Phänomen Kultur: Perspektiven und Aufgaben der Kulturwissenschaften [1. Aufl.] 9783839401170

Nach dem »cultural turn« gibt es kaum etwas, das nicht unter kulturellen Gesichtspunkten gesehen und beurteilt würde. An

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German Pages 238 [243] Year 2015

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Inhalt
Vorwort
Das Unbehagen mit der Kultur
Geschichtswissenschaft in kulturwissenschaftlicher Perspektive
Islamwissenschaften
Sprache als Mitte und Mittel der Kultur. Die Unmittelbarkeit des Wortes insbesondere an Gedächtniskulturen Afrikas aufgezeigt
Medizin – eine Kulturwissenschaft? Wissenschaftsverständnis, Anthropologie und Wertsetzungen in der modernen Heilkunde
Was hat die Psychologie bei den Kulturwissenschaften verloren?
Pädagogik und Kultur. Erziehungswissenschaft als Kulturwissenschaft
Die Perspektive der Kultursoziologie
Kultur und Ökonomie. Eine ökonomische Herangehensweise
Die Geschichtswissenschaft im Zeichen der kulturwissenschaftlichen Wende
Die Autoren
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Phänomen Kultur: Perspektiven und Aufgaben der Kulturwissenschaften [1. Aufl.]
 9783839401170

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Klaus E. Müller (Hg.) Phänomen Kultur Perspektiven und Aufgaben der Kulturwissenschaften

06.03.03 --- Projekt: transcript.kusp.müller / Dokument: FAX ID 018815475164910|(S.

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) T00_01 Schmutztitel.p 15475164942

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) T00_02 Vakat.p 15475164950

Klaus E. Müller (Hg.)

Phänomen Kultur Perspektiven und Aufgaben der Kulturwissenschaften

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) T00_03 Titel.p 15475164958

Diese Publikation ist im Rahmen des Vortragsprogramms des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen (KWI) entstanden, und seine Drucklegung wurde aus Mitteln des KWI gefördert.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2003 transcript Verlag, Bielefeld Innenlayout und Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagfotografie: Archiv transcript Verlag Satz: digitron GmbH, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-117-5

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) T00_04 Impressum.p 15475164966

Inhalt Klaus E. Müller Vorwort .......................................................................................................

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Klaus E. Müller Das Unbehagen mit der Kultur ..................................................................

13

Hans-Joachim Gehrke Geschichtswissenschaft in kulturwissenschaftlicher Perspektive .........................................................

49

Ludwig Ammann Islamwissenschaften ..................................................................................

71

Herrmann Jungraithmayr Sprache als Mitte und Mittel der Kultur. Die Unmittelbarkeit des Wortes insbesondere an Gedächtniskulturen Afrikas aufgezeigt .................................................

97

Volker Roelcke Medizin – eine Kulturwissenschaft? Wissenschaftsverständnis, Anthropologie und Wertsetzungen in der modernen Heilkunde .............................................. 107 Jürgen Straub Was hat die Psychologie bei den Kulturwissenschaften verloren? .................................................................

131

Alfred K. Treml Pädagogik und Kultur. Erziehungswissenschaft als Kulturwissenschaft ........................................

157

Hans-Georg Soeffner Die Perspektive der Kultursoziologie .........................................................

171

Birger P. Priddat Kultur und Ökonomie. Eine ökonomische Herangehensweise ....................................................... 195 Friedrich Jaeger Die Geschichtswissenschaft im Zeichen der kulturwissenschaftlichen Wende ...............................................................

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Die Autoren ................................................................................................ 239

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) T00_05 Inhalt.p 15475164974

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) vakat 006.p 15475164990

Vorwort | 7

Vorwort Klaus E. Müller Die Antike ging Mitte des 19. Jahrhunderts zu Ende, als sich nach den Naturwissenschaften auch die Philologien, die Geschichts- und Kulturwissenschaften, die Anthropologie, die Psychologie, Ethnologie und Soziologie aus dem Korpus der Philosophie zu lösen und eigene Wege auf empirisch gerodetem Boden zu gehen begannen. Natur- und Geisteswissenschaften schienen fortan von Studierstube und Katheder getrennt. Die Scheidung bedurfte, zumal zur Trittsicherung, der zuschärfst apostatischen letzteren, der legitimierenden Begründung. Dazu sah sich noch immer die Philosophie ermächtigt. Wilhelm Dilthey (1833-1911) und wenig später die Neukantianer Wilhelm Windelband (1848-1915) und Heinrich Rickert (1863-1936) leisteten die entscheidenden Beiträge. Letztere suchten systematisch zwischen »nomothetischen«, das heißt Gesetzes-, also Naturwissenschaften, und »idiographischen«, auf Studium und Beschreibung der immer einmaligen historischen Geschehnisse und Geschehensverläufe zielenden »Ereignis«-, also Geschichtswissenschaften zu scheiden. Dilthey glaubte grundlegende Unterschiede in beider Methodik und Epistemologie ausmachen zu können. Schüler Leopold von Rankes (1795-1886), maß auch er der Geschichte den Leitpart unter den »Geisteswissenschaften« zu. Insofern setzte er auf einen kompromißlosen Empirismus, eine Erfahrungswissenschaft, die aus dem Erleben der Alltagswelt schöpft und der es um das »einfühlende« Nacherleben, das empathische Verstehen der handlungs- und geschehensbestimmenden seelischen Motive, der Entscheidungsgründe der historisch wirkmächtigen Akteure gehen müsse. Sache der Naturwissenschaften, die es mit stofflich-körperhaften, materiellen Gegenständen zu tun haben, sei das Erklären; die Geisteswissenschaften strebten Erkenntnis durch Hermeneutik, durch Auslegen und Deuten an. Seit Karl Raimund Poppers (1902-1994) Kritik am Verstehensmodus1 bestehen an seinem Leistungsvermögen begründete Zweifel. Wenn überhaupt, kann er nur innerhalb eines begrenzten – des vertrauten, ja persönlichen – Erfahrungshorizonts zu Ergebnissen führen, weil es nun einmal fraglich erscheint, ob etwa ein Historiker sich gleichzeitig mit Caesar, Cicero, Dschingis Khan, Luther und Napoleon2 so voll zu identifizieren vermag, daß er imstande ist, sein Handeln auch wirklich zu »verstehen«. Zudem kommt man wohl auch in den Kulturwissenschaften kaum um das Erklären herum, da »Natur« und »Kultur« über den Menschen, der teilhat an beidem, vermittelt sind. Manche der Scheidungsanwälte liefern sich gleichsam fiktionale Gefechte, indem sie, wie in einem Spiegelgemach mit »Struktur« und »Ereignis«, »Form« und »Gehalt«, »Gesellschaft« und »Individuum«, »Allgemeinem« und »Besonderem« oder »Singularem« wie mit nominalistischen Glaskugeln jonglierend, ihre Kräfte messen. Um Scheingefechte handelt es sich, weil die vermeintlichen Antigrößen eine ohne die andere nicht denkbar sind, sofern wir mit »Erklären« ein durch Vergleich von Einzelphänomenen und Induktion gewonnnes allgemeingültiges Regelsystem (eine Systematik) meinen, von dem aus dann wiederum einzelnes dedu1 Popper 1973: 204-212. 2 Vgl. Popper 1973: 210.

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8 | Klaus E. Müller ziert werden kann. Ein Besonderes läßt sich nur vor dem Hintergrund als solches begreifen, von dem es sich abgesondert hat. Es handelt sich um einen komplementären Zusammenhang. Interesse und Optik entscheiden jeweils, welcher »Aspekt« mehr ins Licht gerückt wird – die Wellenstruktur oder das Teilchen (Ereignis). Tatsächlich ging auch die Neigung zu exaktem Erklären in den Kulturwissenschaften nicht verloren. Erkennbar in bewußter Abwendung vom Historismus und Diffusionismus in Vorgeschichte, Altertumswissenschaften und Ethnologie entwikkelte sich im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in der Ethnologie und Teilen der amerikanischen Soziologie der »Funktionalismus«. Von seinen beiden Gründungsvätern hatte Bronislaw Kaspar Malinowski (1884-1942) ursprünglich Mathematik, Chemie und Physik studiert (Promotion 1908), Alfred Reginald Radcliffe-Brown (1881-1955) neben William Halse Rivers (1864-1922) auch bei James George Frazer (1854-1941) gehört, der seinerseits von Hause aus Physiker und Jurist gewesen war und in ersterem Fach keinen Geringeren als William Thomson (1824-1907), später Lord Kelvin of Largs, zum Lehrer gehabt hatte, mit dem er dann auch befreundet blieb und immer wieder diskutierte. Naturwissenschaftliches Denken lag an der Wurzel des Funktionalismus. Doch sahen seine Begründer Möglichkeiten zur Konzeptmodellierung weniger in der Physik als in der Biologie. Jedes Kulturelement, jede Institution, jede Vorstellung war das Ergebnis eines langen Anpassungsprozesses und erfüllte insofern grundlegende Bedürfnisse, das heißt besaß, organgleich, seine ganz bestimmte Funktion, einen Leistungswert zum Erhalt des Ganzen (Malinowski; vgl. die physikalischen Erhaltungssätze). Dabei kam es weniger auf kulturhistorische als die Kontinuität der Struktur an; jedes Element, jede Institution (ein »Organ«), jeder Mensch als Funktionsträger konnten durch andere von gleichem Leistungsvermögen ersetzt werden, ohne daß der »Organismus« als Ganzes (das »Feld«) an Erhaltsfähigkeit litt (Radcliffe-Brown). Allerdings waren diese Grundpositionen so allgemeiner – um nicht zu sagen trivialer – Art, daß sie teils zu nichtssagenden bis »leeren« Konklusionen führten (man sprach auch von »Gesetzen«, laws, bzw. general laws). William Lloyd Warner (18981970), ein Schüler Radcliffe-Browns, sah die Polygynie nordaustralischer Aborigines in deren stetigen Fehden begründet, deren Folge eine drastische Dezimierung der jungen Männer sei. Gleichzeitig aber trage sie auch – durch die Institutionen des Sororats und Levirats – zur Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts bei, so daß also der Krieg, wenn auch indirekt, die soziale Ordnung aufrechterhalte und insofern eine lebensnotwendige Funktion erfülle.3 Nach Camilla Hildegarde Wedgwood (19011955), ebenfalls einer Schülerin Radcliffe-Browns, bilden Kriege zum einen ein Ventil für den Ärger über innersozietäre, den Zusammenhalt unterminierende Querelen, andererseits aber auch ein wirksames Integrationsinstrument. Da beide Funktionen in der Moderne jedoch vermöge der zunehmend zerstörerischen Auswirkungen der Kriege ins Hintertreffen gerieten, gewännen folgegerecht pazifistische Strömungen mehr und mehr an Einfluß, wie namentlich in Europa4 – geschrieben um 1930! Mit dem Funktionalismus entstand eine neue, innerkulturwissenschaftliche Dis3 Warner 1930-31. 4 Wedgwood 1930-31.

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Vorwort | 9 sensfiktion. Man stritt sich, wem die grundlegendere Bedeutung zukomme: der Gesellschaft oder der Kultur? Der letzteren Option (pro culture, civilization) gaben eher Ethnologen in der Tradition Malinowskis, der ersteren (pro social structure, bzw. social organization oder social system) mehr Schüler und Gefolgsleute Radcliffe-Browns, wie insbesondere Meyer Fortes (1906-1983), ihr wichtigster Theoretiker, den Vorzug. Doch auch in diesem Falle läßt sich nicht scheiden, da beide Größen ein gemeinsames komplementäres Ganzes bilden, keine ohne die andere denkbar ist. Die Vermittlung geschieht hier weniger durch den einzelnen Menschen als die Gruppe, der er angehört. Als das Verbindende ließe sich das kollektive Identitätsbewußtsein begreifen, das Ganze der »Kohärenzfiktionen«5, die Verwandtschaft, Nachbarschaft, Gemeinschaft usw. begründen und legitimieren, nach außenhin abgrenzen und als unantastbar gültig erscheinen lassen (Nostro- bzw. Ethnozentrismus) und stützend ihren erfahrbaren Ausdruck in Güterbesitz, Normen, Verhaltensregeln, Institutionen, Brauchtum, Anschauungen usw. – eben im Symbolsystem der Kultur finden, das der eigenen Alltags- und Lebenswelt Sinn verleiht. Da dies den gemeinsamen Elementarbestand aller Gruppen mit stabilem Identitätsbewußtsein bildet, böte es den Boden zur Entwicklung einer Kernsystematik transkultureller Universalien, von der aus alle Besonderungen, Vereinzelungen und Ereignisbestimmungen als Folge lokaler Anpassungen, historischer Wechselwirkungen und innergesellschaftlicher Differenzierungsprozesse erschienen und deduktiv erklärt werden könnten. Hier würde es sich gegenüber dem generalisierten Basiskonstrukt um historisch konkrete Größen handeln: Ihre Entstehung, Geschichte und Beschaffenheit bildet den Gegenstand der je einschlägigen Kulturwissenschaften. Zur Bestimmung des Basiskonzepts hätte die Ethnologie am meisten beizutragen, da sie die breiteste Vergleichslatitüde analytisch elementarer Gesellschafts- und Kulturtypen besitzt. Insofern könnte sie als die Grundlagenwissenschaft der Humanwissenschaften gelten, aufruhend ihrerseits, wenn auch begrenzt, auf den universalen Verhaltensdispositionen, wie sie die Forschungen der Primatologie, im weiteren Sinne der Biologie und vergleichenden Ethologie und im engeren auch der Physiologie und Neurologie erbracht haben. Vor allem in diesem Bereich sollte es sich zwingend um einen systemtheoretischen Ansatz handeln.6 Gelehrte wie Konrad Lorenz (19031989) und Ludwig von Bertalanffy (1901-1972) verwiesen mit Nachdruck darauf, daß ebenhier, bei der Bestimmung des Grundes, die epistemologische Problematik einer artifiziellen Scheidung von »Natur« und »Kultur« besonders deutlich werde.7 Der Aufbau eines Kultur- oder Identitätskonzepts schöpft primär aus dem Breitenvergleich, nach Maßgabe eines strukturierten Zusammenhangs. Die einzelnen in Betracht gezogenen Ebenen – traditionelle Dorfkulturen, antike Republiken, feudale Königtümer, Nomadenimperien oder neuzeitliche Nationalstaaten – gehören jedoch unterschiedlichen Zeit- und Entwicklungs- beziehungsweise gesellschaftlichen Differenzierungsniveaus an. Ihre Verbindung »von unten nach oben« weist daher den Geschichtswissenschaften, ob struktur- oder geschehensorientiert, neben der Ethno5 Assmann 1996: 17ff. 6 Acham 2001: 27. 7 Vgl. Acham 2001: 21f.

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10 | Klaus E. Müller logie gleichfalls eine elementare, fundamentierende Bedeutung zu. Beider Verknüpfung über die »Traditionen«8 ermöglicht, die empirischen Einzelkulturen nicht nur als Besonderungen des gemeinsamen Grundes, sondern mehr noch als Sinnsysteme mit orientierungs- und handlungsleitenden Funktionen zu begreifen. »Gesellschaft«, so Niklas Luhmann (1927-1998), »ist ein sinnkonstituierendes System«9; seine symbolische Repräsentation durch Kultur kann mit Max Weber (1864-1920) aufgefaßt werden als »ein mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens«.10 Kulturen als Sinnsysteme verstanden, gewinnen für die Identitätsideologie einer Gesellschaft Wert. Von sich aus können die Kulturwissenschaften keine »Antwort auf die Frage geben: ob Kulturerscheinungen es wert waren und sind, zu bestehen, noch antworten sie auf die andere Frage: ob es der Mühe wert ist, sie zu kennen«.11 Darüber entscheidet das Gewichteverhältnis der Dinge, Gebrauchsgüter, Traditionen, Institutionen, Normen, Vorstellungen und Ideale im Identitätskonzept einer jeden Gesellschaft, das ihnen begründende und legitimierende, normierende und moralische, bestätigende oder bedrohliche Bedeutung aus dem gewachsenen Lebensverständnis der Menschen heraus verleiht. So gesehen, erscheint es durchaus berechtigt, der Kultur als sinngebendem Symbolsystem einer Gesellschaft (mit annähernd konsistentem Identitätsbewußtsein) eine Schlüsselstellung im Bemühen um das Verständnis lebensweltlicher Erfahrungen und ihrer Konfliktproblematik einzuräumen, das heißt die Kulturwissenschaften, und speziell Ethnologie und Geschichte, im Kanon der Human- und »Geisteswissenschaften« als den zentralen Bezugsgrund zu begreifen12, wie das im derzeitigen Trend, möglichst alle Kultur- und Geschichtswissenschaften zu »anthropologisieren«13 zwar lautstark propagiert, nicht aber eingelöst wird. Der vielbeschworene »cultural turn« hat nämlich eher, im Wellenschlag postmoderner Verwirbelungen, zu einer inflationären Lysierung des Kulturbegriffs und damit zur Mollifizie8 9 10 11 12 13

Stagl 1993: 478. Soeffner 2000: 165. Luhmann 1997: 50. Vgl. Stagl 1993: 478. Weber 1951: 180. Weber 1951: 600 (Hervorhebung im Original). Gay 1996: 151. Acham 2001: 27. Vgl. Vom Bruch et al. 1989: 18. Der Begriff »Anthropologie«, im Sinne einer Art Dachbezeichnung für »Sozial«- und »Kulturanthropologie«, hat zwar inzwischen weite Verbreitung gefunden, bleibt aber untauglich, weil er zu allgemein auf »den Menschen an sich«, das »humanum« (bzw. die conditio humana) bezogen ist. Die beiden genannten untergeordneten Termini »Sozial«und »Kulturanthropologie« (beides Duplikaturen!) haben sich im Deutschen (teils auch in den benachbarten europäischen Sprachen) zwar ebenfalls, und selbst unter Fachgelehrten, eingebürgert, sollten zugunsten des präziseren Begriffs »Ethnologie« (Kunstbildung aus griech. ethnos und logos, also »Gemeinschaftslehre«) besser vermieden werden. Sie leiten sich aus der Organisation amerikanischer Universitäts-Departments, hier der Departments of Anthropology, ab und dienen der internen Abgrenzung etwa gegenüber Physical Anthropology, Medical Anthropology, Anthropology of Education usw., erscheinen also nur in diesem Zusammenhang sinnvoll.

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Vorwort | 11 rung seines analytischen Leistungsvermögens geführt. Man spricht von »Garten«und »Friedhofskultur«, von »Essens«- und »Restaurantkultur«, von »Jugend«- und »Theater«-, »Unternehmens«- und »Vertrauens«-, ja »Wissenschaftskultur«. Auch die Politik zahlt dem Zeitgeist Tribut. Michael Naumann, seinerzeit »Beauftragter für Angelegenheiten der Kultur und der Medien beim Bundeskanzler«, traf in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag vom 12. November 1998 die ebenso bündige wie umfassende Feststellung: »Politik ohne Kultur ist unfrei, sprachlos und ohne Sinn.« Das Kulturwissenschaftliche Institut Essen im Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen veranstaltete vom 24. bis 26. Januar 2000 in der Evangelischen Akademie Loccum eine interdisziplinäre Tagung zum Thema »Aktuelle Perspektiven der Kulturwissenschaften«. Einige der damals referierten Texte sind Teil dieses Bandes, andere wurden nachträglich eingeworben. Es ging darum, die Methoden, Aufgaben und Erkenntnisziele der vertretenen Fächer, ihre Position im Kanon der Humanwissenschaften und ihr je eigenes Verständnis von Kultur zu bestimmen. Damit war die weiterführende Absicht verbunden, jenseits aller disziplinären Auffächerung nach einer gemeinsamen Basis zu suchen. Wie aus der Geschichte (historia magistra vitae) läßt sich auch von anderen Kulturen, genauer: den Lösungen lernen, die dort für analoge, also strukturell vergleichbare Probleme gefunden wurden. Eine integrierte Allgemeine Kulturwissenschaft könnte mithin mehr bewährtes altes Erfahrungswissen nutzbar machen, transkulturelle Gemeinsamkeiten herausarbeiten, damit aus vermeintlicher »Abweichung« erwachsenden Mißverständnissen, Vorurteilen und Diskriminierungen den Boden entziehen und zur Vermittlung, mehr noch Verständigung unter den Völkern beitragen. Dazu bedarf es jedoch, wie schon gesagt, weniger des – allzuleicht irreführenden – Verstehens als vielmehr solider Erklärungen, die allein tragfähige Schlußfolgerungen erlauben. Innergesellschaftlich ließen sich die Kulturwissenschaften, sofern sie im Grundsatz einig über bestimmte zentrale Zielsetzungen sind, als Vermittlungsinstanz zwischen Hochschule, Lebens- wie Arbeitswelt und Politik verstehen. Nicht jedoch in dem gängigen postmodernistischen Sinn einer »Sammlung von Fahrplänen« oder eines »Kursbuchs«, das »nicht die Richtung bestimmt, sondern einen guten und verläßlichen Überblick über das Netzwerk der Verbindungen, Knotenpunkte und Umsteigebahnhöfe« liefert, »damit der Leser die beste Verbindung bekommt«14, wie man das gelegentlich, nicht ohne übertriebene Euphorie, neuinstitutionalisierten »kulturwissenschaftlichen Studiengängen« oder gar den »Cultural Studies« anmutet.15 Das wäre entschieden zuwenig – es sei denn, man begreift das Leben als Internet. Vielmehr sollte die Aufgabe sein, mit Hilfe des breiten Erfahrungsschatzes, über den die Kulturwissenschaften verfügen, und der daraus explikativ gewonnenen Einsichten in aktuellen Problemsituationen mit verantwortbaren Handlungsempfehlungen und verläßlichen Orientierungskonzepten aufwarten zu können, aufgrund derer sich nicht zuletzt auch tragfähige Ziele für die Zukunft bestimmen lassen. Wer von den Kulturwissenschaften dagegen erwartet, sie wären imstande, verlorene durch neue Sinnsysteme zu ersetzen, befände sich an der falschen Adresse; dazu sind sie auf14 Düllo & Winter 2000: 6. 15 Düllo & Winter 2000: 10.

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12 | Klaus E. Müller grund ihrer genuinen Voraussetzungen nicht in der Lage; weder können sie metaphysischen noch religiösen oder politischen Ansprüchen genügen. Doch besitzen sie immerhin, um ein großes Wort Jörn Rüsens aufzunehmen, gediegene Mittel, »zur Heilung von gesellschaftlichen Sinnkrisen« beizutragen.16 Der erschöpfte Herausgeber läßt sich nicht nehmen, allen Mitarbeitern für die Engelsgeduld, die sie sowohl seinem Drängen entgegengesetzt als auch gegenüber Säumigen aufgebracht haben, sowie Frau Dr. Karin Werner vom transcript Verlag für die zügige, problemlose und in jeder Hinsicht erfreuliche Zusammenarbeit zu danken. Labor improbus omnia vincit! Kelsterbach, im November 2002 Klaus E. Müller

Bibliographie Acham, Karl, 2001: Einleitung. In: Karl Acham (Hg.): Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften. Bd. 3, 1: Menschliches Verhalten und gesellschaftliche Institutionen: Einstellung, Sozialverhalten, Verhaltensorientierung. Wien. S. 13-35. Assmann, Jan, 1996: Ägypten: eine Sinngeschichte. München. Düllo, Thomas & Carsten Winter, 2000: Die Kunst der Navigation. Kulturwissenschaft für das 21. Jahrhundert. In: Thomas Düllo et al. (Hg.): Kursbuch Kulturwissenschaft. Münster. S. 1-13. Gay, Paul du, 1996: Organizing identity. Entrepreneurial governance and public management. In: Stuart Hall & Paul du Gay (Hg.): Questions of cultural identity. London. S. 151-169. Luhmann, Niklas, 1997: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Bd. 1. Frankfurt am Main. Popper, Karl R., 1973: Objektive Erkenntnis: ein evolutionärer Entwurf. Hamburg. Rüsen, Jörn, 1996: Historische Sinnbildung durch Erzählen. Eine Argumentationsskizze zum narrativistischen Paradigma der Geschichtswissenschaft und der Geschichtsdidaktik im Blick auf nichtnarrative Faktoren. In: Internationale Schulbuchforschung 18: 501-543. Soeffner, Hans-Georg, 2000: Gesellschaft ohne Baldachin: über die Labilität von Ordnungskonstruktionen. Weilerswist. Stagl, Justin, 1993: Der Kreislauf der Kultur. In: Anthropos 88: 477-488. Vom Bruch, Rüdiger et al., 1989: Einleitung. Kulturbegriff, Kulturkritik und Kulturwissenschaften um 1900. In: Rüdiger vom Bruch et al. (Hg.): Kultur und Kulturwissenschaften um 1900: Krise der Moderne und Glaube an die Wissenschaft. Stuttgart. S. 9-24. Warner, William L., 1930-31: Murngin warfare. In: Oceania 1: 457-494. Weber, Max, 21951: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen. Wedgwood, Camilla H., 1930-31: Some aspects of warfare in Melanesia. In: Oceania 1: 5-33. 16 Rüsen 1996: 505.

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Das Unbehagen mit der Kultur | 13

Das Unbehagen mit der Kultur Klaus E. Müller

1. Der Garten Man schrieb das Jahr 1953, als ein junges Makakenweibchen auf dem japanischen Eiland Koshima eine der Süßkartoffeln ergriff, die dort an der Küste zu Versuchszwecken ausgelegt waren, zu einem nahegelegenen Bach trug und ins Wasser tauchte, um sie von den Sandkörnern, die ihr anhafteten, zu befreien. Zuvor hatten die Affen die Früchte lediglich mit der Hand abgewischt. Der Zugewinn an Genußtauglichkeit überzeugte auch andere. Die Innovation wurde alsbald von der gesamten Gruppe übernommen. Später tunkte man die Kartoffeln, schließlich bevorzugt die angebissenen Stücke ins Meerwasser ein, um sie auf diese Weise zu würzen. Neun Jahre danach war die kulinarische Revolution zum festen Bestandteil des tradierten Brauchtums nahezu aller im dortigen Küstenbereich lebenden Makaken geworden. Mehr noch, dasselbe Weibchen streute alsbald auch Futtergetreide ins Wasser, so daß der Sand sich löste und nach unten sank, während das Korngut, an der Oberfläche schaukelnd, mühelos abgeschöpft werden konnte. Begreiflich, daß auch dieser Einfall eine ebenso breite wie begeisterte Aufnahme fand.1 Ähnliche Beobachtungen wurden auch bei anderen Tierarten, insbesondere Menschenaffen gemacht. Bereits Wolfgang Köhler (1887-1967)2, später namentlich Jane Goodall (geb. 1934) und andere fanden heraus, daß vor allem Schimpansen erstaunlich vigilant sind. Sie erfinden und nutzen nicht nur Geräte, sondern kombinieren und richten sie auch zweckgerecht zu. Um an Wasser in engen Baumkammern zu kommen, zerkauen sie beispielsweise eine Handvoll Blätter, kneten die Masse zurecht, schieben sie in die Höhlung, wo sie das Wasser schwammartig aufnimmt, so daß es anschließend herausgelutscht werden kann. In Uganda wurde ein Individuum beobachtet, das einen Zweig mit Blatt als Fliegenwedel benutzte.3 Kranke Schimpansen üben Diät, indem sie sich absondern und lediglich noch Blätter und Säfte ganz bestimmter Pflanzen zu sich nehmen, die im übrigen auch von der einheimischen Bevölkerung zu Heilzwecken verwandt werden, um sich anschließend niederzulegen und zu ruhen. Untersuchungen ergaben, daß die Pflanzen medizinisch hochwirksame Antibiotika und die Immunabwehr stärkende Inhaltsstoffe besitzen.4 Es ließ sich belegen, daß die meisten derartigen Errungenschaften entweder nur in einzelnen oder in mehreren benachbarten Gruppen tradiert, das heißt von den Jungtieren durch Beobachten und Nachahmen erlernt wurden. In vielen Fällen ließen sich signifikante Differenzierungen im Gerätegebrauch und Verhalten der einzelnen Gruppen feststellen.5 Und nicht zuletzt haben Versuche gezeigt, daß 1 2 3 4 5

Harris 1971: 56ff. Eibl-Eibesfeldt 1971: 73f. Vgl. Eibl-Eibesfeldt 1969: 277f. Harris 1971: 50ff. A. S. 1990: 26. Whiten et al. 1999: 682ff.

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14 | Klaus E. Müller gelehrigen Schimpansen bis zu 100 Wortgesten antrainiert werden können, ja ein Gorilla eignete sich sogar 375 Zeichen an. Daraus folgt, daß subhumane Primaten über die Fähigkeit verfügen, abstrakte Symbole für Objekte, Handlungen und selbst Situationen zu verwenden, was an sich auch nicht überraschend ist, da sie die entsprechenden cortikalen Zentren für symbolische Kommunikation besitzen – wenn sie auch keine komplexe vokale Sprache entwickelt haben.6 Tiere leben in Sozietäten, ziehen ihre Jungen groß, bauen Behausungen, fertigen und benutzen Geräte, verständigen sich untereinander auf symbolische Weise, kennen ritualisierte Verhaltensformen, legen auch Vorräte an und bilden teils gruppenspezifische Traditionen aus.7 Sie besitzen also eine rudimentäre Kultur.8 Doch legen sie keine Gärten an und pflanzen erst recht keine Blumen. Denn das bedürfte geregelter Arbeit, die Affen jedenfalls zu hassen scheinen. In den Mythen vieler Völker ist die Rede davon, daß der Schöpfer die Menschen erst am Ende der Urzeit zur Strafe für ein schweres Vergehen mit der Geißel der Arbeit schlug. Zuvor hatten sie in einem paradiesischen, sozusagen naturbelassenen Garten gelebt, den sie nunmehr verlassen mußten, um sich fortan »im Schweiße ihres Angesichts« für ihren Unterhalt krummzulegen. Einige indes wußten sich dem Fluch zu entziehen, indem sie sich in die Bäume der Wälder zurückzogen, um dort, zu Tieren mutierend, fürderhin von der Hand in den Mund zu leben. Das waren die Vorfahren der heutigen Menschenaffen – wie die Orang-Utan zum Beispiel, zu Deutsch »Waldmenschen«. Einen Garten zu bebauen bedeutet, daß man Land roden und umbrechen sowie die geeigneten Geräte dafür besitzen, daß man säen und pflanzen, Saat- von Erntegut scheiden, das heißt vorausschauend planen und handeln muß. Das setzt regelgeleitete, geteilte Tätigkeit und eine Gesellschaftsordnung voraus, die über die erforderlichen Instanzen und Mittel verfügt, sowohl das Zusammenleben und die Kooperation zweckadäquat zu koordinieren und möglichst konfliktfrei aufrechtzuerhalten als auch plausible Gründe dafür ins Feld führen zu können, im Bedarfsfall unter Berufung auf transzendente Übermächte wie Ahnen und Götter. Und grundlegend dabei ist die Idee des bewußten Hegens und Pflegens, des Ackers wie der Gemeinschaft, die ihn bebaut. Ebendies bedeutet das lateinische Verbum colere, von dem das Hauptwort cultura abgeleitet ist: »bebauen«, »bearbeiten«, »veredeln« und »pflegen«. Der Wildnis wie dem Wald, in dem auch die arbeitsscheuen Affen hausen, mußte der Acker durch »Kultivierung« erst abgerungen werden. »Wo der Bauer im Zorn den Wald zerhaun und gerodet«, wie Vergil die Pioniertat preist, »wo er den Grund umbrach, der so lang untätig gelegen […] glänzt das umbrochene Land auf von der schneidenden Pflugschar […] wird sich bewähren beim Anbau als willfährig dem Vieh, geduldig dem Haken des Pfluges« (Georgica II 207ff.). Man verstand das als Fortsetzung der Schöpfung. Der Neuplatoniker Chalcidius (4. Jh. n. Chr.) vergleicht in seinem Kommentar zum Timaios Platos, der bis ins Hochmittelalter zu den meistgelesenen und 6 Roth 1998: 72ff. 7 Immelmann & Immelmann 1985: 74. 8 Keesing 1974: 73.

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Das Unbehagen mit der Kultur | 15 einflußreichsten Lehrschriften zählte, das primordiale Chaos mit dem »dschungelhaften und doch baustoffreichen Wald«, der des »Kultivators« bedürfe, um Struktur und Gestalt zu gewinnen und zu nutzbringendem Kulturland zu werden. Bernardus Silvestris (12. Jh.), auch er Neuplatoniker, spricht sinngleich vom Wald als einem »formlosen Chaos, einem widerspenstigen Dickicht, einem seinsfremden Gebilde, einer in sich uneinigen Masse«, die »aus wirbeliger Unruhe in maßvolle Ordnung, aus der Roheit in die Form, aus der Wildnis in die Kultivation« strebt.9 Der verlorene paradiesische Garten wurde dadurch gleichsam zurückerkämpft. Mehr menschlicher Wohnraum entstand, mehr Welt: lokah, das altindische Wort dafür, bedeutete ursprünglich eine in den Urwald geschlagene »Lichtung«. Analog geht im Deutschen »Raum« auf »Räumen« im Sinne von »Roden« zurück.10 Nicht von ungefähr bedeutete colere auch »bewohnen«. »Garten« dagegen leitet sich von einem gemeinindogermanischen Wurzelwort ab, das sowohl »Umzäunung« und »Eingehegtes« wie »Haus«, »Gehöft« und »Familie« bedeutete. Wildnis oder »Natur« stand so seit alters dem »Kulturland« im Zentrum der Welt gegenüber, in dem Rohes veredelt, Ungebändigtes gezähmt und Verformtes in Wohlgestalt überführt wurde11, idealisiert, wie im Koran, zum Nachbild des göttlichen Gartens, reich an Wasser und Wachstum, fruchtbar und Hort unerschütterlicher Rechtgläubigkeit.12 Zur Kultur zählt eben auch der Glaube: Wie cultura geht auch cultus auf colere zurück, das neben »bebauen«, »veredeln« und »bewohnen« auch »verehren« und »anbeten« bedeuten konnte – die Pflege der Beziehungen zu den Jenseitsmächten. Denn es blieb nicht bei der »pfleglichen« Nahrungsgewinnung. Aus den primären entwickelten sich »sekundäre« Bedürfnisse. Kinder, teils auch von außen einheiratende Frauen, waren anfangs noch »wild« beziehungsweise »fehlzivilisiert«; sie mußten »herangebildet«, durch Hochzeitsbrauchtum und Ehe »enkulturiert« werden.13 Dies und anderes hatte gezielte Sozialisierungsmaßnahmen, eine differenziertere Gesellschaftsordnung mit einem höheren Aufwand an entsprechenden Institutionen, eine religiöse Hinter- und Überwelt und generell verfeinerte Formen der Lebensführung zur Voraussetzung wie Folge. Dem Bauer trat der civis, der Städter oder gebildete Staatsbürger, zur Seite; bäuerliche »Kultur« und »Zivilisation« begannen in einen begrifflichen Wettstreit zu treten, zumal der »biedere Landmann« mit dem Aufstieg des gepflegten Bürgertums zum »Hinterwäldler« entrückte. Der Begriff »Kultur« tritt im Lateinischen etwa ab dem 2. Jahrhundert v. Chr. zunächst im Zusammenhang mit dem Bodenbau auf – so zum Beispiel bei Marcus Terentius Varro (116-27 v. Chr.) in der Schrift über die Landwirtschaft (Res rusticae), etwa in der Verbindung agri cultura. Wenig später verwandte ihn Cicero (106-43 v. Chr.) in den Tuskulanischen Gesprächen erstmals in der übertragenen Bedeutung »philosophia cultura animi est«, verstand ihn also auch als Veredlung und Pflege der 9 Berges 1972: 407ff. 10 Müller 1999: 120f. 11 Thomas H. Huxley spricht in dem Sinne vom »horticultural process«, Huxley 1947: 39. Vgl. MacCormack 1980: 1. Sahlins 1976: 101. Ortner 1974: 72f. Montanari 1999: 15f. 12 Deeg et al. 1997: 171. 13 Vgl. Strathern 1980: 180f., 186. Jenks 1993: 8.

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16 | Klaus E. Müller Natur im Menschen, als Bändigung der Leidenschaften und Bildung des Geistes, wie sie die Beschäftigung mit der Philosophie vermittle.14 In diesem gehobenen Sinne behauptete sich der Begriff im gelehrten Schrifttum von der Spätantike über Mittelalter und Renaissance bis in die Neuzeit.15 Kant begriff ihn in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (11798) als vernunftgeleitete Gegenmaxime zur »Rohigkeit« der menschlichen »Natur« beziehungsweise als »pragmatische Anlage der Zivilisierung durch Kultur«.16 Der Mensch sei »durch seine Vernunft bestimmt […] sich durch Kunst und Wissenschaften zu kultivieren, zu zivilisieren und zu moralisieren«.17 Erziehung spielte dabei die entscheidende Rolle. Im Deutschen Wörterbuch der Gebrüder Grimm wird »civilisieren« rund 50 Jahre später nach wie vor mit »erudire, ad humanitatem informare« definiert (und entsprechend im letzten Band auch »Zivilisation« verstanden). Goethe sprach analog von »Geisteskultur«18, wie sie die Romantiker schließlich einer gebildeten Elite von Künstlern, Literaten und Philosophen vorbehalten sahen.19 Die Linie ließe sich über beliebig viele Stationen fortziehen bis zum Prozeß der Zivilisation von Norbert Elias (1897-1990).20 Die Zweideutigkeit beider Begriffe wurzelte sich im Vokabular der europäischen Sprachen ein. In den romanischen werden sie weithin bedeutungsgleich verwandt. Im Französischen kann culture jedoch auch einen besonderen Hochstand des an sich gebräuchlicheren civilisation bezeichnen21, in ebendem Sinne, wie man im Deutschen von einer »kultivierten« Lebensweise spricht. Im Englischen wieder bedeutet civilization eher »Hochkultur«, in unmittelbarer Entsprechung zum lateinischen Ursprungsbegriff civitas und seinen späteren, renaissancezeitlichen Pendants civilitas oder civilisatio im Sinne von »Stadtkultur« in der betonten Absonderung von der ungehobelten Lebensart der breiten Massen, Bauern und erst recht Barbaren.22 Und letztlich entspricht dem Verständnis auch noch das Begriffspaar »Gemeinschaft und Gesellschaft« von Ferdinand Tönnies (1855-1936).23 Resümierend ließe sich also etwa sagen, daß unter »Zivilisation« eher die allgemeine, gesellschaftliche, unter »Kultur« mehr die persönliche Veredlung der Natur verstanden wurde. Der Begriff »Kultur« im ethnologisch-kulturwissenschaftlichen Sinne bildet sich demgegenüber erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts heraus. Nach zagen Ansätzen in der Schrift De jure naturae et gentium des Natur- und Völkerrechtlers Samuel von Pufendorf (1632-1694), noch eng an Cicero orientiert und daher als In-

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Cicero: Tusculanae disputationes II 13. Vgl. Hansen 1995: 13. Steinbacher 1976: 14. Kant 1968: 676. Kant 1968: 678. Vgl. Kroeber & Kluckhohn 1952: 16, 42f. Th. Jung 1999: 37. Vgl. Steinbacher 1976: 21. Kroeber & Kluckhohn 1952: 13. Jenks 1993: 9f. Elias 1939. Kroeber & Kluckhohn 1952: 11f., 16, 19. Dietschy 1963: 80. Kroeber & Kluckhohn 1952: 19. Steinbacher 1976: 21. Jenks 1993: 7. Vgl. Kroeber & Kluckhohn 1952: 27.

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Das Unbehagen mit der Kultur | 17 begriff der moralischen Gesittung und Pflichten verstanden24, deutlicher dann in der Geschichte der Cultur (1782) und dem Deutschen Wörterbuch (in der Auflage von 1793) des Polyhistors Johann Christoph Adelung (1732-1806)25, gewinnt er erstmals eine nach heutigem Verständnis klar konzeptualisierte Gestalt bei Johann Gottfried von Herder (1744-1803), dem Vater der neuzeitlichen Ethnologie, namentlich in Buch VIII und IX seiner Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit.26 In seiner und Adelungs Nachfolge entsteht dann im 19. Jahrhundert, wohl nicht zuletzt in Reaktion auf Entdeckungsreisen und koloniale Erfahrungen, eine zunehmende Zahl von »Kulturgeschichten«, unter denen die imposante zehnbändige Allgemeine Culturgeschichte der Menschheit von Gustav Klemm (1802-1867) den größten Widerhall fand.27 Das Werk wurde selbst im Ausland zur Kenntnis genommen – in England unter anderem von Edward Burnett Tylor (1832-1917), dem Begründer der britischen Ethnologie, der große Stücke auf Klemm hielt. Er übernahm von ihm den Herderschen Kulturbegriff im Sinne des Ausdrucksganzen der Lebensart eines Volkes und führte ihn in seinem Werk Primitive Culture (1871) ins Englische ein.28 Seine rein summarische, bis heute vielzitierte Definition darin lautet, gleich zu Beginn: »Cultur oder [!] Civilisation im weitesten ethnographischen Sinne ist jener Inbegriff von Wissen, Glauben, Kunst, Moral, Gesetz, Sitte und allen übrigen Fähigkeiten und Gewohnheiten, welche der Mensch als Glied der Gesellschaft sich angeeignet hat.«29 Aufnahme in ein englisches Wörterbuch fand der Begriff gleichwohl erst Ende der zwanziger Jahre30, um kurz darauf auch, allerdings zögerlich, in die ethnologische Literatur einzugehen. James George Frazer (1854-1941) mied ihn zeitlebens konsequent und verwandte statt dessen custom oder customs.31 Im Index zu seinem zwölfbändigen Hauptwerk The Golden Bough ist »civilization« lediglich für drei Stellen, und zwar wieder im Sinne von »Hochkultur«, »culture« dagegen gar nicht enthalten! Alfred Reginald Radcliffe-Brown (1881-1955) verstand letzteren Begriff noch als gleichbedeutend mit cultivation, das heißt im Sinne persönlicher Geschmacksund Geistesbildung32; lediglich Bronislaw Malinowski (1884-1942), gebürtiger Pole und Schüler Wilhelm Wundts (1832-1920), zeigte keine Bedenken, ihn im deutschsprachigen Sinne zu verwenden. In Deutschland selbst war er in der Ethnologie inzwischen fest etabliert. Ein differenziertes Begriffsinstrumentarium entwickelten noch um die Jahrhundertwende die Schöpfer der sogenannten »Kulturkreislehre«, zunächst, noch ganz in der Her24 25 26 27 28 29

Vgl. Stagl 1999: 84. Vgl. Kroeber & Kluckhohn 1952: 37f. Vgl. Kroeber & Kluckhohn 1952: 38f. Kroeber & Kluckhohn 1952: 13f., 30ff., 285f. Steinbacher 1976: 16f. Berger 1995: 15. Kroeber & Kluckhohn 1952: 11, 14. Hall 20. Berger 1995: 15. Tylor 1873: 1. Eine erschöpfende Übersicht über die Geschichte des Kulturbegriffs gibt Isolde Baur in ihrer leider nur in Manuskriptform (in der Staatsbibliothek München) vorliegenden Dissertation (Baur 1951). 30 Kroeber 1952a: 119. 31 Kroeber & Kluckhohn 1952: 67. 32 Radcliffe-Brown 1952: 4f.

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18 | Klaus E. Müller derschen Tradition stehend, Leo Frobenius (1873-1938) in seinen Schriften Der westafrikanische Kulturkreis und Der Ursprung der afrikanischen Kulturen (1897-98), dann Fritz Graebner (1877-1934) und Bernhard Ankermann (1859-1943) 1904 in zwei Tagungsbeiträgen zur näheren, allerdings rein phänomenspezifischen Präzisierung des Kulturkreiskonzepts. Damals hatte der Kulturbegriff überhaupt Konjunktur in Deutschland: Er bildete die »zentrale Kategorie zur Dimensionierung gesamtgesellschaftlicher Wirklichkeit und gedankenloses Modewort zugleich«.33 Karl Lamprecht (1856-1915) – neben Kurt Breysig (1866-1940) Hauptverfechter des historiographischen Konzepts von Kulturgeschichte34 – führte das Kompositum »Kulturpolitik« ein; daneben kamen andere wie »Kulturliberalismus« und »Kulturkonservativismus« auf; selbst Max Weber (1864-1920), empfindlich an sich, was begriffliche Präzision anbetraf, sprach von »Kulturmenschentum«.35 In Frankreich setzte sich der Begriff »culture« in der Fachsprache demgegenüber lediglich bei einigen wenigen Ethnologen, die der deutschen Kulturkreislehre nahestanden, durch, wie namentlich bei George Montandon (1879-1944).36 In den USA schließlich wurde er von Franz Boas (1858-1942), dem Begründer der dortigen Ethnologie, eingeführt. Bestimmend für die gesamte spätere Entwicklung der amerikanischen »Cultural Anthropology«, verstand er ihn einmal, als deutscher Immigrant in der Tradition Herders und der »Volksgeist«-Theoretiker der deutschen Romantik37 stehend, im Kern relativistisch, zum andern, Tylor folgend, rein additiv als Summe sämtlicher Objektivationen der Kultur eines Ethnos. Bereits in den zwanziger Jahren besaß der Begriff, ganz anders als in England, Hochkonjunktur – auf Buchdeckeln ethnologischer Fachpublikationen wie dazwischen. Speziell die damals dominierende »Kulturareallehre« trug wesentlich, wie in Deutschland und Österreich die »Kulturkreislehre«, mit zur begrifflichen Differenzierung bei (»culture trait«, »culture complex«, »culture area« usw.). 38

2. Der Gartenbau »Was fehlte also dem menschenähnlichen Geschöpf [dem Affen], daß es kein Mensch ward?« Diese Frage Herders39 wird man wohl dahingehend beantworten dürfen, daß es, trotz zunehmend schwindender Distanz zwischen beiden Arten aufgrund neuerer Forschungen40 und rudimentärer Ansätze zur Kultur, doch lieber im 33 34 35 36 37 38 39 40

Vom Bruch et al. 1989: 12. Hübinger 1989: 38. Vom Bruch et al. 1989: 11ff. Vgl. den Titel seines Hauptwerks L’ologénèse culturelle: traité d’ethnologie cyclo-culturelle, Paris 1934. Vgl. Müller 1998: 39f. Kroeber & Kluckhohn 1952: 5f., 24. Goodenoug 1981: 48f. Keesing 1994: 301. Herder 1965: 115. Roth 1998: 33.

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Das Unbehagen mit der Kultur | 19 Wald und bei dem blieb, was ihm die Natur beschieden hatte. Der Mensch indes stieg von den Bäumen herab, richtete sich auf und entwickelte sich, erhobenen Hauptes, fort. Er war, wie Kant sagt, »dem Mutterschoß der Natur« entstiegen, »eine Veränderung, die zwar ehrend, aber zugleich sehr gefahrvoll« war und ihn »gleichsam aus einem Garten, der ihn ohne seine Mühe versorgte, heraustrieb und ihn in die weite Welt stieß, wo so viel Sorgen, Mühe und unbekannte Übel auf ihn warteten«.41 Folgende Errungenschaften bildeten die grundlegenden Voraussetzungen dafür: Die vokale, grammatikalisch strukturierte, komplexe Sprache42, wie sie vermutlich bereits der Homo erectus besaß43 und die es erlaubte, Erfahrung in Information umzuwandeln. 2. Die Ingebrauchnahme des Feuers, mit dem sich, chemisch wie physikalisch, natürliche »Rohstoffe« in Kulturgut umwandeln ließen – durch Kochen und Braten, Härten von Holz, Brennen von Ton, Schmelzen und Schmieden von Erzen, Niederbrennen von Gras- und Buschflächen zu Anbau- und Düngungszwecken sowie schließlich auch zur Erwärmung und Beleuchtung der Hütten am Abend, was wesentlich zur Geselligkeit und Erweiterung des Informationsaustauschs beitrug.44 3. Die Entwicklung neuer Technologien, und zwar durch Extensivierung der eigenen physischen Voranlagen: Mit Stein- oder Holzsplittern von bestimmter Form ließ sich besser bohren, graben oder schaben als mit den Fingernägeln, mit einem am Ende verdickten Knüppel kräftiger als mit der Faust zuschlagen. Die ersten Geräte und Waffen bildeten so gewissermaßen Transzendierungen der menschlichen Extremitäten – die Lanze verlängerte den zum Stoß vorgestreckten Arm, der gestielte Stein in der Hand erhöhte die Hebelkraft von Unterarm und Faust. Der deutsche Geograph und Philosoph Ernst Kapp (1808-1896), der das Prinzip als erster erkannte, charakterisierte die primären Geräte daher als »Organprojektionen«45 – mit dem besonderen Vorzug, wie Irenäus Eibl-Eibesfeldt hervorhebt, »daß wir sie auch ablegen können, wenn wir sie nicht brauchen«.46 Arnold Gehlen sprach analog von »Organüberbietung« beziehungsweise, seiner Mängelthese entsprechend negativer, von »Organersatz« oder »Organentlastung«.47 Ergänzend ließen sich auch Brillen, Mikroskope und Fernrohre, Hörgeräte, Mikrophone, Webstuhl und Textilindustrie, Bleistifte, Schreibmaschinen usw. nennen.48 Die Technik entwickelte sich zunehmend von der Physis fort bis hin zur maschinellen Produktion und dehnte den Kulturraum so weiter aus.

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Kant 1968a: 91f. Weisgerber 1963: 7f., 10, 25. Roth 1998: 77. Smolla 1967: 40. Vgl. Heizer 1955: 9f. Kapp 1877. Vgl. Weule 1910: 10f. Eibl-Eibesfeldt 2000: 62. Vgl. Mason 1894: 158. Gehlen 1963: 93ff. Popper 1973: 264f.

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Die Verpflichtung zur Reziprozität im Zusammenleben, kurz- wie längerfristig, auch über den Tod hinaus unter Einschluß der Ahnen, was Erinnerung als Handlungsgrundlage und planende Vorausschau, entsprechende Güter- und Leistungsbewertungskriterien, die Arbeitsteilung sowie die Erweiterung des Kulturraums ins Jenseits hinein zur Voraussetzung beziehungsweise Folge hatte. Verhalten wandelte sich zur moralischen Verpflichtung. 5. Die Begründung von Besitzansprüchen, die im Kern auf zweierlei Weise erfolgt: a) Jemandem gehört, was er gefunden, entdeckt, hergestellt, erdacht, durch Tausch oder Kauf sowie b) durch Abkunft und Erbe erworben hat, wobei letzteres sich auf entsprechende Zeugungs- und Verwandtschaftsvorstellungen samt zugehörige Territorialansprüche gründet, die selbst durch kosmo- und anthropogonische Mythen sowie das Postulat des kontinuierlichen Besitzes über den Ahnenglauben legitimiert sind, wodurch Naturraum in Eigenwelt umgewandelt wird. 6. Die differenzierte Bedeutung von Dingen, Institutionen, Traditionen, Vorstellungen und Personen, sich gründend auf die Prinzipien der Priorität, Seniorität und zentralen Positionierung. 7. Die Sicherung des der Natur abgerungenen und in Kultur umgewandelten Besitztumsganzen durch Memorierungstechniken, Thesaurierung der materiellen wie geistigen Wertgüter, Abgrenzungs-, Schutz-, Binde- und Stärkungsmechanismen, was alles den magischen Kraft- und Bewirkungsglauben zur Voraussetzung hat, sowie die Verabsolutierung der Eigenkultur. Im Gegensatz zur Natur ist Kultur mithin eine Summe von mit Hand oder Kopf künstlich Geschaffenem, das sich weder durch bloße Fortpflanzung noch Selbstwuchs erhalten kann.49 Sie stellt gegenüber den vorangegangenen Organisationsformen des Lebens etwas qualitativ Neues dar50, sich zusammensetzend aus – vom Betrachter freilich immer idealtypisch herauskonturierten51 – »anorganischen« Elementen und Elementenkomplexen ihrer sozialen, materiellen, rechtlichen, moralischen, magischen (d.h. quasi »naturtheoretischen«) und religiösen Ausdruckssphären. Und namentlich die letzteren Aspekte machen den Unterschied zu den Tieren aus. Menschen besitzen ein doppelbödiges Weltbild, das insgesamt ein kohärentes, sinnvolles Ganzes bildet, getragen von den Hintergrundsmächten im Jenseits, und daher nicht voll ins Belieben bloßen Instinktverhaltens gestellt ist.52 Während Raubtiere ihre Beute reißen, verzehren und die Reste achtlos liegenlassen, stellt das Töten des Jagdwilds für Menschen ein tiefgründiges kompliziertes Problem dar. Beide nämlich sind gemeinsamen Ursprungs, also Abstammungsverwandte. Als solche aber müssen sie einander respektvoll begegnen und sind zur Reziprozität und Hilfe in Notfällen verpflichtet, das heißt dürfen einander nicht töten. Der Weidgang war 49 50 51 52

Steinbacher 1976: 15. Belik 1999: 9. Kluckhohn & Kelly 1947: 96. Vgl. Herskovits 1966: 17. Jaeger & Selznick 1964: 658f.

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Das Unbehagen mit der Kultur | 21 daher alles andere als profaner Nahrungserwerb. Die Jäger kasteiten und reinigten sich zuvor. Der Angang selbst erfolgte in strikt ritualisierter Weise. War das Wild zur Strecke gebracht, gaben sich die Jäger leidenschaftlichen Trauerbekundungen hin, entschuldigten sich bei ihren Opfern in bewegten Worten oder schoben die Schuld auf Angehörige benachbarter Gruppen. Anschließend wurden teils umfängliche Versöhnungszeremonien vollzogen, um das Los der armen, durch den »Mord« eines »Schlimmen Todes« erlegenen Seelen der Tiere zu wenden. Nach dem Verzehr des Fleisches war zudem üblich, die Knochen entweder förmlich beizusetzen oder in der anatomisch korrekten Anordnung wieder in der Wildnis auszulegen, da dies, wie man glaubte, die erneute Verkörperung der Tiere möglich machte. Entlastend und tröstend kam die Überzeugung hinzu, daß der »Herr« beziehungsweise die »Herrin der Tiere«, eine Art Übergeistmächte, die für den Bestand des Wildes Sorge trugen, vorab ihre Einwilligung erteilt haben mußten, ehe ein Jäger überhaupt Erfolg haben konnte.53 Erhob diese gewisse »Verkopfung« den Homo erectus sapiens auch über seine tierischen Vettern, so teilten doch beide bestimmte Formen der Sozialorganisation. Und dies schuf Ethnologen wie Soziologen über Generationen hin ein absonderliches Problem: Durfte man »social systems« bereits der Kultur zuschlagen, wo es doch tierische Sozietäten gab, die ohne sie auskamen? Viele, und namentlich die britischen Funktionalisten von Radcliffe-Brown bis Edward Evans-Pritchard (1902-1973)54, plädierten dafür, beide Bereiche als unterschiedliche »Komponenten« (engl. components) des gesellschaftlichen Lebens zu betrachten und analytisch strikt getrenntzuhalten. Die soziale Ebene sei der kulturellen vorgeordnet, also von ihr nicht »veranlaßt«, wenn auch »modifiziert«.55 Es gebe, so Godfrey Lienhardt (1921-1993), benachbarte Völker, wie Dinka und Nuer im Südsudan, die eine annähernd einheitliche Kultur, aber politisch extrem abweichende Einstellungen besäßen.56 Der Ethnologe Alfred Louis Kroeber (1876-1960) und der Soziologe Talcott Parsons (19021979) schlugen daher gemeinsam vor, unter einem »Sozialsystem« die Struktur der Interaktionsbeziehungen von Individuen und Gruppen einer Gesellschaft, unter »Kultur« dagegen die Summe ihrer artifiziell entwickelten und tradierten Formen des materiellen, axiologischen, ideellen und sonstigen symbolisch-bedeutungsvollen Besitztums zu verstehen.57 Sie und andere, wie Gregory Bateson (1904-1980), Clifford Geertz (geb. 1926), Ward H. Goodenough (geb. 1919) und Claude Lévi-Strauss (geb. 1908), betonten, daß keine der beiden Ebenen auf die andere reduzierbar sei oder sie lediglich widerspiegele58, verwiesen jedoch auch auf ihre unauflösliche Verschränkung, die es müßig erscheinen lasse zu fragen, welcher von ihnen die 53 Müller 1997a: 17f. 54 Richards 1960: 28ff. 55 Steinbacher 1976: 16, 78. Fortes & Evans-Pritchard 1940: 3. Kroeber & Kluckhohn 1952: 267. Herskovits 1966: 29. Lienhardt 1966: 155. Kroeber & Parsons 1970: 85. Vgl. Jaeger & Selznick 1964: 655f. 56 Lienhardt 1966: 155. 57 Kroeber & Parsons 1970: 86f. Vgl. Herskovits 1966: 29. 58 Bateson 1936: 25f. Kroeber 1948: 252. Keesing 1974: 83. Kroeber & Parsons 1970: 85ff.

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22 | Klaus E. Müller primäre Bedeutung zukomme, so daß es Sache des einzelnen sei, welcher er sein bevorzugtes Interesse schenke.59 Meyer Fortes (1906-1983), der bedeutendste Vertreter des klassischen Funktionalismus, sprach in dem Sinne von »Komplementarität« und begriff, analytisch schärfer, die Sozialstruktur als den »quantitativen«, die Kultur als den »qualitativen« Aspekt des Ganzen. Im Falle des Brautpreises etwa beziehe sich seine Höhe auf den ersteren, auf den letzteren dagegen die Verpflichtung, ihn auf eine bestimmte herkömmliche Weise zu entrichten.60 Für grundlegend hielt er allerdings – im Anschluß an Radcliffe-Brown61 – doch die »Sozialstruktur« (»social structure is the foundation of the whole social life of any continuing society«); das »Brauchtum« (custom) symbolisiere lediglich die sozialen Interrelationen.62 Weniger die Konsequenz als die Voraussetzung dieser »Doppelstrategie« schöpfte aus der durch den Evolutionismus des 19. Jahrhunderts bestärkten These, daß die Kultur eine absolut eigenständige Stufe in der Entwicklung der Lebewesen darstelle. Herbert Spencer (1820-1903) hatte ihr daher das Epitheton »superorganic« verliehen, das Kroeber wieder aufgriff und ethnologisch präzisierte.63 Kultur sollte, um einen Begriff Karl Poppers zu verwenden, als eine Art »Dritte Welt«64, als überindividuelle Wirklichkeit verstanden werden, die entsprechend eigenen Regeln gehorcht.65 Daraus folgte, daß sie auch unabhängig von ihren empirischen Trägergruppen studiert werden konnte. »There is little doubt«, so Melville Herskovits (1895-1963), »that culture can be studied without taking human beings into account.«66 Nicht von ungefähr kam der Vorschlag, dies im Rahmen einer eigenen Disziplin, der »Kulturologie«, ins Werk zu setzen, von Leslie A. White (1900-1975), einem der Gründerväter des ethnologischen Neoevolutionismus67, und wohl kaum weniger zufällig wurde er jüngst wiederaufgenommen von einem russischen Kulturwissenschaftler, nämlich Andrej Belik, der sich im übrigen dezidiert auf Kroeber, Herskovits und White bezieht.68 In den USA selbst hielt sich die Auffassung später noch bei Vertretern der »Ethnoscience« beziehungsweise »Cognitive Anthropology«, wie Ward Goodenough, Charles Hudson (geb. 1932) oder Charles O. Frake (geb. 1930), deren Interesse ja zur Hauptsache den »belief«, »cognitive« oder »symbol systems« einer Gesellschaft gilt.69 Derartige Auffassungen implizieren, eingestandenermaßen oder nicht, daß die Menschen ihren Kulturen mehr oder weniger hilflos ausgeliefert sind, was sie zugleich aller Verantwortung benimmt: Der Nationalsozialismus oder Kommunismus tragen 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69

Kroeber 1948: 267f. Kroeber & Parsons 1970: 85. Vgl. Vogt 1960: 24. Fortes 1970: 108f. Vgl. Keesing 1974: 83. Fortes 1953: 21, 23. Kroeber 1917. Vgl. Herskovits 1966: 23. Vgl. Popper 1973. Kroeber 1948: 253ff. Hoebel 1956: 170. 1958: 8. Herskovits 1966: 22f. Dundes 1968: 158. Jenks 1993: 36. Herskovits 1966: 21 (Hervorhebung im Original). Vgl. insbesondere White 1943 u.1959. Belik 1999. Vgl. Frake 1962: 95. Hudson 1966: 67.

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Das Unbehagen mit der Kultur | 23 Schuld, nicht die Menschen, wie Alan Dundes (geb. 1934) das Konzept kritisiert.70 Der Garten hat sich die Menschen untertan gemacht.

3. Die Gärtnerei »Das Kulturkonzept stellt den bedeutendsten Einzelbeitrag der Ethnologie zum modernen Denken dar.«71 Diese euphorische Einschätzung des amerikanischen Ethnologen Edward Adamson Hoebel (1906-1993) wird von kaum einem seiner Kollegen bis auf den heutigen Tag geteilt. Im Gegenteil: Welch einschlägige Arbeit man immer auch aufschlägt, binnen kurzem stößt man auf das Lamento, daß es an einer überzeugenden Kulturtheorie fehle.72 Nicht einmal über die Schlüsseltermini, klagt Alan Dundes, bestehe Einigkeit.73 Der Begriff »Kultur« umfasse zu vieles, von den Eskimo über die alten Ägypter bis zu den Italienern von Untermanhattan, um präzise gefaßt werden zu können.74 Ein tiefes Unbehagen quält die Gemüter der Ethnologen, denken sie an Kultur. Den Soziologen scheint ähnlich zumute zu sein. Niklas Luhmann (1927-1998) konstatierte noch 1997 »eine gewisse Skepsis im Hinblick auf die Möglichkeiten einer Theorie der Kultur«.75 Manche Autoren, auch aus anderen Kulturwissenschaften, belassen es daher bewußt bei rein deskriptiven Bestimmungen nach der Vorlage Tylors76, knapp gefaßt, wie bei dem deutschen Ethnologen Adolf Friedrich (1914-1956), etwa als »Summe aller Lebensäußerungen eines Volkes«.77 Auch Lévi-Strauss bekannte sich noch vor wenigen Jahren expressis verbis dazu und rezitierte zur Bestätigung einem Interview-Partner die von ihm hochgepriesene Tylorsche Formel aus dem Kopf.78 Einzelnen Skeptikern, wie den amerikanischen Ethnologinnen Catherine Lutz und Lila Abu-Lughod, genügt selbst diese Verzichtsübung nicht. Sie plädieren dafür, den Begriff »Kultur« überhaupt ganz fallenzulassen – allerdings mehr aus antiessentialistischen Motiven, weil er Kohärenz, Gleichförmigkeit und Zeitlosigkeit suggeriere.79 Das hieße indes, das Kind mit dem Bade ausschütten. Fruchtlos waren die jahrzehntelangen Bemühungen der Ethnologen keinesfalls. Immerhin wurde eine Reihe brauchbarer Konzepte entwickelt. Doch, wie Kroeber und Kluckhohn zu Recht beto-

70 Dundes 1968: 158f. 71 Hoebel 1958: 7. 72 Vgl. z.B. Blumenthal 1940: 571. Kroeber & Kluckhohn 1952: 70, 357. Goodenough 1981: VI. 1994: 262. Keesing 1994: 310. Hansen 1995: 5. Richter 1999: 163f. Belik 1999: 6. 73 Dundes 1968: 157. 74 Hoebel 1956: 173. 75 Luhmann 1997: 410. Vgl. Steinbacher 1976: 12. Jenks 1993: 11. 76 Vgl. z.B. Kluckhohn & Kelly 1947: 97f. Lienhardt 1966: 155. Nahodil 1970: 34. Martin 1997: 2. Rudolph 1998: 56f. 77 Friedrich 1941-43: 29. 78 Lévi-Strauss & Eribon 1989: 240. 79 Lutz & AbuLughod 1990: 9.

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24 | Klaus E. Müller nen, »even an important one does not constitute a theory«.80 Ich liste die einflußreichsten in der Folge kurz auf. 1.

Kulturen sind das Ergebnis von Anpassungsprozessen an eine gegebene oder sich verändernde Umwelt; sie stellen, wie Herskovits sagt, »the man-made part of the environment« dar.81 Die Adaptation erfolgt dabei selektiv, das heißt im Rahmen mehrerer Möglichkeiten.82 Ziel ist ein ausgewogenes »Ökosystem«.83 Dieser Auffassung sind mehr oder weniger alle Ethnologen. Vorrangige Bedeutung maßen ihr jedoch Vertreter der älteren anthropogeographisch, der marxistisch beziehungsweise »kulturmaterialistisch« und neoevolutionistisch orientierten Ethnologie sowie der Kulturareallehre zu, unter anderen namentlich Friedrich Ratzel (1844-1904), Clark Wissler (1870-1947) und seine Schule, Julian H. Steward (1902-1972), Leslie A. White, Marshall D. Sahlins (geb. 1930), Marvin Harris (geb. 1927), Roy A. Rappaport (geb. 1926) und Andrew P. Vayda (geb. 1931).84 2. Kulturen sind hochintegrierte Instrumentarien zur Befriedigung elementarer biologischer und nachgeordneter, sogenannter »sekundärer« Bedürfnisse (basic bzw. derivative needs), gefaßt in »Institutionen«, die, um möglichst effizient funktionieren zu können, ein hohes Maß an Interdependenz85, Kohärenz und Ausgewogenheit aufweisen86. Jedes einzelne Element dient dem Erhalt des Ganzen; fällt es aus, kann es durch ein passendes anderes ersetzt werden; keines ist unersetzlich.87 Kulturen lassen sich demnach also wesentlich als selbsterhaltende Systeme verstehen.88 Dieser Auffassung waren vor allem die Vertreter des klassischen (englischen) Funktionalismus, in erster Linie die Gründerväter Bronislaw Malinowski89 und Alfred Reginald Radcliffe-Brown90, ferner unter ihren Schülern namentlich Edward Evans-Pritchard, Raymond Firth (geb. 1901), Siegfried Nadel (1903-1956), Ralph O’Reilly Piddington (1906-1974), Max Gluckman (1911-1975) und Meyer Fortes, in Deutschland, moderater allerdings, Richard Thurnwald (1869-1954)91 und Wilhelm Mühlmann (1904-1988).92 3. Kulturen sind integrierte Systeme all dessen, was die Menschen einer Gesell-

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Kroeber & Kluckhohn 1952: 357. Herskovits 1966: 17f. Kluckhohn & Kelly 1947: 95, 98; vgl. 84. Gehlen 1964: 42. Dice 1955: 2. Heizer 1955: 3. Vgl. Kroeber & Kluckhohn 1952: 168. Alland & McCay 1973. Keesing 1974: 75f. Bargatzky 1998. Vgl. Nadel 1947: 10. Vgl. Malinowski 1949: 76ff. Piddington 1963: 140. Vgl. a. Luhmann 1997: 14. Keesing 1994: 301. Vgl. Kroeber & Kluckhohn 1952: 167. Jenks 1993: 39f. Müller 1998: 36ff. Vgl. insbes. Malinowski 1931 u. 1949. Vgl. insbes. Radcliffe-Brown 1935, 1940, 1946 u. 1949. Vgl. insbes. Thurnwald 1966. Vgl. insbes. Mühlmann 1938 u. 1964.

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schaft seit Generationen bei der Suche nach Lösungen ihrer existentiellen Probleme erlernt, an bewährter Erfahrung gesammelt und via Enkulturation an ihre Nachfahren weitertradiert haben. Dieser Auffassung waren und sind, wenn auch mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung, praktisch alle Ethnologen. Besonderen Wert auf den Problemlösungsaspekt legten unter anderen der italienische Ethnologe Conte Vinigi L. Grottanelli (geb. 1912)93 und der deutsche Linguist Florian Coulmas (geb. 1949).94 Kulturen sind Ordnungssysteme, die nach Maßgabe je eigener, Altes erhaltender und Neues umprägender oder abweisender Strukturmuster, wechselnd mal als »pattern« (Benedict)95, »Ethos« oder »Eidos« (Bateson)96, mal als »Konfiguration« (Kroeber), »Lebensstil« (way of life), »Thema« (Opler)97 oder »Philosophie« (Kluckhohn) bezeichnet, Verhalten, Moral, Denken und Ideale der Menschen durchgreifend bestimmen. Die Begründung dafür wurde anfangs, im Anschluß an Herder98, im »Volksgeist«, dann Gestaltkriterien, später in einem je spezifischen »basic«, »modal« oder »ideal personality type« gesucht. Dieser – relativistischen – Auffassung waren fast ausnahmslos Vertreter der amerikanischen »Kulturmuster«- beziehungsweise »Kultur- und Persönlichkeitslehre« der dreißiger bis fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts, insbesondere Ruth Benedict (1887-1948), Margaret Mead (1901-1978), Gregory Bateson (1904-1980), Alfred Louis Kroeber (1876-1960), Ralph Linton (1893-1953) und Clyde Kluckhohn (1905-1960).99 Kulturen sind integrierte Symbol- oder Sinnsysteme ethnisch je eigener Textur, deren bedeutungsträchtige »Codes« Orientierungs- und Regelvorgaben (»Modelle«) für das Verhalten und Handeln bereitstellen.100 Da die Wirklichkeit sich nur durch Symbole beschreiben und – wie im Ansatz schon bei Affen – vermitteln läßt, handelt es sich eigentlich um eine triviale Auffassung, die daher auch nicht sonderlich neu ist. Abgesehen von Wilhelm Dilthey (1833-1911)101 und Ernst Cassirer (1874-1945), vertraten sie unter anderen dezidiert bereits Leslie White

93 Grottanelli 1964: 188f. 94 Coulmas 1979: 24. Vgl. z.B. generell dazu Schurtz 1900: 5. Kluckhohn & Kelly 1947: 98f. Kroeber & Kluckhohn 1952: 111ff. Linton 1952: 21. Fortes 1953: 21, 22. Dice 1955: 4f. Hoebel 1956: 172. 1958: 7. Steward 1958: 44. Felix M. Keesing bei White 1963: 359. Kluckhohn & Mowrer 1963: 296, 304f. Redfield 1966: 334. Dundes 1968: 158. Röpke 1970: 55ff. Y. A. Cohen 1971: 19ff. Lorenz 1973: 260f. Posner 1991: 39. Luhmann 1997: 588. 95 Benedict 1934. 96 Bateson 1936. 97 Opler 1945. 98 Vgl. a. Baumann 1999: 24. 99 Vgl. z.B. Kroeber 1948: 286, 293f. 1952: 4f., 9. Kroeber & Kluckhohn 1952: 118ff. Linton 1952: 4, 12, 21. Hoebel 1956: 168, 172, 180. Whiting & Child 1962: 24. Kluckhohn et al. 1963a: 342. Herskovits 1966: 169. Hall 1980: 119, 135ff. Müller 1998: 39ff. 100 Macaloon 1984: 2. Gossen 1974: X. Vgl. Reckwitz 2000: 31, 85. 101 Dilthey 1966: 58-64, 81f.

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26 | Klaus E. Müller (»all human behavior originates in the use of symbols«)102, Meyer Fortes103 und Claude Lévi-Strauss.104 Neuerlich wurde die heute fast gängige Meinung wieder in den Vordergrund gerückt von Clifford Geertz (geb. 1926), dem Scholarchen der »Symbolischen Ethnologie«, offenbar im Anschluß an Cassirer. Gleich diesem, der von einem »symbolic […] tangled web of human experience« sprach105, verwendet Geertz das Bild von »durch Menschen gesponnenen Bedeutungsgeweben« (»webs of significance man himself has spun«)106 oder auch »Texten«, die es zu interpretieren gelte.107 Besonders entschieden sind dieser Auffassung Vertreter der Ethnosemantik und Symbolischen Ethnologie.108 6. Kulturen sind als hochkomplexe Kommunikationssysteme zu verstehen, die, wie Thomas Luckmann betont, als solche »genetisch nicht festgelegt, innerhalb der Gattung wandelbar« und allein »geschichtlich vermittelt« erscheinen.109 »Im Zusammenwirken aller Kommunikationsmedien«, so auch Niklas Luhmann, »kondensiert das, was man mit einem Gesamtausdruck Kultur nennen könnte.«110 Das Konzept knüpft an das vorangehende an. Schon White, vor allem aber Claude Lévi-Strauss111, dann Geertz und andere begriffen beziehungsweise begreifen Symbole immer auch als »Zeichen«, Ensembles entsprechend als »Codes« der innersozietären Verständigung.112 »Alle menschlichen Beziehungen beruhen«, so Lévi-Strauss, auf dem »Austausch von Nachrichten«.113 Dieser – an sich ja naheliegenden – Auffassung waren, abgesehen von White, auch bereits andere ältere Autoren, wie Kroeber114 und Margaret Mead115. Heute wird sie – zumindest als wesentlicher Aspekt der Kultur – von vielen Ethnologen und Soziologen, namentlich aber Vertretern der Ethnosemiotik und Ethnolinguistik favorisiert, wie namentlich Jurij Lotman, nach dem Kultur sich auffassen läßt »als eine Hierarchie von Kodes, als Gesamtheit der Texte und ihrer Funktionen oder als ein bestimmter Mechanismus, der diese Texte hervorbringt«, und dem deut102 103 104 105 106 107 108

109 110 111 112 113 114 115

White 1040: 451. Vgl. 1943: 335. 1949: 15. Fortes 1953: 21f. Vgl. Keesing 1974: 78. Cassirer 1944: 25. Geertz 1975: 5, 10. Geertz 1969: 3; 1975: 10. Ebenso Clifford 1988: 38. Vgl. Kroeber & Kluckhohn 1952: 137f. Jaeger & Selznick 1964: 660, 662f., 668. Sebag 1967: 130f. Y. A. Cohen 1971: 19. Keesing 1974: 79ff. Dupré 1975: 19. Mol 1976: 206. Goodenough 1981: 59. Macaloon 1984: 2. Comaroff & Comaroff 1992: 27. Jenks 1993: 8. A. Cohen 1994: 134f. Fornäs 1995: 1, 176. Luckmann 1983: 1570. Luhmann 1997: 409. Vgl. insbes. Lévi-Strauss 1949. White 1940: 451, 460. Geertz 1969: 3. 1975: 14. Auch Max Weber war bereits dieser Auffassung: vgl. Esser 2001: 5. Lévi-Strauss 1967: 178. Kroeber 1917: 189. Mead 1953: 647.

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schen Linguisten Roland Posner, der Kultur als »Zeichensystem« definiert, das »aus individuellen und kollektiven Zeichenbenutzern besteht, die Texte produzieren, in denen mittels konventioneller Kodes Botschaften formuliert sind, welche den Zeichenbenutzern die Bewältigung ihrer Lebensprobleme ermöglichen«.116 Kulturen sind je spezifische kognitive Orientierungssysteme, die sich aufbauen aus den Vorstellungen, die Menschen sich über die Daten ihrer Erfahrung gebildet haben. Sie setzen sich also nicht eigentlich aus sichtbaren dinglichen Gütern und Institutionen, sondern den »Theorien« darüber, den Prinzipien und Regeln des Verhaltens zusammen, das heißt stellen Wissenshaushalte dar. Die klassische Definition stammt von Ward Goodenough, einem der Begründer dieses Konzepts, und lautet: »Die Kultur einer Gesellschaft besteht aus allem, was man wissen oder glauben muß, um sich im Einklang mit den anderen zu verhalten.«117 Dieser Auffassung waren vor allem Vertreter der – älteren – Ethnoscience, auch der Ethnosemantik, der Ethnolinguistik und namentlich der Kognitionsethnologie (Cognitive Anthropology), wie etwa, neben Goodenough selbst, Noam Chomsky (geb. 1928), Anthony F. Wallace (geb. 1923), Harold C. Conklin (geb. 1926), Oswald Werner (geb. 1928), Charles O. Frake (geb. 1930), Brent Berlin (geb. 1936) und Stephen A. Tyler (geb. 1932).118

Alle genannten Konzepte lassen in auffallender Weise zwei Gesichtspunkte außer Acht: die Existenz transkultureller Universalien und die Frage, warum es sich bei Kulturen um »Systeme« handelt. Infolgedessen muß beispielsweise unklar bleiben, nach welchen Kriterien Selektion und Siebung bei der Anpassung erfolgen, warum bestimmten Dingen, Institutionen, Personen und Werten mehr Bedeutung als anderen zukommt und sie daher markanter symbolisiert, vorrangiger in »Theorie« umgesetzt und der Kommunikation bevorzugt eingespeist oder entzogen werden, nach welchen Kriterien die Vorstellungsbildung erfolgt und warum so sehr auf Kohärenz und den Erhalt der Traditionen, Verhaltenspatterns und »Lebensstile« gesetzt wird. Unter transkulturellen Universalien verstehe ich, um nur einige der meiner Meinung nach wichtigsten zu nennen: die Prinzipien der Geometrisierung von Raum, Zeit und Verhalten, der Priorität, Seniorität, Distanzierung, Distinktion, Seklusion, Restituierung und Exponierung von Hochwertigem; die Kategorien Rein/ Unrein, Alt/Neu, Gewöhnlich/Ungewöhnlich, Unversehrt/Versehrt, Nah/Fern, Zentral/Peripher; bestimmte ethnophysiologische Vorstellungen (wie sie etwa Knochen und Organe betreffen), den Seelenglauben, die Zeugungs- und Verwandtschaftskonzeptionen, den magischen Kraftglauben; die Institutionen der Ehe, Familie und Abstammungsverwandtschaft sowie den Ethnozentrismus und kosmologischen Dualismus. Der Schlüssel zum Verständnis des Systemcharakters der Kulturen liegt 116 Posner 1991: 53f., 56; vgl. 46ff. 117 Goodenough 1957: 167. Vgl. 1981: 50ff., 61f., 102, 110ff. 1994: 263ff. Singer 1968: 537f. 118 Vgl. Tyler 1969. Keesing 1974: 77ff., 89. Geertz 1975: 11. Coulmas 1979: 24f. Renner 1980. Kokot 1998.

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28 | Klaus E. Müller meines Erachtens in der Konsistenz beziehungsweise dem Konsistenz- oder Identitätsbewußtsein von Gruppen. Nun wird neuerlich ebendies von Vertretern der »postmodernen« Ethnologie bestritten und zum puren »Konstrukt« erklärt – allerdings mehr mit Blick auf die westlichen Ethnographen; denn zumindest traditionelle Sozietäten besitzen ganz unbestreitbar nicht nur ein sehr ausgeprägtes »Wir-Bewußtsein« und demonstrieren es nach außen hin deutlich genug durch Grenzmarkierungen, Heiratstabus und überhaupt ihre gesamte Kultur119, sondern bekennen sich auch erklärtermaßen dazu.120 Mit diesem dezidierten Zugehörigkeitsempfinden verbinden sich vor allem die vier folgenden Konsequenzen, bei denen die genannten Universalien oder Invarianzen eine entscheidende Rolle spielen: 1.

2.

3.

4.

Es besteht das Bestreben, die Kultur der Gruppe als Ausdruck ihres Identitätsbewußtseins stabilzuerhalten, wozu eine Reihe universal übereinstimmender Sicherungsmechanismen dient (Identifizierung, Gleichverhalten, Abgrenzung, Konventionalisierung, Dogmatisierung usw. mehr). In der Tat zeigen Gruppen mit gefestigter Identität eine auffallende Neigung zu konservativem, »traditionellem« Verhalten.121 Es besteht das Bestreben, mögliche interne Spannungen infolge der geschlechter-, alters-, tätigkeits- und statusspezifischen Divergenzen durch die begrenzte Tolerierung von Partialidentitäten auszugleichen und damit zugleich die strukturelle Voraussetzung für Reziprozität und Arbeitsteilung zu schaffen. Es besteht das Bestreben, die je eigene Kultur von der Ding- bis zur Vorstellungswelt als sinnvolles Ganzes, als plausiblen, durch Erfahrung und Tradition verläßlich beglaubigten Bedeutungszusammenhang zu begreifen. Die Kultur gibt, wie Hans-Georg Soeffner sagt, »Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens«.122 Das erlaubt es, Unpassendes im Innern – etwa im Fall von Subgruppen-, Klassen-, ländlichen und städtischen oder Überschichtungskulturen – wie nach außen distinkt zu halten (Distinktionsprinzip), und löst gleichzeitig die Scheindichotomie von Sozialstruktur und Kultur auf. Es besteht das Bestreben, darüberhinaus die diesseitige von einer jenseitigen Welt zu scheiden und damit, positiv, eine vorgeordnete Begründungsbasis für die Entstehung und den Bestand der gruppeneigenen Sinnwelt sowie, negativ, eine Kontrastsphäre zu gewinnen, die den Ursprungsgrund alles Bedrohlichen, potentiell Zerstörerischen, das heißt Bösen bildet.

Die Kultur stellt so einen Wertekosmos dar, dessen Aufbau jeweils den genannten 119 Fortes 1953: 22f. Mühlmann 1964: 249. 120 Vgl. Goodenough 1981: 102, 110ff. 1994: 262, 270. Herskovits 1966: 28. Berger 1995: 62. Nauerby 1996: 16. Baumann 1996: 204. 121 Diamond 1968: 119. 122 Soeffner 1998: 243. Vgl. Jaeger & Selznick: 1964: 659. Herskovits 1966: 27. Mol 1976: 214. Rüsen 1983: 59.

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Das Unbehagen mit der Kultur | 29 universalen Prinzipien folgt. Das schlagende, allezeit Energie abstrahlende Herz des Ganzen bilden die Kernareale mit dem Hauptheiligtum, den Reliquiaren, sakramentalen Feiern, der mythischen Überlieferungspflege und der Amtswaltung der höchstrangigen Würdenträger. »Die empirische Wirklichkeit«, befand Max Weber, »ist für uns ›Kultur‹, weil und sofern wir sie mit Wertideen in Beziehung setzen« und sie dadurch »für uns bedeutsam« wird123 und insofern, wie Heinrich Rickert (1863-1936) gleichsinnig sekundiert, auch der steten Pflege bedarf.124 Der Bestand der Kultur drückt den Erhalt der Identität aus und steht damit für das Überleben der Gruppe, um das es letzten Endes geht. In streng traditionalistisch eingestellten Gesellschaften, deren Sinnwelt durchaus Alt- mit Neubeständen, Mythen mit Sagen, ererbte mit Importgütern zu einem integrierten Ganzen verband, bildete die Kultur insgesamt so eine Art kulturgeschichtliches Freilichtmuseum125, ließe sich, mit Jan Assmann, als »das objektivierte Gedächtnis einer Gesellschaft« begreifen, »das ihre Identität durch die Generationenfolge hindurch sichert«126, das heißt ihr über die vermeintlich bruchlose Kontinuität den Anschein von Ewigkeit verleiht. Doch das entsprach nur der identitätsideologischen Optik. De facto ist jede Kultur schon aufgrund der inneren wie äußeren Differenzierungsdynamik einem steten, wenn auch meistenteils kaum merklichen Wandel unterworfen. Dabei spielt zweierlei eine grundlegende Rolle: 1. 2.

Jeder Anpassungsprozeß erfolgt im Kern nach Maßgabe der elementaren Verhaltens- und Vorstellungsinvarianzen. Seine materiale Manifestierung schöpft dabei in der Hauptsache aus dem lokalen Ressourcenbestand.

Auf diese Weise entstanden ursprünglich gleichsam vollangepaßte »Inselkulturen«. Für sie galt, was für jede andere Kultur ebenso gilt: die Doppelnatur aus einer sichtbaren und sozusagen »dunklen« Kultur. Ralph Linton und Clyde Kluckhohn bezeichneten beide Aspekte als »explizite« und »implizite« beziehungsweise »overt« und »covert culture«, andere als »reale« und »ideale« oder, wie Cornelius Osgood (1905-1985), als perzeptive (perceived) und konzeptive (conceived) Seite der Kultur.127 Man orientierte sich dabei mit an der linguistischen Scheidung zwischen »Oberflächen«- und »Tiefenstruktur«: Der Grammatik entsprachen die normativen Setzungen, Regeln und Ideale, der Metagrammatik, wie sich ergänzen ließe, der Elementarsatz an transkulturellen Universalien. Und wie die Grammatik nur aus der gesprochenen Sprache, läßt sich die Struktur der »dunklen Kultur« immer nur aus dem

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Weber 1951: 173 (Hervorhebungen im Original). Rickert 1899: 20, 28. Vgl. Kluckhohn & Kelly 1947: 96. Mühlmann 1962: 258f. Assmann 1991: 14. Kluckhohn 1941: 114ff. Osgood 1951: 210ff. Linton 1952: 25, 79f. Hoebel 1956: 173ff. Vgl. Dietschy 1963: 89ff.

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30 | Klaus E. Müller gelebten, manifesten Erscheinungsbild der expliziten erschließen – worauf im übrigen bereits der Philosoph Rudolf Carnap (1891-1970) mit Nachdruck hinwies.128 Die Unterscheidung ist in der Tat von Bedeutung; denn wie in der Physik das »Verhalten« der sichtbaren nicht ohne Annahme »dunkler Materie« erklärlich erscheint, setzt das Verständnis von »Kultur an sich« wie auch ihrer variablen Einzelobjektivationen die Kenntnis der universalen Regelwelt der menschlichen Verhaltens- und Vorstellungsinvarianzen voraus. Rein schematisch ließen sich kulturgeschichtliche Entwicklungsprozesse als Folge von Kontakten und Kombinationen ursprünglicher »Inselkulturen« beschreiben. Das Problem liegt jedoch darin, daß der Entwicklungsbegriff vektoriell verstanden wird, meines Erachtens wieder aus identitätsideologischen Gründen. Faktisch beziehen sich Fortschrittskriterien überwiegend auf ergologisch-technologische Innovationen – von der Bilderschrift zum Alphabet, vom Waschbrett zur Waschmaschine, vom Einbaum zum Motorschiff usw. – woraus mit schöner Regelmäßigkeit, wenn auch fälschlich, auf einen gesamtgesellschaftlichen Fortschritt extrapoliert wird.129 Je technisierter eine Gesellschaft, desto höher entwickelt dünkt sie sich.130 Blickt man als Ethnologe zurück, vermag man jedoch kaum parallele Fortschritte etwa im sozialen Zusammenleben, der Moral, der religiösen Gläubigkeit oder des künstlerischen Ausdrucksvermögens festzustellen. Ja im Gegenteil, die Anagenese im einen Bereich läßt verheerende Spuren in den anderen zurück. Jeder Gewinn wird mit Verlusten erkauft: Seßhaftigkeit und Bevölkerungsanstieg führten, worauf schon Lévi-Strauss verwies, zu einem dramatischen Anstieg der Infektionskrankheiten131, die Industrialisierung hatte den Kolonialismus, inzwischen die Pauperisierung der Dritte WeltBevölkerungen zur Folge, ein Mehr an Komplexität ist mit erhöhter Anfälligkeit und Ressourcenraubbau im Umfeld verknüpft – streng nach der ehernen Geltungskraft des Zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik. Evolutionsbiologen verweisen heute darauf, daß einfache Formen keinesfalls »ursprünglichen« oder »primitiven« entsprechen müssen und »Vereinfachungen von Strukturen in der Evolution ebenso häufig zu finden sind wie Komplizierungen«.132 Die Ethnologie kann das nur bestätigen. Wild- und Feldbeuterkulturen sind gewöhnlich arm an materiellem Besitz. Bis zum heutigen Tage hält man das für ein Indiz extremer »Unterentwicklung« – und übersieht, daß sie gleichzeitig – wie Batek und Buschmänner zum Beispiel – häufig eine entschieden reichere Geisteskultur als Pflanzer und Bauern besitzen.133 Im Makrobereich der materiellen Welt verläuft die Zeit bekanntlich irreversibel. Nicht so im Quantenbereich. Auch in der »dunklen« Welt der Gedanken lassen sich Rückführungen, Reformen und Umbildungen immerhin ideell »simulieren«. Nur ist die Vermittlung beider Welten, in der Physik wie in den Kulturwissenschaften, noch immer ein ungelöstes Problem. 128 129 130 131 132 133

Carnap 1966: 30ff. So noch Mühlmann 1962: 269. Herskovits 1966: 20f. Lévi-Strauss 1985: 29. Roth 1998: 35. Vgl. a. Leith-Ross 1965: 55f.

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Das Unbehagen mit der Kultur | 31 Ich meine also, wir müßten in der Kulturgeschichte Abstand nehmen von vektoriell, teleonomisch, evolutiv oder sonstwie begründeten hierarchischen Stufenkonzepten. Angemessener erscheint mir statt dessen eine differenzierte Systematik von Typen, Typensequenzen und Typenkomplexen kultureller Formationen, die ihre Begründung in der wechselnden Anordnung der Invariablen und ihrer umwelt- und geschichtsspezifischen Materialisationen fänden und zu bewerten wären allein danach, ob und inwieweit sie andere tolerieren, fördern oder schädigen. Das könnte auch die Akzeptanz für die Pluralität von Kulturen erleichtern – innersozietär, regional, wie etwa im Sinne von komplementären Verbundsystemen von Nomaden und Bauern oder ländlichen und städtischen Gesellschaften134, und global135 – und vielleicht das erwähnte Unbehagen mit dem Kulturbegriff, der zu vieles umfasse, um präzise bestimmt werden zu können, in explorationsfreudige Appetenz verwandeln.

4. Die Gärtner Das geböte allerdings ein weit über das klassisch-ethnographische Bezugsfeld hinausgreifendes Kulturverständnis, wie es allein die Kooperation aller Kulturwissenschaften zu erschließen imstande wäre. Dennoch bliebe die analytische Schlüsselrolle der Ethnologie erhalten, da ihr nun mal, in der Breite wie in der Tiefe, typologisch optimale – oder optimal idealtypologische – Vergleichsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Trotz aller Verschränkung von Sozialorganisation und kulturellem »Aufsatz« käme dem Studium des letzteren dabei das Primat zu, wie das vor gut 80 Jahren bereits Leo Frobenius, vor 50 auch Bronislaw Malinowski forderte136, weil erstere Teil der Kultur ist und durch sie ihre Funktions- und Bedeutungszuweisung erhält. Kroeber und Kluckhohn ergänzten im gleichen Sinne, die Kultur besitze für die Ethnologie eine analog explanatorische Valenz (explanatory importance) wie der Krankheitsbegriff für die Medizin oder die Gravitation für die Physik.137 Dabei bedarf indes, und analog wiederum, wenn auch hier speziell zur Quantenphysik, die sogenannte »Beobachter-Problematik« besonderer Berücksichtigung. Ihr fiel zwar gerade in der neueren, postmodernen Ethnologie eine stark angeblasene Beachtung zu, doch wurde sie rasch in literarische Dimensionen verschoben, so daß ihre eigentlich fundamentale Relevanz im dunkeln blieb. Immerhin gehört es inzwischen zumindest zu den theoretischen Essentials der Ethnographie, daß jeder Forscher »im Feld« allein schon durch seine bloße Anwesenheit, mehr noch sein Verhalten, bei dem ihm vielfach Verstöße gegen die Etikette seiner Gastgeber unterlaufen, namentlich aber sein eingreifendes Interesse durch Fragen, »Hausbesuche«, Fotografieren usw. die Situation, der er sich aussetzt, verändert: Antworten und Reaktionen fallen anders als unter ungestörten Bedingungen aus – und dies »verfremdete« Bild geht dann, wenn auch später vielleicht noch nachgebes134 135 136 137

Darauf wies bereits Kroeber 1948: 277f. u. 281 hin. Vgl. Wandruszka 1971: 926. Jenks 1993: 10. Frobenius 1925: 370, 372f. Malinowski 1949: 46f. Kroeber & Kluckhohn 1952: 3.

