isotropes Kraftfeld, es hat Bindungspartner in alle Raumrichtungen. Eine typische Koordinationszahl im Volumen ist zb = 6, die oktaedrische Koordination. An der Grenzfläche fehlt ein Bindungspartner, die Koordinationszahl an der Grenzfläche ist daher zs = 5. Aus diesem Grund unterscheiden sich die Moleküle in der Grenzfläche energetisch von denen in der Volumenphase. Wir müssen Energie aufwenden, um ein Molekül aus dem Inneren der Phase in die Grenzflächenphase zu bewegen. Thermodynamisch ist die Grenzflächenspannung 𝛾 als die Ableitung der Gibbs-Energie G nach der Fläche A definiert. Mit anderen Worten: Wie verändert sich die Gibbs-Energie G, wenn wir die Oberfläche A des Systems vergrößern? Mathematisch wird das durch 𝛾=(

𝜕G ) 𝜕A p,T,ni

(1.214)

zum Ausdruck gebracht. Auf mikroskopischer Ebene bedeutet das, wir bringen Moleküle aus dem Inneren der Volumenphase an die Grenzfläche. Die dazu erforderliche

Abb. 1.28: Diese Abbildung wurde von Prof. Dominik Horinek, Physikalische Chemie, Uni Regensburg für dieses Buch generiert. Sie zeigt eine Molekulardynamik-Simulation weicher Kugeln mit einem Lennard-JonesWechselwirkungspotential. Die Koordinationszahlen im Volumen unterscheiden sich von der an der Grenzfläche.

1.8 Grenzflächen

|

69

Energie wollen wir jetzt abschätzen und daraus die Grenzflächenspannung ermitteln. Wir approximieren ein Molekül durch einen Würfel mit der Kantenlänge a. Die Koordinationszahl im Volumen sei zB = 6 und an der Grenzschicht zS = 5. Mit wAA kennzeichnen wir die Wechselwirkungsenergie zwischen zwei Teilchen der gleichen Sorte A. Im Folgenden soll die Grenzflächenspannung von Tetrachlorkohlenstoff CCl4 abgeschätzt werden. Wir bringen ein Teilchen vom Inneren an die Grenzschicht. Die Oberfläche A vergrößert sich um die Fläche ΔA = a2 des Moleküls. Die dazu notwendige Energie ΔE ist: ΔE wAA zB − zS 𝛾≈ ≈ (1.215) ΔA 2 a2 Der Faktor 1/2 ist notwendig, um die Energie zwischen zwei Teilchen A und A nicht doppelt zu zählen. Die Größe wAA ergibt sich aus der Verdampfungs- oder Kondensationsenthalpie der betrachteten Flüssigkeit. Letztendlich beschreiben beide Prozesse die Separation der Teilchen ΔUKondensation = ΔHKondensation − pΔV = ΔHKondensation − p (Vfl − VGas ) = ΔHKondensation + RT = −ΔHVerdampfung + RT.

(1.216)

Für Tetrachlorkohlenstoff finden wir in der NIST-Datenbank eine Kondensationsenthalpie ΔHKondensation von −29.5 kJ/mol ΔUKondensation = ΔHKondensation + RT = −29,5 + 2,5 kJ/mol = −27 kJ/mol, ΔUKondensation = zB zB wAA = Mit zB = 6 ergibt sich:

wAA N = −27 kJ/mol, 2 A

(1.217) (1.218)

−27 kJ/mol ⋅ 2 = 9 ⋅ 10−20 J. 6,023 ⋅ 1023

(1.219)

wAA = 1,5 ⋅ 10−20 J

(1.220)

Die so ermittelte Paarwechselwirkungsenergie wAA beträgt −3,7kB T. Zur Abschätzung der Grenzflächenspannung brauchen wir noch die Größe des Moleküls, die wir aus der Dichte ρ von CCl4 erhalten. In der NIST-Datenbank finden wir für die Dichte ρ = 1,6 ⋅ 103 kg/m3. Damit ergibt sich über die molare Masse die Fläche eines Moleküls als a2 = 3 ⋅ 10−19m−2 und wir erhalten damit für die Grenzflächenspannung: 𝛾=

6−5 1,5 ⋅ 10−20 J 2 = 25 mJ/m 2 3 ⋅ 10−19 m−2

(1.221)

Dieser, durch eine grobe Abschätzung ermittelte Wert stimmt sehr gut mit der gemessenen Grenzflächenspannung von Tetrachlorkohlenstoff überein. Offensichtlich erfasst unser Modell die wesentlichen Parameter.

70 | 1 Phänomenologische Thermodynamik 1.8.2 Keimbildung und Wachstum Ein Phasendiagramm kennzeichnet die im thermodynamischen Gleichgewicht vorliegenden Phasen. Je nach Druck p und Temperatur T sollte eine ganz bestimmte Phase oder mehrere koexistierende Phasen vorliegen. Häufig gibt es aber eine Hemmschwelle, die der Ausbildung der neuen Phase gegenübersteht. Sie können sehr reines, flüssiges Wasser durchaus auf −20 °C abkühlen. Sie können auch eine Flüssigkeit auf Temperaturen oberhalb des Siedepunktes bringen. Sie können eine Dampfphase unterkühlen und trotzdem bildet sich nicht zwangsläufig sofort die thermodynamisch stabile flüssige Phase aus. Die dafür verantwortliche Hemmschwelle wollen wir im Folgenden näher analysieren. Die Moleküle bewegen sich in der flüssigen Phase. Durch Fluktuationen im System entsteht zufällig ein zunächst kleiner Keim, der allmählich zu einer makroskopischen Phase wächst. Je kleiner der Keim, umso mehr Moleküle sitzen in der Grenzfläche, wie Abbildung 1.29 illustriert. Ein Würfel mit einer Kantenlänge von 1 cm besitzt eine Oberfläche von 600 mm2 , zerteilt man den Würfel in tausend kleine Würfel mit der Kantenlänge von je 1 mm, so beträgt die Oberfläche bereits 6000 mm2 , obwohl sich das eingeschlossene Volumen nicht verändert hat. Grenzflächen werden daher bei einem ungewöhnlichen Verhältnis von Volumen zur Oberfläche eine wichtige Rolle spielen.

(a)

(b)

Abb. 1.29: Je kleiner die Objekte, desto mehr Grenzfläche findet man in dem System. (a) Der Würfel hat ein Volumen von 1000 mm3 und eine Oberfläche von 600 mm2 , während (b) die kleinen Würfel das gleiche Volumen bei einer zehnfach größeren Oberfläche aufnehmen.

In einem Keim sitzen sehr viele Moleküle in der Grenzfläche. Wie bei der Oberflächenspannung diskutiert, sind Moleküle in der Grenzfläche anders gebunden als in der Volumenphase. In der Volumenphase spürt das Molekül ein isotropes Kraftfeld, während in der Grenzfläche Bindungspartner fehlen. Die Bindungsverhältnisse in der Grenzfläche unterscheiden sich signifikant von den Bindungsverhältnissen in der Volumenphase. Dies ist die Ursache für die Hemmschwelle bei der Ausbildung der thermodynamisch stabilen Phase. Wenn man einer neuen Fragestellung begegnet, ist es sinnvoll, erst einmal die Größenordnungen abzuschätzen. Nach unseren Überlegungen ist das Verhältnis der

1.8 Grenzflächen

|

71

Zahl der Moleküle in der Grenzfläche zu der Zahl der Moleküle in der Volumenphase ein wichtiger Parameter zur Bestimmung des Systemverhaltens. Ein Molekül sei durch einen Würfel der Kantenlänge a ≈ 0,5 nm gegeben. Die Oberfläche des Keims (zum Beispiel ein Tröpfchen) ist 4πr2 . Die Zahl der Moleküle in der Grenzfläche beträgt daher 4πr2 . (1.222) a2 Das Volumen des sphärischen Keims ist gegeben durch 4πr3 /3. Die Zahl der Moleküle in der Volumenphase ergibt sich daher zu 4πr3 . 3a3

(1.223)

Das Verhältnis der Zahl der Moleküle in der Grenzfläche zu der Zahl der Moleküle in der Volumenphase ergibt sich daher zu: NGrenzfläche 3a = NVolumen r

(1.224)

Bei einem Keim von 1 mm ist die Zahl der Moleküle in der Grenzfläche verschwindend klein. Bei einem Tropfen von 1 μm ist etwa jedes 1000-te Molekül bereits in der Grenzschicht und bei einem Tropfen mit 50 nm jedes dreißigste Molekül. Die Grenzfläche prägt dann wesentlich die Eigenschaften des Systems. G G Oberfläche ∼ r 2

ΔG ∗ r∗

Radiusr

ΔG = G Volumen + G Oberfläche

G Volumen ∼ r 3 Abb. 1.30: Die Gibbs-Energie G eines Keims besteht aus einem Oberflächen- und Volumenterm. Nimmt man einen kugelförmigen Keim an, so skaliert der Oberflächenterm mit r2 , während der Volumenterm mit r3 wächst. Der Keim braucht daher einen kritischen Radius r∗ , um wachsen zu können. Keime unterhalb des kritischen Radius r∗ zerfallen, da die Gibbs-Energie G bei Anlagerung weiterer Moleküle wächst.

72 | 1 Phänomenologische Thermodynamik Die Gibbs-Energie G eines Keims wird daher aus zwei gegenläufigen Termen aufgebaut sein. Der Oberflächenterm destabilisiert den Keim, der Volumenterm stabilisiert ihn. Der Oberflächenterm wird mit der Zahl der Moleküle in der Grenzschicht skalieren, der Volumenterm mit der Zahl der Moleküle in der Volumenphase. Der Grenzflächenterm skaliert folglich proportional zu 4πr2 , der Volumenterm mit 4πr3 /3. Bei kleinen Radien überwiegt der r2 -Term, bei großen Radien der r3 -Term. Aus dieser Überlegung folgern wir, dass es einen kritischen Radius r∗ für die Keimbildung gibt, ab dem die neue Phase stabil wird. Unterhalb dieses kritischen Radius r∗ verschwindet der Keim, da dies zu einer Erniedrigung der Gibbs-Energie G führt.

1.8.3 Grenzflächenspannung und das Spreiten einer Flüssigkeit Öl ist in Wasser kaum löslich. Daher separieren auch nach heftigem Schütteln Öl und Wasser in zwei Phasen. Was passiert aber, wenn man einen Tropfen Öl auf Wasser aufbringt? Es sind folgende Szenarien denkbar: – Das Öl bildet eine Linse auf dem Wasser aus: Dampf Öl Wasser Abb. 1.31: Ein Öltropfen bildet eine Linse aus.



Das Öl spreitet und man beobachtet einen gleichmäßigen, einheitlichen Film auf dem Wasser: Dampf Öl Wasser

Abb. 1.32: Das Öl spreitet zu einem dünnen Film.

Das Systemverhalten kann durch die Analyse der Gibbs-Energie G(p, T, A) vorhergesagt werden. Alle spontanen Prozesse laufen so ab, dass die Gibbs-Energie G ein Minimum annimmt. Temperatur T und Druck p bleiben konstant. Die Veränderungen beruhen daher auf dem Entstehen und Verschwinden von Grenzflächen. Durch das Spreiten des Tropfens verschwindet die Grenzfläche Wasser–Luft und es entstehen zwei neue Grenzflächen, Wasser–Öl und Öl–Luft. Kennt man die Grenzflächenspannungen 𝛾, kann das Systemverhalten vorhergesagt werden. Beim Spreiten verändert sich die Gibbs-Energie G(p, T, A) wie folgt: dG = (𝛾Öl–Wasser + 𝛾Öl–Luft − 𝛾Wasser–Luft ) dA

(1.225)

1.8 Grenzflächen

|

73

Damit der Prozess abläuft, muss dG < 0 sein. Dies ist genau dann der Fall, wenn der sogenannte Spreitungskoeffizient S positiv ist: S = 𝛾Wasser–Luft − (𝛾Öl–Wasser + 𝛾Öl–Luft ) > 0

(1.226)

Der Spreitungskoeffizient ist die Differenz der Grenzflächenspannungen des Ausgangssystem Wasser–Luft und des Endsystems mit den Grenzflächen Öl–Luft und Wasser–Öl.

1.8.4 Einfluss der Grenzfläche auf das Phasengleichgewicht Wir haben Phasengleichgewichte einfacher Systeme diskutiert. Dabei haben wir die Gibbs-Energie G für zwei koexistierende Phasen α und β eines Systems aus einer Komponente wie folgt erfasst: β

β

G = Gα + Gβ = nα1 μ1α + n1 μ1

(1.227)

Im Gleichgewicht nimmt die Gibbs-Energie G ein Minimum an. Mit der Stoffmenβ generhaltung dnα1 = −dn1 ergibt sich: β

α α (dG)T,p = 0 = (μ1 − μ1 ) dn1

(1.228)

Dies führte zu der häufig genutzten Forderung: Im Gleichgewicht ist das chemische Potential der Komponente 1 in der Phase α gleich dem chemischen Potential der Komponente 1 in der Phase β β μ1α = μ1 . (1.229) Eigentlich ist dies geschummelt. Immer wenn zwei Phasen aneinandergrenzen, gibt es eine Grenzphase mit anderen Eigenschaften als die angrenzenden Volumenphasen. Die Grenzfläche sollte man sich besser als eine Grenzphase mit einer makroskopischen Ausdehnung vorstellen, bei der sich die Bindungsverhältnisse graduell ändern. Korrekt wäre vielmehr: β

β

G = Gα + Gβ + Gs = nα1 μ1α + n1 μ1 + 𝛾A

(1.230)

Dabei ist Gs die Gibbs-Energie der Grenzfläche, 𝛾 die Grenzflächenspannung und A bezeichnet die Fläche der Grenzfläche. Es gilt folgender Zusammenhang: 𝛾=(

𝜕G ) 𝜕A p,T,ni

(1.231)

Welche Konsequenzen hat diese Überlegung auf unser Phasengleichgewicht? Betrachten wir zunächst eine planare, makroskopische Grenzfläche Wasser/Dampf und dann eine gekrümmte Oberfläche, gebildet aus Wassertröpfchen und Dampf. Beide Fälle unterscheiden sich grundlegend in ihren physiko-chemischen Eigenschaften.

74 | 1 Phänomenologische Thermodynamik Betrachten wir ein System bestehend aus einer Komponente. Es möge ein Phasengleichgewicht zwischen einer Flüssigkeit und einer Dampfphase vorliegen. Die GibbsEnergie G muss sich dann, gemäß der Homogenitätsrelation (Satz von Euler), durch die partiellen Ableitungen, multipliziert mit den extensiven Zustandsvariablen, darstellen lassen: β

G(nα1 , n1 , A) = nα1 (

𝜕Gα 𝜕Gβ 𝜕Gs β ) ) + n1 ( ) + A( 𝜕n1 p,T,A 𝜕n1 p,T,A 𝜕A p,T,ni β

β

= Gα + Gβ + Gs = nα1 μ1α + n1 μ1 + 𝛾A.

(1.232) (1.233)

Die Gibbs-Energie G nimmt im Gleichgewicht ein Minimum an. Alle Prozesse laufen so ab, dass die Gibbs-Energie G möglichst klein wird. Im Gleichgewicht gilt: β

β

α α (dG)p,T = 0 = μ1 dn1 + μ1 dn1 + 𝛾dA.

(1.234)

Abbildung 1.33 stellt die Veränderung der Oberfläche einer gekrümmten und einer ebenen Grenzfläche gegenüber:

verglichen mit

(a)

(b)

Abb. 1.33: Vergleich zwischen gekrümmter (a) und ebener (b) Grenzfläche.

Im Falle einer ebenen, makroskopischen Grenzfläche trägt die Grenzfläche nicht zur Änderung der Gibbs-Energie bei. Wir können Moleküle von der α in die β Phase überführen, ohne die Ausdehnung der Grenzfläche A zu verändern β

β

α α (dG)p,T = μ1 dn1 + μ1 dn1 .

(1.235)

Das Vorhandensein einer makroskopischen, ebenen Grenzfläche hat daher keinen Einfluss auf die diskutierte Gleichgewichtsbedingung. Was die eine Phase aufβ nimmt, muss die andere abgeben: dnα1 = −dn1 : β

α α (dG)p,T = 0 = (μ1 − μ1 ) dn1

(1.236)

Wir landen wiederum bei der oft genutzten Beziehung: β

μ1α (p, T) = μ1 (p, T)

(1.237)

1.9 Fiktive Prüfungsgespräche

|

75

Diese Beziehung gilt auch, wenn wir die Grenzfläche explizit berücksichtigen. Unter der Voraussetzung, dass die Grenzfläche eben ist, können wir Moleküle von der einen in die andere Phase schieben, ohne die Ausdehnung der Grenzfläche selbst zu verändern. Diese Annahme ist bei gekrümmten Grenzflächen nicht erfüllt. Hier führt der Transfer eines Stoffes von der einen in die andere Phase zu einer Veränderung der Oberfläche dA. Die Grenzfläche verändert das Systemverhalten und der Term dA darf in der Bilanz der Gibbs-Energie G nicht unter den Tisch fallen.

1.9 Fiktive Prüfungsgespräche 1.9.1 Henry-Gesetz, Boltzmann, chemische Potentiale, Osmose Bereiche von Flüssen werden nach den sie prägenden, charakteristischen Fischen in verschiedene Regionen eingeteilt. Die Forellenregionbefindet sich am Oberlauf von Fließgewässern. Charakteristisch für sie ist eine sehr starke Strömung, bei der das Wasser über Kies und größere Steine turbulent umgewälzt und so mit Sauerstoff aus der Luft gesättigt wird. Die Wassertemperatur steigt selten über 10 °C.

Abb. 1.34: Paradies für Angler: Soča Slovenien.

1.

Gibt es in Gebirgen eine Fischgrenze, oberhalb der Fische nicht mehr leben können, da sich aufgrund des niedrigeren Luftdrucks nicht mehr genügend Sauerstoff im Wasser löst? Forellen benötigen einen Sauerstoffgehalt von mindestens 7 mg/l. Wie würden Sie den Sauerstoffgehalt des Flusswassers abschätzen? Zur Abschätzung der Löslichkeit von Gasen in Flüssigkeiten wird das HenryGesetz verwendet. Dabei ist die Löslichkeit, also die Konzentration des Gases, das in der jeweiligen Flüssigkeit gelöst ist, abhängig vom Partialdruck des betrachte-

76 | 1 Phänomenologische Thermodynamik

2.

3.

ten Gases über der Flüssigkeit sowie einer Art Materialkonstante der Flüssigkeit. Diese Materialkonstante, die man ebenso gut als Proportionalitätsfaktor zwischen Löslichkeit und Partialdruck interpretieren kann, ist gerade die Henry-Konstante. Da der Partialdruck mit steigender Höhe abnimmt, die Henry-Konstante des Wassers bei gegebener Temperatur aber zumindest näherungsweise eine Konstante ist, sollte sich ab einer bestimmten Höhe (niedriger Partialdruck) nicht mehr genug Sauerstoff lösen, um ein Überleben der Fische zu gewährleisten. Der Druck in einer bestimmten Höhe über dem Meeresspiegel kann mit der barometrischen Höhenformel abgeschätzt werden. Sie sprechen immer vom Partialdruck. Welche Bestandteile hat denn die Umgebungsluft noch und wie groß ist der jeweilige Gehalt? Hauptbestandteil ist Stickstoff mit rund 78%. Sauerstoff steht mit rund 20% an zweiter Stelle. Das häufigste Edelgas ist Argon mit einem Volumenanteil von rund 1%. Der Rest setzt sich zusammen aus den anderen Edelgasen sowie Kohlendioxid. Sie haben bereits die barometrische Höhenformel angesprochen. Was ist ihre Aussage und wie kommt man zu diesem Ausdruck? Die barometrische Höhenformel gibt den Luftdruck, beziehungsweise den Partialdruck eines Gases als Funktion der Höhe an. Die Herleitung erfolgt mit Hilfe der Boltzmann-Formel. Diese gilt für große Ensemble im thermischen Gleichgewicht und sagt aus, dass die Zahl der Teilchen mit der Energie Ei proportional zum Boltzmann-Faktor ist −mgh E ). N(Ei ) ∝ exp (− i ) 󳨀→ N(h) ∝ exp ( kB T kB T Nimmt man ferner an, dass die Temperatur unabhängig von der Höhe h sei, so unterscheiden sich die Teilchen nur in ihrer potentiellen Energie Epot = mgh. Der Druck p(h) ist dann direkt proportional zur Zahl der Teilchen Ni (h), da alle Teilchen im Mittel die gleiche kinetische Energie haben. Mit einem Referenzwert p0 = 1 atm bei h = 0 m ergibt sich direkt die barometrische Höhenformel p(h) = p0 exp (

4.

5.

−mgh ). kB T

Nun aber wieder zurück zum eingangs besprochenen Löslichkeitsproblem. Wie lautet das Henry-Gesetz? L = KH ⋅ p wobei L die Löslichkeit, beziehungsweise Konzentration der Gases in der Flüssigkeit ist; KH ist die Henry-Konstante in mol/(L⋅Druckeinheit) Der Partialdruck des Gases über der Flüssigkeit wird mit p dargestellt. Sie haben richtig bemerkt, dass in die Gleichung der Partialdruck des Sauerstoffs in das Henry-Gesetz einzusetzen ist. Warum? Es ist nur der Partialdruck des Sauerstoffs maßgeblich, weil man nur die Löslichkeit eben dieses Gases betrachten möchte. Eine Henry-Konstante ist immer nur

1.9 Fiktive Prüfungsgespräche

| 77

für die Löslichkeit eines Gases in einer Flüssigkeit beziehungsweise eines Flüssigkeitsgemisches bei einer bestimmten Temperatur definiert. 6. Stimmt. Von welchen Parametern hängt die Henry-Konstante noch ab? Die größte Abhängigkeit ist bezüglich der Art der Flüssigkeit (KH als Materialkonstante) sowie des Gases, dessen Löslichkeit betrachtet wird, zu verzeichnen. Zudem ist auch eine extrem starke Abhängigkeit von der Temperatur festzustellen. Bei einer sehr genauen Betrachtung kann man auch eine Abhängigkeit der HenryKonstante von der bereits gelösten Gasmenge und Druck p feststellen. So kann es vorkommen, dass sich ein Gas umso schlechter löst, je mehr die Flüssigkeit bereits aufgenommen hat. 7. Wie lautet die Gleichgewichtsbedingung der chemischen Potentiale? Was sind die Bezugszustände? Damit ein Gleichgewicht vorliegt, muss das chemische Potential der betrachteten Spezies in den jeweiligen Phasen gleich groß sein. Wenn das nicht der Fall ist, also ein Gradient im chemischen Potential vorliegt, erfolgt ein Transport der betrachteten Spezies entlang des Gradienten des chemischen Potentials. Es kommt zu einem Massentransport. Gleichgewicht liegt vor, wenn μ (Sauerstoff in Wasser) = μ (Sauerstoff in der Luft) gilt. Zu beachten ist dabei, dass die Gasphase als eine reine Phase aus nur einer Komponente vorliegt, die Flüssigkeit hingegen durch das gelöste Gas zu einer Mischphase wird. In der Regel wird das chemische Potential eines Stoffes in einer Mischphase durch das chemische Potential in der reinen Phase und einen Korrekturterm RT ln ai ausgedrückt. Für das chemische Potential eines Stoffes i in einer Mischphase gilt demnach: μi (p, T) = μi∗ (p, T) + RT ln ai

a i = f i xi

Der Aktivitätskoeffizient wird eins, wenn der Molenbruch gegen eins läuft. Das System verhält sich dann ideal lim fi = 1.

xi →1

Als Schwierigkeit kommt hier hinzu, dass das reine Gas bei dem gegebenen (p, T)Wertepaar nicht flüssig ist. Es ist daher sinnvoll, einen gedachten Bezugszustand einführen, um das chemische Potential des gelösten Gas durch eine Aktivität ausdrücken zu können. Dieser hypothetische Bezugszustand ist der Zustand der unendlichen Verdünnung. Es ergibt sich die selbe mathematische Struktur wie bei der Wahl des Reinstoffs als Bezugszustand μi (p, T) = μi∞ (p, T) + RT ln a∞ i lim f ∞ xi →0 i

= 1.

mit

∞ a∞ i = f i xi

78 | 1 Phänomenologische Thermodynamik 8. Wie stellen Sie sich das in Wasser gelöste Gas vor? Liegt es als kleine Bläschen oder molekular gelöst vor? Ein Bläschen wäre eine makroskopische Phase. Das Gas liegt molekular gelöst vor. Das wird auch durch den Begriff Lösen beschrieben. Dieser deutet darauf hin, dass die Wechselwirkungen zwischen gelöstem Gas und Wasser in einer ähnlichen Größenordnung liegen. 9. Wo löst sich mehr Sauerstoff: in Salzwasser oder in Süßwasser? In Sachen Löslichkeit ist der erste Ansatz, der mir in den Sinn kommt, die Aussage Gleiches löst sich in Gleichem. Sauerstoff als zweiatomiges Molekül ist unpolar mit einem Dipolmoment von null Debye. Eine Zugabe von Salz zu Wasser führt zu einer Erhöhung der Polarität des Wassers. Somit sollte nach einer ersten Abschätzung die Löslichkeit von Sauerstoff in Salzwasser geringer sein. 10. Testen wir mal Ihren Biologie-Sachverstand. Warum kann ein Süßwasserfisch in der Regel nicht im Salzwasser überleben und umgekehrt? Für Süßwasserfische ist nach den angestellten Überlegungen wahrscheinlich die Sauerstoffkonzentration zu gering, um ein Überleben sicherzustellen. Zudem ist es möglich, dass Süßwasserfische die hohen Konzentration an Salzen nicht verkraften können. Umgekehrt ist für Salzwasserfische die O2 -Konzentration zu hoch, was zu einer Übersättigung des Bluts mit Sauerstoff führt. Dieses führt möglicherweise bei Fischen, ebenso wie beim Menschen, zu gesundheitsschädlichen Folgen. Zudem ist die Ionenkonzentration für Salzwasserfische im Süßwasser zu gering, um eine physiologische Funktion zu gewährleisten. Da habe ich Sie ein bisschen in die falsche Richtung gelotst. Der Grund liegt in der Osmose. 11. Osmose spielt in biologischen Systemen eine große Rolle. Erklären Sie das Prinzip der Osmose anhand der Pfeffer-Zelle und stellen Sie die Gleichgewichtsbedingung der chemischen Potentiale auf! Grundlage für den Stofftransport ist, wie bereits angedeutet, ein Gradient im chemischen Potential. Der betrachtete Stoff wandert vom Ort des größeren chemischen Potentials zum Ort mit einem niedrigeren chemischen Potential. In der Pfefferschen Zelle hat das Wasser in der Mischphase ein kleineres chemisches Potential als in der reinen Phase. Es liegt ein Nichtgleichgewichtszustand vor. Die Wanderung des Wassers entlang des Gradienten des chemischen Potentials führt dazu, dass der Pegel in der Zellhälfte der Mischphase gegenüber dem des reinen Wassers ansteigt. Die Mischphase steht dann unter einem erhöhten Druck Π, der durch den hydrostatischen Druck der Wassersäule gegeben ist. Der Massentransport aufgrund des Gradienten im chemischen Potential läuft so lange ab, bis die chemischen Potentiale in beiden Zellhälften, die über eine semipermeable Membran getrennt sind, wieder gleich sind. Die Gleichgewichtsbedingung muss immer bezüglich des Stoffes aufgestellt werden, der in den beiden Kompartimenten auftaucht. Im Gleichgewicht muss die Forderung μ (Wasser in der

1.9 Fiktive Prüfungsgespräche

|

79

Mischphase) = μ (Wasser in reiner Phase) erfüllt sein. Dabei ist zu beachten, dass Osmose eine kolligative Eigenschaft ist, also die Stärke dieses Effekts nur von der Anzahl der gelösten Teilchen aber nicht von ihrer Natur abhängt. In der Pfeffer-Zelle stellt sich ein Gleichgewicht ein. Das chemische Potential des reinen Lösungsmittels unter dem Druck p entspricht dem chemischen Potential des Stoffes in der Mischphase unter dem erhöhten Druck p + Π μ1∗ fl (p, T) = μ1fl (p + Π, T). 12. Wie hängt der osmotische Druck vom Molenbruch des Gelösten ab? Für kleine Konzentrationen steigt der osmotische Druck linear mit der Anzahl der gelösten Teilchen, was auch als kolligative Eigenschaft bezeichnet wird. Für höhere Konzentrationen ergibt sich ein komplizierterer Zusammenhang, da in diesem Fall die verwendete Näherung für den linearen Fall ihre Gültigkeit verliert. 13. Sie geben einen Tropfen Blut in eine gesättigte Kochsalzlösung und beobachten die roten Blutkörperchen unter dem Mikroskop. Ein rotes Blutkörperchen ist ca 8 μ m lang und 2 μ m dick. Die Zellmembran sei für Wasser durchlässig. Was beobachten Sie? hypertonisch

isotonisch

hypotonisch

Osmose H2O

H2O H2O

H2O

Abb. 1.35: Rote Blutkörperchen in Kontakt mit Salz bzw. destillierten Wasser.

Das chemische Potential des Wassers im Innern des Blutkörperchens ist größer als in der umgebenden konzentrierten Kochsalzlösung. Der Transport von Wasser entlang des Gradienten des chemischen Potentials führt dazu, dass Wasser aus dem Inneren des roten Blutkörperchens in die umgebende, salzhaltige Phase transportiert wird. Vereinfacht gesagt, versucht das System durch Verschieben des Wassers in die Kochsalzphase die Konzentration der Salzlösung abzusenken, weil die Natur keine Ungleichgewichte und Konzentrationsgradienten mag. Der

80 | 1 Phänomenologische Thermodynamik Abtransport des Wassers aus dem Inneren der roten Blutkörperchens führt dazu, dass das rote Blutkörperchen austrocknet. Das Volumen der Zelle sinkt und die typische Stechapfelform der roten Blutkörperchen in hypertonischen Lösungen kann beobachtet werden. Deshalb ist es in der Medizin extrem wichtig, dass für Infusionen isotonische Lösungen verwendet werden, da andernfalls die Funktion der Blutkörperchen eingeschränkt wird. 14. Damit haben wir die biologische Bedeutung der Osmose geklärt. In der Technik spielt auch die so genannte Umkehrosmose zum Entsalzen von Wasser eine Rolle. Wie funktioniert das denn? Grundlage ist erneut die Einstellung des chemischen Potentials des Wassers in den angrenzenden Phasen. Jedoch wird dieses Prinzip hier genutzt, um eine Wanderung des Wassers in eine Wunschrichtung zu erzwingen. Als Phasengrenze wird erneut eine semipermeable Membran verwendet. Im Unterschied zu freiwillig ablaufenden Osmoseprozessen wird bei der Umkehrosmose jedoch von außen ein Druck auf die Mischphase angelegt. Damit wird erreicht, dass das chemische Potential in der Mischphase größer wird als in der Phase des reinen Wassers. Folglich wird ein Transport von Wasser durch den von außen auferlegten Druck von der Mischphase in Richtung des Reinstoffs beobachtet. 15. Welcher Druck baut sich zwischen einer Salzwasserlösung und einer Süßwasserlösung auf? Haben Sie eine Vorstellung von der Größenordnung? Der osmotische Druck zwischen Süß- und Salzwasser ist hoch und liegt in der Größenordnung von 25 bar. Es sind Prototypen von Osmosekraftwerken in Betrieb, die dieses Prinzip zur Erzeugung von Strom nutzen.

1.9.2 Dampfdruck, Raoultsches Gesetz, Aktivitätskoeffizient, statistische Thermodynamik Bis Mitte der neunziger Jahre waren Tankstellen in Deutschland recht einfach gestaltet. Der Tankstutzen wurde einfach in den Tank gesteckt und die mit Benzindämpfen gesättigte Luft während des Auftankens freigesetzt. Heute sind moderne Zapfsäulen mit einer Saugvorrichtung ausgestattet, die den Benzindampf in die Tanksäule zurückführt. Die freigesetzten Benzindämpfe werden so um circa 90 % reduziert. Der Gesetzgeber hat mit dieser Auflage zu Recht auf einen Missstand reagiert. Das Europaparlament versucht dies auch europaweit umzusetzen. 1. Was sind die Hauptkomponenten im Otto-Kraftstoff? Einen kleinen Hinweis möchte ich Ihnen noch mitgeben: ARAL ist ein Anagramm Aromaten Aliphaten. Hauptkomponenten sind kurzkettige gesättigte Kohlenwasserstoffe wie Pentane, Hexane, Heptane und Oktane, aber auch ungesättigte Bestandteile wie Toluol oder andere einfache Aromaten beziehungsweise deren Derivate.

1.9 Fiktive Prüfungsgespräche

|

81

Abb. 1.36: Freisetzen von Benzindämpfen beim Tanken.

2.

Sie haben doch sicherlich schon einmal etwas von der Oktanzahl gehört. Welche Bedeutung hat dieser Wert? Die Oktanzahl dient als Gradmesser für die Güte eines Kraftstoffs. Sie steht für den Anteil an Isooktan. Je höher der Anteil dieser Komponente am Kraftstoffgemisch, umso besser kann der Motor den Kraftstoff verbrennen. Es kommt zu weniger Fehlzündungen und einer effizienteren Verbrennung. Die sogenannte Klopffestigkeit ist bei Kraftstoffen mit hoher Oktanzahl deutlich erhöht.

3.

Tun wir mal vorübergehend mal so, als ob das Benzin nur aus Toluol bestünde. Woher kann man wesentliche – und vor allem verlässliche – thermodynamische Daten beziehen? Daten zu thermodynamischen Eigenschaften erhält man z.B. in der frei zugänglichen NIST-Datenbank. NIST ist die Eichbehörde der USA, die Abkürzung steht für National Institute of Standards and Technology.

4. In der NIST-Datenbank finden Sie für die Verdampfungsenthalpie einen Wert von ΔV H = 33,2 kJ/mol und eine Siedetemperatur von 110 °C. Wie kommen Sie jetzt auf den den Dampfdruck der Substanz bei 20 °C oder 0 °C? Die Abschätzung des Dampfdrucks gelingt mit Hilfe der Clausius–ClapeyronGleichung. Aus Integration der Gleichung dp/dT = ΔS/ΔV erhält man den Dampfdruck bei einer vorgegebenen Temperatur. Darin ist vor der Berechnung, entsprechend der thermodynamischen Relationen, noch ΔS durch ΔH/T zu ersetzen. Die Änderung des Volumens ΔV beim Übergang von der flüssigen in die Gasphase ist dabei näherungsweise durch das molare Volumen eines Gases gegeben. Die bestimmte Integration bezüglich des Drucks läuft von der Untergrenze bis zur Obergrenze (Dampfdruck bei der entsprechenden Temperatur). Durch Auflösen nach der einzigen Unbekannten erhält man den gesuchten Dampfdruck bei der vorgegebenen Temperatur. 5.

Skizzieren Sie das generische Phasendiagramm einer einfachen Verbindung wie Toluol!

82 | 1 Phänomenologische Thermodynamik

Abb. 1.37: p(T )-Phasendiagramm eines Reinstoffes.

Das p(T)-Diagramm wird auch als Phasendiagramm bezeichnet. Bei Reinstoffen hat es die typische Sektglas-Form. 6.

Dank Ihrer Herleitung können wir jetzt den Dampfdruck bei 20 °C berechnen. Wenn man die Zahlenwerte in Ihre Rechnung von gerade eben einsetzt, liefert die Abschätzung einen Dampfdruck des Toluols von p = 0,04 bar. Wie kann man daraus die als Gas freigesetzt Menge in Gramm berechnen, die im Gleichgewicht mit 10 l Kraftstoff in einem 60 l-Tank steht? Grundlage für die Berechnung ist das molare Gasvolumen. Bei der Annahme von Normaldruck, also 1,013 bar, sind 0,04 bar dieses Drucks auf den Dampfdruck des Toluols zurückzuführen. Das Gasvolumen von 50 l entspricht einer Stoffmenge von 50 l/22,4 l/mol. Der Anteil von Toluol entspricht unter Annahme eines idealen Gasgemisches dem Anteil des Partialdrucks am Gesamtdruck, also 0,04/1,013. Die Stoffmenge von Toluol ist also 50 ⋅ 0,04/(22,4 ⋅ 1,013) mol. Über die molare Masse von Toluol kann man über den einfachen stöchiometrischen Zusammenhang M = m/n die Masse erhalten. Ihr Ansatz ist so in Ordnung. Bezüglich der Zahlen helfe ich Ihnen gerne weiter. Es ergibt sich eine Masse von rund 7,5 g pro Auto. Das scheint zwar nicht allzu gravierend, jedoch kommt dabei eine beachtliche Menge zusammen, wenn man berücksichtigt, dass in Deutschland rund 65 Millionen Autos zugelassen sind.

7.

Machen wir die Analyse etwas realistischer. Das Modellbenzin soll jetzt aus einer Mischung aus Cyclohexan und Toluol bestehen. Wie sieht das Dampfdruckdiagramm aus, wenn wir annehmen, dass sich die Mischung ideal verhält? Was trägt man im Dampfdruckdiagramm auf? Im Gegensatz zum oben gezeigten Phasendiagramm des Reinstoffs liegt in der Mischphase ein niedrigeres chemisches Potential vor. Somit ist auch der Dampfdruck niedriger als im Fall des Reinstoffs. Ein Dampfdruckdiagramm macht eine Auftragung des Dampfdrucks gegen die Zusammensetzung der Lösung. Bei einer

1.9 Fiktive Prüfungsgespräche

| 83

Abb. 1.38: Dampfdruckdiagramm einer idealen Flüssigkeitsmischung.

idealen Lösung findet dabei ein linearer Übergang vom einen Reinstoff zum anderen Reinstoff statt. Die Dampfdrücke der Mischphasen liegen immer zwischen den Dampfdrücken der Reinstoffe. Dampfdruck = pA + (pB − pA ) ⋅ xB wobei pA und pB die Dampfdrücke der jeweiligen Reinstoffe und xB den Stoffmengenanteil der Komponente B in der Lösung darstellen. Bei einer idealen Lösung addieren sich die Dampfdrücke, die ihrerseits linear mit ihrem Anteil an der Lösung steigen. 8. Was bedeutet eigentlich die Bezeichnung ideale Mischung oder ideale Lösung für die intermolekularen Wechselwirkungen? In einer idealen Lösung ist die Wechselwirkung zwischen Teilchen der Sorte A gleich der Stärke der Wechselwirkung zwischen Teilchen der Sorte B. Es können folglich Teilchen der Sorten A und B gegeneinander ausgetauscht werden, ohne dass sich die Energie des Systems ändert. Korrekt. Kondensierte Phasen sind die Konsequenz zwischenmolekularer Kräfte. Häufig höre ich in Prüfung, ideal bedeute keine Wechselwirkungen zwischen den Teilchen. Dies ist zwar für ein ideales Gas richtig, kann aber nicht auf eine ideale Flüssigkeitsmischung zutreffen, da das Auftreten einer flüssigen Phase nur mit dem Vorhandensein von intermolekularen Kräften erklärt werden kann. 9. Ideales Verhalten heißt also: Die Wechselwirkungsenergien wAA zwischen zwei Teilchen AA entspricht den anderen möglichen Wechselwirkungen wAB und wBB . Wir können ein Teilchen A durch B ersetzen, ohne dass es zu einer Wärmetönung kommt. Nehmen wir mal an wAA ≈ wBB > wAB . Wie verändert sich dann das Dampfdruckdiagramm? Das bedeutet, dass die Wechselwirkung im Gemisch niedriger ist als in den jeweiligen Reinstoffen. Das System zeigt eine Tendenz zur Entmischung und es ergibt sich ein Azeotrop mit Siedepunktsminimum. In der Darstellung als Dampfdruckdiagramm entspricht ein Siedepunktsminimum einem Dampfdruckmaximum.

84 | 1 Phänomenologische Thermodynamik

Abb. 1.39: Azeotrop.

10. Muss bei Abweichungen vom idealen Verhalten zwingend Azeotrop entstehen? Wenn ein Dampfdruckdiagramm ein Maximum bzw. Minimum aufweist, dann ist der Extrempunkt ein azeotroper Punkt. Abweichungen vom idealen Verhalten können, aber müssen nicht zwangsläufig zu einem azeotropen Punkt führen. Das Dampfdruckdiagramm für das System Kohlenstoffdisulfid/Aceton zeigt star-

Abb. 1.40: Abweichung vom idealen Verhalten kann, muss aber nicht zur Ausbildung eines azeotropen Punktes führen.

1.9 Fiktive Prüfungsgespräche

|

85

ke Abweichungen vom idealen Verhalten, ohne jedoch einen azeotropen Punkt auszubilden. 11. Eine weitere wichtige Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit dem Dampfdruck von realen Gasen ist das Raoultsche Gesetz. Wie lautet es und wie kann man mit seiner Hilfe Aktivitätskoeffizienten bestimmen? Im Raoultschen Gesetz für den realen Fall stehen die jeweiligen Aktivitäten ai anstelle der Molenbrüche xi . Die Aktivitätskoeffizienten fi werden graphisch aus dem Verhältnis von gemessenem Dampfdruck und dem für den idealen Fall erwarteten Wert, entsprechend des linearen Übergangs vom einen Reinstoff zum anderen, bestimmt.

Abb. 1.41: Bestimmung der Aktivitätskoeffizienten.

12. Richtig. So können Sie das machen. Was erfasst aber der Aktivitätskoeffizient? Er erfasst die Abweichung des tatsächlichen, realen Systemverhaltens vom Verhalten des idealen Systems, in dem die Wechselwirkung zwischen den Teilchen AA, AB und BB als gleich angenommen werden. 13. Die Siedepunkte verschiedener organischer Lösungsmittel weichen stark voneinander ab. In der Tabelle auf Seite 86 sind, wie Sie sehen, einige typische Werte aufgelistet. Dividiert man aber die Verdampfungsenthalpie durch die Siedetemperatur erhält man einen Wert in der Größenordnung von 85 J/(mol K). Können Sie sich darauf einen Reim machen? Per Definition ist der Wert des Quotienten aus Verdampfungsenthalpie und Siedetemperatur gleich der Verdampfungsentropie, da die Verdampfungsenthalpie der reversibel ausgetauschten Wärme bei konstantem Druck entspricht. Nach der

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Verbindung n-Butan n-Pentan n-Hexan n-Heptan n-Oktan Cyclohexan Benzol Toluol

Siedepunkt ∘ C −0,5 36,1 68,7 98,4 125,7 80,7 80,1 110

Verdampfungsenthalpie ΔV H kJ/mol 22,4 25,8 28,9 28,9 34,4 30,0 30,0 33,2

Verhältnis J/(mol K) 82 83 84 84 86 85 87 86

Clausius–Clapeyron-Gleichung (

Δh(T, p) Δs(T, p) 𝜕p ) = = 𝜕T Koexistenz Δv(T, p) TΔv(T, p)

ist mit den Angaben die rechte Seite dieser Gleichung eine Konstante. Selbige Forderung gilt auch nach einer Integration, die den Dampfdruck bei einer bestimmten Temperatur angibt. Die Tatsache, dass die Verdampfungsentropie bei allen organischen Lösungsmitteln ungefähr gleich ist, liefert die Grundlage für eine nützliche Regel in der organischen Chemie, die beim Abdestillieren vom Lösungsmitteln Anwendung findet. Diese goldene Regel für den Rotationsverdampfer lautet: Eine Halbierung der Drucks führt zu einer Erniedrigung des Siedepunktes um rund 10 °C. Dieses Ergebnis geht aus Einsetzen in die Clausius–ClapeyronGleichung hervor. 14. Liefert die statistische Thermodynamik eine Erklärung für die Konstanz der Verdampfungsentropie ΔS? Die statistische Thermodynamik verknüpft die Entropie mit der Zahl der Mikrozustände. Es gilt dann S = kB ln Ω. Der Gewinn an Mikrozuständen ist von der Gasphase geprägt und wird, bei idealem Verhalten, einen sehr ähnlichen Wert, unabhängig von der Art der Teilchen, beziehungsweise der Art des Lösungsmittels, annehmen. Das stimmt soweit. Jedoch müssen Sie berücksichtigen, dass mit diesem einfachen Modell nicht alle Eventualitäten abgedeckt werden können. Abweichungen sind beispielsweise bei Wasser aufgrund der H-Brücken zu beobachten. Sie haben eine hohe Verdampfungsentropie zur Folge. Umgekehrt verhält es sich bei Essigsäure. Da es bei dieser Flüssigkeit lediglich zur Bildung von Dimeren kommt, ist die korrespondierende Verdampfungsentropie klein.

1.9 Fiktive Prüfungsgespräche

| 87

1.9.3 Aggregatszustände, Phasendiagramme, chemisches Potential, superkritische Fluide 1.

Phasendiagramme geben an, welche Phasen bei gegebenem Druck p und gegebener Temperatur T gleichzeitig nebeneinander im Gleichgewicht vorliegen. Wie sieht das p(T)-Phasendiagramm eines Reinstoffes aus?

Abb. 1.42: Generisches Phasendiagramm eines Reinstoffes.

Die Zuordnung der Phasen erfolgt durch Betrachten von extremen Punkten. So muss bei hohen Temperaturen und niedrigem Druck ein Gas vorliegen, wie auf der anderen Seite, bei hohem Druck und niedriger Temperatur, ein Reinstoff in einer festen Modifikation, beziehungsweise als der Feststoff vorliegen muss. Zwischen diesen Gebieten liegt der Existenzbereich der flüssigen Phase. Daran schließt sich bei sehr hohem Druck und hoher Temperatur der superkritische Zustand an, der als vierter Aggregatszustand anzusehen ist, bei dem der Unterschied zwischen flüssiger und gasförmiger Phase zunehmend verschwimmt, beziehungsweise verschwindet. 2.

Betrachten wir mal kurz Wasser. Was ist das Besondere an diesem Phasendiagramm? Die Besonderheit bei Wasser ist die negative Soliduskurve. Während normalerweise eine Druckerhöhung bei gegebener Temperatur eine Phasenumwandlung flüssig → fest bewirkt, kommt es hier zu einer Umwandlung fest → flüssig. Die flüssige Phase ist bei Wasser dichter gepackt als die feste Phase, also Eis. Dieses Verhalten ist auch als Dichteanomalie bekannt und eine von vielen weiteren besonderen Eigenschaften des Wassers. Die höchste Dichte des Wassers liegt bei 4 °C und ermöglicht so das Überleben von Fischen in Gewässern im Winter.