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32 | Klaus E. Müller sert, in die abschließende Beschreibung ein138, ganz abgesehen von allem, was ihm verschwiegen oder bewußt verfälschend dargestellt wurde.139 Die Erkenntnis zählt an sich zu den ältesten Einsichten abendländisch-ethnologischen Reflektierens. Es lohnt sich, wieder mal in Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht nachzuschlagen. »Der Mensch«, führt er dort gleich in der »Vorrede« aus, »der es bemerkt, daß man ihn beobachtet und zu erforschen sucht, wird entweder verlegen (geniert) erscheinen, und da kann er sich nicht zeigen, wie er ist; oder er verstellt sich, und da will er nicht gekannt sein, wie er ist.«140 Rezente psychologische Untersuchungen ergaben zudem, daß neue oder gezielte Zusatz- und Fehlinformationen die Erinnerung von Gesprächspartnern »in oft gründlicher Weise verzerren« und »man Menschen dazu bringen kann, sich ihrer Vergangenheit unterschiedlich zu entsinnen – und daß sie sich sogar verleiten lassen, komplette fiktive Ereignisse in ihr Gedächtnis aufzunehmen, als wären sie wirklich geschehen.«141 Wie ein Experiment nur Antworten, die im Rahmen seiner Anordnung, seiner Fragestellung möglich sind, erwarten läßt142 – heute seit Norwood Russell Hansons Patterns of discovery von 1958143 nahezu schon ein Gemeinplatz – wird auch die Auswahl eines spezifischen Kulturtyps und der Forschungsthematik von einem bestimmten theoretischen Vorverständnis oder Erkenntnisinteresse geleitet – und zwar in allen empirischen oder sogenannten »Realwissenschaften«.144 Das Alternativideal theoriefreier Beobachtung, wie es weiland geschworene Positivisten, neuerlich Apologeten der »dichten Beschreibung« in Geschichte145 wie Ethnologie postulieren, liefe, um den Schweizer Ethnologen Jürg Helbling zu zitieren, auf ein »orientierungsloses Herumirren im Wald der Fakten« oder, radikaler gesagt, einen Selbstbetrug hinaus, da eine voraussetzungslose Betrachtung epistemologisch ein Unding darstellt; die theoretischen Implikationen, das Vorverständnis oder Interesse bleiben in diesem Fall implizit146, das heißt der Kritik ihrer Leitfunktion entzogen und verdecken mithin auch die Konsequenzen für das Ergebnis. Das Gegenargument lautet, theoriebedingte Beobachtung verfälsche die »Fakten« oder töne sie nach Bedarf ab.147 Das stimmt zwar und ist unbestritten, gilt aber gewissermaßen nur vordergründig. Jede Forschung stellt einen »Eingriff« in bestimmte und zudem, wie in der Quanten- und Biowelt, hochsensible Systeme dar. Im ersteren Fall zwingt er die Situation im Zielbereich, einen bestimmten Zustand anzunehmen, und entzieht andere damit der Beobachtung148; bei der ethnographischen Befragung werden die »In138 139 140 141 142 143 144 145 146 147 148

Leach 1989: 39. Leed 1993: 189, 193. Müller 1997: 138f. Vgl. Salamone 1977. Nachman 1984. Bleek 1987. Kant 1968: 401 (Hervorhebungen im Original). Loftus 1998. Vgl. C. G. Jung 1952: 3f. Hanson 1958. Meran 1985: 49. Lowenthal 1985: 263f. Kornwachs 1994: 121. Heidelberger 1997: 15f. Vgl. Iggers 1993: 84. Helbling 1984: 98. Helbling 1984: 99. Vgl. Jordan 1947: 41. Horgan 1992: 84.

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Das Unbehagen mit der Kultur | 33 formanten« zu einer bestimmten Antwort oder Reaktion genötigt, die mögliche andere im dunkeln läßt. Beidenfalls entspricht das Ergebnis einer isolierenden Eigenschaftszuschreibung, die den Kontext – zunächst – scheinbar unberücksichtigt läßt. Durch den – wie man in Analogie zur physikalischen Begrifflichkeit sagen könnte – sogenannten »Heisenberg-Schnitt« entstehen künstliche Teilsysteme, bei deren Fixierung die Wechselwirkungen und Korrelationen des Gesamtsystems der Kultur aus dem Blick geraten.149 Eigentlich ist es sogar noch schlimmer. Der »Eingriff« folgt nämlich einem fundamentalen und somit unvermeidlichen Erkenntnisprinzip: Der Gewinn neuen Wissens hat zwingend analytisches Zerlegen, also Zerstörung bestehender Zusammenhänge zur Voraussetzung; die Vivisektion wäre ein besonders drastisches Beispiel dafür. Einen zweiten Modus bildet zwar die Kombination – allerdings von zuvor Zerstücktem.150 Beides aber ist Folge des Wechselwirkens in der Natur, das Geschiedenheit, gebunden über »Resonanzen«, wie Kombination gleichermaßen voraussetzt. Vor gut 100 Jahren stellte der französische Mathematiker und Physiker Henri Poincaré (1854-1912) die damals noch einigermaßen kurios anmutende Überlegung an, ob sich die Wechselwirkung gleichsam wegdenken ließe. Das hätte immerhin jedwede Kohärenz aufgehoben und damit nicht nur das Leben, sondern auch Kultur unmöglich gemacht. Er kam zu dem Ergebnis, daß es sowohl »integrable« als auch »nichtintegrable« Systeme gebe.151 Erstere wären im Falle der Ethnologie Importe fremden Kulturguts, die voll integriert werden, letztere bilden den Bestand aller miteinander unverträglichen, daher distinkten Größen, wie Kindheit und Alter, die Geschlechter, Menschen und Tiere usw., die Kombination erfordern, also die Grundlage von Reziprozität und Arbeitsteilung darstellen. Schaltete man die Wechselwirkung aus, käme es zum Desaster: Bei Versuchspersonen, deren Wahrnehmungsvermögen drastisch eingeschränkt wurde, traten nach einiger Zeit empfindliche Denkstörungen auf, die sich teils zu Halluzinationen steigerten; keine stand die Isolation länger als eine Woche durch.152 Analog würde jede Kultur, der man alle gesellschaftlichen Bindemechanismen entzöge, binnen kurzem zusammenbrechen. Es handelt sich abermals um ein fundamentales Prinzip. Beide, Natur wie Kultur, bauen nicht nur gemeinsam darauf auf – sie wechselwirken auch ihrerseits miteinander, wobei der Grenzbereich im engeren Sinne, von Prigogine als »Schnittstelle von Geist und Materie« bezeichnet, wie schon gesagt, ein besonderes Problem, analog dem des Übergangs zwischen makro- und mikrophysikalischen Zuständen, darstellt.153 Parapsychologisch verstanden, ginge es um Grundfragen der Psychokinese. In der Makrowelt, zu der auch biotische wie soziale und kulturelle Systeme zählen, sind Veränderungen grundsätzlich irreversibel.154 Legt man also den Kernbe149 150 151 152 153 154

Vgl. Atmanspacher 1996: 30f. Vgl. Jordan 1947: 44. Prigogine 1995: 58f. Milner 1993: 57, 60. Prigogine 1995: 64. Vgl. Atmanspacher 1993: 107f. Roth 1998: 281.

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34 | Klaus E. Müller stand – oder die »Struktur« – der elementaren Verhaltens- und Vorstellungsinvarianzen zugrunde und stehen, bei analogen, das heißt kulturtypologisch äquivalenten Voraussetzungen, hinreichend gut dokumentierte Fallbeispiele vergleichbarer Kontakt- und Forschungssituationen zur Verfügung, lassen sich Regeln formulieren und entsprechend auch Entwicklungen prognostizieren. Universal konstante Antezedenzbedingungen erscheinen also sowohl zum Verständnis wie zum bewußten Umgang mit Kultur und zumal jedweder interkulturellen Verständigung155 unabdinglich. Sie machen Orientierung erst möglich156 und liefern, analog zur »Universal«- oder »Metagrammatik« Noam Chomkys und seiner Schule157, die Grundregeln der sozialen Kooperation158, ja werden, zur weiteren Absicherung, durch artifizielle Regularien in Form normativer Setzungen gleichsam noch »überhöht«.159 Diese »essentialistische« Sicht der Dinge wurde in den letzten Jahrzehnten bekanntlich von Vertretern der postmodernen Ethnologie gleich einer morschen Festung berannt und zu schleifen versucht. Die Systemkohärenz der Kulturen, heißt es, trüge. Tatsächlich gingen ihre »Träger« eigene Wege, interpretierten ihre Erfahrungen, auf Arenen wechselnder Bedeutungskonstellationen interagierend160, nach freiem Belieben161, kreativ wie rekreativ; alles, ob Kindheit, Kenntnis oder Kultur, verdanke sich spontaner »Erfindung« (invention), sei kulturelles Konstrukt, Fiktion, eine Schöpfung der Poesie162: Alle Kultur ist »reconceived as inventive process or creolized ›interculture‹«.163 Poeme besitzen generell Gleichwertigkeit – »Bob Dylan is just as good a poet as Keats«.164 Kultur wird »textualisiert«; die Lektüre der »Texte« erfolgt »beyond the control of any single authority«. Die Folge ist ein – befreiendes! – »feeling of lost authenticity«.165 Und der Gewinn dieser »kopernikanischen Wende des menschlichen Denkens«, so der unbescheidene Anspruch, ist nichts Geringeres als »die Freiheit und Selbständigkeit des Menschen«, der nunmehr seine »Lebenswirklichkeit selbstherrlich und imaginativ« zu »entwerfen« vermag und »seinem Leben einen selbst gesetzten Sinn voranstellt«.166 Das biete ganz neue, »vielfältigere und reichere Möglichkeiten, Kultur [sic!] zu verstehen«167, geleitet vom »Kriterium einer von

155 156 157 158 159 160 161 162 163 164 165 166 167

Hoebel 1956: 173. Topitsch 1972: 317. Bierwisch 1966: 95ff. Tiger & Fox 1973: 19. Youssouf et al. 1976: 797. Topitsch 1972: 330. A. Cohen 1994: 119. Wassmann 1998: 2. Vgl. Clifford 1988: 4, 14, 38f. Sollors 1989: IXff. Rosaldo 1989: 217. Comaroff & Comaroff 1992: 27. Eller & Reed 1993: 197. A. Cohen 1994: 154. Fornäs 1995: 1f., 9, 134, 139. Clifford 1988: 15. Jenks 1993: 3. Clifford 1988: 4, 38, 53. Hansen 1995: 171f. Fornäs 1995: 2.

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Das Unbehagen mit der Kultur | 35 keiner Notwendigkeit getrübten Freiheit und Willkür«.168 Und dieser gelösten Auffassung sollen heute »all anthropologists« sein169 – eine, gelinde gesagt, waghalsige Einschätzung, die sich entweder aus Unkenntnis der Literatur oder übertriebenem Selbstvertrauen speist. Trotz dieser euphorischen Siegesgewißheit ist der Trend, wie zu erwarten war und neuere Publikationen bereits erkennen lassen170, im Sinken begriffen. Daß die schönen Thesen an der konkreten Erfahrung »im Feld« wie Seifenblasen zerplatzen und immer wieder durch die Eigenoptik der Bezugsgruppen selbst widerlegt werden171, ist schon manchem Jünger der Bewegung bitter deutlich geworden. Es ließ sich schlecht ignorieren, daß die Gruppen, bei denen man arbeitete, halsstarrig ihre ethnische (kulturelle) Identität für eine elementare und seit alters bruchlos fortwährende Größe hielten. Das mochte ja imaginiert sein, aber sie waren nun einmal überzeugt davon.172 Wenn auch elegant umgangen, bleibt die grundlegende Aporie des Kulturrelativismus wie ein Stein unempfundenen Anstoßes im Weg: Zu sagen, daß alles »Konstrukt« sei, ist nicht nur wahrnehmungs- und erkenntnistheoretisch eine Trivialität, sondern selbst »constructed« und formal überdies ein Allsatz, der den Vergleich voraussetzt und einen generellen – oftmals noch mit apodiktischer Unnachgiebigkeit verfochtenen – Gültigkeitsanspruch erhebt, was beides den eigenen Prämissen zuwiderläuft. Und außerdem verfügen wir ja, und nicht nur in den Naturwissenschaften, über optimal bewährte Theorien oder, wenn man so will, empirisch bestfundierte »Konstrukte«, die sich nicht beliebig biegen und interpretieren lassen – wie sie zum Beispiel der Töpferei, dem Hausbau oder der Kulturpflanzennutzung zugrunde liegen. Demgemäß können die Postulate der postmodernen Ethnologie bestenfalls nur für einen sehr begrenzten Ausschnitt der Erfahrungswelt gelten. Was bereits David Bidney (1908-1987) – deutlich mit dem Blick zurück auf Herodot (III 38) – dem klassischen Kulturrelativismus vorwarf, trifft auch auf seine heutigen Nachtreter zu: nicht erklären zu können, warum jede Ethnie, bei aller ihr eingeräumten Lizenz, nach Belieben zu wählen, doch immer »das eigene Wertsystem gegenüber allen anderen bevorzugt«.173 Auf weitere eklatante Konzeptwidersprüche hat bereits auch Roger Keesing hingewiesen174, der zu Recht von einem »indulgent subjectivism and narcissism« sprach175, der die »radical otherness«, die er aufzulösen behaupte, geradezu brauche, »to show that our takens-for-granted represent European cultural constructions«.176 Jean-François Lyotard, selber ein wichtiger Vordenker der Postmoderne, beklagt denn auch ihre »›Theorie‹-Müdigkeit und die elende Erschlaffung, die sie begleitet«.177 168 169 170 171 172 173 174 175 176 177

Hansen 1995: 173. Eller & Reed 1993: 197. Vgl. z.B. Nauerby 1996: 20. Vgl. Goodenough 1994: 262. Vgl. Nauerby 1996: 21f. Bidney 1968: 424f. Keesing 1994: 301f., 305. Keesing 1994: 307. Keesing 1994: 302. Lyotard 1989: 12.

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36 | Klaus E. Müller Und neu ist das Ganze auch nicht. Im Grunde wurde, wie bereits Herskovits seherisch gleichsam voraussah, nur der alte Antagonismus zwischen »Realismus« und »Idealismus« erneut aufgerührt, meistenteils allerdings ohne die entsprechende philosophische Vorkenntnis. Herskovits sprach schon von der Möglichkeit, »culture as having no more than psychological reality, existing as a series of constructs in the mind of the individual« zu begreifen178 – eine Position, wie sie im übrigen bereits zu Anfang des 20. Jahrhunderts allgemeiner und radikaler der Neukantianer Hans Vaihinger (1852-1933) mit seiner fiktionalistischen Philosophie des »Als Ob« verfocht.179 Kultur bleibt der sperrige Widerpart, an dem man sich reibt, stößt oder aufgibt. Minderheiten wie Völker der »Dritten Welt« bestehen nun mal darauf; sie wollen sich, was, wenn auch angeblich nur vermeintlich, ihr eigen ist und ihre Identität verkörpert, nicht nehmen lassen180 – erst recht nicht von denen, die doch behaupten, sie endlich richtig verstanden zu haben. Indianische Kritiker setzen die BricolageManier ihrer unwillkommenen Emanzipatoren mit »Tricksterei« gleich.181 Ob nun fingiert oder nicht, der Kulturbegriff lebt konstituierend fort, so daß manche Autoren dem, was er zu bezeichnen »vorgibt«, sogar, wenn auch ungern, »Realität« zusprechen und fordern, die »Strukturen und Mechanismen der kulturellen Reproduktion« [sic!] einschließlich des Stabilitätsphänomens »ethnischer Identitäten« genauer zu analysieren.182 Einem Hardliner wie Anthony Cohen ist zwar nicht wohl dabei, doch sieht auch er die Notwendigkeit.183 Der Rückbezug auf die je eigene Gruppe, die sich vor allem über die Gleichsetzung von Gemeinschaft, Kultur und Identität definiere184, so auch Gerd Baumann, sei schlechthin lebenswichtig.185 Sein Fazit: »There is no idea as important for understanding social life as the concept of culture.«186 Ein Hauch von Essentialismus bleibt ruchbar.187 Bedachtsamere Denker, wie Gerd Baumann, empfehlen daher, die dynamische, prozeßorientierte Kulturauffassung188, wie sie relativistischen, auf stete, kreative Veränderung setzenden Positionen entspräche, mit der essentialistischen zu kombinieren; andernfalls sähe man sich der Konsequenz ausgesetzt, »die Menschen, die wir studieren, für schizophren zu halten, weil sie behaupten, die Erde sei ebenso flach wie rund«.189 »Kultur ist« eben, wie abermals bereits Herskovits hervorhob, »both stable and everchanging«.190 178 179 180 181 182 183 184 185 186 187 188 189 190

Herskovits 1966: 21. Vaihinger 1922. Keesing 1994: 303. Krupat 1992: 7. Vgl. z.B. Eller & Reed 1993: 198. Vgl. Tishkov 1997: 21. A. Cohen 1994: 5. Vgl. Jenkins 1996: 105. Baumann 1996: 6. Baumann 1996: 197. Vgl. Nauerby 1996: 16. Baumann 1996: 204. Ebenso Nauerby 1996: 16. Vgl. Keesing 1994: 302f. Vgl. Baumann 1999: 25f. Neuerlich radikaler 2000: 164. Baumann 1999: 87. Vgl. Jenks 1993: 4. Herskovits 1966: 20. Ebenso Sahlins 1992: 141.

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Das Unbehagen mit der Kultur | 37 Niemand, der seine fünf Sinne beisammen hat, wird bestreiten, daß sich Lebensformen ständig, meist eher minimal und kaum wahrnehmbar, manchmal dramatisch verändern; doch geschieht das – nachvollziehbar, wenn man nicht nur seine fünf Sinne, sondern auch seine Vernunft bemüht – immer im Rahmen bestimmter invarianter Strukturvorgaben, das heißt unter systemspezifischen Voraussetzungen; andernfalls müßten wir davon ausgehen, in einer absolut chaotischen Welt zu leben. Es handelt sich hier um die ethnologische Variante des Problems, das die Historiker mit der – explanatorisch notwendigen – Verschränkung von »Ereignis«- und »Strukturgeschichte«191, eigentlich aber alle Erfahrungswissenschaften haben.192 »Eine Struktur«, zieht der große englische Ethnologe John Middleton Bilanz, »ist die Kehrseite von einem Prozeß, und wir müssen beide verstehen, wenn wir das eine oder andere erkennen wollen.«193 Kultureller Wandel ereignet sich in Reaktion auf endo- wie exogen induzierte Veränderungen in der natürlichen, sozialen oder habituellen Umwelt, setzt sich also aus einer kleineren oder größeren Folge von Anpassungsprozessen zusammen. Er ist als solcher nur wahrnehmbar vor dem kurz- oder längerfristig stabilen Hintergrund geordneter Zustände.194 Und abermals: Da sich viele derartige Prozesse unter typologisch vergleichbaren Voraussetzungen auf entsprechend analoge Weise vollziehen, weil sie an »tieferliegende« invariante Antezedenzbedingungen gebunden sind195, lassen sich auch die »Regeln« bestimmen, denen sie folgen – wie gelegentlich selbst Postmodernisten zugestehen.196 Tatsächlich liegt auch hier ein fundamentales Naturprinzip zugrunde: Kommt es, wo auch immer, aufgrund von Erschütterungen bestehender Systeme zu »chaotischen« Zuständen, ist stets auch die Tendenz zu beobachten, nach den Regeln der »Selbstorganisation« baldmöglichst wieder zu geordneten Strukturen zurückzufinden.197 Kultur ist der Stoff, aus dem die Lebenswelt der Menschen gemacht ist, tiefmaschig, komplex und in der Textur auf das vielfältigste differenziert wie ein uralter Garten. Wer einen solchen betritt und darin arbeiten will, weiß nicht so recht, wo er anfangen soll. Unbehagen macht ihn beklommen, zumal er allzuviele gute Ratschläge erhält, die nicht auf polyphonen Zusammenklang, sondern lediglich Gehör zu finden bedacht sind. Sein Auge ertrinkt schließlich in den vielfarbigen Blüten und Früchten: Er erklärt seine Irritation kurzerhand zur postmodernen Tugend. Kultur als flexible Innen- wie Außenmanifestation der Gruppenidentität zu begreifen, wäre ein theoretisch plausibel begründbarer Ausweg. Dazu wäre die Ethnologie allein allerdings nicht imstande. Sie könnte das Kernkonzept entwickeln, das dann der bestätigenden Ausdifferenzierung durch andere – möglichst alle – Kulturwissenschaften in konzertierter Kooperation bedürfte, wie das 191 192 193 194 195 196 197

Vgl. Koselleck 1973. Müller 1998a: 24. Herskovits 1966: 19f. Vgl. Lorenz 1973: 259ff. Middleton 2000: 26. Herskovits 1966: 20. Jaeger & Selznick 1964: 658. Vgl. Mead 1953: 647b. Wie z.B. Fornäs 1995: 176. Vgl. Prigogine & Stengers 1981, insbes. 176ff. Prigogine 1995.

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38 | Klaus E. Müller wiederum bereits Leo Frobenius anriet198 und heute von Geschichtstheoretikern wie Jörn Rüsen gefordert wird.199 Nur so ließe sich die Allgemeingültigkeit des Konzepts und damit zugleich seine praktische Relevanz für die Probleme der Zeit – Ethnochauvinismus, Fundamentalismus, »Rassismus«, Nationalismus, Multikulturalität usw. – überzeugend begründen. Neuerlich scheint sich auch die Aufgeschlossenheit dafür zu beleben. Nicht nur die wiederholten Appelle zur Inter-, ja »Transdisziplinarität« (Mittelstraß), die »anthropologische Wende« beziehungsweise der Zug zur »Anthropologisierung« der (aller!) Kultur- und Geschichtswissenschaften, auch die »Cultural Studies« stehen dafür. Was gerade zu den letzteren bisher allerdings vorliegt, muß eher entmutigend stimmen. Mit viel Aplomb zwar zum »mainstream project« erklärt, erscheint die wesentlich literaturwissenschaftlich oder volkskundlich grundierte Basis doch allzu schmal. Interdisziplinarität ist zwar Programm, der skizzierte Kanon – von Germanistik über Gender, Visual oder Colonial Studies, Shopping, Oper und Horrorfilme bis hin zur Massen- oder Popular Culture gespannt – mutet jedoch wenig orientierungsfähig, geschweige denn systematisch durchdacht an. Dem entspricht eine deutliche – durchaus auch selbsteingestandene – theoretische Insuffizienz. Einige sprechen, eher hochtrabend, von »theoretical eclecticism«200, manchen dagegen erscheint der diffuse Trend eher als Indiz einer grundlegenden Krise der Kultur201, andere wieder treten beherzt die Flucht nach vorn an und sehen darin wieder den Ausdruck postmodernen, multikulturellen, ja wahrhaft demokratischen Denkens. Während die einen auf Vielheit pochen (und den »Prozeßcharakter« aller Kultur beschwören), träumen andere bereits vom Dach einer »Superdisziplin«, unter dem die »various cultural projects« ihren Platz finden sollten.202 Auf absehbare Sicht jedenfalls scheint von dieser (sehr US-amerikanischen) Art, die Probleme anzugehen, kaum Brauchbares zu erwarten zu sein. Wer sein Feld auf diese Weise bestellt, wird bestenfalls Kraut und Rüben ernten. Kultur bleibt die Herausforderung, für die Kulturwissenschaften die Aufgabe der Zukunft. Auch Technik ist Teil der Kultur. Nur wer diese versteht, hat Chancen, mit jener fertigzuwerden. Sokrates streut im Phaidros (276E – 277A), seine Gesprächspartner im Geist in einen Garten geleitend, Zuversicht aus. Es handle sich um eine Arbeit, wie wenn jemand »mit Einsicht Reden säet und pflanzt, welche sich selbst und dem, der sie gepflanzt, zu helfen imstande und nicht unfruchtbar sind, sondern einen Samen tragen, vermittels dessen einige in diesen, andere in anderen Seelen gedeihend, eben dieses unsterblich zu erhalten vermögen«.

198 199 200 201 202

Frobenius 1925: 370f. Rüsen 1998: 36. Hohendahl 1999: 8. Chaney 1994: 8ff. Vgl. etwa Brantlinger 1990. Grossberg et al. 1992. Fish 1995. Frow 1995. Hohendahl 1999.

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Geschichtswissenschaft in kulturwissenschaftlicher Perspektive Hans-Joachim Gehrke Gegenstand der Geschichtswissenschaft sind Geschehen und Zustände der Vergangenheit. Damit ist die methodologische Grundproblematik des Faches bereits beschrieben: Sein Gegenstand ist nicht unmittelbar sichtbar und greifbar oder gar durch Experimente konstruier- und wiederholbar. So ähnelt der Historiker eher einem Kriminalisten, der durch Spurensuche (»Quellen«) zu Ergebnissen kommt. Es sind darüber hinaus zwei Sicht- und Zugangsweisen, die die Arbeit des Historikers prägen. Zum einen ist die Geschichtswissenschaft durch ein höchst komplexes Zeitverhältnis charakterisiert.1 Sie richtet sich nicht allein auf Vergangenes schlechthin, sondern betont auch den Verlaufscharakter der Zeit, die Diachronie, mithin auch den Einfluß des Faktors Zeit auf die menschlichen Gesellschaften und Kulturen. Dabei differenziert sie zwischen verschiedenen Modi oder Amplituden von Zeitabläufen, etwa in der Unterscheidung zwischen Phänomenen der »longue durée« (F. Braudel) oder der dynamischen Beschleunigung, die schon Jacob Burckhardts besonderes Interesse fanden. Die Relevanz von geradezu autonom ablaufenden Prozessen wird dabei deutlich, aber auch die »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«.2 Zum anderen tritt der Historiker jeder Epoche entgegen, als sei sie »unmittelbar zu Gott«, so Leopold von Ranke.3 Diese historistische Perspektive bedeutet, daß die Geschichtswissenschaft sich um ein Verständnis anderer, vergangener Epochen, Gesellschaften und Kulturen von deren eigenen Voraussetzungen und deren eigenem Horizont her bemüht und sie nicht nach eigenen oder sonstwie angenommenen Maßstäben beurteilt. Die daraus resultierende Hermeneutik des »Verstehens« ist freilich immer an das verstehende Subjekt und dessen Beziehungssystem rückgekoppelt.4 So steht gerade auch die historische Vergangenheitsorientierung in einem spannungsreichen und fruchtbaren Wechselverhältnis zur Gegenwart. Die Rückwendung ist zugleich Vergegenwärtigung.5 Gerade aufgrund dieser Perspektive wird die Geschichte in der vom Neukantianer Wilhelm Windelband formulierten Unterteilung zwischen »idiographischen« und »nomothetischen« Wissenschaften dem »Idiographischen« zugerechnet und so auf das Einzelne, das Detail, das besondere Geschehen verwiesen.6 Damit ist sie zugleich von der als »nomothetisch« verstandenen Naturwissenschaft stark geschieden. Dies wird in gewisser Weise dadurch bestätigt, daß die meisten Historiker Konzepten ablehnend oder doch zumindest reserviert gegenüberstehen, die von festen 1 Generell Koselleck 1989; das hängt mit dem Entstehungszusammenhang der Geschichtswissenschaften zusammen: Heuß 1995: 1973f.; Muhlack 1981: 611f. 2 Faber & Meier 1978; zu Braudel s. Raulff 1999. 3 Zum Zitat und seinen Implikationen s. Evans 1998: 25ff. 4 Zur grundlegenden Bedeutung dieser Phänomene vgl. u. S. 61 mit Anm. 38 und S. 66 mit Anm. 48. 5 Faber 1972: 128ff.; Heuß 1995: 2121ff. 6 Iggers 1971: 175ff.

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50 | Hans-Joachim Gehrke historischen Gesetzen ausgehen. Man hat hier vor allem an Hegels Geschichtsphilosophie und dessen marxistisch-materialistische Umdeutung zu denken. Aber auch die massive Zurückweisung von Karl Lamprechts Idee der Kulturgeschichte durch die deutsche Historikerzunft ist vor allem hierin begründet.7 Sich in derart scharfer Zuspitzung zu situieren, ist aber nicht unbedenklich. Die Dichotomie läßt in Vergessenheit geraten, daß es Historikern keineswegs nur um das »idiographische« Detail und das Herauspräparieren der faktischen Einzelheiten geht. Vielmehr ist Geschichtswissenschaft gerade dort besonders reizvoll – und beachtet –, wo sie zwar nicht eherne Gesetze formuliert, aber doch nach Gesetzmäßigkeiten und regelhaften Abläufen sucht oder sich Zuständen zuwendet, die auch von systematischen Disziplinen analysiert werden. Man könnte sogar im Umgang mit diesem Spannungsverhältnis von Einzelnem und Allgemeinem oder, anders gesagt, von Ereignis und Struktur ein Charakteristikum historischer Tätigkeit sehen. Dann aber treten die gerade um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert formulierten Antithesen in den Hintergrund. Der Blick auf die szientifisch-anthropologische Orientierung der traditionellen Kulturgeschichte wird somit wieder frei und damit auch der Sensus für mögliche Regelhaftigkeiten, Konstanten und Gesetzmäßigkeiten. Siedelt man die Geschichtswissenschaft in diesem Spannungsfeld an, dann besteht ihre Hauptaufgabe in der aufeinander bezogenen Rekonstruktion einerseits von Ereigniszusammenhängen unter besonderer Berücksichtigung des Prozeßcharakters und der dynamischen Beschleunigung, andererseits von Strukturen, Zuständen und Phänomenen der »longue durée«. In diesem traditionellen Funktionsfeld haben sich in den letzten Jahrzehnten die Gewichte und Akzente deutlich verschoben. Aus heutiger Sicht könnte man sagen: gerade in Richtung auf eine Verstärkung der kulturwissenschaftlichen Komponente. Es waren nicht zuletzt die bereits um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert kontrovers diskutierten Konzepte betont soziologischer Orientierung (E. Durkheim, M. Weber), die sich – in der Geschichtswissenschaft (und nicht nur dort) zunächst wenig wahrgenommen – seit den 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts deutlich zur Geltung brachten. Die Entwicklung der französischen Annales-Schule und vor allem ihre internationale Rezeption ist dafür paradigmatisch. In dieser Optik geht es nun nicht mehr nur um die strukturellen Phänomene von Gesellschaften, sondern auch und gerade um die inneren Antriebe und Sichtweisen, um die kollektiven Einstellungen und Mentalitäten, die vor allem auch in der Analyse und Deutung kleinerer sozialer Einheiten und von Individuen, also mikro- und psychohistorisch, untersucht werden. Damit wurden und werden einer historischen Anthropologie neue Dimensionen erschlossen. Darüber hinaus wirkten Einflüsse vor allem seitens der Sprach- und Literaturwissenschaft auch auf die historischen Disziplinen ein, die etwas vereinfachend unter dem Stichwort linguistic turn zusammengefaßt werden. Hiermit bezieht man sich auf Positionen des Poststrukturalismus, die von der Annahme ausgehen, daß es außerhalb des Textes keine faßbare Wirklichkeit gebe (J. Derrida). Diese »dekonstruktivistische« Herausforderung zwang die Historiker, über die Grundlagen ihrer Er7 Schorn-Schütte 1984; Raphael 1990.

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Geschichtswissenschaft in kulturwissenschaftlicher Perspektive | 51 kenntnisse nachzudenken, und führte zu interessanten Reflexionen über den Zusammenhang literarischer Produktion und historischer Rekonstruktion, etwa in den Arbeiten von H. White oder von S. Greenblatt, dem Begründer des sogenannten New Historicism.8 Sofern sich »Wirklichkeiten« wie Texte entschlüsseln lassen, kann man mit C. Geertz in einer »dichten Beschreibung« von Ritualen und Praktiken Elemente ethnologischer Analyse erarbeiten.9 Diese haben wiederum befruchtend auf die Historie gewirkt. So etablierten sich neben den beiden erwähnten Hauptbereichen (oder besser: innerhalb ihrer) zwei miteinander verbundene kulturwissenschaftliche Felder in der Geschichtswissenschaft: Das ist zum einen die Analyse von Vorstellungswelten und Diskursen sowie damit verbundenen Wahrnehmungen, Deutungen, Einstellungen und Dispositionen vergangener Gesellschaften, Gruppen, Gemeinschaften – also das Ausleuchten eines kulturellen Horizontes. Zum anderen erhalten bei dieser Ausrichtung auch Texte im weitesten Sinne eine neue Relevanz. Sie werden nicht mehr nur in traditionellem Sinne gelesen, als Quellen zur Rekonstruktion vergangener Welten, sondern sie werden zum Gegenstand selbst, der Codierungen, Vorstellungen und Deutungen nicht nur sichtbar macht, sondern produziert, also Welten schafft und Wirklichkeiten konstruiert. Beides setzt allerdings voraus, und das ist ebenfalls ein wesentliches Element der sich kulturwissenschaftlich formierenden Geschichte, daß ein integraler Zugriff gewählt wird, der im übrigen hohe Anforderungen an Interdisziplinarität stellt: Teilgebiete und Untersuchungsbereiche der Geschichtswissenschaft galten schon immer den Phänomenen und kulturellen »Hervorbringungen«, die in diesem Zusammenhang wesentlich sind. Sie wurden aber häufig sektoral behandelt, als Geistes- oder Ideen- oder eben Kulturgeschichte, oder sogar primär im Kontext anderer Fächer oder Fakultäten, als Literatur-, Religions-, Rechtsgeschichte usw. Im kulturwissenschaftlichen Focus wird also ein sehr breites, durch Spezialisierung weit ausdifferenziertes Feld neu (bzw. wieder) verdichtet. Der spezifisch historische Zugang oder – wenn man so will – der Beitrag der Geschichtswissenschaft läßt sich vor diesem Hintergrund mit folgenden Überlegungen konkretisieren.

1. Historische Kontextualisierung von Kultur(en) Im Sinne der bisherigen Ausführungen stellt eine kulturwissenschaftlich ausgerichtete Historie ganz besondere Verknüpfungen her. Traditionell fragt sie nach der Verbindung von Struktur und Ereignis und versucht in diesem Rahmen, die komplexen Geflechte von sozialen Konfigurationen, wirtschaftlichen Interessen, politischer Macht und Machtausübungen in ihrem Spannungsverhältnis zwischen regelhaften Formen und kontingenten Verschiebungen »aufzudröseln«. Nun wird sie in solchen Zusammenhängen noch viel mehr, als bisher schon geschehen, auf die dort jeweils wirksamen symbolisch-gedanklichen Vorstellungen, Planungen und Repräsentationen schauen, auf das imaginaire der Gesellschaften und Gemeinschaften, um die es 8 Zu diesen Entwicklungen s. Böhme et al. 2000: 14ff. 9 Geertz 1987: 7ff.

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52 | Hans-Joachim Gehrke jeweils geht. Sie wird die Zustände und das Geschehen auch von den Diskursen und Deutungsmodi her durchleuchten und zu verstehen suchen. Auf diese Weise wird sie Kontext und Bild, Rahmen und Inhalt, Außen und Innen aufeinander beziehen und miteinander verbinden, so sehr, daß im Endeffekt sogar diese Unterscheidungen verschwinden (was übrigens nicht geringe Anforderungen an die historiographische Kompetenz stellt10 oder sogar – vielleicht besser – der Geschichtsschreibung eine neue Dignität verleiht). In diesem Geflecht von Milieu und Imagination ist der Historiker gleichsam der Sachwalter der Diachronie. Er wird sich gerade den langen zeitlichen Linien, Abläufen und Konjunkturen zuwenden, die sich in dieser Gemengelage immer wieder neu gestalten und darbieten. Das gilt zunächst schon für seinen eigenen Gegenstand selbst. Der Blick richtet sich also auf die Vergangenheitsvorstellungen je gegebener Gesellschaften. Die Frage wird erhoben, wie diese strukturiert sind, wie sie mit den sozialen Verhältnissen, Normen und Vorstellungen verbunden sind, wie ihre »soziale Oberfläche« aussieht, wie sie sich in Relation zu Veränderungen auf anderen Gebieten wandeln. Die Frage nach dem sozialen Stellenwert von Traditionen und Erinnerungen, ja nach Erinnerungskulturen, wird in der aktuellen Diskussion immer noch in Anlehnung an den französischen Soziologen Maurice Halbwachs und dessen Konzept der »mémoire collective« erörtert.11 Mit seiner Differenzierung zwischen »kommunikativem« und »kulturellem Gedächtnis« hat Jan Assmann dieses Konzept zu einem vielbeachteten, ja schon geradezu klassischen Zugang historischer Analyse gemacht.12 Die Erinnerung, genauer: die tradierte und insofern gepflegte Erinnerung, ist für die sozialen Gruppen so wichtig, daß sie geradezu deren Identität prägt, als »intentionale Geschichte«. Solche Geschichten, die in der Regel als »Mythen« bezeichnet werden, verankern in der Regel eine Gemeinschaft in der Tiefe der Zeiten, binden sie zurück an die Vorstellungen der Entstehung von Welt und Menschheit; oder sie schreiben ihr Ursprünglichkeit und in jedem Falle auch ein hohes Alter zu. Dabei gibt es verblüffend wenige Differenzen zwischen den Ursprungsbildern primordialer Gesellschaften, den fundierenden Sagen vormoderner, schon komplexerer Verbände oder den Gründungsmythen moderner Nationalstaaten.13 Erzählungen dieser Art bilden häufig ein dichtes, oft über lange Zeiträume geknüpftes Gewebe, ein Geflecht von Bezugnahmen und Rückgriffen innerhalb der jeweiligen Medien und Gedächtnisspeicher. Sie unterliegen damit auch der diachronen Kommunikation von Erinnerungsspezialisten und -kennern, Schreibern, Priestern, Sängern und sonstigen »Beschwörern des Imperfekts« (Thomas Mann). Man kann nun die Form der Untersuchung auf das »Eigenleben« dieser Kommunikation richten, auf »Diskurse« und »Debatten«, und in diesem Sinne, mit Jan

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Ein Meisterwerk wie Schamas Citizens (1989) zeigt jedenfalls, daß das nicht utopisch ist. Halbwachs 1997, s. dazu jetzt Niethammer 2000: 314ff. J. Assmann 1992. Müller 1987: 68ff.; Gehrke 1994; 2000a; zum Begriff »intentionale Geschichte« 1994: 247f.

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Geschichtswissenschaft in kulturwissenschaftlicher Perspektive | 53 Assmann, »Gedächtnisgeschichte«14 nachzeichnen, in ganz expliziter Hinwendung auf den Strom und Verlauf der Überlieferung, auf die Aufnahme, Weitergabe und Verformung von Motiven und Themen, auf die »diachronen und vertikalen Linien der Erinnerung«.15 Charakteristischerweise befindet man sich mit dieser Orientierung – und das wird auch entsprechend deutlich gemacht – in der Nähe von Aby Warburgs großem kulturwissenschaftlichen Projekt »Mnemosyne« (1925-1929). Es handelte sich dabei um den Versuch, einen Gedächtnisspeicher von Bildern und Motiven in der orientalisch-okzidentalen Tradition zu schaffen; er sollte es ermöglichen, nicht allein die zeitübergreifenden Traditionswege und »Erinnerungsspuren« zu erkennen, sondern auch die Verwurzelung der Bildnisformen und -formeln im emotionalen Haushalt wie im symbolischen Reservoir des Menschen zu demonstrieren. Es ging also um weit mehr als eine rezeptionshistorisch orientierte Variante der Kunstgeschichte, nämlich um eine bewußt disziplinenübergreifende und den Rahmen von Fächern sprengende Programmatik. Die Analyse der »Pathosformeln« und »Gebärdensprache« führte zu religiösen Phänomenen und psychischen Elementarstrukturen, und so ergab sich eine große Nähe zur philosophischen Theorie symbolischer Formen (E. Cassirer) einer-, zur analytischen Tiefenpsychologie (S. Freud, C.G. Jung) andererseits. Schon Warburg selbst und die Zeitgenossen sprachen in diesen Zusammenhängen expressis verbis von Kulturwissenschaft, und es ist gerade dieses Verständnis, das in der gedanklichen Fundierung der aktuellen Kulturwissenschaften besondere Beachtung findet, nachdem seine Rezeption insbesondere in Deutschland durch das Nazisystem und seinen Terror zunächst verhindert worden war.16 Solche aus traditionellen Nachbarfächern kommende Orientierungen werden Bestandteil kulturwissenschaftlich ausgerichteter Geschichtsforschung. Sie bleiben auch nicht als Geistes-, Ideen- oder Kunstgeschichte mehr oder weniger für sich arbeitende Sektoren der Historie, sondern tragen zu einer integralen Sicht auf ältere Gesellschaften und ihre Deutungsmuster sowie ihren und deren Wandel bei. Im Sinne der eingangs angesprochenen traditionellen Bezugspaare »Konstellation und Ereignis«, »Struktur und Prozeß« und der neuen Relationen »Kontext und Symbol«, »Konfiguration und Imagination« könnte man neben der Beachtung der diachronen Komponente noch etwas weiteres als spezifisch historischen Beitrag ansehen, nämlich gerade das Insistieren auf den Verquickungen zwischen den soziopolitischen Gegebenheiten und den in ihnen begegnenden Deutungsmustern und symbolischen, auch künstlerischen Repräsentationen: Der diachrone Längsschnitt etwa einer »Gedächtnisgeschichte« würde durch synchrone Querschnitte in jeweils unterschiedlichen Epochen und Regionen beziehungsweise Kulturkreisen ergänzt. So würde – um nur ein naheliegendes Beispiel zu wählen – bereits eine historische Analyse der intentionalen Geschichte bestimmter Gruppen verfahren. Sie würde nicht nur die Wege und Varianten der mythischen oder myth-historischen Traditionen nachzeichnen, sondern auch die verschiedenen Wandlungen und Rezeptionen in ihrem jewei14 J. Assmann 1998: 26ff., 37. 15 J. Assmann 1998: 27. 16 Zu diesen Zusammenhängen s. die klare Beschreibung bei Böhme et al. 2000: 66ff.

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54 | Hans-Joachim Gehrke ligen politischen, sozialen, ökonomischen und auch kulturellen Ambiente verorten und von dort her zu verstehen suchen. Damit werden die Momente und Voraussetzungen intensivierter oder veränderter Erinnerungspflege ebenso untersucht wie die verschiedenen Formen, Rituale und Medien der remembrance, die außerordentlich vielfältig sind. Solche Verquickungen und Ausformungen lassen sich aber auch auf anderen Feldern kultureller Sinngebung, etwa im riesigen Bereich der sozialen Normen und ihrer metaphysisch-religiösen Verankerung, analysieren. Der kulturwissenschaftlich orientierten Geschichte geht es also primär um die Verankerung von Diskursen in ihrem jeweiligen Umfeld, um das im einzelnen je komplexe Wechselspiel zwischen ihnen sowie um den Wandel, der sich aus diesem Beziehungsgeflecht ergibt und der in den verschiedenen Bereichen, den politischen Ereignissen, sozialen Prozessen, künstlerischen Präsentationen, intellektuellen Symbolisierungen, mit völlig anderen Geschwindigkeiten und Frequenzen abläuft. Das ohnehin komplexe System der Rückkoppelungen, welches auf diese Weise noch komplizierter wird, bildet ein neues und großes historisches Aufgabenfeld. In einem viel beachteten und viel kritisierten, vor allem aber recht bemerkenswerten Buch hat der Literaturwissenschaftler Edward S. Said die Geschichte der europäisch-abendländischen Vorstellungen des Orients seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert beschrieben. Er hat dabei nicht nur deutlich gemacht, daß und wie die Imaginationen und Diskurse Wirklichkeit konstituierten und sogar auf ihre »Objekte« selbst prägend wirkten, sondern er hat sie auch auf die machtpolitische Durchdringung des Orients durch die europäischen Großmächte rückbezogen.17 Solche kontextbezogenen Diskursgeschichten stellen nicht nur eine große Herausforderung dar, sie bieten auch ein lohnendes und wichtiges Arbeitsgebiet. Die mannigfachen Wechselwirkungen von politisch-ökonomischen Interessenlagen, sozialen Strukturen, intellektuell-künstlerischen Interpretationen, die wegen deren ungleichmäßigen, nicht parallel verlaufenden Veränderungsprozessen schwer zu erfassen sind, lassen sich besonders gut studieren, wenn längere Zeiträume erfaßt werden; denn gerade kulturelle Sinngebungen sind häufig Phänomene der »longue durée«. So konnte eine Untersuchung des europäischen Iranbildes18 zeigen, daß die – bis heute relevante und noch im Sport (Marathonlauf!) trivialisierte und nur mehr unbewußt weitergetragene – Figur eines deutlichen West-Ost-Gegensatzes (und -gefälles) auf die Perserkriege des frühen 5. Jahrhunderts v. Chr., genauer auf deren Deutung durch griechische Künstler und Intellektuelle zurückgeht, also auf die normative Überhöhung einer Kampfkonstellation. Da der antike Diskurs aber durchaus nicht eindeutig war, war das Iranbild der europäischen Renaissance keineswegs negativ, bis die antithetische Figur in der Aufklärung zur Ausgestaltung des »orientalischen Despotismus« genutzt wurde. Andererseits gerieten die Iraner/Perser durch sprachwissenschaftliche Entdeckungen und nicht zuletzt dank der modernen Indogermanistik ganz in die Nähe des »Westens«, was bis hin zu den Sumpfblüten des rassistischen Arierbegriffs reichte. So schwankte die Beziehung von Europa und Iran, ja von West und Ost zwischen Abstoßung und Annäherung, zwischen Identität 17 Said 1995; daran orientiert, aber weniger gelungen Todorova 1997. 18 Gehrke 2000: 85ff.

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Geschichtswissenschaft in kulturwissenschaftlicher Perspektive | 55 und Alterität, auch noch im 20. Jahrhundert und bis heute, von der Westorientierung des Schah bis zum islamischen Fundamentalismus der Mullahs. Im Moment scheinen die Zeichen noch eher auf den »clash of civilizations« zu stehen. Eine kontextorientierte Diskursgeschichte würde aber die Mechanismen derartiger Zuspitzungen sichtbar machen und diese relativieren können. Über die Deutungen und Bilder hinaus schenken die Kulturwissenschaften – man denke schon an die Bedeutung der Gebärdensprache bei A. Warburg – auch den Praktiken und Ritualen besondere Beachtung. Sie sind vor allem für eine Praxeologie im Sinne Pierre Bourdieus geradezu ein Königsweg zum Verständnis sozialer Prozesse.19 Zugleich können sie den Blick lenken auf bestimmte Vorstellungshorizonte, auch auf solche, die im Vollzug des Aktes oder des Gestus gar nicht mehr mitgedacht werden und damit als selbstverständlich, ja natürlich gelten, also, anders gesagt, habituell sind.20 Solche acts und Handlungen können sogar ihrerseits Wirklichkeit konstruieren.21 Die Analyse von Performanz, von Darbietung und ritualisiertem Verhalten, die einen wichtigen Bereich der anthropologischen Forschung bildet, findet zunehmend auch in die Geschichtswissenschaften Eingang.22 Auch hier gilt es, Kontext und Wandel des gestischen Apparates weiter zu untersuchen und dies mit den Ergebnissen der gerade skizzierten Geschichte der Vorstellungen und Diskurse abzugleichen.

2. Historisches Verständnis von Kultur(en) Das prima facie recht buntscheckige Bild, welches die modernen Kulturwissenschaften bieten, hängt nicht zuletzt auch damit zusammen, daß der Kulturbegriff, mit dem dort, aber auch allgemein operiert wird, alles andere als einheitlich ist. Er wird nicht nur, gerade auch außerwissenschaftlich, mit unterschiedlichsten Bedeutungen versehen; er scheint sich sogar jeder vereinheitlichenden Definition zu entziehen. Vor diesem Hintergrund hat unlängst Ulrich Gotter den Begriff typologisch eingegrenzt, und zwar sinnvollerweise in Relation zu jeweiligen Oppositionsbegriffen, mit denen er in der Tat häufig antithetisch verbunden wird.23 Dabei unterscheidet Gotter zwischen »holistischen« und »sektoralen« Verwendungen des Begriffs, also seiner Verwendung im Sinne eines »Ganzen« menschlich-kultureller Hervorbringungen24 (»holistisch«) oder eines Teiles davon, im Unterschied etwa zu Staat, Gesellschaft usw. (»sektoral«). 19 S. besonders Bourdieu 1987: 7ff. 20 Bourdieu 1987: 105; zu den damit verbundenen Phänomenen der Essentialisierung beziehungsweise »Verdinglichung« s.u. 21 Hassauer 2001: 19 mit Hinweis auf J. Butler. 22 Gebauer & Wolf 1998; als Beispiel für die konsequente historische und historiographische Umsetzung s. etwa Althoff 1996. 23 Gotter 2000: 375ff. 24 Vgl. die Definition von Tylor 1958 (11871): 1 (zitiert nach Gotter 2000: 377, Anm. 12): »Culture or Civilization, taken in its wide ethnographic sense, is that complexe whole which

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56 | Hans-Joachim Gehrke Die beiden holistischen Gegensatzpaare sind Kultur und Natur sowie Kultur und Kultur. Mit der ersten Opposition wird der Mensch insgesamt als Kulturwesen seinem natürlichen Ambiente gegenübergestellt. Gleichzeitig verbindet sich mit dem Kulturellen die Abstufung, insofern sich der Mensch mehr oder weniger von der Natur entfernt hat. Normativ aufgeladene Begriffe wie »primitive Kulturen« oder »Hochkulturen« spielen in diesem Kontext eine Rolle, desgleichen auch die Vorstellung von Entwicklung und Fortschritt. Demgegenüber bringt die Antithese Kultur versus Kultur einen Relativismus zum Ausdruck, indem Kultur sich im Sinne aller menschlichen Hervorbringungen (gemäß Edward B. Tylor) auf die Einheiten ihrer jeweiligen Träger beziehungsweise auf die sie tragenden Gruppen bezieht. Die dort herrschenden »Kulturen« können zwar verglichen werden, doch die Differenzen ordnen sich nicht in eine Werteskala ein, die zugleich den Abstand von der Natur und den Grad von Zivilisation beziehungsweise Zivilisiertheit mißt. Angesichts dieser Differenzierung steht der Historiker vor einem gewissen Dilemma. Auf der einen Seite wird er, getreu dem historistischen Credo der »Gottesunmittelbarkeit« jeder Epoche, auch den Kulturen der verschiedenen Gruppen und sozialen Einheiten das prinzipiell gleiche Eigengewicht geben. Andererseits sollte er, als Vertreter von Diachronie und Wandel, schon Veränderungen, Prozesse, ja Entwicklungen festmachen und untersuchen. Er wird dann unterschiedliche Grade etwa in der Verdichtung politischer Organisation, der Differenzierung wissenschaftlichtechnischer Fertigkeit, der Entfaltung kultisch-religiöser Repräsentation konstatieren und in diesem Sinne mit Begriffen wie »Hochkultur« operieren, ohne damit Wertungen auszusprechen, sondern lediglich im Sinne von Analysekategorien – aus denen freilich das Normative nie völlig ausgeklammert werden kann. Das gilt auch für den Zusammenhang von Kultur und Moderne in der soziologischen Systemtheorie.25 Auf der sektoralen Ebene stellt Gotter der Kultur zum einen Politik (Staat), Religion und Wirtschaft gegenüber, zum anderen die Gesellschaft. Die erste Opposition geht deutlich auf Jakob Burckhardts Unterscheidung der drei Potenzen in den Weltgeschichtlichen Betrachtungen zurück, der die Kultur als Bereich des Geistes, der zugleich das Reich von Freiheit und Spontanität war, den fixierten Institutionen Staat und Religion gegenüberstellte. Darüber hinaus gibt es aber die unterschiedlichsten Differenzierungen, nicht zuletzt auch im außerwissenschaftlichen Bereich, wo etwa der »Kulturreferent« einer Stadt Befugnisse hat, die sich von denen des »Stadtkämmerers« oder »Baureferenten« trennen lassen. Mit der Gegenüberstellung Kultur versus Gesellschaft nun bezieht sich Gotter genau auf den Entwicklungsgang der Geschichtswissenschaft, der schon oben beschrieben ist, nämlich die Ablösung beziehungsweise Ergänzung einer »objektivistisch« verstandenen oder verstehbaren Sozialgeschichte als Strukturgeschichte durch eine »subjektivistisch« akzentuierte, das heißt auf subjektive Deutungen, Mentalitäten, Vorstellungen ausgerichtete, mikro- und alltagsgeschichtlich verfahrende Historie. Hier bezeichnet Kultur dann »die Summe aller Sinnbezüge und Tieincludes knowledge, belief, art, morals, law, custom, and any other capabilities and habits acquired by man as a member of society.« 25 Böhme et al. 2000: 106.

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Geschichtswissenschaft in kulturwissenschaftlicher Perspektive | 57 fendimensionen […], die der Dingwelt und den sozialen Konstellationen zugewiesen werden«. Dabei geht es um »Wahrnehmungen, Diskurse und Perspektiven«26, die jeweils »Realität« konstituieren. Auch vor dem Hintergrund dessen, was oben zur aktuellen kulturwissenschaftlichen Entwicklung gesagt wurde, ergibt sich, daß ein historisch tragfähiges Verständnis – soweit es sich auf eine sektorale Kategorisierung bezieht – auf diese Sinngebungs- und Deutungsdimension orientiert sein muß. Dabei bleibt der Bezug zum sozialen Ambiente und zum institutionellen Bereich, anders als bei J. Burckhardt, gewahrt. Zugleich allerdings ist zu berücksichtigen, daß Kultur sich auch im Sinne diskursiver Strukturen und intellektuell-künstlerischer Bezugnahme autonomprozessual und jedenfalls in einem teils eigenen Rhythmus weiterbewegen und sich wandeln kann. Insofern wäre Kultur ein »Feld« im Sinne P. Bourdieus.27 Dieses Verständnis von Kultur erlaubt zugleich einen Bezug auf das phänomenologische Konzept der »Lebenswelt«. Dieser als einer auch für objektiv wissenschaftliches Denken und Philosophieren »vorgegebenen Welt« gab Edmund Husserl, übrigens im Rahmen einer Kritik Kants, eine eigene Dignität, auch im Blick auf ihre Sinnstiftungen und Normsysteme; er spricht von »vorwissenschaftlichem Seinssinn«, der »für die in ihr (sc. der Lebenswelt) lebenden Menschen einen guten Sinn hat«, und weist auf die Bedeutung von Wahrnehmung und Erinnerung als Modi von Erfahrungen hin, von »intersubjektive(n) Erfahrungen«, auf die sich »alle von den Menschen für die Welt ihres gemeinsamen Lebens erworbenen Geltungsauflagen« beziehen.28 Dieses im Spätwerk nur eher angedeutete Konzept der Lebenswelt wurde von Husserls Schüler Alfred Schütz für sozialwissenschaftliche Analysen fruchtbar gemacht und von ihm selbst und dann auch anderen konkretisiert und damit weiter aufgefächert. Auf diese Weise gerieten u.a. Alltagswelten und ihre kulturellen Dimensionen und generell soziale Normen, Einstellungen und Wissensformen in den Blick.29 Dies wiederum wirkt sich gerade in der erwähnten alltags- und mentalitätsgeschichtlichen Schwenkung aus30 und erleichtert somit deren kulturwissenschaftliche Konzeptionalisierung. Umgekehrt können bestimmte Beobachtungen der kulturwissenschaftlich operierenden Geschichte, insbesondere solche zum kulturellen Gedächtnis und zur kontextbezogenen Diskursgeschichte, wie sie oben skizziert wurde, Einsichten der phänomenologisch orientierten Sozialwissenschaften bestätigen. Dies ist für ein zentrales Element im Verständnis von Kultur, das bisher erst kurz angesprochen wurde, ganz wesentlich: Es geht um die Frage des Kulturrelativismus oder, noch darüber hinausreichend, um das Verhältnis von »Konstruktivismus« und »Essentialismus«. Sind die wesentlichen kulturellen Hervorbringungen als Menschenwerk so stark, daß sie die gesellschaftliche Welt und die Realität, in der die Menschen leben, geradezu konstruieren? Oder besteht diese als feste Größe, sozusagen essentiell, reell, 26 27 28 29 30

Gotter 2000: 380. Hierzu s. Jurth 1998: 86ff. Husserl 1992 (1956): 105ff., die zitierten Begriffe S. 125, 131, 136. Schütz & Luckmann 1979; 1984; vgl. den kurzen Hinweis bei Möller 1996: 2f. Sellin 1985: 573ff.

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58 | Hans-Joachim Gehrke physisch, objektiv, eben: gegeben vor der menschlichen Deutung und unabhängig von dieser? Um es mit einem Beispiel zu sagen: Ist die Identität einer sozialen Gruppe, Ethnie oder Nation das Ergebnis konstruierender Zuschreibungen, Selbst- und Fremdbilder, gepflegt in Mythen und imaginisierter, fiktiver Tradition? Oder handelt es sich um physische, durch Endogamieregeln bewahrte, genetisch disponierte Einheiten? Längst hat man sehen können, daß diese schroffe Alternative nicht greift. Bereits Husserl hatte den Grundgedanken aufblitzen lassen, als er der Lebenswelt und ihrer aus Sicht der Philosophie »›bloß subjektiv-relativen‹ Anschauung« einen eigenen Wert gab. »Im vorwissenschaftlichen Leben selbst […] ist sie (sc. diese Anschauung) ein Bereich guter Bewährung, von da aus wohlbewährter prädikativer Erkenntnisse und genau so gesicherter Wahrheiten, als wie die ihren Sinn bestimmenden praktischen Vorhaben des Lebens es selbst fordern. Die Verächtlichkeit, mit welcher alles »bloß Subjektiv-Relative« von dem dem neuzeitlichen Objektivitätsideal folgenden Wissenschaftler behandelt wird, ändert an seiner eigenen Sichtweise nichts.«31 Die u.a. von A. Schütz ausgehenden Soziologen Peter L. Berger und Thomas Luckmann sprechen in diesem Zusammenhang und mit Bezug auch auf E. Durkheim von »Vergegenständlichung« (objectivation) und »Verdinglichung« (reification): Zwar sind menschliche Hervorbringungen und Produkte, somit auch gesellschaftliche Formen und ihre Identität, letztlich Ergebnis konstruierender Wahrnehmungen und Setzungen, die in der Sozialisation weiter gegeben werden. In der Gesellschaft selbst gelten sie aber – und das kann die Spielräume des Konstruierens merklich einengen – als gegeben und unverfügbar, als physische Größen, die objektiv vorhanden sind.32 Kurz gesagt: Das Konstrukt wurde Essenz. Diese Einsichten nun lassen sich, wie gesagt, aus historisch-kulturwissenschaftlicher Sicht bestätigen. Auch in der Ethnologie mehren sich die Stimmen, die Imagination und Realität in eines setzen. Ethnographen müssen nämlich immer wieder »zur Kenntnis nehmen, daß die Gruppen selbst, bei denen« sie arbeiten, »ihre ethnische Identität für eine elementare und seit alters bruchlos fortwährende Größe hielten. Das mochte ja imaginiert sein, aber sie waren nun einmal davon überzeugt«. Und ebendies könnte man, wie Tom Nauerby, durchaus für den »fundamentalsten Aspekt des Identitätsphänomens« halten.33 Es hat also ganz den Anschein, als sei die nicht ganz gleichgültige Diskrepanz von Konstrukt und Realität ebenso »aufzuheben« wie die von Welle und Teilchen in der Quantentheorie. Es kommt auf den Blickwinkel und die Perspektive des Beob31 Husserl 1992: 127f. 32 Berger & Luckmann 1980: 64f., 95ff., 185. 33 Müller 2000: 327 (mit Zitat Nauerby); vgl. auch den wichtigen Hinweis ebenda, mehr als auf eine sich im Kreis drehende »konstruktivistische Attitude« »komme es auf eine kritische Analyse der Konstruktionsprozesse selbst, ihrer Muster und Symbolisierungen an (Nauerby 1996: 20).« Genau dieses Verfahren bestimmt die Arbeitsweise des Freiburger Sonderforschungsbereiches 541 »Identitäten und Alteritäten«, s. etwa Fludernik & Gehrke 1999: 11f.

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Geschichtswissenschaft in kulturwissenschaftlicher Perspektive | 59 achters an. Jedenfalls könnte man nun, im Sinne einer Zwischenbilanz (nicht nur dieses Beitrags), doch eine Definition riskieren: Kultur ist ein Feld im sozialen Raum, dessen Gegenstand Wahrnehmung und Imagination, Sinngebung und Deutung, Erinnerung und Tradition sind. Sie ist in der Lebenswelt sozialer Einheiten verankert und prägt diese ihrerseits mit, im Welt-, Selbst- und Fremdverständnis, rituell und habituell, bewußt und unbewußt.

3. Beiträge der Historie zur kulturwissenschaftlichen Erkenntnis und gesellschaftlichen Orientierung »Geisteswissenschaften in einer zeitgemäßen kulturwissenschaftlichen Ausprägung, die die disziplinären Grenzen respektiert, aber zugleich in der konkreten Forschung überwindet und sich aktiv den Fragen zuwendet, die sich an den Grenzen der Disziplinen und der »zwei Kulturen« stellen, haben in der Tat eine orientierende Funktion.« Von diesen Worten Winfried Schulzes, seinerzeit Vorsitzender des Wissenschaftsrates, läßt sich hier gut ausgehen. Er hebt nämlich anschließend hervor, die moderne »Industrie- und Wissenschaftsgesellschaft« sei auch auf »Potentiale der Wahrnehmung und Deutung angewiesen« und »diese Denkpotentiale, die moderne Gesellschaften überhaupt erst funktions- und entscheidungsfähig« machten, würden »in den Kulturwissenschaften verwaltet, gepflegt und in der Forschung unter dem ständigen Druck lebensweltlicher Impulse weiterentwickelt.« So seien die Kulturwissenschaften »als institutioneller Ort der Selbstverständigung in der strukturell gewandelten Öffentlichkeit moderner Gesellschaften […] in der Tat »unvermeidlich« und ist geisteswissenschaftliche Forschung in einem fundamentalen Sinne zugleich grundlagen- und anwendungsorientiert.«34 Dispensiert man sich von der zeit- und genrebedingten Protreptik dieser Äußerungen, bleibt doch ein wichtiger Kern, der sich gerade vor dem Hintergrund unserer bisherigen Überlegungen und Ausrichtungen konkretisieren ließe. Wie bringt die Geschichtswissenschaft ihr Deutungspotential in die kulturwissenschaftlichen Forschungsansätze gerade auch unter dem Aspekt aktueller gesellschaftlicher Problematik orientierend ein? Zunächst ist der Historiker natürlich in einem elementaren Sinne – gerade in der modernen arbeitsteiligen Wissensgesellschaft – der Spezialist für historisches Wissen, der Erinnerungs- und Gedächtnisexperte, vergleichbar dem vormodernen Mythenerzähler, Schreiber, Historiographen, Epiker, Historienmaler usw. Er ist dies natürlich auf ganz andere Weise. Er versteht sich als Kind der Aufklärung und wird gerade auf den wissenschaftlichen Charakter seines Tuns im Unterschied zu dem seiner Vorgänger verweisen.35 Wertfreiheit und Objektivität, Analyse und Kritik der Quellen verliehen seinem Forschen eine szientifische Dignität, und so konnte man, mit dem Blick auf das Hervortreten dieser Verfahren im 19. Jahrhundert, geradezu

34 Schulze 1998: 5. 35 Das macht Hobsbawm 1998: 337ff. sehr eindringlich deutlich.

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60 | Hans-Joachim Gehrke von einem »Verlust der Geschichte« sprechen.36 Verlorengegangen war die Geschichte im Sinne des »kulturellen Gedächtnisses«, als intentionale und fundierende, orientierende und exemplifizierende Tradition, als Lebensmacht im sozialen Gefüge, die Identität, Verläßlichkeit, Stabilität und damit auch Zukunftsgewißheit verkörperte. Bei genauerem Hinsehen jedoch sieht das Bild »runder« aus. Die moderne Geschichtswissenschaft ist nicht nur ein Kind der Aufklärung, sondern auch der Romantik. Auch die neuere zünftige Quellenforschung wollte und sollte einen Beitrag zur gesellschaftlichen Selbstvergewisserung, in der Phase der Formierung der modernen Nationalstaaten, leisten. Die 1819 initiierten »Monumenta Germaniae Historica«, heute die Ikone einer nüchternen, text- und quellenkritischen Forschung, standen und stehen unter dem Motto »Sanctus amor patriae dat animum.«37 Bis auf den heutigen Tag schreibt man der Geschichte orientierende Kraft zu; nicht zuletzt deshalb ist sie im Universitäts- und Schulkanon (noch) verankert. Und immer wieder wird Geschichte bemüht – und bemühen sich Historiker (gerade solche der älteren Epoche, also auch Archäologen) um geschichtliche Forschungen, die für Alter und Identität von sozialen und politischen Einheiten, zum Beispiel auch für konkrete Besitzansprüche, wichtig sind. Man kann es drehen und wenden wie man will: Beides ist im Historiker angelegt, und so wird er in dem oben bezeichneten Dualismus die Konstruktion von Traditionen analysieren und diese entlarvend dekonstruieren, oder er wird deren essentielle Bedeutung für eine Gesellschaft – auch für seine eigene – durchaus affirmierend hervorheben, bewußt oder unbewußt, dick auftragend oder vornehm zurückhaltend. Damit kann er wiederum aus historischer Perspektive, aus Sicht der späteren Epochen, schief liegen. Die Kritik seiner Nachfolger ist ihm gewiß. Wesentlich ist, daß er nicht vergißt, daß eines seiner Elternteile die Aufklärung ist. Und das sagt übrigens einiges über die moderne Gesellschaft und die Funktion der Geschichte in ihr aus: Die offene Gesellschaft erlaubt sich Gedächtnisspezialisten, die sich kritischer Wahrheitssuche verpflichtet wissen, auch wenn sie, wie jeder Mensch, fehlbar sind und auch wenn sie mit ihrem Tun jenseits des »reinen« Forschens orientierend wirken oder entsprechend instrumentalisiert werden. Sie tragen dazu bei, daß in ihrem Raum ein freier, durch keine Denk- und Frageverbote eingeschränkter, auch pluralistischer und sich im Streit der Meinungen vollziehender Umgang mit der Vergangenheit existiert. Daß dies nicht einfach und schon gar nicht selbstverständlich ist, bedarf angesichts ständiger Gegenerfahrungen kaum einer Erwähnung. Beides bedingt sich gegenseitig, die offene Gesellschaft und die freie Geschichtsschreibung – und gerade hierin ist die moderne Historie die intentionale Geschichte der modernen Gesellschaft, ist diese die angemessene »soziale Oberfläche« für jene. Mit ihr kann aber auch jene in Barbarei versinken und dem Mythos frönen, jederzeit und in schöner »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«. Reflektierter, im angedeuteten Sinne analysierender Umgang mit der Vergangenheit ist das, was auch die kulturwissenschaftliche Forschung vom Historiker er36 Heuß 1995: 2158ff., vgl. auch 2116ff. 37 Gehrke 1994: 261f.

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Geschichtswissenschaft in kulturwissenschaftlicher Perspektive | 61 warten kann. Daß dies angesichts der Betonung von Gedächtnis und Erinnerung in der neueren Kulturwissenschaft besonderes Gewicht hat, braucht nicht eingehend betont zu werden. Man möge an die oben zitierten Beispiele einer kontextuellen Diskurs- und Gedächtnisgeschichte denken, an die in diesem Zusammenhang besonders förderliche transdisziplinäre Kooperation von Geschichts-, Literatur- und Kunstwissenschaften. Innerhalb dieser generellen Tätigkeit des Historikers als »Vergangenheitsspezialist« kommt dem von ihm traditionell gewählten hermeneutischen Zugang auf die Menschen beziehungsweise Gesellschaften einer als »unmittelbar zu Gott« gedachten Epoche besondere, auch kulturwissenschaftliche Relevanz zu. »Unmittelbar zu Gott« – das heißt ja, daß man sich bemüht, eine Epoche und ihren Geist – und eben ihre Kulturen, ihre Deutungs- und Sinnkonzepte, aus sich heraus zu verstehen, von ihrer eigenen, nicht anderen Perspektive (etwa modernen des Historikers) her. Darauf wird der Historiker geradezu professionell trainiert. Auch dies ist übrigens ein höchst ambivalenter Vorgang, da zum Verstehen immer auch das Subjekt gehört und von daher die notwendige Distanz geradezu aus der distanzlosen Vergegenwärtigung hervorgeht beziehungsweise hervorgehen muß. Einen solchen, die Identifizierung zur erhellend-beobachtenden Distanzierung nutzenden Drahtseilakt kennt ansonsten nur die Psychoanalyse, und es ist deshalb gewiß angebracht, in bezug auf die hier interessierende Verstehensform von Empathie zu sprechen.38 Die Problematik kann hier nicht vertieft werden, wichtig ist, daß das Training auf ein unvoreingenommenes Fremdverstehen der Tätigkeit des Historikers zwingend inhärent ist. Der Historiker ist also ein Experte für das Fremde, insbesondere eben für fremde Kulturen. Gerade aufgrund der Doppelnatur des verstehendverfremdenden Zugriffs ergeben sich für seinen Beitrag im kulturwissenschaftlichen Spektrum und in der sozialen Orientierung zwei Konsequenzen. Da Fremdes und Eigenes ohnehin relationale Begriffe sind39 und Identität begrifflich Alterität voraussetzt und vice versa, erwächst aus jeder Fremderkenntnis zugleich eine erweiterte und vertiefte Kenntnis des Selbst. Sofern nun die Kulturwissenschaften, so Aleida Assmann40, zu Recht »eine für die Selbstreflexion der Gesellschaft vitale Funktion […] beanspruchen«, ist gerade das Wechselspiel des spezifisch historischen Verstehens höchst bedeutsam. Ganz konkret werden die Spezifika der aktuellen condition humaine und moderner Sinnsuche und Weltdeutung erst vor dem Hintergrund anderer, zum Teil ganz fremder Zustände und Vorstellungen greifbar, solcher Zustände und Vorstellungen, die nicht lediglich gedacht, virtuell oder utopisch sind, sondern einmal existierten, ihren Realitätscharakter also gleichsam unter Beweis gestellt haben. Nicht minder relevant ist natürlich auch das Fremdverständnis selbst. Hier steht der Historiker in großer Nähe zur Ethnologie beziehungsweise zur Kultur- und Sozialanthropologie, die schon unter diesem Gesichtspunkt seine engsten Nachbarfächer sind. Zwar stellen sich auch hier gravierende Probleme des Erfassens und Verste38 Hierzu sind immer noch lesenswert die Bemerkungen von Kohut 1975: 40ff. 39 Waldenfels 1997: 67ff., 74ff. 40 A. Assmann 2000: 21.

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62 | Hans-Joachim Gehrke hens, doch wird man auch den Experten auf jenem Gebiet zutrauen, »daß sie eine andere Lebensform wirklich durchdrungen haben«41 oder daß sie das prinzipiell können. Der radikale Kulturrelativismus, ja Kulturalismus, für den die kulturellen Größen inkommensurabel sind, weil sie »sich allein aus ihren eigenen Voraussetzungen heraus begreifen lassen, das heißt weder legitim noch zureichend von anderen beurteilt werden können«42, müßte konsequent vor seinem Gegenstand kapitulieren beziehungsweise vom »Fremden« als seinem Gegenstand Abstand nehmen (was er glücklicherweise nicht tut). Auch das ist ambivalent, da das deutende Verstehen (von Mißverständnissen einmal ganz abgesehen) auch zu Vereinnahmungen führen kann oder geführt hat. Das ist unvermeidbar, will man nicht auf Verstehen ganz verzichten. Ein Grundsatz aber ist deshalb hier ähnlich herausgestellt wie in den Geschichtswissenschaften: das Bemühen, die andere Welt möglichst aus sich heraus zu verstehen und zu beurteilen, sie als solche ganz ernst zu nehmen, ihre Vorstellungshorizonte aus ihrer Sicht auszumessen, dortige Verhaltensweisen auf das soziale Wertesystem zurückzubeziehen, ohne eigene Werte überzustülpen; kurz gesagt, den Ethnozentrismus einmal auszublenden und – so Paul Veyne – »die Gegenwart (zu) töten«.43 Selbst wenn das nur der Idee nach möglich, also utopisch ist und, wie gesagt, für die eigentliche Erkenntnis zum Teil sogar hinderlich ist, bleibt solche Empathie die Voraussetzung für wirkliches Verständnis, auch und gerade zwischen Differentem. Dem kommt in der gegenwärtigen Situation der Welt eine ganz besondere Bedeutung zu. Wir beobachten und erfahren ja derzeit ein starkes Spannungsverhältnis – die Rede vom »clash of civilisations« ist insofern ein starker seismographischer Ausschlag: Auf der einen Seite herrschen die anscheinend ungebremsten Kräfte einer zweiten (oder dritten) Industrialisierung und Modernisierung, die mit dem Etikett Globalisierung versehen wird. Diese Globalisierung ist unstrittig mit einer massiven Nivellierung verbunden, und diese ist getragen von Prinzipien der ökonomisch-technologischen Rationalität, vom Credo unbeschränkter wirtschaftlicher Freiheit und von der Emphase menschenrechtlicher Gleichbehandlung. Andererseits sind solche Werte aber durchaus nicht überall positiv besetzt, sie gelten als »westlich« – und damit nicht selten »teuflisch« – und werden entsprechend abgelehnt und bekämpft. Sie fördern geradezu die Rückbesinnung auf betont andere, jeweils eigene Traditionen, die sich in Opposition zu den als aufgezwungen empfundenen fremden weiter ausbauen lassen und die Abgrenzung forcieren. Das stößt auf der wiederum anderen Seite nicht immer nur auf Kopfschütteln, sondern auf Ablehnung, Agressivität usw. Neben Prozessen globaler Nivellierung stehen also solche der Eigenbehauptung, die sich sogar im »Mutterland« der Globalisierung auswirken. Gerade hier hat der Kulturalismus stark an Boden gewonnen. Das einstige Ideal des melting pot ist durch das der Multikulturalität abgelöst worden. Im Sinne der oben erwähnten Position 41 Geertz 1990: 14. 42 Müller 2000: 321 zu der Ausrichtung von Melville Herskovits, dessen Konzept immerhin auf die »Allgemeine Erklärung der Menschenrechte« der Vereinten Nationen maßgeblich gewirkt hat (ebd.). 43 Zit. bei Möller 1996: 4.

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Geschichtswissenschaft in kulturwissenschaftlicher Perspektive | 63 haben die einzelnen kulturellen Milieus Recht auf Eigenständigkeit. Dabei tun sich nicht unerhebliche Konfliktfelder auf, wenn die jeweiligen Eigentraditionen den doch primär im abendländischen Denken entwickelten Rechts-, ja Grundrechtsvorstellungen wesentlich widersprechen – zum Beispiel in der Gewichtung der Rolle des weiblichen Geschlechts. Die interkulturellen Spannungsverhältnisse vertiefen sich aber in der ganzen Welt in zunehmendem Maße durch Migration und zum Teil dramatische Bevölkerungsverschiebungen. Es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß in diesem Rahmen weder reine Nivellierung noch reine Diversifizierung denkbar, realisierbar oder auch nur wünschenswert ist. Vielmehr muß – und wird sich hoffentlich – ein System aushandeln und austarieren lassen, das ein hohes – aber akzeptiertes – Maß an Einheitlichkeit und Vergleichbarkeit mit einem ebenfalls hohen und erwünschten Maß an Verschiedenheit und Vielfalt verbindet. Die Geschichte, nicht zuletzt die des Altertums (man denke an die hellenistische Welt), lehrt übrigens, daß derartiges möglich ist. Das alles ist aber – von den machtpolitisch-faktischen Entwicklungen einmal ganz abgesehen – nur erreichbar, wenn das Aushandeln und Austarieren auf der Kenntnis des jeweils Anderen beruht, wenn der Andere ganz ernst genommen wird, wenn seine Traditionen und Werte, seine wesentlichen Anliegen, kurz, sein kulturelles Umfeld hinreichend genau bekannt sind. Gerade in dieser für eine gedeihliche Zukunft der Erde unerläßlichen interkulturellen Kommunikation sind die Experten im Fremdverständnis gefragt. Sprechen wir nun von psychologischer Empathie, ethnographischer Durchdringung oder geschichtlichem Verstehen – wissenschaftliche Dignitität erhalten diese einander ähnlichen Verfahren erst, wenn sie mehr sind als bloße Intuition. Wesentlich ist, daß die gemachten Beobachtungen in kontrollierten Verfahren erfolgen, daß sie immer wieder klassifiziert und abgeglichen werden. Es ist mithin der Vergleich, dem eine Schlüsselrolle zukommt, und gerade deswegen muß auch immer wieder auf die Vergleichbarkeit gebaut werden. Bei völliger Inkommensurabilität funktioniert der Zugriff nicht. In diesem Zwang zur Komparatistik liegt nun aber wiederum für kulturwissenschaftliche Arbeiten gerade vor dem Hintergrund aktueller Problemlagen ein besonderer Vorzug der Historie. Indem sie immer vergleicht, verfügt sie über reiches Vergleichsmaterial. Und indem sie sich auf Kulturen bezieht, gehören dazu die verschiedenen Vorstellungswelten, Deutungskonzepte, Einstellungen, Normensysteme, und zwar in ihrer diachronen Perspektive, das heißt in ihren Traditionen (deren Hergang in der oben beschriebenen Weise kontextorientiert analysiert wird). Das sind nicht zuletzt solche Traditionen, die das jeweilige Selbstverständnis bestimmen, Identitäten stiften und verbürgen sowie Verhaltensweisen steuern. Der Vergleich erlaubt nun nicht nur die Fixierung von spezifischen Differenzen, sondern auch den Nachweis von Graden der Nähe, der Bezüge, ja der Bezugnahme und Beeinflussungen. Das wird sogar der dominierende Eindruck sein, denn die verschiedenen Kulturkreise und -räume stehen ja in sehr komplexen Wechselbeziehungen, die Historiker zum Teil über Jahrhunderte und Jahrtausende zurückverfolgen können. Es ist ja gerade nicht die soziale Homogenität und Reinheit des Kulturalismus, die das Gesicht der Welt prägt, sondern ein buntes Gemisch sich ständig beeinflussender, anziehender und absto-

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64 | Hans-Joachim Gehrke ßender, gebender und nehmender Kulturen. Die dominierenden Prozesse sind eher solche des Austausches und des Kulturtransfers, der Akkulturation. Daß die Sensibilisierung für eine solche Sichtweise auch für die Lösung drängender Probleme wichtig ist und daß dabei die hermeneutische Kompetenz und das komparatistische Know-how kulturwissenschaftlich inspirierter Historie hilfreich sind, sei an einem Beispiel erläutert. Innerhalb der kulturell determinierten sozialen Ordnungskonzepte nehmen die verschiedenen Rechtsvorstellungen einen zentralen Platz ein. Sie sind nicht nur in den jeweiligen Traditionen tief verankert, sondern auch in besonderer Weise handlungsleitend, nicht zuletzt gerade dort, wo sich menschliches Zusammenleben schwierig gestaltet, im Streitfall und Konflikt. Das moderne Konzept der Menschenrechte, auch verankert in der UNO-Charta, tritt hierbei mit universalem Geltungsanspruch auf, obwohl es von vielen als »westlich« und damit fremd und sogar oktroyiert empfunden wird. Andere Rechtsordnungen mit ebenfalls allgemeinem oder doch weiterem Anspruch – genannt sei nur das islamische Recht – stehen diesem gegenüber und werden aus westlicher Perspektive häufig als fundamentalistisch angesehen. Genaueres Hinsehen und Abgleichen zeigt demgegenüber – zumal wenn es sich im Rahmen wissenschaftlicher Sachlichkeit und nicht politischen Streitens oder religiösen Eiferns bewegt –, daß es zwischen den Rechts- und Wertesystemen der verschiedenen Kulturkreise im universalen Maßstab durchaus einen hohen Vorrat an Gemeinsamkeiten gibt, die zum Teil auf wechselseitigen Austausch oder gar auf gemeinsame Wurzeln zurückgehen. Rechtlich-religiöse Regelwerke etwa, die kasuistisch verfahren, und hierzu gehören das römische, jüdische und islamische Recht, leben häufig von der Auslegung fundierender Texte. Auslegungen und Kommentare lassen aber Spielräume, auch im Streit der Schulen. Auch wenn man den Blick auf die fernöstliche Zivilisation richtet, wird man Regeln und Normen finden, die durchaus nicht inkommensurabel mit den Menschenrechten sind. Auf der Basis der vergleichenden Anschauung könnte man sich womöglich über Regeln verständigen, die allgemein gelten und zugleich innerhalb der einzelnen Kulturkreise akzeptiert werden, weil sie auf Eigenem beruhen und daher als zugehörig angesehen werden können. In diesem Rahmen verdient etwa Hans Küngs Projekt einer »Weltethik« Beachtung. Jedenfalls ist hier noch einiges zu tun.44

4. Zukünftige Aufgaben der Kulturwissenschaften Mit diesem Blick auf die interkulturelle Hermeneutik sind wir bereits bei möglichen Arbeitsperspektiven historischer Kulturwissenschaften angelangt. Abschließend sollen hier nicht Programme entworfen werden; vielmehr möchte ich lediglich nach Art eines Ausblicks zwei große Felder benennen, auf denen die kulturwissenschaftliche Orientierung meines Erachtens besonderen wissenschaftlichen Gewinn verspricht. Es sind in der Tat große, ja herausfordernde Themen. Aber die konzeptionelle Weite 44 Eine wichtige Standortbestimmung unter dem Aspekt von Vergangenheitsvorstellungen und Geschichtsbildern bieten Rüsen et al. 1998.

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Geschichtswissenschaft in kulturwissenschaftlicher Perspektive | 65 und die disziplinäre Breite der Kulturwissenschaften ermutigen dazu, sich ihrer verstärkt anzunehmen. Man stößt auf diese Felder auch, wenn man den in Deutschland sehr lebhaft diskutierten Begriff der Kulturwissenschaften etwa ins Französische zu übersetzen sucht. Das geht nicht ganz wörtlich, sondern man würde sagen »sciences humaines« oder »sciences de l’homme«. Daran kann man sich durchaus halten, an die Kulturwissenschaften als Humanwissenschaften, als eine integrale Anthropologie. Gerade damit tun sich die Felder auf, die ich meine. So taucht hinter der bereits angesprochenen Differenz zwischen Konstruktivismus und Essentialismus die traditionelle humanwissenschaftliche Frage nach dem Verhältnis von Universalien und Grundkonstanten zu Varianten, Spezifika und Besonderheiten auf. Mit dem Blick auf die Konstruktivismus-Debatte: Ist es ein Universale, daß menschliche Gruppen ihre Identität so konstruieren, daß sie das hinterher für bare Münze nehmen? Jedenfalls ist es auffällig, daß sich nicht nur dieses Phänomen selbst weithin beobachten läßt, sondern daß auch noch die jeweiligen Mechanismen von Selbst- und Fremdbestimmung strukturell sehr ähnlich sind.45 Wie dem auch sei, die alte Debatte wird gerade durch den interdisziplinär-komparatistischen Zug der aktuellen Kulturwissenschaften neue und weiterführende Beiträge erhalten. Versteht man die Wissenschaft vom Menschen in dieser Form kulturwissenschaftlich, dann wird ein anderes zelebres, ebenfalls bereits erwähntes Gegensatzpaar sichtbar, nämlich das Verhältnis zwischen dem Menschen als Natur- und Kulturwesen, kurz: zwischen Natur und Kultur beim homo sapiens sapiens. Auf diesem Felde gingen und gehen von einer zunehmend als Leitwissenschaft hervortretenden und mit neuem englisch-flottem Namen (life sciences) ausgestatteten Biologie deutliche Herausforderungen aus. Im weitesten Sinne steht die Frage zum Umfang der physischen, konkret: genetischen Prägung des Menschen und seiner Kultur ganz neu auf der Tagesordnung. Man macht es sich auf geistes- und kulturwissenschaftlicher Seite zu leicht, wenn man über allzu offensichtliche Reduktionen, vor allem von soziobiologischer Seite, einfach die Nase rümpft. Die Sache ist zu gravierend – und überdies für jeden Wissenschaftler viel zu interessant und zu spannend –, um durch gegenseitiges Ignorieren erledigt zu werden. Vor einiger Zeit hat der Zoologe Hubert Markl in einer Gerda Henkel-Vorlesung gerade angesichts mancher Einseitigkeiten markant zwischen natürlicher und kultureller Evolution unterschieden. Das muß man auch dann festhalten, wenn man mit dem Begriff der Evolution im Milieu von menschlicher Kultur und Geschichte nicht allzu glücklich ist. Markl nimmt ihn allerdings ganz ernst, und deshalb relativiert er seine Differenzierung wieder, indem er darauf insistiert, daß sich auch in der Kulturevolution »wiederum nach dem Darwinschen Prinzip« die »Naturevolution« kreativ »fortsetzt«.46 Quod est demonstrandum; denn gerade diese These wird gewiß nicht nur von Theologen47 in Frage gestellt. Man kann nämlich aus neueren biologischen 45 Dies wird stark betont bei Müller 2000: 328ff.; zu strukturellen Ähnlichkeiten zwischen fundierenden Mythen vgl. Gehrke 2000a: 15ff. 46 Markl 1998: 23. 47 Vgl. zum Grundsätzlichen etwa Theißen 1984.

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66 | Hans-Joachim Gehrke Forschungen, etwa zur genetischen Nähe von Menschen und subhumanen Primaten oder zu den zeitlichen Dimensionen naturevolutionärer Veränderungen, auch ganz andere Schlüsse ziehen, nämlich das Postulat der besonderen Rolle soziokultureller Faktoren.48 Jedenfalls ist die genauere Erforschung solch höchst komplexer Zusammenhänge unbedingt auf die fächerübergreifende, besser fächergruppenübergreifende Kooperation von Lebens- und Humanwissenschaften, von Natur- und Kulturwissenschaften angewiesen. Der Gegenstand selbst erfordert das, und gemeinhin bestimmt Wissenschaft von diesem her ihre Methoden. Die jetzt zunehmend aus der Genforschung herauswachsende Proteomforschung wird dies gewiß zunehmend deutlicher zeigen. Die Neurowissenschaften mit ihrer konsequenten Transdisziplinarität sind hier schon weiter. So mag am Schluß eine wichtige – und keineswegs reduktionistische – Feststellung des Hirnforschers Wolf Singer stehen. Dieser konstatiert, daß es in seinem Untersuchungsbereich, dem Gehirn, seiner Funktion und Entwicklung, Phänomene gibt – dazu rechnet er besonders den freien Willen –, die sich auf der Grundlage naturwissenschaftlich rekonstruierbarer und genetisch erklärbarer Beobachtungen und Beschreibungen nicht erklären lassen. Er leugnet diese Phänomene aber deshalb nicht schlechthin, sondern leitet sie daher ab, »daß wir Kulturwesen sind, Wesen mit Gehirnen, die uns in die Lage versetzt haben, eine Theorie des Geistes zu erstellen und damit kulturelle Konstrukte und soziale Realitäten aufzubauen, die für uns dann wiederum als Realitäten erfahrbar werden.«49 Damit tut sich das Aufgabenfeld der Kulturwissenschaft auf. Daß wir es – bei allem Konstrukt – mit Realitäten, mit festen Größen zu tun haben, hatte ich schon gezeigt. Solches Konstruieren und solche Realitäten müssen mit dem ihnen angemessenen methodisch-konzeptionellen, also kulturwissenschaftlichen Instrumentarium untersucht werden, immer mit dem Blick auf thematisch relevante naturwissenschaftliche Forschung – und vice versa.

48 Tomasello 1999: 2ff.; zu prozessualen Differenzen zwischen »darwinistischer« und historischer Entwicklung 48f. Interessanterweise ist für Tomasello die genetisch vorgeprägte, aber dann kulturelles Lernen (und entsprechende Entwicklungen auch phylogenetisch) ermöglichende spezifische Fähigkeit des Menschen das zwischen dem 10. und dem 13. Lebensmonat auftretende »understanding of other persons as intentional agents like the self« (61). Dann wäre gerade auch die oben erwähnte Empathie, unser wichtiges wissenschaftliches Organ, letztlich das spezifisch menschliche Organ schon a natura! 49 Singer 2001: 74.

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Geschichtswissenschaft in kulturwissenschaftlicher Perspektive | 69 Singer, Ernst, 2001: Das Ende des freien Willens? (Interview). In: Spektrum der Wissenschaft 2001 (2): 72-75. Theißen, Gerd, 1984: Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht. München. Todorova, Maria, 1997: Imagining the Balkans. Oxford. Tomasello, Michael, 1999: The cultural origin of human cognition. Cambridge, Mass. Tylor, Edward B., 1958 (11871): The origin of culture. Bd. I: Primitive culture. New York. Waldenfels, Bernhard, 1997: Topographie des Fremden: Studien zur Phänomenologie des Fremden 1. Frankfurt am Main.

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Islamwissenschaften Ludwig Ammann So tut Gutes um die Wette! (Koran 5:48)

1. Das eigene Fach Die Namen des islamwissenschaftlichen Fächers von Fächern sind allesamt trügerisch.1 Besonders der Singular »Islamkunde« oder »Islamwissenschaft«. Man könnte meinen, Islamwissenschaft sei die Wissenschaft vom Islam wie Musikwissenschaft die Wissenschaft von der Musik. Das wäre richtig, wenn Islamwissenschaft eine Religionswissenschaft wäre. So ist es aber nicht. Islamwissenschaftler erforschen nicht nur und meistens ganz anderes als die Religion des Islam: Sie erforschen die muslimische Welt samt Diaspora. Damit ist der Gegenstand in seiner größtmöglichen Ausdehnung benannt. Was ihn ausmacht, ist mehr als Religion. Es ist eine Weltzivilisation, das heißt ein Fächer von Regionalkulturen, die so vom Islam umgeprägt wurden, daß trotz neuer Abwandlungen Gemeinsamkeiten wie das islamische Recht ihre Vielfalt zusammenhalten. Wir haben es daher im wahrsten Sinne des Wortes mit Kulturwissenschaft zu tun: dem Wissen von einer bestimmten Kultur. Allerdings einer raumzeitlich ausgedehnten, vielgestaltigen Kultur. Die muslimische Welt reicht von Marokko bis Indonesien, und ihre Geschichte beginnt vor über 1400 Jahren islamischer Zeitrechnung. Kein Mensch könnte behaupten, das alles zu kennen wie der allzuständige Ethnologe die von ihm untersuchte Stammeskultur. Darum gibt es Islamwissenschaft immer nur im Plural der Islamwissenschaften2: der Vielzahl von Disziplinen3, welche die islamische Welt und den minoritären Diaspora-Islam erkunden. Sie bilden in ihrer Gesamtheit keinen institutionellen Verbund, so wenig wie die Disziplinen, die das Abendland erkunden. Es gibt aber – so oder anders benannte – islamwissenschaftliche Seminare, an denen einzelne philologische, historische und gegenwartsbezogene Studien unter einem Dach versammelt sind. Das sollte, trotz fortschreitender disziplinärer Ausdifferenzierung nach dem Vorbild westlicher Selbsterforschung, den einzelnen Forscher zu einer gewissen Mehr- oder wenigstens Transdisziplinarität anregen. Der Traum von unbegrenzter Wissensintegration endet allerdings spätestens nach der Propädeutik. Das Signum der Islamwissenschaften ist eben keine Ethnographie, sondern die Enzyklopädie des Islam, ein gewaltiges Sammelbecken. Deren New Edition ist kaum vollendet, da treten schon speziellere Unternehmen auf den Plan: eine Enzyklopädie des Koran und eine Enzyklopädie des Iran. Zu den Regionalwissenschaften wie der Afrikanistik oder Indologie kann man 1 Ich danke dem Experten für interkulturelle Hermeneutik, Tobias Bube für eine herrlich anmerkungsreiche Lektüre der ersten Fassung, dem Islamwissenschaftler Rainer Brunner für das gründliche abschließende Lektorat. 2 Lepenies 1999: 5. 3 Klärend zu Disziplin Krüger 1987.