88 | 1 Phänomenologische Thermodynamik

Abb. 1.43: Schematisches Phasendiagramm von Wasser.

3.

Wie lautet die Gibbs-Phasenregel? Die Gibbs-Phasenregel lautet F = K + 2 −P, wobei F die Anzahl der Freiheitsgrade darstellt, K für die Anzahl der Komponenten und P für die Anzahl der Phasen im Gleichgewicht steht.

4.

Was ist am Tripelpunkt eines Einkomponentensystems zu beobachten? Wie viele Freiheitsgrade hat das System dann noch? Am Tripelpunkt liegen drei Phasen nebeneinander im Gleichgewicht vor. Die Phasen koexistieren. Auch wenn man sehr lange wartet, tritt keine Veränderung in der Anzahl der beobachteten Phasen ein. Bei einem Einkomponentensystem ist der Tripelpunkt nach der Gibbsschen Phasenregel nonvariant. Weil K = 1, P = 3 gilt, findet man für die Anzahl der Freiheitsgrade F: F = K + 2 − P = 1 + 2 − 3 = 0. Der Tripelpunkt ist ein nonvarianter Punkt im Phasendiagramm eines Einstoffsystems.

5.

Können bei einem Reinstoff mehrere Tripelpunkte oder kritische Punkte existieren? Der Tripelpunkt ist definiert als das gleichzeitige Auftreten, beziehungsweise die Koexistenz von drei Phasen. Tripelpunkte treten immer auf, wenn drei Einphasengebiete, die für sich jeweils bivariant sind, aneinandergrenzen. Ein anderes Kriterium für die Existenz eines Tripelpunktes ist der Schnittpunkt von zwei Gleichgewichtslinien. Insofern ist der kritische Punkt ein besonderer Tripelpunkt. In diesem Tripelpunkt sind die Phasen, die im Gleichgewicht vorliegen, die flüssige, die gasförmige und die superkritische Phase. Eine weitere Besonderheit ist, dass sich die drei Phasen in diesem Punkt nicht mehr unterscheiden. Alle intensiven Eigenschaften sind identisch. Es kann aber auch mehrere Tripelpunkte geben. Bedingung dafür ist allerdings, dass ein Aggregatszustand in mehreren Modifikationen auftritt. Dieses Verhalten ist jedoch nur bei Festkörpern glaubwürdig dokumentiert. Somit kann es mehrere Tripelpunkte geben, wenn es bei einem Reinstoff

1.9 Fiktive Prüfungsgespräche

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mehrere feste Modifikationen gibt. Das ist beispielsweise für Schwefel der Fall. Auch viele Metalle haben, je nach Druck p und Temperatur T, unterschiedliche feste Modifikationen.

Abb. 1.44: Schematisches Phasendiagramm von Schwefel.

6. Das Phasendiagramm lehrt uns, dass nur bei einem ganz bestimmten Wertepaar von Druck und Temperatur die Dampfphase und die flüssige Phase koexistierenkönnen. Die geringsten Abweichungen von der p(T)-Dampfdruckkurve führt zum Verschwinden einer der beiden Phasen. Steht diese Aussage nicht im Widerspruch zu der Beobachtung, dass bei beliebigen Temperaturen die Luft eine gewisse Feuchtigkeit enthält? Das Druck-Temperatur-Wertepaar liegt sicher nicht auf der flüssig– gas-Koexistenzlinie des Wasser-Phasendiagramms! Nein dies ist kein Widerspruch! Man muss beachten, dass es sich beim System Luft–Wasser beziehungsweise Atmosphäre–Wasser nicht um ein Reinstoffsystem mit nur einer Komponente handelt. Somit kann auch das Phasendiagramm des Reinstoffes Wasser nicht als Modell zur Erklärung des Sachverhalts der Luftfeuchtigkeit dienen. Allein unter der Annahme einer zusätzlichen Komponente – zum Beispiel Stickstoff als Hauptbestandteil der Luft – erhält man für die Situation mit zwei Phasen im Gleichgewicht die folgende Anzahl von Freiheitsgraden nach der Gibbs-Phasenregel: F = K + 2 − P = 2 + 2 − 2 = 2. Somit ist dieses System bivariant. Druck und Temperatur können innerhalb gewisser Bereiche unabhängig voneinander verändert werden, ohne dass dabei Einfluss auf die Anzahl der Phasen genommen wird, die sich im Gleichgewicht befinden. In Luft kann bei jedem Wertepaar aus Temperatur und Druck Wasserdampf mit Wasser koexistieren. Das chemische Potential des Wassers in der Dampfphase verändert sich für die verschiedenen Wertepaare und kann bei jedem Druck und Temperatur in Einklang mit dem chemischen Potential des Wassers in der flüssigen Phase gebracht werden. Die Phasen koexistieren.

90 | 1 Phänomenologische Thermodynamik 7.

Längs der p(T)-Dampfdruckkurve koexistiert die Flüssigkeit mit ihrem Dampf. Tatsächlich aber verläuft die Phasengrenze flüssig–gasförmig nicht scharf, sondern es gibt einen Übergangsbereich, in dem ein gradueller Übergang von der Flüssigkeit zur Gasphase stattfindet. Es tritt also kein abrupter Sprung mit einem ebenso schnellem Wechsel der Eigenschaften der beteiligten angrenzenden Phasen auf. Diese Schicht umfasst typischerweise drei bis zehn Moleküllagen und gibt Aufschluss über das unterschiedliche, beziehungsweise besondere Verhalten von Molekülen nahe der Grenzfläche gegenüber den Volumenphasen. In diesem Bereich ändert sich trivialerweise die Dichte ρ(z) kontinuierlich von der Dampfphasenkonzentration zur Flüssigkeit. Wie verläuft das chemische Potential im Übergangsbereich von einer Volumenphase (flüssig) zur anderen (gasförmig)? Gleichgewicht bedeutet, dass das chemische Potential der Komponente i in allen Phasen den gleichen Wert hat. Andernfalls würde es zu einem Massentransport aufgrund eines Gradienten im chemischen Potential μi kommen. Ein GradiVolumeneigenschaft Gas

Skizze gasförmig

z

„ Übergangsbereich “ flüssig Volumeneigenschaft Flüssigkeit

Dichte

ρ

flüssig

gasförmig

Übergangsbereich

z

chemisches μ Potential gasförmig

Tipp: „Lücke “ zwischen bekannten Eigenschaften ( ) der gasförmigen und flüssigen Phase nachträglich „SI NN VOL L FÜLLEN “

flüssig

Übergangsbereich

z

Abb. 1.45: Der Übergangsbereich flüssig–gas erstreckt sich über mehrere Moleküllagen. Verlauf der Dichte und des chemischen Potentials als Funktion der Ortskoordinate z.

1.9 Fiktive Prüfungsgespräche

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91

ent im chemischen Potential würde dagegen einen Netto-Massentransport bewirken und einen Nichtgleichgewichtszustand beschreiben. Im Gleichgewicht muss daher das chemische Potential entlang des Übergangsbereiches überall den gleichen Wert aufweisen. 8. Die Idee bei der Paarkorrelationsfunktion ist es, sich auf ein gegebenes Molekül zu setzen und die Wahrscheinlichkeit zu ermitteln, ein weiteres Teilchen im Abstand r zu finden. Wie sieht die Paarkorrelationsfunktion g(r) für die feste, die flüssige und die gasförmige Phase aus?

Abb. 1.46: Paarkorrelationsfunktion.

Die Paarkorrelationsfunktion liefert die Wahrscheinlichkeit für das Auffinden eines zweiten Teilchens als Funktion des Abstands, wenn man die Wanderung von einem beliebigen Teilchen des Ensembles ausgehend so oft durchführt, bis sich sinnvolle Wahrscheinlichkeitsaussagen ergeben. Fest: Maxima in ganz definierten Abständen entsprechend den Gitterparametern; Flüssig: Es gibt eine Nahordnung um das Molekül, von dem die Betrachtung ausgeht. In größerem Abstand kommt es zu einer Mittelung und man erhält, wie beim Gas, unabhängig vom Abstand die gleiche Wahrscheinlichkeit für das Antreffen eines weiteren Moleküls; Gasförmig: Mit Ausnahme der unmittelbaren Nähe des Moleküls (Kernabstoßung), ist die Wahrscheinlichkeit für das Auffinden eines anderen Moleküls überall gleich groß.

92 | 1 Phänomenologische Thermodynamik 9.

Die Koexistenzlinie flüssig–gasförmig endet am kritischen Punkt. Was beobachten Sie, wenn Sie Druck und Temperatur längs dieser Koexistenzlinie ändern? Was passiert am kritischen Punkt? Sagen Sie etwas zu den vorliegenden Abbildungen!

140

365 K

120 334 K ideales Gas

334 K

Druck (bar)

100 80

304,12 K 274 K

60

258 K 40

243 K

20 0 0

0,1

0,2

0,3 Molvolumen (l)

0,4

0,5

0,6

Abb. 1.47: p–V Diagramm von Kohlendioxid.

Die Eigenschaften der flüssigen und der gasförmigen Phase gleichen sich immer mehr an, je näher man an das obere Ende der Koexistenzlinie rückt. Das wird auch aus den Kompressionsisothermen von van-der-Waals-Gasen für verschiedene Temperaturen ersichtlich. Als Maß für die Angleichung kann in dieser Darstellung die Annäherung der molaren Volumina gesehen werden, bei denen die Phasenumwandlung von gasförmig nach flüssig beginnt, beziehungsweise beendet 1

2

3

4

Abb. 1.48: Die Abbildung wurde aus einem Videoclip von Prof. Martyn Poliakoff, Uni Nottingham, generiert. Die Bilder zeigen die Veränderungen längs der Phasenkoexistenzlinie von Kohlendioxid.

1.9 Fiktive Prüfungsgespräche

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93

ist. Die Molvolumina nähern sich für steigende Temperaturen an und nehmen bei einer kritischen Temperatur schließlich den gleichen Wert an. In der Abbildung erkennt man sehr schön den kontinuierlichen Übergang von flüssiger Phase über den superkritischen Zustand in die Gasphase, ohne einen scharfen Phasenübergang beobachten zu können. Vielmehr verschwimmt die Phasengrenze zunehmend bei Annäherung an den kritischen Punkt und verschwindet dort vollständig. 10. Wie verändert sich die Verdampfungsenthalpie ΔV H mit der Temperatur T und was passiert bei der Annäherung an den kritischen Punkt? Hilfreich dabei ist wieder eine Grenzfallanalyse. Wie bereits diskutiert, sind flüssige und gasförmige Phase am kritischen Punkt nicht mehr zu unterscheiden. Somit muss die Verdampfungsenthalpie, die ein Maß für die Energie zur Überführung vom flüssigen in den gasförmigen Zustand ist, am kritischen Punkt den Wert Null haben, also verschwinden. Daher ist eine graduelle Abnahme der Verdampfungsenthalpie bei Annäherung an den kritischen Punkt zu erwarten. 11. Wie sieht die Paarkorrelationsfunktion im superkritischen Zustand aus? Welche Parameter würden Sie denn analysieren, um eine Vorhersage zu treffen? Ein geeigneter Parameter zur Vorhersage der Paarkorrelationsfunktion ist das Verhältnis aus dem mittleren Volumen, das einem Molekül im superkritischen Zustand zur Verfügung steht, mit seinem Eigenvolumen. Daher ist eine Paarkorrelationsfunktion wie in der flüssigen Phase zu erwarten, wenn beide Volumina in der gleichen Größenordnung liegen, ansonsten eher ein Verhalten wie in der Gasphase. 12. Warum ist superkritisches Kohlendioxid für Chemiker interessant? Wie sind superkritische Lösemittel in den Kontext der nachhaltigen Chemie einzuordnen? Superkritisches CO2 findet Anwendung als Ersatz für organische Lösungsmittel wie beispielsweise Hexan. Es wird zum Beispiel zum Entkoffeinieren von Kaffee eingesetzt und damit eine interessantes und vor allem ungiftige Alternative für die grüne Chemie. Bemerkenswerterweise besitzt superkritisches Wasser eine viel kleinere relative Dielektrizitätszahl als flüssiges Wasser (𝜖r = 78) und ist daher in der Lage, organische Stoffe zu solubilisieren. Jedoch ist die Herstellung dieses superkritischen Zustands in der Regel äußert energieaufwändig. Der kritische Zustand von Wasser wird beispielsweise erst bei 374 °C und 221 bar erreicht. Noch gibt es allerdings nur wenige Materialien, die nicht von superkritischem Wasser korrodiert werden. Stimmt genau. Daraus ergeben sich beispielsweise Probleme in Dampfturbinen oder anderen Heizkraftwerken, in denen das Wasser nicht in seiner gewohnten, leicht handhabbaren Form auftritt. Praktische Anwendung von superkritischem CO2 können Sie in einer Vielzahl von Textilreinigungsunternehmen antreffen. Auf diesem Gebiet werden zunehmend die klassischen Reinigungschemikalien von umweltschonenden Alternativen ersetzt.

94 | 1 Phänomenologische Thermodynamik 1.9.4 Phasendiagramm, Keimbildung und Wachstum 1.

In vielen Drogeriemärkten gibt es im Winter Wärmepads zu kaufen. Der Inhalt der Pads besteht größtenteils aus Natriumacetat und ist im ungebrauchten Zustand flüssig. Nach Knicken eines Metallblättchens kristallisiert die Flüssigkeit und die Kristallisationswärme wird frei. Das System kann durch längeres Kochen wieder regeneriert werden. Skizzieren Sie diese Prozesse in einem p(T)-Phasendiagramm!

Abb. 1.49: In einem Wärmepad ist eine unterkühlte Flüssigkeit.

Die im Wärmepad befindliche Substanz ist in einem metastabilen Zustand. Der Stoff ist zwar flüssig, sollte aber bei dem vorliegenden Wertepaar aus Druck und Temperatur einen Festkörper ausbilden, da unter diesen Bedingungen der Feststoff die thermodynamisch stabile Phase darstellt. Jedoch stehen Hemmschwellen der Ausbildung der neuen Phase gegenüber. Erst das Knicken des Metallplättchens ermöglicht eine Überführung der flüssigen in die feste Phase. Die freiwerdende Kristallisationswärme kann kalte Hände wärmen. Die Regeneration des Pads gelingt durch Wärmezufuhr. Dazu ist das Pad in kochendes Wasser zu legen. Unter diesen Bedingungen ist der flüssige Zustand die

Abb. 1.50: Regeneration eines Wärmepads.

1.9 Fiktive Prüfungsgespräche

2.

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thermodynamisch stabile Phase. Beim Abkühlen bei konstantem Druck kommt man im p(T)-Diagramm in den Stabilitätsbereich des festen Natriumacetats. Da nach thermodynamischen Gesichtspunkten der feste Zustand bei Atmosphärendruck und Zimmertemperatur der stabilere ist, tatsächlich aber eine flüssige Phase beobachtet wird, spricht man hier von einem metastabilen Zustand. Dieser kann ohne zusätzliche Einwirkungen, aufgrund kinetischer Hemmung, nicht zur Ausbildung der thermodynamisch stabilen Phase führen. Warum gibt es eine Hemmschwelle der Kristallisation? Diskutieren Sie die GibbsEnergie G eines Keims als Funktion des Radius. Wie lautet der Beitrag des Oberflächen- und wie der des Volumenterms zur Gibbs-Energie des Keims?

Abb. 1.51: Keimbildung und Wachstum: Gibbs Energie eines Keims. Keimbildung und Wachstum: Gibbs Energie eines Keims.

96 | 1 Phänomenologische Thermodynamik Die Hemmschwelle der Kristallisation ist die Keimbildung. Keime entstehen zunächst durch zufällige, statistisch verteilte Fluktuationen in der flüssigen Phase. Wie für jeden anderen Prozess lässt sich auch für diesen eine energetische Beschreibung mit der Gibbs-Energie G als Funktion einer Reaktionskoordinate, hier des Radius des Keims, angeben. Je negativer die Gibbs-Energie G, umso günstiger ist das für das System. Die Gibbs-Energie G kann dargestellt werden durch die Summe einzelner Beiträge. Eine Rolle spielen hier der Volumenterm (führt zur Stabilisierung und senkt somit G) und der Oberflächenterm (destabilisiert den Keim und erhöht somit G; vgl. Abschnitt über Grenzflächenspannung). Für die GibbsEnergie eines Keimes gilt somit Ggesamt =+ GOberfläche − GVolumen . Diesen Ausdruck kann man ebenso durch die intensiven chemischen Potentiale und die Grenzflächenspannung ausdrücken. G =+ 𝛾A(Oberfläche) − μ (Volumen)n(Volumen). Da die Stoffmenge n proportional zur Teilchenzahl ist und für sie die Einheitsfläche, beziehungsweise das Einheitsvolumen verwendet werden kann, gilt für die Skalierung des Oberflächenterms ∝ r2 und des Volumenterms ∝ r3 . Wegen der unterschiedlichen Vorzeichen aufgrund der stabilisierenden, beziehungsweise destabilisierenden Wirkung und der unterschiedlichen Beiträge der Polynome in verschiedenen Bereichen wird ersichtlich, dass es bis zu einem Grenzradius r∗ für das System ungünstig ist, die feste Phase auszubilden und den metastabilen Zustand zu verlassen. Erst ab einem bestimmten unteren Radius, dem sogenannten kritischen Radius r∗ , ist die Ausbildung von festem Natriumacetat begünstigt. Diese Schwelle wird praktisch durch das Knicken des Metallplättchens erreicht, beziehungsweise überschritten.

1.9.5 Hauptsatz, Gibbs-Energie, ideale und reale Lösung 1.

Formulieren Sie den ersten und den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik. Der erste Hauptsatz kann als Buchhalter der Energie aufgefasst werden. Die Formulierung richtet sich nach der Art des Systems. Für die verschiedenen Systeme lautet der erste Hauptsatz wie folgt: abgeschlossen: dU = 0, adiabatisch: dU = δ W, geschlossen: dU = δ W + δ Q, offen: dU = δ W + δ Q + δ E Der zweite Hauptsatz definiert die Entropie als Zustandsgröße. Dabei wird die umgesetzte Wärmeenergie mit Hilfe des integrierenden Faktors 1/T in eine Zustandsgröße überführt. Eine Formulierung des zweiten Hauptsatzes besteht darin, dass Wärme in einem Kreisprozess nicht vollständig in Arbeit umgewandelt werden kann.

1.9 Fiktive Prüfungsgespräche

2.

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97

Das kann ich soweit gelten lassen. Leiten Sie daraus den Ausdruck G = H − TS beziehungsweise (dG)p,T < 0 für freiwillige Prozesse her! Die Extremalaussage dS > 0, von der sich die angesprochenen Relationen ableiten, gilt für abgeschlossene Systeme, die jedoch für die praktische Anwendung nicht geeignet sind. Daher ist der erste Schritt, den zweiten Hauptsatz für ein geschlossenes System neu zu formulieren. Das abgeschlossene System kann man sich aus dem System (Reaktionskolben) und der Umgebung aufgebaut denken dSabgeschlossen = dSSystem + dSUmgebung ≥ 0. Weiterhin ist es vernünftig, die Annahme zu machen, dass die Wärmekapazität der Umgebung sehr hoch ist und gegenüber dem Kolben als Thermostat dient. Die vom System abgegebene Wärme (−) wird reversibel von der Umgebung (+) aufgenommen. Konventionsgemäß werden die Vorzeichen des Wärmeübertrags immer aus Sicht des Systems vergeben. Die vom System bei konstantem Druck abgegebene Wärme entspricht der Änderung der Enthalpie im Reaktionskolben: δ QUmgebung = −δ QSystem = −dHSystem Damit ist der zweite Hauptsatz auf ein geschlossenes System umformuliert. Der Ausdruck enthält nur Größen des Reaktionskolbens: dSUmgebung =

δ QUmgebung −δ QSystem −dHSystem = = T T T

Damit kann die Extremalaussage des zweiten Hauptsatzes durch Zustandsgrößen des Systems ausgedrückt werden: dG = dH − TdS ≤ 0 3.

Damit haben Sie die Schlüsselgröße der chemischen Thermodynamik, die GibbsEnergie G, beziehungsweise das chemische Potential μ , hergeleitet. Was ist die Voraussetzung für freiwillige Prozesse? Was gilt für das Gleichgewicht? Die Gibbs-Energie G ist ein thermodynamisches Potential und folgendermaßen definiert: G = H − TS. G entscheidet über das Systemverhalten. Bei vorgegebenen Druck und Temperatur laufen alle Prozesse so ab, dass das thermodynamische Potential G einen minimalen Wert annimmt. Für (dG)p,T < 0 ist das System nicht im Gleichgewicht. Die Minimierung der Gibbs-Energie G gelingt beispielsweise durch die Ausbildung neuer Phasen oder Veränderung der Zusammensetzung durch chemische Reaktionen. Gleichgewicht liegt vor, wenn (dG)p,T = 0. 4. Betrachten wir eine ideale Mischung. Warum ist (dG)p,T < 0 dort immer erfüllt? Was ist die treibende Kraft für den Mischvorgang? Per Definition ist eine Mischung dann ideal, wenn die Wechselwirkung zwischen den Molekülen der beteiligten Spezies gleich groß sind, also wAA = wBB = wAB gilt. Das hat zur Folge, dass die Gibbs-Energie G für diesen Mischungsprozess allein

98 | 1 Phänomenologische Thermodynamik

5.

durch den entropischen Teil beschrieben werden kann, weil sich ΔG = ΔH − TΔS für ΔH = 0 (keine Wärmetönung bei Durchmischung) vereinfacht zu ΔG = −TΔS. Es ist eine intrinsische Eigenschaft der Zustandsgröße Entropie, dass sie sich im Laufe einer Reaktion ohne Wärmeumsatz nicht verringern kann. Die Entropie nimmt im Verlauf einer Reaktion in abgeschlossenen Systemen immer zu. Das System strebt den Zustand mit dem höchsten statistischen Gewicht an. In Formeln gesprochen bedeutet das, dass die Forderung dS > 0 erfüllt sein muss. Somit ist aufgrund der Vorzeichen die Gibbs-Mischungsenthalpie dG negativ. Die Triebkraft für die Mischung einer idealen Lösung ist die Zunahme an Entropie. Übertragen wir das auf eine reale Mischung. Was muss erfüllt sein, damit sich zwei Substanzen mischen? Dort gibt es neben dem Entropie-Beitrag TΔS zusätzlich einen Enthalpie-Beitrag ΔH zur Gibbs-Energie. Eine Senkung der Enthalpie und somit eine Mischung findet dann statt, wenn die Mischungsenthalpie ΔH für sich negativ ist, also die Mischung exotherm verläuft oder bei einem positiven Wert für ΔH der Enthalpieterm vom Entropieterm, der sich immer günstig auf das Mischungsverhalten auswirkt, übertroffen wird.

1.9.6 Gas, Temperatur, Gasverflüssigung, Joule–Thomson-Effekt, zwischenmolekulare Kräfte, Jonglieren mit thermodynamischen Beziehungen 1.

Häufig wird das Modell eines idealen Gases benutzt. Das ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass die Zustandsgleichung dieser idealisierten Vorstellung so einfach ist, dass Berechnungen ohne großen Aufwand durchgeführt werden können. Betrachten wir ein Gedankenexperiment mit einem idealen Gas: die Expansion eines ideales Gas in das Vakuum. Verändert sich dabei die Temperatur des Systems? Eine Veränderung der Temperatur des Systems kann nicht beobachtet werden. Der Grund dafür ist, dass in diesem Modell die Existenz von intermolekularen Wechselwirkungen ausgeschlossen ist. In einem idealen Gas liegen also per Definition keine intermolekularen Wechselwirkungen vor. Es muss folglich keine Arbeit geleistet werden, um zwei Teilchen weiter voneinander zu entfernen. Entsprechend wird auch keine Energie frei, wenn sich zwei Teilchen annähern, da keine Wechselwirkung zwischen den Teilchen besteht. Somit kann man festhalten, dass die gesamte innere Energie eines idealen Gases einzig und allein auf die kinetische Energie der Teilchen zurückführen ist. Das Nichtvorhandensein intermolekularer Wechselwirkungen äußert sich in mathematischen Formeln als Unabhängigkeit der inneren Energie U vom Volumen V, also durch den Differentialquotienten ( 𝜕U = 0). Beachte: Die Abhängigkeit von einer Größe entspricht einer 𝜕V (partiellen) Ableitung nach der jeweiligen Größe!

1.9 Fiktive Prüfungsgespräche

|

99

Abb. 1.52: Flüssiger Stickstoff. Bei 77 K (−196 °C) wird Stickstoff bei Normaldruck flüssig.

2.

Der Begriff Temperatur kann auch auf molekularer Ebene interpretiert werden. Wir hatten ein einfaches Experiment diskutiert: Die zwei Gase He und Xe waren in zwei separaten Kammern getrennt. Die Wand sei wärmeleitend. Daher ist die Temperatur in beiden Kammern gleich. Welche Eigenschaft ist dann auf molekularer Ebene gleich? Herrscht in beiden Kammern die gleiche Temperatur, so ist die mittlere kinetische Energie der beiden Arten der Teilchen gleich. Es gilt 3 1 1 m v2 = m v2 = k T. 2 He He 2 Xe Xe 2 B

Kurzum: Schwere Teilchen eines idealen Gases bewegen sich bei gleicher kinetischer Energie langsamer als Teilchen eines leichteren idealen Gases. Diese Tatsache liefert die Erklärung dafür, dass relativ schweres Argon im Zwischenraum von Doppel- und Dreifachisolierglasscheiben verwendet wird, da diese schweren Teilchen eine bestimmte Energiemenge von der heißen nur langsamer auf die kalte Seite transportieren, als das bei leichteren Gasen der Fall wäre. 3. Wie ist dann in diesem Kontext der absolute Nullpunkt zu verstehen? Nach der genannten Vorstellung steht die Temperatur im Zusammenhang mit der kinetischen Energie. Eine bestimmte kinetische Energie ist mit einer bestimmten Temperatur verknüpft und umgekehrt. Konsequenterweise muss bei einer Temperatur von Null auch eine kinetische Energie von Null vorliegen. Am absoluten Nullpunkt sind die Teilchen in Ruhe. 4. In Atkins’ Lehrbuch „Physikalische Chemie“ findet man ein Kapitel über negative Temperaturen. Wie ist das zu verstehen?

100 | 1 Phänomenologische Thermodynamik Nach der molekularen Vorstellung und der daraus abgeleiteten Definition des Temperaturbegriffs sind negative Temperaturen nicht möglich, da die kinetische Energie eine positiv definite Größe ist. Der kleinste mögliche Wert der kinetischen Energie ist Null. Die kinetische Energie E = 12 ⋅ mv2 kann keine negativen Werte annehmen, da weder die Masse m noch das Geschwindigkeitsquadrat v2 negative Werte annehmen können. Somit kann man darauf schließen, dass die Existenz von negativen Temperaturen auf eine andere Definition als die normal übliche, die im Zusammenhang mit der kinetischen Energie steht, zurückzuführen ist. Das haben Sie gut ausgedrückt, negative absolute Temperaturen gibt es genauso wenig wie negative Drücke. Die Besetzung von Energieniveaus in gewissen Nichtgleichgewichtszuständen kann man aber formal durch einen Zustand mit einer negativen Temperaturen in der Boltzmann-Verteilung beschreiben. 5. Kommen wir aber nun zu einem solideren Bereich zurück. Betrachten wir mal reale Gase. Welche Wechselwirkungen sind zwischen den Teilchen eines realen Gases zu nennen? Der Stärke nach abnehmend treten bei realen Gasen H-Brücken, permanente Dipolwechselwirkungen und Wechselwirkungen zwischen permanenten und induzierten Dipolen auf. Noch schwächer sind nur die Wechselwirkungen zwischen zwei induzierten Dipolen. 6. Welche Wechselwirkung ist bei den Edelgasen dominant? Alle Edelgase können als mehr oder weniger große, polarisierbare, sphärische Atome angesehen werden. Ein Atom kann bei Annäherung an ein anderes in diesem ein Dipolmoment induzieren. Da dies nicht nur zwischen zwei Teilchen, sondern zwischen allen in unterschiedlich starkem Ausmaß passiert, kann bei genügend hohem Druck (Teilchen ausreichend nahe zusammen) und einer niedrig genug gewählten Temperatur (niedrige kinetische Energie, langsame Teilchen), eine Verflüssigung der Edelgase aufgrund der attraktiven van-der-WaalsWechselwirkung erreicht werden. Diese attraktive Wechselwirkung, die bei Edelgasen dominant ist, entsteht aufgrund der Wechselwirkung von sogenannten elektrostatische Anziehung e–

e– 2+

2+ e–

Heliumatom 1 (a)

e– Heliumatom 2

δ–

δ+

δ–

δ+

(b)

Abb. 1.53: Londonsche Dispersionkräfte. a) Ein freies Atom hat im Mittel eine kugelförmige Ladungsverteilung. b) Die Momentanverteilung mag davon abweichen. Ein zufällig entstandener Dipol induziert einen Dipol im benachbarten Atom. Aufgrund dieser Wechselwirkung kann auch Helium kann bei tiefen Temperaturen verflüssigt werden.

1.9 Fiktive Prüfungsgespräche

7.

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101

fluktuierenden Dipolen, was lediglich zum Ausdruck bringt, dass zwei Teilchen ohne permanentes Dipolmoment miteinander in attraktive Wechselwirkung treten. Diese Art der intermolekularen Wechselwirkungen sind auch als LondonDispersionskräfte bekannt. Eine momentane Abweichung der kugelsymmetrischen Ladungsverteilung induziert eine Dipolmoment in einem anderen Atom. Wie sieht die Abstandsabhängigkeit des Potentials aus? Die Abstandsabhängigkeit folgt einer Proportionalität des sechsten Potenz, also VDipol–Dipol ∝ r−6 .

Die Stärke der Wechselwirkung nimmt also extrem schnell und stark mit dem Abstand r ab. Dieses Verhalten erklärt auch die niedrigen Gefrierpunkte der Edelgase, da sich die Atome sehr nahe kommen müssen und auch dann eine gewisse kinetische Energie (und damit auch Temperatur T) nicht überschreiten dürfen, damit diese kurzreichweitigen, schwachen Kräfte zur Ausbildung einer kondensierten Phase ausreichend sind. 8. Welche molekularen Größen werden die Stärke der Wechselwirkung bestimmen? Die Stärke der Wechselwirkung wird von der Größe, beziehungsweise der Polarisierbarkeit bestimmt. Je größer die Atome, umso leichter sind die Elektronen verschiebbar und die induzierten Dipole bilden sich bereitwilliger und stärker aus. Genauer gilt: V =−

9.

Cind. Dipol–ind. Dipol r6

Cind. Dipol–ind. Dipol ∝ α1 ⋅ α2

I1 I2 I1 + I2

Dabei sind I1 und I2 die Ionisierungsenergien der Teilchen. Kondensierte Phasen sind die Konsequenz zwischenmolekularer Kräfte. Bei genügend tiefen Temperaturen können wir auch die Edelgase verflüssigen. Welchen Trend erwarten Sie für die Siedepunkte innerhalb der Gruppe der Edelgase? Grundlage für diese Abschätzung liefert, wie bereits angedeutet, eine Analyse der Polarisierbarkeiten der verschiedenen Atome. Je höher die Polarisierbarkeit, umso leichter sind die Elektronen gegeneinander verschiebbar und umso leichter bilden sich die induzierten, fluktuierenden Dipole aus, die Ursache beziehungsweise Grundlage für die London-Dispersionskräfte sind. Größere Polarisierbarkeiten bewirken die Ausbildung von höheren induzierten Dipolmomenten. Stärkere Dipole wiederum verursachen stärkere intermolekulare Wechselwirkungen und somit auch höhere Schmelz- und Siedepunkte. Konsequenterweise steigen die Schmelzund Siedepunkte von „hartem“ He über Ne, Ar, Kr, Xe bis hin zum sehr „weichen“ Ra. Die erwartete Reihenfolge der Schmelz- und Siedpunkte lautet also: Ts (Xe) > Ts (Kr) > Ts (Ar) > Ts (Ne) > Ts (He) Richtig. He schmilzt bei 0,95 K bei einem Druck von 2,5 MPa, das große Ra jedoch erst bei 202 K unter Normaldruck.

102 | 1 Phänomenologische Thermodynamik 10. Wir wollen ein reales Gas verflüssigen. Welche Strategie würden Sie anwenden? Da die van-der-Waals-Wechselwirkungen sehr kurzreichweitig sind und extrem schnell in ihrer Stärke abfallen (∝ r−6 ), ist es in einem ersten Schritt ratsam, den Abstand zwischen den Teilchen zu verkleinern. Praktisch erfolgt dies durch eine Druckerhöhung. Da die Kräfte, die allein auf die Wechselwirkung zwischen induzierten Dipolen zurückgehen, nicht als sehr stark zu erwarten sind, muss man zusätzlich zum kleinen Teilchenabstand auch erreichen, dass sich die Teilchen nur langsam bewegen, also eine niedrige kinetische Energie haben. Nach unserer Definition ist die kinetische Energie mit der Temperatur verknüpft. Eine Verlangsamung der Teilchen wird also durch ein Abkühlen erreicht. Erst wenn sich die Teilchen nahe sind und langsam bewegen „kann es die Wechselwirkung mit der thermischen Bewegung aufnehmen“ und letztendlich zur Ausbildung einer kondensierten flüssigen Phase führen. Konzeptionell hört sich das gar nicht schlecht an. Tatsächlich aber wird ein reales Gas zunächst nur vorgekühlt und erst im Anschluss durch Expansion die Temperatur soweit abgesenkt, dass eine Verflüssigung eintritt. 11. Betrachten wir das Ganze mit dem thermodynamischen Formalismus. Wie erhält man denn die Volumenabhängigkeit der inneren Energie eines realen Gases? Ich helfe Ihnen bei der Herleitung. Beginnen wir mal mit der Hauptgleichung nach Gibbs. Die Gibbs-Hauptgleichung lautet dU = TdS − pdV. Wichtig ist dabei nur, die Aussage „Volumenabhängigkeit der inneren Energie“ in einen mathematischen Ausdruck zu übersetzen. Gesucht ist demnach die Änderung der inneren Energie mit dem Volumen, was mathematisch der partiellen Ableitung der inneren Energie nach dem Volumen entspricht. Es muss also die Gibbssche Hauptgleichung streng mathematisch aufgelöst werden nach: dU dS =T⋅( ) −p dV dV T Unter Zuhilfenahme der Maxwell-Relation für die freie Energie F(V, T) kann ein anderer Ausdruck für die partielle Ableitung der Entropie nach dem Volumen gefunden werden. 12. Die Volumenabhängigkeit der Entropie erhält man durch eine Maxwell-Relation. Wie lautet die Maxwell-Relation für die freie Energie? Die freie Energie ist ein thermodynamisches Potential, also eine der „vier besonderen Zustandsgrößen“, deren partielle Ableitungen bestimmten Zustandsvariablen entsprechen. Eine Merkhilfe liefert das Guggenheim-Quadrat. Die freie Energie F(V, T) ist eine Funktion von Volumen V und Temperatur T. Da F(V, T) eine Zustandsgröße ist, muss das Ergebnis unabhängig von der Reihenfolge der partiellen Differentiation sein. Mathematisch bedeutet das, dass die gemischt-partiellen

1.9 Fiktive Prüfungsgespräche

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Ableitungen nach dem Satz von Schwarz gleich sein müssen: 𝜕F 𝜕F 𝜕 𝜕 [( ) ] = [( ) ] 𝜕T 𝜕V T V 𝜕V 𝜕T V T Die Ableitung eines thermodynamischen Potentials gibt die zugehörige konjugierte Größe. Aus dem Guggenheim-Quadrat folgt für die Differentialkoeffizienten für die Vorzeichen: (

𝜕F ) = −S 𝜕T V

beziehungsweise

(

𝜕F ) = −p 𝜕V p

Damit ergibt sich durch Ersetzen in die obere Gleichung folgender Ausdruck: (

𝜕p 𝜕S ) =( ) 𝜕T V 𝜕V T

und die Volumenabhängigkeit der Entropie kann durch die thermische Zustandsgleichung f (p, T, V) ausgedrückt werden. Mit Hilfe der Maxwell-Relationen können so komplizierte Ausdrücke auf experimentell einfach zugängliche Messgrößen zurückgeführt werden. 𝜕S 13. Wie können wir den Entropieterme ( 𝜕T ) durch Messgrößen ersetzen? Dazu ist es ratsam, sich zunächst darüber bewusst zu werden, was man alles über die gesuchten Ausdrücke weiß. Die Entropie ist definiert als dS = δ QTrev . Gesucht ist an dieser Stelle noch ein anderer Ausdruck für die reversibel ausgetauschte Wärme. Diese taucht nach dem ersten Hauptsatz in der Gleichung dU = δ Qrev − pdV für ein geschlossenes System auf. Verknüpft man die Zustandsgrößen U(V, T) und S(V, T) mit ihren totalen Differentialen, liefert ein Koeffizientenvergleich die ge𝜕S suchte Abhängigkeit ( 𝜕T ), der die Änderung der Entropie mit der Temperatur angibt. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Änderung der inneren Energie mit der Temperatur ( 𝜕U ) auch als Wärmekapazität bezeichnet wird, kann man 𝜕T die Änderung der Entropie mit dem Volumen mit dem Quotienten aus Wärmekapazität und Temperatur gleichsetzen und so einen schwierigen Ausdruck durch einfache Messgrößen beschreiben: (

𝜕S C ) = v 𝜕T V T

14. Partielle Ableitungen beschreiben Experimente. Wie sieht denn das Experiment zur Bestimmung der Volumenabhängigkeit der Entropie aus? Mathematisch bedeutet eine Abhängigkeit von immer eine Ableitung nach einer bestimmten Größe. Graphisch ist das gleichzusetzen mit der Steigung im jeweilig passenden Diagramm. Hier bedeutet das folgendes: Die Volumenabhängigkeit der Entropie ist nach obigen Überlegungen gleichzusetzen mit Änderung des Drucks mit der Temperatur (vgl. Clausius–Clapeyron-Gleichung) (

𝜕p ) . 𝜕T V

104 | 1 Phänomenologische Thermodynamik Zu bestimmen ist also lediglich der Druck als Funktion der Temperatur p(T), wobei der Druck auf y-Achse (Ordinate) und Temperatur auf der x-Achse (Abzisse) aufzutragen sind. Die Steigung in dieser Auftragung entspricht der gesuchten Volumenabhängigkeit der Entropie. 15. Die Volumenabhängigkeit der Entropie erhält man durch Analyse der thermischen Zustandsgleichung. Wir haben jetzt die Verknüpfung mit den Messgrößen eingeführt. Welche Bedeutung hat der gefundene Ausdruck für die Ableitung der inneren Energie nach dem Volumen: ( 𝜕U ) ? Analysieren Sie diesen Ausdruck: 𝜕V T 𝜕p 𝜕U ) =T( ) −p ! 𝜕V T 𝜕T V Als einfachsten Fall kann man ein Mol eines idealen Gases betrachten und dann auf den komplexeren Fall eines realen Gases eingehen. Die Zustandsgleichung des idealen Gases lautet: pV = RT (

Konsequenterweise liefert die Ableitung des Drucks nach der Temperatur den Quotienten R/V und für die Änderung der inneren Energie mit dem Volumen ergibt sich, wie in einer vorangegangenen Überlegung gezeigt, der Wert Null. Das ist zwar ein schönes Ergebnis, aber für die Übertragung auf ein reales Gas nur bedingt hilfreich. Wie gehen Sie bei einem realen Gas vor? Ein anderer Ansatz stellt das Volumen in den Zusammenhang mit dem Druck und der potentiellen Energie, der im System vorherrscht, was den Druckteil in obiger Formel erklärt. Auch steht das Volumen eines Gases immer im Zusammenhang mit der potentiellen Energie zwischen den Teilchen. Der Differentialkoeffizient (

𝜕p ) −p 𝜕T V

beschreibt wörtlich die Änderung der Drucks (Systemantwort) bei Änderung der Temperatur (Fragestellung an das System) bei einem konstant gehaltenen Volumen. Dieser Ausdruck wird bei realen Gasen mit intermolekularen Kräften sicher nicht den Wert Null haben, da eine Temperaturerhöhung bei konstantem Volumen einen Druckanstieg zur Folge hat (Beispiel: Schnellkochtopf). Eine Änderung des Volumens wirkt sich bei einem realen Gas, also, sowohl auf die kinetische Energie (linker Term) als auch auf die potentielle Energie (rechter Term) aus. 16. Dies ist alles richtig, aber das meinte ich nicht. Ich möchte lediglich eine einfache verbale Interpretation des Ausdruckes (

𝜕U ) . 𝜕V T

Die innere Energie ist die gesamte, in dem System gespeicherte Energie, die in der kinetischen und potentiellen Energie der molekularen Bausteine steckt. Deshalb ist die Zustandsfunktion U(V, T) auch eine Funktion des Volumens V und

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der Temperatur T. Die kinetische Energie wird durch die Temperatur bestimmt, die potentielle Energie durch den Teilchenabstand, der über V eingestellt wird. Vergrößert man das Volumen des Systems, so wird der Teilchenabstand größer. Der Anteil der potentiellen Energie an der inneren Energie wächst. Der Differentialkoeffizient bringt zum Ausdruck, wieviel Energie man dem System zuführen muss, um nach der Volumenvergrößerung wieder die gleiche mittlere kinetische Energie wie vor Volumenveränderung zur Verfügung zu haben. 17. Dieser Ausdruck gilt ganz allgemein für reale Gase. Die Schlüsselgleichung ist die thermische Zustandsgleichung, die den Druck eines Gases als Funktion der unabhängigen Zustandsgrößen Stoffmenge n, Temperatur T und Volumen V angibt. Wo kann man geeignete und vor allem zuverlässige Daten erhalten? Eine solide Informationsquelle ist die NIST-Homepage, die von der US-amerikanischen Eichbehörde öffentlich zugänglich gemacht wird. Man findet dort komplexe Fitfunktionen für die thermische Zustandsgleichung und die Wärmekapazität. Meist sind dies analytische Ausdrücke mit vielen Fitparametern, die an die Messdaten angepasst sind. Dabei ist zu bedenken, dass auch die komplexeren thermischen Zustandsgleichungen lediglich die Aufgabe haben, einen analytischen Ausdruck für den Druck eines Gases als Funktion der unabhängigen Zustandsvariablen n, V und T zu liefern. Diese Zustandsgleichungen erscheinen oft groß und unübersichtlich, sind aber im Grunde genommen nur „bessere van-der-WaalsGleichungen“. Zu erwähnen ist noch, dass sich bei der Handhabung solcher Gleichung gute Kenntnisse in Maple oder Mathematica auszahlen. In den symbolischen Programmiersprachen stellen auch komplexere Ausdrücke für reale Gase keine Schwierigkeit dar. 18. Technisch verflüssigt man Gase durch das Linde-Verfahren, in dem der Joule– Thomson-Effekt ausgenutzt wird. Wie sieht das Experiment aus? Dabei wird das Gas zunächst komprimiert und vorgekühlt. Bei der anschließenden Expansion über ein Ventil in einen größeren Behälter sinkt die Temperatur weiter ab und es kommt zur Verflüssigung der realen Gase. Der nicht verflüssigte, aber dennoch durch adiabatische Expansion abgekühlte Anteil des Gasgemisches wird im Gegenstrom an „frischem“ Gas vorbeigeführt und so zur beschriebenen Vorkühlung genutzt. Verwendung findet dieses Verfahren zur großtechnischen Gewinnung von elementarem Argon als Isolier- und Schutzgas, sowie für Sauerstoff und Stickstoff. 19. Welche Zustandsgröße bleibt beim Joule–Thomson-Effekt konstant? Dazu ist zunächst das Anfertigen einer Skizze sinnvoll, um zu sehen, welche Zustandsvariablen sich während der Prozesses der Expansion über eine Drossel verändern. Der Gedanke ist gar nicht mal so schlecht. Welche Grundregel der Thermodynamik hilft Ihnen bezüglich der Energiebilanz weiter?

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Abb. 1.54: Entspannung über Drossel: Joule–Thomson-Effekt.