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72 | Ludwig Ammann die Islamwissenschaften nicht rechnen, dafür ist der Islam zu sehr Weltreligion.4 Regionalwissenschaft, »area studies«, wären allenfalls die – aus nordamerikanischgeopolitischer Sicht – Middle East Studies, umfaßten sie nicht längst mehr als das; der Name ist im Grunde überholt. Das Studium der sogenannten Kernregion ist eben nur eine von vielen Aufgaben der Islamwissenschaften und der dort beobachtete Islam gerade nicht der einzige oder auch nur wichtigste. Gewiß hat die islamische Kultur in Vorderasien und Nordafrika ihren Ursprung und das Ziel einer akkulturierenden Pilgerfahrt, mithin ein Zentrum hoher Verdichtung. Aber längst gibt es weitere Zentren, längst lebt die Mehrheit der Muslime in den früheren Randgebieten Afrika, Südasien und Südostasien. Das sollte die Forschung, wo immer sie stattfindet, berücksichtigen. »Islamwissenschaften« steht also für eine Vielzahl von Disziplinen, die sich mit sehr verschiedenen islamischen Regionalkulturen beschäftigen. Doch reicht es nicht, den Gegenstand »islamische Kultur« ausdrücklich plural zu begreifen. Der Sammelname »Islamwissenschaften« führt noch in anderer Hinsicht in die Irre. Denn er legt nahe, der Islam habe die zu untersuchenden Kulturen so stark geprägt, daß sie durchweg von ihm bestimmt seien. Das ist so abwegig wie die Vorstellung, die abendländische Zivilisation sei ganz vom Christentum bestimmt. Es war aber, und sei es in abgeschwächter Form, eine Leitannahme bedeutender Islamforscher und wird erst recht vom interessierten Publikum gern unterstellt. In Wirklichkeit ist nach Gegenstandsbereichen zu unterscheiden. Die politische und gesellschaftliche Geschichte muslimischer Länder wird nicht allein oder auch nur vor allem vom Islam bestimmt5; die frühe Geschichte etwa erklärt sich gerade aus dem Wechselspiel von Islam und Tribalismus. Die Wein, Weib und Mann verherrlichende klassische arabische Dichtung hat sogar fast nichts mit dem Islam zu tun: Es gibt Bereiche der Kultur, die ausgesprochen weltlich blieben. Der gelebte Islam ist – gegen das oft für bare Münze genommene Selbstideal – keine alles und jedes erfassende Lebensform.6 Der Name »Islamwissenschaften« nennt eine wichtige formative und mehr noch symbolisch integrative Komponente islamischer Kulturen; doch man hüte sich, das Studium der islamischen Welt so zu betreiben, als sei Islam das, was alles erklärt! Welches sind die Disziplinen, die zur Forschung über die islamische Welt beitragen? Eine neuere deutsche Bestandsaufnahme7 gliedert nach 1. 2.

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Sprach- und Literaturwissenschaften, also den arabischen, persischen, türkischen und anderen Philologien. Kultur-, Sozial- und Religionsgeschichte. Letztere gilt ihr als »zentraler Gegenstand« der Islamforschung, das erste und zweite umfaßt die – auch politischen – Regionalgeschichten, das Verhältnis zu Christen und Europa, die Geschichte der Naturwissenschaften und Philosophie, die Archäologie und Kunstgeschichte und die nicht genannte Musik. Dazu treten die historischen Hilfswissenschaften. Daß der – nominell – zentrale Gegenstand Religion ganz unter Geschichte Krämer 2000: 6. Noth & Paul 1998: 12. Heinrichs 1990: 18. Rudolph 1999.

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3. 4.

subsummiert wird, geht wie in der Praxis auch zu Lasten systematischer religionswissenschaftlicher Fragen. Gegenwartsbezogene Islamforschung nach Regionen. Geographie, Politikwissenschaft, Wirtschaftswissenschaft, Ethnologie, Soziologie und Rechtswissenschaft – die ebenfalls »gegenwartsbezogene Islamforschung« betreiben. Dies aber nicht an einem Institut für Islamwissenschaften, Orientalischen Seminar oder Orient-Institut, sondern durch regionale Spezialisierung innerhalb sozial-, geo- und rechtswissenschaftlicher Disziplinen. Die Konkurrenz liegt auf der Hand, die Möglichkeit der Zusammenarbeit ebenso. Daß ausgerechnet die Religionswissenschaft in der Aufzählung fehlt, ist leider kein Zufall.

Es hat nun wenig Sinn, die thematischen Schwerpunkte, Aufgaben und Erkenntnisziele der verschiedenen Disziplinen von der Arabistik bis zur Anthropologie islamischer Völker einzeln darzulegen, zumal die Aufgaben und Erkenntnisziele von Sprach-, Literatur-, Religions-, Geschichtswissenschaft und so fort sich ab einem gewissen Abstraktionsgrad gleichen sollten, wessen Sprache, Literatur, Religion und Geschichte man auch studiert. Über die gesamte Breite des aktuellen Spektrums informiert der Index Islamicus, der das islamwissenschaftliche Schrifttum fortlaufend erfaßt, dabei stärker nach Einzelländern untergliedert und das historistische Paradigma nicht privilegiert. Über das deutsche Forschungsangebot unterrichtet die genannte Bestandsaufnahme; über den nordamerikanischen Stand informieren die Middle East Studies, auch der vorzügliche ältere Sammelband von Leonard Binder (1976); eine nach Themen gegliederte Bibliographie historischer Standardwerke bietet Endreß (1982); in ausgewählte Probleme der historischen Forschung bis 1500 führt Humphreys (1995, 11991) ein; die arabistische Forschung erfassen vorbildlich Fischer (1982) und Gätje (1987). Für Leser, die wissen wollen, was Islamwissenschaftler heute tun, und den Gang in fremde Bibliotheken scheuen, seien an dieser Stelle einige Titel aus der Sektion rezensierter Bücher des Index Islamicus, No. 1/ 2000, genannt. Der Pool ist Zufall, die Auswahl hoffentlich bezeichnend für die stark aufgefächerten Fragen: Agony of Algeria; Annäherung und Distanz: Schia, Azhar und die islamische Ökumene; Beauty in Arabic culture; Beiträge zur Geschichte der Hadit- und Rechtsgelehrsamkeit der Malikiyya in Nordafrika; Byzantium and the Arabs in the sixth century; Catalogue of Malay, Minangkabau, and south Sumatran manuscripts in the Netherlands; Dictionary of Andalusi Arabic; Dreams, sufism and sainthood; Ein Gott: Grundzüge der Mystik des islamischen Monotheismus; Forgotten queens of Islam; Formation of the Sunni schools of law; Hadhrami traders, scholars and statesmen in the Indian Ocean; Herrscher, Gemeinwesen, Vermittler: Ostiran und Transoxanien in vormongolischer Zeit; Hidden hand: Middle East fears of conspiracy; History of Islamic legal theories; Homoeroticism in classical Arabic literature; Index du Grand commentaire de Fahr al-Din al-Razi; Islam and romantic Orientalism; Islamische Gelehrtenkultur in Nordindien; Kapitel al-mausul (»Das Relativum«) aus dem Manhag as-salik des Grammatikers Abu Haiyan al-Garnati; Koran im Zeitalter der Reformation; Labour in the medieval Islamic world; Middle East and Central Asia: an anthropological approach; Muhammad and the golden bough; Muslime in Deutschland; Philosophy, dogma and the impact of Greek thought in Islam; Politi-

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74 | Ludwig Ammann cal economy of Syria under Asad; Populism and feminism in Iran; Rebel and saint: Muslim notables, populist protest, colonial encounters; Rivers of discord: international water disputes in the Middle East; Syntax of San’ani Arabic; Wiles of women/the wiles of men: Jospeh and Potiphar’s wife in ancient Near Eastern, Jewish, and Islamic folkore; Women in the Ottoman Empire.

Das sind die Dinge, mit denen sich Islamwissenschaftler beschäftigen. Zu den Besonderheiten gehört zweifellos, daß die grundlegende philologische Bestandsaufnahme, anders als beispielsweise in der Germanistik, nicht abgeschlossen ist: Unzählige Handschriften warten noch auf ihre Erschließung und wichtige Werke auf eine Edition, und der Versuch, das klassische Arabisch lexikalisch vollständig zu erfassen, ist erst wenige Bände weit gediehen. Andererseits gehört die gründliche Selbstreflexion der Orientwissenschaften spätestens seit der postkolonialen Kritik an ethnozentrisch verzeichneten Fremd- und Selbstbildern zum Repertoire islamkundlicher Aufgaben. Zwischen diesen beiden Eckpunkten bewegt sich die Erforschung von Dingen, die oft fremd klingen: Schia, Sufitum, al-mausûl usf. Man kann das natürlich auch übersetzen, dann werden daraus Partei, Mystik und Relativpronomen, also etwas vertrautere Fremdworte, und schon rücken die Dinge näher – was nicht heißt, daß nun nicht noch das (Kultur-)Spezifische dieser (religiösen) Partei oder Mystik zu beschreiben wäre.8 Aber man tut wenigstens nicht so, als sei das Fremde vollkommen anders, was in letzter Konsequenz hieße: unübersetzbar, unvergleichbar, unverstehbar in seiner Einzigartigkeit. Das ist da besonders mißlich, wo in Wirklichkeit große Ähnlichkeit, ja Verwandtschaft besteht. Wer nur von »Allah« spricht, unterschlägt oder verkennt, daß Juden, Christen und Muslime als Anhänger abrahamischer Monotheismen in welcher Sprache auch immer von einem einzigen Gott reden; die Verfremdung zu »Allah« hat daher leicht eine xenophobe Tendenz. Begreiflicher ist die Gewohnheit der Islamkundler, von »Hadithen« zu sprechen, denn die muslimische Überlieferungswissenschaft ist in ihrer Ausgestaltung schon etwas sehr Eigenes – obwohl Nichtmuslimen das Ziel, eine gesicherte Überlieferung, keineswegs fremd ist. Das »Verstehen fremder Sinnwelten«9 sollte die kulturellen Unterschiede weder übertreiben noch einebnen. Das müßte sich von selbst verstehen. Doch schwankt die Debatte dazu seit Generationen zwischen kulturrelativistischen und universalistischen Extremen. So erklärte unlängst ein bedeutender Vertreter der deutschen Islamwissenschaften in einer Programmrede, die wichtigste Aufgabe der Arabistik als einer philologischen Disziplin wie auch der anderen orientalistischen Fächer sei es, »das unvergleichbar Fremde vor allem des islamischen Orients zu beschreiben« und »dem Bürger unseres Landes die Unvergleichbarkeit des Fremden bewußt zu machen«.10 Das ist nicht nur eine unglückliche Formulierung, die in der Erregung 8 Zur Typologie der Begriffsbildung Osterhammel 2001: 69-72. 9 Schmied-Kowarzik 1993: 70. 10 Nagel 1998: 376, 377. Dazu eine Anmerkung. Es verwundert, daß Nagel neuerdings (2001: 32ff.) den Schlüsselbegriff »Islam« mit »Hingewandtheit« des Menschen zu Gott übersetzt haben will, nicht wie üblich mit »Ergebung«, weil die dazugehörige verbale Wendung im Koran wörtlich »das Gesicht ganz zu Gott hinwenden« bedeute, »d.h. ›es

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Islamwissenschaften | 75 über angebliche Gleichmacherei weit über das Ziel hinausschießt. Vielmehr macht sich hier Tilman Nagel die kulturalistische Wende zunutze, um ein längst überholtes philologisches Deutungsmonopol gegen sozialwissenschaftliche Konkurrenz zu verteidigen. Dabei ist die Konkurrenz in Deutschland, anders als in Amerika, nach Stellen und Einfluß noch schwach.11 Trotzdem glaubt Nagel, sein Fach »aus der etwa dreißigjährigen Umklammerung durch sozialwissenschaftliche Denkmuster« lösen zu müssen, und zeichnet zu diesem Zweck ein denkbar oberflächliches Zerrbild von der »bis heute ungemilderten Hybris szientistischer Humanwissenschaften«. Ein Mann, dem sogar die verstehende Soziologie fremd ist, versucht sich als Wortführer im »Streit um die Aufgabe der Islamwissenschaften und deren Methode«!12 Die argwöhnische Rivalität universalistisch-sozialwissenschaftlicher und philologisch-historischer Islamstudien hat Tradition. Schon vor drei Jahrzehnten resümierte Binder die zwischen den Extremen denkbar abgestuften epistemologischen Positionen für Amerika so differenziert wie treffend.13 Nun setzte der Deutsche Orientalistentag die Problematik im Jahr 2001 unter dem Motto »Orientalistik zwischen Philologie und Sozialwissenschaft« wieder auf die Tagesordnung. Dazu einige Anmerkungen. Die gegenwärtige Problematisierung erklärt sich zum einen aus aktuellen Anlässen wie dem publikumswirksamen Streit um die Möglichkeit einer autochthonen islamischen Aufklärung, insofern sich die These des Islamhistorikers Reinhard Schulze sozialwissenschaftlich inspirierten Annahmen über den Gang der Weltgeschichte verdankt. Die verspätete Debatte ist aber auch auf die besondere Geschichte der Islamstudien in Deutschland14 zurückzuführen. Das an den Altertumswissenschaften orientierte Primat der Philologien im Verbund mit stark quellenkritischer Geschichtsforschung aus dem Geist des Historismus wurde zwar schon 1921 erstmals gebrochen. Damals brachte Carl Heinrich Becker15 – er hatte zuvor die »Islamwissenschaft« als eigenständiges, breit angelegtes Fach begründet – die Deutsche Morgenländische Gesellschaft dazu, endlich alle mit dem Orient befaßten Disziplinen zu berücksichtigen. Das wurde aber unmittelbar nach dem Krieg zugunsten orientalistischen Spezialistentums zurückgenommen. Erst ein Jahrzehnt später begann

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ihm völlig ausliefern‹«. Wieso »d.h.«? Da steht »das Gesicht Gott ausliefern« (zum altarabischen Gebrauch von aslama Izutzu 1964: 199) – eine bildliche Wendung für die Selbstauslieferung an Gott. Nagels »Hingewandtheit« verbirgt das Gefälle von Herr und Knecht in der geforderten Orientierung auf Gott hin. Haarspalterei? Wenn man so angriffslustig wie Nagel das absolute Primat der Philologie in den Islamwissenschaften fordert, um damit – schlecht beraten – die Sozialwissenschaften auszuboten, dann sollte man sich nicht durch eine derartige Falschmeldung profilieren. Philipp 2000: 515. Zum regelmäßigen Versagen der stark sozialwissenschaftlich ausgerichteten gegenwartsbezogenen Middle East Studies in den USA bissig Kramer 2001 in ironischem Kontrast zu Tibi, der ausgerechnet das amerikanische Modell empfiehlt, Tibi 2001: 154 u. 175ff. Niewöhner 2001. Binder 1976: 11-18. Vorzüglich Johansen 1990 u. 1995 sowie Haarmann 1995. Ess 1980.

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76 | Ludwig Ammann man, die Nachbardisziplinen allmählich wieder mitzubedenken – und in den Lehrplänen erst seit 1980! Da wundert es nicht, wenn der eine oder andere wissenschaftlich in seligen Zeiten philologischer Allzuständigkeit sozialisierte Fachvertreter sich erst jetzt die Augen reibt. Andererseits gilt, daß die Reibereien zwischen Disziplinen und Kultur- beziehungsweise Regionalwissenschaften das Zeug zum Dauerbrenner haben. Soeben ist dazu ein neuer Sammelband erschienen, der heftige Spannungen zwischen Middle East Studies und Political Science konstatiert und durch Beispiele ihrer Vereinbarkeit abzubauen versucht.16 Letzteres ist zweifellos zukunftsweisender, als einmal mehr im Arsenal der beliebtesten Vorwürfe zu kramen. Doch worum geht es in der sogenannten »area studies controversy«? Es geht, das ist gegen alle Verengungen zu betonen, um mehr als nur den gängigen Gegensatz von Sozialwissenschaft und Philologie, nämlich – siehe die Geschichte der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft – um das Verhältnis von primär »regional« spezialisierter Wissenschaft und primär »disziplinär« spezialisierter Wissenschaft jedweder Art17; letztere wird, sobald sie sich etwa dem Orient zuwendet, zur unmittelbaren Nachbardisziplin der Orientwissenschaften. Was zu fordern wäre, liegt auf der Hand: Wer sich mit arabischer Literatur beschäftigt, sollte Arabist und Literaturwissenschaftler sein; und wer die ägyptische Gesellschaft ins Visier nimmt, sollte etwas von Soziologie verstehen, selbstverständlich die Sprache sprechen und mit der lokalen Kultur und Geschichte vertraut sein. Er muß aber weder mittelalterliche Handschriften edieren können noch mit der Theologie der Schia vertraut sein. Der vermeintliche Zielkonflikt verliert erst recht an Bedeutung, wenn wir zur Kenntnis nehmen, daß »Regional«-Wissenschaften ja nicht ein Privileg derer sind, welche eine fremde Region von außen für sich entdecken, historisch gesprochen der Europäer, sondern zunehmend auch von denen betrieben werden, die in der untersuchten Region leben oder aus ihr stammen, von Dritten ganz zu schweigen – es gibt auch in Japan ausgezeichnete »Islamic area studies«. Das wird der albernen Fixierung auf das »unvergleichbar Fremde« als Revier von Xenologen hoffentlich bald den Garaus machen. Die von Wolf Lepenies ausgegebene Devise für Islamwissenschaften trifft ins Schwarze: »Forschung mit statt Forschung über.«18 Erforderlich ist also, um aufs Thema zurückzukommen, eine Doppelqualifikation, die Verbindung »regionaler«, nämlich kulturspezifischer, und disziplinärer Expertise – das Fach als Fächer. Daran mangelt es von Fall zu Fall beiderseits des Grabens, soll heißen, die jeweils ferner liegende Expertise scheint einzelnen so oder anders sozialisierten Fachvertretern entbehrlich. Für die philologisch orientierte Islamwissenschaft früherer Zeiten gilt, daß es manchem so vorkommen mochte, als qualifizierten ihn herausragende Kenntnisse des Arabischen bereits zum Literaturwissenschaftler und Historiker. Die scheinbare Mehrdisziplinarität des Islamkundlers erweist sich dann als reines Wunschdenken, hinter dem sich ein gerütteltes Maß theoretischer und methodischer Naivität verbirgt – und wenig Verständnis dafür, daß man sich den Reflexionsvorsprung der Disziplinen zunutze machen könnte und 16 Tessler et al. 1999: VIIff. 17 Binder 1976: 13-18. 18 Lepenies 1999: 9.

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Islamwissenschaften | 77 sollte. Daß diese Haltung noch nicht ganz ausgestorben ist, beweist Nagels Parole vom »unvergleichbar Fremden«: Sie wäre ihm nicht über die Lippen gekommen, hätte er nur eine einzige Einführung in die Literaturwissenschaft studiert und dabei entdeckt, daß es – man höre und staune! – so etwas wie eine vergleichende Literaturwissenschaft gibt. Diese Haltung leistete Interpretationen Vorschub, deren Erkenntnisziel über feinfühliges Nacherzählen nicht hinausging. Glücklicherweise hat das Fach auf diesem Gebiet stürmische Fortschritte gemacht, die mit bemerkenswerten Erkenntnisgewinnen belohnt wurden – etwa beim literaturwissenschaftlich informierten Studium des Koran19 und der Qaside.20 Auf der Gegenseite sah und sieht es manchmal noch nicht besser aus. Beschränken wir uns auf sozialwissenschaftliche Disziplinen und eine ihnen nahestehende Historik, die durch regionale Spezialisierung zu Konkurrenten der Kulturexperten werden. Hier ist insbesondere die naive, für kulturelle Unterschiede blinde Applikation am westlichen Fall entwickelter Theorien auf nichtwestliche Gesellschaften ein Stein des Anstoßes.21 Der Sündenfall schlechthin war die fortschrittstrunkene, ignorant eurozentrische Modernisierungstheorie früherer Generationen, die schmählich scheitern mußte und seither erheblich abgewandelt wurde. Leider bestätigen einzelne Forscher bis heute die Karikatur des auf Weltformeln erpichten Sozialwissenschaftlers, der Spezifität souverän mißachtet und sich durch kein empirisches Datum in seinen theoretischen Vorurteilen korrigieren läßt; so der prominente Sozialanthropologe Ernest Gellner, wenn er die historische und regionale Vielfalt muslimischer Gesellschaften ohne Kenntnisse auf ein einziges Gesetz der Geschichte reduziert.22 Die Crux ist, daß er gerade nicht von dieser Vielfalt ausgehend verallgemeinert, sondern unverzeihlicherweise von dem einzigen ihm bekannten Fall von Islam auf das Ganze hochrechnet. Die gleiche falsifikationsresistente Spekulationsfreude legen merkwürdigerweise Vertreter der Islamwissenschaft an den Tag, die das Theorieangebot der Disziplinen dahingehend mißverstehen, es gelte, die empirischen Befunde der Islamkunde durch die an nichtislamischen Kulturen gewonnenen theorieförmigen Einsichten zu korrigieren, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Das stellt die Verhältnisse geradezu auf den Kopf. Ein besonders krasses Beispiel boten letzthin G. R. Hawtings revisionistische Thesen zum Ursprung des Islam.23 Noch erstaunlicher ist es, wenn ausgerechnet ein philologisch geschulter Islamkundler den Argwohn unzureichender Sprachkenntnisse bewahrheitet, den Regionalwissenschaftler gegen Sozialwissenschaftler hegen. Ein in der Geschichte des Fachs einzigartiges Beispiel bieten die der Aufklärungsthese gewidmeten Schriften Reinhard Schulzes. Das Panoptikum seiner Übersetzungs- und Deutungsfehler ist niederschmetternd.24 Dabei sind nicht einzelne Schnitzer das Problem, die jedem unterlaufen können, ohne daß die Argumenta19 20 21 22 23 24

Beispielhaft Kermani 1999. Beispielhaft Stetkevych 1993. Prägnant Humphreys 1998: 9ff.; auch sonst grundlegend. Gellner 1981; 1992. Kritik u.a.: Ammann 1989; 1994. Hawting 1999; Kritik: Ammann 2001: 105ff. Hagen & Seidensticker 1998; Radtke 2000.

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78 | Ludwig Ammann tion merklich darunter litte. Das Schlimme ist die unheilige Allianz philologischer und geistesgeschichtlicher Inkompetenz, die es ihm gestattet, seine Hypothesen nach Belieben in die Texte hineinzuprojizieren. So entstehen Aufsätze mit plakativen Titeln wie »Nur der Moderne kommt voran!«. Das soll ein syrischer Dichter des 18. Jahrhunderts gesagt haben. Die zitierten Verse lauten von Schulze übersetzt: »Diejenigen, die (uns) vorausgingen, wurden nicht verlassen; // das heißt: der Moderne kommt voran. // Sie hatten neueste Gedankenfrüchte hervorgebracht; doch haben sie eine // Nutzlosigkeit in den Bedeutungen, derengleichen entschuldbar sind!«25 Tatsächlich steht da: »Die Dichter, die uns vorangegangen sind, haben kein concetto ausgelassen, // durch das ein späterer Dichter (sie) überholen könnte. // Die früheren haben jungfräuliche Gedanken hervorgebracht; sie // nur noch unfruchtbare concetti, die untauglich sind.«26 Von Schulzes Thesen bleibt da außer einem üblen Nachgeschmack wenig; zum ideologischen Hintergrund seiner phantastischen Geistesgeschichtsschreibung später. Die angeführten Beispiele von Gellner bis Schulze sind allerdings kein Argument gegen bestimmte Disziplinen: Es sind Beispiele für schlechtes Handwerk einzelner, in gleich welchem Fach. Und ein Argument dafür, nicht nur geborgte Theorien zu applizieren, sondern nach Möglichkeit auch eigene, dem Gegenstand von vornherein angemessenere Theorien zu entwickeln. Auf ganz anderem Niveau als Nagel setzt nun Marco Schöller die islamwissenschaftliche Methodendebatte fort.27 Seinem gehaltvollen Plädoyer für Hermeneutik und Diskursanalyse ist nichts hinzuzufügen, wohl aber dem, was er vorausschickt. Schöller teilt die Welt nämlich in zwei Lager ein: das eigene der partikularistischen Kulturalisten und das gegnerische der universalistischen und szientistischen Rationalisten. Deren Position, dargelegt ausgerechnet an Arbeiten des Historikers Jörn Rüsen, sei falsch, weil sie – hier ist er sich mit Nagel im Ressentiment einig – vergleicht. Das heißt für Schöller: das Kulturspezifische der Verallgemeinerung und Typologisierung opfern und alle Unterschiede einebnen. Aus dem interkulturellen Vergleich ergebe sich somit eine »Verarmung unseres Verständnisses dieser (kulturellen) Phänomene, indem Fragen nach ihrem Auftreten und ihrer Signifikanz so gut wie unbeantwortbar werden«.28 Das ist einigermaßen grotesk. Denn kein kulturvergleichender Wissenschaftler käme auf den Gedanken, dem Hermeneutiker zu verbieten, eben diese Fragen auf seine Art zu beantworten und das Besondere in seiner Besonderheit zu erfassen, im Gegenteil: Arbeiten nach Schöllers Geschmack sind eine gute Grundlage für Vergleich und Verallgemeinerung, die unser Wissen in dieser und anderer Hinsicht bereichern. Anderen andere Fragen zu verbieten, wie Schöller es tut, als schlösse das eine das andere aus, ist der Versuch, die Rede über einen Gegenstand zu monopolisieren. Man muß in der Kritik allerdings noch weiter gehen. Denn selbstverständlich hat der interkulturelle Vergleich auch im strikt hermeneutischen Fremdkulturverstehen à la Schöller seinen Platz; schon die bloße Konstatierung des Andersseins 25 26 27 28

Schulze 1994: 160f. Übersetzung von Radtke 2000: 71f.; radikale Polemik aus dem Geist früherer Zeiten. Schöller 2000. Schöller 2000: 32.

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Islamwissenschaften | 79 einer Kultur setzt ja einen Vergleich voraus. Die auch in dieser Hinsicht umfassende Arbeit Thomas Göllers zum Kulturverstehen wurde Schöller erst nach Abschluß des Manuskripts bekannt.29 Das ist unglücklich; und so verstrickt er sich in lupenreine performative Selbstwidersprüche, empfiehlt Hermeneutik und Diskursanalyse, weil die islamische Kultur »wie kaum eine andere Kultur« »grundlegend intertextuell« an Sprache und Schrift ausgerichtet und damit eine »hermeneutisch orientierte Kultur par excellence« sei – und übersieht, daß er hier selber typologisierende Vergleiche des höchsten Verallgemeinerungsgrads anstellt!30 Dennoch spürt er, daß seine prinzipiell prohibitive Position unhaltbar ist – und flankiert sie darum mit der vorsichtigeren These, Vergleiche seien nicht möglich, weil die islamische Kultur noch nicht »in ihrer ganzen Vielfalt« rekonstruiert sei.31 Das wäre dann ein triftiges Argument gegen – verfrühte! – Vergleiche, wenn es mit Blick auf das konkret zu Vergleichende zuträfe – statt das Vergleichen auf den Sankt Nimmerleinstag einer vollständigen Rekonstruktion aufzuschieben. Nun könnte man Schöller zugute halten, daß es ihm eigentlich nur um typologisierende »Vergleiche« geht, die ohne hinreichende Kenntnis der Fremdkultur westliche Typen und anderes mehr in sie hineinprojizieren.32 Dafür gibt es in der Tat traurige Beispiele, siehe Schulze, und es führt in der Tat zu Fehldeutungen und Phantasmen.33 Das ist aber, wie gesagt, schlechtes Handwerk einzelner und kein Einwand gegen kenntnisreiche interkulturelle Vergleiche. 29 30 31 32 33

Göller 2000. Schöller 2000: 66, 33, 69. Schöller 2000: 32. Schöller 2000: 33, Beispiele 18ff. Dazu einen Exkurs in eigener Sache. Schöller ist alles andere als zimperlich, wenn es gilt, typologisch arbeitenden Autoren grobe Vorurteile und Projektionen zu unterstellen. So habe ich nach Schöller (2000: 20f.) Literarisierung mit Popularisierung gleichgesetzt und gegen Schlichtheit/Wissenschaftlichkeit ausgespielt. Tatsächlich steht an der inkriminierten Stelle: »Eine letzte Stufe der Popularisierung gleich Entwissenschaftlichung und Entliterarisierung erreicht die klassische arabische Historiographie …« (Ammann 1998a: 213). Das setzt im Gegenteil Popularisierung für diese Stufe mit Entliterarisierung gleich! Es unterstellt überdies nicht etwa naiv, daß akademische Prosa nach heutigem westlichen Muster unliterarisch schlicht sein müsse, so Schöllers »Erklärung« für die angebliche Verfehlung, sondern beobachtet Entliterarisierung in Verbindung mit Entwissenschaftlichung, was im Gegenteil literarisch anspruchsvolle Wissenschaft voraussetzt! Mit anderen Worten: Schöller, der so beredt für die Kunst des Verstehens eintritt, dreht mir das Wort im Mund herum. Aus einer winzigen Einfügung des Wortlauts »die durch den Koran geheiligte Reimprosa« wird ihm, dem »gewissenhaften Leser« – so gewissenhaft, daß er meinen Namen durchweg um ein »n« verkürzt – »schlagartig« mein Vorverständnis offenbar. Die Religion müsse das Geistesleben im Islam erstickt haben. Das ist nun wirklich abwegig: Seit meiner Dissertation (Ammann 1993) bemühe ich mich, die mancherorts in der Tat verkannte Leistung der religiösen Wissenschaften im Islam herauszustreichen. Vielleicht sollte Schöller tun, was er andern mit Gadamer empfiehlt: Gewissenhaft auf den Text hören, statt auf hirnschlagartige Offenbarungen zu setzen und seine Vorurteile über typologisierende Forschung in ihn hineinzuinterpretieren!

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80 | Ludwig Ammann Die übliche Gegenüberstellung von Philologie und Sozialwissenschaften ist nach Schöller unzulässig: Schließlich seien die von Sozialwissenschaftlern analysierten Daten meist sprachlich verfaßt und daher zunächst philologisch aufzubereiten.34 Das stimmt vor allem dann, wenn man an kulturfremde Sozialwissenschaftler denkt. Die unterschiedliche Gewichtung philologischer Arbeit bleibt davon aber unberührt. Für philologisch-historisch orientierte Islamwissenschaftler wie Nagel steht oft tatsächlich nach einem Wort Binders die »minutiöse Analyse schwieriger Texte« im Mittelpunkt. Das ist bei den Sozial- und Geowissenschaften anders, und es kann nicht schaden, einmal in aller Deutlichkeit zu sagen, warum das unser Wissen grundsätzlich bereichert. Die schwierigen Texte, auf deren Entzifferung der Orientalist zu Recht stolz ist, ergeben nämlich, wie jeder auf sie verwiesene Mediävist weiß, ein höchst lückenhaftes und einseitiges Bild von der »islamischen Kultur«. Man erfährt sehr viel vom früheren Islam, wie er im Buche steht, dem idealen Schriftislam der wenigen Gebildeten – und nur wenig vom damals wie heute gelebten Islam der illiteraten Massen, also vom Volksislam; man erfährt überhaupt ungleich mehr über die Kultur der Eliten als die Kultur des Volks, der Bauern, Beduinen und städtischen Tagelöhner. Mit dem Ergebnis, daß textfixierte Kulturexperten oft ein Bild vom Islam kultivieren, das nicht nur wenig mit der gesamtgesellschaftlichen Wirklichkeit zu tun hat, sondern überdies dazu verführt, die Gegenwart als vermeintliches Verfallsprodukt zu verkennen. Ganz anders die Anthropologen, Soziologen und Politologen, die die heutigen muslimischen Völker und Gesellschaften beobachten und gezielt Daten erheben: Sie können ausleuchten, was jenseits der Normen im Dunklen blieb. Das ist, unabhängig davon, ob man deutenden oder erklärenden Methoden den Vorzug gibt, ein entscheidendes Komplement und Korrektiv textzentrierter Forschung philologischer Grundierung. Ein besonders einflußreiches Beispiel bot der Anthropologe Clifford Geertz 1968 mit seinem Buch Islam observed. Die von deutenden Kulturwissenschaftlern zum Programm erhobene Parole, man müsse Kulturen wie einen Text verstehen, stammt bekanntlich von ihm. Das heißt aber nicht, daß seiner Deutung religiöser Entwicklungen in Marokko und Indonesien primär Texte zugrunde liegen, wie sie ein philologisch orientierter Islamkundler benutzen würde. Geertz hat vielmehr in beiden Ländern jahrelang Feldforschung betrieben, also vor der auch auf Bücher gestützten Konzeptualisierung empirisch gearbeitet, das Leben beobachtet und Daten gesammelt. Das führt dazu, daß ihm die Eigenart und Vielfalt der regionalen religiösen Stile ins Auge springen, die insbesondere das überreiche normative Schrifttum eher verbirgt.

2. Stellung des eigenen Fachs Es wäre nun an der Zeit, die besonderen Erkenntnismöglichkeiten der Islamwissenschaften im Sinn eines Beitrags zum Ganzen der Kulturwissenschaften herauszustreichen. Doch ist zuvor an eine Parole zu erinnern, die alle früheren Reden über 34 Schöller 2000: 113f.

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Islamwissenschaften | 81 den Orient eines fundamentalen Erkenntnismangels zieh und diese Diagnose gerade mit Blick auf das Studium der arabischen und islamischen Welt für die damalige Gegenwart aufrechterhielt. »Orientalismus« heißt das Buch, das den Literaturwissenschaftler Edward Said 1978 zum Star machte. Der Wahl-New Yorker protestantisch-palästinensischer Herkunft erklärte darin sämtliche künstlerischen und wissenschaftlichen Orientdiskurse des Okzidents zu einer Form imperialistischer Machtausübung. »Essenz des Orientalismus« sei die unausrottbare Unterscheidung zwischen westlicher Überlegenheit und orientalischer Minderwertigkeit; »jeder Europäer« sei in dem, was er über den Orient sagen konnte, ein Rassist, ein Imperialist und fast vollkommen ethnozentrisch gewesen.35 Das fand Beifall, gerade weil es die Wahrheit propagandistisch auf eine Hälfte verkürzte, und tat durch ungezügelte Schwarzweißmalerei im Guten wie im Bösen seine Wirkung; Abdel-Maleks besonnene Kritik am Eurozentrismus der Orientalistik von 1963 war noch verhallt. So wurde der ehrwürdige Name »Orientalist« durch Said zum Schimpfwort und Orientalisten-Klatschen zur Masche subalterner Geister. Dafür kommen uns Worte wie »der Orient«, »die Araber« und »der Islam« nur noch in Anführungszeichen über die Lippen – zu Recht. Mit anderen Worten, Said hat unser aller Diskurs über »den Orient« machtvoll verändert – und damit eine neue Wissenschaft ins Leben gerufen: die postkolonialen Studien. Die ihren Vater längst kritisieren.36 Denn erstens ist Saids Bild vom rassistischen Westler selbst ein Stereotyp und sein Phantasma vom einen und unveränderlichen Orientalismus der Europäer nichts anderes als ein umgekehrter Orientalismus, ein durch und durch essentialistisches Konstrukt (»the essence of Orientalism«).37 Und zweitens sind die Stereotype vom Orient, ist der ganze »Orientalismus« viel ambivalenter, als Said aus taktischen Gründen zugeben mochte. Das wußte, wer Quellen und Forschung kannte, schon lang. Die andere Hälfte der Wahrheit, das war die erstaunliche Orientbegeisterung der Europäer, der Orient als Wunschraum, der Xenozentrismus als Widerspruch des Ethnozentrismus.38 Der Orient ist prinzipiell doppeldeutig, das ihn entwerfende Denken und Fühlen zutiefst zwiespältig, und man kann zeigen, wie und warum die Selbstschau im Spiegel des Fremden regelrechte Kippbilder hervorbringt. Darin verkehrt sich das »unausrottbare« Überlegenheitsgefühl des Westens in radikale Zivilisations- gleich Selbstkritik im Zeichen der Sehnsucht nach dem überlegenen Fremden.39 Ja, es gab und gibt das okzidentale Überlegenheitsgefühl. Aber wie sagte schon Maxime Rodinson: »Il existait donc une déformation certaine, mais de là à traiter l’orientalisme comme une section de propagande colonialiste et impérialiste est tout à fait idiot.«40 Das Problem ethnozentrisch verzeichneter Fremd- und Selbstbilder ist komplexer als

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Said 1978: 42, 204; zu Islamwissenschaften 301f. Moore-Gilbert 1997: 64ff. Azm 1981; Johansen 1990: 73. Rodinson 1983. Ammann 1989a. Rodinson 1995: 33. Vgl. a. MacKenzie 1995.

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82 | Ludwig Ammann Said vorgibt; als Diskursanalyse reicht seine Polemik an die Klassiker nicht heran.41 Nicht zuletzt ist das Problem keine Eigentümlichkeit des Westens, es ist universal. Das hat sogar Said bemerkt, ohne daraus für seine Analyse Folgerungen zu ziehen. Im Anschluß an die oben zitierte Denunziation der Europäer fährt er fort: »Some of the immediate sting will be taken out of these labels if we recall additionally that human societies, at least the more advanced cultures, have rarely offered the individual anything but imperialism, racism and ethnocentrism for dealing with ›other‹ cultures.« Das ist der springende Punkt, und orientalische Hochkulturen wie das welterobernde arabisch-islamische Reich machten es wie alle anderen. Es gibt also auch einen »Okzidentalismus« nichtwestlicher Völker. Beides früh in den Blick zu nehmen, gelang einem Klassiker der postkolonialen Literatur, Tayyib Salichs Zeit der Nordwanderung von 1969.42 Der Roman nahm Edward Saids spektakuläre OrientalismusKritik um ein Jahrzehnt vorweg, und er dachte weiter als das Pamphlet. Denn wo Said vom grausamen Spiel wechselseitiger Exotisierung des Anderen nur die Herabsetzung des Orients durch den Okzident wahrhaben wollte, sah Salih auch dessen Vergötzung – und den nicht minder zwiespältigen Okzidentalismus vieler Araber, also das Echo der Zerrspiegel. Es wäre allerdings noch zu prüfen, ob der von Said unterschlagene Xenozentrismus, die radikale xenophile Selbstkritik nicht eine einigermaßen bemerkenswerte Erfindung der Europäer war. Der wichtigste Ertrag orientalistischer Selbstreflexion seit Abdel-Malek ist die Abkehr von naiv essentialistischen Rekonstruktionen, der »Islamisierung des Islam«43, die ihn auf ein ungeschichtliches Wesen festlegt, das zu allem Überfluß als das mangelhafte Andere abendländischer Kultur konzipiert ist. Die Suche nach dem einzig wahren Islam, die ihn geradezu islamistisch im Ursprung und nur dort findet, hat ein Ende. Keineswegs beendet ist jedoch, wenn man das Kulturkonzept nicht mutwillig über Bord wirft, die aufgeklärt essentialistische Suche nach dem »keimträchtigen Kern«44 oder besser noch den Kernen islamischer Kulturen. Es gilt nach einem Wort Gudrun Krämers, Kultur ernst zu nehmen, ohne einem deterministischen Kulturalismus in die Falle zu gehen.45 Das ist nicht leicht. Von Grunebaum ist ein warnendes Beispiel. Ausgerechnet er, der früh ein hochreflektiertes Programm kulturanthropologischer Islamstudien entwarf46, behauptete in seinem Werk Dinge, die sich als unhaltbare Essentialismen entpuppten. Sein einflußreicher Essay über »die« islamische Stadt ist geradezu ein Musterbeispiel dafür, wie man es nicht mehr machen sollte: Verallgemeinerung weniger regionalspezifischer Fälle, Rückführung aller im vielstimmigen Geschichtsprozeß ausgebildeten Züge auf die Religion und ständige Suche nach dem, was der »islamischen« Stadt zur abendländischen fehlt.47 Man stelle sich vor, jemand käme auf den Gedanken, Krakau, War41 42 43 44 45 46 47

Zum Beispiel Daniel 1960 u. 1966. Bibliographie zu Exotismus in Pollig et al. 1987. Salich 1998. Azmeh 1993. Müller 2000: 328. Krämer 2000: 6. Grunebaum 1969: 107-124, 145-180. Grunebaum 1955; Kritik bei Abu-Lughod 1987.

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Islamwissenschaften | 83 schau und Prag zum Inbegriff »der« christlichen Stadt hochzustilisieren, die sich vor allem dadurch auszeichne, daß sie kein überdachtes Geschäftsviertel nach der Art des Bazars kennt! Die Geschichte hat aber eine wunderbare anti-anti-essentialistische Pointe: Jüngst hat ein auf den islamischen Raum spezialisierter Geograph den über weite Strecken unfruchtbaren Streit der Philologen um Sein oder Nichtsein der »islamischen Stadt« dadurch entschieden, daß er mit Kollegen gründlich die Baustrukturen in Ost und West verglich. Seine Bilanz nach drei Jahrzehnten: Es gibt tatsächlich sieben Eigenheiten, die man nur im Osten findet – und man findet sie mit Ausnahme des Suq-Viertels bereits im alten Orient!48 Damit ist die »islamische Stadt« vom Tisch, aber anders, als eifrige Orientalismus-Kritiker sich das wünschen. Denn es gibt offensichtlich den – gewiß doch: wandelbaren, keineswegs ewigen – Typus der »orientalischen Stadt«. Nun noch zu Reinhard Schulze, der deutschen Antwort auf Edward Said, die eine Zeitlang großen Beifall fand. Er glaubte, man könne das Übel des Orientalismus, das ethnozentrische Überlegenheitsgefühl dadurch bekämpfen, daß man die Defizitdiagnose – der Andere als Mängelwesen – in Frage stellt. Nicht etwa das zugrundeliegende Werturteil: Aufklärung ist und bleibt bei Schulze ganz undialektisch gut. Aber wir sollten uns nicht zuviel darauf einbilden, weil die Muslime ihre eigene Aufklärung hatten oder fast gehabt hätten, wenn die Europäer nicht modernisierend über sie hergefallen wären. Das ist pures Wunschdenken, eine klassische nativistische Denkformel zur Einbürgerung einer kulturfremden Innovation und als solche im innermuslimischen Modernisierungsdiskurs von Nutzen, weil’s die – islamozentrische! – Eigenliebe schont. Aber als wissenschaftliche Hypothese ist es ein fragwürdiges Forschungsprogramm. Es ist und bleibt ein verdrehter Orientalismus, ist trotz bester Absicht nur die herablassendste Form des Ethnozentrismus, weil es dem andern das Anderssein verwehrt. Orientalistische Forschung sollte weder von der Annahme ausgehen »Nur wir sind gut« noch gleichmacherisch dagegensetzen »Sie sind wie wir/Wir sind wie sie«. Sie könnte vielmehr im Teamwork mit dem Gedanken spielen: »Sie und wir sind anders gut.« Das darf allerdings beherzte Kritik mit Blick auf die Gegenwart nicht ausschließen: Anerkennung schuldet dem anderen Beifall und Kritik, sonst ist sie nichts wert. Damit können wir endlich die besonderen Erkenntnismöglichkeiten der Islamwissenschaften würdigen. Denn nicht die behebbaren und oft schon behobenen Mängel sind das Wesentliche an diesem Fächer von Fächern, sondern die außerordentliche Bereicherung unseres Wissens über die Vielfalt der Kulturen. Islam ist nicht mehr das zufällige Steckenpferd einiger weniger Gelehrter, seit immer mehr Muslime unter uns leben. Die Zeit ist reif für ein Verständnis von Kultur, das die islamischen Kulturen selbstverständlich einschließt. Ich greife nur zwei Fragen heraus, die für Kulturwissenschaftler von allgemeinerem Interesse sein sollten. Erstens: Wie ist die Vielfalt islamischer Regional- und Partialkulturen als Ganzes zu denken? Daß dies möglich sei, setzen wir voraus, wenn wir das Kulturkonzept verwenden. Doch stellt eine raumzeitlich ausgedehnte Hochkultur wie der Islam die Kulturtheorie vor besondere Schwierigkeiten und damit Erkenntnischancen: Die 48 Wirth 2000.

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84 | Ludwig Ammann ethnologische Gleichung »ein Volk – eine Kultur«, die vereinfachende Annahme einer gruppenintern homogenen und zugleich weitgehend exklusiven konstanten Kultur erweist sich hier auf den allerersten Blick als Fiktion49, und es sind Zweifel gestattet, ob sie auch nur als regulatives Ideal taugt. Das Verhältnis von Ethnos und Lebensform gestaltet sich komplexer, wenn identitäre Kollektive (»Wir-Gruppen«) vom Stamm bis zur universalen Glaubensgemeinschaft sich verschachteln und – analytisch davon zu trennen – unterschiedliche Lebensweisen in Prozessen von Glaubens- und Reichsexpansion aufeinandertreffen, sich überschichten, verschmelzen und im ständigen Austausch mit anderen fortentwickeln. Wiewohl auch das im postkolonialen Diskurs so beliebte Konzept der Hybridisierung von Kulturen selbstredend voraussetzt, daß sich in der Kreuzung zweier Kulturen – der biologistische Zungenschlag überrascht, erst recht die Rede von »metissage« – zunächst Distinktes mischt. Die Gretchenfrage war aber schon in den diffusionistischen Kulturkreis- und Kulturareallehren der Ethnologie, ob das Ergebnis von Kulturkontakt nun ein bloßes Mischgebilde ist oder ein einheitliches Ganzes.50 Wir könnten uns alle Zwischenstufen von totaler Integration bis zu totaler Desintegration vorstellen, von höchster Kulturverdichtung im Zentrum bis zur ihrer Auflösung am Rand – dies wäre dann im wahrsten Sinne des Wortes ein Grenzfall – und auf Aufklärung hoffen. Jedenfalls ist Kultur Struktur und Prozeß wie Licht Teilchen und Welle51 und im Fall des Islam ganz gewiß nicht ohne die Geschichte ihrer Abwandlungen zu haben. Hier ist an einen bedeutenden Versuch zu erinnern, den Islam aus entschieden universalhistorischer Perspektive als komplexe und dynamische Zivilisation von hemisphärenweiter Ausdehnung zu begreifen: Marshall G. S. Hodgsons Meisterwerk The venture of Islam: conscience and history in a world civilization.52 Eine Zivilisation ist für Hodgson »a relatively extensive grouping of interrelated cultures insofar as they have shared in cumulative traditions in the form of high culture, on the urban, literate level« (Bd. 1: 91). Mit anderen Worten: Wer nach der Einheit der islamischen Zivilisation als Gruppierung zusammenhängender Kulturen fragt, muß sie in der schriftlichen Hochkultur städtischer Eliten suchen; an der sozioökonomischen Basis herrscht Vielheit. Islamisch ist hierbei die fortdauernde Präsenz formativer islamischer Ideale, genauer gesagt: der nicht abreißende Dialog aufeinanderfolgender Generationen von Muslimen mit den Idealen der koranischen Offenbarung. Die Pointe von Islam als »venture«, also Wagnis im Zeichen des Gewissens, ist die herausragende Rolle schöpferischer Individuen: Es sind besonders fromme Männer und Frauen, die durch ihre Einsichten in einer Kultur des Beharrens Neuerungen durchsetzen.53 Damit machte sich Hodgson schon 1968 für die heute wiederentdeckte Handlungsfähigkeit der sozialen Akteure stark und bewies ein gutes Gespür für die Bedeutung von schriftauslegenden Führern jedweder Couleur wie Sayyid Qutb, Abû l-A^lâ al-

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Rudolph 1988: 53ff. Müller 1988. Schiffauer 1997: 148-150. Hodgson 1974. Dazu wichtig Hodgson 1993. Charakteristik nach Burke 1993.

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Islamwissenschaften | 85 Maudûdî, Mahmûd Muhammad Tâhâ und Nasr Hâmid Abû Zaid im gegenwärtigen Prozeß der islamischen Zivilisation, der Renaissance der Religion. Von Hodgsons Vorstellung von Zivilisationsgeschichte ist es nicht weit zu Gudrun Krämers jüngst verkündetem Programm für eine kulturwissenschaftlich bestimmte Islamwissenschaft. Danach gilt es, Islam als Repertoire textueller und visueller Bezüge zu verstehen, die fortlaufend neu gedeutet werden.54 Auch das heißt letztlich, islamische Kulturen als Geschichte der Deutungen ihrer kulturbildenden Ideale zu studieren – wenn von dem die Rede sein soll, was sie von anderen Kulturen unterscheidet. Zweitens: Wie ist die Vielfalt islamischer wie nichtislamischer Kulturen als Ganzes zu denken, nämlich als Ausdruck der Kulturalität gleich Variabilität des Menschseins nach Ort und Zeit? Dies ist, wohlgemerkt, mitnichten die einzige oder auch nur vordringlichste Aufgabe der Islam- oder anderer Partialwissenschaften. Es ist aber das, was sie zum Verständnis von Kultur im Sinn einer allgemeinen Kulturtheorie beitragen können, welche die Unterschiede und Gemeinsamkeiten in den Lebensweisen menschlicher Gemeinschaften erklärt und die Möglichkeiten und Notwendigkeiten unserer Existenz verstehbar macht.55 Die je unterschiedliche Entfaltung des gattungstypischen adaptiven Vermögens bringt Vielfalt, nämlich kulturelle Eigenart, nicht aber absolute Einzigartigkeit hervor: Das Arabische ist eine von vielen semitischen und das Persische eine von vielen indoeuropäischen Sprachen, der Islam einer von drei abrahamischen Monotheismen, und die islamische eine Schwester der abendländischen und byzantinischen Kulturen. Gegen die identitätslogisch naheliegende Selbst- und Fremdstilisierung zum Unvergleichen ist an oft überraschende Gemeinsamkeiten zwischen den Kulturen zu erinnern. So konnte der Sozialanthropologe Jack Goody nachweisen, daß sich die vormodernen Heirats- und Familienformen von Hellas bis China gleichen und dabei von afrikanischen Formen unterscheiden. Gegen die stolze Behauptung europäischer Einzigartigkeit und Wesensverschiedenheit von Asien ist darum in dieser nicht unwesentlichen Hinsicht die Ähnlichkeit eurasischer Kulturen festzuhalten.56 Der Königsweg zu solchen Entdeckungen ist natürlich der Vergleich. Wir möchten ihn darum auch denen empfehlen, die – anders als die mit islamischen Kulturen befaßten Religionswissenschaftler, Soziologen, Politologen und Ethnologen – vorm Vergleich oft zurückschrecken, den Islamhistorikern und Philologen islamischer Sprachen und Literaturen. Die Schwierigkeiten, Chancen und vor allem vielfältigen Optionen des transkulturellen historischen Vergleichs erörtert hinreißend Jürgen Osterhammel in seinem Plädoyer für eine zukünftige allgemeine und nicht nur je selbstbezogene Geschichtswissenschaft; die hier versammelten Aufsätze sollten Pflichtlektüre für jeden angehenden Islamwissenschaftler sein.57 Kulturalität und Sozialität des Menschen sind in diesem Entwurf beide berücksichtigt: Osterhammels Zivilisationsvergleich wünscht, bei aller Distanz zum ahistorisch-holistischen Kul54 55 56 57

Krämer 2000: 7. Fischer 1988: 20. Goody 1990. Osterhammel 2001, vor allem die ersten beiden Aufsätze.

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86 | Ludwig Ammann turvergleich anthropologischen Schlags, ausdrücklich eine Synthese von kausalanalytischer »Gesellschafts«- und hermeneutischer »Kultur«-Geschichte.58 Das fordert auch von den Islamwissenschaften, »Gesellschaft« als universalisierend-konvergente und »Kultur« als partikularisierend-divergente Dimension gemeinsam in den Blick zu nehmen; denn in der Tat kommen die kulturellen Unterschiede spätestens dann ins Spiel, wenn gleichen Institutionen und Praktiken unterschiedlicher Sinn zugeschrieben wird.59 Vordringlichstes Ziel aller Versuche, die Vielfalt der Kulturen vergleichend als Ganzes zu denken, ist selbstredend die Korrektur vermeintlich allgemeingültiger, in Wahrheit für die eigene Kulturalität und darum Beschränktheit blinder Begriffe, Theorien und Orientierungen der Disziplinen. Das größte Geschenk, das regional beziehungsweise kulturell spezialisierte Wissenschaften eurogenen Disziplinen machen können, ist die allmähliche Austreibung ihres kognitiven Eurozentrismus, der das Urteil trübt und ihrer erfolgreichen Anwendung im Wege steht. Nur wer sich ernsthaft über die Grenzen der eigenen Kultur hinauswagt, kann zu so bemerkenswerten Einsichten gelangen wie der des vergleichenden Religionswissenschaftlers Wilfred Cantwell Smith, daß die philosophische, nämlich rationalistisch-idealistisch-humanistische Tradition in der westlichen Kultur zu den religiösen Traditionen der Menschheit gerechnet werden muß.60 Damit sind wir bei der Gretchenfrage angelangt: Wie ließe sich – hoffentlich nicht nur aus den Voraussetzungen des eigenen Fachs – Kultur definieren? Es geht auch anders: das ist, sehr kurz gesagt, Kultur als das Ergebnis menschlicher Innovation.61 Darum sind unsere Antworten auf Daseinsfragen weltweit so verschieden. Am schönsten hat das die philosophische Fundamental-Anthropologie von Michael Landmann entfaltet: Der Mensch als schöpferisches Geschöpf seiner selbst ist »das geschichtlich variable Wesen: von Volk zu Volk, Kultur zu Kultur, Zeitalter zu Zeitalter gibt er sich wieder ein anderes Gesicht«62. Man könnte es auch mit Günter Dux halten: Der Mensch ist die Fortsetzung der Evolution unter Verwendung autonomiehaltiger Mittel, das heißt durch Geschichte; er muß sich durch Lernen erfinden.63 Innovation begründet Tradition: Erfundenes verfestigt sich zu Werk und Gerät, Techniken, Bräuchen und Institutionen, Wissen und Überzeugungen, Wert- und Zweckordnungen – also zu je besonderem Kulturbesitz als Gemeingut einer Gemeinschaft, den sie zum Selbsterhalt durch Erziehung an die nächste Generation weitergibt. So findet der einzelne zunächst Tradition vor, auch wenn ihr beim Zusammenspiel von aktiver und passiver Kulturprägung der creatura

58 Konzis zur Komplementarität von hermeneutischem und szientistischem Zugang aus ethnologischer Sicht Stagl 1993, der das Verstehen dem Erklären logisch vorordnet. Zum logischen Primat der Kulturalität vor der Sozialität Landmann 1984: 81, 147, 321. 59 Osterhammel 2001: 44f. u. 62ff. 60 Smith 1997: 19ff. Nicht minder lesenswert seine Schriften zum Islam. 61 Rudolph 1988: 42ff. 62 Landmann 1984: 151. 63 Dux 1982.

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Islamwissenschaften | 87 creatrix die Innovation logisch vorausgeht.64 Damit sind »Kreativität und Kulturalität, das Gestalten der Zukunft und die Abhängigkeit von der Vergangenheit, Offenheit für das Neue und Geprägtheit durch die Tradition, Freiheit und Festgelegtheit« die beiden Fundamentalanthropina.65 Der Mensch ist, wie Odo Marquard betont, kein schrankenlos innovatives, sondern vor allem ein an Vorgegebenes anknüpfendes Lebewesen; das wandlungsfähige ist ein wandlungsträges Zoon hypoleptikon – Zukunft braucht Herkunft aus je partikularer Kultur.66 Bemerkenswerterweise begriffen schon die alten Araber ihre Lebensform gleich Kultur geradezu ethnologisch als Gesamtheit der Ergebnisse von Innovationen einzelner: Jeder Brauch (sunna) hatte für sie seinen Ursprung in einer Neuerung (bid ^a). Der Dichter Labîd drückte das so aus: »Ich gehöre zu einer Gruppe, der es ihre Väter eingerichtet haben (sannat lahum); denn jedes Volk (qaum) hat eine Sitte (sunna) und deren Anführer (imâm).« Mit Sunna verband sich die Vorstellung des gebahnten Wegs, des Anführens, das Gemeinschaft (umma) als Lebensweg ausbildet.67 Die islamische Offenbarung setzte die Dialektik von Innovation und Tradition exemplarisch ins Werk: Nach der kulturschöpferischen Revolution durch das Wort Gottes wurde sein Gesandter zum Vorbild, die Sunna des Propheten zur Hauptquelle der Gesetzgebung, sein überlieferter Brauch zum Ideal eines frommen Lebens, das ihn bis ins kleinste nachahmt. Neuerungen wurden von den Gelehrten als zentraler Instanz des öffentlichen Diskurses über das Gemeinwohl meist verurteilt: Die ausgeformte Kultur kultiviert nach Möglichkeit das Beharren. Kulturwissenschaften als Nichtnaturwissenschaften haben darum ein besonderes Augenmerk auf die langlebigen Resultate sozialer Prozesse, die wandlungsträgen Kulturformen, so sie die Kulturalität in den Mittelpunkt stellen.68 Sie brauchen darum dennoch nicht auf die Erkenntnis von Gesellschaft zu verzichten. Die Selbstdeutung menschlichen Lebens steigert die Kulturalität in einem kulturintegrierenden Akt der Hochstilisierung. Das Verstehen von Kultur als Sinnwelt setzt genau bei dieser zuvorderst begrifflichen Idealisierung durch symbolische Formen an.69

3. Allgemeine Überlegungen Es geht auch anders: das gilt nicht zuletzt für die Kultur der Moderne.70 Zu den heute wichtigsten Aufgaben von Islamwissenschaft gehört es, gegen monokulturelle Defizitdiagosen wie Bassam Tibis »Traum von der halben Moderne« – ein Assimilationsprogramm! – den Traum von der islamischen Moderne nachzuzeichnen und die islamische Renaissance als zunehmend kulturelle, lebensreformerische Bewe64 65 66 67 68 69 70

Landmann 1984: 342ff. Landmann 1984: 157. Marquard 1986a: 67f. Ammann 2001: 13. Kröhnke 1998: 106. Landmann 1984: 82; Stagl 1993: 25; Böhme 2000: 66ff. Taylor 1999.

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88 | Ludwig Ammann gung zu begreifen, die um eigene, alter/native Wege in die Moderne ringt.71 Zugleich ist gegen eine pauschale Kulturalisierung der Konflikte nach dem Muster von Samuel Huntingtons »blutigen Grenzen des Islam« durch Nachweis der historischen Konfliktursachen Einspruch zu erheben, ohne in kontraproduktive Apologetik zu verfallen.72 Mit anderen Worten: Eine dezidiert politische Publizistik tut not, die Fachwissenschaft kann das Geschäft nicht Söldnern und Dilettanten überlassen. Die nachhaltige Aufklärung hätte bei denen zu beginnen, die noch gar nichts wissen – also in der Schule. Wir sollten darauf hinwirken, daß Grundwissen über islamische Geschichte und Gegenwart in den Lehrplänen verankert wird und Einführungen wie die von Gabriel Mandel Khan angeschafft werden.73 Die Aufklärung erfordert überdies öffentliche Widerrede, wenn ignorante Platzhirsche des Diskurses wie Karl-Heinz Bohrer (geb. 1932) Verkennungspolitik betreiben. Der Herausgeber des Merkur. Zeitschrift für europäisches Denken erklärte jüngst in einem aufgeregten Editorial nach den Ereignissen des 11. September 2001: »Der Islam ist eine unaufgeklärt gebliebene, frühmittelalterliche Religion, die periodisch aggressiv ausbricht, vergleichbar in seinen zivilisatorischen Defiziten mit der spanischen Kirche zur Zeit der Inquisition, deren Folgen bis zum faschistoiden FrancoRegime reichen. Faschistoid jedenfalls sind sowohl die afghanischen Taliban wie auch die saudischen Wahhabiten, die zwei aktuellen Versionen des sektiererischen Mohammedanismus. Dies nicht als Spielart des Islam zu erkennen, ist ›nützliche Idiotie‹.«74 Wenn zwei Versionen – unter vielen anderen! – des »sektiererischen« Segments als Spielart der nichtsektiererischen größeren Religionsgemeinschaft erkannt werden, warum dann das Pauschalurteil über »den« Islam? Würden wir von Südstaaten-Baptisten auf »das« Christentum und seine zivilisatorischen Defizite schließen? Und was will uns der Begriff »frühmittelalterlich« sagen? Sollen hier die zivilisatorischen Defizite der europäischen Zivilisation im frühen Mittelalter der islamischen angedichtet werden, die jener zur Zeit ihrer Blüte weit überlegen war? Weiß Bohrer, wie wenig Sinn es macht, europäische Epochenbegriffe unbedacht auf eine nichteuropäische Zivilisation zu projizieren?75 Sind für ihn die Befreiungskämpfe kolonisierter islamischer Völker periodische Ausbrüche der Religion? Was soll der Versuch, »den« Islam mit der spanischen Inquisition in Verbindung zu bringen? Ja, es gab auch in der islamischen Welt einen berühmten Fall von Inquisition. Nur war es nicht die Kirche, die zur peinlichen Befragung schritt, sondern der Staat! Die Kalifen al-Ma’mûn und seine beiden Nachfolger ließen von 833 bis 847 n. Chr. foltern, um – man höre und staune – eine »aufklärerische«, nämlich der rationalistischen Theologie der Mu^tazila nahestehende Doktrin vom geschaffenen Koran mit Gewalt durch71 72 73 74 75

Göle 2000. Eine deutsche Fallstudie: Nökel 2002. Vorbildliche Kritik u.a. bei Riesebrodt 2000. Mandel 2002; und für Fortgeschrittene: Kettermann 2001. Bohrer 2001: 955. Der Zeitraum vom 6. bis 8. Jh. wäre dem europäischen Hochmittelalter zu vergleichen, ab etwa 800 ist für die islamische Geistes- und Kulturgeschichte die Bezeichnung »mittelalterlich« abzulehnen. Bauer 1998: 93ff.

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Islamwissenschaften | 89 zusetzen, gegen die traditionalistischen Gelehrten und die »große Masse des gemeinen Volks« ohne »des Wissens Licht«, so das kalifale Schreiben.76 Die Lichtmetaphorik sollte dem »Aufklärer« Bohrer und Untersteller von finsterem Mittelalter bekannt vorkommen. Es war, dies die welthistorische Pointe, just der erleuchtete Gesinnungsterror im Namen des besseren Wissens, der der Reaktion, dem antiaufklärerischen Traditionalismus zum Sieg verhalf und die Mu^tazila zutiefst diskreditierte – eine entscheidende Weichenstellung in der Geschichte des islamischen Denkens, über deren Ursachen selbstkritisch nachzudenken hätte, wer über die Geschicke von Aufklärung im Islam räsonniert. Und was, bitte, soll zu guter Letzt das Wort »Mohammedanismus«? Wer sich ein Urteil über »den Islam« erlaubt, sollte wenigstens wissen, daß dies eine grundfalsche Projektion christlicher Verhältnisse auf eine Religion ist, die sich in der Hauptsache gerade nicht nach dem Propheten nennt! Es dennoch zu tun, ist eine kindische Beleidigung wie »Papismus«. Oder kommt, wer Schaum vorm Mund trägt, nicht mehr zum Denken? Das wäre dann allerdings »nützliche Idiotie«! Allein, der Stumpfsinn hat Methode: Im Anschluß drucken die Herausgeber einmal mehr einen Essay von Siegfried Kohlhammer ab, der die Existenz eines Feindbilds Islam kategorisch bestreitet. Das war schon vor sieben Jahren fragwürdig, schließlich machten Huntingtons islamophobe Kulturkampf-Thesen bereits 1993 als Aufsatz Furore, von Volkes unveröffentlichter Stimme ganz zu schweigen. Spätestens mit der Buchpublikation wurde seine ahistorische Kulturalisierung der Konflikte Kult, die alles Blutvergießen auf das Merkmal »Zugehörigkeit zu einer aggressiven Religion« zurückführt. Noch deutlicher zeichnet sich die Trendwende in der veröffentlichten Meinung seit dem 11. September 2001 ab: Oriana Fallacis (geb. 1929) Hetzschrift Die Wut und der Stolz, ein Manifest des Antiislamismus, schafft auf Anhieb den ersten Platz auf den internationalen Sachbuch-Bestsellerlisten. Die Autorin ist in ihrer Tollwut intellektuell nicht satisfaktionsfähig.77 Aber was ist davon zu halten, wenn ein Geschichtswissenschaftler wie Hans-Ulrich Wehler (geb. 1931) die Debatte nach dem 11. September allen Ernstes so »in eine historische Perspektive« rückt: »Der Islam ist die einzige Weltreligion, die noch immer auffällig rasch expandiert. Er wird das Christentum bald weit überholt haben. Es handelt sich um einen militanten Monotheismus, der seine Herkunft aus der Welt kriegerischer arabischer Nomadenstämme [sic!] nicht verleugnen kann.«78 Die Türken, so fährt der Mann fort, seien aufgrund ihrer Religion nicht integrierbar; die Kulturgrenze zwischen Europa und der Türkei zu ignorieren, sei ein »Akt mutwilliger Selbstzerstörung«. Dies ist die geistige Bankrotterklärung einer Gesellschaftsgeschichte, die an den Grenzen Europas endet und für außereuropäische Kulturen nur eine ahistorische Kulturanthropologie des Ressentiments übrig hat; eine perfide Variante des alten Lieds: Fürs Abendland Geschichte, Gesellschafts- und Politikwissenschaft, für die geschichtslosen Wilden – einmal Glaubenskrieger, immer Glaubenskrieger – Völkerkunde. Wehler beklagt die »Provinzialität der deutschen Historikerzunft«. Recht hat er, mehr als 76 Hinds 1993: 2-6; ein proinquisitorisches Zeugnis von al-Gâhiz bei Pellat 1967: 80ff. 77 Ammann 2002. 78 Wehler 2002.

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90 | Ludwig Ammann er ahnt. Es sei schwierig, »auch nur einen guten Historiker« zu finden, der etwas über den Nahen Osten sagen kann. Da hat er wohl am falschen Ort gesucht: Es gibt exzellente Nahost- und Islamhistoriker in Deutschland – allerdings nicht ohne Grund selten in seiner Zunft, in der offenbar Islam-Dilettanten das Sagen haben. All dies nennt man gemeinhin ein Feindbild. Das macht, wenn man es leugnet, aus dem sonst so besonnenen Merkur leider Gottes ein Zentralorgan für eurozentrisch borniertes Denken. Kulturwissenschaft kann und sollte sich also engagieren, wo sie zur gesellschaftlichen Auseinandersetzung etwas beizutragen hat. Weiterreichende Ansprüche an die Begründung von Sinn durch die Wissenschaften sind als Zumutung zurückzuweisen. Dazu hat Odo Marquards fabelhaftes Plädoyer für eine »Diätik der Sinnerwartung« alles gesagt. In Zeiten übermäßiger Sinnansprüche kann unsere Aufgabe nur darin bestehen, die überhöhten Erwartungen auf ein vernünftiges Maß zurückzuschrauben: »Der Sinn – und dieser Satz steht fest – ist stets der Unsinn, den man läßt.«79 Eine Kulturwissenschaft wie die Islamwissenschaft wird insbesondere solchen universalen Sinnansprüchen mit Mißtrauen begegnen, die sich auf das beziehen, was sich lohnt. Denn sie weiß, daß die Vorstellungen von einem guten Leben weltweit sehr verschieden sind. Sie wird darum zumindest dafür eintreten, kulturelle Vielfalt nicht als Übel, sondern historische Selbstverständlichkeit zu betrachten, die zu den Adiaphora gehört und keiner Intervention bedarf. Sie könnte sich sogar aus kulturökologischer Sicht für die These starkmachen, daß verwirklichte andere Möglichkeiten des Menschseins ein schützenswertes Gut darstellen. Das hieße, kulturelle Alterität als eine sich im Prozeß der Modernisierung verknappende Ressource zu betrachten, mit der möglichst schonend umzugehen ist. Vor allen Bemühungen um einen kulturellen Artenschutz wäre allerdings zu bedenken, daß evolutionshistorisch nach Perioden des Artensterbens sich die Artenvielfalt jeweils über das vorher erreichte Maß hinaus steigerte; etwas Ähnliches deutet sich schon jetzt in der Ausdifferenzierung der lokalen Englisch-Varietäten an. Vielleicht bedingen Sprachenschöpfung und Sprachensterben einander. Dennoch lohnt die Frage: Was ist das Gute an kultureller Vielfalt? Die Existenz von vielen und vielleicht auch unterschiedlich erfolgreichen Lösungen menschlicher Aufgaben erlaubt uns, im Zeichen erhöhter Selbstreflexion voneinander zu lernen – das ist der anthropologische Sinn der unerhörten Variabilität von homo sapiens.80 Die Einsicht, daß es sich so verhalten könnte, blitzt schon im Koran auf – inmitten klassisch ethnozentrischer Positionen, die religiöse Vielfalt allenfalls als Steuerquelle dulden. Der dritte abrahamische Eingottglaube mit Anspruch auf Weltgeltung einer einzigen Wahrheit mußte sich angesichts von unbelehrbaren jüdischen und christlichen Schriftbesitzern die Frage nach dem Sinn der Offenbarungsvielfalt stellen:

79 Marquard 1986b. 80 Müller-Funk 2001: 720.

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Islamwissenschaften | 91 »Wir sandten dir das Buch mit der Wahrheit hinab, zur Bestätigung dessen, was zuvor an Schriften war, es umfangend. Richte nun zwischen ihnen [den Schriftbesitzern] nach dem, was Gott hinabsandte, und folge nicht ihren Neigungen, abseits der Wahrheit, die zu dir kam! Für jeden von euch haben wir eine Satzung und einen Weg festgelegt. Wenn Gott es gewollt hätte, hätte er euch zu einer einzigen Gemeinschaft (umma) gemacht. Doch will er euch darin prüfen, was er euch [vor]gab. So tut Gutes um die Wette! Zu Gott kehrt ihr alle zurück, dann klärt er euch über das auf, worüber ihr uneins wart« (Koran 5: 48; vgl. die gesamte fünfte Sure im Koran und einschlägige Verse im Exkurs).

Das stellt zunächst die grundsätzliche Einheit der göttlichen Offenbarung fest – spätere Offenbarungen bestätigen frühere – und gibt Propheten bei menschlicher Uneinigkeit in Sachen Offenbarung auf, die Einheit wiederherzustellen, Verfälschungen und Irrtümer zu berichtigen, an Vergessenes zu erinnern und vielleicht auch Selbstaufhebungen Gottes zu übermitteln. Dann allerdings wird dieses Konvergenzideal um den Gedanken gottgewollter Divergenz erweitert: Für jeden von euch haben wir einen eigenen Weg festgelegt; so auch Sure 2:148 mit Blick auf die Gebetsrichtung, die schon Hasan al-Basrî als Lebensweg verstand.81 Das ließ sich als widerspruchsfreie Verbindung von Einheit im Bekenntnis zum einzigen Gott und Vielfalt der einzelnen gesetzlichen Bestimmungen deuten. Doch welchen Sinn hat die Vielfalt der vorgeschriebenen Lebenswege? Die Last der Gebote gilt als Prüfung im Wettbewerb ums Paradies. Allein, was ist das für ein Wettbewerb, der jedem zumindest teilweise anderes aufgibt? Die traditionswahrende Exegese begreift die verschiedenen Satzungen als je kontingente Ausformulierung einer gemeinsamen Aufgabe: Gehorsam gegen Gott, ganz gleich worin.82 Das heißt, Kulturalität als bloße Bedingung eines Wettbewerbs auf verschiedenen Heilswegen aufzufassen, die möglichst unverändert einzuhalten sind. Es gibt indes guten Grund, auch an einen Wettbewerb zwischen den Heilswegen zu denken, der zu einer besseren Wegbeschreibung führt. »Doch will er euch darin prüfen, was er euch [vor]gab. So tut Gutes um die Wette!« heißt nicht nur: Jeder kann auf seinem besonderen Weg gewinnen. Denn sollte unterwegs der andere einen Vorsprung erringen, hätte man sich selbst darin zu prüfen, ob man nach Mühe, Mitteln und Zweck auf dem rechten Weg ist – und dabei gegebenenfalls vom anderen zu lernen. Das nähme die Vielfalt der Wege da zurück, wo sie sich als Irrtum eines der Wettbewerber erweist. Auch der Schlußsatz der koranischen Kulturalitätsreflexion kehrt zum Konvergenzideal zurück – allerdings mit einer tiefgründigen Verschiebung: Endgültige Aufklärung über theologische Divergenzen gibt allein Gott. Das erinnert an die Fehlbarkeit menschlicher Schrift- und damit Vorschriftenauslegung in allen Religionsgemeinschaften. Wer an anderen einen Vorsprung beobachtet, tut darum gut daran, auch das eigene Schriftverständnis zu prüfen, und beträfe es nur den Spielraum des Nichtfestgelegten. So treffen sich am Ende im Wissen um die Fehlbarkeit jeder Deutung von Mensch, Welt und Schrift prämodernes Gottvertrau81 Khoury 1994: 166ff.; 1995: 101f. 82 Ähnlich al-Gâhiz über die Gehorsamsprüfung durch Verschiedenheit der menschlichen Anlagen; s. Pellat 1967: 70f.

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92 | Ludwig Ammann en und postmoderne Skepsis. Die weise Selbstbescheidung der Vernunft von Allâhu a^lam! – Gott weiß es am besten! – rührt an Vive la différence!

Anhang: Einschlägige Koran-Verse 3:110: Ihr seid die beste Gemeinschaft (umma), die je unter den Menschen hervorgebracht wurde; ihr gebietet das Rechte, verbietet das Verwerfliche und glaubt an Gott. 2:213: Die Menschen waren eine einzige Gemeinschaft (umma). Dann ließ Gott die Propheten als Freudenboten und Warner erstehen. Er sandte mit ihnen das Buch mit der Wahrheit herab, damit es zwischen den Menschen über das urteile, worüber sie uneins waren. Und es entzweiten sich nur die damit Bedachten, nachdem ihnen doch deutliche Zeichen zugekommen waren – aus Mißgunst! 2:148: Jeder hat eine Richtung, zu der er sich wendet. So tut Gutes um die Wette! 9:29: Kämpft gegen diejenigen unter den Schriftbesitzern, die nicht an Gott und den Jüngsten Tag glauben und nicht verbieten, was Gott und sein Gesandter verboten haben, und nicht der Religion der Wahrheit folgen, bis sie unterwürfig Tribut (gizya) entrichten. 3:113: Sie [die Juden und Christen] sind nicht alle gleich. Unter den Schriftbesitzern gibt es eine aufrechte Gemeinschaft (umma). Sie verlesen nachts Gottes Verse und werfen sich nieder. Sie glauben an Gott und den Jüngsten Tag. Sie gebieten das Rechte und verbieten das Verwerfliche und beeilen sich, Gutes zu tun. Sie gehören zu den Rechtschaffenen. Was immer sie Gutes tun, dafür werden sie nimmer Undank ernten.

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Sprache als Mitte und Mittel der Kultur | 97

Sprache als Mitte und Mittel der Kultur. Die Unmittelbarkeit des Wortes insbesondere an Gedächtniskulturen Afrikas aufgezeigt Herrmann Jungraithmayr In der Stunde Null der Menschheitsgeschichte fängt der Mensch an zu sprechen. Menschwerdung und Ursprung der Sprache gehören zusammen. Es gehört zum Wesen des Menschen, daß er spricht. »Der Mensch spricht. Wir sprechen im Wachen und im Traum. […] Wir sprechen, weil Sprechen uns natürlich ist. […] Die Lehre gilt, der Mensch sei im Unterschied zu Pflanze und Tier das sprachfähige Lebewesen.«1 So Heidegger in seinem Vortrag über »Die Sprache«, am 7. Oktober 1950 auf Bühlerhöhe zum Gedächtnis von Max Komerell gehalten. Nun verlangt es die Behandlung unseres Themas, daß etwas scheinbar Banales, Selbstverständliches hier ausdrücklich gesagt wird. Dieses Selbstverständliche ist die Tatsache, daß jener ursprüngliche Mensch ausschließlich gesprochen hat; seine Sprache bestand im wesentlichen aus Ausruf, Anruf und ersten Ansätzen eines Gesprächs. Zu schreiben hat er erst viele Jahrhunderttausende später gelernt, am Ende der Eiszeit, wohl etwa 10.000 Jahre vor heute. So verhält sich die Zeitspanne der Schriftgeschichte zu der der Sprachgeschichte des Menschen etwa wie 1 zu 100 oder mehr. Der Mensch ist also jahrhunderttausendelang ein Sprecher gewesen, nie ein Schreiber. Nicht der Buchstabe, nicht die Schrift standen im Mittelpunkt der Kultur, sondern das Wort, von Mensch zu Mensch gesprochen. In principio erat verbum (εν αρχ­ ην ο λüγοσ) ist wörtlich zu nehmen: verbum beziehungsweise logos meinen beide das durch die Stimme hervorgerufene Laut- und Klanggebilde aus Schall und Ton. (Etwas anderes ist es, daß wir es immerhin der Schrift verdanken, daß dieses gewaltige Textwort vom Anfang des Johannesevangeliums überhaupt bewahrt und überliefert worden ist.) Die ersten Worte des Menschen müssen etwas sehr Elementares von ungewöhnlicher Wirkkraft gewesen sein. Das Wort gab den Dingen ihre Namen; ohne das Wort, ohne die Sprache kein Ding. Und das Wort ging in das Gedächtnis ein, von woher allein nur Kultur werden konnte. So ist gesprochene – und damit gedachte, im Gedächtnis gedachte – Sprache der Urgrund der Kultur. Alle schriftkulturlichen Lebens- und Denkformen bauen auf diesem Grund auf. Schriftbesitz bewirkt, daß dann später an die Stelle des unmittelbaren, unvermittelten Wortwechsels der vermittelte, mittelbare Schriftwechsel tritt. Nun gehen die allermeisten Diskurse der westlichen Welt wie selbstverständlich davon aus, daß der Großteil der Menschen auf dieser Erde literat, das heißt schriftkundig sei und damit auch – grosso modo – nach den Seins- und Denkweisen der Welt der Schriftlichkeit lebte. Dies ist aber, wie wir wissen, eine grundlegende und folgenschwere Selbsttäuschung. Ein großer Teil der Probleme, die im Rahmen des sogenannten »clash of civilizations« auf der Welt existieren, hat mit dieser Fehlsicht zu tun. Auf jeden Fall wird von staatlicher Seite alles unternommen, die letzten »Reste« des, wie man meint, Analphabetentums auszumerzen. In einem Bericht über die 1 Heidegger 1959: 11.

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98 | Herrmann Jungraithmayr »Fortschritte bei der Alphabetisierungskampagne« in Äthiopien heißt es zum Beispiel: »Dieser große Sieg – dass nämlich die Analphabetenrate auf 46,6 Prozent reduziert werden konnte – wird zur Quelle neuer Anstrengungen für die breiten Massen in ihrem Kampf gegen die Geißel [sic!] Analphabetentum werden.«2 Es wäre weltfremd, sich gegen den in solchen Aussagen zum Ausdruck kommenden Grundgedanken von der Notwendigkeit der weltweiten Verbreitung des Mediums Schrift zu wehren; dafür ist die Welt auf diesem Wege schon zu weit fortgeschritten. Was es aber nachdrücklich zu verurteilen, zurückzuweisen und neu zu überdenken gilt, ist die Art und Weise, wie die Welt der Mündlichkeit und der Gedächtniskulturen verkannt und ausschließlich negativ – Analphabetismus! – be- und verurteilt wird. Hier stellt sich den Kulturwissenschaften die notwendige Aufgabe, darauf aufmerksam zu machen und unserer schriftbesessenen Welt ins Bewußtsein zu rufen, daß Mündlichkeit nicht nur Abwesenheit von Schriftlichkeit bedeutet, sondern daß es sich hierbei um eine seit Jahrhunderttausenden gelebte und nach ganz eigenen Gesetzen funktionierende Denk- und Seinsform handelt, der man ihr eigenes Existenz- und Lebensrecht zuerkennen muß. Tun wir das nämlich nicht, dann begeben wir uns einer einzigartigen Chance; einer Chance, die uns einen Blick tun läßt in eine Welt, die ja unsere Vergangenheit ist und etwas mit unseren eigenen psychisch-sozialen und mentalen Wurzeln zu tun hat. Wir haben in den illiteraten Kultur- und Sprachgemeinschaften, insbesondere Asiens und Afrikas, noch die Möglichkeit, Sprache und sprachliches, zwischenmenschliches Verhalten in situ zu beobachten und miterlebend zu erfahren. Sprache als Mitte und Mittel der Kultur, das ist nicht nur ein leeres – wenn auch recht gut klingendes – Wortspiel, sondern es ist mir persönlich Bekenntnis und Überzeugung, gewonnen aus einer fast 50jährigen Erfahrung und Begegnung mit Sprache und mit Sprachen; und zwar in ihrem Primärkontext und -umfeld, also bei der Feldforschung im afrikanischen Dorf, wo Sprache noch unverdeckt und unvermittelt verbunden ist mit dem Menschen, dem Sprecher, dem kulturellen Agens. Nirgendwo sonst lebt der Mensch so sehr vom und im gesprochenen Wort wie in diesen oral bestimmten Gesellschaften. Im Gegensatz zu »Schriftkultur« ziehe ich hier die Bezeichnung »Gedächtniskultur« dem negativen Terminus »schriftlose« oder »illiterate« Gesellschaft vor. Es ist ja in der Tat so, daß sich Gedächtnis und Schrift polar gegenüber stehen und oft weitgehend gegenseitig ausschließen. Der bekannte mythologische Diskurs in Platons Phaidros von der Einführung der Schrift durch den Gott Thot im alten Ägypten bringt dieses grundlegende Problem treffend und anschaulich auf den Punkt: König Thamos entgegnet dem Schreibergott auf dessen Preisungen der Vorzüge der Schrift bekanntlich folgendes: »[…] wer dies lernt, dem pflanzt es durch Vernachlässigung des Gedächtnisses Vergeßlichkeit in die Seele, weil er im Vertrauen auf die Schrift von außen her durch fremde Zeichen, nicht von innen her aus sich selbst die Erinnerung schöpft.« All die Erzähler und großen Barden Afrikas, in den frankophonen Ländern auch »griots« genannt, waren und sind der Schrift unkundig; doch aber wohl nicht anders als der unbekannte Sänger der

2 Äthiopien-Magazin Mai 1983: 14.

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Sprache als Mitte und Mittel der Kultur | 99 Homerischen Odyssee und Ilias wie auch die keltisch-irischen Barden, von denen Paul Gaechter in seiner vortrefflichen Schrift berichtet.3 Wenn wir nun der Sprache in ihrer elementaren Dimension nachdenken wollen, so meine ich, daß uns Heidegger die erforderliche Richtung und Orientierung zu weisen vermag. Für Heidegger ist Sprache weder Objekt noch Instrument des sprechenden Menschen. Für ihn ist Sprache etwas über dem und um den Menschen herum Stehendes, etwa wie ein Raum oder ein Haus, in dem der Mensch wohnt und eingebettet ist: »[…] die Sprache das Haus des Seins.«4 Er sagt: »So sind wir denn allem zuvor in der Sprache und bei der Sprache.«5 Und wenn er an anderer Stelle bemerkt: »Der Mensch spricht […]. Als der Sprechende ist der Mensch: Mensch«6, dann meint er vor allem: »Die Sprache spricht.«7 Hier stellt sich uns die Frage, ob dies heißen könnte, daß die Sprache durch den Menschen spricht; der Mensch also als ein Medium der Sprache und nicht die Sprache als ein Medium des Menschen zu gelten hat. Eine ganz wesentliche Frage, der nachzugehen – gerade auch für unser Thema – sich sehr lohnen würde, der wir uns aber hier versagen müssen. Wenn wir also in diesem Sinne über Sprache nachdenken wollen, dann zeigt es sich bald, daß es wohl nur zwei Wege, zwei Bereiche gibt, auf beziehungsweise in denen wir dies dem Gegenstand angemessen tun können: Einerseits indem wir uns durch Dichter und Dichtkunst an sie, die Sprache, heranführen lassen – dies ist der Weg, den Heidegger mit Hölderlin, Rilke, George und Trakl gegangen ist; zum anderen aber sollten wir versuchen, ihr über die gesprochene Sprache, wie wir sie noch in den Gedächtniskulturen antreffen, nahe zu kommen. Sprache ist in beiden dieser Welten – in der der Dichtung ebenso wie in der der Oralität – etwas im Wesen ganz anderes als das, worauf sie in der modernen, westlichen Zivilisation häufig reduziert ist, nämlich auf den Status des schieren Informationsträgers. Hören wir noch mal Heidegger dazu: »Demgemäß gewinnt die Vorstellung von der Sprache des Menschen als ein Instrument der Information in steigendem Maße die Oberhand. Denn die Bestimmung der Sprache als Information verschafft allererst den zureichenden Grund für die Konstruktion der Denkmaschinen und für den Bau der Großrechenanlagen.«8 Walter Benjamin charakterisiert den Sachverhalt besonders treffend folgendermaßen: »Wenn die Kunst des Erzählens selten geworden ist, so hat die Verbreitung der Information einen entscheidenden Anteil an diesem Sachverhalt. Jeder Morgen unterrichtet uns über die Neuigkeiten des Erdkreises. Und doch sind wir an merkwürdigen Geschichten arm.«9 Gegenüber dieser profanen Instrumentalisierung der Sprache, bei der sie objektiviert, gezähmt, geformt (formatiert!), in vom technisch-wirtschaftlich orientierten Menschen konstruierte Bahnen gepreßt und somit letzten Endes entgeistet und entseelt wird, ist Sprache – ähnlich wie in der 3 4 5 6 7 8 9

Gaechter 1970: 13. Heidegger 1959: 90. Heidegger 1959: 241. Heidegger 1959: 11. Heidegger 1959: 13. Heidegger 1957: 203. Benjamin 1969: 415.

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100 | Herrmann Jungraithmayr Dichtung – im vorschriftkulturlichen Leben und Denken die erste und wichtigste kulturelle Instanz für die Gemeinschaft. Hier ist der Ort, wo das Wort, der Name keineswegs nur Schall und Rauch ist, sondern häufig noch magische Kraft besitzt, wo ein Fluch noch töten und ein Segenswort heilen, ja sogar Tote zum Leben erwekken kann. »Im Anfang war das Wort«, das heißt der Ursprung allen Seins und Daseins liegt in der Sprache, im Sprechen der Sprache. Sprache schafft Welt, schafft die Dinge. Heidegger setzt sich in seiner Schrift über »Das Wort« – aus dem Gedicht »Das Wort« von Stefan George – mit der letzten Verszeile besonders auseinander: »Kein Ding sei wo das Wort gebricht.« »Wo das Wort fehlt, ist kein Ding. Das verfügbare Wort erst verleiht dem Ding das Sein.«10 Dies aber ist nur eine andere Aussageweise desselben Prinzips, durch das der Anfang des Johannesevangeliums geprägt ist: »Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist.«

Alle Dinge sind also durch das Wort gemacht. Das Sagen schafft das Sein beziehungsweise das Seiende. Heißt es nicht auch in der Genesis »Und er sprach: Es werde Licht – und es ward Licht«? Schon zu Beginn sagten wir, daß die Dinge durch das Aussprechen ihrer Namen zur Welt kommen. Das heißt aber, daß dem Wort ursprünglich eine gewaltige Kraft und Macht innegewohnt haben muß – wenn es doch die Welt erschaffen konnte! Wie abwegig ist es doch von Faust, an die Stelle des Wortes die Tat setzen zu wollen! »Geschrieben steht: Im Anfang war das Wort! Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort? Ich kann das W o r t so hoch unmöglich schätzen, Ich muss es anders übersetzen, Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin. […] Mir hilft der Geist! Auf einmal seh ich Rat Und schreibe getrost: Im Anfang war die T a t !«

Theodor Haecker – in seinem klassischen Werk »Vergil, Vater des Abendlandes« – sagt hierzu Vernichtendes: »Seitdem der deutsche Faust durch eine groteske Vergewaltigung die Wahrheit in ihrer theologischen, philosophischen und philologischen Gestalt übersetzt hat: Im Anfang war die Tat […] ist der deutsche Genius in ein Taumeln ohne Ende geraten. Die Wirkung dieser geistigen Un-

10 Heidegger 1959: 221.

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Sprache als Mitte und Mittel der Kultur | 101 tat, die immense Wirkung dieser Verkörperung einer Unwahrheit macht die Wirkung des ganzen Nietzsche zu einer Lappalie.«11

Kann es denn in unserer technischen Welt noch einen Nachklang, einen späten Abglanz jener ursprünglichen Kraft des Wortes geben? Sicherlich nicht, das sagten wir schon, in der schriftorientierten Welt der Information und der nüchtern sachlichen Berichterstattung. Dafür aber in den zahllosen kleinen ethnischen Gemeinschaften, die am Rande oder vielfach auch noch inmitten der modernen Zivilisationsgesellschaft in Afrika südlich der Sahara, Teilen Asiens und Lateinamerikas ihre kulturelle Identität zu bewahren suchen, was ihnen übrigens unter dem von außen kommenden Modernisierungsdruck zunehmend schwerer fällt. In diesen Kleingemeinschaften lebt das kulturelle Geschehen und Wirken vom gesprochenen Wort, angefangen bei den traditionellen Gerichtsverhandlungen über die Zwiesprache mit den Ahnen bis hin zur Geschichtenerzählrunde und zum Festgesang. Keine Bibliothek, kein Katalog und kein Computerspeicher stehen zur Verfügung, um all das, was je gedacht und gesagt worden ist, aufzubewahren und von Generation zu Generation weiterzugeben; da all jene Extensionen, die sich die moderne Zivilisation geschaffen hat, entfallen, ist der Mensch auf sein ureigenstes Vermögen angewiesen, und das ist im geistig-seelischen Bereich sein Gedächtnis. Was sind nun die Leistungen und Merkmale, die der Sprache, wenn sie (noch) in diesem Sinne ganz im Mittelpunkt der Kultur steht, eigen sind? 1.