Nach dem ersten Hauptsatz der Thermodynamik muss stets die Energieerhaltung gewährleistet sein. Im betrachteten gschlossenen System lautet sie: dU = δ Qreversibel + δ W Da bei diesem Prozess keine Wärme mit der Umgebung ausgetauscht wird, gilt δ Qreversibel = 0. Der Prozess verläuft adiabatisch. Es wird nur Arbeit verrichtet. Nun stellt sich die Frage, wie diese Arbeit aussieht. Der einzig sinnvolle Beitrag geht auf die Volumenänderung zurück und kann deshalb als Volumenarbeit beschrieben werden. Wird Arbeit gegen einen Druck geleistet, erhält dieser Anteil ein negatives Vorzeichen, da das System einen Teil seiner Energie für diesen Prozess aufwenden muss, also verliert. Es wird eine bestimmte Stoffmenge Gas gegen den Druck p2 in die rechte Kammer eingeführt. Somit gilt für den Arbeitsaufwand dieses Teilschritts der Energiebeitrag −p2 V2 . Dem gegenüber steht das Entfernen einer bestimmten Stoffmenge aus der linken Kammer. Bei der Kompression gewinnt das System aus seiner Sicht Energie, was sich in dem positiven Vorzeichen äußert. Das System gewinnt entsprechend eine Energie von + p1 V1 . In Summe ergibt sich für die verrichtete Volumenarbeit für Entfernen des Gases in der linken Kammer und dessen Expansion gegen einen bestimmten Druck in der rechten Kammer, die Änderung der Arbeit δ W als: δ W =+ p1V1 − p2 V2 Einsetzen in die Gibbs-Hauptgleichung und Umformulieren von dU als Differenz liefert: U2 − U1 =+ p1 V1 − p2V2 In diesem Ausdruck kommt Ihnen sicher ein Teil bekannt vor. Kleiner Tipp: Es ist eine Zustandsgröße darin versteckt! Die Gleichung enthält die Definition der Enthalpie, H = U + pV. Die Gleichung vereinfacht sich also zu: H1 = H2

1.9 Fiktive Prüfungsgespräche

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Die Enthalpie ist also vor und nach der Expansion gleich und somit als die Größe zu nennen, die durch den Joule–Thomson-Effekt nicht angetastet wird. Die Enthalpie H ist die Erhaltungsgröße beim Joule–Thomson-Effekt. 20. Wie berechnet sich die Temperaturveränderung mit den Druckabfall beim Entspannen des Gases beim Joule–Thomson-Effekt? Zur Beantwortung dieser Frage benötigt man eine Zustandsgröße, bei der die betroffenen Größen als unabhängige Zustandsvariablen auftreten. Gesucht ist also eine Zustandsgröße der Variablen Druck p und Temperatur T. Üblicherweise wird die Gibbs-Energie G(p, T) als Funktion dieser Variablen geschrieben. Ist das denn die einzige Möglichkeit? Sie haben doch gerade gezeigt, dass sich bei diesem Prozess die Enthalpie nicht verändert? So gesehen ist es hier wahrscheinlich sinnvoller auf die Enthalpie als Funktion der unabhängigen Zustandsvariablen Druck p und Temperatur T zurückzugreifen. Es ist ohne Weiteres möglich, Zustandsfunktionen als Funktion anderer Zustandsvariablen zu schreiben. Schlechtestenfalls gehen dabei einige „schöne“ Eigenschaften verloren. So ist die Funktion H(p, T) kein thermodynamisches Potential mehr und die partielle Ableitung nach einer seiner Variablen liefert nicht mehr die konjugierte Zustandsvariable. Nach wie vor gilt aber, wie für jede Zustandsfunktion, dass ihre Änderung als totales Differential darstellbar ist. Da hier eine Änderung betrachtet werde soll, wird das totale Differential ausgeschrieben und nachfolgend analysiert, welche Teile des erhaltenen Ausdrucks für die Lösung der Aufgabe brauchbar sind. Es gilt für dH H(T, p) :

dH = (

𝜕H 𝜕H ) dT + ( ) dp = 0. 𝜕T p 𝜕p T

Mathematisch gesehen sucht man bei der Temperaturveränderung mit den Druckabfall nach dem Differentialkoeffizienten, der die partielle Ableitung der Temperatur nach dem Druck beschreibt. Ein Umstellen der Gleichung liefert die Temperaturveränderung mit dem Druck in einem isenthalpen (bedeutet: dH = 0) Prozess zu: ( 𝜕H ) dT 𝜕p ( ) = − 𝜕H T dp H ( 𝜕T ) p

Sind alle Parameter dieser Gleichung leicht zugänglich? Wo bekommen Sie diese gegebenenfalls her? Im Folgenden muss man noch die gefundenen Differentialkoeffizienten auf der rechten Seite durch geeignete, einfach zugängliche Messgrößen ersetzten. Das funktioniert wahrscheinlich durch Ausnutzen der Maxwell-Relationen für die Gibbs-Energie G(p, T) und die Verknüpfung weiterer Zustandsgrößen mit dem totalen Differential.

108 | 1 Phänomenologische Thermodynamik Der Ansatz stimmt, jedoch würde das hier zu weit führen. Ich hoffe, es genügt Ihnen, wenn ich Ihnen sage, dass sich schlussendlich folgender Ausdruck ergibt: (

−V + T( 𝜕V ) dT 𝜕T p ) = dp H Cp

Wichtig ist letztlich folgenden Aussage: Mit Hilfe der thermischen Zustandsgleichung und der Wärmekapazität, also Information, die man bei NIST findet, kann man die Temperaturveränderung bei der Expansion eines Gases vorhersagen. Auch generell gilt, dass zur Vorhersage vieler experimenteller Sachverhalte und Problemstellungen auf dem Gebiet der Thermodynamik, neben der Kenntnis der Zustandsgrößen und ihrer Verknüpfung, lediglich eine Zustandsgleichung und Wärmekapazitäten notwendig sind, um Ergebnisse von Experimenten vorherzusagen.

1.9.7 Gibbs-Energie angewandt auf Phasengleichgewichte und chemische Reaktionen Die zentrale Größe der chemischen Thermodynamik ist die Gibbs-Energie G. Sie hängt von den gut messbaren Variablen Druck p und Temperatur T ab und sagt etwas über die Richtung spontaner Prozesse aus. Die Analyse von G erlaubt die Vorhersage von Phasengleichgewichten oder der Gleichgewichtslage chemischer Reaktionen. 1. Betrachten wir ein Glas Wasser mit ein paar Eisstückchen darin. Wie kann man die Gibbs-Energie G dieses Systems ausdrücken? Das System besteht aus einer Komponente H2 O, die in zwei unterschiedlichen Phasen α und β vorliegt. Wie die anschaulicheren Größen Masse m oder Volumen V, ist auch die Gibbs-Energie G eine extensive Größe: G(p, T, nα , nβ ) = Gα + Gβ Die Gibbs-Energie G des Gesamtsystems kann man als die Summe der GibbsEnergien der einzelnen Phasen darstellen. Jeder Summand kann wiederum als Produkt eines spezifischen Gehalts an Gibbs-Energie pro Mol, dem sogenannten chemischen Potential μi und der Stoffmenge dargestellt werden. Allgemein gilt der Zusammenhang: M

G = ∑ Gα α =1

Für das hier betrachtete System aus Wasser und Eis gilt: G(p, T, nα , nβ )gesamt = GEis + GWasser , Ggesamt = μ Eis ⋅ nEis + μ Wasser ⋅ nWasser

1.9 Fiktive Prüfungsgespräche

2.

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109

Druck und Temperatur seien durch die Umgebung vorgegeben. Was kann für verschiedene Temperaturen passieren? Denkbar sind folgende Szenarien: – Es herrscht eine Temperatur von 0 °C und ein Druck von 1,013 bar. Unter diesen Bedingungen ist die Wasser-Eis-Mischung im Gleichgewicht. Beide Phasen koexistieren. – Bei Temperaturen oberhalb von 0 °C schmilzt das Eis vollständig μHWasser < μHEis . 2O 2O –

3.

Unterhalb 0 °C friert alles Wasser aus. Das flüssige Wasser wandelt sich vollständig zu Eis um μHWasser > μHEis . 2O 2O

Fazit: Die Phase mit dem höheren chemischen Potential wird abgebaut. Das ist korrekt. Wie lautet aber die übergeordnete Regel, die das Systemverhalten bestimmt? Alle Prozesse laufen so ab, das die Gibbs-Energie G minimal wird. Der Gleichgewichtszustand entspricht bei jeder der vorgegebenen äußeren Bedingungen einem Minimum der Gibbs-Energie G. Die Analyse der Gibbs-Energie erlaubt daher eine Vorhersage des Systemverhaltens. Im betrachteten Fall lautet die Bedingung: Wasser (dG)pT = μHEis ⋅ dnEis ⋅ dnWasser ≤0 H 2 O + μH 2 O H2 O 2O

Mit der Massenerhaltung Wasser dnEis H2 O = −dnH2 O

aus

Wasser dnEis =0 H2 O + dnH2 O

folgt für die Phasenkoexistenz: μHWasser = μHEis 2O 2O Das chemische Potential des Wassers in der flüssigen Phase ist gleich dem chemischen Potential des Wassers in der Eis-Phase. Ein Gradient im chemischen Potential ist gleichbedeutend mit einem Nichtgleichgewichtszustand, der zu einen Transport von Molekülen aus Bereichen mit hohem chemischen Potential bezüglich einer Komponente in Bereiche mit niedrigem chemischen Potential führt. 4. Wie verändert sich das chemische Potential mit der Temperatur μ (T)? Was gibt die Steigung an? Für Einstoffsysteme gilt folgendes Diagramm bei der Auftragung des chemischen Potentials μ gegen die Temperatur T. Da es sich bei der Gibbs-Energie G um ein thermodynamisches Potential handelt, liefert die Ableitung nach der Temperatur die zugehörige konjugierte thermische Größe, hier die negative Entropie −S. Dieser Zusammenhang geht aus den Maxwell-Relationen hervor. Das chemische Potential kann für einen Reinstoff als

110 | 1 Phänomenologische Thermodynamik

Abb. 1.55: Verlauf des chemischen Potentials mit der Temperatur.

molare Gibbs-Energie interpretiert werden: (

5.

6.

𝜕μ ) = −s 𝜕T p

Die Ableitung des chemischen Potentials nach der Temperatur ergibt demnach die negative molare Entropie. Sehr schön. Damit wären die thermodynamischen Effekte dieses Systems abgehakt. Gehen wir nun zu einem anderen Aspekt über: Das Eis möge fein verteilt als kleine Kristallite vorliegen. Was muss man dann noch zusätzlich berücksichtigen? Bei sehr kleinen Kristallen spielt auch die Oberfläche eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Mit dieser Frage wollte ich zwar eher auf die kinetischen Randbedingungen hinaus, aber wir können auch gerne mit Grenzflächeneffekten weitermachen. Wann muss man die Grenzfläche A bei der Angabe der Gibbs-Energie G berücksichtigen und unter welchen Umständen beeinflusst die Grenzfläche A die Gleichgewichtsbedingungen nicht? Die Oberfläche muss immer dann berücksichtigt werden, wenn verglichen mit der Volumenphase verhältnismäßig viele Moleküle in der Grenzfläche lokalisert sind. Je kleiner der Radius eines als kugelförmig angenommenen Kristalls, umso größer wird das Verhältnis von Oberfläche zu Volumen. Aus dem Skalierungsverhalten eines sphärischen Teilchens erhält man folgenden Zusammenhang: Oberfläche 4πr2 3 ∝ 4 3 = Volumen r πr 3 Der Beitrag der Oberfläche zur extensiven Gibbs-Energie G ergibt sich auch hier als Produkt einer intensiven und einer extensiven Größe. Die intensive Größe ist die Grenzflächenspannung 𝛾, die ein Maß dafür darstellt, wie sich die Gibbs-Energie bei Veränderung der Oberfläche verhält. Somit muss der Ausdruck für die GibbsEnergie durch einen Oberflächenterm ergänzt werden. Als extensive Größe dient

1.9 Fiktive Prüfungsgespräche

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111

in diesem Zusammenhang die Oberfläche A. Die Gibbs-Energie dieses Systems hängt damit von Druck p, Temperatur T, den Molzahlen nα , nβ des Wassers in den einzelnen Phasen sowie von der Grenzfläche (flüssig/fest) A ab: G(p, T, nα , nβ )gesamt = μEis ⋅ nEis + μWasser ⋅ nWasser + 𝛾 ⋅ A 7.

Betrachten wir ein komplexeres System. Wir füllen einen Behälter mit vier Gasen. Wie schreibt man die Gibbs-Energie G jetzt hin? Es liegt ein einphasiges, aber mehrkomponentiges System vor. Die extensive Größe G kann, wie üblich, als Summe der Beiträge der einzelnen Komponenten dargestellt werden. Die Druck- und Temperaturabhängigkeit steckt dabei im chemischen Potential μi der jeweiligen Komponente k

G(p, T, nA , nB , nC , nD ) = ∑ ni μi . i=1

8. Verändert sich das chemische Potential der Komponente B, wenn wir Komponente D aus den Behälter entfernen? Ja, das chemische Potential eines Stoffes in einer Mischphase hängt von seiner Aktivität ai ab. Verändert man die Molzahl der Komponente D, so verändert sich auch das chemische Potential der Komponente B. Aktivität ai und Konzentration xi sind über den Aktivitätskoeffizienten fi miteinander verknüpft fi =

ai xi

a i = f i ⋅ xi .

Das chemische Potential eines Stoffes in einer Mischphase μ kann durch das chemische Potential des Reinstoffes μ ∗ und einen Korrekturterm mit der Aktivität ai ausgedrückt werden μ (p, T) = μ ∗ (p, T) + RT ln ai = μ ∗ (p, T) + RT ln xi + RT ln fi .

9.

Das chemische Potential eines Stoffes in einer Mischphase ist kleiner als in der reinen Phase, wenn beide unter gleichem Druck p und Temperatur T stehen. Angenommen, zwischen den Molekülen ist eine chemische Reaktion möglich. Wie kann man dann das Gleichgewicht angeben? Zur Beschreibung einer chemischen Reaktion wird immer eine Reaktionsgleichung benötigt. Im allgemeinen Fall der Reaktion zwischen zwei Edukten und zwei Produkten nimmt die Reaktionsgleichung folgende Form an: 𝜈A A + 𝜈B B 󴀕󴀬 𝜈C C + 𝜈D D Dabei sind die 𝜈i die Koeffizienten der Edukte und Produkte. Konventionsgemäß erhalten die Koeffizienten der Edukte ein negatives Vorzeichen, die der Produkte positives Vorzeichen.

112 | 1 Phänomenologische Thermodynamik Da muss ich Ihnen zustimmen. Aber wie wird nun die Lage des Gleichgewichts bestimmt? Anders formuliert: Welche Größe ist ein Maß für die Lage des Gleichgewichts? Sie meinen wahrscheinlich die Gleichgewichtskonstante. Sie gibt das Verhältnis der Aktivitäten von Produkten und Edukten unter Berücksichtigung der stöchiometrischen Koeffizienten an. Sie ist definiert als: K=

[C]𝜈C ⋅ [D]𝜈D [A]𝜈A ⋅ [B]𝜈B

Darüber hinaus gibt es einen weiteren Parameter, mit dessen Hilfe die Aktivitäten, beziehungsweise Konzentrationen der Edukte und Produkte einer Reaktion bequem beschrieben werden können. Um den Reaktionsverlauf mithilfe nur einer Variablen beschreiben zu können, wird eine Reaktionslaufzahl ξ definiert. Diese setzt die Veränderung der Stoffmenge mit den stöchiometrischen Koeffizienten in Zusammenhang: dnB dnC dnD dnA = = = = dξ −|𝜈A | −|𝜈B | + |𝜈C | + |𝜈D | Kurz: Die Änderung der Reaktionslaufzahl dξ erfasst die Veränderung der Stoffmengen dni durch die Berücksichtigung der Koeffizienten 𝜈i der Reaktionsgleichung. Beide gehören untrennbar zusammen und müssen simultan angegeben werden. Die Zusammensetzung in der Kammer ändert sich durch den Ablauf der chemischen Reaktion nach einer festen Gesetzmäßigkeit, gegeben durch die Stöchiometrie der Reaktionsgleichung. Die Veränderungen werden durch eine einzige Variable, die Veränderung der Umsatzvariable dξ , erfasst. 10. Wie kann man diese Größe im Kontext der Gibbs-Energie G verstehen? Kann man auch mit der Umsatzvariablen Aussagen über die Richtung spontaner Prozesse treffen? Aus der Definition der Gibbs-Energie G erhält man für deren Änderung k

k

i=1

i=1

(dG)p,T = ∑ μi dni = ∑ μi 𝜈i dξ = (

𝜕G ) dξ . 𝜕ξ p,T

Das Minimum ist erreicht, sobald (

k 𝜕G ) = Δr G = ∑ 𝜈i μi = 0. 𝜕ξ p,T i=1

Dieser Zusammenhang geht aus einem Koeffizientenvergleich der obigen Gleichung hervor. Damit erhält man im Gleichgewicht durch Einsetzen von μ = μ ∗ + RT ln ai und Δr G0 = ∑Ki=1 𝜈i μi∗ den Ausdruck: k

Δr G0 = − ∑ 𝜈i RT ln[ai] = f (p, T) i=1

1.9 Fiktive Prüfungsgespräche

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113

Üblicherweise werden die im Gleichgewicht vorliegenden Aktivitäten durch eckige Klammern gekennzeichnet: −

k k k Δr G0 = ∑ 𝜈i ln[ai ] = ∑ ln[ai ]𝜈i = ln ∏[ai ]𝜈i RT i=1 i=1 i=1

Die linke Seite hängt nur von Druck und Temperatur ab: ln K(p, T) = −

k Δr G0 = ln ∏[ai ]𝜈i RT i=1

Die Gleichgewichtskonstante K(p, T) bezieht sich ebenfalls auf eine bestimmte Formulierung der Reaktiongleichung und hat nur dann einen Aussagewert, wenn die zugehörige Gleichung angegeben ist. 11. Werden wir mal konkreter. Der Deacon-Prozeß ist eine im großen, industriellen Maßstab durchgeführte Reaktion, bei der Chlorwasserstoff durch Sauerstoff oxidiert wird. Dieses Verfahren dient dazu, HCl aus der Abluft zu entfernen. Das dabei gebildete Chlor wird dann wieder in den Chlorierungskreislauf zurückgeführt. Das Verfahren wurde vom englischen Chemiker Henry Deacon (1822–1876) im Jahre 1868 zum Patent angemeldet. Stellen Sie die Reaktionsgleichung auf! Es handelt sich um eine Redox-Reaktion: 4HCl + O2 󴀕󴀬 2Cl2 + 2H2 O 12. In dieser Reaktion wird ein Katalysator auf Kupferbasis verwendet. Verändert der Katalysator die Lage des Gleichgewichts? Katalysatoren haben grundsätzlich keinen Einfluss auf die Lage des Gleichgewichts. Es wird allein durch den Druck p und die Temperatur T bestimmt. Katalysatoren setzten lediglich die Aktivierungsenergie eines Prozesses herab und bewirken dadurch eine Beschleunigung der Reaktion. Mit Katalysator haben mehr Teilchen die Chance, die Aktivierungsenergie zu überschreiten und so in Reaktion zu treten. Die katalysierte Reaktion läuft schneller ab. 0 13. Was versteht man unter der Standardreaktionsenthalpie ΔrH298 und wie berechnet man diese? Die Standardreaktionsenthalpie macht eine Aussage darüber, wie sich die Enthalpie des Systems bei einem vollständigen Formelumsatz gemäß der Reaktionsgleichung ändert. Betrachtet wird dabei die Reaktion bei den definitionsgemäß festgelegten Standardbedingungen von 298,15 K und einem Druck von 1013 hPa. Die Standardreaktionsenthalpie für eine Gleichgewichtsreaktion ist definiert als die Differenz der Standardbildungsenthalpien der Edukte und Produkte unter Berücksichtigung der stöchiometrischen Koeffizienten der Reaktionsgleichung. Wie immer haben dabei die Edukte negatives Vorzeichen, während den Produkten positives Vorzeichen zugeschrieben wird. Die dazu verwendeten Standardbildungsenthalpien geben Auskunft darüber, welche Energie umgesetzt wird, wenn

114 | 1 Phänomenologische Thermodynamik ein Mol des jeweiligen Stoffes bei Normalbedingungen aus den Elementen gebildet wird. Definitionsgemäß ist die Standardbildungsenthalpie von Elementen wie Chlor oder Sauerstoff gleich Null n

0 0 Δr H298 = ∑ H298 (i). i=1

Im konkreten Fall des Deacon-Verfahrens gilt: 0 0 0 Δr H298 = 2ΔBH298 (H2 O, fl) − 4ΔBH298 (HCl, g)

14. Berechnen Sie weiterhin ΔrS0298 und Δr G0298! Bei der Reaktionsentropie müssen auch die Entropieterme der Elemente berücksichtigt werden. Auch diese Werte sind für eine Vielzahl chemischer Verbindungen und Elemente tabelliert ΔrS0298 = 2S0298(Cl2 , g) + 2S0298(H2 O, fl) − 4S0298(HCl, g) − S0298 (O2 , g). Gibbs-Energie G, Entropie S und Enthalpie H sind durch folgende Definitionsgleichung verknüpft: 0 Δr G0298 = Δr H298 − T ⋅ Δr S0298 15. Korrekt. Die Daten findet man in Tabellenwerken oder der NIST-Datenbank. Sie beziehen sich dort auf eine Temperatur von 298,15 K. Wie rechnet man diese auf die Reaktionstemperatur um? Zur Berechnung der Gibbs-Energie einer Reaktion bei anderen Temperaturen als 298,15 K werden, ebenfalls, zunächst die Berechnung der Reaktionsenthalpie und der Reaktionsentropie bei Standardbedingungen benötigt. Diese Werte dienen als Ausgangsbasis. Abweichungen von diesen Bedingungen werden als mehr oder weniger große Störungen aufgefasst. Neben Werten bei Standardbedingungen sind dann zusätzlich Angaben zur Temperaturabhängigkeit dieser Größen erforderlich. Um die Veränderung des Systemverhaltens mit der Temperatur zu beschreiben, muss die jeweilige Größe nach der Temperatur abgeleitet werden. Eine Schlüsselgröße in diesem Zusammenhang ist die Wärmekapazität. Auch diese sind in geeigneten Tabellenwerken aufgelistet. Mit ihrer Hilfe lassen sich die Temperaturabhängigkeiten von Enthalpie H und Entropie S wie folgt ausdrücken: (

𝜕H ) = cp 𝜕T p

(

c 𝜕S ) = p 𝜕T p T

Um einen Enthalpie- oder Entropiewert für andere Temperaturen zu bestimmen, ist dem Wert der Standardbedingungen noch die Veränderung hinzuzufügen. Rein mathematisch gesehen trägt man der Änderung durch ein Integral Rechnung, in dem die differentiellen Änderungen von den Standardbedingungen bis

1.9 Fiktive Prüfungsgespräche

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115

zur gewünschten Reaktionstemperatur aufintegriert werden T

ΔB HT0

=

0 ΔBH298

+ ∫ cp dT. 298 K

1.9.8 Chemisches Gleichgewicht, Prinzip des kleinsten Zwanges 1.

Können Sie die Dissoziation von Distickstofftetraoxid formulieren? Die Reaktion ist eine Gasphasenreaktion und lässt sich durch folgende Gleichungen beschreiben: N2 O4 (g) 󴀕󴀬 2NO2(g)

2.

Warum tritt hier eine Dissoziation auf oder, anders gefragt, warum kommt es zu einer Dimerisierung? Ist die Reaktion exotherm oder endotherm? Zur Beantwortung der Frage, ob eine Reaktion exotherm oder endotherm ist, benötigt man eine Reaktionsgleichung, die den Ablauf beschreibt. In der oben gemachten Formulierung ist die Reaktion endotherm. Es muss Energie zugeführt werden, um das Gleichgewicht nach dem Prinzip von Le Chatelier und Braun auf die rechte Seite zu verschieben. Das Stickstoffdioxid NO2 ist ein paramagnetisches Molekül mit einer ungeraden Elektronenzahl. Eine derartige Elektronenkonfiguration ist bei Hauptgruppenelementen energetisch ungünstig und wird selten beobachtet. Sie haben das Prinzip von Le Chatelier und Braun angesprochen. Wie kann man noch Einfluss auf die Lage von Gleichgewichten nehmen? Ist das auch bei dieser Reaktion möglich? Neben der Möglichkeit zur Einflussnahme über die Temperatur, kann man die Gleichgewichtslage durch den Druck beeinflussen. Die Gibbs-Energie G bestimmt das Systemverhalten und ist für diese Gasphasenreaktion gegeben als Funktion des Drucks p, der Temperatur T und der Stoffmengen von NO2 und N2 O4. Rein formal ergibt sich der Ausdruck:

3.

G (p, T, nN2 O4 , nNO2 ) Insbesondere können solche Gasphasenreaktionen besonders gut über den Druck gesteuert werden, bei denen die Summe der stöchiometrischen Faktoren 𝜈i ungleich Null ist. Grund dafür ist das hohe molare Gasvolumen. Bei Standardbedingungen nimmt ein Mol eines Gases ein Volumen von 22,4 l ein. Da die Dissoziation von einem Mol Gas zu zwei Mol Gas führt, kann durch eine Druckerhöhung die Dissoziation zurückgedrängt werden. Eine Erhöhung des Druckes fördert somit die Dimerisierung. 4. Kann man diese Abhängigkeiten auch quantifizieren? Das Verschieben von Gleichgewichten nach Le Chatelier und Braun ist ja eher ein qualitatives Konzept.

116 | 1 Phänomenologische Thermodynamik Die Einflussnahme kann auch quantifiziert werden. Erst dadurch wird die punktgenaue Steuerung von Reaktionen im Multitonnen-Maßstab möglich. Wenn Chemikalien in großen Mengen miteinander reagieren, sollte man am besten möglichst wenig dem Zufall überlassen. Ansatzpunkt ist, einmal mehr, die GibbsEnergie. Je nach Zusammensetzung im Reaktionsbehältnis nimmt die GibbsEnergie einen bestimmten Wert an. Das System strebt dabei ein Minimum der Gibbs-Energie an. Die Veränderung der Zusammensetzung erfolgt durch die chemische Reaktion und kann durch die Reaktionslaufvariable ξ beschrieben werden. Die Analyse der Gibbs-Energie als Funktion der Reaktionslaufzahl ξ liefert folgende fundamentale Beziehung: n

ΔG0(p, T) = −RT ln K(p, T) = ∑ 𝜈i μi0(p, T) i=1

Die gesuchten Abhängigkeiten erhält man durch Berechnung der partiellen Ableitungen nach den jeweiligen Größen. Die Druckabhängigkeit der Gleichgewichtskonstante ist durch die partielle Ableitung der Massenwirkungskonstante nach dem Druck gegeben. Zunächst muss man nach K auflösen. Zweckmäßiger ist hier das Auflösen nach dem Logarithmus von K: ln K(p, T) =

ΔG0(p, T) −RT

Die Ableitung nach dem Druck liefert: n 1 𝜕ΔG0 1 𝜕 n 1 𝜕 ln K(p, T) =− ( )=− ( ∑ 𝜈i μi0(p, T)) = − (∑ 𝜈i v0i ) 𝜕p RT 𝜕p RT 𝜕p i=1 RT i=1 T

T

Das chemische Potential μi ist ein thermodynamisches Potential einer molaren Größe. Die Ableitung nach dem Druck liefert die konjugierte Größe, das molare Volumen V 0 : ΔV 0 𝜕 ln K(p, T) =− 𝜕p RT

5.

In ganz ähnlicher Weise lässt sich auch eine Temperaturabhängigkeit der Gleichgewichtskonstante ableiten. Der erhaltene Zusammenhang ist auch als die van’t Hoffsche Reaktionsisobare bekannt. Wie kann man den Dissoziationsgrad α durch eine Druckmessung bestimmen? Nehmen wir mal an, zu Beginn der Reaktion befinden sich lediglich n0 mol N2 O4 im Reaktionsgefäß! Der Dissoziationsgrad ist definiert als Stoffmengenverhältnis des dissoziierten zum eingesetzen Edukt n α = dissoziiert . neingesetzt Zu beachten ist hier die Stöchiometrie, die aus der Reaktionsgleichung hervorgeht. Die Dissoziation von einem Mol N2 O4 führt zu zwei Mol NO2 . Nun muss man

1.9 Fiktive Prüfungsgespräche

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117

die Stoffmengen von Edukt und Produkt als Funktion des Dissoziationsgrads ausdrücken. Es ergibt sich: nNO2 = 2 ⋅ α ⋅ n0N2 O4 , nN2 O4 = n0N2 O4 − α ⋅ n0N2 O4 Die gesamte Stoffmenge, die bei konstantem Druck nach dem idealen Gasgesetz dem Volumen des Systems direkt proportional ist, ergibt sich als Summe der Stoffmengen von monomerer und dimerer Form: ngesamt = nNO2 + nN2 O4 = (1 + α) ⋅ n0N2 O4 Den Dissoziationsgrad erhält man demnach aus einem Stoffmengenverhältnis durch Umformen der Gleichung: α=

ngesamt −1 n0N O 2

4

Nutzt man nun das ideale Gasgesetz 󳨀→

pV = ngesamt RT

ngesamt =

pV , RT

erhält man den Dissoziationsgrad durch Messung des Druckes bei bekannter Temperatur und Volumen des Reaktionsgefäßes zu: α=

pV − RT ⋅ n0N2 O4 pV −1= 0 RT ⋅ nN O RT ⋅ n0N O 2

4

2

4

118 | 1 Phänomenologische Thermodynamik

Zusammenfassung Umgebung Wände: wärmeleitend oder isolierend ? permeabel, semipermeabel oder impermeabel ? starr oder deformierbar ?

System Zustandsgrößen p, T , V, ni , U ⋅ ⋅ ⋅ Zustandsfunktionen, Zustandsvariable: U(T , V) Totales Differential, Satz von Schwarz, Satz von Euler ...

δQ

δQV δQp

Erster Hauptsatz: Energieerhaltung dU (abgeschlossenes System) geschlossenes System: U dU = δW + δQ = T

V

U V

dT +

T

dV

Thermochemie Wärme ist keine Zustandsgröße sondern eine Prozessgröße dU = δQV dH = δQp ; H = U + pV Standardbildungsenthalpien Δf H Reaktionswärmen Δr H Zweiter Hauptsatz der Thermodynamik δQ Zustandsgröße Entropie S mit dS = Trev Richtung spontaner Prozesse dS ≥ c p dS = TS V dT + VS T dV = Tv dT + T

V

dV

Experimentelle Schlüsselgrößen Wärmekapazität cp , cV : cv = A + B ⋅ T + c ⋅ T + D ⋅ T + E/T thermische Zustandsgleichung f (p, T , V) Gibbs-Energie G = H − TS und freie Energie

F = U − TS

Extremalaussage Smax U,V für abgeschlossenes System unpraktisch Umschreiben des zweiten Hauptsatzes für geschlossenes System liefert: (dG)p,T ⩽ bzw. (dF )V,T ⩽ mit dG = Vdp − SdT + ∑i μ i dni chemisches Potential μ i (p, T ) = μ ∗i (p, T ) + RT ln ai Phasengleichgewichte, Massenwirkungsgesetz, Osmose, kolligative Eigenschaften, ...

Abb. 1.56: Die wichtigsten Schlüsselideen im Überblick.

δW

2 Aufbau der Materie In der phänomenologischen Thermodynamik beschreiben wir große Ensembles von Atomen und Molekülen durch wenige ausgewählte Zustandsgrößen. Die aufgebaute Theorie beruht auf wohlgesicherten Erfahrungstatsachen. Der Atombegriff wird nicht benötigt. Wir möchten jetzt den molekularen Aufbau der Materie verstehen und die Eigenschaften eines einzelnen Atoms, die chemische Bindung sowie die Wechselwirkung von elektromagnetischer Strahlung mit Atomen und Molekülen diskutieren. Die Beschreibung des Mikrokosmos gelingt nicht mit der klassischen Mechanik, sondern erfordert die Quantenmechanik. Solide Grundkenntnisse der klassischen Mechanik und der Wellentheorie sind unabdingbar. Aus diesem Grund wiederholen wir zunächst einige Grundlagen.

2.1 Klassische Mechanik Aus den Newtonschen Bewegungsgleichungen folgt die exakte Bahn eines Teilchens mit der Mas⇀ se m. Der Ort und der Impuls zum Zeitpunkt t = 0 und die einwirkenden Kräfte Fi bestimmen den ⇀



Ort x und Impuls p zu einem späteren Zeitpunkt mit beliebiger Genauigkeit: ⇀

m⋅ a =m⋅

⇀ d2 ⇀ x = ∑Fi dt 2 i

(2.1)

Das Teilchen bewegt sich längs einer definierten, vorhersagbaren Bahn. Wir sprechen vom klassischen Determinismus. Das Aufstellen der zugrunde liegenden Differentialgleichung ist meist trivial, eine Lösung gelingt allerdings häufig nur durch numerische Integration. Einige einfache Grundtechniken zum Lösen einer Differentialgleichung werden rekapituliert. Die erlernten Techniken werden auch in der Quantenmechanik benötigt.

Die Grundgleichung der klassischen Mechanik ist die Newtonsche Bewegungsgleichung. Grundgesetze fassen in mathematischer Kurzform alle Erfahrungen zusammen, die auf dem jeweiligen Gebiet gesammelt wurden. Die Newtonschen Gesetze beschreiben die Bewegungen makroskopischer Körper. Sie haben in der Astrophysik eindrucksvoll ihre Mächtigkeit bewiesen. Das zweite Newtonsche Gesetz lautet: Masse mal Beschleunigung des Teilchens ist gleich der Summe der angreifenden Kräfte. Wenn man die Beschleunigung als die zweite Ableitung des Ortes nach der Zeit begreift, lässt sich die Aussage in der Differentialgleichung (2.1) zusammenfassen. Diese Bewegungsgleichung ermöglicht es, die exakte Bahn eines Teilchens der Masse m vorherzusagen, vorausgesetzt man kennt den Ort und den Impuls des Teil⇀ chens zum Zeitpunkt t = 0 und die auf das Teilchen einwirkenden Kräfte F i . Die An⇀ ⇀ fangsbedingungen x (t = 0) und p(t = 0) und die Kenntnis der einwirkenden Kräfte ermöglichen es, den Ort und den Impuls zu jedem Zeitpunkt mit beliebiger Genauigkeit vorherzusagen. Sämtliche Systemeigenschaften sind durch die Anfangsbedin-

120 | 2 Aufbau der Materie

m⋅

x(t = 0) y(t = 0) ( z(t = 0) ) ) ( (p (t = 0)) x py (t = 0) ( pz (t = 0) )

d2 ⇀ x dt 2



= ∑i F i

x(t) y(t) ( z(t) ) ( ) (p (t)) x py (t) ( pz (t) )

Abb. 2.1: Klassischer Determinismus: Ort und Impuls des Teilchens zum Zeitpunkt t = 0 und die Kenntnis der einwirkenden Kräfte ermöglichen eine genaue Vorhersage des Ortes und Impulses zum Zeitpunkt t.

gungen determiniert. Diese exakte Vorhersagbarkeit einer Bahn nennt man auch den klassischen Determinismus. Sie prägt das klassische mechanische Weltbild. Wir wollen die Lösungsstrategie anhand eines einfachen und wichtigen Beispiels, dem harmonischen Oszillator, illustrieren. Eine Masse m sei an einer Feder mit einer Federkonstante D fixiert. Die Rückstellkraft ist proportional zur Auslenkung. Die Größe D erfasst die Stärke der Feder. Diese Abhängigkeit ist auch als das Hookesche Gesetz bekannt.

m

x = x(t)

Abb. 2.2: Der harmonische Oszillator.

Die mathematische Formulierung dieses eindimensionalen Problems lautet: FFeder = −D ⋅ x

(2.2)

Das Minuszeichen gibt dabei an, dass die Kraft rückstellend ist. Einsetzen in die Grundgleichung der Mechanik liefert folgende Differentialgleichung: d2 x(t) = −Dx(t) (2.3) dt 2 Die Lösung ist eine Funktion der Variable t. Gesucht ist eine Funktion x(t), die sich in der zweiten Ableitung reproduziert. Wir kennen einige Funktionen, die diese Eigenschaft besitzen: die trigonometrischen Funktionen oder die Exponentialfunktion. Bei der Wahl des Lösungsansatzes hilft eine gute physikalische Intuition. Wir wählen einen Sinus oder Kosinus, da die Lösung periodisch sein muss. Der Lösungsansatz enthält einige frei wählbare Parameter, die durch die Differentialgleichung und die m

2.1 Klassische Mechanik

|

121

Anfangsbedingung festgelegt werden x(t) = A sin (ωt + φ) . 1.

(2.4)

Diskutieren Sie den Einfluss der Parameter A, ω und φ auf die Kurvenform! Die Amplitude A bestimmt die maximale Auslenkung aus der Gleichgewichtslage. Die Kreisfrequenz ω legt die Frequenz und damit die Schwingungsdauer fest. Bei hohem ω nennt man die Schwingung hochfrequent. Die Phasenverschiebung φ gibt lediglich an, welche Auslenkung bei t = 0 vorliegt. Sie ist aus der Anfangsbedingung bestimmbar und bewirkt lediglich eine Verschiebung des Sinus auf der Zeitachse, ohne Einfluss auf die Amplitude oder die Frequenz zu nehmen. Nimmt die Phasenverschiebung den Wert φ = π/2 an, so wird der Sinus in einen Kosinus überführt. Es spielt daher keine Rolle, ob eine Sinus- oder eine Kosinus-Funktion als Lösungsansatz gewählt wird.

Wir überprüfen nun, ob der Lösungsansatz der Differentialgleichung genügt, und bilden zunächst die zweifache Ableitung der Funktion x(t) nach der Zeit, wie es von der Newton-Grundgleichung gefordert wird. Es ergibt sich: d2 x(t) = −A ⋅ ω 2 ⋅ sin (ωt + φ) dt 2

(2.5)

Das Minus stammt aus der Bildung der zweiten Ableitung der sin-Funktion. Der Parameter ω 2 folgt aus dem zweifachen Nachdifferenzieren (Anwenden der Kettenregel) bzgl. der Variablen t. Einsetzen der zweiten Ableitung in Differentialgleichung (2.3) ergibt: −Aω 2 sin (ωt + φ) = −

D A sin (ωt + φ) m

Die Gleichheit muss für alle t gelten. Es ergibt sich ω 2 = D/m. Die Kreisfrequenz ω ist allein durch die Federkonstante und die Masse bestimmt. Dieses Ergebnis fand ich persönlich überraschend. Eigentlich hätte ich einen Einfluss der maximalen Auslenkung auf die Periodendauer erwartet. Ein Sinus kann auch am Einheitskreis dargestellt werden. Die Kreisfrequenz ω gibt den überstrichenen Phasenwinkel der Schwingung pro Zeitspanne an. Eine Schwingungsperiode entspricht einem Phasenwinkel von 2π, die Frequenz und die Kreisfrequenz unterscheiden sich um einen Faktor 2π: D 2π ω=√ = = 2π𝜈 m T Die Kreisfrequenz ω wird umso größer, je kleiner die Masse m und je größer die Federkonstante D ist. Dies ist einsichtig. Die Amplitude A und die Phase φ werden durch die Anfangsbedingungen für Ort x(t = 0) und Geschwindigkeit v(t = 0), bzw.

122 | 2 Aufbau der Materie Impuls p = mv zum Zeitpunkt t = 0 festgelegt. Wir erhalten eine exakte Bahn des Teilchens und können zu jedem beliebigen Zeitpunkt den Ort und die Geschwindigkeit des Teilchens angeben. Machen wir das Problem etwas komplexer. Die Masse m sei eine kleine Kugel, die sich in einem viskosen Medium bewegt. Die Bewegung wird daher gedämpft. Jetzt wirkt neben der Rückstellkraft auch noch die Reibungskraft auf die Kugel. Im einfachsten Fall ist die Reibungskraft proportional zur Geschwindigkeit des Objektes. Nach der Grundgleichung (2.1) fügen wir daher einen weiteren Term −kdx/dt, der die geschwindigkeitsproportionale Reibungskraft repräsentiert, in unsere Bewegungsgleichung ein: d2 x dx m 2 = ∑ Fi = −Dx − k (2.6) dt dt i 2.

Welchen Lösungsansatz würden Sie jetzt wählen? Für nicht zu große Dämpfungen erwarte ich weiterhin eine periodische Schwingung, deren Amplitude allerdings im Laufe der Zeit abnimmt. Dieses Systemverhalten muss in einen Lösungsansatz übersetzt werden. Wir wählen daher einen analogen Ansatz wie bei der ungedämpften Schwingung, allerdings kann die Kreisfrequenz ω̃ von der Eigenfrequenz ω0 der ungedämpften Schwingung abweichen. Die Viskosität des umgebenden Mediums wird eine Verringerung der Amplitude mit der Zeit zur Folge haben, die durch einen exponentiellen Dämpfungsterm beschrieben werden kann. Die Einhüllende dieser Abklingfunktion kann als Faktor vor die Lösung der Differentialgleichung des harmonischen Systems gestellt werden und liefert so den Ausdruck für das gedämpfte System. Der zusätzliche Faktor κ ist zur Beschreibung der Dämpfung notwendig: x(t) = A ⋅ exp(−κt) ⋅ sin (ωt̃ + φ) Dieser Lösungsansatz sieht erfolgversprechend aus und löst in der Tat die Differentialgleichung. Eine zeitlich abklingende Schwingung ist aber nicht mehr harmonisch, in ihrer Fourier-Darstellung treten Frequenzkomponenten um ω̃ auf. Die Spektralanalyse (Anhang Seite 352) zeigt, dass die Frequenzverteilung umso breiter wird, je stärker die Schwingung gedämpft ist, dass heißt je größer κ ist.

Wir können das Problem noch komplexer machen. Das schwingende Objekt im viskosen Medium sei jetzt ein Magnet, der über einem anderen Magneten schwebt. Die Abstandsabhängigkeit dieser Kraft skaliert mit 1/x3 m

⇀ C d2 x dx − = ∑ F i = −Dx − k . 2 dt dt (d + x)3 i

(2.7)

Das Aufstellen der Differentialgleichung ist trivial, man muss dazu nur alle angreifenden Kräfte addieren. Hier ergänzt man die Summe der angreifenden Kräfte um einen Term, der die oben geforderte Proportionalität 1/x3 aufweist. Leider ist das Lösen die-

2.1 Klassische Mechanik

Ruhelage bei Abwesenheit des unteren Magneten

N S

|

123

x = x(t)

d N S

Abb. 2.3: Ein Magnet schwingt über einem weiteren Magneten in einem viskosen Medium.

ser Differentialgleichung alles andere als trivial und Mathematiker konnten zeigen, dass für die obige Differentialgleichung keine geschlossene analytische Lösung existiert. Komplexere Probleme dieser Art können meist nur durch eine numerische Integration der Bewegungsgleichung gelöst werden. Zur numerischen Integration geht man von der Definition der Geschwindigkeit als Quotient der zurückgelegten Wegstrecke in einer bestimmten Zeit aus: für den Grenzwert Δt gegen Null, erhalten wir die Momentangeschwindigkeit x(t + Δt) − x(t) v(t + Δt) − v(t) und a(t) = lim . (2.8) Δt→0 Δt→0 Δt Δt Für kleine Werte von Δt können wir mit dem Differenzenquotienten arbeiten und nach x(t + Δt) auflösen x(t + Δt) ≈ x(t) + v(t)Δt. (2.9) v(t) = lim

Eine analoge Beziehung ergibt sich auch für die Geschwindigkeit aus der einwirkenden Beschleunigung a = Fgesamt /m F(x(t)) Δt. (2.10) m Ort und Impuls zum Zeitpunkt t = 0 sind bekannt. Wir berechnen so die Trajektorie des Teilchens in kleinen Schritten. Die Idee dahinter ist die folgende: Wenn wir Ort und Geschwindigkeit zum Zeitpunkt t = 0 kennen, können wir daraus den Ort zu einem etwas späteren Zeitpunkt, hier zum Zeitpunkt t = Δt, ausrechnen. Man hangelt sich demnach von einem bekannten Ausgangspunkt zu einem Punkt, der nicht allzu weit vom Ausgangspunkt entfernt ist. Diesen Schritt macht man, wie oben angedeutet, durch eine lineare Approximation. Der neu berechnete Punkt entspricht dabei umso genauer dem tatsächlichen Punkt, je kleiner man das Zeitfenster Δt wählt. Das wird ersichtlich durch eine Grenzfallanalyse: Wählt man Δt = 0 erhält man den exakten v(t + Δt) ≈ v(t) +

124 | 2 Aufbau der Materie Wert, gewinnt aber keine neue Information. In der gleichen Art und Weise kann man mit der an diesem Ort auf das Teilchen einwirkende Kraft verfahren. Ist die Kraft an einem Ort bekannt, können wir entsprechend der Newtonschen Bewegungsgleichung die dazugehörige Beschleunigung ermitteln. Daraus können wir die neue Geschwindigkeit ausrechnen. Letztendlich lösen wir so sukzessiv, in kleinen Δt-Schritten die Bewegungsgleichung. Die Berechnung von Ort und Impuls nach n Zeitschritten erfolgt mit Hilfe der Kenntnis des Ortes und Impulses zum Zeitpunkt (n − 1)Δt: Zeit

Ort

Geschwindigkeit

t=0

x(0) = x0 gegeben

v(0) = v0 gegeben

t = Δt

x(Δt) = x0 + v0 ⋅ Δt

v(Δt) = v0 + F (x0 ) /m ⋅ Δt

t = 2Δt

x (2Δt) = x(Δt) + v (Δt) ⋅ Δt

v (2Δt) = v (Δt) + F (x[Δt]) /m ⋅ Δt

t = 3Δt

x (3Δt) = x(2Δt) + v (2Δt) ⋅ Δt

v (3Δt) = v (2Δt) + F (x[2Δt]) /m ⋅ Δt

Das Problem lässt sich in ein Computerprogramm übersetzen. Wir erhalten eine numerische Lösung der Differentialgleichung. Diese ist eine Zahlentabelle mit Geschwindigkeiten und Orten, die grafisch visualisiert werden kann. Sie sehen dann, dass diese Bewegung nicht mehr harmonisch ist. An einigen Stellen des Buches sieht man Schnappschüsse von Molekulardynamik (MD) Simulationen, wie in der Abbildung des Wassers (Abb. 1.1) oder der Grenzfläche (Abb. 1.28). MD Simulationen parametrisieren das Wechselwirkungspotential zwischen den Molekülen und Lösen für das Ensemble die Newtonschen Bewegungsgleichungen. Die numerische Integration der Bewegungsgleichungen liefert einen Film der Bewegung der atomaren Bausteine, die der Vorstellung des Chemikers sehr nahe kommen Numerische Mathematik birgt einige Fallen! Der hier vorgestellte Algorithmus ist einfach und einsichtig, aber numerisch nicht sonderlich stabil. Beim Programmieren ist es sinnvoll, die Erhaltungsgrößen des Systems, wie die Gesamtenergie, nach jedem Rechenschritt zu kontrollieren. Außerdem ist es empfehlenswert, bestehende mathematische Bibliotheken einzubinden, da diese meist sehr gut getestet sind und ausgefeilte Algorithmen benutzen. Numerische Mathematik ist das täglich Brot für den theoretischen Chemiker. Die quantenmechanischen Differentialgleichungen für reale Systeme können nur numerisch gelöst werden.

2.2 Wellen Elektromagnetische Wellen sind die Werkzeuge in der Spektroskopie. Sie decken einen weiten Frequenzbereich ab. Die Wellenoptik beschreibt Licht ≈ 1015 Hz als ei⇀ ne transversale elektromagnetische Welle. Die Vektoren des elektrischen Feldes E, ⇀ ⇀ des magnetischen Feldes B und der Ausbreitungsrichtung k stehen stets senkrecht

2.2 Wellen

|

125

aufeinander. Aufgrund der hohen Frequenzen kann die Feldstärke der beiden Felder nicht direkt gemessen werden, sondern nur eine Intensität, die durch den zeitlichen Mittelwert des Quadrats der Feldstärke gegeben ist. Es gilt für die Intensität: I = E0∗ E0 . Die typischen Wellenphänomene Beugung, Interferenz und die evaneszente Welle werden diskutiert. Oft wird das Kapitel Wellen als sehr schwierig empfunden. Wir wiederholen dieses daher etwas ausführlicher.