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Die bindende Kraft des Wortes: ein mündlich gegebenes Wort – in dieser Welt bedarf es noch nicht des »Ehrenwortes«! – ist höchste Verpflichtung, ist heilig; Wortbruch ist Verbrechen; ein Vertrag wird durch Wort und Handschlag besiegelt, ein Wunsch nach schriftlicher Fixierung würde Mißtrauen verraten. Im Gruß, Segen und Fluch sind Worte nicht nur leere Wörter. Wir denken dabei an die Kraft unserer eigenen Sprache in ihrer Frühzeit, zum Beispiel an die Gewalt und Wirkungskraft der Merseburger Zaubersprüche. Wir sagten es schon: Ein Fluch, ein Bannwort, auch wenn über weite Entfernung hin ausgesprochen, kann verletzen, ja töten, so wie andererseits ein gutes Wort, ein Segensspruch Heilkraft, heilende Wirkung haben kann. Die Wunder Jesu sind vor allem durch die Wirkkraft seiner Worte geschehen. Die Sprache, die gesprochene Sprache als das Mittel des Erzählens. In der Welt der Mündlichkeit wird erzählt, nicht besprochen. Harald Weinrichs Opposition von besprochener und erzählter Welt, auch wenn er es in seinem Buch »Tempus« in einem anderen Sinne gemeint hat, trifft wohl genau den Unterschied zwischen schriftkulturlicher und gedächtniskulturlich geprägter Welt. Narrare necesse est – dies gilt primär für die Wortkulturen; sekundär als Kompensationsvorgang, auch für Schriftkulturen, wie Odo Marquardt meint: »Je mehr wir rationalisieren, umso mehr müssen wir erzählen.«12 Was Marquardt aber zu übersehen scheint, ist die Tatsache, daß alle seine Kompensationserscheinungen

11 Haecker 1946: 126. 12 Marquardt 2000: 95.

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in der Moderne – nämlich historischer Sinn, Roman und Geisteswissenschaften – ohne die Schriftlichkeit nicht denkbar sind. So schreibt Benjamin sehr treffend: »Es hebt den Roman gegen alle übrigen Formen der Prosadichtung – Märchen, Sage, ja selbst Novelle – ab, daß er aus mündlicher Tradition weder kommt noch in sie eingeht.«13 Benjamin charakterisiert das Wesen der Welt, in der die Erzählung zuhause ist, auf so unnachahmliche Weise: »Das Märchen, das noch heute der erste Ratgeber der Kinder ist, weil es einst der erste der Menschheit gewesen ist, lebt insgeheim in der Erzählung fort.«14 Und weiter schreibt er: »Geschichten erzählen ist ja immer die Kunst, sie weiterzuerzählen, und die verliert sich, wenn die Geschichten nicht mehr behalten werden. Sie verliert sich, weil nicht mehr gewebt und gesponnen wird, während man ihnen lauscht. Je selbstvergessener der Lauschende, desto tiefer prägt sich ihm das Gehörte ein.«15 Und auch die hohe Kunst des Geschichtenerzählens, die Epik, hat u.a. in Afrika bis heute eine große, lebendige Tradition. Es gibt in West- und Zentralafrika Darbietungen von Epen, die eine ganze Nacht erfüllen. Beispiel: Von dem Mvet-Gesang des Fang-Volkes in Gabon berichtet H. Pepper: »Um 8 Uhr abends nahm […] der vortragende Rezitator und Sänger seine Aufgabe in Angriff und führte sie, ohne auch nur einmal zu unterbrechen, die ganze Nacht über durch; gegen 6 Uhr morgens ging die Aufführung zu Ende.«16 Hier muß man sagen: »Die Stoffmasse, die afrikanische Erzähler im Gedächtnis aufgespeichert haben, steht sicherlich nicht jener nach, die uns z.B. auch von frühchristlichen und mittelalterlichen filid und den […] Erzählern und Barden der keltisch-irischen Gedächtniskultur berichtet wird.«17 Das gesprochene Wort par excellence ist das Sprichwort. Wie kein anderes Wortgut steht und fällt es mit der Mündlichkeit. Hier gilt im besonderen Maße, was König Thamos dem Schrifterfindergott Thot erwidert hat: Schriftbesitz verdrängt die Fähigkeit, Sprichwörter zu erinnern. Würde man einen durchschnittlichen Mitteleuropäer bitten, Sprichwörter zu zitieren, brächte er es wohl kaum auf mehr als fünf bis zehn. Wer kennt schon zum Beispiel »Je höher der Affe steigt, je mehr er den Hintern zeigt« oder »Spitzig Kinn, böser Sinn«? Die ostafrikanischen Chaga sagen: »Ein Chaga besitzt vier große Güter: Land, Rinder, Wasser und Sprichwörter.«18 Sprichwörter, darf man wohl sagen, »sind aufgrund der jahrhundertelangen Erfahrung, die sie zum Ausdruck bringen, sowohl ein Spiegel der Geschichte als auch in vielen Fällen die Grundlage der Rechtssprechung eines Volkes.«19 Das mündlich tradierte deutsche Recht kennt ja auch Rechtssprichwörter in großer Zahl, so zum Beispiel »Wer zuerst kommt, mahlt zuerst« Benjamin 1969: 413. Benjamin 1969: 429. Benjamin 1969: 417. Wolf & Wolf 1972: 10. Jungraithmayr 1981: 169f. Raum 1940: 217. Jungraithmayr 1981: 162.

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oder »Wo kein Hahn kräht, kräht die Henne«. Die Sprichwörter, die jedes der afrikanischen Völker – und es gibt davon ja mindestens 2.000 – besitzt, gehen in die Tausende. Eine weitere oralliterarische Wortgattung, die ganz besonders geprägt ist vom Wesen der Mündlichkeit, ist das Lob- oder Preislied (Hausa: kirari, Yoruba: oriki, Dogon: tige, Ful: yettode, Nguni: izibongo). Daniel Kunene hat dieser Poesiegattung bei den Basotho eine Monographie gewidmet (1971), Trevor Cope bei den Zulu (1968) und Babalola bei den Yoruba (1966), um nur einige wenige zu nennen. Hier preist eine überhöhte, phantasievolle Sprache, die ganz und gar auf die lautlichen Möglichkeiten der gesprochenen Sprache angewiesen ist, Götter, Könige, Sippen, Städte, aber auch verehrungswürdige Tiere – so zum Beispiel den Büffel bei den Yoruba.20

Vieles mehr ließe sich noch nennen aus der Vielfalt mündlicher Manifestationen der geistigen Kultur oral orientierter Gemeinschaften, so die faszinierende Welt der Lautbilder oder Lautgemälde – jede afrikanische Sprache nennt Tausende ihr eigen; oder die große Schöpfungsgeschichte der Dogon im Nigerbogen, eine Ontologie, die ebenso reich ist wie die von Hesiod; oder die zahllosen sprechenden Personennamen, die dem einzelnen seine soziale Stellung und Rolle in der Gesellschaft zuweisen. All diese Zeugnisse afrikanischer Gedächtniskulturen – ausschließlich über das Medium der gesprochenen Sprache vermittelt –, ihre Gestalt und ihr Gehalt können verläßlich und korrekt nur mithilfe der Methoden der afrikanischen Sprach- und Literaturforschung aufgezeichnet werden. Ihre Aufzeichnung auf Tonträger beziehungsweise Verschriftlichung läuft natürlich dem Geist und der Intention des mündlichen Sprachkunstwerks total zuwider – »to learn by heart« und »to reduce to writing« sind schließlich polare Gegensätze! –, es ist aber die einzige Möglichkeit, archaische Kulturen in das Blickfeld der vergleichenden Kulturwissenschaften zu rücken. Denn das eigentliche Leben und Denken der rund 500 Millionen Menschen des afrikanischen Kontinents kann wesentlich nur aus diesen zahllosen mündlich tradierten Texten erschlossen werden. »Jedes dieser rund 2.000 Textkorpora […] repräsentiert ein geistiges Universum, eine je in sich geschlossene Enzyklopädie, in der über das kollektive Gedächtnis das kulturelle Erbe eines jeden Volkes aufgehoben ist.«21 Was bisher vor allem mit Bezug auf afrikanische Oralkulturen gesagt wurde, gilt im wesentlichen natürlich für alle vorschriftkulturlichen Gemeinschaften Asiens und Lateinamerikas auch, in denen die gesprochene Sprache Mitte und Mittel ihres geistig-seelischen Lebens ist. 1997 wurde dem Türken Yas¸ ar Kemal der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen. In seiner Rede betonte er: »Der Mensch ist worthaft. Und er hat immer auf die Kraft des Wortes, auf den bannenden Zauber des Wortes gebaut. Sowohl beim mündlichen Erzählen als auch beim erzählenden Schreiben habe ich jedes Mal den Zauberbann des Wortes, seine Macht in meinem 20 Jungraithmayr 1981: 165. 21 Jungraithmayr 1998: 188.

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104 | Herrmann Jungraithmayr Innersten verspürt.«22 Der Amerikanist Werner Müller spricht in seiner Schrift »Indianische Welterfahrung« von »einer sprachlichen Wirklichkeitserfassung von hohen Graden«; das Delaware betriebe »geradezu linguistische Malerei« und arbeitete »mit den feinsten Schattierungen […], um das Verlautbarte durchzugestalten. Die eigene zivilisierte Sprechweise entpuppte sich damit verglichen als Schluderei, ins Ungefähre geredet, ins Undeutliche verwischt, wohingegen das Indianische mit höchster Sorgfalt den Gegenstand, die Situation, den Kontext sozusagen nachzeichnete.«23 Müller kommt dann im weiteren auf die besonderen rhetorischen Fähigkeiten, die den Sprecher einer indianischen Sprache auszeichnen, zu sprechen – eine Beobachtung, die sich voll und ganz mit meinen persönlichen Erfahrungen in Afrika deckt. »Auf der rednerischen Begabung beruht die Stellung der Häuptlinge. […] Fragen wir nach der verwandelnden Macht ihrer Sprache, so tritt eine besondere Eigenschaft polysynthetischer Rede überraschend ins Licht: die Gabe nämlich, sinnliche Eindrücke zu Bildern und Bilderketten zu verflechten.«24 »Aus dieser bildergesättigten Redeweise, aus diesem Strom der Erscheinungen quillt die Unwiderstehlichkeit indianischen Sprechens.«25 »Sprache als Epiphanie der Wirklichkeiten: mit der Formel läßt sich archaisches Sprechen umschreiben. Es steht meilenfern von jeder zivilisierten Rede, deren Rationalität und Mitteilungszweck unverkennbar ins Auge springen […] Das Uralter der polysynthetischen Sprachschicht bedarf keines Nachweises. Sie gehört ohne Zweifel jener Epoche an, da die Menschheit noch von mythischen Anschauungen bewegt wurde, nicht von rational-kritischen Feststellungen.«26 Doch zum Schluß nun zurück in unsere Welt, auch zur Thematik des Bandes. Es läßt sich zusammenfassend wohl sagen, daß Kultur in einer oral funktionierenden Gemeinschaft sich aus der zentralen Rolle, die die Sprache in einer Gedächtniskultur spielt, definiert. »Sprache stiftet die Gemeinschaft, auf der die Kultur aufbaut. Die Sprachwissenschaft ist demnach die Grundwissenschaft für alle Geisteswissenschaften in demselben Sinne, wie die Mathematik die Grundwissenschaft für die Naturwissenschaften ist.«27 Diesen in einer Sprechgemeinschaft überwiegend durch Sprache geprägten Kulturphänomenen kann sich die Wissenschaft aber nur nähern beziehungsweise damit vertraut machen, indem sie unmittelbare Präsenz und Partizipation beweist. Ohne intellektuellen Nachvollzug der im Sprechen vermittelten Kultur- und Lebenserfahrung wird eine Oralkultur nicht adäquat bestimmt und verstanden werden. Im positiven Falle liegt aber darin auch die einzigartige Chance, uns trotz unseres Eingebundenseins in unser durch die Geschichte bedingtes, wissenschaftlich-rationales So-Sein eine Vorstellung von dem ursprünglichen Charakter und Wesen der Sprache zu verschaffen. Nur die Sprachwissenschaft – vielleicht auch noch die Musikwissenschaft – kann diesen spezifischen Beitrag zum Ganzen der Kulturwissenschaften 22 23 24 25 26 27

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20.10.1997. Müller 1981: 18. Müller 1981: 25. Müller 1981: 27. Müller 1981: 31. Porzig 1950: 7.

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Sprache als Mitte und Mittel der Kultur | 105 leisten. Eine – vielleicht die wichtigste Erkenntnis – die aus der wissenschaftlichen Beobachtung von Sprache, wenn sie Mitte und wichtigstes Mittel der Kultur ist, erwächst, ist unzweideutig diese: Sprache in ihrer existenziell lebenswichtigen Unmittelbarkeit, wie sie in einer mündlich bestimmten Gemeinschaft gegeben ist, ist von höchster Präzision, von ungewöhnlicher Treffsicherheit, hoher rhetorischer Kunst und von unübertrefflicher Wirklichkeitsnähe und Anschaulichkeit. Meines Erachtens haben die Kulturwissenschaften die Aufgabe, die beiden so heterogenen Formen des Denkens und der Lebensgestaltung in unserer Welt, das heißt der einen beziehungsweise wenigen Schriftkultur(en) einerseits und der 5.000-6.000 Gedächtniskulturen andererseits, in ihrer qualitativen Grundverschiedenheit zu beschreiben und darüber hinaus ihr Nebeneinander, hoffentlich auch immer mehr ihr Miteinander in unserem globalen Dorf zu ermöglichen. »Der Berggorilla lebt, aber viele kleine Sprachen sterben« – so lautete vor einigen Jahren die Überschrift eines Artikels des Linguisten Florian Coulmas in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 07. 10. 1992. Die Kulturwissenschaften müssen verstärkt darauf dringen, daß vor dem häufig unvermeidlichen Verschwinden von Minderheitensprachgemeinschaften eine gründliche Dokumentation der Struktur und des geistigen Gehalts der vom Sprachtod bedrohten Sprache erfolgt. Die berechtigten Forderungen nach Bewahrung und Schutz für die Vielfalt der Pflanzen- und Tierwelt sollten doch auch für die Kultur- und Sprachgemeinschaften gelten. Und schließlich mag es ja vielleicht nicht gänzlich utopisch sein, wenn Constantin von Barloewen im gleichen Blatt (vom 21.01.2000) fordert: »Kultur muß Faktor der Realpolitik werden.« Er schließt sein Plädoyer mit folgender radikaler, bedenkenswerter Feststellung: »Es stellt sich am Beginn des 21. Jahrhunderts die Herausforderung globaler Interkulturalität. Der Internationalismus der Weltwirtschaft kann auf Dauer nur Erfolg haben, wenn wir uns vertieft mit der Pluralität der Weltkulturen auseinandersetzen«.

Bibliographie Babalola, Solomon Adeboye, 1966: The content and form of Yoruba Ijala. Oxford. Benjamin, Walter, 1969: Illuminationen. Frankfurt am Main. Cope, Trevor (Hg.), 1968: Izibongo: Zulu praise poems. Oxford. Gaechter, Paul, 1970: Die Gedächtniskultur in Irland. Innsbruck. Haecker, Theodor, 41946: Vergil, Vater des Abendlandes. Zürich. Heidegger, Martin, 1957: Der Satz vom Grund. Pfullingen. – 1959: Unterwegs zur Sprache. Pfullingen. Jungraithmayr, Herrmann, 1981: Gedächtniskultur und Schriftlichkeit in Afrika. Wiesbaden. – 1998: Das Orakel von Ife: Reflexion über das verborgene Afrika. Stuttgart. Kunene, Daniel, 1971: Heroic poetry of the Basotho. Oxford. Marquard, Odo, 2000: Narrare necesse est. In: Die politische Meinung 362: 93-95. Müller, Werner, 1981: Indianische Welterfahrung. Frankfurt am Main. Porzig, Walter, 1950: Das Wunder der Sprache. München.

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106 | Herrmann Jungraithmayr Raum, Otto F., 1940: Chaga childhood: a description of indigenous education in an East African tribe. London. Weinrich, Harald, 1964: Tempus: besprochene und erzählte Welt. Stuttgart. Wolf, Paul & Paula de, 1972: Un mvet de Zwè Nguéma, chant épique fang. Paris.

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Medizin – eine Kulturwissenschaft? Wissenschaftsverständnis, Anthropologie und Wertsetzungen in der modernen Heilkunde Volker Roelcke

1. Die Medizin im Kanon der Wissenschaften Medizinisches Denken und Handeln ist zunächst auf ein praktisches Ziel gerichtet: die Linderung oder Beseitigung von menschlichem Leiden. Die moderne Medizin ist gleichzeitig eine wissenschaftliche Disziplin, da sie den Anspruch erhebt, daß ihre Aussagen und Handlungen begründbar sind, das heißt in jeder kompetent und rational geführten Diskussion Zustimmung finden könnten. Insofern ist die Medizin eine praktische Wissenschaft.1 Wie aber ist ihr Verhältnis zu den Natur- und den Kulturwissenschaften zu bestimmen? Die Medizin am Beginn des 21. Jahrhunderts wird oft als »molekulare Medizin« beschrieben.2 Damit ist gemeint, daß Problemwahrnehmungen, Methoden der wissenschaftlichen Arbeit, aber auch die Einschätzung von wissenschaftlichem Prestige ganz wesentlich an den Kategorien und Kriterien der Molekulargenetik orientiert sind. In dieser Perspektive wäre die Medizin also als Naturwissenschaft einzuordnen. Andererseits gibt es in der heutigen Gesellschaft eine Vielzahl von Bereichen der Kultur3, die mit dem Blick auf medizinische Wissensbestände und Normen und unter Hinzuziehung von Medizinern als Experten gestaltet werden. Hierzu gehören neben dem Kranksein nicht nur Schwangerschaft, Geburt und Alter, sondern auch die Ernährung (inklusive der Pathologisierung von abweichendem Eßverhalten), das Arbeitsleben (etwa die »Ergonomie« des Arbeitsplatzes) und die Freizeit (»Fitness« 1 Kambartel 1996; Wieland 1975: 83-99. 2 Chambers 1995; Rheinberger 1996; vgl. dazu ausführlicher unten (Kap. 3). 3 Kultur wird im folgenden verstanden als der für eine soziale Gruppe spezifische Fundus an Deutungs- und Verhaltensmöglichkeiten. Dieses Reservoir verändert sich kontinuierlich in der Folge von konkreten politischen, ökonomischen, wissenschaftlich-technischen oder auch naturgegebenen Herausforderungen, auf die einzelne Akteure oder auch Gruppierungen eine sinnvolle Antwort zu geben versuchen; vgl. dazu Wimmer 1996. Zentrale Prämisse für die folgenden Ausführungen ist eine an die Anthropologie von Helmuth Plessner und Ernst Cassirer anknüpfende Auffassung, wonach der Mensch konstitutiv ein symbolisierendes und damit ein aufgrund von Erfahrungen deutendes Wesen ist. Menschliches Handeln erfolgt demnach in einem aus Erfahrung gespeisten Deutungsraum; gleichzeitig produziert das Handeln neue Bedeutungen. Diese Prämisse ist für die folgenden Ausführungen insofern von Bedeutung, als Geschichte und Kultur einer sozialen Gruppe für die medizinisch Handelnden jeweils spezifische Deutungsangebote zur Verfügung stellen. Komplementär produzieren medizinisches Handeln und biomedizinische Wissenschaft jedoch auch neue Deutungsmöglichkeiten in bezug auf den Menschen in seiner Mitwelt.

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108 | Volker Roelcke und »Wellness« nach medizinisch definierten Kriterien). Auch Arbeitsmarkt- und Versicherungstauglichkeit sind in einer Reihe von westlichen Gesellschaften zunehmend von der Einschätzung medizinisch-genetischer Daten der Betroffenen abhängig. Und die sich abzeichnende Möglichkeit, die genetische Ausstattung von konkreten Individuen zu manipulieren, läßt die menschliche Natur mehr und mehr zu einem Gegenstand kultureller Praxis werden. Wenn wir die Gene ändern können, werden sie Teil der sozialen Umwelt.4 Kulturelle Techniken (wie diejenigen der Molekulargenetik) dienen dann nicht mehr einfach dazu, die Menschheit von den Zwängen einer »feindlichen« Natur zu befreien; vielmehr hat die Kulturgeschichte uns bis an einen Punkt geführt, wo wir vermutlich die menschliche Natur selbst werden gestalten können. In einer solchen Perspektive ist die Medizin eine Disziplin, die das Kulturwesen Mensch in seinen Wahrnehmungs- und Handlungsweisen maßgeblich thematisiert und prägt, und damit auch »Kultur« zum Gegenstand hat. In diesem Sinne also wäre die Medizin eine Kulturwissenschaft. Ein erster Anlauf zur Beantwortung der einleitend gestellten Frage könnte also darauf abheben, daß die Medizin gleichzeitig zwei verschiedenen wissenschaftlichen »Lagern« angehört: den Natur- und den Kulturwissenschaften.5 Bei genauerer Betrachtung zeigt sich aber, daß diese Lager selbst ja keine ahistorischen Konstanten sind und die zugrundeliegenden Begriffe »Natur« und »Kultur« ihrerseits eine sehr wechselvolle Geschichte durchgemacht haben, die bis in die Gegenwart hineinreicht und keineswegs abgeschlossen ist.6 Der angedeutete Doppelcharakter der heutigen Medizin verweist gerade auch auf die Problematik der Grenzziehung zwischen »Natur« und »Kultur« und ebenso zwischen Natur- und Kulturwissenschaften. Eine Einordnung der Medizin in das Spektrum der Wissenschaften erhält dann eine besondere Tiefenschärfe, wenn zunächst die historische Entstehung des wissenschaftlichen Selbstverständnisses in der Heilkunde sowie das sich wandelnde Verhältnis der Medizin zur menschlichen Natur in den Blick genommen wird. Diese Thematik bildet den ersten Teil der folgenden Ausführungen. Der zweite Teil fokussiert dann die Stellung der Medizin in der Kultur der Gegenwart. Im dritten Teil wird der Umgang mit dem Begriff »Kultur« in der aktuellen Medizin angesprochen und 4 Die Medizin selbst, das heißt medizinisches Denken und Handeln, ist immer Teil der Kultur. Auch die Wahrnehmungsweisen vom menschlichen Körper sind damit Teil der Kultur. Die Möglichkeit aber, den Körper selbst in seinen elementaren Bausteinen (»Genen«) mit den Methoden und Technologien der Molekulargenetik anders oder gar neu zusammenzusetzen, stellt einen radikalen Bruch gegenüber bisherigen Techniken der Manipulation menschlicher Natur dar; vgl. dazu Keller 1992; Rheinberger 1996. 5 Aus rhetorischen Gründen habe ich hier den Begriff der »wissenschaftlichen Kulturen« umgangen, obwohl die Unterscheidung zwischen Natur- und Kulturwissenschaften selbstverständlich anknüpft an eine lange Tradition, in der die Schriften von Charles P. Snow zu den »zwei Kulturen« sowie von Wolf Lepenies zu den »drei Kulturen« wichtige Stationen darstellen. 6 Zur Geschichte des Begriffs »Kultur« vgl. Fisch 1992; zur Geschichte des Begriffs »Natur« Collingwood 1945; Mittelstraß 1987.

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Medizin – eine Kulturwissenschaft? | 109 die Frage nach dem Ort der Selbstreflexion in der Medizin gestellt. Das Kapitel schließt mit der These, daß die Medizin heute eine kulturell desinteressierte Kulturwissenschaft darstellt.

2. Zur Geschichte der Medizin als (Natur-)Wissenschaft Unsere heutige Wahrnehmung von »Medizin« als einem einigermaßen abgrenzbaren Tätigkeitsbereich innerhalb der breiteren Gesellschaft ist keineswegs eine universalhistorische Konstante. So gibt es noch in der Gegenwart einige außereuropäische Gesellschaften, wie etwa die Gnau am Sepik-Fluß in Neu-Guinea, die keine allgemeine Gegenüberstellung von »gesund« und »krank« und damit auch keinen allgemeinen Begriff »Krankheit« kennen. Auch die Vorstellung von einem übergreifenden Bereich von Kenntnissen und zugeordneten praktischen Fähigkeiten zur »Behandlung« von Zuständen, die wir als »krank« bezeichnen, fehlt in dieser Kultur. »Medizin« als ein relativ eigenständiger Kompetenz- und Handlungsbereich existiert hier weder in der Wahrnehmung der lokalen Bevölkerung, noch läßt sich von außenstehenden Beobachtern wie beispielsweise Ethnologen ein »medizinisches System« abgrenzen.7 Weitere empirische Befunde aus der Kulturanthropologie dokumentieren, daß selbst so elementare Begriffe wie »Leben« und »Tod« keineswegs in allen menschlichen Gruppen überhaupt als relevante Unterscheidungen wahrgenommen werden. Bei den Dowayo aus Kamerun in Westafrika etwa gibt es lediglich einen Begriff für Zustände, die über den Tod hinaus weit in den Bereich hinein reichen, der bei uns als Leben gefaßt wird.8 Die Dowayo bezeichnen jeden, der ohnmächtig wird oder bewußtlos ist, mit einem Terminus, der nur sehr eingeschränkt als »tot« übertragen werden kann. Der Tod ist damit eine sehr viel weniger scharf umrissene Angelegenheit als in unserer Gesellschaft. Es gibt beispielsweise viele Geschichten, die beschreiben, wie »Tote« wieder zum Leben erwacht sind, nachdem man schon damit begonnen hatte, sie in die Leichentücher einzuhüllen. Und es kann – aus Sicht der Dowayo – nicht die Rede davon sein, daß diese Menschen gar nicht tot gewesen wären oder daß in solchen Fällen etwa metaphorisch davon gesprochen würde, die Bewußtlosen seien »wie tot«. Vielmehr bestehen die Dowayo darauf, daß solche Menschen tatsächlich tot sind. Es gibt in dieser Kultur also nur eine Grenzsetzung zwischen Zuständen mit und solchen ohne Bewußtsein – und unter die zweite Gruppe fallen unter anderem auch diejenigen Zustände, die wir als »tot« bezeichnen würden. Für den speziellen Zustand nach dem vollständigen Erlöschen der Körperfunktionen (»tot« in unserem Sinne) gibt es keinen weiteren, eigenständigen Begriff. Das gemeinsame Attribut für die Zugehörigkeit zur Kategorie »tot« bei den Dowayo ist offenbar die fehlende Fähigkeit zur sozialen Interaktion. Offensichtlich kann die kulturelle Strukturierung der Wirklichkeitswahrneh7 Vgl. zu den Gnau Lewis 1975; zur Problematik der Begriffe »medizinisches System« bzw. »medikale Kultur« Roelcke 1998. 8 Zum folgenden vgl. Barley 1995: 46-47.

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110 | Volker Roelcke mung so beschaffen sein, daß ein Phänomen wie der Tod, welches wir eindeutig als naturgegebenes Ereignis in einer äußeren, materiellen Realität bestimmen, in anderen kulturellen Kontexten gar nicht als relevante eigenständige Wirklichkeit wahrgenommen wird. Vermutlich ist eine solche Art der Wahrnehmung an Kosmologien und Menschenbilder gebunden, in denen die körperliche Existenz nur eine vorübergehende Spezialform des Lebens ist und das Zusammenleben mit unkörperlichen Wesen (»Ahnenseelen«, »Geistern«) zu den elementaren kulturellen Selbstverständlichkeiten gehört. In vielen, aber keineswegs allen schriftlosen Gesellschaften gibt es demnach auch keine eigenen Spezialisten für das Sammelphänomen »Krankheit«. Wenn es Mitglieder dieser Gesellschaften gibt, denen eine besondere Kompetenz im Falle von (körperlichem) Leiden zugeschrieben wird, so erfolgt die Kontaktaufnahme mit diesen »Experten« sowie die weitere Interaktion nicht selten auf einer informellen Ebene oder aber auch in formalisierter, ritualisierter Form. In den meisten Gesellschaften gibt es ganz unterschiedliche Spezialisten für verschiedene Formen von »medizinischen« Herausforderungen, wie etwa »Hebammen«, Knochensetzer, Kräuterspezialisten, Schamanen und Exorzisten, nicht aber einen einheitlichen Berufsstand von Ärzten. Gleichzeitig finden sich in den meisten schriftlosen, aber auch in vielen nicht-westlichen Gesellschaften mit differenzierter Schriftkultur ebenso Beispiele für ein sehr differenziertes und systematisiertes Wissen über den Körper und Krankheiten. Die große Vielfalt der Deutungssysteme und der sozialen Organisation von krankheitsrelevanten Handlungskompetenzen läßt generalisierende Aussagen kaum zu.9 Festzuhalten ist an dieser Stelle, daß ein einheitlich wahrgenommenes Tätigkeitsfeld Medizin, damit verknüpft die Existenz von nur einer oder wenigen Expertengruppen und schließlich ein abgrenzbares Wissensfeld mit systematisierter Begrifflichkeit und wissenschaftlichem Anspruch sich nur in wenigen Schriftkulturen herausgebildet hat. Neben der traditionellen indischen, der chinesischen und der islamischen Medizin geschah dies vor allem in der europäisch-abendländischen Tradition, aus der die heute weitgehend globale und hegemoniale westliche (Hoch-) Schulmedizin oder auch Biomedizin hervorgegangen ist.10 Der Wissenschaftsbegriff der heutigen Medizin hat seine Wurzeln in der griechischen Antike. Im folgenden sollen deshalb hier kurz die Charakteristika der Heilkunde im antiken Griechenland umrissen werden. Zunächst kann festgestellt wer9 Mit der Ethnomedizin bzw. Medical Anthropology hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts eine eigenständige Wissenschaftsdisziplin gebildet, deren Gegenstand die Beschreibung und Systematisierung der sozialen und kulturellen Phänomene um Krankheit und Gesundheit, Leben, Geburt und Tod ist. Diese Disziplin ist jedoch beispielsweise im deutschen Sprachraum kaum universitär etabliert, und ihre Forschungen werden in der weiteren Medizin praktisch nicht wahrgenommen. 10 Selbst viele Vertreter von indischer Medizin (Ayurveda), chinesischer Medizin oder anderen »traditionellen« Formen der Heilkunde definieren und legitimeren sich heute über eine Bezugnahme auf Kategorien und ganze Subdisziplinen der westlichen Biomedizin; vgl. dazu etwa Bruchhausen & Roelcke 2002.

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Medizin – eine Kulturwissenschaft? | 111 den, daß es in der ganzen antiken Welt kein Äquivalent zur modernen, juristischen und staatlich anerkannten beruflichen Qualifikation des Mediziners gab. Es war zweifellos für einen antiken Arzt von Vorteil, wenn er von sich sagen konnte, er sei mit einer der medizinischen Schulen – wie etwa Kos oder Knidos – assoziiert. Aber selbst wenn ein Arzt eine solche Verbindung anführen konnte, wurde seine Kompetenz nicht selten in Frage gestellt, und es war schwierig, einen solchen Vorwurf zu widerlegen. Was hätte das Kriterium für eine Zugehörigkeit zum Ärztestand sein können, wo es kein formalisiertes Studium, keinen Studienabschluß oder eine staatliche Approbation gab? Die Herkunft, Ausbildung und praktische Tätigkeit der medizinisch Tätigen war völlig heterogen. So stammt beispielsweise die bekannteste medizinische Textsammlung des antiken Griechenland, das Corpus Hippocraticum, keineswegs nur von einem Autor, sondern vielmehr von mehreren Autorengruppen, die teilweise ganz unterschiedliche medizinische Lehren vertraten.11 Neben diesen »Ärzten« gab es eine ganze Reihe weiterer Berufsgruppen auf dem Gesundheitsmarkt, die beanspruchten, aufgrund ihrer Kenntnisse und Erfahrungen Krankheiten lindern oder heilen zu können: Dazu gehörten etwa Wurzel- und Kräuterheiler, Medikamentenverkäufer, Hebammen, Anleiter für gymnastische Übungen, oder diejenigen Priester, welche die »Tempelmedizin« etwa in den Heiligtümern des Asklepios ausübten.12 In bezug auf diese Vielfalt der Anbieter auf dem Gesundheitsmarkt unterscheidet sich nun das antike Griechenland nicht von anderen Gesellschaften. Ein neues und spezifisches Merkmal, das sich etwa zwischen dem 6. und 4. Jahrhundert v. Chr. herausbildete, war aber die systematische und kritische Befragung von Aussagen, und zwar sowohl in der politischen Sphäre als auch in bezug auf den Makround den Mikrokosmos, und damit auch auf die Natur des Menschen. Die Überprüfung von Argumenten, das Abwägen von Zeugnissen beziehungsweise Beweismaterial und die systematisierte Entscheidungsfindung zwischen durchaus auch ganz entgegengesetzten Standpunkten gehörten seit dieser Zeit zum gemeinsamen Erfahrungsfundus von vielen Bürgern in Athen und anderen Stadtrepubliken.13 Diese Formen des Umgangs mit Aussagen war vermutlich eine unmittelbare Konsequenz des politischen Systems, der griechischen Polis: Die kritische Befragung und Bewertung von Personen und ihren Behauptungen gehörte hier konstitutiv zum Verfahren nicht nur vor Gericht, sondern auch bei der Beurteilung von Kandidaten für die verschiedenen öffentlichen Ämter. Diese Ämter waren prinzipiell für alle Vollbürger zugänglich; dazu war die Amtsdauer befristet und nicht verlängerbar, so daß ein Großteil der Bürger auch tatsächlich für Ämter kandidierte (und sich damit präsentieren mußte), andererseits ebenso regelmäßig zwischen anderen Kandidaten zu entscheiden hatte. All dies geschah im Rahmen öffentlicher Versammlungen Gleichberechtigter, so daß die Transparenz des Verfahrens gewährleistet war und rational nachvollziehbare Positionen und Argumente in Entscheidungsprozessen tatsächlich eine viel bedeutendere Rolle spielten als in anderen Kontexten, in denen et11 Rütten 1996. 12 Lloyd 1979: 38-39. 13 Lloyd 1979: 252.

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112 | Volker Roelcke wa überkommene (Verwandtschafts-)Beziehungen, Verpflichtungen und Machtdifferenzen ausschlaggebende Faktoren bei der Vergabe von Ämtern darstellten. Aus diesen Charakteristika des öffentlichen Diskurses in der griechischen Polis lassen sich, zusammengefaßt, vier fundamentale Aspekte auch des intellektuellen Lebens ableiten: Erstens gab es den freien Zugang für alle Vollbürger zur öffentlichen Debatte; zweitens existierte die Gewohnheit der kritischen Befragung; drittens die Möglichkeit für radikale Infragestellungen und Innovationen; und viertens die Erwartung der Öffentlichkeit, daß alle vorgebrachten Meinungen mit rationalen Argumenten begründbar sein mußten.14 Die Entstehung dieser Kultur eines »generalisierten Skeptizismus« (Geoffrey Lloyd) machte es möglich, daß Vorstellungen etwa von »Natur« oder »Verursachung« aus der Ebene impliziter Selbstverständlichkeiten herausgehoben und zum Gegenstand expliziter Erörterung wurden. Philosophie und Wissenschaft als abgrenzbare intellektuelle Unternehmungen sind offenbar an solche Formen der kritischen Erörterung von vermeintlichen Selbstverständlichkeiten gebunden. Eine solche Haltung der systematisierten und kritischen Befragung beinhaltet auch die explizite Idee, daß die Natur überhaupt Gegenstand der Untersuchung, Erörterung und Deutung werden kann. Damit sind auch die Natur des Menschen und das Wesen von Krankheiten prinzipiell Gegenstand entsprechender systematisierter Befragungen. Am Beispiel der Abhandlung Über die heilige Krankheit läßt sich zeigen, daß diese Periode zwischen dem 6. und 4. vorchristlichen Jahrhundert auch für die Heilkunde den Übergang zu einer wissenschaftlichen Medizin darstellt.15 Das bedeutet selbstverständlich nicht, daß alle Erklärungen, Hypothesen und Theorien, die seither in der Medizin vorgetragen wurden, eine von vorneherein andere, »solidere«, da wissenschaftlichere Qualität hätten. Viele medizinische Hypothesen und Theorien der griechischen Antike und auch späterer Jahrhunderte bis in die Gegenwart hinein sind höchst spekulativ, und selbstverständlich waren und sind alle theoretischen Konzepte über Gesundheit und Krankheit immer Teil der umgebenden Kultur und damit nicht nur durch den Gegenstand, sondern auch durch den kulturellen Kontext der jeweiligen Betrachter bestimmt. Vielmehr beinhaltet der Beginn einer »Kultur des generalisierten Skeptizismus«, daß es seither eine Tradition der systematisierten Überprüfung von Wissensbeständen nach rational nachvollziehbaren Kriterien gibt. Die Blüte der antiken Welt Griechenlands und Roms mit einem weitgespannten Netz an Transport- und Kommunikationswegen, ökonomischem Wohlstand, flächendeckender Verwaltung und einem über erhebliche geographische und zeitliche Räume berechenbaren Rechtswesen ermöglichte in den folgenden Jahrhunderten den Ausbau der Wissenschaften und auch der wissenschaftlichen Medizin. Das ärztliche Wissen wurde systematisiert (etwa durch Galen von Pergamon im 2. Jh. n. Chr.), kodifiziert und Gegenstand ausführlicher Kommentare und Debatten. Dagegen war der Zerfall des Römischen Reichs verbunden mit einer massiven Verschlechterung von Handel und Wirtschaft. Obwohl Ärzte selbstverständlich weiter 14 Lloyd 1979: 258. 15 Lloyd 1979: 15-58.

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Medizin – eine Kulturwissenschaft? | 113 praktizierten, gibt es für die Zeit ab dem 5. nachchristlichen Jahrhundert eine Vielzahl von Hinweisen für eine massive Verminderung der Anzahl und Qualität von medizinischen Schriften.16 Zwei Charakteristika sind für das frühe Mittelalter (bis etwa ins 11. Jh.) besonders charakteristisch: Erstens die weite Verbreitung von »do-it-yourself«-Kompendien, die nur einen kurzen theoretischen Umriß mit der exakten Auflistung von einigen Diagnosen und Verhaltens- und Behandlungsanleitungen verknüpften. Dies erfolgte vorwiegend im Sinne einer diätetischen Medizin, das heißt einer Anleitung zur gesunden Lebensführung (Diätätik, von griech. díaita, »Lebensführung«). In dieser historischen Situation entstand damit eine Tradition und auch Textgattung, in der die Aufmerksamkeit wissenschaftlich fundierter Medizin nicht mehr primär auf neue wissenschaftliche Erkenntnisse, sondern auf die Anwendung des bestehenden Wissens zur Gestaltung des Lebensalltags im Mittelpunkt stand. Der zweite charakteristische Aspekt der mittelalterlichen Medizin ist die enorme Bedeutung des christlichen und insbesondere kirchlich-klösterlichen Kontextes, in dem die gelehrte Medizin gepflegt wurde. Dieser Kontext war verbunden mit spezifischen Formen der Wissensvermittlung und hatte erhebliche Auswirkungen auch auf die Inhalte medizinischen Wissens, die mit den kirchlich-dogmatischen Vorgaben weitgehend kompatibel sein mußten. Seit der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts wurden – von Süditalien ausgehend – theoretische Erörterungen wieder wichtiger für die medizinische Ausbildung und Wissensweitergabe. In den wohlhabenden norditalienischen Städten Bologna und Padua, dann auch in Paris, Montpellier und Oxford entstanden in den folgenden Jahrhunderten mit den Universitäten Orte der systematisierten Wissensproduktion und -vermittlung. Im Vergleich zur Theologie und Rechtswissenschaft entstanden allerdings erst spät medizinische Fakultäten, da die Vereinigungen der ärztlichen Lehrer zunächst zögerten, um ihre Rechte und Privilegien nicht durch die akademischen Debatten und Prozeduren zu gefährden. Sobald die Mediziner in den Universitäten etabliert waren, übernahmen sie die akademischen Methoden und Prinzipien: Vorlesungen und Disputationen über Texte. Allerdings setzte sich unter diesen akademischen Ärzten zunehmend die Auffassung durch, daß »richtige« Medizin abhängig sei von der korrekten Kenntnis medizinischer Texte, und daß sie – die Universitätsmediziner – das alleinige Recht hätten, darüber zu entscheiden, wer als Arzt praktizieren dürfte und wer nicht. Wissenschaftliche Autorität war damit auch in der Medizin an Texte gebunden, die angemessene Methodik war diejenige der Textwissenschaften. Festhalten läßt sich, daß auch noch in der Medizin des Mittelalters der gesunde und der kranke Mensch als Teil des Kosmos verstanden wurden. Die Natur des Menschen wurde als eingebunden in eine größere, religiös verstandene Ordnung gesehen, die wiederum als von einer eigenen Vernunft bestimmt gedacht wurde.17 Gesundheit wurde als Balance der in Makrokosmos und Mikrokosmos (Organismus) gegenwärtigen Elemente, Kräfte und Qualitäten verstanden, Krankheit als eine Stö16 Vgl. hierzu und zum folgenden über die Medizin im Mittelalter Nutton 1995 u. 1995a. 17 Vgl. zur Geschichte des Naturbegriffs Mittelstraß 1987.

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114 | Volker Roelcke rung dieses Gleichgewichts. Abweichend von der neuzeitlichen Auffassung wurde in der antiken und mittelalterlichen Medizin zwischen Gesundheit (sanitas) und Krankheit (aegritudo) noch ein mittlerer Zustand eingeordnet, der häufig mit dem normalen Leben assoziiert wurde: die neutralitas. Der Mensch wäre demnach im Allgemeinen weder vollkommen krank, noch vollkommen gesund, vielmehr meistens in einem Zustand zwischen diesen beiden Polen. Prävention und Therapie wird in diesem kosmologischen Kontext verstanden als Diätetik, das heißt im Sinne einer Lebensführung, die sich an der kosmologischen Ordnung und dem Gleichgewicht der Elemente ausrichtet.18 Das Buch (im Sinne der tradierten und kommentierten antiken medizinischen Autoren) sowie die Kirche stellten die maßgeblichen Autoritäten der Medizin des ausgehenden Mittelalters dar. Seit etwa dem 15. Jahrhundert wurden jedoch im Kontext von Humanismus und Renaissance in vielen Bereichen des intellektuellen Lebens die alten Autoritäten neu gedeutet und dann zunehmend durch alternative Wissens- und Erkenntnisquellen herausgefordert. Die Berufung auf die eigene Erfahrung und Beobachtung als Quelle von legitimem Wissen und Urteilsbildung gewann immer mehr an Gewicht. Anstelle von trockenem Buchwissen und abstrakter Spekulation sollte die vermeintlich unverstellte Wahrnehmung, Beobachtung und Befragung der Natur relevante Erkenntnisse von der Welt und vom Menschen liefern. Der englische Jurist und Philosoph Francis Bacon (1561-1626) steht stellvertretend für die Programmatiker »unverfälschter Erfahrung«, die Beobachtung und Experiment als einzig sichere Quelle des Wissens betrachteten. Er entwickelte ein differenziertes Verfahren, mit dessen Hilfe aus den Daten der konkreten Erfahrung über Verstandesaktionen allgemeine Sätze abgeleitet werden sollten. Zweck der Naturerkenntnis war demnach die Beherrschung der Natur und ihre Nutzbarmachung zur Vervollkommnung menschlicher Lebensformen. Dieses Programm einer neuen Wissenschaft war wiederum eingebettet in ein politisches Bezugssystem: In seinem utopischen Roman Nova Atlantis schilderte Bacon einen über die Naturerkenntnis und -beherrschung ermöglichten, technisch perfekten Zukunftsstaat. Ein solches Programm bedeutet auch einen Schritt heraus aus der Natur, eine Positionierung des erkennenden und handelnden Menschen gegenüber der Natur. Die Natur wird zu einer mechanistischen, das heißt zu einer durch die Mechanik beziehungsweise die Naturwissenschaften erklärbaren Ordnung, im Extremfall zu einem (technischen) Objekt. Dagegen hatten im bis dahin dominierenden, an der Naturphilosophie von Aristoteles orientierten Verständnis die Natur und das menschliche Handeln im Begriff der Poiesis eine strukturelle Einheit gebildet.19 In der Medizin findet diese Entwicklung mit dem sich verändernden Wissenschaftsverständnis und Naturbegriff ihre Widerspiegelung sowohl in der Anatomie und Physiologie als auch im Bereich der Therapie. Eigene Beobachtung sowie das Experiment wurden nun privilegierte Wege des Erkenntnisgewinns, und die menschliche Natur wurde zum Gegenstand (»Objekt«), der zum Zweck der wissenschaftlichen Befragung isoliert vom Kosmos betrachtet wurde. Zur Zeit des Mittelal18 Zur Tradition der Diätetik vgl. v. Engelhardt 1996; Bergdolt 1999. 19 Vgl. dazu Mittelstraß 1987, insbes. S. 37-45.

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Medizin – eine Kulturwissenschaft? | 115 ters hatte insbesondere der kirchliche Widerstand die Obduktion zu einer kaum offiziell geduldeten, geschweige denn obligaten Methode des Wissensgewinns gemacht. Während der großen Pestepidemien in der Mitte des 14. Jahrhunderts gestattete der Papst zwar Sektionen, um die Ursache dieser Erkrankung ausfindig machen zu können, das heißt also mit einer ganz eng umschriebenen Absicht. Erst 1537 erlaubte Papst Clemens VII. die Obduktion als Bestandteil des medizinischen Unterrichts an den Universitäten. Die Publikation des Werkes De humani corporis fabrica (Über den Bau des menschlichen Körpers, 1537) durch den Anatomen Andreas Vesal (15141564) markiert die zunehmende Bedeutung selbständiger Beobachtung und eigenhändiger Manipulation des menschlichen Körpers, in Abgrenzung zum Jahrhunderte lang tradierten Buchwissen auf der Basis von Galens Lehren. Die neu gewonnenen Auffassungen von der menschlichen Anatomie wurden beispielsweise von dem französischen Chirurgen Ambroise Paré (ca. 1510-1590) zur Grundlage eines Referenzwerkes der therapeutischen Medizin gemacht. Die detaillierten Kenntnisse von der Anatomie des Herzens, genaue Beobachtungen, Experimente und Berechnungen sowie die methodische Induktion im Sinne Bacons führten auch zu neuen Kenntnissen im Bereich der Funktionsweise des Körpers, etwa der Physiologie von Herz und Kreislauf. William Harvey (1578-1657) beschrieb in De motu cordis (Über die Bewegung des Herzens, 1628) das Herz als Pumpe, also in Kategorien der Mechanik. Signifikant ist dabei, daß er die Funktion des Herzens für den Körper mit derjenigen des Königs für den Staat gleichsetzte. Damit wurde einerseits die Physiologie mit der gesellschaftlichen und auch der göttlichen Ordnung analog gesetzt; komplementär wurde aber auch der König zusammen mit der staatlichen Ordnung prinzipiell zum Objekt der kritischen Befragung im Sinne der Wissenschaften.20 Im Kontext der Aufklärung im 18. Jahrhundert wurde der Staat mit seiner Bevölkerung ganz explizit und zentral zum Objekt der Medizin als Wissenschaft. In Konvergenz mit der zeitgenössischen »Policeywissenschaft«, der Lehre von den staatlichen Angelegenheiten und ihrer Regulierung (von griech. polis: »Stadt«, »Staat«) entwickelte etwa der spätere Leibarzt des russischen Zaren, Johann Peter Frank (17451821), das System einer »Medicinischen Policey«. Ausgehend von der zeittypischen Überzeugung, daß die Glückseligkeit des Staates in einer genügenden Anzahl arbeits-, reproduktions- und wehrfähiger Untertanen beruhe, entwickelte Frank einen Katalog staatlicher Steuerungsmaßnahmen für das Gesundheitswesen, zur Regulierung des menschlichen Lebens von der Zeugung über die Geburt bis zum Tod. Armut und Krankheit sind hier nicht mehr allein gottgegeben oder selbstverschuldet, sondern werden auch als sozial verursacht wahrgenommen. Der Bürger erhält das Recht, aber auch die Pflicht auf Gesundheit im Sinne einer gesunden Lebensführung zugeschrieben. Komplementär wird für den Staat sowohl eine Fürsorgepflicht, aber auch ein Disziplinierungsanspruch formuliert.21 Hier zeigt sich also – nach der Tradition der Diätetik – ein zweiter Traditionsstrang medizinischer Expertise und Wissenschaft, der nicht primär auf Erkenntnisgewinn, sondern unmittelbar auf 20 Porter 1996: 158-160. 21 Labisch 1992: 69-105.

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116 | Volker Roelcke praktische Anwendung gerichtet ist. Während die Diätetik auf die Gesundheit der Einzelperson abzielt, rückt die »medizinische Policey« den Gesundheitszustand des Staates beziehungsweise der Gesellschaft ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Sie kann damit als Vorläufer von späteren Arbeitsfeldern beziehungsweise medizinischen Disziplinen wie Sozialhygiene, Sozialmedizin oder Public Health verstanden werden. Seit der Zeit der Aufklärung, und insbesondere seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, kam es im Kontext der Industrialisierung, aber auch der Rationalisierung von staatlicher Verwaltung und privater Lebensführung zu einem enormen Professionalisierungsschub der Medizin. Rivalisierende Berufsgruppen wie Handwerkschirurgen oder Hebammen wurden verdrängt oder der Deutungs- und Handlungskompetenz der Ärzte untergeordnet. Die durch Wissenschaft legitimierten Mediziner bekamen ein weitgehendes Deutungsmonopol über den menschlichen Körper, Lebensanfang und Lebensende, Gesundheit, Krankheit und Tod zugesprochen, und zwar lange bevor Kenntnisse und Techniken für effiziente Therapien oder Präventionsmaßnahmen zur Verfügung standen. Die Eindämmung der großen Infektionskrankheiten wie der Cholera und später der Tuberkulose erfolgte lange vor Einführung der Antibiotika oder auch wirksamer Impfstoffe und war viel eher Resultat sich langsam verbessernder sozialer Bedingungen unter anderem in den Großstädten (Ernährung, Wohnraum, sanitäre Anlagen).22 Die Entstehung dieses Deutungsmonopols hat also kaum etwas mit erfolgreichen Resultaten ärztlicher Interventionen zu tun. Sie ist vielmehr Teil der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft und Kultur, mit ihrer Hochschätzung von rationaler Lebensführung, Werten wie »Sauberkeit und Sittlichkeit«, einer systematisierten Selbstreflexion und der Ausdifferenzierung von gesellschaftlichen Subsystemen unter der Ägide von akademisch-gebildeten Eliten.23 Parallel dazu (aber eben nicht als Voraussetzung) kam es im 19. Jahrhundert zur »laboratory revolution« in der Medizin: Das Experiment wurde von einer möglichen (und bevorzugten) zur maßgeblichen Methode des Erkenntnisgewinns einer ganz wesentlich an den positivistischen Naturwissenschaften orientierten Medizin, das Labor zum wichtigsten Ort der Wissensproduktion.24 Exemplarisch steht hierfür der Pariser Physiologe Claude Bernard (1813-1878), Professor an der Sorbonne, Leiter des Naturhistorischen Museums und Präsident der Französischen Akademie. Sein Essay Introduction à la Médecine expérimentale (1865) wurde über Jahrzehnte zum internationalen Referenzwerk. Bernard stellte hier in systematischer Weise die experimentelle Methode in ihrer Anwendung auf die Medizin dar. Er erklärte, daß die traditionelle Krankenhausmedizin für die Zwecke der Wissenschaft zwei grundsätzliche Nachteile habe: Erstens sei sie als eine beobachtende Wissenschaft völlig passiv, 22 Die ersten wirksamen Impfstoffe (abgesehen von der Pockenschutzimpfung) wurden in den Jahren um 1900 entwickelt, die ersten Antibiotika in den 1930er Jahren; breit verfügbar war diese medikamentöse Therapie erst nach dem Zweiten Weltkrieg; vgl. dazu a. Leven 1997. 23 Labisch 1992: 105-187. 24 Cunningham & Williams 1992.

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Medizin – eine Kulturwissenschaft? | 117 ähnlich wie die beschreibende Naturgeschichte; der Fortschritt in der Physiologie erfordere aber die aktive Beobachtung des Untersuchungsobjekts durch den Forscher unter kontrollierten Versuchsbedingungen. Zweitens herrschten am Krankenbett zu viele Unwägbarkeiten, um ein präzises Verstehen und Analysieren zu gewährleisten. Außerdem sei das beobachtbare pathologische Phänomen am menschlichen Körper nicht die Ursache, sondern der Endpunkt des Krankheitsprozesses. Solche Prozesse könnten nur unter kontrollierten Umständen im Labor nachvollzogen und verstanden werden. Das Zusammenspiel von Physiologie, Pathologie und Pharmakologie ergäbe erst die Grundlagen für eine wirklich wissenschaftliche, nämlich die experimentelle Medizin, und alle die genannten Teildisziplinen müßten notwendigerweise Laborwissenschaften sein. Damit wurde das Krankenbett (und die Interaktion zwischen Arzt und Patient) als Ort des Erkenntnisgewinns vollkommen entwertet, wohingegen das Labor zum privilegierten Platz der medizinischen Wissenschaft avancierte. Die oft heute noch erhaltene palastartige Architektur der seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts entstehenden neuen universitären Institute für Physiologie, Pathologie, Bakteriologie und Pharmakologie dokumentiert die großen Erwartungen und den Vertrauensvorschuß von Öffentlichkeit und politischen Entscheidungsträgern in diese ganz an den Naturwissenschaften orientierte Medizin. Die Entstehung rein biomedizinischer Forschungsinstitutionen seit etwa der Wende zum 20. Jahrhundert stellt eine konsequente Fortführung dieser Entwicklung dar.25 Bis zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert lassen sich somit zwei Traditionsstränge der Medizin als Wissenschaft rekonstruieren: Einer dieser Stränge ist primär auf den Erkenntnisgewinn gerichtet; die explizite oder implizite Annahme ist dabei, daß mehr und besseres Wissen in einem weiteren Schritt auch eine effektivere Behandlung oder Prävention von Krankheiten erlaubt. Diese Form der medizinischen Wissenschaft konzentriert sich zunehmend auf die Natur des Menschen, die spätestens seit der frühen Neuzeit als ein Objekt wahrgenommen wird. Dieses Objekt kann angemessen nur mit den »objektiven« Methoden der Naturwissenschaften, durch Isolation von der Umwelt (Kosmos), Beobachtung, Experiment und Quantifizierung untersucht und verstanden werden. Der zweite Traditionsstrang medizinischer Wissenschaft ist auf die unmittelbare Anwendung, das heißt auf die Behandlung oder Prävention von Krankheiten einzelner Menschen oder sozialer Gruppen gerichtet. Dieser Zweig der Wissenschaft nutzt die Erkenntnisse der naturwissenschaftlich orientierten Medizin, ist aber essentiell auch auf Kenntnisse über menschliche Lebensformen, das heißt individuelle und soziale Erlebens- und Verhaltensweisen, angewiesen. Die Methoden und das Wissen der Kulturwissenschaften sind für diesen Traditionsstrang der wissenschaftlichen Medizin unverzichtbar. Langfristig gesehen tritt dieser Traditionsstrang deutlich hinter die Laborwissenschaften zurück. 25 1888 wurde in Paris das Institute Pasteur, kurz darauf in Berlin das Institut für Infektionskrankheiten (später Robert-Koch-Institut) gegründet, beide jeweils unabhängig von der Universität und finanziell äußerst großzügig ausgestattet. Es folgten zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland die Kaiser-Wilhelm-Institute, in den USA das Rockefeller-Institute for Medical Research.

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118 | Volker Roelcke Im Verlauf des 20. Jahrhunderts kommt es nun zu einer Konvergenz und Beschleunigung der vorher schon angelegten Entwicklungen. Dieser Prozeß ist wiederholt auch als »Verwissenschaftlichung des Sozialen« beschrieben worden.26 Dazu zählt einerseits eine rasche Ausweitung des Kompetenz- und Deutungsanspruchs der Sozialwissenschaften auf fast alle Bereiche des menschlichen Lebens; andererseits die zunehmende Orientierung der Sozial- und Kulturwissenschaften an der positivistischen Methodik (insbesondere der Quantifizierung) und am Objektivitätsbegriff der Naturwissenschaften. Ein weiterer und radikaler Schritt in diese Richtung war die Biologisierung auch des sozialen Lebens: Von der im ausgehenden 19. Jahrhundert entstehenden eugenischen Bewegung und auch der untrennbar mit ihr verbundenen (Human-)Genetik wurde propagiert, daß das soziale Leben nach den Gesetzen der Biologie, und insbesondere der Vererbungslehre reorganisiert werden sollte. Genetische Forschung und praktische Umsetzung in Form von eugenisch-»rassenhygienischer« Politik wären damit untrennbar miteinander verknüpft. Konsequenterweise begrüßten viele führende Eugeniker die Ankunft eines totalitären Staates (wie etwa des nationalsozialistischen Regimes) – in der Hoffnung, mit dessen Unterstützung die schon lange zuvor formulierten Pläne der biologischen Reorganisation der Gesellschaft, oder des »Volkskörpers«, nun politisch durchsetzen zu können.27 Nach 1945 war die genetische Interpretation sozialer Phänomene (Delinquenz; sexuelle Normabweichungen; schulische Störungen etc.) vorübergehend diskreditiert; sie erlebt aber seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts wieder eine enorme Konjunktur. Trotz der breit akzeptierten Erkenntnis, daß fast alle großen »Volkskrankheiten« das Resultat eines Zusammenwirkens von Erb- und Umweltfaktoren sind und daß biographische und kulturelle Komponenten sich erheblich auf Krankheitswahrnehmung, -verhalten und -verlauf auswirken, wird der überwältigende Anteil von Forschungsressourcen in die Erforschung der biologischen, und heute vor allem der genetischen Grundlagen von Krankheiten und davon abgeleiteten Behandlungsverfahren investiert.

3. Medizin in der Kultur der Gegenwart Die Medizin der Gegenwart soll im folgenden durch drei Leitbegriffe analysiert werden: Pluralismus, Biologisierung sowie schließlich Sakralisierung. Zwei von diesen drei Begriffen sind, grammatikalisch gesehen, Verlaufsformen – sie verweisen also auf Prozesse, nicht auf definitiv fixierte Zustände. 3.1. Pluralismus Denjenigen Menschen, die sich heute in unserer Gesellschaft mit Krankheiten (oder allgemeiner: mit Befindlichkeitsstörungen) nach Hilfe umsehen, steht ein sehr großes Spektrum an Heilangeboten zur Verfügung. In den Medical humanities28 26 Raphael 2001. 27 Vgl. dazu Kaufmann 1998, Roelcke 2000. 28 Gemeint sind damit diejenigen Geistes- und Sozialwissenschaften, die sich zentral mit

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Medizin – eine Kulturwissenschaft? | 119 spricht man deshalb oft vom »Gesundheitsmarkt«. Dieser Begriff weist darauf hin, daß es neben der naturwissenschaftlich orientierten Schul-, oder besser Hochschulmedizin eine kaum überschaubare Menge von sogenannten »alternativen«, »unorthodoxen« oder »komplementären« Heilmethoden gibt, deren Vertreter ihre Dienste im Anzeigenteil jeder Illustrierten, in den Tageszeitungen und teilweise sogar im Standesorgan der Ärzteschaft, dem Deutschen Ärzteblatt, anbieten. Neben den klassischen Naturheilverfahren, etwa nach Kneipp oder Priesnitz, der Homöopathie und der anthroposophisch inspirierten Medizin umfassen diese Angebote auch vielfältige Praktiken, die von ihren Vertretern mit dem Verweis auf die Heilkunde fremder Kulturen autorisiert werden – Beispiele hierfür wären Akupunktur, Ayurveda oder verschiedenste Formen des »Schamanismus«, weiterhin Verfahren, die auch aus unserer eigenen Medizingeschichte bekannt sind und auf die Kanalisierung und Manipulation natürlicher oder kosmischer Energien rekurrieren – Beispiele wären Magnetund Metalltherapien oder die ubiquitär auftretenden Geistheiler – und schließlich Praktiken der Selbstdisziplinierung und Askese, angefangen von der Rohkost über das Fasten bis hin zu Yoga und Tantrismus.29 Im vorliegenden Kontext kann hier nur auf zwei spezielle Aspekte dieses Pluralismus hingewiesen werden: Erstens sind fast alle diese Verfahren mit einer mehr oder weniger stark systematisierten Theorie verknüpft, mit welcher die Anbieter die Herkunft und die Wirksamkeit der jeweiligen Methode erklären. Viele dieser Theorien werben mit einer vagen »Ganzheitlichkeit«, die dem Reduktionismus oder Materialismus der Schulmedizin rhetorisch gegenübergestellt wird. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich allerdings, daß unter Ganzheitlichkeit sehr Unterschiedliches verstanden wird und viele dieser Verfahren oder Theorien, wie etwa die Homöopathie, auf ganz materialistische Prämissen zurückgreifen. Zweitens sei festgehalten, daß nicht nur die Hochschulmedizin, sondern auch alle komplementären oder alternativen Verfahren ein implizites (seltener ein explizites) Menschenbild zur Grundlage haben. Es existiert also eine Vielzahl von Menschenbildern, die den verschiedenen Formen medizinischer Angebote zugrunde liegen. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich im wesentlichen auf die aktuelle Hochschulmedizin, und hier vorwiegend auf einen Ausschnitt, nämlich auf das Arbeitsfeld der »molekularen Medizin«, das durch die Begriffe Humangenetik, Molekularbiologie und Immunologie markiert ist (vgl. dazu unten, im Abschnitt Biologisierung). Diese »molekulare Medizin« hat in den letzten Jahren eine solche Hegemonialstellung im System der Wissenschaften, und insbesondere im Bereich der biomedizinischen Wissenschaften erhalten, daß sich selbst die Verfechter »alternativer« Heilweisen entweder im Sinne eines unmittelbaren Gegensatzes, oder auch positiv zur Verstärkung der eigenen Legitimation auf diese aktuellsten der Biowissenschaften beziehen. So verweisen beispielsweise die Propagatoren sowohl von Akupunktur als auch von Kneipp’schen Naturheilverfahren oder fernöstlichen Entspannungsder Medizin beschäftigen, wie Medizingeschichte, Medizinsoziologie, Medizintheorie, Medizin- und Gesundheitsökonomie und Ethnomedizin/Medical Anthropology. 29 Vgl. als Einführung Jütte 1996.

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120 | Volker Roelcke techniken nicht selten auf die sogenannte Psychoneuroimmunologie, um der von ihnen behaupteten Leib-Seele-Interaktion oder anderen Wirkmechanismen Autorität zu verleihen. Bei aller Pluralität (auch der impliziten Menschenbilder) bildet daher das Urteil der aktuellen Biowissenschaften einen kaum oder gar nicht umgehbaren Maßstab selbst für viele der »alternativen« Heilmethoden, und erst recht für die öffentliche Diskussion im Bereich der Gesundheits- und Wissenschaftspolitik. 3.2. Biologisierung Mit »Biologisierung« ist hier eine an den Begriffen und Theorien der Biologie, und insbesondere an der Molekularbiologie orientierte Auffassung vom Menschen gemeint. Die Biologisierung der Medizin ist ein Prozeß, der – selbstverständlich mit ganz spezifischen historischen Prämissen – in sehr deutlicher Weise seit den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts eingesetzt und mit dem aktuellen Unternehmen des Human Genome Project (der Entschlüsselung der gesamten menschlichen Erbanlagen) einen vorläufigen Höhepunkt erreicht hat. In der Konsequenz der Laborrevolution hat sich zwischen etwa 1950 und 1970 in Biologie und Medizin ein Paradigma durchgesetzt, wonach die grundlegenden Lebensvorgänge auf der Speicherung, Weitergabe, Veränderung und Umsetzung genetischer Information beruhen.30 Danach ist die genetische Ausstattung eines Menschen der Schlüssel zum Verständnis seiner biologischen Beschaffenheit, seiner Individualität, und auch seiner Krankheitsanfälligkeit. Ebenso ist die genetische Ausstattung von Mikroorganismen oder von »Übergangsobjekten« zwischen belebter und unbelebter Welt (Viren, Prionen) bestimmend für ihr Potential, Krankheiten zu verursachen oder auch als Sonden und »carrier« für »gesunde« Gene in den menschlichen Körper eingeschleust werden zu können. Die gesamten Anstrengungen der biomedizinischen Wissenschaften (oder seit kurzem auch »life sciences«) müssen – diesem Ansatz folgend – demnach darauf gerichtet sein, die Struktur und Funktionsweise des Genoms von Menschen und relevanten anderen Genträgern zu entschlüsseln und Methoden der Intervention auf dieser Ebene zu entwickeln. Die Biologisierung und Molekularisierung der Medizin in den letzten Jahrzehnten wirft die Frage auf, ob die biomedizinischen Wissenschaften in diesem Zeitraum der Antwort auf die Frage, was der Mensch eigentlich sei, zunehmend näher gekommen sind. Eine solche Aussage positiv zu beantworten, wäre jedoch unbescheiden, würde sie doch voraussetzen, daß wir eigentlich bereits wissen, was die Wissenschaften erst zu enthüllen meinen. Trotzdem läßt sich immer wieder feststellen, dass führende Repräsentanten der »molekularen Medizin« ein solches Selbstverständnis (die Biologie löst die Menschheitsfragen) artikulieren. So begründet der Entdecker der DNA-Doppelhelix, Nobelpreisträger James Watson, das Projekt der Entschlüsselung des Humangenoms damit, daß »wir« die Pflicht haben, die menschliche Bevölkerung vor »genetischen Höllenqualen« zu bewahren: »Wer«, so fragt er, »soll sonst Gott spielen, wenn nicht wir?«31 Und der Harvard-Professor und Nobel30 Rheinberger 1996. 31 Zitiert nach Rheinberger 1996: 555.

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Medizin – eine Kulturwissenschaft? | 121 preisträger Walter Gilbert spricht vom menschlichen Genom als dem »heiligen Gral« der Wissenschaften, sogar der Menschheit schlechthin.32 Die »Diagnose« einer Biologisierung bezieht sich somit nicht auf eine abschließende und befriedigende Erklärung des Menschen durch die neue Medizin, sondern darauf, daß viele Fragen über die »Natur« des Menschen nicht mehr ohne das Urteil biomedizinischer Experten diskutiert werden können. Fragen der Leistungsfähigkeit und Mobilität von Arbeitnehmern im Industrie- und Dienstleistungsbereich, der Normalität oder Devianz von individuellem Verhalten, erst recht aber Fragen im Bereich des Gesundheitswesens oder der Prioritäten in Wissenschafts- und Sozialpolitik werden jedoch nicht nur unter Hinzuziehung von Experten aus Biologie und Medizin debattiert. In diesem Fall wären Biologen und Mediziner eine von mehreren gesellschaftlich relevanten Gruppen. Vielmehr werden die Problemwahrnehmungen, Fragestellungen und Bewertungskategorien selbst bereits durch die Begriffe und Kategorien der Biowissenschaften vorstrukturiert. Nicht nur körperliche Zustände, sondern selbst Emotionalität und soziales Verhalten werden unter dem Aspekt ihrer biologischen Voraussetzungen und Beeinflußbarkeit wahrgenommen. Vertreter der Biomedizin haben in dieser Beziehung somit nicht nur gegenüber anderen Wissenschaftlergruppen, etwa aus den Geistes- und Sozialwissenschaften, sondern auch gegenüber unmittelbar betroffenen gesellschaftlichen Gruppen (wie etwa Behindertenverbänden) eine deutlich privilegierte Stellung. Das wird auch deutlich, wenn die »Wettbewerbsfähigkeit und Innovationsfähigkeit« des »Wissenschafts- und Industriestandortes« Deutschland wesentlich danach beurteilt wird, wie groß die finanziellen Aufwendungen für den Sektor der Biotechnologien sind und wie freizügig die juristischen und ethischen Regularien für entsprechende Forschungsaktivitäten gestaltet werden. Eine kritische Thematisierung der Inhalte und der generellen Richtung der Forschung wird von Medizinern und Politikern regelmäßig mit dem Verweis auf die Autonomie der Wissenschaften (klassisches Argument) oder auf die naturwissenschaftliche Inkompetenz einer breiteren Öffentlichkeit zur Seite gewischt. In Lippenbekenntnissen werden zwar öffentliche Debatten gefordert, aber die Tagesordnung dieser Debatten wird selbstverständlich von den Ergebnissen der Biowissenschaften selbst diktiert.33 Diese Indikatoren belegen den gesamtgesellschaftlichen Stellenwert der biomedizinischen Deutungsangebote und der damit verbundenen Forschungs-, Therapieund Präventionsaktivitäten. Aber auch innerhalb der Medizin werden Problemstellungen, Prioritäten und Qualitätsurteile in den Kategorien und mit den Prämissen der biomedizinischen Laborwissenschaften formuliert: Das wird etwa deutlich, wenn die Qualität wissen32 Vgl. dazu und zu ähnlich euphorischen Einschätzungen sowie zur quasi-religiösen Metaphorik Kollek 1994. 33 Ein paradigmatisches Beispiel hierfür ist die Einrichtung und Funktionsweise des sogenannten »Nationalen Ethik-Rats« beim Bundeskanzler, der speziell im Hinblick auf die anstehenden politischen Entscheidungen zur modernen Molekulargenetik (z.B. Forschung an embryonalen menschlichen Stammzellen) im Jahr 2001 gegründet wurde und mehrheitlich mit Vertretern der biomedizinischen Wissenschaften besetzt ist.

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122 | Volker Roelcke schaftlicher Arbeit in den medizinischen Fakultäten, und damit auch die Vergabe von Stellen und finanziellen Ressourcen, heute ganz wesentlich über das System der sogenannten impact-Faktoren quantifiziert wird, also letztlich auf die Akzeptanz und Bewertung jeder medizinischen Veröffentlichung aus der viel engeren Sicht der biomedizinischen Grundlagenfächer rekurriert. Ebenso werden therapeutische Normen und Forschungsziele vorwiegend in biologischen Kategorien artikuliert: In einem 1995 publizierten Sammelband über Problemfelder und Prognosen in den biomedizinischen Wissenschaften konstatiert etwa der Internist und Immunologe Mitchison aus Oxford, daß trotz vieler Fortschritte der Medizin das System der menschlichen Körperabwehr leider noch unvollkommen sei. Er belegt dies an den bekannten Immundefiziterkrankungen und dysfunktionalen Immunreaktionen.34 Er zeigt sich aber zuversichtlich, daß nicht nur diese Unvollkommenheiten in absehbarer Zukunft durch molekularbiologische Methoden kompensiert werden können und das Immunsystem außerdem durch geschickte Manipulationen zu ganz neuen Zwecken, etwa zur Empfängnisverhütung, eingesetzt werden könnte. Ganz selbstverständlich und unhinterfragt steht im Hintergrund das langfristige, durch die Methoden der »molekularen Medizin« erreichbare Ziel einer Welt ohne Krankheiten und eines mit den Methoden der Molekulargenetik vollständig modifizierbaren Menschen.35 Von etwas anderen Befunden ausgehend kommt der Londoner Immunhämatologe David Weatherall zu ähnlichen Urteilen über die langfristigen Möglichkeiten und Aufgaben der Medizin: Demnach machen es die aktuellen Ergebnisse aus der Epidemiologie36 zwar wahrscheinlich, daß die quantitativ und unter anderem auch ökonomisch relevanten »Volkskrankheiten« wie die koronare Herzkrankheit, bösartige Tumoren oder die Zuckerkrankheit nicht nur von genetischen, sondern sehr stark auch von Umweltfaktoren verursacht sind. Eine gezielte Intervention sei aber in effektiver Weise zunächst über die genetische Komponente, außerdem durch den indirekten Druck über Versicherungsträger mit dem Ziel der individuellen Verhaltensänderung (etwa Nikotin- und Alkoholabstinenz, veränderte Ernährungsweisen, Arbeits- und Freizeitverhalten) möglich.37 Abgesehen von der Frage nach der Effizienz dieser Interventionsvorschläge ist hier vor allem die Selbstverständlichkeit interessant, mit der die Optimierung von biologisch definierten Körperzuständen als oberster Wert individuellen Verhaltens auch im beschwerdefreien Alltag angenommen wird. Biomedizinisch definierte Krankheiten sollen mit allen Mitteln verhindert, oder nach ihrem Auftreten wieder beseitigt werden. Lebensstile und Wertvorstellungen, die mit diesem Ziel interferieren, werden sanktioniert. Biologisch definierte Gesundheit ist damit ein zentrales gesellschaftliches Gut und ein das gesamte Verhalten normierender Wert.38 34 35 36 37 38

Etwa bei rheumatoider Arthritis oder diversen Hauterkrankungen. Mitchison 1995. Wissenschaft von der Häufigkeit und geographischen Verteilung von Krankheiten. Weatherall 1995. Vgl. dazu Labisch & Paul 1998. Zur Geschichte von Gesundheit als zentralem gesellschaftlichem Gut seit dem 19. Jahrhundert vgl. insbes. Labisch 1992.

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Medizin – eine Kulturwissenschaft? | 123 Was würde das hier anvisierte Leben ohne Krankheit für den Menschen, oder für die Menschheit, bedeuten? Wie würde ein Leben ohne (biologisch definierte) Krankheiten überhaupt aussehen? Ist der heute selbstverständliche Begriff der Krankheit nicht selbst schon eine Biologisierung des breiteren Begriffs Leiden? Ist das letzte Ziel des Menschen die Leidensfreiheit, oder gar die Unsterblichkeit? Rechtfertigt das Ziel der Krankheitsbeseitigung alle Mittel? Welcher Preis ist dafür auf anderen gesellschaftlichen Feldern zu zahlen? Genannt seien hier beispielsweise die eingeschränkten Entscheidungsmöglichkeiten in bezug auf die Lebensführung, oder die Verfügbarkeit finanzieller Ressourcen im Bereich der Forschung: Heute erfolgt die Ressourcenzuweisung innerhalb der medizinischen Wissenschaften im wesentlichen orientiert am Bedarf der naturwissenschaftlichen Grundlagenfächer, und hier wiederum stark orientiert an der Molekulargenetik. Und in einer weiteren Perspektive läßt sich feststellen, daß von den gesamten zur Verfügung stehenden Mitteln der Forschungsförderung für alle Wissenschaften ein enormer und kontinuierlich anwachsender Anteil im Bereich der Molekulargenetik und ihrer potentiellen Anwendungen (Gentechnologie) investiert wird. Dagegen haben die Kulturwissenschaften (insbesondere innerhalb der Medizin) sich mit einer stetigen Verringerung ihrer Ressourcen zu arrangieren. 3.3. Sakralisierung Dies leitet über zum dritten Stichwort, der Sakralisierung: Das Ziel eines krankheitsund damit vermeintlich leidensfreien Lebens führt, so sei hier pointiert formuliert, zu einer substantiellen Verschiebung der Bewertung des Menschen, und zwar weg vom unbedingten Respekt vor der Integrität hin zur prinzipiellen Zustimmung zu Verfügbarkeit, Manipulierbarkeit und auch Verwertbarkeit menschlichen Lebens. Emotionalität und soziale Beziehungen sind demnach nicht zentrale, sondern allenfalls marginale Erkenntnisgegenstände der Biowissenschaften, oder »life sciences« vom Menschen, und zwar im Sinne abhängiger Variablen. Die Aussicht auf ein vages, in der Zukunft liegendes, biologisch definiertes Heil rechtfertigt offenbar einen qualitativ veränderten Umgang mit menschlichem Leben heute. Das leidensfreie Leben einer fernen, im wesentlichen von Wissenschaftlern gezeichneten Zukunft wird damit zum absoluten Wert, dem die Entwertung heutiger menschlicher Existenz gegenübersteht.39 Diese veränderte Bewertung heutiger menschlicher Existenz kann nicht nur sinnvoll als Biologisierung, sondern auch im Sinne einer Ökonomisierung interpretiert werden. Menschliche Gesundheit, menschliches Leben wird zur Ware, die nach biologischen oder ökonomischen Kriterien bewertet wird. Eine noch weitergehende Interpretation berücksichtigt nicht nur die Verfügbarkeit und Verwertbarkeit, sondern auch die zeitliche Struktur der hier skizzierten Deutungen. Diese Struktur sei hier noch einmal kurz zusammengefaßt: Demnach sollen auf eine ferne Zukunft zielende Heilsversprechungen die Inkaufnahme von Einschränkungen konkreter 39 Vgl. dazu etwa die aktuellen Diskussionen und Entscheidungen zur verwertenden Forschung an humanen, embryonalen Stammzellen oder zur Selektion und Vernichtung von menschlichen Embryonen im Rahmen der Präimplantationsdiagnostik (PID).

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124 | Volker Roelcke menschlicher Existenz »hier und heute« begründen.40 Sowohl das Wesen des zukünftigen Heils als auch die Bewertungen des »hier und jetzt« werden durch die Deutungen und Bewertungen einer kleinen sozialen Gruppe, der Ärzte und Biowissenschaftler, vorgenommen. »Die Natur« ist dabei die höchste Autorität, zu der die genannte Gruppe einen exklusiven, dem Anspruch nach monopolartigen Zugang hat. Die Erforschung der Gesetze und der Teleologie »der Natur« ist eine gesellschaftlich privilegierte Tätigkeit. Eine solche soziale Konstellation ist aus Geschichte und Gegenwart vertraut: Sie läßt sich am besten mit dem Begriff des »Sakralen« beschreiben, eines zentralen höchsten Gutes, welches alle sozialen Verhaltensweisen begründet und reglementiert und zu dem eine kleine Gruppe von Auserwählten ein privilegiertes Zugangsrecht hat.41 Die Analogie zur Religion ließe sich fortsetzten. Es sind nicht nur die Priester, die Kirche und das Allerheiligste, die sich hier in Form von Werten, Instanzen und Akteuren der Biologie und Medizin wiederfinden lassen. Die Rede vom menschlichen Genom als dem Gral der modernen Wissenschaften – eine von den Akteuren selbst immer wieder verwendete Redeweise – verweist auch auf den quasi religiösen Impetus, mit welchem Wissenschaft gelegentlich betrieben wird.42 Im Unterschied zur Religion und Theologie im herkömmlichen Sinne fehlt jedoch in der »molekularen Medizin« eine explizite und systematisierte Reflexion über die anthropologischen Prämissen sowie die theoretischen und handlungsrelevanten Implikationen des biomedizinischen Tuns. Die dem amerikanischen Zweig des Human Genome Projects angegliederte Arbeitsgruppe zu Fragen der »Bioethik« hat jedenfalls bisher nicht für Grenzziehungen oder grundlegende Weichenstellungen in der biomedizinischen Forschung plädiert, sondern läßt sich von dieser Forschung die Tagesordnung und die konstituierenden Begriffe sowie Zielvorstellungen (krankheitsfreie menschliche Existenz) diktieren.

4. Medizin – eine kulturell desinteressierte Kulturwissenschaft Wie sehr ist sich die heutige Medizin der oben skizzierten Problematik bewußt? In welcher Form wird innerhalb der Medizin über den Erkenntnisgegenstand der medizinischen Wissenschaften, über das zugrundeliegende Verständnis vom Menschen und die Kluft zu tatsächlich durchgeführter biomedizinischer Wissenschaftspraxis reflektiert? Im abschließenden Teil dieser Ausführungen soll das oben Dargelegte noch einmal zusammengefaßt und unter der Frage nach dem Kulturbegriff der aktuellen Medizin betrachtet werden. 40 Diese Diskrepanz zwischen Versprechungen für die Zukunft und gegenwartsnahen Realisierungen wird auch von einigen eher selbstkritischen Akteuren der »molekularen Medizin« durchaus gesehen, ohne daß sie daraus allerdings grundlegende Konsequenzen ziehen; vgl. etwa Weatherall 2000. 41 Zur Anwendung einer solchen analytischen Perspektive auf die aktuellen Diskussionen um die Bestimmung und Bewertung des Todeszeitpunktes vgl. Roelcke 2001. 42 Vgl. dazu Kollek 1994.

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Medizin – eine Kulturwissenschaft? | 125 Die Medizin selbst ist – wie jedes menschliche Tätigkeitsfeld – ein Teil der Kultur. In unterschiedlichen Kontexten orientieren sich die medizinisch Tätigen an sehr verschiedenen Menschenbildern, Wertsetzungen und Wissensbeständen. Komplementär ist die Bereitschaft der breiteren Gesellschaft, Deutungsangebote und Handlungsanweisungen von Medizinern aufzunehmen, ebenfalls von konkreten historischen und sozialen Kontexten abhängig. Das Verhältnis von Medizin zur übergreifenden Kultur ist also in einem ständigen Wandel begriffen. Seit dem späten 19. Jahrhundert zeichnet sich eine Entwicklung ab, in deren Folge die Medizin und die mit ihr verbundenen Biowissenschaften zu einer dominierenden Deutungsinstanz für die Menschen der westlichen Industrie- und Informationsgesellschaften wurde. Unsere Kultur ist heute eine Kultur der Wissenschaften. Was »natürlich« und was »rational« ist, wird durch die Wissenschaften definiert. Die expliziten und impliziten Werte dieser Wissenschaften können abgelesen werden an den Ereignissen, die als »Fakten« gesucht, oder als Artefakte hergestellt, an den Produkten und Ikonen, die entworfen, angepriesen und verkauft und schließlich an denjenigen Ereignissen, die als »Wunder« verstanden und verfilmt werden. Es ist unsere tägliche Erfahrung, daß Macht durch wissenschaftliche Expertisen legitimiert und ausgeübt wird. Wissenschaft vermittelt daher unsere kulturelle Erfahrung. So werden etwa Identität und Persönlichkeit über Datenkonfigurationen aus Genetik und Informationstechnologien bestimmt. In der Literatur, in Filmen und in Werken der bildenden Kunst werden Begeisterung wie auch Unbehagen und Besorgnisse über diese große Bedeutung der Wissenschaften ausgedrückt. Wissenschaftlicher Fortschritt, etwa in bezug auf die Anwendungen und Konsequenzen der Gentechnologie, wird oft als »unnatürlich« gefürchtet, die Kritiker des Fortschritts als »irrational« gebrandmarkt. Öffentlich geäußerte Bedenken werden von angeblich »wertfrei« argumentierenden Experten kommentiert und zurückgewiesen. Die (Bio-)Wissenschaften bleiben in jedem Fall der Bezugspunkt. Diese Form einer durch die (Bio-)Wissenschaften geprägten Kultur ist jedoch auch einer Untersuchung zugänglich. Ebenso können die Erlebnis- und Verhaltensweisen von Individuen aus dieser (und anderen) Kulturen zum Gegenstand wissenschaftlicher Bemühungen werden. Kranke Menschen sind in ihrem Erleben und ihrer Reaktion auf das Leiden, in ihren spezifischen Formen der Suche nach Hilfe und in ihrer Bereitschaft, Rat und Therapievorschläge aufzunehmen, durch ihre kulturelle Einbindung geprägt, wenn auch nicht determiniert. Ebenso sind Ärzte und biomedizinische Forscher in ihren Wahrnehmungsweisen, Präferenzen und auch in ihrer Emotionalität kulturell eingebundene Wesen. Im medizinischen Handeln, auch im Prozeß wissenschaftlicher Erzeugung neuer Erkenntnis findet diese kulturelle Einbettung ihren Niederschlag.43 Wann und wo in der Medizin werden diese Zusammenhänge systematisch zum Thema gemacht? Eine Antwort auf diese Frage fällt sehr unbefriedigend aus. Zunächst sei die unmittelbare Verwendung des Begriffs »Kultur« in biomedizinischen

43 Für eine Übersicht hierzu vgl. Schlich 1998.

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126 | Volker Roelcke Kontexten kurz betrachtet:44 Repräsentative Datenbanken der Medizin, wie etwa MedLine, dokumentieren, daß dieser Begriff vor allem in zwei Formen Verwendung findet: Einmal im Sinne von »Gewebekultur«, oder »Zellkultur«, der systematischen Anlage und Pflege von menschlichem oder tierischem Gewebe oder Zellgruppen als Ausgangsmaterial für Laboruntersuchungen. Der andere Verwendungszusammenhang von »Kultur« bezieht sich auf die Herkunft von Versuchspersonen, etwa bei Therapiestudien. Hier werden nicht selten etwa Weiße und Schwarze (im US-amerikanischen Kontext) in ihrer Reaktion auf die Gabe eines Medikaments verglichen; oder Fragebögen werden im Prozeß der Standardisierung und Validierung an Probanden aus unterschiedlichen »Kulturen« (etwa Briten, Franzosen, Japanern) getestet. Die »Kultur« dieser Probanden wird dabei in fast allen Fällen als etwas Statisches und Homogenes unreflektiert vorausgesetzt. Wenn es um die Sphäre des Körperlichen geht (Stoffwechselprozesse, Medikamentenwirkungen), wird die »Kultur« einer Versuchsperson nicht selten auch einfach mit ihrer »Rasse« gleichgesetzt.45 Eine Problematisierung dieser Begriffsverwendung findet allenfalls in marginalen Fachzirkeln (z.B. der Medizinsoziologie oder der Ethnomedizin/Medical Anthropology) statt und hat praktisch keinerlei Konsequenzen beziehungsweise wird in der weiteren Medizin gar nicht wahrgenommen. Gegenreaktionen zu einer übermäßigen Orientierung der Medizin an den Naturwissenschaften hat es wiederholt gegeben: So kam es in den 1920er und 30er Jahren im deutschen Sprachraum zu einer breiten Diskussion über eine durch diese Orientierung verursachte »Krise der Medizin«. Aus dieser Diskussion entstanden Alternativentwürfe für eine mehr »ganzheitliche« Medizin, auch für eine medizinische Psychosomatik, und schließlich erfolgten hier auch die ersten Schritte zur Institutionalisierung von Alternativ- oder Komplementärmedizin (die im Nationalsozialismus eine bemerkenswerte Resonanz fanden).46 Ähnliche Tendenzen, wenn auch mit einem weniger ausgeprägten anti-wissenschaftlichen Ressentiment, lassen sich etwa für die amerikanische Medizin dokumentieren.47 In der Zeit nach 1945, nach einer intensiven, aber zunächst nur sehr kurzen Auseinandersetzung mit der entgrenzten Medizin und Wissenschaft zur Zeit des Nationalsozialismus, konnte die psychosomatische Medizin erstmals universitär etabliert werden. Die Beschäftigung mit Fragen der Anthropologie und Wissenschaftstheorie fand in breiten Kreisen der Medizin eine interessierte Aufnahme. Auch in der Folge der gesellschaftlichen Veränderungen der 60er Jahre wurden 1970 im Rahmen der Neuformulierung der ärztlichen Approbationsordnung die Fächer Medizinische Psychologie und Soziologie, Psychosomatik, Sozial- und Arbeitsmedizin und Geschichte der Medizin als obligatorische Bestandteile in das Medizinstudium integriert und entsprechende universitäre Abteilungen oder Institute geschaffen. Charakteristisch ist nun, daß diese Fä44 Die im folgenden skizzierten Befunde sind erste Ergebnisse einer Studie, die der Autor gegenwärtig durchführt. 45 Sehr häufig in diesem Kontext verwendete und miteinander verglichene Kategorien sind »Kaukasier«, »Juden«, »Schwarze«. 46 Bothe 1991. 47 Vgl. etwa Winternitz 1930.

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Medizin – eine Kulturwissenschaft? | 127 cher nach einer kurzen Blütezeit spätestens seit Mitte der 80er Jahre in die Defensive geraten sind. Symptomatisch ist die seit den 90er Jahren zunehmend verbreitete Besetzung der Lehrstellen für Medizinische Psychologie mit Forschern, deren Arbeitsschwerpunkte im Bereich der Neurobiologie und der biologisch orientierten Kognitionswissenschaften liegen. Heute findet eine explizite Thematisierung des Menschenbildes in der aktuellen Biomedizin, zumindest in den naturwissenschaftsnahen Arbeitsfeldern, allenfalls in »Sonntagsreden« statt, sie gehört aber nicht zum konstitutiven Bestandteil der Selbstverständigung und theoretischen Grundlegung von Forschung und Alltagspraxis. Im Verteilungskampf innerhalb medizinischer Fakultäten wird die neu entstehende Disziplin der Medizinethik (oder Bioethik) gegen das Reflektionsfach Medizingeschichte ausgespielt. Die Vertreter der Medizinethik haben dabei zunächst im wesentlichen den Auftrag, die unmittelbar anstehenden Schritte in der medizinischen Forschung auf ihre ethische Problematik hin zu begutachten.48 Entsprechend dem Selbstverständnis vieler Medizinethiker besteht die wesentliche Aufgabe des Arbeitsgebietes darin, die konkreten Handlungsoptionen von Medizinern auf ihre rationale Begründbarkeit hin zu untersuchen. Nicht selten entsteht daraus – gerade bei innerhalb von medizinischen Fakultäten sozialisierten »Ethikern« – eine Aktivität, die sich leicht zur Suche nach Begründungsmöglichkeiten (pointiert gesagt: Akzeptanzbeschaffung) für neue medizinische Technologien und Praktiken instrumentalisieren läßt.49 Der soziale und kulturelle Entstehungskontext von Handlungsplausibilitäten und vermeintlichen Notwendigkeiten, ebenso die Genese von Werthaltungen und -hierarchien sowie die Thematisierung von anthropologischen Prämissen sind in diesem Tätigkeitsfeld völlig marginal. Nicht selten wird von »Ethikern« die Medizin heute als so andersartig der Vergangenheit gegenübergestellt, daß der Wert etwa der Medizingeschichte allenfalls darin liegen kann, die Differenz zwischen gegenwärtigen und vergangenen Problemlagen aufzuweisen. Auch der normative Charakter des Krankheitsbegriffs wird in diesen Zusammenhängen nicht thematisiert.50 Auch in dieser Hinsicht wird das naturwissenschaftliche Selbstmißverständnis der Medizin perpetuiert. 48 In der Deklaration von Tokio des Weltärztebundes (1975) wurde die obligatorische Begutachtung von medizinischen Forschungsprojekten durch Ethikkomitees gefordert; seit der Umsetzung in nationales Recht gilt diese Vorgabe auch im Rechtsgebiet der Bundesrepublik Deutschland. Die heute existierenden Ethikkomitees an medizinische Fakultäten oder bei Ärztekammern sind vor allem als Reaktion auf diese Forderung entstanden. 49 In dieser Weise kann z.B. die Rolle von »Ethikern« im Zusammenhang mit der bundesdeutschen Gesetzgebung zum Embryonenschutz interpretiert werden; vgl. Siemons 2002. 50 Der Krankheitsbegriff ist ein praktisch normativer Begriff. Mit Hilfe solcher Begriffe »bestimmt man, was sein soll oder nicht sein soll, nicht aber, was ist oder nicht ist. Diese Begriffe dienen dazu, mögliche Ziele von gebotenen, erlaubten oder verbotenen Handlungen zu charakterisieren. Dagegen sind sie dort unbrauchbar, wo lediglich das Bestehen oder Nichtbestehen von Sachverhalten konstatiert werden soll.« Wieland 1986: 38; vgl. dazu a. Wieland 1975.

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128 | Volker Roelcke Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Medizin als Wissenschaft heute neben der »Natur« des Menschen gerade auch die Kultur zum Gegenstand hat und daß sie gleichzeitig selbst ein konstitutiver Teil der Kultur ist. Trotzdem ist »Kultur« jedoch erstaunlicherweise kein relevanter, allenfalls ein marginaler Gegenstand von medizinischen Forschungsbemühungen oder medizinischem Unterricht. Die Medizin könnte daher in pointierter Formulierung als kulturell desinteressierte Kulturwissenschaft bezeichnet werden. Wünschenswert wäre eine auch innerhalb der Medizin institutionalisierte Diskussion, die nicht unreflektiert auf die Begriffe und Werte der »molekularen Medizin« Bezug nimmt oder deren Existenz und Relevanz von vorneherein als gegeben betrachtet, sondern die mit den Methoden der Kulturwissenschaften die anthropologischen Prämissen und Wertsetzungen der modernen Biowissenschaften unter Bezugnahme auf die Wahrnehmungsweisen, Bedürfnisse und Bewertungen der betroffenen sozialen Gruppen kritisch und konstruktiv in den Blick nimmt.

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Was hat die Psychologie bei den Kulturwissenschaften verloren? | 131

Was hat die Psychologie bei den Kulturwissenschaften verloren? Jürgen Straub

1. Kultur und Psychologie: Eine erste Diagnose Wer erwägt, die Psychologie unter die zeitgenössischen Kulturwissenschaften einzureihen, wird von verschiedenen Seiten schief angesehen. Da ist zunächst einmal die große Mehrheit der Kolleginnen und Kollegen aus der eigenen Disziplin, die angesichts eines solchen Anliegens mit dem sprichwörtlichen Verhalten so vieler Mehrheiten reagiert: Sie schweigt, zuckt allenfalls mit den Achseln und läßt sich im übrigen beim eigenen business as usual nicht lange stören. Abweichungen von diesem Reaktionsmuster bleiben gewöhnlich im normierten Toleranzbereich. Despektierliches Naserümpfen tritt allenfalls in jenen verhaltenen, Gleichgültigkeit anzeigenden Formen auf, die von einer mit argumentativen Mitteln operierenden, rationalen Kritik weit entfernt sind. Diese Distanz schützt vor der zeitraubenden Zumutung, sich mit dem Verhältnis der heutigen Psychologie zu den andernorts grassierenden kulturwissenschaftlichen Herausforderungen ernsthaft auseinanderzusetzen. Aber auch die anerkennenden Signale interessierten Wohlwollens sind häufig kaum mehr als »politisch korrekte« Tribute an gängige Pluralitäts- und Toleranzvorstellungen. Diese Zeichen eines auf ganz selbstverständliche Weise liberalen Geistes signalisieren nicht zuletzt, daß man bereit ist, kulturwissenschaftliche Nischen und Spielwiesen zu dulden, weil man weiß, daß sie marginal und ohne nennenswerten Einfluß auf das Geschehen in der wissenschaftlichen Psychologie und der dort – wie überall – umstrittenen Verteilung von Ressourcen sind. Über Macht und finanzielle Mittel in der eigenen Disziplin verfügen diejenigen, die sich gegenwärtig um eine kulturwissenschaftliche Psychologie bemühen, in relativ geringem Ausmaß. Wo solche Bemühungen geduldet werden – und das ist keineswegs überall der Fall – läuft die Förderung auf Sparflamme. In der akademischen Psychologie ist eine im Prinzip naturwissenschaftliche Ausrichtung bekanntlich traditionell sehr stark ausgeprägt. Dabei paarte sich eine naturalistische Auffassung psychologischer Fragestellungen mit einem methodologisch-methodischen Verständnis der eigenen Disziplin als nomologische Wissenschaft. Die gesuchten psychologischen Gesetzmäßigkeiten sind demnach »Naturgesetze« wie andere auch. Längst ist diese Orientierung so selbstverständlich und beherrschend geworden, daß zunehmend mehr Fachvertreter jenen vorausschauenden Pionieren folgen, die ihre Universitätsinstitute bereits erfolgreich in die naturwissenschaftlichen Fakultäten eingebunden haben. Für viele, die in dieser Disziplin tätig sind, hat die Psychologie kaum mehr etwas mit den herkömmlichen Geistes- und Sozialwissenschaften oder eben den teils althergebrachten, teils sich neu formierenden Kulturwissenschaften gemeinsam. Die derzeit um sich greifende Ökonomisierung der Wissenschaften, die so gut wie alle Fächer immer mehr unter den Druck von – meistens kurz- oder mittelfristigen – Effizienz- und Rentabilitätskriterien setzt, tut ein übriges. Naturwissenschaften stehen zu Recht im Ruf, ein Wissen zu erzeugen, das sich – auf dem Um-

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132 | Jürgen Straub weg über Technologie und Technik – früher oder später gewinnbringend verkaufen läßt. Wie der Sozialpsychologe Uwe Laucken neulich in einer ebenso scharfsinnigen wie fulminanten Kritik dargelegt hat, beugen sich zahlreiche Kolleginnen und Kollegen in vorauseilendem Gehorsam diesem letztlich ökonomischen Imperativ – ohne Rücksicht auf zahlreiche genuin psychologische Fragestellungen, deren Bearbeitung praktisch bedeutsam ist, obwohl sich die Forschungsergebnisse aus strukturell zwingenden Gründen gerade nicht instrumentell verwenden und profitabel vermarkten lassen.1 Es gibt gewiß gute Gründe, bestimmte Bereiche der Psychologie gegenstandstheoretisch, methodologisch und methodisch als Naturwissenschaft zu konzipieren. Für alle Zweige der Psychologie gilt das jedoch nicht. Wer als Psychologe von jenen innovativen Strömungen lernen will, die bereits als cultural turn in die Geschichte der Geistes- und Sozialwissenschaften eingegangen sind, dem sind die oben erwähnten Reaktionen zweifellos vertraut. Die Psychologie ist, so wird ihm entgegengehalten, eine Naturwissenschaft. So tönt es nun aber nicht allein aus den eigenen Reihen. Wer die Psychologie in die Nähe von anderen Kulturwissenschaften rückt, muß nämlich auch den befremdeten Nachbarn erst einmal erklären, warum und mit welchem Recht dieser Platz beansprucht wird. Wirft man einen Blick auf die mittlerweile verfügbaren Referate über die Geschichte und die systematischen Ambitionen jener Disziplinen, die den cultural turn initiierten oder wenigstens post eventum an ihm und seinen Folgen partizipieren, stößt man auf alle möglichen Fächer, bloß auf die Psychologie nicht. Sie fehlt im Reigen der Wissenschaften, die – Hand in Hand mit der Philosophie des 20. Jahrhunderts, oder besser: inspiriert von deren kreativen Köpfen – den schillernden Ausdruck »Kultur« als einen theoretischen Grundbegriff rehabilitierten und dabei in innovativer Weise erheblich verwandelten. Michael Lackner und Michael Werner haben im Auftrag des Programmbeirats der Werner Reimers-Stiftung unlängst einen informativen Bericht über den »cultural turn in den Humanwissenschaften« verfaßt.2 Die Psychologie wird lediglich kurz erwähnt, und dies kennzeichnenderweise dort, wo es um die Kulturblindheit und den damit verwobenen Ethnozentrismus der modernen, westlichen Humanwissenschaften geht. Zu den innovativen Disziplinen oder wenigstens zu jenen, die sich auf der Höhe ihrer Zeit bewegen, gehört die Psychologie in diesem Bericht nicht – im Unterschied zur Ethnologie und Anthropologie, zur Geschichtswissenschaft, den Philologien und der Geographie, der Soziologie, der Ökonomie und den Politikwissenschaften. Alle diese Fächer haben, mehr oder weniger ausgeprägt, eine kulturalistische Wende hinter sich.3 Die Psychologie scheint dagegen, sobald es um die neue Bedeutung der Kultur(en) in den Humanwissenschaften geht, nicht existent. Derselbe Eindruck stellt sich ein, wenn man den Überblick zur Kenntnis nimmt, 1 Laucken 2001. 2 Lackner & Werner 1999: 12: »Unser Bericht verknüpft allgemeine Analysen zum cultural turn, der kulturwissenschaftlichen Wende in den Humanwissenschaften mit dem konkreten Problem der Organisation von regionalspezifischen Studien, den sogenannten area studies«. Dieses Interesse an den Regionalstudien spielt hier keine Rolle. 3 Vgl. a. Appelsmeyer & Billmann-Mahecha 2001.

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Was hat die Psychologie bei den Kulturwissenschaften verloren? | 133 den Andreas Reckwitz seiner systematischen Rekonstruktion der jüngsten Transformation der Kulturtheorien und seinem programmatischen Vorschlag einer kulturalistisch gewendeten Sozialwissenschaft voranstellt.4 Gewiß, Reckwitz erhebt nicht den Anspruch, alles und jedes zu berücksichtigen, obwohl er die wichtigsten Entwicklungen nachzeichnet und kaum eine bedeutende Station auf dem – mit philosophischen Argumenten gepflasterten – Weg einer kulturtheoretischen Neuorientierung der Sozialwissenschaften ausläßt. Auffällig ist die besagte Lücke dennoch. Auch dieses Buchkapitel, das bestens als Einführung in die Materie geeignet ist, spart die Psychologie vollständig aus. Man kann fast zu beliebigen Darstellungen des cultural turn greifen, ohne daß sich daran etwas ändert: Die Psychologie scheint sich, auch von außen betrachtet, mit »Kultur(en)« nicht zu vertragen. Der Skepsis, die viele Fachvertreter dem Kulturbegriff entgegenbringen, korrespondiert eine Außenwahrnehmung der Disziplin, die diese so gut wie überhaupt nicht als eine mit Kultur(en) befaßte, womöglich sogar als eine kulturwissenschaftliche Disziplin erkennen kann. Diese Sicht der Dinge ist jedoch falsch. Obwohl die Psychologie zweifellos nicht zu jenen innovationsfreudigen Fächern gehört, die als erste frischen Wind in die überlieferten (kultur-)theoretischen Debatten brachten, hat sie sich seit mehreren Jahrzehnten in ganz unterschiedlicher Weise mit dem Begriff der Kultur angefreundet und diesen in ihr theoretisches Vokabular integriert. Wie ein Blick beispielsweise in den American Psychologist – das vielbeachtete Periodikum der American Psychological Association – zeigt, ist das schillernde Wort auch in der Psychologie zu einem Modewort geworden. Im deutschsprachigen Raum geht es zwar ein wenig verhaltener zu. Der Begriff ist aber auch hier en vogue. Ganz allmählich scheint auch die Psychologie eine Diagnose zu bestätigen, die Stuart Chase vor gut einem halben Jahrhundert stellte, als er schrieb, der Kulturbegriff der Anthropologie und Soziologie sei »coming to be regarded as the foundation stone of the social sciences«.5 Nun ist es allerdings so, daß der Kulturbegriff in der Psychologie in sehr unterschiedlicher Weise bestimmt und verwendet wird. Bevor ich darauf kurz eingehe, sei eine weit verbreitete und wohl einigermaßen konsensfähige Einsicht festgehalten: Für alle Fachvertreter, die den Kulturbegriff verwenden, stellt er insofern eine Herausforderung dar, als er den in der wissenschaftlichen Psychologie seit jeher gängigen, naiven Universalismus – den John Berry frühzeitig als »Absolutismus« bezeichnete und gegen einen sophistizierten Universalismus abgrenzte6 – radikal in Frage stellt.7 Wie in anderen Disziplinen erfüllt der Kulturbegriff auch hier zunächst einmal die Funktion eines Korrektivs, das die zukünftige Forschung vor den Fallstricken des traditionellen Ethno- oder Nostrozentrismus bewahren soll. »To a very lar4 Reckwitz 2000: 15-57. 5 Chase 1948: 59. Vgl. Straub 1999a: 167ff.; 2001. Ich beziehe mich im folgenden hin und wieder auf diese Texte, in denen sich zahlreiche Literaturhinweise finden, die eine Übersicht über den Stand der Diskussion in der Psychologie ermöglichen. Im vorliegenden Essay beschränke ich mich auf einige wenige bibliographische Angaben. 6 Berry 1969. 7 Vgl. Straub 2001.

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134 | Jürgen Straub ge extent, psychology has been culture-bound and culture-blind«, heißt es etwa bei Walter Lonner und Roy Malpass.8 Und Harry Triandis, der koordinierende Herausgeber der ersten Ausgabe des voluminösen Handbook of Cross-Cultural Psychology, schrieb vor gut zwei Jahrzehnten: »One of the key facts about psychology is that most of the psychologists who have ever lived and who are now living can be found in the United States. […] The rest of the world has only about 20 percent of the psychologists that are now or have ever been alive. Moreover, psychology as a science is so overwhelmingly the product of German, French, British, Russian and North American efforts that it is fair to consider it an entirely European-based enterprise (with American culture considered the child of European culture). Yet, science aspires to be universal. Cross-cultural psychologists try to discover laws that will be stable over time and across cultures, but the data base excludes the great majority of mankind who live in Asia and the Southern Hemisphere. Are so-called ›psychological laws‹ really universal? Are theories merely parochial generalizations, based on ethnocentric constructions of reality?«9

Mittlerweile finden sich nicht nur mehr und mehr Forschungen, die sich der bislang ausgeschlossenen Mehrheit der Menschheit widmen – häufig in Form der dieser Mehrheit zugerechneten Minderheiten im eigenen Land, den USA oder einem Land Europas –, sondern auch Bestrebungen außerhalb des »europäisch-nordamerikanischen Kulturkreises«, eine indigenous psychology zu etablieren. Der Ansatzpunkt auch dieser Bemühungen ist das von Triandis so treffend formulierte Problem. Alles in allem ist leicht zu sehen: Die neue Bedeutung des Kulturbegriffs ist nicht nur in Disziplinen wie der Ethnologie und Anthropologie mit der einen oder anderen Variante »postkolonialistischen« Denkens verschwistert, sondern auch in der Psychologie. Die in der Kulturvergleichenden Psychologie längst gängige Kritik an der naivuniversalistischen Position des Absolutismus hat eine normative, moralische und politische sowie eine epistemisch-kognitive Komponente. Wer dem Vorurteil verhaftet ist, die in einer – der eigenen – Kultur gültigen empirischen Befunde könnten kurzerhand in die Form universaler psychologischer Gesetzmäßigkeiten gebracht werden, irrt nicht bloß und gibt als wissenschaftliche Erkentnis aus, was vielfach bloß eine Projektion des Eigenen auf fremdkulturelle Wirklichkeiten ist. Er macht sich darüberhinaus einer Art Unrecht schuldig, weil er andere und deren psychosoziale Welt nicht nur verkennt, sondern sie auf der Grundlage dieser unangemessenen Repräsentationen – die selbst schon als fragwürdige praktische Stellungnahmen angesehen werden können – auch in bestimmter Weise behandelt, jedenfalls bestimmte Behandlungs- und Umgangsweisen nahelegt. Tendenziell oder ganz direkt, latent oder manifest kann ein Moment einer praktisch relevanten Gewaltsamkeit ins Spiel

8 Lonner & Malpass 1994: 2. 9 Triandis 1980: IX. Mittlerweile ist eine zweite Auflage des Handbuchs erschienen (Berry et al. 1997), das in nunmehr drei Bänden einen vorzüglichen Einblick in die Kulturvergleichende Psychologie gewährt. Das gilt ebenso für die knappe Präsentation im Lehrbuch von Berry et al. 1992. Im deutschsprachigen Raum sind die von Alexander Thomas (1993, bzw. 2002, u. 1996) herausgegebenen Lehrbücher konkurrenzlos.

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Was hat die Psychologie bei den Kulturwissenschaften verloren? | 135 kommen, sobald andere allein im Lichte der auf die eigene psychosoziale Welt zugeschnittenen Begriffe und (beliebig komplexen) Schemata gesehen werden. Ein erstes Resümee lautet also: Insbesondere die epistemisch-kognitiven Defizite, aber auch die praktisch-normativen, moralischen und politischen Fragwürdigkeiten des in der Psychologie seit ihrer Etablierung als eigenständiges Fach gängigen »Absolutismus« werden in der – vor allem in Nordamerika – seit gut einem halben Jahrhundert kontinuierlich wachsenden cross-cultural psychology heute klar erkannt und lautstark beanstandet. »Kulturvergleichende Psychologie« ist dabei eine Bezeichnung nicht nur für eine bestimmte Tätigkeit, sondern auch für die theoretisch und methodologisch fundierte Art und Weise, Vergleiche von Kuluren beziehungsweise kulturell »bedingtem« Verhalten und Erleben durchzuführen, schließlich auch für damit verbundene, primäre und sekundäre Zielsetzungen.10 Festzuhalten ist: Es ist längst ein Allgemeinplatz, daß eine empirisch gehaltvolle Forschung, die ihre Befunde, aber auch ihre Begriffs-, Theorie- und Hypothesenbildung nicht von den Vorurteilen und Vorgaben eines höchst mißlichen Nostrozentrismus abhängig machen möchte, die – wie in der von Pike eingeführten Terminologie gesagt wird – emische Perspektive11 nicht einfach außer acht lassen darf. Die Berücksichtigung dieser »Sicht von innen« gestattet eine Rekonstruktion des praktischen, teilweise in der Alltagswelt bereits sprachlich artikulierten Selbst- und Weltverhältnisses kulturell situierter Akteure. Diese Rekonstruktion gilt als notwendig, wo immer es um empirisch anspruchsvolle Formen des Fremdverstehens geht. Die emische Perspektive ist unabdingbar – und zwar auch dann, wenn sie, wie in der Kulturvergleichenden Psychologie, nicht als hinreichend, sondern lediglich als Komplement einer etischen Perspektive betrachtet wird, die den wissenschaftlichen Betrachter erst zu Erkenntnissen befähigt, auf die er »eigentlich«, jedenfalls primär, aus ist. Die skizzierte Diagnose und Kritik sowie die mittlerweile in so gut wie allen psychologischen Teilsdisziplinen und Forschungsbereichen unternommenen Bemühungen, an einer »new psychology« (Triandis) zu arbeiten, die die besagten Mängel zu beheben trachtet, sind in einer ganzen Reihe von Hand- und Lehrbüchern, Monographien sowie zahllosen Abhandlungen in Sammelbänden und (teils neu gegründeten) Fachzeitschriften bestens dokumentiert. Mit im Zentrum solcher Bemühungen steht die Absicht, die Durchführung kulturvergleichender Studien strikt an gewisse Voraussetzungen und Kriterien der Vergleichbarkeit zu binden. Dazu gehören die konzeptuelle und die operationale Äquivalenz sowie die Erhebungs- und Skalenäquivalenz12, die die Vergleichbarkeit psychologischer Daten ganz unmittelbar tangiert. Es ist heute eine Art common sense in der Kulturvergleichenden Psychologie, daß ohne die Gewährleistung der Äquivalenz theoretischer und operationaler Begriffe sowie methodischer Verfahren und Forschungspraktiken keine empirisch gehaltvollen Erkenntnisse gewonnen werden

10 Vgl. Straub 2001. 11 Pike 1954. Pike leitet seine Unterscheidung einer »emischen« von einer »etischen« Perspektive aus der Gegenüberstellung von Phonemik und Phonetik ab. 12 Helfrich 1993: 82f.

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136 | Jürgen Straub können, die uns tatsächlich über den Tellerrand eigener kultureller Wirklichkeiten und Befangenheiten hinausblicken lassen.13 Im übrigen gelten hier jedoch für alle Untersuchungen im Prinzip dieselben Gütekriterien wie für jede sonstige (experimentelle, quasi-experimentelle14 oder zumindest am Ideal der experimentellen Bedingungsanalyse orientierte) psychologische Forschung auch. Dies zu sehen, ist im vorliegenden Zusammenhang ebenso wichtig wie die Tatsache, daß sich auch die formalen Zielsetzungen der Kulturvergleichenden Psychologie nicht grundlegend von den Zielen einer jeden nomologischen Psychologie unterscheiden. Die Kulturvergleichende Psychologie hält, ob nun Differenzierungs- oder Generalisierungsstudien durchgeführt werden15, an dem Ziel der empirischen Testung allgemein formulierter Gesetzeshypothesen fest. Wissenschaftliche Erkenntnis bleibt in ihren Augen universell gültige Erkenntnis. Der Kulturbegriff spezifiziert also allenfalls die kontingenten Randbedingungen, unter denen allgemeine Gesetzesaussagen gelten. Der Kulturvergleich dient – im Rahmen der Kulturvergleichenden Psychologie – primär der empirischen Spezifizierung und Rechtfertigung von Universalitätsansprüchen, deren Gültigkeit die Psychologie bislang allzu häufig – nach empirischen Tests (in ausgewählten Segmenten) der eigenen Kultur – kurzerhand behauptet hat. Hypothetisch formulierte Allaussagen über genetische, strukturelle und funktionale Aspekte menschlichen Erlebens und Verhaltens sind, wenn sie denn die Feuerprobe hinreichend umfassender kulturvergleichender Studien hinter sich haben, tatsächlich allgemein gültige Erkenntnisse. Dies jedenfalls ist der Anspruch der Kulturvergleichenden Psychologie. Kulturelle Differenzen mögen interessant sein, und das Interesse an ihnen ist gewiß berechtigt, aber: Nichts macht die Suche nach psychologischen Universalien obsolet, und in den 13 Die methodisch sorgfältige Prüfung dieser Äquivalenzen setzt eigentlich sehr genaue Analysen der Rede- und Handlungspraxis der Angehörigen der untersuchten Kultur aus der emischen Perspektive voraus; diese aber werden, sieht man einmal genauer hin, in der Kulturvergleichenden Psychologie kaum in hinreichender Weise durchgeführt. 14 Quasi-experimentell sind die am Ideal der experimentellen Kontrolle und Manipulation von Verhaltensbedingungen orientierten Vorgehen in der Kulturvergleichenden Psychologie, »weil ein kultureller Faktor keinen Behandlungsfaktor, sondern eine ›organismische‹ Variable […] darstellt. Im Unterschied zu einem Behandlungsfaktor können im Falle einer organismischen Variable die Individuen den einzelnen Faktorstufen nicht nach Zufall zugeordnet, sondern lediglich nach ihrer – unabhängig von der Untersuchung bestehenden – Zugehörigkeit zu einer bestimmten Faktorstufe ausgewählt werden. Das Problem dieser ›natürlichen‹ Zugehörigkeit ist, daß sie in aller Regel mit anderen Merkmalen bzw. Merkmalsausprägungen kovariiert. Der Versuchsplan erlaubt daher nicht, auftretende Unterschiede in der abhängigen Variablen kausal auf die Variation des untersuchten kulturellen Faktors zurückzuführen. Eine kausale Interpretation läßt sich allenfalls durch theoretische Überlegungen rechtfertigen« (Helfrich 1993: 93). Helfrich grenzt das quasi-experimentelle Vorgehen vom psychometrischen Ansatz und der von Piaget stammenden Methodik zur Überprüfung theoretisch-hypothetischer Universalitätsansprüche psychologischer Verhaltens- und Entwicklungsmodelle ab. 15 Eckensberger 1990.

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Was hat die Psychologie bei den Kulturwissenschaften verloren? | 137 Augen der allermeisten RepräsentantInnen der Kulturvergleichenden Psychologie ist und bleibt diese Suche die vornehmste und wichtigste Aufgabe einer jeden Wissenschaft. Betrachtet man sich genauer, wie diese Aufgabe angegangen wird, ist unübersehbar, daß die Kulturvergleichende Psychologie im großen und ganzen einem szientistischen Wissenschaftsideal verpflichtet bleibt, was unter anderem heißt: Der für alle anderen Disziplinen, die vom cultural turn erfaßt und die diese Wende womöglich selbst mit vorangebracht haben, ganz entscheidende und zentrale Punkt wird in der Kulturvergleichenden Psychologie stark marginalisiert und sehr häufig nicht richtig ernst genommen. Das gilt im Hinblick auf verschiedene Abstraktionsebenen, nämlich für die Theorie und theoretische Konstitution des Gegenstandes psychologischer Forschung, für die Methodologie und Methodik, schließlich für die empirische Forschungspraxis selbst. Nirgends wird nämlich der in aller Regel selbst artikulierten Auffassung, daß die psychologisch relevante Wirklichkeit, insofern sie als kulturelle, kulturell vermittelte oder kulturell bedingte Wirklichkeit in Betracht gezogen wird, eine sinn- und bedeutungsstrukturierte Welt ist, hinreichend Rechnung getragen. Man kann dieser Auffassung offenkundig nur dadurch gerecht werden, daß man das, was Anthony Giddens als »doppelte Hermeneutik« der Sozialwissenschaften auswies16, anerkennt. In irgendeiner Weise muß man der methodisch kontrollierten Interpretation einen unweigerlich zentralen Stellenwert zubilligen, sobald es um die Erforschung der interessierenden, hermeneutisch vorstrukturierten Praktiken, ihrer Objektivationen und Objektivierungen geht. Exakt dies vermißt man in der Kulturvergleichenden Psychologie, und genau das trennt diese Variante der mit Kultur(en) befaßten Psychologie von jenen Disziplinen, die heute unter dem Dach der Kulturwissenchaften versammelt sind. Damit ist allerdings noch nicht das letzte Wort über die zeitgenössische Psychologie gesprochen. Auch in dieser Disziplin gibt es heutzutage nämlich eine ganze Reihe von Ansätzen, die, bei allen Unterschieden im einzelnen, darauf hinauslaufen, dem Fach in einem theoretisch, methodologisch und methodisch anspruchsvollen Sinne ein kulturwissenschaftliches Profil zu verleihen. Diese Ansätze firmieren unter dem Titel »Kulturpsychologie«. Die gängig gewordene Unterscheidung zwischen Kulturvergleichender Psychologie (cross-cultural psychology) und Kulturpsychologie (cultural psychology) ist freilich nicht bloß für Novizen und Außenstehende mißverständlich, sondern generell unglücklich. Die auffälligste Irreführung besteht einfach darin, daß auch die Kulturpsychologie Kulturvergleiche anstellen kann, die komparative Perspektive also keinesfalls ein differenzierendes Kriterium darstellt. Wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe, lassen sich einige weitere Gemeinsamkeiten ausfindig machen.17 Dennoch trennt die Unterscheidung ganz grob zwischen zwei in der Tat verschiedenen Weisen, Kultur(en) zum Thema psychologischer Forschung zu machen. Die szientistische Kulturvergleichende Psychologie hält am Modell der kausalen beziehungsweise korrelationsstatistischen Bedingungsanalyse fest. Sie faßt »Kultur« demgemäß als ein spezifisches, traditionell eher vernachlässigtes Gefüge 16 Giddens 1984. 17 Straub 2001.

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138 | Jürgen Straub kausal wirksamer Bedingungen auf. Diese lassen sich – jedenfalls im Prinzip, wie man annimmt – elementaristisch in diskrete Einheiten (unabhängige Variablen) zerlegen und in ihren Wirkungen auf festgelegte abhängige Variablen untersuchen. Freilich werden dabei Wechselwirkungen und komplexe Interdependenzen nicht ausgeschlossen. Wie immer die verwendeten statistischen Modelle deswegen kompliziert werden müssen, so bleiben die Prinzipien des Kausalismus, Elementarismus, Empirismus und obendrein eine die Methodologie und Methodik zutiefst prägende objektivistische Auffassung wissenschaftlichen Handelns verbindlich. Genau das ist in der Kulturpsychologie nicht der Fall. Kulturanalysen werden hier als interpretative Analysen jeweils holistisch strukturierter Sinn- und Bedeutungssysteme beziehungsweise symbolischer Ordnungen und Semantiken (unterschiedlicher Komplexitätsgrade) angelegt, die psychische Phänomene nicht im Sinne kontingenter Ursachen bedingen, sondern sie als sinn- und bedeutungsstrukturierte Phänomene mitkonstituieren und – in aller Regel nach dem Modell eines nicht-vitiösen hermeneutischen Zirkels, der die Struktur eines dynamischen Teil-Ganzes-Verhältnisses besitzt – bestimmen. Die Kulturpsychologie partizipiert an jener breiten, in verschiedenen Fachwissenschaften präsenten Strömung, die dem »Leitgedanken einer symbolischen, sinnhaften Konstitution der sozialen Welt und des menschlichen Handelns«18 folgt und dabei gerade auch dem Kulturbegriff eine zentrale Stellung einräumt. Mit anderen Worten: einer in wissenschafts- und erkenntnistheoretischer, methodologischer und methodischer Hinsicht naturwissenschaftlichen Kulturvergleichenden Psychologie steht eine interpretative, kulturwissenschaftliche Kulturpsychologie gegenüber. Ob man deren Verhältnis als kontrastive Konkurrenz heterogener Denkformen und Forschungsstile auffaßt oder aber als komplementäre Ergänzungsbeziehung, die sich unter dem Dach eines integrativen Ansatzes bestens explizieren läßt, mag hier dahingestellt bleiben. Wenigstens erwähnt sei, daß die unterschiedenen Seiten keineswegs so homogen sind, wie es die Gegenüberstellung suggeriert. Es gibt vielmehr innerhalb der beiden Typen einer an Kultur(en) interessierten Psychologie eine derartig große Vielfalt unterschiedlicher theoretischer Konzeptionen, methodologischer Ansätze und methodisch geregelter Forschungspraktiken, daß man zögert, an der selbstverständlich gewordenen Abgrenzung festzuhalten. Eine bei näherem Hinsehen kaum unter einen Hut zu bringende Vielfalt verbirgt sich insbesondere unter dem Titel der »Kulturpsychologie«. Ich werde im folgenden keinen vergleichenden Überblick über solche Ansätze geben. Vielmehr möchte ich einige Komponenten einer kulturwissenschaftlichen Psychologie vorstellen, die von vorneherein interdisziplinär angelegt und auch in anderen Hinsichten auf die praktischen Verhältnisse unserer heutigen Welt zugeschnitten ist. Ich stütze mich dabei auf die Grundlegung einer textwissenschaftlichen Handlungs- und Kulturpsychologie, die ich Anfang der 1990er Jahre ausgearbeitet habe.19 Insgesamt wird sich zeigen, daß die zeitgenössische Kulturpsychologie, was ihre zentralen Prämissen und Prinzipien angeht, eine Kulturwissenschaft sein kann 18 Reckwitz 2000: 15. 19 Straub 1999a.

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Was hat die Psychologie bei den Kulturwissenschaften verloren? | 139 wie jede andere auch. Sie kann mit ihren Nachbarn wesentliche theoretische Orientierungen, methodologische Prinzipien und methodische Forschungspraktiken teilen, ohne fachspezifische Fragestellungen und Herangehensweisen völlig aus den Augen zu verlieren. Worin sie sich in nichts von anderen Fachwissenschaften unterscheiden muß, ist zunächst einmal der Kulturbegriff, auf den sie sich stützt, sowie die Rolle, die dieser Begriff auch in der psychologischen Forschung für die Erklärung menschlichen Handelns und Erlebens besitzt. Am Ende meiner Abhandlung wird man, wenn ich recht sehe, die Psychologie getrost einbeziehen dürfen, wenn man diagnostiziert: »Ausgehend von entsprechenden Trends innerhalb der Ethnologie, verstärkt durch den postkolonialen Selbstbehauptungsdiskurs außerhalb Europas und die zunehmende Sensibilität für kulturelle Differenz angesichts der neuen weltweiten Migrationsströme und der sogenannten ›ethnischen‹ Konflikte nach dem Ende des Kalten Krieges, hat der cultural turn mittlerweile auch in Deutschland eine Reihe von ›großen‹ Fächern erreicht.«20

2. Die zeitgenössische Kulturpsychologie und die Kultur: welche »Kultur«? Über die Vieldeutigkeit des Kulturbegriffs geben die Lemmata in allgemeinen Lexika oder in philosophischen und fachwissenschaftlichen Nachschlagewerken hinreichend Auskunft. Ich werde mich im folgenden darauf beschränken, einige im vorliegenden Zusammenhang wesentliche Bestimmungsmerkmale anzuführen und schließlich einen Definitionsvorschlag zu formulieren, der auf die Aufgaben einer handlungstheoretisch ausgerichteten Kulturpsychologie zugeschnitten ist. Dabei stütze ich mich, wie gesagt, auf andernorts entwickelte Überlegungen.21 Hier wie dort interessiert mich der Kulturbegriff in seiner Funktion, wissenschaftliche Analysen psychosozialer Wirklichkeiten begrifflich und theoretisch zu fundieren. Diesem Ziel dient der Begriff seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, und diesen Zweck besitzt er noch in der zeitgenössischen Kulturpsychologie. Betrachtet man sich in einer Art Synopsis die Geschichte des modernen theoretischen Kulturbegriffs22, scheinen mir heutzutage folgende Merkmale auch für das psychologische Denken unabdingbar: 2.1. Kulturen: symbolische Ordnungen menschlichen Handelns In gewisser Weise gehört der Begriff der Kultur zu jenem Vokabular, das für die Bestimmung der conditio humana unerläßlich ist. Kultur ist ein Attribut der menschlichen Natur. Sie ist ein Kennzeichen des animal symbolicum (Ernst Cassirer) und einer symbolisch vermittelten Handlungsfähigkeit und Praxis. In diesem Sinn ist Kultur eine anthropologische Universalie, die – einen bereits im 17. und 18. Jahrhundert wichtigen Bedeutungsaspekt des Begriffs aufgreifend – der vom Menschen unbe20 Lackner & Werner 1999: 23. 21 Straub 1999a: 186ff. 22 Vgl. etwa Jung 1999.

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140 | Jürgen Straub rührten und von diesem unabhängigen Natur kontrastiv gegenübergestellt werden kann. Die Kulturpsychologie stützt sich nun zwar in der einen oder anderen Weise auf diese allgemeine anthropologische Bestimmung, richtet ihre Aufmerksamkeit und Anstrengungen aber auf einen anderen Punkt. Sie fragt nach historisch, lokal und sozial variablen Erscheinungsformen von Kultur und deren Bedeutung für die je konkrete Praxis von Kollektiven und Individuen: »From this point of view […] culture is conceived as being a constituent of actions, and thus an essential part of the thoughts, feelings, and activities that characterize human existence. It is assumed that there exists an intrinsic relationship between human subjects (agencies), actions and culture, and that all of these aspects are essentially interdependent, and finally, that they require each other’s existence.«23 Diese Begriffsbestimmung gliedert die Psychologie nahtlos in jene lange Reihe von Disziplinen ein, die sich heute als Kulturwissenschaften verstehen und die allesamt damit befaßt sind, Kulturen als symbolische Ordnungen, die der Praxis inhärent oder implizit sind, kurz: als kollektive handlungskonstituierende Sinnsysteme aufzufassen: »Diese handlungskonstituierenden Sinnsysteme – traditionell als Weltbilder oder Ideen, nun als symbolische Codes und interpretative Schemata umschrieben – sind in ihrer sozialen und historischen Kontingenz zum bevorzugten Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung geworden. Die Sozialwissenschaften stellen sich zunehmend als ›Kulturwissenschaften‹ dar, die die symbolischen Ordnungen rekonstruieren, vor deren Hintergrund die ›Menschen‹ der sozialen Welt – und damit auch sich selbst – Sinn und Bedeutung verleihen.«24 Das gilt nicht zuletzt für die hier interessierende Spielart der zeitgenössischen Psychologie. Die Annahme eines wechselseitigen Konstitutions- oder Bestimmungsverhältnisses zwischen Subjekt, Handlung und Kultur ist ein in der rezenten Kulturpsychologie verbreiteter Topos. Fast immer wird hervorgehoben, daß Kultur nicht einseitig als Rahmen, Feld oder Medium des Handelns angesehen werden darf (also auf die eine oder andere Weise zur Entstehung, Identität und Charakteristik von Handlungen beiträgt und auch die besondere Qualität von Erlebnissen prägt). Umgekehrt nämlich ist die Kultur ihrerseits vom Handeln abhängig. Kultur ist gleichermaßen ein Handlungsfeld wie das in beständiger Umbildung befindliche Produkt menschlichen Handelns. Dabei ist gleichermaßen an materielle, ideatorische und praktischsoziale Aspekte der Kultur gedacht.25 Kultur ist ein »historically accumulated medium of human activity«, welches seinerseits, wie Michael Cole metaphorisch formuliert, »acts as both constraint and tool of human action«.26 Im Einflußfeld der Kultur stehend, bestimmt das Subjekt, dessen Fähigkeiten und Fertigkeiten sich entwickeln und verändern, sein eigenes Handeln mit, und handelnd ist es an der Gestaltung seines Selbst und seiner Welt beteiligt: »Actions form the basis of the ontogeny of individual normative, cognitive and affective schemata (they include the changing individual) and they lead to cultural products and cultural change (they include ›the changing

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Eckensberger 1991b: 3. Reckwitz 2000: 16. Vgl. z.B. Boesch 1991: 29ff.; Cole 1990: 282. Cole 1990: 282.

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Was hat die Psychologie bei den Kulturwissenschaften verloren? | 141 world‹).«27 Eine »Handlung« erscheint, obwohl sie selber sowohl in kulturellen Ordnungen situiert als auch vom kreativen Potential und anderen individuellen Strukturmomenten einer Person abhängig ist, als eine Art Vermittlungsinstanz. In einem topologischen Modell kann sie demgemäß auch als Verbindungsglied zwischen Individuum und Kultur plaziert werden.28 Handeln impliziert die Gestaltung und Umgestaltung sowohl der Kultur als auch des Subjekts. Der erste Aspekt wird – in Anlehnung an Lev Vygotsky – von Eckensberger und anderen Autoren als »Externalisierung« bezeichnet, der zweite als »Internalisierung«. Die Folgen von Externalisierungen nennt Eckensberger – mit dem in den Geisteswissenschaften des 19. und frühen 20. Jahrhunderts gängigen Terminus – Objektivationen; unter dem Aspekt der Internalisierung betrachtet, bestehen Handlungsfolgen dagegen in sogenannten Objektivierungen. Handeln führt so gut wie immer zu solchen Objektivierungen, meistens in der für das Handlungssubjekt unmerklichen Weise einer geringfügigen Modifikation des eigenen Handlungspotentials, die im »positiven« Fall eine Stabilisierung und Erweiterung von Fertigkeiten und Fähigkeiten darstellt.29 Festzuhalten ist: Kultur als Handlungsfeld ist einerseits ein Produkt kollektiver Tätigkeiten, andererseits ein struktureller Komplex möglicher Bestimmungsgründe von Handlungen. In Boeschs Definition gelangt diese wechselseitige Abhängigkeit zum Ausdruck: »Culture is a field of action, whose contents range from objects made and used by human beings to institutions, ideas and myths. Being an action field, culture offers possibilities of, but by the same token stipulates conditions for, action; it circumscribes goals which can be reached by certain means, but establishes limits, too, for correct, possible and also deviant action. The relationship between the different material as well as ideational contents of the cultural field of action is a systemic one; i.e. transformations in one part of the system can have an impact in any other part. As an action field, culture not only induces and controls action, but is also continously transformed by it; therefore, culture is as much a process as a structure.«30

Die Kultur stellt bisweilen auf ganz offenkundige, häufiger auf kaum merkliche Weise einer Vielzahl von Personen Ordnungsformen und Deutungsmuster für die kognitive und rationale, emotionale und affektive Identifikation, Evaluation und Strukturierung von Gegebenheiten und Geschehnissen in der Welt sowie Prinzipien und Paradigmen der Handlungsorientierung und Lebensführung bereit. Ich werde darauf zurückkommen, in welcher Weise der Kulturbegriff spezifiziert werden muß, um für die Aufgabe der Handlungserklärung gerüstet zu sein. 27 Eckensberger 1991b: 3. 28 Eckensberger 1990: 172. 29 Zur Erläuterung der soeben eingeführten Begriffe vgl. Eckensberger 1991a: 13ff. Die dort ebenfalls erörterten, auf Boesch und andere zurückgehende Unterscheidung zwischen Hanlungsniveaus sowie die Differenzierung zwischen primärer und sekundärer Strukturierung sowie die Ausführungen zur Rolle von Subjektivierungs- und Symbolisierungsprozessen (und damit vor allem von Fantasmen und Mythen) seien hier lediglich erwähnt. 30 Boesch 1991: 29.

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142 | Jürgen Straub 2.2. Kulturen als variable diskursive Konstrukte Der Kulturbegriff verweist stets auf eine Mehrheit von Personen, die in ein gemeinsames Bezugsgewebe von kollektiv verbindlichen Deutungen und Orientierungen, Selbst- und Weltauffassungen, Wiklichkeitsdefinitionen und Praktiken eingebunden sind. Der hier verwendete Kulturbegriff kann sich nun aber auf in verschiedener Hinsicht sehr unterschiedliche und veränderliche »Einheiten« beziehen. Und er ist obendrein kein Terminus, der auf reifizierbare Entitäten Bezug nimmt, sondern ein theoretisches Konstrukt, das der empirisch gehaltvollen, diskursiven und möglichst kriterienorientierten Abgrenzung solcher Einheiten und dabei speziellen epistemischkognitiven analytischen Zwecken dient. Kulturen existieren nicht als reifizierbare, statische Entitäten. Als praktische beziehungsweise diskursive Konstrukte können sie auf vielen Wegen – implizit oder explizit, verdeckt oder manifest, in eher symmetrisch oder eher asymmetrisch strukturierten Aushandlungsprozessen – und unter Beteiligung verschiedener Personen und Gruppen zustandekommen. WissenschaftlerInnen können beispielsweise an alltagsweltliche, politische, ästhetische (etwa literarische) oder massenmediale Konstruktionen kultureller Ordnungen und Grenzziehungen anknüpfen, diese rekonstruieren, explizieren und dekonstruieren. Und sie können – auf der Grundlage empirischer Forschungen oder aus normativen, politischen beziehungsweise ideologischen Interessen heraus – selbst solche Einheiten definieren und Unterscheidungen vornehmen. Eine erste Variationsmöglichkeit bei der Konstruktion von Kulturen betrifft den Umfang in der Zeit-, Raum-, Sozial- und Sachdimension: Wer und was gehört dazu? Der Kulturbegriff soll hier nicht auf dasjenige beschränkt werden, was die Angehörigen von geschichtlich wirkungsmächtigen Kulturen oder von sogenannten »Hochkulturen« miteinander verbindet.31 Es ist zwar richtig, daß der Kulturbegriff ohne gewisse zeitliche, räumliche und soziale Kontinuitäts- beziehungsweise Kohärenzannahmen nicht auskommt. Wie »stark« und weitreichend diese Annahmen sind, ist letztlich aber eine definitorische Frage. Der hier verwendete Kulturbegriff bezieht sich auf die verbindende Kraft von partialen, regionalen oder lokalen, also auch flüchtigeren kulturellen oder subkulturellen Lebenszusammenhängen. Verbindungen und Gemeinsamkeiten sind im übrigen nicht auf Konsens und die gleichsinnige Übereinstimmung im Handeln angewiesen. Auch Dissens und Konflikt können eine kulturell integrative Funktion erfüllen. Solche partialen und flüchtigeren Kulturen oder Subkulturen sind in besonders vielfältiger Form in multikulturellen Gesellschaften anzutreffen. Beispiele sind etwa Jugendkulturen, wie sie – willkürlich ausgewählt – Hippies, Punks oder Skinheads 31 Unter Hochkulturen versteht man einerseits bestimmte Kulturen (etwa die altägyptische Kultur, die Kultur der griechischen Antike etc.), die in der Regel von sogenannten primitiven Kulturen unterschieden werden. Andererseits spielt der Ausdruck Hochkultur auch auf jene Aspekte des kulturellen Lebens (einer Gemeinschaft oder Gesellschaft) an, die meistens in normativer Absicht von der niederen, trivialen oder populären Kultur, der Volks-, Alltags- oder Massenkultur abgegrenzt werden. Zum Begriff der Massenkultur s. etwa Soeffner 1988: 6ff. Dort wird ein Versuch unternommen, den Begriff der Massenkultur als eine nicht-normative, deskriptive und analytische Kategorie einzuführen.

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Was hat die Psychologie bei den Kulturwissenschaften verloren? | 143 bilden. In kulturpsychologischer Perspektive lassen sich die Selbst- und Weltauffassungen, das Denken, Fühlen, Wollen und Handeln von Adligen und Clochards, Prostituierten, Homosexuellen, Angehörigen der Sado-Maso-Szene oder von Studierenden ebenso untersuchen wie die Lebensformen von türkischen Immigranten in der zweiten oder dritten Generation. Die Beispiele zeigen im übrigen, daß bestimmte partiale Kulturen nicht nur innerhalb einer Gesellschaft, sondern in mehreren Gesellschaften bestehen können. Darüber hinaus machen sie deutlich, daß einzelne Personen gleichzeitig an verschiedenen Kulturen oder Subkulturen partizipieren können. Kulturelle Zugehörigkeit kommt – diachron und synchron – stets nur im Plural vor. Auch die Rede von »Kulturen in einer Kultur« macht durchaus Sinn. Man kann diesbezüglich von binnenkulturellen Differenzierungen sprechen, wobei die intern differenzierten Kulturen oder Subkulturen von den übergeordneten kulturellen Sinnsystemen »abhängig« sind, da sie sich in diesen ausdifferenzieren und fortan erhalten können. Je enger die zeitlichen, räumlichen, sozialen und sachlichen Bestimmungen einer »Kultur« ausfallen, desto eher entgeht man jener Gefahr, die überall lauert, wo der Kulturbegriff verwendet wird. Mit dem Konzept der partialen, lokalen, regionalen und flüchtig-temporären Kultur schützt man sich vor jenen Problemen, in die die homogenisierende Konstruktion von allzu weiträumigen, historisch ausgreifenden und große Populationen umfassenden Kulturen sehr leicht gerät. Die Pluralisierung durch Partialisierung von Kulturen sowie eine entsprechend differentielle Analyse kultureller Phänomene bewahren vor übereilten und unangemessenen Homogenisierungen und vor der Hypostasierung »einer« Kultur zu einer Art superorganischen Einheit. Dies beugt jener Grobschlächtigkeit kulturgeschichtlicher und aktualempirisch-kulturvergleichender Betrachtungen vor, die binnenkulturelle Differenzierungen kurzerhand glattbügelt und wissenschaftlich fragwürdigen Stereotypen den Weg bahnt. Es ist leicht zu sehen, daß die vorgenommenen Bestimmungen eine Erbschaft Johann Gottfried Herders bewahren und – in die Richtung einer zunehmenden Partialisierung, Differenzierung, Pluralisierung und Dynamisierung von Lebensformen – weiterentwickeln. Es war bekanntlich vor allem Herder, der in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit einem Kulturbegriff zur Geltung verhalf, der eine möglichst wertneutrale, unvoreingenommene deskriptive Unterscheidung historisch und räumlich situierter Lebensformen sowie die komparative Analyse derselben ermöglichen sollte. Der Vergleich sollte dabei nach beiden »Richtungen« Aufschluß geben, also nicht zuletzt ein durch Fremdverstehen initiiertes kritisches Selbstverständnis ermöglichen. Was man in Hans-Georg Gadamers 1960 erschienener philosophischer Hermeneutik, die einseitig auf den Abstand der Zeiten und die darin liegenden historischen Differenzen setzt, vergeblich sucht, ist bereits bei Herder eine wichtige programmatische Perspektive und uns Heutigen beinahe selbstverständlich: Interkulturelle Differenzen bergen ein kaum zu überbietendes Potential für die Erweiterung des eigenen Horizonts. Reckwitz typisiert den von Herder maßgeblich konturierten Begriff als holistisches und totalitätsorientiertes Konzept, dessen Einfluß speziell auf die empirischen Disziplinen – zunächst auf die Ethnologie beziehungsweise Kulturanthropologie

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144 | Jürgen Straub (Tylor, Boas) – bis heute erkennbar ist. Eine Kultur umfaßt demnach drei Elemente: »(a) die regelmäßige und beobachtbare Lebensweise selbst (›Gewohnheiten‹, ›Gebräuche‹), (b) gleichzeitig die ideellen und normativen Voraussetzungen dieser Handlungen (›Wissen‹, ›Glauben‹, ›Moral‹), (c) schließlich die ›künstlichen‹ Produkte und Artefakte, die in diesem Zusammenhang hergestellt werden (›Kunst‹, ›Recht‹).«32 Der Kulturbegriff verschmilzt mit der Vorstellung variabler Formen menschlicher Praxis, ihren Voraussetzungen, Hervorbringungen und Folgen. Man mag die Reste von Herders explizit oder implizit normativer Auszeichnung der Kultur(en) Europas als nostrozentrische Hierarchisierung ad acta gelegt haben (oder auch nicht). Den von ihm geschärften Blick auf empirisch erforschbare Kulturen, die in ihrer Individualität erkannt und nach ihrem je eigenen Maßstab beurteilt werden müssen, halten viele nach wie vor für das A und O kulturanalytischer Bemühungen. Durch seine Betonung der »Individualität vergangener und fremder Kulturen und Zeitalter«33, die er gegen die universalistisch angelegte, aufklärerischeuropäische Vernunft und deren abwertenden Blick auf das Fremde verteidigte, gilt er zu Recht als Vater des modernen theoretischen Kulturbegriffs. Die Aufmerksamkeit auf die Besonderheiten von Kulturen beziehungsweise kulturellen Lebensformen oder kulturell vermittelten Handlungen zu richten, ist im Prinzip also nichts Neues. »Die Verschiedenheit der Menschen und ihrer Kulturen«, schreibt Jung aus gutem Grund, war Herders »Leitidee«.34 Die Betonung von Differenz und der emphatische Hinweis auf die Heterogenität und Inkommensurabilität auch kultureller Lebensformen – wie sie für poststrukturalistische, feministische und postkoloniale Positionen charakteristisch sind35 – können besser als Akzentverlagerungen denn als radikale Innovationen begriffen werden. Schon Herder hatte einen distinktiven Kulturbegriff parat. Freilich standen bei ihm (und noch lange danach, teilweise bis heute) zeitlich, räumlich und sozial ausgedehnte Einheiten im Mittelpunkt – das Volk oder die Nation. Demgegenüber ist der Blick auf die innere Komplexität aller als Einheiten re- und dekonstruierten Kulturen und Lebensformen derzeit so scharf wie nie. Wer von einer Kultur spricht, stellt die eigene Konstruktion unter den Vorbehalt, daß interne Differenzierungen oder Partialisierungen notwendig sein mögen, die eine vermeintliche Einheit flugs in eine Vielheit verwandeln können.36 32 33 34 35 36

Reckwitz 2000: 74f. Jung 1999: 38. Jung 1999: 39. Reckwitz 2000: 78. Reckwitz’ typisierende Unterscheidung zwischen einem totalitätsorientierten und einem differenzierungstheoretischen Kulturbegriff ist insofern nicht trennscharf, als der totalitätsorientierte Begriff – wie der Autor an Herder zeigt, der auch Reckwitz als Paradebeispiel dient – nicht bloß nebenbei distinktive Funktionen erfüllt. Was jeweils als Einheit, die die Bezeichnung »Kultur« verdient, von anderen Einheiten unterschieden wird, ist freilich eine andere Frage. Daß Herders Konzeption auf Unterscheidungen angelegt und auf sie aus ist – also keineswegs auf die menschliche Lebensform im allgemeinen abhebt –, ist jedoch evident und geht auch aus Reckwitz’ eigenen Ausführungen klar hervor. Dessen typologische Unterscheidung des totalitätsorientierten vom differenzierungstheoreti-

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Was hat die Psychologie bei den Kulturwissenschaften verloren? | 145 2.3. Alltägliches und Besonderes in Kulturen Die Kulturpsychologie kann ihr Augenmerk auf das Gewöhnliche und das Außergewöhnliche einer kulturellen Praxis richten. Sie interessiert sich für das »Doppelgesicht der Kultur«37, also für das Alltägliche und die besonderen Tage. Den Blick auf die historisch einflußreichen Kulturen gerichtet, läßt sich dieses Doppelgesicht folgendermaßen charakterisieren: »Die eine Seite ist die unscheinbare Welt des Gebrauchs und Verzehrs, der Grundstrom unauffälliger Verrichtungen und Verständigungen, das Substrat alltäglicher Gegenstände und Gewohnheiten. […] Die andere Seite ist die ›scheinbare‹ Welt der auf Sichtbarkeit und Dauer, Ehrfurcht und Verehrung, Imposanz und Bedeutung und, nicht zuletzt, auf Erinnerung angelegten Zeichen, die sich bewußt und scharf vom Hintergrund des Alltäglichen abheben.«38 Im Hinblick auf die oben vorgenommene Bestimmung des Kulturbegriffs, durch die auch partiale und kurzfristigere kulturelle Lebensformen in den Blick geraten, wirken Ausdrücke wie Ehrfurcht und Verehrung, Imposanz und Bedeutung freilich deplaziert. Solche Kulturen oder Subkulturen haben keine Monumente oder Feiertage aufzubieten, um ihre Identität zum Ausdruck zu bringen und zu sichern. Die Unterscheidung zwischen Alltäglichem und den Tagen, an denen geplante, ritualisierte, vielleicht sogar institutionalisierte, oder spontane Zäsuren den gewöhnlichen Gang der Dinge unterbrechen, bleibt freilich auch im Hinblick auf diese Fälle fruchtbar. Erinnerungsanlässe, Anlässe zur kollektiven Selbstvergewisserung und Besinnung, Feste und Feiern und andere besondere Einrichtungen, kurz: die auf Dauer und Bedeutung gegründeten und gerichteten Zeichen, Symbole und (ritualisierten) Praktiken können zu jeder Art von Kultur gehören, auch wenn diese nicht im großen Stil mit Ehrfurcht Erheischendem und Verehrung Gebietendem aufwarten kann. Generell gilt, daß das Tagtägliche und das Außergewöhnliche als die beiden komplementären Sphären von Kulturen »ihre eigene ›Zeit‹ und ihre besondere Sprache (haben), die sich in jeweils eigentümlichen Wirklichkeitsbildern verkörpern – die Alltagskultur in ›Zeugnissen‹, die ›Hochkultur‹ in ›Botschaften‹«.39 Solche Unterscheidungen sind akzentuierend angelegt. Alltag und besonderer Tag können Gemeinsamkeiten aufweisen, sich überlappen, ineinander übergehen.

schen Kulturbegriff ist dennoch aufschlußreich, insofern letzterer »Kultur« als einen gesellschaftlichen Sektor differenzierungstheoretisch von anderen Sektoren abgrenzt und mit spezifischen Funktionen versieht. Diese Abgrenzung basiert ihrerseits auf der Unterscheidung zwischen »archaischen« Gesellschaften und stratifizierten, arbeitsteiligen oder eben funktional differenzierten modernen Gesellschaften, die einen besonderen Sektor, eine Sphäre beziehungsweise ein Teilsystem nicht zuletzt für die Ausbildung und Etablierung von Weltdeutungen kennen. Reckwitz hält den stratifikatorisch-differenzierungstheoretischen Kulturbegriff nicht für besonders ergiebig, insofern man ein sozialtheoretisches Interesse am cultural turn verfolgt (Reckwitz 2000: 82). Für meine Darstellungszwecke ist er vernachlässigbar. 37 Assmann 1991. 38 Assmann 1991: 11. 39 Assmann & Harth 1991: Klappentext.

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146 | Jürgen Straub 2.4. »Kultur« als nicht-normativer, distinktiver Begriff Die hier repräsentierte Kulturpsychologie distanziert sich von jeder normativen Fassung des Kulturbegriffs. Seit der Kulturbegriff zum Zweck der wissenschaftlichen Analyse des menschlichen Soziallebens verwendet wurde, also seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, besitzt er nicht zuletzt einen normativen Sinn. Diesem bekannten Sachverhalt trägt Reckwitz dadurch Rechnung, daß er im Rahmen seiner Typologie von einem »normativen Kulturbegriff«40 spricht, unter den freilich verschiedene Varianten subsumiert werden können. Die Kulturkritik aller Spielarten bedient sich dieses normativen Kulturbegriffs. Wenngleich er stets umstritten war und in unseren Tagen stark unter Beschuß steht, ist er noch immer anzutreffen. In Frage standen und stehen, hält man sich an diesen Begriff, »Eigenschaften eines Kollektivs: Kultur ist der normativ ausgezeichnete Zustand einer sozialen Gemeinschaft«.41 Ganz grob lassen sich wesentliche Dimensionen dieses Konzepts folgendermaßen skizzieren: Insofern er an eine diachrone Perspektive gebunden ist, ist der normative Kulturbegriff stets mit der Fortschrittsideologie seiner Zeit verknüpft. Das hierarchische Kulturkonzept in diesem Sinne verweist auf den idealisierten, bereits erreichten Status quo und/oder den idealisierten Endzustand der Universalgeschichte der Menschheit. In synchroner Perspektive trennt es die »kulturell hochwertigen« Lebensformen von den »niederwertigen«, die »Kulturgesellschaften« von den »primitiven« Gesellschaften, die »innere« oder »geistige Kultur« von, wie im deutschsprachigen Raum unterschieden wurde, der »bloß äußerlichen Zivilisation«, die »wahre« oder »hohe« Kultur von »degenerierten« oder schlicht minderwertigen Formen wie der trivialen, populären oder »Massenkultur«. Trotz wegweisender Beiträge wie demjenigen von Herder42 setzte sich die Kritik an einem Kulturbegriff, der klar als ethno- beziehungsweise nostrozentrischer Maßstab fungierte, nur sehr allmählich durch. Heute steht die nicht-normative begriffliche »Unterscheidung der vielfältigen Formen menschlicher Gesellschaftsbildung und der ihnen zugrundeliegenden Dynamik«43 im Zentrum wissenschaftlicher Kultur- und Handlungsanalysen. Die Sensibilität gegenüber normativen Problemen bei der Bestimmung und Erforschung von Kulturen ist gewachsen, und zwar in einem Ausmaß, daß etwa James Clifford sogar noch die ethnologischen Repräsentationen eines Clifford Geertz einer unseligen autoritären Überheblichkeit verdächtigt, die die eigene Definitionsmacht unverblümt in Szene setzt.44 Der Stand der Debatte in der Psychologie mag den Diskussionen in der Ethnologie und Kulturanthropologie oder auch anderen Disziplinen hinterherhinken. Das Bewußtsein normativer Probleme bei der Repräsentation fremder Kulturen 40 Reckwitz 2000: 65. 41 Reckwitz 2000: 66. 42 Eine frühe Ausnahme von der beinahe selbstverständlichen Verwendung eines normativ-hierarchisierenden Kulturbegriffs bildet, neben Herders Konzeption, auch der bis zum Lamprecht-Streit berühmteste kulturgeschichtliche Ansatz, nämlich derjenige Jacob Burkhardts (Daniel 1993: 75). 43 Daniel 1993: 75. 44 Clifford 1993.

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Was hat die Psychologie bei den Kulturwissenschaften verloren? | 147 beziehungsweise der mit ihnen verwobenen Praktiken ist jedoch auch hier so ausgeprägt wie nie zuvor. 2.5. Kulturen in der Perspektive einer relationalen Hermeneutik Differenzsensibilität und Alteritätsbewußtsein im Kontext der wissenschaftlichen Erforschung fremder Kulturen beziehungsweise der dazugehörigen psychosozialen Strukturen und Praktiken sind nicht zuletzt eine Folge der Deontologisierung, Deessentialisierung oder Desubstanzialisierung des Kulturbegriffs. Dieser bezeichnet nicht mehr eine reifizierbare Wirklichkeit, die unabhängig von interaktiven, in wissenschaftlichen Zusammenhängen stets auch diskursiven Aushandlungsvorgängen bestünde. Kulturelle Wirklichkeiten sind Konstrukte, die Menschen bilden: miteinander, nebeneinander oder gegeneinander. Sie liegen, so Matthes, nirgendwo als eine fix und fertige Entität vor. Sie mögen teilweise materielle Formen angenommen haben und in weniger anschauliche Bestände geronnen sein. Unveränderliche, ja überhaupt fixierte Zustände sind sie gleichwohl nicht.45 Wie sieht die Alternative zur Vergegenständlichung oder »Verzuständlichung« kultureller Wirklichkeiten aus? Bestimmungen kultureller Wirklichkeiten und die damit verwobenen Selbst- und Weltauffassungen von Personen sind unhintergehbar relational strukturiert.46 Die konstitutiven Relationen zwischen dem Eigenen einerseits, dem »zu bestimmenden« Anderen oder Fremden andererseits, sind dabei keine fixierten Beziehungen in stabilen Strukturen, sondern ausgehandelte oder auch oktroyierte Momente einer mehr oder minder ephemeren Begegnung. Was bei solchen Begegnungen herauskommt, ist prinzipiell nicht das Resultat eines direkten, unverstellten Blicks auf einen »Sachverhalt«, der jenseits der Begegnung liegt. Clifford sagt von den Bildern, die sich Menschen von sich und den anderen machen: »Keine noch so unumschränkt gültige wissenschaftliche Methode oder ethische Haltung kann die Wahrheit solcher Bilder garantieren. Sie werden in spezifischen historischen Herrschafts- und Dialogbeziehungen konstituiert – soviel zumindest hat die Kritik der kolonialen Darstellungsweisen gezeigt.« Und eine Seite vorher schreibt auch er, daß die »menschliche Vielfältigkeit immer weniger als ›in abgegrenzte unabhängige Kulturen eingeschrieben‹« vorgestellt werden könne.47 Kulturpsychologische »Daten« sind, dem Wortsinne zum Trotz, nie etwas einfach »Gegebenes« (von lateinisch dare, »geben«), sondern stets »Fakten« (von lateinisch facere, »machen«), was heißt: etwas »Gemachtes«, in Handlungs-, Interaktions- und Kommunikationszusammenhängen Geschaffenes und im Grunde als Relation zur Geltung Gebrachtes. Kulturelle Wirklichkeiten können nicht anders als im Lichte anderer kultureller Wirklichkeiten bestimmt werden. Definitive Bestimmungen werden dabei nicht erreicht. Die wissenschaftliche Analyse kann stets nur mit vorläufigen, flexiblen Bestimmungen operieren: Gewiß ist die Versuchung groß, »das Relationale, das mit der Unterscheidung von Kulturen ins Blickfeld tritt, je tiefer man in den Hinter45 Vgl. Matthes 1992a u. 1992b. 46 Straub & Shimada 1999. 47 Clifford 1993: 112, 111.

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148 | Jürgen Straub grund von Sicht- und Verstehensweisen von Wirklichkeit und Sinnhaftigkeit eindringt, wieder in Zuständliches, in Kultur« zu verwandeln.48 Es ist wohl sogar so, daß es, zumindest im Rahmen bestimmter Sprachen, beinahe unvermeidlich ist, dieser Versuchung früher oder später zu erliegen. Zumindest »unsere« sprachlichen Beschreibungen kultureller Wirklichkeiten kommen wohl nicht gänzlich ohne ein Vokabular aus, das vorgibt, daß »etwas« dann und dort so und so war oder ist. Matthes selbst macht auf die Tendenzen der meisten indogermanischen Sprachen aufmerksam, Wirklichkeiten zu verräumlichen und zu vergegenständlichen.49 Man stößt hier in der Tat an Grenzen der Sprache und des Denkens. Im Bewußtsein dieser Grenzen kann man sich allerdings dagegen wenden, der besagten Versuchung früher als notwendig zu erliegen. Es braucht weder vergessen noch beiseite geschoben zu werden, daß es sich beim »Gegenstand« kulturpsychologischer Erfahrungs- und Erkenntnisbildung um etwas Relationales handelt, um ein – zumal in wissenschaftlichen Kontexten – diskursiv ausgehandeltes Konstrukt. Die angestellten Überlegungen gelten nicht allein für den Fall, in dem Kulturanalysen und Kulturvergleiche – Matthes spricht von »kulturellen Analysen«, die an Kulturbegegnungen gebunden sind – das eigentliche und eigenständige Forschungsziel darstellen. Sie gelten auch für jenen Fall, in dem der Rekurs auf kulturelle Wirklichkeiten vornehmlich dem Beschreiben, Verstehen und Erklären bestimmter Handlungen dient. Dies ist das zentrale Ziel einer handlungstheoretischen Kulturpsychologie. Der Handlungsbegriff hat dabei paradigmatischen Status. Er steht stellvertretend für eine Fülle von sinn- und bedeutungsstrukturierten Aspekten menschlichen Verhaltens und Erlebens. Viele Vertreter der rezenten Kulturpsychologie stimmen in dem zuletzt skizzierten Punkt überein. Vernachlässigt man Einzelheiten, trifft man immer wieder auf eine radikal handlungs- und sprachbezogene Theorie der Welt und des Selbst von Menschen.50 Sozio-kulturelle und individuelle Wirklichkeiten sind keine unabhängig vom praxischen und sprachlich-imaginativen Handeln bestehende Entitäten, die ontologisch als »Wirklichkeiten an sich« erfaßt werden könnten. Jerome Bruner knüpft unter anderem an Überlegungen von Nelson Goodman, Richard Rorty und Charles Taylor an, um Grundzüge seines konstruktivistischen Ansatzes zu erläutern.51 Auch Boesch begreift sein eigenes Denken als eine Radikalisierung und Fortführung des Piagetschen Konstruktivismus. Er rät, den konstruktivistischen Grundgedanken ernster zu nehmen, als es Piaget selbst tat. Boesch begnügt sich nicht mehr mit Piagets Annahme, daß die für eine Theorie kognitiver Operationen so wichtigen Konzepte des Raumes und der Zeit, des Objektes und der Kausalität Konstrukte sind, zu deren Bildung und Verwendung Individuen in ihrer ontogenetischen Entwicklung allmählich fähig werden. Von dieser Auffassung sei es nur noch ein kleiner, dennoch 48 Matthes 1992b: 4. 49 Matthes 1992b: 5f. 50 Auf diese Position stößt man bekanntlich keineswegs nur in der Handlungs- und Kulturpsychologie, sondern beispielsweise auch in den Kognitionswissenschaften (Varela 1990; vgl. hierzu Straub 1992b). 51 Bruner 1997; vgl. dazu Straub 1992a.

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Was hat die Psychologie bei den Kulturwissenschaften verloren? | 149 höchst wichtiger Schritt zu der Annahme »that reality as a whole is in some ways constructed, too. After all, Piaget’s constructivism ranges from perceptual structures to moral judgements, so why not also from social roles to individual identity?« 52

3. Kulturpsychologische Handlungserklärungen Die hier vorgestellte Kulturpsychologie operiert auf handlungstheoretischer Grundlage. Ernst Boesch, Jerome Bruner, Michael Cole, Lutz Eckensberger, Carl Ratner, Richard Shweder und James Stigler, Jan Valsiner, Hans Werbik und einige andere stimmen darin überein, daß es zu den wichtigsten Aufgaben der Kulturpsychologie gehört, Handlungen – und andere psychologisch relevante, sinn- und bedeutungsstrukturierte Phänomene – zu beschreiben und verstehend zu erklären. Der Kulturbegriff hat offenkundig nicht zuletzt eine explanative Funktion. Was es genauer heißt, Handlungen kulturpsychologisch zu erklären, wird jedoch nur selten geklärt. Wer dies unternimmt, muß sich ins Feld formaler Theorien der Handlungserklärung begeben und verfügbare Alternativen sondieren. Dies gilt im übrigen nicht allein für die Kulturpsychologie, sondern für alle Disziplinen, die vom cultural turn erfaßt sind beziehungsweise diese Wende aus eigener Kraft angestoßen und vollzogen haben. Ich stimme Reckwitz zu, wenn er gerade im erweiterten und geschärften explanativen Instrumentarium einen wesentlichen Gewinn der kulturalistischen Neuorientierung der Geistes- und Sozialwissenschaften erkennt. Ebenso bin ich mit vielen Punkten, die der Autor in seinem evaluativen Rückblick auf die vier Phasen der Erklären-Verstehen-Kontroverse Revue passieren läßt, einverstanden. Was nun allerdings Reckwitz’ eigenen Vorschlag angeht, den traditionellen Modellen der utilitaristischen (teleologischen, intentionalistischen) und der normativen Handlungserklärung ein kulturtheoretisches Modell zur Seite zu stellen, das die beiden herkömmlichen Alternativen an Informationsgehalt und explanativer Kraft in den Schatten stellt – weil es in einzigartiger, nicht reduktiver Weise implizites Hintergrundwissen als Explanans mobilisiert –, sehe ich, von Details abgesehen, ein gravierendes Problem. Durch die Abgrenzung von Reckwitz’ Konzeption läßt sich pointiert darlegen, wie in der von mir vertretenen, handlungstheoretischen Kulturpsychologie Erklärungsaufgaben bestimmt und angegangen werden können. Der Kulturbegriff läßt sich meines Erachtens nur dann für die Theorie (und Praxis) der Handlungserklärung wirklich fruchtbar machen, wenn er differenzierter bestimmt wird, als das bei Reckwitz der Fall ist. Reckwitz bezieht sich in seinen erklärungstheoretischen Überlegungen – und nur um diese geht es mir hier – in einer sehr allgemeinen Weise auf die »Kultur«, um deren explanatives Potential zu plausibilisieren. Kultur erscheint bei ihm stets sehr summarisch als »symbolische Ordnung«, »kognitiv-symbolische Organisation der Wirklichkeit«, als Gesamtheit von »kognitiv-symbolischen Strukturen«, »Sinn- und Deutungsmustern«, »Klassifikationssystemen«, »kollektiven Wissensordnungen, deren Schemata den Akteuren eine Zuschreibung von Bedeutungen ermöglicht«, »Wissensvorräten«, »Bedeutungsrah52 Boesch 1991: 10.

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150 | Jürgen Straub men«, »kulturellen Modellen«, »symbolischen Codes«, »symbolischen Differenzensystemen«, »bedeutungsgenerierenden Regeln«, »Habitusschemata« und dergleichen mehr.53 Dagegen ist im Prinzip nichts einzuwenden. Schwierigkeiten ergeben sich allerdings im Hinblick auf eine formale Theorie der Erklärung beziehungsweise ein schematisches Modell der Handlungserklärung, wie es Reckwitz anstrebt. Dessen »kulturtheoretisches Muster der Handlungserklärung« bleibt weit hinter dem Präzisionsgrad der formaltheoretischen und schematischen Explikation der utilitaristischen und der normativen Handlungserklärung zurück. Im Grunde genommen kann von einem dritten theoretischen Modell nicht gesprochen werden. Der Kulturbegriff ist, solange er nur vage und summarisch bestimmt wird, den in den traditionellen Modellen zentralen Begriffen des Zweckes (Zieles etc.) beziehungsweise der sozialen Norm nicht äquivalent. Es handelt sich demgemäß bei diesen Begriffen nicht um Alternativen, die an ein und dieselbe Stelle in formalen Schemata der Handlungserklärung gesetzt werden könnten. Der bei Reckwitz sehr allgemein und abstrakt »definierte« beziehungsweise mit variierenden Formeln bestimmte Kulturbegriff umfaßt Zwecke und Normen, stellt mithin keine begriffliche Alternative zu diesen dar. Kollektiv verfolgte Zwecke oder kollektiv befolgte Normen sind Bestandteile der – impliziten oder expliziten – »symbolischen Ordnung« (etc.) einer Kultur. Auf die einer kollektiven Praxis impliziten – unter Umständen auch schon »diskursivierten«, expliziten – kollektiven Zwecke oder sozialen Normen kann man Bezug nehmen, während man eine kulturtheoretische Handlungserklärung konstruiert. Daran ändert es nichts, daß die Spezifität und das besondere Potential des kulturtheoretischen Musters der Handlungserklärung darin bestehen mag, daß solche kollektiv verfolgten Zwecke und befolgten Normen auf ein umfassenderes Hintergrundwissen bezogen und dadurch ihrerseits in ihrer kulturellen Sinn- und Bedeutungsstruktur, ihrer »Herkunft« und kulturellen Einbindung verstehend erklärt werden. Sie sind gleichwohl Elemente der symbolischen Ordnung, nicht etwas außerhalb ihr Liegendes – egal, ob man sie zur eher manifesten Oberflächenstruktur oder zur latenten Tiefenstruktur dieser Ordnung zählen muß. Im übrigen kann man auch im Rahmen der utilitaristischen und normativen Modelle der Handlungserklärung überaus informative, gehaltvolle oder »dichte« Erklärungen auftun, wenn man nur berücksichtigt, daß man selbstverständlich auch mit Zwecken oder Normen zweiter, dritter bis n-ter Ordnung operieren kann. Auch auf diese Weise gelangt man jedenfalls an Voraussetzungen, deren Artikulation plausibilisiert, warum Akteure bestimmte – als Explananda formulierte – Zwecke verfolgen oder Normen befolgen. Die spezifischen Grenzen der Reichweite jedes dieser beiden Erklärungsmodelle liegen, das ist richtig, in den Grenzen der zentralen Begriffe »Zweck« und »Norm«. Der Kulturbegriff ist aus den genannten Gründen jedoch keine Alternative, die ein drittes formaltheoretisches Modell der Handlungserklärung begründen könnte. Dies wird noch deutlicher, wenn man berücksichtigt, daß Reckwitz die »traditionellen« sozialwissenschaftlichen Modelle der Handlungserklärung nicht in ihrer möglichen Komplexität wahrnimmt. Diesbezüglich sind zwei Punkte besonders wichtig. Zum einen lassen sich im utilitaristischen (teleologischen, intentionalisti53 Z.B. Reckwitz 2000: 117, 130.

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Was hat die Psychologie bei den Kulturwissenschaften verloren? | 151 schen) Modell anstelle von bewußt verfolgten Zwecken auch unbewußte Motive einsetzen. Bei allen Schwierigkeiten, die man sich dadurch einhandeln mag, betritt man mit diesem Konzept zweifellos Regionen, in denen latente Tiefendimensionen menschlichen Handelns angesiedelt sind. Zum anderen verheddert sich Reckwitz nicht nur in begrifflichen Äquivokationen, wenn er hin und wieder das normengeleitete Handeln einfach als regelmäßiges Verhalten auslegt und auch so bezeichnet54 – und nicht als einen Spezialfall regelgemäßen Handelns –, sondern er verengt das normativistische Erklärungsmodell auch dort, wo er soziale Normen zwar als besondere Regeln begreift, diese aber durchweg als sanktionierte Verhaltens- und Rollenerwartungen in Form regulativer Regeln auffaßt. Es mag Autoren geben, die solche sozialen Normen ins Zentrum rücken oder gar verabsolutieren, wenn sie Handlungserklärungen konstruieren. Von einer generellen Verwendung des Normbegriffs in diesem vergleichsweise undifferenzierten Sinne kann jedoch keine Rede sein (weder in der Soziologie noch sonstwo), und bisweilen ist ganz offenkundig, daß eine »soziale Norm« – wie immer sie begrifflich definiert wird – als spezieller, für die Sozialwissenschaften zweifellos besonders wichtiger Typus von regulativen oder konstitutiven Regeln aufgefaßt wird (im Sinne von John Searles Unterscheidung, auf die sich auch Reckwitz bezieht55). Eines der besten Beispiele liefert Peter Winchs Die Idee der Sozialwissenschaft und ihr Verhältnis zur Philosophie.56 Dieses Buch wird von Reckwitz im Abschnitt über »Das normorientierte Muster der Handlungserklärung« zitiert.57 Winchs Darlegungen bedienen sich vor allem des Begriffs der konstitutiven sozialen Handlungsregel. Hält man sich an Winschs Beitrag, stößt man zweifellos auf mehrere Defizite, zumal 50 Jahre nach Erscheinen des Buches. Dennoch hat man dann einen Leitfaden zur Hand, an dem sich ein differenziertes Modell der Handlungserklärung durch Bezugnahme auf Regeln entwickeln läßt, dem man Leistungen, die Reckwitz allein dem kulturtheoretischen Modell zuschreibt, wohl nicht pauschal absprechen kann. Insbesondere wird dann noch einmal deutlich, daß Reckwitz’ programmatischer Vorschlag einer dritten Alternative sehr viel stärker von den traditionellen Modellen zehrt (und zehren muß), als es zunächst den Anschein hat. Man sieht das gerade auch dann, wenn man sich die Rolle vergegenwärtigt, die regulative und konstitutive Regeln im normorientierten Muster der Handlungserklärung seit langem spielen (können) – einem Modell also, von dem Reckwitz das kulturtheoretische Muster distinkt absetzen möchte. Die Grenzen sowohl des utilitaristischen als auch des normorientierten Modells der Handlungserklärung, auf die Reckwitz zu Recht aufmerksam macht, müssen, wenn ich recht sehe, in anderer Weise, als es der Autor tut, bestimmt und überwunden werden. Die Kultur kommt dabei jedenfalls nicht als eigenständiges Explanans in Betracht, das auf ein und derselben Ebene wie Zwecke oder Regeln beziehungsweise Normen angesiedelt wäre. Das animal symbolicum ist kein Drittes neben dem homo oeconomicus und dem homo sociologicus. Ich habe auf der Grundlage einer typologischen Differenzierung des Hand54 55 56 57

Vgl. etwa das »Regenschirmbeispiel« Reckwitz 2000: 136. Reckwitz 2000: 137. Winch 1966. Dazu Straub 1999a: 115ff. Reckwitz 2000: 123.

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152 | Jürgen Straub lungsbegriffs und der Annahme, daß theoretische Handlungsbegriffe und Modelle der Handlungserklärung interdependent beziehungsweise interdefinierbar sind58, folgende Unterscheidungen vorgeschlagen: Dem Begriff des zielgerichteten oder zweckrationalen Handelns korrespondiert das vor allem von George H. von Wright formalisierte Modell der intentionalistischen Erklärung59; in diesem Modell läßt sich auch der Spezialfall unbewußt motivierter Handlungen unterbringen. Wann immer Handlungen als Akte des Regelfolgens aufzufassen sind, müssen sich Handlungserklärungen auf das von Peter Winch (im Anschluß an Ludwig Wittgensteins Spätphilosophie) ausgearbeitete Modell beziehen, das selbstverständlich sehr viel präziser und differenzierter artikuliert werden kann, als es der Autor einst getan hat. Handlungserklärungen durch Bezugnahme auf soziale Normen können, wie gesagt, als Spezialfall des mit dem Regelbegriff operierenden Modells gelten. Schließlich habe ich Arthur Dantos in geschichtstheoretischen Zusammenhängen entwickeltes Erklärungsmodell als allgemeines Modell der narrativen Handlungserklärung rezipiert, das in einzigartiger Weise zwei Aspekten unserer Praxis gerecht wird, nämlich der Temporalität und der Kreativität des Handelns. Da ich diesen Vorschlag an anderer Stelle sehr ausführlich begründet und entfaltet habe60, kann hier auf jede auch noch so kurze Erläuterung verzichtet werden. Wichtig ist hier allein zu sehen, daß die handlungs- beziehungsweise erklärungstheoretischen Überlegungen, die – an den systematisch entscheidenden Stellen – entweder auf Ziele (Zwecke, Intentionen des Akteurs etc.) oder auf Regeln (speziell soziale Normen) oder aber auf Geschichten (Erzählungen) rekurrieren, um die explanative Kraft typisierbarer und formal schematisierbarer Handlungserklärungen zu plausibilisieren, für die Bestimmung eines explanativen Kulturbegriffs nicht folgenlos bleiben können. Wenn Handlungserklärungen im Rahmen der drei alternativen Modelle erfolgen können, dann können sich auch kulturtheoretische Handlungserklärungen an der formalen Struktur des jeweils in Anspruch genommenen »explanativen Schlusses« orientieren. Kultur ist, sobald sie als Explanans in Betracht kommt, nicht einfach eine »symolische Ordnung« etc., sondern differentiell bestimmbar als ein handlungsrelevantes, transindividuelles Wissens-, Zeichen- oder Symbolsystem, das sich zusammensetzt aus – –



kollektiven Zielen, die Individuen situationsspezifisch konkretisieren und als Akteure übernehmen und verfolgen können; kulturspezifischen Handlungsregeln; dazu gehören sprachliche Regeln aller Art, außerdem – wie gesagt – auch soziale Normen (die wiederum in Aufforderungsbzw. Bewertungsnormen oder Werte differenziert werden können); einem kulturspezifischen Reservoir an Geschichten, durch die die Angehörigen einer Kultur ihre Identität, ihr kollektives und individuelles Selbst- und Weltverständnis bilden, artikulieren und tradieren, und dies so, daß nicht zuletzt der zeitlichen und kreativen Dimension der Praxis Rechnung getragen wird.

58 Vgl. a. Straub 1999b. 59 Wright 1974. 60 Straub 1999a: 56-162.

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Was hat die Psychologie bei den Kulturwissenschaften verloren? | 153 Diese Ziele, Regeln, Normen und Werte sowie die Geschichten, die in einer Kultur »kursieren« und das Handeln bestimmen, müssen keineswegs eine sprachsymbolische oder diskursive Gestalt besitzen. Sie sind dem Handeln häufig implizit und allenfalls in der Form von Spuren oder Anzeichen präsent. Ebenso können sie in nicht-sprachlichen Symbolen verkörpert sein. Symbole verweisen auf kulturelle Sinnund Bedeutungssysteme. Auch sie können als Anzeichen von etwas oder als eine Spur, deren Verfolgung zu kulturellen Überlieferungs-, Sinn- und Bedeutungszusammenhängen führt, aufgefaßt werden. An den besagten Anzeichen oder Spuren setzt die kulturpsychologische Handlungsinterpretation an, wenn sie Handlungen in bestimmter Weise identifiziert, versteht und erklärt, indem sie »kulturelle Texte« auch über die Schultern der Handelnden hinweg zu lesen versucht und mit deren konkreten Handlungen in Zusammenhang bringt. Wie all das genau vor sich geht, ist nicht mehr Gegenstand dieses Aufsatzes. Wer eine Antwort auf diese vielschichtige Frage will, darf nicht nur in Methodenlehrbücher schauen, sondern muß auch interpretationstheoretische Überlegungen anstellen. In diesem Feld werden die ersten Weichen gestellt, die Interpreten Möglichkeitsräume eröffnen oder verschließen.61 Festzuhalten ist, daß die Psychologie durchaus in einem anspruchsvollen Sinne als Kulturwissenschaft aufgefaßt und betrieben werden kann: als eine Disziplin, die es nicht nur mit Kultur(en) und deren Relevanz für menschliches Verhalten und Erleben zu tun hat, sondern die sich dabei auch auf wissenschaftsphilosophische, (meta-)theoretische und methodologische Prämissen stützt, welche ihre Forschungspraxis in enge verwandtschaftliche Nähe zu einigen kulturwissenschaftlich orientierten Nachbarn rücken. Auch die zeitgenössische Kulturpsychologie ist eine Disziplin, die ohne den einflußreichen cultural turn kaum das Licht der wissenschaftlichen Welt erblickt hätte.

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61 Vgl. hierzu Straub 1999a: 201-326.

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Was hat die Psychologie bei den Kulturwissenschaften verloren? | 155 um Ressourcen, demonstriert am Beispiel der Psychologie. In: Handlung, Kultur, Interpretation. Zeitschrift für Sozial- und Kulturwissenschaften. Im Druck. Lonner, Walter J. & Roy S. Malpass, 1994: Psychology and culture. Boston. Matthes, Joachim, 1992a: The operation called »Vergleichen«. In: Joachim Matthes (Hg.): Zwischen den Kulturen? Die Sozialwissenschaften vor dem Problem des Kulturvergleichs. Göttingen. (Soziale Welt. Sonderband 8). S. 75-102. – 1992b: Einleitung. In: Joachim Matthes (Hg.): Zwischen den Kulturen? Die Sozialwissenschaften vor dem Problem des Kulturvergleichs. Göttingen. (Soziale Welt. Sonderband 8). S. 3-9. Pike, Kenneth L., 1954: Emic and etic standpoints for the description of behavior. In: Kenneth L. Pike (Hg.): Language in relation to a unified theory of the structure of human behavior. Glendale. S. 8-28. Reckwitz, Andreas, 2000: Die Transformation der Kulturtheorien: zur Entwicklung eines Theorieprogramms. Weilerswist. Segall, Marshall H. et al., 1998: Cross-cultural psychology as a scholarly discipline. On the flowering of culture in behavioral research. In: American Psychologist 53: 1101-1110. Stigler, James W. et al. (Hg.), 1990 : Cultural psychology: essays on comparative human development. Cambridge. Soeffner, Hans-Georg, 1988: Kulturmythos und kulturelle Realität(en). In: Hans-Georg Soeffner (Hg.): Kultur und Alltag. Göttingen. (Soziale Welt. Sonderband 6). S. 3-21. Straub, Jürgen, 1992a: Die kognitive Wende und die Zukunft einer interpretativen Handlungs- und Kulturpsychologie. In: Sozialwissenschaftliche Literatur-Rundschau 14: 70-74. – 1992b: Kognitionswissenschaft. Von der Information zu Sprache und Praxis. In: Handlung, Kultur, Interpretation. Zeitschrift für Sozial- und Kulturwissenschaften 1: 72-78. – 1999a: Handlung, Interpretation, Kritik: Grundzüge einer textwissenschaftlichen Handlungs- und Kulturpsychologie. Berlin. – 1999b: Handlungsbegriff und Handlungserklärung – typologische Unterscheidungen unter besonderer Berücksichtigung des narrativen Modells. In: Jürgen Straub & Hans Werbik (Hg.): Handlungstheorie: Begriff und Erklärung des Handelns im interdisziplinären Diskurs. Frankfurt am Main. S. 261-283. – 2001: Psychologie und Kultur, Psychologie als Kulturwissenschaft. In: Heide Appelsmeyer & Elfriede Billmann-Mahecha (Hg.): Kulturwissenschaft: Felder einer prozeßorientierten wissenschaftlichen Praxis. Weilerswist. S. 125-167. Straub, Jürgen & Shingo Shimada, 1999: Relationale Hermeneutik im Kontext interkulturellen Verstehens. Probleme universalistischer Begriffsbildung in den Sozial- und Kulturwissenschaften – erörtert am Beispiel »Religion«. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 47: 449-477. Thomas, Alexander (Hg.), 1993: Kulturvergleichende Psychologie: eine Einführung. Göttingen. – (Hg.), 1996: Psychologie interkulturellen Handelns. Göttingen. – (Hg.), 22002: Kulturvergleichende Psychologie: ein Lehrbuch. Göttingen.

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156 | Jürgen Straub Triandis, Harry C., 1980: Introduction. In: Harry C. Triandis & William W. Lambert (Hg.): Handbook of cross-cultural psychology. Bd. 1: Perspectives. Boston. S. 114. Valsiner, Jaan, 1989: Human development and culture. Toronto. Varela, Francisco, 1990: Kognitionswissenschaft – Kognitionstechnik: eine Skizze aktueller Perspektiven. Frankfurt am Main. Weidemann, Doris & Jürgen Straub, 2000: Kulturpsychologie und interkulturelles Handeln. In: Jürgen Straub et al. (Hg.): Psychologie in der Praxis: Anwendungsund Berufsfelder einer modernen Wissenschaft. München. S. 830-855. Winch, Peter, 1966 (11958): Die Idee der Sozialwissenschaft und ihr Verhältnis zur Philosophie. Frankfurt am Main. Wright, Georg H. von, 1974 [11971]: Erklären und Verstehen. Frankfurt am Main.

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Pädagogik und Kultur | 157

Pädagogik und Kultur. Erziehungswissenschaft als Kulturwissenschaft Alfred K. Treml

1. Pädagogik Pädagogisches Nachdenken über Probleme der Erziehung und des Unterrichts ist schon sehr alt. Erste deutliche Spuren lassen sich seit dem Augenblick entdecken, da es ein Medium der Überlieferung gibt. Mit der Erfindung der Schrift im alten Ägypten und Mesopotamien vor etwa 5.000 Jahren wurde nicht nur pädagogisches Handeln eigenständig und von den übrigen Tätigkeiten deutlich abgrenzbar (denn die komplizierte Schrift ließ sich früher oder später nicht mehr alleine durch Teilnahme am alltäglichen Leben der Schreiber erlernen), sondern auch das Nachdenken darüber schriftlich fixiert und damit überlieferbar. Aus dem Nebel längst vergangener Zeiten ragt aus der 1. Dynastie des alten Ägyptens schemenhaft die Gestalt des großen Imhotep heraus, der nicht nur Architekt und Bauherr der großen Stufenpyramide unter Pharao Djoser, sondern auch Architekt und Bauherr des ersten großen pädagogischen Systems des alten Ägyptens war.1 Schon diese erste Spur des systematischen Nachdenkens über Pädagogik macht ihre enge Verwobenheit mit Kultur deutlich – sofern wir ganz alltagssprachlich das alte Ägypten mit seinen Pyramiden als steingewordenen Zeugen einer Kultur – ja einer (frühen) Hochkultur bezeichnen. Pädagogik scheint in zeitlicher Hinsicht dann zu beginnen, wenn ein Medium – die Schrift – das Nachdenken über Erziehung und Unterricht anregt und dieses Nachdenken zu überliefern erlaubt. Allerdings darf man in diesem Zusammenhang nicht übersehen, daß hierbei möglicherweise – ja wahrscheinlich – die Form der Überlieferung den Blick auf die Überlieferung selbst begrenzt, so daß wir deshalb nicht in den Fehler verfallen dürfen, den Beginn der Pädagogik mit dem Beginn ihrer Überlieferung gleichzusetzen. Schon lange bevor es die Schrift gab, ist die neue nachwachsende Generation erzogen worden, und es ist deshalb naheliegend zu vermuten, daß – spätestens bei Störungen, bei Problemen der Erziehung – das Nachdenken und Kommunizieren darüber einsetzte. Nicht erst mit der Erfindung der Schrift – als einer ausgezeichneten hochkulturellen Leistung –, sondern wohl mit der evolutionären Entwicklung der menschlichen Sprache dürfte pädagogisches Denken und Kommunizieren eingesetzt und sich entwickelt haben. Nur die Erinnerung daran ist uns verlorengegangen, weil es noch keine Schrift gab, die das Wissen darüber auf Dauer zu stellen erlaubte. So verliert sich die Spur der Erinnerung an den Beginn von Erziehung in der Frühzeit der menschlichen Kulturentwicklung. Wir erinnern uns ihrer nur über das Medium ihrer verschriftlichten Überlieferung. Dort, wo es keine schriftlichen Überlieferungen gibt, erinnern wir uns ihrer immer nur sehr selektiv. Noch heute können wir deshalb in pädagogischen Fachbüchern die – falsche, aber gleichwohl zähe und nicht ausrottbare – Meinung lesen, daß Pädagogik mit den alten Griechen begonnen 1 Vgl. Brunner 1957.

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158 | Alfred K. Treml habe; deshalb beginnt fast jede »Historische Pädagogik« mit der Antike. Man verwechselt hier jedoch ganz offenbar – in der Spur der humanistischen und neuhumanistischen Wiederentdeckung der Antike – das Wort mit der Sache. Wenngleich auch unsere Begrifflichkeit – etwa der Begriff »Pädagogik« – aus der griechischen antiken Tradition stammt, ist die Sache selbst doch schon viel älter. Aber immer noch wird der platonische Sokrates als Stammvater der Pädagogik verehrt – bemerkenswerterweise von Berufs wegen auch ein Handwerker, ein Bildhauer.