2.2.1 Polarisation und Intensität 1.

Ein häufig benutztes Werkzeug in der Spektroskopie ist die Idee einer ebenen, linear polarisierten elektromagnetische Welle. Wie stellen Sie sich die vor? Einige wesentliche Aspekte sind in Abbildung 2.4 zusammengefasst: ⇀



Das elektrische E-Feld und magnetische B-Feld schwingen senkrecht zur Ausbrei⇀

tungsrichtung k der elektromagnetischen Strahlung. Sie bilden Paare von zueinander orthogonalen Vektoren. Man spricht von einer transversalen Welle. Mathematisch beschreibt man eine ebene Welle durch folgenden Ausdruck, c.c. steht dabei für das konjugiert Komplexe des ersten Terms: ⇀ ⇀

⇀⇀



E( r , t) = E 0 ei( k ⋅ r −ω t) + c.c.,







E⊥B⊥ k

mit



|k | =

2π λ

(2.11) (2.12)



Man nennt eine Welle linear polarisiert, wenn der E-Vektor in einer definierten Schwingungsebene schwingt und diese sich im Laufe der Zeit nicht ändert. Ferner sagen die Maxwell-Gleichungen für die Ausbreitung elektromagnetischer Strahx

Ex

y

By

By k z

Abb. 2.4: Darstellung der aufeinander senkrechten Anteile einer elektroma⇀ ⇀ gnetischen Welle; E -Feld, B-Feld und Ausbreitungsrichtung sind zueinander jeweils orthogonal.

126 | 2 Aufbau der Materie ⇀



lung in Luft/Vakuum vorher, dass das E- und B-Feld gleichzeitig ihren Maximalwert erreichen. ⇀ ⇀ Sowohl im elektrischen Feld E als auch im magnetischen Feld B ist Energie gespeichert. Die Energiedichte in beiden Feldern ist zu jedem Zeitpunkt gleich und zum Betragsquadrat der Felder proportional: 𝜖0 2 B2 E = 2 2μ0

2.

(2.13)

Eine andere Situation liegt bei einem schwingenden Dipol vor. Dort wird die Energie zwischen elektrischer und magnetischer Energie hin- und hergeschoben in qualitativer Analogie zum mechanischen Fadenpendel, bei dem ständig kinetische und potentielle Energie ineinander umgewandelt werden. Was bedeutet der Begriff ebene Welle? Was liegt da auf einer Ebene? Wie sieht man diese Eigenschaft der obigen mathematischen Repräsentation an? Die Flächen konstanter Phase liegen auf Ebenen senkrecht zur Ausbreitungsrich⇀

tung der Welle. In dieser Ebene hat der E-Vekor einheitlichen Betrag und Richtung. Er verändert sich im Laufe der Zeit in derselben Art und Weise. Generell kann man die Orientierung einer Ebene im Raum durch einen Normalenvektor, der senkrecht auf der gewählten Fläche steht, beschreiben: z



k







r − r0

r



y

r0

Abb. 2.5: Beschreibung einer Ebene mit der Hesse-Normalform.

x

Die sogenannte Hesse-Normalenform legt eine Ebene durch das Skalarprodukt des ⇀





Normalenvektors k und der Vektoren innerhalb der Ebene r − r 0 fest. Der Vek⇀



tor r 0 führt vom Koordinatenursprung zu einem Punkt der Ebene, der Vektor r kann frei gewählt werden. Für Punkte, die in der Ebene liegen, verschwindet das Skalarprodukt. Es gilt für alle Punkte der Ebene: ⇀





k ⋅ ( r − r 0) = 0

(2.14)

2.2 Wellen

| 127

Genau diese Repräsentation findet man in der obigen komplexen Schreibweise (siehe Gleichung (2.11)). Man erhält die Flächen konstanter Phase a, indem man ⇀⇀

⇀⇀

k r gleich einer Konstanten a setzt ( k r = kx x + ky y + kz z = a). Die Konstante a ⇀



kann auch als das Skalarprodukt zwischen k und r 0 dargestellt werden. Es gilt ⇀⇀

3.

⇀⇀ k r0

= a. daher für die gewählte Ebene k r = Das elektrische Feld ist eine reelle Größe, seine Einheit ist Volt/Meter. Was bedeutet die komplexe Notation in Gleichung (2.11)? Die komplexe Notation ist ein mathematischer Trick, um gewisse Rechnungen zu vereinfachen. Wellen sind räumlich und zeitlich periodisch. Sie können daher mit einem reellwertigen Ausdruck beschrieben werden: ⇀ ⇀







E( r , t) = E 0 sin ( k ⋅ r − ωt)

(2.15)

Bei Intensitätsberechnungen müssen häufig Produkte trigonometrischer Funktionen ausgewertet werden, was das Jonglieren mit Additionstheoremen erfordert. Die Rechnungen lassen sich viel bequemer in der komplexen Notation ausführen, indem man den Sinus durch die Euler-Identität darstellt. Aus exp(iφ) = cos φ + i sin φ und exp(−iφ ) = cos φ − i sin φ folgt nach einer Linearkombination der beiden Gleichungen und Auflösen nach dem Sinus: sin φ =

exp(iφ) − exp(−iφ) 2i

(2.16)

Der Ausdruck c.c. steht für die konjugiert komplexe Größe. Die Addition einer ⇀

komplexen Zahl mit ihrer konjugiert Komplexen liefert eine reelle Zahl. Das EFeld ist daher in diesem Ausdruck durch eine reelle Größe repräsentiert ⇀ ⇀



⇀⇀

E( r , t) = E 0 ei( k ⋅ r −ω t) + c.c.

(2.17)

Eine andere Alternative ist die Betrachtung des Real- (Re) oder Imaginärteils (Im) des Ausdrucks: ⇀ ⇀ ⇀





E( r , t) = Re ( E 0 ei( k ⋅ r −ω t))

(2.18)

Manchmal wird die Kennzeichnung Real- (Re) bzw. Imaginärteil (Im) aus Schreibfaulheit weggelassen. Es gilt aber dennoch die stillschweigende Vereinbarung, nur den Real- bzw. Imaginärteil als Repräsentation der physikalischen Größe zu verwenden, was bei Intensitätsberechnungen unbedingt berücksichtigt werden muss. 4. Was ist eine Kugelwelle? Kugelwellen breiten sich ausgehend von einem Punkt sphärisch in alle Raumrichtungen aus. Die Flächen konstanter Phase der Welle liegen auf einer Kugel. 5. Das elektrische Feld ist in der Wechselwirkung von elektromagnetischer Strahlung mit Materie dominant. Warum ist das der Fall, obwohl die Energiedichte beider Felder gleich ist?

128 | 2 Aufbau der Materie Zu betrachten sind dabei die Kräfte, die die jeweiligen Felder auf die geladenen Bausteine der Materie ausüben. Eine Kraft kann häufig als Produkt einer Stoffeigenschaft mit einer Raumeigenschaft geschrieben werden. Die Raumeigenschaften sind die Felder, die ein geeigneter Probenkörper als Kraft spürt. Die Stoffei⇀ ⇀ genschaft ist für das E-Feld die Ladung q und für das B-Feld die bewegte Ladung ⇀ q ⋅ v . Es gilt: ⇀



F ⇀ = qE

bzw.

E

6.







F ⇀ = q ( v × B)

(2.19)

B

Das elektrische Feld wirkt direkt auf die Ladung, während das magnetische Feld nur auf bewegte Ladungen wirkt. Aus diesem Grund ist das elektrische Feld in der Wechselwirkung Licht ⇔ Materie dominant. Bei hohen Frequenzen können nur die Elektronen den schnellen Oszillationen der Felder folgen. Nur das elektrische Feld wird in der Störungsrechnung in der optischen Spektroskopie (IR, UV–VIS) berücksichtigt, da es den dominanten Term in der Wechselwirkung beschreibt. Gleiches gilt für die Behandlung von Streu- und Reflexionsexperimenten. In welchem Frequenzbereich liegt das elektromagnetische Spektrum? Das elektromagnetische Spektrum überdeckt mehrere Frequenzdekaden in ω. Radiowellen besitzen Frequenzen in der Größenordnung um die 107 Hz. Sichtbares Licht hat Frequenzen um 1015 Hz, während Röntgenstrahlung Frequenzen um 1018 Hz aufweist. 700

600

500

400 nm

sichtbares Licht

Langwellen

106

107

108

109

MittelUKW u. Kurzund wellen Fernsehen

1010

1011 Mikrowellen

1012

1013

1014

Infrarotstrahlung

1015 Licht

105

Radar

104

1016

Frequenz ν [Hz] 1017

Ultraviolettstrahlung

1018

1019

Röntgenstrahlung

1020

1021 1022 1023 Gammastrahlung

104 103 102 101 100 10–1 10–2 10–3 10–4 10–5 10–6 10–7 10–8 10–9 10–10 10–11 10–12 10–13 10–14 Wellenlänge λ [m] Abb. 2.6: Ausschnitt aus dem elektromagnetischen Spektrum von den energiearmen Langwellen bis zur hochgradig energetischen Gammastrahlung.

7.

Was erfasst ein Lichtdetektor von der elektromagnetischen Welle? Die Frequenz des sichtbaren Lichts liegt um die 1015 Hz. Dies ist zu schnell um von Messgeräten aufgelöst zu werden. Ein realer Detektor mittelt die Energiestromdichte über viele Perioden. Die gemessene Intensität ist daher der Mittelwert der Energie ΔW pro Fläche ΔA und Zeit Δt. Die Rechnung liefert ein einfaches Ergebnis: ΔW (2.20) I= ΔAΔt

2.2 Wellen

|

129

Für die gemessene Intensität gilt: I ∝ E0∗ E0 . Die Intensität ist demnach propor⇀

tional zum Amplitudenbetragsquadrat des E-Feldes. Beachte: Die Amplitude ist immer die größte Auslenkung einer Schwingung. Eine strenge mathematische Betrachtung liefert das obige überraschend einfache Ergebnis. Aus Bequemlichkeit betrachten wir im Folgenden ein eindimensionales Problem: τm

τm

0

0

1 1 I(z) = ∫ I(z, t)dt = ∫ E(z, t)E∗ (z, t)dt τm τm

(2.21)

Das Feld stellen wir in komplexer Schreibweise dar: E(z, t) = E0 exp(i(kz − ωt)) + c.c.

(2.22)

Ausmultiplizieren und integrieren liefert: I(z) = [E0∗2 exp(−i2kz) + E02 exp(+ i2kz)] ⋅[

exp(iωτm ) − exp(−iωτm ) ] + E0 E0∗ 2iωτm

= [E0∗2 exp(−i2kz) + E02 exp(+ i2kz)] ⋅ [

sin(ωτm ) ] + E0 E0∗ ωτm

(2.23)

Der erste Summand verschwindet für große Beobachtungszeiten τm , da lim =

x→∞

sin x = 0. x

(2.24)

Es ergibt sich der oben skizzierte Zusammenhang I(z, t) ≈ E0 E0∗ . Die über viele Perioden gemittelte Energie pro Fläche und Zeiteinheit ist direkt proportional zum Amplitudenbetragsquadrat des elektrischen Feldes.

2.2.2 Interferenz Wir betrachten einen nichtabsorbierenden, dielektrischen Spiegel mit hoher Reflektivität. Die Intensität des transmittierten Lichtes am Detektor mache lediglich 1% der einfallenden Intensität aus, das heißt, 99% werden reflektiert.

1%

99% Abb. 2.7: Strahlung trifft auf einen Spiegel, der 99% der Intensität reflektiert.

130 | 2 Aufbau der Materie

1.

Was erwarten Sie, wenn man einen zweiten Spiegel gleicher Bauart in den Strahlengang bringt?

100%

99% 99% Abb. 2.8: Strahlung trifft auf zwei hintereinander angeordnete identische Spiegel. In einem bestimmten Abstand verhält sich das System aus zwei Spiegeln völlig transparent.

Auf den ersten Blick erwartet man eine extrem kleine Intensität. Das Experiment zeigt aber ein verblüffendes Ergebnis: die Intensität am Detektor hängt sehr empfindlich vom Abstand der Spiegel ab. Bei einigen ausgezeichneten Abständen L ist die Spiegelkombination sogar völlig transparent! Die gemessene Intensität entspricht dann dem Wert, den man ohne die beiden Spiegel misst. Dieses erstaunliche Ergebnis ist die Konsequenz von Interferenz. Wir wollen diesen Vorgang näher untersuchen. Zur Quantifizierung führen wir einen Reflexionskoeffizienten r und einen Transmissionskoeffizienten t ein. Diese sind im allgemeinen komplexe Zahlen mit einem Betrag, der kleiner als eins ist. Ein komplexer Reflexionskoeffizient entspricht einem Phasensprung der reflektierten Welle an der Grenzschicht. ⇀

Der Reflexionskoeffizient gibt an, welcher Bruchteil des einfallenden E 0 -Feldes reflektiert wird. Wir betrachten hier die Reflexionskoeffizienten r und Transmissionskoeffizienten t als reelle Zahlen mit einem Wertebereich von [0, 1]. Diese Vereinfachung ändert nichts am physikalischen Sachverhalt r=

Er E0

t=

Et . E0

(2.25)

Der Schlüssel zum Verständnis des eigentlichen Phänomens ist, dass sich die transmittierte Wellenfront aus der kohärenten Überlagerung aller Teilwellen ergibt, die durch die Vielfachreflexion zwischen den Platten entsteht. Die Wellen interferieren und die phasenrichtige Überlagerung aller Teilstrahlen führt zum überraschenden Systemverhalten, dass eine Spiegelkombination aus hochreflektierenden Einzelspiegeln transparent sein kann. Die Teilstrahlen können durch den Reflexionskoeffizienten r, den Transmissionskoeffizienten t und den Spiegelabstand L ausgedrückt werden.

2.2 Wellen

E

tE ikL

tE

|

131

E = t E eikL

E = t r E ei

kL

E = t r E ei

kL

L Abb. 2.9: Strahlengang zwischen den beiden Spiegeln. Die transmittierte Wellenfront ergibt sich aus der kohärenten Überlagerung der einzelnen Teilstrahlen. Der Einfluss des Spiegels kann durch einen Transmissionskoeffizienten t = r =

Er E0

Et E0

und einen Reflexionskoeffizienten

beschrieben werden. Die Phasenänderung durch die Wegstrecke zwischen den

beiden Spiegeln wird durch den Term expikL erfasst.

Der erste Teilstrahl ergibt sich zu: E1 = E0 t 2eik⋅L

mit

k=

2π λ

(2.26)



Der Strahl passiert beide Spiegel, das E-Feld wird daher um den Faktor t 2 verkleinert. Der Term eik⋅L beschreibt die Änderung der Phase, wenn die Welle vom Spiegel I zum Spiegel II propagiert. Der Abstand L und die Wellenlänge λ legen die Phasenlage der Welle am Ort der Spiegel fest. Der Teilstrahl E2 wurde zusätzlich zweimal reflektiert (→ r2 ) und lief dreimal zwischen den Spiegeln hin und her, hat also die Strecke 3L zurück gelegt. Zudem wurde er an zwei Spiegeln transmittiert, was durch den Faktor t 2 berücksichtigt wird: E1 = E2 ⋅ t 2 ⋅ r2 eik⋅3L (2.27) Der dritte wurde viermal reflektiert und lief fünfmal zwischen den Spiegeln hin und her: E3 = E0 ⋅ t 2 ⋅ r4 eik⋅5L (2.28) Jede weitere Hin- und Her-Reflexion liefert einen Term r2 eik⋅2L . Die transmittierte Wellenfront ergibt sich aus der Superposition aller Teilwellen von 1 bis ∞. Alle Teilstrahlen interferieren und bilden eine neue Wellenfront aus: Etrans = ∑ En = E0 ⋅ t 2 eik⋅L (1 + r2 ⋅ eik⋅2L + r4 ⋅ eik⋅4L + ⋅ ⋅ ⋅ ) ,

(2.29)

n



n

= E0 ⋅ t 2 eik⋅L ∑ (r2 eik⋅2L ) n=0

(2.30)

132 | 2 Aufbau der Materie Die Summe ist eine geometrische Reihe, für die gilt: ∞ 1 = ∑ qn 1 − q n=0

wenn

q 𝜈0 (2.83) I ∝ E0∗ E0 –

Die kinetische Energie der Elektronen ist proportional zur Frequenz des Lichts aber nicht zur Intensität des eingestrahlten Lichts: Ekin = h𝜈 − W

(2.84)

Die Größe W ist eine spezifische Materialkonstante für das jeweilige Metall. Das Überraschende ist, dass die kinetische Energie der Photoelektronen von der Intensität und damit von der elektrischen Feldstärke des Lichtes unabhängig ist. Die Intensität beeinflusst nicht die kinetische Energie, sondern nur die Zahl der Photoelektronen. Die energiebestimmende Größe der Elektronen ist die Frequenz 𝜈 des Lichtes! Einstein deutete das Experiment und erhielt dafür den Nobelpreis. Die elektromagnetische, monochromatische Welle kann Energie nicht in beliebigen Mengen abgeben, sondern immer nur Vielfache von ℏω = h𝜈. Man nennt ℏω die Energie eines Photons. Wir stellen uns Licht als einen Hagel von Photonen vor, die mit Lichtgeschwindigkeit durch den Raum fliegen. Jedes Photon besitzt folgende Energie: E = h𝜈 = ℏω

(2.85)

Licht ist in seiner Wechselwirkung mit Materie gequantelt. Wenn ein Photon auf ein Metallelektron trifft, verschwindet das Photon und überträgt seine Energie auf das Elektron. Das Elektron kann nach Überwindung der Austrittsarbeit den Metallverband verlassen. Es besitzt dann eine kinetische Energie, dessen Wert durch Ekin = h𝜈 − W gegeben ist. Compton-Effekt: Streuung beschrieben durch Stoßprozesse zwischen Photonen und Elektronen. Was passiert? Kurzwellige elektromagnetische Strahlung wird unter einem bestimmten Winkel auf eine Probe (z.B. Graphit) eingestrahlt. Beobachtung: Bei der Streuung elektromagnetischer Strahlung an nahezu freien Elektronen tritt Streustrahlung auf. Eine Spektralanalyse zeigt, dass die Streustrahlung unter dem Winkel 𝜗 eine um Δλ größere Wellenlänge besitzt Δλ = λc (1 − cos 𝜗) ,

(2.86)

λc ist die Compton-Wellenlänge. Interpretation: Dieses Experiment lässt sich einfach deuten, wenn man das Licht als ⇀ Photonen mit einem Impuls von p = ℏ k und einer Energie von E = ℏω betrachtet

2.5 Schlüsselexperimente der Quantenmechanik

|

161

Eγ󸀠



ϑ e−

ϕ

e−

Ee



v

Abb. 2.43: Compton-Effekt: Ein Photon trifft auf ein Elektron. Nach dem Stoß bewegt sich das Elektron mit höherer kinetischer Energie während die Energie des eingestrahlten Photons gesunken ist.

und den elastischen Stoß des Photons an dem nahezu ruhenden Elektron analysiert. Die kinetische Energie des Elektrons wird erhöht, was mit einer Abnahme der Photonenenergie einhergeht. Der Compton-Effekt beschreibt also einen elastischen Stoß zwischen Photon und Elektron, bei dem Energie zwischen den beiden Wellen beziehungsweise Teilchen ausgetauscht wird. Franck-Hertz-Versuch: zeigt die Existenz diskreter Energieniveaus in einem Atom. In einer evakuierten Glasröhre befindet sich ein großmaschiges Drahtgitter zwischen einer Glühkathode und eine Anode. Die aus der Glühkathode austretenden Elektronen werden zunächst durch eine Spannung U zwischen Gitter und Kathode auf die kinetische Energie eU beschleunigt. Die meisten Elektronen passieren die Öffnungen des Gitters und durchlaufen auf der Strecke Gitter–Anode ein Gegenfeld, bei der sie einen Teil ihrer kinetischen Energie wieder verlieren. Von der Anode fließen die Elektronen zurück zur Kathode und werden als Stromfluss I mit einen Amperemeter nachgewiesen. Die Stromstärke nimmt mit wachsender Spannung monoton zu. Dies ist durch die gestrichelte Linie in Abbildung 2.45 gekennzeichnet.

Hg-Dampf

Gitter

Elektron

Heizspannung

I Kathode

Beschleunigungsspannung

Abb. 2.44: Prinzipskizze des Franck-Hertz-Versuchs.

Anode

U

Gegenspannung

Amperemeter

3. inel. Stoß

2. inel. Stoß

1. inel. Stoß

Stromstärke I

162 | 2 Aufbau der Materie

Beschleunigungsspannung U

Abb. 2.45: I(U)-Diagramm des FranckHertz-Versuchs.

In einem zweiten Schritt befüllt man die Kammer mit Spuren von Quecksilberdampf (Druck ca. 20 mbar) und wiederholt das Experiment. Die Messkurve zeigt jetzt ausgeprägte Maxima und Minima. Der Stromfluss bricht bei wachsender Spannung U bei 4,9 V und ganzzahligen Vielfachen von 4,9 V zusammen. Interpretation: Die Quecksilberatome befinden sich zunächst im Grundzustand. Durch einen Stoß mit den Glühelektronen können diese angeregt werden. Zur Anregung ist eine Mindestenergie von 4,9 eV nötig. Durch die Anregung verliert das Elektron kinetische Energie. Die Energie des Elektrons reicht jetzt nicht mehr aus, die Gegenspannung zwischen Gitter und Anode zu überwinden. Das Elektron fließt jetzt nicht über die Anode, sondern über das Gitter ab und der gemessene Stromfluss bricht ein. Bei der doppelten Spannung kann das stoßende Elektron zwei Quecksilberatome anregen. Der Versuch zeigt eindrucksvoll, dass das Atom nur in diskreten, quantisierten Zuständen existieren kann. Die angeregten Hg-Atome relaxieren rasch (10−9 s) in den Grundzustand. Dabei wird ultraviolettes Licht ausgesandt. Die aus der ausgesandten Wellenlänge λ errechnete Quantenenergie des Photons ℏω = h𝜈 = hc/λ entspricht der aus dem I(U)-Spannungsverlauf errechneten Energie. Atom-Spektren: zeigen den quantisierten Aufbau der Materie. Angeregte Atome senden Licht einer definierten Wellenlänge aus. Das Spektrum des Wasserstoffs besteht aus einer Vielzahl von diskreten Wellenlängen, die im infraroten, sichtbaren und im ultravioletten Bereich des elektromagnetischen Spektrums liegen. Experimentell können alle beobachteten Spektrallinien als Differenz zweier Energieterme geschrieben werden: 1 1 1 = 𝜈̃ = RH ( 2 − 2 ) λ n2 n1

n1 , n2 ∈ N

(2.87)

Dabei steht λ für die Wellenlänge und 𝜈̃ für die Wellenzahl der emittierten Strahlung, RH ist eine Naturkonstante, die als Rydberg-Konstante bezeichnet wird und einen Wert von 109737,31 cm−1 annimmt.

2.6 Unschärferelation

| 163

Interpretation:Das Atom existiert nur in quantisierten Zuständen mit einer definierten Energie. Bei der Absorption oder Emission wird die Energiedifferenz in Form eines Photons abgegeben oder aufgenommen EPhoton = h𝜈 = ℏω = Enach − Evor .

(2.88)

Kontinuum n

Paschen



n

Balmer Energie cm−1

− − − − −

n

Lyman

Abb. 2.46: Das Spektrum des Wasserstoffs besteht aus diskreten Linien, die sich als Differenz von Energietermen schreiben lassen. Die Lyman-Serie umfasst alle Übergänge, die bei n1 = 1 enden, die Balmer-Serie liegt im Sichtbaren und umfasst Übergänge, die bei n1 = 2 enden, während die Paschen-Serie im Infraroten liegt und Übergänge mit n1 = 3 umfasst.

2.6 Unschärferelation In der Newtonschen Mechanik konnten wir eine exakte Bahn eines makroskopischen Teilchens vorhersagen. Der Ort und Impuls zum Zeitpunkt t = 0 und die Kenntnis der einwirkenden Kräfte bestimmen den Ort und Impuls zu jedem späteren Zeitpunkt mit beliebiger Genauigkeit. Dieses Verhalten haben wir als klassischen Determinismus bezeichnet. Die Vorhersagbarkeit einer exakten Bahn müssen wir in der Quantenmechanik aufgrund der Doppelnatur Welle–Teilchen aufgeben. Die Heisenbergsche Unschärferelation sagt aus, dass Ort x und Impuls px eines Teilchens mit einer Ungenauigkeit behaftet sind. Es ist unmöglich, beide beliebig genau anzugeben. Die Ortsunschärfe des Teilchens Δx und die Impulsunschärfe Δpx des Teilchens liegen mindestens in der Größenordnung des Planckschen Wirkungsquantums, meist sind sie größer

Δx ⋅ Δpx ≳ ℏ

h = 6.6 ⋅ 10−34 Js

ℏ=

h . 2π

(2.89)

Ort und Impuls sind komplementäre Größen, ebenso Energie und Zeit. Das Produkt dieser Größen hat die Einheit Js und ist die skalare physikalische Größe Wirkung.

164 | 2 Aufbau der Materie Quanteneffekte treten auf, wenn die Wirkung in der Größenordnung von ℏ liegt Wirkung = Energie ⋅ Zeit = Ort ⋅ Impuls ≈ ℏ.

2.6.1 Verständnisfragen 1.

Diskutieren Sie die Unschärferelation im Wellenmodell. Das Absolutwertquadrat Ψ∗ Ψ soll als Verteilungsfunktion im Ortsraum aufgefasst werden und das Absolutwertquadrat ihrer Fourier-Amplitude Φ(p) als Verteilungsfunktion im Impulsraum. Kann die Unschärfe von Ort und Impuls als Folge der Wellennatur des Teilchens gedeutet werden? Im Wellenbild kann ein Teilchen durch ein lokalisiertes Wellenpaket darstellt werden. Nur in einer gewissen Umgebung um x0 ist die Funktion Ψ(x) von Null verschieden. Wir beschreiben das Problem zunächst mal eindimensional, die Erweiterung auf drei Dimensionen ist trivial. (Der Leser findet die entsprechende Notation im Kapitel „Orts- und Impulsdarstellung“, auf Seite 175.) Ein lokalisiertes Wellenpaket kann man durch ein Fourier-Integral aufbauen, in dem man ebene Wellen A(k) exp (ikx) mit unterschiedlichen Amplituden A(k) und Wellenlänge k = 2π/λ überlagert. In gewissen Bereichen interferieren diese konstruktiv, in anderen löschen sie sich aus. A(k) erfasst den Beitrag der jeweiligen ebenen Welle zum Aufbau der vorgegebenen Verteilung im Ortsraum. Die Amplitudenfunktion A(k) erhält man aus dem Fourierschen Umkehrsatz: ∞

Ψ(x) =

1 ∫A(k) exp(ikx)dk, √2π k



A(k) =

1 ∫Ψ(x) exp(−ikx)dx √2π x

Abb. 2.47: Ein lokalisiertes Wellenpaket kann durch eine Überlagerung von ebenen Wellen aufgebaut werden. Ist die Verteilung im Ortsraum ψ (x) eine Gauß-Funktion, so ist die Fourier-Amplitude A(k), die man durch wechselseitige Fourier-Transformation auseinander enthält, ebenfalls eine Gauß-Funktion. Beide besitzen eine Mindestbreite Δk bzw. Δx, deren Produkt ein Mindestmaß nicht unterschreiten kann.

2.6 Unschärferelation

|

165

Hier wird der Faktor √12π gewählt, um die Gleichwertigkeit der Darstellungen der Fouriertransformation durch eine symmetrische Schreibweise zu unterstreichen. Ist die Funktion Ψ(x) eine Gauß-Funktion, so ist auch die A(k) eine GaußFunktion. Beide haben eine gewisse Ausdehnung Δk und Δx, die nicht unterschritten werden kann. Es gilt: ΔkΔx ≈ 2π ⇀

Nach de Broglie ist der Wellenvektor k , beziehungsweise die zugehörige Wellenlänge λ , mit dem Impuls verknüpft. Aus einer Ortsunschärfe Δx resultiert daher eine Unschärfe der x-Komponente des Impulses Δpx , als eine inhärente Eigen⇀

2.

schaft des Wellenaspektes. Eine ebene Welle exp(i k r) hat einen genau definierten Impuls, aber einen völlig unbestimmten Ort, da Ψ∗ Ψ einen konstanten Wert besitzt. Der Aufbau einer lokalisierten Verteilung gelingt durch ein Fourier-Integral. Damit ist aber eine gewisse Breite im Ort- und Impulsraum verknüpft, die nicht unterschritten werden kann. Diese Breite kann als Unschärferelation interpretiert werden. Wie verändert sich die Fourier-Amplitude Φ(p) bzw. A(k), wenn man die Verteilung im Ortsraum (Wellenpaket) streckt oder staucht? Wenn Ψ(x) die Fourier-Amplitude A(k) besitzt, so hat Ψ(ax) die Fourier-Amplitude A(k/a)/a. Eine Stauchung der Verteilung im Ortsraum auf den a-ten Teil bewirkt eine Dehnung der Fourier-Amplitude im k-Raum auf das a-fache unter gleichzeitiger Verkleinerung der Amplitude auf den a-ten Teil. Dieser Sachverhalt legt die mathematische Basis der Heisenbergschen Unschärferelation. Nach de Broglie sind Impuls und Wellenlänge, beziehungsweise Wel-

Abb. 2.48: Orts- und Impulsunschärfe sind gekoppelt, ihr Produkt kann ein Mindestmaß nicht unterschreiten.

166 | 2 Aufbau der Materie ⇀

3.

4.





lenvektor k über p = ℏ k verknüpft. Wir sagen: Ort x und Impuls px sind komplementäre Größen. Die Heisenbergsche Unschärferelation ergibt sich direkt aus dem Wellenmodell, wenn wir Ψ∗ Ψ als eine Verteilung im Ortsraum und das Betragsquadrat der Fourier-Amplitude als eine Verteilung im Impulsraum interpretieren. Diskutieren Sie die Unschärferelation im Teilchenmodell. Welche Rückkopplung hat der Messvorgang auf die zu messenden Eigenschaften des Teilchens? Eine genaue Ortsbestimmung ist nur möglich, wenn auf die gleichzeitige Bestimmung des Impulses verzichtet wird. Jede Messung bewirkt eine Wechselwirkung zwischen dem Messgerät und Messobjekt. Diese ist bei makroskopischen Objekten vernachlässigbar, nicht jedoch in der atomaren Welt. Hier verändern, zum Beispiel, die zur Ortsmessung eines Elektrons verwendeten energiereichen Photonen den Impuls des Elektrons. Die gleichzeitige exakte Messung komplementärer Zustandsgrößen ist nicht möglich und wird von der jeweiligen Unschärferelation begrenzt. Warum fallen Elektronen nicht in den Kern? Der typische Atomdurchmesser liegt bei circa 10−10 m, der Kerndurchmesser beträgt etwa 10−14 m. Die Vorstellung, dass die Elektronen um die Kerne kreisen führt zu Widersprüchen. Beschleunigte Ladungen sind Emitter elektromagnetischer Strahlung. Die abgestrahlte Energie müsste der Bewegungsenergie des Teilchens entnommen werden und das Elektron landet auf einer Spiralbahn im Kern. Das Wasserstoffatom ist aber ein stabiles Gebilde mit einer Ausdehnung im Å-Bereich. Wie kann man sich dies unter Nutzung der Unschärferelation plausibel machen? Ein System versucht den Zustand minimaler Energie anzunehmen. Schätzen Sie Ekin aus der Unschärferelation ab und Epot aus der Elektrostatik! Die Gesamtenergie eines Wasserstoffatoms setzt sich aus der kinetischen und potentiellen Energie des Elektron zusammen: E = Ekin + Epot =

−e2 p2 + 2m 4π𝜖0 r

Die potentielle Energie resultiert aus der Elektrostatik. Proton und Elektron ziehen sich an, das Coulomb Potential fällt mit 1/r. Die potentielle Energie versucht das

Abb. 2.49: Grobe Abschätzung: Verlauf der kinetischen und potentiellen Energie im Wasserstoffatom.

2.6 Unschärferelation

|

167

Elektron in den Kern zu ziehen. Das Minimum der potentiellen Energie wäre am Ort des Kerns bei r = 0 mit Epot = −∞ erreicht. Der Gegenspieler ist die kinetische Energie. Beschränkt man die Elektronenwelle auf einen gewissen Bereich um den Kern, so steigt die kinetische Energie. Man kann eine lokalisierte Elektronenwelle durch ein Wellenpaket um den Wellenvek⇀ tor p = 0 aufbauen. In der Fourier-Darstellung treten dann ebene Wellen in einem gewissen Δp Bereich auf mit h = 6, 626 ⋅ 10−34 Js.

Δx ⋅ Δpx > ℏ

Wird das Teilchen in einer Kugelschale mit Radius r lokalisiert, so ist die Ortsunschärfe Δx ≈ 2r, irgendwo innerhalb der Kugelschale ist das Teilchen. Die Impulsℏ führt zu einer kinetischen Energie des Teilchens, die mit 1/r2 unschärfe Δp ≈ 2r skaliert ℏ2 (Δp)2 = . Ekin = 2m 8mr2 Die Gesamtenergie ergibt sich als Funktion des Kern–Elektronen-Abstandes r zu: E = Ekin + Epot =

5.

ℏ2 −e2 + 8mr2 4π𝜖0 r

Beide Terme sind Abbildung 2.49 skizziert. Leitet man den Ausdruck für E(r) nach r ab und sucht das Extremum, so ergibt sich ein Minimum in der Größenordnung des Bohrschen Radius. Führen Sie die gleiche Abschätzung klassisch aus. Bestimmen Sie die kinetische Energie aus der Zentrifugalkraft. Wo liegt jetzt das Minimum der Energie? Das klassische Modell beruht auf der Vorstellung, ein Elektron bewegt sich auf einer Kreisbahn mit dem Radius r. Die Zentrifugalkraft wird von der elektrostatischen Anziehung kompensiert (Zentripetalkraft). Das Kräftegleichgewicht lautet: m

v2 e2 = r 4π𝜖0 r2

Damit erhält man für die kinetische Energie: 1 2 1 e2 mv = 2 2 4π𝜖0 r Die Gesamtenergie wäre jetzt: E = Ekin + Epot =

−e2 1 e2 1 e2 + =− 2 4π𝜖0 r 4π𝜖0 r 2 4π𝜖0 r

Die energetische günstigste Situation läge jetzt vor, wenn sich das Elektron am Ort des Kerns befindet. Die Bindungsenergie wäre dann −∞.

168 | 2 Aufbau der Materie Wir sehen, der Atomdurchmesser ist eine subtile Balance zweier Antipoden: Die elektrostatische Anziehung versucht das Elektron in den Kern zu ziehen, dagegen führt die Lokalisierung des Aufenthaltsbereichs des Elektrons um den Kern, nach der Unschärferelation, zu einem Anstieg der kinetischen Energie des Elektrons. Beide Terme skalieren unterschiedlich und liefern ein Minimum der Gesamtenergie in der Größenordnung des Bohrschen Radius. Diese Idee können Sie auch auf die chemische Bindung übertragen. Das einfachste Molekül ist das H2+ . Es kann in Gasentladungsröhren hergestellt werden und ist ein stabiles Molekülion mit definiertem Bindungsabstand und Ladungsverteilung. Dieses Molekül ist das größte Molekül, das als Dreikörperproblem exakt im quantenmechanischen Formalismus gelöst werden kann. Die Ergebnisse liefern sehr gute Übereinstimmung mit dem Experiment. Dieses Molekülion dient auch als Test für diverse Näherungsverfahren. Eine gut lesbare Diskussion der Thematik findet man in Werner Kutzelnigg, The physical mechanism of a chemical bond, Angewandte Chemie, Volume 12, (1973), 576. Das Vorhandensein des stabilen Molekülions H+2 bedeutet, es ist für das System vorteilhaft, eine Anordnung mit definierten Kernabständen und Elektronenverteilungen anzunehmen. Dieser Zustand liegt energetisch tiefer als ein isoliertes Wasserstoffatom und Proton. Betrachtet man das System, so wird aufgrund der Symmetrie sofort klar, dass der Aufenthaltsbereich des Elektrons vergrößert wird. Die kinetische Energie des Elektrons sollte nach der Unschärferelation dadurch abgesenkt werden. Dies ist auch das Ergebnis der exakten Rechnung. Einen wesentlichen Beitrag zur chemischen Bindung liefert die Absenkung der kinetischen Energie des Elektrons durch das Vergrößern des Aufenthaltsraumes des Elektrons, durch die Anwesenheit beider Kerne. Um Fehlvorstellungen vorzubeugen: Es ist das Wechselspiel aus Elektrostatik und Delokalisation des Elektrons, welches die Gleichgewichtslage des Molekül H2+ definiert. Durchdenken Sie im Kontext des Gesagten folgendes Problem aus der organischen Chemie: Warum ist 1,3-Cyclohexadien energieärmer als das 1,4-Cyclohexadien? Was verbirgt sich hinter den suggestiven Begriffen „Mesomerie“ und „Delokalisierung der Elektronen“? Die Lösung finden Sie auf Seite 200! Im nächsten Kapitel wollen wir die Quantenmechanik auf eine solide mathematische Basis stellen.

2.7 Der Formalismus der Quantenmechanik

| 169

2.7 Der Formalismus der Quantenmechanik 2.7.1 Axiomatische Formulierung der Quantenmechanik Die Bewegung makroskopischer Teilchen ergibt sich quantitativ aus den Newtonschen Axiomen. In analoger Weise lässt sich aus den nachfolgenden Axiomen der Quantenmechanik das Verhalten atomarer Teilchen ableiten. Die Rechtfertigung der Axiome ergibt sich aus der Übereinstimmung der Vorhersagen mit dem Experiment. Grundgleichungen sind nicht beweisbar, sie fassen in kompakter, mathematischer Form eine Vielzahl von Beobachtungen und Erfahrungen zusammen. Wellenfunktion |Ψi ⟩: Jeder Zustand i eines System aus N Teilchen wird durch eine im Allgemeinen ⇀



komplexe Funktion Ψi ( r 1 , . . . , r N , t) beschrieben, stationäre Zustände durch eine zeitunabhän⇀ ⇀ Ψi ( r 1 , . . . , r N ).

gige Funktion Die Wellenfunktion wird zu einem Rechenhilfsmittel, aus der alle beobachtbaren Eigenschaften extrahiert werden können. Interpretation: Bei der Integration über den gesamten Raum muss das Betragsquadrat über Ψ eins ergeben ∞











∫ ⋅ ⋅ ⋅ ∫ Ψ∗i ( r 1 , . . . , r N )Ψi ( r 1 , . . . , r N )dx1 dy1 dz1 . . . dxN dyN dzN = 1. −∞

(2.90)

−∞

In der Dirac-Notation lässt sich das kürzer schreiben: ⟨Ψi |Ψi ⟩ = 1

(2.91)

Die normierte Wellenfunktion wird nach Born ⇀







dW = Ψ∗ ( r 1 , . . . , r N )Ψ( r 1 , . . . , r N )dx1 dy1dz1 ⋅ ⋅ ⋅ dxN dyN dzN

(2.92)

als die Wahrscheinlichkeit interpretiert, gleichzeitig Teilchen 1 im Volumenelement dx1 dy1 dz1 , Teilchen 2 im Volumenelement dx2 dy2 dz2 und Teilchen N im Volumenelement dxN dyN dzN vorzufinden. Diese statistische Interpretation stellt einige mathematische Anforderungen an Ψ. – Die Normierbarkeit fordert, dass Ψ quadratintegrabel ist. Die Wellenfunktion Ψ muss im gesamten Wertebereich endlich sein. Ψ darf auch nicht überall den Wert Null annehmen. – Die Wahrscheinlichkeitsinterpretation erfordert, dass Ψ eine eindeutige Funktion ist. Jedem Raumpunkt ist ein bestimmter Funktionswert zugeordnet. – Die Schrödinger-Gleichung ist eine partielle Differentialgleichung zweiter Ordnung. An jedem Raumpunkt muss daher die zweite Ableitung der Funktion Ψ existieren. Daher ist Ψ und ihre Ableitung im gesamten Wertebereich stetig differenzierbar. Observable und Operatoren: Jede beobachtbare Eigenschaft a (Observable) kann über einen zu a zugeordneten Operator  aus der Wellenfunktion gewonnen werden, indem  auf Ψ einwirkt ÂΨi = ai Ψi . Die Eigenwerte ai stellen die möglichen Messwerte von  dar. Die Gesamtheit der Eigenwerte eines Operators (meist unendlich viele) nennt man auch Spektrum. Dieses kann diskret (zum Beispiel harmonischer Oszillator), diskret und kontinuierlich (Wasserstoffatom), oder nur kontinuierlich sein (zum Beispiel freies Teilchen). Ein Operator  muss folgenden Anforderungen genügen: – Der Operator  muss linear sein, das heißt, es gelten folgende Beziehungen:  (Ψ1 + Ψ2 ) = ÂΨ1 + ÂΨ2

(2.93)

170 | 2 Aufbau der Materie

und für eine beliebige komplexe oder reelle Zahl c gilt: Â (cΨ1 ) = cÂΨ1 –

(2.94)

Der Operator  muss hermitesch sein. Für ein eindimensionales Problem heißt das ∞





∫ Ψ∗ (x) [ÂΨ(x)] dx = ∫ [ÂΨ(x)] Ψ(x)dx. −∞

(2.95)

−∞

Hermitesche Operatoren  besitzen reelle Eigenwerte. In der Dirac-Notation ergibt sich aus der Definition der Hermitizität: ⟨ψn |Âψn ⟩ = ⟨Âψn |ψn ⟩, an ⟨ψn |ψn ⟩ = a∗n ⟨ψn |ψn ⟩, an = a∗n

(2.96)

Eigenfunktionen zu verschiedenen, nichtentarteten Eigenwerten sind zueinander orthogonal, das heißt: ⟨ψn |ψm ⟩ = 0 Â|ψn ⟩ = an |ψn ⟩, Â|ψm ⟩ = am |ψm ⟩. Aus der Definition der Hermitizität folgt direkt die Orthogonalität der Wellenfunktionen ˆ ψn ⟩ = ⟨A ˆ ψm |ψn ⟩, ⟨ψm |A an ⟨ψm |ψn ⟩ = a∗m ⟨ψm |ψn ⟩ = am ⟨ψm |ψn ⟩, (an − am )⟨ψm |ψn ⟩ = 0.

(2.97)

Der Ausdruck kann bei nichtentarteten Zuständen nur verschwinden, wenn das Skalarprodukt ⟨ψm |ψn ⟩ = 0 verschwindet, da an ≠ am gilt. Die Observablen müssen in geeigneten Koordinaten ausgedrückt werden (in der HamiltonMechanik dient zum Beispiel Impuls und nicht die Geschwindigkeit als Variable). Messgröße

klassische Funktion a

quantenmechanischer Operator Â

Ort Impuls

x px

xˆ = x⋅ 𝜕 ˆ x = ℏi 𝜕x p

Drehimpuls

L = r ×p

z-Komponente Gesamtenergie







Lz = xpy − ypx H=∑

p2i 2mi

+

Lˆ z = −iℏ [x ⋅

⇀ V( r i )

ˆ =∑ H

2

2

𝜕 𝜕y

−ℏ 𝜕 2mi 𝜕x 2 i

𝜕 ] 𝜕y ⇀ V( r i )

−y ⋅

+

= −iℏ ⋅

𝜕 𝜕φ

Erwartungswert: Der Erwartungswert ist der Mittelwert aus sehr vielen Messungen. Ist das System durch die Wellenfunktion |Ψ⟩ beschrieben, so ist der Mittelwert aus sehr vielen Messungen der zum Operator  gehörigen Größe a darstellbar durch: a = ⟨Ψ|Â|Ψ⟩

(2.98)

Bei nicht normierten Wellenfunktionen gilt entsprechend: a=

⟨Ψ|Â|Ψ⟩ ⟨Ψ|Ψ⟩

(2.99)

2.7 Der Formalismus der Quantenmechanik

|

171

Eigenwert: Für den Spezialfall, dass der betrachtete quantenmechanische Zustand |Ψn ⟩ Eigenfunktion des Operators  ist, so liefert jede Messung exakt den gleichen Wert an . Es gilt die Eigenwertgleichung: Â|Ψn ⟩ = an |Ψn ⟩ (2.100) Vertauschbarkeit: Zwei Observable a1 und a2 sind dann gleichzeitig beliebig genau messbar, wenn ihre zugehörigen Operatoren Â1 und Â2 vertauschbar sind. Der Kommutator verschwindet [Â1 , Â2 ] = Â1 Â2 − Â2 Â1 = 0.