2. Erziehungswissenschaft Über viele Jahrhunderte hindurch war dann Pädagogik keine Sache von Handwerkern mehr, sondern eine Nebentätigkeit von Theologen (wie z.B. Augustinus, Melanchthon, Comenius oder Schleiermacher), Philosophen (wie z.B. Platon, Kant, Herbart und Dilthey) oder dilettierenden Schriftstellern (wie z.B. Rousseau, Pestalozzi und Steiner). Wenn man einmal vom ersten pädagogisch(philosophischen) Lehrstuhl absieht, den Ernst Christian Trapp gerade einmal drei Jahre von 1779-82 in Halle innehatte, ist Pädagogik im deutschen Sprachraum als eigenständige institutionalisierte Wissenschaft eine recht junge Disziplin, die praktisch erst im 20. Jahrhundert erblühen und sich stabilisieren konnte. Nur auf den ersten Blick scheinen sich ihre Aufgaben, Erkenntnisziele, spezifischen Forschungsfelder und thematischen Schwerpunkte auf Erziehung zu fokussieren. Ein flüchtiger Blick auf die im letzten Jahrhundert schnell angeschwollene Fachliteratur verwirrt zunehmend. Nicht nur, daß eine Vielzahl vager, unklarer Grundbegriffe gebraucht wird (»Erziehung«, »Bildung«, »Ausbildung«, »Unterricht«, »Sozialisation« usw.) und sehr unterschiedliche theoretische Ansätze mit unterschiedlichen Methoden sich im Dauerstreit zu befinden pflegen, auch über das grundlegende Erkenntnisziel herrscht keine Einigkeit. Eine Befragung pädagogischer Hochschullehrer ergab, daß die meisten Pädagogik als eine »praktische Wissenschaft« ansehen, der es primär um die Verbesserung der pädagogischen Praxis gehe. 83 % der hauptamtlichen Professoren neigen dazu, in dieser Weise ihre wissenschaftliche Arbeit zu interpretieren.2 Nur 17 % verstehen sich als Erziehungswissenschaftler im engeren Sinne, also um theoriegeleitete, wissenschaftliche Beobachter des Erziehungsphänomens. Es ist sicher kein Zufall, daß zwei andere Daten ganz ähnlich differieren, so daß man von einem Spiegelungseffekt des gleichen Phänomens ausgehen kann: Etwa 15 % aller pädagogischen Hochschullehrer (also etwa zwölf Dutzend) publizieren ebensoviel wie alle übrigen Pädagogik-Professoren zusammen.3 Vermutlich publizieren vor allem jene wenigen pädagogischen Hochschullehrer, die sich als Erziehungswissenschaftler verstehen und ihre primäre Aufgabe wohl in der Forschung sehen (etwa 15-17 % der Gesamtpopulation), während die Mehrheit (etwa 83-85 %)

2 Vgl. Baumert & Roeder 1990: 112. 3 Baumert & Roeder 1990: 77.

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Pädagogik und Kultur | 159 der Pädagogik-Professoren sich als praktische Pädagogen versteht, sich primär in der Lehre engagiert und deshalb kaum beziehungsweise nur sehr wenig veröffentlicht. Wir haben es also bei den Pädagogik-Professoren in der Lehre mehrheitlich mit »Pädagogen« zu tun – eine Mischung von Schriftgelehrten, Bildungspolitikern und pädagogischen Wanderpredigern, die in erster Linie eine die Praxis gestaltende, ermutigende und normative Pädagogik vertreten. Dagegen dominiert in der Forschung eine kleine Zahl von Pädagogik-Professoren, die sich als »Erziehungswissenschaftler« verstehen, theoriegeleitete Forschung betreiben und/oder viel publizieren. Geht es den Erstgenannten vor allem um eine normative, idealistische Ermutigung pädagogischer Praxis, überwiegt bei den Letztgenannten eine beschreibende, erklärende beziehungsweise deskriptiv-analytische Vorgehensweise – der, weil sie häufig zu einer Aufklärung über latente Illusionen führt, eine entmutigende Wirkung nachgesagt wird.4

3. Pädagogik als kulturelle Emendation Die Dominanz eines Pädagogikverständnisses als Praxiswissenschaft hat eine lange Tradition. Nicht umsonst waren die beiden schon genannten großen Pädagogen, nämlich Imhotep und Sokrates, praktische Handwerker. Die Umgestaltung einer äußeren Natur qua Handwerker korrespondiert analog der Umgestaltung der inneren Natur qua Pädagoge. Geht es das eine Mal um die Überschreitung eines äußeren Naturzustandes mit Hilfe der Technik, so geht es das andere Mal um die Überschreitung eines inneren Naturzustandes mit Hilfe der Pädagogik – und damit beide Male um Kultivierung der Natur. In der Sache ist Pädagogik also eng auf Kultur bezogen – und das schon lange, bevor der Kulturbegriff (im 18. Jh.) absolut gesetzt wurde.5 Wenn Kultur als Gegenbegriff zur Natur deren Pflege, Verbesserung und Überschreitung meint, dann ist Pädagogik von Anfang an dabei. Pädagogik ist in dieser Traditionslinie Pflege, Veränderung und Verbesserung der inneren Natur des Menschen – und insofern Kultur. Kultur ist in diesem Sinne die Transzendierung der Natur durch menschliches Einwirken und Pädagogik jener Teil davon, der sich auf die Kultivierung des natürlichen, tierlichen Teils des Menschen bezieht. Wir finden dieses alte Verständnis von Kultur und Pädagogik schon in Texten des alten Ägypten. In einem Anemenope (vermutlich 22. Dynastie, ca. 950-730 v. Chr.) zugeschriebenen Text heißt es z.B.: »Der Heiße im Tempel, er ist wie ein Baum, der im Freien (d.h. wild) wächst. In einem Augenblick verliert er seine Blätter, Und er findet sein Ende in der Schiffswerft; Oder er wird weithin von seinem Platze geflößt Und die Flamme ist sein Leichentuch.

4 Vgl. Flitner 1991. 5 Perpeet 1976: Sp. 1309.

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160 | Alfred K. Treml Aber der Rechte Schweiger hält sich ferne davon. Er ist wie ein Baum, der im Garten wächst; Er gedeiht und verdoppelt seine Frucht; Er steht vor seinem Herrn, Seine Frucht ist süß, sein Schatten angenehm, Und sein (natürliches) Ende erreicht er im Garten.«6

Deutlich wird hier die Gartenmetaphorik, in der unser heutiger Kulturbegriff aufgehoben ist, auch wenn er damals noch keinesfalls verwendet wurde. In der binären Unterscheidung vom »Heißen« einerseits und dem »Rechten Schweiger« andererseits schimmert die dahinterstehende Unterscheidung von Natur und Kultur als pädagogisches Leitbild durch. Auch in unserer eigenen christlich-jüdischen Tradition findet sich dieses Bild, etwa im Mythos vom Garten Eden, in den Gott den Menschen setzte, damit er ihn »bebaue und bewahre«.7 Wenn dann in Jesaja 58, 11 Gott, der Herr, den ihm gefälligen Menschen nicht nur als »geführt«, sondern auch als »gewässerten Garten« bezeichnet, wird der pädagogische Bezug einer solchen »Kultur« deutlich. Der Mensch ist wie ein Garten in der Wüste (der übrigen Natur), der durch die »Pädagogie Gottes« kultiviert wird. Hier, in dieser Gartenmetaphorik, sind wir einem Pädagogikverständnis am nächsten, das Pädagogik als Teil einer Kultur begreift, die sich als dynamischer Prozeß der Kompensation und Emendation (Verbesserung) eines zunächst natürlichen Zustandes vollzieht. Hier kommt in der Sache, nicht im Begriff, in der pädagogischen Tradition ein Kulturbegriff zum Ausdruck, der sich eng an seine etymologische Bedeutung hält: »colere« = »pflügen«, »bebauen« beziehungsweise »cultura« = »Ackerbau«. Die Natur (des Menschen) wird hier nicht belassen wie sie ist, geschweige denn als (edukatives) Vorbild gebraucht, sondern erscheint als das durch aktives Eingreifen zu Überwindende. »Die Erhebung des Menschen über den Naturzustand, die Kultur«8 wird über Erziehung und nur über Erziehung bewerkstelligt. Die Natur ist hierbei wohl die unhintergehbare Voraussetzung für das pädagogische Handeln, aber sie ist gleichzeitig dasjenige, was es zu »pflegen«, zu »beackern«, kurz: zu »kultivieren« gilt, um den Menschen aus seinem rohen (pflanzlichen oder tierlichen) Zustand zu befreien. Im übertragenen Sinne von »cultura animi« wird dann in der römischen Antike, insbesondere in der Stoa, die Pflege des Geistes in diesem Sinne als Kultivierung der menschlichen Natur zur pädagogischen Aufgabe.9 Ein letztes Beispiel für diese einflußreiche, ja dominierende Figur des Denkens in der pädagogischen Ideengeschichte ist Kant, der in seiner Vorlesung über Pädagogik einen Stufengang der (moralischen) Erziehung offeriert, der mit der Disziplinierung (qua »Bezähmung der Wildheit«) beginnt, der Kultivierung (qua Vermittlung einer zu allen beliebigen Zwecken zureichenden Geschichtlichkeit) und der Zivili6 7 8 9

Nach Brunner 1957: 182. 1. Mose 2: 15. Scherer 1907: 1. Vgl. Ballauf 1969; Perpeet 1976.

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Pädagogik und Kultur | 161 sierung (qua Vermittlung von Manieren, Artigkeit und Klugheit) fortschreitet und schließlich in der Moralisierung mündet, die alleine erst dazu befähigt, selbst »lauter gute Zwecke« zu erwählen.10 Obwohl die kantische Anthropologie von einem tief gespaltenen Menschenbild ausgeht, das zwischen dem empirischen und dem transzendenten Subjekt rigide unterscheidet, legt er seine Pädagogik doch so an, daß die zu leistende »Vervollkommnung der Menschheit« – und das ist es dann, was »Kultur« im weitesten Sinne heißt – in der Natur des Menschen als Keim angelegt ist und durch Erziehung nur entfaltet zu werden braucht, so daß Kant die Kultur in diesem Sinne als letzten Zweck der Natur betiteln kann und der Erziehung die vornehme Aufgabe zuweist, genau dies zu leisten: »Es ist entzückend, sich vorzustellen, daß die menschliche Natur immer besser durch Erziehung werde entwickelt werden, und daß man diese in eine Form bringen kann, die der Menschheit angemessen ist. Dies eröffnet uns den Prospekt zu einem künftigen glücklichern Menschengeschlechte.«11

4. Pädagogische Kulturkritik Diesem pädagogischen Optimismus ganz entgegengesetzt ist nun ein Motiv in der pädagogischen Ideengeschichte, das eine gleichfalls lang anhaltende große Resonanz erzeugen konnte. Ich vermute, daß man dieses kulturkritische Motiv von Anfang an dem kulturoptimistischen Motiv gleichberechtigt zur Seite stellen muß. Man sollte sich zunächst vergegenwärtigen, daß in der antiken und mittelalterlichen Pädagogik Kultur (in unserem heutigen Verständnis) kein Thema war. Die pädagogische Kommunikation kreiste um die Gegenüberstellung von: Abbild – Urbild, Wesen – Erscheinung, Gott – Mensch, Natur – Gnade und andere.12 Veränderungen kamen, wenn überhaupt, häufig in Form von Wiederbeschwörung des Alten daher. Auch die Neuzeit beginnt mit dem Appell: Zurück zu den Wurzeln! Zurück zum Alten! Reformation, Renaissance, Humanismus und dann später der Neuhumanismus waren auch in der Pädagogik zunächst einer regressiven Bewegung inhärent. Ja schon die frühe Stoa verstand sich als kulturkritische »Wieder-Holung« der alten sokratischen Paideia (»Erziehung«, »Unterricht«). Die neue Form kam durch das Bestreben, das Alte wiederherzustellen, es in seine ursprüngliche Reinheit zurückzuversetzen; es wurde schließlich mehr oder weniger zufälliges Nebenprodukt einer sozialen Evolution, die nicht mehr nach der ursprünglichen Intention zu fragen pflegt.13 Die dabei zugrundeliegende Geschichtsmetaphysik begreift Geschichte als Abfallsgeschichte und versteht pädagogisches Handeln bestenfalls als eine Methode, diesen Verfall aufzuhalten beziehungsweise ihn hinauszuzögern. Als kritisches Motiv gegen die Korruptheit der Welt konnte man dabei natürlich nicht auf einen wie auch immer gearteten Kulturbegriff zurückgreifen, denn genau diese Kultur wurde ja als korrupt, als defizitär und verkommen interpretiert. Kulturkritik ist aber immer, 10 11 12 13

Kant 1981: 706 f. Kant 1981: 700. Vgl. Ballauff 1969. Vgl. Treml 2000.

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162 | Alfred K. Treml wenngleich auch meist unbegriffen, selbst ein Teil der Kultur, muß sich aber genau diese Einsicht verbieten und Zuflucht zu einem anderen basalen Grundbegriff nehmen, der die Opposition zur Kultur auch sprachlich tiefgründend zum Ausdruck bringt. Das war über Jahrtausende hinweg der Begriff der Natur (griech. physis). Der kommunikative Rückgriff auf die Natur, der spätestens mit den Stoikern ein durchgehendes und dominantes Motiv wird, bekam auch in der pädagogischen Kommunikation einen kritischen Impetus und das auch und gerade dort, wo er ein durch und durch konservativer war. Er wurde zum Ausdruck eines allgemeinen Unbehagens an der Kultur, die entweder als verkrustet oder korrupt, zumindest aber als fehlgeleitet und defizitär angesehen und bekämpft wurde. Wir finden dieses kulturkritische Motiv in allen sogenannten »reformpädagogischen Bewegungen« vor, und je nachdem, wie die »Form« beschrieben wird, auf die man wieder zurückgehen (»reformieren«) sollte, erhalten wir eine theologische (Luther, Comenius) oder eine säkulare Pädagogik (Stoa, Rousseau und die deutsche Reformpädagogik zu Beginn des 20. Jh.s). Weil über viele Jahrhunderte hinweg die Kultur, gegen die man polemisierte, eine christliche war, richtete sich die pädagogische Kulturkritik – vor allem am Übergang zum modernen Denken – gegen die religiöse Überwältigung. Ein schönes Beispiel für eine solche kulturkritische Argumentation auf der Basis der klassischen Gegenbegrifflichkeit von »Natur« und »Gnade« im edukativen Kontext können wir in Karl Philipp Moritz’ berühmtem autobiografischem Roman »Anton Reiser« finden. Es ist hier die Natur, die »alles heilet« und nicht mehr die göttliche »Gnade«, die die Wendung zum Guten bringt: »So war Anton nun in seinem dreizehnten Jahre, durch die besondere Führung, die ihm die göttliche Gnade, durch ihre auserwählten Werkzeuge hatte angedeihen lassen, ein völliger Hypochondrist geworden, von dem man im eigentlichen Verstande sagen konnte, daß er in jedem Augenblick lebend starb […]. Aber der Frühling kam wieder heran, und die Natur, die alles heilet, fing auch hier allmählich an, wiedergutzumachen, was die Gnade verdorben hatte.«14 Dieses Zurück-zur-Natur sollte für die neuzeitliche Pädagogik vor allem mit dem Namen »Rousseau« verbunden sein. Der kulturkritische Moment einer »natürlichen Pädagogik« wird programmatisch gleich im ersten Satz seines »Emile oder Über die Erziehung« entfaltet: »Alles, was aus den Händen des Schöpfers kommt, ist gut; alles entartet unter den Händen des Menschen.«15 Das Ziel der Pädagogik wird nun nicht mehr die Kultur, sondern »die Natur selbst«16 sein, und als Mittel kommt nur noch eine verhütende, »negative Erziehung« in Frage.

5. »Kultur« als theorietechnische Funktion Rousseau sollte mit einer beeindruckenden Rhetorik die jeder Kulturkritik immanente und unvermeidbare Paradoxie geradezu auf die Spitze treiben. Jede Kulturkri14 Moritz 1972: 90. 15 Rousseau 1963: 107. 16 Rousseau 1963: 110.

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Pädagogik und Kultur | 163 tik ist schließlich selbst ein Teil dessen, was sie kritisiert, und jede Verbesserung, auch jede Verbesserung durch pädagogisches Handeln, vollzieht sich als Kultur, und jeder Rückgang auf die Natur ereignet sich als Kulturleistung. Schon eine kulturfreie Bestimmung dessen, was wir als Natur bezeichnen, ist nicht möglich. Umgekehrt kann man sich aber auch eine Kultur nicht ohne natürliche Grundlage vorstellen, so daß man ebenfalls sagen kann: Eine naturfreie Bestimmung von Kultur ist (ebenfalls) nicht möglich. So besitzt die Differenz von Natur und Kultur (die sprachlich erst ein Produkt des 18. Jh.s ist) vor allem eine theorietechnische Funktion für eine darauf anschließende spezifische Kommunikation. Sie sollte Erstarrung vermeiden, nachdem die traditionellen religiösen Codes ihre kontingenzregulierende Funktion in dem Augenblick zu verlieren begannen, da andere Kulturen in den Blick traten und als Reaktion darauf man sich der eigenen Kultur durch Kommunikation versichern mußte. Das führte schließlich im 18. Jahrhundert zum Begriff der »Kultur« und einer daran anschließenden fruchtbaren kulturphilosophischen Debatte.17 Man kann (oder muß) sie als Reaktion auf den zunehmenden Vergleichshorizont (in räumlicher und zeitlicher Hinsicht) sehen.18 Nachdem man zunächst auf diese neue Situation mit einer deutlich erkennbaren, aus heutiger Sicht aber sehr naiven, eurozentrischen und evolutionistischen Akzentuierung der Debatte reagierte, dürfte inzwischen die eigentlich wichtige theorietechnische Funktion der dabei benützten binären Schematisierung (von »Natur« versus »Kultur«) deutlich geworden sein. Man hat dadurch die Option, einmal den Akzent mehr auf der einen oder aber auf der anderen Seite zu setzen – und damit die jeweils andere kritisch zu beobachten. Man kann also den Akzent auf Verbesserung, Höherentwicklung, Vervollkommnung, Perfektibilität, Emendation der Natur (des Menschen) setzen und damit Pädagogik positiv als eine fördernde, kulturerhaltende und -schaffende Aufgabe begründen. Oder man kann den Akzent auf die Natur setzen und aus dieser Perspektive Kultur kritisieren und die praktische Pädagogik als unnatürlich denunzieren, an deren Stelle eine »natürliche Erziehung« treten müsse und damit Pädagogik als negative, prohibitive beziehungsweise hemmende oder verhindernde Leistung begreifen (»negative Erziehung«). Man wird dann eine idealistische »Kulturpädagogik« oder eine normative »Interkulturelle Pädagogik« erhalten oder versuchen, die empirischen Forschungen der modernen Biologie (etwa der Soziobiologie, der Evolutionsforschung, der Hirnforschung und der Genetik) für die Pädagogik fruchtbar zu machen. Wie auch immer, ob pädagogisches Handeln positiv als Transzendierung der Natur des Menschen oder negativ als Rekonstruktion seiner natürlichen Grundlagen interpretiert wird, beide Male wird Pädagogik, als Mittel, den angestrebten Zweck zu erreichen, aufgewertet. Kein Wunder also, daß die Pädagogik in der Moderne zunehmend an Bedeutung gewinnt; für den modernen Menschen gilt jetzt: »Der

17 Vgl. Luhmann 1995. 18 Beispiel: die 1. Koran-Übersetzung ins Lateinische erfolgte erst 1698 (Padua), ins Deutsche 1772 (Frankfurt am Main).

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164 | Alfred K. Treml Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht.«19 Unterhalb dieses Funktionsgewinns der modernen Pädagogik ergibt es keinen Sinn, nach der Wahrheit der beiden Optionen zu fragen. Ob eine auf den Naturprozeß bezogene Vorstellung einer Kulturkritik oder ein von der Vernunft bestimmter Kulturprozeß der Naturvervollkommnung »wahrer« oder »angemessener« ist, kann man deshalb nicht sagen, weil wir weder eine kulturfreie noch eine naturfreie »dritte« Beobachtungsperspektive haben, die (quasi aus der Gottesperspektive) diese Frage wertfrei zu entscheiden erlaubt. Wenn man dies weiß, kann man allerdings mit beiden Optionen spielen und es der sozialen Evolution selbst überlassen, welche nun einen Selektionsvorteil erbringt. Aus dieser Sicht läßt sich die anfänglich gemachte Unterscheidung von Pädagogik und Erziehungswissenschaft noch einmal fruchtbar machen. Pädagogik tendiert dazu, eine der beiden Optionen zu ergreifen und sie appellativ zu vertreten. Das mag für eine kommunikative Evolution wichtig sein, die durch (semantische) Kontrastverstärkungen propelliert wird. Erziehungswissenschaft dagegen vermag gerade dies zu beobachten und transparent zu machen und damit weitere Anschlußoptionen zu eröffnen. Dadurch können möglicherweise nicht nur die Folgen der Kulturkämpfe beziehungsweise »hermeneutischen Bürgerkriege« (Odo Marquard) gemildert, sondern auch begriffliche Distinktionen offeriert werden, die die weitere Kommunikation zu strukturieren und zu erleichtern vermögen.

6. Pädagogik und Kultur Einer der in diesem Zusammenhang wichtigsten Begriffe ist sicher der der »Enkulturation«. Meistens wird er einfach als Überbegriff für jede auf die Vermittlung kulturspezifischer Kompetenzen bezogene Erziehung verwendet.20 Gelegentlich wird, wie etwa bei Talcott Parsons, der Sozialisationsbegriff dafür verwendet – im Sinne von: Adaption des psychischen Systems an die Kultur (qua soziales System) durch Lernen. Man kann den Begriff der Enkulturation etwas präzisieren, wenn man ihn auf die pädagogische Vermittlung von Kompetenzen der Anschlußfähigkeit an die Wissensbestände einer Kultur bezieht. Wenn man den Begriff so definiert, treten dann die kulturspezifischen Unterschiede in das Blickfeld, wenn man Kulturen von außen miteinander vergleicht. Dann werden auch die kulturanthropologischen Forschungsergebnisse für eine Pädagogik interessant, die sich inzwischen zur »Ethnopädagogik« stilisiert hat.21 Hier geht es im engeren Sinne um die Beschreibung und Erforschung von Erziehung (Sozialisation, Unterricht, Bildung) in traditionalen Gesellschaften, also in segmentär differenzierten »Stammeskulturen«, im weiteren Sinne aber auch um Erziehung im Schnittpunkt harter kultureller, ethnischer Differenzen. 19 Kant 1981: 699. 20 Vgl. Weber 1999: 198 ff. 21 Vgl. Müller & Treml 1996; Rothe 1984.

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Pädagogik und Kultur | 165 Früher oder später wird man, wenn man diese Unterschiede betrachtet, auf eine in kulturanthropologischen Kontexten gebräuchliche Unterscheidung der beiden Kulturen stoßen, nämlich auf die von »Alltagskultur« und »Hochkultur«, denn der Vergleich generiert erst »Kultur« als Kommunikationstopos. Als Unterscheidungskriterium liegt hierbei sogar eine pädagogische Distinktion nahe: Wir bezeichnen dasjenige als »Alltagskultur«, was in Form von »funktionaler Erziehung«, und das als »Hochkultur«, was in Form von »intentionaler Erziehung« gelernt wird. Die Vermittlung von Sprache und Gewohnheiten, Sitten und Gebräuchen verläuft inmitten einer distanzlos getätigten Lebenspraxis gewöhnlich als Nebenfolge (Funktion) einer alltäglichen Tätigkeit ohne zusätzlichen pädagogischen Aufwand. Das ist das, was wir als »funktionale Erziehung« bezeichnen können und eine Enkulturation in eine basale Kultur – gewissermaßen eine »erste Kultur« – leistet, die gelegentlich, weil sie ebenso latent und zäh prägend ist, als »zweite Natur« bezeichnet wird. Dagegen vermögen wir hochkulturelle Leistungen (wie etwa Lesen, Schreiben, Musizieren, Komponieren, Rechnen, Konstruieren usw.) in der Regel nur mit Hilfe einer aufwendigen, ausdifferenzierten Lehre zu lernen. Dieser aber liegt schließlich der Begriff der intentionalen Erziehung zugrunde. Diese »zweite Kultur«, die im Gegensatz zur »ersten Kultur« immer kontingent ist, vermag nur über eine aufwendige absichtliche Erziehung vermittelt und weiterentwickelt zu werden. Dort, wo diese intentionale Erziehung als Enkulturation systematisch reflektiert und kommuniziert wird, kann sie als »Kulturpädagogik« bezeichnet und traditionsbildend werden, wie dies etwa bei Theodor Litt und Eduard Spranger in den ersten Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts der Fall war.22 Man kann jedoch diese enge Verankerung einer Kulturpädagogik auf eine »Schule« (hier in einer an der Kulturund Wertphilosophie orientierten Geisteswissenschaftlichen Pädagogik) vermeiden, wenn man sich daran erinnert, daß Enkulturation auch als ein allgemeines Phänomen beschrieben werden kann. Jede Erziehung ist nämlich insofern Enkulturation, als sie Kompetenzen der Anschlußfähigkeit an kulturell angehäuftes Wissen und Können vermittelt und nur dadurch so etwas wie Traditionsbildung ermöglicht – also ein Lernen von Erfolgreichen, eine vorteilhafte Teilhabe an den Lebensleistungen anderer. Das »survival of the fittest« in der biologischen Evolution wird hier in eine »imitation of the fittest« in der kulturellen Evolution überführt. Weil diese »Imitation« unvermeidlich immer selektiv ist, kann man Kultur – wie das Luhmann tut – durchaus als eine Art »kollektives Gedächtnis« bezeichnen.23 Dieses kollektive Gedächtnis muß immer wieder durch jeden Generationenwechsel hindurch bewahrt und ergänzt werden, denn die Kulturgeschichte kumuliert das kollektive Wissen, während der neugeborene einzelne Mensch immer wieder von vorne anfangen – sprich: seine Anschlußfähigkeit an das kulturelle Wissen entwickeln – muß: »Das Jahrhundert ist vorgerückt, jeder einzelne aber fängt doch von vorne an« (Goethe). Da Kultur keine zufällige Hinzufügung, sondern der Normalfall menschlicher Existenz ist, wird jede Pädagogik immer auch und gerade Kulturpädagogik sein. Man darf sich hierbei allerdings keine Einbahnstraße vorstellen, denn über Erziehung 22 Vgl. Lehmann 1929; Löwisch 1989; Schulz 1984; Reble 1976; Zacharias 2000. 23 Vgl. Luhmann 1995.

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166 | Alfred K. Treml wird Kultur nicht nur reproduziert, sondern auch produziert. Deshalb kann man (mit Reble) sagen: »Erziehung ist Tradierung, Verlebendigung und Erneuerung der Kultur in der Abfolge der Generationen, und die Kultur ist Medium, Niederschlag und Prüfstein der Erziehung und Bildung.«24 Kulturpädagogik wird dort unvermeidbar zu einer »Interkulturellen Pädagogik«, wo die verschiedenen Kulturen auf engem Raum zur gleichen Zeit in Kontakt treten und Probleme produzieren, die nur durch Lernprozesse unter Zeitdruck lösbar scheinen und deshalb in der Folge durch eine spezifische pädagogische Intervention bearbeitet werden. Dort, wo viele Kulturkontakte alltäglich werden, kann man sinnvollerweise nicht mehr von »Enkulturation« sprechen; vielmehr hat sich für den permanenten Prozeß des kulturellen Lernens in unterschiedlichen Kulturkontakten der Begriff der »Akkulturation« eingebürgert. Trotz einer inzwischen geradezu ausufernden und lebhaften Diskussion um Interkulturelle Pädagogik, kann man von einem gesicherten Konsens über deren Prämissen und Ziele keinesfalls ausgehen.25 Die Gemengelage von normativ-wertendem und deskriptiv-analytischem Impetus ist derzeit für einen Beobachter kaum zu entwirren.

7. Kultur und Gesellschaft Möglicherweise ist man als Beobachter noch zu nah an einer zu schnell eingetretenen Entwicklung, um schon tragfähige Begriffe und Unterscheidungen erwarten zu dürfen. Immerhin deutet sich, wenn ich es recht sehe, inzwischen eine weitere wichtige binäre Unterscheidung an, die die klassische Zweiteilung von »Natur – Kultur« wohl keinesfalls außer Kraft setzt, aber (mit einer neuen Akzentsetzung) ergänzt, nämlich jene von »Kultur und Gesellschaft«. Auch diese Unterscheidung ist keinesfalls neu, geht ihr doch die traditionelle Gegenüberstellung von »Kultur und Zivilisation« voraus. Allerdings kristallisiert sich inzwischen eine durchaus neue Akzentsetzung heraus, die wohl auf alten Konnotationen aufbaut, diese aber mit neuen Erfahrungen ergänzt und zu der harten Kontrastierung von »Kultur und Weltgesellschaft« – im Horizont allgegenwärtiger Erfahrungen von »Globalisierung« – zugespitzt wird. Entwicklung und Erziehung ereignet sich heute deshalb nicht mehr einfach als »Enkulturation«, sondern in der Spannung zwischen eigener Kultur einerseits und einer noch weitgehend als fremd empfundenen Gesellschaft andererseits, die inzwischen zunehmend zu einer globalen Weltgesellschaft mutiert ist. Daraus ergeben sich für alle Beteiligten eine Reihe von Verwerfungen, Brüchen und Problemen, über die bislang noch relativ wenig systematisch nachgedacht wurde (vgl. zum folgenden Treml 1997). Mit der Kontrastierung von »Kultur« und »(Welt-)Gesellschaft« werden ein paar wichtige neue Erfahrungen auf den Begriff zu bringen und für Pädagogik fruchtbar zu machen versucht. Beide Begriffe sind dabei – wie sollte es auch anders sein? – zunächst noch recht vage und unpräzise und scheinen weniger einen klaren Referenzbereich zu haben, als vielmehr bestimmte Ressentiments zu aktivieren. 24 Reble 1976: Sp. 1339. 25 Vgl. den Überblick bei Niekrawitz 1990.

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Pädagogik und Kultur | 167 Immerhin scheint mir der Kulturbegriff hier in einem Sinne gebraucht zu werden, der bisher – im Rahmen einer Debatte um Enkulturation – weitgehend ausgeblendet wurde. Kultur erscheint hier nämlich weniger als Ausdehnung und Erweiterung eines subjektiven En- oder Akkulturationsprozesses als vielmehr als unvermeidliche und nützliche Einengung und Reduktion von Komplexität angesichts von bedrohlichen Überforderungssituationen. Zur Erinnerung: Möglichkeit und Notwendigkeit von Erziehung gründen beim Menschen in seiner unspezifischen Weltoffenheit und Lernfähigkeit. Als »Kultur« kann man aus dieser Sicht eine spezifische Form von räumlichen und zeitlichen Beschränkungen (von Themen, Haltungen, Werten, Gewohnheiten usw.) bezeichnen, die diese Offenheit so weit beschränkt, daß ein soziales Handeln erst möglich wird. Soziale Systeme bedürfen zum Aufbau und zu ihrer Erhaltung in der räumlichen Sinndimension der Koordination synchroner Erwartungsstrukturen durch Raumverkleinerung – in Form von sinnlich wahrnehmbarer, immer wiederkehrender Symbole (kulturelle Symbolik) und in zeitlicher Hinsicht gemeinsamer Erwartungen von Zeitbindungen durch systematische Zeitverzögerungseffekte (kulturelle Hysteresis). Kulturelle Symbolik bedarf der Hypostasierungen, kulturelle Hysteresis der Wiederholung. Aus dieser Sicht beschränken die Kulturen durch ihre sinnhaft erfahrbaren Raum- und Zeitbindungsstrukturen mittels Institutionen und Gewohnheitsmuster die Erlebens- und Handlungsmöglichkeiten des Menschen. Das wird von den Individuen durchaus als Entlastung erlebt, als Entlastung vor Überforderung durch Kontingenzerfahrungen.26 Es ist nun eben nicht mehr alles möglich, sondern nur manches; es ist nicht mehr alles legitim, sondern nur noch Bestimmtes. Daran kann man sich halten, und damit kann man leben. Strukturen kultureller Symbolik und Hysteresis erfüllen also ihre – komplexitätsreduzierende – Funktion nicht nur dadurch, daß sie soziales Handeln ermöglichen, sondern auch dadurch, daß sie psychisches Erleben als ein beschränktes erwartbar und damit erträglich machen. Kultur erfüllt diese Funktion am besten dadurch, daß sie einerseits ihre strukturellen Einschließungen (sinnlich) manifest macht, ihre strukturellen Ausschließungen aber latent hält. Während Latenz am wirkungsvollsten vor Überforderung durch Kontingenzerfahrungen schützt und es deshalb aus dieser Sicht am besten ist, keine anderen kulturellen Entwürfe zu kennen, will die eigene Kultur ständig sinnlich präsent erlebt und reproduziert werden. Die eigene Sprache muß gesprochen, das gemeinsame Liedgut gesungen, der gemeinsame Kleidungsstil gepflegt und jedes gemeinsame Fest gefeiert werden, wenn Kultur gelebt und tradiert werden soll. Nur dann kommt die eigene Kultur nicht selbst wieder als kontingent daher, sondern als das genuin Nichtkontingente, als »zweite Kultur« (Rousseau). Kultur wird so erlebt im Modus des Selbstverständlichen; sie konstituiert Normalität und ist außerhalb jeden Zweifels. Diese primäre Kultur (oder »erste Kultur«) ist distanzlos getätigte Lebenspraxis und vollzieht sich im »symbolischen Universum« (Cassirer) einer gemeinsamen Sprache. In diesem Sinne kann man Kultur deshalb »nicht wollen« (Nietzsche) beziehungsweise »nicht machen« (Eliot), weil sie die Art und Weise ist, wie etwas gewollt und gemacht wird. 26 Vgl. Gehlen 1969.

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168 | Alfred K. Treml Daß diese entlastende, komplexitätsreduzierende Funktion von Kultur (genauer gesagt: von der »ersten Kultur«) nun auf einmal in den Vordergrund rückt, dürfte damit zu tun haben, daß sie im Zuge einer gesellschaftlichen Entwicklung als quasinatürlicher Prozeß porös wird, um nicht zu sagen: verlorenzugehen droht. Deshalb rückt als Gegenbegriff der Begriff der Gesellschaft, und im Zuge der Globalisierungserfahrungen der der Weltgesellschaft, als Kontrast in das Blickfeld. Obwohl es keine einheitlich anerkannte Gesellschaftstheorie gibt und wir uns deshalb hierbei theoretisch noch auf sehr unsicherem Boden befinden, scheint mit dem Begriff der (Welt-)Gesellschaft doch eine Erfahrung zum Ausdruck zu kommen, die allgemein ist und gerade im Kontrast zum Kulturbegriff erste Konturen bekommt. Gesellschaft beginnt in dem Augenblick, in dem Sozialität nicht mehr auf Anschaulichkeit oder Verwandtschaft gegründet und Tradition nicht mehr ausschließlich narrativ weitergegeben werden kann. So gesehen ist Gesellschaft zunächst einmal nur die abstrakte Form der Vergesellschaftung des Menschen, insofern sie gerade das Konkrete, sinnlich Wahrnehmbare von sozialen Interaktionen (in der eigenen Kultur) überschreitet. Deshalb ist ihr genuines Medium auch nicht mehr, wie in der Kultur, die gesprochene Sprache, sondern die geschriebene Schrift. Diese verlangt nicht die körperliche und geistige Anwesenheit konkreter Interaktionspartner, sondern läßt Menschen in eine Fernbeziehung zueinander treten. Über die Schrift können Regeln eines Zusammenlebens von einer großen Anzahl von Menschen festgelegt und organisiert werden, die nicht mehr auf Interaktion unter Anwesenden beschränkt ist. Schrift kann nicht mehr, wie noch die Sprache, durch funktionale Erziehung alleine vermittelt werden, sondern erzwingt intentionale Erziehungsprozesse, etwa einen planvoll organisierten Unterricht. Gesellschaft konstituiert also die Wahrscheinlichkeit der Unwahrscheinlichkeit einer Sozialität, die nicht mehr auf Anschaulichkeit, Verwandtschaft und konkrete Erfahrungen gegründet und reproduziert werden kann. Sie besteht aus einem System abstrakter Regeln und Institutionen – streng genommen also allein aus Kommunikation (Luhmann), die den Umgang mit anderen Menschen in die Form generalisierter Verhaltenserwartungen überführt. All dies wird, seit es Gesellschaft gibt, gerne und häufig als Entfremdung erlebt und, wie wir gesehen haben, auch als »Kulturkritik« kommuniziert. Das ist auch verständlich, wenn man sich vor Augen führt, daß wir Menschen, phylogenetisch und ontogenetisch gleichermaßen, aus kleinräumigen, überschaubaren, konkreten und auf die Interaktion unter Anwesenden beruhenden Verhältnissen (dem sog. »Mesokosmos«) abstammen und uns deshalb auch die konkreten symbolischen Repräsentationen einer Kultur näher und vertrauter sind als die abstrakten Formbeziehungen einer Gesellschaft. Deshalb empfinden wir auch heute noch eine kulturnahe Sprache als Wärmemetaphorik (»Heimat«, »Religion«, »Gemeinschaft« usw.), eine Semantik um Gesellschaftstheorie aber als Kältemetaphorik (»Gesellschaftssystem«, »Systemrationalität«, »Interpenetration« usw.). Der Rückgriff auf die vertrauten Elemente der eigenen Kultur in Situationen, in denen wieder einmal ein Schub der gesellschaftlichen Evolution als Entfremdung erlebt wird, bedarf dann keiner natürlichen Basis mehr (in Form eines Rückgriffs auf die Natur), wenn die eigene Kultur als »zweite Natur« theorietechnisch diese Funktion der Kontingenzregulierung übernimmt. Na-

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Pädagogik und Kultur | 169 tur und Kultur werden hier in einer Situation der durch den Gesellschaftsprozeß ausgelösten Überforderung funktional äquivalent als Kontingenzunterbrecher eingesetzt. Diese Situation scheint gegenwärtig gegeben zu sein, da die gesellschaftliche Entwicklung – sowohl zeitlich als auch räumlich – einen geradezu singulären Verlauf genommen hat: zeitlich durch eine nicht mehr kontrollierbare Beschleunigung und räumlich eine nicht mehr überschaubare Entgrenzung in Form einer »Weltgesellschaft«, die – zum ersten Mal in der Geschichte – keine soziale Umwelt mehr besitzt. Viele Menschen empfinden diese Situation als bedrohlich, und »Globalisierung« scheint ähnlich wie BSE zu wirken: unsichtbar, aber angsterregend. Die derzeit überall bemerkbare Renaissance der »Kultur« kann als Kompensation der dadurch ausgelösten Ängste interpretiert werden. Sie hat etwas Regressives an sich, nicht nur, weil sie in den Ressentiments gegenüber dem unbegriffenen Gesellschaftsprozeß gründet, sondern auch, weil dabei versucht wird, durch ein Zurückgehen die verlorene Sicherheit wiederzugewinnen. Allerdings verdankte sich diese Sicherheit der Latenz einer selbstverständlich gelebten »ersten Kultur«. Sie über eine Kulturpolitik und/oder Kulturpädagogik wieder (re)konstruieren zu wollen, würde bedeuten, die Funktion von Latenz über bewußte, manifeste Strukturen wiedergewinnen zu wollen. Eine einigermaßen schwierige, weil paradoxe Aufgabe. Um diese Paradoxie zu verdecken, bedarf es des »starren Blicks« auf die eigene Kultur, die deren Ränder nicht mitbeobachtet. Weil das natürlich, wenn überhaupt, immer nur unvollständig gelingen kann – denn man kann etwas nicht gleichzeitig sehen und nicht sehen – produziert der »starre Blick« gefährliche Übersteigerungen. Das würde die manchmal geradezu aggressive Rückkehr ethnozentrischer und fundamentalistischer Kulturbeschwörungssemantik verständlich machen; aber auch die aggressive Kritik an der »Globalisierung«, als einer unbegriffenen gesellschaftlichen Entwicklung zur Weltgesellschaft. Wenn diese Analyse auch nur annähernd richtig beziehungsweise angemessen sein sollte, lassen sich für die Pädagogik am Beginn des dritten Jahrtausends vor allem zwei Probleme bestimmen. Wir können sie in die beiden Fragen kleiden: Was und wie sollen wir lehren und lernen angesichts zunehmender kultureller Kontingenzerfahrungen? Und: Was und wie sollen wir lehren und lernen angesichts der Zunahme an gesellschaftlich produzierter Komplexität in einer globalen Weltgesellschaft? Beides, Kontingenz und Komplexität, sind Alarmbegriffe. Sie zeigen Probleme, nicht Lösungen an. Immerhin können wir, ohne die Lösungen zu kennen, jetzt schon sagen: Wie immer sie auch im einzelnen aussehen mögen, es wird sicher auch in Zukunft nicht ohne Lernen unter Zeitknappheit, also unter Bedingungen des Lehrens gehen.

Bibliographie Ballauff, Theodor, 1969: Pädagogik: eine Geschichte der Bildung und Erziehung. Band 1: Von der Antike bis zum Humanismus. Freiburg i. Br.

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170 | Alfred K. Treml Baumert, J. & P. M. Roeder, 1990: Expansion und Wandel der Pädagogik. Zur Institutionalisierung einer Referenzdisziplin. In: L.-M. Alisch et al. (Hg.): Professionswissen und Professionalisierung. Braunschweig. S. 79-128. Brunner, Hellmut, 1957: Altägyptische Erziehung. Wiesbaden. Flitner, Elisabeth, 1991: Auf der Suche nach ihrer Praxis. Zum Gegensatz von »ermutigender Pädagogik« und »enttäuschender Erziehungswissenschaft«. In: Zeitschrift für Pädagogik. Beiheft 27: 93-108. Gehlen, Arnold, 1969: Moral und Hypermoral: eine pluralistische Ethik. Frankfurt am Main. Kant, Immanuel, 1981: Über Pädagogik. In: Immanuel Kant: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik. Teil 2. (Werke in 10 Bänden, Bd. 10). Darmstadt. S. 695-761. Lehmann, Gerhard, 1929: Zur Grundlegung einer Kulturpädagogik: Untersuchungen über das Problem Kultur und Erziehung. Berlin. Löwisch, Dieter-Jürgen, 1989: Kultur und Pädagogik. Darmstadt. Luhmann, Niklas, 1995: Kultur als historischer Begriff. In: Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik: Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 4. Frankfurt am Main. S. 31-54. Moritz, Karl Philipp, 1972: Anton Reiser: ein psychologischer Roman. Stuttgart. Müller, Klaus E. & Alfred K. Treml (Hg.), 21996: Ethnopädagogik: Sozialisation und Erziehung in traditionellen Gesellschaften; eine Einführung. Berlin. Niekrawitz, Clemens, 1990: Interkulturelle Pädagogik im Überblick: von der Sonderpädagogik für Ausländer zur interkulturellen Pädagogik für alle. Frankfurt am Main. Perpeet, W., 1976: »Kultur, Kulturphilosophie«. In: Joachim Ritter & Karlfried Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 4. Basel. Sp. 1309-1324. Reble, A., 1976: »Kulturpädagogik«. In: Joachim Ritter & Karlfried Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 4. Basel. Sp. 1339-1340. Rothe, Friedrich Karl, 1984: Kultur und Erziehung: Umrisse einer Ethnopädagogik. Köln. Rousseau, Jean-Jacques, 1963: Emile oder Über die Erziehung. Stuttgart. Scherer, H., 1907: Die Pädagogik als Wissenschaft von Pestalozzi bis zur Gegenwart. Leipzig. Schulz, Wolfgang K., 1984: Das Kulturverständnis in der frühen Pädagogik von Eduard Spranger und Theodor Litt. In: Jürgen Oelkers & Wolfgang K. Schulz (Hg.): Pädagogisches Handeln und Kultur: aktuelle Aspekte der geisteswissenschaftlichen Pädagogik. Bad Heilbrunn. S. 25-39. Treml, Alfred K., 1997: Pädagogik zwischen eigener Kultur und Weltgesellschaft. In: Zeitschrift für internationale Bildungsforschung und Entwicklungspädagogik 3: 2-7. – 2000: Reformpädagogische Semantik und sozialer Wandel. In: Tertium Comperations. Journal für Internationale Bildungsforschung. 1/2002. S. 61-72. Weber, Erich, 1999: Pädagogik: eine Einführung. Bd.1, Teil 3. Donauwörth. Zacharias, Wolfgang (Hg.), 2000: Kulturpädagogik: kulturelle Jugendbildung; eine Einführung. Opladen.

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Die Perspektive der Kultursoziologie | 171

Die Perspektive der Kultursoziologie Hans-Georg Soeffner

1. Vorbemerkung Angenommen, Gehlens »Urmensch«1 würde – durch welche Umstände auch immer – in unsere »Spätkultur« versetzt: Was wäre für ihn neben all den technischen Wundern und Kunststücken, die wir ihm zu bieten haben, das Auffälligste und zugleich Beunruhigendste? – Unsere Anzahl und unsere Städte, die ihm – dem an weite, fast menschenleere Räume gewöhnten Klanangehörigen – als monströse Zusammenballungen von Menschen erscheinen und ihn erschrecken müßten: Er würde sich nicht mehr in Wüsten, Steppen oder Urwäldern, sondern unter »seinesgleichen« verlieren. Er sähe sich in eben jener »Massengesellschaft«, die pikanterweise von ihren eigenen und für sie typischen »Massen«-Medien zugleich beklagt und beschworen wird: Er erführe die Spätkultur – vielleicht nicht ausschließlich, aber doch aufdringlich – als »Massenkultur«. Daß wir konkreten Erscheinungsformen unserer eigenen Kultur mit Bewunderung oder auch Befremden und Unbehagen gegenübertreten können – die abwertende Bedeutungsbeimischung, die wir dem Ausdruck »Masse« zukommen lassen, macht letzteres deutlich – haben wir mit dem von uns (re-)konstruierten Urmenschen gemeinsam. Dieser Umstand weist aber weniger darauf hin, daß wir trotz unserer nicht mehr ganz so zurückweichenden Stirn noch ein beachtliches Erbe unserer Ahnherren mit uns herumschleppen, als vielmehr darauf, daß Kultur einerseits etwas zum Menschen Gehörendes, durch ihn Konstruiertes ist, und ihm andererseits zugleich in der jeweiligen Konkretion und Erscheinungsform – bis zum Erlebnis des Fremden im Eigenen – gegenübertreten kann: »Kultur« umfaßt sowohl eine spezifische Zugangsweise und Aktivität des Menschen auf sich selbst, seine Mitmenschen und seine Umwelt hin (einschließlich der von ihm geschaffenen) als auch die Produkte dieser Aktivität – wobei jene dieser erneut zum Gegenstand werden können. Kultur gewährleistet und schafft eine weitgehend ausgedeutete Welt für und durch Interpreten. Sie ist Erkenntnisstil und – nicht nur in ihren Produkten – Erkenntnisgegenstand. Sie ist universale und ubiquitäre conditio humana und zeigt zugleich in ihrer Erscheinungsform symbolisch geschaffene und ausgedeutete Welten und Umwelten: Baupläne, Handlungskulissen, Requisiten. Aus ihren gedeuteten Ruinen, Trümmern und »Materialien« konstruieren wir die Historie: den »Entwicklungsgang« der Kultur, die Biographien der Kulturen: In der Kultur repräsentiert sich unsere spezifische Einstellung zur Welt und zu uns selbst; wir finden Kultur als von unseren Vorgängern konkret geschaffene immer schon vor: Wir beteiligen uns – zusammen mit vielen anderen – an ihrer Erhaltung und Veränderung; wir bewohnen sie als einen bedeutsamen Raum unserer Welt; sie ist Teil von uns, unser »Zuhause«, und kann uns dennoch jederzeit »fremd« werden. Die Universalität von Kultur, die der Vielfalt und den historischen Besonderhei1 Gehlen 1975.

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172 | Hans-Georg Soeffner ten ihrer Erscheinungsformen zugrunde liegt, ihre Allgegenwart im menschlichen Leben, ihre Verknüpfung mit nahezu allen menschlichen Lebensäußerungen machen es schwer, »Kulturelles« von »Nicht-Kulturellem« zu trennen und zu unterscheiden, zumal die einfach erscheinende Gegenüberstellung von »Natur« und »Kultur« sich in jeder Hinsicht als problematisch herausstellt: Zum einen ist es die Natur des Menschen, ein kulturelles Wesen zu sein (Plessner), zum anderen wird überall dort, wo Menschen sich in »der äußeren Natur« (als Umwelt) einnisten, die »natürliche« zur kultivierten, von Menschen beeinflußten oder bearbeiteten Umwelt. Von der Auffälligkeit der sogenannten »hohen Kulturleistungen« bis zur auffälligen Unauffälligkeit der Ubiquität kultureller Akzente in allen menschlichen Lebensbereichen spannt sich der große Bedeutungshorizont alles dessen, was mit »Kultur« oder »kulturell« bezeichnet wird. Diese vielen Bedeutungsschattierungen in ein definitorisches Begriffsgitter zu zwängen, hieße, das zu übersehen, was wir noch bis in den alltäglichen Sprachgebrauch hinein mit dessen Attribut »kulturell«, »Kultur« – etc. belegen. Statt dessen kommt es darauf an zu versuchen, aus der Bedeutungsvielfalt, dem Bedeutungshorizont und dem Umgang mit dem Ausdruck »Kultur« jenen spezifischen Sinn zu erschließen, den wir uns, unseren Mitmenschen, unserer Umwelt, unserem Handeln, unserer Wirklichkeit verleihen, indem wir sie mit dem Akzent »Kultur« versehen. Eben weil Kultur als ein universales Phänomen gesehen wird und weil sie sich in den unterschiedlichsten menschlichen Lebenswelten festgesetzt hat – von den Trobriandern und Eskimo über die persischen Großreiche, die griechische Antike, die Mogulherrschaft, chinesische und japanische Dynastien, die italienische Renaissance bis hin zu den Vorstädten von Chicago und sogar bis in die Elendsviertel der neuen Megastädte – ist es (s.o.) beinahe hoffnungslos, eine verbindliche Definition für all das zu finden, was mit dem Ausdruck »Kultur« verbunden wird. Aber Philosophen, Ethnologen, Anthropologen, Soziologen etc. verstünden sich wohl kaum als Wissenschaftler, wenn sie sich nicht dennoch an Definitionen versuchen würden. Am einfachsten, wenn auch in ihrer Allgemeinheit und Nationen- beziehungsweise Volksgebundenheit unbefriedigend, ist die Formel des deutschen Ethnologen Adolf Friedrich, die sich noch weitgehend mit der Auffassung von Edward B. Tylor deckt: Kultur, heißt es dort, sei die »Summe aller Lebensäußerungen eines Volkes«.2 Wenn ich im folgenden diejenigen Konzeptualisierungen aufliste3, die – nach meiner Einschätzung – bisher den größten Einfluß auf die Kulturwissenschaften hatten und nach dem sogenannten »cultural turn« auch weiterhin ausüben, so vor allem deswegen, weil sich vor diesem Hintergrund mein daran anschließender Versuch abheben soll, eine phänomenologische Perspektive für kulturwissenschaftliche Forschungen zu formulieren, die nicht nur den Gruppen-, Volks- und/oder Nationenbezug einiger bisheriger Kulturbegriffe überschreiten und damit auch Aspekte »globalisierter Kultur« einbeziehen, sondern vor allem jene menschliche Wendung zur und Haltung gegenüber der Welt sichtbar machen soll, aus der heraus wir Kultur »produzieren« und etwas als »kulturell geformt« deklarieren. 2 Friedrich 1941-43: 29; Tylor 1873: 1. 3 Vgl. hierzu a. Klaus E. Müller in diesem Band.

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Die Perspektive der Kultursoziologie | 173 a)

Die – im Kern relativistische – amerikanische »Kulturmuster«- beziehungsweise »Kultur- und Persönlichkeitslehre« der dreißiger bis fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts sah in Kulturen vor allem Ordnungssysteme: Strukturformationen, die das jeweils Eigene eines »Volksgeistes« (hier ist die Wirkung Johann Gottfried Herders zu spüren)4 als »pattern« (Ruth Benedict, Margaret Mead), »Eidos« oder »Ethos« (Gregory Bateson), »Konfiguration« (Alfred Louis Kroeber), »Philosophie« (Clyde Kluckhohn), »Thema« oder »way of life« (Morris E. Opler) zu erhalten trachten, indem sie – Altes bewahrend – neue Einflüsse transformieren und Überfremdungen abweisen. Moralische Orientierungen, Ideale und kollektive Handlungsmuster spiegeln jeweils die ihnen zugrundeliegenden gesellschaftlichen Ordnungen und Strukturen wider. b) Für die Vertreter des klassischen englischen Funktionalismus (Bronislaw Malinowski und Alfred Reginald Radcliffe-Brown sowie für ihre Schüler Edward Evans-Pritchard, Raymond Firth, Siegfried Nadel, Ralph Piddington, Max Gluckman, Meyer Fortes) sowie den deutschen Ethnologen Richard Thurnwald sind Kulturen hoch ausdifferenzierte und integrierte Instrumentarien zur Befriedigung elementarer und biologischer (primärer) und nachgeordneter (sekundärer) Bedürfnisse (»basic« vs. »derivative needs«). Diese Instrumentarien müssen, um ihrer »Aufgabe« gerecht zu werden, das heißt um effektiv zu funktionieren, ein hohes Maß an Interdependenz, Ausgewogenheit und Kohärenz aufweisen. Alle einzelnen Elemente sind auf den Erhalt des Ganzen ausgerichtet. Fällt ein Element aus, so kann es durch ein passendes anderes ersetzt werden: keines der Elemente ist unersetzlich. Alle dienen der Erhaltung »ihrer« Kulturen, die damit letztlich als sich selbsterhaltende Systeme verstanden werden. c) Mit dieser Auffassung verwandt ist jene, die in Kulturen das Ergebnis von Anpassungsprozessen an vorgegebene oder sich verändernde Umwelten sieht. Aus dieser Sicht sind Kulturen – wie Herskovits pointiert formuliert – nichts anderes als »the man-made part of environment«.5 Vor dem Hintergrund der Evolutionstheorie geht man davon aus, daß sich der Anpassungsprozeß selektiv, das heißt als Auswahl zwischen mehreren Möglichkeiten vollzieht. Implizites Ziel dieser permanenten Anpassungsvorgänge ist ein ausgewogenes »Ökosystem«.6 Nicht nur die Funktionalisten (s.o.), sondern fast alle Ethnologen und die meisten Soziologen stehen dieser Auffassung nahe, vorrangig jedoch »die Vertreter der älteren anthropogeographisch, der marxistisch beziehungsweise ›kulturmaterialistisch‹ und neoevolutionistisch orientierten Ethnologie«7 und der »Kulturareallehre« (wie z.B. Friedrich Ratzel, Clark Wissler und seine Schule, Julian H. Steward, Leslie A. White, Marshall D. Sahlins, Marvin Harris, Roy A. Rappaport und Andrew P. Vayda). d) Wiederum in engem Zusammenhang mit der Anpassungsthese steht jene, die Kulturen als Ausdruck all dessen sieht, was die Mitglieder einer Gesellschaft 4 5 6 7

Vgl. Herder 1965. Herskovits 1966: 17f. Vgl. z.B. Dice 1955: 2. Klaus E. Müller in diesem Band auf S. 24.

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174 | Hans-Georg Soeffner über Generationen hinweg bei der Suche nach Lösungen ihrer existentiellen Probleme erlernt, als bewährte Erfahrung gesammelt und in Enkulturationsprozessen an ihre Nachfahren tradiert haben. Wiederum teilen fast alle Kulturwissenschaftler – wenn auch mit unterschiedlicher Akzentuierung – diese Auffassung. Eine besondere Betonung dieser Perspektive findet sich exemplarisch bei dem italienischen Ethnologen Vinigi L. Grottanelli und dem deutschen Sprachwissenschaftler Florian Coulmas. Auch die folgenden Konzeptualisierungen sind miteinander verbunden, wenngleich es aus systematischen Gründen sinnvoll ist, sie zu unterscheiden. Allerdings weisen sie – unübersehbar – Überschneidungen auf. Ihre Vertreter – so unterschiedlicher theoretischer Herkunft sie auch sein mögen – halten dies für ein Zeichen dafür, daß es einen gemeinsamen, relativ gesicherten Wissensbestand aller Kulturwissenschaften gibt. e)

Einig ist man sich darüber, daß Kulturen sich in Symbolsystemen ausdrücken und daß diese Symbolsysteme jeweils nicht nur die Struktur der sie tragenden Gesellschaften widerspiegeln, sondern daß in die symbolische Kodierung Orientierungs- und Regelvorhaben in Form von »Modellen« für das Verhalten eingearbeitet sind. Diese Einsicht ist weder neu noch ist sichergestellt, daß der Symbolgebrauch eine exklusiv menschliche Fähigkeit darstellt, denn er kann auch bei einigen Tierarten – insbesondere bei Menschenaffen – beobachtet werden.8 Lange vor dem »cultural turn« haben Ernst Cassirer, Leslie White, Meyer Fortes und Claude Lévi-Strauss Symboltheorien vorgelegt, die im Grunde schon die heute von Clifford Geertz, dem gegenwärtigen Mentor eines »symbolischen Anthropologismus« vertretene Einsicht formulierten, daß wir in ein »symbolic […] tangled web ob human experience«9 – so heißt es bei Cassirer – oder in »webs of significance man himself has spun«10, so Geertz, eingewoben sind.11 f) Die Analyse des menschlichen Symbolgebrauchs zieht folgerichtig die Einsicht nach sich, daß menschliche Kulturen auch als hochkomplexe Kommunikationssysteme verstanden werden müssen. Diese Kommunikationssysteme sind – so Thomas Luckmann – »genetisch nicht festgelegt (und) innerhalb der Gattung wandelbar«, das heißt sie erscheinen als »geschichtlich vermittelt«.12 Luhmanns Beschreibung von Kultur als »Zusammenwirken aller Kommunikationsmedien«13 läßt sich nicht nur mühelos mit Luckmanns Ansatz verknüpfen, sondern auch mit einem der prominentesten, strukturalistischen und zeichentheoretischen Ansätze: »Alle menschlichen Beziehungen«, so Claude Lévi-Strauss, beruhen

8 Vgl. die entsprechenden Untersuchungen bei Eibl-Eibesfeldt 1969: 277f.; Harris 1971: 50ff.; Roth 1998: 72ff. 9 Cassirer 1944: 25. 10 Geertz 1975: 5, 10. 11 Vgl. hierzu a. Soeffner 2000: 180-208 (zur Soziologie von Symbolik und Ritual). 12 Luckmann 1983: 1570. 13 Luhmann 1997: 409.

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Die Perspektive der Kultursoziologie | 175 auf dem »Austausch von Nachrichten«.14 Bis heute buchstabieren Vertreter der Ethnosemiotik und Ethnolinguistik diesen Ansatz weiter aus. g) Erwerb, Tradierung und Veränderung von gesellschaftlichem Wissen: die (Alltags-)Theorien der Menschen über ihre Welt und die ständige Nutzung solcher Orientierungsvorgaben legen es nahe, Kulturen auch als sich ständig verändernde Wissenshaushalte zu begreifen. In dieser Sichtweise bestehen Kulturen nicht primär aus gesellschaftlichen Strukturen, Institutionen und dinglichen Gütern, sondern artikulieren und formieren sich durch ein (unterstelltes) gemeinsames Wissen über »die« Welt. Ward H. Goodenough, einer der bedeutendsten Protagonisten dieses Konzeptes, faßt es pointiert so zusammen: »Die Kultur einer Gesellschaft besteht aus allem, was man wissen oder glauben muß, um sich in Einklang mit den anderen zu verhalten.«15 Ethnoscience, Ethnosemantik und Ethnolinguistik rücken diese Sichtweise in den Vordergrund, so etwa Noam Chomsky, Anthony F. Wallace, Harold C. Conklin, Stephen A. Tyler, u.a. In allen diesen – wie ich betonen muß: sehr knapp charakterisierten – Konzeptualisierungen kommen zwei Aspekte zu kurz, die im folgenden näher behandelt werden sollen: Zum einen werden jene Phänomene vernachlässigt, die sich – beispielhaft in gegenwärtigen, medial oft global vermittelten Massenkulturen – transkulturell Einfluß verschaffen; zum anderen, und dies steht im Zentrum der folgenden Überlegungen, bleibt in fast allen Ansätzen offen, wie es dazu kommt, daß wir einerseits unter bestimmten Bedingungen ganz bewußt menschliche Verhaltensweisen, Äußerungen, Produktionen, Institutionen etc. als Manifestationen von »Kultur« verstehen, während wir andererseits – wenn auch unsicher und mit einem gewissen Unbehagen – daran festhalten, daß es weder überzeugend ist noch sinnvoll sein kann, alles Menschliche (und Allzumenschliche) als Kulturäußerung zu verstehen. Die Frage ist also, wann und unter welchen Bedingungen oder Perspektiven wir die anthropologische Universalie »Kultur« als »Alltagstheorie« oder wissenschaftliche Erklärung in Anspruch nehmen und damit zu ihrem Recht kommen lassen, während wir unter anderem Blickwinkel diese Kategorie vernachlässigen können.

2. Bedeutungsgeladene Diffusität – Der Umgang mit dem Ausdruck »Kultur« Je nachdem, ob man von »Kultur« (ohne Artikel), »der Kultur« (als universalem Phänomen), »einer (bestimmten) Kultur« oder »Kulturen« spricht, jedesmal wird dem Ausdruck eine andere Bedeutungsdimension zugeschrieben: Ein Mensch »hat Kultur« (oder auch nicht); »die« Kultur (vgl. »Menschheitskultur«) grenzt (unter anderem) einerseits den Menschen von anderen Lebewesen und andererseits sich selbst von »natürlichen«, »nicht-geistigen«, »nicht-künstlerischen« Bereichen ab: »eine (bestimmte) Kultur« – zum Beispiel die eines Volkes, einer Zeit etc. – wird verstan14 Lévi-Strauss 1949: 178. 15 Goodenough 1981: 50ff.

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176 | Hans-Georg Soeffner den als die spezifische »Gestalt«, die aus der Summe aller Lebensäußerungen eines Volkes oder »einer Zeit« erwächst. »Kulturen« werden miteinander verglichen oder nebeneinander dargestellt, als handele es sich bei ihnen um historische Individuen. Einmal legt es der Sprachgebrauch nahe, »Kultur« als Einheit zu begreifen, ein andermal suggeriert er eine Vielzahl unterschiedlicher Faktoren – die dann aber wiederum zu (einer Vielzahl von) Indizien für eine kulturelle Einheit werden können. Bewegt sich der Sprachgebrauch16 im semantischen Spannungsfeld von »Natur« und »Kultur«, so wird das vom Menschen bewußt Geformte – sei die »Ausgangsmaterie« nun »Natur« (in ihrer »natürlichen« Geformtheit) oder der Mensch selbst – zu Kultur (der so geformte Mensch »hat nun Kultur«). Das nicht bewußt Geformte dagegen bleibt roh, unbehauen, unkultiviert, den eigenen Gesetzen unterworfen: von der Freiheit, der Überhöhung, dem »Schöpferischen« kultureller Bearbeitung und Aneignung unbeeindruckt. Wird ein besonders starker Akzent auf das »Geistige« und »Künstlerische« von Kultur gelegt – im Gegensatz zum »Verstandesmäßigen« und »Instrumentellen«, so wird ein neues Spannungsfeld erzeugt: das von »Kultur« und »Zivilisation«. Völker mit Kultur glänzen durch Philosophie und Kunst, unterhalten Orchester, Theater, Gemäldegalerien – zivilisierte Völker dagegen erfreuen sich einer pünktlichen Post, eines funktionierenden U-Bahnsystems und einer korrekten, hinlänglich freundlichen Polizei. (Kultivierte Zeiten unterscheiden sich von lediglich zivilisierten in ähnlicher Weise). Kultursprachen sind jene, die durch »große Dichtung« geadelt wurden; die anderen sind Volkssprachen etc., kurz: »Zivilisation soll so ungefähr die äußere Kultur, Kultur die innere Zivilisation bedeuten«17 – aber »in Frankreich und in Italien heißt, was in Deutschland und England Kultur, culture genannt wird, civilisation, civiltà«.18 – Entscheidend ist, wer was oder wen unter welcher Perspektive definiert. Verlieren sich diese Akzentsetzungen, an denen sich nicht zuletzt auch die Unterscheidung von Geistes- und Kulturwissenschaften einerseits und Natur- und Ingenieurwissenschaften andererseits orientiert19, so etabliert sich ein Sprachgebrauch, bei dem kaum mehr feststellbar scheint, welche menschliche Lebensäußerung nicht als zur Kultur gehörig oder als nicht kulturell überformt zu bestimmen sei. Die Vorarbeit hierzu haben Anthropologen und Ethnologen20 geleistet. Für erstere machte 16 Zum historischen Sprachgebrauch des Oppositionspaares Zivilisation versus Natur vgl. Grimms Wörterbuch der Deutschen Sprache und Friedrich Kluge (211975): Etymologisches Wörterbuch der Deutschen Sprache, Berlin & New York, S. 411. 17 Mauthner 1980: 39. 18 Mauthner 1980: 40. 19 Der Ausdruck »Humanwissenschaften« repräsentiert den eigenartigen Versuch, die Wissenschaften nach ihrem »Gegenstand« zu unterscheiden: Die Wissenschaften vom Menschen und jene von Natur und Technik. Allerdings: nähert man sich wie Mediziner und Biologen dem Menschen in naturwissenschaftlicher Einstellung, so ernennt man sich zum Naturwissenschaftler – und zugleich den Menschen zum Naturgegenstand: Es ist nicht der Gegenstand, der die spezifische wissenschaftliche Einstellung, sondern die Einstellung, die einen spezifischen Gegenstandsbereich hervorbringt. 20 Als neuere deutsche Arbeit vgl. hierzu Greverus 1978.

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Die Perspektive der Kultursoziologie | 177 es, wenn es darum ging, die »Stellung des Menschen im Kosmos« (Scheler) oder den Zusammenhang zwischen den »Stufen des Organischen« und dem Menschen (Plessner) zu charakterisieren, keinen Sinn mehr, innerhalb der Bestimmung des spezifisch Menschlichen zwischen Natur und Kultur zu unterscheiden: Menschliche Natur ist Kultur, sie unterliegt dem »Gesetz der natürlichen Künstlichkeit«.21 Letztere beschrieben »das Leben« unterschiedlicher Völker und gewöhnten sich daran, die Gesamtheit der jeweils besonderen Lebensgewohnheiten, Sitten und Bräuche eines Volkes, eines Stammes etc. als dessen »Kultur« zu bezeichnen. Der gegenwärtige Sprachgebrauch folgt dieser Gewohnheit. »Wie und was wir essen und trinken, wie und was wir lernen, wie und was wir glauben, wie und wohin wir reisen, wie wir uns kleiden, wie wir wohnen, wie wir unsere Nächte erhellen, womit wir spielen und uns künstlerisch erheben, wie wir Kriege führen, das alles und hundert andere Äußerungen unseres Lebens benennen wir mit dem Summenworte Kultur.«22 Es kommt nun nur noch darauf an, je nach Perspektive die äußeren und inneren Grenzen oder Territorien von Individuen, Gruppen, Schichten, Völkern oder Generationen, Religionen, Berufsgemeinschaften oder Tätigkeiten (Eß-, Trink-, Mal-, Geschäfts-, Fußballkultur etc.) zu akzentuieren – und schon hat man abgrenzbare kulturelle Einheiten. Werden in einigen Bereichen »Sitten«, »Brauchtum«, »Lebensgewohnheiten« zum Synonym für »Kultur«, so wechseln in anderen die Ausdrücke »Stil« und »Kultur« einander ab (sich mit Stil und Kultur kleiden, wohnen, reden etc.). Die Überhöhung von Lebensgewohnheiten, praktischen Zwängen, strukturell bedingten Besonderheiten und funktional orientierter Kooperation zu den Summierungsformeln »Firmenkultur« oder »Firmenstil« zeigt an, daß das, was ist, in unserer gesellschaftlichen Fremd- und Selbstbewertungsperspektive nichts ist, solange es nicht die zusätzliche, gleichzeitig abgrenzende und aufwertende Beigabe des Kulturellen – des überhöhten Lebens erhält.23 Unter der Hand wird so aus dem beschreibenden und typisierenden Ausdruck »Kultur« eine Sollbestimmung: eine Orientierungsvorgabe. Im Sprachgebrauch findet sich eine entsprechende Kennzeichnung: Kultur ist ebenso wie ihr (mitteleuropäischer) Leitstern »Bildung« eine Sollbestimmung, der sich ein Mensch, eine Gruppe, ein Volk etc. verpflichtet fühlen; konkrete Kulturen (im Vergleich) dagegen bezeichnen einen Istzustand.24 So ist der Verzehr von »Hamburgern« Kennzeichen einer von vielen konkreten Kulturen, aber noch kein Beweis für Kultur. Während es bei einer historischen Perspektivik im Zeichen von Nationalkulturen, in der ein jeweiliger Istzustand ständig am Sollzustand und am Anspruch einer Nation gemessen wurde, nahezu für jedermann noch möglich war, ein relativ einfaches Relevanzschema von »außen« und »innen«, »ist« und »soll« als Orientierungsgerüst aufrechtzuerhalten, zeichnen sich nun unter den Bedingungen durchlässigerer Grenzen, wirtschaftlicher und politischer Verflechtungen beziehungsweise Abhängigkeiten und eines – in Struktur und zunehmend auch Inhalt – übernationalen 21 22 23 24

Plessner 1975: 293ff. Mauthner 1980: 41. Vgl. Soeffner 1992a. Vgl. Mauthner 1980: 42.

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178 | Hans-Georg Soeffner Medien- und Informationsystems zwei gegenläufige Entwicklungstendenzen ab. Beide sind Antworten auf den gleichen Sachverhalt: auf die Verwischung alter Grenzen und den damit verbundenen Verlust bewährter Orientierungssicherheit. Zum einen entstehen Bereiche, in denen sich historische, und zugleich internationale Kulturmuster Ausdruck verschaffen (Mode, Architektur, Musik, ökonomische Organisationsformen und nicht zuletzt Gaststättenketten); zum anderen definieren sich »Regionen« politisch neu, das heißt in Abgrenzung gegenüber den vermuteten »Zentren«, es formieren sich – oft allerdings wiederum grenzüberschreitend – unterschiedliche »soziale Bewegungen«, Sekten, »Subkulturen« und schließlich auch kollektiv zitierbare und vermarktete Individualitätsmuster – rasch wechselnde und auf Veränderbarkeit angelegte Formen der Individualitätspräsentation, kurz: es bilden sich Kulturen und Stile diesseits und jenseits der Völker, Territorien und Traditionen – die unterschiedlichen Facetten und Grenzziehungen dessen, was im gegenwärtigen Sprachgebrauch »Massenkultur« genannt wird.

3. »Massenkultur«. Die serielle Überproduktion des Einmaligen innerhalb kollektiver Großräume Der Ausdruck »Massenkultur« – soviel sollte bisher deutlich werden – bezieht sich im vorliegenden Zusammenhang nicht auf jenes Beschreibungsmodell, in dem sich »Massenkommunikation«25, serielle Produktion sowie die ihr entsprechenden Konsumgewohnheiten und ein angeblich beinahe ausschließlich medial bestimmtes diffuses Gesellschaftsbild zum Schreckensgebräu einer als »massenkulturell« bezeichneten Eintopfgesellschaft vermengen. Ebensowenig soll es um die Wiederholung und Rechtfertigung der Perspektive gehen, die diesem Modell zugrunde liegt, einer Perspektive, die sich ihrem Gegenstand, der »Masse«, entweder von oben – aus beachtlicher Höhe – und von außen nähert oder aber die Abgrenzung eines dem eigenen Selbstwert hingegebenen, sich selbst als letzten Kulturzweck verstehenden Individuums gegen den Rest der Welt – einer diffus und »uneigentlich« lebenden Menge – ausdrückt. Im ersten Fall hat man einen Beobachter, der von seinem Gegenstand so weit entfernt ist, daß er die Details nicht mehr sieht, im zweiten eine Monade, die sich – sofern sie nicht überhaupt fensterlos ist – von allen Seiten mit Sichtblenden umgibt. Massenkultur läßt sich vielmehr bestimmen als eine – die gegenwärtige – gesellschaftliche Situation, in der es, zunächst bezogen auf die westlichen Industrienationen, immer schwerer und bisweilen auch unergiebiger wird, ausschließlich Einzel25 Wie diffus allein der Ausdruck »Massenkommunikation« in der wissenschaftlichen Diskussion verwendet, eher: gehandelt wird, zeigt ein Blick in die Literatur oder, abschrekkender noch: in die Massenkommunikationsforschung. Hier bietet sich immer noch ein ähnliches Bild, wie es die Enquète der Senatskommission für Medienwirkungsforschung der DFG bis 1986 zeichnete. Vgl. Deutsche Forschungsgemeinschaft (Hg.): Medienwirkungsforschung in der Bundesrepublik Deutschland. Teil 1: Berichte und Empfehlungen; Teil 2: Dokumentation: Katalog der Studien. Weinheim 1986.

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Die Perspektive der Kultursoziologie | 179 kulturen (Völker oder Nationen) für die tragenden Elemente einer multinationalen Kultur zu halten. »Massenkultur« ist weder lediglich ein diffuses Agglomerat konkreter nationaler Einzelkulturen, noch so simpel und eindimensional aufgebaut wie MacLuhans Vision vom »planetarischen Dorf«. Ebensowenig ist sie eine alle jene Kulturen übergreifende, historisch eingrenzbare Allgemeinkultur. Dennoch repräsentiert sie grenzüberschreitende konkrete Kulturmuster, Lebensgewohnheiten, Produktions- und Rezeptionsmuster, Weltbilder, Lebensstile etc. Genauer: in ihr werden die Grenzen zwischen den konkreten Kulturen nicht mehr ausschließlich von den traditionellen Trägern – Völkern, Nationen, regional verwurzelten Gemeinschaften – beeinflußt, sondern zunehmend auch von neuen, nahezu allen westlichen Industriegemeinschaften gemeinsamen gesellschaftlichen Strukturen und den von ihnen entsprechend übernational geprägten gesellschaftlichen Gruppen: Während die traditionellen Grenzen der an Völker und Räume gebundenen Einzelkulturen immer durchlässiger werden, entstehen neue Kulturgebilde und dementsprechend neue Abgrenzungen. Ihnen ist mit der Analyse nach altem Muster nicht mehr beizukommen. Sie analytisch wahrzunehmen, sind wir noch nicht genügend geschult. Einigen von uns stellen sie sich daher nicht in ihrer – neuen – Ordnungsstruktur, sondern lediglich als »Neue Unübersichtlichkeit« dar.26 Wenn es darum gehen soll, die gegenwärtig konstatierte Massenkultur zu beschreiben und ihre Ordnungsstrukturen nachzuzeichnen, so ist es zwar nach wie vor unverzichtbar, die historischen Entwicklungslinien der National-, Regional-, Volkskulturen etc. zu rekonstruieren und ihre gegenwärtige Gestalt nachzuzeichnen. Gleichzeitig aber hat man auf jene Formen der gesellschaftlichen Kulturaneignung, Selbstzuordnung, Selbstdefinition und Einpassung zu achten, durch die Individuen sich (oft miteinander konkurrierenden) kulturellen Ausdrucksformen, und damit den diese repräsentierenden »Träger«-Gruppen (häufig in mehrfacher Mitgliedschaft), anschließen. Beide, die »klassischen« Entwicklungslinien und die quer zu ihnen verlaufenden, sie durchsetzenden neuen Strukturen müssen zum Beobachtungs- und Analysegegenstand werden. Nur auf diese Weise wird es gelingen, die neu entstandenen konkreten Kulturen, ihre Grenzen, Abgrenzungsmechanismen und schließlich die ihnen zugrundeliegenden gesellschaftlichen Bedingungen zu erfassen. Ein – wichtiges – Nebenprodukt solcher neutral beobachtenden Zugangsweise wird dabei die Zerstörung jenes Vorurteils sein, das sich früher in der Unterscheidung von Hoch- und Trivialkultur27 ausdrückte und heute in der entsprechenden Gegenüberstellung von Massenkultur einerseits und Elite- beziehungsweise Individualtitätskultur andererseits eine entsprechende geschwisterliche Variante erhalten 26 Vgl. Habermas 1985. 27 Der am Ausdruck »Kitsch« erkennbare gesellschaftliche Definitionsvorgang weist, je eindringlicher er verwendet wird, weniger auf zunehmende Geschmacksverwirrung, als vielmehr auch die Betonung der eigenen kulturellen Wertschätzung hin, deren sich die Sprecher versichern wollen: der gesamte Definitionsvorgang, ebenso wie das Klassifikationsgitter von Hoch-, Volks- und Trivialkultur verweisen auf einen Erziehungsmechanismus, mit dessen Hilfe ein Kollektiv seine Mitglieder in Geschmackssicherheit einzuüben versucht.

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180 | Hans-Georg Soeffner hat. ln dieser Gegenüberstellung ist – anders als es in den beim Wort genommenen Formulierungen nahegelegt wird – nur vordergründig von unterschiedlichen Kulturformen und ihren jeweiligen Trägergruppen oder vom »Soll-« und »Ist-Zustand« bestimmter Kulturen die Rede. Tatsächlich läuft die Beschreibung von »Trivial-« und »Massenkultur« fast immer nahezu automatisch auf eine Kritik von »kulturellen Niederungen« hinaus, die schließlich als Un-Kultur »entlarvt« werden.28 Dabei ist schon früh darauf hingewiesen worden, daß die Produktion und Zirkulation von Massengütern sorgfältig zu unterscheiden ist von deren Aneignung. Simmel hat dies am Beispiel der Geldwirtschaft gezeigt. Er beschrieb dabei zwei miteinander verbundene Tendenzen – die »Steigerung der Kultur der Dinge« und das gleichzeitig damit stattfindende »Zurückbleiben der Kultur der Personen«, kategorial gefaßt: das »Auseinandertreten der subjektiven und der objektiven Kultur«.29 Simmels Analyse und seine Anregungen haben nicht verhindern können, daß Soziologen – anders als Literaturwissenschaftler, bei denen die prinzipielle Differenz von Produktion und Rezeption in Rechnung gestellt wird30 – nach wie vor eine Art struktureller Symmetrie von Produktion und Konsumtion unterstellen. Die Subjektivierung, die individuelle Aneignung eines seriell hergestellten Produktes durch einen einzelnen, wird damit systematisch übersehen: Das Individuum verschwindet hinter der Rolle des Konsumenten, und die spezielle Gleichheit der Produkte suggeriert fälschlich eine serielle Gleichheit der Aneignung und Nutzung. Es ist zwar offensichtlich, daß es – aller uns liebgewordenen Gesellschaftskritik zum Trotz – Anzüge, aber nicht Menschen von der Stange gibt. Dennoch wird mit schonungslos-kritischer Beharrlichkeit untersucht, wie Menschen sich den Produkten – nicht aber wie Menschen sich die Produkte anpassen, das heißt wie Autos, Anzüge, Sammeltassen, venezianische Gondeln als Rauchverzehrer, italienische Sitzmöbel, Bücher, Briefbeschwerer, Szeneposter, Chefzimmer etc. den Individuen, deren Gewohnheiten, Umgebung und Kombinationsfreudigkeit angeglichen, wie sie in ein subjektiv konstituiertes Milieu eingearbeitet und mit ihm verschmolzen werden. In diesen Akten der Privatisierung des allen tendenziell Zugänglichen und der Individualisierung des Kollektiven vollzieht sich – an Subjekt und Objekt beobachtbar – die Übersetzung des Seriellen ins Einmalige (das Photo von der Hochzeit vor dem Eiffelturm), die Wandlung vom kollektiv und instrumentell Fremden zum subjektiv Vertrauten und Eigenen (das eigene Auto, das Eigenheim etc.): Dinge und Ereignisse werden durch individuelle Gefühlsbeigaben und äußere Markierungen (vom Fettflecken im Buch bis zur Standarderzählung über den Erwerb eines Gegenstandes) subjektiv kultiviert. Serielle Produktion des verwechselbar Gleichen führt also nicht 28 Zu den wenigen Ausnahmen gehören hier die Arbeiten von Hermann Bausinger und die von ihm angeregten oder durch ihn beeinflußten Folgeuntersuchungen. Vgl. Bausinger 1986. 29 Simmel 1977: 480-585, insbes. 502ff. 30 Vgl. hierzu die Diskussion um die sogenannte »Rezeptionsästhetik«, in der vor allem von Wolfgang Iser (Der Akt des Lesens. München 1976) die Analysen Roman Ingardens (Das literarische Kunstwerk. Tübingen 1931. Vom Erkennen des literarischen Kunstwerkes. Tübingen 1966) für die Interpretation nutzbar gemacht wurden.

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Die Perspektive der Kultursoziologie | 181 lediglich zur seriellen Rezeption und Konsumtion. Sondern in den mit Aneignungsund Markierungshandlungen verbundenen Gefühls- und Erinnerungsbeigaben gehen die Massengüter durch den individuellen Zoll und werden dort als »subjektiv« deklariert: je mehr seriell produziert, angeboten und abgenommen wird, umso mehr wächst der Aufwand an Individualisierung serieller Produkte in der Aneignung, umso mehr wird Individualisierung gefordert – und problematisiert –, immer aber auch geleistet, und sei es auch nur in der gekonnten Zusammenstellung von »Zitaten«, von Bruchstücken des »immer schon Dagewesenen«.31 In der gegenwärtig feststellbaren – paradoxerweise kollektiv wirksamen – pathetischen Überbetonung der Subjektivität, Authentizität und Einmaligkeit verbinden sich die historischen Entwicklungslinien der Ausprägung einer Subjektvorstellung, die das europäische Menschenbild seit der Aufklärung prägt32, mit dem strukturellen Druck zur Behauptung und Erkennbarkeit der Individualität, der sich ergibt aus wachsender Mobilität33, damit verbundener Vielfalt und Punktualität sozialer Beziehungen und zunehmender Anonymisierung sozialer Institutionen.34 Das Bildungsziel vom selbstbestimmten Subjekt, das heroische Bild von der Befreiung des Einzelnen aus der Unmündigkeit der Kollektivität (dem »zweiten Schritt« einer aufgeklärten Menschheit) einerseits und die kollektive Überproduktion des Einmaligen, der Überschuß an Authentizitätsrequisiten und öffentlich darzustellender, subjektiver Emotionsdramaturgie andererseits nähren sich aus den gleichen Quellen: Ersteres liefert die weltanschauliche Rechtfertigung für das letztere; in beiden sind die gleichen historisch-gesellschaftlichen Strukturen repräsentiert, auf die sie antworten.

4. Hohes – Niedriges – Allgegenwärtiges Diesseits der bisher diskutierten Unterscheidung von Hoch- und Trivialkultur liegt die Frage nach einer dem Kulturbegriff zugrundeliegenden Werthaltung, aus der heraus Kultur überhaupt erst erwächst und verstanden werden kann. Hier geht es weder um die – notwendige – Gegenübersetzung von Ist- und Sollzustand, noch um die Sichtung menschlicher Handlungen und Erzeugnisse durch eine höhere Instanz, die dieses als zur »Kultur« gehörig klassifiziert, jenes aber aussortiert oder die diesem das Prädikat »wertvoll« zuordnet und jenes in die Provinz verbannt (»keine Sterne in Athen, statt dessen Schnaps in St. Kathrein!«). Vielmehr steht hinter der vordergründigen Zweiteilung menschlicher Lebensäußerungen in kulturelle und nichtkulturelle35 ein ganz anderes Selektionsprinzip, in dem Werthaltung und Anspruch in

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Vgl. Baudrillard 1978. Vgl. Soeffner 1992. Vgl. Beck 1986. Vgl. Luckmann 1980, insbes. 173ff. Exemplarisch für eine solche Denkweise sei hier folgende Definition genannt: »Kultur (ohne Plural) ist die Gesamtheit der geistigen und künstlerischen Lebensäußerungen einer Gemeinschaft, eines Volkes«, Duden-Fremdwörterbuch, Mannheim 41982. Noch in

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182 | Hans-Georg Soeffner einer universalen anthropologisch begründeten Zielvorgabe, verdeckt sogar im Ziel der Evolution fundiert werden. Kultur als das Unwahrscheinliche, »unwahrscheinlich« wie der Mensch, »das unwahrscheinliche, riskierte Wesen«, faßt hier nicht nur »die hohen, exklusiven und selektiven Ansprüche« zusammen, »welche Kultur heißen dürfen«.36 Sie ist »ihrem Wesen nach ein über Jahrhunderte gehendes Herausarbeiten von hohen Gedanken und Entscheidungen, aber auch ein Umgießen dieser Inhalte zu festen Formen, so daß sie jetzt, gleichgültig gegen die geringe Kapazität der kleinen Seelen, weitergereicht werden können, um nicht nur die Zeit, sondern auch die Menschen zu überstehen«.37 Die Art, in der Gehlen Kultur »nicht nur die Zeit, sondern auch die Menschen überstehen« läßt, ist doppeldeutig genug, um beide Möglichkeiten zuzulassen: Kultur in ihren festen Formen »übersteht« (im Sinne von »aushalten«, »ertragen«?) Zeiten, Menschen, Völker – möglicherweise aber auch (zum Nutzen »der« Evolution oder eines unbekannten höheren Wesens?) die Menschheit. Wie auch immer die Deutung der Gehlen’schen Aussage ausfällt, eines wird in jedem Fall deutlich: Kultur stellt sich für Gehlen dar als (1) ein Prozeß (2) der Selektion (3) des Außergewöhnlichen, Unwahrscheinlichen, Exklusiven und damit letztlich eines (4) überlebenswerten Gestaltungszusammenhanges: survival of the most precious! Klammert man die zugleich ärgerlichen und im schlechten Sinne metaphysischen Bestimmungen des Gehlen’schen Kulturbegriffes aus, so stellt sich Kultur dar als selektiv organisierter Gestaltungsprozeß, durch den im Gang durch die Jahrhunderte eine neue, von Menschen geschaffene, aber dennoch eigenständige Welt fester »symbolischer Formen«38 und Inhalte entsteht – eigenständig nicht nur gegenüber den »kleinen Seelen«, sondern gegenüber jedem Einzelmenschen und jeder Einzelkultur überhaupt.39 Kultur zeigt sich hier als symbolisch ausgedeuteter Zusammenhang, als historisch gewachsene, sich fortentwickelnde Welt, dir wir nicht gemacht, sondern die wir von unseren Vorfahren und diese wiederum von ihren Vorgängern übernommen haben. Sie wird von uns erfahren als etwas, in das wir hineinwachsen müssen. Unsere Eltern beschreiben diese Welt als »unsere«. Dennoch steht sie uns – oft fremd – gegenüber. Ihre prinzipielle Gegenständlichkeit und Objektivität verliert sie auch dann nicht ganz, wenn wir uns wohnlich in ihr einrichten, uns ihr und sie uns anpassen: So sehr wir uns auch in sie einarbeiten und sie mitgestalten, sie behält in dieser Hinsicht trotz aller Veränderbarkeit die Qualität versteinerter

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Der Große Duden, Leipzig 1937, hatte es geheißen: »Kultur (e; f) (Ausbildung, Verbesserung; Anbau und sorgsame Pflege)«. Gehlen 1975: 105. Gehlen 1975: 24. Vgl. Cassirer 1953. Die Adaption des Plessner’schen Entwurfs der Kultur als eines »Zweiten Vaterlandes« der Menschen (s.u.) durch Gehlen wird hier ebenso erkennbar wie die Nähe zu Poppers Konstruktion einer zwar vom Menschen geschaffenen, aber dennoch eigenständigen »Dritten Welt« des objektiven Geistes und der objektiven Erkenntnis. Vgl. Popper 1972, insbes. 172ff.

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Die Perspektive der Kultursoziologie | 183 Sozialität, mag der Marmor noch so sorgsam behauen und seine Form noch so fein ausgestaltet sein. Diese ihre ständig spürbare Gegenständlichkeit muß unterschieden werden von Kultur als menschlicher Aktivität: das heißt Kultur als das Resultat der inneren und äußeren Arbeit von Generationen am und im alltäglichen Leben, an dessen Verfeinerung und Überhöhung einerseits von den Aktivitäten und der ihnen zugrundeliegenden Einstellung andererseits. Hinzu kommt: Zum Wert und als Wert erkannt wird Kultur nur, sofern wir den Dingen und uns selbst in nicht-pragmatischer, sondern ästhetischer, tendenziell zweckfreier Einstellung gegenübertreten, in einer Einstellung also, die auch jede Art von normativer Ethik übersteigt. Denn deren enge Verklammerung mit sozialer Funktionalität und praktischer Orientierungsleistung verweist sie in den Wirkungsbereich jener Bewußtseinsspannung der »hellen Wachheit«40, wie sie für das Handeln in praktisch-zweckgebundener, nicht aber in ästhetisch, tendenziell zweckfreier Einstellung typisch ist. Pointiert ausgedrückt: in kultureller Einstellung und Werthaltung erhält jede Art von gesellschaftlichem Wert eine ästhetische Beigabe, die ihn aus dem Relevanzsystem des Praktischen, Funktionalen und Normativen in den Wahrnehmungshorizont des tendenziell freien Spiels ästhetischer Reflexivität überführt. Erst so können Werte auch als Inhalte von Kultur bestimmt werden. An die Stelle der bisher üblichen problematischen Gegenüberstellung von »Natur« und »Geist« rückt – in der hier vertretenen Auffassung – die Gegenüberstellung zweier, gleich »geistiger« und »natürlicher«, aber – in der Zugangsweise zur Welt – verschiedener Einstellungen. Diese haben je unterschiedliche Akzentsetzungen zur Folge. Hatte Simmel festgestellt, daß Werte uns nur dann Inhalte der Kultur sind, »insofern wir sie als gesteigerte Entfaltungen natürlicher Keime und Tendenzen ansehen, gesteigert über das Maß […] hinaus, das ihrer bloßen Natur erreichbar wäre«41, so läßt sich nun festhalten, daß Werte nur dann mit dem Attribut »kulturell« versehen werden können, wenn sie im Gefolge einer kulturellen Einstellung in Verfeinerungen, Überhöhungen und »gesteigerte Entfaltungen« überführt und aus dem Relevanzbezirk praktischer Einstellungen, Handlungen und Bewertungen entlassen werden. Erst so wird auch Simmels Beispiel für kulturelle Verfeinerung, »veredeltes Gartenobst«42, sinnvoll: Die Williamsbirne stillt den Hunger ebenso wie die Mostbirne. Erstere schmeckt nur besser. Die kulturelle Einstellung und der aus ihr folgende Wahrnehmungs- und Handlungsstil lenken unsere Aktivitäten gleichzeitig in zweierlei Richtungen: nach »außen« auf unsere Umwelt und nach »innen« auf uns selbst. In dieser Doppelbewegung kultivieren wir uns selbst, indem wir die Dinge und unsere Umwelt kultivieren. »Es ist der gleiche, von uns ausgehende und in uns zurückkehrende Werterhöhungsprozeß.«43 So wichtig es ist, den Wahrnehmungs- und Handlungsstil in kultureller Einstel40 41 42 43

Schütz & Luckmann 1979-84: I, 52. Simmel 1977: 502. Simmel 1977: 502. Simmel 1977: 503.

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184 | Hans-Georg Soeffner lung von jenem in pragmatischer und alltagspraktischer Einstellung zu unterscheiden, so unerläßlich ist es, auf die Verknüpfung beider in unserer Welt- und Selbstdeutung zu verweisen. Zwar handeln, deuten und unterscheiden wir in der Bewußtseinsspannung »heller Wachheit« pragmatisch ad hoc unter dem Druck aktueller Ereignisse und partikulärer Zwecke und Zielstrebungen, wobei wir uns von bewährten Orientierungsmustern lenken lassen und auf bisher erfolgreiche Handlungsroutinen zurückgreifen, aber der symbolisch ausgedeutete Sinnhorizont, in den alle unsere Wahrnehmungen, Deutungen und Handlungen eingebettet sind, wird durch Kultur (als das Ineinandergreifen von uns auferlegter, gegenständlicher Symbolwelt einerseits und Einstellung, Wahrnehmungs- und Handlungsstil andererseits) konstituiert. Kultur in diesem Sinne ist also weder bloße Instanz oder unveränderlich vorgegebene Symbolwelt noch frei schwebende, ästhetisch reflexive Einstellung, sondern jener Bedeutungsrahmen, in dem Ereignisse, Dinge, Handlungen, Motive, Institutionen und gesellschaftliche Prozesse dem Verstehen zugänglich, verständlich beschreibbar und darstellbar werden.44 Kultur als der unser Wahrnehmen, Deuten und Handeln umgebende, gedeutete und ausgeleuchtete Sinnhorizont ist nicht nur in unseren Lebensäußerungen allgegenwärtig, sondern auch der von uns allen – in je unterschiedlichen konkreten Rahmungen – berücksichtigte, aufrecht erhaltene und immer wieder hergestellte Ordnungszusammenhang, der das Geordnete und Sinnhafte vom bloß Zufälligen und Sinnlosen abgrenzt: »ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens«.45 Und sie ist dies auch dann, wenn einzelne oder Gruppen eine konkrete Kultur zu ihrem Todfeind erklären. Denn sie können dies nur dann, wenn sie die von ihnen befehdete konkrete Kultur unter dem Blickwinkel eben jener (logischformalen) allgemeinen kulturellen Werthaltung wahrnehmen und beurteilen, aus der jedweder kulturelle Ordnungs- und Sinnzusammenhang konstituiert wird.46 In diesem ganz allgemeinen Sinne sind wir alle bei unseren Wahrnehmungen, Handlungen, Bewertungen, Orientierungen in ein selbstgesponnenes Bedeutungsgewebe verstrickt47, in dem wir uns bisweilen wohnlich, bisweilen gefangen fühlen; das uns Sicherheit zu gewähren scheint und das, als von Menschen Geschaffenes, ebenso »riskiert« ist wie alle unsere sozialen Konstruktionen; das uns bindet, obwohl es Ausdruck einer tendenziellen Freiheit gegenüber uns unmittelbar auferlegten Handlungszwängen ist.

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Zu dieser Charakterisierung von Kultur vgl. a. Geertz 1987: 21. Weber 1973: 223. Vgl. hierzu ebenso Weber 1973: 223. Vgl. Geertz 1987: 9.

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Die Perspektive der Kultursoziologie | 185 5. Das »Zweite Vaterland«. Kultur als Anpassung des Menschen an seine eigene Natur Den modernen Menschenbildern ist trotz aller unübersehbaren Unterschiede eines gemeinsam: Ob sie den Menschen, wie in der Freud’schen Psychoanalyse, in einem ständigen Balanceakt zwischen Triebregungen und Sublimierungszwängen, zwischen Kulturproduktion und Kulturfeindlichkeit befindlich sehen oder als ein durch die Kultur »der anderen« (das »gesellschaftliche System«) fremdbestimmtes Individuum definieren, das sich dieser kulturellen Fremdbestimmung nur im (»spontanen«, »authentischen«, »autonomen«, »kreativen«) Akt der schöpferischen Selbstbefreiung entziehen kann, oder aber andere Formen der Fremd- und Selbstbestimmung einander gegenüberstellen – sie verstehen Kultur als ganze und in ihren jeweiligen Erscheinungsformen als von Menschen Geschaffenes, das dem einzelnen gleichwohl einen fremden Willen aufzwingt, Anpassungsleistungen und Unterordnung fordert und selbst die Befreiungsakte gegenüber der aufgezwungenen Kultur wiederum im Horizont des Kulturellen ansiedelt. Fremdheit und Künstlichkeit einerseits, Unmittelbarkeit und selbstbestimmte Kreativität andererseits stehen hier einander gegenüber. Sie werden letztlich als unaufhebbares Spannungsfeld gegensätzlicher, aber gleichursprünglicher Bedingungen beschrieben, das nur in den Paradiesen der Vergangenheit und der Zukunft oder punktuell im »schöpferischen« Akt überwunden und aufgelöst werden kann. Entscheidend ist: dieses Spannungsfeld hat seinen Ort in jedem einzelnen Menschen. Der ursprüngliche Kampfplatz, auf dem die gegensätzlichen Tendenzen miteinander streiten, ist das Individuum.48 Plessner hat versucht, diese Gegensätzlichkeit als widersprüchliche Einheit darzustellen, als Grundstruktur der »exzentrischen Positionalität« des Menschen: »Existenziell bedürftig, hälftenhaft, nackt ist dem Menschen die Künstlichkeit wesensentsprechender Ausdruck seiner Natur. Sie ist der mit der Exzentrizität gesetzte Umweg zu einem zweiten Vaterland, in dem er Heimat und absolute Verwurzelung findet.«49 Der durch diese Struktur gesetzte Umweg ist endlos. Der Ankunft in jenem zweiten Vaterland – der menschlichen Kultur – folgen zwangsläufig der Auszug und die weitere Suche: In einer konkreten Kultur gibt es keine »absolute Verwurzelung«. Die Kultur hingegen ist kein Ort, an dem man ankommen könnte, sondern eine Qualität des Menschen: seine Künstlichkeit. Die in ihr fundierte Widersprüchlichkeit bestimmt im »Modus der Aufforderung« seine Aktivität, macht ihn zum selbstreferentiellen, sich »selbstbändigenden, domestizierenden Organismus«, bindet ihn an die von ihm selbst geschaffenen Ideenwelten, an »irreale Normen«50 und erhält damit den Grundwiderspruch, der die Gesamtbewegung aus sich hervorbringt, in jeder Lebensäußerung. 48 Eine wissenssoziologische Beschreibung des Topos von den »zwei Reichen« im Menschen und des im einzelnen ausgetragenen Kampfes zwischen diesen Reichen habe ich versucht in Soeffner 1992. 49 Plessner 1975: 316. 50 Plessner 1975: 317.

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186 | Hans-Georg Soeffner Die universale Wirksamkeit des Gesetzes der »natürlichen Künstlichkeit« – der Natürlichkeit von Kultur – läßt sich bis in die »ursprünglichen« menschlichen Verhaltensweisen verfolgen. Es ist beinahe unmöglich, konkret beobachtbare Verhaltensweisen beim Menschen nach den Unterscheidungskriterien »natürliches« oder »kulturell überformtes« Verhalten auseinander zu sortieren. So offenkundig kulturelle Unterschiede das gesamte Repertoire menschlicher Mimik und Gestik beeinflussen, die »Urformen« selbst so elementarer Äußerungen wie Lachen und Weinen sind nicht real beobachtbar, sondern nur kategorial und strukturell als Typus bestimmbar. Ganz allgemein ist der Übergang vom »Mimus«, in dem sich (kategorial) »unmittelbar« eine »Erregung (ein Zustand oder eine Aufwallung des Inneren)« äußerlich spiegelt, zum kulturell geformten, konventionalisierten »Gestus« »von außen gesehen […] gleitend«, wenn auch der »Wesensunterschied zwischen beiden Ausdrucksweisen« sich nicht verwischen läßt.51 Kurz: das unmittelbare, unwillkürliche Verhalten wird so gut wie überall und immer durch bändigende und domestizierende Beigaben – sei es bewußt oder habituell – überformt. Als von Beginn seines Lebens an von anderen Menschen Erzogener wird jeder Mensch sein eigener, ihn stets überwachender Erzieher. So gesehen, gibt es »keine menschliche Tätigkeit, weder eine gemeinsame, noch eine individuelle, die als rein physiologisch, das heißt ›natürlich‹ und nicht anerzogen betrachtet werden kann«.52 Formal-kategoriale Wesensanalyse oder Anthropologie und empirischer Befund der Ethnologie stützen und ergänzen einander gegenseitig. Im menschlichen Handeln und Deuten vollzieht sich immer und überall die Symbolisierung des biologisch Gegebenen – und ebenso die Symbolisierung der »natürlichen« Umwelt. In handelnder und deutender Aneignung verwandeln wir Umwelt in unser Milieu, in den ausgedeuteten Bereich lebensweltlicher Praxis. Dieser wiederum ist durchsetzt und vorgeprägt von der uns überlieferten und als »soziohistorisches Apriori« (Luckmann) auferlegten Symbolwelt unserer Vorfahren und Mitmenschen (s.o.), unserem »sekundären Milieu«.53 Sekundär gegenüber dem primären Milieu unserer Welt in »aktueller Reichweite«54 ist dieses Milieu nicht zu nennen, weil es in unser »unmittelbares« Wahrnehmen und Handeln nicht mit einginge, sondern weil es diese primäre Sphäre übersteigt und die über Einzelmenschen, aktuellen Handlungsraum und aktuelle Handlungszeit hinausreichende intersubjektive Symbolwelt gesellschaftlichen Handelns konstituiert und repräsentiert. Es besteht eine ständige Wechselwirkung sowohl zwischen dem Organismus und seinem primären als auch zwischen ihm und seinem sekundären Milieu, der Kulturwelt, in der er lebt.55 Das Individuum interagiert in und mit seiner Umwelt.

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Plessner 1970: 17. Malinowski 1975: 103f. Malinowski 1975: 104. Schütz & Luckmann 1979-84: I, 63f. Vgl. Malinowski 1975: 104.

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Die Perspektive der Kultursoziologie | 187 Es wird in ein Kulturmilieu hineingeboren, paßt sich diesem interaktiv an, bewegt sich darin, gestaltet es mit und wird erneut gezwungen, sich ihm einzupassen.56 Symbolwelten, Weltbilder, kollektive Normen und Orientierungen aber leben und überleben nur, sofern sie sich auf Gruppen, Gemeinschaften, Kollektive und »Trägerschichten« stützen können, das heißt sofern sie in »kollektiven Milieus« verwurzelt sind57, aus denen die primäre und sekundäre Sphäre ihre jeweils aktuelle und praktische Materialität gewinnen. Die Wechselbeziehung zwischen unterschiedlichen Gruppen innerhalb einer Gesellschaft, die Konkurrenz zwischen ihnen und den von ihnen vertretenen konkreten Normen und Werthaltungen, die Hierarchisierung sowohl innerhalb der Gruppen als auch der Gruppen und Kollektive untereinander, die davon wiederum abhängenden Wertpräferenzen und Werthierarchien, sie alle sind die Elemente des in jeder Gesellschaft ständig stattfindenden Kulturkampfes, der Auseinandersetzung um den kulturellen Konsens: um die Vorherrschaft einer konkreten Kultur und damit eines konkreten Kollektivs, das diese Kultur vertritt.58 Im Spannungsfeld der konkurrierenden Welt-, Selbst- und Fremddefinitionen vollzieht sich eine weitere, konkrete Form der Anpassung: die Orientierung der Individuen an kulturellen »Eliten«, an Meinungs-, Geschmacks- und Stilführern. In der aktiven Selbstzuordnung zu einer Gruppe und deren konkreter Kultur kleiden sich die Individuen jeweils entsprechend ein. Aus der Verknüpfung von Werthaltung, Verhaltenskodex, »Lebensstil« und Mode in einem äußerlich sichtbaren Darstellungstypus entstehen so im Wechselspiel der miteinander konkurrierenden Gruppen das gesellschaftliche Bühnenbild, die Requisitenkammer und das Darstellerensemble, aus denen sich die Aufführungspraxis einer konkreten Gesellschaft und ihrer Kultur ableitet. Hier veranschaulicht sich Kultur im Bilderreichtum der sozialen Emblematik59, in der nach außen gerichteten und äußerlich sichtbaren Repräsentation von Mitgliedschaft, Selbstdefinition und sozialer Abgrenzung. Anpassungszwang und Anpassungsleistung bringen hierbei zusammen mit den Handlungsrepertoires grundsätzlich eine Ästhetisierung sozialen Handelns hervor: Ästhetisierung insofern, als der »funktionale« Teil einer sozialen Handlung immer begleitet wird von einem emblematisiert habituellen Darstellungsanteil, durch den sich die konkret Handelnden wahrnehmbar innerhalb einer Gruppe, einer Gemeinschaft, eines Kollektivs – oder auch vor dem Spiegel des eigenen Selbstentwurfes – im symbolischen Geflecht der sozialen Beziehungen verorten. Kultur als Zusammenhang und Abfolge von konkreten Kulturen konstituiert 56 Vgl. hierzu Dewey 1934. Hier findet sich – klarer als dies bei späteren »Interaktionisten« der Fall wäre – eine der prägnantesten Formulierungen zur interaktionistischen Andeutung des Verhältnisses von Mensch, Umwelt und Kultur: »As the developing growth of an individual from embryo to maturity is the result of interaction of organism with surroundings, so culture is the product not of efforts of man put forth in a void or just upon themselves, but of prolonged and cumulative interaction with environment« (S. 28). 57 Vgl. hierzu Halbwachs 1985: 31f. 58 Zum Geflecht der wechselseitigen Orientierungen, Abgrenzungen, Hierarchisierungen innerhalb einer konkreten Kultur vgl. Bourdieu 1982. 59 Vgl. Soeffner 1986; a. in 1989.

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188 | Hans-Georg Soeffner und erweitert das spezifisch menschliche Anpassungspotential gerade, weil sie uns fremd werden und uns als fremd gegenübertreten kann. Aus dieser Fremdheit und Widerständigkeit rühren sowohl unsere Einsicht in die Fremdbestimmung als auch unser Wissen um die Veränderbarkeit des Vorgegebenen, um unsere sich in die Zukunft orientierende tendenzielle Freiheit gegenüber dem Vorfindbaren. Der Entwicklungsgang von Kultur vollzieht sich nicht als Vollstreckung unveränderbarer (Natur-) Gesetze oder eines vorgegebenen Entwicklungsmusters: Aus der natürlichen Künstlichkeit von Kultur folgt, daß sie manipulierbar ist. In der zeitlichen Perspektive zukünftiger Entwicklung verweist sie auf einen tendenziell offenen, zwar planbaren, aber dennoch unvorhersagbaren Prozeß.60 Unter dem Vorzeichen ihrer Zukünftigkeit erhält Kultur Entwurfscharakter, wird sie zum Spielfeld der Planungen und Utopien. Und indem wir uns in unserer jeweiligen Gegenwart auf die Zukunft einstellen, schon jetzt auf sie reagieren, ergänzen wir unsere ex post wirkende, an der Bewältigung des bereits Vorgefundenen orientierte Handlungsperspektive um die der vorausschauenden Anpassung. Die am Faktisch-Notwendigen orientierte Handlungsperspektive erweitert sich um die am Möglichen orientierte Entwurfsperspektive: Kultur als uns auferlegte Realität des Vergangenen und Vorgefundenen erhält im Modus ihrer Zukünftigkeit den Akzent des Imaginären, der imaginierten Als-Ob-Realitäten. Die Blickrichtung ins Zukünftige führt der aus der Vergangenheit gespeisten Fremdbestimmung imaginativ das Reich der Selbstbestimmung vor. Der jeweilige Akzent, den wir der Kultur geben – Notwendigkeit oder Möglichkeit, Zwang oder Freiheit, Istzustand oder Sollzustand – leitet sich ebenso aus den Dimensionen der Zeitlichkeit von Kultur ab, wie die entweder als »offen« oder »geschlossen« empfundenen Handlungs- und Bedeutungshorizonte, innerhalb derer sich uns Kultur eröffnet oder abschließt.

6. Kultur als Weltfrömmigkeit 61 Der Versuch, schrittweise von den Bedeutungsschattierungen des Ausdrucks »Kultur« über kulturelle Erscheinungsformen, horizontale, vertikale und historische Abschichtungen konkreter Kulturen, über die Beschreibung von Kultur als Werthaltung, als Anpassungsleistung und schließlich über die Darstellung der strukturellen Dimensionen der Zeitlichkeit von Kultur zu einer wenn auch nicht vollständigen, so doch kategorial befriedigenden und empirisch verwendbaren Bestimmung von »Kultur« vorzudringen, mündet nun ein in die Beschreibung von Kultur als Einstellung des Menschen gegenüber sich selbst und der Welt, als Haltung und Halt in der Welt. Zwar sind sich die meisten von uns darüber im klaren, daß es »transzendentale 60 »Dafür spricht schon die Tatsache, daß jede Generation zum erstenmal auf der Welt ist, daß sie von Unvorhersehbarem bestimmt und bedrückt wird« (Plessner 1982: 179). 61 Der von Plessner geprägte – sich auf eine spezifische (europäisch-nachaufklärerische) Kultur, deren Weltdeutung, Weltbild und Weltzuordnung beziehende – Begriff »Weltfrömmigkeit« wird im folgenden von mir in einem allgemeineren Sinne verwendet. Vgl. Plessner 1982: 169.

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Die Perspektive der Kultursoziologie | 189 Voraussetzung jeder Kulturwissenschaft ist […], daß wir Kulturmenschen sind, begabt mit der Fähigkeit und dem Willen, bewußt zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen«62; dennoch gibt es nur wenige Versuche, jene Weise selbst zu beschreiben, in der wir zur Welt Stellung nehmen, und die Haltung nachzuzeichnen, die sich aus dieser Stellungnahme ergibt.63 Auch im bisher Gesagten wurde die kulturelle Einstellung im wesentlichen formal analytisch behandelt, das heißt ganz im Weber’schen Sinne: als Bedingung der Möglichkeit für den Menschen, sinnhaft wahrzunehmen, zu deuten, zu planen und zu handeln. Wie ist nun aber die Einstellung selbst zu charakterisieren? Der Ausdruck »Einstellung« (»meine Einstellung hierzu ist die folgende …«) verweist auf die Verknüpfung einer bestimmten Perspektive mit deren Folgen: einer von der Perspektive abhängenden Bewertung von Personen, Dingen, Ereignissen. Eine solche Einstellung – als bestimmte, festgelegte Sichtweise – kann man entweder »nach und nach gewonnen«, das heißt implizit entwickelt haben: sie hat sich allmählich »wie von selbst eingestellt«, man ist eher passivisch eingestellt worden. Oder man hat sich selbst bewußt auf etwas eingestellt (»darauf muß ich mich erst einmal einstellen«). Beide Bedeutungsvarianten gehören dem gleichen semantischen Feld an wie die Wendungen »eine Uhr, ein Meßinstrument, eine Kamera einstellen«.64 Kurz: wenn wir eine bestimmte »Einstellung entwickeln«, »haben« oder »einnehmen wollen«, so drücken wir damit sprachlich ziemlich unmißverständlich einen instrumentellen Umgang mit uns selbst aus. Wir nutzen ständig – bewußt oder unbewußt – diese Fähigkeit, uns in unterschiedlicher Weise als Wahrnehmungs- und Handlungsinstrument einstellen und justieren zu können, im Rollenhandeln und im Spiel ebenso wie beim Wechsel von einem Erkenntnis- und Handlungsstil zum anderen, etwa vom Erkenntnisstil praktischen alltäglichen Handelns zum distanzierten Erkenntnisstil der Wissenschaft oder zu dem der Phantasie, der Imagination und der Kunst. In der Fähigkeit, uns bewußt auf etwas einstellen zu können, verbinden sich Anpassungszwang und Freiheit: Wir sind zwar gezwungen, uns unserer Umgebung anzupassen, aber wir haben tendenziell die Freiheit, aus einem Repertoire unterschiedlicher Alternativen diejenige auszuwählen, die unseren eigenen Zielen und Zwecken am nächsten kommt. Diese Freiheit ist Ausdruck und Resultat unserer »natürlichen Künstlichkeit«. Sie macht uns zu Kulturmenschen, ist die Voraussetzung für Kultur, aber noch nicht kulturelle Perspektive im engeren Sinne. Denn der durch sie eröffnete Freiraum erstreckt sich auch auf pragmatisch-alltägliches Han62 Weber 1973: 223. 63 Plessner und Gehlen richten in ihrer Anthropologie das Augenmerk auf die Wesensbestimmung des Menschen und seiner u.a. kulturellen Arbeit. Weber und Simmel verfolgen vor allem die Analyse der Entstehung, Entwicklung und der Objektivationen sozialen Sinns vor dem Hintergrund der formalen Annahme einer kulturellen Werthaltung als Bedingung der Möglichkeit sinnhaften Handelns. Mir geht es hier jedoch um die Beschreibung der Haltung selbst. 64 Im Gegensatz etwa zu den Bedeutungsfeldern »jemanden anstellen (einstellen)« oder »das Feuer einstellen« (etwas beendigen).

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190 | Hans-Georg Soeffner deln, in dem die kulturelle Einstellung zwar immer auch mit enthalten ist (s.o.), aber keine dominierende Rolle spielt. Wenn wir im Wahrnehmen, Deuten und Handeln den Hauptakzent auf die kulturelle Einstellung legen, wechseln wir unseren Erkenntnis- und Handlungsstil. Wir ziehen uns zurück aus pragmatischen Handlungszwängen, richten eine reflexivanalytische oder reflexivästhetische Distanzschranke zwischen Wahrnehmen und Handeln auf und konstruieren damit andere Sinnbezirke und Realitätsbereiche65, etwa die der Wissenschaft, der Kunst und der Religion. Dabei stellt es sich heraus, daß die Besonderheit der kulturellen Einstellung und Perspektive darin besteht, daß sie multiperspektivisch organisiert ist: In kultureller Perspektive organisieren wir einen tendenziell freien Wechsel der Perspektiven auf der Grundlage einer »künstlich« hergestellten Handlungsentlastung. Wir nehmen uns die Freiheit, um die Dinge herumzugehen, die Erlebnisse anders zu ordnen, die Mehrdeutigkeit gegen das Eindeutige auszuspielen, die »Faktizität« des Wahrgenommenen der Faktizität der Wahrnehmung unterzuordnen, das Imaginative der Realität und die Realität des Imaginativen miteinander in Beziehung zu setzen. Die Fähigkeit, uns einstellen zu können, bezieht sich nicht ausschließlich, ja nicht einmal in erster Linie auf das, was wir »den geistigen Menschen in uns« zu nennen gewöhnt sind. Sie ist – unabhängig von allen Eingrenzungs- und Abspaltungsmöglichkeiten, die wir uns schaffen können – zunächst ganzheitlich organisiert. In der körperlichen Situierung unserer »geistigen« intellektuellen Leistungen ebenso wie in der intellektuellen Domestizierung unseres Körpers sind wir ganzheitlich unser eigenes Einstellungs- beziehungsweise Meßinstrument und Wahrnehmungsorgan. In dieser »künstlichen« Einstellung wird uns alles: Gedanken, Träume, Phantasien, Affekte, Gefühle, Überzeugungen – zum Gegenstand der Reflexion, Kontrolle oder Manipulation66, sei es, daß wir zum Beispiel herausfinden wollen, welche Musik zu unserer augenblicklichen Stimmung paßt, oder daß wir überlegen, mit welchen Mitteln wir uns in eine gewünschte, leider noch nicht ganz erreichte, Stimmung versetzen wollen. Die strukturelle Multiperspektivik der kulturellen Einstellung, wie sie in Religion, Kunst und Wissenschaft repräsentiert ist, führt – historisch – konsequent zur Wahrnehmung der individuellen Freiheit in der Selbsteinstellung. Insofern ist es eine beinahe zwangsläufige Folge, daß in der Entwicklung der zunehmenden Erkenntnis von Bedingungen sowie Freiräumen der Wahrnehmung und der Perspektiven auch die Selbstwahrnehmung in kultureller, hier: in künstlerischer Einstellung zum Gegenstand der Reflexion wurde. Das Individuum erhielt dabei zugleich Instrument- und Werkcharakter. Was Wunder also, daß in der Moderne (die Gegenwart ist hier eingeschlossen) vom »Individuum als Kunstwerk« gesprochen wird, wenn dabei auch hinter der postulierten Einmaligkeit und Pracht der Schöpfung 65 Vgl. hierzu Schütz & Luckmann 1979-84: I, 47ff.; II, 139ff. 66 Diese besondere Problematik habe ich lange mit Anselm Strauss – dem ich nicht nur hierzu viele Anregungen verdanke – diskutiert. Er untersucht das Zusammenspiel von ganzheitlichem Gefühlsausdruck und impliziter Gefühls- und Empfindungsmanipulation am Beispiel des Phänomens »collective mood«.

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Die Perspektive der Kultursoziologie | 191 der weniger prächtige und einmalige Schöpfer zumeist verschämt zurücktreten muß. Natürlich erzeugt unsere Selbsteinstellung in die kulturelle Perspektive nicht primär und von vornherein den »Zauberton« jener holden Flöte, bei deren Spielen »selbst wilde Tiere Freude fühlen«.67 Das künstliche Arrangement der Freiheit kann weder dauerhaft im Alltag durchgehalten werden, noch sind seine Folgen ausschließlich angenehmer Natur. Vielmehr bringt es uns auch die Grenzen der Reichweite unserer Erfahrung, unseres für sicher gehaltenen Wissens sowie die Künstlichkeit und Gefährdung unserer Sinnkonstruktionen überhaupt zu Bewußtsein: Nicht nur den Welten in kultureller Einstellung, sondern auch der von dort aus betrachteten »realen« Alltagswelt kann so der Charakter der »Als Ob«-Realitäten und deren Brüchigkeit zugeschrieben werden. Religion, Kunst und Wissenschaft als die auffälligsten und am häufigsten genannten Kulturschöpfungen, an denen die Menschheit in kultureller Einstellung gearbeitet hat, repräsentieren die kulturelle Perspektive – deren spezifische Multiperspektivik – am reinsten, wenn auch in sehr unterschiedlichem Umgang mit dem Realitätsakzent, den sie jeweils ihren Konstruktionen erteilen. Sie alle sind Ausdruck für eine Grenzüberschreitung aus dem Realitätsbereich der alltäglichen Lebenswelt hinaus. Sie alle finden jedoch zugleich in der alltäglichen Lebenswelt statt und sind zumeist unmittelbar mit dem Alltag verknüpft. Dementsprechend haben wir jene inneren Grenzüberschreitungen – von einer Einstellung in eine andere, von einem Wahrnehmungs- und Erkenntnisstil zu einem anderen – mit einer Fülle von äußeren Kennzeichen und Symbolen versehen, an denen die Grenzübergänge und Schlagbäume sichtbar werden. Die rituell abgesicherten Übergänge vom Werktag zum Feiertag, vom Alltag zum Fest, von der Arbeit zum Spiel ordnen unser alltägliches Leben ebenso, wie sie es fortwährend mit einem zusätzlichen Sinnhorizont umgeben, dem wir erkennbar einen besonderen Bedeutungsakzent verleihen. Auffällig ist dabei, daß wir einige der allgemeinsten, alltäglichsten Gegenstände, Formen des Zusammenlebens oder Tätigkeiten sichtbar als Orte der Grenzüberschreitung deklarieren, sie religiös legitimieren und absichern oder sogar zu einem zentralen religiösen Symbol erheben (so in der Überhöhung der »normalen« Familie zur »heiligen Familie« der christlichen Religion). Ob es das Tischgebet bei der täglichen Mahlzeit, die »Heiligung« (zumindest im mediterranen Entstehungsbereich der Religion) alltäglicher Lebensmittel (Brot, Wein, Lamm) oder die Sakramente sind, mit denen wir die allgemeinen Stationen menschlichen Lebens symbolisch begleiten (Geburt – Taufe, Heirat – Ehe, Tod – Sterbesakrament), sie alle oder ihre jeweiligen gesellschaftlichen Substitute durchziehen sichtbar das alltägliche Leben: sie sakralisieren das alltäglich und sozial Bedeutsame. So verknüpft ein Netz von symbolisch ausgestalteten, rituell durchformten Handlungsmustern, den Repräsentanten »kleiner«, »mittlerer« und »großer« Trans-

67 Wolfgang Amadeus Mozart: Die Zauberflöte. Stuttgart 1966 (11791): 1. Aufzug, 12. Auftritt.

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192 | Hans-Georg Soeffner zendenzen68, unsere alltäglichen mit den von uns bewußt überhöhten Tätigkeiten, unsere alltäglich-pragmatische mit der kulturellen (und/oder religiösen, künstlerischen) Perspektive. Die Grenzen zwischen dem Individuum und seinem (seinen) Mitmenschen, zwischen dem eigenen Körper und anderen Körpern, zwischen »öffentlichem« Raum und Privatraum, zwischen Allgemeinbesitz und »privatem« Eigentum, zwischen individuell bedeutsamen und kollektiv bedeutsamen Orten, zwischen Arbeitsplatz und Mußeraum, zwischen Arbeits- und Freizeit, sie alle sind kenntlich gemacht und werden nur von jeweils kulturell Nicht-Eingeweihten in unpassender, rituell nicht angemessener Weise überschritten.69 Ebenso wie die Grenzen in sozialem Raum und sozialer Zeit und die Übergänge von einem Wahrnehmungs-, Erkenntnis- und Handlungsstil zum anderen markieren wir symbolisch unsere jeweiligen Stimmungen, Hoffnungen, Wünsche und Ängste, die individuellen wiederum abgegrenzt von den kollektiven. Das Geflecht der symbolischen Verweisungen – der Bedeutsamkeitskennmarken und Rituale – durchzieht, solange es nicht zu deutlichen Brüchen kommt, unauffällig unser gesamtes Leben. In eben dieser ständigen Symbolisierungsarbeit, in der permanenten Setzung von Bedeutungs- und Wertakzenten bringen sich Wirkungsweise und Resultat der kulturellen Einstellung und Perspektivik zum Ausdruck. Allerdings: sie verleihen uns selbst und unserer Welt nicht lediglich Sinn, repräsentieren nicht lediglich unseren Versuch, uns durch einen Schutzschild von Bedeutungen und Erklärungen gegen Zufälligkeit und Chaos abzusichern: Sie »veredeln« und überhöhen tendenziell jeden Zug unseres Lebens – sie sichern das Geflecht der Bedeutungen zusätzlich durch einen Wertakzent ab; Kultur als menschliche Einstellung ist Frömmigkeit gegenüber den Dingen. Sie ist diesseits der großen Religionen die konkrete, täglich praktizierbare Menschenreligion – so etwas wie die unentwegte Anstrengung, unsere Zufälligkeit und Endlichkeit in der Zeit zu transzendieren. Da Kultur – in diesem Sinne – elementarer Bestandteil unserer selbst ist und wir ihr nicht entfliehen können, bleibt uns auch dann, wenn wir sie wegen ihrer Täuschungsanfälligkeit und ihres existenziellen Pathos belächeln, schließlich doch nichts anderes übrig, als sie mit mehr oder weniger großem Bedauern zu begrüßen.

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68 Vgl. Schütz & Luckmann 1979-84: II, 139ff. 69 Vgl. Soeffner 1992b.

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194 | Hans-Georg Soeffner Soeffner, Hans-Georg, 1986: Emblematische und symbolische Formen der Orientierung. In: Hans-Georg Soeffner (Hg.): Sozialstruktur und soziale Typik. Frankfurt am Main. S. 1-30. – 1989: Auslegung des Alltags – Der Alltag der Auslegung: zur wissenssoziologischen Konzeption einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik. Frankfurt am Main. – 1992: Luther – Der Weg von der Kollektivität des Glaubens zu einem lutherischprotestantischen Individualitätstypus. In: Hans-Georg Soeffner: Die Ordnung der Rituale: die Auslegung des Alltags 2. Frankfurt am Main. S. 20-75. – 1992a: Stil und Stilisierung. Punk oder die Überhöhung des Alltags. In: HansGeorg Soeffner: Die Ordnung der Rituale: die Auslegung des Alltags 2. Frankfurt am Main. S. 76-101. – 1992b: Rituale des Antiritualismus. Materialien für Außeralltägliches. In: Hans-Georg Soeffner: Die Ordnung der Rituale: die Auslegung des Alltags 2. Frankfurt am Main. S. 102-130. – 1992c: Die Ordnung der Rituale: die Auslegung des Alltags 2. Frankfurt am Main. – 2000: Gesellschaft ohne Baldachin: über die Labilität von Ordnungskonstruktionen. Weilerswist. Tylor, Edward B., 1873: Die Anfänge der Cultur: Untersuchungen über die Entwicklung der Mythologie, Philosophie, Religion, Kunst und Sitte. Bd. 1. Leipzig. Weber, Max, 51973: Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher Erkenntnis. In: J. Winkelmann (Hg.): Soziologie, universalgeschichtliche Analysen, Politik. Stuttgart. S. 186-262.

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Kultur und Ökonomie | 195

Kultur und Ökonomie. Eine ökonomische Herangehensweise Birger P. Priddat Das Verhältnis von Ökonomie und Kultur ist innerhalb der Ökonomie unterbestimmt. Es gibt wohl eine »cultural economics«, die untersucht, wie Kunstmärkte funktionieren.1 Aber das große Webersche Thema, auch die großen Themen der historischen Schule der deutschen Nationalökonomie, werden nicht mehr gepflegt.2 Die Zeit der »großen Erzählungen« ist in der Ökonomie längst vorbei; die Ökonomie ist eine analytische Wissenschaftskultur geworden, die Kultur aus ihren Analysen entfernt hat. Nur innerhalb der neueren Institutionenökonomik wird Kultur als ökonomische Variable wieder eingeführt. Die Lage kompliziert sich etwas dadurch, daß in den Kulturwissenschaften Kultur ein heterogenes Gebilde geworden ist.3 Die Kulturtopik hat selber eine eigene Kultur herausgebildet, sowie natürlich eine Geschichte seit Max Weber et al. »Unser Begriff von Kultur […] spiegelt die Zweideutigkeiten und Widersprüche wider, die der Moderne als Kultur zueigen sind, er bringt die Probleme und die Labilität des Projekts der kulturellen Moderne zum Ausdruck, verschleiert und kaschiert beides aber gleichzeitig.«4

Clifford Geertz wird noch deutlicher: »[Die] Auflösung feststehender Gruppierungen und vertrauter Unterteilungen, durch die die politische Welt so unhandlich und unergründlich geworden ist, hat auch die Interpretation von Kultur komplizierter gemacht: Wie die Menschen die Dinge sehen und auf sie reagieren, wie sie sich die Dinge vorstellen, sie beurteilen und mit ihnen umgehen, entzieht sich zunehmend unserer Kenntnis. Kulturanalyse ist heute ein weitaus schwierigeres Unternehmen als zu jener Zeit, da wir wußten, oder besser: glaubten zu wissen, was womit zusammenstimmt und was nicht.«5

Clifford Geertz’ Analyse hat eine Parsonssche Herkunft (die selber wiederum eine Webersche Herkunft hat). Kultur ist, wie in der Parsonsschen Soziologie, eine Art von »shared symbolic system.«6 Damit wird erklärt, daß die Frage der Kultur eine der Interpretation der Zeichen ist; Kultur wird als semiotische Dimension eingeführt.7 Zum anderen wird ein Topos angeboten, der sich als eine Art von Minimalkonsens 1 Vgl. dazu das exzellente kleine Journal of Cultural Economics (inzwischen in 22 Bänden bei Kluwer Academic Publishers), aber auch: Grampp 1989; Frey & Pommerehne 1989; Towse & Khakee 1992; Hutter 1994. 2 Vgl. die Ausnahmen: Berger 1986, 1990. 3 Vgl. Baecker 1999. 4 Markus 1997: 13. Vgl. auch Welsch 1998 und Baecker 1998. 5 Geertz 1996: 23. 6 Parsons 1951: 16. 7 Zur semiotischen Analyse von Kultur vgl. MacCannell & MacCannell 1982; Geertz 1997.

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196 | Birger P. Priddat nicht nur in der Soziologie, sondern auch in der Ökonomie vorhält: Danach ist »nach wie vor […] Kultur jenes System stabiler Sinnmuster, das Handlungen ihre Orientierungen verleiht.«8 Die Parsonsschen »shared symbols« werden hier in »gemeinsamen Sinn« transponiert, mit der Konnotation, daß »Sinn« Handlungen Orientierung verleiht. »Sinn« ist der Name für etwas wie »sinnvolle Bedeutung«. Wir finden die semiotische Ebene in eine semantische gewechselt. »Symbole« haben dann »Sinn«, wenn sie »Bedeutung« für das Handeln der Handelnden haben. »Shared symbols«, können wir hiernach sagen, sind deswegen kulturell relevant, weil sie »gemeinsamen Sinn« als »geteilte Überzeugung« repräsentieren. Dieser Minimalkonsens, der mit den zitierten Darlegungen von Markus und Geertz nicht konform geht, wird auch von Ökonomen geteilt, in Ermangelung kulturtheoretischer Analysen, die für Ökonomen gewöhnlich nicht – jedenfalls bisher nicht9 – zu ihrem Theorierepertoire zählen. »Systeme stabiler Sinnmuster« sind für Ökonomen existent, aber außerhalb der Ökonomie – als gesellschaftliche Ressource, auf die sie kostenlos zugreifen. Das Wort »Stabilität« fasziniert Ökonomen, weil sie dann zugestehen können, daß kultureller Wandel auch ökonomische Wirkungen zeitige. Da die Kultur aber als stabiles Sinnmuster eingeführt sei, reiche es methodisch aus, die Kultur für die schnellen wirtschaftlichen Handlungen als invariant zu betrachten, damit für die Ökonomie in ihrer Normalform als irrelevant. Die Differenz, die hier eröffnet wird, ist die zwischen schnellen und langsamen Bewegungen der Wirtschaft; für die letzteren kann Kultur bedeutsam werden, was eine alte Perspektive neu eröffnet, nämlich die Betrachtung der Ökonomie als geschichtliche Bewegung. Das gilt für die Wachstumstheorie, aber auch für die neuere Institutionenökonomie, die, neben der Wirkungsweise von Institutionen für Märkte, auch deren Wandel untersucht. Da Institutionen als dauerhafte Regelsysteme vorgestellt werden, haben wir es mit demselben Muster zu tun, das eben für die Relation Ökonomie/Kultur angesprochen wurde: Institutionen sind die trägere, sich nur allmählich wandelnde Instanz, gegenüber den »schnellen« Märkten. Es liegt nahe – wenn wir uns den kulturtheoretischen Minimalkonsensus vergegenwärtigen, den auch Ökonomen in Anspruch nehmen – Institutionen 1.

2.

als »Kulturfaktoren« für die Ökonomie in Anspruch zu nehmen, mit der neuen Unterscheidung, daß die Kultur nunmehr innerhalb der ökonomischen Theorie verortet werden kann, nicht mehr als eine ceteris paribus-Konstante; und Institutionen als »shared mental models« zu definieren, das heißt eine Transposition der Parsonsschen Soziologie des »shared symbolic system« in moderne Institutionenökonomie vorzunehmen. Tatsächlich finden wir diese Transposition vor, und zwar bei Douglas C. North, einem exponierten Institutionenökonomen, der für seine Arbeiten bereits einen Nobelpreis erhalten hat.

8 Baecker 1998: 72. 9 Ausnahmen bestätigen die Regel; vgl. Schefold 1994; Vanberg 1994; Klump 1996; Klamer 1996.

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Kultur und Ökonomie | 197 1. Kultur als Institutionen: D.C. North Pot & Groenewegen zum Beispiel unterscheiden drei Basiskonzepte der Kultur in der Ökonomie: 1.

2.

3.

»Den Kontingenzansatz: Kultur wird hier als eine residuale Variable betrachtet. […] Die Rolle der Kultur ist begrenzt auf die Erklärung derjenigen Phänomene, die durch die gewöhnlichen Kontingenzvariablen unerklärt bleiben.« »Den ideativen Ansatz (ideational approach): Kultur ist durch die Werte der Gesellschaft repräsentiert. […] Untersuchungen in diesen Traditionen haben ihre Anstrengungen auf die Identifikation von Normen und Werten ausgerichtet. Sie heben oft Variablen als kulturelle Dimension hervor, die auf dem Level individueller Persönlichkeit verortet werden. Diese ›Systeme gemeinsam geteilter Ideen und Meinungen‹ (systems of shared ideas and meanings) werden zwischen den Generationen übertragen durch Primärsozialisation (z.B. Familie, Religion).« »Die institutionelle/historische Sichtweise: Kultur nimmt die Form von Artefakten oder Institutionen an. […] Das Wesen der gesellschaftlichen Institutionen wird als Ausdruck des dominanten Wertesystems der Gesellschaft betrachtet.«10

Die moderne Institutionenökonomie D.C. Norths ist eine Mischung aus den Kulturkonzeptionen 2 und 3. Institutionen sind kulturelle Engramme der Gesellschaft. Die kulturellen Merkmale einer Gesellschaft wandeln sich im Laufe der Zeit, und dabei spielen Zufälle, Lernen und natürliche Auslese eine Rolle.11 D.C. North entwickelt eine Theorie, in der wirtschaftliche Entwicklung als Wechselspiel von formalen und informalen Institutionen beziehungsweise Regeln erklärt wird. Informale Institutionen sind für North »kulturspezifische Verhaltensnormen.«12 Eine der Hauptthesen Norths lautet, »daß Institutionen durch Senkung des Preises, den wir für unsere Überzeugungen zahlen, Ideen, Dogmen, Moden und Ideologien zu wichtigen Ursachen institutionellen Wandels werden lassen.«13

In einer anderen Formulierung, die den Kern institutionenökonomischen Denkens präsentiert, lesen wir: »Wenn die Mitglieder einer Gesellschaft einem einheitlichen Verhaltensstandard zustimmen, sinken die Transaktionskosten und die Kosten zur Einhaltung der Nutzungsrechte.«14

10 11 12 13 14

Pot & Groenewegen 1994: 2f. (eigene Übersetzung; B.P.). Boyd & Richerson 1985. North 1992: 167. North 1992: 101. Hull & Bold 1994: 449 (eigene Übersetzung; B.P.).

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198 | Birger P. Priddat Der Preis, den North hier anspricht, bemißt sich durch die Höhe der Beschränkungen, die die Institutionen den Akteuren auferlegen. »Institutionen sind Beschränkungen, die menschliche Wesen der menschlichen Interaktion auferlegen. Die Beschränkungen gliedern sich in formale Regeln (Verfassungen, Recht und Regulationen) und in informale Regeln (Konventionen, Normen und eine geltende Sittlichkeit) und ihre Wirkfaktoren. Diese Beschränkungen definieren, zusammen mit den Standardrestriktionen der Ökonomik, den Handlungsmöglichkeitsraum (opportunity set) innerhalb der Wirtschaft.«15

North bewegt sich im Standarderklärungsansatz der Ökonomie, nur daß die Institutionen als Restriktionen die individuellen Wahlverhalten in einem modus collectivus betreffen, da viele Akteure gleichzeitig durch dieselbe Restriktion koordiniert werden: »Der Schlüssel zu den Wahlhandlungen, die die Menschen ausführen, sind ihre Wahrnehmungen, die eine Funktion der Art und Weise sind, wie das Bewußtsein (mind) die Informationen interpretiert, die es erhält. Die mentalen Konstruktionen, die Individuen ausbilden, um die sie umgebende Welt zu erklären und zu interpretieren, sind teilweise ein Ergebnis ihres kulturellen Erbes, teilweise ein Ergebnis ihrer gewöhnlichen konkreten Alltagsprobleme, denen sie gegenüberstehen und die sie bewältigen müssen, und teilweise ein Ergebnis allgemeinen Lernens. […] Es gibt eine komplexe Wechselwirkung zwischen dem kulturellen Erbe (cultural heritage), der Quelle früher Prägungen, zwischen der Formierung konsequenter mentaler Modelle und zwischen den partikulären Institutionen, die daraus resultieren. Wenn wir die Aussage akzeptieren, daß Institutionen dafür taugen, Unsicherheit in menschlichen Interaktionen zu reduzieren, dann sind Institutionen eindeutig eine Extension der mentalen Konstruktionen, die das menschliche Bewußtsein (human mind) entwickelt, um die Umwelt der Individuen zu interpretieren.«16

North führt einen kognitiv aufgeladenen, mit einem mentalen Modell der Welt ausgestatteten Akteur ein, dessen hervorragendstes Merkmal seine hermeneutische Kompetenz ist: »[Es] interpretieren Individuen, mit verschiedenen Hintergrundschemen ausgestattet, die gleiche Tatsache verschieden. […] In Konsequenz dessen treffen sie unterschiedliche Entscheidungen (choices).«17

Die hermeneutische Kompetenz, die North einführt, ohne sie explizit so zu nennen, steht methodisch in Differenz zur gewöhnlichen rational choice-Erklärung ökonomischen Handelns, auch in Differenz zur »bounded rationality«, die North ansonsten verwendet. Die »bounded rationality« geht, wie die rational choice-Theorie, davon aus, 15 North 1995: 15 (eigene Übersetzung; B.P.). 16 North 1995: 17 und 25 (eigene Übersetzung; B.P. ); vgl. auch Denzau & North 1994: 15. 17 North 1995: 17 (eigene Übersetzung; B.P.); vgl. auch Denzau & North 1994: 15.

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Kultur und Ökonomie | 199 daß Individuen rational die beste Alternative auswählen, nur daß im Fall der »bounded rationality« die Informationen über den Alternativenraum begrenzt sind; die Akteure sind »nicht vollständig informiert«. In dem Moment, in dem North einführt, daß seine Akteure die Welt verschieden interpretieren, führt er eine hermeneutische Kompetenz ein, die zusätzlich zur Unvollständigkeit der Information über die Welt die unvollständigen Informationen auch noch verschieden interpretieren kann. Epistemologisch betrachtet, gibt es jetzt keine theorie- oder genauer: weltmodellunabhängigen Tatsachen mehr. Das Handlungssubjekt muß für jede ökonomische Entscheidung angeben können, auf welche Interpretation welcher Welt, das heißt welchen Alternativenraumes sie sich bezieht. Das scheint ein notwendiger methodischer Schritt zu sein, um Ökonomie, qua economic behaviour, an Kultur koppeln zu können. Wenn man, wie North, Kultur als prägendes Wertesystem einführt, kann die Ökonomie mit der Einführung kognitiv geladener Akteure an die Kulturwelten anschließen, allerdings mit dem ernüchternden Ergebnis möglicher divergenter Weltmodelle und damit divergenter Entscheidungen. In diesem Punkt schließt die Ökonomik an die Konzeption der Kultur als Dissipation an, um aber genau das Gegenteil zu bewerkstelligen: Die Institutionenökonomie wird für Ökonomen deshalb interessant, weil sie die Divergenz der Weltmodelle der Akteure aufheben kann. Die Möglichkeit divergenter Interpretation von Situationen soll durch die Institution aufgehoben werden, indem sie als »shared mental model« interpretiert wird. Über eine Analogie wird von der weltordnenden Funktion individueller mentaler oder kognitiver Modelle auf die gleiche Funktion bei den Institutionen geschlossen: Sie seien eine »Extension der individuellen mentalen Konstruktionen«. Indem noch einmal die Rolle der mentalen Modelle als Interpretatoren der menschlichen Umwelt erinnert wird, wird dieses Individualkonzept als transindividuelle Extension mentaler Modelle für die Population der Institutionenteilnehmer neu eingeführt, um die Divergenz der individuell verschiedenen mentalen Modelle in institutionelle Kohärenz zu transformieren. Denn als extendiertes mentales Modell ist die Institution ein wenn nicht verbindliches, so doch verbindendes Modell aller ihrer inkorporierten individuellen mentalen Modelle; sie bildet ein uniques »shared mental model« aller Institutionenbeteiligten. Damit ist die Intention der Institutionenökonomik, die wir vorhin schon zitierten, erreicht: »Wenn die Mitglieder einer Gesellschaft einem einheitlichen Verhaltensstandard zustimmen, sinken die Transaktionskosten und die Kosten zur Einhaltung der Nutzungsrechte.«18

North spricht es etwas vorsichtiger aus, als eine mögliche Tendenz: »Wenn der Informationsrückfluß über die Konsequenzen der Entscheidungen vollständig wäre, dann würden die Individuen, die eine gleiche Nutzenfunktion haben, graduell ihre Wahrnehmungen korrigieren und über die Zeit zu einem gemeinsamen Gleichgewicht tendieren.«19 18 Vgl. Fn. 14. 19 North 1995: 17 (eigene Übersetzung; B.P.).

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200 | Birger P. Priddat Die Funktion der Institutionen wird neu definiert: 1. 2.

Institutionen bilden Regeln, die für die Institutionenmitglieder die Form einer »gleichen Nutzenfunktion« annehmen, an die sich »graduell ihre Wahrnehmungen anpassen«.

Die Institution regelt nicht nur, wie bisher angenommen wird, das Verhalten (rule following behaviour), sondern, das wird bei North neu angeboten, auch die »Weltanschauung.« Daß »über die Zeit« ein gemeinsames »Gleichgewicht« erreicht würde, ist in der Form eines Erwartungsgleichgewichtes zu verstehen: »shared mental model«. Die Pointe dieser institutionenökonomischen Theorie ist die Herausbildung eines gemeinsamen kognitiven Schemas aller Regel- beziehungsweise Institutionenteilhaber über die vorgängige »gleiche Nutzenfunktion«, die ausschließlich unabhängig von jedweder Gemeinsamkeit und frei definiert ist. North bietet eine Theorie der Transformation von zuerst disparaten Individuen mit individueller Nutzenfunktion, die über die Kohärenz gleicher Nutzenfunktionen einer Regel zu folgen bereit sein können, um aus dem institutionellen Kooperationsmodus der Nutzenkohärenz in einem finalen Schritt gemeinsame Wahrnehmungen herauszubilden, die in ein Erwartungsgleichgewicht münden, das er an anderer Stelle »shared mental model« nennt (bzw. »ideology«). Wir können diesen Prozeß auch einen Phasenübergang von Koordination zu Kooperation nennen. Wenn alle Institutionenmitglieder über ein und dasselbe »shared mental model« verfügen, verfügen sie alle über den beziehungsweise wissen sie alle vom gleichen Konsequenzenraum. Damit ist zwar noch nicht die Bedingung vollständiger Information erfüllt – alle können unvollständig über den gleichen Konsequenzenraum informiert sein, aber ein »bounded rationality model« verlangt keine vollständige Information. Für das Institutionenkollektiv reicht das gemeinsame Wissen innerhalb des begrenzten Konsequenzenraumes aus. Indirekt gibt North damit auch, nebenbei, einen Hinweis auf die »ideology«Problematik. Man kann sich gemeinsam irren. Ohne Dynamisierung des »shared mental models« durch perennierende Kommuniktion (über seine Geltung, seine Grenzen, seine Möglichkeiten der Erweiterung und Änderung) kommt eine unglaubwürdige Stabilität ins Spiel, die North allerdings benötigt, weil er Kultur als ein nur langsam sich verschiebendes Werteschema eingeführt hat: Das systematische Konzept der Extension des mentalen Modells wird um einen einfachen Prozeß erweitert: durch Lernen, das heißt durch Anpassung der Weltmodelle an den Konsequenzenraum von Institutionen.20 Doch ist der Prozeß der institutionellen Kohärenz individueller mentaler Modelle nicht nur durch unmittelbares Lernen gesteuert, sondern basiert auf einem sehr viel grundlegenderen Basisprozeß des »kulturellen Erbes« (cultural heritage):

20 Denzau & North 1994: 15. Vgl. auch North 1988: 49.

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Kultur und Ökonomie | 201 »Die große Unterschiedlichkeit (diversity) menschlicher Kultur, die die Anthropologen entdeckt haben, weist auf deren Bedeutung hin. In solch einer Lage muß Lernen, das über direktes Lernen hinausgeht, den Grad an Ähnlichkeit (similiarity) zwischen den Kulturmitgliedern fördern, den man in jeder menschlichen Gesellschaft findet. Das kulturelle Erbe unterstützt die Vorgänge, die die Divergenzen in dem mentalen Modell reduzieren, das die Menschen in einer Gesellschaft haben, und konstituiert die intergenerationale Übertragung zur Vereinheitlichung der Wahrnehmungen (unification of perceptions). So sind wir in der Lage, Kultur als Einkapselung der Erfahrungen der vergangenen Generationen jeder partikularen kulturellen Gruppe zu verstehen.«21

In dieser Perspektive wird Kultur betrachtet als »auf einem Verhalten gründend, das trainiert ist, die Sozialisation zu reflektieren und dann persistent zu bleiben«.22 »Institution« ist dann der Name für eine populationskohärente Persistenz von Sozialisationsmustern. »Unification of perceptions« ist die institutionenökonomische Antwort auf die »cultural diversity«. Kultur, verstanden im älteren Sinne des »shared symbolic system«, wird als Traditionswährung eingeführt, die den in der Diversität der individuellen mentalen Modelle unwahrscheinlicher gewordenen Prozeß ihrer Kohärenz, den die Institutionen bilden, durch kulturelle Prägung, das heißt durch ein Traditionsmodell der Weitergabe mentaler Muster zwischen den Generationen, wahrscheinlicher machen soll. Kultur ist, wenn wir recht verstehen, ein Basisprozeß der Institutionengenese, der ihre unsicherheitsreduzierende Funktion erklären soll.

2. Defizite der Konzeption: die unexplizierte semantische Dimension Die Erklärung, die North liefert, ist unzureichend. Die kulturelle Tradition wird zur Erklärung der Möglichkeit von »shared mental models« als Institutionen bemüht, was nichts anderes als die Tautologie produziert, daß Institutionen (als kulturelles Erbe) weitere Institutionen generieren. Die Differenz zwischen Institutionen als kulturellem Erbe und neuen Institutionen wird durch die Variable »Lernen« gefüllt, die als eine Art von Universalanpassung fungiert, die dann, wenn sie gelungen ist, »shared mental models« als gemeinsam geteilte Erwartungsgleichgewichte definieren kann. Damit hat die Institutionenökonomie ihren methodischen Auftrag erfüllt, die – empirisch vorkommende – Diversität der Weltbilder in einen kohärenten institutionellen Rahmen zu re-transformieren, was es der Ökonomie erlaubt, ihre rational choiceTopik weiterhin ungestört – etwa durch die Turbulenzen des kulturellen Kontextes – zur Anwendung zu bringen. Dieser Zustand ist für die Ökonomik methodisch zufriedenstellend, methodologisch aber ungenügend. Doch ist diese Aussage nur möglich, weil eine zweite Aussage in ihr steckt: Das avisierte gemeinsam geteilte Erwartungsgleichgewicht, das die Institution ausmacht, 21 Denzau & North 1994: 15 (eigene Übersetzung; B.P.). Der erste Satz zeigt an, daß North Geertz’ Analysen kennt. 22 Jones 1995: 281.

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202 | Birger P. Priddat ist kein Aggregat von individuellen Präferenzen, sondern eine gemeinsam geteilte Bedeutung, die den Interpretationsrahmen für die nun institutionell sortierten Präferenzen darstellt. North führt die semantische Dimension explizit als »ideology« ein, die er als »shared mental models« interpretiert23 (die enge Konnotation mit dem vorhin zitierten Parsonsschen »shared symbolic system« ist unverkennbar, wenn auch North unbekannt, wenn man seine Zitationen durchmustert). Die »shared mental models«, die North einführt, sind zum einen als dieselben kulturellen Basismuster identifizierbar, die dem »kulturellen Erbe« entspringen, aber zum anderen haben sie eine eigene Dignität. Indem er Institutionen mit »shared mental models« analogisiert, macht North die Institutionen zu konsensartigen Akteursgebilden, die ein gemeinschaftliches Sprachspiel betreiben – oder, in der Sprache Foucaults, einen »Diskurs«. Sprachspielgemeinschaften haben gemeinsam geteilte semantische Räume und, über die kognitiven Akteure, gemeinsam geteilte Welt- und damit Handlungsperspektiven. Doch was North gleichsam als eine kulturelle Bestandsgröße in Institutionen festgeschrieben sehen will24 – eine Art von trägem Attraktor in hochturbulenten Marktumgebungen –, ist selber ein hoch kommunikatives, fluides Gebilde, das den semantischen Raum ändern kann und Differenzierungen einführt, die der Anschauung, Institutionen seien so etwas wie Kulturstabilisatoren, entgegenläuft. Wenn wir aber Kommunikation zulassen, lassen wir auch »not-unifying«-Prozesse zu, die die »cultural diversity« verstärken, anstatt sie zu reduzieren. North merkt das selber zur Hälfte an: »Mentale Modelle sind gemeinsam geteilte Modelle durch Kommunikationen (shared by communications); Kommunikation erlaubt die Herausbildung von Ideologien und Institutionen in einem ko-evolutionären Prozeß.«25

Wenn in der Kommunikation der Akteure neue Ideen/»ideologies«/Metaphern auftauchen, sind sie erst einmal bedeutungslos gegen die semantische Dignität der vorliegenden Sprachspiele. 23 Denzau & North 1994: 4. 24 »Auf lange Sicht kommt die kulturelle Einbindung von Informationen, aus der dann formlose Beschränkungen entstehen, insoweit zum Tragen, als sie mitverantwortlich ist für die Allmählichkeit, mit der Institutionen sich entwickeln […] aber wir wissen, daß Kulturmerkmale äußerst zählebig sind und kulturelle Veränderungen meistenteils schrittweise erfolgen« (North 1992: 53). Ähnlich Sabine Stahl: Kultur ist »die Gesamtheit der tradierten und durch die Individuen in einer Gesellschaft verkörperten Regeln, auf das individuelles Verhalten einerseits und die Koordination individuellen Verhaltens über Institutionen andererseits wirkt. Dabei sind die Institutionen selbst ein Bestandteil von Kultur. Dieses bildet sich für eine Gesellschaft im Laufe ihrer Geschichte heraus. Während sich die jeweiligen historischen Ereignisse, die man letztendlich auf individuelles Verhalten zurückführen kann, als Stromgrößen auffassen lassen, ist Kultur die daraus resultierende Bestandsgröße« (Stahl 1998: 47). 25 Denzau & North 1994: 20 (eigene Übersetzung; B.P.).

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Kultur und Ökonomie | 203 »[Aber wenn] ihnen eine buchstäbliche Bedeutung beigelegt wird […] vergrößern sie den logischen Raum. Daher ist die Metapher ein wesentliches Instrument im Prozeß des Umwebens unserer Wünsche und Überzeugungen. Ohne sie gäbe es so etwas wie […] einen kulturellen Umbruch gar nicht, sondern nur den Vorgang der Veränderung der Wahrheitswerte von Aussagen, die in einem Vokabular fomuliert werden, das nie wechselt. […] Manche Metaphern sind jedoch insofern ›erfolgreich‹, als wir sie so unwiderstehlich finden, daß wir versuchen, ihnen einen Platz unter den Überzeugungen und damit zur Anwartschaft auf buchstäbliche Wahrheit zu verhelfen.«26

Metaphern oder neue »ideologies« verändern das Vokabular von Sprachspielen. Die »shared mental models« teilen sich wiederum selber in zwei verschiedene Welten und Vokabulare beziehungsweise die Sprachspiele ändern sich, aber nicht alle vollziehen diesen Schritt mit, so daß wir es mit »not-shared ideologies« zu tun haben, also mit mindestens zwei. Wenn wir das veränderte Sprachspiel, das wir in Norths Terminologie als »drifted ideology« bezeichen müssen, als »Neubeschreibung eines Stücks der Realität«27 beschreiben, haben wir eine evolutionäre Bifurkation oder einen Knotenpunkt, der die Änderungen von Institutionen (institutional change) erklärt. Sprachspiele sind änderungsoffen.28 Institutionen, die über »ideologies«, das heißt über Sprachspiele erklärt werden, sind es ebenso. Sich ändernde »ideologies« generieren sich ändernde Überzeugungen. Das Medium dieser Änderung ist die Kommunikation, die die Ökonomie möglicherweise aus ihrer Analytik heraushält, weil sie diese Form der Destabilisation von Erwartungsgleichgewichten beschert.29 Die erwartungsgleichgewichtsorientierte Ökonomie zumindest kann methodisch nicht mehr reüssieren; für eine Evolutionsökonomik hingegen ist diese Erklärung fruchtbar. Die Ökonomie – Norths Institutionenökonomie ist eine Ökonomik – bleibt der Institutionen/Präferenzen-Relation anschließbar, während die Interpretation von Welt, die die mentalen Modelle leisten, die semantologische Ebene der Kommunikation aufschließt. So unklar Norths Analytik an dieser Stelle wird, so klar ist immerhin die Einführung der Differenz von Entscheidung nach Präferenzen auf der einen Seite und von Entscheidungen aufgrund von Interpretationen auf der anderen, was systematisch einschließt, daß die Interpretationen (der Kommunikation) auch die Interpretationen von Präferenzen einschließen. Ich nenne diese Differenz schlicht die von Präferenz und Semantik, die für die Ökonomik neu ist; die Ökonomik war bisher bemüht, alle Intentionen, Motive, Bedeutungen, Gründe, Einstellungen etc. aus ihrer rational choice-Basistheorie auszuschließen. Präferenzen waren axiomatisch eingeführt, das heißt als nicht begründbare Ausgangsdaten eines jeden wirtschaftlichen Handelns. Mit der semantischen Di26 27 28 29

Rorty 1993: 68, mit Bezug auf Donald Davidson. Rorty 1993: 68f. Davidson 1985. Vgl. dazu Arrows Behandlung des Kommuniktionsthemas, der – strukturtheoretisch ähnlich wie North – Kommunikation als Medium adaptiver Lernkurven einsetzt (Arrow 1979).

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204 | Birger P. Priddat mension kommen Gründe ins Spiel der Kommunikation, und zwar Gründe und Überzeugungen als Ursachen von Handlungen. Wir können dann sagen, daß die rationale Wahl von Alternativen nicht nur aufgrund von Präferenzen vonstatten geht, sondern auch aufgrund von Gründen und Überzeugungen. Wenn Gründe, Überzeugungen und Einstellungen – die ja immer Semantik einführen – ebenso Ursachen für Handlungen sind wie Wünsche/Präferenzen, dann können wir die rational choice, als Basishandlung der Ökonomie, nicht mehr auf die semantikfreie Axiologie der Präferenzordnungen allein beziehen. Wir müssen Präferenzen jetzt als Präferenzen und als semantische Gründe behandeln; wir können letztere auch interpretierte Präferenzen nennen und die Unterscheidung auf grundlose und begründete Präferenzen/Wünsche legen. Wenn wir Präferenzen nach diesen zwei Dimensionen analysieren, ist es nicht mehr einfach, von axiomatisch unterstellbaren Präferenzordnungen zu sprechen, weil es ja immer Gründe geben kann, eine andere Ordnung zu bevorzugen beziehungsweise die Ordnung zu ändern – und zwar innerhalb der Handlung, die in der rational choice auf der Axiomatik der Präferenzordnungen basiert. Natürlich ist damit nicht bezweifelt, daß es Präferenzordnungen gibt, aber bezweifelbar wird von jetzt an, daß die Ordnungen stabil sind, weil sie irgendwelche natürlichen oder menschlich selbstverständlichen Ordnungen darstellen, denen axiomatische Qualität zugeschrieben werden kann. Denn wenn irgendwelche Gründe – aus der Kommunikation oder sonstwie –, die unsere Überzeugungen und damit unsere »ideologies« ändern, eine andere Interpretation der Präferenzordnung erlauben, kann sie geändert werden. Wünsche/Präferenzen können durch Gründe, Meinungen etc. modifiziert werden. Wenn wir das akzeptieren, sind Präferenzordnungen als Ordnungen von Wünschen keine von den Meinungen, Gründen etc. und deren Kommunikationen abkoppelbaren menschlichen Grundbefindlichkeiten, sondern ständig änderbar, »by communication«. Wir haben es mit »einem Netz von Überzeugungen und Wünschen« zu tun, »das ständig bearbeitet und dabei umgewoben wird. […] Dieses Netz ist nicht derart, daß es von einer anderen Handlungsinstanz als dem Netz selber […] umgewebt wird, sondern es selbst webt sich neu, indem es auf Reize reagiert wie etwa die neuen Überzeugungen […].«30 Rorty liefert eine erklärende Nuance. Präferenzen sind artikulierte Vorlieben von Akteuren. Der methodische Vorteil der Präferenztheorie, die Ursache der Bevorzugung offen zu lassen, hat zwei Konsequenzen: 1.

Man unterstellt zum Beispiel ein behavioristisches Konzept, daß die Akteure irgendwie »gereizt« werden, x vor y vorzuziehen. Man redet, ungeprüft, von »Wünschen«, »Bedürfnissen«, »Begehr«, »Begierden« etc. Jede dieser Bezeichnungen kann andere theoretische Erklärungen haben; eindeutig sind »Wünsche«, »Begierden« aber abgegrenzt gegenüber »Gründen«, »Überzeugungen« etc.

30 Rorty 1993: 65f.

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Kultur und Ökonomie | 205 2.

Man kann das behavioristische Konzept beibehalten, erweitert aber, wie Rorty, den Katalog der Reize um das, was bisher ausgeschlossen war: um »Gründe«, »Überzeugungen« etc.

Wenn »Gründe« etc., wie bisher nur »Wünsche« etc., Ursachen von Handlungen (bzw., in economics, von Entscheidungen) werden, hat man nicht nur den Präferenzenraum ausgeweitet, sondern die Kommunikation als Ort der Geltung von »Gründen« etc. hereingenommen. Man kann nicht einfach von Präferenzen auf Gründe umschalten (oder Präferenzen auf Gründe basieren), ohne den Prozeß der Überzeugung von Gründen (bzw. von neuen Gründen) außer Acht zu lassen: Kommunikation. Solange die Ökonomie alleine präferenztheoretisch basiert ist, kann ihr Kommunikation marginal erscheinen. Wenn aber »Gründe« etc. Ursachen von Handlungen werden, wird Kommunikation ein notwendiger Bestandteil von Ökonomie. Ohne Kommunikation kann man »Gründe« etc. überhaupt nicht geltend machen. Wenn man Kommunikation einführt, entscheidet die Kommunikation über das Gelten von Gründen (nicht das »Haben von Gründen«, wie das »Haben von Präferenzen«). Wir haben es dann in der Sphäre der Kommunikation mit einer eigenständigen, zweiten Ebene der Generierung von Handlungs- und Entscheidungsursachen zu tun, die unabhängig von der Präferenzebene arbeitet. Denn indem wir, mit North, annehmen, daß ökonomische Entscheidungen neben der präferentiellen eine semantische Dimenison haben, müssen wir neben den Wünschen, Bedürfnisse etc. jetzt auch Gründe, Meinungen, Einstellungen etc. notieren (»propositional attitudes«), das heißt potentiell den ganzen kulturellen Diskurs, um Entscheidungen erklären zu können.

3. Stabilität und Kontingenz: Folgen für die Konstruktion ökonomischer Theorie Das hat Folgen für die Ökonomie, die ich an dieser Stelle allerdings nur für die Institutionenökonomie aufzeigen möchte. Institutionen haben nur dann eine positive Wirkung der Ausbildung gemeinsamer Ideologien beziehungsweise von »linguistic communities«, die gemeinsame Bedeutungsräume teilen, wenn ihnen die Schließung der Unsicherheit gelingt, die die verschiedenen individuellen Bedeutungszuschreibungen erzeugen. Dieser Akt der Schließung von Institutionen ist selber kontingent, und kein natürliches Resultat sozialen Handelns: »Eine Person, die trainiert ist, einer Regel zu folgen, ist ausgerüstet mit einer Disposition, unter verschiedenen Bedingungen auf verschiedene Weisen zu reagieren, aber muß es nicht notwendig (causally) auf diese Weisen tun.«31 31 Harré & Gillett 1994: 120 (eigene Übersetzung; B.P.); »The evaluations and relationships within that discursive context give an actor a reason to incorporate a given range of semantic or meaningful responses in their manifest behavior in certain conditions but neither the rule, nor the context, nor any set of conditions compels a person to behave thus and so in a mechanical or crudely deterministic way« (ebd.: 121).

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206 | Birger P. Priddat Kommunikation ist hier erst einmal nur der Name für die eben zitierte Kontingenz, es auch anders »tun« zu können, andere Optionen einzugehen. Wir haben, wenn wir Kommunikation einführen und »Kultur« als Reflexionsebene der diversen Handlungssphären, gewärtig zu sein, daß die Akteure, die wir in die ökonomischen Modelle einführen, einem co-evolutiven Prozeß der Markt- und Kulturkommunikationsentwicklung unterliegen. Ko-Evolution bedeutet Korrespondenz und Interferenz, aber keine Abhängigkeit. Die Ökonomie muß sich, wenn sie diese Ko-Evolution analysiert, gewärtig sein, daß Entscheidungen nicht durch ökonomische Codes alleine bestimmt werden. Eine synthetische Theorie dafür existiert noch nicht. Doch kann bereits behauptet werden, daß die Analyse von gesellschaftlicher Kommunikation, von Alltagstheorien der Akteure [Priddat 1998] beziehungsweise laufender Sprachspiele für die Erklärung ökonomischer Prozesse dann genauso bedeutsam wird wie die bisher gepflegte Analyse ökonomischer Prozesse sui generis. Vor allem wird sich die Analyse des institutionellen Wandels stärker und vor allem systematisch auf gesellschaftliche und politische Kommunikationsprozesse stützen müssen, da der finalen Bestimmung oder Ausprägung von Institutionen eine Erörterung und Einschätzung der Lage vorausgeht – insbesondere für die ökonomische Theorie der Wirtschaftspolitik. Die Ökonomie wird sich auf Ethnologie, Politologie und Soziologie einlassen müssen, gegen ihren methodischen Willen, wenn sie eine angemessene Theorie der Beziehung von Ökonomie und Kultur zustande bringen will. Der tradierte rational choice wird bestehen bleiben, aber durch einen Kommunikations- und Bewertungsprozeß parallelisiert, der seine Bedeutungen aus den kulturellen Diversitäten der Gesellschaft bezieht. So entsteht ein Nexus von Präferenzengenese und -wandel, rationaler Konsequenzenbewertung und kommunikativer Bedeutungsgenerierung beziehungsweise -änderung, der die Ökonomie den sozialen Kommunikationen und ihren Bedeutungsmaschinen offenhält, die sie, alleine auf die Nutzenkonsequenzen gepolt, sonst ausschließen muß. »Die Schwierigkeiten kultureller Transformation und Formation von vielfältigen Arten von Untergruppen kreieren wiederum vielfältige Variationen innerhalb der Kultur. […] Als Ergebnis stellen wir fest, daß das kulturelle Erbe dazu tendiert, sich in zwei Teile aufzuspalten – einen als hoher Konsensus, von dem erwartet wird, daß ihn jedermann teilt; den anderen als sich vergrößernde Zahl differenzierter Wissenssysteme. Es geht dann nicht mehr darum, inwieweit die Kultur gemeinsam geteilt wird (›how shared is culture‹), sondern vielmehr darum, wie wir beide Aspekte – den hoch konsensuellen und den hoch differenzierten des kulturellen Wissens (›cultural knowledge‹) – verstehen.«32

D’Andrade schließt kritisch an die Diskussion an, die Clifford Geertz außerhalb der Ökonomie so resümiert:

32 D’Andrade 1995: 216. Vgl. auch Hutchins 1995: 354; Knight 1997.

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Kultur und Ökonomie | 207 »Angesichts der Stückhaftigkeit unserer Welt, scheint die Auffassung von Kultur – einer bestimmten Kultur, dieser Kultur – als Konsens über grundlegend gemeinsame Vorstellungen, gemeinsame Gefühle und gemeinsame Werte kaum noch haltbar.« 33

Seit MacCannell & MacCannell kann man die Frage der »Kultur« aus der – wie sich zeigt – unfruchtbaren Spannung (Kultur und Gesellschaft etc.) in die Frage überführen, »welchen Unterschied die Kultur in der Gesellschaft eigentlich macht. Die MacCannells schlagen zur konzeptionellen Fassung dieses Unterschieds, den die Kultur in der Gesellschaft macht, den Begriff der Kultursemiose vor. Damit ist nun nicht mehr, wie noch in einer Semiotik erster Ordnung, die Einheit von Zeichen und Bedeutung gemeint, sondern die Möglichkeit des Auseinandertretens von Zeichen und Bedeutung. […] Die Einheit von Zeichen und Bedeutung wird zum Sonderfall einer allgemeinen Theorie kultureller Mechanismen, die angesichts der strukturellen Differenz von Zeichen und Bedeutung sowohl deren Konvergenz wie auch deren Divergenz betonen können. Gleichzeitig kommt der Faktor Zeit ins Spiel, weil Zeichen und Bedeutung, die unter bestimmten Umständen konvergieren, unter anderen Umständen divergieren können, und umgekehrt.«34

Nichts anderes ist der oben skizzierte Fall, daß Kommunikation Bedeutungsdivergenzen erzeugt, die die »ideologies« beziehungsweise die »shared mental models« splitten. Der Schritt zur Herausbildung neuer Institutionen ist potentiell gegenüber jeder Geltung und Praxis von Institutionen möglich. Indem die Ökonomie Kommunikation als Medium dieses »change« unterbelichtet, legt sie, mangels methodischer Ressourcen, zuviel Gewicht auf die Stabilität von Institutionen und ihre »ideology«Sprachspiele. Ihre beziehungsweise Norts Institutionenökonomie ist nicht falsch, aber dynamikfern. Für eine Theorie, die »institutional change« als »change of preferences« deuten muß, insbesondere als »change of metapreferences« im Fall der sich ändernden »ideologies«, ist die Ausblendung des Bedeutungsgenerators, die semantische Sprachspielverschiebung, komplizierend, da sie irgendwelche Prozesse annehmen muß, die die Präferenzen ändern. Sie muß auf kontingente Prozesse verweisen, die sie nicht erklären kann, weil sie sich die semantologische Dimension verwehrt. Es scheint an der Zeit zu sein, daß Ökonomen sich vergewissern, was die Kulturwissenschaften inzwischen zu diesem Thema verfaßt haben35, und zwar erst einmal einzig und allein unter dem Gesichtspunkt, was es heißen könnte, wenn »Kultur« nicht mehr als invariantes Hintergrundschema der Marktprozesse mitläuft und auch nicht als invariante Institution, sondern wenn sich anstelle von »Konsens über grundlegend gemeinsame Vorstellungen« eine Disparierung von Vorstellungen 33 Geertz 1996: 74. 34 Baecker 1998: 6f., mit Bezug auf MacCannell & MacCannell 1982. Vgl. auch Hutter 1998. 35 MacCannell & MacCannell 1982; Tenbruck 1989; Haller 1989; Thompson et al. 1990; Appadurai 1996; Geertz 1996 und 1997 (5. Aufl.); Markus 1997; Welsch 1998; Baecker 1998; Kalb 1998.

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208 | Birger P. Priddat erwiese36, wenn anstelle »gemeinsamer Gefühle« deren Heteronomie gälte, und wenn anstelle »gemeinsamer Werte« von einem »Faktum der Pluralität« die Rede ist.37 Norths Institutionenökonomik leistet es, auf die Kultur als eine Kultur der Diversität hinzuweisen, dies aber als einen unbefriedigenden Zustand anzusehen, dem sie durch institutionelle Schließung begegnet. Wir können North so verstehen, daß er die Institutionen als kulturelle Strata ansieht, die zum einen die Wirtschaft kulturell restringieren, zum anderen aber die Wirtschaft selber, in ihrer institutionell formenden und geformten Version, als kulturbildend herausstellen. Die Institutionenökonomie stellt somit eine Grenzfläche her zwischen Ökonomie und Kultur, eine Hybridform der Vermittlung beider. Nicht gelungen ist ihr, die Dynamik dieses Hybrids auszuloten. Denn wenn die Institutionen eine Kultur zwischen der Ökonomie und der Kultur darstellen, hat sie eigene Bewegungsweisen, die aus ihrer grundlegend hermeneutischen Doppelrolle herrührt, die jeweils andere Seite der Relation als Kontext der einen interpretieren zu können. Wir stehen vor neuen Aufgaben, die programmatisch als neue Relation von »Präferenz und Semantik« bezeichnet sind. Die Folgen sind für die Theorie der Ökonomie erheblich, denn jetzt wird das, was die Akteure meinen, ebenso wichtig, wie ihre Präferenzen, ihr Wünschen. Wenn man Märchen als Erzählungen aus den Zeiten betrachtet, »als das Wünschen noch geholfen habe«, treten wir jetzt in die post-Märchen-Epoche der Ökonomie, in der das »Meinen« seine große Rolle gewinnt – »after the linguistic turn«. Daß »der Mensch im Mittelpunkt der Wirtschaft« stehe, wie die Ökonomie ab und an unschuldig postuliert, bekommt plötzlich eine Brisanz, mit der die Ökonomik methodisch nicht gerechnet hat.

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210 | Birger P. Priddat Luhmann, Niklas, 1995: Gesellschaftsstruktur und Semantik: Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 4. Frankfurt am Main. MacCannell, Dean & Juliet F. MacCannell, 1982: The time of sign: a semiotic interpretation of modern culture. Bloomington. Markus, György, 1997: Antinomien der Kultur. In: Lettre International 38: 13-21. North, Douglas C., 1988: Theorie des institutionellen Wandels. Tübingen. – 1992: Institutionen, institutioneller Wandel und Wirtschaftsleistung. Tübingen. – 1995: Five propositions about institutional change. In: Jack Knight & Itai Sened (Hg.), 1995: Explaining socal institutions. Ann Arbor. S. 95-102. Parsons, Talcott et al., 1951: Some fundamental categories of the theory of action: a general statement. In: Talcott Parsons & Edward A. Shils (Hg.): Towards a general theory of action. Cambridge, Mass. S. 3-46. Pot, Fred & John Elgar Groenewegen, 1994: Cultural embeddedness of business systems. Paper for the EAEPE 1994 Conference 1994, Oct. 27-29. Copenhagen. Priddat, Birger P., 1998: Nichtökonomische ökonomische Theorie. Vivienne Forresters Buch »Der Terror der Ökonomie« als anregende Lektüre zum Problem der Kontextspezifität von rational choices. In: Homo Oeconomicus 15, 2: 42-68. Rorty, Richard, 1993: Physikalismus ohne Reduktionismus. In: Richard Rorty: Eine Kultur ohne Zentrum. Stuttgart. S. 48-71. Schefold, Bertram, 1994: Wirtschaftsstile. Bd. 1: Studien zum Verhältnis von Kultur und Ökonomie. Frankfurt am Main. Schein, Edgar H., 1995: Unternehmenskultur: ein Handbuch für Führungskräfte. Frankfurt am Main. Schulze, Gerhard, 1994: Das Projekt des schönen Lebens: zur soziologischen Diagnose der modernen Gesellschaft. Vortrag auf dem 4. Kempfenhausener Gespräch. München. Stahl, Sabine, 1998: Kulturelle Beschränkungen im Transformationsprozeß: eine sozialpsychologisch-kognitive Theorie institutionellen Wandels. In: Max-PlanckInstitut zur Erforschung von Wirtschaftssystemen. Jahresbericht 1997-98. Jena. S. 46-49. Tenbruck, Friedrich H., 1989: Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft: der Fall der Moderne. Opladen. Terpstra, Vern, 1987: The cultural environment of international business. Cincinatti. Thompson, Michael et al., 1990: Cultural theory. Boulder. Towse, Ruth & Abdul Khakee (Hg.), 1992: Cultural economics. Berlin. Turner, Stephen, 1994: The social theory of practices: tradition, tacit knowledge, and presuppositions. Chicago. Vanberg, Viktor, 1994: Kulturelle Evolution und die Gestaltung von Regeln. Tübingen. Welsch, Wolfgang, 1998: Transkulturalität. Die veränderte Verfassung heutiger Kulturen. In: www.zum-thema.com (26.7.98). Wieland, Josef, 1998: Kooperationsökonomie. Die Ökonomik der Diversifität, Abhängigkeit und Atmosphäre. In: Gerhard Wegner (Hg.): Formelle und informelle Institutionen. Bd. 1: Genese, Interaktion und Wandel. Marburg. S. 9-33. – 1999: Die Ethik der Governance. Marburg.

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Die Geschichtswissenschaft | 211

Die Geschichtswissenschaft im Zeichen der kulturwissenschaftlichen Wende Friedrich Jaeger Die gegenwärtige Geschichtswissenschaft befindet sich mitten in einer Grundlagendiskussion, in der unter dem Leitwort der »Kultur« nach neuen Wegen der historischen Erkenntnis gesucht wird.1 Wenn im folgenden die verschiedenen Aspekte dieses geschichtswissenschaftlichen Trends näher untersucht werden, so geschieht dies im wesentlichen unter zwei Gesichtspunkten, die im Titel bereits anklingen: Zunächst ist zu erläutern, was mit der Formel der »kulturwissenschaftlichen Wende« gemeint ist. In einem zweiten Schritt sollen dann einige wichtige Neuorientierungen innerhalb der Geschichtswissenschaft skizziert werden, die mit dieser disziplinübergreifenden Wende hin zu den Kulturwissenschaften zusammenhängen.

1. Aspekte der kulturwissenschaftlichen Wende Die Wendung zur Kultur als Grundkategorie und erkenntnisleitende Perspektive der Forschungspraxis teilt die Geschichtswissenschaft mit anderen geisteswissenschaftlichen Disziplinen, die sich seit einigen Jahren als Kulturwissenschaften neu zu definieren versuchen.2 Dabei befinden sie sich in einer schwierigen Lage: Einerseits wird ihnen nicht nur in der akademischen, sondern auch in der breiteren gesellschaftlichen Öffentlichkeit eine zunehmende Bedeutung für die Interpretation und Orientierung moderner Gesellschaften beigemessen; andererseits steht diese Bedeutungszuweisung an die Adresse der Kulturwissenschaften in einem Mißverhältnis zur weitgehenden Unklarheit ihres theoretischen, fachlichen und methodischen Selbstverständnisses. Dabei erweisen sich nicht allein die Erkenntnisleistungen und Orientierungsfunktionen dieser Wissenschaften als höchst umstritten. Hinzu kommt die Schwierigkeit, das disziplinäre Profil der Kulturwissenschaften zu bestimmen. Folgende Eigenschaften und Entwicklungen zeichnen sich jedoch deutlich ab: 1.1. Internationalität Ein vergleichender Blick auf die Genese der anglo-amerikanischen Cultural Studies und der deutschen Kulturwissenschaften macht sowohl die internationale Gemeinsamkeit der kulturwissenschaftlichen Wende als auch die Unterschiede zwischen den verschiedenen nationalen Milieus deutlich: »Kulturwissenschaften« im Sinne deutscher Traditionen des 20. Jahrhunderts meinen offensichtlich etwas anderes als die »Cultural Studies« britischer und amerikanischer Prägung oder die aus der Annales-Tradition, der Phänomenologie oder dem Poststrukturalismus hervorgegangenen französischen Strömungen der Kulturwissenschaften, ohne daß diese Unterschiede bereits klar herausgearbeitet worden wären. Die Entstehungsgeschichte der Cultural Studies seit den bahnbrechenden Arbei1 Zuletzt Daniel 2001. 2 Hartmann & Janich 1998.

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212 | Friedrich Jaeger ten ihrer Gründerväter Richard Hoggart (The uses of literacy, 1957), Raymond Williams (Culture and society, 1958), Edward P. Thompson (The making of the English working class, 1963) ist weitgehend bekannt.3 Sie entwickelten sich als eine linke Kritik an einer verkrusteten Gesellschaft, einer elitären Hochkultur und einer konservativen Politik. Von Anfang an war ihnen im Sinne eines praktisch intervenierenden Denkens ein sozialer und politischer Reformanspruch sowie ein sozial nach unten erweiterter Kulturbegriff zu eigen, der unter dem Motto »culture is ordinary« bisher ausgeblendete Phänomene der Populärkultur in den Blick brachte. Diese frühen Impulse gingen auch in das im Jahre 1964 auf Initiative Hoggarts gegründete Center for Contemporary Cultural Studies (CCCS) ein, zu dessen zentraler Figur seit den späten 60er Jahren Stuart Hall aufstieg. Dieser war es auch, der als Direktor des CCCS die bis dahin eher linksbürgerlich orientierten Cultural Studies in den 70er Jahren gegenüber strukturalistischen, poststrukturalistischen und marxistischen Einflüssen öffnete und programmatisch neu ausrichtete.4 In diesem Prozeß erlangten sie eine thematische, methodische und interdisziplinäre Vielfalt, die bis heute kennzeichnend geblieben ist und sich bei ihrer Internationalisierung und insbesondere bei ihrer Verbreitung an den amerikanischen Universitäts-Departments seit den 80er Jahren noch verstärkt hat.5 Cultural Studies sind heute – mit einem Wort Stuart Halls – »not one thing«, wenngleich sich eindeutige Themen- und Interessenschwerpunkte ausmachen lassen. Dazu gehören das Interesse an Phänomenen der Massenkultur und Kulturindustrie wie etwa dem Konsum- und Freizeitverhalten unterschiedlichster Bevölkerungsgruppen; an Medien und medial vermittelten Kommunikationsformen sowie an deren Auswirkungen auf die Struktur öffentlicher Räume; an alltäglichen Handlungs- und Lebenszusammenhängen, in denen sich auf unterschiedlichste Weise symbolisch vermittelte Bedeutungen konstituieren; an Rassismus, Geschlecht, Ethnizität und Nationalismus als Instrumenten der Identitätspolitik sozialer Gruppen und als Ausdrucksformen von Zugehörigkeit und Abgrenzung; an den Folgen von Globalisierung, Massenmigration und Postkolonialismus; an den Ambivalenzen der Modernisierung und ihren kulturellen, politischen und sozialen Folgen; schließlich an den offenen und versteckten Formen kultureller Hegemonie oder an der Marginalisierung von Minoritäten und unterprivilegierten Gruppen. Zugrunde liegt ihnen dabei ein dezentrierter Blick auf die Gesellschaft, der Vielfalt und Pluralität, Andersheit und Differenz akzentuiert. Politik wird dabei nicht grundsätzlich ausgeblendet, jedoch wendet sich der Blick eher auf die Strukturen und Realitäten einer Mikro-Politik, in der Faktoren über Macht und Status entscheiden, die gewöhnlich unterhalb der Wahrnehmungsschwelle des tradierten wissenschaftlichen Blicks bleiben. Mit diesen Schwerpunktsetzungen ging ein politischer Aufklärungsanspruch im Sinne von »engaged cultural studies« einher, die im Selbstverständnis ihrer Vertreter eine politisch relevante Brückenfunktion zwischen Theorie und Praxis besitzen. 3 S. zuletzt mit weiterführenden Hinweisen Bromley et al. 1999. 4 Aus dem umfangreichen Werk Stuart Halls s. Hall 1990; 1999: 124ff.; 2000. 5 Zur Komplexität des Transfers der Cultural Studies zwischen England und Amerika s. Grossberg 1989 u. 1997.

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Die Geschichtswissenschaft | 213 Die Kontextualisierung kulturellen Wissens sowie die methodischen Strategien des »mapping« werden daher zu Strukturelementen der Kulturwissenschaften. Sie stellen eine bewußte Intervention in die soziale Praxis dar und schaffen einen neuen Typus des eingreifenden Denkens und des politischen Intellektuellen.6 Unter anderen Vorzeichen, aber mit einer durchaus vergleichbaren Vielfalt an Positionen, vollzog sich im deutschsprachigen Raum die Diskussion um die Kulturwissenschaften, die sich seit einigen Jahren von der Tradition der Geisteswissenschaften zu lösen beginnen. In ihrem Zentrum stand die Auseinandersetzung mit den geschichtsphilosophischen und den sozial- oder bildungselitären Implikationen des Geistbegriffs als Integrationsinstrument eines heterogenen Spektrums von Disziplinen, die sich als Kulturwissenschaften nun neu zu definieren und zu positionieren versuchen.7 Die deutsche Debatte um die Kulturwissenschaft läßt sich theoriegeschichtlich bis ins frühe 20. Jahrhundert zurückverfolgen, als Max Weber und seine Zeitgenossen auf dem Boden eines neukantianisch geprägten Kulturbegriffs die kulturwissenschaftlichen Disziplinen direkt auf die Herausforderungen der Lebenspraxis hin ausrichteten und als intellektuelle Antworten auf zeitgenössische Modernisierungserfahrungen begriffen.8 Es ging um den Anschluß der Wissenschaft an die Problemlagen der Gegenwart, der auf der Basis des Kulturbegriffs eher zu bewerkstelligen schien als unter dem Signum traditioneller Geisteswissenschaften. Dieses Ursprungsmotiv ist auch in den gegenwärtigen Diskussionen noch präsent. Mit der Erneuerung der Kulturwissenschaften verbindet sich auch heute wieder die Absicht, einer offensichtlichen Krise der Geisteswissenschaften durch deren Modernisierung zu begegnen und ihnen angesichts der Herausforderungen und Orientierungsprobleme unserer Gegenwart ein neues inhaltliches und betont interdisziplinäres Profil zu verleihen. Jenseits der Unterschiede zwischen Cultural Studies und Kulturwissenschaften existiert also ein hohes Maß an Gemeinsamkeit, wechselseitiger Beeinflussung und Rezeption.9 Es machen sich eine offensichtlich zunehmende Internationalisierung der Diskurse und eine Verflechtung der nationalspezifischen Milieus bemerkbar, die es erlauben, die übergreifenden Themen, Fragestellungen, Erkenntnisinteressen und Methodenstrategien des Cultural Turn trotz aller jeweiligen Eigenarten vergleichend in den Blick zu nehmen. 6 Zu diesen verschiedenen Aspekten s. During 1999 u. Grossberg et al. 1992; außerdem die Bestandsaufnahmen bei Lindner 2000; Engelmann 1999; Inglis 1993; Bundesministerium für Wissenschaft und Verkehr und Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften 1999. 7 Zum wissenschaftsgeschichtlichen Verhältnis zwischen Geistes- und Kulturwissenschaften s. vor allem Frühwald et al. 1991; Steiner 1997; Reinalter & Benedikter 1998, dort vor allem die Beiträge von Welsch und List; Anderegg & Kunz 1999; Böhme et al. 2000. 8 S. hierzu Lichtblau 1999; mit einem vergleichenden Blick auf die deutschen und amerikanischen Intellektuellenmilieus des frühen 20. Jahrhunderts Jaeger 1994a. 9 Diese internationalen Zusammenhänge der kulturwissenschaftlichen Diskussion erwähnen auch Böhme et al. 2000: 11ff.

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214 | Friedrich Jaeger 1.2. Interdisziplinarität Zweifellos gehört der Anspruch auf Interdisziplinarität zu den gemeinsamen Elementen der verschiedenen kulturwissenschaftlichen Strömungen. Trotz einer jeweils eigenständigen Konzeptualisierung von Kultur in Literaturwissenschaft, Soziologie, Ethnologie, Geschichtswissenschaft, Psychologie usw. ist den Cultural Studies und Kulturwissenschaften die Forderung nach der Überwindung etablierter Fächergrenzen gemeinsam. Ihnen geht es um die Erweiterung der Binnenkommunikation der Fächer nach außen, um eine erhöhte Durchlässigkeit, nicht aber um eine Aufhebung der Fächergrenzen. Die Verselbständigung und Ausdifferenzierung der Disziplinen durch theoretische, methodische und forschungspraktische Spezialisierung soll nicht rückgängig gemacht werden, wohl aber sollen Strategien ihrer wechselseitigen Abschottung zugunsten von Multi-, Inter- oder Transdisziplinarität abgeschwächt werden. Es geht also um eine Öffnung gegenüber anderen Fächern vom Boden des jeweils eigenen Fachs. Das erfordert die Integration anderer Fragestellungen, Forschungsmethoden, Theoriebegriffe in dessen disziplinäre Struktur, ohne die methodische Spezifik und die damit verbundenen Spezialisierungseffekte rückgängig zu machen. Eine derart intensivierte Kommunikation zwischen den Fächern bleibt nicht folgenlos für deren disziplinäres Profil: Sie verharren nicht in ihrem Geworden-Sein, sondern transformieren und erweitern den eigenen Kanon durch das Aufgreifen anderer Aspekte und Methoden. Es geht im Cultural Turn insofern zunächst und vor allem um die Pluralisierung der Forschungskonzepte, Theorieangebote und Methodenstrategien. Darin spiegelt sich eine Entwicklung, die in einzelnen Disziplinen bereits vor der kulturwissenschaftlichen Wende existierte und sich als Forderung nach Interdisziplinarität und Internationalisierung, nach einem experimentellen Aufgreifen von Forschungsmethoden und Fragestellungen anderer Disziplinen und Wissenschaftstraditionen äußerte. Für die Geschichtswissenschaft etwa erweist sich dieses Motiv der Transzendierung etablierter Fächergrenzen als ein verbindendes Element zwischen der älteren Gesellschaftsgeschichte, die sich bereits in den 1970er Jahre dem Erkenntnis- und Methodenarsenal der Sozialwissenschaften geöffnet hatte, um die geisteswissenschaftlichen Grenzen der Geschichtswissenschaft zu überschreiten, und den neueren kulturgeschichtlichen Strömungen, die sich in den letzten Jahren vor allem gegenüber der Anthropologie geöffnet haben.10 In beiden Fällen geht es um einen Gewinn an Erkenntnismöglichkeiten durch Interdisziplinarität und Erweiterung des relevanten Fächerkanons. 1.3. Praktischer Orientierungsanspruch Der Methodenpluralismus, die Internationalisierung des Diskurses und die Entwicklung disziplinübergreifender Forschungsperspektiven lassen sich als Einzelaspekte des kulturwissenschaftlichen Versuchs begreifen, die älteren Geisteswissenschaften durch eine Neuausrichtung und Orientierung an den aktuellen Problemlagen der Gegenwart mit neuer Relevanz zu versehen. Sie erweisen sich insofern als Folge ei10 S. in diesem Zusammenhang etwa Conrad & Kessel 1998; Daniel 1993; Dülmen 2000; Sieder 1994.