(2.101)

Â1 und Â2 besitzen dann ein gemeinsames Eigenfunktionensystem. Die Schrödinger-Gleichung: Die zeitliche Entwicklung eines Systems ist durch die zeitabhängige Schrödinger-Gleichung gegeben: 𝜕Ψ ˆ iℏ = H|Ψ⟩ (2.102) 𝜕t ˆ ist der Hamilton-Operator des Systems, der sich durch die Quantisierung der klassischen H Hamilton-Funktion ergibt. Für ein eindimensionales Problem lautet die zeitabhängige Schrödinger-Gleichung: −

ℏ2 𝜕2 𝜕2 𝜕Ψ(x, y, z, t) 𝜕2 ( 2 + 2 + 2 ) Ψ(x, y, z, t) + V(x, y, z)Ψ(x, y, z, t) = iℏ 2m 𝜕x 𝜕y 𝜕z 𝜕t

(2.103)

Ist das Potential nicht von der Zeit t abhängig, so kann die Wellenfunktion als ein Produkt einer orts- und zeitabhängigen Funktion geschrieben werden. Das Problem reduziert sich auf die stationäre Schrödinger-Gleichung −

ℏ2 𝜕2 𝜕2 𝜕2 ( 2 + 2 + 2 ) Ψ(x, y, z) + V(x, y, z)Ψ(x, y, z) = EΨ(x, y, z). 2m 𝜕x 𝜕y 𝜕z

(2.104)

Für N Teilchen kann die zeitabhängige Schrödinger-Gleichung wie folgt geschrieben werden: N

∑ [− i=1

⇀ ⇀ ⇀ ⇀ ⇀ ⇀ ⇀ ℏ2 𝜕 ⇀ ⇀ Δ + V( r 1 , r 2 , . . . , r n , t)] Ψ( r 1 , r 2 , . . . , r n , t) = iℏ Ψ( r 1 , r 2 , . . . , r n , t) 2mi i 𝜕t

(2.105)

2.7.2 Die zeitunabhängige Schrödinger-Gleichung Die Schrödinger-Gleichung ist die quantenmechanische Form der Bewegungsgleichung eines Massenpunktes (siehe auch Theorem von Ehrenfest). Die Einführung der ⇀ Ψ( r , t)-Funktion ist das mathematische Hilfsmittel, um die Bewegungsgesetze an die Forderungen des Unbestimmtheitsprinzips anzupassen. Für zeitunabhängige Poten⇀ tiale kann die Wellenfunktion Ψ( r , t) in einen zeitabhängigen Phasenfaktor exp(iωt) ⇀ und einen ortsabhängigen Teil Ψ( r ) separiert werden.In Ortsdarstellung ergibt sich

172 | 2 Aufbau der Materie ⇀

dann die folgende Differentialgleichung für Ψ( r ): −

𝜕2 𝜕2 𝜕2 ℏ2 ( 2 + 2 + 2 ) Ψ(x, y, z) + V(x, y, z)Ψ(x, y, z) = EΨ(x, y, z) 2m 𝜕x 𝜕y 𝜕z

(2.106)

Die zeitunabhängige Schrödinger-Gleichung ist eine partielle Differentialgleichung. Gesucht ist diejenige Funktion Ψ(x, y, z), mit deren Hilfe die Differentialgleichung für das vorgegebene Potential V(x, y, z) gelöst werden kann. Das Spezifische eines Problems ist der Verlauf des Potentials. Folgende Ein-Teilchen-Probleme sind überschaubare Beispiele, die auch im Rahmen von Prüfungen besprochen werden können: – Wasserstoffatom V(R) = −e2 /(4π𝜖0 r) (Prüfungsgespräch 2.10.3) – harmonischer Oszillator V(x) = 12 Dx2 (Prüfungsgespräch 2.10.2) – Teilchen im Kasten, im Inneren des Kastens sei V = 0, ansonsten sei V = ∞ (Prüfungsgespräch 2.10.1) – Rotator (Prüfungsgespräch 3.6.2 Seite 270) Studieren Sie diese Probleme sorgfältig und analysieren sie insbesondere die Rolle der Randbedingungen, die zu einer Quantisierung der Energie führen. Die Wellenfunktion Ψ(x, y, z) muss an allen Raumpunkten stetig differenzierbar sein und einen eindeutigen Wert annehmen. Diese Forderung geht aus der Schrödinger-Gleichung und der Bornschen Interpretation der Rechen-Hilfsgröße Ψ hervor. Die Lösungsfunktion einer partiellen Differentialgleichung zweiter Ordnung muss stetig differenzierbar sein, das heißt, an jedem Raumpunkt muss die zweite Ableitung von Ψ existieren. Die Eindeutigkeit und Normierbarkeit der Wellenfunktion ist eine direkte Konsequenz der Interpretation des Betragsquadrates der Wellenfunktion Ψ∗ Ψ als Wahrscheinlichkeitsdichte nach Born. Für die einfachen Ein-Teilchen-Probleme ergibt sich ein Satz diskreter Energieeigenwerte En und die zugehörigen Wellenfunktion Ψn . Beide sollten Sie für die obigen, fundamentalen Ein-Teilchen-Probleme kennen. Durch Einwirken eines elektromagnetischen Feldes kann das System von einem Ausgangszustand Ψn unter Absorption eines Photons in einen Endzustand Ψm gebracht werden. Die Auswertung führt zu systemspezifischen Auswahlregeln. Aus der Wellenfunktion Ψn können alle weiteren beobachtbaren Eigenschaften durch Bildung von Erwartungswerten erhalten werden. Gewisse Größen sind gleichzeitig beliebig genau messbar, während andere mit einer Unsicherheit behaftet sind. Diese Aussagen können durch Analyse des Kommutators erhalten werden. Die partielle Differentialgleichung wird für die Ein-Teilchen-Probleme in eine gewöhnliche oder in einen Satz gewöhnlicher, über eine Separationskonstante gekoppelte Differentialgleichungen überführt. Bei der Lösung dieser Aufgabe hilft ein wichtiger mathematische Satz: Ist eine Differentialgleichung aus einer Summe von Termen aufgebaut, die jeweils nur von einer Variable x, y oder z abhängen, so ist die allgemei-

2.7 Der Formalismus der Quantenmechanik

| 173

ne Lösung in einem Koordinatensystem orthogonaler Koordinaten ein Produktansatz: Ψ(x, y, z) = X(x)Y(y)Z(z)

(2.107)

Dieser mathematische Satz schränkt die Lösungsvielfalt der Funktionen stark ein. Die Lösung muss ein Produkt einfacher Funktionen jeweils einer Variable sein. Die zu lösende Differentialgleichung reduziert sich auf eine gewöhnliche Differentialgleichung. Diese Lösungsstrategie zieht sich wie ein roter Faden durch die theoretische Chemie. Ziel ist es, die Differentialgleichung so umzuschreiben, dass obiger Satz anwendbar wird. Beim Wasserstoffatom gelingt dies in Kugelkoordinaten, die Lösung ist dann:

Ψ(r, θ , φ) = R(r)Θ(𝜗)Φ(φ)

(2.108)

Beim Teilchen im Kasten werden dagegen kartesische Koordinaten benutzt. Bei Molekülen und komplexeren Atomen werden effektive Potentiale Veff (ri ) eingeführt, die nur von der Elektronenkoordinate eines Elektrons abhängt. Das bedeutet, das i-te Elektron sieht ein Potential, das im Mittel von allen anderen (N−1) Elektronen erzeugt wird. Mit dieser sogenannten Zentralfeldnäherung (engl. mean field approach) reduziert sich die Lösung wiederum auf einen Produktansatz. Dieses Konzept wird insbesondere bei der Hartree–Fock-Näherung benutzt und verfeinert. Die Lösung der gewöhnlichen Differentialgleichung erfolgt in der Regel durch einen geschickten Lösungsansatz.

2.7.2.1 Verständnisfragen und prüfungsrelevante Übungsaufgaben 1. Kann die Funktion Ψ(x) = a eine Lösung der eindimensionalen Schrödinger-Gleichung sein, wenn a eine reelle Zahl ist? Nein, denn die Funktion Ψ(x) = a kann die Bedingung der Normierbarkeit der Wellenfunktion Ψ nicht erfüllen. 2. Wie lauten die Energieeigenwerte der Schrödinger-Gleichung −

ℏ2 𝜕2 𝜕2 𝜕2 ( 2 + 2 + 2 ) Ψ(x, y, z) + V(x, y, z)Ψ(x, y, z) = EΨ(x, y, z) 2m 𝜕x 𝜕y 𝜕z

für ein Teilchen im dreidimensionalen Kasten mit den Kantenlängen a, b, c ? Zur Lösung verwendet man den Separationsansatz Ψ(x, y, z) = X(x)Y(y)Z(z). Die partielle Differentialgleichung zerfällt in drei gewöhnliche Differentialgleichungen. Die Lösung der Schrödinger-Gleichung im 1D-Potentialtopf liefert die quantisierte Energie zu: h2 En = ⋅ n2 8ma2 Entsprechend ergibt sich im 3D-Kasten die Energie als Folge des Separationsansatzes aus den Summen der Energien in die einzelnen Richtungen: Enx ,ny ,nz =

h2 h2 h2 2 2 ⋅ n + ⋅ n + ⋅ n2 x y 8ma2 8mb2 8mc2 z

Dabei stehen a, b und c für die Kantenlängen des Kastens.

174 | 2 Aufbau der Materie 3.

Häufig stellt man die Wellenfunktion für Mehrelektronensysteme als Produkt von Ein-Elektronen-Wellenfunktionen dar Ψ(1, 2) = φA (1)φB (2). Warum genügt ein einfacher Produktansatz nicht? Elektronen sind nicht individualisierbare Elementarteilchen. Man kann „Elektron 1“ nicht von „Elektron 2“ unterscheiden. Der Wert der Wellenfunktion darf daher nicht von der willkürlichen Nummerierung der Elektronen abhängen. Experimentell beobachtbar ist nur die Gesamtladungsdichteverteilung Ψ∗ Ψ. Damit diese unverändert bleibt, darf die Wellenfunktion sich bei einer Umnummerierung der Elektronen lediglich um einen Faktor ±1 ändern. Diese Forderung erfüllt der einfache Produktansatz nicht: Ψ(1, 2) = φA (1)φB(2) ≠ Ψ(2, 1) = φA (2)φB (1) Die folgende Linearkombination von Produkten der Einelektronenwellenfunktionen genügt der Invarianzforderung von Ψ∗ Ψ: Ψ(1, 2) = φA (1)φB (2) ± φA (2)φB(1) = ±Ψ(2, 1)

4.

5.

6.

Ein Manager wird die nächsten 30 Tage verreisen und sich 4 Tage in London, 8 Tage in Berlin, 6 Tage in Paris und 12 Tage in Tokio aufhalten. Sie kennen nicht den exakten Reiseplan, sie können daher nur Wahrscheinlichkeitsaussagentreffen. Stellen Sie diese auf. 4 8 6 London: 30 , Berlin: 30 , Paris: 30 , Tokio: 12 30 Sie treffen den Herrn in Berlin. Was passiert mit den Wahrscheinlichkeitsaussagen? Die Wahrscheinlichkeitsaussagen werden „wertlos“, da jetzt bekannt ist, dass er sich in Berlin aufhält. Man hat eine entscheidende neue Information über seine Reise gewonnen, die alle vorhergehenden Aussagen relativiert. Die Wahrscheinlichkeitsaussagen sind ja das Ergebnis der unvollständigen Information über seine Reise. Übertragen Sie diese Aufgabe auf ein quantenmechanisches Problem. Das System wird durch die Wahrscheinlichkeitsamplitude Ψ(x, y, z) beschrieben. Wie verändert die Messung die Funktion Ψ(x, y, z) ? Die Messung verändert die Wellenfunktion unstetig. Man könnte sagen, die Messung präpariert den beobachteten quantenmechanischen Zustand. Jeder Messgröße a ist ein Operator  zugeordnet. Entwickelt man den quantenmechanischen Zustand des Systems |Ψ⟩ in das vollständige, orthonormierte Eigenfunktionensystem |φi ⟩ des Operators, so bestimmen die Entwicklungskoeffizienten ci die Wahrscheinlichkeit, eine bestimmte Messgröße (Eigenwert) des Operators  zu beobachten.

2.7 Der Formalismus der Quantenmechanik

|

175

2.7.3 Ortsdarstellung - Impulsdarstellung Im Folgenden werden wir eine Frage beantworten, die beim Verstehen der Quantenmechanik oftmals zu Irritationen führt: Warum hat der Operator des Impulses die Form ℏ 𝜕 px = ˆ i 𝜕x und weshalb muss man folgendes Integral auswerten, um den Mittelwert des Impulses px auszurechnen? ∞∞ ∞



px = ∫ ∫ ∫ Ψ∗ ( r ) x, y, z=−∞

ℏ 𝜕 ⇀ Ψ( r ) dxdydz i 𝜕x

(2.109)

Die folgenden Ausführungen geben eine Antwort auf diese Frage. Nach Born ist die Wahrscheinlichkeit dW, bei einer Messung das Teilchen im Volumenelement dxdydz zu finden, gegeben durch: ⇀



dW = Ψ∗ ( r )Ψ( r )dxdydz

(2.110)

Diese Interpretation setzt voraus, das Ψ normiert ist. Irgendwo im zur Verfügung stehenden Raum muss das Teilchen schließlich zu finden sein ∞ ∞ ∞





∫ ∫ ∫ Ψ∗ ( r )Ψ( r )dxdydz = 1.

(2.111)

−∞−∞ −∞

Ist unser System durch die Größe Ψ(r) beschrieben, so erhält man den Mittelwert des Ortes x durch die Auswertung des folgenden Integrals: ∞ ∞ ∞





x = ∫ ∫ ∫ Ψ( r )∗ ⋅ x ⋅ Ψ( r )dxdydz

(2.112)

−∞−∞ −∞

Dies ist der quantenmechanische Erwartungswert. Der zugehörige Operator des Ortes ˆ x lautet: Multipliziere mit der reellen Größe x⋅. Akzeptiert man die Bornsche Interpretation der Größe Ψ, so ist die Vorgehensweise sehr natürlich und entspricht der üblichen Definition eines Mittelwertes. Letztendlich verbirgt sich in dem Ausdruck der Gleichung (2.112) die Anweisung: Wert x mal Wahrscheinlichkeit Ψ∗ Ψdxdydz für das Auftreten des Wertes, summiert bzw. integriert über alle möglichen Werte des Systems. ⇀ Fasst man Ψ( r ) als Rechenhilfsgröße auf, die den Zustand des quantenmechanischen Systems beschreibt, so muss es aber viele andere gleichwertige Darstellungen geben, die den gleichen Informationsgehalt besitzen und ebenso zur Beschreibung des Zustandes des System herangezogen werden können. ⇀ Die Fourier-Transformation erlaubt es, die Funktion Ψ( r ) im Ortsraum durch ei⇀ ne Überlagerung ebener Wellen darzustellen. In der Funktion Φ( p) steckt ebenso die vollständige Systeminformation. Beide Repräsentationen des quantenmechanischen

176 | 2 Aufbau der Materie Zustandes sind gleichwertig ∞∞∞

⇀ i⇀ ⇀ 1 ∫ ∫ ∫ Φ( p) exp ( p ⋅ r ) dpx dpy dpz . Ψ( r ) = 3 √(2πℏ) ℏ ⇀

(2.113)

px py pz



Man erhält Φ( p) aus dem Fourierschen Umkehrsatz. Wir wählen hier eine symmetrische Schreibweise, um die Gleichwertigkeit der gewählten Darstellungen zu unterstreichen ∞∞∞ ⇀ ⇀ 1 i⇀ ⇀ Φ( p) = ∫ ∫ ∫ Ψ( r ) exp (− p ⋅ r ) dxdydz. (2.114) 3 √(2πℏ) ℏ x y z



Die symmetrische Schreibweise erhält die Norm. Ist die Wellenfunktion Ψ( r ) nor⇀ miert, so ist auch Φ( p) normiert ∞ ∞ ∞



∞ ∞ ∞



∫ ∫ ∫ Ψ( r )∗ Ψ( r )dxdydz = 1,





∫ ∫ ∫ Φ( p)∗ Φ( p)dpx dpy dpz = 1.

−∞−∞−∞

(2.115)

−∞−∞−∞ ⇀



In analoger Weise zu Ψ( r ) interpretieren wir die Größe Φ( p). Die Wahrscheinlichkeit, bei einer Messung das Teilchen im Impulselement dpx dpy dpz zu finden, ist durch ⇀



dW = Φ∗ ( p)Φ( p)dpx dpydpz

(2.116)

gegeben. Den Mittelwert der px Komponente des Impulses erhält man durch die Auswertung des Integrals: ∞ ∞ ∞





px = ∫ ∫ ∫ Φ( p)∗ ⋅ px ⋅ Φ( p)dpx dpy dpz

(2.117)

−∞−∞−∞

Der Operator des Impulses ˆ px hat die Gestalt: Multipliziere mit dem Impuls px ⋅. Die bisherigen Ausführungen sind eine konsequente Umsetzung der Bornschen Interpretation. Wir wollen jetzt den Mittelwert des Impulses mit der Funktion Ψ(r) ausrech⇀ nen und setzen dazu für Φ∗ ( p) das Fourier-Integral der Gleichung (2.114) in Gleichung (2.117) ein ∞∞∞

px = ∫ ∫ ∫ px py pz

∞∞∞

⇀ ⇀ i⇀ ⇀ 1 ∫ ∫ ∫ Ψ∗ ( r ) exp ( p ⋅ r ) dxdydz ⋅ px ⋅ Φ( p)dpx dpydpz (2.118) √(2πℏ)3 ℏ x y z

Wir verändern jetzt die Reihenfolge der Integration, das heißt, wir integrieren erst nach dem Impuls und dann nach dem Ort. Ein Umsortieren der Terme des Integranden liefert: ∞∞∞



px = ∫ ∫ ∫ Ψ∗ ( r )( x y z

∞∞∞

⇀ 1 i⇀ ⇀ ∫ ∫ ∫ exp ( p ⋅ r ) px Φ( p)dpx dpy dpz )dxdydz (2.119) √(2πℏ)3 ℏ p p p x y z

2.7 Der Formalismus der Quantenmechanik

|

177

Der Ausdruck in der Klammer ist aber nichts anderes, als die Ableitung des FourierIntegrals in Gleichung (2.113) nach dem Ort multipliziert mit ℏ/i ∞∞∞



px = ∫ ∫ ∫ Ψ∗ ( r ) ( x y z

ℏ 𝜕 ⇀ Ψ( r )) dxdydz. i 𝜕x

(2.120) ⇀

Wir können somit den Mittelwert des Impulses ebenso mit der Funktion Ψ( r ) berechnen. Der Impulsoperator ˆ p hat dann die Form: px = ˆ

ℏ 𝜕 i 𝜕x

(2.121) ⇀

Den gleichen Mittelwert können wir auch mit der Impulsfunktion Φ( p) ausrechnen, der Operator ˆ p hat dann die einfache Form: Multipliziere mit der reellen Größe px ∞ ∞ ∞





px = ∫ ∫ ∫ Φ( p)∗ px Φ( p)dpx dpy dpz .

(2.122)

−∞−∞−∞

Beide Wege liefern selbstverständlich das gleiche Ergebnis. Wir bezeichnen die Re⇀ präsentation des quantenmechanischen Zustandes |Ψ⟩ durch die Funktion Φ( p) als ⇀ Impulsdarstellung und die durch die Funktion Ψ( r ) als Ortsdarstellung. Es gibt viele weitere Darstellungen. Je nach Darstellung nimmt der Operator eine andere Gestalt an. Darstellung

Ort

Impuls

Ortsdarstellung Impulsdarstellung

xˆ = x⋅ ˆx = − ℏi 𝜕p𝜕

𝜕 ˆ x = ℏi 𝜕x p ˆ x = px ⋅ p

x

Offensichtlich enthält die gegenwärtige Formulierung der Quantenmechanik mit den verschiedenen, völlig gleichwertigen Darstellungen noch entbehrliches mathematisches Beiwerk. Dieses wird in der darstellungsfreien Formulierung der Quantenmechanik nach Dirac abgelegt. Das auch hier mitunter verwendete Symbol |Ψ⟩ bezieht sich auf eine darstellungsfreie Repräsentation des Zustandes ohne einer Orts- oder Impulsfunktion den Vorzug zu geben. Schlüsselbeziehungen in der abstrakten Formulierung der Quantenmechanik sind die Heisenbergschen Vertauschungsrelationen. Diese Konzepte liegen aber außerhalb des Ziels dieses Buches. Vielleicht hilft Ihnen ein einfacher Analogievergleich aus der Vektorrechnung. Sie können Vektoren durch ihre Komponenten in einem bestimmten Koordinatensystem darstellen, oder alternativ ⇀ ⇀

auch eine abstrakte Repräsentation a, b verwenden und Beziehungen zwischen den Vektoren formulieren.

2.7.3.1 Aufgabe Jede beobachtbare Eigenschaft a (Observable) kann über einen zu a gehörigen Operator  aus |Ψ⟩ gewonnen werden. Wird ein quantenmechanisches System durch |Ψ⟩

178 | 2 Aufbau der Materie beschrieben, so ist der Mittelwert sehr vieler Messungen durch den quantenmechanischen Erwartungswert gegeben: aMittel =

⟨Ψ|Â|Ψ⟩ ⟨Ψ|Ψ⟩

In Ortsdarstellung ergibt sich: Operator des Ortes ˆ x = x⋅ Impulsoperator ˆ px = –

ℏ 𝜕 i 𝜕x

Wie lauten die entsprechenden Operatoren in Impulsdarstellung?

2.7.4 Der Kommutator bestimmt die Erhaltungsgrößen des Systems Der Erwartungswert einer physikalischen Größe ist der Mittelwert aus vielen Messungen. Befindet sich das quantenmechanische System in dem durch die normierte Wellenfunktion |Ψ⟩ beschriebenen Zustand, so ergibt sich für den Mittelwert des Ortes: x = ⟨x⟩ = ⟨Ψ|ˆ x|Ψ⟩

(2.123)

In Ortsdarstellung entspricht der Operator ˆ x der Anweisung: Multipliziere mit der Ortskoordinate x ˆ x = x⋅ (2.124) Um zum Erwartungswert zu kommen, muss über den gesamten Definitionsbereich integriert werden. Die folgenden Ausführungen benötigen aber keine explizite Darstellung der Wellenfunktion Ψ oder der resultierenden Integrale. Die Veränderung des Erwartungswertes x mit der Zeit t ergibt sich unter Beachtung der Produktregel durch die Ableitung von Gleichung (2.123) nach der Zeit t zu: dΨ dΨ dx =⟨ |ˆ x|Ψ⟩ + ⟨Ψ|ˆ x| ⟩ dt dt dt

(2.125)

Die zeitliche Entwicklung der Größe |Ψ⟩ ist durch die zeitabhängige SchrödingerGleichung bestimmt: 󵄨󵄨 𝜕Ψ ˆ iℏ󵄨󵄨󵄨󵄨 ⟩ = H|Ψ⟩ (2.126) 󵄨 𝜕t Wir können daher die zeitliche Entwicklung der Wellenfunktion |Ψ⟩ durch den ˆ des Systems ausdrücken: Hamilton-Operator H 󵄨󵄨 dΨ i ˆ 󵄨󵄨 ⟩ = ( − )H|Ψ⟩ 󵄨󵄨 ℏ 󵄨 dt

2.7 Der Formalismus der Quantenmechanik

| 179

Einsetzen in Gleichung (2.125) ergibt: dx iˆ i ˆ = ⟨( − HΨ|ˆ x|Ψ⟩ + ⟨Ψ|ˆ x|( − )HΨ⟩ dt ℏ ℏ

(2.127)

Wie alle Operatoren, die beobachtbaren Größen zugeordnet sind, ist auch der Hamilton-Operator ein hermitescher Operator. Hermitesche Operatoren erfüllen folgende Forderung: Sie wirken gleichsam nach links und nach rechts ˆ ˆ ˆ ⟨Ψ|HΨ⟩ = ⟨HΨ|Ψ⟩ = ⟨Ψ|H|Ψ⟩.

(2.128)

Komplexe Zahlen können vor das skalare Produkt gezogen werden. Allerdings muss man beim ersten Faktor per Definition das konjugiert Komplexe der Zahl nehmen. Ziehen wir den Faktor −i/ℏ aus jedem der beiden Summanden heraus, so ergibt sich der folgende Ausdruck aus Gleichung (2.127). Die Notwendigkeit der Ausführung der komplexen Konjugation führt dazu, dass aus dem ersten Summanden der Faktor + i/ℏ vor dem Integral steht dx i ˆ x|Ψ⟩ + (− i ) ⟨Ψ|ˆ ˆ = ( ) ⟨HΨ|ˆ x|HΨ⟩. dt ℏ ℏ

(2.129)

Damit ergibt sich für die zeitliche Veränderung des Erwartungswertes des Ortes: i dx ˆx − ˆ ˆ = ( ) ⟨Ψ|Hˆ xH|Ψ⟩ dt ℏ

(2.130)

Dieser Ausdruck entspricht der Definition des Kommutators: ˆ ˆ ˆx − ˆ ˆ [H, x] = Hˆ xH

(2.131)

Die zeitliche Änderung des Ortes ist demnach durch den Erwartungswert des Kommuˆ ˆ ˆ und dem Operator des Ortes ˆ tators [H, x] aus dem Hamilton-Operator des Systems H x bestimmt. Diese Aussage gilt allgemein: Sei  der Operator zu der beobachtbaren Größe a. Die zeitliche Änderung des Erwartungswertes der Größe a ist durch das i/ℏ-fache des ˆ des Systems und Erwartungswertes des Kommutators aus dem Hamilton-Operator H des Operators  gegeben i da ˆ − ÂH|Ψ⟩. ˆ = ⟨Ψ|H (2.132) dt ℏ Der Kommutator ist definiert als: ˆ Â] = H ˆ − ÂH ˆ [H,

(2.133)

ˆ und  sind vertauschbar, wenn der Kommutator den Man sagt, die Operatoren H Wert Null annimmt. Das bedeutet, dass es nicht auf die Reihenfolge der Anwendung des Operators auf die Wellenfunktion ankommt. Das Ergebnis bleibt von der Reihenfolge der Anwendung der Operatoren unberührt. Der Erwartungswert der beobachtbaren Größe a ändert sich dann im Laufe der Zeit nicht. Die Größe a stellt eine Erhaltungsgröße des Systems dar. Diese Aussage setzt voraus, dass der Operator  nicht explizit von der Zeit abhängt, was in der Regel gegeben ist.

180 | 2 Aufbau der Materie 2.7.5 Das Theorem von Ehrenfest Eine Größe a ist eine Erhaltungsgröße des Systems, wenn der zugehörige Operator  mit dem Hamilton-Operator des System kommutiert. Wir wollen im Folgenden den Erwartungswert des Impulses px eines Teilchens untersuchen. In Ortsdarstellung hat der Impulsoperator die Form: ℏ 𝜕 px = ˆ i 𝜕x ˆ für ein Ein-Teilchen-Problem lautet in Ortsdarstellung: Der Hamilton-Operator H 2 2 2 2 p2y ˆ p2 ˆ ˆ2x ˆ y, z) = −ℏ ( 𝜕 + 𝜕 + 𝜕 ) + V(x, y, z) ˆ= p + + z + V(x, H 2m 2m 2m 2m 𝜕x2 𝜕y2 𝜕z2

ˆ y, z) hat die einfache Form der Multiplikation mit der potentiellen Der Operator V(x, Energie V(x, y, z). Die Anwendung des Kommutators auf |Ψ⟩ ergibt: ˆ px − ˆ ˆ |Ψ⟩ ˆ ˆ px H) [H, px ]|Ψ⟩ = (Hˆ

(2.134)

Erfährt das betrachtete Teilchen in der x-Richtung keine Kraft, lässt sich dieser Zustand mathematisch wie folgt beschreiben: ⇀

F = −grad V(x, y, z)

mit

Fx = −

𝜕V =0 𝜕x

(2.135)

Die Kraft, die auf ein Teilchen wirkt, ist durch den negativen Gradienten des Poˆ und ˆ tentials gegeben. In diesem Fall sind die Operatoren H px vertauschbar. Der Impuls px des Systems ist dann eine Erhaltungsgröße, wenn der Impulsoperator und der Operator der kinetischen Energie kommutieren; beide enthalten ja nur Anweisungen, die Funktion nach den Koordinaten abzuleiten. Anders liegt der Fall, wenn die Kraft nicht verschwindet, also 𝜕V ≠ 0. (2.136) Fx = 𝜕x Der mit dem Impulsoperator nicht vertauschbare Anteil des Hamilton-Operators reduziert sich auf das Potential V(x, y, z). Der Kommutator erhält damit folgende Form: ˆ px − ˆ ˆ |Ψ⟩ = V(x, y, z) ⋅ ℏ ⋅ 𝜕Ψ − ℏ ⋅ 𝜕 [V(x, y, z) ⋅ Ψ] (Hˆ px H) i 𝜕x i 𝜕x = V(x, y, z) ⋅ =−

ℏ 𝜕Ψ ℏ 𝜕V ℏ 𝜕Ψ ⋅ − V(x, y, z) ⋅ ⋅ − ⋅ Ψ i 𝜕x i 𝜕x i 𝜕x

ℏ 𝜕V ⋅ Ψ i 𝜕x

(2.137)

Mit diesem Ergebnis können wir die zeitliche Änderung des Mittelwerts der Impulskomponente folgendermaßen ausdrücken: dpx 𝜕V i 𝜕V ˆ px − ˆ ˆ = ⟨Ψ|Hˆ px H|Ψ⟩ = −⟨Ψ| |Ψ⟩ = − dt ℏ 𝜕x 𝜕x

(2.138)

2.7 Der Formalismus der Quantenmechanik

| 181

Die Behandlung der anderen Komponenten des Impulsvektors verläuft völlig analog, was zur Erkenntnis führt: Die zeitliche Änderung des Mittelwertes des Impulses entspricht dem Mittelwert der einwirkenden Kraft. Für die quantenmechanischen Mittelwerte gilt daher die Grundgleichung der klassischen Mechanik, die Newtonsche Gleichung.

Der Operator des Ortes x hat die einfache Gestalt der Multiplikation der Wellenfunktion mit dem Wert x. Daher kann der entsprechende Kommutator leicht ausgewertet werden: 2 2 2 ˆx − ˆ ˆ |Ψ⟩ = −ℏ [ 𝜕 (xΨ) − x 𝜕 Ψ ] (Hˆ xH) 2m 𝜕x2 𝜕x2

=

𝜕Ψ 𝜕2 Ψ −ℏ2 𝜕 [ (Ψ + x )−x 2 ] 2m 𝜕x 𝜕x 𝜕x

=

𝜕Ψ 𝜕Ψ 𝜕2 Ψ 𝜕2 Ψ −ℏ2 [( + + x 2 )−x 2 ] 2m 𝜕x 𝜕x 𝜕x 𝜕x

𝜕Ψ −ℏ2 [2 ] 2m 𝜕x −ℏ −ℏ 𝜕 ℏ = [ |Ψ⟩] = ⋅ˆ p |Ψ⟩ = . . . im i 𝜕x im x

=

(2.139)

Damit können wir folgende Aussage für die zeitliche Änderung des Erwartungswertes des Ortes x treffen: i p dx ˆx − ˆ ˆ |Ψ⟩ = 1 ⟨Ψ|ˆ = ⟨Ψ| (Hˆ xH) px |Ψ⟩ = x dt ℏ m m

(2.140)

Für die anderen Komponenten können wir analog verfahren. Es ergibt sich für die quantenmechanischen Mittelwerte ein altbekanntes Gesetz aus der Mechanik: ⇀

p =m



dr dt

(2.141)

Die Ehrenfestschen Theoreme unterstreichen die bereits getroffene Aussage: Die Schrödinger-Gleichung ist die quantenmechanische Form der Bewegungsgleichung eines Massenpunktes. Die Wellenfunktion Ψ ist ein Hilfsmittel, um die Bewegungsgesetzte der Unschärferelation anzupassen.

2.7.6 Eine wichtige Lösungsstrategie: die Variationsrechnung Nur in wenigen einfachen Fällen kann die Schrödinger-Gleichung exakt gelöst werden, meist stehen wir vor folgender Situation: Es ist trivial, den Hamilton-Operator ei-

182 | 2 Aufbau der Materie nes Atoms oder Moleküls aufzustellen, die Eigenfunktionen und Eigenwerte der Energie lassen sich aber in der Regel nicht exakt bestimmen. Wir sind daher auf Näherungsverfahren und Vereinfachungen angewiesen. Eines der wichtigsten Verfahren, die Ritzsche Variationsrechnung, wird im Folgenden diskutiert. Nehmen wir an, wir kennen die Lösung |Ψ0 ⟩ der Schrödinger-Gleichung des Moleküls ˆ 0 ⟩ = E0 |Ψ0 ⟩. H|Ψ

(2.142)

Dann entspricht der Erwartungswert der Energie ⟨E⟩ dem Eigenwert E0 . Jede Messung liefert ausschließlich den Energieeigenwert der Energie E0 . Es gibt keine Streuung der Messwerte E = ⟨E⟩ =

ˆ 0 ⟩ ⟨Ψ0|E0 Ψ0 ⟩ ⟨Ψ0 |H|Ψ ⟨Ψ |Ψ ⟩ = = E0 0 0 = E0 . ⟨Ψ0 |Ψ0 ⟩ ⟨Ψ0|Ψ0 ⟩ ⟨Ψ0 |Ψ0 ⟩

(2.143)

Was aber passiert, wenn wir den Erwartungswert der Energie mit einer beliebigen Funktion |Ψ⟩ ausrechnen? Ein wichtiges Theorem sagt aus, dass der Erwartungswert der Energie mit einer geratenen Funktion |Ψ⟩ immer größer ist, als die exakte Lösung E0 der Schrödinger-Gleichung. Den kleinsten Wert der Energie liefert die exakte Lösung der Schrödinger-Gleichung |Ψ0 ⟩ ⟨E⟩ =

ˆ ⟨Ψ|H|Ψ⟩ > E0 . ⟨Ψ|Ψ⟩

(2.144)

Dieses Theorem legt die Basis einer wichtigen Lösungsstrategie für komplexe quantenmechanische Probleme. Wir setzen einen vielversprechenden Lösungsansatz an, der mit einigen freien Parametern verziert ist und bestimmen die Parameter so, dass die Energie ⟨E⟩ minimal wird. Das Ergebnis liefert die beste Lösung innerhalb des gewählten Ansatzes. In der Wahl des Lösungsansatzes sind wir frei und können sowohl orthogonale als auch nichtorthogonale, reelle oder auch komplexe Funktionen als Basissatz wählen. All dies wird in der Praxis verwendet. Ziel ist es, bereits mit wenigen Parametern einen möglichst tiefen Erwartungswert der Energie zu erhalten. An dieser Stelle ist auch physikalisch-chemische Intuition gefragt, um einen möglichst plausiblen Ansatz zu finden. Häufig wird ein LCAO-Ansatz genutzt (Linear Combination of Atomic Orbitals) N

Ψ = ∑ ci φi .

(2.145)

i=1

Wir gehen davon aus, dass das Atom seine Identität im Molekül behält. Die bindenden und antibinden Molekülorbitale baut man durch konstruktive und destruktive Interferenz der Atomorbitale auf. Der Koeffizient ci beschreibt den Beitrag des i-ten Atomorbitals φi zum Molekülorbital Ψ. Der Koeffizient kann groß, klein oder auch Null sein. Mit dem LCAO-Lösungsansatz liefert der Erwartungswert der Energie: ⟨E⟩ =

ˆ ∑ ∑ ci cj Hij ⟨Ψ|H|Ψ⟩ = i j ⟨Ψ|Ψ⟩ ∑i ∑j ci cj Sij

(2.146)

2.7 Der Formalismus der Quantenmechanik

|

183

Da der Hamilton-Operator hermitesch ist, gilt: ˆ j⟩ Hij = Hji = ⟨φi |H|φ

(2.147)

Für reelle Funktionen φi gilt ferner für das Überlappungsintegral Sij Sij = Sji = ⟨φi |φj ⟩.

(2.148)

Damit ist die Variationsaufgabe mathematisch definiert: Der Erwartungswert der Energie hängt von den Parametern c1 , c2 , . . . , cN ab. Wir suchen die Koeffizienten, die den niedrigsten Energieerwartungswert liefern. Zudem müssen wir beachten, dass die gewählte Funktion normiert sein muss. Die mathematische Aufgabe ist eine Extrem⇀ wertbestimmung einer Funktion mit mehreren Veränderlichen ⟨E⟩( c ), unter Berücksichtigung der Nebenbedingung, der Normierung der Wellenfunktion ⟨E⟩(c1, c2 , . . . cj . . . cN ) = minimal und ⟨Ψ|Ψ⟩ = ∑ ∑ ci cj Sij = 1. i

(2.149)

j

Diese Aufgabe lässt sich elegant mit der Methode der Lagrange-Multiplikatoren lösen. Wir fassen dazu die Nebenbedingung als eine ausgewählte Äquipotentialfläche einer Funktion mit N Variablen auf. Der Gradient ist ein Vektor, der senkrecht auf den Äquipotentiallinien steht. Extremwerte können nur an den Stellen auftreten, an denen der Gradient des Energierwartungswertes parallel zum Gradienten der Nebenbedingungsfunktion ist. Eine elegante physikalische Interpretation der Methode der Lagrange-Multiplikatoren findet sich im Anhang grad [⟨E⟩(c1, c2 , . . . cj . . . cN )] = E ⋅ grad [∑ ∑ ci cj Sij − 1] . [ i j ]

(2.150)

Die Größe E ist der neu eingeführte Lagrange-Multiplikator. Man erhält eine Vektorgleichung für die Gradienten. Die k-te Komponente lautet: k − te Komponente :

∑ cj Hkj + ∑ ci Hik − E ∑ cj Skj − E ∑ ci Sik = 0 j

i

j

(2.151)

i

Mit Hij = Hji und Sij = Sji vereinfacht sich der Ausdruck für die k-te Komponente der Vektorgleichung weiter: k − te Komponente :

∑ Hij cj − E ∑ Sij cj = 0 j

(2.152)

i

Das entstandene Gleichungssystem lässt sich auch durch eine Matrixgleichung schreiben: H11 H ( 21 ⋅ HN1

H12 H22 ⋅ HN2

⋅⋅⋅ ⋅⋅⋅ ⋅ ⋅⋅⋅

H1N c1 S11 H2N c2 S21 )( ) = E( ⋅ ⋅ ⋅ cN SN1 HNN

S12 S22 ⋅ SN2

⋅⋅⋅ ⋅⋅⋅ ⋅ ⋅⋅⋅

S1N c1 S2N c ) ( 2) ⋅ ⋅ cN SNN

(2.153)

184 | 2 Aufbau der Materie Dieses Problem kann in ein Computerprogramm übersetzt und die Lösung unter Nutzung von numerischen Bibliotheken bestimmt werden. Das Problem ⇀



H c = ES c

(2.154)

reduziert sich auf eine gewöhnliche Matrizeneigenwertgleichung, wenn die Funktionen ⟨φi |φj ⟩ = δij orthonormiert sind. Die Matrix S vereinfacht sich zur Einheitsmatrix und das Problem lässt sich schreiben als: ⇀



H c = Ec

(2.155)

Dies kann auch äquivalent mit der N × N Einheitsmatrix 1 ausgedrückt werden ⇀



(H − E1) c = 0.

(2.156)

Die Zeilenvektoren bzw. Spaltenvektoren der neuen Matrix müssen linear abhängig sein, was genau dann der Fall ist, wenn die zugehörige Determinante verschwindet: 󵄨󵄨H − E 󵄨󵄨 11 󵄨󵄨 󵄨󵄨 H21 󵄨󵄨 󵄨󵄨󵄨 ⋅ 󵄨󵄨 󵄨󵄨 H 󵄨 N1

H12 H22 − E ⋅ HN2

⋅⋅⋅ ⋅⋅⋅ ⋅ ⋅⋅⋅

H1N 󵄨󵄨󵄨󵄨 󵄨 H2N 󵄨󵄨󵄨󵄨 󵄨󵄨 = 0 󵄨󵄨 ⋅ 󵄨󵄨 HNN − E󵄨󵄨󵄨

(2.157)

Das Ausmultiplizieren liefern ein Polynom N-ten Grades, das nach dem Fundamentalsatz der Algebra genau N Lösungen hat. Wir erhalten daher N Energieeigen⇀ werte und N zugehörige Eigenvektoren c , deren Elemente den Beitrag der Atomorbitale φi zu den jeweiligen Molekülorbitalen spezifizieren. Für die energetisch höheren Zustände gilt wieder ein Variationstheorem: ⟨Ej ⟩ =

ˆ j⟩ ⟨Ψj |H|Ψ > Ejexakt ⟨Ψj |Ψj ⟩

j =, 2, 3, . . . , N

(2.158)

Die Näherungsfunktion liefert auch für die angeregten Zustände eine Energie, die höher liegt, als die exakte Lösung Ejexakt der Schrödinger-Gleichung für den Zustand j. In der Praxis verwendet man numerische Verfahren, die gleichzeitig die Energieeigenwerte und Eigenvektoren liefern, anstatt erst die Nullstellen des Polynom zu suchen und dann durch Einsetzen der erhaltenen Energieeigenwerte die zugehörigen Eigenvektoren zu bestimmen. Das Variationprinzip wird in vielen semiempirischen Verfahren wie Hückel genutzt, ebenso in den Hartree–Fock–Roothan-Gleichungen zur ab-initio-Bestimmung der besten Einelektronennäherung des Systems.

2.8 Der Elektronenspin

| 185

2.8 Der Elektronenspin Wir brauchen noch eine weitere innere Eigenschaft des Elektrons, den Spin. Dieser ergibt sich nicht direkt aus der Schrödinger-Gleichung und wird nachträglich in die Theorie implementiert. Ein Schlüsselexperiment zum Nachweis des Elektronenspins ist der Stern-Gerlach-Versuch.

2.8.1 Der Stern-Gerlach-Versuch Aus einem Ofen treten ungeladene Atome in ein angrenzendes Vakuum aus. Der Atomstrahl (Silber, Wasserstoff) wird durch Blenden kollimiert und durchläuft ein inhomogenes Magnetfeld, das durch geeignete Polschuhe erzeugt wird. ⇀ Teilchen mit einem magnetischen Moment μ erfahren in einem inhomogenen Ma⇀

gnetfeld B eine Kraft Fz :

𝜕B 𝜕 ⇀ ⇀ (μ ⋅ B) = μz z (2.159) 𝜕z 𝜕z Man beobachtet nun folgendes: Wird das Magnetfeld eingeschaltet, so spaltet der Strahl in zwei Teilstrahlen mit ungefähr gleicher Intensität auf, die in entgegengesetzte Richtungen entlang der z-Achse abgelenkt werden. Fz =

Was würden wir klassisch erwarten? Wir nehmen an, dass die aus dem Ofen austreten⇀ den Silber-Atome ein magnetisches Moment μ haben. Im Ofen sind die magnetischen Momente der einzelnen Atome statistisch verteilt. Wir erwarten daher eine kontinuierliche Verteilung von Atomen mit μz < 0 und μz > 0 und als Ergebnis einen breiten Fleck statt zweier diskreter, wie im Experiment. Das Experiment kann man heute auch mit Wasserstoffatomen durchführen. Bei Wasserstoff im Grundzustand ist die Nebenquantenzahl l = 0, der Wert des Bahndrehimpulses ist Null und dementsprechend gibt es kein magnetisches Moment vom Bahndrehimpuls. Trotzdem sieht man auch hier eine Aufspaltung in zwei Teilstrahlen. Die beobachtete Aufspaltung muss daher durch eine innere Eigenschaft, den Elektronenspin erklärt werden, der für das magnetische Moment verantwortlich ist. Die Quantifizierung der Experimente liefert einen Wert der z Komponente des Elektronenspins von sz = ±ℏ/2. Ein weiterer experimenteller Hinweis auf den Elektronenspin liefert der anomale Zeeman-Effekt. Das Grundzustandsniveau eines Atoms mit l = 0 spaltet in einem Magnetfeld in zwei Unterniveaus auf. So findet sich auch ein Dublett in den Spektren von Alkalimetallen.

186 | 2 Aufbau der Materie 2.8.2 Spinorbitale und Raumorbitale Zur Beschreibung eines Elektrons im Atom benötigt man nicht nur den Ortsraum, sondern auch einen zweiwertigen Spinraum. Bei Vernachlässigung der Wechselwirkung zwischen Spin- und Bahndrehimpuls kann die Wellenfunktion als ein Produkt eines ortsabhängigen Raumorbitals Ψ(x, y, z) und einer spinabhängigen Funktion χ geschrieben werden. Zur Beschreibung eines Elektron im Atom benötigt man vier Quantenzahlen; die Hauptquantenzahl n, die Nebenquantenzahl l, die magnetische Quantenzahl m und die Spinquantenzahl s, wobei diese nur die Werte ±1/2 annehmen kann. Auch andere Elementarteilchen wie das Neutron, Proton haben einen Spin. Teilchen mit halbzahligen Spin nennt man Fermionen, Teilchen mit ganzzahligen Spin Bosonen.

2.8.3 Pauli-Prinzip Das Pauli-Prinzip ist ein wichtiges Postulat zur Deutung von Spektren und den Aufbau des Periodensystems. Es besagt: In einem Atom können nicht zwei Elektronen in allen vier Quantenzahlen übereinstimmen.

In ein Raumorbital passen maximal zwei Elektronen mit unterschiedlichem Spin. Das Pauli-Prinzip ist verantwortlich für den Schalenaufbau der Elektronenhülle und die Ausdehnung der Materie. Die entsprechende allgemeine wellenmechanische Formulierung lautet: Die Gesamtwellenfunktion muss bezüglich der Vertauschung von je zwei Elektronen antisymmetrisch sein.

Bei einer symmetrischen Spinfunktion muss das Raumorbital antisymmetrisch sein. Eine antisymmetrische Spinfunktion erfordert hingegen ein symmetrisches Raumorbital. Wir betrachten als Beispiel zwei Elektronen in einem 1s-Orbital. Das folgende Produkt genügt den gestellten Anforderungen: Ψ = 1sα(1)1sβ (2) − 1sα(2)1sβ (1)

(2.160)

Die Vertauschung der Orts- und Spinkoordinate liefert die negative Funktion −Ψ. Ein eleganter Weg die Gesamtwellenfunktion eines n-Elektronensystems aufzubauen besteht in der Slater-Determinate. Diese trägt den gestellten Forderungen direkt Rechnung.

2.9 Behandlung von Molekülen

|

187

2.9 Behandlung von Molekülen Das Aufstellen der Schrödinger-Gleichung für ein Molekül ist trivial. Man muss nur die Operatoren der kinetischen Energie aller Elektronen und Kerne und die Summe der ˆ elektrostatischen Paarwechselwirkungsenergien auflisten. Der Hamilton-Operator H eines Molekül mit N Elektronen und K Kernen lautet: K N 2 N 2 K 2 ˆ = −ℏ ∑ 󳵻i − ℏ ∑ 󳵻α − ∑ ∑ Zα e H 2me i=1 2 α =1 mα 4πε r ⏟ ⏟ α =1 i=1⏞⏞ 0 iα⏟ ⏟ ⏟⏟ ⏞⏞ ⏞⏞ Ekin-Elektronen

Ekin -Kern

N

+∑ ⏟

i 0, 01 s bieten sich Mischverfahren mit abgestoppter Strömung an, bei denen die aus Kapillaren in eine Reaktionskammer eintretenden Ausgangsstoffe turbulent gemischt werden. Bei noch schnelleren Reaktionen werden Relaxationsverfahren genutzt, bei denen ein Nichtgleichgewichtszustand durch einen Temperatur- und Drucksprung hergestellt wird. Durch eine schlagartige Druckänderung gerät das System aus dem Gleichgewicht. Die Relaxation des Systems in den Gleichgewichtszustand wird experimentell analysiert. Die noch schnelleren Radikalreaktionen können durch Blitzlichtphotolyse eingeleitet werden.

4.3.1 Bestimmung der Reaktionsordnung Die in Kapitel 4.2 vorgestellten Geschwindigkeitsgesetze, die wir durch die Integration der differentiellen Zeitgesetze abgeleitet haben, gelten in dieser Form nur für irreversible Reaktionen. Bei reversiblen Reaktionen muss die Rückreaktion berücksichtigt werden. Zu Beginn der Reaktion bei t = 0 liegen aber nur Edukte vor. Die Konzentrationsänderungen folgen dann gemäß der abgeleiteten Gesetzmäßigkeiten irreversibler Reaktionen. Die Bestimmung des Umsatzes zu Beginn der Reaktion unter Variation der Ausgangskonzentrationen [A0 ] und [B0 ] liefert die Ordnungen a und b und einen Näherungswert für die Geschwindigkeitskonstante kA . Man stellt dazu eine geringe Konzentration [A0 ] und eine große Konzentration der anderen Reaktanten in der Reaktionskammer ein. Die im Überschuss vorliegenden Komponenten kann man als konstant betrachten. Dadurch erhält man einen Näherungswert für die Reaktionsordnung in der Komponente A. Wiederholt man das Experiment bei geringen Konzentrationen an B und einen Überschuss an A, erhält man einen Näherungswert für die Reaktionsordnung in der Komponente B (

d[A] ̃ a. ) ≈ k[A] 0 dt t→0

(4.32)

In technischen System sind stationäre Reaktionen wichtig, bei denen die Ausgangsstoffe mit einer definierten Durchflussrate einem Rührreaktor zugeführt werden. Die Strömungsgeschwindigkeit legt die Verweilzeit im Reaktor fest.

300 | 4 Kinetik und Elektrochemie

4.4 Kinetische Ableitung des Massenwirkungsgesetzes Chemische Reaktionen in homogenen Phasen streben einen Gleichgewichtszustand an, der durch das Massenwirkungsgesetz beschrieben wird. Eine im Reaktor vorgegebene Ausgangszusammensetzung verändert sich durch die einsetzende Reaktion. Nach einer gewissen Zeit stellt sich ein Gleichgewichtszustand ein, der durch ein definiertes Konzentrationsverhältnis zwischen Produkten und Edukten charakterisiert ist. Dies heißt aber nicht, dass die Reaktion wirklich zum Erliegen kommt. Auf molekularer Ebene spielen sich nach wie vor viele Veränderungen ab. Edukte reagieren weiter zu Produkten und Produkte zerfallen zu Edukten. Chemische Gleichgewichte sind stets dynamische Gleichgewichte zwischen der Hin- und der Rückreaktion. Makroskopisch beobachtbar ist dennoch lediglich eine unveränderliche Gleichgewichtszusammensetzung im Reaktor. 󳨀󳨀󳨀 󳨀⇀ Wir betrachten die Bildung von Jodwasserstoff H2 + J2 ↽ 󳨀󳨀 2 HJ, das heißt, eine Reaktion vom Typus 󳨀󳨀 󳨀⇀ (4.33) A+B󳨀 ↽ 󳨀󳨀 2 AB.

Das differentielle Geschwindigkeitsgesetz für die Hinreaktion lautet ⇀

⇀ dx ⇀ = k 2 [A][B] = k 2 ([A]0 − x) ([B]0 − x) . dt

(4.34)

In der Nähe des Gleichgewichtszustandes muss die Rückreaktion berücksichtigt werden. Das differentielle Geschwindigkeitsgesetz für die Rückreaktion lautet: ↼

dx ↼ 2 = k 2x dt

(4.35)

Am Anfang dominiert die Hinreaktion das Systemverhalten. In der Nähe des Gleichgewichtes muss sowohl die Hin- als auch die Rückreaktion berücksichtigt werden. Für die Änderung des Umsatzes x mit der Zeit t gilt dann: ↼ dx ⇀ = k 2 ([A]0 − x) ([B]0 − x) − k 2x2 dt

(4.36)

Im Gleichgewicht zerfallen pro Zeiteinheit so viele Jodwasserstoffmoleküle, wie umgekehrt Wasserstoff- und Jodmoleküle zu Jodwasserstoff reagieren. Die Reaktionsgeschwindigkeit der Hinreaktion ist gleich der Reaktionsgeschwindigkeit der Rückreaktion. Die experimentell bestimmten Konzentrationen ändern sich nicht mehr, das heißt: dx ( ) =0 (4.37) dt g Damit gilt:





k 2 ([A]0 − xg ) ([B]0 − xg ) = k 2 x2g

(4.38)

Der Term ([A]0 − xg ) kennzeichnet die Gleichgewichtskonzentration des Wasserstoffs [H2 ]g und ([B]0 − xg ) ist die im Gleichgewicht vorliegende Jod-Konzentration [J2 ]g ,

4.5 Reaktionskoordinate

| 301

während xg für die im Gleichgewicht vorliegende [HJ]g -Konzentration steht. Aus dieser kinetischen Betrachtung resultiert das Massenwirkungsgesetz: ⇀

[HJ]2g k = 2 =K [J2 ]g ⋅ [H2]g ↼ k2

(4.39)

Die Bildung des Jodwasserstoffs kann befriedigend nach dem obigen Bildungsgesetz beschrieben werden. Aufgrund der guten Übereinstimmung der experimentell ermittelten kinetischen Daten mit dem obigen mathematischen Modell glaubte man lange, dass die Reaktion bimolekular und zweiter Ordnung verläuft. Heute weiß man, dass die Hinreaktion H2 + J2 → 2 HJ nach einem Radikalmechanismus verläuft. Der primäre Schritt ist die Bildung von Jodradikalen: J2 → J⋅ + J⋅ diese Radikale reagieren als reaktive Spezies mit Wasserstoff. Es folgen Reaktionen, die die Zahl der Radikale unverändert lassen: H2 + J⋅ → HJ + H ⋅

und H⋅ + J2 → HJ + J⋅

Die Reaktion kommt durch die Rekombination der Radikale zum Abbruch: H⋅ + H⋅ → H2

bzw.

J⋅ + J⋅ → J2

Die Übereinstimmung der experimentellen zeitlichen Konzentrationsänderungen mit einem mathematischen Modell der Formalkinetik ist noch kein hinreichender Beweis für den Mechanismus.

4.5 Reaktionskoordinate Reaktionsmechanismen werden durch Elementarprozesse beschreiben, die sich in ihrer Molekularität unterscheiden. Wir nennen Elementarprozesse 1. monomolekular, z.B. Zerfall eines instabilen Stoffes d[A] = k[A], dt

(4.40)

d[A] = k[A][B], dt

(4.41)

d[A] = k[A][B][C]. dt

(4.42)

jA = 2.

bimolekular, Zweierstöße jA =

3.

trimolekular, Dreierstöße jA =

Dreierstöße kommen jedoch nur selten vor.

302 | 4 Kinetik und Elektrochemie Die energetischen Verhältnisse während eines Elementarschrittes sind durch eine Energiehyperfläche darstellbar. Die Reaktionskoordinate ρ ist ein Weg über die Energiehyperfläche, der energetisch besonders günstig für die Umwandlung des Ausgangszustandes in das Endprodukt ist. Dieser optimale Reaktionsweg von den Edukten zu den Produkten enthält eine Aktivierungsenergie für die Hinreaktion εa und eine Aktivierungsenergie für die Rückreaktion εb . Die Reaktionsenergie ergibt sich aus: ΔU = NL (εa − εa )

(4.43)

E

aktivierter Zustand

εA

εB

Ausgangsstoffe Endstoffe ρ

Abb. 4.2: Verlauf einer Reaktion vom Ausgangszustand über einen aktivierten Zustand in den Endzustand.

4.6 Temperaturabhängigkeit der Geschwindigkeitskonstanten Für jeden Elementarschritt ist eine Aktivierung der Teilchen notwendig. Der Bruchteil der reaktionsfähigen Teilchen ergibt sich im thermischen Gleichgewicht aus dem Boltzmann-Faktor. Dieser gibt an, wieviele Teilchen eine Energie größer oder gleich der Aktivierungsenergie 𝜖A besitzen und damit reagieren können N(ε > εA) = exp (−

E εA ) = exp (− A ) . kB T RT

(4.44)

Die Aktivierungsenergie EA bezieht sich auf ein Mol der Substanz, während εA die Aktivierungsenergie pro Teilchen angibt. Die Temperaturabhängigkeit der Geschwindigkeitskonstanten wird durch die Arrhenius-Gleichung beschrieben: k = k∞ e

−EA RT

(4.45)

Diese Abhängigkeit begründet auch die Faustregel, dass bei einer Erhöhung der Temperatur um 10 K die Geschwindigkeit einer chemischen Reaktion um den Faktor zwei bis vier zunimmt.

4.7 Mikroreversibilität |

303

4.7 Mikroreversibilität Die Reaktionsgeschwindigkeit für jeden Elementarschritt ergibt sich aus der Forderung ⇀



j= j − j.

(4.46)

Im Gleichgewicht ist ein stationärer Zustand erreicht, bei dem sich die Geschwindig⇀ ↼ keiten der Hin- und Rückreaktion entsprechen, das heißt es gilt j − j = 0. In einem vorgegebenen Zeitintervall werden genau so viele Produktmoleküle gebildet, wie ihrerseits zerfallen. Das System befindet sich makroskopisch im Gleichgewicht. Chemische Gleichgewichte sind immer dynamische Gleichgewichte k12

󳨀󳨀󳨀󳨀 󳨀⇀ A+B↽ 󳨀 AB,

(4.47)

j = k12 [A][B] − k21 [AB].

(4.48)

k21

Die Reaktion zwischen A und B kann auf verschiedene Weise, beispielsweise direkt wie oben ausgeführt oder durch einen Katalysator C eingeleitet werden, der A in einen reaktionsbegünstigenden Zustand überführt. Das Prinzip der Mikroreversibilität sagt aus, dass jeder einzelne Reaktionsschritt für sich im Gleichgewicht sein muss.

C + A+ B

AB + C AC + B

C + A+ B

AB + C AC + B ⇀



Im Gleichgewicht muss für jeden einzelnen Reaktionsschritt j = j gelten. Nur die rechte Reaktion stellt einen möglichen Reaktionsmechanismus dar. Hin- und Rückreaktion verlaufen über den gleichen aktivierten Zustand. Die Umkehr der Zeitkoordinate ändert nicht die Konfiguration. Diese hängt nur von der Energie ab, die als eine Summe von quadratischen Termen beschrieben werden kann. Die Mikroreversibilität gilt nicht zwischen elektronisch verschieden angeregten Zuständen, wie beispielsweise bei der Dissoziation fluoreszenzfähiger Moleküle.

4.8 Komplexere Reaktionen 4.8.1 Parallelreaktionen Bei manchen Reaktionen sind mehrere, alternative Wege zum Reaktionsprodukt vorstellbar. Bei der Verseifung eines Esters sind folgende Reaktionen denkbar: unkatalysiert: säurekatalysiert: basenkatalysiert:

E + H2 O → P, E + H2 O + H+ → PH+ , E + H2 O + OH− → P + OH−

304 | 4 Kinetik und Elektrochemie Die Konzentration des Lösungsmittels H2 O ist konstant, das heißt, k̃1 [H2O] = k1 . Damit ergibt sich für die Veränderung der Konzentration des Esters: d[E] = k0 [E] + kH [E][H+] + kOH [E][OH− ] = k[E] dt Die Integration liefert ein Zeitgesetz erster Ordnung −

mit

(4.49)

[E] = [E]0 exp(−kt)

(4.50)

k = k0 + kH [H+] + kOH [OH− ].

(4.51)

Bei Parallelreaktionen ist der Prozess mit der jeweils größten Geschwindigkeitskonstante geschwindigkeitsbestimmend.

4.8.2 Folgereaktionen Der einfachste Fall ist der radioaktive Zerfall. Er stellt eine Folgereaktion erster Ordnung ohne Rückreaktion dar kA

kB

A 󳨀󳨀→ B 󳨀󳨀→ C.

(4.52)

Der Zerfall des Nuklids A ist unabhängig vom Vorhandensein von B und C. Für das differentielle Zeitgesetz gilt: d[A] = −kA [A] → [A] = [A]0 exp(−kA t) (4.53) dt Der zeitliche Verlauf der Konzentration der Komponente B ergibt sich aus deren Bildung aus A und deren Zerfall zu C d[B] = kA [A] − kB [B] = kA [A]0 exp(−kA t) − kB t. dt Die Konzentration von B erreicht einen Maximalwert [B]max zur Zeit tmax d[B] =0 dt



[B]max =

kA k [A]0 exp(−kA t) = A [A]. kB kB

(4.54)

(4.55)

Gilt für die Geschwindigkeitskonstanten kB > kA , wird das Maximum innerhalb der Halbwertszeit von A erreicht, das heißt, tmax < τ1/2 (A). Erfolgt die Bildung von C schneller als die Bildung der Spezies B, durchläuft B seine Maximalkonzentration. Für t > tmax verschwindet B mit der Halbwertszeit von A [B](t > tmax ) =

kA [A]0 exp(−kA t). kB

(4.56)

Für t > tmax ergibt sich das sogenannte radiochemische Gleichgewicht: τ (B) [B] kB ≈ = 1/2 [A] kA τ1/2 (A)

(4.57)

4.8 Komplexere Reaktionen

|

305

[A],[B],[C] mol dm–3

.

[C]

.

. [B]

. [A]

(a) t/s [A],[B],[C] mol dm–3

.

[C]

.

. [A]

. [B]

(b) t/s [A],[B],[C] mol dm–3

.

.

.

.

[B]

[C] [A]

(c) t/s

Abb. 4.3: Die Veränderung der Konzentrationen der Komponenten A, B und C in einer irreversiblen Folgereaktion. (a) [A]0 = 1 mol l−1 , kA = 1 s−1 , kB = 0,1 s−1 ; (b) [A]0 = 1 mol l−1 , kA = 0,1 s−1 , kB = 1 s−1 ; (c) [A]0 = 1 mol l−1 , kA = 0,1 s−1 , kB = 0,03 s−1 .

306 | 4 Kinetik und Elektrochemie Eine analoge Beziehung gilt für alle Zwischenprodukte, deren Zerfallskonstante ki > kA ist. Die Differentialgleichung kann geschlossen integriert werden: [B] =

kA [A]0 (exp(−kA t) − exp(−kB t)) kA − kB

(4.58)

Für die Bildung der Komponente C gilt: d[C] = kB [B] dt

mit

[C] = [A]0 − [A] − [B]

(4.59)

Wir diskutieren zwei Grenzfälle: Grenzfälle

kB ≪ kA

kB ≫ kA

[B] [A]0

aus Gleichung (4.58)

≪1

exp(−kB t)

[C] [A]0

aus Gleichung (4.59)

1 − exp(−kA t)

1 − exp(−kB t)

Der Gesamtverlauf einer Folgereaktion wird durch die Reaktion mit der kleinsten Geschwindigkeitskonstante bestimmt.

Es lohnt sich, eine symbolische Programmiersprache wie Maple, Mathematica oder Mathcad zu erlernen. Symbolische Programmiersprachen können die meisten Differentialgleichung der Kinetik analytisch lösen. Die Ergebnisse können bequem visualisiert werden.

4.9 Fiktive Prüfungsgespräche 4.9.1 Formalkinetik 1.

2.

Angenommen, Sie haben in der organischen Chemie eine neue Reaktion gefunden und möchten nun eine genaue Charakterisierung des Mechanismus erstellen. Welches Teilgebiet der physikalischen Chemie liefert wichtige Hilfsmittel für diese Aufgabenstellung? Eine Bestimmung von Reaktionsmechanismen kann mit Hilfe von Kinetikuntersuchungen erfolgen. Dabei können Geschwindigkeitskonstanten erhalten werden, die ein Maß dafür sind, wie schnell Reaktionen ablaufen. Richtig. Aber wie Sie sicherlich wissen, gibt es ja eine Vielzahl verschiedener Reaktionswege. Wie möchten Sie da Aussagen über die Geschwindigkeit von Reaktionen treffen? Was ist Ihr Ansatzpunkt? Letztendlich lassen sich Geschwindigkeitskonstanten aus der Zeitabhängigkeit von Edukt- oder Produktkonzentrationen bestimmen. Natürlich lässt sich nicht in Voraus sagen, wie die Reaktion abläuft, sonst könnte man sich die Untersuchung ja sparen. Es ist vielmehr so, dass man aus der gemessen Zeitabhängigkeit

4.9 Fiktive Prüfungsgespräche

|

307

der Konzentration das Geschwindigkeitsgesetz bestimmen kann, nach dem die Reaktion abläuft. 3. Sie haben gerade die Geschwindigkeitsgesetze erwähnt. Was ist denn das? Die Geschwindigkeitsgesetze ergeben sich aufgrund der Annahmen, die man für ein Modellsystem trifft. Man muss also zunächst immer ein Modell aufstellen, nach dem die untersuchte Reaktion ablaufen könnte, und anschließend die Messwerte mit den Ergebnissen des Modells vergleichen. Stimmen Theorie und Experiment überein, wird das Modell als bestätigt angesehen. Falls nicht, muss man das Modell verändern und ermitteln, ob es dann besser zu den experimentellen Tatsachen passt. 4. Welche sind den die üblicherweise verwendeten Modelle? In der Formalkinetik teilt man die Reaktionen nach ihrer Ordnung ein. Man spricht von Reaktionen nullter, erster und zweiter Ordnung. 5. Bleiben wir mal bei den Reaktionen erster Ordnung. Kennen Sie Beispiele für solche Reaktionen oder Prozesse? Die wichtigsten Prozesse, die nach einer Kinetik erster Ordnung ablaufen, sind der radioaktive Zerfall und die Abklingzeit der Fluoreszenz beziehungsweise Phosphoreszenz. Es handelt sich dabei stets um Prozesse, in denen die Änderung der Teilchen in einem Zustand proportional ist zur Anzahl der Teilchen in diesem Zustand. Der charakteristische Verlauf der Konzentration mit der Zeit hat üblicherweise die Form:

Abb. 4.4: Anzahl der Eduktteilchen als Funktion der Zeit bei einer Reaktion erster Ordnung.

6. Können Sie die angesprochenen Änderungen mathematisch ausdrücken? Unter welchem Begriff kennt man diese Abhängigkeiten? Die zeitliche Abhängigkeit der Konzentration wird beschrieben durch die differentiellen Geschwindigkeitsgesetze. Deren Integration liefert die integralen Geschwindigkeitsgesetze, die die Konzentration eines Stoffes als Funktion der Zeit angeben. Wie erwähnt, ist es notwendig und nützlich, eine Reaktionsgleichung für den un-

308 | 4 Kinetik und Elektrochemie tersuchten Prozess anzugeben. Für eine Reaktion erster Ordnung, wie den radioaktiven Zerfall, lautet diese: C∗ → C Die Reaktionsgeschwindigkeit v ist proportional zur Konzentration des Edukts C∗. Weil bei der Reaktion C∗ verbraucht wird, muss das Minus im Geschwindigkeitsgesetz stehen. Einführen der Geschwindigkeitskonstante, die als Proportionalitätskonstante dient, erlaubt anstelle der Proportionalität ein Gleichheitszeichen zu schreiben: dC∗ = −k ⋅ C∗ = −v dt Eine Integration kann durch Trennung der Variablen erreicht werden: 1 dC∗ = −kdt, C∗ 1 ∫ ∗ dC∗ = −k ∫ dt, C ln C∗ = −k ⋅ t + Konstante Einsetzen der Anfangsbedingungen, also C∗ = C0∗ bei t = 0, liefert den Wert der Konstante. Durch Umformen erhält man schließlich die Konzentration als Funktion der Zeit. 7. Gut. Dass Sie diese Rechnung zu Ende führen können, glaube ich Ihnen an dieser Stelle mal. Mich interessiert viel mehr, wie Sie die Konzentration messen, die in Ihrer Rechnung vorkommt. Das kommt immer auf die Eigenschaften an, die die untersuchten Teilchen mitbringen. Zudem ist vor allem darauf zu achten, dass sich in der Zeit, in der die Messung durchgeführt wird, die Konzentration nicht oder nur in unwesentlichem Ausmaß verändert. Ideal sind hierfür natürlich absorbtionsspektroskopische Untersuchungen, da diese sehr schnell sind und nicht in das untersuchte System eingreifen. Für den radioaktiven Zerfall würde ich, je nach Strahler, beispielsweise auf Liquid Scintillation Counting oder Gamma-Spektrometrie zurückgreifen. Dabei muss man aber stets das andere Extrem im Auge behalten. Auch wenn die Änderung zu langsam stattfindet, sind nur schwer gute Messungen zu erhalten. 8. Die angesprochenen Absorbtionsmessungen spielen ja vor allem in der analytischen Chemie eine große Rolle, weil sich der apparative Aufwand in Grenzen hält. Zudem ist auch die Mathematik zur Auswertung der Messung leicht zu überblicken. Von welchem Gesetz ist hier die Rede? UV–VIS-Absorptionsspektren können mit Hilfe des Lambert-Beerschen Gesetzes leicht ausgewertet werden. Monochromatisches Licht mit der Intensität Io fällt auf eine Küvette der Länge l. Nach dem Durchlaufen der Küvette besitzt das Licht die Intensität I, es wurde exponentiell abgeschwächt I = I0 ⋅ exp(−kl). Das Verhältnis von I/I0 bezeichnet man als Transmission T. Ihren negativen de-

4.9 Fiktive Prüfungsgespräche

| 309

kadischen Logarithmus nennt man die Extinktion: E = log

1 I0 = − log = 𝜖 ⋅ c ⋅ l. I T

Die Größe 𝜖 ist der molare Extinktionskoeffizient mit der Einheit [l/mol ⋅ cm].

Abb. 4.5: Lineare Auftragung der Absorbanz gegen die Konzentration nach dem Lambert–Beer-Gesetz.

9.

Das Ergebnis ist schon mal richtig. Wie aber lautet der Ansatz, der zu der Form des Lambert–Beerschen Gesetztes führt, das Sie genannt haben? Die Idee hinter dem Gesetz ist Folgende: Die Änderung der Intensität des Lichtstrahls dI entlang des Weges dx ist proportional zur einwirkenden Intensität I und zur durchstrahlten Wegstrecke l. Weil eine Absorption betrachtet werden soll, muss man ein Minus einführen, das sicherstellt, dass die Intensität nach dem Absorptionsvorgang niedriger ist als davor. Bis hierhin gilt also:

dI ∝ −I ⋅ l dx Um nun aus der Proportionalität zu einer echten Gleichung zu kommen, muss man einen Koeffizienten 𝜖󸀠 einführen. Damit kommt man zu: dI = −𝜖󸀠 ⋅ I ⋅ l dx Wird dieser Ausdruck integriert und die sich ergebende Exponentialfunktion auf die Basis 10 umgeschrieben, entsteht aus der Konstanten 𝜖󸀠 und dem Umrechnungsfaktor zwischen den verschiedenen Basen der molare dekadische Absorptionskoeffizient 𝜖 und die genannte Form des Lambert–Beerschen Gesetzes. 10. Nun ist es aber der Regelfall, dass in einer Reaktion mehr als nur eine Sorte von Molekülen auftreten. Kennen Sie eine Möglichkeit, mit der man die Konzentration aller Spezies als Funktion der Zeit mit nur einer einzigen Variablen darstellen kann? Dieses Ziel kann mit der Definition einer Reaktionslaufzahl erreicht werden. Grundlage hierfür ist die Stöchiometrie der Reaktion. Anders formuliert, kann

310 | 4 Kinetik und Elektrochemie sich die Stoffmenge der Edukte und Produkte nicht unabhängig voneinander ändern, solange nur die eine Reaktion betrachtet, für die man diesen Parameter definiert. Demnach können mit der Reaktionslaufzahl die Stoffmengen beschrieben werden, wenn es keine Nebenreaktionen gibt. Rückreaktionen würden berücksichtigt werden. Für eine Reaktionsgleichung der Form 𝜈A A + 𝜈B B → 𝜈C C + 𝜈D D wird die Reaktionslaufzahl definiert als die Veränderung der Stoffmenge normiert auf den jeweiligen stöchiometrischen Koeffizienten. Konventionsgemäß erhalten dabei die Stoffmengenänderungen der Edukte negatives Vorzeichen und die der Produkte positives Vorzeichen. Es gilt also: dξ = −

dnA dn dnC dnD =− B = = |𝜈A | |𝜈B | |𝜈C | |𝜈D |

Diese Definition ist sinnvoll, weil so die Stoffmenge eines beliebigen Edukts oder Produkts dargestellt werden kann als: ni (ξ ) = n0i + dni = n0i + 𝜈i ⋅ dξ 11. Stimmt. So können Sie das machen. Nun aber zurück zu Ihrer Reaktion. Wie entscheiden Sie nun mit Hilfe des erhaltenen Geschwindigkeitsgesetzes, ob es sich um eine Reaktion erster Ordnung handelt? Ganz einfach aus einer geeigneten Auftragung der Konzentration gegen die Zeit. Ziel ist es immer, einen linearen Zusammenhang zwischen den Größen, die in xund y-Richtung gegeneinander aufgetragen werden, herzustellen, weil man dann sehr einfach über die Methode der kleinsten Fehlerquadrate die Steigung und den y-Abschnitt bestimmen kann. Diese beiden Größen, also Steigung und Achsenab-

Abb. 4.6: Logarithmische Auftragung der Konzentration gegen die Zeit für eine Reaktion nach erster Ordnung zur Bestimmung der Reaktionsgeschwindigkeit.

4.9 Fiktive Prüfungsgespräche

|

311

schnitt, enthalten die gesuchten Informationen. Hier geht man aus von: C∗(t) = C0∗ ⋅ exp−kt , ln C∗(t) = ln C0∗ − kt, ln

C∗(t) = −kt C0∗ ∗

Wenn sich also in einer Auftragung von ln ( CC(t) ∗ ) gegen t näherungsweise eine 0

Gerade ergibt, läuft die Reaktion nach einem Mechanismus ab, der sich mit dem Modell eines Geschwindigkeitsgesetzes erster Ordnung beschreiben lässt. Die negative Steigung der Geraden hat dabei die Bedeutung der Geschwindigkeitskonstanten der Reaktion erster Ordnung. 12. Welche Einheit hat diese Geschwindigkeitskonstante? Das lässt sich ganz einfach aus der letzten Gleichung folgern. Weil der Logarithmus dimensionslos ist und die Zeit t in Sekunden gemessen wird, muss die Geschwindigkeitskonstante die Einheit [1/Sekunde] haben. 13. Wie Sie wissen, spielt in der organischen Chemie und in der industriellen Synthese die Katalyse eine sehr große Rolle. Was steckt denn aus Sicht der physikalischen Chemie hinter diesem Phänomen? Was macht einen Katalysator aus? Ein Katalysator ist ein Stoff, der die Aktivierungsenergie einer Reaktion senkt und sie dadurch bei gegebener Temperatur T und gegebenem Druck p überhaupt erst ermöglicht oder beschleunigt. Ein Katalysator vermittelt einen anderen Weg über die Energiehyperfläche mit einem Pass, der energetisch tiefer liegt. Dies ist in der nachfolgenden Abbildung illustriert. Ein Katalysator hat keinen Einfluss auf die Reaktionsenthalpie und geht wieder unverändert aus der Reaktion hervor. Das Gleichgewicht wird nicht durch den Katalysator beeinflusst.

Abb. 4.7: Vergleich der katalysierten und der unkatalysierten Reaktion von den Edukten über einen Übergangszustand zu den Produkten der Umsetzung.

312 | 4 Kinetik und Elektrochemie 14. Sie haben die Senkung der Aktivierungsenergie angesprochen. Wie bringen Sie denn die Veränderung der Aktivierungsenergie und die damit verbundene Beschleunigung der Reaktion zusammen? Eine Näherung für diesen Zusammenhang ist durch die Arrhenius-Gleichung gegeben. Sie liefert eine Aussage über die Reaktionsgeschwindigkeit als Funktion der Temperatur ΔE k(T) = k∞ ⋅ exp (− ) . RT Darin taucht auch der exponentielle Boltzmann-Faktor auf. Die Gleichung sagt aus, dass im Grenzfall unendlicher hoher Temperatur die maximale Reaktionsgeschwindigkeit, die mit der Konstanten k∞ verknüpft ist, erreicht wird. 15. Sie wollen also unendlich hohe Temperaturen erreichen, um die Reaktion zu beschleunigen? Wo ist der Haken bei diesem Vorhaben? Unendlich hohe Temperaturen sind zum einen nicht erreichbar und zweitens sollten idealerweise alle gewünschten Reaktionen bei Raumtemperatur und unter atmosphärischem Druck ablaufen, um die Kosten niedrig zu halten und ressourcenschonend zu wirtschaften. Zudem kann es passieren, dass organische Stoffe ab bestimmten oberen Grenztemperaturen zerfallen. Eine Beschleunigung der Reaktion ginge dann mit einer Zerstörung des Produkts einher. 16. Dann also doch lieber Katalyse. An welcher Stellschraube drehen Sie dabei? Katalyse bewirkt eine Senkung von ΔE, macht also den Energieberg, der zum Erreichen des Übergangszustands überwunden werden muss, kleiner. 17. In welcher Größenordnung liegt eine Veränderung der Aktivierungsenergie, um eine Reaktion um beispielsweise einen Faktor 10 zu beschleunigen, ohne jedoch die Temperatur zu verändern? Dazu ist die Arrhenius-Gleichung beziehungsweise deren Verhältnis zu bilden k1 = k∞ ⋅ exp (− Das Verhältnis lautet:

ΔE1 ) RT

und

k10 = k∞ ⋅ exp (−

ΔE10 ). RT

−ΔE10 + ΔE1 k10 ) = exp ( k1 RT

An dieser Stelle definiert man ΔΔE, also die Veränderung der Aktivierungsenergie beim Übergang zur zehnmal höheren Reaktionsgeschwindigkeit ΔΔE = ΔE10 − ΔE1 = −RT ⋅ ln (

k10 ) = −RT ⋅ ln 10 ≈ −2, 3 RT. k1

Eine Verzehnfachung der Reaktionsgeschwindigkeit wird also erreicht, wenn die Aktivierungsenergie um einen Wert von näherungsweise dem zweifachen der thermischen Energie sinkt. Diese Veränderung ist sehr gering. Dieses Ergebnis hat zur Folge, dass schon eine geringfügige Stabilisierung des Übergangszustands eine erhebliche Beschleunigung der Reaktion nach sich zieht.

4.9 Fiktive Prüfungsgespräche

| 313

18. Kennen Sie noch einen weiteren Ansatz zur Beschreibung des Zusammenhangs von Aktivierungsenergie und Geschwindigkeitskonstante? Die Eyring-Gleichung liefert einen Zugang zu dieser Problemstellung. Letztendlich stimmt deren Ergebnis aber näherungsweise mit dem der ArrheniusGleichung überein. 4.9.2 Enzymkinetik 1.

Die Michaelis–Menten-Kinetik spielt eine wichtige Rolle für Anwendungen in der Biochemie. Worum geht es dabei? Was sind die grundlegenden Annahmen? Die Michaelis–Menten-Kinetik wird hauptsächlich zur Quantifizierung der Katalyseleistung von Enzymen verwendet und spielt daher vor allem in der Bioanalytik und medizinischen Anwendungen eine große Rolle. Die Michaelis–MentenKinetik beschreibt eine zweistufige Reaktion. Im ersten Schritt reagiert das Enzym E mit dem umzusetzenden Substrat S zu einem Enzym-Substrat-Komplex ES. Dieser bildet in einer Reaktion erster Ordnung daraus das Produkt P. Rein formal lässt sich das Reaktionsgeschehen beschreiben durch: E + S 󴀔󴀭 ES → P

2.

Und was tragen Sie dann in einem Michaelis–Menten-Plot gegeneinander auf? Wie sieht eine typische Kurve aus? Aufgetragen wird bei einer Michaelis–Menten-Kinetik immer die Anfangsgeschwindigkeit der Reaktion gegen die Substratkonzentration. Allgemein steigt die Anfangsgeschwindigkeit v0 mit der vorgelegten Substratkonzentration zwar immer weiter an, der Zuwachs wird aber immer kleiner, bis die Anfangsgeschwindigkeit schließlich gegen einen Sättigungswert läuft. Das bedeutet, dass das Enzym an seinem Leistungsmaximum arbeitet und jedes ankommende Substratmolekül sofort den ES-Komplex bildet und zum Produkt weiter reagiert. Ein typischer Plot hat die Form:

Abb. 4.8: Auftragung der Anfangskonzentration v0 gegen die eingesetzte Menge an Substrat [S] bei enzymatischen Reaktionen.

314 | 4 Kinetik und Elektrochemie 3.

Korrekt, Sie tragen die Anfangsgeschwindigkeitgegen die Substratkonzentration [S] auf. Wie kommen Sie an diese Größe ran? Die Produktkonzentration [P] wird als Funktion der Zeit t bestimmt und das Ergebnis graphisch ausgewertet. Je nach Art des Produkts kann das beispielsweise absorptions-photometrisch geschehen. Reaktionsgeschwindigkeiten sind allgemein definiert als die Änderung der Konzentration einer Spezies mit der Zeit. Das entspricht genau der Steigung in einem [P](t)-Diagramm.

Abb. 4.9: Vergleich des Anstiegs der Produktkonzentration als Funktion der Zeit für verschiedene Mengen an angesetztem Substrat [Si ].

Die Anfangsgeschwindigkeit ist demnach die Steigung der Kurve bei t = 0 und wird definiert als: Δ[P] v0 = Δt 4.

5.

Warum nutzt man gerade die Anfangsgeschwindigkeit v0 für die Auftragung im Michaelis–Menten-Plot? Dieses Vorgehen hat genau genommen zwei Gründe: Erstens ist die Anfangsgeschwindigkeit v0 die höchste Geschwindigkeit, die im Laufe der Reaktion auftritt und damit am leichtesten und genauesten graphisch zu bestimmen, und zweitens wird die formalkinetische Betrachtung einfacher, wenn zum betrachteten Zeitpunkt nur die Hinreaktion E + S → ES, nicht aber zusätzlich die Rückreaktion ES → E + S betrachtet werden muss. Lassen Sie uns das Ganze mal quantifizieren. Welche Bedeutung hat die berühmte Michalis–Menten-Konstante KM ? Die Michalis–Menten-Konstante KM gibt eine Konzentration an und hat dement]. Sie gibt diejenige Substratkonzentration an, bei der sprechend die Einheit [ mol L die halb-maximale Reaktionsgeschwindigkeit erreicht wird. Das ist deshalb praktikabel, da die maximale Anfangsgeschwindigkeit v0 theoretisch erst bei unendlich hoher Substratkonzentration [S], also praktisch niemals, erreicht wird. Das

4.9 Fiktive Prüfungsgespräche

|

315

geht auch aus der Michaelis–Menten-Gleichung für die Anfangsgeschwindigkeit hervor, in der vmax für die maximal erreichbare Anfangsgeschwindigkeit der Reaktion steht: [S] v0 = vmax ⋅ [S] + KM 6. Wie steht die Michalis–Menten-Konstante KM im Zusammenhang mit der Reaktionsgleichung, die Sie mir vorher genannt hatten? Versuchen Sie eine Herleitung von KM ! Dazu muss man zunächst jedem Reaktionsteilschritt eine Geschwindigkeitskonstante ki zuteilen k1

k2

󳨀󳨀󳨀 󳨀⇀ E+S↽ 󳨀󳨀 ES 󳨀󳨀→ P. k−1

Die beiden grundlegenden Annahmen bei der Michaelis–Menten-Kinetik sind, dass die Produktbildung nach einer Reaktion erster Ordnung erfolgt und sich die Konzentration des Enzym-Substrat-Komplexes ES nach einer kurzen Induktionsperiode nicht mehr verändert. Es wird ein sogenannter steady state erreicht. Stimmt soweit. Wie können Sie das in Formeln ausdrücken? Im steady state verändert sich die Konzentration des Enzym-Substrat-Komplexes ES nicht mehr. Es gilt folglich: d[ES] ! = 0 =+ Δ durch Hinreaktion − Δ durch Rückreaktion dt =+ [E][S] ⋅ k1 − [ES] ⋅ k−1 − [ES] ⋅ k2 Umstellen dieser Gleichung führt zu: (k−1 + k2 )[ES] = k1 [E][S] Darin ist nun die momentane freie Enzymkonzentration [E] auszudrücken über die eingesetzte Enzymkonzentration E0 und die Konzentration des vorhandenen Enzym-Substrat-Komplexes [ES]. Für den Zusammenhang gilt: [E] = E0 − [ES] 7.

Wenn Sie damit weiter rechnen und noch ein bisschen umformen, können Sie die drei Gleichgewichtskonstanten schließlich zu einem Ausdruck zusammenfassen, den man die Michaelis–Menten-Konstante nennt. Er lautet: KM =

k−1 + k2 k1

Was bedeutet dieser Ausdruck anschaulich? Wann ist KM groß und wann klein? Die Konstante KM gibt das Verhältnis der Geschwindigkeitskonstanten der Zerfallsreaktionen des Enzym-Substrat-Komplexes zur Bildung des Enzym-SubstratKomplexes an. Je höher KM , umso schneller läuft der Zerfall von [ES] verglichen

316 | 4 Kinetik und Elektrochemie mit seiner Bildung ab. Das bedeutet konkret, dass eine höhere Substratkonzentration [S] benötigt wird, um halbmaximale Reaktionsgeschwindigkeit vmax /2 zu erreichen. 8. Es gibt noch eine weitere charakteristische Größe, die zur Quantifizierung der Aktivität eines Enzyms genutzt wird. Welche Größe ist das? Sie meinen wahrscheinlich die Wechselzahl kcat des Enzyms. Die Wechselzahl kcat entspricht der Anzahl gebildeter Produktmoleküle, die pro Enzymmolekül in einer Sekunde bei vollständiger Substratsättigung gebildet werden kann. Sie ist anzusehen als Stoffkonstante des Enzyms und gibt an, wie schnell die Reaktion an einem Enzym abläuft. Sie ist verknüpft mit der Produktbildung, die nach einer Reaktion erster Ordnung abläuft und kann interpretiert werden als die auf die Enzymmenge normierte Reaktionsgeschwindigkeit: kcat =

9.

vmax [E]

Damit haben wir mit der Michaelis–Menten-Konstante KM eine Größe, mit der die Affinität eines Enzyms zu seinem Substrat beschrieben wird, und mit der katalytischen Effizienz kcat die Geschwindigkeit, mit der ein Enzym sein Substrat umsetzt. Diese beiden Eigenschaften sind voneinander zu trennen! Gibt es eine Größe, die diesen beiden Eigenschaften zu einer Art Summenparameter der Enzymaktivität vereint? Die katalytische Aktivität keff vereint Aussagen über Affinität und Geschwindigkeit. Sie ist definiert als der Quotient aus der Wechselzahl kcat und der Michaelis– Menten-Konstanten KM k keff = cat . KM

10. Welche Dimension hat keff ? An was erinnert Sie diese Einheit? Die Wechselzahl kcat hat die Dimension einer Geschwindigkeitskonstanten erster Ordnung, also [ 1s ], die Michaelis–Menten-Konstante KM die Einheit einer Konzen]. Damit findet man für die Einheit der katalytischen Effizienz: tration, also [ mol L [keff ] =

[ 1s ]

[ mol ] L

=[

L ] mol ⋅ s

Diese Größe entspricht der Einheit einer Geschwindigkeitskonstanten bei einer Reaktion zweiter Ordnung. 11. Sie haben vorher etwas von einer graphischen Auswertung erwähnt. Wie können Sie aus der Auftragung der Anfangsgeschwindigkeit v0 gegen die Substratkonzentration [S] die Konstanten KM erhalten? Was ist das Problem bei dieser Auftragung? Dazu ist eine Parallele bei halbmaximaler Geschwindigkeit einzutragen und der entsprechende Wert von [S] auf der Konzentrationsachse zu bestimmen.

4.9 Fiktive Prüfungsgespräche

| 317

Abb. 4.10: Darstellung der Anfangsgeschwindigkeit der Umsetzung v0 als Funktion der eingesetzten Substratkonzentration [Si ]. Die Michaelis–MentenKonstante KM ist die Konzentration, bei der die halbmaximale Geschwindigkeit erreicht wird.

Problematisch hierbei ist, dass der asymptotische Wert vmax nicht exakt bestimmt ist. Deshalb kann auch der für KM maßgebliche Wert von vmax nicht exakt bestimmt 2 werden, was zu erheblichen Ungenauigkeiten führt. 12. Wie kann man das besser machen? Es gibt eine geeignetere Art der Auftragung, die auch als Lineweaver–Burk-Plot bekannt ist. Dabei geht man von der reziproken Michaelis–Menten-Gleichung aus: [S] 1 1 K 1 v0 = vmax ⋅ → = + M ⋅ [S] + KM v0 vmax vmax [S] 1 erhält man einen linearen ZusammenWählt man die Auftragung von v1 gegen [S] 0 hang. Der Grenzwert der maximalen Anfangsgeschwindigkeit vmax wird nicht mehr benötigt, um KM zu bestimmen. Die Michaelis–Menten-Konstante KM kann aus der Steigung erhalten werden.

Abb. 4.11: Lineweaver– Burk-Auftragung v1 gegen 1 [S]

0

lässt aufgrund des linearen Zusammenhangs eine genauere Bestimmung der Michaelis–MentenKonstante KM zu.

318 | 4 Kinetik und Elektrochemie

4.10 Elektrochemie Elektrochemie befasst sich mit chemischen Reaktionen, die durch eine angelegte Spannung ausgelöst werden oder die eine Potentialdifferenz zwischen zwei Elektroden zur Folge haben. Diese Spannungen sind in beiden Fällen die Ursache für einen Stromfluss. Elektrolyse ist das Ergebnis einer extern angelegen Spannung. Wird Strom in der Zelle erzeugt, handelt es sich um eine galvanische Zelle. Elektrischer Strom ist ein Fluss von elektrischer Ladung. In Metallen sind Elektronen für den Stromfluss verantwortlich, bei Elektrolytlösungen und Salzschmelzen sind es die vorhandenen Ionen. Eine elektrochemische Zelle besteht aus zwei Elektroden, die leitend miteinander verbunden sind. Über den äußeren Stromkreis wird eine Spannung entweder zugeführt oder abgegriffen. Der innere Stromkreis wird über eine Elektrolytlösung bzw. Elektrolytbrücke geschlossen. Abbildung 4.12 ist die schematische Darstellung einer Zelle zur Elektrolyse von NaCl-Salzschmelzen. Stromquelle

Kathode

Anode

Cl– Na+ Na+

Cl–

Abb. 4.12: Aufbau einer Zelle zur Elektrolyse einer NaCl-Schmelze.