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Die Geschichtswissenschaft | 215 ner Erfahrung der Globalisierung von Problemen, auf die mit Hilfe neuer interkultureller Kommunikationssysteme reagiert wird. National gezirkelte Wissenschaftstraditionen und eifersüchtig behauptete Fächergrenzen verlieren vor diesem Erfahrungshintergrund ihre Plausibilität. Vielmehr stellt sich die Herausforderung, professionelles Expertentum und disziplinäre Spezialisierung mit einem fachübergreifenden Problemhorizont zu vereinbaren, ohne gleichzeitig in die Fallstricke eines neuen Dilettantismus zu laufen. Die Kulturwissenschaften lassen sich unter diesem Gesichtspunkt als eine institutionalisierte Grenzüberschreitung verstehen, die sich dem Aufkommen neuartiger und ebenfalls grenzüberschreitender Problemlagen verdankt. Auch dieser Impuls zeichnete die bereits erwähnten Diskussionen des frühen 20. Jahrhunderts aus: Während der Begriff der »Geisteswissenschaften« in wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive einen Spezialisierungsschub und Differenzierungsprozeß des Wissenschaftssystems repräsentiert, dessen Höhepunkt im 19. Jahrhundert lag und ein weitgehend ungetrübtes Fortschrittsbewußtsein der bürgerlichen Gesellschaft dokumentierte, induziert der Aufstieg des Kulturbegriffs zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Zusammentreffen mehrerer sich überlagernder Modernisierungskrisen, durch die das geisteswissenschaftliche System einer kulturellen Selbstverständigung der modernen Gesellschaft erste Risse bekam. Nicht zufällig feierte die Kategorie der Kultur – im Werk Rickerts, Simmels und vor allem Webers – ihre ersten Erfolge als Indikator eines aufkeimenden Krisenbewußtseins, eines Bewußtseins von der »Tragödie der modernen Kultur« (Simmel). Bereits hier verband sich mit dem Begriff der Kulturwissenschaft die Intention, etablierte Fächergrenzen aufzusprengen, um sich der Komplexität zeitgeschichtlicher Orientierungsfragen auf neue und problemangemessene Weise nähern zu können.11 Dieser bereits von Max Weber und seinen Zeitgenossen deutlich erkannten Orientierung der Kulturwissenschaften an den Herausforderungen durch Kulturprobleme wird man nicht gerecht, wenn man sie auf die bloße Funktion einer Kompensation von Modernisierungsschäden reduziert.12 In diesem Falle verliert der Begriff der Kultur genau die Implikationen und Bedeutungsgehalte, die er im Zuge der kulturwissenschaftlichen Wende gewonnen hat: Kultur ist dann keine wirkliche Triebkraft der geschichtlichen Entwicklung mehr, die eine relevante Modernisierungsmacht zu entfalten vermag und Schrittmacher- und Weichenstellungsfunktionen im Sinne Webers besitzt. Vielmehr ist sie auf die Funktion beschränkt, eine kulturelle Gegenwelt zu repräsentieren, die die reale Welt überhaupt erst erträglich macht. Wie aber läßt sich ein Kulturbegriff begründen, der genau diese Beschränktheit ablegt und die Kultur als relevanten Faktor von Kritik und Veränderung im Zentrum moderner Lebensverhältnisse verankert? Auf die Herausbildung eines solchen Kulturkonzepts zielt ein weiterer Schwerpunkt der gegenwärtigen Diskussionen um das Profil und die Aufgaben der Kulturwissenschaften. 11 Zum Zusammenhang zwischen gesteigerten Kontingenzerfahrungen im Prozeß der Modernisierung und der Transformation der Geistes- zu Kulturwissenschaften s.a. Steiner 1997: 18ff. 12 So Marquard 1986: 105.

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216 | Friedrich Jaeger 1.4. Die Erweiterung des Kulturbegriffs Insgesamt zeichnet sich mit Blick auf die kulturwissenschaftlichen Strömungen der Gegenwart ein diffuses Feld internationaler Entwicklungen und Milieus, disziplinärer Forschungsstrategien und Methodenkonzepte sowie praktischer Aufgaben und Orientierungsfunktionen ab. Infolge dieser unübersichtlichen Diskussionslage droht ein ubiquitär gewordener Begriff der »Kultur« zu einem Allgemeinplatz zu werden, der keinerlei analytische Trennschärfe mehr besitzt und nicht mehr in die Lage versetzt, die Fragestellungen, Perspektiven, Methoden, Funktionen und Erkenntnisleistungen der mit ihr befaßten Wissenschaften zu bündeln und zu begründen.13 Damit steht jedoch nicht nur die fachliche Konsistenz, sondern auch die Legitimität der Kulturwissenschaften als Instanzen der Orientierung und Deutung moderner Gesellschaften auf dem Spiel. Wie gesehen, verbirgt sich hinter dem Begriff der Kulturwissenschaften keine neue Disziplin, deren Anspruch darauf zielt, die etablierten Disziplinen zu einer jenseits der bisherigen Disziplinen angesiedelten Kulturwissenschaft zu transformieren oder gar im Sinne einer neuen Einheitswissenschaft zu vereinen. Vielmehr handelt es sich um einen Oberbegriff, der die ehemals geisteswissenschaftlichen Disziplinen umfaßt und sie auf neue Weise miteinander ins Gespräch bringen könnte. Allerdings stellt sich dann die Frage, was denn mit Kultur gemeint ist, auf die sich verschiedene Fächer aus ihrer je spezifischen Perspektive und doch gemeinsam beziehen können. Worin besteht also der theoriestrategische oder disziplinpolitische Mehrwert der Kulturkategorie gegenüber dem Begriff des Geistes? Wenn der Begriff der Kultur nicht zu einer Leerformel werden soll, muß er als ein theoretisch-integrativer Kern eines neuen Forschungsparadigmas entfaltet werden. Diese Notwendigkeit besitzt für die Begründung der Kulturkategorie als Grundlage disziplinübergreifender Forschung sowohl theoretische als auch inhaltliche Konsequenzen. Unter theoretischen Gesichtspunkten könnte eine Chance zur Komplexitätssteigerung des Kulturbegriffs darin bestehen, Kultur nicht gegenstandstheoretisch zu definieren und damit zwangsläufig zu verengen, sondern nach disziplinübergreifenden Grundbegriffen kulturwissenschaftlicher Arbeit zu fragen, mit denen sich einerseits die Formen und Funktionen der Kultur in der menschlichen Lebenspraxis beschreiben lassen und mit denen andererseits verschiedene Disziplinen auf je eigentümliche Weise methodisch operieren, um ihre Erkenntnisgegenstände und -methoden zu begründen. Dieser Ansatz bei kulturwissenschaftlichen Grundbegriffen könnte einen Beitrag zur Integration und Vernetzung disziplinübergreifender Forschungsperspektiven leisten. Bei ihnen handelt es sich um leitende Gesichtspunkte der Erkenntnisgewinnung, die den disziplinspezifischen Zugang zur Wirklichkeit strukturieren. Im Sinne operativer, gegenstandserschließender und erkenntnisleitender Instrumente entscheiden sie darüber, unter welchen Aspekten der Gegenstandsbereich der Kultur thematisiert wird und welche Form kultureller Orientierung im Rahmen der verschiedenen Disziplinen möglich ist beziehungsweise analytisch geleistet werden kann. Ein wesentliches Problem besteht dabei darin, wie angesichts der Hetero13 Zur gegenwärtigen kulturtheoretischen Diskussion s. vor allem Reckwitz 2000; außerdem Jung 1999.

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Die Geschichtswissenschaft | 217 genität der Disziplinen, die sich gegenwärtig als Kulturwissenschaften neu definieren, die Einheit ihres Gegenstandes – der Kultur – gewahrt und zum Ausdruck gebracht werden kann. Unter Kultur läßt sich dabei zunächst provisorisch die Summe der Sinnhorizonte verstehen, in und mit denen Menschen ihre Lebenspraxis erfahren und deuten, normieren und legitimieren, motivieren und kritisieren, tradieren und verändern. Welche Gemeinsamkeiten also zeichnen die Kulturwissenschaften jenseits der Unterschiedlichkeit ihrer fachlichen Spezifik, Fragestellungen und Methoden aus und machen sie zu »Kultur«-wissenschaften – ja, gibt es überhaupt eine irgendwie geartete Einheit der Kulturwissenschaften in der Vielheit ihrer Disziplinen?14 Ein Blick auf die übergreifenden Grundbegriffe und Kategorien, mit denen die Kulturwissenschaften die Formen und Funktionen der Kultur im Kontext der menschlichen Lebenspraxis beschreiben und deuten, läßt dabei, ohne einen systematischen Anspruch erheben zu wollen, solche Begriffe wie Erfahrung, Kommunikation, Handlung, Geltung, Identität und Erinnerung in den Blick kommen, die jeder auf besondere Weise in den verschiedenen Disziplinen der Kulturwissenschaften eine Rolle spielen.15 Diese kulturwissenschaftlichen Grundbegriffe, auf die sich unterschiedliche Disziplinen jeweils anders und doch gemeinsam beziehen, sind operativer Natur. Sie dienen der Strukturierung eines heterogenen Spektrums kulturwissenschaftlicher Erkenntnisinteressen und Forschungsperspektiven und bewähren sich in ihrem instrumentellen Charakter, wenn sich mit ihnen die Vielfalt von Forschungsstrategien zum Ausdruck bringen läßt, ohne daß die übergreifenden Gemeinsamkeiten ihres Themenfeldes: der Kultur, aus dem Blick geraten. Mit einem solchen Geflecht kulturwissenschaftlicher Grundbegriffe, die die Kultur gewissermaßen in Aktion zeigen, läßt es sich vermeiden, Kultur zu einem abgegrenzten Segment der menschlichen Lebenspraxis zu verengen und damit gegenstands- oder objekttheoretisch zu verdinglichen. Denn wird Kultur derart objektiviert, wird sie zugleich als ein Unruheherd der menschlichen Lebensführung stillgestellt. Sie verliert, zur Sache geworden, ihren kritischen Stachel und ihre innere Dynamik. Statt dessen wäre ein flexibles Netz kategorialer Differenzierungen und Konkretisierungen zu spannen, in dem sich die Disziplinen der Kulturwissenschaften ohne Verlust ihrer Fachspezifik gemeinsam bewegen können. Denn verhängnisvoll wäre es, wenn sich die ange14 Der wortgeschichtliche Befund, daß es sie terminologisch bereits seit dem frühen 20. Jahrhundert gibt – Max Weber spricht wie selbstverständlich von »Kulturwissenschaften« (vgl. etwa Weber 1985: 180f.) – verweist bereits darauf, daß es sich bei dieser Frage um ein theoriegeschichtliches Problem ersten Ranges und langer Dauer handelt. – Zur kulturwissenschaftlichen Diskussionslage »um 1900« in den verschiedenen Disziplinen s. Hübinger et al. 1989 u. 1997; Jaeger 1994; Lichtblau 1999; Oexle 1996. 15 Auch Daniel 2001: 380ff. operiert mit einem Netz kulturwissenschaftlicher »Schlüsselwörter«, die sie entlang folgender Begriffe und Begriffsgruppen diskutiert: Tatsache/Objekt/Wahrheit; objektiv/subjektiv; Erklären/Verstehen; Historismus/Relativismus; Kontingenz/Diskontinuität; Sprache/Narrativität; Kultur. Offen bleibt allerdings, warum diese Schlüsselwörter eine Spezifik der »Kulturgeschichte« darstellen sollen, beschreiben sie doch Elemente der Geschichtswissenschaft und des historischen Denkens überhaupt.

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218 | Friedrich Jaeger stammten und bewährten Disziplinen ihres fachlichen Expertentums entledigen würden, um einer imaginären Kulturwissenschaft zu frönen. Gleichwohl könnte es fruchtbar sein, sich der gleichzeitigen Gemeinsamkeit und Unterschiedlichkeit des Fragens nach der Kultur genauer zu vergewissern. Die genannten Grundbegriffe könnten dabei eine integrative Funktion in der gegenwärtigen Diskussion um die Kulturwissenschaften übernehmen. Der Erfahrungsbegriff ist für die gegenwärtigen Kulturwissenschaften von grundlegender Bedeutung, weil er die pragmatische Struktur kulturellen Wissens in den Blick bringt, die Kultur zu einer praktischen Arbeit an Problemen und Herausforderungen der menschlichen Lebenspraxis macht.16 Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts haben so unterschiedliche Denker wie Max Weber und John Dewey gezeigt, daß Kultur und Kulturwissenschaften gleichermaßen als Antworten auf die Erfahrungen von Kontingenz begriffen werden müssen.17 In einer berühmten Formulierung hat Max Weber diesen Sachverhalt folgendermaßen zum Ausdruck gebracht: »Nicht die ›sachlichen‹ Zusammenhänge der ›Dinge‹, sondern die gedanklichen Zusammenhänge der Probleme liegen den Arbeitsgebieten der Wissenschaften zugrunde: wo mit neuer Methode einem neuen Problem nachgegangen wird und dadurch Wahrheiten entdeckt werden, welche neue bedeutsame Gesichtspunkte eröffnen, da entsteht eine neue ›Wissenschaft‹.«18 Den Kulturwissenschaften wachsen also die Themen, Begriffe und Methoden ihrer Forschungsarbeit lebensweltlich und problemgeschichtlich zu; sie gehen aus praktischen Herausforderungen der menschlichen Lebensführung sowie einer spezifischen Konstellation zwischen faktischen Ereignissen und deren kultureller Deutung hervor und entwickeln sich in einer dem Wandel dieser geschichtlichen Problemlagen entsprechenden Richtung. Darauf zielt Webers These, daß »in den Wissenschaften von der menschlichen Kultur die Bildung der Begriffe von der Stellung der Probleme abhängt, und daß diese letztere wandelbar ist mit dem Inhalt der Kultur selbst. […] Die weittragendsten Fortschritte auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften knüpfen sich sachlich an die Verschiebung der praktischen Kulturprobleme und kleiden sich in die Form einer Kritik der Begriffsbildung.«19 Ähnlich wie Weber sah auch John Dewey ganz im Sinne des amerikanischen Pragmatismus die Probleme der Kulturwissenschaften aus einer kulturspezifischen Konstellation von Faktizität und Normativität beziehungsweise von Ereignissen und deren Deutung hervorgehen. Sie entwachsen einem Konflikt zwischen Subjekt und Objekt, auf den sich sein Begriff der Erfahrung bezieht. Denn dieser blendet die spezifische Doppelnatur von Problemen: ihre gleichzeitige Fundierung in kontingenten Ereignissen und in einer interpretierenden Subjektivität, nicht aus, sondern setzt sie voraus und stellt beide Faktoren der kulturwissenschaftlichen Erkenntnis in einen 16 Zur Diskussion des Erfahrungsbegriffs in der neueren Philosophie s. Freudiger et al. 1996. 17 Als Einstieg in die neueren Diskussionen zum Kontingenzbegriff s. vor allem Graevenitz & Marquard 1998; Makropoulos 1997. 18 Weber 1985: 166. 19 Weber 1985: 207f.

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Die Geschichtswissenschaft | 219 inneren Zusammenhang zueinander. Bloße Ereignisse werden im Akt ihrer Erfahrung durch die Vermittlung von Subjektivität und Objektivität zu bedeutungsvollen Kulturproblemen und damit zum Forschungsgegenstand der Kulturwissenschaft. Für Dewey ist dieser Aspekt der Erfahrungskategorie von ausschlaggebender Bedeutung für eine Theorie der Kulturwissenschaft.20 Sein Denken gründet in einer philosophischen Anthropologie, die Menschsein durch die Fähigkeit geprägt sieht, der Realität einer prekären, kontingenten Welt mit der Ausbildung von Sinnstrukturen kulturell zu begegnen. Er begreift die Konstitution von Erfahrungen als Ausdruck der Kompetenz, »die Stabilität des Sinns über die Instabilität der Ereignisse herrschen zu lassen.«21 Der geschichtliche Ort dieser kulturellen Sinnbildung ist eine menschliche Lebenspraxis, die Dewey im Sinne des Pragmatismus als eine Interaktion des Menschen mit seiner natürlichen und sozialen Umwelt begreift. Erfahrungen sind daher nichts anderes als die Arbeit der Kultur an Problemen der Lebenspraxis. Unter diesen Voraussetzungen ist es auch wenig sinnvoll, den Erfahrungsbegriff konstruktivistisch aufzulösen und die Kultur zu einer reinen Interpretationsleistung zu reduzieren, der keine Wirklichkeit mehr korrespondiert. Kulturellen Interpretationen entspricht ein herausforderndes Geschehen, aus dessen Deutung Erfahrungen überhaupt nur resultieren können. Aus dieser Doppelnatur von Erfahrungen, ihrem gleichzeitigen Ereignis- und Deutungscharakter folgt, daß sich bloße Ereignisse erst im direkten Bezug auf eine interpretierende Subjektivität zu Kulturproblemen transformieren. Ereignisse werden zur Angelegenheit kulturwissenschaftlicher Forschung, weil sie mit Konventionen menschlicher Subjektivität, das heißt mit Handlungsintentionen und -normen, mit Denkgewohnheiten und tradierten Sinnvorstellungen brechen. Kulturprobleme stellen als Erfahrungen kontingenter Ereignisse die bisher geltenden und fraglos funktionierenden Deutungsschemata infrage und machen neue erforderlich. Kulturprobleme sind also Ereignisse mit einem Erfahrungsbezug. Mit einem derartigen Begriff der Erfahrung läßt sich die Genese von Kulturproblemen aus der Konstellation von Ereignis und Interpretation und die aus dieser Beziehung resultierende Spezifik kulturwissenschaftlicher Fragestellungen rekonstruieren. Um zu verstehen, wie die Kulturwissenschaft zu ihren Problemen kommt, ist ein derartiger Begriff der Erfahrung erforderlich. Der zweite kulturwissenschaftliche Grundbegriff, der hier als Instrument zur Vernetzung kulturwissenschaftlicher Disziplinen und Erkenntnisperspektiven angeführt werden soll, ist der Begriff der Kommunikation. Erfahrungen sind darauf angewiesen, daß sie versprachlicht, transportiert und vermittelt werden. Kulturelle Bedeutungen, Symbole, und Sinnvorstellungen konstituieren sich im Rahmen von Kommunikationprozessen und Formen der Versprachlichung, die die Kulturwissenschaften aus ganz unterschiedlichen Perspektiven zum Thema machen. Wissenschaft und Literatur, Riten und Feste, Öffentlichkeit und Privatsphäre, Gesellschaft und Gemeinschaft, Medien und die Kunst repräsentieren unterschiedliche Formen einer innergesellschaftlichen Versprachlichung oder partizipieren an ihnen. Dabei gehor20 Dewey 1984. 21 Dewey 1995: 63.

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220 | Friedrich Jaeger chen sie einer jeweils eigenen kulturellen Logik und bedürfen besonderer Formen einer kulturwissenschaftlichen Deutung. Auch in diesem Zusammenhang erweist sich die pragmatistische Tradition der Gesellschafts- und Kulturtheorie von einer erstaunlichen Aktualität. Eine »Erfahrung zu machen«, heißt für Dewey nichts anderes, als in einen Interaktionszusammenhang einzutreten, in dem ein Konflikt zwischen Subjekt und Objekt, Mensch und Umwelt kulturell gedeutet wird. Kommunikation ist gewissermaßen die soziale Struktur der Kultur im Sinne einer Deutung von Kontingenz. Den Kulturwissenschaften geht es – nimmt man diese kommunikationstheoretische Wendung der Kulturtheorie ernst – um die Interpretation aller Interaktionsformen von Individuen und sozialen Gruppen, die mit ihrer Umwelt kommunizieren müssen, um im Medium von Erfahrungen den herausfordernden Problemen ihrer Lebenspraxis begegnen zu können. Darüber hinaus verliert der Kulturbegriff jeden Anschein von Homogenität und erscheint im Lichte des Widerstreits, als ein umkämpftes Terrain und eine rivalitäre Struktur. Sie gewinnt diskursive Züge und wird zu einem Netzwerk kommunikativer Prozesse zwischen Individuen und sozialen Gruppen, die öffentlich um symbolische Bedeutungen oder soziopolitische Machtchancen miteinander konkurrieren. Als ein weiterer integrativer Grundbegriff der Kulturwissenschaften fungiert in den gegenwärtigen Debatten die Kategorie des Handelns, die den Vollzug der menschlichen Lebenspraxis an Elemente von Subjektivität, an Intentionen und Handlungsmotive, an Werte und Normen, an Streit und Konflikt, aber auch an Traditionen, Zwecksetzungen oder Affekte bindet. Eine handlungstheoretische Grundlegung der Kulturwissenschaften könnte einen Beitrag dazu leisten, Kultur nicht als eine Objektivität »geronnener« Strukturen, sondern als fortwährendes Geschehen zu rekonstruieren und auf diesem Wege innerhalb der Topographie der menschlichen Lebenswelt genauer zu verorten.22 Dies impliziert neue Fragen nach dem Zusammenhang zwischen Menschen und den Verhältnissen, in denen sie leben, und bringt die sozialen Träger und Trägergruppen kultureller Erfahrungs- und Geschehensprozesse neu in den Blick.23 Die Konjunktur der Kulturwissenschaften impliziert eine Verlagerung des analytischen Blicks auf Menschen in ihrer Eigenschaft unverwechselbarer Handlungsakteure (oder auch Leidender) der Geschichte; sie akzentuiert die kulturelle Bedeutung menschlicher Subjektivität im Prozeß des geschichtlichen Wandels und erfordert neue Theorien des Subjekts. Ferner stellen sich neue Fragen nach den verschiedenen Formen der Handlungsinstitutionalisierung in den Sphären von Arbeit, Herrschaft, Technik, Religion, Recht, Wissenschaft, Kunst, die sich auf dem Wege funktionaler Differenzierung zu denjenigen Dimensionen menschlicher Lebenspraxis verselbständigen, die Weber 22 Zu den neueren Entwicklungen im Bereich der Handlungstheorie s. Straub & Werbik 1999. Als Herausforderung der Sozialgeschichte diskutiert eine handlungstheoretische Fundierung des historischen Denkens Breuilly 2000. Zur Aktualität einer weberianisch geprägten Handlungstheorie s. Welskopp 1997. 23 Emphatisch formuliert findet sich dieses hermeneutische Handlungskonzept bei Niethammer et al. 1988.

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Die Geschichtswissenschaft | 221 die autonomisierten Wertsphären der Kultur genannt hat. Kulturwissenschaften benötigen eine Theorie der Institutionen im Sinne von Kristallisationsformen menschlichen Handelns, in denen es sich funktional ausdifferenziert.24 Diese Dimensionen und Lebensordnungen aus praxis- beziehungsweise handlungstheoretischer Perspektive in den Blick zu bringen, könnte der Tendenz ihrer strukturalistischen Ontologisierung zu objektiven Bedingungselementen der Wirklichkeit entgegenwirken. In welchem Ausmaß es dabei gelingt, eine strukturalistische Dimensionierung der Wirklichkeit handlungstheoretisch einzuholen und kulturwissenschaftlich zu reformulieren, ist eine offene Frage, die sich jedoch im Zuge einer Reflexion kulturwissenschaftlicher Grundbegriffe notwendig stellt. Einen weiteren kulturwissenschaftlichen Grundbegriff repräsentiert der Begriff der Geltung. Kultur »ist« nicht nur, sie »gilt«; mit ihr verbinden sich Geltungsansprüche, die unterschiedlich begründet und entweder anerkannt oder abgewiesen werden können. Dieser Umstand verleiht Kulturen und ihren verschiedenen Sphären eine innere Konfliktualität und oft auch ein erhebliches Gewaltpotential. Kultur ist ein grundsätzlich umkämpftes Terrain, auf dem um Güter wie Macht, Legitimität oder Wahrheit gerungen wird. Dabei geht es den kulturwissenschaftlichen Disziplinen um ganz unterschiedliche Formen und Dimensionen kultureller Geltung, die sich deutlich voneinander unterscheiden lassen: Geltungsansprüche betreffen etwa die symbolische Bedeutung kultureller Erfahrungen, Zeichen und Praktiken, mit denen sich Angehörige einer Kultur eine gemeinsame und geteilte Welt erschließen und reproduzieren. Sie beziehen sich als praktische Geltungsansprüche auch auf die normative, rechtliche, politische oder auch historische Dimension der Kultur, auf ihre Bindung an Werte und ihren Anspruch auf Anerkennung. Geltungsansprüche betreffen des weiteren die (selbst-)reflexive oder kognitive Struktur der Kultur, für die etwa – wenn auch keineswegs allein – die Wissenschaft als Zugang zur Wirklichkeit steht. Wiederum andere Geltungsansprüche der Kultur betreffen ihren ästhetischen Anspruch oder schließlich ihre narrative Struktur und den damit verbundenen Anspruch auf Sinn als narrative Kohärenz. Die Disziplinen der Kulturwissenschaften thematisieren auf je besondere Weise diese unterschiedlichen Wahrheits- und Geltungsansprüche der Kultur und gewinnen nicht zuletzt dadurch ihre jeweilige Signatur. Der Geltungsbegriff wird zu einem kulturwissenschaftlichen Grundbegriff, indem er den Bezug der Kulturwissenschaften auf bestimmte Wahrheitsansprüche der Kultur deutlich macht und zu rekonstruieren erlaubt. Als äußerst umstritten hat sich in den kulturwissenschaftlichen Diskussionen der letzten Jahre der Begriff der Identität erwiesen.25 Nicht erst seit der postmodernen oder feministischen Kritik der Identitätskategorie als Instrument kultureller Herrschaft und Homogenisierung sowie als Abbild einer bloß erpreßten Kohärenz, der gegenüber die Vielfalt und Differenz von Lebensformen und Identitäten betont wird, stellt sich die Frage ihrer kulturwissenschaftlichen Legitimität in verschärfter Form. Gleichwohl zeichnet sich der Begriff der Identität durch eine Komplexität und 24 Hierzu demnächst Lepsius 2001. 25 Grundlegend zum Identitätsbegriff aus subjektphilosophischer Sicht Taylor 1989. Zu den Problemen kollektiver Identität Niethammer 2000.

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222 | Friedrich Jaeger Trennschärfe aus, die ihn unter vier Gesichtspunkten zu einem geeigneten Instrument der Integration kulturwissenschaftlicher Forschungsperspektiven machen. Gerade um die potentielle oder wirkliche Gewaltsamkeit von Identitätszuschreibungen und -formierungen verstehen zu können, ist der Begriff der Identität erforderlich. a)

Zum einen verweist er als ein konstitutives Element menschlicher Subjektivität auf die Summe kultureller Selbstverhältnisse, in denen sich Menschen und soziale Verbände als einzigartige und unverwechselbare Individuen identifizieren und sich ihrer Stellung in gesellschaftlichen, politischen oder geschichtlichen Kontexten vergewissern. Darunter lassen sich solche Aspekte wie Geschlechtlichkeit, Leiblichkeit, psychische Triebstrukturen und andere individuierende Faktoren von Lebensgeschichten ebenso erfassen wie die identitätsbildenden und strukturell »ethnozentrischen« Selbstverhältnisse sozialer Gruppen, Klassen, Gesellschaften und Nationen. b) Davon deutlich unterscheidbar ist eine soziale oder soziogene Dimension kultureller Identitätsbildung, womit vor allem Prozesse der Formierung von Zugehörigkeit und Mitgliedschaft gemeint sind. Fragen nach mentalen Faktoren von Klassen- und Nationszugehörigkeit, nach kulturellen Kriterien von Staatsbürgerschaft, also nach den kommunitären Strukturen sozialer Verbände im weitesten Sinne lassen sich im Ausgang von der Identitätskategorie methodisch kontrolliert verfolgen. c) Von diesen beiden Dimensionen läßt sich ein weiterer Bedeutungsaspekt der Identitätskategorie im Sinne einer relationalen Kategorie unterscheiden: Die Formierung von Identität vollzieht sich nicht nur im Medium kultureller Selbstverhältnisse und sozialer Vergesellschaftungsformen, sondern auch auf der Folie konfliktträchtiger Alteritätserfahrungen. Im Medium der Kultur geben Subjekte und soziale Gruppen eine Antwort auf die Frage, wer sie kulturell, räumlich, politisch oder historisch in der Beziehung zu Anderen sind, worin also die Differenz besteht, die sie von Anderen abgrenzt oder die sie Andere ausgrenzen läßt. Die Formierung von Identität impliziert nicht allein Prozesse der kulturellen Vergesellschaftung und Integration, sondern auch solche der Abgrenzung und Exklusion. Die Intensität der kulturwissenschaftlichen Debatten um Phänomene kultureller Differenz und Vielfalt, um Formen kultureller Transfers und Möglichkeiten interkultureller Kommunikation, um Prozesse und Mechanismen gewaltsamer Exklusion sowie um die damit zusammenhängenden Anerkennungsund Normenprobleme verweist auf diesen konstitutiven Identitätsbezug der Kultur. d) Ein besonderes Merkmal kultureller Identität ist schließlich darin zu sehen, daß sie nicht nur ein Akt der Grenzziehung zwischen Eigenem und Fremdem ist, sondern die Grenzen des Eigenen auch ständig transzendiert. Kultur als ein Prozeß der Identitätsbildung ist immer zugleich Begrenzung und Entgrenzung von Subjekten oder sozialen Gruppen. Prozesse der Universalisierung identitätsformierender Bezugssysteme (für die etwa die Kategorie der Menschheit steht) sind in diesem Kontext anzusiedeln. Max Weber hat in seiner Religionssoziologie eindrucksvoll gezeigt, daß die Religion für die Dynamik und Dynamisierung

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Die Geschichtswissenschaft | 223 der Kultur traditionellerweise von entscheidender Bedeutung gewesen ist, weil sie es vermocht hat, Kultur als Faktor der menschlichen Identität sowohl zu definieren und zu bestätigen, als auch zu relativieren und für Veränderungen zu öffnen. Religion steht insofern paradigmatisch für die spezifische Fähigkeit des Menschen, sich im Hinblick auf ein Anderes kulturell zu transzendieren, das heißt ständig neue Grenzen zu setzen, um auch diese immer wieder zu überschreiten.26 Schließlich haben sich in den letzten Jahren die Begriffe der Erinnerung, des Geschichtsbewußtseins und des kulturellen Gedächtnisses als Kernelemente kulturwissenschaftlicher Debatten erwiesen.27 Sie verweisen auf eine innere Zeitdimension der Kultur im Sinne eines geschichtlichen Phänomens, das sich in der Divergenz von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft formiert. Bereits Jakob Burckhardt hatte bekanntlich in seinen Weltgeschichtlichen Betrachtungen die Potenz der Kultur als die »Welt des Beweglichen« erkannt und damit Geschichte und Kultur konstitutiv aufeinander bezogen. Geschichte beginnt mit der Entbindung von Kultur, und die Kultur macht Geschichte als Prozeß erst möglich. Diese beiden Faktoren menschlicher Lebensgestaltung erklären und bedingen sich in seinem Denken wechselseitig. Mit der Wendung zur Erinnerungskultur verliert die Geschichtswissenschaft das Privileg der kulturellen Erinnerung: Historisches Denken wird von einer institutionalisierten und verwissenschaftlichten Expertenveranstaltung zu einem Netzwerk der sozialen Kommunikation zwischen konkreten Individuen und Gruppen, die öffentlich um Interpretationen, Bedeutungen und symbolisches Kapital miteinander konkurrieren. Es zeigt sich in ständiger Transformation begriffen und erweist sich als ein konflikthaftes Geschehen, in dem im Medium der Erinnerung um Orientierung durch die Vergegenwärtigung der Vergangenheit gerungen wird. Aus einer elitären Hochkultur wird eine kulturelle Praxis gewöhnlicher Menschen in alltäglichen Lebenssituationen, die sich im Modus der Erinnerung ihrer selbst im Wandel ihrer Lebensverhältnisse und -bedingungen versichern. Die Gesellschaft wird damit auf eine kommunikative Produktion von Bedeutungen, Interpretationen und Orientierungen hin durchsichtig, in deren Zentrum die zeitorganisierenden Operationen der Erinnerungskultur stehen. Auch die Spezifik der historischen Erinnerung besteht darin, daß sie die Identität ihrer Subjekte nicht festschreibt, sondern im Fluß geschichtlicher Veränderung hält. Erinnerung als Faktor der Kultur ist eine Entgrenzung von Menschen und Gruppen durch die Verzeitlichung ihres Selbstverständnisses und den Gewinn einer historischen, die Zeitdimensionen übergreifenden Kontinuitätsvorstellung ihres Gewordenseins und weiteren Werdens. Fragt man nach den inhaltlichen Konsequenzen dieses im Sinne kulturwissenschaftlicher Grundbegriffe theoretisch erweiterten und flexibilisierten Kulturkonzepts, dann fällt auf, daß die Kultur die Beschränktheit auf ein bestimmtes Segment oder eine spezifische Dimension der menschlichen Lebensführung ablegt und sich 26 Näher hierzu Jaeger 1994: 182ff. 27 Assmann 1992; Hölscher 1995.

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224 | Friedrich Jaeger statt dessen auf alle Aspekte der menschlichen Lebenspraxis erstreckt. Ganz in diesem Sinne existierte bereits in den frühen Cultural Studies ein Verständnis von Kultur als »a whole way of life«. Gegenüber einer Sektoralisierung der Kultur im Sinne der Sozialgeschichte oder einer konventionellen Beschränkung zu einem Phänomen der Hochkultur hat sich in den letzten Jahren ein breiteres Kulturverständnis durchgesetzt, welches die Kultur im Sinne einer Fundamentalkategorie menschlicher Selbstdeutung und Sinnbildung in allen Sphären der gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Alltagspraxis verankert. Bevor abschließend einzelne Themenschwerpunkte kulturwissenschaftlicher Forschung am Beispiel geschichtswissenschaftlicher Arbeiten ausführlicher thematisiert werden, soll die inhaltliche Komplexität des Kulturbegriffs unter vier Gesichtspunkten zunächst summarisch angedeutet werden: a)

Der traditionelle Gegensatz zwischen Geist und Natur – dem die Konstruktion zweier Wissenschafts- und Deutungskulturen entsprach – wird relativiert. »Natur« erscheint nun zunehmend im Gewande ihrer kulturellen Konstruktionen: Körpererfahrungen und Leiblichkeit, Landschaftsverhältnisse und Raumstrukturierungen, Geschlechterrollen und Sexualität, Rasse und Ethnizität gewinnen einen kulturellen Akzent und werden zu Gegenständen einer kulturwissenschaftlichen Forschungspraxis, in der disziplinspezifische Zugriffe sich ergänzen und wechselseitig befruchten. Aus diesen Bestrebungen zu einer Kulturalisierung der Natur läßt sich auch erklären, warum ethnologische Forschungsstrategien in den letzten Jahren eine Vorbildfunktion übernehmen konnten und die Kulturanthropologie zu einer Leitwissenschaft der gegenwärtigen Kulturwissenschaften werden konnte.28 b) Verbreitet ist der Vorwurf an die Adresse kulturwissenschaftlicher Strömungen, mit ihnen gehe eine Ausblendung der ökonomischen Dimension und der Macht des Kapitalismus einher. Daraus läßt sich die Aufgabe einer Rekonstruktion kultureller Faktoren des Ökonomischen ableiten, indem nach den Transformationsprozessen gegenwärtiger Arbeitsgesellschaften und nach den kulturellen Grundlagen der Arbeit, des Marktes, des Professionalismus, des Konsumverhaltens, des Sozialstaats oder schließlich nach den kulturellen und interkulturellen Folgen der ökonomischen Globalisierung gefragt wird.29 c) Ferner wird an die Adresse der Kulturwissenschaften häufig der Vorwurf gerichtet, mit dem Cultural Turn gehe eine Entpolitisierung der Wissenschaft und eine stillschweigende Romantisierung der gesellschaftlichen Wirklichkeit einher, indem sich über die Realität ökonomisch bedingter Klassenstrukturen und politischer Machtverhältnisse der Schleier der Kultur lege.30 Diesem Vorwurf gegenüber ist die politische Qualität der Kultur noch genauer herauszuarbeiten. Die kulturwissenschaftliche Kategorie der Identität signalisiert dabei geradezu

28 Dressel 1996; Dülmen 2000; Medick 1984; Sokoll 1997. 29 Aus der Fülle der einschlägigen Literatur hier nur wenige Beispiele: Kocka & Offe 2000; Sullivan 1995; Siegrist et al. 1997; Appadurai 1996. 30 Zuletzt Kocka 2000b: 19.

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Die Geschichtswissenschaft | 225 paradigmatisch den Politik- und Praxisbezug kulturwissenschaftlicher Arbeiten, indem sie auf ein Geflecht von Zugehörigkeiten sowie auf politisch brisante Verfahren von Inklusion und Exklusion verweist.31 Auch mit Blick auf die politische Dimension moderner Gesellschaften gehen derzeit wichtige Impulse von kulturwissenschaftlichen Strömungen aus. In ihnen geht es um Grundlagen der politischen Kultur und Elemente einer symbolischen Politik32, um Phänomene des Nationalismus und des Wandels nationaler Identitäten, um kulturelle Praktiken der Inklusion und Exklusion sozialer Gruppen und vieles andere mehr. Als intellektuelle Instanz und universitäres Standbein des »minority discourse« sind die amerikanischen Cultural Studies geradezu Platzhalter der politischen Rechte von Minderheiten und Repräsentanten des Kampfes unterprivilegierter Gruppen um den Abbau von Benachteiligungen geworden. Insgesamt deutet sich unter diesen verschiedenen Gesichtspunkten eine Sensibilisierung der Kulturwissenschaften gegenüber politisch relevanten Faktoren der Vergesellschaftung an, die bisher in ihrer Tragweite für die Verteilung von Lebenschancen weitgehend übersehen worden sind. Auch in dem seit einigen Jahren nicht nur in den USA, sondern auch in Europa geführten Streit um Liberalismus und Kommunitarismus als konkurrierenden Konzeptionen des Politischen geht es im wesentlichen um kulturelle Grundlagen der politischen Herrschaft und modernen Demokratie. Dasselbe gilt für die vielfach im Zusammenhang mit der Kommunitarismuskontroverse geführten Diskussionen um die »Zivilgesellschaft«, die einen weiteren Kristallisationspunkt der gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen Debatten bilden.33 d) Auch die Gesellschaft und die Prozesse der kulturellen Vergesellschaftung werden im Zuge der kulturwissenschaftlichen Wende auf neue Weise ins Blickfeld gebracht, indem nach der Transformation der politischen Öffentlichkeit und öffentlicher Räume, nach dem Wandel und der kulturellen Integrationswirkung von Symbolsystemen, nach Denkmals- und Festkulturen, nach Erinnerungskulturen und Gedächtnisorten, schließlich nach Strukturen und Folgen medialer Kommunikation gefragt wird. In der Summe dieser theoretischen und inhaltlichen Orientierungen wird deutlich, daß die Rede von der kulturwissenschaftlichen Wende in dem hier verstandenen Sinne weniger auf die Konstitution einer neuen Wissenschaft jenseits der alten Disziplinen zielt, als vielmehr auf eine Überschreitung disziplinärer Grenzen, um Kultur als ein konstitutives Element sozialer und politischer Praxis umfassend verstehen zu können. Es geht darum, auf dem Boden neuer Fragestellungen und Methoden bisherige Erkenntnisgrenzen der Humanities und Geisteswissenschaften zu überwinden. Der erweiterte Kulturbegriff, der Kultur nicht weiterhin zum Teilsegment 31 S. etwa Hall & DuGay 1996. 32 Sartor 2000; Hettling & Nolte 1993. 33 Mit Blick auf die amerikanische Theorietradition der Zivilgesellschaft s. Jaeger 2001; Walzer 1992. Zur Geschichte der Zivilgesellschaft aus dem Blickwinkel der Sozialgeschichte s. Kocka 2000a.

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226 | Friedrich Jaeger eines größeren Ganzen verkümmern läßt, sondern als ein integrierendes Element der menschlichen Lebensführung zur Geltung bringt, macht es dabei möglich, traditionelle Disziplinen neu miteinander ins Gespräch zu bringen. Wenn Kultur als ein Phänomen begriffen wird, das die menschliche Lebenspraxis insgesamt durchzieht, läßt sie sich nicht hinreichend im Rahmen hochspezialisierter Einzeldisziplinen deuten, sondern erfordert ein disziplinübergreifendes Netz von Fragestellungen und Forschungsmethoden. Während die hier anhand von Grundbegriffen zunächst angedeutete kategoriale Bestimmung von Kultur als Erfahrungsprozeß, als kommunikativer Raum, als Handlungsgeschehen, als ein Ensemble konkurrierender Geltungsansprüche, als Medium der Identitätsbildung und schließlich als ein Modus der Erinnerung dazu diente, das Spektrum kulturwissenschaftlicher Forschungsansätze disziplinübergreifend abzustecken, soll im folgenden der Blick noch auf einige Entwicklungen innerhalb der Geschichtswissenschaft gelenkt werden.

2. Die kulturwissenschaftliche Wende in der Geschichtswissenschaft Im wesentlichen haben sich in den letzten Jahren drei Brennpunkte der kulturwissenschaftlichen Diskussion in der Geschichtswissenschaft herausgeschält: Erstens hat sich als Erfahrungsgeschichte ein neues Konzept geschichtlicher Entwicklung etabliert, das die kulturellen Faktoren sozialen Wandels auf neue Weise thematisiert und an die Stelle modernisierungstheoretischer Zugriffe einen pluralisierenden Blick auf die Vergangenheit setzt. Zweitens ist es unter dem Siegel der Historischen Anthropologie zu einer Historisierung der Natur gekommen, die den Horizont der historischen Erfahrung um neue Aspekte erweitert hat. Drittens schließlich hat sich ein neuer Gesellschaftsbegriff herauskristallisiert, der weniger die strukturellen Bedingungsfaktoren gesellschaftlichen Zusammenlebens akzentuiert, als vielmehr die kommunikativ vermittelten und vollzogenen Prozesse der kulturellen Vergesellschaftung ins Zentrum rückt. 2.1. Erfahrungsgeschichte als Entwicklungskonzept Der Zugriff der historischen Kulturwissenschaft auf die Welt der Geschichte ist wesentlich durch den eingangs erwähnten Erfahrungsbegriff geprägt. Mit ihm treten die kulturellen Deutungen, Sinnkonzepte, Weltbilder, Symbolsysteme, Alltagspraktiken und Mentalitäten historischer Subjekte ins Zentrum des Interesses.34 Bei der Kultur handelt es sich nicht mehr um eine Residualkategorie der historischen Erkenntnis oder um ein Segment der historischen Realität, das nach dem Abzug von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik als Rest verbleibt. Vielmehr durchzieht die Kultur als Summe menschlicher Sinnvorstellungen alle Aspekte der Lebensführung. Sie wird zu einem Fundamentalprinzip der Lebenspraxis überhaupt, ohne das die anderen Faktoren des geschichtlichen Wandels und der menschlichen Lebenspraxis nicht sinnvoll gedacht werden können. Dem Argument der Sozialgeschichte, daß die Ge34 Aus der Fülle der Beiträge zu diesen Themenkreisen siehe Dülmen 1990-94; Lüdtke 1989; Müller & Rüsen 1997; Raulff 1987; Sellin 1985.

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Die Geschichtswissenschaft | 227 schichte nicht in dem aufgehe, was die Subjekte als Erfahrungs- und Sinnhorizont ihrer eigenen Lebenspraxis handelnd und deutend aktualisieren, entgegnet die Erfahrungsgeschichte mit der Forderung, daß die kulturellen Innenwelten historischer Akteure und die mit ihnen verwobenen Sinnkonzepte im Objektivierungsgeschäft der Geschichtswissenschaft nicht verloren gehen dürften. Denn in diesem Falle werde der kulturelle Eigensinn vergangener Lebenswelten den Orientierungsbedürfnissen, Interessen und dem Wirklichkeitsverständnis der Gegenwart unterworfen und verliere damit seine spezifische Bedeutung als Orientierungsfaktor der Lebenspraxis.35 Bereits Jakob Burckhardt hatte genau dieses Argument gegen die politische Instrumentalisierung der Geschichte im deutschen Historismus des 19. Jahrhunderts ins Feld geführt. Die Orientierungskraft des historischen Denkens resultiert eben nicht aus der Bestätigung des Gegenwärtigen im Vergangenen, sondern vielmehr aus der Erfahrung kultureller Differenz. Historiographie wird damit zu einer methodischen Verfremdungsleistung, die die Gegenwart aus der Distanz heraus in neuem Licht erscheinen läßt und damit zukunftsfähige Orientierung ermöglicht. Gerade im Anderssein der Vergangenheit liegt deren Bedeutung als Orientierungsfaktor der Gegenwart begründet. Die historische Kulturwissenschaft versucht ganz in diesem Sinne den Gefahren einer Unterwerfung der Vergangenheit unter die Gegenwart methodisch und politisch zu begegnen. Ihr methodisches Gegenmodell kristallisiert sich dabei vielfach um das ethnologische Konzept der »dichten Beschreibung«, wie es von Clifford Geertz entwickelt worden ist.36 Dabei geht es um den Erhalt der kulturellen Fremdheit und Differenz der Vergangenheit, deren Rationalität unserem Verstehen zunächst entzogen sei und deren Eigensinn durch einen genaueren, auf die kulturellen Mikrostrukturen gerichteten hermeneutischen Blick von innen aufgeklärt werden müsse: »Gesellschaften bergen wie Menschenleben ihre eigene Interpretation in sich; man muß nur lernen, den Zugang zu ihnen zu gewinnen.«37 Daher dominiert das Motiv der Spurensicherung, die mikroskopische Beschreibung exemplarischer Einzelfälle, die als »Detailgeschichten des Ganzen« (Geertz) einen Rückschluß auf Makro-Strukturen geschichtlichen Wandels erlauben sollen.38 Politisch ist dies häufig mit einer Kritik etablierter Fortschrittsvorstellungen und Modernisierungskonzeptionen verschwistert. In ihrem Selbstverständnis repräsentiert die historische Kulturwissenschaft den Abschied von der Weltgeschichte Europas und ihren »master narratives« zugunsten der Erfahrungen kultureller Vielfalt und Differenz. Sie sensibilisiert dabei zum einen für die Wahrnehmung von Modernisierungsprozessen in anderen Kulturen, deren Spezifik man nicht in den Blick bekomme, wenn man sie über den normativen Leisten eines europäisch-amerikanisch zentrierten Entwicklungsmodells schlage. Zum anderen betont die neuere Kulturgeschichte die Ungleichzeitigkeit geschichtlicher Prozesse und sensibilisiert heuristisch für die Gegenbewegungen der Moderne und die Verlierer des Fortschritts. Die 35 36 37 38

Medick 1984. Geertz 1987. Geertz 1987: 260. Ginzburg 1988.

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228 | Friedrich Jaeger Geschichte verliert dabei zugleich jede Form von Eindeutigkeit und Geradlinigkeit. Sie wird zu einem konflikthaften und widerspruchsvollen Geschehen, in dem sich konkurrierende Rationalitätsmodelle und Lebensformen überlagern und sich der Konflikt zwischen Altem und Neuem dokumentiert. In den Makrostrukturen der Modernisierung setzt sich im Verständnis der neueren Kulturgeschichte kein universeller Fortschritts- und Sinnzusammenhang der menschlichen Lebensführung durch, an dem, ausgehend von den Modernisierungszentren des Westens, zunehmend alle Kulturen der Welt partizipieren könnten. Vielmehr erscheint dieser Prozeß zunehmend als eine Bedrohung kulturellen Sinns und als eine Überwältigung fremder Kulturen, die deren Besonderheit zum Verschwinden bringt. Angesichts der Fragwürdigkeit eines Sinns im Großen verlagert sich die Sinnfrage der historischen Kulturwissenschaft aus den Makrostrukturen moderner Gesellschaften in die Mikrostrukturen sozialer Gemeinschaften, in Bereiche also, die Max Weber einmal das »pianissimo der kleinsten Lebenskreise« genannt hat. Aus der »großen Vernunft« des Universellen wird die »kleine Vernunft« des Partikularen. In diesem Zusammenhang gewinnt auch die Kommunitarismuskontroverse ihre spezifische Bedeutung für die neueren Diskussionen um Kultur und Kulturwissenschaft: Der aus den formalen Herrschafts-, Rechts- und Marktbeziehungen der modernen, liberalen Gesellschaft vertriebene Sinn findet seine Zuflucht in Gemeinschaften, die sich über geteilte Erfahrungen, Gefühle, Werte und Traditionen vergesellschaften. Diese Entwicklungen bergen trotz einer von ihnen ermöglichten Pluralisierung des historischen Denkens, durch die sich der geschichtliche Erfahrungshorizont erweitert hat, die Gefahr eines kulturellen Traditionalismus in sich. Außerdem ist es noch eine offene Frage und zudem eine bleibende Herausforderung an die Adresse der neueren Kulturgeschichte, welche Theorien historischer Entwicklung an die Stelle der kritisierten Fortschritts- und Modernisierungskonzepte treten könnten. Wie läßt sich angesichts der neu in den Blick getretenen Heterogenität und Differenz der Kulturen eine Vorstellung ihres Zusammenhangs gewinnen; eine Idee dessen also, was Droysen einmal die »Geschichte über den Geschichten« genannt hat. Nimmt man dieses geschichtstheoretische Problem ernst, und es ist in dem Maße ernster zu nehmen, in dem die verschiedenen Kulturen vermehrt in Kontakt und Konflikt miteinander geraten, so ist nicht nur eine neue Vorstellung von der Einheit der Kultur in der multikulturellen Vielfalt ihrer Erscheinungen erforderlich, sondern auch eine dezentrierte Theorie der Moderne, die die Modernisierungsleistungen anderer Kulturen nicht unterschlägt, sondern differenzierter wahrzunehmen erlaubt. Sie müßte der gewonnenen Erkenntnis kultureller Pluralität gerecht werden und gleichzeitig Perspektiven ihres methodischen Vergleichs zur Verfügung stellen39, wobei eine derartige kulturvergleichende Forschung zugleich eine multiple Theorie der Kultur und ihrer Entwicklung erfordert.40

39 Zu Perspektiven und Problemen kulturvergleichender Forschung s. Haupt & Kocka 1996; Kaelble 1999; Matthes 1992; Osterhammel 1996a/b; Paulmann 1998. 40 Eisenstadt 2000a/b.

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Die Geschichtswissenschaft | 229 2.2. Die Kulturanthropologie und die Historisierung der Natur Der gegenwärtige Aufstieg der historischen Kulturwissenschaft geht mit einer Konjunktur historisch-anthropologischer Forschungskonzepte einher. Nicht zufällig ist die seit 1993 erscheinende Zeitschrift Historische Anthropologie zu einem Sammelbecken der neueren Strömungen geworden. Im Zentrum dieses Projekts steht gleichermaßen die Anthropologisierung der Geschichte und die Historisierung der Anthropologie. Die kulturwissenschaftliche Wende hat nicht nur die Außenperspektive des historischen Denkens erweitert und dazu geführt, daß nun auch »fremde«, das heißt nicht-westliche Kulturen das Untersuchungsfeld des Historikers bevölkern. Vielmehr ist der ethnologische Blick auch nach innen, auf das Fremde im Eigenen gerichtet. Nicht nur die Außenperspektive, sondern auch die Binnenperspektive wurde damit um neue Aspekte bereichert. In diesem Zusammenhang läßt sich von einer Historisierung der inneren und äußeren Natur sprechen. Gemeint ist damit, daß im Zuge der kulturwissenschaftlichen Wende die natürliche Umwelt des Menschen eine über die bloße Naturgeschichte hinausgehende geschichtliche Dimension und kulturelle Signatur gewinnt. Entdeckt werden die Register ihrer Zeitlichkeit: »Die Natur ist die Geschichte dessen, was die Menschen aufgrund kognitiver, technischer, ästhetischer, religiöser u.a. Modelle eben als Natur entworfen haben. Kurz: Als Natur gilt das, was von ihr gedacht und gewußt wird. Und es wurde zumeist das von ihr ›gedacht‹ und ›gewußt‹, was man mit ihr praktisch ›machen‹ konnte oder wollte.«41 Hier sind die Untersuchungen zur Transformation des menschlichen Naturverhältnisses zu erwähnen, die Natur als Ergebnis kultureller Erfahrungen, Deutungen und Konstruktionen präsentieren. Einerseits repräsentiert die Natur im kulturellen Bewußtsein das Fremde, Bedrohliche, Widerständige und Prekäre, mithin die Gesamtheit dessen, was dem Menschen und seiner Kultur feindlich gegenübersteht und der kultivierenden Zähmung und Hegung bedarf; andererseits ist die Natur dem Menschen allein im Medium der kulturellen Erfahrung zugänglich und daher immer schon kulturell konstituiert und überformt. Die Natur besitzt also in ihrem Verhältnis zur Kultur eine komplexe Doppelstruktur, die sie sowohl zum Eigenen, als auch zum Anderen der Kultur macht. Sie verliert ihren Charakter des ewig Gleichen und wird, nicht zuletzt unter dem Eindruck ökologischer Krisen, zu einem fragilen, störungsanfälligen und historisch wandelbaren Gegenüber der menschlichen Welt. Auch ökologische Krisen und Naturkatastrophen erweisen sich als kulturell imprägniertes und im Laufe der Geschichte unterschiedlich wahrgenommenes Geschehen. Ferner gehören in diesen Kontext Studien, in denen die Voraussetzungen, Formen und Konsequenzen menschlichen Umweltverhaltens sowie die Prozesse seiner Regulierung und Normierung thematisiert42 oder aber ökologische Milieus in ihrem geschichtlichen Wandel untersucht werden: Beispiele sind eine Umweltgeschichte des Ruhrgebietes im Zeitalter der Industrialisierung, die ökologischen Folgen der Urbanisierung, eine Geschichte der Kanalisation oder der forstwirtschaftlichen Nutzung des Waldes. Auch Arbeiten zur Umweltpolitik, zur Technik- und Ver41 Böhme et al. 2000: 119f. S. a. Böhme & Böhme 1996. 42 Brüggemeier 1996; Brüggemeier & Rommelspacher 1987; Radkau 2000.

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230 | Friedrich Jaeger kehrsgeschichte, zu Aspekten der Klimageschichte wären hier zu nennen. Die französische Schule der Annales hat gerade unter diesen Gesichtspunkten Pionierarbeit geleistet, indem sie in zahlreichen Arbeiten die räumlichen Aspekte des geschichtlichen Wandels akzentuiert und damit den Begriff des Raums in den Rang einer wesentlichen geschichtswissenschaftlichen Kategorie erhoben hat.43 In kulturwissenschaftlichen Arbeiten dieser Art geht es um eine neu in den Blick gekommene kulturelle Dimension der Natur. Die Historisierung der Natur im Sinne der historischen Anthropologie bedeutet darüber hinaus, daß ehemals überhistorische und existentielle Faktoren der menschlichen Natur einen zeitlichen Index erhalten und zum Gegenstand kulturhistorischer Untersuchungen werden. Seit Jahren besitzt unter diesem Gesichtspunkt die Geschlechtergeschichte eine Schrittmacherfunktion, indem sie »Geschlecht« als eine historische Kategorie erwies, mit der sich bisher unterbelichtete Faktoren politischer Herrschaft, sozialer Ungleichheit und kultureller Differenz aufdecken ließen. Zum großen Teil in ihrem Gefolge ist die Geschichte des Körpers44, der Gefühle, der Sexualität, der Geburt, der Liebe, der Krankheit und des Todes entdeckt und neu konzeptualisiert worden.45 Allerdings zielt die Geschlechtergeschichte nicht allein auf einen eingrenzbaren Teilbereich der Lebenspraxis. Vielmehr erschließt sie eine neue Gesamtperspektive auf Prozesse des geschichtlichen Wandels. Aus ihr ergeben sich auch neue Perspektiven auf die Geschichte des Nationalismus und der kapitalistischen Gesellschaft, auf Krieg und Militarismus, auf Imperialismus und postkoloniale Gesellschaften, schließlich auf die Entstehung der Sozialstaaten des frühen 20. Jahrhunderts46, um nur einige Beispiele zu nennen. Dasselbe wie für die Kategorie »Geschlecht« gilt für die der »Rasse«, die ebenfalls in den letzten Jahren insbesondere in den USA die Entwicklung der Kulturwissenschaft dominiert hat und eine große Bedeutung für die Historisierung etwa des Nationalismus oder ethnischer Faktoren der Vergesellschaftung besitzt. 2.3. Ein neuer Begriff der Gesellschaft Ein dritter Brennpunkt der historischen Kulturwissenschaft besteht in der Etablierung eines neuen Gesellschaftsbegriffs, der sich deutlich von dem älteren, strukturalistisch geprägten Gesellschaftsbegriff der Sozialgeschichte der 1970er Jahre unterscheidet. Allerdings hat sich auch die neuere Sozialgeschichte in den letzten Jahren unter dem Druck der kulturgeschichtlichen Herausforderung allmählich von diesem Erbe gelöst. Sie hat sich Fragen nach der Kultur der Gesellschaft zunehmend geöffnet, so daß sich die ehemals scharfen Unterschiede teilweise verwischt haben. Für 43 Klassisch Braudel 1990. Aus soziologischer Perspektive diskutiert diese Entwicklungen Löw 2001. 44 Dülmen 1996 u. 1998. 45 Zuverlässige Überblicke über die wichtigste neuere Literatur bieten Dülmen 2000 u. Daniel 2001. 46 Die in der amerikanischen Geschichtswissenschaft geführten Debatten um den »maternal welfare state« sind dafür ein gutes Beispiel: Koven & Michel 1993.

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Die Geschichtswissenschaft | 231 diese Öffnung steht etwa der von Lepsius und anderen in die Diskussion gebrachte Begriff der kulturellen Vergesellschaftung, der in der Tradition Max Webers die eigenständige Bedeutung kultureller Ideen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft akzentuiert.47 Fragen nach der politischen Kultur und Legitimität moderner Gesellschaften, nach der Kultur des Marktes, der Arbeit und des Konsumverhaltens, nach den Mentalitäten gesellschaftlicher Gruppen, Klassen, Professionen und Eliten gehören seither zum Kernbestand einer sozial- und gesellschaftsgeschichtlichen Heuristik. Insofern hat die Sozialgeschichte wichtige Impulse der historischen Kulturwissenschaft aufgegriffen und produktiv mit ihren ursprünglichen Interessen und Forschungsmethoden vermittelt. Einher geht die kulturwissenschaftliche Wendung des Gesellschaftsbegriffs mit einem neuen Handlungskonzept, das aus anonymen Mitgliedern und Repräsentanten gesellschaftlicher Großgruppen konkrete, in Raum und Zeit individualisierbare Handlungsakteure werden läßt, die immer zugleich Subjekt und Objekt gesellschaftlicher Prozesse sind. Auch hat sich das soziale Spektrum geschichtlich handelnder Individuen im Zuge der Alltags- und Mikrogeschichte deutlich erweitert und pluralisiert. Die Identität dieser Handelnden gewinnt an innerer Komplexität, aber auch an Ambivalenz und Widersprüchlichkeit. Sie wird fragmentarisch und gebrochen, inkohärent und wandelbar. Überhaupt scheint der Identitätsbegriff im Verständnis der neueren Kulturgeschichte oftmals nur dann überlebensfähig zu sein, wenn er diese Elemente des Heterogenen und Fragmentarischen in sich aufnimmt und zur Geltung bringt. Die thematisierten Formen sozialen Handelns reichen von Verfahren bewußter Aneignung von Realität bis zu traumatischen Leidenserfahrungen. In diesem Zusammenhang werden etwa auch Holocaust und Nationalsozialismus neu sichtbar. Handeln verliert seine intentionale Geradlinigkeit und zweckrationale Eindeutigkeit und wird zu einem mäandrierenden Geschehen, das durch viele Facetten und Motive, durch innere Widersprüchlichkeit und Zerrissenheit gekennzeichnet ist.48 Unter diesem Gesichtspunkt erhält etwa Bourdieus Konzept der Praxis im Sinne eines multidimensionalen Handlungsfeldes an kulturwissenschaftlicher Attraktivität.49 Eine weitere Transformation des Gesellschaftsbegriffs zeigt sich am Beispiel der neueren Diskussionen um Öffentlichkeit50, Massenmedien51 und Zivilgesellschaft52, mit denen die historische Kulturwissenschaft auf relevante Orientierungsprobleme unserer Gegenwart zu antworten sucht. In diesen Diskussionen füllt sich der Begriff der Erfahrung mit empirischem Inhalt, denn sichtbar wird ein sozialer Binnenraum von Kommunikationen, eine diskursive Infrastruktur moderner Gesellschaften, deren vielfältige Formen und Entstehungsprozesse, Konfliktfelder, Medien und Verfallsprozesse zunehmend in den Blick geraten. Es handelt sich um Verstän47 48 49 50 51 52

Lepsius 1987 u. 1990. Ein Beispiel für ein solches Verständnis sozialen Handelns bietet Lüdtke 1998: 565ff. Bourdieu 1998. Calhoun 1992; Hohendahl 2000; Melville & von Moos 1998. Rieger 2001; Schmidt 1996; Stanitzek & Voßkamp 2001. Cohen & Arato 1992; Jaeger 2001; Kocka 2000a; Trentmann 2000; Walzer 1992.

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232 | Friedrich Jaeger digungs-, Informations- und Assoziationsformen, in denen sich Individuen, soziale Gruppen oder ganze Kulturen in ein Verhältnis zueinander setzen, nach übergreifenden Interpretationen ihrer Lebensführung suchen oder ihre Interessengegensätze austragen. Es gibt zahlreiche Beispiele für die Öffnung der Kulturwissenschaften gegenüber diesen intermediären Phänomenen zwischen Politik, Kultur und Gesellschaft. Erwähnen lassen sich in diesem Zusammenhang die Diskussionen zum kulturellen Gedächtnis, die auf die öffentlichen Formen der Geschichtskultur und kollektiven Erinnerung zielen. Ferner ließe sich erneut die Kommunitarismusdebatte der letzten Jahre als ein wichtiges Beispiel anführen, da in ihr die Bedeutung öffentlicher Diskurse und Assoziationen der Zivilgesellschaft für den Erhalt und die Erneuerung einer politischen Kultur der Demokratie betont worden ist. Aber auch die historische Urbanisierungsforschung hat sich in den letzten Jahren neuen kulturwissenschaftlichen Fragestellungen und Forschungsperspektiven geöffnet. Im Zuge dieser Entwicklung kommen Städte als »communities of discourse« in den Blick und werden als kulturelle Räume, als ein dichtes Netz von Kommunikationen, Bedeutungen, Interpretationen und Erzählungen auf neue Weise verstehbar.53 In ihrer Rolle als Laboratorien moderner Lebensformen und Identitätskonfigurationen spiegeln urbane Zentren im Sinne kommunikativer Metropolen und paradigmatischer Räume der kulturellen Vergesellschaftung die Kulturprobleme unserer Zeit in besonderer Schärfe. Schließlich ist in diesem Kontext auch die Konjunktur der Mediengeschichte und der Geschichte der Massenkultur anzusiedeln. In ihnen geht es um eine spezifische Materialität der kulturellen Kommunikation und um den Wandel der Produktion, Präsentation und Distribution kulturellen Wissens, der die modernen Gesellschaften seit dem 18. Jahrhundert wesentlich prägt und in neueren Beiträgen als eine langfristig wirksame Informations- und Kommunikationsrevolution rekonstruiert wird. Insgesamt gesehen sind die verschiedenen Strömungen einer historischen Kulturwissenschaft in einer stürmischen Entwicklung begriffen und durch eine große Vielfalt geprägt. Doch bis zur Etablierung eines neuen überzeugenden Paradigmas der historischen Forschung ist es zweifellos noch ein weiter Weg. Ein wichtiger Schritt auf diesem Weg könnte darin bestehen, die bisher übliche Entgegensetzung kulturgeschichtlicher und gesellschaftsgeschichtlicher Forschungsstrategien zu überwinden und unter Vermittlung ihrer jeweiligen Theorie- und Methodenkonzepte komplexere Rekonstruktionen kultureller Faktoren der menschlichen Lebenspraxis zu entwickeln. Das hier skizzierte Konzept kulturwissenschaftlicher Grundbegriffe versteht sich als ein in diese Richtung gehender Vermittlungsvorschlag.

53 Etwa bei Bender 1987.

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Die Geschichtswissenschaft | 233 Bibliographie Anderegg, Johannes & Edith A. Kunz (Hg.), 1999: Kulturwissenschaften: Positionen und Perspektiven. Bielefeld. Appadurai, Arjun, 1996: Modernity at large: cultural dimensions of globalization. Minneapolis. Appelsmeyer, Heide & Elfriede Billmann-Mahecha (Hg.), 2001: Kulturwissenschaft: Felder einer prozeßorientierten wissenschaftlichen Praxis. Weilerswist. Assmann, Jan, 1992: Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München. Bender, Thomas, 1987: New York intellect: a history of intellectual life in New York City, from 1750 to the beginnings of our own time. New York. Berg, Eberhard & Martin Fuchs (Hg.), 31999: Kultur, soziale Praxis, Text: die Krise der ethnographischen Repräsentation. Frankfurt am Main. Böhme, Gernot & Hartmut Böhme, 1996: Feuer Wasser Erde Luft: eine Kulturgeschichte der Elemente. München. Böhme, Hartmut & Klaus R. Scherpe (Hg.), 1996: Literatur und Kulturwissenschaften: Positionen, Theorien, Modelle. Reinbek. Böhme, Hartmut et al., 2000: Orientierung Kulturwissenschaft: was sie kann, was sie will. Reinbek. Bourdieu, Pierre, 1998: Praktische Vernunft: zur Theorie des Handelns. Frankfurt am Main. Braudel, Fernand, 1990: Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II. 3 Bde. Frankfurt am Main (11949). Breuilly, John J., 2000: Wo bleibt die Handlung? Die Rolle von Ereignissen in der Gesellschaftsgeschichte. In: Paul Nolte et al. (Hg.): Perspektiven der Gesellschaftsgeschichte. München. S. 36-42. Bromley, Roger et al. (Hg.), 1999: Cultural Studies: Grundlagentexte zur Einführung. Lüneburg. Brüggemeier, Franz-Josef, 1996: Das unendliche Meer der Lüfte: Luftverschmutzung, Industrialisierung und Risikodebatten im 19. Jahrhundert. Essen. Brüggemeier, Franz-Josef & Thomas Rommelspacher, 1987: Besiegte Natur: Geschichte der Umwelt im 19. und 20. Jahrhundert. München. Bundesministerium für Wissenschaft und Verkehr und Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften (Hg.), 1999: The contemporary study of culture. Wien. Calhoun, Craig (Hg.), 1992: Habermas and the public sphere. Cambridge. Cohen, Jean L. & Andrew Arato, 1992: Civil society and political theory. Cambridge, Mass. Conrad, Christoph & Martina Kessel (Hg.), 1998: Kultur und Geschichte: neue Einblicke in eine alte Beziehung. Stuttgart. Daniel, Ute, 1993: »Kultur« und »Gesellschaft«. Überlegungen zum Gegenstandsbereich der Sozialgeschichte. In: Geschichte und Gesellschaft 19: 69-99. – 2001: Kompendium Kulturgeschichte: Theorien, Praxis, Schlüsselwörter. Frankfurt am Main.

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234 | Friedrich Jaeger Dewey, John, 1984: Experience and nature. In: The Later Works. Bd. 1: 1925. Carbondale (deutsche Übersetzung: Dewey, John, 1995: Erfahrung und Natur. Frankfurt am Main). Dressel, Gert, 1996: Historische Anthropologie: eine Einführung. Wien. Düllo, Thomas et al. (Hg.), 1998: Einführung in die Kulturwissenschaft. Münster. Dülmen, Richard van, 1990-94: Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit. 3 Bde. München. – (Hg.), 1996: Körper-Geschichten: Studien zur historischen Kulturforschung. Frankfurt am Main. – (Hg.), 1998: Erfindung des Menschen: Schöpfungstraum und Körperbilder. Wien. – 2000: Historische Anthropologie: Entwicklung – Probleme – Aufgaben. Köln. During, Simon (Hg.), 21999: The cultural studies reader. London. Engelmann, Jan (Hg.), 1999: Die kleinen Unterschiede: der Cultural Studies Reader. Frankfurt am Main. Eisenstadt, Shmuel N., 2000a: Die Vielfalt der Moderne. Weilerswist. – 2000b: Multiple modernities. In: Daedalus. Winter 2000: 1-29. Freudiger, Jürg et al. (Hg.), 1996: Der Begriff der Erfahrung in der Philosophie des 20. Jahrhunderts. München. Frühwald, Wolfgang et al., 1991: Geisteswissenschaften heute: eine Denkschrift. Frankfurt am Main. Geertz, Clifford, 1987: Dichte Beschreibung: Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt am Main. Ginzburg, Carlo, 1988: Spurensicherung: über verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis. Berlin. Graevenitz, Gerhart von & Odo Marquard (Hg.), 1998: Kontingenz. München. Grossberg, Lawrence, 1989: The formation of Cultural Studies: an American in Birmingham. In: Strategies 22: 114-149. Grossberg, Lawrence et al. (Hg.), 1992: Cultural Studies. New York. – et al. (Hg.), 1994: Cultural Studies: eine Intervention. Wien. – 1997: Bringing it all back home. Durham. Hall, Stuart, 1990: The emergence of Cultural Studies and the crisis of the humanities. In: October 53: 11-23. – 1999: Cultural Studies. Zwei Paradigmen. In: Roger Bromley et al. (Hg.): Cultural Studies: Grundlagentexte zur Einführung. Lüneburg. S. 113-138. – 2000: Ausgewählte Schriften in 3 Bänden. (Bd. 1: Ideologie, Kultur, Rassismus; Bd. 2: Rassismus und kulturelle Identität; Bd. 3: Cultural Studies – ein politisches Theorieprojekt). Hamburg. Hall, Stuart & Paul DuGay (Hg.), 1996: Questions of cultural identity. London. Hardtwig, Wolfgang (Hg.), 1997: Wege zur Kulturgeschichte. Göttingen. Hardtwig, Wolfgang & Hans-Ulrich Wehler (Hg.), 1996: Kulturgeschichte Heute. Göttingen. Hartmann, Dirk & Peter Janich (Hg.), 1998: Die kulturalistische Wende: zur Orientierung des philosophischen Selbstverständnisses. Frankfurt am Main.

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Die Geschichtswissenschaft | 235 Haupt, Heinz G. & Jürgen Kocka (Hg.), 1996: Geschichte und Vergleich: Ansätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung. Frankfurt am Main. Hettling, Manfred & Paul Nolte (Hg.), 1993: Bürgerliche Feste: symbolische Formen politischen Handelns im 19. Jahrhundert. Göttingen. Hölscher, Lucian, 1995: Geschichte als »Erinnerungskultur«. In: Mihran Dabag & Kristin Platt (Hg): Generation und Gedächtnis: Erinnerung und kollektive Identitäten. Opladen. S. 146-168. Hohendahl, Peter U., 2000: Öffentlichkeit – Geschichte eines kritischen Begriffs. Stuttgart. Hübinger, Gangolf et al. (Hg.), 1989 u. 1997: Kultur und Kulturwissenschaften um 1900. 2 Bde. Stuttgart. Inglis, Fred, 1993: Cultural Studies. Oxford. Jaeger, Friedrich, 1994a: Bürgerlichkeit: deutsche und amerikanische Philosophien einer Lebensform. In: Klaus Tenfelde & Hans-Ulrich Wehler (Hg.): Wege zur Erforschung des Bürgertums. Göttingen. S. 171-206. – 1994b: Bürgerliche Modernisierungskrise und historische Sinnbildung: Kulturgeschichte bei Droysen, Burckhardt und Max Weber. Göttingen. – 2001: Amerikanischer Liberalismus und zivile Gesellschaft: Perspektiven sozialer Reform im 20. Jahrhundert. Göttingen. Jung, Thomas, 1999: Geschichte der modernen Kulturtheorie. Darmstadt. Kaelble, Hartmut, 1999: Der historische Vergleich: eine Einführung zum 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main. Kittler, Friedrich A., 1999: Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft. München. Kittsteiner, Heinz-Dieter, 1997: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Kulturgeschichte. In: Geschichte und Gesellschaft 12: 5-27. Kocka, Jürgen, 2000a: Zivilgesellschaft als historisches Projekt. Moderne europäische Geschichtsforschung in vergleichender Absicht. In: Christof Dipper et al. (Hg.): Europäische Sozialgeschichte: Festschrift für Wolfgang Schieder. Berlin. S. 475-484. – 2000b: Historische Sozialwissenschaft heute. in: Paul Nolte et al. (Hg.): Perspektiven der Gesellschaftsgeschichte. München. S. 5-24. Kocka, Jürgen & Klaus Offe (Hg.), 2000: Geschichte und Zukunft der Arbeit. Frankfurt am Main. Koven, Seth & S. Michel (Hg.), 1993: Mothers of a new world: maternalist politics and the origins of the welfare states. New York. Lehmann, Hartmut (Hg.), 1995: Wege zu einer neuen Kulturgeschichte. Göttingen. Lepsius, M. Rainer, 1987: Bürgertum als Gegenstand der Sozialgeschichte. In: Wolfgang Schieder & Volker Sellin: Sozialgeschichte in Deutschland: Entwicklungen und Perspektiven im internationalen Zusammenhang. Bd. 4. Göttingen. S. 6180. – 1990: Zur Soziologie des Bürgertums und der Bürgerlichkeit. In: M. Rainer Lepsius: Interessen, Ideen und Institutionen. Opladen. S. 153-69. – im Erscheinen: Vertrauen auf Institutionen. Wiesbaden.

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236 | Friedrich Jaeger Lichtblau, Klaus, 1999: Umstrittener Sinn. Zur logischen Begründung der historischen Kulturwissenschaften um 1900. In: Kulturwissenschaftliches Institut, Jahrbuch 1998/99. Essen. S. 349-368. Lindner, Rolf, 2000: Die Stunde der Cultural Studies. Wien. List, Elisabeth, 1998: Vom Geist zur Kultur. Paradigmenwechsel in den Geisteswissenschaften. In: Helmut Reinalter & Roland Benedikter (Hg.): Die Geisteswissenschaften im Spannungsfeld zwischen Moderne und Postmoderne. Wien. S. 107-131. Löw, Martina, 2001: Raumsoziologie. Frankfurt am Main. Lüdtke, Alf (Hg.), 1989: Alltagsgeschichte: zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen. Frankfurt am Main. – 1998: Alltagsgeschichte, Mikro-Historie, historische Anthropologie. In: Jürgen Goertz (Hg.): Geschichte: ein Grundkurs. Reinbek. S. 557-578. Lutter, Christina & Markus Reisenleitner (Hg.), 1998: Cultural Studies: eine Einführung. Wien. Makropoulos, Michael, 1997: Modernität und Kontingenz. München. Marquard, Odo, 1986: Über die Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaft. In: Odo Marquard: Apologie des Zufälligen: philosophische Studien. Stuttgart. S. 98-116. Matthes, Joachim (Hg.), 1992: Zwischen den Kulturen? Die Sozialwissenschaften vor dem Problem des Kulturvergleichs. Göttingen. Medick, Hans, 1984: Missionare im Ruderboot? Ethnologische Erkenntnisweisen als Herausforderung an die Sozialgeschichte. In: Geschichte und Gesellschaft 10: 295-319. Melville, Gert & Peter von Moss (Hg.), 1998: Das Öffentliche und Private in der Vormoderne. Köln. Mergel, Thomas & Thomas Welskopp (Hg.), 1997: Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft: Beiträge zur Theoriedebatte. München. Müller, Klaus E. & Jörn Rüsen (Hg.), 1997: Historische Sinnbildung: Problemstellungen, Zeitkonzepte, Wahrnehmungshorizonte, Darstellungsstrategien. Reinbek. Musner, Lutz, 1999: Locating culture in the US and central Europe. A transatlantic perspective on Cultural Studies. In: Cultural Studies 13: 577-590. Nell, Werner & Wolfgang Riedel (Hg.), 2000: Kulturwissenschaften: Geschichte, Grundlagen, Perspektiven. Opladen. Niethammer, Lutz, 2000: Kollektive Identität: heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur. Reinbek. Niethammer, Lutz et al. (Hg.), 1988: Die Menschen machen ihre Geschichte nicht aus freien Stücken, aber sie machen sie selbst: Einladung zu einer Geschichte des Volkes in NRW. Berlin. Oexle, Otto-Gerhard, 1996: Geschichte als Historische Kulturwissenschaft. In: Wolfgang Hardtwig & Hans-Ulrich Wehler (Hg.): Kulturgeschichte Heute. Göttingen. S. 14-40. Osterhammel, Jürgen, 1996a: Sozialgeschichte im Zivilisationsvergleich. Zu künftigen Möglichkeiten komparativer Geschichtswissenschaft. In: Geschichte und Gesellschaft 22: 143-164.

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Die Geschichtswissenschaft | 237 –

1996b: Transkulturell vergleichende Geschichtswissenschaft. In: Heinz-Gerhard Haupt & Jürgen Kocka (Hg.): Geschichte und Vergleich: Ansätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung. Frankfurt am Main. S. 271313. Paulmann, Johannes, 1998: Internationaler Vergleich und interkultureller Transfer. Zwei Forschungsansätze zur europäischen Geschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts. In: Historische Zeitschrift 267: 649-685. Radkau, Joachim, 2000: Natur und Macht: eine Weltgeschichte der Umwelt. München. Raulff, Ulrich (Hg.), 1987: Mentalitäten-Geschichte: zur historischen Rekonstruktion geistiger Prozesse. Berlin. Reckwitz, Andreas, 2000: Die Transformation der Kulturtheorien: zur Entwicklung eines Theorieprogramms. Weilerswist. Reinalter, Helmut & Roland Benedikter (Hg.), 1998: Die Geisteswissenschaften im Spannungsfeld zwischen Moderne und Postmoderne. Wien. Rieger, Stefan, 2001: Die Individualität der Medien: eine Geschichte der Wissenschaften vom Menschen. Frankfurt am Main. Sartor, Ralph, 2000: Symbolische Politik. Wiesbaden. Schlumbohm, Jürgen (Hg.), 1998: Mikrogeschichte – Makrogeschichte: komplementär oder inkommensurabel? Göttingen. Schmidt, Siegfried J., 1996: Die Welten der Medien: Grundlagen und Perspektiven der Medienbeobachtung. Braunschweig. Schorn-Schütte, Luise, 1998: Ideen-, Geistes-, Kulturgeschichte. In: Hans-Jürgen Goertz (Hg.): Geschichte: ein Grundkurs. Reinbek. S. 489-515. Sellin, Volker, 1985: Mentalität und Mentalitätsgeschichte. In: Historische Zeitschrift 241: 555-598. Sieder, Reinhard, 1994: Sozialgeschichte auf dem Weg zu einer historischen Kulturwissenschaft? In: Geschichte und Gesellschaft 20: 445-468. Siegrist, Hannes et al. (Hg.), 1997: Europäische Konsumgeschichte: zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrhundert). Frankfurt am Main. Sokoll, Thomas, 1997: Kulturanthropologie und Historische Sozialwissenschaft. In: Thomas Mergel & Thomas Welskopp (Hg.): Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft: Beiträge zur Theoriedebatte. München. S. 233-271. Stanitzek, Georg & Wilhelm Voßkamp (Hg.), 2001: Schnittstelle: Medien und Kulturwissenschaften. Köln. Steiner, Uwe C., 1997: Können die Kulturwissenschaften eine neue moralische Funktion beanspruchen? Eine Bestandsaufnahme. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 71: 3-38. Straub, Jürgen & Hans Werbik (Hg.), 1999: Handlungstheorie: Begriff und Erklärung des Handelns im interdisziplinären Diskurs. Frankfurt am Main. Sullivan, William M., 1995: Work and integrity: the crisis and promise of professionalism in America. New York. Taylor, Charles, 1989: Sources of the self: the making of the modern identity. Cambridge, Mass.

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238 | Friedrich Jaeger Trentmann, Frank (Hg.), 2000: Paradoxes of civil society: new perspectives on modern German and British history. New York. Walzer, Michael, 1992: Zivile Gesellschaft und amerikanische Demokratie. Berlin. Weber, Max, 61985: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen. Welsch, Wolfgang, 1998: Strukturwandel der Geisteswissenschaften. In: Helmut Reinalter & Roland Benedikter (Hg.): Die Geisteswissenschaften im Spannungsfeld zwischen Moderne und Postmoderne. Wien. S. 85-106. Welskopp, Thomas, 1997: Der Mensch und die Verhältnisse. »Handeln« und »Struktur« bei Max Weber und Anthony Giddens. In: Thomas Mergel & Thomas Welskopp (Hg.): Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte. München. S. 39-70. Winter, Carsten (Hg.), 1996: Kulturwissenschaft: Perspektiven, Erfahrungen, Beobachtungen. Bonn.

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Die Autoren | 239

Die Autoren

Ludwig Ammann, geboren 1961. Magister in Literatur- und Promotion in Islamwissenschaft. Nach dem Studium in Freiburg und London freie Publizistik (Buchkritik für NZZ, SZ und LITERATUREN, Kunst- und Tanzkritik für BZ) und Forschungen am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen. Bücher über deutsche Orientbilder (1989), Lachen und Scherzen im Islam (1993) und die Geburt des Islam (2001). Demnächst »Islam in Public« (hrsg. zus. mit Nilüfer Göle) über zeitgenössische islamistische Bewegungen. Verleiht seit 1997 Spielfilme aus der islamischen Welt, u.a. »Das Schicksal«, »El Medina«, »Zeit der trunkenen Pferde«; und Dokumentarfilme wie »War Photographer« und »Forget Baghdad« (www.koolfilm.de). Hans-Joachim Gehrke, geboren 1945. Studium der Klassischen Philologie, Geschichte und Philosophie in Göttingen. Seit 1987 Professor für Alte Geschichte an der Universität Freiburg i. Br. Seine Forschungen gelten vor allem der Geschichte des Hellenismus, der historischen Landeskunde sowie der Geschichte der sozialen Integration und Desintegration in der Antike. Mitherausgeber der Zeitschriften »Klio« und »Gnomon« und der Reihe »Hypomnemata«. Neuere Veröffentlichungen: Geschichte des Hellenismus, München 21995; Kleine Geschichte der Antike, München 1999; Geschichte der Antike. Ein Studienbuch, Stuttgart 2000; Geschichtsbilder und Gründungsmythen, Würzburg 2001; Demokratie in Athen, Berlin 2002. Friedrich Jaeger, geboren 1956. Studium der Geschichtswissenschaft an der RuhrUniversität-Bochum; Promotion und Habilitation an der Universität Bielefeld. Dort Privatdozent für Neuere Geschichte; gleichzeitig Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen. Veröffentlichungen u.a.: Geschichte des Historismus. Eine Einführung, München 1992 (gemeinsam mit Jörn Rüsen); Bürgerliche Modernisierungskrise und historische Sinnbildung. Kulturgeschichte bei Droysen, Burckhardt und Max Weber, Göttingen 1994; Amerikanischer Liberalismus und zivile Gesellschaft. Perspektiven sozialer Reform zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2001; Religionsphilosophie im Angesicht der Moderne: Ernst Troeltsch und der amerikanische Pragmatismus (in Vorbereitung, wird auch ins Französische übersetzt). Herrmann Jungraithmayr, geboren 1931. Studium der Afrikanistik, Ägyptologie und Völkerkunde in Wien und Hamburg. 1956-59 Dozent am Goethe-Institut Kairo. Feldforschungen im Sudan, in Nigeria und Tschad. Arbeitsschwerpunkt: Hamitosemitische (tschadische) Sprachen im Zentralsudan: Dokumentation und Rekonstruktion. Habilitation Marburg 1967. Gastprofessor in Washington und Maiduguri. Gründer des Instituts für Afrikanische Sprachwissenschaften und Prof. em. in Frankfurt am Main. 1991-99 Erster Vorsitzender der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft. Veröffentlichungen u.a.: Die Ron-Sprachen, Glückstadt 1970; Lexikon der Afrikanistik, Berlin 1983 (hrsg. zus. mit W. Möhlig); Märchen aus dem Tschad, Düsseldorf 1981; Lexique mokilko, Berlin 1990; Sindi. Tangale Folktales, Köln 2002.

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240 | Die Autoren Klaus E. Müller, geboren 1935. Dr. phil., Prof. em. für Ethnologie an der Universität Frankfurt am Main. Vorsitzender der Wissenschaftlichen Gesellschaft zu Förderung der Parapsychologie e. V. (Freiburg i. Br.); Mitglied des Instituts für Historische Anthropologie e. V. (Freiburg i. Br.) sowie interdisziplinärer Arbeitsgruppen am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen und am Hanse-Wissenschaftskolleg Delmenhorst. Neuere Buchpublikationen: Der gesprungene Ring. Wie man die Seele gewinnt und verliert, Frankfurt am Main 1997; Die fünfte Dimension. Soziale Raumzeit und Geschichtsverständnis in primordialen Kulturen, Göttingen 1999; Wortzauber. Eine Ethnologie der Eloquenz, Frankfurt am Main 2001; Die gespenstische Ordnung: Psi im Getriebe der Wissenschaft, Frankfurt am Main 2002; Patchwork: Dimensionen multikultureller Gesellschaften, Bielefeld 2002 (hrsg. zus. mit Andreas Ackermann). Birger P. Priddat, geboren 1950. Studium der Volkswirtschaftslehre, Philosophie und Abeitspsychologie an der Universität Hamburg. Seit 1991 Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre und Philosophie an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Privatuniversität Witten/Herdecke. Forschungsschwerpunkte: institutional economics, Theoriegeschichte der Ökonomie, politische Steuerung von Wirtschaftsprozessen, Wirtschafts- und Unternehmensethik, Kultur und Ökonomik. Veröffentlichungen u.a.: Hegel als Ökonom, Berlin 1990; Die andere Ökonomie. Schmoller, Marburg 1995; Moralischer Konsum, Stuttgart u. Leipzig 1998; Der bewegte Staat, Marburg 2000; Klassiker der deutschen Ökonomie, Frankfurt am Main 2000 (mit J. Burkhardt); Arbeit an der Arbeit, Marburg 2001; Theoriegeschichte der Ökonomie, München 2002. Volker Roelcke, geboren 1958. Studium der Medizin, Ethnologie, Alten Geschichte und Philosophie in Heidelberg, Glasgow und Cambridge; Facharzt für Psychiatrie; seit 1999 Professor am Institut für Medizin- und Wissenschaftsgeschichte der Universität zu Lübeck. Forschungsschwerpunkte: Psychiatrie im 19. und 20. Jahrhundert; Medizin im Nationalsozialismus; Ethnomedizin. Neuere Publikationen: Krankheit und Kulturkritik. Psychiatrische Gesellschaftsdeutungen im bürgerlichen Zeitalter, 1790-1914, Frankfurt am Main 1999; Die Institutionalisierung der Medizinhistoriographie. Entwicklungslinien vom 19. ins 20. Jahrhundert, Stuttgart 2001 (hrsg. zus. mit A. Frewer). Hans-Georg Soeffner, geboren 1939. Dr. phil., Professor der Soziologie, Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie an der Universität Konstanz. Studium an den Universitäten Tübingen, Köln, Bonn; Promotion 1971 (Universität Bonn); Habilitation 1976 (Universität Essen GHS); Professuren an der Universität Essen, der FernUniversität in Hagen und an der Universität Potsdam. Forschungsschwerpunkte: Wissenssoziologie, Kultursoziologie, Religionssoziologie, Kommunikationssoziologie, Rechtssoziologie. Veröffentlichungen u.a. zu Sozialutopien, zur Methodologie der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik, zu Erscheinungsformen der Religiosität in der Moderne, zur sozialen Typik, zu sozialen Inszenierungs- und Selbstdarstellungsformen, zu »Symbolischen Formen« gesellschaftlicher Ordnung, zur Mediensoziologie,

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Die Autoren | 241 zur politischen Soziologie. Gastprofessuren in den USA (University of California, San Francisco; University of California, Berkeley, Boston University), in Chile (Santiago de Chile); an den Universitäten Zürich und Wien. Jürgen Straub, geboren 1958. Studium der Psychologie, Philosophie und Soziologie in Zürich und Erlangen, Professor für »Interkulturelle Kommunikation« an der Philosophischen Fakultät der TU Chemnitz. Aktuelle Arbeitsbereiche: grundlagentheoretische Fragen der Kulturwissenschaften; Kulturpsychologie und Kulturvergleichende Psychologie; interdisziplinäre Aspekte interkultureller Kommunikation und Kompetenz; Identitätstheorie; Konflikte, Gewalt und Verständigung in modernen Gesellschaften; Geschichtsbewußtsein; Theorie, Methodologie und Methodik qualitativer Forschung. Neuere Veröffentlichungen: Unverlierbare Zeit. Langfristige psychosoziale Folgen des Nationalsozialismus bei Nachkommen von Opfern und Tätern, Tübingen 2001 (hrsg. zus. mit Kurt Grünberg); Übersetzung als Medium des Kulturverstehens und sozialer Integration, Frankfurt am Main u. New York 2002 (hrsg. zus. mit Joachim Renn u. Shingo Shimada); Transitorische Identität. Der Prozesscharakter des modernen Selbst, Frankfurt am Main u. New York 2002 (hrsg. zus. mit Joachim Renn). Alfred K. Tremel, geboren 1944. Nach verschiedenen Berufserfahrungen (als Seemann, Kaufmann, Lehrer) Studium der Philosophie, Pädagogik und Politik in Tübingen. Promotion 1976, Habilitation 1981. Seit 1989 Professur für Allgemeine Pädagogik an der Universität der Bundeswehr Hamburg. Veröffentlichungen u.a.: Überlebensethik, 2 Bände, Tübingen u. Hamburg 1992/96; Ethnopädagogik, Berlin 21996 (hrsg. zus. mit Klaus E. Müller); Klassiker. Die Evolution einflußreicher Semantik, 2 Bände, Sankt Augustin 1997/99; Die pädagogische Konstruktion der »Dritten Welt«, Frankfurt am Main 1997; Allgemeine Pädagogik. Grundlagen, Handlungsfelder und Perspektiven der Erziehung, Stuttgart 2000.

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Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

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Markus Kaiser (Hg.) WeltWissen Entwicklungszusammenarbeit in der Weltgesellschaft Januar 2003, 384 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-112-4

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