Es gelten folgende Konventionen zur Benennung der Elektroden: – An der Anode läuft die Oxidation ab. – Eine Oxidation ist per Definition die Elektronenabgabe einer Spezies. – Die Oxidationszahl steigt. – An der Kathode läuft die Reduktion ab. – Als Reduktion wird die Aufnahme von Elektronen bezeichnet. – Die Oxidationszahl sinkt. Die Gesamtreaktion aus Oxidation und Reduktion wird dabei als Redox-Reaktion bezeichnet. Da in Oxidation und Reduktion jeweils die gleiche Anzahl von Elektronen umgesetzt werden, muss die Reduktion von Na+ -Ionen zu Natrium zweimal ablaufen, um die beiden Elektronen aufzunehmen, die bei der Oxidation zu Cl2 von den beiden Chloridionen abgegeben werden. Als Gesamtreaktion findet man folglich: Gesamtereaktion:

2 NaCl 󳨀 󳨀󳨀 → Cl2 + 2 Na

(4.60)

4.10 Elektrochemie

| 319

Redoxaktive Spezies treten immer als korrespondierendes Redoxpaar aus reduzierter und oxidierter Spezies auf. Im betrachteten Beispiel lauten die Teilreaktionen: 󳨀󳨀 → Na, Na+ + e− 󳨀

Reduktion an der Kathode:

󳨀󳨀 → Cl2 + 2 e− 2 Cl− 󳨀

Oxidation an der Anode:

(4.61)

Zum Aufstellen von Redoxreaktionen sind folgende Schritte abzuarbeiten, um die Gesamtreaktion zu erhalten: – Bestimmung der Oxidationszahlen hier: Na+ hat die Oxidationszahl (OZ) +1, Na-Metall die OZ ±0, Cl – die OZ −1 und Cl2 die OZ ±0 – Ausgleich der Oxidationszahlen der korrespondierenden Spezies durch Elektronen bei der Reduktions- und Oxidationsteilgleichung; hier: Reduktion an der Kathode: Oxidation an der Anode: –



󳨀󳨀 → Cl2 + 2 e− 2 Cl− 󳨀

(4.62)

Ausgleich der Ladung bei Reduktions- und Oxidationsteilgleichung durch H+ im Sauren und OH – im Basischen. Dieser Schritt kann hier entfallen, da die Reduktions- und Oxidationsgleichung jeweils die gleiche Ladung auf Edukt- und Produktseite aufweisen. Bei der Reduktionsteilgleichung findet sich auf beiden Seiten die Gesamtladung ±0, bei der Oxidationsteilgleichung hingegen die Gesamtladung −2. Multiplikation der Reduktionsteilgleichung mit der Zahl der umgesetzten Elektronen bei der Oxidationsteilgleichung und vice versa. Hier werden bei der Oxidation zwei Elektronen umgesetzt, während bei der Reduktion nur ein Elektron ausgetauscht wird. Daher muss die Reduktion zweimal ablaufen, um den Elektronenbedarf der Oxidation decken zu können: Na+ + e− 󳨀 󳨀󳨀 → Na| ⋅ 2,

Reduktion an der Kathode:

󳨀󳨀 → Cl2 + 2 e− | ⋅ 1 2 Cl− 󳨀

Oxidation an der Anode: –

Na+ + e− 󳨀 󳨀󳨀 → Na,

(4.63)

Bildung der Summen von Reduktions- und Oxidationsteilgleichung liefert die gesamte Redoxreaktion. Hier ergibt sich durch Addition der Edukt- und Produktseiten folgende Gesamtreaktion: Gesamtereaktion:

2 NaCl 󳨀 󳨀󳨀 → Cl2 + 2 Na

Welche Stoffmengen dabei umgesetzt werden, ist abhängig von der Menge der zugeführten Ladung. Das Faraday-Gesetz bringt die umgesetzte Stoffmengen n mit der zugeführten Ladung Q in Zusammenhang: Q = nFz

(4.64)

320 | 4 Kinetik und Elektrochemie Dabei steht z für die Anzahl der Elektronen, die bei der betrachteten Teilreaktion übertragen werden, und F für die Faraday-Konstante. Sie ist eine Naturkonstante und hat einen Wert von 96485 C/mol. Sie gibt die Ladung an, die einem Mol Elektronen entspricht. Reduktionsmittel sind Spezies, die Elektronen abgeben, um im Verlauf der Teilreaktion selbst oxidiert zu werden. Umgekehrt nimmt ein Oxidationsmittel während einer Reaktion Elektronen auf und wird dabei reduziert. Zu beachten hierbei ist die Tatsache, dass eine Spezies sowohl als Oxidationsmittel als auch als Reduktionsmittel wirken kann. Oxidationsmittel und Reduktionsmittel sind keine absoluten Stoffeigenschaften, sondern das Ergebnis einer gegenseitigen Wechselwirkung. Beispielsweise kann Cr 3+ zu Cr 6+ oxidiert, aber auch zu metallischem Chrom Cr reduziert werden. Welcher Fall eintritt, hängt vom anderen anwesenden Redoxpaar beziehungsweise der angelegten Spannung bei einer Elektrolyse ab. Die Redoxpaare sind ihrer Stärke nach in der elektrochemischen Reihe angeordnet. Da die erhaltenen Spannungen nur relativ zueinander bestimmt, jedoch keine Absolutwerte erhalten werden können, wurde als Bezugssystem die Wasserstoff-Normalelektrode gewählt. Die einzelnen Redoxpaare wurden bei Standardbedingungen gegen die Wasserstoff-Normalelektrode gemessen und die erhaltenen Spannungen, die in diesem Zusammenhang auch als Normalpotentiale bezeichnet werden, tabelliert. Die elektrochemische Spannungsreihe erstreckt sich über einen Bereich von −3 V für sehr starke Reduktionsmittel wie Lithium, bis knapp +3 V für starke Oxidationsmittel wie Fluor. Die ausführliche Reihe finden Sie in den Standardlehrbüchern der physikalischen und anorganischen Chemie. Tabelliert sind die Potentiale bei Standardbedingungen. Dort haben die beteiligten Spezies eine Aktivität von eins. Um entscheiden zu können, ob eine elektrochemische Reaktion freiwillig abläuft, oder erst durch Anlegen einer Spannung im Sinne einer Elektrolyse stattfindet, ist die elektrochemische Reihe zu nutzen. Nach der Stockholmer Konvention ist lediglich die Differenz der Normalpotentiale der ablaufenden Reduktion und Oxidation zu bilden. Betrachten wir die freiwillig ablaufende Reaktion der Oxidation von Natrium mit Chlor. Die Reaktionsgleichung lautet in Umkehrung der oben gezeigten Gleichung Cl2 + 2 Na 󳨀 󳨀󳨀 → 2 NaCl. –

Dabei laufen folgenden Reaktionen ab: Oxidation von Natrium-Ionen: 0 EOxidation = −ENa + /Na = −(−2,71 V) = 2,71 V



Reduktion von elementarem Chlor: 0 EReduktion = −ECl − =+ 1,36 V 2 /2Cl

Es ergibt sich eine elektromotorische Kraft von E = EReduktion − EOxidation = 1,36 V − (−2,71 V) =+ 4,07 V

(4.65)

4.10 Elektrochemie

|

321

Ist die elektromotorische Kraft E negativ, findet die Reaktion nicht freiwillig statt, sondern verläuft in die entgegengesetzte Richtung. Für positive Werte von E läuft die Reaktion bereitwillig ab. Im Beispiel wird eine Elektrolyse betrachtet. Die Reaktion findet erst durch Anlegen einer Spannung statt, würde jedoch ohne diese angelegte Spannung nicht freiwillig ablaufen. Der Großteil der betrachteten Reaktion läuft natürlich nicht bei Standardbedingungen ab, für die man tabellierte Wert für die Normalpontentiale findet. Die NernstGleichung behebt diesen Missstand und erlaubt die Berechnung der Potentiale der an einer Reaktion beteiligten Spezies bei anderen als den Standardbedingungen. Es wird das Potential E eines Redoxpaares in Zusammenhang mit der Temperatur T sowie den Aktivitäten der reduzierten Spezies ared und der oxidierten Spezies aox gesetzt. Es gilt: E = E0 +

a RT ln ( ox ) zF ared

(4.66)

Dabei steht E0 für das Potential bei Standardbedingungen, z für die Anzahl der Elektronen, die bei der Teilreaktion übertragen werden und, F für die FaradayKonstante und R für die allgemeine Gaskonstante. Wesentliche Aussagen aus der Nernst-Gleichung sind: – Je höher die Konzentration beziehungsweise Aktivität der oxidierten Spezies aox , umso stärker die oxidierenden Eigenschaften, da in diesem Fall E steigt. – Je höher die Konzentration beziehungsweise Aktivität der reduzierten Spezies ared , umso stärker die reduzierenden Eigenschaften, da in diesem Fall E sinkt. – Eine Erhöhung der Temperatur stärkt die oxidierenden Eigenschaften, da E steigt. – Je mehr Elektronen übertragen werden, umso stärker sind die reduzierenden Eigenschaften, da E sinkt. Sind die Potentiale EOxidationsmittel/Reduktionsmittel der Spezies, die an der Reaktion teilnehmen bekannt, so kann entsprechend der Stockholmer Konvention die elektromotorische Kraft E der Reaktion ermittelt werden. Sie steht nach ΔG = −zFE

(4.67)

in Zusammenhang mit der Gibbs-Energie G. Damit können die Überlegungen aus Kapitel 1.6 gleichermaßen auf die Elektrochemie übertragen werden. Diese Gleichung gibt an, welche Arbeit geleistet werden muss, um z mol Elektronen gegen ein Potential E zu bewegen. Aus dieser Formulierung wird unmittelbar ersichtlich, warum Reaktionen nur dann freiwillig ablaufen können, wenn E positiv ist. Nur wenn E positiv ist, sinkt die Gibbs-Energie G bei der Reaktion. Die Reaktion läuft freiwillig ab. Für die Gibbs-Energie G gilt auch hier: ΔG0 = −zFE0 = −RT ln K

(4.68)

Daraus kann der Zusammenhang zwischen elektromotorischer Kraft E und der Gleichgewichtskonstante K der Reaktion erhalten werden.

322 | 4 Kinetik und Elektrochemie

4.11 Fiktive Prüfungsgespräche 4.11.1 Leitfähigkeit, Batterie, Stockholmer Konvention 1.

2.

3.

4.

5.

Sie lösen LiCl, NaCl und KCl in Wasser auf und legen ein elektrisches Feld an. Was erwarten Sie? Bei den genannten Substanzen handelt es sich um Salze. In Lösung dissoziieren sie vollständig in die korrespondierenden Ionen. Für Kochsalz lautet die Dissoziationsgleichung: + − 󳨀󳨀 󳨀⇀ NaCl 󳨀 ↽ 󳨀󳨀 Na + Cl Aufgrund der angelegten Spannung fließt ein Strom. Das mit der Dissoziation ist richtig. Wie aber verhalten sich die Ionen in den verschiedenen Lösungen bezüglich ihrer Beweglichkeit. Was bestimmt die Leitfähigkeit? In allen drei Lösungen tritt das Chloridion als Gegenion auf. Es sollte sich demnach unabhängig von der Lösung in allen drei Mischungen gleich schnell bewegen. Für die Kationen wird eine unterschiedliche Geschwindigkeit erwartet. Hier spielt erwartungsgemäß die Ladung und die Größe eine Rolle. Da es sich bei allen drei Ionen um einfach positiv geladene Ionen handelt, ist die Größe der dominante Effekt. Die Größe steigt von Lithium über Natrium hin zum Kalium an. Daher denke ich, dass in dieser Reihenfolge die Leitfähigkeit aufgrund der abnehmenden Beweglichkeit sinkt. Wir machen ein Experiment und finden genau das Gegenteil. Die verdünnte LiClLösung hat die kleinste Leitfähigkeit. Können Sie sich darauf einen Reim machen? Nach den Ergebnissen dieses Experiments muss man den Lithiumionen einen größeren Radius als den Natriumionen zuschreiben. In der Lösung bewegt sich das Ion immer zusammen mit seiner Hydrathülle. Aufgrund der hohen Ladungsdichte der kleinen Lithiumionen verglichen mit den Natrium- oder Kaliumionen erscheinen die Lithiumionen aufgrund ihrer stärker ausgeprägten Hydrathülle größer und bewegen sich daher langsamer. Die Leitfähigkeit der LiCl-Lösung ist verglichen mit der Leitfähigkeit von NaCl und KCl verringert. Welches System wurde häufig für Batterien verwendet? Welche Zellspannung war damit möglich? Das Leclanché-Element spielte eine wichtige Rolle für nicht-wiederaufladbare Batterien. Es liefert eine Zellspannung von circa 1,5 V. Welche Verbindungen sind daran beteiligt? Welche Reaktionsgleichungen laufen ab? Wo befinden sich Anode und Kathode? Das unedlere Zink wird oxidiert. Das geschieht an der Anode Zn → 󳨀 Zn 2+ + 2 e − . Braunstein und Manganoxid-Hydroxid bilden das andere beteiligte Redoxsystem. Braunstein wird an der Kathode reduziert. Die Reaktionsgleichung lautet: 󳨀 MnO(OH) MnO2 + e − + H+ →

4.11 Fiktive Prüfungsgespräche

| 323

6. Fehlt da nicht noch etwas? Damit die Gleichung ausgeglichen ist, muss die Anzahl der Elektronen, die in Oxidation und Reduktion übertragen werden, gleich groß sein. Entsprechend ist die Reduktionsteilgleichung mit zwei zu multiplizieren und man erhält schließlich die Gesamtgleichung 󳨀 Zn 2+ + 2 MnO(OH), Zn + 2 MnO2 + 2 H+ → 7.

wenn man die Teilgleichungen addiert. Kommen wir zu einem verwandten Thema. Was können Sie zum Thema Brennstoffzelle sagen? Bei Brennstoffzellen läuft die Umkehrreaktion der Elektrolyse von Wasser ab. Man könnte auch sagen, es handelt sich um eine kontrollierte Knallgasreaktion. Dabei gibt es unterschiedliche Ausführungsarten mit verschiedenen Arten von Elektrolyten. Die Grundgleichung bleibt jedoch immer die selbe: Wasserstoff wird zu Wasser oxidiert und Sauerstoff zu Wasser reduziert: Anode: Kathode:

󳨀󳨀 → 2 H + + 2 e −, H2 󳨀 O2 + 4 e − + 4 H + 󳨀 󳨀󳨀 → 2 H2 O

Der Stockholmer Konvention entsprechend findet an der Anode die Oxidation statt. Es werden Elektronen abgegeben. Der negative Pol der Brenstoffzelle befindet sich dort. Entsprechend fällt der positiv geladene Pol mit der Kathode, an der Sauerstoff umgesetzt wird, zusammen

4.11.2 Der Bleiakkumulator 1.

2.

Es kann zwischen Primär- und Sekundärbatterien unterschieden werden. Lassen Sie uns auf letztere Klasse eingehen. Was ist ein typisches Beispiel für Sekundärbatterien und wo werden sie verwendet? Sekundärbatterien werden auch als Akkumulatoren beziehungsweise Akkus bezeichnet. Die in ihnen ablaufenden Reaktionen sind reversibel. Typische Anwendungsbeispiele kennen Sie von Handys, Notebooks, aber auch in Starterbatterien. Seit kurzem spielen sie auch für die Elektromobilität bei partiell oder komplett elektrisch betriebenen Fahrzeugen eine Rolle. Während in Notebooks oder auch Akkuschraubern so gut wie nur noch Lithiumionen-Akkus verwendet werden, greift man in Autobatterien nach wie vor auf den altgedienten Blei-Akku zurück. Können Sie dessen Aufbau kurz beschreiben? Welche Reaktion läuft darin ab? Die Reaktion findet zwischen Blei und Blei(IV)-Oxid statt. Als Elektrolyt dient Schwefelsäure. Beim Entladen findet eine Komproportinierungsreaktion statt Reduktion:

PbO2 + 2 e− + 4 H+ 󳨀 󳨀󳨀 → Pb 2+ + 2 H2 O,

Oxidation:

Pb 󳨀 󳨀󳨀 → Pb 2+ + 2 e− .

324 | 4 Kinetik und Elektrochemie 3.

Können Sie die Reaktion ausgleichen? Dazu sind an den jeweiligen Stellen die Sulfatgegenionen einzuführen. Man erhält für die Teilgleichungen: Reduktion:

PbO2 + 2 e− + SO42− + 4 H3 O+ 󳨀 󳨀󳨀 → PbSO4 + 6 H2 O,

Oxidation:

󳨀󳨀 → PbSO4 + 2 e− Pb + SO42− 󳨀

Da in Reduktions- und Oxidationsteilgleichung gleich viele Elektronen ausgetauscht werden, ergibt sich die Gesamtgleichung der Reaktion zu: Entladevorgang

󳨀󳨀󳨀 󳨀󳨀 󳨀󳨀 󳨀󳨀 󳨀󳨀 󳨀󳨀 󳨀󳨀 󳨀󳨀 󳨀󳨀 󳨀󳨀 󳨀⇀ PbO2 + Pb + 2 H2 SO4 ↽ 󳨀󳨀 2 PbSO4 + 2 H2 O Ladevorgang

4.

5.

Je nachdem ob der Lade- oder der Entladevorgang abläuft, läuft die Reaktion nach links oder nach rechts ab. Welche Elektrode dient als Minus-Pol und welche als Plus-Pol? Am Minus-Pol müssen Elektronen freigesetzt werden. Dieser Vorgang geschieht in der Oxidation und somit an der Anode. Hier läuft die zweite Reaktionsgleichung ab. Entsprechend muss die andere Elektrode, an der die Reduktion abläuft der Ort sein, der als Plus-Pol dient. Warum werden Blei-Akkus nach wie vor verwendet? Sie haben ja vor allem den großen Nachteil einer niedrigen Energiedichte, können also nur relativ wenig Energie, bezogen auf ihre Masse, speichern. Blei-Akkus haben sich in ihren Anwendungsbereichen als sehr leistungsfähig erwiesen. Neben einer hohen Lebensdauer sind diese vor allem sehr preisgünstig.

4.11.3 Selbstorganisation, Ionen an Grenzflächen 1.

Was versteht man unter amphiphilen Molekülen? Amphiphile vereinen zwei gegensätzliche Strukturelemente, eine polare oder ionische Kopfgruppe und eine hydrophobe, meist aliphatische Schwanzgruppe. Aufgrund dieser molekularen Asymmetrie adsorbieren Amphiphile spontan an der Wasser–Luft-Grenzfläche. Die Anreicherung des Amphiphils führt zu einer Erniedrigung der Grenzflächenspannung 𝛾.

Abb. 4.13: Anionische Tenside; als polare Kopfgruppe dient die Sulfat- oder die Carboxylatgruppe.

4.11 Fiktive Prüfungsgespräche

2.

|

325

Wie sieht denn eine typische Isotherme aus? Beschreiben Sie den Verlauf der Grenzflächenspannung 𝛾 gegen die Konzentration c des gelösten Amphiphils! Die Grenzflächenspannung von reinem Wasser hat einen Wert von 72 mN/m. Aufgrund der Ausbildung der Adsorptionsschicht fällt die Grenzflächenspannung auf Werte, die um die 40–20 mN/m liegen.

Abb. 4.14: Adsorptionsisotherme von Tensiden. Die Auftragung der Grenzflächenspannung 𝛾 gegen den Logarithmus der Konzentration log c liefert Aussagen über die Anreicherung der Spezies an der Grenzfläche.

3.

Ab einer gewissen Konzentration bleibt die Grenzflächenspannung konstant. Obwohl die Konzentration des gelösten Amphiphils erhöht wird, bleibt die Gleichgewichtsgrenzflächenspannung konstant. Die Grenzfläche ist dann mit einer Monolage des Amphiphils belegt und kann keine weiteren Moleküle mehr aufnehmen. Wie liegen dann die gelösten Amphiphile in der Lösung vor? Das System versucht durch Selbstorganisation die Wechselwirkung zu optimieren. Oberhalb der kritischen mizellaren Konzentration bilden sich Mizellen aus. Dies sind Aggregate aus vielen Molekülen, bei der die ionischen Kopfgruppen zum Wasser zeigen, während die aliphatischen Schwanzgruppen das Innere der Mizellen bilden. Der hydrophobe Effekt ist die Triebkraft für die Bildung von Mizellen.

Abb. 4.15: Schematische Darstellung einer Kugelmizelle. Sie entstehen oberhalb der kritischen mizellaren Konzentration (cmc) aufgrund von kooperativen Prozessen.

4. Betrachten wir mal die Größenverteilung der gebildeten Mizellen. Variiert deren Größe stark oder liegen diese monodispers mit einer sehr engen Größenverteilung

326 | 4 Kinetik und Elektrochemie vor? Ich gebe Ihnen mal einen Tipp: Überlegen Sie mal was passiert, wenn Sie die Mizelle durch einen weiteren Einbau von Amphiphilen vergrößern. Der Radius der Mizelle würde größer werden. Ab einer gewissen Größe entsteht aber eine innere Grenzfläche. Dies ist energetisch ungünstig. Meine Vorhersage ist: Die Mizellen liegen monodispers vor. 5. Stimmt, was ist denn die typische Größe einer Kugelmizelle? Der Radius ist etwas kleiner als die Länge einer gestreckten aliphatischen Kette. Die aliphatischen Ketten falten beziehungsweise knäulen sich im Inneren der Mizelle und liegen nicht in einer all-trans-Konformation vor. 6. Ein fundamentales Problem der Kolloidwissenschaft ist die Verteilung von Ionen an einer geladenen Grenzfläche. Wir betrachten mal ein anionisches Tensid, wie Natriumdodecylsulfat (SDS). In Lösung liegen dann die positiv geladenen Natrium-Ionen und negativ geladenen Alkylsulfat-Ionen vor. Letztere sind grenzflächenaktiv und adsorbieren spontan an der Wasser–Luft-Grenzfläche. Es entsteht eine negative geladene Schicht. Mich interessiert jetzt: Wo sind die positiv geladenen Gegenionen und was sind denn die relevanten Wechselwirkungen? Ionen stelle ich mir zunächst mal als kleine geladenen Kugeln mit einer Hydrathülle vor. Die dominante Wechselwirkung wird daher die Elektrostatik sein. Plus und Minus ziehen sich an. 7. Wenn die Elektrostatik die alleinige und dominante Wechselwirkung wäre, wie lägen dann die Ionen vor? Die Ionen würden Kontaktionenpaare ausbilden. Die Natriumionen und Alkylsulfat-Ionen würden kondensieren. Beide Ionen wären in einen gemeinsamen Lösungsmittelkäfig angeordnet und würden nach außen wie ein Dipol wirken. 8. Was ist der Gegenspieler, der sich dieser Anordnung entgegen stellt? Ein möglicher Gegenspieler ist die Wärmebewegung. Die Wärmebewegung würfelt die Anordnung der Ionen durcheinander. Die Verteilung der Ionen ist durch das Wechselspiel dieser beiden Antipoden gegeben.

Abb. 4.16: Vergleich der möglichen Szenarien der Anordnung von Ionen an einer geladenen Grenzfläche. (a) Die Bildung von Kontaktionenpaaren ist energetisch günstig; (b) Eine weniger regelmäßige Verteilung mit größeren Abständen der Ladungen ist zwar energetisch weniger günstig, aber entropisch bevorzugt.

4.11 Fiktive Prüfungsgespräche

|

327

9.

Könnten Sie eine Längenskala angeben, unterhalb der die Elektrostatik dominant ist? Vergleichen Sie doch mal die elektrostatische Wechselwirkungsenergie eines Ionenpaars mit der thermischen Energie. Die thermische Energie ist durch kB T gegeben, die elektrostatische Wechselwirkung durch die Coulomb-Energie: V = −e2 /(4π𝜖0 r) Setzt man beide gleich, hat man eine Längenskala, die angibt, wie weit die elektrostatische Wechselwirkung das Systemverhalten dominiert. 10. Vorsicht! Sie müssen auch die Wassermoleküle berücksichtigen! Wie verändert das Lösungsmittel die Wechselwirkung zwischen den Ionen? Stimmt, da habe ich ein 𝜖r vergessen. Wassermoleküle sind Dipole. Die Wassermoleküle orientieren sich im elektrischen Feld der Ladungen und schwächen dieses ab. Die relative Dielektrizitäszahl 𝜖r gibt gerade an, wie stark die Wechselwirkungsenergie abgeschwächt wird. 11. Haben Sie eine Vorstellung der Größenordnung von 𝜖r für Wasser und das unpolare Benzol? Was haben diese Größen mit dem Lösungsverhalten eines Salzes zu tun? Das 𝜖r von Wasser liegt um die 80, die relative Dielektrizitätszahl von Benzol circa bei einem Wert von zwei. Darum lösen sich auch Salze in Wasser und nicht in organischen Lösungsmitteln. Die Kraft zwischen den Ionen wird durch das Wasser stark herabgesetzt, sie können daher in Lösung gehen. Benzol schirmt dagegen das Feld nicht so effektiv ab. Salze lösen sich immer dann, wenn die Solavatationsenergie die Gitterenergie übersteigt. 12. Dann rechnen Sie mal jetzt die Länge aus, bei der die elektrostatische Anziehung gleich der thermischen Energie ist. Gleichsetzen der thermischen Energie und der elektrostatischen Wechselwirkung liefert: −e2 = kB T (4π𝜖0 𝜖r l) Nachdem der Abstand l aufgelöst ist, ergibt sich: 󵄨󵄨 󵄨󵄨 −e2 󵄨󵄨 󵄨 󵄨󵄨 l = 󵄨󵄨󵄨󵄨 󵄨󵄨 (4π𝜖0 𝜖r ⋅ kB T) 󵄨󵄨󵄨

13. Diese Größe heißt die Bjerrum-Länge lB und ist eine wichtige Größe zur Charakterisierung von Elektrolytlösungen. Sie liefert Informationen darüber, wie langreichweitig die elektrostatischen Kräfte sind. Betrachten wir unsere geladene Grenzfläche: Die adsorbierten Alkylsulfat-Moleküle bilden eine geladene Adsorptionsschicht, die Gegenionen kompensieren natürlich die Ladung des Adsorbats. Ihre Verteilung soll aus dem Wechselspiel der thermischen Bewegung und der elektrostatischen Wechselwirkung ermittelt werden. Wie lautet denn die Grundgleichung der Elektrostatik? Die Grundgleichung der Elektrostatik sagt aus, dass die Quelle des elektrischen Feldes eine Ladung ist. Kennt man die Ladungsdichte, so kann man im Prinzip aus der Maxwell-Gleichung das elektrische Feld ausrechnen.

328 | 4 Kinetik und Elektrochemie 14. Stimmt, die dritte Maxwell-Gleichung lautet: ⇀

div E =

ρ 𝜖0 𝜖r

Das elektrische Feld ist eine vektorielle Größe. Wie kann man diese durch eine skalare Größe ausdrücken? Das elektrische Feld kann unter gewissen Voraussetzungen als Gradient eines skalaren Potentials Φ(x, y, z) ausgedrückt werden. Dies ist eine sehr viel einfachere Größe. Jedem Raumpunkt ist ein skalarer Wert zugeordnet und aus der Funktion Φ(x, y, z) erhält man durch Bildung des Vektors aller partiellen Ableitungen das ⇀

elektrische Feld E

𝜕Φ (x, y, z) Ex (x, y, z) 𝜕x 𝜕Φ E = (Ey (x, y, z) ) = −grad Φ(x, y, z) = − ( 𝜕y (x, y, z)) . 𝜕Φ Ez (x, y, z) (x, y, z) 𝜕z



15. Wenn Sie diesen Zusammenhang in die Maxwell-Gleichung einsetzen, vereinfacht sich die Beziehung. Statt einer Differentialgleichung in den Vektorkomponenten erhalten wir jetzt eine partielle Differentialgleichung zweiter Ordnung im Potential Φ, die sogenannte Poisson-Gleichung: ⇀

div E =

ρ ρ = −󳵻Φ = 𝜖0 𝜖r 𝜖0 𝜖r

Wie kann man das Problem weiter vereinfachen? Zunächst vernachlässigen wir die innere Struktur der Adsorptionsschicht, indem wir sie als eine ausgedehnte homogene Schicht betrachten, die eine gewisse Flächenladungsdichte besitzt. Die Gegenionen müssen die Ladung der Grenzfläche kompensieren. Das Problem wird ferner nur vom Abstand der Grenzfläche z abhängen ρ 𝜕2 Φ = − freie Ladungen . 2 𝜕z 𝜖0 𝜖r Aus einer partiellen Differentialgleichung wird eine gewöhnliche. 16. Das stimmt. Die entscheidende Schwierigkeit ist aber, dass in der Differentialgleichung sowohl die Ladungsdichte ρ als auch das Potential Φ vorkommen. Durch welche Überlegungen kann man die Ladungsdichte der Ionen eliminieren? Denken Sie mal an die Aussagen des Boltzmannschen Satzes und was die Energie eines Ions in Lösung bestimmt! Es gibt ein elektrisches Potential, das von allen Ladungen des Systems erzeugt wird. Die analytische Form dieses Potential ist aber noch nicht bekannt. Die Energie eines Ions mit der Ladung q im elektrischen Potential ist durch den Ausdruck q ⋅ Φ gegeben. An dieser Stelle wird ein Meanfield-Ansatz gewählt. Es wird angenommen, dass ein herausgegriffenes Ion ein Potential sieht, das nur von der z-Richtung abhängt und nicht von der genauen, augenblicklichen Posi-

4.11 Fiktive Prüfungsgespräche

| 329

Abb. 4.17: Als Kompromiss zwischen der energetisch günstigsten, regelmäßigen Anordnung und der entropisch bevorzugten, vollkommen regellosen Verteilung ergibt sich ein Zustand der zwischen diesen beiden Extremen liegt. Es kommt zur Ausbildung der sogenannten SternDoppelschicht, die ihrerseits aufgebaut ist aus einer relativ nah gebundenen Ionenschicht und einer zweiten, diffusen Ionenschicht.

tion eines jeden Ions in der Lösung. Die Näherungen sind daher konzeptionell ähnlich zur Zentralfeldnäherung in der Quantenmechanik zur Beschreibung eines Elektrons in einem komplexen Atom. Auch hier wird ein gemitteltes, effektives Potential V(r) eingeführt, das am Ort des Elektron von allen anderen erzeugt wird und nur von der Elektronenkoordinate abhängt. Diese Überlegungen finden in der Elektrolytlösung in analoger Weise Anwendung. Das effektive Potential ist allein eine Funktion der z-Koordinate. Ferner sind alle Voraussetzungen des Boltzmannschen e-Satzes erfüllt. Es werden viele Teilchen in einem Gleichgewichtszustand betrachtet. Die Verteilung der Ionen im System muss daher dem Boltzmannschen e-Satz genügen ci = c0 exp (−

qΦ ). kB T

Die Größe ci beschreibt die lokale Konzentration der Ionen in Lösung. Dies ist in der Tat die entscheidenden Überlegung. Wir kommen jetzt von der Poisson-Gleichung zur Poisson–Boltzmann-Gleichung, einer gewöhnlichen Differentialgleichung in der Größe Φ c qΦ 𝜕2 Φ ). = − 0 exp (− 𝜕z2 𝜖0 𝜖r kB T Diese Gleichung kann durch eine Reihenentwicklung linearisiert werden, die einfach gelöst werden kann. Das Potential fällt exponentiell mit dem Abstand von der Grenzfläche ab. Die Exponentialfunktion kann in einer Reihe entwickelt werden. Bricht man nach dem ersten Term ab, so kann die resultierende Differentialgleichung einfach gelöst werden. Das Potential Φ(z) fällt exponentiell ab. Die Abklingkonstante κ

330 | 4 Kinetik und Elektrochemie definiert das Inverse der Debye-Länge, einer weiteren wichtigen Größe zur Charakterisierung von Elektrolytlösungen Φ(z) = Φ0 exp (−κz).

4.11.4 Standardbildungsenthalpien, Lösungswärme 1.

Manche chemische Reaktionen verlaufen exotherm, andere endotherm. Welche thermodynamische Größe beschreibt die Wärmeproduktion einer chemischen Reaktion? Der Wärmeumsatz einer chemischen Reaktion wird mit der Reaktionsenthalpie Δr H beschrieben. Diese Reaktionswärme ergibt sich aus der Differenz der Enthalpien der Produkte und Edukte, die an der Reaktion beteiligt sind. Für die allgemeine Reaktion |𝜈A |A + |𝜈B |B 󴀕󴀬 |𝜈C |C + |𝜈D |D gilt k

Δr H = ∑ 𝜈i hi (T, p) = 𝜈C hC + 𝜈D hD − |𝜈A |hA − |𝜈B |hB . i=1

2.

Dabei stehen die hi für die molaren Enthalpien der Reinstoffe. Die bei einer Reaktion umgesetzte Wärme kann demnach alleine mit Größen beschrieben werden, die bereits durch die Reinstoffe festgelegt sind. Die Enthalpien hi , die Sie hier nutzen, sind die Standardbildungsenthalpien. Viele thermodynamische Größen sind bei Standardbedingungen tabelliert. Was versteht man darunter? Die Enthalpie hi hängt von Druck p und Temperatur T ab. Als Standardbedingungen wurde ein bestimmter Druck und eine bestimmte Temperatur vereinbart. Dabei wird in älteren Tabellenwerken eine Temperatur von 298,15 K und ein Druck von 1 atm = 1,013 bar als Standardzustand gewählt, während neuere Tabellenwerke 298,15 K und p = 1 bar als Standardzustand definieren. Die Reaktionsenthalpie Δr H 0 entspricht der Reaktionswärme, die bei vollständigem Ablaufen der Reaktion, entsprechend der gegebenen Reaktionsgleichung, von den Edukten zu den Produkten unter Standardbedingungen umgesetzt wird k

Δr H 0 = ∑ 𝜈i h0i (T, p) = 𝜈c h0 (C) + 𝜈d h0 (D) − |𝜈A |h0 (A) − |𝜈B |h0 (B). i=1

3.

Wird Energie frei, wird die Reaktion als exotherm bezeichnet, wird im Verlauf der Reaktion Wärme aufgenommen, spricht man von endothermen Reaktionen. Die wenigsten Reaktionen laufen bei Standardbedingungen ab. Was nützt mir dann die obige Angabe? Kann man nur Aussagen über Reaktionen treffen, die bei Standardbedingungen ablaufen?

4.11 Fiktive Prüfungsgespräche

| 331

Durch geeignete thermodynamische Relationen kann auch die Reaktionswärme bei anderen Druck- und Temperaturpaaren erhalten werden. Ist die Temperaturabhängigkeit der Wärmekapazität der einzelnen Reaktionspartner bekannt, kann die Enthalpie auf andere Temperaturen umgerechnet werden. Die Änderung der molaren Enthalpie hi mit der Temperatur T definiert die molare Wärmekapazität cp : 𝜕h ( ) = cp 𝜕T p Die Integration des funktionalen Zusammenhangs cp (T) liefert die Enthalpie bei der gesuchten Temperatur. Dabei wird die Enthalpie bei der gewünschten Temperatur T1 in Zusammenhang mit der Enthalpie bei der Bezugstemperatur T0 gesetzt. Der Unterschied zwischen diesen beiden Werten ist durch die aufsummierte Änderung der Wärmekapazität mit der Temperatur gegeben, die ebenfalls einen Enthalpieterm repräsentiert T1

h(T1, p0) = h(T0, p0 ) + ∫ cp dT. T0

Die Druckabhängigkeit der Enthalpie kann über die thermische Zustandsgleichung, das heißt, dem funktionellen Zusammenhang zwischen Druck, Volumen und Temperatur f (p, T, V), erhalten werden. Die gesuchte Abhängigkeit ergibt sich aus der Maxwell-Relation der Gibbs-Energie. 4. In den Datenbanken und Tabellenwerken findet man Standardbildungsenthalpien Δf H 0 chemischer Verbindungen aufgelistet. Die Standardbildungsenthalpie von Methan Δf H 0 beträgt −78,9 kJ mol−1. Was sagt diese Größe aus? Die Standardbildungsenthalpie eines Stoffes ist definiert als die Reaktionsenthalpie einer chemischen Reaktion, die 1 mol des gewünschten Stoffs aus den Elementen unter Standardbedingungen bildet. Die Elemente sollen dabei in ihrer stabilsten Modifikation vorliegen. Aus dieser Definition folgt unmittelbar, dass die Standardbildungsenthalpie der Elemente in ihrer stabilsten Modifikation Null ist. Im Fall von Methan dienen Kohlenstoff in der stabilsten Modifikation Graphit und gasförmiger Wasserstoff als Edukte. Ob diese Reaktion tatsächlich so durchführbar ist, spielt für die Berechnung der Standardbildungsenthalpie zunächst keine Rolle. Die Änderung einer Zustandsgröße ist nur durch den Anfangs- und Endzustand bestimmt und für alle denkbaren Prozesswege gleich. Verbrennungsenthalpien spielen eine Schlüsselrolle zum Aufbau des Systems der Standardbildungsenthalpien. 5. In der Elektrochemie ist die Beschreibung von Ionen in wässrigen Medien von großer Bedeutung. In den Tabellenwerken findet man Standardbildungsenthalpien Δf H 0 einzelner Ionen aufgelistet. Was ist darunter zu verstehen? Ionen können doch nicht einzeln gebildet werden. Bei der Dissoziation eines Elektrolyten entsteht aus Gründen der Elektroneutralität immer ein Kation und ein Anion. Diskutieren wir das mal

332 | 4 Kinetik und Elektrochemie am Beispiel von Chlorwasserstoff, dessen Standardbildungsenthalpie Δf H 0 einen Wert von −92,3 kJ mol−1 annimmt. Die Standardbildungsenthalpie von Chlorwasserstoff ist die Reaktionsenthalpie der folgenden Reaktion 1 Cl 2 2

+ 12 H2 󳨀 󳨀󳨀 → HCl

Δr H 0 = −92,3 kJ mol−1 = Δf H 0 (HCl).

mit

In einem nächsten Schritt wird 1 mol HCl in einem großen Überschuss von Wasser gelöst und die Lösungswärme mit einem Kalorimeter bestimmt + − HCl 󳨀 󳨀󳨀 → Haq + Claq

mit

ΔL H 0 (HCl) = −75,1 kJ mol−1 .

Die Kombination der beiden Prozesse liefert damit die Standardbildungsenthalpie für 1 mol des Ionenpaars in einer verdünnten Lösung 1 H 2 2

6.

+ − + 12 Cl2 󳨀 󳨀󳨀 → Haq + Claq

mit

Δf H 0(H+ Cl− )aq = −167,4 kJ mol−1 .

Um einzelnen Ionen eine Standardbildungsenthalpie zuschreiben zu können, wird in einer willkürlichen Festlegung die Standardbildungsenthalpie des Wasserstoffions H+ in einer stark verdünnten Lösung gleich Null gesetzt, also Δf H 0 (H+aq ) = 0 kJ mol−1 . Die Standardbildungsenthalpien aller weiteren Ionen beziehen sich damit auf diesen künstlich geschaffenen Referenzwert. Das Chloridion erhält damit eine Standardbildungsenthalpie Δf H 0(Claq– ) von −167,4 kJ mol−1 . Das Auflösen eines Salzes in Wasser kann exotherm oder endotherm sein. Löst man Ammoniumchlorid in Wasser, so sinkt die Temperatur der Lösung. Dieser Effekt wird in Kühlkompressen zur Behandlung stumpfer Sportverletzungen genutzt. In den Kompressen befindet sich in separaten Kompartimenten Wasser und Ammoniumchlorid. Durch Kneten der Kompresse werden beide gemischt, das Salz löst sich und das Wasser wird durch den endothermen Lösungsvorgang abgekühlt. Ich gebe Ihnen eine Tabelle mit den benötigten Standardbildungsenthalpien und hätte gerne den Rechenweg für folgende Aufgabe skizziert: Wieviel Gramm Salz benötigt man, um 180 ml Wasser von Raumtemperatur auf null Grad Celsius abzukühlen. Zu betrachten ist dabei der Lösungsprozess des Salzes, dem die Reaktionsenthalpie zugeordnet werden soll: + − NH4Cl 󳨀 󳨀󳨀 → NH4aq + Claq

Die Enthalpie ΔL H 0 (NH4 Cl), die mit dem Lösungsprozess verknüpft ist, ergibt sich aus der Enthalpiedifferenz der Produkte und Edukte der Reaktion. Die Standardbildungsenthalpien Δf H 0 von 1 mol NH4 Cl beträgt −314,55 kJ mol−1 . Dieser Wert bezieht sich auf die Bildung von einem Mol Salz im festen kristallinen Zustand bei Standardbedingungen aus den Elementen. Die Standardbildungsenthalpien der beiden hydratisierten Ionen im Zustand unendlicher Verdünnung betragen nach der Tabelle: (NH4+ )aq : Δf H 0 = −132,8 kJ mol−1

− bzw. Claq : Δf H 0 = −167,4 kJ mol−1

4.11 Fiktive Prüfungsgespräche

|

333

Die Lösungsenthalpie ergibt damit: ΔL H 0 (NH4 Cl) = Δf H 0 (NH4 ) + Δf H 0 (Cl− ) − Δf H 0 (NH4 Cl), +

= (−167,4 − 132,8 + 314,55) kJ mol−1 = 14200 J mol−1 Jetzt wird noch die Stoffmenge n benötigt, die 180 ml Wasser entspricht. Die Dichte von Wasser ist 1 g/cm3, damit entsprechen 180 ml einer Masse von 180 g beziehungsweise einer Stoffmenge von 10 mol. Die molare Wärmekapazität cp des Wassers beträgt 75 J K−1 mol. Damit muss der Lösung eine Wärmemenge ΔQp entzogen werden, die sich unter Annahme konstanter Wärmekapazität auf dem betrachteten Temperaturintervall wie folgt berechnet: ΔQp = ncp (T2 − T1 ) = 10 mol ⋅ 75 J K−1 mol ⋅ (293 − 273) K = 15000 J Diese Energie kann dem Wasser durch Lösen der folgenden Stoffmenge entzogen werden: 15000 J nNH4 Cl = = 1,06 mol 14200 J mol−1 Bei einer molaren Masse M von 53,5 g mol entspricht das einer Masse von 56 g an zu lösendem Ammoniumchlorid.

Anhang Mathematischer Leitfaden In diesem Anhang werden einige mathematische Grundlagen kompakt dargestellt.

A.1 Funktionen mit mehreren Veränderlichen A.1.1 Zeichnerische Darstellungen Funktionen mehrerer Veränderlicher sind täglich Brot in der Physik und der physikalischen Chemie. Ein einfaches Beispiel wäre die Abhängigkeit des Drucks p eines Gases von den zwei Variablen Temperatur T und Volumen V. Wir müssen solche Abhängigkeiten verstehen und diskutieren. Funktionen von zwei Veränderlichen lassen sich direkt graphisch veranschaulichen. Eine topographische Landkarte weist jedem Punkt (x, y) in der Ebene eine bestimmte Höhe zu. Die Funktion wird dann durch ihre Höhenlinien illustriert. Diese geben an, wo die Funktion einen bestimmten Wert annimmt. Die Höhenlinien (Äquipotentiallinien) werden in einem bestimmten Abstandsraster gezeichnet. Dort wo sie gedrängt sind, ändert sich die Funktion sehr stark, dort wo sie weit auseinander liegen, ändert sich die Funktion kaum.

Abb. A.1: Landkarte zur Veranschaulichung des Konzepts von Funktionen mehrerer Veränderlicher.

Gerne verwendet man noch Farben um den räumlichen Funktionsverlauf besser zu erfassen. Die Variablen x und y stellen bei physikalischen Problemen ganz unterschiedliche Größen mit sehr unterschiedlichen Wertebereichen und physikalischen Einheiten dar.

A.1 Funktionen mit mehreren Veränderlichen

|

335

Die Zustandsgleichung für ein eines ideales Gas verknüpft die Zustandsgrößen Druck p, Temperatur T und Volumen V. Bezogen auf 1 mol lautet sie: pV = RT

(A.1)

Die Naturkonstante R = 8,314 J/(K mol) ist die sogenannte Gaskonstante. Wir können den Druck p als eine Funktion der beiden unabhängigen Variablen V und T betrachten. Wir dürfen über die Temperatur und das Volumen frei verfügen, der zugehörige Druck stellt sich dann automatisch ein, er ist durch die Wahl der beiden unabhängigen Größen V und T vorgegeben p = f (V, T) =

RT . V

(A.2)

Druck

Diese Funktion ist in der nachfolgenden Abbildung dargestellt:

Temperatur

Volumen

Abb. A.2: Dreidimensionale Darstellung des Drucks p als Funktion der Variablen Volumen V und Temperatur T .

Komplizierter wird es, wenn die Funktion von drei Variablen abhängt. Hier kennzeichnet man die Funktion durch ihre Äquipotentialflächen; ein Beispiel wäre der Temperaturverlauf T(x, y, z) im Raum (x, y, z). Es lohnt sich, eine symbolische Programmiersprache wie Mathematica, Mathcad oder Maple zu lernen. Hier lassen sich die Abhängigkeiten schnell visualisieren. Modelle können ohne vereinfachende Annahmen durchgerechnet und illustriert werden.

A.1.2 Partielle Ableitung Bei einer reellen Funktion mit einer Variablen y = f (x) war die Ableitung als der Grenzwert des Differenzenquotienten definiert: f 󸀠 (x) =

f (x + h) − f (x) df (x) = lim h→0 dx h

(A.3)

336 | Anhang Mathematischer Leitfaden Die Ableitung f 󸀠 (x) gibt die Steigung der Tangente an die Funktion y = f (x) im Punkt x an. In analoger Weise definiert man für Funktionen mit mehreren Veränderlichen: ⇀

Sei D eine offene Menge des euklidischen Raums Rn und f : D → R mit f ( x ) = f (x1 , x2 , ⋅ ⋅ ⋅ xn ) ⇀

eine Funktion mehrerer Veränderlicher. Sei weiterhin x = (x1 , x2 , ⋅ ⋅ ⋅ , xn ) ein Element von D. Die partielle Ableitung von f nach der Variable xi ist als folgender Grenzwert definiert: 𝜕f ⇀ f (x1 , . . . , xi + h, . . . , xn ) − f (x1 , . . . , xi , . . . , xn ) ( x ) := lim 𝜕xi h→0 h

(A.4)

Mathematiker diskutieren intensiv die Frage, wann die Ableitung existiert. Die Voraussetzungen sind in aller Regel bei allen Funktionen der physikalischen Chemie erfüllt. Die partielle Ableitung nach xi ist selbst eine Funktion mehrerer Veränderlicher. Als abkürzende Schreibweise schreibt man auch mitunter: 𝜕f = fx 𝜕x

oder

𝜕f = 𝜕x f 𝜕x

(A.5)

f (x,y)

Die Bedeutung der partiellen Ableitung ist in den folgenden Abbildungen illustriert:



− .

. x

.

.

y −

Abb. A.3: Bedeutung der partiellen Ableitung der Funktion f (x, t) in Richtung y.

Die eingezeichnete Kurve y → k(y) entspricht k(y) := f (x, y) bei festem x, die Kurve x → g(x) ist durch g(x) = f (x, y) bei festem y gegeben. Diese Kurven können lokal durch eine Gerade, die Tangente an den betreffenden Punkt, approximiert werden. Die partielle Ableitung entspricht der Steigung der Tangente in der x-Richtung oder y-Richtung. In der Abbildung sind die entsprechenden Tangenten in dem Punkt (x,̄ y)̄ eingezeichnet. Das Konzept der partiellen Ableitung weist folgende Schwächen auf: – Aus der Existenz der partiellen Ableitung kann noch nicht auf die Differenzierbarkeit in eine beliebige Richtung geschlossen werden! Dies wird erst durch die

f (x,y)

A.1 Funktionen mit mehreren Veränderlichen

|

337



− .

. x

.

.

y −

Abb. A.4: Bedeutung der partiellen Ableitung der Funktion f (x, t) in Richtung x.

Forderung geheilt, daß die partiellen Ableitungen überall auf dem offenen D existieren und stetige Funktionen sind. Glücklicherweise sind Funktionen in der Physik meistens recht friedlich. Praktisch können Sie Ihr Schulwissen aus der Differentialrechnung über Funktionen einer Veränderlichen y = f (x) direkt auf die partiellen Ableitungen übertragen. Alle Rechenregeln gelten analog. Bei der partiellen Ableitung von f (x, y, z) nach y betrachten Sie nur y als Variable, die anderen Variablen des Systems x und z behandeln Sie einfach wie Konstanten. Dies drückt man in der physikalischen Chemie zusätzlich durch die tiefgestellten Indizes nach der Klammer explizit aus. In der Mathematik ist dies dagegen nicht üblich, die zusätzliche Information ist nur ein Pleonasmus. Es sei beispielsweise folgende Funktion gegeben: f (x, y, z) = sin(x2 y) + xz2

(A.6)

Die nachfolgende Anweisung lautet, differenziere nach y und halte dabei x und z konstant: 𝜕 ( f (x, y, z)) = cos(x2 y) ⋅ x2 (A.7) 𝜕y xz

A.1.3 Satz von Schwarz Der Satz von Schwarz sagt aus, dass höhere gemischte partielle Ableitungen unabhängig von der Reihenfolge der Differenziation sind. Sei: f : D ⊂ Rn → R, f sei stetig partiell differenzierbar. Falls die partielle Ableitung 𝜕2f /𝜕y𝜕x existiert und stetig ist, so existiert auch 𝜕2 f /𝜕x𝜕y und es gilt: 𝜕f 𝜕f 𝜕 𝜕 [( ) ] = [( ) ] 𝜕y 𝜕x y x 𝜕x 𝜕y x y

(A.8)

338 | Anhang Mathematischer Leitfaden Die Aussage dieses Satzes soll an einem Beispiel illustriert werden: f (x, y, z) = ex yz2,

(A.9)

𝜕f (x, y, z) = ex ⋅ y ⋅ z2 , 𝜕x 𝜕f (x, y, z) = ex ⋅ z2 , 𝜕y 𝜕f (x, y, z) = ex ⋅ y ⋅ 2z 𝜕z Gemischte höhere Ableitungen:

(A.10) (A.11) (A.12)

𝜕2 f (x, y, z) = ex ⋅ y ⋅ 2z, (A.13) 𝜕z𝜕x 𝜕2 f (x, y, z) = ex ⋅ y ⋅ 2z (A.14) 𝜕x𝜕z Mit anderen Worten: Es ist egal, ob man die Funktion erst nach x und dann nach z differenziert oder umgekehrt, das Ergebnis bleibt davon unberührt. Dieser Satz gilt auch für höhere Ableitungen, wenn diese existieren und stetig sind. Der Satz von Schwarz wird in der Thermodynamik häufig genutzt. Er führt zu den überaus wichtigen Maxwell-Relationen. Diese erlauben es, schwer fassbare Größen wie die Volumenabhängigkeit der Entropie auf ein einfaches Experiment, nämlich die Messung der Abhängigkeit des Volumens von der Temperatur bei festem Druck, zu reduzieren.

A.1.4 Gradient ⇀



Der Gradient einer Funktion mehrerer Veränderlicher x → f ( x ) ist definiert als der Vektor aller partiellen Ableitungen. Er existiert daher nur an den Stellen, an denen ⇀



f bezüglich aller Koordinaten partiell differenzierbar ist. Er wird als ∇f ( x ) (Nabla⇀ Operator) oder als gradf ( x ) geschrieben. Für eine Funktion f (x, y, z) im dreidimensionalen Raum ist der Gradient in kartesischen Koordinaten gegeben durch: ⇀

grad f (x, y, z) = ∇f (x, y, z) =

𝜕f (x, y, z) 𝜕x 𝜕f ( 𝜕y (x, y, z)) 𝜕f (x, y, z) 𝜕z

(A.15)

Der Nabla-Operator wird in der Physik häufig gebraucht, da sich damit viele Sachverhalte einfach formulieren lassen. Er ist ein Operator, der auf eine Funktion einwirkt. Hier bedeutet es: Bilde den Vektor der partiellen Ableitungen der Funktion 𝜕/𝜕x ∇ = (𝜕/𝜕y) . 𝜕/𝜕z



(A.16)

A.1 Funktionen mit mehreren Veränderlichen

|

339

Der Gradient ist ein Vektor mit interessanten Eigenschaften: Der Gradient steht senkrecht auf den Äquipotentialflächen der Funktion. Er zeigt in die Richtung der größten Funktionsänderung, sein Betrag ist proportional zur Funktionsänderung. Befindet man sich an einem lokalen Minimum oder Maximum oder einem Sattelpunkt, so ist der Gradient an dieser Stelle gerade der Nullvektor.

– – –

Einige Sachverhalte der Physik lassen sich elegant durch den Gradienten ausdrücken. Wir wollen die Eigenschaften des Gradienten an einem einfachen Beispiel illustrieren. Es sei gegeben f : R2 → R: f (x, y) = x2 + y2 (A.17) Dann ist der Gradient der Funktion: ⇀ 2x grad f (x, y) = ∇f (x, y) = ( ) 2y

(A.18)

Die folgende Abbildung zeigt eine Höhenliniendarstellung der Funktion. Die Äquipotentiallinien sind Kreise, das Minimum der Funktion liegt bei (0, 0). In Mathematica wird ein solcher Plot durch die folgende Programmzeile erstellt: ContourPlot [x˄2 + y˄2, {x, –3, 3}, {y, –3, 3}] 3

2

1

0

–1

–2

–3 –3

–2

–1

0

1

2

3

Abb. A.5: Aquipotentiallinien der Funktion f (x, y) = x 2 + y 2 , ferner ist der Gradient und die Tangente an einen Punkt der Aquipotentiallinie eingezeichnet.

Eingezeichnet sind ferner der Gradient sowie der zugehörige Tangentenvektor an einen ausgewählten Punkt auf der Äquipotentiallinie der Funktion. 0 An der Stelle x = 0, y = 1 ist der Gradient durch folgenden Vektor gegeben: ( ). 2 1 Er steht offensichtlich senkrecht auf dem entsprechenden Tangentenvektor ( ). Das 0

340 | Anhang Mathematischer Leitfaden Skalarprodukt beider Vektoren verschwindet 0 1 ( ) ⋅ ( ) = 0 ⋅ 1 + 2 ⋅ 0 = 0. 2 0 Durch die Zylindersymmetrie des Problems gilt dies ganz allgemein. Der Radiusvektor steht senkrecht auf der Tangente der Höhenlinien. Man entnimmt der Grafik ferner, dass der Gradient in die Richtung der stärksten Funktionsänderung weist; er zeigt in die Richtung, in der die Höhenlinien dichter verlaufen.

A.1.5 Anwendungen des Gradienten A.1.5.1 Minimierung einer Potentialfläche Die Energie eines Moleküls hängt in komplexer Weise von der Anordnung aller Atome im Raum ab. Die Konformation, die einem Energieminimum entspricht, erhält man durch numerische Minimierungsalgorithmen. Man berechnet die Energie für unterschiedliche Geometrien und erhält so eine komplizierte Energiehyperfläche. Danach sucht man dann die Konformation, die dem globalen Minimum entspricht. Bei der Lösung dieser Aufgabe spielt der Gradient eine wichtige Rolle. Der Gradient weist immer in die Richtung der stärksten Funktionsänderung. Wie findet man den Punkt mit minimaler Höhe in einer Gebirgslandschaft? Betrachten wir mal einen Skifahrer in den Alpen. Eine Möglichkeit, dass Minimum zu finden, besteht darin, den Skifahrer immer in die Richtung der steilsten Änderung (Gradient) fahren zu lassen. Damit man nicht in einem lokalen Minimum gefangen wird, startet man in unterschiedlichen Positionen und vergleicht die gewonnenen lokalen Minima. Dieses anschauliche Bild illustriert eine mögliche Programmierstrategie für ein komplexes Minimierungsproblem einer multidimensionalen Energiefläche.

A.1.5.2 Elektrisches Feld Quelle eines elektrischen Feldes in der Elektrostatik ist die Ladung. Das elektrische ⇀

Feld ist ein Vektorfeld. Jedem Punkt (x, y, z) im Raum ist ein Vektor E(x, y, z) zugeordnet. Das elektrische Feld kann aber auch einfacher durch ein einfaches skalares Feld, das elektrische Potential Φ(x, y, z), beschrieben werden. Hier wird jedem Punkt (x, y, z) im Raum eine skalare Größe Φ(x, y, z) zugeordnet. Der zugehörige elektrische Vektor ⇀

E ist der negative Gradient von Φ: 𝜕Φ (x, y, z) Ex (x, y, z) 𝜕x 𝜕Φ E = (Ey (x, y, z)) = −grad Φ(x, y, z) = − ( 𝜕y (x, y, z)) 𝜕Φ Ez (x, y, z) (x, y, z) 𝜕z



Eine Ladung q im Ursprung erzeugt das Potential ⇀ q Φ( r ) = 𝛾 . r

(A.19)

(A.20)

A.1 Funktionen mit mehreren Veränderlichen

| 341 ⇀

Das elektrische Feld lässt sich als Gradient des elektrischen Potentials Φ( r ) darstellen, 𝛾 ist eine Systemkonstante, r der Abstand vom Ursprung: ⇀



E( r ) = −grad Φ( r ) = 𝛾



q r ⋅ ⇀ 2 r |r|

(A.21)

Vektorfelder können durch Pfeile dargestellt werden, die Länge der Pfeile ist proportional zum Betrag des Vektors. Die nachfolgende Abbildung zeigt das elektrische Feld einer geladenen Kugel. Feld und Ladungsverteilung sind kugelsymmetrisch.

+

Abb. A.6: Das elektrische Feld einer geladenen Kugel.

Nicht alle Felder lassen sich durch ein Potential darstellen. Physiker beschäftigen sich daher auch mit der Frage, welche Vektorfelder ein Potential besitzen.

A.1.5.3 Kräfte als Gradient eines skalaren Potentials ⇀ Viele Kräfte F lassen sich als Gradient eines skalaren Potentials V(x, y, z) darstellen. Somit können Rechnungen signifikant vereinfacht werden.

A.1.5.4 Transportphänomene: Diffusion, Wärmeleitung Die treibende Kraft für die Diffusion ist ein Konzentrationsgradient. In einem abgeschlossenen System bewirkt Diffusion den Abbau von Konzentrationsunterschieden. Nach dem ersten Fickschen Gesetz ist die Teilchenstromdichte j (mol m2 s−1 ) proportional zum Konzentrationsgradienten entgegen der Diffusionsrichtung. Die Proportionalitätskonstante ist der Diffusionskoeffizient D (m2 s−1 ). Es gilt: ⇀

j = −D ⋅ grad c(x, y, z)

In analoger Weise bewirkt ein Temperaturgradient einen Wärmefluss.

(A.22)

342 | Anhang Mathematischer Leitfaden A.1.6 Richtungsableitung Die partielle Ableitung beschreibt die Steigung in einer ausgezeichneten Richtung, zum Beispiel der x Richtung. Wie aber erhält man die Steigung der Funktion in einer ⇀ ⇀ beliebigen Richtung a/| a|? Die gesuchte Größe liefert die sogenannte Richtungsableitung, die sich aus dem ⇀ ⇀ Skalarprodukt des Gradienten der Funktion mit dem Einheitsvektor a/| a| in der gewählten Richtung errechnet ⇀ 𝜕f a = (A.23) ⇀ ⇀ ⋅ grad f . 𝜕 a |a |

A.1.7 Differenzierbarkeit Was hieß die Differenzierbarkeit einer Funktion y = f (x) einer Veränderlichen? Wir definierten: Eine Funktion y = f (x) ist dann differenzierbar, wenn sie lokal durch eine Gerade approximiert werden kann: f (x0 + h) = f (x0 ) + ah + R(x0 , h)

(A.24)

mit a ∈ R und a = f 󸀠

R(x0 , h) = 0. (A.25) h Die Gerade beschreibt das Verhalten der Funktion für kleine Abweichungen vom Ausgangspunkt x0 , zum Beispiel kann die Funktion y = sin x an der Stelle x = 0 lokal durch die Gerade y = x beschrieben werden. Diese Näherung ist im Intervall x = [−π/20, −π/20] brauchbar. Natürlich macht man bei dieser Näherung einen Fehler, der vom Term R(x0, h) erfasst wird. Er beschreibt die Abweichung zwischen der lim

h→0

y(x)

y(x1 )

y(x2 )

x1

x2

x

Abb. A.7: Differenzierbarkeit einer der Funktion y(x).

A.1 Funktionen mit mehreren Veränderlichen

|

343

Gerade und der Funktion. Der Term R hängt von höheren Potenzen von h ab und verschwindet bei der Annäherung h → 0 gemäß Gleichung (A.25). Die Größe a ist gerade die erste Ableitung der Funktion f 󸀠 . Begründung: R(x0 , h) = f (x0 + h) − f (x0 ) − ah,

(A.26)

R(x0 , h) f (x0 + h) − f (x0 ) = − a, h h R(x0 , h) df = (x ) − a = 0 lim h→0 h dx 0

(A.27) (A.28)

In völliger Analogie definieren wir eine lineare Approximation für Funktionen mit n Variablen D ⊂ Rn → R ⇀













f ( x 0 + h ) = f ( x 0) + a ⋅ h + R( x 0 , h ).

(A.29)

Die linearen Funktionen D, die einer Zahl aus dem Raum Rn eine Zahl aus dem ⇀ ⇀ Raum R (kurz D ⊂ Rn → R) zuordnen, sind durch das Skalarprodukt a ⋅ x eines fixen ⇀ ⇀ Vektors a und eines beliebigen Vektors x ∈ Rn gegeben ⇀

⇀ ⇀

φ( x ) = a ⋅ x .

(A.30)

Die ersten beiden Terme in Gleichung (A.29) definieren die Tangentialebene an die ⇀ Funktion mit einem Berührpunkt bei x 0 . Das Funktionsverhalten kann lokal durch die lineare Funktion approximiert werden. Beispiel: f (x, y) = x2 y,

(A.31)

2

f (x0 + h, y0 + k) = (x0 + h) (y0 + k), = =

(A.32)

(x20 + 2x0 h + h2 )(y0 + k), x20 y0 + 2x0y0 h + x20 k + 2x0hk

= x20 y0 + (

(A.33) 2

2

+ h y0 + h k,

(A.34)

⇀ ⇀ 2x0y0 h 2 ) ( ) + R( x o , h), k x0 ⇀

= f (x0 , y0) + grad f ⋅ h



(A.35)



R( x o , h )

+

(A.36)

Der lineare Teil der Funktion wird gerade durch das Skalarprodukt des Gradienten mit ⇀





dem Richtungsvektor h beschrieben. Der Rest R( x o , h ) hängt von höheren Potenzen ⇀



von h und k ab, für kleine Werte von h und k kann der Beitrag von R( x 0 , h) vernachlässigt werden. Das Verhalten des Systems wird zufriedenstellend durch den linearen Teil beschrieben. Die folgende Abbildung illustriert diesen Sachverhalt. Die Funktion wird lokal durch eine Ebene approximiert:

f (x,y)

344 | Anhang Mathematischer Leitfaden

y x

Abb. A.8: Lineare Approximation einer der Funktion f (x, y) durch eine Ebene, die durch die Gradienten in x- und y-Richtung sowie den Punkt, an dem die Funktion f (x, y) approximiert werden soll, festgelegt ist.

Offensichtlich klappt dies nicht, wenn die Funktion Spitzen oder Kanten aufweist. An diesen pathologischen Stellen ist die Funktion nicht differenzierbar. Die Grenzwerte gemäß Gleichung (A.4) existieren, hängen aber von der Richtung ab.

A.1.8 Totales Differential Die Größe ⇀

df = grad f ⋅ d x

dx1 dx 2 ⇀ mit d x = ( . ) .. dxn

(A.37)

wird als totales (vollständiges) Differential bezeichnet. Sie beschreibt den Zuwachs der Funktion, die selbst linear approximiert wird. Diese Näherung ist umso besser, ⇀ je kleiner die Größen dxi sind. Bitte beachten Sie: Die Komponenten des Vektors d x sind reelle Zahlen und nicht etwa „unendlich kleine Größen“, was immer auch dies heißen soll. Ein Mathematiker könnte unendlich kleine Größen gar nicht definieren, ein bisschen mehr als nichts? Stattdessen betrachtet man in der Mathematik Grenzwertprozesse. Unendlich große Mengen können dagegen klar definiert werden, dies wäre eine Menge von Objekten von der man eine endliche Teilmenge entfernen kann, ohne deren Größe zu verändern. Eine Menge ist unendlich, falls sie zu einer echten Teilmenge gleichmächtig ist.

A.1.9 Extremwerte Zur Bestimmung eines Extremwertes für Funktionen einer Veränderlichen y = f (x) wertet man die erste Ableitung = Steigung der Tangente aus. Eine notwendige Bedin-

A.1 Funktionen mit mehreren Veränderlichen

| 345

gung für Extremwerte ist: dy =0 (A.38) dx Hinter dieser Forderung verbirgt sich eine einfache Idee: Solange die Steigung der Tangente positiv ist, besitzen benachbarte Punkte einen größeren Funktionswert. Erst wenn auf einen Anstieg ein Abstieg erfolgt, hat man das lokale Maximum oder Minimum gefunden. Genau dies drückt die obige Forderung aus. Diese Forderung gilt streng genommen nur, wenn der Definitionsbereich offen ist, sonst sind Randmaxima möglich. Randpunkte müssen immer separat betrachtet werden. Analog erhält man kritische Punkte für Funktionen mehrerer Veränderlicher durch das Auswerten der folgenden Bedingung: f 󸀠 (x) =



gradf = 0

(A.39)

f (x,y)

Dieser Sachverhalt ist in der nachfolgenden Abbildungen für eine Funktion von zwei Veränderlichen illustriert.

y x

Abb. A.9: Die Extremwerte einer Funktion f (x, y) werden an den Stellen gefunden, an denen die partiellen Ableitungen nach allen Variablen den Wert Null annehmen. Allgemeiner lautet die Bedingung für die Existenz von Extremwerten ⇀ grad f = 0.

A.1.10 Extremwerte mit Nebenbedingungen Suche die Extrema der folgenden Funktion f (x, y) = y − x2

(A.40)

unter Berücksichtigung der Randbedingung x2 + y2 = 1.

(A.41)

Die Randbedingung kann als eine ausgewählte Äquipotentiallinie einer Funktion g(x, y) aufgefasst werden g(x, y) = x2 + y2 . (A.42) Die Randbedingung stellt den Einheitskreis dar.

346 | Anhang Mathematischer Leitfaden A.1.10.1 Graphische Veranschaulichung Die Äquipotentiallinien der obigen Funktion f (x, y) sind Parabeln. 1,5

1,0

0,5

0,0

–0,5

–1,0

–1,5 –1,5

–1,0

–0,5

0,0

0,5

1,0

1,5

Abb. A.10: Extremwerte unter Berücksichtigung von Nebenbedingungen.

Wir suchen die Extremwerte dieser Funktion auf dem Einheitskreis x2 + y2 = 1. Die kritischen Punkte sind an den Stellen, bei denen sich die Äquipotentiallinien der Funktionen g(x, y) und f (x, y) gerade berühren. Für diese Punkte gilt grad f = λ ⋅ grad g.

(A.43)

Die Gradientenvektoren stehen senkrecht auf den Äquipotentiallinien. Es resultieren drei Bestimmungsgleichungen für die drei Unbekannten (x, y, λ )

2

−2x = λ ⋅ 2x,

(A.44)

1 = λ ⋅ 2y,

(A.45)

2

x + y − 1 = 0.

(A.46)

Nicht alle kritische Punkte sind notwendiger weise Extremstellen. Die Analyse unseres Problems zeigt: Es ergibt sich ein Maximum bei x = 0, y = 1, λ = 1/2 und zwei √ Minima bei x = ± 23 , y = −1/2, λ = −1.

A.1.10.2 Lagrange-Verfahren Gesucht sind die Extremwerte einer Funktion ⇀



x → f (x)

unter Berücksichtigung der Nebenbedingung ⇀

g ( x ) = 0.

A.1 Funktionen mit mehreren Veränderlichen

|

347

Die Extremstellen ergeben sich durch die Auswertung des folgenden Gleichungssystems ⇀



grad f ( x ) = λ ⋅ grad g( x ),

(A.47)



g( x ) = 0.

(A.48)





Bei zwei Nebenbedingungen g1 ( x ) = 0 und g2 ( x ) = 0 lauten die entsprechenden Bedingungen: ⇀





grad f ( x ) = α grad g1 ( x ) + β grad g2 ( x ), ⇀

g1( x ) = 0,

(A.49) (A.50)



g2( x ) = 0.

(A.51)

A.1.10.3 Physikalische Interpretation der Lagrange-Multiplikatoren Wir suchen mögliche Ruhelagen einer Kugel in einem Gebirge. Auf die Kugel wirkt eine Kraft, die sich als Gradient eines Potentials V(x, y, z) darstellen lässt ⇀

F = −grad V(x, y, z).

(A.52)

Das Gebirge ist die Nebenbedingung. Sie lässt sich als eine ausgezeichnete Äquipotentialfläche einer Funktion g(x, y, z) beschreiben g(x, y, z) = 0.

(A.53)

Die entsprechende Äquipotentialfläche z(x, y) ergibt sich durch Auflösen von g(x, y, z) = 0 nach z . Der Gradient von g(x, y, z) ist ein Vektor, der senkrecht auf den zugehörigen Äquipotentialflächen z(x, y) steht.

Abb. A.11: Nebenbedingungen sind interpretierbar als Äquipotentiallinien.

Mögliche Ruhelagen stellen die Punkte dar, bei denen die Zwangskraft, die sich aus dem Andruck der Kugel ergibt, gleich der Gewichtskraft ist; mit anderen Worten: −grad V(x, y, z) = λ ⋅ grad g(x, y, z) Dies ist genau die Forderung des Lagrange-Verfahrens.

(A.54)

348 | Anhang Mathematischer Leitfaden

A.2 Komplexe Zahlen In der Mathematik ist es üblich, den verwendeten Zahlenraum zu erweitern, wenn gewisse Probleme mit der verwendeten Menge nicht mehr lösbar sind. So erlauben komplexe Zahlen das Lösen von Gleichungen, in denen unter der Wurzel eine negative Zahl steht. Die komplexen Zahlen werden definiert, da sie eine einfache Möglichkeit zur Lösung von Schwingungs- und Wellengleichungen liefern. Zu diesem Zweck wird die imaginäre Einheit i definiert. Sie hat folgende Eigenschaft: √−1 = i

i2 = −1

(A.55)

Anstelle des bekannten Zahlenstrahls, in dem die Zahlen der Größe von links nach rechts aufsteigende Werte annehmen, dient zur Darstellung der komplexen Zahlen eine zweidimensionale Zahlenebene. Darin gibt es die reelle Achse, die dem gewöhnlichen Zahlenstrahl entspricht, und die imaginäre Achse. Diese Darstellung zeigt sehr schön, dass die reellen Zahlen nur eine kleine Teilmenge der komplexen Zahlen darstellen. Im

Im(z) = b

z

Re(z) = a

Re

Abb. A.12: Eine komplexe Zahl z in der komplexen Ebene. Die Achsenabschnitte geben die entsprechenden realen und imaginären Anteile an.

Eine komplexe Zahl z besteht aus einem realen und einem komplexen Anteil z = a + b ⋅ i = Re(z) + i ⋅ Im(z).

(A.56)

Für den Fall, dass der komplexe Teil den Wert null annimmt, entartet die komplexe Zahl z zu einer reellen Zahl. Diese findet sich auf der reellen Achse wieder. Es ist zu beachten, dass bei den komplexen Zahlen Aussagen wie z1 > z2 oder z1 < z2 nicht zulässig sind. Man kann komplexe Zahlen nicht der Größe nach anordnen. Zur Addition oder Subtraktion von komplexen Zahlen müssen keine neuen Rechenregeln definiert werden. Es sind lediglich die reellen und komplexen Anteile getrennt zu betrachten. Dabei wird mit der imaginären Einheit genau so verfahren wie mit einer gewöhnlichen Variablen. Auch die Multiplikation von komplexen Zahlen erfolgt auf diese Art und Weise. Dort ist lediglich zu berücksichtigen, dass die Identität i2 = −1 verwendet werden darf. Eine komplexe Zahl hat immer die Form einer Summe aus reellem und imaginärem Anteil. Anstelle der Definition einer komplexen Zahl mit

A.2 Komplexe Zahlen

|

349

Real- und Imaginärteil, können komplexe Zahlen auch mit Polarkoordinaten definiert werden. Dann gilt: z = r ⋅ exp(iφ) (A.57) imaginäre Achse

φ

Abb. A.13: Komplexe Zahl in Winkel-Darstellung.

reelle Achse

Dabei ist r der Betrag der komplexen Zahl, also der Abstand vom Ursprung. Der Winkel φ gibt an, wie weit die komplexe Zahl gegenüber der reellen Achse gedreht ist. Mit Hilfe der Euler-Relation exp(±iφ) = cos φ ± i sin φ (A.58) kann auf diese Art und Weise ein Zusammenhang zwischen den beiden Definitionen hergestellt werden. Es ergibt sich aufgrund geometrischer Überlegungen aus dem Vergleich der beiden Koordinatensysteme: r = √ a 2 + b2

tan φ =

b a



φ = arctan

b a

(A.59)

Nutzt man die Definition der komplexen Zahlen in Polarkoordinaten, kann die Multiplikation als Rotation in der komplexen Ebene betrachtet werden. Eine wichtige Rolle spielt auch die komplexe Konjugation einer Zahl. Bezeichnet wird die konjugiert komplexe Zahl einer Zahl z mit einem hochgestellten Sternchen z∗ . Dahinter verbirgt sich die Zahl, die durch ein Spiegeln an der reellen Achse entsteht. Das Vorzeichen des komplexwertigen Anteils wird umgedreht. In den verschiedenen Definitionen gilt: z =a +b⋅i z = r ⋅ exp(iφ)

z∗ = a − b ⋅ i, ∗

z = r ⋅ exp(−iφ)

(A.60) (A.61)

Mit Hilfe der Definition der konjugiert komplexen Zahl ist nun auch die Möglichkeit zur Division von zwei komplexen Zahlen gegeben. Die Division entspricht dem Erweitern mit der konjugiert komplexen Zahl des Nenners. Ausmultiplizieren zeigt, dass dadurch der Nenner reell wird und sich erneut eine komplexe Zahl ergibt.

350 | Anhang Mathematischer Leitfaden Im z

Im(z) = b

Re(z) = Re(z*) = a

Im(z*) = -b

Re

z*

Abb. A.14: Eine komplexe Zahl z und ihre konjugiert komplexe Zahl z∗ .

Für komplexe Zahlen gelten nahezu ausnahmslos die gleichen Rechenregeln wie für reelle Zahlen. Als zusätzliche Bedingungen sind lediglich zu beachten: i2 = −1

und

i⋅0 = 0

(A.62)

Explizit ergibt sich für die Grundrechenarten: Addition:

z + z∗ = (x + iy) + (x − iy) = (x + x) + i(y − y) = 2x + i ⋅ 0 = 2x

(A.63)

z + z∗ = (x + iy) − (x − iy) = (x − x) + i(y + y) = 0 + i ⋅ 2y = 2iy

(A.64)

z + z∗ = (x + iy) ⋅ (x − iy) = x 2 − ixy + ixy − i2 y 2 = x 2 − (−1) ⋅ y 2 = x 2 + y 2

(A.65)

Subtraktion:

Multiplikation:

Division: entspricht einer Multiplikation mit der komplex konjugierten Zahl z z ⋅z (x + iy)(x + iy) = ∗ = , z∗ z ⋅z (x − iy)(x + iy) 2

=

2 2

(A.66) 2

2

x + ixy + ixy + i y x + 2ixy − y = . x 2 + ixy − ixy − i2 y 2 x2 + y2

(A.67)

Dieser Umweg ist nötig, damit der Nenner eine rationale Zahl wird. Üblicherweise tritt die imaginäre Einheit i nur im Zähler auf. Das wird durch diesen Kunstgriff erreicht.

Oftmals ist es erforderlich, den Realteil Re(z) oder Imaginärteil Im(z) einer komplexen Zahl z darzustellen. Mit Hilfe der korrespondieren konjugiert komplexen Zahl z∗ erhält

A.3 Fourier-Transformation

|

351

man durch Umformen der Definitionsgleichungen: Re(z) =

z + z∗ = |z| cos φ 2

und

Im(z) =

z − z∗ = |z| sin φ 2i

(A.68)

Diese Identitäten können genutzt werden, um Sinus- oder Kosinus-Funktion bei Schwingungsphänomenen zu beschreiben.

A.3 Fourier-Transformation Die Fourier-Analyse hat in vielen Gebieten der Physik und Chemie wichtige Anwendungen. Als Beispiele seien genannt: ⇀

Quantenmechanik: Durch Fourier-Transformation kann man zwischen Ortsraum ( r , t) und Impuls⇀

ˆ ist im Impulsraum ebenso einfach darzustellen, wie raum ( p, t) wechseln. Der Impulsoperator p der Ortsoperator xˆ im Ortsraum. Spektralanalyse: Die Fourier-Analyse erlaubt es festzustellen, welche Frequenzen zu einem komplizierten zeitabhängigen Messsignal gehören. Beugungs- und Streuprobleme führen zu einem Fourier-Integral. Differentialgleichungen: Fourier-Transformation vereinfacht mitunter Differentialgleichungen, indem sie Ableitungen durch Produkte ersetzt.

Die Grundidee der Fourier-Transformation ist es, eine nichtperiodische Funktion durch die Überlagerung von trigonometrischen, also periodischen Funktionen darzustellen. Die so erhaltene Fourier-Transformierte und die Ausgangsfunktion stehen gleichberechtigt nebeneinander und sind unterschiedliche Darstellungsmöglichkeiten des funktionalen Zusammenhangs. Die Behandlung vereinfacht sich durch Verwendung der komplexen Notation:

beziehungsweise

ei⋅kx = cos(kx) + i ⋅ sin(kx)

(A.69)

e−i⋅kx = cos(kx) − i ⋅ sin(kx).

(A.70)

Bedingung für die Existenz einer Fourier-Transformierten ist die Integrierbarkeit der sogenannten Spektralfunktion f (t), die man transformieren möchte: ∞

∫ |f (t)|dt < ∞

(A.71)

−∞

Der Zusammenhang zwischen der zu transformierenden Spektralfunktion f (t) und ihrer Fourier-Transformierten F(x) ist der folgende: ∞

F(x) = ∫ e−i⋅xt f (t)dt −∞

(A.72)

352 | Anhang Mathematischer Leitfaden Die Fourier-Transformierte ist dabei allein eine Funktion der Variable x, während die Spektralfunktion von der Variablen t abhängt. Es hat ein Variablentausch stattgefunden. Als Beispiel sei an dieser Stelle auf die Aufnahmetechnik in NMR-Spektrometern hingewiesen, bei denen eine Fourier-Transformation genutzt wird, um von der Zeitabhängigkeit des Signals in die gewohnte Frequenzabhängigkeit überzugehen. An dieser Stelle bietet sich ein einfacheres Beispiel an, das man schlicht mit Stift und Papier nachvollziehen kann. Im Laboralltag werden Fourier-Transformationen jedoch immer durch Computerprogramme ausgeführt. Betrachten wir eine stufenförmige Funktion der Variable t mit folgender Form: f (t) = 1 wenn

|t| ≤ T

(A.73)

wenn |t| > T.

(A.74)

und f (t) = 0

Nutzen wir die oben festgelegte Definition der Fourier-Transformierten, finden wir für x ≠ 0: ∞

T

F(x) = ∫ e−i⋅xt f (t)dt = ∫ e−i⋅xt ⋅ 1dt, −∞

−T

T 1 1 = [− e−i⋅xt ] = (expi⋅xT − exp−i⋅xT ). ix ix −T

(A.75)

Unter Zuhilfenahme der Euler-Formel findet man schließlich: 2⋅

sin(xT) 1 sin(xT) = 2T x xT

(A.76)

Der letzte Erweiterungsschritt ist nötig, um eine Abschätzung für die Stelle x = 0 mit dem Satz von L’Hôpital zu erreichen. Nach diesem Satz ergibt sich der Grenzwert der Funktion zu: sin(xT) = 2T (A.77) lim 2T x→0 xT Somit haben wir für die Funktion f (t) eine alternative Darstellung in der Variablen x gefunden. Für die graphische Darstellung der Transformation siehe Abbildung A.15. Eine gedämpfte Schwingung kann durch folgende Funktion beschrieben werden (siehe Seite 122): f (t) = e−κ t eiω0 t

für t > 0

f (t) = 0 für t < 0

und

(A.78)

Der Parameter κ beschreibt die exponentielle Dämpfung der Schwingung mit der Kreisfrequenz ω0 . Die Fourier-Transformation liefert eine spektrale Darstellung der Abklingkurve ∞



1 1 ∫ f (t)e−iω t dt = ∫ e−[κ +i(ω −ω0 )]t dt. f (ω) = √2π √2π −∞

0

(A.79)

A.3 Fourier-Transformation

Die Integration liefert:

󵄨∞ 1 e−[κ +i(ω −ω0 )]t 󵄨󵄨󵄨 󵄨 f (ω) = − √2π κ + i(ω − ω0 ) 󵄨󵄨󵄨󵄨0

|

353

(A.80)

Aufgrund des Exponentialterms trägt nur die untere Integrationsgrenze bei. Wir erhalten: 1 1 (A.81) f (ω) = − √2π κ + i(ω − ω0 ) Der Betrag der Amplitude |f (ω)| ist durch folgenden Ausdruck gegeben: |f (ω)| = −

1 1 √2π √κ 2 + (ω − ω )2 0

(A.82)

Die Funktion hat ein Maximum an der Stelle ω = ω0 . Die Frequenzverteilung ist umso enger, je kleiner die Dämpfung κ ist. Die beiden gegenseitig Fourier-Transformierten sind in der folgenden Abbildung dargestellt. f (ω) x(t)

t

ω0

ω

Abb. A.15: Eine gedämpfte Schwingung wird durch den Ausdruck x(t) = Re [e−κ t eiω0 t ] beschrieben. Die Amplitude ist exponentiell gedämpft. Die Fourier-Analyse zeigt durch Darstellung von |f (ω )| welche Frequenzen zum Aufbau des zeitabhängigen Kurvenverlaufs gehören.

Danksagung Ich hatte das Glück, von einigen außergewöhnlichen Forscherpersönlichkeiten lernen zu dürfen. Allen voran danke ich Prof. Helmuth Möhwald, Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung, Potsdam, der mein wissenschaftliches Denken stark geprägt hat. Einzelne Abschnitte des Buches wurden von einigen Fachkollegen Korrektur gelesen: Prof. Josef Barthel, Uni Regensburg; Prof. Heiner Gores, Uni Münster; PD Dr. Thomas Gutberlet, Helmholtz Zentrum Berlin; Prof. Dominik Horinek, Uni Regensburg; Prof. Stefan Kast, TU Dortmund; PD Dr. Stefan Kirstein, Humboldt Universität Berlin; Dr. Roland Neueder, Dr. Horst Orendi, Uni Regensburg; Dr. Sarah Fritsch, Prof. Georg Schmeer, Uni Regensburg; Prof. Alkwin Slenzka, Uni Regensburg. Ihnen allen danke ich herzlich für Verbesserungsvorschläge und Korrekturen. Für die verbliebenen Fehler bin ich allein verantwortlich. Dem Verlag de Gruyter danke ich für die professionelle Umsetzung des Manuskriptes in das vorliegende Buch. Frau Julia Lauterbach, Frau Anne Hirschelmann und Herr Wolfgang Konwitschny haben in einem engen Zeitfenster alle Schritte koordiniert und meine Wünsche an das Layout umgesetzt. Viele Abbildungen in dem Buch wurden von Frau Marei Peischl, BSc (www.peitex.de) mit TikZ erzeugt, ebenso hat Frau Peischl die Latex Satzarbeiten übernommen. Vielen Dank für die schnelle und professionelle Umsetzung. Marei paart physikalischen Sachverstand mit profunden Latex Kenntnissen! Mit meiner Mitarbeiterin Petra Eichenseher, MSc hatte ich viele wertvolle Diskussionen über das Lehr-Lernverhalten der Studenten. Petra war eine engagierte Tutorin in den PC-Übungen, die dabei gewonnenen Erfahrungen sind in dieses Buch eingeflossen. Bei meinem Co-Autor Matthias Hofmann, BSc bedanke ich mich für den langen Prüfungsdialog, der mir viel Freude bereitet hat. Letztendlich führt man ein Buchprojekt neben allen anderen Aufgaben durch. Viele Nacht- und Wochenendschichten waren erforderlich, bei denen man für Frau und Kind nicht richtig ansprechbar ist. Meiner Familie danke ich für das Verständnis und die Unterstützung. Hubert Motschmann

An dieser Stelle möchte ich mich recht herzlich bei meinen Eltern Josef und Anna für ihre Unterstützung, insbesondere während des Studiums, bedanken. Ein weiterer Dank gilt Herrn Prof. Hubert Motschmann für der Möglichkeit, mich an diesem Buch beteiligen zu dürfen und das Öffnen vieler Türen in der Welt der Wissenschaften. Matthias Hofmann

Sachwortregister abgeschlossen, 17 adiabatisch, 17 Aggregatszustände, Fragen, 87 Aktivität, 51 Aktivitätskoeffizient, 51 Aktivitätskoeffizient, Fragen, 80 alpha Zerfall, 202 Amplitude, 121 anharmonischer Oszillator – Dissoziation, 209 – Morse-Potential, 209 Anode, 318 Aromaten, 199 Arrhenius-Gleichung, 313 Atombau, Fragen, 210 Balmer Serie, 162 Beugung, 138 – Fraunhofer, 140 – mathematisch, 140 – periodische Strukturen, 142 Bewegungsgleichung, 119 Bleiakkumulator, 323 Blitzlichtphotolye, 298 Boltzmann, 233 – Diffussion, 256 – Fragestellung, 233 – gepolte Polymere, 252 – Gravitationsfeld, 248 – Herleitung, 243 – Laser, 255 – Spektroskopie, 254 – Zentrifuge, 250 Boltzmann-Formel, 242 Born-Interpretation, 169 Bragg-Gleichung, 149 Bravais-Gitter, 144 Brechungsgesetz, 133 Brennstoffzelle, 323 chemisches Potential, 48 – Fragen, 75, 87 Clausius–Clapeyron-Gleichung, 44 Compton-Effekt, 160 Cyclohexadien, 200

Cyclohexan, 200 Cyclohexen, 200 Dampfautoklav, 48 Dampfdruck, Fragen, 80 Dampfdruckerniedrigung, 53 Datenbank NIST, 14 de Broglie, 159 Deacon-Prozess, 113 Delokalisation, 200 Dirac-Notation, 169 Doppelspalt, 154 Drehimpuls, 170, 212 Dreierstöße, 301 ebene Welle, 126 Ehrenfest, 180 Eigenwert, 171 – Energie – Rotator, 270 Elektrochemie, 318 elektromotorische Kraft, 321 Energiehyperfläche, 301 Entartung, 197 Enthalpie, 22 Entropie – Expansion, Gas, 26 – statistische Deutung, 239 – Temperaturausgleich, 27 Enzym-Substrat-Komplex, 315 Erwartungswert, 170 Euler-Formel, 127 Euler-Identität, 348 evaneszentes Feld, 133 Expansion, Gas, 26 Fabry–Perot-Interferometer, 133 Faltung, 142 Faltungsprodukt, 142, 152 Folgereaktionen, 304 Fourier-Transformation, 140, 166 Franck-Hertz-Versuch, 161 Fraunhofer-Näherung, 140, 144 freie Energie, 36

356 | Sachwortregister Gasverflüssigung, Fragen, 98 Gefrierpunktserniedrigung, 53 geometrische Reihe, 132, 278 geschlossen, 17 Geschwindigkeitskonstante – Temperaturabhängigkeit, 302 Gibbs-Duhem-Beziehung, 34 Gibbs-Energie, 29 – chemische Reaktionen, 59 – chemische Reaktionen, Fragen, 108 – Fragen, 96 – Herleitung, 29 – Keimbildung, 71 – Mischphasen, 48 – Phasengleichgewicht, 42 Gibbs-Energie-Phasen, Fragen, 108 Gibbs-Hauptgleichung, 32 Gibbs-Standardreaktionsenthalpie, 61 Gitter, 144, 261 Gleichgewichtskonstante – Druckabhängigkeit, 66 – Massenwirkungsgesetz, 62 – Temperaturabhängigkeit, 66 Gleichverteilungssatz, 266 Grenzflächenspannung, 68 Guggenheim-Quadrat, 40 Hamilton-Operator, 171 harmonischer Oszillator – klassisch, 119 – Auswahlregel, 209 – Eigenfunktionen, 205 – Eigenwerte, 277 – Molekülschwingung, 208 – Molekülzustandssumme, 277 – Nullpunktsenergie, 205 – Parität, 206 – quantenmechanisch-klassisch, 206 – Spektrum, 209 – Systemzustandssumme, 279 – Wärmekapazität, 280 Hauptsatz der Thermodynamik, erster, 17 Hauptsatz der Thermodynamik, nullter, 3 Hauptsatz der Thermodynamik, zweiter, 24 Hauptsätze, 96 Henry-Gesetz, Fragen, 75 hermitesch, 170 Hesse-Normalenform, 127 homogene Funktionen, 15

Homogenitätsrelation, 33 Hybridorbital, 219 Hydrierung, 200 Imaginärteil, 348 Impulsdarstellung, 175 individualisierbar, 261 innere Energie, Statistik, 260 Integrabilitätsbedingung, 15 integrierender Faktor, 23 Intensität, 128 Interferometer – Fabry–Perot, 133 – Michelson, 225 Joule–Thomson-Effekt, Fragen, 98 Katalysator, Fragen, 113 Kathode, 318 Keimbildung und Wachstum, 70 Keimbildung, Fragen, 94 Kinetik – Untersuchungsmethoden, 298 klassische Mechanik, 119 klassischer Determinismus, 119 klassisches mechanisches Weltbild, 119 Knotenebene, 198 Kohärenz, 225 kolligative Eigenschaften, 58 Kommutator, 171, 178 komplexe Zahlen, 348 konjugiert, 200 Kreisfrequenz, 121 Kristalle, 144 Kugelpackung, dichteste, 8 l‘Hospital, 280 Lagrange-Multiplikator, 246 Lambert-Beer, 309 Laue-Aufnahme, 149 Laue-Beziehung, 149 LCAO Ansatz, 182 Leclanché-Element, 322 Legendre-Transformation, 36 Licht – Frequenzbereich, 128 – linear polarisiert, 125 – WW Materie, 128 – zirkular polarisiert, 223 Lineweaver-Burk-Plot, 317

Sachwortregister

Lösung, ideal, Fragen, 96 Lösung, real, Fragen, 96 Makrozustand, 231 Massenwirkungsgesetz, 62 Maxwell-Relation, 39 Mechanik, klassisch, 119 Mesomerie, 200 Michaelis–Menten-Kinetik, 313 Mikroreversibilität, 303 Mikrozustand, 231 Millersche Indizes, 145 Mischphasen, 48 Mischungen, Flüssigkeiten, 236 Molekülorbital, 182, 219 Morse-Potential, 209 Netzebenenschar, 148 Newtonsche Bewegungsgleichung, 119 NIST, 14 Nullpunktsenergie, 199 Numerik, 124 numerische Integration, 124 Observable, 169 offen, 17 Operator, 169 – hermitesch, 170 – linear, 169 optisches Tunneln, 133 Orbitale – Wasserstoffatom, 216 orthonormiert, 197 Ortsdarstellung, 175 Osmose, 55 – Fragen, 75 Oszillator – klassisch, 121 Oxidation, 318 Paarkorrelationsfunktion, Fragen, 91 Paarwechselwirkungsenergie, 69 Parallelreaktionen, 303 Paschen-Serie, 162 Patterson-Funktion, 152 Pauli-Prinzip, 186 Phase, 121 Phasendiagramm, Fragen, 87, 94 Phasengleichgewicht, 42 Photoeffekt, 159

Plancksche Funktion, 64 Potentialkraft, 195 Prinzip vom kleinsten Zwang, 67 Produktansatz, 187 Quantenmechanik, 169 – Axiome, 169 radiaktiver Zerfall, 296 Radikalreaktionen, 298 Randbedingungen, 197 – Teilchen im Kasten, 197 Raoultsches Gesetz, Fragen, 80 Raumgitter, 144 Raumorbitale, 186 Reaktion – dritter Ordnung, 298 – erster Ordnung, 296 – nullter Ordnung, 295 – zweiter Ordnung, 297 Reaktionsgeschwindigkeit, 294 Reaktionskoordinate, 301 Reaktionslaufzahl, 58 Reaktionsordnung, 295 – Bestimmung, 299 Realteil, 348 Redoxreaktionen, 319 Reduktion, 318 reduzierte Masse, 277 Reihe – geometrisch, 132, 278 Relaxationsverfahren, 298 rezipoker Gittervektor, 148 reziprokes Gitter, 147 Rotationspektrum, 274 Rotationsverdampfer, 47 Rotator – Auswahlregel, 271 – Eigenfunktionen, 277 – eigenwerte Energie, 270 – Energie, 270 – Spektrum, 272 – Systemzustandssumme, 269 – Temperatur, 274 – Termschema, 271 – Trägheitsmoment, 275 – Wärmekapazität, 269 Rydberg-Konstante, 162 Röntgenstrukturanalyse, 143

| 357

358 | Sachwortregister Satz von Euler, 15, 33 Satz von Schwarz, 15 Schrödinger-Gleichung, 171, 187 Schwingung, 277 – Fourier-Analyse, 352 – gedämpft, 122 – gedämpft Fourier-Analyse, 353 – klassisch, 121 Siedepunktserhöhung, 53 Skalarprodukt, 147 Slater-Determinante, 186 Snellius-Brechungsgesetz, 133 Spatprodukt, 147 Spektrallinien, 162 Spinorbitale, 186 Spreiten, 72 Standardreaktionsenthalpie, 61 Stirling-Formel, 238 Stockholmer Konvention, 323 Streuung, 140 Streuverktor, 144 superkritische Fluide, Fragen, 87 System – abgeschlossen, 17 – adiabatisch, 17 – geschlossen, 17 – offen, 17 Systemzustandssumme – Gas, 263 – Rotator, 269 – thermodynamische Zusatndsfunktionen, 264

Unschärferelation, 163 UV–VIS Spektren, 199 van’t Hoffsche Reaktionsisobare, 66 van-der-Waals, Fragen, 98 Variationsrechnung, 181 Vektorprodukt, 147 Vertauschbarkeit, 171 Verteilungsfunktion, 231 Wärme, 2 Wärme, Zustandsfunktion, 21 Wärmekapazität, 12, 265 Wärmeleitung, 6 Wasserstoff, 162 Welle, 124 – Beugung, 138 – evaneszent, 133 – Interferenz, 129 – komplexe Notation, 127 – Kugelwelle, 127 – Welle-Teilchen, 154 Welle-Teilchen Dualismus, 154 Wellenfunktion, 169 – Born-Interpretation, 169 – Moleküle, 187 Wellenleiter, 136, 202 – Moden, 136 Wellenzahl, 271 Wirkung, 164 Young-Doppelspalt, 154

Teilchen im Kasten, 194 Teilchenzustandssumme, Gas, 262 Temperatur, 2 – integrierender Faktor, 23 Temperaturausgleich Entropie, 27 Theorem von Ehrenfest, 180 thermische Zustandsgleichung, 12 Thermochemie, 113 thermodynamische Potentiale, 35 totales Differential, 15 Totalreflexion, 133 Translationsinvarianz, 144 Transportgleichungen, 6 tunneln, optisch, 133 Übergangsdipolmoment, 226 Umsatzvariable, 58

Zeitgesetz, differentiell, 295 Zustandsfunktion, 1, 14 Zustandsgleichung, thermische, 12 Zustandsgröße, 1 – extensiv, 2, 15 – intensiv, 2, 15 Zustandssumme, 247, 260 – Molekül, 267 – Rotator, 268 – Schwingung, 278 – Systemzustandssumme, 260, 261 – Teilchenzustandssumme, 260, 261 Zustandsvariable, 1 Zwei-Niveau-System, 265 Zweierstöße, 301 zwischenmolekulare Kräfte, Fragen, 98